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Monika Albrecht / Bachmann-

Dirk Göttsche (Hrsg.)


Handbuch
Leben – Werk – Wirkung

Sonderausgabe

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek © 2013 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Ursprünglich erschienen bei J. B. Metzler’sche
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Verlag GmbH in Stuttgart 2013
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www.metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-02513-5 info@metzlerverlag.de
ISBN 978-3-476-01241-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-01241-8
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort VII III. Kontexte und Diskurse in


Bachmanns Werk 211
I. Grundlagen 1 1. Bachmann und die Philosophie 212
1. Leben und Werk im Überblick – eine 1.1. Existentialphilosophie und Existentialis-
Chronik 2 mus 212
2. Rezeptionsgeschichte 22 1.2. Sprachphilosophie und poetologische
2.1. Rezeptionsgeschichte zu Lebzeiten 22 Sprachreflexion 214
2.2. Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns 1.3. Kritische Theorie und Soziologie 216
Tod 26 1.4. Religion 218
2.3. Literarische Rezeption 35 1.5. Bachmanns Utopiebegriff 220
3. Editionsgeschichte und Nachlaß 42 2. Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in
Bachmanns Werk 223
II. Das Werk 47 3. Bachmann und die Zeitgeschichte 237
1. Jugendwerke 48 3.1. Nationalsozialismus 237
2. Lyrik 53 3.2. Die Entwicklung der Nachkriegsgesell-
2.1. Frühe Gedichte 53 schaft 246
2.2. Die gestundete Zeit 57 3.3. Der kulturgeschichtliche Umbruch von
2.3. Anrufung des großen Bären und 1968 252
Gedichte aus dem Umfeld 67 3.4. Postkolonialismus und Kritischer
2.4. Späte Gedichte 78 Exotismus 255
3. Hörspiele 83 4. Literarische Kontexte, Dialoge und
4. Libretti 97 Lektüren 259
5. Erzählprosa 105 4.1. Deutschsprachige Literatur des 18. und
5.1. Frühe Erzählprosa 105 19. Jahrhunderts 259
5.2. Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente 4.2. Europäische Literatur vor 1900 263
aus dem Umfeld 112 4.3. Klassische Moderne 270
5.3. Todesarten-Projekt 127 4.4. Deutschsprachige Literatur nach
5.3.1. Überblick 127 1945 282
5.3.2. Malina 130 4.5. Bachmann und die ›Weltliteratur‹ ihrer
5.3.3. Das Buch Franza 144 Zeit 292
5.3.4. Andere unvollendete Todesarten- 5. Bachmann und die Musik 297
Texte 152
5.4. Simultan und Erzählfragmente aus dem Anhang 309
Umfeld 159 1. Siglenverzeichnis (mit Sigle zitierte
6. Künstlerische und journalistische Prosa 172 Ausgaben) 310
7. Kritische Schriften 184 2. Andere Ausgaben und Hilfsmittel 311
7.1. Philosophische Essays und Disserta- 3. Ausgewählte Sekundärliteratur 312
tion 184 3.1. Sammelbände 312
7.2. Musikästhetische Essays 188 3.2. Monographien und Aufsätze 312
7.3. Literaturkritische Essays und 4. Werkregister 317
Frankfurter Vorlesungen 191 5. Personenregister 322
8. Übersetzungen 204 6. Mitarbeiter 329
Vorwort

Nachdem die vierbändige Ausgabe der »Werke« zwischen Literatur, Philosophie, Psychologie und
(1978) erstmals einen zusammenhängenden Musik begründet sind, aber auch die historisch-
Überblick über Ingeborg Bachmanns Werk und kritische Revision der verfügbaren Nachlaßtexte
erste Einblicke in ihren literarischen Nachlaß tragen ebenso zu diesem Umbruch bei wie der
ermöglicht hatte, ist es im Gefolge einer neuen literaturwissenschaftliche Methodenwandel, der
feministischen Lektüre in den frühen 1980er Jah- neue Lektürerahmen geschaffen hat. Zugleich ist
ren geradezu zu einer »Bachmann-Rennaissance« die Textgrundlage in den letzten Jahren sukzessiv
gekommen (Stephan et al. 1987, S. 8), die bis durch neue Quellenfunde und -publikationen er-
heute anhält. Seither hat die Literaturwissen- gänzt worden, die nicht zuletzt das Wissen über
schaft eine Fülle neuer Erkenntnisse zu Ingeborg die Breite der schriftstellerischen Tätigkeit Inge-
Bachmanns Werk hervorgebracht und zugleich borg Bachmanns, ihre literarische Arbeitsweise
grundlegend neue Perspektiven der Interpreta- und die konkreten Entstehungskontexte ihrer
tion erarbeitet. Nach dem frühen Ruhm der Au- Texte vertiefen. Zu nennen sind hier beispiels-
torin als »neuer Stern am deutschen Poetenhim- weise die frühe lyrische Prosa Briefe an Felician
mel« (Blöcker) in den 1950er Jahren hat eine (1991), die kritische Edition des Todesarten-Pro-
breite, lebhafte und vielschichtige Forschung in jekts (1995), die u. a. auch bis dahin unbekannte
den vergangenen zwanzig Jahren so die Ein- Nachlaßfragmente wie den ersten Todesarten-Ro-
schätzung Ingeborg Bachmanns als eine der man und den Goldmann/Rottwitz-Roman ent-
wichtigsten deutschsprachigen Autorinnen der hält, die Wiederentdeckung der bis dahin ver-
Nachkriegsjahrzehnte auf neuer Grundlage be- schollenen Römischen Reportagen (1998) für Ra-
kräftigt. Bachmanns Werk steht seitdem gleich- dio Bremen und die »Westdeutsche Allgemeine
bedeutend für seine Auseinandersetzung mit der Zeitung«, die Edition »Letzter, unveröffentlichter
– wie sie es nannte – »Krankheit unserer Zeit« Gedichte« (1998) sowie weiterer bislang unver-
(GuI, 72), mit der sozialen Gewalt der modernen öffentlichter Gedichtentwürfe aus den 1960er
westlichen Gesellschaft, mit dem verborgenen Jahren unter dem Titel »Ich weiß keine bessere
Zusammenhang zwischen patriarchalischer Ge- Welt« (2000). Inzwischen ist im Nachlaß von Jörg
sellschaftsstruktur, katastrophischer Geschichte Mauthe, Bachmanns Kollegen aus ihrer Zeit bei
(Nationalsozialismus) und Unterwerfung bzw. dem amerikanischen Besatzungssender Rot-
Ausgrenzung des anderen (bis hin zum Neokolo- Weiß-Rot (1951–1953) ein Teil von Bachmanns
nialismus). Die fortdauernde Brisanz dieser Pro- Beiträgen zu der Sendereihe Die Radiofamilie
blemstellungen und die Reflektiertheit ihrer lite- aufgefunden worden (McVeigh 2002), und es ist
rarischen Darstellung sichern ihrem Werk zwei- zu hoffen, daß weitere Nachlaßpublikationen und
fellos seine anhaltende Bedeutung. Quellenfunde folgen. Darüber hinaus liefern Zi-
Angesichts des wachsenden Abstands von der tate aus dem unveröffentlichten Nachlaß und aus
Entstehungszeit der Texte zeichnet sich seit eini- diversen Korrespondenzen wertvolle neue Hin-
ger Zeit allerdings ein Forschungsumbruch ab, weise zum Verständnis von Leben und Werk, und
der die Begründung der fortdauernden Relevanz das vorliegende Handbuch fügt hier noch einiges
von Bachmanns Werk mit einer deutlicheren Hi- hinzu. Solche Editionen und ›Neuentdeckungen‹
storisierung im Sinne einer Neubewertung ihres ergänzen nicht nur die Materialgrundlage der
Oeuvres im Kontext der literarischen Nach- literarhistorischen Forschung, sie eröffnen auch
kriegsjahrzehnte verbindet. Analysen zum zeit- neue Fragestellungen und werden zweifellos eine
und diskursgeschichtlichen Kontext ihres Schrei- wichtige Rolle in der weiteren Entwicklung des
bens, die Erforschung des intertextuellen Hori- Bildes von Ingeborg Bachmann in Wissenschaft
zonts ihrer Werke, komparatistische und inter- und Öffentlichkeit spielen. Gleichwohl ist »das
disziplinäre Untersuchungen, die durch Bach- Desiderat einer kritischen Gesamtausgabe des
manns vielfältige Kontakte und Lektüren und Werks von Ingeborg Bachmann« (Bartsch 2000,
nicht zuletzt durch ihre Grenzüberschreitungen S. 373) zu bekräftigen.
VIII Vorwort

Es gehört zu den Glücksfällen der Literaturwis- schließt, während der zweite ergänzend rele-
senschaft, daß das wissenschaftliche Interesse am vante Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk
Werk Ingeborg Bachmanns und das offenbar an- aufbereitet, die bei einer einzelwerkbezogenen
haltende Interesse einer breiten Leserschaft sich Betrachtung nicht ausreichend gewürdigt werden
seit der ›Wiederentdeckung‹ des Werks in den können.
frühen 1980er Jahren gegenseitig befruchtet ha- Ein so umfangreiches Projekt wie dieses Hand-
ben. Gleichzeitig hat die Funktion von Bach- buch kommt nicht ohne vielfältige Zusammen-
manns Werk als Kristallisationspunkt aktueller arbeit und Unterstützung zustande. In diesem
literaturwissenschaftlicher Methodendiskussion Sinne danken wir in erster Linie den Autorinnen
– insbesondere auch weiterhin im Bereich des und Autoren der Beiträge für ihre intensive Mit-
Feminismus, und nicht nur im deutschsprachigen arbeit und den Erben Ingeborg Bachmanns
Raum, sondern auch in der amerikanischen und (Isolde Moser und Dr. Heinz Bachmann) für die
französischen Germanistik – zu einer For- freundliche Erlaubnis zur Verwendung bislang
schungsproduktivität geführt, die heute für den unveröffentlichter Nachlaß- und Briefzitate. Un-
einzelnen kaum noch vollständig zu überschauen ser Dank gilt hier zugleich den Archiven, aus
ist. Vor diesem Hintergrund faßt das vorliegende deren Bestand zitiert werden durfte – der Öster-
Bachmann-Handbuch, das sowohl für die Bach- reichischen Nationalbibliothek (Wien), dem
mannforschung und die Literaturwissenschaft Deutschen Literaturarchiv (Marbach/N.), dem
allgemein als auch für eine interessierte Leser- Archiv der Akademie der Künste (Berlin), dem
schaft konzipiert wurde, das gewachsene Wissen Literaturarchiv Monacensia (München), dem Ar-
über das Werk der Autorin auf neuestem Stand chiv des Südwestdeutschen Rundfunks (Stutt-
zusammen, zieht in lesbarer Form eine kritische gart), den Verlagsarchiven Suhrkamp und Piper,
Bilanz der Forschung (und ihrer Lücken) und dem Heinrich Böll Archiv (Köln) und dem Uwe
stellt darüber hinaus neue Erkenntnisse und In- Johnson Archiv (Frankfurt/M.) –, sowie Robert
terpretationsperspektiven vor. Die einzelnen Ar- Pichl für die Benutzung seines Katalogs der Pri-
tikel versuchen also einer doppelten Aufgaben- vatbibliothek Ingeborg Bachmanns (Pichl 2003).
stellung gerecht zu werden: Sie sollen den Lese- Unserem Lektor Uwe Schweikert schließlich
rinnen und Lesern in zuverlässiger Form den danken wir für die kontinuierliche Förderung des
Wissens- und Forschungsstand zu dem jewei- Projekts von der ersten Anregung bis zur Druck-
ligen Werkkomplex oder Thema erschließen, zu- legung.
gleich aber auch die Forschung durch neue Ein- Abschließend noch einige Hinweise zur Benut-
sichten und eigene Akzentuierung vorantreiben. zung des Handbuchs: Ergänzend zum Inhaltsver-
Das Team der Autorinnen und Autoren setzt sich zeichnis erschließen ein Personen- und ein Werk-
aus etablierten und jüngeren Bachmann-Forsche- register die Gegenstände des Handbuchs. Der
rinnen und -Forschern zusammen, die ihren je- Anhang enthält darüber hinaus ein Literaturver-
weils unterschiedlichen Ansätzen entsprechend zeichnis mit den relevanten Ausgaben der Werke
auch verschiedene Perspektivierungen einbrin- Ingeborg Bachmanns sowie einer Auswahl der
gen. Es muß bei einem solchen auf Pluralität Literatur über die Autorin und ihr Werk. Mit
angelegten Konzept nicht eigens betont werden, Bezug auf dieses Literaturverzeichnis wird in den
daß die vorgetragenen Positionen nicht notwen- einzelnen Artikeln in abgekürzter Form zitiert:
dig mit denen der Herausgeber zusammenfal- Werke Ingeborg Bachmanns werden unter Ver-
len. wendung der im Ausgabenverzeichnis erläuter-
Das Handbuch hat selbstverständlich die Funk- ten Siglen zitiert; die im Anhang aufgeführten
tion eines Nachschlagewerks, es soll aber auch zu Drucke und Ausgaben werden im Literaturver-
neuer Werklektüre anregen und der Forschung zeichnis der Einzelartikel nicht nochmals aufge-
neue Impulse geben. In diesem Sinne ist es – führt. Sekundärliteratur aus dem Anhang wird im
nach dem einleitenden Überblick über Leben und Literaturverzeichnis der Einzelartikel nur in ab-
Werk, Rezeptions- und Editionsgeschichte – in gekürzter Form nach dem Muster »McVeigh
zwei Teile gegliedert, deren erster das Werk aus (2002)« zitiert und den ausführlichen bibliogra-
der Perspektive der Werkgruppen und Einzel- phischen Angaben zu weiterer Sekundärliteratur
werke (und damit auch werkgeschichtlich) er- vorangestellt.
Vorwort IX

Literatur: McVeigh (2002); Pichl (2003). Weigel (1987): Die Literatur von Frauen vor der Frau-
Kurt Bartsch (2000): Rezension [Bachmann 2000b, Al- enliteratur. Vorbemerkung. In: Stephan, Venske, Wei-
brecht/Göttsche 2000, Weigel 1999]. In: Sprachkunst gel: Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnen-
31, S. 371–380; – Günter Blöcker (1954): ›Lyrischer porträts. Frankfurt/M., S. 7–9.
Schichtwechsel‹. In: Süddeutsche Zeitung, 13./14. No-
vember 1954; – Inge Stephan, Regula Venske, Sigrid Monika Albrecht und Dirk Göttsche
I. Grundlagen
2

1. Leben und Werk im Überblick – eine Chronik

Kindheit und Jugend in Klagenfurt die Personen singen sollten, also habe ich es
(1926–1945) selbst schreiben müssen.« (GuI, 124) Zu den
ältesten im Nachlaß überlieferten Texten gehören
1926 neben einer Notenschrift zahlreiche Gedichte,
Am 25. Juni 1926 wird Ingeborg Bachmann als das an Schullektüren wie Schiller und Kleist ori-
erstes Kind von Olga Bachmann (geb. Haas entierte historische Versdrama Carmen Ruidera
1901–1998) und Matthias Bachmann (1895– (1942) und die ebenfalls in den napoleonischen
1973) in Klagenfurt geboren. Ihre Mutter stammt Kriegen spielende historische Erzählung Das
aus Niederösterreich, dem östlichsten, an ›Böh- Honditschkreuz (Ende 1943), die bereits gera-
men‹ und Ungarn grenzenden Bundesland, wo dezu als ein »Werk der inneren Emigration«, als
ihre Familie eine Strickwarenerzeugung betrieb, Einspruch gegen die Volks- und Heimatideologie
ihr Vater, ein protestantischer Volksschullehrer, des herrschenden Nationalsozialismus gelesen
der an beiden Weltkriegen als Offizier teilnimmt, worden ist (Höller 1999, S. 13).
aus Obervellach bei Hermagor im Gailtal im
Dreiländereck Österreich – Italien – Slowenien, 12. 3. 1938
wo die Familie oft Ferien im Auszugshaus des Den Tag des Einmarsches von Hitlers Truppen in
großväterlichen Hofes verbringt. Diesen Kärnt- Klagenfurt im Rahmen des »Anschlusses« Öster-
ner Grenzraum, in dem Deutsche und Slowenen reichs an das Deutsche Reich hat Ingeborg Bach-
zusammenleben, hat Bachmann später in der mann später rückblickend zum symbolischen Be-
Nachfolge von Robert Musils utopischem ›Kaka- gründungsdatum ihrer Autorschaft erklärt: »Es
nien‹ als Inbegriff eines gewaltfreien Miteinan- hat einen bestimmten Moment gegeben, der hat
ders der Völker mythisiert, als »ein Stück wenig meine Kindheit zerstört. Der Einmarsch von Hit-
realisiertes Österreich […], eine Welt, in der lers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Ent-
viele Sprachen gesprochen werden und viele setzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung
Grenzen verlaufen« (W 4, 302). 1928 wird Inge- anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich
borgs Schwester Isolde geboren, 1939 ihr Bruder ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt
Heinz. Zunächst wohnt die Familie in einer nie mehr hatte.« (GuI, 111) Zwar darf diese Zu-
Wohnung in der Durchlaßstraße Nr. 5, 1933 zieht spitzung nicht wörtlich verstanden werden – am
sie dann in ein eigenes Haus in der Hensel- 12. März 1938 war die Elfjährige (nach wider-
straße 26. sprüchlichen Mitteilungen) entweder verreist
oder sie lag mit Diphtherie im Krankenhaus –, sie
1932–1944 bezeichnet jedoch emphatisch die moralische
1932 bis 1936 besucht Ingeborg Bachmann in Verpflichtung und zeitkritische Ausrichtung ihres
Klagenfurt die Volksschule, dann das Bundesreal- Werks als eines Schreibens nach Auschwitz, zu
gymnasium, das in ihren späteren Schuljahren im dessen ›Problemkonstanten‹ (W 4, 193) die Aus-
ehemaligen Konventgebäude der Ursulinen un- einandersetzung mit den Verflechtungen von In-
tergebracht war (von den Nationalsozialisten dividual- und Zeitgeschichte im Zeichen gesell-
1938 in »Oberschule für Mädchen« umbenannt). schaftlicher Gewalt gehört. Den frühen Eintritt
Dort legt sie am 2. Februar 1944 ihre Matura ab. des Vaters in die NSDAP (Höller 1999, S. 46)
Schon in ihren Schuljahren beginnt Ingeborg wird sie dagegen ihr Leben lang nicht erwähnen,
Bachmann literarisch zu schreiben, verfaßt Ge- und sie beteiligt sich auch nicht an der in den
dichte und Prosa, komponiert Lieder und ent- sechziger Jahren einsetzenden öffentlichen Aus-
wirft Dramen. Im Rückblick hat sie die Musik an einandersetzung mit der Generation der Väter/
den Anfang ihres Schreibens gestellt: »Ich habe Täter.
als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und
weil es gleich eine Oper sein sollte, habe ich nicht
gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 3

1944/45 Weise zwischen Liebestext und poetologischem


Im letzten Kriegsjahr besucht Bachmann einen Diskurs changiert. Während des Sommerseme-
Abiturientenkurs an der Klagenfurter Lehrbil- sters 1946, in dem sie – nun in Graz – Philo-
dungsanstalt, wo u. a. der Kärntner Heimat- sophie, Germanistik und Jura studiert, gelingt
schriftsteller und zeitweilige Nationalsozialist Jo- ihre erste Veröffentlichung: Die Erzählung Die
sef Friedrich Perkonig zu ihren Lehrern gehört Fähre, die als ein Stück sozialkritischer Heimat-
und als ein literarischer Mentor fungiert. Der literatur verstanden werden kann, erscheint am
Kurs wird bei Kriegsende abgebrochen, und ein 31. Juli 1946 in der »Kärntner Illustrierten«
Tagebuch, das Bachmann zwischen Spätsommer (Klagenfurt).
1944 und Juni 1945 geführt hat, dokumentiert das
Befreiungserlebnis der alliierten Besatzung in 1946–50
Kärnten (Höller 1999, S. 7ff.), das später als das Im September 1946 vollzieht Bachmann den ent-
Motiv des ›schönsten Frühlings‹ in den Roman scheidenden Aufbruch aus der Provinz, indem sie
Das Buch Franza eingehen wird. Die Sommer- ihr Studium nun in Wien fortsetzt, wo sie in den
monate im großelterlichen Obervellach, wo kommenden Jahren Philosophie mit Germanistik
Bachmann Anfang Juni 1945 den britischen Offi- und Psychologie als Nebenfächern studiert. Sie
zier Jack Hamesh kennenlernt, einen Sohn exi- wohnt zunächst in der Beatrixgasse 26, seit Juni
lierter jüdischer Österreicher aus Wien, erlebt sie 1949 dann in der Gottfried-Keller-Gasse 13
als den »schönste[n] Sommer meines Lebens« (beide im 3. Bezirk) zur Untermiete. Im Septem-
(Tagebuch, zitiert nach Höller 1999, S. 9). Die ber 1947 absolviert sie ein Praktikum in der Ner-
schon zu Schulzeiten außergewöhnlich belesene venheilanstalt Am Steinhof in Wien. Zu ihren
Jugendliche stürzt sich in eine Flut zuvor ver- akademischen Lehrern gehören Hubert Rohr-
botener oder unzugänglicher Lektüren von Frank acher (Psychologie) und Viktor E. Frankl (Psycho-
Wedekind (N5741) bis Karl Marx (Höller 1999, therapie), der sich früh mit den Konzentrations-
S. 9). Sie überarbeitet ihre Jugendlyrik und ent- lagern des Nationalsozialismus auseinandersetzt,
wirft eine Fülle neuer Gedichte und Prosastücke sowie die Philosophen Alois Dempf (unter des-
(wie z. B. die Erzählung Die Fähre), mit denen ihr sen Leitung sie zunächst eine Dissertation zum
Schreiben an die Schwelle vom Jugend- zum »Typus des Heiligen« plant), Leo Gabriel, durch
Hauptwerk gelangt. Entwürfe aus dem Sommer/ den sie in Martin Heidegger und andere Formen
Herbst 1945 wie die Gedichte Melancholie, Klage der Existenzphilosophie eingeführt wird, sowie
und Ich frage, Prosatexte wie Cälian Hambrusch Viktor Kraft, ein Erbe des Wiener Neopositivis-
oder Hel Dörrias und später das Prosadrama Das mus. Bei ihm schreibt sie ihre Dissertation Die
Denkmalamt verbinden Erfahrungen des Er- kritische Aufnahme der Existentialphilosophie
wachsenwerdens, des Krieges und der unmittel- Martin Heideggers (1949), eine Arbeit »gegen
baren Nachkriegszeit mit einem sehr bewußten Heidegger«, wie sie später sagen wird (GuI, 137),
Arbeiten an der literarischen Form. die jedoch mit Heidegger in eine Apotheose von
Kunst und Literatur als der eigentlichen Aus-
drucksformen existentieller Erfahrung mündet.
Wien (1945–1953) Auch die Rezension einer wissenschaftlichen Pu-
blikation über Heidegger in der Bozener Zeit-
1945/46 schrift »Der Standpunkt« (16. 9. 1949) zeugt von
Zum Wintersemester 1945/46 nimmt Ingeborg ihrer Heidegger-Auseinandersetzung. Am 23.
Bachmann an der Universität Innsbruck das Stu- März 1950 schließt die feierliche Promotion das
dium der Philosophie, Psychologie, Germanistik Studium ab.
und Kunstgeschichte auf. Sie wohnt im Vorort Der Wechsel des Studienorts markiert zugleich
Arzl, wo sie nicht nur die Gedichtentwürfe des Ingeborg Bachmanns Eintritt in das literarische
Sommers 1945 überarbeitet; neben vielen neuen Leben Wiens in den unmittelbaren Nachkriegs-
Gedichten wie Vor einem Instrument und Ängste jahren, in denen sich in der alten österreichi-
entstehen dort auch die Briefe an Felician, ein schen Metropole aufgrund der offiziellen An-
erst posthum veröffentlichter Zyklus lyrischer erkennung Österreichs als des »ersten Opfers
Briefprosa, der bereits in charakteristischer Hitler-Deutschlands« – unmittelbarer als in
4 I. Grundlagen

Deutschland – eine Wiederanknüpfung an die »Lynkeus« vier ihrer frühen Gedichte, darunter
kulturellen Traditionen der Vorkriegszeit voll- das Gedicht Entfremdung mit seiner charakte-
zieht, in deren Rahmen Repräsentanten der alten ristischen, existentialistisch gefärbten Zeitkritik,
Generation und zurückgekehrte jüdische Emi- und die »Wiener Tageszeitung« veröffentlicht
granten als literarische Mentoren der jungen eine ganze Serie von Erzählungen: Die Fähre
Nachkriegsgeneration fungieren. So haben (Neufassung), Im Himmel und auf Erden, Das
Größen der Wiener Nachkriegsszene wie Hans schöne Spiel, Das Ufer, Die Versuchung, Das Lä-
Weigel (mit seinem legendären Kreis im Café cheln der Sphinx und Die Karawane und die
Raimund), Rudolf Felmayr und Hermann Hakel Auferstehung. Seit 1947 arbeitet Bachmann im
an Bachmanns literarischem Debüt wesentlichen übrigen an ihrem verschollenen ersten Roman
Anteil. Zugleich lernt die junge Autorin durch die Stadt ohne Namen (Brief an die Eltern vom 13. 4.
Älteren, von denen sie sich »als ›junge Dichterin‹ 1947), der sie bis 1952 beschäftigen wird. Trotz
abgestempelt« sieht (Brief an R. Felmayr vom der Fürsprache von Hans Weigel, Ilse Aichinger
30. 10. 1949, zitiert nach Höller 1999, S. 48), aber und Heimito von Doderer gelingt es ihr aller-
auch Angehörige ihrer eigenen Generation wie dings nicht, für diesen – nach Ausweis der über-
Ilse Aichinger kennen, die erste Repräsentantin lieferten Fragmente Der Kommandant und
der jungen Wiener Nachkriegsliteratur, mit der [Anna-Fragment] – parabolisch-surrealen Text
sie bei ihrem Aufbruch aus Wien freundschaftlich einen Verleger zu finden, und zu den vom Wiener
verbunden bleibt. Über Hans Weigels Revue Sei- Herold-Verlag verlangten Änderungen ist sie
tensprünge am Josefstädter Theater entwirft sie 1952 nicht mehr bereit.
eine unveröffentlichte Besprechung (1947).
1950/51
1948 Nach ihrer Promotion wird Bachmann »die
Ein wichtiges Erlebnis der frühen Wiener Jahre mehrwöchige Vertretung einer Assistentenstelle
ist die Begegnung mit Paul Celan, den Bachmann für den erkrankten Ernst Topitsch übertragen«
am 16. März 1948 in der Wohnung des surrea- (Weigel 1999, S. 93). Im Oktober 1950 fährt sie
listischen Malers Edgar Jené kennenlernt. In den dann nach Paris, um die Beziehung zu Paul Celan
Monaten bis zu Celans Weiterreise nach Paris im wiederaufzunehmen. Sie muß allerdings feststel-
Juli 1948 entwickelt sich eine intensive persön- len, daß Celan und sie sich »aus unbekannten,
liche Beziehung, die als Auseinandersetzung mit dämonischen Gründen […] gegenseitig die Luft
der Erfahrung des Holocaust zugleich eine »tief- wegnehmen« (Brief an H. Weigel, zitiert nach
greifende Verwandlung ihres Denkens und Steiner 1998), und reist im Dezember nach Lon-
Schreibens« (Höller 1999, S. 59) im Sinne jenes don zu Ilse Aichingers Zwillingsschwester Helga
Ethos bewirkt, das sie später in die Formel »Die weiter. Dort lernt sie u. a. Hilde Spiel und Erich
Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« faßt. Es Fried kennen und liest im Februar 1951 vor der
ist dies der Anfang einer schwierigen, nur in Anglo-Austrian Society aus eigenen Werken (21.
kurzen Intervallen gelingenden Liebesbeziehung 2. 1951). Nach Wien zurückgekehrt, erhält sie
und zugleich eines literarischen Dialogs, der mit durch Vermittlung Hans Weigels ein halbjähriges
Paul Celans Widmung von »annähernd zwanzig Stipendium zur Arbeit an ihrem Roman Stadt
seiner in Wien und in Paris entstandenen Ge- ohne Namen. »Nach einer mehrmonatigen An-
dichte« aus dem Band Mohn und Gedächtnis stellung im Sekretariat der amerikanischen Be-
(1948/52) an Ingeborg Bachmann beginnt (Höller satzungsbehörde und anderen Gelegenheitsar-
1999, S. 58) und bis zur literarischen Hommage beiten« ergibt sich im Herbst 1951 schließlich
an ihn und seinen Freitod in ihrem Roman Ma- »die Möglichkeit zur Mitarbeit im Script-Depart-
lina (1971) reicht. ment des Senders Rot-Weiß-Rot«, der amerikani-
schen Radiostation in Wien (Höller 1999,
1949 S. 46 f.).
Das Jahr, in dem Bachmann ihre Dissertation
abschließt, ist zugleich das Jahr ihres ersten lite- 1952
rarischen Erfolgs. Anfang 1949 erscheinen im Die Anstellung im Sender Rot-Weiß-Rot (zu-
ersten Heft von Hermann Hakels Zeitschrift nächst als Script-Writer, dann als Redakteurin),
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 5

für den sie u. a. Beiträge zu der Sendereihe Die Geschäft mit Träumen (3. 11. 1952). Von den Ta-
Radiofamilie schreibt (McVeigh 2002), bezeich- gungen des Jahres 1952 datiert auch die Freund-
net zugleich den Beginn von Ingeborg Bach- schaft mit Heinrich Böll, der in den fünfziger
manns literarischen Arbeiten für den Rundfunk. Jahren zu einem wichtigen Gesprächspartner
Schon 1952 werden Bachmanns erstes Hörspiel wird.
Ein Geschäft mit Träumen (28. 2. 1952) und ihre
Rundfunkbearbeitungen der Dramen Das Herr- 1953
schaftshaus von Thomas Wolfe (4. 3. 1952) und Die Deutschlanderfahrungen des Jahres 1952 er-
Der schwarze Turm von Louis MacNeice (8. 10. mutigen Ingeborg Bachmann zu dem Entschluß,
1952) gesendet. Zugleich entstehen in den Jahren den Versuch eines Lebens als freie Autorin zu
1952/53 eine Reihe von Rezensionen (über Ro- wagen: »Vor der Literatur als Beruf fürchte ich
mane von Thea Sternheim, José Orabuena, über mich sehr […]. Aber probieren möchte ich es
Alfred Mombert und Heinrich Bölls Erzählung trotzdem.« (Brief an H. Böll vom 5. 2. 1953) Daß
Der Zug war pünktlich) für die österreichische sie für die vorgetragenen Gedichte ihres entste-
Kulturzeitschrift »Wort und Wahrheit«. In der henden Bandes Die gestundete Zeit bei der Ta-
akademischen Monatsschrift »Morgen« erscheint gung der Gruppe 47 in Mainz (22.–24. 5. 1953)
das Prosastück Auch ich habe in Arkadien gelebt, den renommierten Preis der Gruppe erhält, be-
und Hans Weigel veröffentlicht in seinem Jahr- deutet vor diesem Hintergrund nicht nur eine
buch »Stimmen der Gegenwart« ihren Gedichtzy- Auszeichnung von weitreichender Bedeutung für
klus Ausfahrt. Auch 1951 (Die Mannequins des ihren Durchbruch auf dem literarischen Markt
Ibykus) und 1953 (Auszüge aus Ein Geschäft mit der Nachkriegszeit, sondern auch eine nachhal-
Träumen) ist sie in dieser österreichischen An- tige Bestätigung ihrer Entscheidung für die
thologie vertreten. Schriftstellerexistenz. Ende Juli gibt sie ihre An-
Durch Hans Werner Richter, der sie im April stellung beim Sender Rot-Weiß-Rot auf und ver-
1952 in Wien kennengelernt hat, erhält sie die läßt Wien, allerdings nicht, um mit Ilse Aichinger
Einladung zur 10. Tagung der Gruppe 47 in Nien- nach Deutschland überzusiedeln, wie sie zu-
dorf an der Ostsee (23.–25. 5. 1952), bei der Ilse nächst geplant hatte (Briefe an H. Böll vom
Aichinger den Preis der Gruppe erhält und an der 12. 12. 1952, 5. 2. 1953, 21. 4. 1953). Stattdessen
auf Bachmanns Vermittlung auch Paul Celan teil- reist sie über Kärnten nach Italien, wo sie am 9.
nimmt. Die Aufnahme in den Kreis der Gruppe August auf der Insel Ischia bei Hans Werner
47 ermöglicht ihr schließlich die Emanzipation Henze eintrifft, der ihr in neuer Qualität die Welt
von den Verflechtungen des literarischen Lebens der Musik und der Oper erschließt sowie Kon-
in Wien. Bachmann bleibt »noch bis Mitte Juni in takte zu Komponisten wie Luigi Nono und Karl
Deutschland«, knüpft in Hamburg, »Frankfurt, Amadeus Hartmann vermittelt.
Hannover, Stuttgart, Ulm und München« (Brief Nach diesem neuerlichen Aufbruch wird Inge-
an W. Bächler vom Sommer 1952) literarische borg Bachmann nur noch zu Besuchen nach Wien
und verlegerische Kontakte und beginnt die Serie und Klagenfurt zurückkehren. Ihr Verhältnis zu
jener Rundfunklesungen, die in den Folgejahren Österreich wird im Laufe der Jahre immer zwie-
ein wichtiges Medium insbesondere der Erst- spältiger. Der deutlichen Kritik an den Verkru-
veröffentlichung ihrer Gedichte sein werden. Im stungen der österreichischen Nachkriegsgesell-
September unternimmt sie dann zusammen mit schaft, ihrer anachronistischen Reinszenierung
ihrer Schwester eine erste Reise nach Italien; im der Habsburger Vergangenheit und ihrer Ver-
Oktober nimmt sie an einer Kulturtagung in St. drängung des eigenen Anteils an den Verbrechen
Veit teil. Bei der Herbsttagung der Gruppe 47 auf des Nationalsozialismus steht die Utopie vom
Burg Berlepsch bei Göttingen lernt sie Ende Ok- »Haus Österreich« als einer transnationalen »gei-
tober den Komponisten Hans Werner Henze ken- stige[n] Formation« mit eigener Geschichte ge-
nen, mit dem sie eine langjährige künstlerische genüber, deren spezifischer »Erfahrungsfundus,
Zusammenarbeit und Freundschaft verbinden Empfindungsfundus« gegen das kulturell domi-
wird. Im November sendet der NWDR ihre nante Westdeutschland ihre Identität als Öster-
Skizze Biographisches zusammen mit einer Reihe reicherin begründet (GuI, 79, 63 f.). In ihren spä-
von Gedichten und der Erzählfassung von Ein ten Römischen Jahren wird Bachmann ausdrück-
6 I. Grundlagen

lich von ihrem »Doppelleben« zwischen ihrem reits neue Gedichte wie Nebelland, Curriculum
Wohnort Rom und dem Wien ihrer literarischen vitae und Lieder von einer Insel, die später in den
Arbeit sprechen (GuI, 65). zweiten Gedichtband Anrufung des Großen Bä-
Der Aufbruch aus Wien und die durch die ren eingehen werden. In einem Radioessay setzt
Gruppe 47 gewonnenen Kontakte bilden von sie sich mit Franz Kafkas Roman Amerika ausein-
1953 an zunächst die Grundlage ausgedehnter ander (9. 12. 1953), in einem anderen mit Robert
Reisen, die Bachmanns Leben bis in die Mitte der Musils Der Mann ohne Eigenschaften (April
sechziger Jahre prägen werden. So hatte sie 1954; vgl. Brief J. Moras an Bachmann vom 14. 4.
schon im April 1953 ihre Eltern in Klagenfurt 1954), in der Zeitschrift »Akzente« erscheint ein
besucht und dann die Tagung der Gruppe 47 zweiter Essay über Musils Roman: Ins tausend-
Ende Mai zum Anlaß für Besuche in Köln, Frank- jährige Reich (Februar 1954). In einem weiteren
furt, Hamburg und München genommen. Zu- Radioessay – Sagbares und Unsagbares – stellt
gleich erschließt sie sich neue Veröffentlichungs- sie noch einmal die Philosophie Ludwig Wittgen-
medien, so die Zeitschrift »Frankfurter Hefte«, in steins vor (16. 9. 1954), obwohl sie zugleich be-
denen ihr Essay Ludwig Wittgenstein – Zu einem ginnt, sich von ihrer früheren »Philosophie-Ma-
Kapitel der jüngsten Philosophiegeschichte er- nie« zu distanzieren (Brief an H. Kesten vom 6. 7.
scheint (Juli 1953), und vor allem den angese- 1954, zitiert nach Weigel 1999, S. 34).
henen »Merkur« und den »Jahresring«, in denen Nachdem es Bachmann noch kurz zuvor nicht
sie in den Folgejahren regelmäßig Gedichte und gelungen war, ihren ersten Gedichtband bei ei-
Prosa veröffentlicht und mit deren Redakteur nem der ›renommierten‹ Verlage unterzubringen
Joachim Moras sie bis zu seinem Tod im April (vgl. Brief von A. Andersch in Hotz 1990, S. 238),
1961 in zunehmend herzlicher Verbindung steht. zeugen lange Verhandlungen mit verschiedenen
Verlagen – Piper, Kiepenheuer & Witsch und
Claassen (sie entscheidet sich schließlich für
Italien (1953–1957) Piper) – 1953/54 (nach dem Zusammenbruch der
Frankfurter Verlagsanstalt) von der weiteren Pro-
1953/54 fessionalisierung ihrer Schriftstellerexistenz. Ein
Bezeichnet der Wittgenstein-Essay Bachmanns entscheidendes Datum für den wachsenden Ruf
fortdauerndes Interesse an der Philosophie, so Ingeborg Bachmanns als Dichterin, aber auch für
markiert ihre lyrische Neufassung des Textbuchs ihre Stilisierung als »auratische Lyrikerin«
zu Tatjana Gsovskys Ballett-Pantomime nach (Bartsch 1997, S. 1) markiert dann die Titelstory,
F. M. Dostojewskis Roman Der Idiot, zu der H. W. die das einflußreiche deutsche Nachrichtenmaga-
Henze die Musik geschrieben hatte, im Sommer zin »Der Spiegel« ihr am 18. August 1954 widmet.
1953 den Beginn der künstlerischen Zusammen- Gleichwohl bleibt Bachmann bis in die sechziger
arbeit mit dem Komponisten. Anfang August bis Jahre auf Nebenarbeiten angewiesen, um ihren
Anfang Oktober 1953 wohnt Bachmann in seiner Lebensunterhalt zu bestreiten. So schreibt sie
Nähe in San Francesco bei Forio auf der Insel unter dem Pseudonym Ruth Keller zwischen Juli
Ischia. Dann zieht sie nach Rom, in die Piazza 1954 und September 1955 regelmäßig »römische
della Quercia 1. In diesem Sommer arbeitet sie Reportagen« für Radio Bremen und für die
u. a. auch »an einem Hörspiel ›Die Straße der vier »Westdeutsche Allgemeine Zeitung«, kleine (Ra-
Winde‹ für den NDR« (Brief an H. Paeschke, dio-) Essays zu politischen Vorgängen, Tages-
»Merkur«, vom 30. 7. 1953). Im Herbst 1953 un- ereignissen und Alltagskultur in Italien.
terstreicht das Erscheinen ihres ersten Gedicht- Am 16.–18. Oktober 1953 nimmt Bachmann an
bandes Die gestundete Zeit, der sich in seinen der Tagung der Gruppe 47 in Schloß Beben-
freien Formen und seiner appellativen Zeitkritik hausen bei Tübingen teil und liest dort ihr ly-
deutlich von den früheren Gedichten abhebt, in risches Textbuch zu Gsovskys und Henzes Ballett-
der Frankfurter Verlagsanstalt (in Alfred An- pantomime: Ein Monolog des Fürsten Myschkin
derschs Reihe »Studio Frankfurt«, 2. Aufl. im (Uraufführung dieser Ballett-Neufassung erst am
Piper-Verlag 1957) ihren neuen Status als freie 8. 1. 1960 im Titania-Palast Berlin). In München
Schriftstellerin. In verschiedenen Zeitschriften begegnet sie am 4. Dezember 1953 bei Wolfgang
und Rundfunklesungen veröffentlicht sie aber be- Hildesheimer, mit dem sie in den kommenden
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 7

Jahren einen freundschaftlich-selbstironischen von ihrer früheren Parallelarbeit in Wissenschaft


Briefwechsel führt, den Komponisten Luigi und Literatur: »Seit fünf Jahren habe ich nicht
Nono, Bruno Maderna und Wolf Rosenberg. Auf mehr wirklich etwas in der Philosophie getan,
der Rückreise nach Rom macht sie bei ihren das doppelte Geleise hat viel Verführung gehabt
Eltern in Klagenfurt Station (Brief an W. Hildes- für mich, aber ohne konzentrierte Arbeit muß
heimer vom 13. 12. 1953). Ende April 1954 man unweigerlich entgleisen […].« (Brief an H.
nimmt sie an einer weiteren Tagung der Gruppe Paeschke vom 14. 11. 1955) Gleichwohl dankt ihr
47 teil, die diesmal auf ihre Anregung in Cap Siegfried Unseld noch fünf Jahre später für ihren
Circeo (San Felice, Italien) im Hotel Magacire Anteil an der Entdeckung Wittgensteins (Brief
stattfindet. Im Juli reist sie zur Biennale nach vom 13. 12. 1960 in Höller 1999, S. 169).
Venedig und wird von den »schönen Bildern, von
Courbet bis Klee« begeistert (Brief an H. Kesten 1955
vom 6. 7. 1954, zitiert nach Weigel 1999, S. 34). Ingeborg Bachmanns wachsender Ruf als die
Zu den zahlreich neuen Kontakten dieser ersten wichtigste deutschsprachige Lyrikerin der Nach-
römischen Schriftstellerjahre gehören Hermann kriegszeit schlägt sich 1955 in neuen öffentlichen
Kesten, Gustav René Hocke, Toni Kienlechner Anerkennungen nieder. Im Mai liest sie auf der
sowie die lebenslange Freundschaft mit Marie Tagung der Gruppe 47 im Haus Rupenhorn in
Luise Kaschnitz, die 1952 bis 1956 in Rom lebt Berlin (13.–15. 5. 1955) aus ihrem Hörspiel Die
und mit der sie in der Folge in Rom, Neapel, Zikaden über das zivilisationskritische Thema
Berlin und Frankfurt (Kaschnitz’ Wohnort seit der Weltflucht und erhält den Literaturpreis des
Ende 1956) immer wieder zusammentrifft. Kulturkreises des Bundesverbandes der deut-
schen Industrie (16./17. 5. 1955). Im Juli nimmt
1954/55 Bachmann auf Einladung von Henry Kissinger an
Den Winter 1954/55 verbringt Bachmann gro- der internationalen »Harvard Summer School of
ßenteils bei Henze in Neapel. Dort schließt sie Arts and Sciences and of Education« an der Har-
u. a. ihr Hörspiel Die Zikaden ab, das seit dem vard Universität in Cambridge/Massachusetts
Sommer einen Schwerpunkt ihrer literarischen teil, von wo aus auch ein Ausflug nach New York
Arbeit darstellt und zu dem Henze die Musik unternommen wird. Im Februar war sie zwar zum
schreibt (Ursendung im NWDR am 25. 3. 1955). ersten Mal mit einem Flugzeug geflogen (Post-
Daneben entstehen die Lieder auf der Flucht, karte an H. Kesten vom 28. 2. 1955), in die USA
Anrufung des Großen Bären, Schwarzer Walzer reist sie jedoch mit dem Schiff. Allerdings findet
und andere Gedichte des zweiten Lyrikbandes, in sie keinen rechten Zugang zum Gastgeberland,
»Akzente« erscheint im Februar 1955 u. a. der empfindet es als ›höchst sonderbar‹, will das
Essay Was ich in Rom sah und hörte, in »We- Seminar »kaum ausgehalten« haben (Briefe an W.
stermanns Monatsheften« die Reflexion [Wozu Hildesheimer vom 15. 7. 1955 und 22. 5. 1959)
Gedichte] (April 1955), im »Jahresring 1955/56« und behauptet sarkastisch, sie verstehe »erst jetzt
das Prosastück Die blinden Passagiere; der Süd- recht, warum sich soviele Emigranten umge-
westfunk sendet den Radioessay Das Unglück bracht haben, denn zu allem andren hat ihnen
und die Gottesliebe – Der Weg Simone Weils (5. 8. wohl dieses Land den Rest gegeben« (Brief an H.
1955). Zu neuen literarischen Plänen gehört ein Böll vom 16. 7. 1955). Dennoch verdankt sie der
Roman, auf den der Piper-Verlag in den Folge- USA-Reise wichtige Kontakte, so etwa zu dem
jahren immer wieder drängen wird und der zu damaligen Lektor des Suhrkamp-Verlages Sieg-
diesem Zeitpunkt möglicherweise mit den nach- fried Unseld und zu dem Journalisten Pierre
gelassenen Entwürfen Ein Fenster zum Ätna Evrard, mit dem sie eine langjährige Freund-
identifiziert werden kann. Außerdem schlägt Joa- schaft verbinden wird.
chim Moras ihr eine Monographie über Ludwig Nach der Rückkehr verbringt sie die Monate
Wittgenstein als Seitenstück zu einer Wittgen- Oktober bis Dezember bei ihren Eltern in Klagen-
stein-Ausgabe in der Deutschen Verlagsanstalt furt und erwägt kurzfristig eine Rückkehr nach
vor (Brief an J. Moras vom 2. 2. 1955). Erst im Wien (Brief an M. L. Kaschnitz vom 15. 10.
November entschließt sie sich, dieses Angebot 1955). Langlebiger ist der Wunsch, »ein Jahr« in
abzulehnen, und nimmt dabei zugleich Abschied Griechenland zu verbringen (Brief an J. Moras
8 I. Grundlagen

vom 14. 11. 1955), der sie schon Ende 1954 mit Vortragsreise nach Deutschland führt sie Ende
Blick auf das Jahr 1955 umtreibt, im folgenden Februar/März u. a. nach Düsseldorf, Bremen, Bo-
Herbst/Winter zu sehr konkreten Plänen erst für chum, Wuppertal, Frankfurt und München. Von
das Frühjahr, dann für den Sommer 1956 führt dort aus kehrt sie über Lenggries/Oberbayern
und sich schließlich doch nicht verwirklichen läßt (einer ihrer Besuche bei den Freunden Günter
(Brief an O. Döpke vom Mai 1956 in »du« 1994, Eich und Ilse Aichinger) und Klagenfurt nach
S. 36). Neapel zurück, wo sie u. a. mit Marie Luise
Kaschnitz über ihre Librettopläne spricht (Kasch-
1955/56 nitz, S. 555, 558). Auch der in diesem Frühjahr
Von Klagenfurt aus nimmt Bachmann an der entstehende Prosatext Die wunderliche Musik
Herbsttagung der Gruppe 47 in Schloß Beben- reflektiert das für Bachmanns ästhetisches Den-
hausen bei Tübingen teil (14.–16. 10. 1955) und ken zentrale Verhältnis von Musik und Dichtung
reist Mitte Dezember nach Baden-Baden, um (gedruckt im Herbst im »Jahresring« zusammen
dort u. a. Hans Werner Henze zu treffen. Diesem mit neuen Gedichten). Im Juni wird ihre Hör-
hat sie »fürs nächste Musikfest in Donaueschin- spielbearbeitung von Robert Musils Drama Die
gen« ein Opernlibretto versprochen (Brief an S. Schwärmer aufgenommen (BR), und es erschei-
Unseld vom 6. 12. 1955), das neben der Weiter- nen wiederum Gedichte – Mein Vogel, Heimweg,
arbeit am zweiten Gedichtband in den Monaten An die Sonne – im »Merkur«, im Juli das berühmt
November 1955 bis Juni 1956 einen Schwerpunkt werdende Gedicht Erklär mir, Liebe in der Wo-
ihres Schreibens ausmacht. Zusammen mit chenzeitung »Die Zeit« (19. 7. 1956). Im August
Henze besucht sie im Januar 1956 »drei Opern- verbringt sie einige Tage auf Ischia, um dann über
abende in der Scala« in Mailand, darunter eine Venedig und Klagenfurt zur Premiere von Henzes
Generalprobe zu Luchino Viscontis Inszenierung Oper König Hirsch (23. 9. 1956) nach Berlin zu
von Guiseppe Verdis Oper La traviata mit Maria reisen. Bei diesem Sommeraufenthalt in Klagen-
Callas in der Hauptrolle (24. 1. 1956) – »bei wei- furt wird der zweite Gedichtband Anrufung des
tem das Schönste, was ich je auf einer Opern- Großen Bären »endlich fertig« (Brief an H. Böll
bühne gesehen habe« (Brief an K. Piper vom 5. 2. vom 18. 8. 1956; erscheint Herbst 1956 bei
1956). Dieses überwältigende Erlebnis, dem sich Piper), der nicht zuletzt wegen seiner traditio-
auch ihre spätere Hommage à Maria Callas ver- neller klingenden Form- und Bildsprache nun
dankt, gibt dem Librettoprojekt um »die Ge- auch die volle Anerkennung der Literaturkritik
schichte eines aus dem neapolitanischen Proleta- findet.
riat aufsteigenden Filmstars« namens Belinda
(Henze-Interview 1986, zitiert nach Spiesecke 1956/57
1993, S. 83) neuen Auftrieb, dessen Fragmente Nach drei Jahren Italien ist Bachmann im Som-
im Nachlaß überliefert sind. Allerdings gelingt mer 1956 auf der Suche nach einem neuen Wohn-
Bachmann das notwendige »Hintanstellen der und Arbeitsort. Eine längere Erkrankung in Kla-
eigenen Arbeit unter die allein wichtige des Kom- genfurt verhindert zwar eine geplante Berlin-
ponisten« (W 1, 434) hier noch nicht, und das reise, und die als ›Übersiedlung‹ bezeichnete
Projekt wird aufgegeben. Auch der langjährige Fahrt nach Paris verschiebt sich (Brief an D.
Plan, ein Theaterstück zu schreiben, der sich im Lattmann vom 2. 9. 1956), den Dezember ver-
Briefwechsel von Dezember 1955 bis Dezember bringt sie dann jedoch in Paris, wo sie zunächst
1958 verfolgen läßt (Brief an S. Unseld vom 6. 12. im Hôtel de la Paix, Rue Blainville 6 wohnt, dem
1955; Brief an H. Böll vom 28. 12. 1958), wird sie das Gedicht gleichen Titels widmet (Hörfunk-
nicht verwirklicht. lesung NDR, 1. 2. 1957). Paris entspricht jedoch
nicht ihren Erwartungen, zumal der »Rückschlag
1956 der politischen Ereignisse« (Algerienkrieg, Suez-
Anfang Januar 1956 kehrt Bachmann nach lan- krise) sie bedrückt (Brief an K. Piper vom 1. 12.
gem Aufenthalt in Klagenfurt nach Rom zurück, 1956). Konzentrierte Lektüren wie die von Mar-
verbringt dann aber die Monate Februar bis Au- cel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der
gust weithin bei Hans Werner Henze in Neapel verlorenen Zeit können dies nur unzulänglich
(Villa Rotondo, Via Bernardo Cavallino 1). Eine kompensieren. Zum Jahreswechsel kehrt sie da-
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 9

her nach Rom zurück, sucht eine Wohnung ›für Unseld vom 3. 7. 1957; Brief an H. Kesten vom
sich und ihre drei Koffer‹ (Brief an A. Andersch 3. 9. 1957), und nimmt zum September eine
vom 9. 1. 1957) und will »ein Jahr lang« in der Via Stelle als Dramaturgin beim Bayerischen Fern-
Vecchiarelli 38 bleiben (Brief an H. Paeschke vom sehen in München an. Im Oktober 1957 wird sie
16. 1. 1957). Dort erreicht sie noch in der ersten zum korrespondierenden Mitglied der Deut-
Januarhälfte die Mitteilung über die – ebenso schen Akademie für Sprache und Dichtung in
ehrenvolle wie in finanzieller Hinsicht willkom- Darmstadt gewählt.
mene – Zusprechung des Literaturpreises der
Freien Hansestadt Bremen (Rudolf Alexander
Schröder-Stiftung), der ihr am 26. Januar 1957 in München und Neapel (1957/58)
Bremen für ihren Gedichtband Anrufung des
Großen Bären verliehen wird. Es ist dies ein 1957/58
erstes öffentliches Signal für den großen Erfolg Die Anstellung beim Bayerischen Fernsehen
gerade ihres zweiten Gedichtbandes, der ihr al- durch dessen Direktor Clemens Münster (Sep-
lerdings in dem Maße zum Problem wird, wie sie tember 1957 bis Mai 1958) ist für Bachmann von
sich von einer konservativen Literaturkritik als Anfang an ebenso ungeliebt wie die Stadt Mün-
›positive‹ Dichterin vereinnahmt sieht. chen, wo sie »fast alles und fast jedes deprimie-
rend« findet (Brief an H. Kesten vom 16. 10.
1957 1957, zitiert nach Weigel 1999, S. 287). Ihre Woh-
Im Juni 1957 unternimmt Bachmann eine Be- nung in der Franz Josefstr. 9a, die sie am 1. De-
suchsreise nach Innsbruck, Lenggries, Fürth, zember 1957 bezieht, wird daher zum Ausgangs-
München, wo sie sich einer Blinddarmoperation punkt vielfältiger Reisen. Gleich im September
unterziehen muß, und Stuttgart, um dort u. a. fährt sie über die Schweiz zu einem Urlaub nach
Alfred Andersch wiederzutreffen, der als Heraus- Ischia, sie besucht Freunde und Bekannte in
geber ihres ersten Gedichtbandes und Rundfunk- Deutschland, nimmt am 20. Oktober bei den
redakteur in den fünfziger Jahren einer ihrer Donaueschinger Musiktagen an der Urauffüh-
wichtigen Arbeitsfreunde und Vermittler ist. An- rung von Henzes Nachtstücken und Arien nach
dersch ist es auch, der ihr mit dem Ziel einer Gedichten Ingeborg Bachmanns teil und liest bei
gutbezahlten Rundfunkreportage eine »Nordafri- der Tagung der Gruppe 47 am Starnberger See
kareise« nach Marokko vorschlägt – ein unreali- ihre Gedichte Liebe, dunkler Erdteil und Strö-
sierter Plan, auf den er noch 1959 wieder zurück- mung (27.–29. 10. 1957); Weihnachten verbringt
kommt (Brief an A. Andersch vom 9. 7. 1957; sie bei ihren Eltern in Klagenfurt. Im März 1958
Briefe von A. Andersch an Bachmann vom 3. 7. fährt sie nach Berlin, wo sie u. a. mit Marie Luise
1957 und 16. 6. 1959). Im Süddeutschen Rund- Kaschnitz den Zoo besucht (24. 3. 1958) und in
funk liest sie neue Gedichte (Strömung, Geh Ostberlin Peter Huchel aufsucht (Brief an H. Böll
Gedanke, Freies Geleit; 19. 6. 1957). Die zur Ver- vom 25. 3. 1958). Im April tritt sie zusammen mit
öffentlichung bereits an Joachim Moras gesandte anderen Mitgliedern der Gruppe 47 dem »Ko-
Erzählung Porträt von Anna Maria erbittet sie mitee gegen die Atomrüstung« bei.
nach Rücksprache mit dem Ehepaar Eich jedoch Im Oktober 1957 nimmt Bachmann zusammen
als unfertig wieder zurück (Briefe an J. Moras mit Peter Huchel, Hans Mayer, Heinrich Böll,
vom 16. und 26. 6. 1957). Einen Schwerpunkt Paul Celan u. a. in Wuppertal an einer Tagung
ihrer literarischen Arbeit bildet im Sommer/ zum Thema »Literaturkritik – kritisch betrachtet«
Herbst 1957 das Hörspiel Der gute Gott von teil (11.–13. 10. 1957). In den Jahren 1957/58
Manhattan, ein Reflexionsmodell der (Un-) stellen Bachmann und Celan gemeinsam die
Möglichkeit und Zerstörung absoluter Liebe, das Texte für den deutschen Teil der von Marguerita
zunächst den Arbeitstitel »Manhattan-Ballade« Caetani herausgegebenen italienischen Zeit-
trägt (Brief an H. Kesten vom 3. 9. 1957, zitiert schrift »Botteghe Oscure« zusammen. Das Wie-
nach Weigel 1999, S. 220). Trotz ihrer literari- dertreffen mit Paul Celan in Wuppertal und Köln
schen Erfolge sieht sie sich seit Juli 1957 jedoch (14. 10. 1957) und seine anschließenden Besuche
genötigt, zum Herbst wieder die »Zwangsarbeit« bei ihr in München (7.–9. 12. 1957, 28./29. 1.
einer festen Anstellung einzugehen (Brief an S. 1958, 7. 5. 1958) lassen aber auch die Liebes-
10 I. Grundlagen

beziehung zu diesem Dichter wiederaufleben. rückbindet. Allerdings gelangt dieser Roman


Diese Phase ihrer Freundschaft endet offenbar nicht über den Status eines Fragments hinaus und
mit mehreren Treffen bei einem Parisaufenthalt wird 1962/63 durch den ersten Todesarten-Ro-
Ingeborg Bachmanns (30.6.–2. 7. 1958). Dort man abgelöst. Zu nicht abgeschlossenen Erzähl-
lernt sie anläßlich einer Aufführung des Züricher fragmenten aus dem zeitlichen Umkreis des Ban-
Schauspielhauses, das mit Max Frischs Stücken des Das dreißigste Jahr gehören auch [Der
Biedermann und die Brandstifter und Die große Schweisser], [Der Hinkende] und Zeit für Go-
Wut des Philipp Hotz in Paris gastiert, am 3. Juli morrha, eine weitere Variation des für diese
1958 auch deren Autor kennen, mit dem sie von Schaffensperiode charakteristischen Motivs vom
da an eine Partnerschaft verbindet, die – so Max Grenzübertritt, hier um ein Mädchen aus der
Frisch im Interview mit Philippe Pilliod (Berzona Wiener Leopoldstadt, das sich als Schauspielerin
1985) – »alles in allem etwas mehr als vier Jahre« von erlittenen Demütigungen befreit, sowie die
dauert. Den Sommer verbringt Bachmann jedoch grenzüberschreitende Geschichte einer Liebe
zunächst bei Henze in Neapel (Via Generale Pa- (brieflicher Arbeitstitel »Wien-Venedig«) und die
risi 6), bevor sie sich im September mit Max Familienerzählung Der Tod wird kommen (brief-
Frisch in La Spezia am Golf von Genua trifft. Im lich unter dem Titel »Unsere Toten«, Brief an R.
Oktober reist sie zur Premiere von Henzes Un- Baumgart vom 12. 5. 1960).
dine-Ballett nach London (27. 10. 1958) und
nimmt dann an der Tagung der Gruppe 47 im
Gasthof Adler in Großholzleute im Allgäu teil Zürich und Rom (1958–1963)
(31.10.–2. 11. 1958). Anfang November 1958 be-
endet sie ihr Münchener Jahr mit dem Umzug 1958/59
nach Zürich zu Max Frisch und den »ersten Nach ihrem Umzug aus München nach Zürich im
Schritte[n] in ein neues Leben« (Brief an G. R. November 1958 wohnt Bachmann in der Feld-
Hocke vom 19. 11. 1958, zitiert nach Höller 1999, eggstr. 21, vor allem aber in Max Frischs Woh-
S. 105). nung in Uetikon am See (Haus zum Langen-
baum). Im Oktober 1959 nimmt sie sich im
1958 Gottfried-Keller-Haus (Kirchgasse 33) zusätzlich
Neben ihrer Tätigkeit als Dramaturgin des Baye- eine eigene »kleine Arbeitswohnung in der Stadt«
rischen Fernsehens stellt Bachmann ihren Radio- (Brief an K. Piper vom 9. 10. 1959). Die Monate
essay Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Januar bis Juni 1959 arbeitet Bachmann intensiv
Pandämonium (BR 13. 5. 1958) fertig, an dem sie an den Erzählungen des entstehenden Bandes
(nach der im Dezember 1956 in Paris begonnenen Das dreißigste Jahr, darunter an der Titelerzäh-
Proust-Lektüre) seit dem Sommer 1957 gear- lung um die Lebenskrise eines paradigmatischen
beitet hat. Im Mai gelangt auch ihr Hörspiel Der modernen Intellektuellen, an Alles und Jugend in
gute Gott von Manhattan zur Ausstrahlung (BR/ einer österreichischen Stadt. Diese letzte Erzäh-
NDR 29. 5. 1958). Zugleich arbeitet sie an den lung, eine autobiographische Auseinanderset-
Erzählungen des Bandes Das dreißigste Jahr, den zung mit der österreichischen Kindheit in Kla-
der Piper-Verlag schon für den Herbst 1959 plant genfurt im Zeichen von Nationalsozialismus und
(Brief K. Pipers an Bachmann vom 10. 10. 1958). Krieg, die zugleich eine an Walter Benjamin ge-
Außerdem erwartet der Verlag ihren »nächsten schulte Gedächtnispoetik entwirft, wird als erster
Roman«, für den sie ihre »Wiener Jahre« als der Texte im Frühjahr in Marguerita Caetanis
»Ausgangspunkt« angegeben hat (Brief K. Pipers Zeitschrift »Botteghe Oscure« (Rom) vorabge-
an Bachmann vom 14. 5. 1958, zitiert nach Höller druckt. Als Nebenarbeit wird im Februar ihre
1999, S. 105). Tatsächlich hat Ingeborg Bach- Funkbearbeitung von Robert Musils Komödie
mann schon in ihren ersten italienischen Jahren Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer
(1954–57) an einem neuen Romanprojekt um die gesendet (Radio Bremen, 13. 2. 1959). Neue Eh-
Figur des Kriegsheimkehrers Eugen gearbeitet rungen unterstreichen Bachmanns gewachsene
(Eugen-Roman I), dessen relativ spätere Ent- Bedeutung in der deutschsprachigen Nachkriegs-
würfe das Geschehen der überlieferten früheren, literatur. Angesichts der Anfeindungen, denen sie
in Rom spielenden Bruchstücke nach Wien zu- in der österreichischen Literaturszene ausgesetzt
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 11

ist – so attackiert ihr einstiger Mentor Hans Wei- 1959/60


gel sie im Juni 1958 in der Zeitschrift »Forum« Schon nach einem Monat in Rom (Via della Stel-
wegen ihrer Beteiligung an einem Protest gegen leta 23) kehrt Bachmann Anfang August nach
die atomare Bewaffnung der Bundeswehr in ei- Zürich zurück, arbeitet weiter an ihren Erzählun-
nem »Offenen Brief in Sachen Unterschrift« –, gen und schreibt in freier Bearbeitung des Dra-
schlägt Hermann Kesten ihre Aufnahme in den mas von Heinrich von Kleist das Libretto für
deutschen PEN vor, und am 17. März 1959 wird Henzes Oper Der Prinz von Homburg. In der
ihr im Plenarsaal des Bundesrates in Bonn der Festschrift »Musica Viva« erscheint im Juni 1959
angesehene Hörspielpreis der Kriegsblinden ver- ihr Essay Musik und Dichtung, und sie trägt bei
liehen, für den sie sich mit der poetologischen der Tagung der Gruppe 47 im Schloß Elmau bei
Rede Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar Mittenwald (23.–25. 10. 1959) ihre Erzählung Al-
bedankt. Auch das praktische Leben kommt nicht les vor, eine abgründige Reflexion der pädagogi-
zu kurz: Im März besteht Ingeborg Bachmann in schen Utopie eines vollständigen gesellschaftli-
Zürich die Fahrprüfung (Brief an G. Grass vom chen Neuanfangs, die zugleich im Bayerischen
29. 3. 1959). Ende März nimmt sie zusammen mit Rundfunk ausgestrahlt wird. Bei dieser Tagung
Max Frisch Abschied von dem sterbenden Peter lernt sie den soeben aus der DDR übersiedelten
Suhrkamp. Uwe Johnson kennen, der in der Folgezeit zu
einem wichtigen Gesprächspartner wird. Einen
1959 Schwerpunkt ihrer Arbeit bildet im Herbst/Win-
Eine gefährliche Hepatitisinfektion, die Max ter 1959/60 darüber hinaus die Vorbereitung auf
Frisch ins Krankenhaus zwingt, verhindert im die Poetik-Vorlesungen an der Universität Frank-
Mai 1959 nicht nur eine geplante Spanienreise, furt, zu denen sie als erste Gastdozentin im Win-
sie motiviert Bachmann auch, als sie »nichts mehr tersemester 1959/60 eingeladen ist und die ihr
tun« kann für ihn, Anfang Juni nach Rom ›voraus- erhebliches Kopfzerbrechen bereiten. Sie eröff-
zureisen‹ (Brief an R. Baumgart vom 4. 6. 1959). net die Reihe Frankfurter Vorlesungen: Probleme
Auf der Fahrt machen sie und Hans Magnus zeitgenössischer Dichtung, in denen sie eine lite-
Enzensberger, der sie begleitet, bei Alfred und rarhistorische Ortsbestimmung der Nachkriegs-
Gisela Andersch in Berzona Station. Andersch literatur mit eigenen poetologischen Grundsatz-
wiederholt nicht nur seinen Vorschlag einer überlegungen verbindet, am 25. November 1959
Nordafrikareise, er unterstützt Bachmann auch in mit der Vorlesung »Fragen und Scheinfragen«,
einem anderen Vorhaben, das sowohl ihre Aben- am 9. Dezember liest sie »[Über Gedichte]«, das
teuerlust als auch ihre anhaltende finanzielle Be- Datum der Vorlesung »Das schreibende Ich« war
drängnis zeigt: Im Auftrag des Fernsehsenders bislang nicht feststellbar, die Vorlesung »Der Um-
Bremen (und des SDR-Rundfunks) will sie (frei gang mit Namen« findet am 10. Februar 1960 statt
nach Jules Vernes) unter dem Titel »In achtzig (Kaschnitz, S. 1174), die fünfte und letzte – »Lite-
Stunden um die Welt« eine »Doppel-Weltreise in ratur als Utopie« – folgt am 24. Februar. An diese
Düsenflugzeugen« unternehmen (Brief A. An- Poetikvorlesungen, die damals ein völlig neues
derschs an Bachmann vom 16. 6. 1959). Von Lon- Forum des Dialogs zwischen Literatur und Wis-
don aus soll sie »zweimal um die Welt rasen und senschaft darstellten, schließen sich jeweils Se-
dann den Text zu einer Fernsehsendung schrei- minare an, deren Diskussion Bachmann ange-
ben. Es ist der erste Zivilflug, der in 80 Stunden sichts der unterschiedlichen Erwartungen und
alle 5 Kontinente bewältigt; das erstemal fliege Sprachen der Studenten und der Autorin als be-
ich mit längeren Zwischenaufenthalten, das sonders schwierig empfindet. Für den Bayeri-
zweitemal wirklich in 80 Stunden.« (Brief an schen Rundfunk nimmt sie die Vorlesungen
R. Baumgart vom 1. 7. 1959) Allerdings kommt (ohne »[Über Gedichte]«) am 25.–28. April 1960
diese bemerkenswerte literarische Inszenierung in Zürich auf, gekürzte Fassungen erscheinen in
moderner Beschleunigungserfahrungen dann der »kulturellen Monatsschrift« »du« (August bis
doch nicht zustande (Brief an H. Heissenbüttel Oktober 1960). Die vom Piper-Verlag vorgeschla-
vom 8. 9. 1959). gene und von Bachmann Ende 1960 und Anfang
1962 auch konkret geplante Buchausgabe kommt
jedoch nicht zustande. Ein persönlicher Ertrag
12 I. Grundlagen

der Vorlesungen ist u. a. die Bekanntschaft mit 1961


dem Philosophen Theodor W. Adorno, dem sie Von Dezember 1960 bis März 1963 wohnen Max
seither freundschaftlich verbunden ist. Frisch und Ingeborg Bachmann abwechselnd in
Zürich und in Rom, dort zunächst in der Via
1960 Giulia 102, ab 5. Juni 1961 dann in der Via de
Nach den Frankfurter Vorlesungen wendet sich Notaris 1F, »das ist die langgesuchte und endlich
Bachmann wieder ihrem entstehenden Erzähl- gefundene Wohnung, die fast zu schön ist, um
band zu und arbeitet vor allem an den Erzählun- wahr zu sein« (Brief an A. Böll vom 26. 5. 1961).
gen Unter Mördern und Irren, einer kritischen Im Frühjahr 1961 arbeitet Bachmann weiter an
Abrechnung mit der unbewältigten nationalsozia- ihren Erzählungen, vor allem an den Texten Ein
listischen Vergangenheit in der österreichischen Wildermuth, einem emphatischen Einspruch ge-
Nachkriegsgesellschaft, und an dem späteren gen ein verkürztes Wahrheitsverständnis, und
Schlußstück Undine geht mit seiner mythologi- Ein Schritt nach Gomorrha, dem Reflexionsmo-
schen Überkreuzung von Geschlechterthematik dell eines mißlingenden Austritts aus der Ge-
und Poetologie. Im März nimmt Bachmann zu- schlechterordnung am Beispiel lesbischer Liebe.
sammen mit Hans Magnus Enzensberger, Walter Im Juni schließlich erscheint der Erzählband Das
Jens, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Johannes dreißigste Jahr im Piper-Verlag und trifft in der
Bobrowski, Ernst Bloch und Georg Maurer an Literaturkritik auf ein skeptisches Echo. Bach-
einem von Hans Mayer geleiteten Lyrik-Sym- manns lyrisch und philosophisch geprägte Prosa
posium in Leipzig teil. Am 22. Mai besucht sie in wird als das Werk einer »gefallenen Lyrikerin«
Hamburg die Uraufführung von Henzes und ihrer (M. Reich-Ranicki) mißverstanden.
Oper Der Prinz von Homburg. Im Anschluß trifft Ebenfalls im Juni 1961 erscheint im Suhrkamp-
sie sich zusammen mit Max Frisch und Paul Verlag Bachmanns Übertragung von Gedichten
Celan in Zürich mit Nelly Sachs (25./26. 5. 1960), des italienischen Lyrikers Giuseppe Ungaretti,
die zur Entgegennahme des Droste-Preises auf an denen sie seit 1960 gearbeitet hatte. Schon vor
der Fahrt nach Meersburg ist. Bachmann widmet diesen Buchpublikationen geht sie im Frühjahr
ihr im Folgejahr das Gedicht Ihr Worte. Im Sep- auf eine ausgedehnte Lesereise durch West-
tember tritt sie zusammen mit Marie Luise deutschland, die sie nach Düsseldorf, Göttingen,
Kaschnitz und Klaus Demus in der »Neuen Rund- Braunschweig, Dortmund, Darmstadt, Hamburg,
schau« Claire Golls Vorwurf, Paul Celans Lyrik Kiel, Lübeck, Tübingen, Hannover, Remscheid,
sei ein Plagiat der Gedichte ihres Mannes Yvan Oberhausen, Münster, Wiesbaden, Duisburg,
Goll, entgegen. Ebenfalls im September unter- Wuppertal und Köln führt (10.2.–16. 3. 1961); im
nimmt sie gemeinsam mit Max Frisch eine Ur- Juni folgt eine Lesung und Rundfunkaufzeich-
laubsreise nach Spanien. Im November fährt sie nung im Schauspielhaus Zürich. Zuvor unter-
von Zürich aus kurz nach Rom, um ihre und Max nimmt sie im Mai zusammen mit Max Frisch aus
Frischs »Übersiedlung« vorzubereiten (Brief an Anlaß seines fünfzigsten Geburtstags eine Ur-
J. Moras vom 23. 11. 1960). Anfang Dezember laubsreise nach Griechenland, das sie nun end-
kommt sie noch einmal nach Frankfurt zu einer lich kennenlernt. Über Österreich reist Bach-
Aufführung der Kleist-Oper, besucht Adorno und mann im Oktober dann zur Tagung der Gruppe
Kaschnitz und lernt deren Familiensitz Bollsch- 47 im Jagdschloß Göhrde bei Lüneburg
weil bei Freiburg kennen (Gersdorff, S. 261). (27.–29. 10. 1961). Von Zürich aus fährt sie im
Nachdem die Erzählungen des Bandes Das drei- November nach Berlin, wo ihr im Anschluß an
ßigste Jahr vor dem Abschluß stehen, konzen- eine Lesung im Rahmen der von Walter Höllerer
triert sich eine Verlagsbesprechung auf die Buch- initiierten Veranstaltungsreihe »Literatur im
fassung der Frankfurter Vorlesungen sowie auf technischen Zeitalter« für ihre Erzählungen Das
einen weiteren »Buchplan«, der in dieser Form dreißigste Jahr der Literaturpreis des Verbands
nicht zustande kommen wird, ein »Denkbuch«, der Deutschen Kritiker verliehen wird (19. 11.
»also eine Sammlung von halbaphoristischen, 1961; zugleich Fernsehaufnahme des SFB). Diese
halbanekdotisch-moralischen Notizen, etwa ein Reise in das geteilte Berlin auf dem Höhepunkt
modernes Pendant zu Montaignes Essais« (Proto- des Kalten Krieges wird zum Anstoß für das
koll R. Baumgart, 5.–8. 12. 1960). Erzählfragment Sterben für Berlin aus dem Vor-
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 13

feld des Todesarten-Projekts. Im Dezember reist der die Medikamentenabhängigkeit kam, frei zu
Bachmann dann zusammen mit Max Frisch von werden« (Höller 1999, S. 124). Der erste Klinik-
Rom aus zu einer Aufführung seines Stückes Bie- aufenthalt verzögert auch die Anfang Dezember
dermann und die Brandstifter nach London. In bereits geplante Übersiedlung nach Berlin auf
diesem Jahr wird sie Mitglied der literarischen Einladung der Ford Foundation.
Sektion der Akademie der Künste in Berlin. Trotz und vielleicht gerade wegen dieser Le-
benskrise finden sich im August 1962 die ersten
1962 Hinweise auf einen literarischen Neuansatz, aus
Im neuen Jahr setzt sich das von Reisen unter- dem sich das Todesarten-Projekt entwickeln
brochene Schriftstellerleben mit wechselndem wird. Ingeborg Bachmann begibt sich in Klausur
Wohnsitz in Zürich und Rom zunächst fort. Im und will »versuchen, eine neue Arbeit anzufan-
März 1962 besuchen Uwe Johnson und Hans gen« (Brief an K. Piper vom 7. 8. 1962). Eine auf
Magnus Enzensberger Bachmann in Rom. Mitte den 12. August 1962 datierte Aufzeichnung zeigt
April fährt sie nach Hamburg zu Besprechungen ein autobiographisches Ich voller Sehnsucht
mit dem Regisseur Egon Monk, einem Brecht- »[ü]ber dem Stadtplan von Wien liegen[d]« (TKA
Schüler, der ihr Hörspiel Der gute Gott von Man- 1, 166), dem Zentralschauplatz der späten Prosa.
hattan verfilmen möchte; der Piper-Verlag plant Dies kann als eine Keimzelle des ersten Todes-
hierzu bereits ein Filmbuch (Brief H. Rössner an arten-Romans um Eugen Tobai, Fanny, Toni Ma-
E. Monk vom 10. 5. 1962). Dieser Film kommt rek und Karin Krause betrachtet werden, der ihre
zwar nicht zustande, Bachmann plant aber wei- älteren Romanprojekte ablöst und in den Jahren
terhin eine Zusammenarbeit mit Egon Monk und 1962/63 bis 1965 einen Schwerpunkt ihrer lite-
denkt im Herbst über eine Umarbeitung ihrer rarischen Arbeit bezeichnet. In stilistisch noch
Erzählung Porträt von Anna Maria in ein Dreh- disparater Form verbindet dieses als Zeitroman
buch nach (GuI, 35). Einen Höhepunkt des Jah- angelegte polyperspektivische Romanfragment
res bildet zweifellos ihre zweite Schiffsreise nach die Kritik der österreichischen Nachkriegsgesell-
Amerika, nach New York, wo sie am 12. Juni auf schaft und die (teils surreale) Reflexion öster-
Einladung von Hans Egon Holthusen im Goethe- reichischen Geschichtsbewußtseins mit jener
Haus liest und u. a. Hannah Arendt kennenlernt. Darstellung der verborgenen »Verbrechen« auf
Im Oktober reist sie zu einer Fernsehlesung nach dem »Mordschauplatz« Gesellschaft und insbe-
Berlin (31. 10. 1962), im November entsteht eine sondere im Verhältnis der Geschlechter, die das
Schallplattenaufnahme »Ingeborg Bachmann thematische Zentrum der Todesarten-Texte bildet
liest eigene Gedichte«. (TKA 2, 361; 3.1, 617).

1962/63
Das Jahr 1962 markiert jedoch auch einen ent- Berlin (1963–1965)
schiedenen Umbruch in Leben und Werk Inge-
borg Bachmanns. In den Herbst fällt die schmerz- 1963
hafte Trennung von Max Frisch, die einen Im März 1963 wohnt Bachmann in Zürich der
Nervenzusammenbruch, Krankheit und Depres- Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts Drama
sionen auslöst. In seiner autobiographischen Er- Herkules und der Stall des Augias bei (20. 3.
zählung Montauk kommentiert Frisch rückblik- 1963) und erstattet zusammen mit anderen be-
kend: »Zuletzt gesprochen haben wir uns 1963 in freundeten Schriftstellern (darunter Böll, En-
einem römischen Café vormittags […]. Das Ende zensberger, Grass, Johnson, Richter und Walser)
haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.« Anzeige gegen Josef Hermann Dufhues, den Ge-
(Frisch, S. 151) Von Mitte Dezember bis Mitte schäftsführenden Vorsitzenden der CDU, der er-
Januar 1962/63 und nochmals Ende Januar ver- klärt hatte, der Einfluß der Gruppe 47 sei der
bringt sie mehrere Wochen in der Bircher Ben- einer »geheimen Reichsschrifttumskammer« (19.
ner-Klinik (Zürich); es ist dies der erste von 1. 1963; Anzeige 20. 3. 1963). Anfang April 1963
mehreren Krankenhausaufenthalten in Zürich, ist Bachmann endlich in der Lage, die Einladung
Berlin und Baden-Baden, in denen sie nicht zu- der Ford Foundation anzunehmen und nach Ber-
letzt versucht, »von ihrer Alkoholabhängigkeit, zu lin überzusiedeln. Anders als zehn Jahre zuvor,
14 I. Grundlagen

als sie nach ihren ersten Besuchen in Deutsch- druck eines Wechsels von der Lyrik zur Prosa in
land geplant hatte, dorthin überzusiedeln, erfolgt einem Interview im Januar 1963 scheinbar be-
dieser Umzug nach Berlin jetzt nicht ganz freiwil- kräftigt: »Ich habe aufgehört, Gedichte zu schrei-
lig, sondern geht in erster Linie auf die Tatsache ben, als mir der Verdacht kam, ich ›könne‹ jetzt
zurück, daß sie eigener Aussage zufolge nach der Gedichte schreiben, auch wenn der Zwang, wel-
Trennung von Max Frisch »kein Dach über dem che zu schreiben, ausbliebe.« (GuI, 40) Zugleich
Kopf« hatte (W 4, 326). Ihr da schon sehr ge- spricht sie dort jedoch von der Möglichkeit wei-
spanntes Verhältnis zu Deutschland wird sich terer Lyrik, wenn »es wieder Gedichte sein müs-
durch diesen knapp dreijährigen Aufenthalt in sen und nur Gedichte, so neu, daß sie allem
Berlin zusehends verschlechtern, und noch im seither Erfahrenen wirklich entsprechen« (ebd.).
Mai 1973 bestand sie, sich auf »ein Wort von Einzelne solcher ›neuen‹ Gedichte sind ihr im
Oscar Wilde über Engländer und Amerikaner« weiteren Verlauf der sechziger Jahre gelungen,
berufend, in einem Interview darauf, daß die und die mit dem sich entfaltenden Todesarten-
Deutschen »für Österreicher auch sehr schwer zu Projekt einhergehende Schwerpunktverschie-
verstehen« seien: »Unser Denken ist anders« bung von anderen Gattungen zur erzählenden
(GuI, 132). Prosa bedeutet kein ›Verstummen‹ als Lyrikerin.
In Berlin wohnt Bachmann zunächst im Ap-
partment 3 der Akademie der Künste, wo sie sich 1964
mit einem Mitstipendiaten, dem polnischen Das neue Jahr bringt Ingeborg Bachmann nach
Schriftsteller Witold Gombrowicz, anfreundet. dem literarischen Neuansatz auch im privaten
Am 1. Juni zieht sie dann in eine eigene Wohnung Leben neue Impulse. Anfang 1964 gründet sie
in Berlin-Grunewald um (Königsallee 35). Mitte zusammen mit Hans Werner Richter und Uwe
April fährt sie zusammen mit Uwe Johnson und Johnson einen »Radfahrerclub« für gemeinsame
Walter Boehlich nach Paris (18.–20. 4. 1963) zu Fahrradausflüge in Berlin. Am 16. bis 23. Januar
einer Vorbereitungstagung für die geplante euro- und nochmals am 27. Februar bis 4. März besucht
päische Kulturzeitschrift »Gulliver«, die jedoch sie mit dem österreichischen Autor Adolf Opel
nicht zustande kommt. (Der im Sommer/Herbst Prag, das sie weniger als Ostblockhauptstadt
1962 entstandene und 1964 in italienischer Spra- denn als Kontrapunkt zum geteilten Berlin, als
che veröffentlichte Text Tagebuch war für die die Stadt Franz Kafkas und als Ort des alten
erste Nummer dieser Zeitschrift vorgesehen.) Im österreichischen Kulturraums und seines jüdi-
Juni besucht Bachmann Verwandte in Österreich; schen Erbes erlebt. Der Besuch inspiriert sie u. a.
im Juli/August muß sie nochmals mehrere Wo- zu neuen Gedichtentwürfen, darunter die Ge-
chen in einer Klinik verbringen (Martin-Luther- dichte Prag Jänner 64 und Böhmen liegt am Meer,
Krankenhaus, Berlin-Grunewald). Im November das in Anspielung auf Shakespeares Wintermär-
fährt Bachmann nach Rom, um u. a. Henze und chen eine lyrische Poetologie im Zeichen des
Giangiacomo Feltrinelli zu besuchen. Im Dezem- utopischen ›Mythos Habsburg‹ entwirft.
ber werden wieder Lesungen in Berlin aufge- Etwa zehn Tage nach einer Lesung im Ame-
zeichnet (Anfang Dezember und 20. 12. 1963). rika-Haus in Berlin (7. 4. 1964) bricht Bachmann
Im Mittelpunkt der literarischen Arbeit steht zu ihrer Reise nach Ägypten und in den Sudan
1963 Ingeborg Bachmanns neuer Roman Todes- auf, zu der sie sich am 20. April mit Adolf Opel in
arten, der im Oktober auch bereits Gegenstand Athen trifft. Nach einer Woche in Athen brechen
von Verlagsbesprechungen ist. In diesen Bespre- sie am 28. April per Schiff weiter nach Alexandria
chungen ist jedoch auch von »einem neuen Ge- auf. Diese Reise, die ihr als intensives Erlebnis
dichtband« die Rede (Protokoll Dr. Best, eines ganz anderen, außereuropäischen Kultur-
21.–25. 10. 1963). Tatsächlich ist im Nachlaß eine raums Distanz zu ihren europäischen Erfahrun-
Fülle von Gedichtentwürfen aus der Zeit (nach) gen erlaubt und zugleich entscheidende Anstöße
der Trennung von Max Frisch überliefert, die – für die weitere Entfaltung des Todesarten-Pro-
mit Ausnahme des Gedichts Eine Art Verlust jekts gibt, führt sie über Kairo (1.–10.5.) nach
(BBC 1967) – jedoch nicht veröffentlichungsreif Hurghada am Roten Meer (10.–14.5.) und dann
wurden (siehe posthum Bachmann 2000b). Zwar (wiederum mit dem Bus) weiter zu den klassi-
hat Bachmann den falschen öffentlichen Ein- schen architektonischen Zeugnissen der alten
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 15

ägyptischen Kultur am Nil, nach Luxor und The- werden kann. Schon im März 1964 hatte sie von
ben, mit dem Fluzeug weiter nach Assuan, dann dem Gefühl der »Vagabondage« als einer »dau-
mit dem Raddampfer auf dem Nil nach Abu ernde[n] Vertreibung« gesprochen und ihre in-
Simbel und Wadi Halfa (14.–25. 5. 1964). Anfang nere Heimatlosigkeit zugleich beklagt und als
Juni kehrt sie (per Bahn und Flugzeug) über notwendig bekräftigt: »Mit der Zeit fange ich
Kairo und Griechenland (Athen und Insel Poros, noch zu glauben an, daß mir das wirklich zuge-
2.–11.6.) nach Berlin zurück, wo sie die Mittei- dacht ist: kein Boden unter den Füßen.« (Brief an
lung über die Verleihung des Georg-Büchner- K. Piper von Ende März 1964) Im August 1964
Preises 1964, des wichtigsten deutschen Litera- hatte sie sogar eine Rückkehr nach Wien erwogen
turpreises, vorfindet. (Brief an A. Opel vom 3. 8. 1964), spätestens seit
Zu den literarischen Erträgen dieser Nordafri- Mai 1965 plant sie stattdessen die Übersiedlung
kareise zählt zunächst der Versuch eines Wüsten- nach Rom, die jedoch erst im November zustande
buchs (1964/65), eines literarischen Reisebuchs, kommt.
das anfangs die Erfahrung des fremden Natur- Im Januar 1965 wirkt Bachmann zusammen
und Kulturraums im Sinne eines kritischen Exo- mit Wystan H. Auden, Michel Butor, Franz Tum-
tismus mit der durch Berlin repräsentierten euro- ler und Reinhard Lettau an einer Radiosendung
päischen Gesellschaft kontrastieren soll. Im Zuge des SFB Berlin mit (20. 1. 1965), Ende Januar
einer Trennung der Räume entsteht daraus der fliegt sie nach Paris, Ende Februar/März ver-
Berlin-Text Ein Ort für Zufälle (zunächst »Deut- bringt sie mehrere Wochen zur Behandlung in
sche Zufälle«), eine »Prosagroteske« (Bartsch einer Klinik in Baden-Baden, wo sie aber bei-
1997, S. 133), mit der Bachmann sich am 17. spielsweise auch einen Segelflug unternimmt
Oktober in Darmstadt bei der Deutschen Aka- (Brief an U. Johnson vom 19. 3. 1965). Zurück in
demie für die Überreichung des Georg-Büchner- Berlin, nimmt sie am 7. April in der Deutschen
Preises bedankt, indem sie sich zugleich mit Oper an der Uraufführung von Hans Werner Hen-
Büchners Erzählung Lenz auseinandersetzt. In zes erfolgreicher komischer Oper Der junge Lord
erweiterter Form erscheint dieses außergewöhn- teil, zu der sie das Libretto nach Wilhelm Hauffs
liche Prosastück dann mit Zeichnungen von Gün- Märchenerzählung Der Affe als Mensch geschrie-
ter Grass im Klaus Wagenbach-Verlag (1965). ben hat, und wirkt auch an einer Fernsehdoku-
Darüber hinaus trägt die Nordafrikareise zu ei- mentation über diese Inszenierung mit (SFB 5. 4.
nem Konzeptionswandel des Todesarten-Projekts 1965). Im Zentrum ihrer literarischen Arbeit ste-
bei, der im Folgejahr zur Ablösung des ersten hen nach dem Libretto weiterhin das Wüsten-
Todesarten-Romans durch das neue Romanvor- buch und der erste Todesarten-Roman, den sie
haben Das Buch Franza führt. nun in die Kontinuität ihrer Suche nach der »gro-
Bevor Bachmann im Oktober nach Darmstadt ßen Form« des Romans schon in den fünfziger
reist, trifft sie sich Ende Juli nochmals mit Adolf Jahren stellt (Interview vom 1. 5. 1965; GuI,
Opel in Wien. Im September (1.–20. 9. 1964) 56 f.).
begibt sie sich in St. Moritz bei Dr. Fred Auer in Das Jahr 1965 ist weiterhin von zahlreichen
Behandlung. Anfang Dezember reist sie nach Si- Reisen geprägt. Zum 70. Geburtstag ihres Vaters
zilien, besucht zusammen mit Hans Werner Rich- am 23. April fährt Bachmann nach Obervellach in
ter das Amphitheater von Taormina (11. 12. 1964) Kärnten und hält sich anschließend in Wien auf,
und trägt bei der Verleihung des Premio Etna- wo sie u. a. zur 600-Jahrfeier der Universität (5. 5.
Taormina an Anna Achmatowa ihr dieser russi- 1965) sowie auf Einladung der Österreichischen
schen Dichterin gewidmetes poetologisches Ge- Gesellschaft für Literatur im Palais Palffy u. a. das
dicht Wahrlich vor (12. 12. 1964). Ebenfalls 1964 Gedicht Böhmen liegt am Meer liest (10. 5. 1965).
erscheint in der Reihe »Die Bücher der Neun- Ende Mai ist sie zurück in Berlin, fährt im Juni
zehn« eine Werkauswahl Gedichte, Erzählungen, dann aber über die Schweiz nach Italien, macht
Hörspiel, Essays, die breite Resonanz findet. im Realgymnasium Basel eine Rundfunkauf-
nahme (18. 6. 1965) und nimmt Ende des Monats
1965 anschließend an dem »Festival zweier Welten« in
Im neuen Jahr wird immer deutlicher, daß Berlin Spoleto (Umbrien) teil, wo sie u. a. den Beat-
kein dauernder Aufenthaltsort für Bachmann Poeten Lawrence Ferlinghetti kennenlernt. Von
16 I. Grundlagen

Berlin aus unternimmt sie im August eine Frank- DRS aufgezeichneten Lesung in Zürich am 9.
reich-Reise, nach Paris und Montigny sur Loing Januar 1966 trägt Bachmann nicht nur erstmals
an der Seine. Auf der Rückreise nach Berlin die Gedichte Prag Jänner 64 und Enigma vor, es
macht sie zu Verlagsbesprechungen in München ist dies auch die erste Lesung aus dem entstehen-
Station (3. 9. 1965), darüber hinaus in Bayreuth, den Franza-Roman, der in den kommenden Mo-
wo sie zusammen mit Henze und Günter Grass an naten ganz im Zentrum ihres Schreibens steht.
einer Wahlveranstaltung der SPD teilnimmt, um Bereits im März bietet sie in Hamburg, Hannover,
dann über Prag (6.–10. 9. 1965) nach Berlin Berlin und Lübeck (22.–25. 3. 1966) in Lesungen
zurückzukehren. Schon wenig später jedoch für den NDR eine wesentlich veränderte und
bricht sie wieder auf und sucht im Oktober in erweiterte Fassung des Romans, die nun prak-
Rom nach einer neuen Wohnung. Nach einer tisch bereits den letzten überlieferten Text der
leichten Gehirnerschütterung infolge eines Un- Kapitel »Heimkehr nach Galicien« und »Die
falls läßt sie sich Anfang/Mitte November noch- ägyptische Finsternis« repräsentiert, und das
mals in ihrem Baden-Badener Sanatorium be- Mittelstück »Jordanische Zeit« entsteht in seinem
handeln. Im gleichen Herbst wird sie zusammen Grundriß in unmittelbarem Anschluß an diese
mit Hans Magnus Enzensberger in den Vorstand Lesereise. Vorreden erläutern erstmals ausdrück-
der »Europäischen Schriftstellergemeinschaft lich die Poetologie des Todesarten-Projekts als
(COMES)« gewählt. Schon im Januar 1965 war eine umfassende literarische Auseinandersetzung
sie der Erklärung des »Dokumentationszentrums mit der Gewalt im Inneren der Gesellschaft vor
des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes dem Hintergrund der Verbrechen des National-
in Wien« (Leitung: Simon Wiesenthal) gegen die sozialismus: »dieses Buch ›Todesarten‹ will er-
Verjährungsfrist von NS-Verbrechen beigetreten. zählen von den Verbrechen, die heute begangen
Im Dezember unterzeichnet sie gemeinsam mit werden, vom Virus Verbrechen, der nach zwanzig
vielen anderen deutschsprachigen Schrifsteller- Jahren nicht weniger wirksam ist als zu der Zeit,
Innen und Wissenschaftlern eine »Erklärung in der Mord an der Tagesordnung war, befohlen
über den Krieg in Vietnam«, die in der Zeitschrift und erlaubt.« (TKA 2, 349) In diesem Sinne über-
»Konkret« gedruckt wird. Ende November trifft blendet Das Buch Franza ganz unterschiedliche
sie in ihrer neuen römischen Wohnung in der Via Figurationen der Gewalt in der modernen Welt
Bocca di Leone 60 ein, wo sie bis Oktober 1971 vom Geschlechterverhältnis in einer patriarchali-
wohnen wird. Der Doppelumzug aus Berlin und schen Gesellschaft über die Verbrechen des Na-
Zürich nach Rom beendet im November/Dezem- tionalsozialismus bis zum Neokolonialismus.
ber 1965 also die Jahre der »Vagabondage«. Vor ihrer Lesereise hatte sich Bachmann An-
fang März noch einmal in Zürich aufgehalten.
Danach besucht sie ihre Familie in Klagenfurt,
Rom (1965–1973) läßt sich von ihrem Bruder im Hinblick auf das
Buch Franza »Nachhilfestunden in Geophysik
1966 und Geologie« geben (Brief an U. Johnson vom
Die Niederlassung in Rom Ende 1965 ermöglicht 10. 4. 1966) und verletzt sich bei einem Sturz das
Ingeborg Bachmann endlich die konzentrierte Bein (Brief an H. W. Richter vom 14./15. 4. 1966).
Weiterarbeit an ihrem Todesarten-Projekt. Schon Der Plan, an der Tagung der Gruppe 47 in Prince-
im Herbst 1965 hatte ein neues Romanprojekt um ton/USA teilzunehmen, zerschlägt sich daher. Im
die Figuren Martin und Franziska Ranner, in das Mai begibt sich Bachmann wiederum nach Ba-
auch die Motive und der kritische Exotismus des den-Baden; Ende Mai kehrt sie nach Rom zurück.
Wüstenbuchs eingehen, den ersten Todesarten- Anfang August bis Mitte September ist sie wie-
Roman um Eugen, Fanny und Karin abgelöst. derum auf Reisen, u. a. in Salzburg und in ihrer
Dieser neue Roman trägt im Frühjahr 1966 vor- Klinik in Baden-Baden. Im Oktober verhandelt
läufig ebenfalls den Titel Todesarten, bevor er im sie mit der Firma Olivetti (Mailand) über eine
Zuge der Erweiterung der Todesarten von einem mögliche Zusammenarbeit (siehe N1547) und
Einzeltext zu einem Zyklusprojekt den Titel Das kauft sich ihre erste elektrische Schreibmaschine
Buch Franza erhält (Brief an K. Piper vom 16. 6. (eine IBM Electric mit Kugelkopf). Spätestens im
1966). Bei einer vom Schweizer Rundfunk SRG/ Dezember 1966 lernt sie in Rom den Verlags-
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 17

lektor und Schriftsteller Roberto Calasso kennen. Zyklus« die Rede (Brief H. Rössner an Bachmann
An diesem Jahresende ist sie Mitglied der Jury vom 25. 2. 1966). In letzten Vorrede-Entwürfen
für den Premio Etna-Taormina 1966, der im zum zurückgestellten Buch Franza aus dem Früh-
Opernhaus von Catania Hans Magnus Enzens- jahr 1967 spricht Bachmann entsprechend von
berger, Wladimir Holan und Giuseppe Ungaretti den Todesarten als einem »Kompendium der Ver-
überreicht wird. brechen, die in unserer Zeit begangen werden«
(TKA 2, 361). Im Juni dann bezeichnet sie Ma-
1966/67 lina erstmals als den »Beginn« des Zyklus (Brief
Neben dem Buch Franza nimmt Bachmann im an S. Unseld vom 26. 6. 1967, zitiert nach TKA
Frühjahr/Sommer 1966 den Fanny/Marek-Stoff 3.2, 786); bei der Veröffentlichung des Romans
des ersten Todesarten-Romans – die Zerstörung wird sie später von einem »in sich geschlos-
einer selbständigen Frau durch einen Schrift- sene[n] Anfang oder eine[r] Ouvertüre« sprechen
steller, der ihr Leben verarbeitet, so wie Bach- (GuI, 95) und damit zugleich auf das komplexe,
mann selbst sich durch Max Frisch in seinem reflexive und musikalische Erzählverfahren hin-
Roman Mein Name sei Gantenbein literarisch weisen, das sich im Laufe der Arbeit an diesem
ausgeschlachtet fühlte – wieder auf und arbeitet Roman in den Jahren 1967 bis 1970 herauskri-
ihn in eine eigenständige Erzählung Requiem für stallisiert. Der parallel entstandene Goldmann/
Fanny Goldmann um, für die sie eine separate Rottwitz-Roman dagegen bleibt ein Fragment.
Veröffentlichung im Suhrkamp-Verlag erwägt.
Der Herbst 1966 bringt dann allerdings einen 1967
weiteren Konzeptionswandel des Todesarten- Am Anfang des neuen Jahres steht im Januar
Projekts, der nochmals zu einer völligen Umge- 1967 die Begegnung mit Gershom Sholem, der
staltung ihrer literarischen Pläne führt. Schon in sich auf Einladung der Universität in Rom aufhält
den letzten Entwürfen zum Buch Franza aus dem (6.–12. 1. 1967). In der ersten Februarhälfte hält
Sommer häufen sich Motive, die später in den Bachmann sich im Kurhotel von Dr. Auer in St.
Roman Malina eingehen werden. Im November Moritz auf, im März ist sie aus gesundheitlichen
stellt sie dann fest, »daß es so nicht geht«; »das Gründen nochmals in Zürich. Im März/April
Manuskript« des Buchs Franza kommt ihr nun 1967 nimmt sie eine Ausgabe von Gedichten
»wie eine hilflose Anspielung auf etwas vor, das Anna Achmatovas in der Übertragung des frü-
erst geschrieben werden muß« (Brief an O. Best heren Nazi-Dichters Hans Baumann zum Anlaß,
vom 25. 11. 1966, zitiert nach TKA 2, 397). Der um sich vom Piper-Verlag zu trennen, mit dessen
Entschluß eines »richtigen Verarbeiten[s] dessen, Betreuung ihres Werks sie schon seit längerem
was schon da ist« (Brief an H. Rössner vom 22. unzufrieden ist, und wechselt zu Suhrkamp, des-
12. 1966, zitiert nach TAK 2, 397), führt statt zu sen Verleger Siegfried Unseld sie bereits seit den
einer Neufassung des Franza-Romans jedoch fünfziger Jahren für seinen Verlag gewinnen
zum Entwurf zweier neuer Romanprojekte, die möchte. Im Mai wohnt sie in Rom u. a. der Eröff-
nun zyklisch miteinander verbunden sind: zu nung einer Ausstellung des Malers Ernst Fuchs
dem Roman Malina mit seiner weiblich-männ- bei und reist mit Dr. Walter Zettl, dem stellver-
lichen Doppelfigur Ich/Malina und seiner tretenden Leiter des Österreichischen Kulturin-
symbolischen Inszenierung der Geschlechterthe- stituts Rom, zu einer Lesung nach Triest (12. 5.
matik vor dem Hintergrund der Wiener Nach- 1967), an die sich ein Ausflug nach Jugoslawien
kriegsgesellschaft sowie zum Goldmann/Rott- anschließt. In diesem Frühjahr arbeitet sie u. a.
witz-Roman, der mit Hilfe seines Erzählers an ihrem unveröffentlichten Essay über Georg
Malina in einer Rahmenhandlung auf der Frank- Groddeck, der als Rezension zu Neuausgaben von
furter Buchmesse die »Todesarten« der öster- Hauptschriften dieses für sie wichtigen Psycho-
reichischen Schauspielerin Fanny Goldmann und logen im »Spiegel« gedacht war. Im Frühsommer
der deutschen Journalistin Eka Kottwitz/Aga folgt ihre ebenfalls nicht publizierte Rezension
Rottwitz ineinander spiegelt. Damit rückt end- über den Roman Piotru š des israelischen Schrift-
gültig der Plan eines Zyklus’ von Todesarten- stellers Leo Lipski (Ein Maximum an Exil), die
Texten ins Zentrum des Todesarten-Projekts. wohl zuerst für den »Spiegel« gedacht war, für die
Schon im Februar 1966 ist von einem »geplanten aber auch die Wochenzeitung »Die Zeit« Interesse
18 I. Grundlagen

zeigt. Außerdem übernimmt Bachmann spora- York. Im August fährt sie zusammen mit den
disch Lektoratsaufgaben für Siegfried Unseld, jungen Autoren Roberto Calasso und Fleur
indem sie ihm italienische und andere fremd- Jaeggy nach Klagenfurt. Am 21. November wird
sprachige Texte für deutsche Ausgaben vor- ihr in Wien der Österreichische Staatspreis ver-
schlägt. liehen, und sie trifft u. a. mit Hilde Spiel und
Im Juli nimmt Bachmann wieder am Literatur- Thomas Bernhard zusammen (29. 11. 1968). Im
festival in Spoleto teil und reist dann zum Lon- gleichen Monat erscheinen ihre späten Gedichte
don Poetry Festival nach London, wo sie u. a. ihr Keine Delikatessen (entstanden schon 1963),
Gedicht Eine Art Verlust vorträgt, Erich Fried Enigma, Prag Jänner 64 und Böhmen liegt am
trifft und Yehuda Amichai (Israel), Anthony Meer in der von Hans Magnus Enzensberger her-
Hecht und Allen Ginsberg (USA) kennenlernt ausgegebenen Zeitschrift »Kursbuch«, und zwar
(15. 7. 1967). Die zweite Jahreshälfte verbringt in jenem berühmten Heft 15, das vor dem Hinter-
sie hauptsächlich in Rom und arbeitet vor allem grund der Studentenunruhen und der Gesell-
an ihrem Todesarten-Projekt, insbesondere an schaftskrise der späten sechziger Jahre den ›Tod
dem Roman Malina. Für dessen »Mittelteil« fin- der Literatur‹ erklärte. In diesem Kontext wurde
det sie vermutlich bei »Spaziergängen« in Kärn- auch ihr Gedicht Keine Delikatessen vielfach zu
ten um Weihnachten 1967 die ›Lösung‹ in der Unrecht als endgültige Absage an die Lyrik ver-
Form des Traumkapitels (Brief an S. Unseld vom standen.
4. 1. 1968, zitiert nach TKA 3.2, 792).
1969
1968 Im März 1969 hält Bachmann sich zur Erholung
Im Winter 1967/68 beginnt außerdem eine wei- in St. Moritz auf, trifft sich dort zu Verlagsbe-
tere Verzweigung des Todesarten-Projekts, aus sprechungen mit Siegfried Unseld und veran-
der fünf Jahre später der Erzählband Simultan staltet auch eine Lesung (Reisebericht S. Unseld,
hervorgehen wird. Neben der Arbeit an dem 22.–31. 3. 1969). Anfang Mai macht sie Urlaub in
engeren Todesarten-Zyklus – und späterer Dar- St. Tropez, Ende Mai entsteht in Rom die Fern-
stellung zufolge als Entlastung – entstehen »ko- sehdokumentation »Zu Gast bei Ingeborg Bach-
mische Geschichten« über »Wienerinnen«, die mann«. Neben den Todesarten-Romanen Malina
»keine großen Tragödien haben«, gleichwohl und Goldmann/Rottwitz-Roman gilt ihre Auf-
aber ein »Abstürzen in die letzten Dinge auf- merksamkeit 1969 weiterhin ihren Erzählungen
führen« (TKA 4, 3). Diese Erzählungen entwer- von »Wienerinnen«, so dem Fragment Freundin-
fen (in Anlehnung an Honoré de Balzac) eine nen sowie den Erzählungen Probleme Probleme
literarische Sittengeschichte der Wiener Nach- um die komisch-abgründige Lebensverweige-
kriegsgesellschaft, indem sie »die Mores einer rung einer Jugendlichen und Ihr glücklichen Au-
Zeit durch eine Reihe von Frauenporträts« zeigen gen, ein Reflexionsmodell sozialer (Nicht-)Wahr-
(GuI, 140). Eine erste Fassung der Erzählung nehmung und Wirklichkeitsausblendung in der
Simultan, die eine erfolgreiche Simultandolmet- Liebe. Diese letzte Erzählung, die Bachmann spä-
scherin in einer Lebenskrise zur Selbstreflexion ter dem Psychologen Georg Groddeck widmet,
führt, wird schon im Oktober 1968 im NDR aus- wird am 14. November 1969 in einer Aufzeich-
gestrahlt (7. 10. 1968). Nicht abgeschlossen wer- nung des NDR erstveröffentlicht. Auf Anregung
den dagegen andere der frühen Erzählungen von von Bachmanns Anwalt entsteht bereits im Früh-
»Wienerinnen« wie Die ausländischen Frauen jahr 1969 der Plan, die weiter bestehende Option
und Rosamunde, eine höchst ironische Kritik der des Piper-Verlags auf das Buch Franza durch
Psychoanalyse. Unveröffentlicht bleibt auch ein einen Band mit Erzählungen abzulösen, woraus
im gleichen Jahr entstandener Essay über Sylvia im weiteren der Simultan-Band hervorgeht. Da-
Plaths Roman Die Glasglocke. neben entstehen 1969 ein unveröffentlichter Es-
Im April 1968 erhält Bachmann in Rom Besuch say über das Erzählwerk Thomas Bernhards, mit
von dem Literaturwissenschaftler Peter Szondi, dem Bachmann nun in freundschaftlicher Verbin-
mit dem sie seit Juni 1959 in freundschaftlichem dung steht, und das ebenfalls ungedruckte Vor-
Kontakt steht; im Juni liest sie im Beisein von wort zu einer geplanten Anthologie der Lyrik
Uwe Johnson nochmals im Goethe-Haus in New Bertolt Brechts in der Fischer-Bücherei.
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 19

1970 wig Arnolds Zeitschrift »Text + Kritik« separat


Im Januar 1970 unternimmt Bachmann eine veröffentlicht (Juni 1971) – werden bei einer
Reise, die sie u. a. nach Wien, Berlin (zu Uwe Verlagsbesprechung in Frankfurt am 2.–7. Januar
Johnson) und St. Moritz führt. Anfang Februar ist 1971 endgültig vereinbart. Die Reaktion der Lite-
sie zurück in Rom und nimmt dort u. a. an der raturkritik auf Ingeborg Bachmanns ersten und
Eröffnung der Ausstellung »Deutsches Theater zu Lebzeiten einzigen Roman ist zwiespältig. Ein
heute« im Goethe-Haus teil (18. 2. 1970). Die in verkürztes Verständnis gesellschaftlicher Rele-
die Reinschriftfassung des Malina-Romans ein- vanz verkannte die subtile Zeit-, Bewußtseins-
gefügte Hommage an Paul Celan – in der Le- und Diskurskritik dieses komplexen Texts, so daß
gende »Die Geheimnisse der Prinzessin von Ka- erst im Durchgang durch die feministische Re-
gran« und im Traumkapitel – zeigt, wie schwer zeption der achtziger Jahre ein angemessenes
sie der Freitod dieses langjährigen Freundes Verständnis gelang.
Ende April 1970 getroffen haben muß. Die Fertig-
stellung des Romans Malina steht im Frühsom- 1971
mer und im Herbst 1970 im Zentrum ihrer lite- Die Veröffentlichung ihres ersten Romans bringt
rarischen Arbeit. Dazwischen liegt eine Sommer- für Bachmann im Frühling 1971 vielfältige Inter-
reise, während der Uwe Johnson ihre römische views (Stuttgart 23. 3., München 5. 4., Zürich
Wohnung benutzt. Am 15. Juli bricht Bachmann 14.4.) und Fernsehaufzeichnungen (Rom 22. 3.,
zunächst nach München und Frankfurt auf, um München 2. 4.) sowie eine ausgedehnte Lese-
dann bis Mitte August mehrere Wochen lang ihre reise mit sich. Zwischen dem 23. März und dem
Familie in Klagenfurt zu besuchen. Dieser Kärn- 1. April liest sie in Frankfurt, Wiesbaden, Kiel,
tenaufenthalt wird zum Ausgangspunkt für eine Dortmund, Hagen, Nürnberg, München und
»neue Erzählung« über die »wirklich ›Reichen‹, Augsburg aus Malina, am 13. April in Hamburg,
die in diesem Land ihre großen Jagden und Ende Mai in Wien und Anfang Juni nochmals in
Jagdhäuser haben« (Brief an H. Rössner vom Bonn und Salzburg. Ihre literarische Aufmerk-
12. 8. 1970, zitiert nach TKA 4, 606). Es sind dies samkeit wendet Bachmann seit Jahresbeginn je-
die ersten Entwürfe zu der gesellschaftskriti- doch konzentriert den Simultan-Erzählungen
schen Milieustudie Gier, in die sie nach ihrer über »Wienerinnen« zu. So reist sie zweimal nach
Rückkehr nach Rom Motive eines aktuellen spek- Wien – in der zweiten Januarhälfte und in der
takulären Mordfalls in der High Society Roms zweiten Maihälfte –, um »Schauplätze [zu] stu-
einarbeitet. dieren« (Brief an U. Johnson vom 14. 1. 1971),
und legt im April bei einer Verlagsbesprechung
1970/71 die Textzusammenstellung fest: »Simultan, Ihr
In den Monaten September bis Dezember 1970 glücklichen Augen, Rosamunde, Probleme Pro-
arbeitet Bachmann dann mit aller Kraft an der bleme (Die Faule), Die Freundinnen […]. Die 6.
Drucklegung des Malina-Romans, der am 17. Erzählung handelt von einer alten Frau. Mögli-
März 1971 als »Ouvertüre« des Todesarten-Zyklus cherweise wird noch eine 7. Erzählung geschrie-
erscheint. Erschwert wird die Schlußredaktion ben.« (Verlagsnotiz H. Rössner vom 14. 4. 1971,
durch eine Schlüsselbeinverletzung, die sie zur zitiert nach TKA 4, 553) Während die Erzählun-
Inanspruchnahme von »Sekretärinnen aller Art« gen Rosamunde und Freundinnen dann heraus-
zwingt (Briefe an S. Unseld vom 12.9. und Okto- fallen, signalisiert die Liste andererseits die Ar-
ber 1970, zitiert nach TKA 3.2, 800). Mitte Okto- beit an der Erzählung Das Gebell, in der Bach-
ber kommt Siegfried Unseld zur Durchsprache mann Motive des Buchs Franza um die Mutter
der Druckvorlage nach Rom (10.–13. 10. 1970). von Franziska Ranners Ehemann, dem Psychiater
Martin Walser, der sie zu diesem Zweck im No- Leo Jordan, neu gruppiert.
vember in Rom besucht, und Uwe Johnson, der Die fehlende »7. Erzählung« verdankt sich
ebenfalls einen Durchschlag des Romans erhält, dann in wichtigen Motiven einem Klagenfurtauf-
beraten sie bei der Manuskriptgestaltung. Letzte enthalt im August/September 1971 im Anschluß
Korrekturen, Einfügungen und Kürzungen – so an die Hochzeit ihres Bruders, zu der sie am 18.
wird beispielsweise der Text Besichtigung einer August von Rom nach London fliegt. Ausgehend
alten Stadt herausgenommen und in Heinz Lud- von diesem Familienbesuch in Kärnten entsteht
20 I. Grundlagen

die umfangreiche Erzählung Drei Wege zum See 1973


um die Lebensbilanz einer erfolgreichen Foto- Der Tod ihres Vater im März 1973 (Anlaß einer
journalistin, in die Bachmann durch die inter- weiteren Reise nach Klagenfurt) trifft Ingeborg
textuelle Anknüpfung an Joseph Roths Romane Bachmann schwer. Gleichwohl unternimmt sie
Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft zu- auf Einladung des österreichischen Kulturinsti-
gleich eine Reflexion österreichischer Geschichte tuts Warschau im Mai eine zehntägige Reise nach
im 20. Jahrhundert einschreibt, verbunden mit Polen, die ihr als Einblick in den slawischen
einer poetologischen Medienkritik und einer ein- Kulturraum und durch den Besuch der Konzen-
dringlichen Reflexion von Kriegs- und Gewalter- trationslager Auschwitz und Birkenau zum nach-
fahrungen, die an Jean Amérys Essay »Die Tor- haltigen Erlebnis wird. In Warschau, Krakau,
tur« anschließt. Breslau, Thorn und Posen finden Lesungen statt.
Im September trifft Ingeborg Bachmann in Tü- Im Juni entsteht Gerda Hallers Film »Ingeborg
bingen mit dem Philosophen Ernst Bloch zu- Bachmann in Rom«. Über den weiteren Verlauf
sammen. Vermutlich im Oktober zieht sie inner- und die literarische Arbeit dieses Jahres ist bei
halb von Rom in die Via Giulia 66 um (Brief an H. derzeitiger Quellenlage wenig bekannt. In der
Rössner vom 29. 10. 1971); Ende des Monats Nacht vom 25. auf den 26. September zieht Bach-
unternimmt sie einen Urlaub in Malta. In der Zeit mann sich in ihrer Wohnung schwere Brand-
zwischen dem 8. und 25. November folgt noch- verletzungen zu, an denen sie (in Verbindung mit
mals eine Lesereise durch Deutschland (Kassel, den Auswirkungen des Medikamentenentzugs)
Ulm, Stuttgart, Aachen, Lüdenscheidt, Gengen- am 17. Oktober 1973 im Krankenhaus Sant’Eu-
bach/Schwarzwald, Essen, Solingen, Köln, Op- genio stirbt. Die Autorin wird im engsten Fami-
laden, Braunschweig, Wuppertal, Recklinghau- lienkreis auf dem Friedhof Annabichl in Klagen-
sen), wobei sie u. a. in Köln mit Jürgen Becker furt beigesetzt (25. 10. 1973).
zusammentrifft (19. 11. 1971).
Quellen: Paul Celan und Gisèle Celan-Lestrange
(2001): Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Briefen
1972 Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französi-
Bis zum Sommer 1972 arbeitet Bachmann schen von Eugen Helmlé. (Hg.) Bertrand Badiou in
schwerpunktmäßig an der Fertigstellung des Si- Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen übersetzt
multan-Bandes, der im September bei Piper er- und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von Barbara
scheint. Am 2. Mai wird ihr in Wien der Anton Wiedemann. 2 Bände. Frankfurt/M.; – Max Frisch
(1975): Montauk. Eine Erzählung. Frankfurt/M.; –
Wildgans-Preis der österreichischen Industrie
Wolfgang Hildesheimer (1999): Briefe. (Hg.) Silvia Hil-
überreicht, für den sie sich mit einer poetologi- desheimer und Dietmar Pleyer. Frankfurt/M.; – Uwe
schen Rede bedankt. Im Juli verbringt Bachmann Johnson (1974): Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt/
wieder einige Wochen in Klagenfurt. In diesem M.; – Marie Luise Kaschnitz (2000): Tagebücher aus
Sommer plant sie für den Herbst auch die Aus- den Jahren 1936–1966. 2 Bände. (Hg.) Christian Bütt-
arbeitung der Erzählung Gier zu einer »circa 130 rich, Marianne Büttrich, Iris Schnebel-Kaschnitz.
Frankfurt/M. und Leipzig; – Heinrich Böll-Archiv
bis 150 Seien« langen »Geschichte« für die Biblio-
(Köln); – Uwe Johnson-Archiv (Frankfurt/M.); – Gün-
thek Suhrkamp (Brief an S. Unseld vom Sommer ter Grass-Archiv, Wolfgang Hildesheimer-Archiv und
1972, zitiert nach TKA 4, 553), doch kommt Hans Werner Richter-Archiv im Archiv der Akademie
dieses Vorhaben nicht voran und bleibt Fragment. der Künste (Berlin); – Briefwechsel mit Wolfgang Bäch-
Auch die im Anschluß an Gier geplante Weiter- ler und Hermann Kesten im Literaturarchiv der Mona-
arbeit am Goldmann/Rottwitz-Roman bleibt of- censia (München); – »Merkur«-Briefwechsel, Brief-
wechsel mit dem Piper-Verlag sowie Briefwechsel mit
fenbar liegen. Im Herbst bemüht sich die öster-
Alfred Andersch und Marie Luise Kaschnitz im Deut-
reichische Regierung, Bachmann bei der erwoge- schen Literaturarchiv (Marbach); – Briefwechsel mit
nen Rückkehr nach Wien behilflich zu sein und Alfred Andersch im Archiv des Südwestrundfunks (Ba-
bietet ihr eine erschwingliche Wohnung an, und den-Baden); – Verlagsbriefwechsel im Archiv des Suhr-
der Direktor des Burgtheaters bittet sie um ein kamp-Verlags (Frankfurt/M.).
Theaterstück (Gesprächsnotiz S. Unseld vom
Literatur: Bareiss/Ohloff (1978); Bartsch (1997); Hap-
20. 11. 1972). Doch kommen diese Pläne ebenso- kemeyer (1983); Hapkemeyer (1990); Höller (1999);
wenig zustande wie eine für das Frühjahr 1973 Hotz (1990); McVeigh (2002); Schmidt (1978); Spies-
erwogene Westafrikareise (Brief an S. Unseld ecke (1993); Steiner (1998); Weigel (1999).
vom 7. 2. 1973).
Leben und Werk im Überblick – eine Chronik 21

Corina Caduff (1994): Chronik von Leben und Werk. Gesellschaft, 3. Folge 16 (1984–86), S. 167–188; – Hans
In: du (1994), S. 76–87; – Dagmar von Gersdorff Werner Richter (1986): Radfahren im Grunewald –
(1992): Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie. Frank- Ingeborg Bachmann. In: Ders.: Im Etablissement der
furt/M. und Leipzig; – Arthur Nickel (1994): Hans Schmetterlinge. München, Wien, S. 45–62; – Simon
Werner Richter – Ziehvater der Gruppe 47. Eine Ana- Wiesenthal (1965): Verjährung? 200 Personen des öf-
lyse im Spiegel ausgewählter Zeitungs- und Zeitschrif- fentlichen Lebens sagen nein. Eine Dokumentation hg.
tenartikel. Stuttgart; – Adolf Opel (1996): Ingeborg von Simon Wiesenthal. Frankfurt/M.; – Walter Zettl
Bachmann in Ägypten. »Landschaft, für die Augen ge- (1991): Das verborgene Ich. Gedanken zu Ingeborg
macht sind«. Wien; – Robert Pichl (1986): Dr. phil. Bachmanns Roman Malina. In: Jahrbuch des Wiener
Ingeborg Bachmann. Prolegomena zur kritischen Edi- Goethe-Vereins 95, S. 119–130.
tion einer Doktorarbeit. In: Jahrbuch der Grillparzer- Monika Albrecht und Dirk Göttsche
22

2. Rezeptionsgeschichte
2.1. Rezeptionsgeschichte gearbeitet hat. Daraufhin lud er sie zu der Tagung
zu Lebzeiten der Gruppe 47 im Mai 1952 in Niendorf an der
Ostsee ein (Richter, S. 103–105). Bachmann hatte
»Das ist Stenogramm der Zeit im greifbar sinnli- zu diesem Zeitpunkt bereits eine Anzahl Pro-
chen Bild«, schrieb Klaus Wagner (K. Wagner, satexte und Gedichte in österreichischen Zeitun-
S. 9), Autor jener berühmten Titelstory in der gen und Zeitschriften publiziert. Teilnehmer die-
Zeitschrift »Der Spiegel« vom 18. August 1954, ser Tagung haben von diesem ersten Auftritt vor
die Ingeborg Bachmanns Dichtung zum Spiegel allem in Erinnerung behalten, daß wegen ihrer
der bundesrepublikanischen Rehabilitation nach großen Nervosität ihre Stimme kaum zu hören
1945 und die Autorin selbst zum festen Begriff im war. Von da an wird die Reaktion der Kritiker auf
Westdeutschland des Wirtschaftswunders mach- ihr Werk bis zu ihrem Tod immer untrennbar an
te. Während er die Meinung vertrat, daß Bach- ihre Erscheinung und ihr Auftreten gebunden
manns Gedichte den Belangen ihrer Zeit Aus- sein. Bei der Frühjahrstagung der Gruppe 47 in
druck verliehen, sahen die meisten anderen Kri- Mainz 1953 wurde Bachmann (»ein schönes
tiker in ihrem Werk lediglich zeitlose Schönheit Mädchen, flirrend in der Bescheidenheit dessen,
und abstrakte bzw. allgemeinmenschliche Pro- der noch nicht lange schreibt«; Weyrauch, S. 7)
bleme, die kaum in Beziehung zur Gegenwart der als vierter Autorin nach Günter Eich, Heinrich
1950er Jahre standen. Als mit der Publikation Böll und Ilse Aichinger der Preis der Gruppe 47
ihres Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961) verliehen. Im Dezember 1953 brachte Alfred An-
Bachmanns politische und kulturelle Interessen dersch den Gedichtband Die gestundete Zeit in
nicht mehr zu übersehen waren, reagierten viele seiner Reihe »studio frankfurt« heraus (die aller-
Kritiker mit Skepsis, und die Veröffentlichung dings fast unmittelbar danach eingestellt wurde,
des Romans Malina (1971) und des Erzählbandes so daß nur eine kleine Auflage auf den Markt
Simultan (1972) brachte einen in mancher Hin- gelangte). Es war dann erst der »Spiegel«-Artikel
sicht konservativen Kritiker wie Marcel Reich- vom August 1954, der Bachmann und ihrem Werk
Ranicki sogar dazu, Bachmann als »eine gefallene die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums
Lyrikerin« abzustempeln, die sich auf ein Gebiet vor allem in Westdeutschland sicherte. Constance
vorgewagt habe, das nicht wirklich das ihre sei Hotz hat sehr detailliert nachgewiesen, daß die
(Reich-Ranicki 1989a, S. 189). Vertreter der persönlichen Eigenschaften der Autorin, beson-
Neuen Linken hingegen hielten in dem hoch- ders ihre erotisierte Weiblichkeit, eine ebenso
gradig politisierten Klima zur Zeit der Studenten- große Rolle in der »Spiegel«-Story spielten wie
bewegung Bachmanns Werk wie überhaupt die ihre schriftstellerischen Leistungen. Hotz er-
gesamte bürgerliche Literaturproduktion für kennt in dem »Spiegel«-Artikel, der den Aufstieg
schlichtweg überflüssig. Als die Autorin 1973 einer hochbegabten ›Dichterin‹ bewußt mit de-
starb, wurde nicht nur in der Boulevardpresse ren Anschluß an angesehene deutsche, öster-
ihre »Todesart« mit ihrem Werk in Verbindung reichische und europäische intellektuelle Tradi-
gebracht (»Sie starb, als sei’s von ihr erdacht«, J. tionen in Verbindung brachte, das Bestreben zu
Wagner), dem Werk einer Schriftstellerin, die zeigen, daß Westdeutschland wieder seinen an-
sich in ihrer Zeit nicht zurechtgefunden und da- gemessenen Platz in der Gemeinschaft der Na-
her gewissermaßen schicksalhaft diese ›Todes- tionen eingenommen hatte: »Ingeborg Bachmann
art‹ erlitten habe. wird hier zu einem Exempel für Wiederaufbau,
Es sei dahingestellt, ob Hans Werner Richters Wiedererreichen internationaler Standards in
Bericht über seine ›Entdeckung‹ Ingeborg Bach- der Welt und Wiedergewinnung von Anerken-
manns den Tatsachen entspricht. Der Gründer nung Deutschlands in der Welt.« (Hotz 1990,
der Gruppe 47 will zufällig einige ihrer Gedichte S. 72)
auf einem Schreibtisch beim Wiener Sender Rot- Andere Rezensenten des Gedichtbands Die ge-
Weiß-Rot gefunden haben, wo Bachmann damals stundete Zeit sahen darin ebenfalls das Zeugnis
zunächst als Sekretärin, dann als Scriptwriter der großen Begabung einer Dichterin, die als
Rezeptionsgeschichte zu Lebzeiten 23

»neue[r] Stern am deutschen Poetenhimmel« ge- Vor diesem Hintergrund war die Verschiebung
feiert wurde, nicht zuletzt, weil ihr Werk endlich von Bachmanns Arbeitsschwerpunkt in den spä-
die Unzulänglichkeiten einer bis dahin höchst ten 1950er Jahren von der Lyrik zur Prosa, wie sie
untauglichen Nachkriegslyrik überwunden habe sich dann vor allem in der Veröffentlichung des
(Blöcker 1989, S. 13). Als drei Jahre nach dem Erzählbandes Das dreißigste Jahr (1961) aus-
ersten der zweite Gedichtband unter dem Titel drückt, sozusagen dazu prädestiniert, ihre Kri-
Anrufung des Großen Bären erschien, wurde ihm tiker vor den Kopf zu stoßen. Dennoch zeugte aus
sogar noch mehr Aufmerksamkeit und größeres der Sicht vieler Kritiker auch Bachmanns Prosa
Lob zuteil. Wieder wurde Bachmann als die füh- von ihrem literarischen Rang; Horst Bienek bei-
rende poetische Stimme ihrer Generation ge- spielsweise charakterisierte den Erzählband als
feiert, die in ihren Gedichten (»Ausdruck my- »eine der reifsten Sprachleistungen in unserer
thisch-zeitlosen und zugleich diffizil-modernen Literatur« (Bienek 1994a, S. 67). Andere jedoch
Weltgefühls«; Fritsch, S. 386) die besten Mo- bewerteten Bachmanns Prosaversuche als fatalen
mente von Tradition und Moderne zu vereinigen Fehltritt, konstatierten beispielsweise ein
wußte. Zudem wurde ihre Fähigkeit bewundert, ›Schwanken‹ »zwischen Meisterschaft und barem
Lyrisches mit Intellekt, Einfachheit und Unmit- Kitsch« und hielten den Band »als Ganzes« für
telbarkeit mit technischer Präzision zu verbin- »mißlungen« (Jens, S. 74 f.). Diese Kritiker be-
den. Und obwohl Helmut Heißenbüttel mit harrten darauf, daß Bachmanns (geschlechtsspe-
Nachdruck betont hat, daß diese Gedichte die zifische) Begabung vornehmlich lyrisch sei, und
»Verzweiflung und Hoffnung« einer Generation während einige die lyrischen Qualitäten ihrer
ausdrücken, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat Prosa lobten, sahen andere darin nur ihre Un-
(Heißenbüttel, S. 23), war für den konservativen fähigkeit dokumentiert, den adäquaten erzähleri-
Kritiker Hans Egon Holthusen, der eine kühne schen Ausdruck für ihre häufig philosophische
Beurteilung beider Gedichtbände in einem ehr- Erzählintention zu finden. Mit den Worten von
geizigen Artikel in der Zeitschrift »Merkur« vor- Barbara Bondy: »Kein Kriterium der Erzählung
gelegt hat, vor allem Bachmanns zweiter Ge- ist erfüllt: Diese Prosastücke haben keine eigent-
dichtband von Belang. Darin fand er Manife- liche Handlung, keinen Ablauf, keine Charaktere
stationen des »Klassische[n] selbst«, da ihre – dies vor allem« (Bondy, S. 64), und Reich-
Gedichte (»vom Notwendigen, Immerwähren- Ranicki urteilte: »Ihr vornehmlich lyrisches Ta-
den, Urbildlich-Wahren bewegt«) in erster Linie lent trieb sie immer wieder zu einer nur im
solche grundsätzlichen und existentiellen Fragen Emotionalen verankerten Fragestellung.« (Reich-
wie die »nach der Aussprechbarkeit der Welt und Ranicki 1989b, S. 79) Bachmanns Leserschaft
des In-der-Welt-Seins« ausloten und von der »un- hingegen nahm die Prosa offenkundig sogar bes-
willkürliche[n] Übereinstimmung zwischen der ser auf als die Lyrik; am 18. Oktober 1961 stand
Lebenserfahrung einer jungen Dichterin der Ge- der Erzählband Das dreißigste Jahr auf Platz 1
genwart mit dem ältesten Wissen der Völker« der Bestsellerliste der Zeitschrift »Der Spiegel«.
zeugen (Holthusen, S. 37, 34, 25, 52). Die Her- Sogar von dem Hörspiel Der gute Gott von Man-
vorhebung solcher Eigenschaften der Bachmann- hattan wurde eine (angesichts des Genres er-
schen Gedichte diente Holthusen gleichzeitig staunlich) hohe Anzahl von Exemplaren ver-
dazu, einen Bewertungsrahmen für die Arbeiten kauft.
anderer Lyriker aus Bachmanns Generation auf- Abgesehen von der im Verlag Klaus Wagenbach
zustellen und seinem eigenen konservativen kul- publizierten Fassung der Büchnerpreis-Rede Ein
turpolitischen Programm Geltung zu verschaffen. Ort für Zufälle (1965) erschien in dem Jahrzehnt
Denn, wie Reich-Ranicki später urteilt: »Bach- zwischen dem Erzählband Das dreißigste Jahr
manns Poesie [konnte] von der als links und von und dem Roman Malina (1971) kein neues Werk
der als rechts geltenden Kritik, von allen Seiten von Bachmann auf dem Buchmarkt. Im Jahr 1964
mit demselben Beifall bedacht werden. […] Ihre brachte der Piper Verlag jedoch eine Auswahl aus
metaphorischen Formulierungen jener Gegeben- ihrem Werk unter dem Titel »Gedichte, Erzäh-
heiten sind vage und deshalb umfassend genug, lungen, Hörspiel, Essays« heraus, die mit den
um allerlei Deutungen zu rechtfertigen.« (Reich- bereits publizierten Gedichten sechs neue sowie
Ranicki 1989b, S. 74) eine Auswahl aus den Frankfurter Vorlesungen,
24 I. Grundlagen

das Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und Gegenteil ausschließlich mit individuellen, psy-
andere Texte vereinte, die vorher verstreut in chologischen und ›weiblichen‹ Problemen zu be-
Zeitschriften erschienen waren. Vor allem diese fassen: »Ein aktives, auf Veränderung hin zie-
Essays, die nun zum ersten Mal im Zusammen- lendes Element bietet dieses Buch nicht.« (Gro-
hang zugänglich waren, wurden von da an als ningen) Viele Kritiker mißverstanden die
Schlüssel für Bachmanns eigenes Werk betrach- Aussage der Autorin, daß der Roman Malina eine
tet. Auch wenn die ›Großkritiker‹ sich kaum mit »geistige, imaginäre Autobiographie« sei (GuI,
diesem Band befaßten, so nutzten die weniger 73), und lasen ihn einfach als Beschreibung von
prominenten Sprachrohre der literarischen Kritik Bachmanns eigenem Leben, etwa Günter Blö-
die Gelegenheit zu resümierenden Kommentaren cker, der meinte, die Protagonistin sei »ziemlich
über Bachmanns Ruf als Schriftstellerin und ihre unverschlüsselt die Autorin in Person« (Blöcker
Begabung. Diesmal konnte die Kritik die Genre- 1994, S. 138). Die Abqualifizierung des Romans
diskussion umgehen, da die Erzählungen aus als Schilderung der Seelenqualen seiner Autorin
dem Band Das dreißigste Jahr nicht im Zentrum paßte zu dem unterschwelligen Sexismus der
standen. Während einige Rezensenten nach wie Zeit, wenn Malina als »ein Frauenroman
vor Bachmanns Lyrik über alle anderen Werke schlechthin« (Leitenberger) und als ein »in einem
stellten, kamen andere zu dem Schluß: »Die irritierenden Sinn weibliches Buch« bezeichnet
Dichterin repräsentierte sich als Lyrikerin, Er- wurde (Rüedi). Ein Bewunderer des Romans wie
zählerin, Hörspielautorin und Essayistin in glei- Werner Kraus urteilte dagegen, Malina sei, weil
cher Stärke.« (Lyk) Auch der Band »Gedichte, viel zu gut dafür, »alles andere als ein Frauen-
Erzählungen, Hörspiel, Essays« schaffte es in die roman«: »Dazu wirkt das Buch viel zu intellektu-
Liste der »Spiegel«-Bestseller. Das von der Deut- ell, literarisch und psychologisch anspruchsvoll«
schen Akademie für Sprache und Dichtung reprä- (Kraus). Später wird Elke Atzler diese Rezen-
sentierte literarische Establishment honorierte sionsrichtung ein »Bravourstück sexistischer Ein-
Bachmanns bisherige Arbeit im allgemeinen und schätzung« nennen (Atzler, S. 159). Nur sehr
diesen Sammelband im besonderen mit dem weitsichtige Kritiker wie Reinhard Baumgart und
Büchnerpreis des Jahres 1964. Hans Mayer (dessen Rezension Bachmann sehr
Als im Jahr 1971 Bachmanns erster Roman schätzte) sahen, daß der Roman sich gerade mit
Malina erschien, mußte er sich in einem völlig den sozialen Bedingungen auseinandersetzt, die
anderen (kultur-) politischen Klima behaupten. das Subjekt einengen: »Alle Verwirklichung des
In einer Zeit, in der der Literatur nicht nur von Ich scheitert gerade an den Verhältnissen.«
Hans Magnus Enzensberger, der zusammen mit (Mayer, S. 164) Für andere Kritiker wiederum
Karl Markus Michel und anderen 1968 in der war Bachmanns scheinbarer Mangel an Zeitge-
Zeitschrift »Kursbuch« den ›Tod der Literatur‹ nossenschaft der größte Vorzug des Malina-Ro-
verkündet hatte, »eine wesentliche gesellschaft- mans. Karl Krolow erklärt (beinahe selbst atem-
liche Funktion« schlichtweg abgesprochen wurde los): »Die Manie, mit der in ›Malina‹ – unter
(Enzensberger, S. 195), erschien Bachmanns Ma- Auferbietung großer Kunst – für das Recht von
lina-Roman vielen als anachronistisch. (Typisch Individuation, von Gefühls- und Liebesrecht, für
für den Tenor jener Jahre war das Streitgespräch Unmöglichkeit und für Scheitern eingetreten
zwischen Wolf Wondratschek und Jürgen Becker wird, hat so hohe sensitive Brisanz, daß es einem
1970 in der Zeitschrift »Merkur« zu dem Thema – umgeben von längst entindividualisierter und
»War das Hörspiel der fünfziger Jahre reaktio- brutalisierter Literatur – durchaus den Atem ver-
när?«, das die Frage am Beispiel von Bachmanns schlägt.« (Krolow) Für viele Kritiker war gerade
Der gute Gott von Manhattan erörterte.) Zum das Scheitern des Romans gegenüber den Erwar-
Teil aufgrund der Herausnahme von Passagen mit tungen des gegenwärtigen Literaturbetriebs ein
eher (gesellschafts-) politischem Inhalt kurz vor Zeichen für Bachmanns Originalität und – da die
der Drucklegung, die der Suhrkamp Verlag und Erzählerin sich ausdrücklich weigert, ihre Ge-
Martin Walser der Autorin nahegelegt hatten schichte zu erzählen – für Bachmanns im wesent-
(vgl. TKA 3.2, 801, 872), schien der Roman auf lichen lyrische Begabung. Nicht zuletzt ange-
alle sozialen oder politischen Fragestellungen der sichts der Tatsache, daß der Roman scheinbar die
Gegenwartssituation zu verzichten und sich im sogenannte ›Neue Subjektivität‹ vorweggenom-
Rezeptionsgeschichte zu Lebzeiten 25

men hatte, war Bachmanns Leserschaft wieder setzt, wenngleich diese ersten Erträge zumeist
einmal anderer Ansicht. Malina erschien eben- nicht besonders bemerkenswert sind. Bachmann
falls in der Bestseller-Liste der Zeitschrift »Der wurde bereits in einem Literarturlexikon von
Spiegel« – auf dem zweiten Platz gleich hinter der 1954 (Kindermanns »Wegweiser durch die mo-
Love Story. derne Literatur in Österreich«) sowie in Litera-
Der Erzählband Simultan, der 1972 auf den turgeschichten ab 1957 erwähnt. Die Zeitschrift
Roman Malina folgte und in der gleichen fiktiven »Text + Kritik«, die bekanntlich auch Bio-Biblio-
Welt angesiedelt war wie dieser, sollte Bach- graphien bietet, erschien erstmals 1964 mit ei-
manns letztes zu Lebzeiten publiziertes Werk nem Bachmann-Heft und zu Bachmanns Lebzei-
bleiben. Die Kritik war sehr gemischt und wider- ten nochmals im Jahr 1971. Viele der frühen
sprüchlich, wobei das Spektrum von Reich-Ra- Literaturwissenschaftler durchsuchten Bach-
nickis provozierender Frage, ob die Simultan- manns Werk nach einer »Problemkonstante«, ei-
Erzählungen vielleicht als »bewußt und zynisch nem thematischen Schwerpunkt, den die Autorin
angestrebte Trivialliteratur« zu lesen seien, »Le- selbst als »Gewähr für die Authentizität einer
sestoff für jene Damen, die beim Friseur oder im dichterischen Erscheinung« bezeichnet hatte (W
Wartezimmer des Zahnarztes in Illustrierten blät- 4, 193). Die allerersten Wissenschaftler (wie z. B.
tern« (Reich-Ranicki 1994, S. 190), bis hin zu der Peter Fehl [1970] und Beatrice Angst-Hürlimann)
Behauptung reicht, der Simultan-Band sei »die richteten ihr Interesse vor allem auf die Lyrik,
beste Bachmann, die es je gab« (N. N.). Im Ver- wobei sie die »Sprachproblematik« als die zen-
gleich mit dem Roman Malina wurde an den trale »Problemkonstante« betrachteten. Zudem
Erzählungen positiv hervorgehoben, daß sie betrachtete man Bachmanns Werk vornehmlich
leichter zugänglich, konkreter und präziser seien, im Zusammenhang mit Heidegger und Wittgen-
und überrascht war die Kritik auch von dem stein, die als ihre intellektuellen Bezugspunkte in
Humor des Simultan-Bandes, der als Zeichen der Geistesgeschichte gesehen wurden. Frühe
eines ganz neuen Moments in Bachmanns Werk Untersuchungen, insbesondere Dissertationen
gewertet wurde. Jean Amérys eindringliche Re- wie die von Mechtenberg (1978) und Holschuh,
zension betonte vor allem auch die österreichi- widmeten sich dem Stellenwert des Utopischen
schen Dimensionen dieser Erzählungen: »Es ist in Bachmanns Werk oder versuchten, wie Thiem
in Wahrheit ein Totenreich, durch das die Autorin (1972), besondere Techniken in Bachmanns ly-
uns führt«. (Améry, S. 193) Die Hervorhebung rischer Produktion auszumachen. Bachmanns
des österreichischen Aspekts war zugleich ein Prosa ist hingegen erst einige Zeit nach ihrem
ganz neuer Aspekt im Bachmann-Bild der Litera- Tod eingehender untersucht worden.
turkritik. Obgleich einige Kritiker nach wie vor Diese wechselnde Rezeption des Werks in Li-
an Bachmanns Errungenschaften als Lyrikerin teraturkritik und Literaturwissenschaft wurde
erinnerten, schien man Anfang der 1970er Jahre natürlich von ihrem Tod plötzlich und nachhaltig
nun doch allgemein überzeugt davon, daß die erschüttert. Ihre Persönlichkeit und ihr Privat-
Autorin auch in der Lage war, Prosa zu schreiben. leben hatten immer eine große Rolle in der öf-
Mit der Rezeption des Simultan-Bands begann fentlichen Einschätzung ihres literarischen Werks
somit eine Imagewende in der Literaturkritik, gespielt, nun standen sie erneut im Vordergrund,
die auch nach dem Tod der Autorin noch fort- und viele Nachrufe bezogen ihr Schreiben auf ihr
dauerte: Bachmann wurde nun als eine Schrift- Leben. Nun rückten der Roman Malina und der
stellerin eingestuft, die in einem breiten Spek- unvollendete Todesarten-Zyklus ins Zentrum des
trum literarischer Genres zu Hause war, und man Interesses, wenngleich auch Passagen aus an-
sah sie auch nicht länger als einzigartiges lite- deren Texten als passende Kommentare zu ihrem
rarisches Phänomen oder als die Grande Dame Tod betrachtet wurden: »Undine geht«, »Ende
der Gruppe 47 und damit der westdeutschen einer gestundeten Zeit«, die vielen Feuermeta-
Nachkriegsliteratur, vielmehr wurde nunmehr phern aus ihren Gedichten und am häufigsten die
auch ihr Verhältnis und ihr Beitrag zur öster- Stelle aus dem Roman Malina, wo die Protagoni-
reichischen Literaturtradition wahrgenommen. stin sich eine letzte Abendzigarette an der glü-
Die Literaturwissenschaft hat sich ebenfalls henden Herdplatte anzündet und bemerkt: »Ich
schon früh mit Bachmanns Werk auseinanderge- muß aufpassen, daß ich mit dem Gesicht nicht auf
26 I. Grundlagen

die Herdplatte falle, mich selbst verstümmle, ver- Es wird wieder erzählt. Ingeborg Bachmann – Malina –
brenne« (TKA 3.1, 691). Obwohl sie allein im Psychologie eines Bucherfolgs. In: Nordbayrischer Ku-
rier, 15. Juli 1971; – Karl Krolow (1971): Aggression des
Krankenhaus starb, wie so viele Zeitgenossen,
Schmerzes. Über Ingeborg Bachmanns erstes umfang-
sprach man ihr einen ›eigenen Tod‹ zu, weil sie reiches Prosawerk: Malina. Ausschließlichkeit des Ge-
ihn angeblich selbst angekündigt hatte. Ihr Tod fühls in einer Dreiecksgeschichte. Sensitive Brisanz aus
schien daher wieder einmal gleichzeitig beides zu einer radikal privaten Position. In: Nürnberger Nach-
belegen, ihre Repräsentanz und die Einzigartig- richten, 15. März 1971; – H. Kindermann (1954): Weg-
keit ihres dichterischen Werks. Doch diejenigen weiser durch die moderne Literatur in Österreich.
Innsbruck; – Ilse Leitenberger (1971): Das Buch der
unter den Kritikern, die ihr Gesamtwerk im Blick
Woche. Monolog der Lebensunfähigkeit. In: Die
hatten, kamen zu weniger positiven Schlüssen: Presse, 21. April 1971; – Erhard Lyk (1964): Bachmann
Auch wenn wieder die herausragende Leistung bei den Neunzehn. In: Oberösterreichische Nachrich-
ihrer Lyrik der 1950er Jahre gepriesen wurde, ten, 28. Mai 1964; – Hans Mayer (1989): Malina oder
räumten sie ein, daß die letzten Jahre eher zu Der große Gott von Wien [1971]. In: Koschel/von
dem geführt hatten, was Horst Bienek eine Weidenbaum (1989), S. 162–165; – N. N. (1972): Unser
Bestseller. Ingeborg Bachmanns Simultan. In: Elle, 1.
»Bachmann-Dämmerung« nannte (Bienek 1994b,
Dezember 1972; – Marcel Reich-Ranicki (1989a): Die
S. 471). Bachmanns Tod, so wurde gesagt, hatte Dichterin wechselt das Repertoire [1972]. In: Koschel/
eine literarische Karriere beendet, die ohnehin von Weidenbaum (1989), S. 188–192; – Marcel Reich-
im Abwärtstrend war. Ranicki (1989b): Ingeborg Bachmann oder Die Kehr-
seite des Schreckens [1963]. In: Koschel/von Weiden-
Literatur: Hotz (1990); Fehl (1970); Mechtenberg
baum (1989), S. 69–82; – Marcel Reich-Ranicki (1994):
(1978); Thiem (1972).
Ingeborg Bachmann mit neuem Repertoire [1973]. In:
Jean Améry (1989): Trotta kehrt zurück [1972]. In:
Schardt (1994), S. 187–190; – Peter Rüedi (1971):
Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 192–196; – Be-
Schmerzliches Gekreuzigtsein. In: Zürcher Woche.
atrice Angst-Hürlimann (1971): Im Widerspiel des Un-
Sonntags-Journal, 19./20. Juni 1971; – Hans Werner
möglichen mit dem Möglichen. Zum Problem der Spra-
Richter (1979): Wie entstand und was war die Gruppe
che bei Ingeborg Bachmann. Zürich; – Elke Atzler
47? In: Hans Werner Richter und die Gruppe 47. Mün-
(1983): Ingeborg Bachmanns Roman Malina im Spiegel
chen, S. 41–176; – Josef Wagner (1973): Sie starb, als
der literarischen Kritik. In: Jahrbuch der Grillparzer-
sei’s von ihr erdacht. In: Bild (Hamburg), 18. Oktober
Gesellschaft, 3. Folge 15, S. 155–171; – Reinhard
1973; – Klaus Wagner (1994): Bachmann. Stenogramm
Baumgart (1989): Ingeborg Bachmann – Malina [1971].
der Zeit [1954]. In: Schardt (1994), S. 9–16; – Wolfgang
In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 141–149; –
Weyrauch (1953): Sie erhielt den Preis. Wolfgang Wey-
Horst Bienek (1994a): Lieblingskind der deutschen
rauch über die junge Lyrikerin Ingeborg Bachmann. In:
Publizistik [1961]. In: Schardt (1994), S. 66–69; – Horst
Die Welt, 30. Mai 1953, S. 7; – Wolf Wondratschek und
Bienek (1994b): Noch gibt es Lieder zu singen [1973].
Jürgen Becker (1970): War das Hörspiel der Fünfziger
In: Schardt (1994), S. 469–472; – Barbara Bondy (1994):
Jahre reaktionär? Eine Kontroverse am Beispiel von
Schichtwechsel [1961]. In: Schardt (1994), S. 62–64; –
Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan. In:
Günter Blöcker (1989): Die gestundete Zeit [Rezension
Merkur 24, S. 190–194.
1954]. In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 13–15;
Sara Lennox
– Günter Blöcker (1994): Auf der Suche nach dem Vater
[1971]. In: Schardt (1994), S. 137–140; – Hans Magnus
Enzensberger (1968): Gemeinplätze, die Neueste Lite-
ratur betreffend. In: Kursbuch 15, S. 187–197; – Ger- 2.2. Rezeptionsgeschichte
hard Fritsch (1957): Im Blickfeld liegt die Lyrik … In: seit Bachmanns Tod
Wort und Wahrheit 5, S. 386; – Gerd Groningen (1971):
Ein auf Veränderung zielendes Element fehlt. Über Viele Literaturkritiker nahmen Ingeborg Bach-
Ingeborg Bachmanns ersten Roman Malina. In: Die
manns Tod zum Anlaß, ihr Oeuvre neu und kri-
Wahrheit, 13. August 1971; – Helmut Heißenbüttel
(1989): Gegenbild der heillosen Zeit [Rezension Anru- tischer zu bewerten. Weder die einst gefeierten
fung des Großen Bären, 1957]. In: Koschel/von Wei- Gedichte und Hörspiele der 1950er Jahre noch
denbaum (1989), S. 20–23; – Albrecht Holschuh (1964): die weniger enthusiastisch rezipierten Prosatexte
Utopismus im Werk Ingeborg Bachmanns. Eine thema- Malina und Simultan schienen Themen anzu-
tische Untersuchung. Princeton/NJ; – Hans Egon Holt- sprechen, die im politisierten Klima der frühen
husen (1989): Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Inge-
1970er Jahre als gesellschaftlich relevant galten:
borg Bachmanns [1958]. In: Koschel/von Weidenbaum
(1989), S. 24–52; – Walter Jens (1994): Zwei Meister- Es schien in Bachmanns Werken ausschließlich
werke in schwacher Umgebung [1961]. In: Schardt um (bürgerliche, weibliche) Innerlichkeit zu ge-
(1994), S. 71–75; – Wolfgang Kraus (1971): Im übrigen. hen. Auch Mitte der 1970er Jahre gab es noch
Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns Tod 27

verhältnismäßig wenige wissenschaftliche Unter- vor diesem Buch als männlicher Leser versagt
suchungen zu Bachmanns Texten (u. a. Holger haben.« (Neumann, S. 1134 f.) Lindemann hält es
Pauschs Überblick über das Gesamtwerk [1975] andererseits für möglich, daß gerade Bachmanns
und Ellen Summerfields scharfsinnige Disserta- Schwächen – Literatur als »reine Klage«, der
tion zu Malina [1976]). Ganz unbemerkt von »Ton des Verratenseins« (Lindemann, S. 274) –
Literaturkritik und Forschung hatten aber Bach- gesellschaftlich begründet und geschlechtsspezi-
manns LeserInnen dieser Zeit »die andere Inge- fisch sind: »Aus Gründen, die mit Händen zu
borg Bachmann« der Todesarten entdeckt, wie greifen sind und sich allmählich auch herumge-
Sigrid Weigel sie später nennt (Weigel 1984a). sprochen haben, aus Gründen der jahrhunderte-
Als engagierte deutsche Intellektuelle nach der langen untergeordneten Rolle der Frau in der
dogmatischen Phase der Neuen Linken die ei- patriarchalischen Gesellschaft, ist offenbar – dem
gene Subjektivität erforschten und die Frauen- Himmel sei’s geklagt – das tiefste Gefühl, dessen
bewegung aufblühte, wurde Malina geradezu Frauen fähig sind, […] keineswegs das der Liebe
zum Kultbuch. oder der Hingebung oder wie sonst der schöne
Die Veröffentlichung der vierbändigen Werk- Schein heiße, sondern das der Kränkung.« (Lin-
ausgabe (1978) gab der Literaturkritik wie der demann, S. 273)
Literaturwissenschaft neuen Anlaß und zugleich Seither hat die mit Neumann und Lindemann
eine neue Grundlage für die Auseinandersetzung einsetzende feministische Rezeption das Bild von
mit Ingeborg Bachmann. (Zudem erschien im Bachmann in Literaturkritik und Literaturwis-
gleichen Jahr der erste Teil von Otto Bareiss’ senschaft maßgeblich mitbestimmt und zu einer
periodischer Bachmann-Bibliographie, ein uner- vollständigen Neuinterpretation ihres Werks ge-
läßliches Hilfsmittel der entstehenden Bach- führt. Im Einklang mit den übergreifenden Ent-
mann-Forschung; Bareiss/Ohloff 1978 und Fort- wicklungen der Theoriebildung fiel die feministi-
setzungen.) Diese Werkausgabe, die einen ersten sche Auseinandersetzung mit Ingeborg Bach-
Überblick über das Gesamtwerk der Autorin mit mann in den beiden Folgejahrzehnten jedoch
der Veröffentlichung bislang unbekannter Nach- ganz unterschiedlich aus. Die ersten feministi-
laßfragmente verband und neben zwei Bänden schen Lektüren suchten nach Modellen weib-
Erzählprosa auch einen ganzen Band kritischer lichen Widerstands gegen das herrschende Pa-
Schriften bot, bewirkte (in Verbindung mit dem triarchat und vermerkten mit Ungeduld, daß
starken Interesse der LeserInnen an den Todes- Bachmanns Protagonistinnen sich mit ihrem Op-
arten) in der Bachmann-Rezeption eine Schwer- ferstatus abfinden. Marlis Gerhardt etwa sieht in
punktverlagerung von der Lyrik zur Prosa. Zu- Bachmanns Frauenfiguren die Geschlechterpo-
gleich entdeckten die InterpretInnen erstmals larität und die Rollenverteilung des 19. Jahr-
Bachmanns Auseinandersetzung mit der unter- hunderts reproduziert und kritisiert, daß das
geordneten Stellung der Frau in der patriarchali- weibliche Ich in Malina sich dem geliebten Ivan
schen Gesellschaft. Ein Dialog zwischen Peter unterwirft und jene Eigenschaften, die es auf sein
Horst Neumann, der im »Merkur« 1978 seine männliches alter ego Malina projiziert – Ratio-
»Befangenheit« gegenüber Ingeborg Bachmann nalität, Autonomie, Kompetenz –, als mit weib-
zum Ausdruck brachte, und Gisela Lindemann, licher Identität unvereinbar betrachtet. Gerhardt
die ein Jahr später in der »Neuen Rundschau« auf vergleicht Bachmann kritisch mit anderen Auto-
diese Kritik einging, wird meist als der Anfang rinnen der 1970er Jahre wie Christa Wolf, Irm-
der Entdeckung der ›anderen (feministischen) traud Morgner, Sarah Kirsch oder Barbara Frisch-
Bachmann‹ betrachtet. Neumann liest die Erzäh- muth, die selbständigere Frauenfiguren darstel-
lung Undine geht als Vorwegnahme der »wesent- len (Gerhardt).
lichen Motive der späteren Frauen-Bewegung« Bachmanns frühe amerikanische Interpretin-
und fügt seiner Kritik an dem Roman Malina nen waren ebenfalls an starken statt an hilflos
hinzu: »[…] ich bin außerstande, bei meinem leidenden weiblichen Figuren interessiert und
ästhetischen Urteilen über diesen Roman von versuchten Bachmanns Werke mit ihren eigenen
dessen beharrlichem Appell an ein geschlechts- feministischen Prinzipien zu vereinbaren. Auf ei-
spezifisches Einverständnis abzusehen. […] so nem Kolloquium in Amherst (1977) argumen-
werde ich doch den Zweifel nicht los, ich könnte tierte Ellen Summerfield, daß die Erzählungen
28 I. Grundlagen

des Simultan-Bandes fünf moderne Frauen dar- zung mit dem Nationalsozialismus behauptete
stellten, die sich unabhängig von Männern be- Ria Endres, daß Bachmanns größte Leistung die
haupten können (Summerfield 1979) – eine Darstellung des »Wesen[s] männlicher Grausam-
Schlußfolgerung, die andere feministische Bach- keit und weiblichen ›Märtyrertum[s]‹« sei (En-
mann-Forscherinnen bald in Frage stellten. Auf dres, S. 51).
einer Konferenz des Verbandes »Women in Ger- Seit Anfang der 1980er Jahre bezogen sich viele
man« würdigten Dinah Dodds und Ritta Jo Hors- feministische Bachmann-Forscherinnen theore-
ley im Kontext der Sektion »Lesbische Themen in tisch auf den französischen Poststrukturalismus,
der deutschen Literatur« (1979) Bachmanns The- um das von Endres und Lenk vertretene Para-
menwahl in Ein Schritt nach Gomorrha, kriti- digma der Frau-als-Opfer-These untermauern
sierten aber auch, daß die weiblichen Figuren und zugleich der Form von Bachmanns Schreib-
nicht imstande seien, in ihren Liebesbeziehun- weise mehr Aufmerksamkeit widmen zu können.
gen hierarchisch strukturierte patriarchalische Bachmanns Texte wurden in diesem Kontext als
Rollenmodelle aufzugeben (Dodds, Horsley Thematisierung der Abwesenheit der weiblichen
1980). Margret Eifler las Malina ganz ähnlich als Stimme innerhalb des herrschenden ›phallogo-
Darstellung der weiblichen Weigerung, sich zentrischen‹ Diskurses verstanden. Das Buch
Männern unterzuordnen, und interpretierte das Franza ersetzte nun Malina als der Schlüsseltext
Verschwinden des Ich in der Wand am Ende des zum Verständnis von Bachmanns Werk, und die
Romans als Verzicht auf »versklavende Liebe« Autorin wurde für die Entwicklung ästhetischer
(Eifler, S. 380). Verfahrensweisen gelobt, die weibliches Spre-
Die Mehrheit der deutschen und amerikani- chen trotz allem ermöglichen. In dem ersten
schen Feministinnen der 1970er Jahre betrach- wissenschaftlichen Beitrag, der den Poststruk-
tete Bachmanns Prosatexte als mehr oder we- turalismus auf Bachmanns Werke anwendete,
niger realistische Darstellungen weiblicher Er- schrieb ich 1980, daß Feministinnen Malina als
fahrung und verlangte von der Frauenliteratur Teil ihres Kampfes gegen jene Normen lesen
überhaupt einen feministischen Beitrag zur Ge- könnten, die den Frauen das Recht, als Frauen zu
sellschaftsveränderung. Der Feminismus der sprechen, verweigern, als Beitrag also zur kultu-
1980er Jahre bestand dagegen nicht mehr auf rellen Konstruktion einer anderen, authentische-
einer solchen unmittelbaren Einbindung der Li- ren Stimme (Lennox 1980, S. 76). In ihrem Bei-
teratur in die feministische Praxis. Aufgabe der trag zu Hans Höllers wichtiger Aufsatzsammlung
feministischen Literaturwissenschaft wurde nun »Der dunkle Schatten, dem ich schon seit Anfang
vielmehr die analytische Aufdeckung der allge- folge« (1982) behauptete Christa Gürtler in ähnli-
genwärtigen männlichen Gewalt gegen Frauen cher Weise, daß Das Buch Franza den Zusam-
sowie der vermeintlichen Spuren weiblicher Au- menstoß zwischen zwei Denksystemen darstelle,
tonomie außerhalb der bestehenden Gesell- zwischen dem (männlichen) »faschistische[n]
schaftsordnung, in der die Frau – im Spiegel der Denken« Leo Jordans und Franzas (weiblichem)
Literatur – als Opfer gesehen wurde. Ein Beitrag »ver-rückte[m] Diskurs« (Gürtler 1982, S. 51).
von Elisabeth Lenk in der feministischen Zeit- Der französische Feminismus poststrukturalisti-
schrift »Courage« weist viele Aspekte dieses scher Prägung hatte grundsätzlich gezeigt, daß
neuen Ansatzes auf: Frauen stehen, so argumen- Wahnsinn und Hysterie als Substitute der weib-
tiert sie, vor der Wahl, entweder ihre Heterogeni- lichen Stimme gelesen werden können.
tät zu verleugnen, um an der herrschenden Ge- Mitte der 1980er Jahre hatten Varianten des
sellschaft zu partizipieren, oder ihr Anderssein zu feministischen Poststrukturalismus das Feld der
bejahen und ein »Pariabewußtsein« zu entwik- Bachmann-Forschung für sich gewonnen, wie vor
keln. In Malina sei es Bachmann in diesem Sinne allem die beiden der Autorin gewidmeten Son-
gelungen, die »weibliche Sozialisation« ganz derhefte der Zeitschriften »Text + Kritik« (1984,
grundsätzlich »als Verbrechen an der Frau, als Redaktion Sigrid Weigel) und »Modern Austrian
Prozeß der Vernichtung« darzustellen (Lenk, Literature« (1985) zeigen. In ihrer Einleitung zu
S. 34). In ähnlicher Abstraktion von den spezifi- dem wegweisenden »Text + Kritik«-Sonderband
schen historischen Kontexten der Literatur und konturiert Weigel die Parameter des neuen Bach-
insbesondere von Bachmanns Auseinanderset- mann-Bildes: Als vorweggenommene Konkreti-
Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns Tod 29

sierungen poststrukturalistischer Thesen trügen Werks als »Reaktion auf die Zerstörung von Welt
Bachmanns Todesarten dazu bei, die »strukturelle und Geschichte durch den Zweiten Weltkrieg«
Beziehung zwischen Faschismus, Patriarchat, (Witte 1981, S. 4). In einem Aufsatz von 1985, der
Ethno- und Logozentrismus und die zentrale einen Überblick über »Ingeborg Bachmann
Rolle der Sprache/Schrift für diesen Zusammen- heute« bietet, konstatiert Kurt Bartsch dann »so
hang, in dem das ›Weibliche‹ als Verkörperung etwas wie ein[en] Bachmann-Boom«, der 1983
des verdrängten Anderen den verschiedensten als Resultat einer »Veränderung in der Erwar-
Todesarten unterworfen ist«, aufzudecken (Wei- tungshaltung der Literaturkritik und der Litera-
gel 1984a, S. 5). Nicht alle Beiträge des Heftes turwissenschaft in der zweiten Hälfte der siebzi-
wenden dieses Paradigma an, aber der dominie- ger Jahre, die sich u. a. dem Einfluß der jüngsten
rende Einfluß der französischen Theorie fällt in Frauenbewegung verdankt«, gleich vier Bach-
der Sonderausgabe von »Modern Austrian Litera- mann-Symposien hervorbrachte (Bartsch 1985,
ture« um so stärker auf, da hier über die Hälfte S. 281). Bartschs Monographie in der Reihe
der Beiträge sich methodologisch auf den femini- »Sammlung Metzler« (1988) bezieht sich häufig
stischen Poststrukturalismus bezieht. Angelika auf die neuere feministische Forschung und
Rauch sieht zum Beispiel »Weiblichkeit« in Bach- bleibt mit ihrer ausführlichen und ausgewogenen
manns Werken als »Gegenentwurf zu den ver- Gesamtdarstellung bei besonderer Betonung der
dinglichten Erfahrungs- und Wahrnehmungswei- gesellschaftskritischen und zeitgeschichtlichen
sen, die Folgeerscheinungen einer rational und Problemstellungen des Werks bis heute ein Stan-
patriarchalisch definierten Kultur und Gesell- dardwerk (2. Aufl. Bartsch 1997). Die besondere
schaft sind« (Rauch, S. 21); Peter Brinkemper Leistung von Hans Höllers ähnlich grundlegen-
betrachtet Das Buch Franza als »Paradigma weib- der Monographie (1987), die vor allem auf Pro-
licher Ästhetik«, das »die weibliche Erfahrung blemkonstanten des Werks abhebt, besteht nicht
der Unterdrückung bzw. der Zerstörung der per- zuletzt in der detaillierten Untersuchung von
sönlichen, geschlechtlichen und sozialen Identi- Bachmanns Frühwerk und der seither oft ver-
tät durch die Macht einer symbolischen Ord- nachlässigten Lyrik in ihrem historischen Zu-
nung« anspricht (Brinkemper, S. 170); und Ritta sammenhang. Höllers letztes, auf die Todesarten
Jo Horsley argumentiert, daß Undine geht den bezogenes Kapitel ist aber wiederum dem franzö-
französischen Feminismus und Poststrukturalis- sischen Feminismus verpflichtet und arbeitet mit
mus in der Darstellung und partiellen Dekon- Zitaten von Hélène Cixous und Bezügen zu Gürt-
struktion der unser Bewußtsein prägenden kultu- ler und Weigel. Peter Beickens weniger philo-
rellen Grundstrukturen vorwegnimmt (Horsley logische Darstellung von Bachmanns »geistige[r]
1985, S. 224). Autobiographie« (Beicken 1988, S. 15) setzt die
Der stärkste Beweis für den Einfluß des Femi- Legitimität des feministischen Ansatzes bereits
nismus auf die Bachmann-Forschung war seine als selbstverständlich voraus (der andererseits in
Anerkennung und Übernahme durch männliche Andreas Hapkemeyers Überblick über Bach-
Forscher. (Andererseits ist es eine Ingeborg Bach- manns Leben und Werk und in seiner Sammlung
mann würdige Ironie, daß es Männern zuerst von Bildern aus ihrem Leben keine Rolle spielt;
gelungen ist, ganze Bücher über sie zu schrei- Hapkemeyer 1983 und 1990). Die Forschungsbi-
ben.) In einem nach wie vor sehr aufschlußrei- lanz in der von den Herausgeberinnen der Werk-
chen Aufsatz bezeichnete Bernd Witte schon 1980 ausgabe zusammengestellten Aufsatzsammlung
das Geschlechterverhältnis als Hauptanliegen »Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges«
von Bachmanns Werken: »Damit ist die Mitte, zeigt dann, daß feministische Analysen inzwi-
der alle späteren Prosaarbeiten Ingeborg Bach- schen ins Zentrum der Bachmann-Forschung ge-
manns zustreben, bezeichnet. Sie sollen die Zer- rückt sind (Koschel/von Weidenbaum 1989). Im
störung der weiblichen Subjektivität in ihrer Ur- übrigen hatte die feministische Bachmann-Re-
sache als identisch erweisen mit denen der Zer- zeption darüber hinaus auch zu einem neuen
störung von Welt und Gesellschaft ihrer Zeit.« Verständnis anderer Autorinnen geführt: »Erst
(Witte 1980, S. 37) Im Gegensatz zu gleichzeiti- die Bachmann-Renaissance hat den Blick auf die
gen feministischen Analysen betont Witte aber vorfeministische Literatur von Frauen verändert.
auch die zeitgeschichtliche Dimension ihres Es folgten Entdeckungen ihrer Zeitgenossinnen
30 I. Grundlagen

wie beispielsweise Marlen Haushofer.« (Stephan KulturwissenschaftlerInnen dann zusehends in


et al., S. 8) die Richtung der Cultural und Gender Studies
Sigrid Weigels zahlreiche, schon zwei Jahr- und erkennt jetzt »die psychische und sprachliche
zehnte umspannende Arbeiten zu Ingeborg Bach- Verwicklung der Frau in die herrschende Ord-
mann können als paradigmatisch für die Bach- nung und damit ihr[en] eigene[n] Anteil an den
mann-Lektüre des deutschen Feminismus be- bestehenden Verhältnissen« an (Weigel 1990,
trachtet werden. In ihrem Aufsatz »Der S. 255). Weigels umfassende Bachmann-Mono-
schielende Blick« (1983), der viel stärker histo- graphie aus dem Jahre 1999 schließlich verzichtet
risch und politisch ausgerichtet ist als die Arbei- nahezu vollständig auf einen feministischen An-
ten vieler ihrer Zeitgenossinnen, schreibt Weigel satz. Es handelt sich um eine ausgesprochen nütz-
mit Blick auf Malina: »Diese Unvereinbarkeit von liche Aufarbeitung von Bachmanns intensiver
männlichem und weiblichem Prinzip wird im Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des
Roman aber nicht als ›ewige‹, für Mann und Frau Nationalsozialismus in Deutschland und Öster-
gleichermaßen geltende Zerrissenheit themati- reich, die zugleich auch die Beziehungen der
siert; sie ist vielmehr Ausdruck der Erfahrung Autorin zur Kritischen Theorie und zu wichtigen
einer ›heute‹ lebenden Frau.« (Weigel 1983, jüdischen Persönlichkeiten ihrer Zeit nachzeich-
S. 123) Weigel liest das Verschwinden des Ich am net (ein Anliegen, das Weigel auch in dem
Romanschluß als Zeichen weiblichen Wider- gemeinsam mit Bernhard Böschenstein 1997 her-
stands, »als Weigerung, ein Malina-Leben zu füh- ausgegebenen Sammelband »Ingeborg Bach-
ren« (ebd.). In ihrem späteren Beitrag für den mann und Paul Celan: Poetische Korresponden-
»Text + Kritik«-Sonderband gab Weigel jedoch zen« verfolgt). Die Wissenschaftlerin vernachlä-
die historische Kontextualisierung teilweise auf ßigt nun jedoch die geschlechtsspezifischen
und bewegte sich in Richtung des französischen Dimensionen dieser Begegnungen und fällt in
Poststrukturalismus. So argumentierte sie nun, ihrer Auseinandersetzung mit Bachmanns Texten
daß »das Geschlechtermotiv« »von Anfang an« »in manchmal in das Paradigma der 1980er Jahre
die Struktur abendländischen Denkens« »einge- zurück, wenn es z. B. heißt: »Franza ist damit als
bunden« sei (Weigel 1984, S. 72), und betrachtete Frau gestaltet, der kein fester Ort in der sym-
die in den Todesarten unternommenen »Dekom- bolischen Ordnung zu eigen ist.« (Weigel 1999,
positionen« als Bachmanns Versuch, die Grund- S. 516) Diese Abneigung gegen die Analyse von
prinzipien der symbolischen Ordnung in Frage zu Gender-Fragen ist heute – wie im weiteren zu
stellen: »Der Romanzyklus kreist um die Dar- zeigen sein wird – womöglich charakteristisch für
stellung der Vorstellung vom Einzigen – der In- viele vormals feministische Bachmann-Forsche-
stanz, dem symbolischen Vater, dem Götzen, dem rinnen.
Weißen – und streicht dieses Symbol zugleich Nach dem Höhepunkt der feministischen
durch.« (ebd., S. 87) In ihrer Untersuchung zur Bachmann-Forschung Mitte der 1980er Jahre
Frauenliteratur der Nachkriegszeit, »Die Stimme und den kurz darauf erschienenen Monographien
der Medusa« (1987), interpretiert Weigel Bach- männlicher Kollegen ließ das wissenschaftliche
manns Todesarten ebenfalls postrukturalistisch und öffentliche Interesse an der Autorin zeit-
und versteht das Ich in Malina als »jene Exi- weise nach. Anfang der 1990er Jahre trugen drei
stenzweise, welche dem Eintritt der Frau in die Entwicklungen aber zu einer erneuten Intensivie-
symbolische Ordnung geopfert wurde« (Weigel rung der Auseinandersetzung mit ihrem Leben
1987, S. 37 f.). In diesem Band stellt Weigel auch und Werk bei. Erstens wurde 1991 Werner
Bachmanns Nutzen für zeitgenössische Autorin- Schroeters kontroverse Verfilmung von Malina
nen heraus, da sie beide Seiten eines unlösbaren herausgebracht, die auf einem Drehbuch von El-
Widerspruchs darzustellen vermag, »die Beja- friede Jelinek beruht. Schroeter interessierte sich
hung der Liebe als Verneinung ihrer sozialen eher für die ›neurotischen‹ Probleme des weib-
Möglichkeiten oder umgekehrt formuliert, die lichen Ich in Malina als für seine Schwierigkeiten
Unmöglichkeit im Realen als Rettung der Mög- mit Männern (ob konkret oder im allgemeinen).
lichkeit« (ebd., S. 230). Im Bachmann-Teil ihres Viele radikalfeministische Bachmann-Leserin-
Bandes »Topographien der Geschlechter« (1990) nen reagierten mit Entrüstung und gelangten so
bewegt sich Weigel wie andere zeitgenössische ein letztes Mal in den Mittelpunkt der Diskus-
Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns Tod 31

sion. Alice Schwarzer behauptete in der Zeit- Bachmanns Franza-Figur prädestiniert ist, »in
schrift »Emma« (1991), daß es in Malina tatsäch- der Welt der Männer zum Opfer zu werden«
lich um Inzest (das große radikalfeministische (Zeller, S. 34). Andere jüngere Bachmann-For-
Thema der 1990er Jahre) gehe. Sie erklärte nicht scherinnen bringen den Poststrukturalismus mit
nur Schroeter und seine Hauptdarstellerin Isa- der Lacanschen Psychoanalyse in Verbindung, so
belle Huppert, sondern die ganze feministische Ingeborg Dusar (1994) in der ersten Monogra-
Forschung zu Mittäterinnen, da diese wie im phie zum Simultan-Band. Schon Ortrud Gutjahr
Film die männliche Gewalt ignorierten oder ihre legt in ihrer Dissertation (1988) entsprechend
Brutalität herunterspielten, denn, so Schwarzer dar, Franza gebe die ›Urangst‹ zu erkennen, die
mit dem weiblichen Ich in Malina: »Es ist der dem Begehren der Tochter nach dem Vater und
ewige Krieg!« (Schwarzer, S. 20) ihrer gleichzeitigen Angst vor seiner sexuellen
Zweitens gingen eine Reihe von Konferenzen Gewalt entstamme. Inge Röhnelt liest Bach-
(deren Beiträge dann meist in Sammelbänden manns Schreibweise in Malina als Übersetzung
herausgegeben wurden) seit den frühen 1990er der weiblichen Hysterie, die aus dem unbewuß-
Jahren auf andere als die von feministischen ten Einfluß des Phallischen »auf die körperliche
Leserinnen betonten Aspekte des Werks ein: Sa- und psychische Verfassung der Frau« resultiere
ranac Lake/New York 1991 (Brokoph-Mauch/ (Röhnelt, S. 4). Saskia Schottelius kommt zu dem
Daigger 1995); Münster 1991 (Göttsche/Ohl ähnlichen Ergebnis, daß Malina »eine Möglich-
1993); Wien 1993 (Pattillo-Hess/Petrasch 1993); keit, die ›be-herr-schenden‹ Redeformen zu un-
London 1993 (Pichl/Stillmark 1994); Debrecen terlaufen«, zur Darstellung bringe (Schottelius
1993 (Lichtmann/Fanta 1995 zu Celan, Bach- 1990, S. 15). Mitte der 1990er Jahre behauptet
mann, Bernhard u. a.); Zürich 1994 (Böschen- Karen Achberger in ihrer Einführung »Under-
stein/Weigel 1997); Brüssel 1996 (Heidelberger- standing Ingeborg Bachmann« noch einmal, daß
Leonard 1998), Saarbrücken 1996 (Béhar 2000); Bachmanns ›großes Projekt‹ der Versuch sei, in
Binghamton 1996. Drittens erschien 1995 die einer Reihe von Romanen den ›ewigen Krieg‹ der
große vierbändige, von Monika Albrecht und Geschlechter, die ›Abwesenheit‹ der Frau und
Dirk Göttsche akribisch editierte Kritische den Mord an Frauen in der patriarchalischen
Ausgabe des Todesarten-Projekts, die große Gesellschaft darzustellen (Achberger 1995, S. 5).
Teile des unveröffentlichten Nachlasses philo- Noch 1998 argumentiert Mireille Tabah, daß die
logisch erschloß. Da diese Ausgabe einige wis- Teilung Berlins in Ein Ort für Zufälle »den furcht-
senschaftliche Annahmen bestätigte und ande- baren ›Riß‹ im ›Denken‹ […] einer von der
re in Frage stellte, wurde sie sofort zum Gegen- männlichen ›Konsequenz‹ beherrschten Welt«
stand einer Kontroverse, die Bachmanns Namen darstelle, »in der sich das verdrängte Andere nur
wieder stärker in das öffentliche Bewußtsein in Form von ›Inkonsequenz‹ und Wahnsinn of-
rückte. fenbaren« könne (Tabah, S. 93). Gudrun Kohn-
In diesem Zusammenhang kann man drei mit- Waechters ehrgeizige Untersuchung zu »Destruk-
einander verbundene Entwicklungen in der tiver Moderne und Widerspruch eines weibli-
Bachmann-Forschung ausmachen, die bis in die chen Ichs in Ingeborg Bachmanns Malina« (1992)
Gegenwart reichen. Obwohl die radikalen und benutzt diese feministische Perspektive als
poststrukturalistischen Theorien in vielen Berei- Grundlage für die Vermutung, daß Bachmann
chen des akademischen Feminismus als veraltet nach Malina keine Romane mehr hätte schreiben
galten, wurde diese Interpretationsrichtung den- können, da das in der Schreibweise von Malina
noch in einer Reihe von Untersuchungen (oft ermöglichte Sprechen (eines Andersseins außer-
Dissertationen) von meist jüngeren Wissen- halb der westlichen Rationalität) am Roman-
schaftlerinnen fortgeschrieben. Laut Bärbel schluß mit dem weiblichen Ich ausgelöscht
Thaus Studie »Gesellschaftsbild und Utopie im werde. (Einige spätere feministische Interpre-
Spätwerk Ingeborg Bachmanns« bekämpft »das tinnen vertreten den gleichen Standpunkt, ob-
bedrängte weibliche Prinzip« (Thau 1986, S. 106) wohl die in der Kritischen Ausgabe edierten
in Malina und im Buch Franza ein männliches Nachlaßmaterialien dieses Argument widerle-
Prinzip, das über Sprache und Wirklichkeit gen.)
herrscht, während für Eva Christina Zeller (1988) Ein Gegentrend zu den feministischen Ansät-
32 I. Grundlagen

zen tritt seit den späten 1980er Jahren in der Aspekten des Werks wie Bachmanns Verhältnis
Form von Untersuchungen auf, die Geschlechter- zur Religion (Weber 1986), zur Naturwissen-
fragen überhaupt nicht oder nur am Rande disku- schaft (Behre 1998), vor allem aber zur Musik
tieren. Da solche Analysen oft von Forscherinnen (Greuner 1990, Achberger 1993, Lindemann
stammen, die sonst als Feministinnen gelten 1993, Spiesecke 1993, Caduff 1998) und – im
(z. B. mein eigener Aufsatz zu »Bachmann und Sinne einer neuen historischen Kontextualisie-
Wittgenstein«; Lennox 1989), bringen sie wo- rung des Werks – zur Geschichte: zum National-
möglich ein Unbehagen an dem radikalfeministi- sozialismus und zur österreichischen Nachkriegs-
schen Ansatz, vielleicht auch ein Unvermögen zeit (vgl. die Historiker Botz 1993, Thamer 1993).
zum Ausdruck, eine bessere literaturwissen- Auch die Bachmann-Rezeption außerhalb der
schaftliche Methode für die Auseinandersetzung Bundesrepublik hat Aufmerksamkeit gefunden
mit den Geschlechterverhältnissen zu erarbeiten. (Mocali 1993 über Italien, Töpelmann 1993 über
Dagmar Kann-Coomann wendet sich in ihrer die DDR). Im engeren Sinne philologische Arbei-
Dissertation (1988), die vielleicht einen Wende- ten wie Robert Pichls Beiträge zu Bachmanns
punkt in der Bachmann-Forschung markiert, aus- Nachlaß in der Wiener Nationalbibliothek und zu
drücklich von dem feministischen Kult um die ihrer Privatbibliothek haben der Forschung wich-
Autorin als Ikone weiblichen Leidens ab und legt tige Hilfestellungen geleistet (v. a. Pichl 1982 und
eine konstruktive Alternative zu feministischen 1993).
Interpretationen vor, die ganz andere Aspekte in Auf der anderen Seite führt die Abwendung
Bachmanns Werk betont, vor allem die eindring- vom Feminismus auch dazu, daß Fragen, die auf
liche Auseinandersetzung der Autorin mit Kunst der Hand liegen, überhaupt nicht angesprochen
und ästhetischer Erfahrung im allgemeinen. Zu werden. So versucht der Herausgeber Dieter
nennen ist hier auch die intermittierende, insge- Bachmann in dem Bachmann-Heft der Zeitschrift
samt aber bis in die früheste Phase der Bach- »du« (1994) beispielsweise, die Autorin gegen die
mann-Forschung zurückreichende Linie der Un- beiden Extreme der männlichen Mythologisie-
tersuchungen zu Bachmanns Lyrik von Ute Maria rung und der feministischen Ikonisierung in
Oelmann (1980) über Susanne Bothner (1986), Schutz zu nehmen – mit der Folge, daß die Be-
Mechthild Oberle (1990) und Leslie Morris deutung von ›gender‹ für Bachmanns Leben und
(1999) bis zu Hans Höllers Teiledition (Bach- Schreiben in den interessanten Beiträgen des
mann 1998a) und dem von Primus-Heinz Kucher Hefts weithin außer Acht bleibt. Und manchmal
und Luigi Reitani herausgegebenen Band »Inter- kippt die Antipathie gegen simplifizierende femi-
pretationen zur Lyrik Ingeborg Bachmanns« nistische Losungen in Antifeminismus oder sogar
(2000). Sexismus um, wie in Sigrid Löfflers Rezension
Zu den neuen Aspekten von Bachmanns Le- der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts
ben, Werk und Wirkung, die seit den frühen im »Spiegel« (13. 11. 1995). Diese Rezension un-
1990er Jahren in den Blick gerückt sind, gehören ter dem klischeehaften Titel »Undine kehrt zu-
nicht zuletzt die vielfältigen intertextuellen Be- rück« stellt den Radikalfeminismus auf den Kopf,
züge ihres Werks zu anderen Autoren und Philo- indem sie Bachmanns Anliegen ausschließlich
sophen von Hölderlin und Novalis über Proust auf das Ressentiment gegen Max Frisch reduziert
und Musil bis zu Paul Celan und Max Frisch und zugleich den feministischen Kampf gegen
(siehe hierzu die Handbuchartikel »Bachmann patriarchalische Gewalt trivialisiert.
und die Philosophie« und »Literarische Kontexte, Meiner Ansicht nach sind die produktivsten
Dialoge und Lektüren«). Zugleich ist ein neues Auseinandersetzungen mit Bachmanns Werk im
Interesse an vor den Todesarten entstandenen letzten Jahrzehnt diejenigen, die entweder ›gen-
Texten festzustellen, an den Hörspielen ( Šlibar), der‹ in ihre Fragestellungen einbeziehen oder
der frühen Prosa (Hapkemeyer 1982b, Hennin- neue feministische Ansätze fruchtbar machen.
ger, Weigel 1999) oder den Erzählungen des Ban- Maria Behre argumentiert zum Beispiel, daß die
des Das dreißigste Jahr (Treusch-Dieter, Schnei- Frage im Titel von Christa Gürtlers Buch »Schrei-
der 1999). Zu dem breiten Themenspektrum der ben Frauen anders?« (Gürtler 1983) eher hätte
Bachmann-Forschung gehören mittlerweile viel- lauten können: »Warum schrieb Bachmann an-
fältige Spezialuntersuchungen zu bestimmten ders als ihre männlichen Zeitgenossen?« (Behre
Rezeptionsgeschichte seit Bachmanns Tod 33

1992, S. 212). Almut Dippel untersucht, wie europäischen Kolonialismus darzustellen. Aus
Bachmann in Drei Wege zum See Joseph Roths Lacanscher Perspektive argumentiert Margaret
Trotta-Figuren verwendet, während sie zugleich McCarthy (1997), daß das weibliche Ich in Ma-
Roths Homophobie und Misogynie ›korrigiert‹ lina Widerstand durch Exzessivität leistet, wäh-
(Dippel). Bettina Bannaschs Dissertation über rend Rhonda Duffaut (1996) behauptet, daß die-
die Simultan-Erzählungen (1997) ordnet die Un- ses Ich trotz seiner transnationalen Utopien in-
tersuchung der Geschlechterdifferenz der über- folge der Geschlechterrollen, die es an Heim und
geordneten Frage unter, wie man in einer kran- Herd und zugleich an die Nation binden, in die
ken Welt überhaupt leben könne. Constance Hotz’ alten Gesellschaftsstrukturen wiedereingeschrie-
innovative Studie »Die Bachmann« (1990) zieht ben wird. Diese neuen Lesarten stellen das pro-
die Rezeptionstheorie, den Strukturalismus und duktive Ergebnis einer Verknüpfung neuer femi-
die Semiotik heran, um zu zeigen, wie zu Bach- nistischer Ansätze mit neuen Methoden der an-
manns Lebzeiten ein journalistischer Diskurs gloamerikanischen Cultural Studies und einer
über sie entstand, der weniger mit Bachmanns historisch und kulturell differenzierten Auffas-
Schreiben als mit verschiedenen ideologischen sung von ›gender‹ (und anderen gesellschaft-
Zielvorgaben zu tun hatte. Helgard Mahrdt lichen Kategorien) dar.
(1998) benutzt die Theorie der Frankfurter Wegweisend scheinen mir in diesem Sinne
Schule, um ihre These zu stützen, daß die bürger- auch die in den letzten Jahren von Monika Al-
liche Gesellschaft die Privatsphäre hervorbringt, brecht und Dirk Göttsche herausgegebenen Auf-
an der Bachmanns weibliche Figuren leiden. satzbände zu sein (Albrecht/Göttsche 1998 und
Besonders (wenn auch nicht ausschließlich) 2000). Schon in der Kritischen Ausgabe des To-
Feministinnen aus dem angloamerikanischen Be- desarten-Projekts verbinden Albrecht und Gött-
reich haben neue feministische Methoden auf sche in ihren Kommentaren Genauigkeit und
Bachmanns Texte bezogen (und hierher gehört erfolgreiche philologische Detektivarbeit mit
wohl auch meine eigene Anwendung postkolo- produktiver Anwendung feministischer und an-
nialer Fragestellungen und der Theorie Foucaults derer Methoden der heutigen Kulturanalyse so-
auf Bachmanns Werk; Lennox 1998 und 2000). wie einer kritischen Distanz gegenüber ihrem
Sabine Gölz (1998) übernimmt die von Harold Gegenstand, wie er nach den langen Jahren der
Bloom entwickelte Theorie des literarischen Ein- Mythologisierung Ingeborg Bachmanns in der
flusses, um zu zeigen, daß Bachmann in ihren literarischen Öffentlichkeit wie in der Wissen-
Gedichten Genderkategorien verwendet, um sich schaft nottut. In einem Internet-Aufruf zu Bei-
von der männlichen poetischen Tradition zu di- trägen zu den von ihnen herausgegebenen Auf-
stanzieren. Friederike Eigler (1991) bezieht sich satzbänden benennen Albrecht und Göttsche
auf Bachtins Begriff der ›Heteroglossie‹, um auf neue Perspektiven der Werkbetrachtung: »Im
das gespaltene Verhältnis der Frauenfiguren in Lichte der literarhistorischen Neubewertung der
Simultan gegenüber den herrschenden Diskurs- Jahrzehnte zwischen den 1940er Jahren und den
formen hinzuweisen. Susanne Baackmann (1995) frühen 1970er Jahren muß die Forschung noch
verbindet in ihrer Darstellung von Weiblichkeits- mehr als bislang auf den historischen Kontext von
bildern der 1950er und 1960er Jahre den franzö- Bachmanns Schreiben, auf ihre Auseinander-
sischen Feminismus mit dem New Historicism setzung mit der Zeitgeschichte und mit den wis-
und führt vor, wie Bachmann in die Weiblich- senschaftlichen, philosophischen, gesellschaft-
keitsdiskurse ihrer Zeit eingriff. Karin Bauer lichen und literarischen Diskursen ihrer Zeit so-
(1998) bezieht sich auf die Queer Theory, um zu wie auf die kulturellen Implikationen ihrer
belegen, daß die Beziehung zwischen den Frauen Werke eingehen.« (18. 5. 1998 an WIG-L@
in Ein Schritt nach Gomorrha fehlschlägt, weil CMSA.BERKELEY.EDU) Neuentdeckungen wie
sogar Charlottes Phantasien im Normativen ge- Bachmanns Kontakte zu jüdischen Intellektuellen
fangen bleiben. Gisela Brinker-Gabler (1993), (Weigel 1999), die Verstrickung ihres Vaters in
Moustapha Diallo (1998a) und Monika Albrecht den Nationalsozialismus (Höller 1999) oder ihre
(1998) betrachten besonders Das Buch Franza Arbeit als Scriptwriter für den österreichischen
unter dem Blickwinkel postkolonialer Theorie, Sender Rot-Weiß-Rot (McVeigh 2002) werden in
um Franzas Eingebundensein in Diskurse des diesem Sinne auch neue Perspektiven des Werk-
34 I. Grundlagen

verständnisses eröffnen. Mit »dem Bewußtsein St. Ingbert; – Dinah Dodds (1980): The Lesbian Rela-
[…], daß sich die Bachmann-Forschung in einer tionship in Bachmann’s Ein Schritt nach Gomorrha. In:
Umbruchphase befindet« (Albrecht/Göttsche Monatshefte 72, S. 431–438; – Rhonda Duffaut (1996):
Ingeborg Bachmann’s Alternative »States«. Rethinking
1998a, S. 8), stehen künftige Bachmann-Forscher- Nationhood in Malina. In: Modern Austrian Literature
Innen vor der Aufgabe, neue Lesarten zu ent- 29, H. 3/4, S. 30–42; – Margret Eifler (1979): Ingeborg
wickeln, die unser Verständnis für das Werk der Bachmann, Malina. In: Modern Austrian Literatur 12,
Autorin weiter vertiefen. H. 3/4, S. 373–90; – Friederike Eigler (1991): Bach-
mann und Bachtin. Zur dialogischen Erzählstruktur von
Literatur: Achberger (1995); Albrecht (1998); Albrecht/ Simultan. In: Modern Austrian Literature 24, H. 3/4,
Göttsche (1998); Albrecht/Göttsche (2000); Baack- S. 1–16; – Ria Endres (1981): Erklär mir, Liebe. Ek-
mann (1995); Bannasch (1997); Bareiss/Ohloff (1978); stasen der Unmöglichkeit – Zur Dichtung Ingeborg
Bartsch (1997); B éhar (2000); Behre (1992); Behre Bachmanns. In: Die Zeit, 2. 10. 1981, S. 51–52; – Marlis
(1998); Beicken (1988); Böschenstein/Weigel (1997); Gerhardt (1982): Kein bürgerlicher Stern, nichts, nichts
Bothner (1986); Brokoph-Mauch/Daigger (1995); Ca- könnte mich je beschwichtigen. Essays zur Kränkung
duff (1998); »du« (1994); Dusar (1994); Gölz (1998); der Frau. Darmstadt; – Christa Gürtler (1982): Der Fall
Göttsche/Ohl (1993); Greuner (1990); Gürtler (1983); Franza. Eine Reise durch eine Krankheit und ein Buch
Gutjahr (1988); Hapkemeyer (1982b); Hapkemeyer über ein Verbrechen. In: Höller (1992), S. 71–84; –
(1983); Hapkemeyer (1990); Heidelberger-Leonard Peter Henninger (1995): »Heuboden und Taschenfei-
(1998); Höller (1987); Höller in Bachmann (1998a); teln«? Zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Das Hon-
Höller (1999); Hotz (1990); Kann-Coomann (1988); ditschkreuz. In: Brokoph-Mauch/Daigger, S. 118–141;
Kohn-Waechter (1992); Koschel/von Weidenbaum – Ritta Jo Horsley (1980): Ingeborg Bachmann’s Ein
(1989); Kucher/Reitani (2000); Lennox (1992); Lennox Schritt nach Gomorrha. A Feminist Appreciation and
(1998); Lennox (2000); Mahrdt (1998); MAL (1985); Critique. In: Gestaltet und Gestaltend. Frauen in der
McVeigh (2002); Oberle (1990); Oelmann (1980); Pat- deutschen Literatur. (Hg.) Marianne Burkhard. Am-
tillo-Hess/Petrasch (1993); Pausch (1975); Pichl (1982); sterdam, S. 277–293; – Ritta Jo Horsley (1985): Re-
Pichl (1993); Pichl/Stillmark (1994); Schneider (1999); reading Undine geht. Bachmann and Feminist Theory.
Schottelius (1990); Spiesecke (1993); Summerfield In: Modern Austrian Literature 18, H. 3/4, S. 223–238;
(1976); Text + Kritik (1984); Thau (1986); Weber – Elisabeth Lenk (1981): Indiskretion des Federviehs.
(1986); Weigel (1984); Weigel (1999). Pariabewußtsein schreibender Frauen seit der Roman-
Karen Achberger (1993): Bachmann, Brecht und die tik. In: Courage 6, Nr. 10, S. 24–34; – Sara Lennox
Musik. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 265–279; – Monika (1980): In the Cemetery of the Murdered Daughters.
Albrecht und Dirk Göttsche (1998a): Vorwort. In: Al- Ingeborg Bachmann’s Malina. In: Studies in Twentieth
brecht/Göttsche (1998), S. 7–10; – Kurt Bartsch (1985): Century Literature 5, S. 75–105; – Sara Lennox (1989):
Ingeborg Bachmann heute. In: Literatur und Kritik Bachmann und Wittgenstein. In: Koschel/von Weiden-
195/196, S. 281–287; – Kurt Bartsch (1988): Ingeborg baum (1989), S. 600–621; – Lichtmann/Fanta (1995):
Bachmann. Stuttgart; – Karin Bauer (1998): That Ob- Nicht (aus, in, über, von) Österreich. Zur österreichi-
scure Object of Desire. Fantasy and Disaster in Ingeborg schen Literatur, zu Celan, Bachmann, Bernhard u. a.
Bachmann’s A Step Towards Gomorrah. In: Queering (Hg.) Tamás Lichtmann und Walter Fanta. Frankfurt/
the Canon. Defying Sights in German Literature and M.; – Eva U. Lindemann (1993): »Die Gangart des
Culture. (Hg.) Christoph Lorey und John L. Plews. Geistes«. Musikalische Gestaltungsmittel in der späten
Columbia/SC, S. 223–233; – Gerhard Botz (1993): Hi- Prosa Ingeborg Bachmanns. In: Göttsche/Ohl (1993),
storische Brüche und Kontinuitäten als Herausforde- S. 281–296; – Gisela Lindemann (1979): Der Ton des
rungen – Ingeborg Bachmann und post-katastrophische Verratenseins. Zur Werkausgabe der Ingeborg Bach-
Geschichtsmentalitäten in Österreich. In: Göttsche/Ohl mann. In: Neue Rundschau 90, Nr. 2, S. 269–274; –
(1993), S. 199–214; – Peter Brinkemper (1985): Inge- Sigrid Löffler (1995): Undine kehrt zurück. Sigrid Löff-
borg Bachmanns Der Fall Franza als Paradigma weib- ler über Ingeborg Bachmanns nachgelassene Werkfrag-
licher Ästhetik. In: Modern Austrian Literature 18, H. mente Todesarten. In: Der Spiegel, Nr. 46, 13. 11. 1995,
3/4, S. 147–182; – Gisela Brinker-Gabler (1993): An- S. 243–247; – Margaret McCarthy (1997): Murder and
dere Begegnung. Begegnung mit dem Anderen zwi- Self-Resuscitation in Ingeborg Bachmann’s Malina. In:
schen Aneignung und Enteignung. In: Seminar 29, Out of the Shadows. Essays on Contemporary Austrian
S. 95–105; – M. Moustapha Diallo (1998a): »Die Erfah- Women Writers and Filmmakers. (Hg.) Margarete
rung der Variabilität«. Kritischer Exotismus in Ingeborg Lamb-Faffelberger. Riverside/CA, S. 38–54; – Maria-
Bachmanns Todesarten-Projekt im Kontext des inter- Chiara Mocali (1993): Die Bachmann-Rezeption in der
kulturellen Dialogs zwischen Afrika und Europa. In: italienischen Literaturwissenschaft und Literatur. In:
Albrecht/Göttsche (1998), S. 33–58; – Almut Dippel Göttsche/Ohl (1993), S. 25–36; – Leslie Morris (1999):
(1995): »Österreich – das ist etwas, das immer weiter »Ich suche ein unschuldiges Land«. Reading History in
geht für mich«. Zur Fortschreibung der »Trotta«-Ro- the Poetry of Ingeborg Bachmann. Tübingen; – Peter
mane Joseph Roths in Ingeborg Bachmanns Simultan. Horst Neumann (1978): Vier Gründe einer Befangen-
Literarische Rezeption 35

heit. Über Ingeborg Bachmann. In: Merkur 32, S. 1130– Max Frisch in seinem Werk seit der Zeit, in der er
1136; – Angelika Rauch (1985): Sprache, Weiblichkeit mit Bachmann zusammenlebte (Mein Name sei
und Utopie bei Ingeborg Bachmann. In: Modern Au-
Gantenbein [1964], Biographie. Ein Spiel
strian Literature 18, H. 3/4, S. 21–38; – Inge Röhnelt
(1990): Hysterie und Mimesis in Malina. Frankfurt/M.; [1966/67], Triptychon. Drei szenische Bilder
– Alice Schwarzer (1991): Schwarzer über Malina. In: [1976/1979], Blaubart [1982] u. a.; vgl. auch den
Emma, Februar 1991, S. 14–20; – Neva Šlibar (1995): Artikel »Deutschsprachige Literatur nach 1945«).
Das Spiel ist aus – oder fängt es gerade an? Zu den Nach ihrem Tod nahm Uwe Johnson als einer der
Hörspielen Ingeborg Bachmanns. In: Text + Kritik ersten den posthumen Dialog auf. Tief erschüt-
(1995), S. 111–122; – Inge Stephan, Regula Venske und
tert von ihrem Tod schrieb er in seinem Buch
Sigrid Weigel (1987): Die Literatur von Frauen vor der
Frauenliteratur. In: Frauenliteratur ohne Tradition? Eine Reise nach Klagenfurt (1974) minutiös über
Neun Autorinnenporträts. (Hg.) Stephan, Venske, Wei- den Triumph der Nationalsozialisten in Klagen-
gel. Frankfurt/M., S. 7–9; – Ellen Summerfield (1979): furt, über Bachmanns sowie seine und seiner
Verzicht auf den Mann. Zu Ingeborg Bachmanns Erzäh- Familie Erfahrungen in Rom und über seinen
lungen Simultan. In: Die Frau als Heldin und Autorin. Besuch an ihrem Grab, wobei er (ähnlich wie in
Neue kritische Ansätze zur deutschen Literatur. (Hg.)
seinem mehrbändigen Roman Jahrestage) Zitate
Wolfgang Paulsen. Bern, S. 211–216; – Mireille Tabah
(1998): Zur Genese einer Figur: Franza. In: Heidelber- aus verschiedenen Quellentexten, aus Bach-
ger-Leonard (1998), S. 91–106; – Hans-Ulrich Thamer manns veröffentlichtem Werk und seinem Brief-
(1993): Nationalsozialismus und Nachkriegsgesell- wechsel mit ihr in die Beschreibung einstreute.
schaft. Geschichtliche Erfahrung bei Ingeborg Bach- Andere Schriftsteller waren ebenfalls von
mann und der öffentliche Umgang mit der NS-Zeit in Bachmanns vorzeitigem Tod sehr ergriffen, und
Deutschland. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 215–224; –
einige verfaßten Nachrufe, die einmal mehr zu
Sigrid Töpelmann (1993): Zur Rezeption Ingeborg
Bachmanns in der DDR. In: Göttsche/Ohl (1993), dem ›Mythos Bachmann‹ beitrugen: Für Inge-
S. 37–51; – Gerburg Treusch-Dieter (1993): Schuld und borg Drewitz beispielsweise hatte Bachmann
Erziehung. Sprache, Leib, Geschlecht. In: Pattillo- deshalb alle literarischen Preise gewonnen, die
Hess/Petrasch (1993), S. 57–75; – Sigrid Weigel (1983): Österreich zu vergeben hatte, »weil alle spürten,
Der schielende Blick. Thesen zur Geschichte weib- daß hier eine schrieb, die eigentlich nicht ganz zu
licher Schreibpraxis. In: Die verborgene Frau. Sechs
Hause war in dieser Zeit, in dieser Welt« (Dre-
Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft.
(Hg.) Inge Stephan und Sigrid Weigel. Berlin, S. 83– witz, S. 469). Günter Grass, der die Illustrationen
137; – Sigrid Weigel (1984a): Die andere Ingeborg zu der Buchfassung der Büchnerpreis-Rede Ein
Bachmann. In: Text + Kritik (1984), S. 5–6; – Sigrid Ort für Zufälle angefertigt hatte, schrieb ein Ge-
Weigel (1987): Die Stimme der Medusa. Schreibweisen dicht mit dem Titel Todesarten, das mit den
in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Dülmen-Hid- Zeilen »Du hast sie gesammelt / Schränke voll /
dingsel; – Sigrid Weigel (1990): Topographien der Ge-
deine Aussteuer« begann und endete: »die letzte
schlechter. Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur.
Reinbek bei Hamburg; – Bernd Witte (1980): Ingeborg paßte« (Grass, S. 477). Dieses Gedicht rief aller-
Bachmann. In: Neue Literatur der Frauen. Deutsch- dings bei Bachmanns Freundin Toni Kienlechner
sprachige Autorinnen der Gegenwart. (Hg.) Heinz Puk- Entrüstung hervor; sie protestierte vor allem ge-
nus. München, S. 33–43; – Bernd Witte (1981): Inge- gen die erotischen Anspielungen und eine Hal-
borg Bachmann. In: Kritisches Lexikon zur deutsch- tung wie: »Der Tod stand Ingeborg«, die sie für
sprachigen Gegenwartsliteratur. (Hg.) Heinz Ludwig
»unmenschlich« »in Geist und Ausdruck« hielt
Arnold. München (Lieferung 1. 9. 1981); – Eva Chri-
stina Zeller (1988): Ingeborg Bachmann: Der Fall (Kienlechner, S. 477). Heinrich Böll schrieb über
Franza. Frankfurt/M. u. a. Bachmanns literarische Arbeit: »Das Erstaunlich-
Sara Lennox ste an Ingeborg Bachmann war ja, daß diese
brillante Intellektuelle in ihrer Poesie weder
Sinnlichkeit einbüßte noch Abstraktion vernach-
2.3. Literarische Rezeption lässigte, und daß sie jenen immer mehr zum
Aussatzmerkmal denunzierten großen Komplex,
Schon zu Lebzeiten traten befreundete Autoren den man Emotion zu nennen pflegt, wieder in
mit Ingeborg Bachmann in einen literarischen den höchsten Rang erhob.« (Böll, S. 473) Erich
Dialog, so z. B. Hans Weigel in seinem Roman Fried, der die Autorin zuerst 1950 in London
Unvollendete Symphonie aus dem Jahr 1951, Paul getroffen hatte, hob besonders den Beitrag von
Celan in vielen seiner Gedichte und nicht zuletzt Bachmanns Lyrik zur Veränderung der literari-
36 I. Grundlagen

schen Nachkriegslandschaft sowie ihre unge- (nach der auch der Roman benannt ist): »Ich bin
wöhnliche Sicht der Dinge hervor: »Wo sie ihre ihr Auslöscher, hat sie behauptet. Und das, was
Fragen stellte und was sie in Frage stellte, wußte ich zu Papier bringe, ist das Ausgelöschte.« (ebd.,
sie ziemlich genau, und sie wußte auch, mit S. 542) Hoell zufolge sind die Gemeinsamkeiten
welchen Antworten sie sich nicht abspeisen läßt.« beider Autoren, die letztlich zu Bachmanns/Ma-
(Fried, S. 474) Die Schriftstellerin Hilde Spiel, rias Erscheinen in dem Roman geführt haben,
ebenfalls jüdisch-österreichischer Herkunft, die politischer Natur und erwachsen aus beider Ab-
Bachmann aus Wien und London kannte, be- lehnung der destruktiven Sozialordnung (und aus
klagte nicht nur Bachmanns eigene poetische beider Streben nach einer künstlerischen Uto-
Vorwegnahme jener schrecklichen Verbrennun- pie): Bernhards »Roman ist eine konsequente
gen, die zu ihrem Tod geführt haben, sondern Abrechnung mit politischem Unrecht, vor allem
auch die eines anderen österreichischen Schrift- der unbewältigten Nazivergangenheit in Öster-
stellers, Kurt Klinger, der zwei Jahre vor Bach- reich. Es ist das politisch ätzendste Prosastück
manns Tod in seinem Gedicht Einäscherung einer des Moralisten Bernhard – eine bittere Kriegs-
Poetessa geschrieben hatte: »Sie brennt wie Feuer erklärung an alle Kurt Waldheims und Jörg Hai-
unter der Erde« (Spiel, S. 479). Spiel denkt in ders in Österreich.« (Hoell, S. 37)
ihrem Nachruf über die Stärken und Schwächen Während Bachmann und Bernhard eine
von Bachmanns Prosa gegenüber der Lyrik nach freundschaftliche Beziehung verband, betrach-
und bedauert die negative Reaktion der Kritik auf tete Jean Améry sie als »ungekannte Freundin«
die Hinwendung zur Prosa. (»Am Grabe einer ungekannten Freundin«, lautet
In einem fragmentarisch gebliebenen Text über der Titel seines Nachrufs). Elisabeth Matrei in
Thomas Bernhards Werk hatte Bachmann dessen der Erzählung Drei Wege zum See liest einen
Prosa als sogar der Becketts »unendlich über- Essay mit dem Titel »›Über die Tortur‹« und will
legen« bezeichnet: »durch das Zwingende, das daraufhin »diesem Mann schreiben, aber sie
Unausweichliche und die Härte. […] es sind wußte nicht, was sie ihm sagte sollte« (TKA 4,
Bücher über die letzten Dingen, über die Misere 389 f.; der Titel des entsprechenden Essays von
des Menschen, nicht über das Miserable, sondern Jean Améry lautet »Die Tortur«). In seinem Nach-
die Verstörung, in der sich jeder befindet.« (Bach- ruf erinnert sich Améry bedauernd: »Auch mein
mann 2000a, S. 185) Bernhards Reaktion auf Schreiben unterblieb.« (Améry, S. 201) Irene Hei-
Bachmanns Tod in Der Stimmenimitator zeigt, delberger-Leonard hat die Parallelen, die Bach-
daß diese Hochachtung gegenseitig war und daß mann in der Erzählung zieht, scharf kritisiert und
er sie als Geistesverwandte sah, die sein Ent- vor allem betont, daß die »Schwelle […] zwi-
setzen angesichts des Laufs der Welt teilte: »In schen psychischer Tortur« wie im Fall der Figur
einem römischen Krankenhaus ist die intelligen- Franz Joseph Trotta »und physischer Tortur« wie
teste und bedeutendste Dichterin, die unser Land im Fall von Améry, der von den Nazis aus seiner
in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat, an Heimat vertrieben und gefoltert worden ist, nicht
den Folgen von Verbrühungen und Verbrennun- »überschritten werden« darf (Heidelberger-Leo-
gen gestorben […]. Ich habe […] viele ihrer nard, S. 191). Améry selbst war nachsichtiger:
philosophischen Ansichten geteilt, auch ihre An- »[…] das Gefühl der Schicksalsgemeinschaft ließ
sichten über den Gang der Welt und den Ablauf mich nicht los, wiewohl sie und ich doch ver-
der Geschichte, von welchem sie zeitlebens er- schiedenen Generationen angehörten und sie im
schrocken gewesen war.« (Bernhard 1978, S. 167) Vergleich zu mir das Brot der Fremde unter nicht
Bachmann, die Bernhard 1969 kennengelernt weiter dramatischen Umständen gegessen hatte.«
hat, hat auch für die Figur Maria in seinem (Améry, S. 201) Auf den Tag genau fünf Jahre
Roman Auslöschung. Ein Zerfall (1986) Modell nach Bachmanns Tod hat Jean Améry in Salzburg
gestanden: Maria ist Autorin eines ›böhmischen Selbstmord begangen.
Gedichts‹, das der Protagonist des Romans für Wie Améry ist auch Christa Wolf Bachmann nie
»das schönste und beste Gedicht […], das jemals begegnet, doch war die etwas ältere Kollegin
eine Dichterin in unserer Sprache geschrieben nicht nur für Wolfs eigene Arbeit von großer
hat«, hält (Bernhard 1986, S. 511), und sie hat die Bedeutung, die Autorin aus der (ehemaligen)
wahre Begabung des Romanhelden erkannt DDR hat auch sehr viel zur Förderung der Bach-
Literarische Rezeption 37

mann-Rezeption in Ost und West beigetragen. letzten Gedichte, den dichterischen Auftrag am
Wolfs erste Auseinandersetzung mit Bachmann Ende aller Bemühungen scheinbar als fruchtlos
geht zumindest auf das Jahr 1966 zurück; in zurückgewiesen hatte, erklärt Wolf, daß ihre
diesem Jahr erschien ein Aufsatz, der sich vor- Worte als Zeugen bleiben werden: »Ihr Teil wird
nehmlich auf den Erzählband Das dreißigste Jahr nicht verloren gehen.« (Wolf 1990a, S. 622) In der
und die (in der DDR nicht publizierten) Essays letzten von vier Frankfurter Vorlesungen aus dem
konzentrierte. Sehr viel klarsichtiger als die mei- Jahr 1982, die die Publikation ihres Romans Kas-
sten von Bachmanns frühen Kritikern erkannte sandra begleiteten, wird deutlich, daß Wolf in-
Wolf, daß Bachmanns Festhalten an einer gefähr- zwischen zu einer entschieden feministischen
deten Subjektivität Ergebnis eben jener konkre- Bachmann-Interpretation gefunden hat. Indem
ten sozialgeschichtlichen Mächte war, in der sie die berühmte, an Rimbaud angelehnte Pas-
diese Art von Subjektivität gedeiht. Wolf betonte sage aus dem Romanfragment Das Buch Franza
auch, daß Bachmann keinerlei Verbindung zu (»Die Weißen kommen«) zitiert, geht Wolf nun-
einer »progressive[n] geschichtliche[n] Bewe- mehr davon aus, daß Bachmann in ihrem Werk –
gung« hatte, die es ihr ermöglicht hätte, diese und nicht zuletzt mit ihrer namenlosen weib-
Mächte zu bekämpfen (Wolf 1990a, S. 98), eine lichen Ich-Figur in Malina – das Schicksal der
Einsicht, die Dieter Schlenstedt bereits 1961 for- Frauen in der gesamten westlichen Zivilisation,
muliert hatte und die für die Bachmann-Rezep- und das hieß in den 1980er Jahren: ihren Opfer-
tion der DDR bestimmend wurde (Töpelmann). status beschreiben wollte (Lennox, S. 145 f.). In
Bachmanns Werk bestärkte Wolf darin, Fragestel- dem veränderten historischen Kontext am Ende
lungen wie die des Verhältnisses von Subjektivität der 1980er Jahre ist dann Wolfs Erzählung Was
und Gesellschaft in Nachdenken über Christa T. bleibt sowohl von Bachmanns verzweifeltem Pes-
und den folgenden Werken im Hinblick auf ihre simismus als auch von ihrem hartnäckigen Uto-
Bedeutung im Kontext der DDR weiter auszu- pismus erfüllt, wenn die Erzählerin sich einer-
loten. Aufmerksame Leser können von diesem seits nach einer »anderen Sprache« sehnt, die es
Punkt an immer wieder Parallelen und Anspie- ihr erlauben würde, ihre Entfremdung in Worte
lungen erkennen, wenngleich Bachmann explizit zu fassen, und sich andererseits auf eine Zeile aus
erst im achten Kapitel von Wolfs Roman Kind- Bachmanns Gedicht Strömung bezieht, um ihre
heitsmuster erwähnt wird, in dem eine Nachrich- Isolation zu beschreiben: »Mit meinem Mörder
tensendung von Bachmanns Tod berichtet und Zeit bin ich allein.« (Wolf 1990b, S. 105; Lehnert;
die Erzählerin gleichzeitig erfährt, daß die für Van Vliet, S. 226)
den Sturz der sozialistischen Regierung Salvador Sigrid Töpelmann, früher Lektorin im Ost-
Allendes verantwortliche Militärdiktatur in Chile Berliner Aufbau-Verlag, hat auf Bachmanns Be-
den Gebrauch des Wortes ›compañero‹ verboten deutung für ostdeutsche Schriftstellerinnen der
hat. Mit Zitaten aus Bachmanns Werk spricht sie 1980er Jahre hingewiesen, »vor allem bei jün-
sich in dieser Situation Mut zu: »Ich sah den geren Autorinnen, durch Christa Wolfs konti-
Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein nuierliche Hinweise auf Ingeborg Bachmann her-
Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.« vorgerufen. Davon weiß ich durch meine Verlags-
(Wolf 1976, S. 234) »Nichts Schönres unter der tätigkeit, auch wenn das im einzelnen schwer
Sonne, als unter der Sonne zu sein.« (ebd., nachzuweisen ist.« (Töpelmann, S. 49) Sigrid
S. 248). Damm zitiert eine Passage aus Bachmanns Ro-
In ihrer Büchnerpreis-Rede von 1980 setzt sich manfragment Das Buch Franza im Vorwort ihres
Wolf erneut mit Bachmann auseinander, doch zu Buchs Cornelia Goethe (1987), im Hinblick auf
diesem Zeitpunkt hat sich der Schwerpunkt ihres viele andere DDR-Autorinnen wie Rosemarie
Interesses bereits verschoben. Sie legt nun grö- Zeplin oder Helga Schubert kann Bachmanns
ßeres Gewicht auf das Geschlecht der Autorin Einfluß wegen thematischer oder formaler Ähn-
und besteht darauf, daß Frauen, nachdem sie erst lichkeiten angenommen werden. Die Schriftstel-
in jüngster Zeit Zugang zur Geschichte erhalten lerin Ingeborg Arlt bestätigte in einem Brief an
haben, jetzt die darin liegende Verantwortung Töpelmann Bachmanns Bedeutung für ihr eige-
erkennen und wahrnehmen müssen. Wenngleich nes Schreiben, besonders ihre »Genauigkeit bis
Bachmann in Keine Delikatessen, einem ihrer ins letzte Detail« (Töpelmann, S. 51). Christine
38 I. Grundlagen

Kanz hat darauf hingewiesen, daß in Monika von jüngeren westdeutschen Schriftstellerinnen
Marons Erzählung Annaeva der Rückzug der müssen daher auch nicht notwendig als direkte
Protagonistin in eine »Dürre« an Franzas Flucht Einflüsse gewertet werden; vielmehr zeigen sie
in die Wüste erinnert (Kanz 1999, S. 57), und einmal mehr, daß diese jungen Autorinnen eben
Elizabeth Boa hat Ähnlichkeiten zwischen Bach- jenem Diskurs vertrauen, den Bachmanns Werk
manns und Marons Darstellung struktureller und zu etablieren mithalf. Es ist bereits mehrfach auf
verinnerlichter Machtstrukturen herausgearbei- die Ähnlichkeit zwischen Bachmanns und Anne
tet, wie sie besonders in Flugasche (1981), Die Dudens Texten hingewiesen worden. Christine
Überläuferin (1986) und Stille Zeile sechs (1991) Kanz (1999) betont dem Thema ihrer Arbeit ge-
deutlich werden (Boa). Es ist zudem kaum vor- mäß die Bedeutung, die die Angst als struk-
stellbar, daß Bachmann nicht bei der Darstellung turgebendes Prinzip der weiblichen Existenz für
der namenlosen, vergeßlichen und dabei ge- beide Autorinnen hat. Dudens Figuren ziehen
schwätzigen Ich-Erzählerin in Marons Roman sich ebenfalls in einen ›seelischen Innenraum‹
Animal triste (1996) Pate gestanden hat; diese zurück, und auch bei Duden steht männliche
lebt in zeitloser Gegenwart in ihrer kleinen Woh- Rede regelmäßig weiblicher Sprachlosigkeit ge-
nung, hat absichtlich ihre Sehkraft geschädigt, genüber, während Frauen sich häufig über ihren
damit sie nicht sehen kann, was sie nicht sehen Körper ausdrücken. Franziska Frei Gerlach findet
will, widmet ihr Leben der Liebe, liebt es, den »zahlreiche Spuren« in Dudens Texten, die auf
Namen ihres Liebhabers auszusprechen (»indem Bachmann verweisen, und dazu gehören nicht
man das ›a‹ möglichst dehnt, es tief ansetzt und zuletzt der »Mordschauplatz Gesellschaft, die
am Ende leicht nach oben zieht […], damit der Permanenz des Krieges, weibliche Mittäterschaft,
einzige Vokal zwischen den vier Konsonanten der Umgang mit Erinnerung und Vergessen, das
nicht zerquetscht wird«; Maron, S. 18), und war- Anschreiben ›gegen das Verstummen des weib-
tet vergeblich neben dem Telefon auf den näch- lichen Subjekts‹ oder die andre Wahrnehmung
sten Anruf ihres Liebhabers, der sie verlassen hat. der Zeit« (Frei Gerlach 1998, S. 311). Ihrer An-
Natürlich hat auch der Enthusiasmus der west- sicht nach läßt sich Dudens Das Judasschaf »als
deutschen Feministinnen für Bachmanns Werk in Fortsetzung des ›Todesarten‹-Projekts« lesen
den 1970er und 1980er Jahren bei jüngeren (ebd., S. 345). Susanne Baackmann betont, daß
Schriftstellerinnen in dieser und der folgenden Dudens Texte wie die Bachmanns eine »Ambiva-
Zeit seine Spuren hinterlassen. Ricarda Schmidt lenz dem weiblichen Körper und der Liebe ge-
hat vorgeschlagen, daß thematische Ähnlichkeit genüber« erkennen lassen, zeigt aber auch, daß
zwischen Bachmanns Roman Malina und Verena Dudens Texte sich mit den »Abfallprodukte[n]
Stefans Häutungen von »einer aus gemeinsamen und Rückseiten des in den achtziger Jahren so
weiblichen Erfahrungen gewachsenen weibli- populär werdenden Körper- und Gefühlskultes«
chen Imagination« herrühren (Schmidt, S. 131). auseinandersetzen (Baackmann 1995, S. 141).
Aus der Perspektive größerer zeitlicher Distanz Zudem weist Baackmann darauf hin, daß Ulla
zu beiden Autorinnen ist es jedoch wahrschein- Hahn in Ein Mann im Haus (1991) eine »weib-
licher, daß die feministische Rezeption jener Zeit liche Abrechnung mit dem Geliebten ›Hans‹«
die Voraussetzung für Stefans eigene Formulie- schildert; dabei unterhält ihre Protagonistin Ma-
rung des Diskurses über den Opferstatus von ria »einen heimlichen Diskurs mit der Stimme
Frauen war. Natürlich geht dieser Diskurs nicht von Bachmanns Undine« und der der Ich-Figur in
nur auf Bachmann zurück, es ist allerdings durch- dem Roman Malina (ebd., S. 189 f.) Jo Ann Van
aus möglich, daß das große Ansehen von Bach- Vliet ist der Ansicht, daß das Porträt des tyranni-
manns Werk innerhalb des westdeutschen Femi- schen Vaters in Birgit Vanderbekes Das Muschel-
nismus nicht wenig dazu beigetragen hat, daß essen Bachmanns Malina-Roman verpflichtet ist
eben dieser Diskurs sich in den deutschspra- (Van Vliet, S. 229). In gewissem Sinne ähnlich
chigen Ländern hartnäckig gehalten hat, lange wie Christa Wolf verweist Jutta Heinrich direkt
nachdem er von Feministinnen in anderen west- auf Bachmann, wenn sie ihrem Roman (über den
lichen Industrienationen bereits längst wieder in Störfall in dem Atomkraftwerk in Harrisburg,
Frage gestellt worden war. Gemeinsamkeiten Pennsylvania, im Jahr 1979) den Titel Mit mei-
zwischen Bachmanns Texten und den Arbeiten nem Mörder Zeit bin ich allein (1981) gibt.
Literarische Rezeption 39

Bei den österreichischen Schriftstellerinnen Malina und Ivan Projektionen eben dieses Ich
dürfte der Fall etwas anders liegen. Das Ehe- sind. Bei ihrer Untersuchung der Unterschiede
Drama in Brigitte Schwaigers Roman Wie kommt zwischen Roman und Drehbuch kommt Ingeborg
das Salz ins Meer? (1977) und ihre Auseinander- Gleichauf zu dem Schluß, daß Jelinek mit ihren
setzung mit einem brutalen Vater ein Jahr später Eingriffen sozusagen aus Bachmannschen Figu-
in Mein spanisches Dorf können noch dem nicht ren Jelineksche gemacht hat: »Jelinek gestaltet in
zuletzt von der feministischen Bachmann-Rezep- ihrem Drehbuch zu ›Malina‹ eine Welt, die in
tion angeregten Genre ›Frauen als Opfer‹ zuge- sich abgeschlossen ist. Die darin handelnden und
rechnet werden. Im Zusammenhang mit der Er- sprechenden Personen sind konstruiert, vorher-
zählerkonstruktion zitiert Anna Mitgutsch in ih- bestimmt und ohne die Perspektive einer wie
ren eigenen Grazer Poetik-Vorlesungen mehrfach auch immer gearteten Freiheit. Sie tun, was sie
Bachmanns Frankfurter Vorlesungen (Mitgutsch, tun müssen, und sie sprechen aus, wie die Spra-
S. 13 f., 83 f., 114). Aber österreichische Schrift- che es ihnen vorgibt. Dem Geflecht von Zu-
stellerinnen wie Elfriede Jelinek und Marlene ordnungen können sie nicht entkommen. Bis in
Streeruwitz haben einen ganz anderen Aspekt in ihre Träume und Wünsche hinein sind sie Kli-
Bachmanns Schreiben entdeckt und überzeugend schees verhaftet, verhalten sie sich medienkon-
herausgearbeitet, die Tatsache nämlich, daß form.« (Gleichauf, S. 117; zu der Malina-Verfil-
Bachmanns weibliche Gestalten vollkommen die mung von Werner Schroeter vgl. Bartsch) In Jeli-
Produkte des Diskurses der sie umgebenden poli- neks Version des Romans Malina gibt es keine
tischen und sozialen Strukturen sind. Figuren Hoffnung für eine autonome weibliche Subjek-
wie beispielsweise Erika Kohut in Jelineks Die tivität und keine Möglichkeit eines Utopia. Im
Klavierspielerin können als literarische Intensi- Hinblick auf Jelineks Roman Lust kommentiert
vierungen des Ich in Malina oder der Protagoni- Baackmann: »Es geht Jelinek wie schon Bach-
stinnen des Simultan-Bandes verstanden wer- mann um ein Entmythologisierungsprojekt. Aus
den: Figuren, die verstehen, daß sie unglücklich ihrer marxistisch-sozialkritischen Perspektive ra-
sind, aber nicht über die Schranken hinaussehen dikalisiert Jelinek Bachmanns Überzeugung, daß
können, die die Gesellschaft vor der Einsicht in ›die Wahrheit dem Menschen zumutbar‹ ist, […]
das Warum dieses Unglücks aufgerichtet hat, und insofern sie versucht, Schluß zu machen mit der
die sich im Gegenteil sogar oft in souveräner Illusion, ›man könne Dinge aus erster Hand be-
Kontrolle über ihr Schicksal wähnen. In ihrem schreiben, sie individuell neu und ganz anders
Essay »Der Krieg mit anderen Mitteln« aus dem sehen‹.« (Baackmann 1995, S. 171)
Jahr 1984 beruft sich Jelinek auf Bachmanns Da Bachmanns Gedichte als Schullektüre und
Werk um den, wie sie sie nennt, »neuen Harmo- Bestandteil vieler Anthologien zum allgemeinen
nisierungsautoren und Beschwichtigungsvortur- deutschen und österreichischen Bildungsgut ge-
nern« entgegenzutreten (Jelinek, S. 311). In hören, ist es fast unvermeidlich, daß viele spätere
Übereinstimmung mit den dominanten feministi- deutschsprachige LyrikerInnen in ihren Arbeiten
schen Positionen dieser Zeit liegt der Schwer- Bachmann-Gedichte variieren oder auf Zeilen
punkt von Jelineks Essay bei der männlichen daraus anspielen. Jo Ann Van Vliet hat Anleihen
Gewalt, der Frauen in allen Zeiten zum Opfer bei Bachmann in den Gedichten von Dagmar
gefallen sind: »Wie die Juden.« (ebd., S. 312) Für Nick, Eva Christina Zeller, Alois Hergouth, Elke
Jelinek ist die Liebe die »Fortführung des Kriegs Günzel und Friederike Mayröcker (sowie in der
mit anderen Mitteln«, und die männlichen Fi- Prosa von Libu še Moníková) nachgewiesen.
guren in Malina sind sein Werkzeug: »Die beiden Bachmann-Motive findet sie ebenfalls in Brigitte
Männer Ivan und Malina […] brauchen einander Kronauers Berittener Bogenschütze (Eichhörn-
(zwei Platzhirsche, jeder in seinem Revier) nicht chen), in Patrick Süskinds Das Parfüm (der rä-
einmal wahrzunehmen, während sie die Frau chende Engel) und in der Theater Lindenhof-
zwischen sich zerquetschen« (ebd., S. 314). In Produktion von Thomas Strittmatters Drama Po-
Übereinstimmung mit ihrer Interpretation des lenweiher (die Bildlichkeit von Schatten Rosen
Romans Malina läßt Jelineks Drehbuch-Adapta- Schatten). Vor allem Bachmanns Gedicht Böh-
tion die Mitschuld der Ich-Figur an ihrer Situa- men liegt am Meer ist beinahe in den allgemeinen
tion im Dunkeln und ebenso das Ausmaß, in dem Sprachgebrauch der Gebildeten eingegangen,
40 I. Grundlagen

und Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensber- zehnten wird Bachmanns Beispiel nicht herange-
ger (in Ach Europa!), Uwe Johnson (in Jahres- zogen, um die Auseinandersetzung der jungen
tage), Volker Braun (in Böhmen am Meer, 1992), Schriftstellerinnen mit den Verletzungen, die
Sarah Kirsch, Erich Fried und der Maler Anselm Männer Frauen zufügen, zu rechtfertigen.
Kiefer (Böhmen liegt am Meer, Museum Beyeler, Eine von Reinhard Baumgart und Thomas
Basel), aber auch weniger bekannte Autoren wie Tebbe herausgegebene Sammlung mit dem Titel
Heinz Czechowski, Peter von Becker und Barbara »Einsam sind alle Brücken« (2001) stellt wahr-
Köhler haben Bachmanns Gedichte in eigener scheinlich die jüngste Reaktion von Schriftstel-
Sache zitiert oder paraphrasiert. Einige Lyriker lern und Schriftstellerinnen auf Bachmanns Werk
haben sich darüber hinaus mit Bachmanns forma- dar. (Es ist möglich, daß das Zustandekommen
len Techniken auseinandergesetzt, so benutzen dieser Sammlung nicht zuletzt auch mit Baum-
etwa Ulla Hahn, Barbara Köhler und Gerhard garts Reaktion auf Sigrid Weigels Studie »Inge-
Tänzer die Rondelform von Bachmanns Die borg Bachmann: Hinterlassenschaften unter
große Fracht (Van Vliet, S. 236 f.). Wahrung des Briefgeheimnisses« zu tun hat, ge-
Um der Art und Weise, wie Bachmanns Werk gen dessen Schwerpunktsetzungen er in seiner
als »Herausforderung« auf weibliche Autoren Rezension energisch protestiert hat; Baumgart,
wirkt, mehr Geltung zu verschaffen (Studer, S. 42.) Wenn diese ›Antworten‹ typisch für die
S. 8), hat das Züricher Projekt »Schriftwech- gegenwärtige künstlerische Bachmann-Rezep-
sel – Frauen und Literatur« seine Literaturtage tion sein sollten, dann ist dieses Feld tatsächlich
1993 (anläßlich des 20jährigen Jahrestages von sehr weit. Das liegt nicht zuletzt daran, daß die
Bachmanns Tod) der ›Antwort‹ Schweizer ausgewählten Autoren unterschiedlichen Gene-
Schriftstellerinnen auf ihr Werk gewidmet und rationen angehören, wobei das Spektrum von der
die Beiträge von neun Autorinnen in dem Band 1909 geborenen Hilde Domin bis zu dem 1967
»Schriftwechsel: Eine literarische Auseinander- geborenen Nachwuchsautor Franzobel reicht, so
setzung mit Ingeborg Bachmann« versammelt. daß die Beiträge auch in Form und Interessen-
Das Spektrum der Reaktionen reicht von den schwerpunkt sehr stark variieren. Die Haltung
beiden für Bachmann ›reservierten‹ leeren Seiten der älteren Autoren hat sich im Lauf der Jahr-
und einem zurückgezogenen Beitrag, weil dieser zehnte kaum geändert: Bewunderer ihrer Ge-
sich nur auf die Schreiberin selbst beziehe, bis dichte und weniger interessiert an der (oder ver-
hin zu mehreren von Bachmann inspirierten Er- wirrt durch die) Prosa, tragen sie oft immer noch
zählungen und einem Essay, der sich mit Bach- zu dem ›Mythos Bachmann‹ bei, erinnern an ihre
manns Beziehung zu Simone Weil beschäftigt »Allüre« und z. B. an die Kleidung, die sie bei der
(umfaßt allerdings merkwürdigerweise keine Lesung in New York trug. Wie die Schweizer
Gedichte). Wenngleich angesichts dieser Vielfalt Autorinnen des Projekts »Schriftwechsel«
Generalisierungen schwierig sind, läßt sich doch stellen sich die Schriftstellerinnen der mittleren
festhalten, daß alle Beiträgerinnen Bachmann Generation die Welt mit Bachmanns Augen vor
vorwiegend mit Respekt, ja Ehrfurcht begegnen – und deuten ihr eigenes Leben im Spiegel von
von gelegentlichen Einwänden abgesehen wie Bachmanns Werk. Einer von den jungen Män-
dem von Birgit Kempker: »Eigentlich wollte ich nern schreibt hingegen: »Ingeborg Bachmann
mal sagen, sie geht mir auf die Nerven, gehörig, konnte und konnte keine übers Mittelmaß hin-
ihr Ernst, die Moral, der Tineff um sie rum, ausreichenden Gedichte schreiben«, aber auch er
Weltverbessertum, solche Totenreden wie diese.« schließt: »Und eben eine große Schriftstellerin:
(Kempker, S. 44) Bachmann hilft den jungen Au- gut, daß sie die Prosa für sich entdeckt hat, und
torinnen offenbar dabei, Probleme des Schrei- jeder weiß, daß sie dort Bedeutendes geleistet
bens und ihrer eigenen Subjektivität anzuspre- hat.« (Kling, S. 58) Ein anderer bewundert ihren
chen, inspiriert jedoch keine breiteren politi- erkenntnistheoretischen Wagemut, wenn sie
schen Themenstellungen – wiederum mit einer »Auskunft über die Befindlichkeit des Ich in der
Ausnahme: Mariella Mehr bringt Mirandas Wei- neuen Konsumgesellschaft« gibt (Niemann,
gerung zu sehen mit gegenwärtigen Greueltaten S. 76). Ulrike Draesner, die jüngste Frau in dem
in Sarajevo, Solingen, Mogadischu und anderswo Band, wendet sich Bachmann zu, um heraus-
in Verbindung. Und anders als in früheren Jahr- zufinden, wie diese »versuchte, die Schale«, in
Literarische Rezeption 41

die sie als weiblicher Schriftsteller gezwungen S. 42; – Elizabeth Boa (1994): Schwierigkeiten mit der
wurde, »zu sprengen« (Draesner, S. 137). Der ersten Person. Ingeborg Bachmanns Malina und Mo-
Österreicher Franzobel, Bachmann-Preisträger nika Marons Flugasche, Die Überläuferin und Stille
Zeile sechs. In: Pichl/Stillmark (1994), S. 125–145; –
von 1995, tut sie dagegen ab als »Eine erste Pop-
Heinrich Böll (1994): Ich denke an sie wie an ein
Ikone der österreichischen Literatur« (Franzobel, Mädchen [1973]. In: Schardt (1994), S. 472–473; –
S. 105). In dem abschließenden Beitrag des Ban- Ulrike Draesner (2001): Möblierte Mädchen. In: Baum-
des erinnert Peter Hamm an ein Marcel Proust- gart/Tebbe (2001), S 124–137; – Ingeborg Drewitz
Zitat, das Bachmann zu ihrem eigenen gemacht (1994): Nicht zu Hause in dieser Zeit [1973]. In:
hat: »In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er Schardt (1994), S. 468–469; – Franzobel (2001): Fische
in der Bachmann. Eine österreichische Suppe. In:
liest, nur ein Leser seiner selbst« (Hamm, S. 141;
Baumgart/Tebbe (2001), S 101–107; – Erich Fried
vgl. W 4, 179), und fragt im Rückblick auf seine (1994): Mit scharfem Gehör für den Fall [1973]. In:
erste Begegnung mit ihren Gedichten: »Was Schardt (1994), S. 474–476; – Ingeborg Gleichauf
brauchte ich 1953 von Ingeborg Bachmann?« (1995): Mord ist keine Kunst. Der Roman Malina von
(Hamm, S. 141) Was brauchen Autoren und Au- Ingeborg Bachmann und seine Verwandlung in ein
torinnen der Gegenwart von Ingeborg Bach- Drehbuch und in einen Film. Hamburg; – Peter Hamm
(2001): Unglück und Glanz oder: »Der ich unter Men-
mann? Das bleibt offensichtlich abzuwarten.
schen nicht leben kann«. In: Baumgart/Tebbe (2001),
Quellen: Thomas Bernhard (1987): Der Stimmenimita- S. 138–157; – Joachim Hoell (1998): Auslöschung und
tor [1978]. Frankfurt/M.; – Thomas Bernhard (1986): Utopie. Zur persönlichen und literarischen Beziehung
Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt/M.; – Max Frisch von Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann. In: Die
(1976): Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. (Hg.) Horen 43, Nr. 2, 34–39; – Elfriede Jelinek (1989): Der
Hans Mayer. Frankfurt/M., Bd. V.1: Mein Name sei Krieg mit anderen Mitteln [1984]. In: Koschel/von
Gantenbein [1964], Bd. V.2: Biographie. Ein Spiel Weidenbaum (1989), S. 311–320; – Toni Kienlechner
[1966/67], Bd. VI.2: Montauk, Bd. VII: Triptychon. (1994): Ingeborg Bachmann – ein Nachruf [1973]. In:
Drei szenische Bilder [1976/1979]; – Max Frisch (1982): Schardt (1994), S. 477–478; – Thomas Kling (2001):
Blaubart. Frankfurt/M.; – Günter Grass (1994): Todes- Geschmacksurteile. Zu Ingeborg Bachmanns Gedich-
arten [1973]. In: Schardt (1994), S. 477; – Uwe Johnson ten. In: Baumgart/Tebbe (2001), S. 55–58; – Herbert
(1974): Eine Reise nach Klagenfurt. Frankfurt/M.; – Lehnert (1994): Spuren von Ingeborg Bachmann in
Birgit Kempker (1994): Du sollst nicht sein von und zu Christa Wolfs Was bleibt. In: Zeitschrift für deutsche
Ingeborg Bachmann. In: Schriftwechsel. Eine literari- Philologie 113, S. 598–613; – Sara Lennox (1989): Chri-
sche Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmann. sta Wolf and Ingeborg Bachmann. Difficulties of Wri-
(Hg.) Liliane Studer. Zürich, S. 35–55; – Monika Ma- ting the Truth. In: Responses to Christa Wolf. Critical
ron (1996): Animal triste. Frankfurt/M.; – Mariella Essays. (Hg.) Marilyn Sibley Fries. Detroit/MI, S. 128–
Mehr (1994): Augen. In: Schriftwechsel. Eine literari- 148; – Norbert Niemann (2001): Teure Verständnis-
sche Auseinandersetzung mit Ingeborg Bachmann. losigkeit. Ingeborg Bachmann und die Gegenwart. In:
(Hg.) Liliane Studer. Zürich, 113–118; – Anna Mit- Baumgart/Tebbe (2001), S. 67–81; – Ricarda Schmidt
gutsch (1999): Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik- (1982): Westdeutsche Frauenliteratur in den 70er Jah-
Vorlesungen. Graz; – Hans Weigel (1951): Unvollendete ren. Frankfurt/M.; – Hilde Spiel (1994): Keine Kerze
Symphonie. Wien; – Christa Wolf (1976): Kindheits- für Florian. Ingeborg Bachmann gestorben [1973]. In:
muster. Berlin (Ost); – Christa Wolf (1990b) Was bleibt. Schardt (1994), S. 478–482; – Liliane Studer (1994):
Frankfurt/M. Ein Schriftwechsel zu Ingeborg Bachmann. In:
Schriftwechsel. Eine literarische Auseinandersetzung
Literatur: Baackmann (1995); Frei Gerlach (1998); Hei- mit Ingeborg Bachmann. (Hg.) Studer. Zürich, S. 7–11;
delberger-Leonard (1993); Kanz (1999). – Sigrid Töpelmann (1993): Zur Rezeption Ingeborg
Jean Améry (1989): Am Grabe einer ungekannten Bachmanns in der DDR. In: Göttsche/Ohl (1993),
Freundin [1973]. In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 37–51; – Jo Ann Van Vliet (1995): Zwischen Kanoni-
S. 200–202; – Kurt Bartsch (1994): »Mord« oder Selbst- sierung und Politisierung. Bachmann-Rezeption in der
vernichtung? Zu Werner Schroeters filmischer Malina- zeitgenössischen Literatur. In: Brokoph-Mauch/Daig-
Interpretation. In: Pichl/Stillmark (1994), S. 147–161; ger (1995), S. 225–243; – Christa Wolf (1990a): Die
– Reinhard Baumgart (1999): Ist doch nur eine kleine Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und
Textfigur. Sigrid Weigels ehrgeizige Monographie über Gespräche 1959–1985. Darmstadt.
Ingeborg Bachmann. In: Die Zeit, 12. August 1999, Sara Lennox
42

3. Editionsgeschichte und Nachlaß

Als Ingeborg Bachmann 1973 starb, lag erst ein Briefkorpus« (ebd., S. 201) wurde der im engeren
Teil ihres Werkes in Buchform (in zumeist meh- Sinne literarische Nachlaß von den Erben der
reren Auflagen) vor: die beiden Gedichtbände Autorin in prinzipiell ungeordnetem Zustand ei-
Die gestundete Zeit und Anrufung des Großen ner fortlaufenden Numerierung unterzogen, wo-
Bären, die Erzählbände Das dreißigste Jahr und bei die Lyrik aus dem Konvolut der römischen
Simultan, die Buchfassung des Berlin-Texts Ein Wohnung allerdings offenbar herausgezogen und
Ort für Zufälle und der Roman Malina, daneben zum größten Teil gesondert abgelegt wurde (ab-
zwei erfolgreiche Hörspiel-Taschenbücher: Der lesbar an den aufeinanderfolgenden Nachlaßblatt-
gute Gott von Manhattan (München: Piper nummern 1–500). Eine erste Fotokopie dieses
1958ff.) und Der gute Gott von Manhattan – Die Nachlasses wurde von den Erben 1974 Christine
Zikaden (München: dtv 1963ff.). In der DDR war Koschel und Inge von Weidenbaum, »die zum
eine Auswahl der Gedichte erschienen (Berlin römischen Bekanntenkreis der Dichterin zähl-
und Weimar: Aufbau-Verlag 1966), und im Piper- ten«, mit dem Ziel der »Erstellung einer umfas-
Verlag (München) war 1964 – trotz der Bedenken senden Werkausgabe« (in Zusammenarbeit mit
der Autorin gegen eine Werkausgabe zu Lebzei- Professor Clemens Münster, in Bachmanns Mün-
ten (Brief an K. Piper datiert »Ende März 1964«) chener Jahr Fernsehdirektor des Bayerischen
– unter dem Titel »Gedichte. Erzählungen. Hör- Rundfunks) ausgehändigt (Pichl in TKA 1, 609).
spiel. Essays« in der Reihe »Die Bücher der Nach dem Erscheinen dieser Ausgabe »Werke«
Neunzehn« eine ausgesprochen erfolgreiche Teil- (1978) wurden die Nachlaß-Originale im Som-
sammlung erschienen, die eine Auswahl der Ge- mer 1979 als Schenkung an die Handschriftenab-
dichte, Essays und Erzählungen zusammen mit teilung der Österreichischen Nationalbibliothek
dem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan und in Wien übergeben, »wobei vorab rund 450 Über-
(leicht gekürzt) drei der fünf Frankfurter Vor- lieferungsträger« für fünfzig Jahre (bis 2025) »ge-
lesungen bot. Alle übrigen, an verstreuten Orten sperrt und in einem seither nicht mehr geöffne-
gedruckten oder im Rundfunk gesendeten Werke ten Konvolut versiegelt wurden. Kopien der ge-
waren ebenso wenig greifbar wie beispielsweise sperrten Überlieferungsträger verblieben bei den
die Libretti, gegen deren Druck als ›separates Erben. In diese Gruppe fallen den Erben zufolge
Buch‹ Bachmann sich gewehrt hatte (Brief an H. mindestens 200 Gedichtentwürfe sowie eine
Rössner vom 8. 6. 1965 mit Bezug auf Der junge große Zahl von Briefen und privaten Aufzeich-
Lord). nungen, die bei der Nachlaßinventarisierung ver-
Im Vordergrund der Editionsgeschichte des sehentlich dem literarischen Nachlaß zugerech-
Werks steht allerdings nicht die Sammlung der zu net« wurden (Kommentar TKA 1, 632). Weit über
Lebzeiten veröffentlichten Werke, sondern der hundert der vormals gesperrten Gedichtentwürfe
literarische Nachlaß Ingeborg Bachmanns aus ih- haben die Erben inzwischen in ihrer Ausgabe der
rer letzten römischen Wohnung in der Via Giulia »Unveröffentlichten Gedichte« publiziert (Bach-
66, der zusammen mit dem Nachlaß der Jugend- mann 2000b). Weitere zehn der bis dahin ge-
werke und der Studienzeit aus dem elterlichen sperrten Blätter des literarischen Nachlasses
Haus in Klagenfurt und dem großelterlichen in konnten als dem Todesarten-Projekt zugehörig
Obervellach sowie einem geringen Bestand von identifiziert und in dessen Kritische Ausgabe auf-
»vor allem Reinschriften, Durchschlägen etc.« genommen werden (vgl. TKA 1, 685). Im Hin-
aus fremden Quellen (Pichl 1982, S. 202) insge- blick auf das versiegelte Briefkonvolut ist zu be-
samt ca. 10.000 Textseiten auf mehr als 6.000 denken, »daß die Mehrzahl von Bachmanns Brie-
Überlieferungsträgern umfaßt. Nach weitestge- fen sich gar nicht im gesperrten Wiener Nachlaß
hender Aussonderung der »das äußere Privat- befindet« (Weigel 1999, S. 17), sondern in den
leben oder Amtliches betreffenden Papiere (z. B.: Nachlässen ihrer Adressaten, wie ihr eigener
Entschuldigungsschreiben, Mietverträge, Uni- wiederum vor allem Briefe ihrer Gesprächspart-
versitätsformulare usw.)« sowie des »gesamte[n] ner enthalten dürfte. Außerdem hat sich der Wie-
Editionsgeschichte und Nachlaß 43

ner Nachlaß auch in seinem literarischen Haupt- öffentlichten Werken die wichtigsten in Zeit-
teil als nicht vollständig erwiesen; zusätzliche schriften und Zeitungen verstreuten Texte, die
Nachlaßtexte und -fassungen (zumeist Druckvor- Übersetzungen – bis auf eine Ausnahme – und die
lagen) konnten bislang in den Archiven des Suhr- aus dem Nachlaß stammenden abgeschlossenen
kamp-Verlags (Frankfurt/M.), der Verlage Text + Arbeiten sowie eine Auswahl aus den Entwürfen«
Kritik (München), Klaus Wagenbach (Berlin) und zu vereinigen (W 4, 405). Ausdrücklich ausge-
Adelphi (Mailand) sowie im Uwe Johnson-Ar- schlossen wurden »einige frühe verstreute Texte«
chiv (Frankfurt/M.) gefunden werden, weitere (einige der in der »Wiener Tageszeitung« publi-
sind in Privatbesitz und anderen Dichternachläs- zierten Erzählungen, einige der Buchrezensionen
sen zu vermuten, zumal Bachmann ihren Briefen in der Zeitschrift »Wort und Wahrheit«, die »rö-
(wie der Blick in bislang zugängige Nachlässe mischen Reportagen« für die »Westdeutsche All-
zeigt) gelegentlich Gedichttyposkripte beilegte. gemeine Zeitung«), deren »geringe Eigenart« an-
Andere Texte und Fassungen sind in den Ar- geblich »einen Wiederabdruck […] nicht recht-
chiven von Rundfunksendern wie Radio Bremen, fertigte« (W 4, 405), sowie der Großteil des
NDR oder dem Schweizer SRG/DRS als Tonauf- Jugendwerks, Bachmanns Dissertation, ein er-
zeichnungen dokumentiert (siehe vorläufig heblicher Teil der Rundfunkarbeiten, unter aus-
Schmidt 1978); Teile mehrerer Briefwechsel sind drücklich ästhetischen Gesichtspunkten darüber
inzwischen in verschiedenen Archiven zugäng- hinaus das Belinda-Librettofragment, die Erzähl-
lich (siehe vorläufig den Artikel »Leben und fragmente Rosamunde und Gier sowie ein we-
Werk im Überblick – eine Chronik« sowie Weigel sentlicher Teil der Todesarten-Fragmente, wo die
1999, S. 575). Nachdem Uwe Johnson bereits Herausgeber sich offenbar »genötigt« sahen, »je-
1974 in seinem Prosaband Eine Reise nach Kla- weils eine eigene Auswahl zu treffen« (W 4, 413).
genfurt ausführliche Zitate aus Bachmanns Brie- Das hybride »Editionsziel einer kritisch zuver-
fen an ihn veröffentlicht hatte und Wolfgang Hil- lässigen, in ihrem Umfang jedoch begrenzten
desheimer 1986 einen langen Brief der Autorin, Dokumentation« (W 4, 416) führte damit zu einer
versehen mit ausführlichen Anmerkungen in der selektiven Leseausgabe, deren Zusammenstel-
Zeitschrift »Freibeuter. Vierteljahresschrift für lung eines Großteils der zu Lebzeiten publizier-
Kultur und Politik« drucken ließ (Berlin, Heft 27, ten Werke mit Erstveröffentlichungen aus dem
S. 24ff.), sind in letzter Zeit mehrfach Briefe oder Nachlaß (Teile des sogenannten Jugendwerks,
Brief-Auszüge (teils als Faksimile) publiziert Essays und Erzähltexte) das Werk der Autorin in
worden (siehe u. a. »du« 1994, Höller 1999, Wei- neuer Vollständigkeit in den Blick rückte. Vor
gel 1999, Opel 2001, Richter 1997). allem durch den Erstdruck von Teilen des Todes-
Im Rahmen eines von Robert Pichl geleiteten arten-Zyklus aus dem literarischen Nachlaß – des
Projekts des Fonds zur Förderung der Wissen- Romanfragments Das Buch Franza (unter dem
schaftlichen Forschung (FWF) wurde der unge- Titel Der Fall Franza), des vermeintlichen Ro-
sperrte Wiener Nachlaß von Christine Koschel manfragments Requiem für Fanny Goldmann so-
und Inge von Weidenbaum nach »den gleichen wie einer Auswahl »Aus den Entwürfen zur Figur
Voraussetzungen wie der Erstdruck von Nach- Malina« – trug die Ausgabe entscheidend zu dem
laßtexten in der Ausgabe ›Werke‹« geordnet sprunghaft wachsenden Lese- und Forschungs-
(TKA 1, 632; siehe die Nachlaßregistratur Ko- interesse an Ingeborg Bachmann in den achtziger
schel/von Weidenbaum 1981). Die entsprechend und neunziger Jahren bei. Sie bildete auch die
geordneten Kopien stehen der Forschung nach Grundlage für die Ausgabe »Ausgewählte Werke
ihrer Übergabe an die Handschriftensammlung in 3 Bänden«, die 1987 im Aufbau-Verlag (Ost-
der Österreichischen Nationalbibliothek (6. April Berlin) erschien.
1981) dort seit Herbst 1982 zur Verfügung. Angesichts des großen öffentlichen Interesses
Die von Christine Koschel und Inge von Wei- an den Todesarten-Texten begründete dieser
denbaum in Verbindung mit Clemens Münster Werkbereich aber auch in besonderem Maße die
herausgegebene vierbändige Werkausgabe im philologische Kritik an der »wissenschaftliche[n]
Piper-Verlag (1978) setzt sich zum Ziel, »neben Brauchbarkeit« der vierbändigen Leseausgabe
sämtlichen zu Lebzeiten von Ingeborg Bachmann der »Werke« (Bartsch 1988, S. 187). Problema-
in Buchform und nahezu allen im Hörfunk ver- tisch ist unter literaturwissenschaftlichen Ge-
44 I. Grundlagen

sichtspunkten schon das Prinzip der Werkaus- laßdatenbank, deren Ausdrucke in der Hand-
wahl, mehr noch aber sind es die »fragwürdigen« schriftensammlung der Österreichischen Natio-
(ästhetischen) »Selektions- und Ordnungsprinzi- nalbibliothek einsehbar sind (Albrecht/Göttsche
pien« als solche, zumal die »Kriterien für die 1998a und 1995a). Auf Kritik stieß der Einschluß
Auswahl der Texte aus dem Nachlaß […] nicht von Texten aus der Vorgeschichte des Todesarten-
offengelegt [werden]« (ebd., S. 187 f.). So blieben Projekts (Bartsch 1998; Bartsch 2000a) sowie der
beispielsweise Textzusammenhänge wie der erste Büchnerpreisrede und des Simultan-Komplexes
Todesarten-Roman und der Goldmann/Rottwitz- (Weigel 1999, S. 511) – hier wurde der weitere
Roman unerkannt, und für das Kapitel »Jordani- Rahmen des Todesarten-Projekts mit dem enge-
sche Zeit« des Franza-Romans erwies sich das ren, von Malina eröffneten Todesarten-Zyklus
»Arrangement« ausgewählter Entwurfspassagen verwechselt – sowie die angeblich »suggestive
als das Ergebnis ›freischöpferischer Collage‹ (Al- Entwicklungslogik« der Textdarbietung (Weigel
brecht 1988, S. 586, 588, 602; Albrecht 1989a). 1999, S. 512), wobei offenbar das historisch-kriti-
Diese philologische Kritik war 1989 der Aus- sche Editionsprinzip der Entstehungschronologie
gangspunkt für die Erarbeitung einer Kritischen verkannt wurde.
Edition des Todesarten-Projekts im Rahmen ei- Neben der Leseausgabe der Werke und der
nes zweiten von Robert Pichl geleiteten For- Kritischen Edition des Todesarten-Projekts sind
schungsprojekts des FWF durch Monika Albrecht andere Texte Ingeborg Bachmanns aus dem
und Dirk Göttsche, an dessen Anfang eine umfas- Nachlaß herausgegeben bzw. in Archiven wieder-
sende kodikologische und textkritische Analyse entdeckt und neuveröffentlicht worden. Auf die
des Wiener Nachlasses stand. Die 1995 erschie- Wiederveröffentlichung des Widmungsgedichts
nene vierbändige Kritische Ausgabe des Todes- In memoriam Karl Amadeus Hartmann (Bach-
arten-Projekts ediert nun vollständig alle im mann 1980) und den Erstdruck des Jugendge-
Nachlaß überlieferten Texte, Entwürfe und Fas- dichts An Kärnten (Bachmann 1981) folgten Ro-
sungen dieses Werkkomplexes nach den histo- bert Pichls kritische Editionen des Gier-Frag-
risch-kritischen Prinzipien werkgenetischer Text- ments (Bachmann 1982, überholt durch TKA 4,
darbietung, darunter neben Malina und dem 473–505) sowie der Dissertation der Autorin Die
Buch Franza erstmals den ersten Todesarten-Ro- kritische Aufnahme der Existentialphilosophie
man (Eugen-Roman II), das Wüstenbuch und den Martin Heideggers (Diss. 1985). Verschiedene
Goldmann/Rottwitz-Roman, daneben die Büch- nachgelassene Gedichtentwürfe sind (zumeist als
nerpreisrede Ein Ort für Zufälle sowie den Si- Faksimile) in Monographien und Zeitschriften
multan-Komplex mit seinen unvollendeten Sei- abgedruckt worden: Glaube (Hapkemeyer 1983);
tenstücken, über das Todesarten-Projekt hinaus- Ängste, Offenbarung (Bothner 1986); Vor einem
gehend außerdem Texte aus dessen Vorgeschichte Instrument, Befreiung, Im Krieg, In Feindesland
in nachgelassenen Erzählentwürfen aus den spä- (Höller 1987); Vor einem Instrument (»du« 1994).
ten vierziger und fünfziger Jahren. Der Begriff Unter dem Titel »Wir müssen wahre Sätze fin-
»Todesarten-Projekt« meint im Sinne der thema- den« stellten Christine Koschel und Inge von
tisch-motivischen, genetischen und zum Teil Weidenbaum 1983 eine (teils gekürzte) Auswahl
auch zyklischen Verknüpfung der Einzeltexte de- der »Gespräche und Interviews« mit Ingeborg
ren »engen Zusammenhang« »in einem über- Bachmann zusammen (GuI 1983), und ein von
greifenden literarischen Arbeitsprozeß, dessen Robert Pichl besorgter Katalog der Privatbiblio-
Stationen und Ergebnisse in wesentlichen Teilen thek der Autorin ist seit Jahren in Vorbereitung
zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben und auf- (siehe Pichl 1993, Pichl 2003).
grund ihres fragmentarischen Charakters allein Vor allem in den letzten Jahren hat sich der
in ihrem Entstehungszusammenhang angemes- publizierte Textkorpus deutlich erweitert. Die Er-
sen darzustellen sind« (Kommentar TKA 1, 615). ben der Autorin haben die frühe lyrische Prosa
Ergänzend entstanden eine neue Teilregistratur Briefe an Felician (Bachmann 1991) sowie unter
des literarischen Nachlasses (Albrecht/Göttsche dem Titel »Ich weiß keine bessere Welt« Ge-
1995, mit einer Konkordanz zur Nachlaßregistra- dichtentwürfe aus den Jahren 1962 bis 1964 (und
tur Koschel/von Weidenbaum 1981) sowie eine später) herausgegeben (Bachmann 2000b); Jörg-
Transkription der edierten Texte und eine Nach- Dieter Kogel hat die Römischen Reportagen Inge-
Editionsgeschichte und Nachlaß 45

borg Bachmanns für Radio Bremen im Archiv des Literatur: Albrecht (1988); Albrecht (1989a); Albrecht/
Senders aufgefunden und zusammen mit den Göttsche (1995); Bartsch (1997); Bothner (1986); Hap-
kemeyer (1983); Höller (1987); Höller (1999); Koschel/
Artikeln für die »Westdeutsche Allgemeine Zei-
von Weidenbaum (1981); McVeigh (2002); Pichl (1982);
tung« aus den Jahren 1954/55 wiederveröffent- Pichl (1993); Schmidt (1978); Weigel (1999).
licht (Bachmann 1998b). Zugleich erscheinen Monika Albrecht und Dirk Göttsche (1995): Edito-
neue Teileditionen mit wissenschaftlichem An- risches Nachwort (in TKA 1, 615–647); – Albrecht/
spruch: Hans Höllers Faksimile-Ausgabe der Göttsche (1995a): Ausdruck der Datenbank des literari-
»Letzten, unveröffentlichten Gedichte, Entwürfe schen Nachlasses von Ingeborg Bachmann in der Öster-
reichischen Nationalbibliothek. Unter Leitung von
und Fassungen« (Bachmann 1998a: Keine Delika-
Robert Pichl hg. und erarbeitet von Monika Albrecht
tessen, Böhmen liegt am Meer, Enigma sowie aus und Dirk Göttsche. Wien 1995 (Manuskript zur Auslage
dem Nachlaß Schallmauer, Wenzelsplatz, Polikli- in der Handschriftensammlung der Österreichischen
nik Prag, In Feindeshand) sowie die Kritische Nationalbibliothek); – Albrecht/Göttsche (1998a): In-
Ausgabe »Ausgewählter nachgelassener kriti- geborg Bachmann – Todesarten-Projekt. Transkription
scher Schriften« durch Monika Albrecht und Dirk der nachgelassenen Überlieferungsträger. Unter Lei-
tung von Robert Pichl hg. und erarbeitet von Monika
Göttsche (Bachmann 2000a: [Über Georg Grod-
Albrecht und Dirk Göttsche. Münster 1998 (Manuskript
deck], Ein Maximum an Exil [über Leo Lipski: zur Auslage in der Handschriftensammlung der Öster-
Piotruš], Die Glasglocke / Das Tremendum [über reichischen Nationalbibliothek); – Kurt Bartsch (1988):
Sylvia Plath], Watten und andere Prosa / Ein Ingeborg Bachmann. Stuttgart; – Kurt Bartsch (1998):
Versuch [über Thomas Bernhard] und [Über Giu- Malina davor, Malina danach. Vorläufige Anmerkungen
seppe Ungaretti]). Die unterschiedliche Zuver- zum Malina-Roman im Lichte der Kritischen Ausgabe
des Todesarten-Projekts. In: Heidelberger-Leonard
lässigkeit dieser immer zahlreicheren Teileditio-
(1998), S. 107–117; – Kurt Bartsch (2000a): Das drei-
nen und die Tatsache, daß immer noch verstreut ßigste Jahr und das Todesarten-Projekt. In: Béhar
publizierte bzw. nachgelassene Werke und Ent- (2000), S. 41–54; – Kurt Bartsch (2000b): Rezension
würfe unediert sind – siehe zuletzt die Wieder- [Bachmann 2000a, Bachmann 2000b, Weigel 1999]. In:
entdeckung von Bachmanns Beiträgen zur Rund- Sprachkunst 31, S. 371–380; – Christine Koschel und
funkserie Die Radiofamilie (Sender Rot-Weiß- Inge von Weidenbaum (1978): Zur Edition (in W 4,
405–417); – Adolf Opel (2001): »Wo mir das Lachen
Rot; McVeigh 2002) –, unterstreichen »das
zurückgekommen ist …« Auf Reisen mit Ingeborg
Desiderat einer kritischen Gesamtausgabe des Bachmann. München; – Robert Pichl (1978): Das Werk
Werks von Ingeborg Bachmann« (Bartsch 2000b, Ingeborg Bachmanns. Probleme und Aufgaben. In: Li-
S. 373). teraturwissenschaftliches Jahrbuch. Hg. im Auftrag der
Görres-Gesellschaft von H. Kunisch, Neue Folge 17,
Quellen: Ingeborg Bachmann (1982): Gier (Fragment). S. 373–385; – Robert Pichl (1995): Editorische Nach-
Aus dem literarischen Nachlaß hg. von Robert Pichl. In: bemerkung (in TKA 1, 609–614).
Höller (1982), S. 17–69; – Pichl (2003); – Hans Werner Monika Albrecht und Dirk Göttsche
Richter (1997): Briefe. (Hg.) Sabine Cofalla. München;
– vgl. das Ausgabenverzeichnis im Anhang dieses
Handbuchs.
II. Das Werk
48

1. Jugendwerke

Schon in ihren Schuljahren begann Ingeborg Arbeitsprozeß sogar selbst festgehalten. So führt
Bachmann literarisch zu schreiben, verfaßte Ge- ein Entwurf zu dem Gedicht Offenbarung z. B.
dichte, Dramen und Prosa und komponierte Lie- die Angabe »Februar 45 / Neubearbeitet Okt. 45
der. Im Rückblick hat sie die Musik an den An- Arzl« (N5581), ein anderer zu dem Gedicht
fang ihres Schreibens gestellt: »Ich habe als Kind Depressionen die Datierung »25.XI.45 (Vom
zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es 9.II.45)« (N6289). Der mit dem Studienwechsel
gleich eine Oper sein sollte, habe ich nicht ge- nach Wien verbundene Eintritt in das literarische
wußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Leben Nachkriegsösterreichs bezeichnet dann
Personen singen sollten, also habe ich es selbst das Ende dieser Übergangsphase, in der das ju-
schreiben müssen. Dann ist es lange Jahre neben- gendliche Schreiben schriftstellerische Ernsthaf-
her gelaufen. Aber dann habe ich ganz plötzlich tigkeit gewinnt und trotz der unverkennbaren
aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles Spuren der Ingeborg Bachmann damals zugängli-
weggeworfen, weil ich gewußt habe, daß es nicht chen literarischen Traditionen bereits deutliche
reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Ansätze der Eigenständigkeit entwickelt.
Und dann habe ich nur noch geschrieben.« (GuI, Schon in Ingeborg Bachmanns Jugendwerk
124) Einige Notenschriften im literarischen stehen Lyrik und Prosa nebeneinander, entspre-
Nachlaß in der Österreichischen Nationalbiblio- chend der traditionellen Gattungstrias ergänzt
thek in Wien bezeugen dieses frühe Ineinander durch das Drama. Insbesondere die frühesten
von Schreiben und Komponieren. Doch über- überlieferten Texte zeigen den deutlichen Einfluß
liefert der Nachlaß auch die literarischen Arbei- von Schullektüren wie Schiller, Goethe, Kleist
ten der Schülerin nur in jener äußersten Se- und Eichendorff. Die wohl frühesten im Nachlaß
lektion, die diese frühen Versuche in der Zeit zugänglichen Gedichtentwürfe – Goethe (N5388)
zwischen ihrem Abitur und dem Aufbruch nach und Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust
Wien, also zwischen Sommer 1944 und Sep- (N5391) aus dem Sommer 1942 – sind unmittel-
tember 1946, erfahren haben. Vom eigentlichen bar von Goethe inspiriert (Bartsch 1997, S. 36).
Jugendwerk ist nur weniges erhalten, so das Im gleichen Jahr entsteht »als Historisierung der
Drama Carmen Ruidera, die Erzählung Das aktuellen Erfahrung eines ›besetzten Landes‹«
graue Haus oder die Gedichte Goethe, Ostern (Weigel 1999, S. 57) das historische Versdrama
und Wunsch. Der ganz überwiegende Teil der als Carmen Ruidera. Ein Trauerspiel in fünf Aufzü-
›Jugendwerke‹ bezeichneten Texte, die aus dem gen aus dem spanischen Unabhängigkeitskampf
elterlichen Haus in Klagenfurt bzw. dem groß- gegen Napoleon 1808, das seinen Ton und sein
elterlichen Haus in Obervellach in den Wiener Freiheitspathos von Schiller übernimmt und mit
Nachlaß gelangt sind, entstand in den beiden Kleists Pflichtethos verknüpft. Der Widerstand
Jahren, die die Schwelle zwischen dem Jugend- Zaragozas gegen die französische Besatzung
werk und der frühen Phase des Hauptwerks be- dient als Folie für den tragischen Konflikt von
zeichnen. Pflicht (nationaler Freiheit) und Liebe (privatem
Vor allem die oftmals datierten Gedichtent- Glück), dessen Opfer die Titelheldin wird. Be-
würfe dokumentieren für diese Zeit bereits die merkenswert an der verwickelten Handlung, an
intensive Arbeit am literarischen Text in meh- deren Ende der französische Besatzungsoffizier
reren Fassungen und teils handschriftlichen (z. B. Rimaut seine Geliebte Carmen im Zorn ersticht,
in einem Schulheft), teils maschinenschriftlichen ist vor allem die »Vertauschung der traditionellen
Ab- und Neuschriften. Gedichtentwürfe aus dem Geschlechterrollen« (Höller 1999, S. 16): Wäh-
Frühjahr 1945 werden im Sommer in Obervel- rend Rimaut einen Kompromiß zwischen pri-
lach wieder aufgenommen, Fassungen aus die- vatem Glück und nationalem Gehorsam sucht,
sem Sommer während des ersten Studienseme- erklärt Carmen »abstrakte Pflicht« für »das wahr-
sters in Innsbruck im Herbst überarbeitet usw. haft Schöne« (N5512), opfert ihre Liebe »dem
Gelegentlich hat die angehende Autorin diesen geschichtlichen Gesetz« (Höller 1999, S. 16) und
Jugendwerke 49

wird so zur »Heiligen« des spanischen Freiheits- Seite wird nicht mehr (wie in Carmen Ruidera)
kampfes (N5516). abstrakt, sondern psychologisch glaubhaft als
Dieser naiven Verklärung des Nationalismus Problematik jugendlicher Selbstfindung darge-
gegenüber bedeutet die ebenfalls in den napoleo- stellt und im Sinne der historischen Topik der
nischen Kriegen spielende historische Erzählung Zerrissenheit entfaltet. Die realistische Darstel-
Das Honditschkreuz (Ende 1943), wie Hans Höl- lungstechnik und die breite Verwendung dialek-
ler herausgearbeitet hat, »den entscheidenden taler Ausdrücke (Hapkemeyer 1982b, S. 11 f.) so-
Schritt zum literarischen Bruch mit der NS-Hei- wie die an Franz Brandstetter entwickelte
mat-Ideologie« und »ein bisher kaum gewürdig- »Grundspannung« von »Distanzierung« und
tes Werk der inneren Emigration« (Höller 1999, »Rückkehr« (Gehle 1995, S. 69) verbinden die
S. 14 f.). Offenbar kam die Anregung von Bach- Erzählung mit der Tradition der Dorfgeschichte.
manns Vater, der ihr »das Heimatbuch ›Alt-Her- Ihr wird jedoch eine »tödliche Dynamik von Hei-
magor. Geschichtliche Erinnerungen‹ (1931) von mat und Moderne« eingeschrieben, in der die
Hubert Pietschnigg als Vorlage« empfahl (Hoell, »Welt der Frauen« den »Gegenpol« zu den »mili-
S. 30). Waren die Befreiungskriege gegen Napo- tärischen und ideologischen Kämpfe[n] der Män-
leon von der nationalsozialistischen Geschichts- ner« bildet (Gehle 1995, S. 75, 70).
propaganda – z. B. in einer Klagenfurter »Grenz- Aus der Zeit nach Ingeborg Bachmanns Matura
landausstellung« (1943) – deutschnational ver- 1944 datiert dann der Großteil der überlieferten
einnahmt worden, so entwirft Bachmann in Gedicht- und Prosaentwürfe, die durch vielfältige
dieser Jugenderzählung aus dem Dreiländereck Themen und Motive miteinander verknüpft sind.
Südkärntens dagegen ihre »Idee einer Heimat im Charakteristisch für die Lyrik ist die jugendliche
Aneinandergrenzen« (Höller 1999, S. 13, 15). Ge- Pendelbewegung zwischen dem (oft an Goethes
gen den nationalsozialistischen Rassismus zeigt Werther erinnernden) Alleinheitsgefühl im Na-
die Erzählung in ihrem Schauplatz Hermagor/ turempfinden und vollständiger Verzweiflung,
Gailtal – dem Raum von Bachmanns geliebten zwischen Freiheitsdrang und Melancholie, zwi-
Ferienaufenthalten im großelterlichen Obervel- schen poetischem Gottesanruf und nicht minder
lach – ein Miteinander der Volksgruppen, als topischem Nihilismus, zwischen Apotheose der
deren Inbegriff die deutsch sprechenden Slowe- Dichtung und Sprachlosigkeit. Die Unbedingt-
nen, die »Windischen«, bezeichnet werden: »Mit heit jugendlicher Selbstbehauptung – »Sklaverei
ihrem Dasein ist es, als wollten sie die Grenze ertrag ich nicht / Ich bin immer ich / Will mich
verwischen, die Grenze des Landes, aber auch irgend etwas beugen / Lieber breche ich.« (W 1,
der Sprache, der Bräuche und Sitten.« (W 2, 491) 623) – steht neben ekstatischer Naturerfahrung –
Bemerkenswert ist dieser Text aber auch in seiner »Und bebend brennt sich mir das Himmellachen
souveränen Handhabung des Genres der histori- / Kreisend und glühend in mein Sein / Und
schen Erzählung. Mit Hilfe der seit Walter Scott meine Sinne sind der Last enthoben / Und flie-
charakteristischen Figur des ›mittleren Helden‹, gen frei in diesen Tag hinein!« (N 6245) – und
dessen intellektuelle und soziale Sonderstellung Entfremdungserlebnissen: »Schauriger Tag, der
ihm Zugang zu verschiedenen Seiten des histori- mir zürnt / Und tödlich schaurige Nacht / Bald
schen Konflikts eröffnet, gelingt Bachmann eine fällt der Schnee mit stillem Tod, / Dann werd ich
lebendige Darstellung der napoleonischen Besat- auf immer verstummen.« (N6261) Erst im Herbst
zung in Südkärnten sowie der Anfänge des Be- 1945 ist in dieser existentialen Dialektik auch
freiungskrieges, an deren Opfer (auf österreichi- eine Auseinandersetzung mit dem geschichtli-
scher wie französischer Seite) am Schluß ein chen »Lastbewußtsein« (W 1, 626) der Erfahrun-
lokales historisches Gedenkzeichen – das Hon- gen des Nationalsozialismus und des Krieges zu
ditschkreuz – erinnert. Der innere Konflikt des spüren, so in den Gedichten Ich frage und Ängste
Protagonisten Franz Brandstetter, an dessen und insgesamt in der »Kälte-, Einsamkeits-,
›sinnlosen Tod‹ das Honditschkreuz auch ge- Nacht- und Schattenmetaphorik« (Bartsch 1997,
mahnt (Gehle 1995, S. 69), zwischen seiner Aus- S. 39; vgl. Höller 1987, S. 170ff.; Höller 1999,
bildung zum Theologen auf der einen Seite, sei- S. 38; Bothner 1986; Weidenbaum). Am Über-
ner nationalen »Erregung« (W 2, 514) und seiner gang zu jener existentialen Chiffrierung zeitge-
Liebe zu einer jungen Kellnerin auf der anderen schichtlicher Erfahrung, die die Lyrik der Wiener
50 II. Das Werk

Jahre charakterisieren wird, überlagert der Aus- raum, sozialer und erotischer Thematik in Die
druck von Todesangst- und Verletzungstraumata Fähre kommt in anderen Prosaentwürfen der
am Schluß der Übergangsphase 1944–46 die ver- auch in der Lyrik ausgedrückte Problemkomplex
bleibenden utopischen Momente. jugendlicher Selbstfindung zwischen Selbstbe-
Aufschlußreich für den Widerstreit originären stimmungsverlangen und Verzweiflungserlebnis-
Ausdruckswillens mit der zugleich erprobten sen. Ein typisches Stück zeitgenössischer Teen-
Sprache der literarischen Tradition ist die Über- agerprosa stellt das älteste der Prosafragmente,
arbeitung des Gedichts Nach grauen Tagen, des- Das graue Haus, dar (einer der Entwürfe trägt
sen erster überlieferter Entwurf die Datierung die Datierung »5.III.1944«). Es handelt von den
»10. Oktober 1944, Klagenfurt« trägt. Dort lautet Schul-, Freundschafts- und ersten Liebeserfah-
der Beginn des Gedichts: »Eine einzige Stunde rungen der künstlerisch veranlagten Schülerin
frei sein! / Frei, fern! / Wie Nachtlichter in den Karoline, die in augenblickshaften Naturerfah-
Sphären … / In freien Sphären atmen. / Hoch- rungen ihre Sinnlichkeit genießt und die »Nacht-
fliegen über Tagen / Über Zeit, Not und Glück! / seite des Körpers« entdeckt (N5856), ohne daß
Frei, frei!« (N6334) In einer späteren Reinschrift Sexualität ausdrücklich thematisiert wird. Gegen
ist dieser emphatische, aber auch begriffliche ihre Neigung zu pubertären Selbst- und Welt-
Ausdruck jugendlichen Freiheitsdranges dann in zweifeln stellt Karoline den »Wunsch, nur einmal
poetische Bildlichkeit übersetzt und zugleich an dieses Leben so zu leben, daß jede Stunde eine
die literarische Tradition zurückgebunden: »Eine reizvolle Erinnerung blieb« (N5762). Weniger
einzige Stunde frei sein! / Frei, fern! / Wie eindeutig autobiographisch angelegt ist der grö-
Nachtlieder in den Sphären. / Und hoch fliegen ßere, wiederum an die Dorfgeschichte anknüp-
über den Tagen / möchte ich / und das Vergessen fende Erzähleingang mit dem symbolischen Titel
suchen – – – / über das dunkle Wasser gehen / Tagwerden, der die Datierungen »8. Nov. 1944«
nach weißen Rosen, / meiner Seele Flügel geben und »Jänner 45« trägt (N5625), also aus Bach-
/ und, oh Gott, nichts wissen mehr / von der manns Zeit in der Lehrbildungsanstalt vor
Bitterkeit langer Nächte, / in denen die Augen Kriegsende stammt. Der 36jährige Maler Chry-
groß werden / vor namenloser Not.« (W 1, 624) santh Ulcar, den seine Freundin verlassen hat,
Mit solchen literarischen Arbeitsprozessen, in lernt auf einem ländlichen Hof die selbständige
denen Ansätze einer eigenen lyrischen Sprache 18jährige Waise Dorothea Skoff kennen. Das
mit konventioneller Topik ringen, verbindet sich großartige Südkärntner Landschaftspanorama
im übrigen die Konzeption von Gedichtzyklen dieser Entwürfe erhält durch das Auge des Ma-
wie Bewegung des Herzens, die die Lyrik an der lers besondere Bedeutung, und es deutet sich für
Schwelle vom Jugend- zum Hauptwerk insge- die junge Frau die Geschichte einer doppelten,
samt prägt (siehe ausführlicher Behre und den künstlerischen und erotischen Initiation an. Da-
Artikel »Frühe Gedichte«). gegen scheint der kleine Entwurf Der Spion (da-
Wie in den Gedichtentwürfen der Jahre 1944 tiert »Vellach, 8.I.45«; N5734) auf die tragikomi-
bis 1946 die Anklänge an die Naturlyrik seit sche Geschichte eines entlaufenen geistig Ver-
Goethe, an Rainer Maria Rilke und nur aus- wirrten zu zielen, der fälschlich mit großem
nahmsweise auch an Georg Trakl und den Ex- Aufwand als feindlicher Spion gesucht wird.
pressionismus (Zwischen Tag und Nacht; N6177) Bereits in der Innsbrucker Zeit entstehen dann
unübersehbar sind, so ist Bachmanns erste, im Entwürfe zu der Erzählung Cälian Hambrusch,
Juli 1946 veröffentlichte Erzählung Die Fähre, die das soziale Motiv der Fähre mit der interkul-
deren nachgelassener Entwurf »Klagenfurt, 8. turellen Thematik des Honditschkreuzes verbin-
Juli 1945« datiert ist (N5852), von der Tradition den (Datierung »26.IX.45«; N5754a). Vielleicht
der Heimatliteratur und der Dorfgeschichte ge- durch das Schotterwerk ihres Onkels angeregt,
prägt, in der auch der Kärntner Heimatschriftstel- entwirft Bachmann hier aus der Perspektive der
ler Josef Friedrich Perkonig, ihr literarischer jungen männlichen Titelfigur das Sozialbild ei-
Mentor im Winter 1944/45, stand (siehe zu Die nes ländlichen Steinbruchs, in dem Slowenen
Fähre den Artikel »Frühe Erzählprosa«). Zu der und Italiener unter mutmaßlich deutschsprachi-
Verbindung von symbolischer Landschaftsdar- ger Leitung einer harten Arbeit nachgehen
stellung aus Bachmanns Südkärntner Heimat- (N5738/39). Die wohl etwas spätere Erzählung
Jugendwerke 51

Hel Dörrias dagegen (Datierung »6.XI.45«; Der Name Felician – möglicherweise aus J. F.
N5772) wendet sich wieder der Thematik jugend- Perkonigs Roman Bergsegen (1928/43) übernom-
licher Sozialität und Selbstfindung zu. Was an men (Höller 1999, S. 34 f.) – bietet zugleich einen
Entwürfen zu einer nicht ganz klaren Handlungs- Datierungsanhalt für die bislang übersehenen
skizze ausgeführt ist, zeigt den Protagonisten Hel Entwürfe Ingeborg Bachmanns zu ihrem zweiten,
als einen nachdenklichen jugendlichen Intellek- nun in Prosa gefaßten Drama, das auch wegen
tuellen – dessen ›problematische Natur‹ (Spiel- seiner Wiederaufbaumotivik kaum vor Sommer
hagen) wiederum durch seinen Status als Waise, 1945 entstanden sein kann. Unter dem Titel Das
durch den Verlust des Vaters, motiviert wird – im Denkmalamt entwerfen zwei Inhaltsangaben
Gespräch mit seinem leichtlebigeren Dorffreund zwar noch keinen dramatischen Konflikt, aber
und »Lehrer« Cölestin (N5609), beim Gang durch doch Varianten einer Handlungsführung. In bei-
die befremdlich wirkende Stadt (Klagenfurt?) den ist der »Wiederaufbau des Domes, der vom
und zusammen mit seiner Freundin Margarethe Denkmalamt zur Vergabe gelangt« (N5346), der
beim Baden und Bootsfahren auf dem ungenann- eine, die Liebe des phantasievollen und unkon-
ten (Wörther-)See. Die Namensgebung läßt ver- ventionellen Mädchens Carola zu dem wiederum
muten, daß der Entwurf Margarete Holm viel älteren Architekten Andreas (zuerst Felician
(N5518) hier zuzuordnen ist. Im Gegensatz zu der genannt) der andere Pol des Geschehens. Die
surrealistisch geprägten, von Ilse Aichinger und eine Handlungsskizze zeigt den Architekten als
Kafka beeinflußten Bildsprache und Parabolik, einen vergeistigten Intellektuellen, der die Aus-
derer sich Bachmann in den Erzählungen ihrer führung seiner Wiederaufbaupläne einem Prakti-
Wiener Jahre und in den überlieferten Fragmen- ker »ohne tieferes Verständnis für die aus den
ten ihres ersten Romans Stadt ohne Namen be- Zeitlängen gewachsene Konstruktion des Do-
dient, stehen ihre Erzählungen auf der Schwelle mes« überläßt, denn: »Der Gewissenhafte kann
vom Jugend- zum Frühwerk (1944–46) noch im nicht handeln« (N5345), also frei nach Goethes
Horizont realistischer Traditionen. Maxime: »Der Handelnde ist immer gewissen-
Neben einer Reihe kleinerer Erzählentwürfe – los; es hat niemand Gewissen als der Betrach-
Schwestern, Stadtgift, Dämmerstunde – sind dar- tende.« (Goethe, S. 399) In der zweiten Skizze
über hinaus zwei Kurzprosastücke im Jugend- erwartet derselbe »vornehme Mensch« den Bau-
nachlaß überliefert, In meinem Herbst und Auf auftrag, und Carolas freizügige Durchbrechung
Reisen. Das erste drückt in naturlyrischer Prosa der Tradition – die Hobbyschneiderin schockiert
Einsamkeit in Naturerfahrung aus und mündet in ihre Pflegemutter mit einer »ihrer Phantasie ent-
Zeilen des Gedichts Nach grauen Tagen (N5522/ sprungenen Nonnentracht« – tritt gleichgewich-
28); das zweite dürfte angesichts seiner Motivik tig neben ihn (N5346). In den ausgeführten Ent-
einer verschlossenen, surreal anmutenden Stadt würfen kontrastiert die Andreas/Felician zuge-
in der »Pest: Hochsommer« (N5855) erst später in schriebene Verbindung von Überlegenheit des
den Wiener Jahren der Arbeit an dem Roman Älteren, (kunst-) geschichtlichem Kontinuitäts-
Stadt ohne Namen und der Lektüre von Albert bewußtsein und intellektuellem Lebensüberdruß
Camus’ Roman La peste (1947) entstanden sein. – »Ich bin von einer ausweglosen Trübe und
Einige Entwürfe naturlyrischer Prosa (N5816–19) Müdigkeit« (N5366) – aufs schärfste mit Carolas
zeigen dagegen ebenso Ingeborg Bachmanns Lebendigkeit und Frische als etwas naive Reprä-
frühe Neigung zu Grenzüberschreitungen zwi- sentantin der ersten Nachkriegsgeneration: »Wir
schen Lyrik und Prosa wie die zwischen Mai 1945 sind doch […] im Anfang. Hinter uns ist alles
und April 1946 datierten Briefe an Felician (vgl. zusammengebrochen.« (N5372) Es deutet sich in
Artikel »Frühe Gedichte«). Solche Grenzüber- der Darstellung der unmittelbaren Nachkriegszeit
schreitungen werden später z. B. in den Erzäh- also ein Generationendrama an. Daß ältere Dra-
lungen des Bandes Das dreißigste Jahr wieder- menentwürfe in Schülerhandschrift, die andere
kehren, und die Formen der modernen Kurz- Namen verwenden (N5479; 5750; 5752), und die
prosa mit ihrem Spannungsfeld zwischen Skizze zu einem vieraktigen Handlungsaufbau
essayistischem ›Denkbild‹ (Walter Benjamin) (ebenfalls mit anderen Namen und ohne erkenn-
und Prosagedicht bezeichnen eine wichtige Linie baren Bezug; N5354) dem Dramenentwurf Das
ihres Werks im ganzen. Denkmalamt zuzuordnen sind, ist unwahrschein-
52 II. Das Werk

lich. Vermutlich handelt es sich um Fragmente Maria Behre (1991): Die zumutbare Unbestimmtheit.
zweier weiterer Dramenpläne aus dem Jugend- Naturphilosophie des Liquiden und Dunklen im Früh-
werk Ingeborg Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillpar-
werk, die ebenfalls nicht zur Ausführung ge-
zer-Gesellschaft, 3. Folge 17, S. 163–184; – Joachim
langten. Noch bis in die späten 1950er Jahre wird Hoell (2001): Ingeborg Bachmann. München; – Inge
Bachmann den Plan, ein Theaterstück zu schrei- von Weidenbaum (1992): Historisch denken – utopisch
ben, nicht aufgeben (siehe Briefe an H. Böll vom schreiben. Die unerreichbare Identität von »Leben,
14.6. und 28. 12. 1958). Schreiben, Lieben« im Jugendwerk von Ingeborg Bach-
mann. In: Discorso Fizionale e Realtà Storica. (Hg.) H.-
Quellen: Johann Wolfgang von Goethe (1981): Werke. G. Grüning et al. Ancona, S. 583–596.
Hamburger Ausgabe. (Hg.) Erich Trunz, Bd. 12. 9. Aufl. Dirk Göttsche
München; Heinrich Böll-Archiv (Köln).
Literatur: Bartsch (1997); Bothner (1986); Gehle
(1995); Hapkemeyer (1982b); Hapkemeyer (1990); Höl-
ler (1987); Höller (1999); Weigel (1999).
53

2. Lyrik

2.1. Frühe Gedichte handschriftlich »Der Wanderer« und »Stunden-


wanderung« (N6193), bis maschinenschriftlich
Überlieferung und Gliederung der frühen Lyrik
neben einem doppelt gesetzten, in Großbuch-
(1944/45–1952)
staben gesperrt gedruckten Titel-Entwurf »Ich im
Der Textkorpus der frühen Lyrik mit dem Über- Spiegel« Titelalternativen oder Untergruppenti-
gang vom Jugendwerk zum Hauptwerk ist bisher tel wie »Ruhlose Wanderschaft«, »Bewegung des
nicht zusammenhängend editorisch erschlossen. Herzens« und »Rast im Traum« benannt werden
Da also eine Ausgabe noch nicht vorliegt, ein- (N6167) und schließlich auf einem Einzelblatt
zelne Gedichte jedoch – zum Teil in Auszügen – »Bewegung des Herzens.« (N6166) erscheint,
an verstreuten Stellen im Faksimile oder als Zitat möglicherweise vorgesehen für das am 23. 7.
veröffentlicht worden sind, bedarf es zunächst 1946, während der Sommersemesterferien in
einer Bestandsaufnahme zur Druck- und Entste- Obervellach, bei Rudolf Felmayr in Wien zur
hungsgeschichte dieser Anfangsphase von Inge- Veröffentlichung eingereichte Konvolut (Höller
borg Bachmanns lyrischem Werk. 1999, S. 39). Gedichtvorstufen geben Erstdatie-
Erste Gedichte wurden in der Zeitschrift »Lyn- rungen. Wohl durch die Ordnungsarbeit der Er-
keus«, Wien Dezember 1948 / Januar 1949, ver- ben entstand eine ›Nachlaßgruppe‹: Im Krieg
öffentlicht: [Abends frag ich meine Mutter], [Wir (N144; Höller 1987, S. 172), Ich frage (N145,
gehen, die Herzen im Staub], [Es könnte viel N5788: 2.11.45; W 1, 624), Aufblickend (N146,
bedeuten] und Entfremdung. Drei Jahre nach der N5568: 22.7.45; W 1, 625), Im Sommer (N147
Einzelveröffentlichung Betrunkner Abend (»Die [Auszug in Bothner 1986, S. 123], N5596: 4.7.45;
Zeit«, Wien 15. 4. 1949) werden im Anschluß an W 1, 627), Klage (N148, N6260; N6286: 25.11.45,
die Tagung der Gruppe 47 die dort gelesenen »von Ende Oktober Umarbeitung«; Auszug in
Gedichte im NWDR Hamburg am 27. 5. 1952 und Bothner 1986, S. 125), Gedanke (N149), Abschied
zum Teil auch am 4. 6. 1952 im NWDR Hannover (N150, N572: Innsbruck September [45]), Über-
aufgenommen: Entfremdung, Dem Abend ge- maß (N152), Depressionen (N153, N6261;
sagt, Wie soll ich mich nennen?, Vision, Men- N62891: 25.11.45: »Vom 9. 2. 1945«; Auszug in
schenlos sowie 5 Gedichte des Zyklus Ausfahrt, Bothner 1986, S. 89), Vor Sonnenuntergang
darin [Die Welt ist weit] (schon veröffentlicht in (N154, N6266/67: 11.2.45), Tagwerden (N156),
»Stimmen der Gegenwart« 1952, nicht in Die Einem Winter entgegen … (Teil I: N151, N62792/
gestundete Zeit aufgenommen). Zum ersten Mal 80, Arzl 19.11.45; Teil II: N156a, N6295: 18.12.45;
veröffentlicht sind in der Werkausgabe 1978 Hin- W 1, 629 f.), Offenbarung (N157, N5581: »Fe-
ter der Wand, [Beim Hufschlag der Nacht], zum bruar 45, Neubearbeitet Okt. 45 Arzl«; Bothner
ersten Mal gedruckt dort [Die Häfen waren geöff- 1986, S. 116 f.), Nach grauen Tagen (N158,
net] (NWDR 4. 6. 1952) sowie [Noch fürcht ich] N6334: Klagenfurt 10.10.44; W 1, 624), Schran-
(N319; datiert: Wien, November 51; NWDR ken (N159, N5742: 7.11.44; W 1, 628). Bothner
Hannover 3. 11. 1952). bringt ungekürzt das Gedicht Ängste (N6188;
Vor all diesen Veröffentlichungen ist der bisher Bothner 1986, S. 103 f.; N6336: 8.12.[45]), dane-
ungehobene Schatz der Jugendgedichte entstan- ben im Auszug die Gedichte Vor einem Instru-
den. Er weist 352 Blätter mit oft präzisen Daten ment; Abkehr; Ich möchte still sterben / So möcht
zu Entstehungsort und -zeit sowie Umarbeitung ich sterben still vor Seligkeit; Göttliches; Die un-
aus. Dieser Nachlaß enthält auch ein Schulheft irdische Welle; Zwischen Tag und Nacht; Die
mit der Aufschrift »1945 Bachmann«, dessen 27 schöne Nacht. Oh, welch ein Glanz ist heute in der
Gedichte auf 38 Blättern noch nicht einsehbar Nacht; Bekenntnis; Vergeblichkeit; Kunst und
sind. Aus dem Textkorpus der Jugendwerke Natur; Mein Herz spricht; Trauer (vgl. Bothner
druckt die Werkausgabe sechs Gedichte eines 1986).
Zyklus aus 15 Gedichten: Bewegung des Herzens. Veröffentlicht wurden auch die Gedichte:
Als Zyklustitel erscheinen im Nachlaß zunächst Glaube (N6221, Vorstufe zu Gebet, N5566: Som-
54 II. Das Werk

mer 45; Hapkemeyer 1983, S. 22; Weber 1986, nach der Registratur An den Frieden (N6275),
S. 132); Trüber Sinn (N6242, N6296: 29.12.45; Melancholie (N57871: Klagenfurt 23.7.45);
Hapkemeyer 1983, S. 26); An der Brücke stehen Trauer (N5575: Innsbruck 5.10.45); Nachtbild. //
die Soldaten (N403; Bothner 1986, S. 81, Datie- Geschlossen erst, wird mir das Auge wach
rung unklar); Befreiung (N400a; Höller 1987, (N6300/01: 11.3.46). Als Konvolut erscheinen mit
S. 171); [Unstillbar. Ich reise in einem winter- der Eintragung von fremder Hand »Ingeborg
lichen Wald] Die Nacht entfaltet den trauernden Bachmann Graz, Haydng. 10/II/18«, datiert
Teil des Gesichts (N397, 397a; Höller 1987, 29.6.46: Vor einem Instrument. // Ich könnte die-
S. 175, Datierung dort unklar im Rahmen der nen und mich selbst ertränken (N6175) und Ge-
These, daß die letzten Gedichte den Ton der vor stirn des Glückes. // Oh, wie ich mich ans Herz der
dem ersten Gedichtband entstandenen Gedichte Welt verschwende (N6232). Eine kritische Edition
wieder aufnehmen; ebd., S. 182), ebenso die Ge- der frühen Gedichte ist überfällig.
dichte die fallen in seine Gelenke (N343; Höller
1987, S. 183) und In Feindesland (N286; Höller
Bachmanns frühe Lyrik im literarhistorischen
1987, S. 184 f., bei Bartsch 1997, S. 41, als Früh-
Kontext
werk rezipiert, bei Höller in Bachmann 1998a
und Höller 2000 den frühen 1960er Jahren zuge- Die frühe Lyrik aus der Zeit der Matura Bach-
ordnet, dort als In Feindeshand; ebenso Bach- manns in Klagenfurt und der Studienjahre in
mann 2000b, S. 139). Separat veröffentlicht wur- Innsbruck, Graz und Wien kann nur dialektisch
den An Kärnten (1944) (Bachmann 1981), Briefe betrachtet werden: Für sich stehend treten pu-
an Felician, datiert vom 16.5.45–27.5.46 (Bach- bertäre Selbstvergewisserung und rebellisches
mann 1991), sowie Faksimiles zum Gedicht Vor Aufbegehren in klarer Imperativik heraus; ge-
einem Instrument (Bachmann 1994, datiert lesen auf der Folie des Gesamtwerkes müssen die
29.6.46; N6175 schon bei Höller 1987, S. 140 und poetologisch-politischen Problemkonstanten des
323). »Lastbewußtseins« (Höller 1987, S. 172; Höller
Eine frühere Zyklus-Komposition mit dem Ti- 1999, S. 32, aus dem Gedicht Ich frage [2.11.45])
tel »Die pfadlosen Gänge« bzw. »Am/Vor dunk- bzw. der Formel »Ich bin das Immerzu-ans-Ster-
len/m Weg« erscheint auf einem Blatt mit einem ben-Denken« (Hinter der Wand; Behre 2000;
auf den 2.7.45 datierten Gedicht (N5567): [Sehn- Weigel 1999, S. 238) ebenso in ihrem Ursprung
sucht Glut sank, versank] (N6196/97, N57961: erkannt werden wie die Leitmotive »Dunkelheit«
22.7.45), Silberner Tag (N5744: 6.11.44), Zünde und Liquid-Dionysisches als Prinzipien des
Lichter (N5742: 7.11.44), In der Sturmnacht Kunstausdrucks gegen die starre Überbelichtet-
(N6263), Liebesgedicht. / An deinem Strome habe heit des verdrängenden Totschweigens (Behre
ich getrunken (N6222), Dein Wunsch sei (N5785), 1991).
Wenn Du vom Lichte bist (N5745: Sommer 45), Durch biographische Entschlüsselungen wurde
Buntes Abendspiel am Firmament (N5747), [Ein der Zyklus lyrischer Prosa, Briefe an Felician, auf
Tag vergeht] (vgl. N58261), Eine einzige Stunde Bachmanns Deutschlehrer in der Lehrbildungs-
(N6334: 10.10.44, Klagenfurt, Vorstufe zum Ge- anstalt in Klagenfurt bezogen, die sie im Winter
dicht Nach grauen Tagen), [Und sei die Erde], 1944/45 besuchte. Es handelt sich um den Kärnt-
[Was für die Sonne geht], Die dunklen Wünsche ner Schriftsteller Josef Friedrich Perkonig, der
(N6286: »25.11.45 von Ende Oktober Umarbei- zunächst als Deutschnationaler der NS-Ideologie
tung«), Wenn ich Dein denke (N5597: 2.7.; vgl. zugewandt war, aber 1943 gegen die Aussiedlung
Briefe an Felician: Bachmann 1991, S. 39 [Vel- von Kärntner Slowenen protestierte (Höller
lach, 30.3.46]). Zwei weitere Zyklus-Kombina- 1999, S. 24–27, Streichung An 〈Josef 〉 Perkonig
tionen von 5 bzw. 6 Gedichtgruppen – letztere in An Felician; N6222). Bachmanns Gedichterst-
betitelt als »Abend«, »Abstieg und Besinnung« veröffentlichungen wurden dann auf die Unter-
bzw. »Aufbruch und Offenbarung« – stehen mit stützung durch den jüdischen Remigranten Hans
sehr vielen Variationen auf dem Blatt N5574; Weigel zurückgeführt. Dieser schildert die be-
»Abstieg und Besinnung« wird erneut in zwei ginnende Karriere Bachmanns im Spiegel der
Kompositionen von 15 bzw. 11 Gedichten auf dem weiblichen Ich-Erzählerin seines im Winter 1946
Blatt N5677 projektiert: Einschlägige Titel sind bis Winter 1947 spielenden Zeitromans Unvoll-
Frühe Gedichte 55

endete Symphonie, verkennt aber Bachmanns ten der Bilder sowie zu surrealistischen
apokalyptischen Blick auf das Ende anstelle einer Traumchiffren sich weitende ›Hieroglyphen aus
mystifizierenden Beschwörung des Wartens auf dem Buch der Natur‹: »Mohn« (Höller 2000,
einen Anfang. Bachmanns ›Wiener Lyrik‹ ge- S. 57) bzw. »Türkenbund« (TKA 3.2, 932).
winnt in den vier Gedichten, mit denen sie sich Literaturgeschichtlich-systematisch wurde
Ende 1948 in der Zeitschrift »Lynkeus« als Lyri- Bachmanns Lyrik zusammen mit der Lyrik Ce-
kerin vorstellte, einen zwiespältigen Charakter lans von Walter Jens 1961 als »neue Lyrik« ausge-
zwischen Abendgebetsidylle in partialem Paar- rufen (vgl. Weigel 1999, S. 410; Höller 1999,
reim und Musiksemiotik ([Abends frag ich meine S. 73) und von der Literaturkritik als Distanzie-
Mutter]), zwischen lyrischem Traditionalismus rung zur Lyrik Gottfried Benns verstanden. Benn
des Vergänglichkeitspathos im Kreuzreim und au- hatte am 21. Oktober 1951 den Büchnerpreis
topoietisch-metareflexivem Selbstbezug im Kor- erhalten mit der Begründung, daß er »seine Form
rekturzeichen des ›Selbst-Ausstreichens‹ ([Es gegen die wandelbare Zeit« setze (Benn 1989,
könnte viel bedeuten]), zwischen schicksalerge- S. 711). (Das Urteil über Benn als ›radikal reali-
bener Selbstbezichtigung und herausforderndem tätsenthobener Artist‹ [Bartsch 1997, S. 50] kur-
Reimpaar »Trott: Gott« ([Wir gehen, die Herzen siert bis heute.) Bachmanns und Celans Formge-
im Staub]; W 1, 11) sowie zwischen Reimlosig- bungen mit ihren Gedichtbandtiteln (Die gestun-
keit mit existentialistisch-naturlyrischen Fragen dete Zeit und Mohn und Gedächtnis) zielen auf
und dialektisch-erkenntnistheoretischer Seman- die Wandelbarkeit der Zeit. Wie sehr Benn die
tikkritik in dem Gedicht mit dem signifikanten Ich-Erzählerin in Malina als Spiegelungsfigur
Leitmotiv-Titel Entfremdung (W 1, 13). Bachmanns beeinflußt, zeigt das Zitat »Der Ruhm
Vom Wiener literarischen Leben mit den Ver- hat keine weißen Flügel« (TKA 3.1, 390), das in
öffentlichungsorganen von Hermann Hakel Benns Ausdruckswelt in einer Reihe von poetolo-
(»Lynkeus«) und Hans Weigel (»Stimmen der gischen Balzac-Zitaten genannt ist: »Ein Wort
Gegenwart«) konnte Bachmann, nachdem sie von wiegt schwerer als ein Sieg«, »Es gibt Existenzen,
Hans Werner Richter über dessen Kontakte zu in die greift der Zufall nicht ein«, »Wer Dichtung
Ilse Aichinger im April 1952 ›entdeckt‹ worden sagt, sagt Leid« (Benn 1949, S. 37).
war, zur westdeutschen Literaturszene, der
Gruppe 47, gelangen. Dabei sorgte sie auch für
Bachmanns frühe Lyrik im Spiegel
Paul Celan, der in seinem Gedichtband Mohn
der Forschung
und Gedächtnis (1952) – fast vollständig schon
im (zurückgezogenen) Band Der Sand aus den Die Zeitthematisierung in Bachmanns Gedichten
Urnen (1948) – 22 von 56 Gedichten der Du- aus der Zeit vor dem ersten Gedichtband benennt
Adressatin Bachmann gewidmet hatte (Koschel, Bothner als individualgeschichtlich motivierte
S. 17). Wie Celans Lyrik wurde auch die Bach- »Todesangst« und Höller als »Lastbewußtsein«
manns in die Tradition Georg Trakls gestellt, in (Ängste; Bothner 1986, S. 75; Höller 1987, S. 17;
die Nähe expressionistischer, zugleich philoso- vgl. Höller 1993). Beide Forscher sehen eine
phisch-abstrakter wie existentiell-natursinnli- traumatische, für eine Zeitepoche und Gene-
cher Traumsprache. Bachmanns und Celans ge- ration stellvertretend geäußerte Klage bzw.
meinsamer Ausgangspunkt waren weniger die Anklage, in der sich die Kontinuität des Werkes
»Hymnen der Liebesseligkeit und des Liebes- über die Gattungen und Projekte hinweg zeige.
schmerzes« (Weidenbaum, S. 27) als der »Fa- Heideggers Existenzialphänomenologie der
schismus als Schibboleth« (Brügmann), der, bei ›Furcht‹, ›Angst‹ und ›Abgründigkeit‹, Hölder-
Perkonig und Weigel als historische Erfahrung linsche Licht- und Nachtmythologie, Rilkesches
verleugnet und in Heimatdichtung bzw. Wiener ›Umkreisen‹ Gottes und ›Ausgesetztsein‹ in der
Operettenatmosphäre umgedeutet, für Celan Welt sowie die mediterrane Ausfahrt-Motivik mit
zum Ausgangspunkt und Ort der Schreibexistenz Ufer und Schiff werden als Signaturen von
wurde. Zeichen der Erinnerung konnten biogra- »Nachkriegsmentalität« (Weigel 1999, S. 237)
phisch fundierte Anlässe eines magischen Rea- entschlüsselt. Dies führt zu Urteilen, wie »Fehlen
lismus, antirationalistische Tore zur inneren Ge- jeder Bewegung des Widerstandes« (Höller 1987,
genwelt des Fühlens sein, konnotative Weishei- S. 177), ›ausschließliche Konzentration auf das
56 II. Das Werk

eigene Leid‹ und ›weinerliche Selbstbeschau‹ S. 14) – geschätzte politische, »hochgespannt-


ohne utopische Gegenenergie und dichterisches kaltblütige Didaktik« (Rühmkorf, S. 15), die mit
Selbstbewußtsein, ohne Aktivität (Bartsch 1997, der männlichen Perspektive eines ›strategischen
S. 42 f.). Eine solche Einschätzung irritiert im Blicks‹ (Höller 1999, S. 81; Bartsch 1997, S. 42)
Blick auf Bachmanns selbstsichere Diktion, denn als Unbestechlichkeit, Freiheit und Aufklä-
der beklagte »passive Zustand« (ebd., S. 42) zeigt rungswille verbunden wird. Die frühen Gedichte
Erstarrung angesichts des Leidens, Empathie, gewinnen dagegen ihren Reiz aus der Unmittel-
Kontemplation statt eines vorschnellen Aktivis- barkeit von Leiderfahrung mit expliziten Benen-
mus, Analysebereitschaft der Nachkriegsgenera- nungen wie »Ketten«, »Qual«, ›Leiden‹, ›Zer-
tion. Dagegen bleibt in den Interpretationen die schossensein‹, durch Tränen ›verglaste Augen‹.
dialogische Struktur der Ich-Diktion und Du- Insofern ist, kulminierend im »Spiegel«-Artikel
Apostrophe eher unerwähnt, die für einen philo- vom 18. August 1954, die Rezeption der frühen
sophischen Wegbegleiter Bachmanns (Michael Lyrik Bachmanns als weltflüchtige Botschaft ei-
Benedikt) der entscheidende Impuls zur Dich- ner »Feindlichkeit der Zeit und Erlösung in
tung ist. In bezug auf die literaturgeschichtliche Schlaf und Traum« (Hotz 1990, S. 60) ein Miß-
Situation der 1950er Jahre waren Bachmanns verstehen, das einer Revision bedarf.
Einschätzungen der Ausdrucksformen, die da- Quellen: Gottfried Benn (1949): Ausdruckswelt. Essays
mals vorschnell als ›religiöse Lyrik‹, ›Trostlyrik‹ und Aphorismen. Wiesbaden. – Gottfried Benn (1989):
und ›Naturlyrik‹ desavouiert wurden (Bartsch Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit
1997, S. 50), deutlich differenzierter (GuI, 18). In einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand. Frankfurt/
ähnlicher Weise sind die Vorwürfe der »Unbe- M. – Hans Werner Henze (1996): Reiselieder mit böh-
mischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen
stimmtheit«, des ›verschwimmenden Ungefährs 1926–1995. Frankfurt/M.; – Hans Weigel (1992): Un-
lyrischer Urklänge‹ (Blöcker, S. 15) bis zum ›Kas- vollendete Symphonie. Roman [Neuaufl.]. Graz, Wien,
sandra-Ton im Vagen‹ (Korte, S. 57) fragwürdig, Köln.
wenn gesehen wird, wie bewußt sich Bachmann Literatur: Bartsch (1997); Bothner (1986); Hapkemeyer
der Unbestimmtheit als ästhetischer Leistung der (1983); Höller (1987); Höller in Bachmann (1998a);
Übergenauigkeit ist, als »Möglichkeit der Frei- Höller (1999); Hotz (1990); Weber (1986); Weigel
heit, des Ausbruchs aus den Determiniertheiten« (1999).
und Absage an »Gewißheiten« (Stauf, S. 40 f.; Maria Behre (1991): Die zumutbare Unbestimmtheit.
Naturphilosophie des Liquiden und Dunklen im Früh-
Behre 1991) im Sinne einer kulturkritischen »Un-
werk Ingeborg Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillpar-
bestimmtheit der Verortung als kollektives Zeit- zer-Gesellschaft, 3. Folge, 17 (1987–90), S. 163–184; –
schicksal« (Weigel 1999, S. 240). Eine Historisie- Maria Behre (2000): Das Gedicht als existentiale Me-
rung der individuellen, tagebuchartigen Gedichte thode des Lebens im Immerzu-ans-Sterben-Denken bei
ist ebenso notwendig wie die historiographische Ingeborg Bachmann. In: Albrecht/Göttsche (2000),
Einschätzung der Aufarbeitung der Vergangen- S. 95–110; – Michael Benedikt (1986): Abschied von der
Philosophie und Versuch einer Poetologie. Ingeborg
heit als Akt individualisierter Aussprache bzw.
Bachmanns Paralogismus der Ersten Person. In: Barbe/
dialogischer Gewissenserforschung. Dabei zeigt Wögerbauer (1986), S. 179 f.; – Günter Blöcker: Die
sich der dichterische »Absolutheitswahn«, den gestundete Zeit (Rez. 1954). In: Koschel/von Weiden-
Bachmann für sich als Maßstab – und nicht als baum (1989), S. 13–15; – Margret Brügmann (1991):
von Grass geäußerten Vorwurf – akzeptierte Verstoßene Väter – verstörte Töchter. Faschismus als
(Bachmanns Brief an Henze vom 26. 7. 1965; Schibboleth im Werk von Wolf, Bachmann und Duden.
In: Begegnung mit dem »Fremden«. (Hg.) Yoshinori
Henze, S. 248) und der in der um Präzision be-
Shichiji. München, S. 261–266; – Hans Höller (1993):
mühten Eigenart einer Kunst-Leben-Hermeneu- Eine Kriminalpoetik der Moderne. Malina in der Lyrik
tik durchaus keinen jugendlichen Wahn bedeu- Ingeborg Bachmanns. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 81–
tet. 91; – Hans Höller (2000): Schallmauer und In Feindes-
Beim Versuch der Abgrenzung der frühen Texte hand. Zwei späte unveröffentlichte Gedichte von Inge-
von den im Band Die gestundete Zeit Ende De- borg Bachmann. In: Kucher/Reitani (2000), S. 263–
278; – Hermann Korte (1989): Geschichte der
zember 1953 veröffentlichten zeigt sich in letz-
deutschen Lyrik seit 1945. Stuttgart; – Christine Ko-
terem der zeittypische Ton des Appellativen schel (1997): Malina ist eine einzige Anspielung auf
(Bartsch 1997, S. 42) und damit eine in der Tradi- Gedichte. In: Böschenstein/Weigel (1997), S. 17–22; –
tion Brechts – »lyrischer Plakatstil« (Blöcker, Peter Rühmkorf (1973): Das lyrische Weltbild der
Die gestundete Zeit 57

Nachkriegsdeutschen [1960]. In: Geschichte der deut- Nationalbibliothek in Wien sind zu einigen Ge-
schen Literatur aus Methoden – Westdeutsche Literatur dichten Entstehungsvarianten erhalten, die, be-
1945–1971, Bd. 2. Frankfurt/M., S. 1–27; – Renate
sonders bei Früher Mittag, aufschlußreich sind,
Stauf (2000): »Komm. Nur einmal. Komm.« Epipha-
nieerfahrungen bei Ingeborg Bachmann. In: Ästheti- weil sie textgenetisch die Ausdifferenzierung des
sche und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwen- lyrischen Gedächtnisdiskurses dokumentieren.
den. (Hg.) Wolfgang Braungart und Manfred Koch. Auf einem handschriftlichen Textzeugen (N2646)
Paderborn, S. 29–41; – Inge von Weidenbaum (1997): ist eine Skizze der Abfolge der Gedichte im Ly-
Ist die Wahrheit zumutbar? In: Böschenstein/Weigel rikband erhalten. Unter der senkrechten Kolonne
(1997), S. 23–28.
der Gedichttitel mit den daneben notierten Num-
Maria Behre
mern steht der von Strichen eingerahmte Name
Paul – ein Indiz für die Gegenwärtigkeit Paul
2.2. Die gestundete Zeit Celans bei der Konzeption des Lyrikbands.
Kompositorisch gliedert sich der Band in drei
Text-Geschichte und Komposition
Teile, zu denen als selbständiger Teil noch der
des Lyrikbandes
Monolog des Fürsten Myschkin hinzukommt. Die
Ingeborg Bachmanns erster Gedichtband Die ge- drei Teile umfassen neun, acht und sechs Ge-
stundete Zeit erschien im Herbst 1953 in der von dichte. Thematische Akzente werden durch die
Alfred Andersch herausgegebenen Buchreihe jeweils ersten Gedichte gesetzt: I – Ausfahrt, II –
»Studio Frankfurt« bei der Frankfurter Verlags- Sterne im März, III – Brücken. Die kompositori-
anstalt. Die Erstausgabe enthält bereits den Mo- sche Anordnung dürfte vor allem ›musikalischen‹
nolog des Fürsten Myschkin zu der Ballettpanto- Prinzipien folgen, also der Variation von längeren
mime »Der Idiot« (1953), eine Auftragsarbeit für und kürzeren Gedichtformen, der Kontrapunktik
den Komponisten Hans Werner Henze. 1957 von Sprechhaltungen und genrespezifischen
wurde der Lyrikband mit einigen Veränderungen Sprechweisen, von hohem Ton und Parlando, von
im Piper-Verlag (München) neu aufgelegt. Das szenischer Dramatik, Klage und Elegie. Auch
Motto-Gedicht – Wohin wir uns wenden im Ge- erzählerische Elemente und eine »hochgespannt-
witter der Rosen – wurde unter dem Titel Im kaltblütige Didaktik« (Rühmkorf, S. 15) sind Teil
Gewitter der Rosen nun in den Zyklus integriert, der Vielfalt der lyrischen Stimmen im ersten
und ein Gedicht, Beweis zu nichts, nicht mehr in Gedichtband. Die Kohärenz des Bands ergibt sich
die Neuauflage übernommen (vgl. Bareiss/Ohloff durch die thematische Arbeit an zentralen inhalt-
1978, S. 7). Die vierbändige Werkausgabe (1978) lichen Komplexen, wie Erinnerung und Gedächt-
bringt den Text der Ausgabe im Piper-Verlag nis oder die durchgängige Haltung des Wider-
(1964, zuerst 1957) und verzeichnet im Apparat stands gegen die restaurativen Tendenzen der
die wichtigsten Zeitschriften-Erstveröffentli- Zeit. Hierher gehört auch das Titelmotiv der
chungen, da die meisten Gedichte 1952 und 1953 ›gestundeten Zeit‹: die nicht genutzte, schon wie-
zunächst in verschiedenen Zeitschriften, Zeitun- der schwindende Chance eines Neubeginns nach
gen (»Merkur«, »Frankfurter Hefte«, »Die Lite- 1945.
ratur«, »Wort und Wahrheit«, »Die Neue Zei- Die so offensichtliche politische Dimension
tung«) und Hörfunkaufnahmen (NWDR Hanno- von Bachmanns erstem Gedichtband wurde die
ver, HR Frankfurt) erschienen sind. Eine erste längste Zeit weder von der Zeitungskritik noch
thematische Gruppierung liegt mit den fünf Ge- von der literaturwissenschaftlichen Forschung
dichten des Zyklus’ Ausfahrt in den »Stimmen wahrgenommen, und der Stellenwert von Ge-
der Gegenwart« vor (Wien 1952, Vorbemerkung dächtnis und Erinnerung, die Problematik der
von Hans Weigel, November 1951). Das zweite Geschlechterverhältnisse und der weiblichen Au-
Gedicht des Ausfahrt-Zylus (Die Welt ist weit) torschaft wurden überhaupt erst in den letzten
wurde im Lyrikband weggelassen, die Reihen- beiden Jahrzehnten entdeckt. Bedenkt man die
folge umgestellt, neue Titel eingesetzt und Text- Tatsache, daß Ingeborg Bachmann zu Lebzeiten
veränderungen vorgenommen, die im wesentli- vor allem als Lyrikerin berühmt war, überrascht
chen auf eine Reduktion der mythologischen An- außerdem die relativ kleine Anzahl neuerer lite-
spielungen zielen. Im Bachmann-Nachlaß in der raturwissenschaftlicher Studien zum Gedicht-
Handschriftensammlung der Österreichischen band Die gestundete Zeit.
58 II. Das Werk

Rezeptionsgeschichtliche Skizze dicht« verstanden, das den mythischen Ursprung


»einer wunderbaren Kunst aus der Klage« nach-
Die »zeitgeschichtliche Schicht, Problemschicht vollziehen lasse (Weigel 1999, S. 137). Die »Refe-
und Sprachschicht« in Bachmanns Lyrik (Eggert, renz auf Gesang und Musik in den Texten ver-
S. 180) wurde erst in der zweiten Hälfte der schiedener Genres« aus den 1950er Jahren liest
achtziger Jahre zum Gegenstand der Forschung Weigel »auch als eine Bewegung […], die zur
(Bothner 1986, Höller 1987), nachdem zuvor Ute Dialogizität und Polyphonie von Bachmanns spä-
Maria Oelmann in einer Untersuchung zur poeto- ter Prosa führt« (ebd., S. 135).
logischen Lyrik die Konstellation von Ingeborg
Bachmann, Paul Celan und Günter Eich in den
Text-Polyphonie und Geschichte
Blick gerückt hatte (Oelmann 1980). Die Erklä-
rung der ästhetischen Dimension der Gedichte Aber man kann die Gedichte nicht nur als ein
aus der Verbindung von zeitgeschichtlicher Gei- Wegstück zur späten Prosa ansehen, sondern die
stesgegenwart und historischem Gedächtnis »Dialogizität und Polyphonie« bereits hier, in den
wurde zu einem neuen Forschungsparadigma, Texten der 1950er Jahre, lesbar machen. Die
das der Titel des 1991 erschienenen Bachmann- Gedichte haben Anspruch auf eine derartige ré-
Bands von Andrea Stoll auf die einprägsame For- lecture, damit das inzwischen Vergessene und
mel »Erinnerung als ästhetische Kategorie des Verdrängte, die Zeichensprache eines unver-
Widerstands im Werk Ingeborg Bachmanns« wechselbaren geschichtlichen Augenblicks, in
brachte. Dieses Erkenntnisinteresse und ein Erinnerung gerufen wird, und zentrale sprach-
neuer Blick für die lyrische Formen-, Genre- und liche Bilder oder Mythen – »Herz«, »Schatten«,
Stimmenvielfalt in den Gedichten Bachmanns, »Orpheus« – ein geschichtliches Antlitz erhal-
für Variationsverfahren und Kontrapunktik, ten.
rhythmische Gesten und Klangbilder bestimmen Die neue Orpheus-Konstellation liege in der
den von Primus-Heinz Kucher und Luigi Reitani Verbindung von »Klagelied, Liebestod und
herausgegebenen Interpretationsband zur Lyrik Kunst« (Weigel 1999, S. 135), an »die Stelle eines
Ingeborg Bachmanns (Kucher/Reitani 2000, zu- ›natürlichen‹ Ursprungs (der Dichtung aus dem
erst Udine 1996). Klagegesang)« trete in Bachmanns Orpheus-Ge-
Mitte der neunziger Jahren rückte mit Holger dicht »die Gewinnung von poetischen Bildern aus
Gehles Studie zu »NS-Zeit und literarische[r] der verfehlten Liebesrettung als einer Art zwei-
Gegenwart bei Ingeborg Bachmann« (1995) die ten Todes« (ebd., S. 141): »Die Entstellung von
Frage des Schreibens im geschichtlichen Raum Liebesmetaphern in Todesbilder«, die sich in den
des Nach-Auschwitz auch ins Zentrum der Aus- »an ein Du adressierenden Strophen« ereigne,
einandersetzung mit der Lyrik. Gehles Arbeit »referiert auf eine Situation, in der auch das Du
bedeutet einen Paradigmawechsel in der Bach- den ›dunklen Fluß‹ an sich vorbeiziehen sah«
mann-Forschung und gibt eine avancierte Posi- (ebd., S. 140):
tion geschichtsbewußter philologischer Erkennt-
Vergiß nicht, daß auch du, plötzlich,
nis vor, die dann in den Untersuchungen zu den
an jenem Morgen, als dein Lager
intertextuellen Beziehungen zwischen dem Werk
noch naß war von Tau und die Nelke
Paul Celans und Ingeborg Bachmanns (Böttiger;
an deinem Herzen schlief,
Böschenstein/Weigel 1997) und in Sigrid Weigels
den dunklen Fluß sahst,
Bachmann-Buch (Weigel 1999) weitergeführt
der an dir vorbeizog.
wird. Weigel favorisiert Lesarten, die die Inter-
textualität und Vielstimmigkeit der Gedichte be- Die Saite des Schweigens
tonen. Traditionelle lyrische Kategorien wie »Ge- gespannt auf die Welle von Blut,
sang, Komposition, Musik« werden als Textver- griff ich dein tönendes Herz.
fahren transparent gemacht, zeitgeschichtliche Verwandelt ward deine Locke
Bedeutungen werden zurückgestuft gegenüber ins Schattenhaar der Nacht,
den Signaturen und Mythologemen poetischen der Finsternis schwarze Flocken
Sprechens. In einer exemplarischen Analyse wird beschneiten dein Antlitz.
Dunkles zu sagen als »Bachmanns Orpheus-Ge- (Dunkles zu sagen; W 1, 32)
Die gestundete Zeit 59

Die intertextuelle Korrespondenz mit einzelnen Jérôme (1998) in der Bachmann-Forschung nur
Gedichten aus Paul Celans Lyrikbänden Der ausnahmsweise untersucht worden (Bothner
Sand aus den Urnen und Mohn und Gedächtnis 1986, Grell 1995). Erst J érôme hat die im Bach-
ist geschichtlich konkreter und härter, und nicht mann-Nachlaß erhaltenen Überlegungen zu dem
nur ein »dunkle[r] Nachklang« (Weigel 1999, Bühnen-Gedicht ernst genommen: Die »Idee zu
S. 136) an Celans Corona-Gedicht im Titel Dunk- diesem Ballett« sei zwar dem »gleichnamigen
les zu sagen. Eine bisher nicht wahrgenommene Roman Dostojewskis entnommen«, aber es
Textspur zu einem Celan-Gedicht weist nämlich könne aufgrund seiner »Möglichkeiten« »den Ab-
auf die Verwandlung von Liebe, Tod und Kunst sichten des Romans nicht folgen« – »ja, es macht
im Raum des Nach-Auschwitz, und hier liegt sich völlig frei von diesen Absichten und folgt
eigentlich die neue »Dialektik von Leben und seinen eigenen« (N3796, zitiert nach J érôme,
Tod, von Schönheit und dunkler Sprache« (ebd.). S. 3). Die Dichterin wendet sich damit unausge-
Der Traditionsbruch in der Ausdeutung des Or- sprochen gegen Tatjana Gsovskys ästhetisch un-
pheus-Mythos wird durch diese konkrete Text- befriedigende erste Fassung des Monologs, eine
spur philologisch überhaupt erst genauer nach- handlungsorientierte Wiedergabe des Romans,
vollziehbar: Die Verse der beiden mittleren Stro- die sie durch ihren neuen Text ersetzte. In J é-
phen – »Verwandelt ward deine Locke / ins r ômes Dissertation wird Bachmanns Monolog des
Schattenhaar der Nacht, / der Finsternis Fürsten Myschkin als auto-poetische, sprach-be-
schwarze Flocken / beschneiten dein Antlitz« – wußte Neukonzeption gewürdigt und auf dem
stellen eine dialogische Beziehung her zum the- Hintergrund der »Problemkonstanten« von Bach-
matischen Bild des »Aschenhaars« in Celans To- manns Werk – Utopie, Sprachbewußtsein – er-
desfuge, vor allem aber führen sie zu seinem klärt. Man könnte aber auch, im Sinne des Ge-
Gedicht Schwarze Flocken aus Der Sand aus den dichts Dunkles zu sagen, noch stärker die Her-
Urnen, das am direktesten die Ermordung seiner metik eines monologisierenden Sprechens
Eltern anspricht, den Genozid in jenem »Land, betonen, das auf die qualvolle Erhellung von
wo der breiteste Strom fließt«: »Schwarze Flok- »Schmerz«, »Stummheit« und »Krankheit« nach
ken // Schnee ist gefallen, lichtlos […]« (Celan, 1945 hinauswill:
Bd. 3, S. 25). Es ist die Geschichtslandschaft der
Shoa, auf welche die »Entstellung von Liebes- (O Qual der Helle, Qual
metaphern in Todesbilder« »referiert«, wenn »das des Fiebers, nah an anderen Fiebern,
Du den ›dunklen Fluß‹ an sich vorbeiziehen sah« unsrer gerechten Krankheit
(Weigel 1999, S. 140). Das »Geschehene«, um gemeinsamer Schmerz!)
Celans Wort aus seinem Wiener Jené-Essay Laß den stummen Zug durch mein Herz
(1948) aufzugreifen, war auch im Hinblick auf die gehen,
literarische Tradition, hier den alten Orpheus- bis es dunkel wird
Mythos, »mehr als ein mehr oder minder schwer und, was mich erleuchtet,
entfernbares Attribut des Eigentlichen, sondern wieder zurückgegeben ist
ein dieses Eigentliche in seinem Wesen Verän- an das Dunkel. (W 1, 62)
derndes, ein starker Wegbereiter unausgesetzter
Verwandlung« (Celan, Bd. 3, S. 156). Die Eingangsstrophen des Monologs explizieren
jene sprachliche Hermetik, die uns in den Bil-
dern der ›Verwandlung‹, der dunklen Wolke in
Der Myschkin-Monolog
anderen Gedichten des Lyrikbands, begegnet.
Diese »Verwandlung« läßt sich selbst an den Tex- Das Herz als Zentrum des Ich und der Sprache
ten nachweisen, die dem »Eigentlichen« der lite- wird durchquert von dem »stummen Zug«, der es
rarischen Überlieferung genau zu folgen schei- verdunkelt. Aufgabe des Ich ist es, das »Dunkel«
nen, wie im Fall von Ein Monolog des Fürsten zu erleuchten. In »Qual der Helle« und im Aus-
Myschkin zu der Ballettpantomime »Der Idiot«, druck »unsrer gerechten Krankheit / gemeinsa-
dem letzten, relativ selbständigen Teil des Ly- mer Schmerz!« wird die Schmerz- und Wahr-
rikbandes Die gestundete Zeit. Der Monolog ist nehmungspoetik vorweggenommen, die Bach-
bis zur umfangreichen Dissertation von Françoise mann später in ihrer Rede zur Verleihung des
60 II. Das Werk

Hörspielpreises der Kriegblinden diskursiv ent- Vergessene Text-Stimmen


faltet hat.
So ist es gerade der in den Lyrikband Die Die Dialogizität und Vielstimmigkeit der Ge-
gestundete Zeit eher zufällig mit aufgenommene dichte ist insofern Gegenstand einer Konstruk-
Text für eine Ballettpantomime, der aufs kom- tion, als wir selber es sind, die solche Dialoge
primierteste ihre hermetische Poetik »unausge- und Korrespondenzen lesbar machen. Wir drän-
setzter Verwandlung« (Paul Celan) enthält. gen die Textstimmen zurück, die nicht mehr in
Gleich in der ersten Strophe begegnet das auch in unsere Gegenwart passen, wir übergehen sie
anderen Gedichten von Die gestundete Zeit vor- oder wir rücken sie in den Blick, je nach den
kommende Bild der »Wolke«. Das Ich versteht kulturellen Dispositiven unseres Heute. Man
sich »selbst« als »ein Gefäß für jene Wolke, / die braucht nur an die heute in Bachmanns Gedich-
vom Himmel fiel und in uns tauchte, / schreck- ten vergessene Stimme von Ilse Aichinger zu
lich und fremd« (W 1, 62). Mit der ersten Strophe denken. Mit ihr kam Ingeborg Bachmann aus
beginnt ein »dichterisches Selbstgespräch« (J é- Wien nach Niendorf, trat ins Licht der bundes-
r ôme), das in den thematischen Wörtern – republikanischen Öffentlichkeit – und, glaubt
»Trauer«, »Schmerz«, »Wolke« – die nach 1945 man Walter Jens, »plötzlich« hatte sich die deut-
verwandelten Bedingungen des Sprechens und sche Nachkriegsliteratur verändert. In seiner »Li-
der Sprache reflektiert. teraturgeschichte der Gegenwart« (1961) hat Jens
Auch eine wichtige inhaltliche Komponente in die Lesung von Paul Celan, Ingeborg Bachmann
Dostojewskis Roman Der Idiot, Myschkins ob- und Ilse Aichinger auf der Tagung der Gruppe 47
sessiver Gedanke an die Todesstrafe, kehrt in in Niendorf (1952) als Gründungsmythos einer
Bachmanns Monolog verwandelt wieder als tief neuen Literatur nach dem sogenannten »Kahl-
in das Ich hineingesenkte Wahrnehmung des schlag« erzählt (Jens, S. 150). Die »Sekunde des
Schreckens. Myschkins unverlierbares »Gesicht« Umschlags«, das war der suggestive Zauber der
meint bei Bachmann einen Blick, der vom Ent- Stimmen von Paul Celan, Ingeborg Bachmann
setzen und von der Vernichtung nicht loskommt und Ilse Aichinger. Für Jens evozieren sie eine
und den dezidierten Bruch mit der Rilkeschen nicht-veristische Poetik, die er mit Österreich
Welt ästhetischen Gestaltens bedeutet – »(Kein und Wien assoziiert. Tatsächlich hatte es in Wien
Gesicht, das abends von innen reift!)« (W 1, 68). nach 1945 keine Stunde Null und keine Pro-
Dieser Blick – »den ich in mir trage zu jeder Zeit« grammatik des literarischen Kahlschlags gege-
(ebd.) – ist indirekt in Schreckens-Gesichten im ben, die skeptischen jungen Schriftsteller teilten
Lyrikband Die gestundete Zeit vergegenständ- mit den antinazistischen älteren, meist aus der
licht. Damit heben sich diese Gedichte ab von Emigration zurückgekehrten Autoren die Vorbil-
den vielen »[w]ohlmeinenden, / von keiner Ver- der Rilke, Trakl, Karl Kraus oder Musil, und in
achtung getroffnen« Zeitgedichten der frühen der Zeit unmittelbar nach dem Krieg erlebte der
fünziger Jahre (Holz und Späne; W 1, 40). Surrealismus in Wien seine Wiederauferstehung.
In Malina wird das »zweite Gesicht«, das die Bezeichnend, daß in der letzten Nummer der
Prinzessin von Kagran nach der Begegnung mit wichtigsten österreichischen Literaturzeitschrift
»dem Fremden« bekommen hatte, als Wissen um nach dem Krieg, im »Plan« (6, 1948), siebzehn
den Holocaust thematisiert. »Sie lächelte aber Gedichte von Paul Celan erschienen, und daß
und lallte im Fieber: Ich weiß ja, ich weiß!« (TKA Celans poetologische Reflexion über die Sprache
3.1, 357) Dieses Wissen, das dem »zweite[n] nach der Shoa zum erstenmal in Wien in einem
Gesicht« sich ›verdankt‹, steht bereits in Die Beitrag über Edgar Jené veröffentlicht wurde:
gestundete Zeit hinter der hermetischen Schreib- Edgar Jené und der Traum vom Traume (Celan,
weise und ergibt jene Aufspaltung des Sinns in Bd. 3, S. 155–161). Ilse Aichinger gehörte 1946
mehrere Lesarten selbst dort, wo die Texte auf mit ihrem Aufruf zum Mißtrauen gegen den erin-
den ersten Blick entweder der Tradition oder den nerungslosen Wiederaufbau und gegen den blin-
zeittypischen Ausdrucksformen und Motivkom- den Rekonstruktionswillen ebenfalls zu den
plexen am direktesten zu folgen scheinen. »Plan«-Autoren. Ihr Roman Die größere Hoff-
nung (1948) wurde das einzige Werk der un-
mittelbaren Nachkriegszeit, das über die Grenzen
Die gestundete Zeit 61

des Landes hinaus und zugleich auf die zeit- für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
genössische Literatur in Wien wirkte, vor allem und die Nichtachtung
auf Ingeborg Bachmann. Gleich im ersten Ge- jeglichen Befehls. (W 1, 46)
dicht von Die gestundete Zeit, in Ausfahrt, ist als
Subtext das erste Kapitel von Aichingers Roman Das Bild des Sterns der Hoffnung begegnete
auszumachen: der Fluchttraum von Aichingers ebenfalls schon in Ilse Aichingers Die größere
kindlicher Romanheldin, die auf einem Schiff aus Hoffnung, und zwar im letzten Satz des Romans:
dem nationalsozialistisch besetzten Europa fort »Über den umkämpften Brücken stand der Mor-
möchte. Die Verbindung von Aufbruch und ein- genstern.« (Aichinger, S. 269) Und mit einem
brechender Dunkelheit bestimmt die Bildlichkeit Stern-Bild aus Paul Celans Gedicht Engführung
der ersten Romanseiten. »Die Dunkelheit landete schloß Bachmann ihre Vorlesung über Gedichte:
und bewegte sich langsam gegen Norden. […] »›[…] Ein / Stern / hat wohl noch Licht. / Nichts,
Die Dunkelheit war in die Häfen von Europa / nichts ist verloren« (W 4, 216). Durch die
eingelaufen.« (Aichinger, S. 9) Von ihr hebt sich jeweils ersten Gedichte der drei Gedichtgruppen
der Aufbruchswunsch des Mädchens Ellen als in Die gestundete Zeit – Ausfahrt (I), Sterne im
»ein weißes Papierschiff mit einem breiten Segel« März (II), Die Brücken (III) – hat die Autorin den
ab (ebd.). Der Zynismus des Konsularbeamten, auch bei Aichinger und Celan thematischen Zei-
bei dem das jüdische Kind wegen eines Visums chen Ausfahrt, Stern und Brücke einen exponier-
vorstellig wurde, wird im Roman utopisch ge- ten Text-Ort zugewiesen.
wendet in die paradoxe Figur eines existentiali-
stischen dépassement: »›Wer sich nicht selbst das
Die Entdeckung des »Drucks der Geschichte«
Visum gibt‹, sagte der Konsul, ›der kann um die
(Jean-Paul Sartre)
ganze Welt fahren und kommt doch nie hin-
über‹.« (ebd., S. 20) Vermessener Selbstentwurf In Bachmanns Gedicht Alle Tage zeichnet der
in die Zukunft und das Bewußtsein der geschlos- Stern der Hoffnung eine heroische Politik des
senen Grenzen, Aufbruch angesichts ungangba- Widerstands aus. Sie ermöglicht menschliche
rer Wege, Sehen in der Dunkelheit, Utopismus Solidarität und bedeutet die Durchkreuzung der
und Illusionslosigkeit, es sind die Motive, die militärischen Logik und die Desertion aus dem
auch aus dem ersten Gedichtband Ingeborg Bach- »Alle Tage« des kriegerischen Ausnahmezu-
manns nicht wegzudenken sind: »gegen den un- stands. Peter Rühmkorf hat auf diesen »seltsa-
verrückbaren Himmel zu stehen, / der ungang- men, aus der Art geschlagenen Heroismus« und
baren Wasser nicht zu achten / und das Schiff auf dessen eigentümliches lyrisches »Pathos« bei
über die Wellen zu heben, / auf das immer- Ingeborg Bachmann hingewiesen (Rühmkorf,
wiederkehrende Sonnenufer zu« (Ausfahrt; W 1, S. 15), eine Haltung, die an den französischen
29). Sehen wird verlangt angesichts der zuneh- Existenzialismus als die Philosophie der rési-
menden Aussichtslosigkeit: »Die erste Welle der stance denken läßt. So lassen sich die Gedichte
Nacht schlägt ans Ufer, / die zweite erreicht schon verstehen als eine Hommage an den nur ein paar
dich«; der »Himmel«, gegen den man »zu stehen« Jahre zurückliegenden Widerstand gegen das
hat, ist »unverrückbar«, die »Wasser« sind un- NS-Regime, eine Hommage, die in den politi-
gangbar, und das »Sonnenufer« kehrt nur deshalb schen Nachkriegsverhältnissen Österreichs und
immer wieder, weil es sich immer wieder ent- Deutschlands alles andere als selbstverständlich
fernt. war, viel eher selber eine Form des Widerstands
In Alle Tage, neben dem Titelgedicht eines der darstellte. In der résistance »stand jeder Mensch
bekanntesten Gedichte in Die gestundete Zeit, in einer äußersten, auf letzte Entscheidung an-
wird diese heroische Position des einsamen Wi- gelegten Situation« (Jean Améry 1958, S. 28),
derstands ausgezeichnet mit dem »armselige[n] und die Literatur danach beanspruchte diese ex-
Stern / der Hoffnung über dem Herzen« – ponierte Situation des Ich für ihren weit weniger
heroischen Widerstand gegen die restaurative
[…] verliehen Prosa der frühen 1950er Jahre. »Literatur der
für die Flucht vor den Fahnen, äußersten Situation« hat Jean-Paul Sartre 1947
für die Tapferkeit vor dem Freund, die existenzialistische Literatur genannt. Sie sei
62 II. Das Werk

von »den Verhältnissen dazu gezwungen« wor- Zeit-Grammatik – Kriegs- und Angstbilder
den, »den Druck der Geschichte zu entdecken«
(Sartre, S. 131). Es ist dieser »Druck der Ge- Die charakteristische grammatische Gestik des
schichte«, der in den ›Ausdrucksformen‹ und ›noch‹ und ›schon‹, die Bildfelder der gestunde-
›Motivkomplexen‹ der Lyrik der Nachkriegslite- ten Zeit oder der in die Zukunft sich verlän-
ratur nun im nachhinein als ihr Thema entdeckt gernden Katastrophe bilden das zeitgeschicht-
wurde. liche Bedeutungszentrum in der westdeutschen
Als Bachmann in den Frankfurter Vorlesungen und österreichischen Literatur der frühen 1950er
1959/60 anhand eines Nachkriegsgedichts von Jahre. Zwischen den Kriegen hieß ein Lyrikband
Günter Eich über zeitgenössische Lyrik sprach, Werner Riegels, von dem Peter Rühmkorf be-
verwendete sie eine Terminologie, die bewußt merkte, daß er wie andere »junge Poeten der
auf die gesellschaftliche und geschichtliche Situa- Jahre 1952/53« »auf der Schneide der Zeit […]
tion des Ich in den Gedichten zielte. Es ging ihr Stellung bezogen« hat und »ganz auf das gefähr-
um die »Konzeption«, die durch das Werk »er- dete Intervall Gegenwart ausgerichtet« ist
scheint«, um den »Anspruch« und um »die Posi- (Rühmkorf, S. 14).
tion«. Sie will den gesellschaftlichen »Ort« be- In Bachmanns Gedichten ist die gestundete
stimmen, »von dem aus gesprochen wird«: »ein Zeit nicht nur Thema, sondern sprachliches Bild
Ort, an dem es nicht geheuer ist, und das Wach- und rhythmischer Gestus. Die Natur erscheint als
bleiben erschwert wird, dem, der wachen muß, geschichtliches Gelände, auf das ein wacher, gei-
kann, will« (W 4, 203). Die Welt wird von ihm stesgegenwärtiger Blick fällt. Dieser strategische
»befragt, aber nicht überfragt. Überfragt ist nur Blick auf die geschichtliche Situation verbindet
dieses Ich, verfolgt, gewarnt und gebeten, War- sich mit der existenzialistischen Unbedingtheit
nungen weiter zu melden.« (ebd.) Diese knappen des allein auf sich selbst gestellten Handelns.
Sätze zu Günter Eichs Gedicht Betrachtet die Unverwechselbar der Beginn des Titelgedichts:
Fingerspitzen charakterisieren auch das lyrische »Es kommen härtere Tage. / Die auf Widerruf
Sprechen unter dem »Druck der Geschichte« gestundete Zeit / wird sichtbar am Horizont. /
(Sartre) in Die gestundete Zeit: »Aber wenn du Bald mußt du […]« (W 1, 37), oder die ersten
scharf hinüberschaust, / kannst du den Baum Verse des ersten Gedichts im Lyrikband: »Vom
noch sehen, / der trotzig den Arm hebt« (Aus- Lande steigt Rauch auf. / Die kleine Fischerhütte
fahrt; W 1, 29); »Ich wollte nicht gesehen wer- behalt im Aug, / denn die Sonne wird sinken, /
den« (Abschied von England; W 1, 30); »Dein ehe du zehn Meilen zurückgelegt hast.« (W 1,
Blick spurt im Nebel« (Die gestundete Zeit; W 1, 28)
37); »Seht zu, daß ihr wachbleibt!« (Holz und Steuermann (Ausfahrt) oder Pilot (Nachtflug)
Späne; W 1, 40) sind im Lyrikband Die gestundete Zeit Imagines
Die zeitgeschichtliche Bedrohung ist in vielen für den Blick, der auf Orientierung im Zeit-Ge-
Gedichten an der Verschränkung von Zeit- und lände zielt, die Zeichen der geschichtlichen Be-
Todesbildern ablesbar, an den Bildern von Auf- schädigung ins Auge faßt – und doch nicht die
bruch, gleichzeitigem Dunkelwerden und bevor- Spuren der Hoffnung in der Nachkriegsland-
stehendem Untergang. Der Aufbruch auf die In- schaft übersieht. Strategische Analyse und Dra-
seln im Gedicht Salz und Brot wird eingeholt matik der Zeiterfahrung sind in vielen Gedichten
vom Wissen, »daß wir des Kontinentes Gefan- mit Bildern des drohenden oder bereits fortge-
gene bleiben / und seinen Kränkungen wieder setzten Kriegs verschränkt. Im ›noch‹ des Auf-
verfallen« (W 1, 57). Und »auf die Lippen der bruchs aus den Schrecken der Vergangenheit
Galionsfiguren« tritt in Die große Fracht noch vor wird ›schon‹ die neue Bedrohung sichtbar.
der Ausfahrt des »Sonnenschiff[s]«, das mit der Kriegs- und Todesbilder kommentieren Ausfahrt
»große[n] Fracht des Sommers« beladen ist, »un- und Aufbruch zu neuen Ufern. Der Aufbruch auf
verhüllt das Lächeln der Lemuren« (W 1, 34). die Inseln in Salz und Brot wird eingeholt vom
Mit Alle Tage ist der alltägliche Krieg gemeint, Wissen, »daß wir des Kontinentes Gefangene
der »nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt« bleiben / und seinen Kränkungen wieder ver-
wird (W 1, 46). fallen« (W 1, 57). »Herbstmanöver der Zeit« ist
eine der Genitivmetaphern, welche die Erfah-
Die gestundete Zeit 63

rung, vor einem neuen Krieg zu stehen, anspre- wagt’s, den Silberstreifen zu deuten: seht,
chen und die touristischen Reisen – »Laßt uns über mir …
eine Reise tun!« – als illusionäre Fluchtwege aus Wenn das Wasser von neuem ins Mühlrad
den Forderungen der Gegenwart und der Vergan- greift,
genheit apostrophieren: wer wagt’s, sich der Nacht zu erinnern?
(W 1, 52 f.)
Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber
unrecht, In Ausfahrt kommt der Blick vom ausfahrenden
mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Schiff nicht los von den »Ungeheuer[n] des
Hause. Meers«, die »mit blanken Säbeln die Tage in
Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich Stücke« »schlagen«, so daß »eine rote Spur« im
mich wieder Wasser zurückbleibt: »dort legt dich der Schlaf
auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver hin, / auf den Rest deiner Stunden, / und dir
der Zeit. schwinden die Sinne« (W 1, 29). Eine sprachliche
(Herbstmanöver; W 1, 36) Bedeutungsnuance weist auf die Todesnähe die-
Das Bewußtsein, »zwischen zwei Kriegen [zu] ser Erinnerungen, wenn das Ich sich »auf den
leben«, und daß der »nächste Krieg unmittelbar Rest« seiner »Stunden« der »roten Spur« über-
vor der Tür steht« (Rühmkorf, zitiert nach Eggert, antwortet.
S. 179), bestimmt die grammatische Struktur und Man kann den gefährlichen Ort des unbewuß-
Metaphorik vieler literarischer Texte der frühen ten Gedächtnisses als Voraussetzung des Schrei-
1950er Jahre. »Choreographie des politischen bens nach 1945 verstehen. Gegenüber der Fas-
Augenblicks« hat Alfred Andersch damals diese sung in »Stimmen der Gegenwart« (1952 erschie-
für die Romanprosa wie für die Lyrik gleicher- nen, aber bereits im Herbst 1951 fertiggestellt) –
weise bezeichnende Erfahrung einer gestundeten »dort legt dich der Schlaf hin, / zwischen Proteus
Zeit genannt (Andersch, S. 32). Die »Zeit war und Glaukos, die Najaden treffen / mit kaltem
kostbar«, heißt es in einer der vielen Zeitre- Strahl deine Brust / und dir schwinden die
flexionen in Wolfgang Koeppens Roman Tauben Sinne« (»Stimmen der Gegenwart« 1952, S. 49) –
im Gras, »sie war eine Atempause auf dem werden in der Fassung für Die gestundete Zeit die
Schlachtfeld, und man hatte noch nicht richtig mythologischen Figuren ins Unbestimmbare zu-
Atem geholt, wieder wurde gerüstet […] es gab rückgenommen; die Todesdrohung entspringt
noch Hoffnung in der Welt: ›Vorsichtige Fühler, dem Ort und dem Inhalt des Traumgedächtnisses
kein Krieg vor dem Herbst‹ […] Der Tod treibt selber. Auf ähnliche Weise belegen die Entste-
Manöverspiele.« (Koeppen, S. 234) hungsvarianten zu Früher Mittag die sprachliche
Arbeit der mühsamen Ausformung des Gedächt-
nisdiskurses, bei dem sich – nicht zufällig – in
Traumatische Erinnerung einigen Entstehungsvarianten eine besondere
Gedichte wie Nachtflug oder Ausfahrt reflektie- Nähe zu Dunkles zu sagen herstellt, dem Gedicht,
ren die Situation des Schreibens nach dem Krieg: das den Dialog mit der Lyrik Paul Celans am
sich den traumatischen Erfahrungen der Vergan- genauesten nachvollziehen läßt:
genheit aussetzen müssen und sich trotzdem Sieben Jahre später ist vieles vergessen,
nicht vor dem utopischen Horizont des Neube- und was der Wind nicht vergibt
ginns verschließen. So heißt es in Nachtflug: allein die Zeit ist verletzt von Worten und
Unser Acker ist der Himmel, Schweigen
im Schweiß der Motoren bestellt, und du erinnerst dich nicht, nur an der
angesichts der Nacht, Wimper die fällt
unter Einsatz des Traums – siehst du den Schatten (N391)

geträumt auf Schädelstätten und Scheiter- In der Druckfassung wird in der Formensprache
haufen, des romantischen und klassischen deutschen
[…] Lieds (Am Brunnen vor dem Tore, Der König in
Wer, wenn der Morgen kommt, Thule) ein Ausdruck gefunden, der die Tradition
64 II. Das Werk

lyrischen Sprechens unter den Bedingungen des imaginiere träumerisch uneingelöste Verspre-
Traditionsbruchs nach 1945 thematisiert: chen und bekenne sich zur Utopie des Noch-nie-
Dagewesenen. So repräsentiere es den Text einer
Sieben Jahre später
»urbanen Zivilisation, welche sich selber nicht
fällt es dir wieder ein,
negiert und aufs Land flüchtet, sondern ihre ei-
am Brunnen vor dem Tore,
gene Geschichte bedenkt«. Der moderne Text
blick nicht zu tief hinein,
einer Stadtlandschaft manifestiere sich im
die Augen gehen dir über.
sprachlichen Bewußtsein, im geistesgegenwär-
Sieben Jahre später, tigen Verfügen über kulturelle Assoziationen
in einem Totenhaus, durch Zitat, Anspielung und kritische Neuakzen-
trinken die Henker von gestern tuierung der Traditionen der österreichischen
den goldenen Becher aus. Moderne, etwa in der intertextuellen Beziehung
Die Augen täten dir sinken. (W 1, 44) zu Hugo von Hofmannsthals Terzinen, Ludwig
Wittgensteins »Tractatus« oder Robert Musils
Konzept einer »taghellen Mystik« (Lengauer,
Melancholischer Blick und moderne Allegorie
S. 121 f.). Ähnlich versteht Hermann Dorowin
Brecht unterstrich diese beiden mittleren Stro- den melancholischen Blick in Große Landschaft
phen in Bachmanns Gedicht Früher Mittag, als er bei Wien nicht einfach als kakanische Trauer »um
an einem Nachmittag, Spätsommer oder Herbst das, was war«, wenn er im allzu geläufigen Topos
1954, Bachmanns Gedichtband Die gestundete – »›Schauplatz vielvölkriger Trauer‹« – das ver-
Zeit las. »Daß diese zwei Reimstrophen nur als teidigt, »was vielleicht hätte sein können: ein
Kontrapunkt gesetzt waren in dem als Fuge kom- anderes, herrschaftsfreies, symbiotisches Zusam-
ponierten, verschiedene thematische und literari- menleben all dieser Völker«. Das habe nicht nur
sche Motive zueinander- und gegeneinanderfüh- »mit Joseph Roth viel zu tun, mit seiner radikalen
renden, zumeist freirhythmisch gesprochenen Verurteilung der wachsenden ›deutschen‹ Hege-
Gedicht, kümmerte den beim Lesen urteilenden monie in den letzten Jahren der Habsburger-
Brecht, scheint’s gar nicht«, bemerkte Gerhard monarchie, die jene andere mögliche, vielleicht
Wolf in einem Gespräch mit Käthe Reichel, die utopische Entwicklung verhinderte«, sondern es
den Gedichtband 1954 aus Westdeutschland mit- lasse auch an Walter Benjamin denken, »der ja
gebracht hatte (G. Wolf, S. 174). Die beiden Stro- mit Hofmannsthal den melancholischen Blick auf
phen wurden in die neue Brecht-Ausgabe als die Geschichte teilte, aber mit Brecht und Korsch
Brecht-Gedicht aufgenommen (Brecht, S. 280). die Suche nach dem nüchternen Neuen, das die
Sie lesen sich nun, wie andere aus Die gestundete Rettung bringen mußte« (Dorowin, zitiert nach
Zeit übernommene Verse, wie Brecht-Gedichte – Höller 2000, S. 362).
und sind trotzdem Ergebnis einer fragwürdigen In Früher Mittag – »Wo Deutschlands Himmel
Form editorischer Ausübung von Autorschaft. die Erde schwärzt, / sucht sein enthaupteter En-
Bezeichnenderweise hat Brecht den lyrischen Er- gel ein Grab für den Haß / und reicht dir die
innerungsdiskurs und die nachdenkliche Ver- Schüssel des Herzens« (W 1, 44) – ist die Nähe
schränkung von Natur und Geschichte nicht über- der Bilder zu Walter Benjamins Allegorie-Begriff
nommen, denn anders als bei Brecht erhalten die am offensichtlichsten: Allegorie, verstanden als
Bilder der Geschichtslandschaften in Früher Mit- Ausdruck der »Geschichte in allem was sie Un-
tag und in den andern Gedichten im Lyrikband zeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an
Die gestundete Zeit immer wieder allegorischen hat« (Benjamin, S. 183). In Psalm weist die alle-
Sinnbildcharakter. gorische Darstellung der »Geschichte als Lei-
Das umfangreichste Gedicht des Bandes, densgeschichte der Welt«, wie sie Benjamin in
Große Landschaft bei Wien, aus dem Brecht nur seinem Trauerspiel-Buch entdeckt hat, sogar zu-
knappe vier Verse zitiert, läßt sich, wie Hubert rück auf ihre christlich-theologische Herkunft:
Lengauer gezeigt hat, als Evokation einer Stadt- »Zur Ansicht hängt karfreitags eine Hand / am
landschaft als Gedächtnisraum lesen. In Ton und Firmament, zwei Finger fehlen ihr, / sie kann
Bildlichkeit dem Erhabenen nahe, bedenke das nicht schwören, daß alles, / alles nichts gewesen
Gedicht die Zeichen und Spuren der Geschichte, sei und nichts / sein wird« (W 1, 54), und der
Die gestundete Zeit 65

enthauptete Engel Deutschlands erscheint wie dekretiert. »Ein Toter bin ich der wandelt« (W 1,
eine Postfiguration von Benjamins allegorischem 153), ist der erste Vers in Exil; »Wie Orpheus
Engel, dem die Geschichte als Trümmerfeld vor spiel ich« (W 1, 32) der erste Vers in Dunkles zu
Augen liegt. Der im Gedicht mit »Du« ange- sagen. Die Verse »Drüben versinkt dir die Ge-
sprochene Einzelne sollte den Haß begraben und liebte im Sand« und »er findet sie sterblich / und
der Hoffnung, die »erblindet im Licht« des Mit- willig dem Abschied / nach jeder Umarmung« (W
tags »kauert«, aufhelfen (W 1, 45). 1, 37) sind im Titelgedicht Die gestundete Zeit die
Das historisch Fällige, Trauerarbeit als Einge- Rahmenverse der zweiten Strophe. Die dritte
denken und Erhellen der Vergangenheit im Wort, Strophe setzt ein mit der den Orpheus-Mythos
wird, wie im Myschkin-Monolog, als schwieriger zitierenden Aufforderung an das Du, sich nicht
(hermetischer) Prozeß der Verwandlung vorge- nach der Frau hinter seinem Rücken umzusehen:
führt: die Wolke über der Trümmerstätte »Sieh dich nicht um« (W 1, 37).
Deutschlands sucht »nach Worten«, Sprache hat Die zutiefst problematische Seite einer Autor-
durch das Schweigen hindurchzugehen, bis sie schaft, bei der die Frau zum Verstummen ge-
im »schütteren Regen« zu vernehmen ist, ein bracht wird und untergeht – »er fällt ihr ins Wort,
Prozeß des Eingedenkens und der Veränderung, / er befiehlt ihr zu schweigen« (Die gestundete
der unter dem zeitlichen Index des ›beinah schon Zeit; W 1, 37, Hervorhebung H. H.) – gehört für
wieder zu spät‹ steht – »schon ist Mittag«: Ingeborg Bachmann zu den frühen prägenden
Erfahrungen, auf die sie in Malina, der Ouver-
Wo Deutschlands Erde den Himmel schwärzt, ture der geplanten Todesarten, wieder zurück-
sucht die Wolke nach Worten und füllt den gekommen ist: »Für mich ist das eine der äl-
Krater mit Schweigen, testen, wenn auch fast verschütteten Erinnerun-
eh sie der Sommer im schütteren Regen gen: daß ich immer gewußt habe, ich muß dieses
vernimmt. Buch schreiben – schon sehr früh, noch während
Das Unsägliche geht, leise gesagt, übers ich Gedichte geschrieben habe. […] Daß ich nur
Land: von einer männlichen Position aus erzählen kann.
schon ist Mittag. (W 1, 45) Aber ich habe mich oft gefragt: warum eigent-
lich? Ich habe es nicht verstanden, auch in den
In dem viel später entstandenen Gedicht Exil Erzählungen nicht, warum ich so oft das männ-
wird das Bild der dunklen Wolke als Sprach-Ort liche Ich nehmen mußte.« (GuI, 99 f.) Die Ge-
und Schreib-Exil des Ich im Post-Holocaust auf- dichte von Die gestundete Zeit sind in diesem
gegriffen: Das Autor-Ich als »Toter«, »der wan- Sinn Todesarten-Texte, lyrisch-allegorische Sze-
delt«; um sich herum die deutsche Sprache als nen von der Todesart der Frau im Schreiben und
»Wolke«, in der ›er‹, der Tote, »durch alle Spra- von der »Rolle des Toten im Schreib-Spiel«. Das
chen« treibt: »O wie sie sich verfinstert / die »Schreiben ist heute«, meinte Michel Foucault in
dunklen die Regentöne / nur die wenigen fallen«. »Was ist ein Autor?«, »an das Opfer gebunden,
Den »Toten« trägt die Wolke dann in »hellere selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige
Zonen« »hinauf« (W 1, 153). Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt
werden soll, da es im Leben des Schriftstellers
selbst sich vollzieht« (Foucault, S. 204). Bach-
Autorschaft und Tod des weiblichen Ich
mann aber stellte die Frage: »warum eigent-
Schreiben wird seit der frühen Lyrik Ingeborg lich?«, und sie wollte jenes nicht ganz so »frei-
Bachmanns mit Dunkelheit und Tod verknüpft. willige Auslöschen« sowohl in ihren Gedichten
»Der dunkle Schatten, / dem ich schon seit An- wie in ihrem »Buch Malina« nicht als etwas
fang folge / führt mich in tiefe Wintereinsam- Selbstverständliches und Geschichtsloses hin-
keiten«, heißt es schon im Gedicht Ängste aus nehmen, sondern sah den Tod in der Literatur als
dem Dezember 1945 (N6188, zitiert nach Höller Teil von Gewalt und Krieg.
1999, S. 38). Dunkelheit und Tod im literarischen Einem Feldherrn nennt sie ihre dezidierteste
Werk tragen männliche Vorzeichen: »herren- poetologische Bestimmung des »starken Dich-
gleich« wird in Ängste die Forderung der literari- ters« (Harold Bloom) als männliche Imago. Er ist
schen Vorgänger im Reich der dunklen Schatten der heroische Vorfahre der Figur Malina, der im
66 II. Das Werk

Roman Schriftsteller ist und Angestellter im Hee- Wirf die Fische ins Meer.
resgeschichtlichen Museum, das Gegenüber des Lösch die Lupinen!
weiblichen Ich in dem »Buch«, das die Autorin
Es kommen härtere Tage. (W 1, 37)
schon beschäftigte, »noch während« sie »Ge-
dichte schrieb«. Er repräsentiert das gefährliche »In ihrem Roman ›Malina‹ läßt Ingeborg Bach-
»Geschäft« (W 1, 47) des Schreibens und die mann die Frau am Ende in der Wand verschwin-
Voraussetzungen des literarischen Ruhms in ei- den und den Mann, Malina, der ein Stück von ihr
ner Geschichte des kriegerischen Ausnahmezu- ist, gelassen aussprechen, was der Fall ist: Hier
stands. Apodiktischer als in anderen Gedichten ist keine Frau. Es war Mord, heißt der letzte Satz.
wird hier das Gesetz des Kampfes als das »grau- / Es war auch Selbstmord«, so hat Christa Wolf
same Gesetz« des Schreibens definiert. Es be- den Schluß des Romans Malina kommentiert (C.
deutet für den Dichter, nicht mehr auf die literari- Wolf, S. 149). Ein Kommentar, der genauso für
schen Vorgänger zu setzen, sondern selber ein- das Gedicht gilt, wenn man »Wand« durch »Sand«
zustehen, sich selbst auszusetzen, »mit einem ersetzt. In Die gestundete Zeit sind es die härteren
ungeheuren Zweifel« nicht mehr die »Waffen«, Zeitverhältnisse, welche die männliche Haltung
die ihm zufielen, »und Früchte aus Gärten, / die und den Mord am weiblichen Alter Ego erzwin-
ein andrer bebaute«, für sich zu beanspruchen. gen.
Anstelle der epigonalen Nachfolge wird vom an- Die Ratschläge in Bertolt Brechts Verwisch die
gesprochenen Du verlangt, daß es in die Tiefen Spuren im Lesebuch für Städtebewohner stehen
fällt – »Du wirst fallen / vom Berg ins Tal« –, daß unverkennbar hinter den Anweisungen an das
es »auf den Grund« geht und »in die Bergwerke »du« in Die gestundete Zeit, sie sind aber nur ein
des Traums« – »Zuletzt aber in das Feuer. // Dort Element in der polyphonen Dialogizität des Ge-
reicht dir der Lorbeer ein Blatt.« (W 1, 48) Unver- dichts. Der allegorische Zeitbezug – die »am
loren sein im Reich der Literatur ist in dieser Horizont« »sichtbar« werdende »gestundete Zeit«
tödlichen Logik nur durch das Zugrundegehen – erinnert an Wendungen aus Martin Heideggers
und Zugrunde-gerichtet-werden erreichbar. »Sein und Zeit«, »die gezählte Zeit« bei Ari-
stoteles, von der Heidegger schreibt, oder die
Offenbarung der »Zeit selbst als Horizont des
Todesarten-Gedichte
Seins« (Dorowin, S. 100 f.). Die Aufforderung
Die lyrischen Selbstentwürfe in den Imagines des »Sieh dich nicht um« geht nicht auf in der Bezie-
Soldaten (Einem Feldherrn), des Steuermanns hung auf den alten Orpheus-Mythos, sondern ist
(Ausfahrt), des Piloten (Nachtflug), des Orpheus zugleich dessen neue Version unter den Bedin-
(Dunkles zu sagen), des Fürsten Myschkin im gungen der Kälte der zeitgeschichtlichen Mo-
Monolog oder in der Anspielung auf Orpheus und derne und im Bewußtsein des Dramas der Ge-
Odysseus in Die gestundete Zeit – »Sieh dich nicht schlechter. Das »Sieh dich nicht um« kennt das
um. / […] Jag die Hunde zurück« – sind männ- dreizehnte Sonett im zweiten Teil von Rilkes Die
lich konturiert. Die weibliche Stimme oder das Sonette an Orpheus (1922), wo Dichten begriffen
Verlangen nach Liebe werden höchstens, wie im wird als vorweggenommener Abschied vom Le-
Titelgedicht, als etwas Untergehendes und Ver- bendigen: »Sei allem Abschied voran, als wäre er
lorenes erinnert: hinter / dir«. Das Bild des Winters steht dort für
das ›Überwintern‹ des Lebens im überdauernden
Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
Werk: »Denn unter Wintern ist einer so endlos
er steigt um ihr wehendes Haar,
Winter, / daß, überwinternd, dein Herz über-
er fällt ihr ins Wort,
haupt übersteht.« Im »reinen Bezug« des Werks,
er befiehlt ihr zu schweigen,
wenn man will, in seiner polyphonen Textgestalt,
er findet sie sterblich
nimmt sich das schreibende Ich zurück und ge-
und willig dem Abschied
horcht darin dem Gesetz des Orpheus: »Sei im-
nach jeder Umarmung.
mer tot in Eurydike –, singender steige, / prei-
Sieh dich nicht um. sender steige zurück in den reinen Bezug.«
Schnür deinen Schuh. (Rilke, S. 79) ›Nur‹ daß sich Bachmanns Ge-
Jag die Hunde zurück. dichte nicht abfinden mit dem Tot-Sein in Eury-
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 67

dike und dem »reinen Bezug« im Werk. Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik. (Hg.)
Todesarten-Romane werden dann aus der Per- Justus Fetscher, Eberhard Lämmert, Justus Schulte.
Würzburg, S. 177–187; – Michel Foucault (2000): Was
spektive ›der Geliebten‹, die als Opfer auf dem
ist ein Autor? [1969]. In: Texte zur Theorie der Autor-
Mordschauplatz zurückbleibt, erzählen. Aber schaft. (Hg.) Fotis Jannidis u. a. Stuttgart, S. 198–232; –
schon im Gedicht wird die Verschwundene in das Hans Höller (2000): Große Landschaft bei Wien. Erin-
Gedächtnis des Textes eingeschrieben. Was in nerung an einen freundschaftlichen Dialog aus dem
Das Buch Franza von der steinernen Königin- letzten Jahrhundert. In: Dichtung und Politik. Vom Text
nenfigur gesagt wird, die ein Nachfolger aus den zum politisch-sozialen Kontext und zurück. (Hg.) Os-
wald Panagl, Walter Weiss. Wien, Köln, Graz; – Walter
Mauern eines ägyptischen Tempels herausschla-
Jens (1961): Deutsche Literaturgeschichte der Gegen-
gen ließ, gilt auch für die ›Text-Fläche‹ des Ge- wart. München; – Françoise J ér ôme (1998): Das Selbst-
dichts: »er [Tuthmosis, H. H.] hat vergessen, daß gespräch des Dichters. Ingeborg Bachmanns Monolog
an der Stelle, wo er sie getilgt hat, doch sie stehen des Fürsten Myschkin als poetologischer Entwurf. Diss.
geblieben ist. Sie ist abzulesen, weil da nichts ist, (masch.) Université de Liège; – Hubert Lengauer
wo sie sein soll.« (TKA 2, 274) (2000): Stadt-Vedute und Ich-Geschichte. Ingeborg
Bachmanns Große Landschaft bei Wien. In: Kucher/
Der Roman wie das Gedicht sind Gedächtnis-
Reitani (2000), S. 121–135; – Peter Rühmkorf (1973):
Texte, die uns dazu anleiten, in den Bildern und Das lyrische Weltbild der Nachkriegsdeutschen [1960].
Tropen der Literatur die Kultur der Gewalt und In: Geschichte der deutschen Literatur aus Methoden –
der Verdrängung zu entziffern. Westdeutsche Literatur von 1945–1971, Bd. 2. Frank-
furt/M., S. 1–27; – Gerhard Wolf (1982): An einem
Quellen: Ilse Aichinger (1991): Die größere Hoffnung. kleinen Nachmittag. Brecht liest Bachmann. In: Höller
Roman. Frankfurt/M. (= Ilse Aichinger: Werke in acht (1982), S. 125–172.
Bänden); – Walter Benjamin (1969): Ursprung des Hans Höller
deutschen Trauerspiels. Frankfurt/M.; – Ingeborg
Bachmann (1953): Die gestundete Zeit. Gedichte.
Frankfurt/M. (= studio frankfurt. Eine Buchreihe der
Frankfurter Verlagsanstalt. [Hg.] Alfred Andersch); – 2.3. Anrufung des Großen Bären
Bertolt Brecht (1993): Gedichte, Bd. 5. Berlin, Weimar, und Gedichte aus dem Umfeld
Frankfurt/M. (= Große kommentierte Berliner und
Frankfurter Ausgabe, Bd. 15); – Paul Celan (2000): Edition und Rezeption
Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 3. Frankfurt/
M.; – Wolfgang Koeppen (1969): Tauben im Gras Im Herbst 1956 veröffentlicht Ingeborg Bach-
[1951]. In: Koeppen: Tauben im Gras. Das Treibhaus. mann ihren zweiten Gedichtband Anrufung des
Der Tod in Rom. Stuttgart; – Rainer Maria Rilke (1974):
Großen Bären im Piper-Verlag (München). Er
Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus. Frankfurt/
M.; – Jean-Paul Sartre (1958): Die Situation des wird 1957 mit dem Bremer Literaturpreis ge-
Schriftstellers im Jahre 1947. In: Sartre: Was ist Lite- würdigt. Die in diesem Band versammelten Ge-
ratur? Reinbek bei Hamburg; – Christa Wolf (1983): dichte sind in den Jahren 1954–56 entstanden,
Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frank- nach Bachmanns Aufbruch nach Italien, wo sie
furter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt und Neuwied. sich von 1953 bis 1956 zwischen Neapel, Ischia
Literatur: Bareiss/Ohloff (1978); Böschenstein/Weigel und Rom aufhält. In diesen Zeitraum fallen
(1997); Gehle (1995); Grell (1995); Höller (1987); Höl- ebenso die Konzeption des Hörspiels Der gute
ler (1999); Kucher/Reitani (2000); Oelmann (1980); Gott von Manhattan (1958) wie auch die ersten
Stoll (1991); Weigel (1999). Entwürfe der Erzählungen Das dreißigste Jahr
Jean Améry (1961): Geburt der Gegenwart. Gestalten (1961). Mit der Hinwendung zur Prosa erschei-
und Gestaltungen der westlichen Zivilisation seit
nen in den darauffolgenden Jahren bis 1961 nur
Kriegsende. Olten und Freiburg/Br.; – Alfred Andersch
(1979): Choreographie des politischen Augenblicks. noch vereinzelt Gedichte im Druck, fünf 1957 in
(Rez.) Wolfgang Koeppen, Der Tod in Rom [1954]. In: der italienischen Zeitschrift »Botteghe Oscure«,
Andersch: Ein neuer Scheiterhaufen für alte Ketzer. zwei im »Jahresring 57/58«.
Kritiken und Rezensionen. Zürich 1979, S. 32; – Hel- Anders als Ingeborg Bachmanns erster Lyrik-
mut Böttiger (1996): Orte Paul Celans. Wien; – Her- band Die gestundete Zeit, der erst nach dem
mann Dorowin (2000): Die schwarzen Bilder der Inge-
»Spiegel«-Artikel vom August 1954 breitere Reso-
borg Bachmann. Ein Deutungsvorschlag zu Die gestun-
dete Zeit. In: Kucher/Reitani (2000), S. 96–108; – nanz fand, wird Anrufung des Großen Bären in
Hartmut Eggert (1991): Metaphern der Angst. Zur Ly- der Literaturkritik sofort emphatisch begrüßt.
rik der fünfziger Jahre (Eich/Bachmann). In: Die Durch die Rezensionen von Günter Blöcker, Sieg-
68 II. Das Werk

fried Unseld, Joachim Kaiser und Hans Egon tungsübergreifenden Problemkonstanten und
Holthusen avanciert Bachmann zum »Lyrik-Idol Verfahrensweisen. Unter Berücksichtigung der
der fünfziger Jahre« (Nardon, S. 120). Zeitsym- Werkgenese, der von Anfang an bestehenden
ptomatisch für die Nachkriegsjahre in Deutsch- Gleichzeitigkeit von Lyrik und Prosa im Schaffen
land wird die Abkehr von der Trümmerpoesie Ingeborg Bachmanns wird so auf die Kontinuität
und die Rückwendung auf traditionelle Elemente der Gedichtbände und des Romanprojekts auf-
der Lyrik gelobt: die Rückkehr zu Reim und merksam gemacht. Die Gedichte werden als To-
Metrik, das konventionelle Naturvokabular, die desarten-Texte gelesen (vgl. Höller 1999, S. 80).
Konzentration auf die Existentialien menschli- Im Kontext der historischen Dimension der Ge-
chen Daseins, die Hinwendung zum ›zeitlos Höl- dichte, die nun als »Geschichtslandschaften«
derlinschen‹, zum ›Urbildlich-Wahren‹ und zur (Höller 1987, S. 26) in den Blick geraten, wird
›reinen Poesie‹, wie es bei Holthusen und Unseld sowohl die geschlechtliche Codierung der lyri-
heißt (Holthusen, S. 37, 39; Unseld, S. 19). Die- schen Sprechweise thematisiert (Blau, S. 366ff.;
ser Tenor setzt sich in den Anfang der siebziger Bossinade, S. 194 f.), wie auch die Kategorie
Jahre entstehenden literaturwissenschaftlichen ›Rasse‹ in Bachmanns Lyrik, insbesondere im
Arbeiten zur Lyrik Ingeborg Bachmanns fort. Hinblick auf Harlem und Liebe: Dunkler Erdteil,
Auch hier wird das Wesensmerkmal der Bach- kritisch hinterfragt wird (Lennox 1998, S. 29 f.).
mannschen Gedichte mit der meist zitierten Ausgehend von Bachmanns Ritual-Begriff »als
Stelle aus der Anrufung auf die »schöne Sprache, neu erfüllter Inbegriff feierlicher Formeln« (TKA
/ im reinen Sein« (W 1, 92) in ahistorischer 3.1, 326; vgl. W 4, 192) sind Verfahren rituellen
Perspektive festgeschrieben (Angst-Hürlimann, Sprechens in der Lyrik (Huml 1999, S. 9–17)
Thiem 1972). Eine Ausnahme bildet die Disserta- ebenso ins Zentrum der Forschung gerückt wie
tion von Peter Fehl (1970), die den zeitbedingten solche der Intertextualität (Koch, S. 206–212; Šli-
gesellschaftskritischen Aspekt der Sprachhoff- bar, S. 200–206). Die sprachethische Dimension
nung und -kritik Ingeborg Bachmanns heraus- der Gedichte wird unter dem Vorzeichen der
streicht. Stärker poetologisch akzentuiert hat sich Performativität von Sprechakten analysiert
dieses Erkenntnisinteresse in den Arbeiten von (Burkart).
Ute Oelmann (1980) und Mechthild Oberle
(1990) fortgesetzt.
Zyklische Struktur und ›autobbiographische‹
Bleibt bis in die siebziger Jahre hinein in der
Wendung
Literaturkritik die Lyrik jener Maßstab, an dem
gemessen die Prosa Bachmanns pauschal abge- Der Gedichtband Anrufung des Großen Bären
wertet wird, so mehren sich in der zweiten Re- gliedert sich in vier Teile, wobei auffällig ist, daß
zeptionsphase kritische Stimmen, die sich von mit Von einem Land, einem Fluß und den Seen,
der vormaligen »Fragwürdigen Lobrednerei« Curriculum vitae – erkennt man die acht Stro-
(Conrady) distanzieren. Zum Teil in einfacher phen des Gedichts als selbständige Lieder an
Umkehrung wird nun der »bedauerliche Traditio- (Šlibar, S. 217) –, den Liedern von einer Insel und
nalismus von Ingeborg Bachmanns Lyrik« be- den Liedern auf der Flucht jedem dieser Teile ein
klagt (Görtz, S. 34), zum Teil wird aus der Per- Zyklus angehört. Dieses formale Indiz gibt einen
spektive der Todesarten heraus der lyrische Aus- Hinweis auf die Bedeutung des Zyklischen für die
druck als gesellschafts- und geschichtsblind und narrative Struktur des zweiten Lyrikbandes ins-
mithin als defizitär benannt (Svandrlik 1984, gesamt und kann mithin als Lektüreanweisung
S. 44ff.). gedeutet werden. Gegenüber der Gestundeten
Die sich in den achtziger Jahren entfaltende, Zeit lassen sich vor allem zwei Abgrenzungskrite-
vor allem durch die feministische und kultur- rien anführen, die sich wechselseitig bedingen:
wissenschaftliche Literaturbetrachtung geprägte zum einen die strengere Komposition in der An-
Neubewertung der Prosa wirkt mittlerweile auf ordnung der Gedichte, zum anderen die selbst-
das Verständnis der Lyrik zurück. Die von Bach- reflexive, ›autobiographische‹ Wendung des
mann ironisch abgelehnten »Branchenbezeich- zweiten Lyrikbandes (Svandrlik 1994, S. 28; Höl-
nungen« (GuI, 41) verlieren in der Forschung ler 1987, S. 42). Bereits Unseld hatte in seiner
zunehmend an Wertigkeit zugunsten von gat- Rezension bemerkt: »In der Ordnung des Buches
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 69

spiegelt sich ein allgemeines Curriculum vitae, (V) folgt in den Gedichten VI-VII die Beschrei-
eine Lebensbewegung von Anfang zu Ende, von bung der in ihrem Gewaltcharakter herausge-
Vorzeit zu Zukunft.« (Unseld, S. 16) stellten rituellen und kultischen Praxis mensch-
Die vier Gedichte des ersten Teiles formieren licher Zivilisation. Gegen diesen Befund »der
sich in dieser Hinsicht zu einer programmati- kalten neuen Zeit« (W 1, 87) stellt die in Par-
schen Exposition: Der Weg führt von der im enthese gesetzte poetologische Reflexion den U-
ersten Gedicht imaginierten Kindheit, die mit topos der »schönen Sprache« der Dichtung:
dem Titel Das Spiel ist aus als vergangene indi- »Beim Untergang des schönsten aller Länder /
ziert wird, zu Adoleszenz und Aufbruch aus der sind wir’s, die es als Traum nach innen ziehn.«
Heimat (Von einem Land, einem Fluß und den (W 1, 92) In der poetischen Erinnerung Von
Seen). Die nachfolgenden ›Anrufungen‹ führen einem Land, einem Fluß und den Seen, die topo-
zugleich die größte Gefahr auf dieser Wander- graphisch nach Kärnten, in die Heimat Ingeborg
schaft vor Augen, das mit der Anrufung des Gro- Bachmanns zurückkehrt (Šlibar, S. 207–210),
ßen Bären benannte, einer Formulierung des Si- wird Aufbruch und Heimkehr in der Utopie der
mone Weil-Essays gemäße »Große Tier« der Grenzüberschreitung zusammengeschlossen:
Ideologien, das »Macht ausübt und Macht ausge-
Wir aber wollen über Grenzen sprechen,
übt hat« (W 4, 149), aber auch die Waffe dieser zu
und gehn auch Grenzen noch durch jedes
begegnen, das in Mein Vogel angerufene dich-
Wort:
terische Wort. Die nachfolgenden Teile gestalten
wir werden sie vor Heimweh überschreiten
diesen ›Bildungsweg‹ topographisch aus. Der
und dann im Einklang stehn mit jedem Ort.
Weg der Landnahme des zweiten, dreizehn Ge-
(W 1, 89)
dichte umfassenden Teiles führt vom Nebelland
des Nordens in den Süden; im dritten, aus zwölf In der zyklischen, narrativen Struktur des zwei-
Gedichten und einem Zyklus bestehenden Teil ten Gedichtbandes halten Progression (die hori-
wird die Landkarte des ›erstgeborenen Landes‹ zontale Bewegung) und Gleichzeitigkeit (der ver-
Italien vermessen (Ischia, Rom, Apulien, Vene- tikale Schnitt durch die Zeitschichten) einander
dig, Agrigent); der letzte, topographisch in Nea- die Waage. Diese Kreisstruktur der Anrufung des
pel verortete Teil des fünfzehn Gedichte umfas- Großen Bären läßt sich z. B. anhand der ver-
senden Zyklus’ Lieder auf der Flucht endet im tikalen Sprachbewegung ›vom Himmel auf die
›Triumph des Todes‹ der abschließenden Stro- Erde‹ beobachten, die leitmotivisch den Lyrik-
phen. Mit dieser horizontalen biographisch-topo- band durchzieht und in den Schlußzeilen des
graphischen Struktur verbindet sich eine erd-, Gedichtbandes mit der gegenläufigen Transzen-
mythen-, sprach- und literaturgeschichtlich ver- denz des dichterischen Wortes beantwortet wird.
tikale Bewegung im Modus der Erinnerung. Ex- Diese »offene Sageweise in der Kontrapunktik
emplarisch für den Gedichtband insgesamt voll- der zyklischen Variation« führt dazu, daß »jede
zieht der zehnteilige Zyklus Von einem Land, Einzelaussage einem Verweisungszusammen-
einem Fluß und den Seen in konzentrierter Form hang unterworfen ist« (Fehl 1970, S. 195). Durch
eine solche Bewegung. Im explizit in Abgrenzung dieses Verfahren stellt Bachmann den Progreß-
zum ersten Gedichtband formulierten Gestus des charakter der poetischen Sprache heraus. Damit
Erinnerns (»Erinnre dich! […] / O Zeit gestun- liegt der Akzent in Anrufung des Großen Bären
det, Zeit uns überlassen! / Was ich vergaß, hat nicht allein auf der von vielen konstatierten »ge-
glänzend mich berührt«) werden die »Odysseen« spannten Kontrapunktik« (Holthusen, S. 40), der
desjenigen erzählt, der im Anklang an das zwischen Sprachskepsis und -hoffnung (Fehl
Grimmsche Märchen »das Fürchten lernen 1970, S. 168–179), Wirklichkeit und Utopie ver-
wollte« (W 1, 84 f.). Auf dieser ins Allgemeine mittelnden Polarität (Thiem 1972, S. 177–212).
transformierten Irrfahrt – »Die Lose ähneln sich« Noch rücken die ›antithetischen Bildfelder‹ (Fehl
– wird in den Gedichten III-IV die Evolution 1970, S. 195–200) von Wärme und Kälte, Nord
durchschritten: von der »Eiszeit« bis »zu Kreide- und Süd, Helle und Dunkelheit – am prägnante-
stein«, von den »Kristallen« über »Marmelblu- sten veranschaulicht im Kontrapunkt der Ge-
men« bis zu »Fuchspelz« und »Iltiskleid« (W 1, dichte Anrufung des Großen Bären und An die
84, 86 f.). Der Geschichte der Sprachentstehung Sonne – ins Zentrum dieser Schreibpraxis, son-
70 II. Das Werk

dern es ist der Sprachprozeß der Vermittlung. durch das Augenmerk auf das lyrische Ich und
Exemplarisch führt dies die »Spiegelschrift« des seine Dissoziationen eine sprachethische Wen-
Briefs in zwei Fassungen vor Augen. Die zwei dung vollzogen, die später in die »imaginäre Au-
22zeiligen Versionen einer brieflichen Anrede an tobiographie« (GuI, 73) des Malina-Romans
ein Du kontrastieren einander in der Motivik: mündet. Einer Formulierung aus Wahrlich gemäß
Einerseits münden die Bilder der Kälte (»er- spricht hier niemand, »der nicht unterschreibt«
frorne Gläser«), des Nordens (»Nebelland«, (W 1, 166). Das Ich hält sich nicht mehr »in der
»Nordwind«) und des Todes (»Strom aus Sär- Geschichte« auf, sondern »die Geschichte im Ich«
gen«) in der ersten Fassung in die Schlußverse: (W 4, 230). Während in der Gestundeten Zeit ein
»Immer und Nimmermehr gemischt zum Trank / kollektives lyrisches Wir in 11 von 24 Titeln
dein wehes Herz vergötternd alle Leiden / ver- bevorzugt wurde, findet es im zweiten Gedicht-
nichtet und verloren liebeskrank …« (W 1, 126) band nur noch in vier von 31 Titeln Anwendung
Andererseits wird der »Abschied ohne Krän- (Anrufung des Großen Bären, Reklame, Rede und
kung« der zweiten Brieffassung in Bilder gefaßt, Nachrede und in Teilen von Von einem Land,
die Natur und Stadt, Vergangenheit und Gegen- einem Fluß und den Seen). Das Wir der Anrufung
wart versöhnen (»die Säulen wachsen aus den bezeichnet nun den Liebesdialog zwischen Ich
Tamarinden«). Die Nord- und Todesmetaphorik und Du (Erklär mir, Liebe; Römisches Nachtbild;
der ersten Fassung wird durch den Himmel be- Lieder auf der Flucht; vgl. Blau, S. 354, 362 f.). Es
antwortet, der »blaue Töne« bindet, und schließt ist eine in den späten Gedichten noch zuneh-
mit den Versen: »die Chrysanthemen schütten mende Tendenz zur Häufung des Pronomens
Gräber zu / Meerhauch und Bergwind mischen ›ich‹ zu verzeichnen, das sich in einzelne Kompo-
Duft und Tränen / ich bin inmitten – was erwar- nenten aufspaltet, wie z. B. in die »menschliche
test du?« Das gleichförmige Reimschema beider Ich-Komponente« und das »dichterische Über-
Briefversionen – Paarreime, die durch den Reim Ich« im Gedicht Mein Vogel, wodurch der »Kon-
der Zeilen 1, 19 und 22 umfaßt werden (Dank- flikt von Geist und Sinnlichkeit« (Höller 1987,
Trank-liebeskrank; Ruh-zu-du) – macht hingegen S. 46 f.) gestaltet wird, oder in die geschlechtlich
auf das Moment der Kontinuität aufmerksam. codierten Stimmen des alten und jungen Mannes
Die Orts- und Zeitangaben »Rom im November und des jungfräulichen Ich in Die blaue Stunde.
abends« und »Nachts im November Rom« (W 1, Trotz des Vorherrschens eines männlichen Spre-
126 f.) lassen erkennen, daß die zwei Fassungen chers im zweiten Gedichtband kann im Blick auf
nicht einen einfachen (motivischen) Kontrast bil- die kindlich-schwesterliche Stimme von Das
den, sondern zugleich eine (zeitliche) Fortset- Spiel ist aus und der Gedichte IV, IX des Zyklus’
zung sind. Im Prozeß des Schreibens werden die Von einem Land, einem Fluß und den Seen, die
absoluten Positionen von »Immer« und »Nim- Jeanne d’Arc-Stimme der Blauen Stunde und
mermehr« der ersten Fassung durch die Sprach- diejenige der Liebenden in den Liedern auf der
bewegung des »Mischens« der zweiten Fassung Flucht von einem Erwachen der weiblichen
zugunsten eines »Inmitten«-der-Realität-Seins Stimme in Bachmanns Lyrik gesprochen wer-
des lyrischen Ich aufgehoben (vgl. Oberle 1990, den.
S. 67–78; Svandrlik 2000). Neben dieser veränderten Ich-Konzeption ist
Durch die narrative zyklische Struktur des Ge- in Abgrenzung zum ersten Lyrikband vor allem
dichtbandes und die selbstreflexive, ›autobiogra- der Utopismus genannt worden, denn im Bild-
phische‹ Wendung, die sich in einer gegenüber archiv der Anrufung des Großen Bären sind uto-
der Gestundeten Zeit veränderten Ich-Konzeption pische Zeichen aus Natur, Kunst, Religion und
abzeichnet, hat Bachmann bereits in Anrufung Märchen versammelt, die den »augenblicklichen
des Großen Bären zwei Schreibverfahren ent- Anbruch einer erlösten Welt« verheißen (Höller
wickelt, die für ihr Prosawerk, vor allem die 1987, S. 55). Der in den Gedichten Gestalt wer-
Todesarten, kennzeichnend werden. Zum einen dende U-topos bildet den kritischen Kontrapunkt
wird auch in der Lyrik die Geschlossenheit und zur diagnostizierten »kalten neuen Zeit« (W 1,
Absolutheit des einzelnen Gedichts aufgebrochen 87). Fehlt im zweiten Gedichtband der für die
zugunsten einer übergreifenden, intertextuell Gestundete Zeit charakteristische zeitkritisch-ap-
verstärkten Sprachbewegung, zum anderen wird pellative Ton, so ist der Widerstandsgestus gegen
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 71

das Heute doch nicht suspendiert, sondern er ist fung »komm herab« (W 1, 95) eines kollektiven
durchdrungen von einer Problematisierung des Wir, das Hirtengebet, bewirkt das Herannahen
dichterischen ›Wächteramts‹ (Mein Vogel), der dieser Gestalt des »Numinosen« (Rasch, S. 286),
Erinnerung (Von einem Land, einem Fluß und die sich nun in der zweiten Strophe im Sprecher-
den Seen) und des Zusammenhangs von Sprache wechsel in ihrer Bedrohlichkeit an die Anru-
und Gewalt (Rede und Nachrede). Damit ist ei- fenden wendet: »Ein Zapfen: eure Welt. / Ihr: die
nerseits der Akzent auf die Verfahrensweisen des Schuppen dran. / Ich treib sie, roll sie / […] und
sprachlichen Widerstands verschoben, anderer- pack zu mit den Tatzen.« (W 1, 95) Als »Wechsel-
seits wird mit der Wendung zur ›Geschichte im gesang zwischen Mörder und Opfer« hat Walter
Ich‹ dieses selbst zum Kampfschauplatz zivilisa- Jens diese Strophenfolge bezeichnet (Jens,
tionsgeschichtlicher Auseinandersetzungen: zwi- S. 231). Mit den Imperativen der dritten Strophe
schen Denken und Fühlen (Mein Vogel), zwi- zeichnet sich erneut ein Perspektivenwechsel
schen den Geschlechtern (Die blaue Stunde; Er- zum nun vereinzelten lyrischen Sprecher ab: Die
klär mir, Liebe; Liebe: Dunkler Erdteil), und mythisch-religiöse Macht, der Große Bär, wan-
somit auch zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher delt sich im Jahrmarktsbild des an der Leine
Veränderungen. geführten Bären zum Tanzbär. Damit wird die
bereits mit der ersten Strophe durch die Trochäen
sprachrhythmisch vollzogene Anspielung auf den
Mythopoetik und Intertextualität
deutschen Tanz- und Tendenzbär, Heines Atta
In dem kurzen Text [Wozu Gedichte?] äußert Troll, motivisch ausgestaltet: »Auferstehn wird er
Ingeborg Bachmann, Gedichte hätten die Funk- im Liede, / […] Auf vierfüßigen Trochäen«
tion, das »Gedächtnis [zu] schärfen«. Sie legten (Heine, S. 563). Die warnende Vision der vierten
»Formeln in ein Gedächtnis«, »wunderbare alte Strophe – »’s könnt sein, daß dieser Bär / sich
Worte für einen Stein und ein Blatt, verbunden losreißt, nicht mehr droht« (W 1, 95) – macht
oder gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen jedoch darauf aufmerksam, daß auch die mo-
für Wirklichkeit« (W 4, 303). Die Gedächtnis- derne Praxis der säkularen Domestizierung diese
funktion der Lyrik erfüllt sich so in Bachmanns Macht nicht ihres Gewaltcharakters entkleidet.
Gedichten, daß antike Mythologeme, die Bibel, Die letzten beiden Strophen der Anrufung ge-
Volksmärchen und die Literatur von der Antike stalten einen Erfahrungsraum, den Bachmann im
bis zur Gegenwart zitiert werden, und zwar in Interview als »lyrische Variante von Nietzsches
den zwei oben angesprochenen Formen: der Ver- ›Gott ist tot‹« bezeichnet hat (GuI, 33). Im Vor-
bindung mit oder Sprengung durch neue Worte. gang der Zitation alter Mythologeme, »gesprengt
Vor allem im Hinblick auf das Titelgedicht ist ein durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklich-
solcher Vorgang der Sprengung abendländischer keit«, bildet sich in der Figuration des Großen
Mythologeme und Theologoumena zu beobach- Bären eine Chiffre für die gegenwärtige Bedro-
ten. Die Anspielung auf Homers Ilias, auf das im hung durch eine geschichtliche Macht heraus.
18. Gesang genannte Sternbild des Großen Bä- Konkretisiert wird diese Macht in den Gedichten
ren, sowie die Anklänge an das Alte und Neue durch »Minen« (W 1, 82), »Stacheldrahtverhau«
Testament, an die apokalyptischen Untiere Be- (W 1, 88) und atomare Aufrüstung (Freies Geleit),
hemoth und Leviathan des Buchs Hiob (40, wodurch sich die Texte in der Zeit des Post-
15–41, 26) als Sinnbilder einer von Gott geschaf- faschismus und des Kalten Kriegs verorten.
fenen Zerstörungsmacht, und gnostische Vorstel- Die dichterischen ›Waffen‹, mit denen dieser
lungen des Engelssturzes im Bild der ›geflügelten Bedrohung begegnet werden kann, gewinnen im
Tannen‹ haben zu mythengeschichtlichen (Scha- Gedicht Mein Vogel Gestalt. Als Verbindung der
dewaldt, S. 108–112; Bothner 1986, S. 227–231) ›alten Worte‹ mit neuen im Sinne der Wieder-
und theologischen Interpretationen (Rasch; We- belebung eines antiken Mythologems läßt sich
ber 1986, S. 196–202) Anlaß gegeben. In der er- die dem lyrischen Ich in Mein Vogel als »Beistand
sten Strophe überlagern sich in den Komposita des Nachts« (W 1, 96) an die Seite gestellte,
»Wolkenpelztier«, »Sternenaugen« und »Sternen- Wachsamkeit und Weisheit symbolisierende Eule
krallen« die Motivkomplexe des Sternbildes mit der Pallas Athene verstehen (Rasch, S. 275 f.).
jenen des Waldtieres. Die sprachmagische Anru- Mit ihr wird die Schutz- und Kriegsgöttin, die
72 II. Das Werk

Jägerin, aber auch die ›Athene Ergane‹, die Göt- ten als »Lebenszeichen« (TKA 2, 291) noch ein-
tin der Künstler und Handwerker mit den ihr mal prägnant. Das vorangestellte Motto über das
heiligen Tätigkeiten des Spinnens und Webens harte Gesetz der Liebe (»Dura legge d’Amor!«)
als Teilprojektion des lyrischen Ich aufgerufen aus Petrarcas I Trionfi ebenso wie die Zeilen
(Thiem 1972, S. 35, 41; Oelmann 1980, S. 13). »Unterrichtet in der Liebe / durch zehntausend
»L’hibou«, die Eule, war Ingeborg Bachmanns Bücher« (W 1, 138, 141) verweisen auf das in den
Spitzname in der Schulzeit (Höller 1999, S. 22). Liedern versammelte »Bildarchiv der Liebesly-
rik« (Weigel 1999, S. 154). Der Bogen spannt sich
Mein eisgrauer Schultergenoß, meine Waffe,
von der klassischen griechischen, lateinischen
mit jener Feder besteckt, meiner einzigen
und italienischen Literatur (z. B. Vergil, Horaz,
Waffe!
Tasso, Dante) bis zur ästhetischen Moderne und
Mein einziger Schmuck: Schleier und Feder
zur Lyrik Paul Celans (vgl. Thiem 1972, S. 111–
von dir. (W 1, 96)
120; Oelmann 1980, S. 24–33; Weigel 1999,
Der Schleier ist sowohl als Zeichen der Athene S. 154–161). In Körper- und Sprachgesten
zugeordneten Jungfräulichkeit gedeutet worden ›durchlebt‹ das lyrische Ich dieses Bildarchiv der
(Horn 1969, S. 89; Thiem 1972, S. 24–27) wie Liebe, um einerseits dem Tradierten »wieder un-
auch in Verbindung mit der Feder als ›der Dich- erhörte Töne abzugewinnen« (Weigel 1999,
tung Schleier‹, Goethes Zueignung gemäß S. 157) und um andererseits auf die Zäsur zwi-
(Rasch, S. 278 f.; Oelmann 1980, S. 14; Oberle schen der Vergangenheit und der Gegenwart auf-
1990, S. 40). In der mytho-poetologischen merksam zu machen. So wird das Sappho-Zitat
Athene-Konfiguration von Mein Vogel verdichten »Ich aber liege allein« (W 1, 139) über Bilder der
sich die auf die Gegenwart und Zukunft bezoge- Eiszeit und des Todes mit Else Lasker-Schülers
nen Funktionen moderner Lyrik: das dichteri- Gedichten Winternacht (»ich lieg’ in Grabes-
sche Wort als Waffe gegen die »verheerte Welt« nacht«) und Ich liege wo am Wegrand übermattet
(W 1, 96); die Eule als Verkörperung poetischer (»Und zähl schon zu den Toten längst bestattet«;
Rationalität, die in der Gegenwart das Wächter- Lasker-Schüler, S. 17, 203; vgl. Thiem 1972,
amt in der Welt, ›jene ins Licht gerückte Warte‹, S. 117) enggeführt, wodurch zugleich Kontinuität
wahrnimmt; und schließlich die im Verspinnen zwischen der Antike und Moderne im Hinblick
anklingende ›Athene Ergane‹, durch die als uto- auf die Liebesthematik aufscheint, als auch ra-
pisches Richtbild die Heilung der Wunden der dikale Diskontinuität im Hinblick auf die zeit-
verheerten Welt antizipiert wird: »bis das Harz geschichtliche Signatur des Todes markiert ist.
aus den Stämmen tritt, / auf die Wunden träufelt Die Schlußverse der Lieder auf der Flucht sind
und warm / die Erde verspinnt« (W 1, 97). Ähn- eine Zitat-Collage aus Musils Die Schwärmer
lich wie bei den Heine- und Nietzsche-Anklängen (»Steigen und Sinken von Gestirnen«; Musil,
der Anrufung des Großen Bären ist auch hier in S. 331) und Rilkes 19. Sonett an Orpheus (»Einzig
den mythopoetischen Intertext die Signatur der das Lied überm Land / heiligt und feiert«; Rilke,
Moderne eingetragen, abzulesen an der Angren- S. 473; vgl. Thiem 1972, S. 118ff.). Jedoch ver-
zung an und radikalen Abgrenzung von Hegels weisen die Bachmanns »Lied überm Staub da-
Eule der Minerva. Beginnt diese ihren philo- nach« (W 1, 147) eingeschriebenen Zeichen der
sophischen Flug erst in der »einbrechenden Negativität auf eine Dichtung, die in Abgrenzung
Dämmerung«, nach dem Ende der Geschichte als zur frühen Moderne der Zerstörung der Welt wie
»Bildungsprozeß« (Hegel, S. 28), so zeigt Bach- auch des lyrischen Ich eingedenk ist und darin
manns Bild der »verheerten Welt« der Gegen- bereits Celans Fadensonnen antizipiert: »es sind /
wart, die »in die Dämmrung« zurücksinkt, auch noch Lieder zu singen jenseits / der Menschen«
das Ende einer solchen Geschichtskonzeption, (Celan, Bd. 2, S. 26; vgl. Oelmann 1980,
deren metaphysischer Überbau zu »der Sterne S. 31 f.).
Schutt« gehört, der dem Ich »genau auf das Haar« Die Gedächtnisfunktion der Lyrik erfüllt sich
stürzt (W 1, 96). in der Anrufung des Großen Bären und den Ge-
Die den Gedichtband abschließenden Lieder dichten aus dem Umfeld jedoch nicht allein auf
auf der Flucht akzentuieren das intertextuelle der Ebene des Inhalts, sondern auch im Zitat
Verfahren der »Wiederherstellung« alter Schrif- historischer Sprachformen der Lyrik, in der Viel-
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 73

falt der hier aufgerufenen Reim-, Vers- und Stro- eigenen Semantisierung der Kategorie Ge-
phenschemata. Die Spannbreite reicht von der schlecht bringt Bachmann auf diesem Wege, jen-
vierzeiligen Volksliedstrophe (Heimweg, Scher- seits der Sprecherposition, eine weitere Möglich-
benhügel, Bleib, Lieder auf der Flucht I-III; vgl. keit der geschlechtlichen Codierung der Sprache
Horn 1968) bis zur Annäherung an die Konkrete ins Spiel. Besonders eindrücklich setzt sich diese
Poesie (Reklame, Schatten Rosen Schatten; vgl. Semantisierung der Metrik in dem den Gedicht-
Bartsch 1997, S. 71 f.; Bothner 1986, S. 268). Ver- band abschließenden Zyklus Lieder auf der
zeichnet Bachmanns erster Gedichtband nur zwei Flucht fort, nun aber in der gegenläufigen Ten-
durchgängig gereimte Gedichte, so reimen sich denz, indem die metrischen Bindungen von in-
in Anrufung des Großen Bären mehr als die nen heraus fortschreitend zerstört werden bis hin
Hälfte der Gedichte (Thiem 1972, S. 246 f.). Als zu vokalischen und konsonantischen Rudimenten
Rückkehr zu traditionellen Formen der Lyrik ist lyrischer Regelmäßigkeit, die als »konkrete Laut-
dieses Verfahren nur unzureichend beschrieben, und Stimmen-Musik« (Behre, S. 38) bezeichnet
da der überlieferte Formenbestand sowohl von werden können. Weisen die Neapel im Winter
innen heraus gesprengt wird, als auch auf diesem gewidmeten Lieder I und III noch die bekannte
Wege neue lyrische Formen entstehen, die Einge- vierzeilige Volksliedstrophe mit halbem, männ-
denken und Innovation miteinander vermitteln. lichem Kreuzreim auf (Horn 1968, S. 278–281),
Vor allem die Italiengedichte des dritten Teils des so läßt sich diese, kommt der Erfahrungsraum
Gedichtbandes führen diesen Prozeß vor Augen. des (weiblichen) Ich zur Sprache, nicht mehr
In der Kehrzeilenstrophik der Gedichte Unter durchhalten, sondern wird in vier Zweizeiler auf-
dem Weinstock, Schatten Rosen Schatten und Am gespalten, so daß nur noch bedingt von einem
Akragas verbinden sich in der kunstvoll ausgear- halben, weiblichen Kreuzreim gesprochen wer-
beiteten Technik der Wiederholung eines Verses den kann:
Anklänge an die einfache Form des Refrains,
bekannt aus dem Volkslied, der Ballade und dem Ich aber liege allein
Bänkelgesang, mit solchen an variationsreichere, im Eisverhau voller Wunden.
romanische und orientalische Formen wie Ron- Es hat mir der Schnee
deau, Triolett und Ghasel, wie auch an Prinzipien noch nicht die Augen verbunden. (W 1, 139)
des musikalischen Ritornells (vgl. Behrmann,
S. 62–68). Erst die Erinnerung an ein Wir der Liebe in den
In Anrufung des Großen Bären findet eine letzten Zeilen des VI. Gedichts ermöglicht dann
fortschreitende Entfaltung der Reim-, Vers- und die Wiederaufnahme metrischer Bindung im VII.
Strophenbindung des Sprachmaterials statt. Im Lied, nach den reimlosen Gedichten IV–VI. Dies
Hinblick auf den Reim läßt sich dies besonders geschieht nun in Form eines regelmäßigen Stro-
anschaulich vergegenwärtigen: Der zweite Teil phenschemas (2/5/2/8/2/5) und anaphorischer
der Sammlung verwendet überwiegend halbe Verschränkung der Verse durch die achtmalige
Kreuzreime, deren zweite und vierte Zeile männ- Wiederholung »Innen« (W 1, 142), so daß die
lich enden, während die weiblichen Zeilenaus- Struktur dem musikalischen Rondo ähnelt
gänge der ersten und dritten Zeile keinen Reim- (Thiem 1972, S. 174; Weigel 1999, S. 159). Die zu
partner finden (Heimweg, Scherbenhügel, Har- beobachtende Annäherung an die Musik in Anru-
lem, Toter Hafen, Was wahr ist, siehe auch das fung des Großen Bären und den Gedichten aus
spätere Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil). Im drit- dem Umfeld, augenfällig gemacht durch die Mu-
ten Teil erweitert sich die Reimbindung jedoch zu siktitel – die Liederzyklen, Schwarzer Walzer und
vollständigen Kreuzreimen mit weiblichen und die von Hans Werner Henze vertonten Gedichte
männlichen Endungen (Nord und Süd, Nach vie- Aria I und Freies Geleit (Aria II) –, vollzieht sich
len Jahren, Bleib), weiblichen und männlichen also vornehmlich auf der Ebene lyrischer Ord-
Paarreimen (Brief in zwei Fassungen, Schwarzer nungsstrukturen in Versform, Reim und vor allem
Walzer) sowie zum umarmenden Reim (In Apu- Strophenschema (Weigel 1999, S. 161–167). Der
lien) und dem komplexen Reimschema der Kehr- solchermaßen gefestigte Liebesdialog gewährt
zeilenstrophik (Lieder von einer Insel [V], Unter dem Ich einen Ort, eine Sprache und sogar die
dem Weinstock, Am Akragas). Mit der der Lyrik Möglichkeit, den Tod zu überwinden: »Innen
74 II. Das Werk

sind deine Augen Fenster / auf ein Land, in dem


Topographie
ich in Klarheit stehe«; »Innen ist dein Mund ein
flaumiges Nest / für meine flügge werdende Die Bedeutung des Topographischen in dem Ge-
Zunge«; »Innen sind deine Knochen helle Flöten, dichtband Anrufung des Großen Bären ist augen-
/ aus denen ich Töne zaubern kann, / die auch fällig, allein 15 von 31 Titeln bedienen sich dieser
den Tod bestricken werden …« (W 1, 142) Je- Metaphorik. Die topographischen Bewegungen
doch muß die neu gewonnene Sprachmacht be- der ›Landflucht‹ im ersten und vierten Teil (Von
reits im nächsten Gedicht wieder preisgegeben einem Land, einem Fluß und den Seen; Lieder auf
werden. Im Versuch, den ersprochenen Innen- der Flucht) rahmen solche der Landnahme im
raum auf »Erde, Meer und Himmel« zu transzen- zweiten und dritten Teil (Das erstgeborene
dieren, zerbrechen die lyrischen Formen: Die Land). Die zyklische Struktur des Lyrikbandes
erste Strophe wird noch durch identischen Reim wird neben dem biographischen Erzählmuster
und die Kehrzeile »die Erde« zusammengehalten, des ›Curriculum vitae‹ vorrangig durch die
die nachfolgenden fünf Strophen nur noch durch Sprachbewegung durch den Raum getragen: »Die
die variierte Kehrzeile »diese geschlagene Erde«, Teile II und III sind nach den Leitmotiven Nacht/
»diese rastlose Erde«, »diese betäubte und be- Winter/Norden versus Sonne/Sommer/Süden
täubende Erde« (W 1, 143). Die Lieder IX-XIII einander entgegengesetzt.« Der vierte Teil nimmt
ziehen sich auf Strophenschemata zurück, bis eine »Engführung der Nord-Süd-, Dunkel-Licht-,
schließlich, nach dem Verlust der Liebe, selbst Eis-Hitze-Polarisierung« vor (Koch, S. 211).
das lyrische Ich der Zerstörung anheim fällt. Es Die wechselseitige Konstitution von Land und
sind nun die kleinsten, auch graphisch durch Ich in dem Gedicht Das erstgeborene Land, der-
Kleinbuchstaben markierten sprachlichen Ein- zufolge sowohl das Land als ›Erstgeburt‹ des
heiten, die Vokale, von denen ausgehend im XIV. lyrischen Ich wie auch jenes als ›Erstgeburt‹ des
Lied ein lyrischer Sprachfluß erhofft wird, der Landes erscheint (Thiem 1972, S. 80–84; Huml
die im Zyklus Gestalt gewordene Eiszeit über- 1999, S. 182–187), macht darauf aufmerksam,
windet, die Konsonanten zum Klingen bringt. daß die Landschaften Ingeborg Bachmanns
gleich dreifach codiert sind: als innere Land-
Wart meinen Tod ab und dann hör mich
schaften, als »Geschichtslandschaften« (Höller
wieder,
1987, S. 26) und schließlich als literarisierte
es kippt der Schneekorb, und das Wasser
Sprachlandschaften. Subjektive Erinnerungs-
singt,
und Wahrnehmungsspuren überschreiben den
in die Toledo münden alle Töne, es taut,
konkreten Ort, lassen ihn zu einer »inneren
ein Wohlklang schmilzt das Eis.
Landschaft« oder »imaginären Topographie« wer-
O großes Tauen!
den (Fehl 1970, S. 196; Thiem 1972, S. 54; Wei-
Erwart dir viel! gel 1999, S. 247). So verwandelt sich z. B. Italien
Silben im Oleander, im Horizont des biographisch verbürgten Schlan-
Wort im Akaziengrün genbisses zu einem Ort des »Grausens im Licht«
Kaskaden aus der Wand. (W 1, 119; vgl. Bothner 1986, S. 265). Darüber
(W 1, 147, Hervorhebung M. S.) hinaus wird auch das Land in einen geschichtli-
chen Prozeß eingebunden. Durch eine dem Ich
Die mit dem Einbrechen der Eiszeit in den Süd-
analog gesetzte Todeserfahrung (»Erdbeben«) er-
raum und dem Verlust der Liebe einhergehende
wacht Italien zu neuem Leben: »Da ist der Stein
Destruktion tradierter lyrischer Formen und de-
nicht tot.« Und schließlich konstituiert sich das
ren Reduktion auf die kleinsten sprachlichen Ein-
Sprachland Italien durch die Negation der ge-
heiten birgt eine Sprachutopie, die jedoch jen-
läufigen Südmetaphorik: »Da blüht kein Rosma-
seits des lyrischen Ich und jenseits eines Wir der
rin« (W 1, 119 f.).
Liebe angesiedelt ist: »Doch das Lied überm
Ein Signal für die geschichtliche Codierung des
Staub danach / wird uns übersteigen.« (W 1,
Raumes in Bachmanns zweitem Gedichtband
147)
setzt bereits das Eröffnungsgedicht Das Spiel ist
aus. Hier zeigt sich der Einbruch der Geschichte
in die kindlichen Wunschländer von »Schlaraf-
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 75

fenland« und »Karfunkelfee« in der Bildlichkeit wird. Im Blick auf ihr Gedicht In Apulien hat
des Krieges: »Gib acht, vor den schwarzen Linien Ingeborg Bachmann diesen Vorgang folgender-
hier / fliegst du hoch mit den Minen.« (W 1, 82) maßen beschrieben: »Natürlich war ich in Apu-
Die psychoanalytischen, auf das Inzestmotiv kon- lien; aber ›In Apulien‹ ist etwas andres, löst das
zentrierten Deutungen des Gedichts (Politzer; Land auf in Landschaft, und führt sie zurück auf
Bothner 1986, S. 201–224) greifen zu kurz und das Land, das gemeint ist. Es gibt wunderschöne
übersehen, mit welcher Vehemenz sich hier die Namen für die Ursprungsländer, die versunkenen
kollektiv-historischen Kontexte in die Lebens- und die erträumten, Atlantis und Orplid.« (W 4,
geschichte des einzelnen einzeichnen, bis hinein 305) So ist die literarisierte Sprachlandschaft Ita-
in die Kinderträume (Höller 1987, S. 38–43). Das lien als Land der Initiation in Tod, Liebe und
den zweiten Teil des Lyrikbandes einleitende Sprache, die in der Anrufung des Großen Bären
Gedicht Landnahme führt die Geschichtlichkeit entsteht, zum Teil Zitat der literarischen Italien-
des Natürlichen vor Augen, Natur und Zivilisa- reisen des 18. Jahrhunderts (vgl. Huml 1999). In
tion werden so ineinander verschränkt, daß »die Anklang an Wittgenstein und Sigmund Freud,
Natur in den Entfremdungsprozeß der mensch- der die archäologische Praxis der Psychoanalyse
lichen Gesellschaft einbezogen ist und nur dessen mit der »Technik der Ausgrabung einer verschüt-
Aufhebung das Verhältnis des Menschen zur Na- teten Stadt« verglich (Freud, S. 157), zieht auch
tur verändern kann« (Höller 1977, S. 303). Dem Bachmann für ihre lyrische Archäologie die Ana-
›vernarbten‹, ›verhärmten‹, von der Liebe ver- logie von Sprache und Stadt heran: »Die Sprache
lassenen Weideland wird das Horn als Zeichen selbst, meine ich, wäre eine Stadt, und es wach-
des poetischen Widerstands abgetrotzt: »Um die- sen eben außen neue Worte dazu, und die alten
ses Land mit Klängen / ganz zu erfüllen, / stieß Gedichte sind aus dem alten Wortmaterial ge-
ich ins Horn, / willens im kommenden Wind / macht, die neuen Gedichte aus altem und neuem,
und unter den wehenden Halmen / jeder Her- würde ich sagen.« (GuI, 17; vgl. W 4, 124) Insbe-
kunft zu leben!« (W 1, 98) In dem VIII. Lied des sondere das 1957 erstveröffentlichte Gedicht Exil
Zyklus’ Lieder auf der Flucht ist es die von den arbeitet durch die Metaphorik von der Sprache
Zeichen industrieller Ausbeutung versehrte als Haus mit dieser Analogie:
Erde, mit »Hochöfen«, »mit ihren zuckenden Ma-
Ich mit der deutschen Sprache
gnetfeldern«, mit »bleiernen Giften« (W 1, 143),
dieser Wolke um mich
die vor Augen steht. Schließlich wird in dem 1957
die ich halte als Haus
veröffentlichten Zeitgedicht Freies Geleit (Aria
treibe durch alle Sprachen (W 1, 153)
II) im Kontext des beginnenden Widerstands
gegen die atomare Rüstungspolitik ein ›huma- Der poetische U-topos ist der dem exilierten
ner‹, an Freiheit (»freies Geleit«) und Solidarität lyrischen Ich einzig noch verbleibende Raum.
(»Mit uns will sie die bunten Brüder / und grauen Durch die topographische Sprachbewegung, die
Schwestern erwachen sehn«) orientierter Um- den Gedichtband Anrufung des Großen Bären
gang mit der Natur gefordert: »Die Erde will und die Gedichte aus dem Umfeld trägt, hat
keinen Rauchpilz tragen, / kein Geschöpf aus- Bachmann die aus den Frankfurter Vorlesungen
speien vorm Himmel« (W 1, 161; vgl. Höller bekannte Wendung »Eine neue Sprache muß eine
1987, S. 67–70). Mit Nachdruck hat sich Bach- neue Gangart haben« (W 4, 192) materialisiert. In
mann in Interviews von der Naturlyrik, den »Grä- diesem Verfahren der Überblendung von Topo-
serbewisperern« distanziert und hingegen auf das graphie und Sprache, das den Orten sowohl ihre
»Geschichtsempfinden« (GuI, 45, 32) hingewie- subjektive Erfahrungsdimension zurückgibt, wie
sen, das sich in ihren mit Geschichtszeichen mar- es ihnen auch kollektive Geschichtszeichen ein-
kierten Landschaften Ausdruck verschafft. prägt, nähert sich die Lyrik dem an, was Paul
Gegen die sich in die konkrete Topographie Celan 1960 in seiner Meridian-Rede »Toposfor-
einzeichnende historische Deformation setzen schung […] im Lichte der U-topie« genannt hat
die Gedichte den U-topos der poetischen Spra- (Celan, Bd. 3, S. 199).
che, indem im Durchgang durch die Referenzen
auf geschichtliche Realität den Orten zugleich ein
utopisches Gedächtnis der Literatur mitgegeben
76 II. Das Werk

Liebes- und Sprachutopie diskursiven Elements der Erklär- und Begründ-


barkeit, wie dies auch der Vers »und er verwirft
Die strukturelle Verbindung von Sprache, Kunst
und wählt dich ohne Grund« (W 1, 158) aus dem
und Liebe in der Lyrik Ingeborg Bachmanns ist
Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil indiziert (Weigel
am prägnantesten in ihrer Interviewaussage
1999, S. 154). Die bereits am Titel beobachtete
»Liebe ist ein Kunstwerk« gefaßt (GuI, 109; vgl.
Verweigerung von Eindeutigkeit der Referenz
Oberle 1990; Weigel 1999, S. 149–161). Dem Ge-
setzt sich auch in Hinblick auf die geschlechtliche
stus der Liebe entspricht in der Anrufung des
Codierung der Sprecherposition fort. Das in der
Großen Bären der Sprachgestus der Apostrophe,
ersten Strophe angesprochene Du kann sowohl
der Anrufung. Ist es in dem ersten Gedicht Das
den männlichen Geliebten wie auch die Selbst-
Spiel ist aus der Bruder, der die Position des
anrede meinen, so daß »das poetische Ich zweige-
angesprochenen dialogischen Du innehat, wie
schlechtlich« erscheint (Bossinade, S. 194; vgl.
auch in Teilen des den Geschwistermythos wei-
Pichl).
tertradierenden Zyklus’ Von einem Land, einem
Lenkt die Deutung der Liebe als Form des
Fluß und den Seen, so sind es im folgenden
Sprachverhaltens den Blick auf die Performativi-
sowohl die Geliebte (Nebelland, Die blaue
tät des Sprechens, so läßt sich in diesem Kontext
Stunde), der Geliebte (Lieder von einer Insel,
auch die in der Anrufung des Großen Bären
Nord und Süd, Brief in zwei Fassungen, Lieder
Gestalt werdende Sprachethik Ingeborg Bach-
auf der Flucht), die Liebe selbst (Erklär mir,
manns mit ihren komplementären Elementen
Liebe), aber auch die Sprache, die in die Position
von Sprachkritik und Sprachutopie verorten. Die
des Liebespartners rücken, wie in den poetologi-
Appellstruktur der Texte realisiert sich in der
schen Gedichten Mein Vogel, Rede und Nachrede
Vielzahl der Akte sprachlicher Performanz: Sei es
und dem 1957 veröffentlichten Gedicht Geh, Ge-
als Anruf (Horn 1969), wie in den Gedichten
danke. Die den Begriff ›Liebeserklärung‹ unter-
Anrufung des Großen Bären, Mein Vogel, An die
laufende Anrede »Erklär mir, Liebe« produziert
Sonne, oder als Befehl, wie in Erklär mir, Liebe;
semantische Offenheit. Wer ist angesprochen?
Bleib; Geh, Gedanke, wie auch in den einander
»Die Liebe – personifiziertes Abstraktum – oder
entgegengesetzten Gesten der Frage und des Be-
eine Frau, die sie ›Liebe‹ nennt?«, fragt Christa
fehls, die für Reklame konstitutiv sind (Höller
Wolf (S. 128). Im weiteren läßt sich der Titel als
1977, S. 293–296). In Hervorkehrung der Diffe-
triadische, rhetorische Figur lesen, die mit dem
renz von Ich und Sprache wird die Sprache selbst
›Erklären‹ das docere, mit der ›Liebe‹ das de-
als Partnerin angesprochen: »Geh, Gedanke, so-
lectare und im Appell das movere verbindet (Bos-
lang ein zum Flug klares Wort / dein Flügel ist«
sinade, S. 187). Der Gegensatz von docere und
(W 1, 157); »Komm nicht aus unsrem Mund, /
delectare kehrt in der existentiellen Situation des
Wort, das den Drachen sät« (W 1, 116). In der
lyrischen Ich wieder, das ausgeschlossen ist aus
antithetischen Struktur des Wechselgesprächs
dem Liebesreigen der Natur – »die Welle nimmt
von Nachrede, ›Drachenwort‹, und Rede, »Gunst
die Welle an der Hand« -:
aus Laut und Hauch« (Rede und Nachrede; W 1,
sollt ich die kurze schauerliche Zeit 116 f.), wird das Wort tatsächlich im Munde um-
nur mit Gedanken Umgang haben und allein gedreht. Im spiegelbildlichen Strophenschema
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun? (5/4/4/4/3/3/4/4/4/5; vgl. Thiem 1972, S. 175;
(W 1, 110) Oberle 1990, S. 79 f.; Weigel 1999, S. 165) mit der
Mittelachse nach der fünften Strophe korrespon-
›Aufgelöst‹ wird dieser Gegensatz durch das mo- dieren einander die Strophen entweder harmo-
vere, die Sprachbewegung des Textes, der einer nisch, wie die ›Gebete‹ der vierten und siebten
dialektischen Argumentation gleich den als Re- Strophe veranschaulichen: »Wort, sei bei uns /
frain im Gedicht wiederholten Titel »Erklär mir, von zärtlicher Geduld«; »Wort, sei von uns, /
Liebe!« um das Attribut »was ich nicht erklären freisinnig, deutlich, schön«, oder im Kontrast,
kann« ergänzt und schließlich in die Negation wie die Umkehrung der einleitenden Verse
»Erklär mir nichts« überführt (W 1, 109 f.). Im »Komm nicht aus unsrem Mund, / Wort, das den
Akt der sprachlichen Performanz realisiert sich Drachen sät« in der Schlußstrophe vorführt:
die ›Liebeserklärung‹ als Durchstreichung des »Komm und versag dich nicht, / da wir im Streit
Anrufung des Großen Bären und Gedichte aus dem Umfeld 77

mit soviel Übel stehen.« In Abkehr von Urteil (6. 156; vgl. W 4, 231), die Poetologie der Todes-
Strophe) und mimetischem Sprachgebrauch arten.
(»Dem Tier beikommen wird nicht, wer den Quellen: Paul Celan (1986): Gesammelte Werke in 5
Tierlaut nachahmt«) wird die in der Appellstruk- Bdn. (Hg.) Beda Allemann, Stefan Reichert. Frankfurt/
tur des Textes angelegte Distanz zwischen Spre- M.; – Sigmund Freud, Josef Breuer (1991): Studien
cher und Sprache produktiv gemacht: im Durch- über Hysterie. Frankfurt/M.; – Georg Wilhelm Fried-
spielen der Gesten von Befehl, ›Gebet‹, Bitte bis rich Hegel (1986): Werke, Bd. 7. Grundlinien der Philo-
sophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissen-
zum Anruf als Ausdruck des Sprachglaubens:
schaft im Grundrisse. Frankfurt/M.; – Heinrich Heine
»Mein Wort, errette mich!« (W 1, 116 f.; vgl. Fehl (1981): Sämtliche Schriften, Bd. 7. (Hg.) Klaus Brieg-
1970, S. 146 f.) Der in diesem Gedicht, wie auch leb. Frankfurt/M., Berlin, Wien; – Else Lasker-Schüler
in Reklame und Ihr Worte, zu beobachtende Ge- (1966): Sämtliche Gedichte. (Hg.) Friedhelm Kemp.
gensatz von »schöner Sprache«, einem »Utopia München; – Robert Musil (1978): Gesammelte Werke,
der Sprache« (W 1, 92; W 4, 268), und ›schlech- Bd. 6. (Hg.) Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg; –
Rainer Maria Rilke (1955): Sämtliche Werke, Bd. 1.
ter‹ bzw. »Gaunersprache« (W 2, 108) vollzieht
(Hg.) Rilke-Archiv und Ruth Sieber-Rilke, besorgt
keine strukturelle, sondern eine ethisch-pragma- durch Ernst Zinn. Wiesbaden; – Christa Wolf (1983):
tische Sprachkritik, die Sprachverzicht und Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Darm-
Schweigen als adäquates Sprachverhalten in sich stadt, Neuwied.
schließt. Das ersprochene Schweigen begleitet
Literatur: Bartsch (1997); Bothner (1986); Fehl (1970);
Rede und Nachrede, beschließt Reklame und vor Höller (1987); Höller (1999); Huml (1999); Lennox
allem die Gedichte aus den 1960er Jahren Ihr (1998); Oberle (1990); Oelmann (1980); Thiem (1972);
Worte, Enigma und Keine Delikatessen. Im Kon- Weber (1986); Weigel (1999).
text ihrer Auseinandersetzung mit der Sprach- Beatrice Angst-Hürlimann (1971): Im Widerspiel des
philosophie Ludwig Wittgensteins, die sich in Unmöglichen mit dem Möglichen. Zum Problem der
Sprache bei Ingeborg Bachmann. Zürich; – Maria Beh-
der Sprachspielmetapher in Das Spiel ist aus und
re (1996): »Poesie wie Brot?« Ingeborg Bachmanns
Bleib dokumentiert, wendet sich Bachmanns lyri- Fragen nach der Wirksamkeit von Gedichten. In: Beh-
sche Gebrauchstheorie der Sprache den konkre- re, Ria Endres: Abschied vom Gedicht? Zur Lyrik Inge-
ten Akten des Sprachverhaltens und mithin der borg Bachmanns. Aachen, S. 26-46; – Alfred Behrmann
pragmatischen Relation von Sprachzeichen und (1989): Einführung in den neueren deutschen Vers. Von
Sprecher zu: »Die Vorzüge jeder Sprache wurzeln Luther bis zur Gegenwart. Eine Vorlesung. Stuttgart; –
Anna Britta Blau (1980): Der lyrische Sprecher in den
in ihrer Moral, […] die Worte sind was sie sind,
Gedichten der Ingeborg Bachmann. In: Studia Neo-
sie sind schon gut, aber wie wir sie stellen, ver- philologica 52, S. 353-371; – Johanna Bossinade (1989):
wenden, das ist selten gut. Wenn es schlecht ist, Erklär mir, Liebe von Ingeborg Bachmann. Reflexionen
wird es uns umbringen.« (GuI, 25 f.) über eine erweiterte Poetik. In: Sprachkunst 20, S.
Den Zusammenhang von Schuld und Sprache 177-197; – Annette Burkart (2000): »Kein Sterbenswort,
thematisieren ebenso die in den Jahren 1956/57, Ihr Worte!« Ingeborg Bachmann und Sylvia Plath. Act-
ing poem. Tübingen; – Peter Conrady (1971): Fragwür-
im Umkreis der Anrufung des Großen Bären
dige Lobrednerei. Anmerkungen zur Bachmann-Kritik.
entstandenen Gedichte. In alttestamentarischer In: Text + Kritik 6, 2. Aufl., S. 48-55; – Franz Josef Görtz
Motivik werden mit Kain und Abel (Bruder- (1971): Zur Lyrik der Ingeborg Bachmann. In: Text +
schaft) und Nach dieser Sintflut Sündenfall und Kritik 6, 2. Aufl., S. 28-38; – Hans Höller (1977):
Erlösung durch die Sprache (Exil, Mirjam) – Geschichtsbewußtsein und moderne Lyrik. Zu einigen
durch ein »Blatt« bzw. ein »klares Wort« (W 1, Gedichten von Ingeborg Bachmann. In: Literatur und
Kritik 115, S. 291-308; – Hans Egon Holthusen (1989):
154, 157, 160) – aufgerufen. Stehen die Gedichte
Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg Bach-
in dieser Hinsicht dem mythopoetischen Text- manns [1958]. In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S.
verfahren des zweiten Gedichtbandes nahe, so 24-52; – Peter Horn (1968): Die vierzeilige Volkslied-
verweist die auch am Sprachmaterial durch Re- strophe in Ingeborg Bachmanns Lyrik. In: Acta Ger-
duktion der Versmöglichkeiten (Exil, Hôtel de la manica 3, S. 271-288; – Peter Horn (1969): Anruf und
Paix) vollzogene Ästhetizismuskritik (Strömung; Schweigen in den Gedichten von Ingeborg Bachmann.
In: Acta Germanica 4, S. 67-103; – Walter Jens (1959):
Geh, Gedanke) bereits auf die Lyrik der 1960er
Marginalien zur modernen Literatur. Drei Interpreta-
Jahre. Darüber hinaus eröffnet die hier erstmals tionen – Zwei Porträts. In: Martin Heidegger zum
vorgenommene Engführung des Sündenfalltopos siebzigsten Geburtstag. (Hg.) Günther Neske. Pfullin-
mit der Mordmetapher, dem »Mörder Zeit« (W 1, gen, S. 225-236; – Manfred Koch (1995): Augenwende.
78 II. Das Werk

Ingeborg Bachmanns Gedicht An die Sonne. In: Spra- nur Gedichte, so neu, daß sie allem seither Erfah-
che und Literatur 26, S. 205-224; – Erika Nardon renen wirklich entsprechen.« (GuI, 40) Diesem
(1985): Erwartung und Mißverständnis. Zur Aufnahme
strengen ethischen und ästhetischen Maßstab
der Lyrik Ingeborg Bachmanns in den fünfziger Jahren.
In: Quaderni di Lingue e Letterature 10, S. 117-133; – poetisch zu entsprechen, ist ihr in ihrer Lyrik der
Robert Pichl (2000): Ingeborg Bachmanns Erklär mir, 1960er Jahre offenbar nur selten gelungen. Die
Liebe. In: Kucher/Reitani (2000), S. 192-199; – Heinz wenigen von ihr publizierten späten Gedichte –
Politzer (1974): Ingeborg Bachmann: Das Spiel ist aus. vier Widmungsgedichte sowie die 1968 in der
In: Views and Reviews of Modern German Literature. Zeitschrift »Kursbuch« veröffentlichten (Keine
Festschrift for Adolf D. Klarmann. (Hg.) Karl S. Wei-
Delikatessen, Enigma, Prag Jänner 64, Böhmen
mar. München, S. 171-180; – Wolfdietrich Rasch
(1967): Drei Interpretationen moderner Lyrik. In: liegt am Meer) – gehören allerdings zum »be-
Rasch: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundert- deutendsten Teil ihres lyrischen Oeuvres« (Höller
wende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart, S. 274-293; – in Bachmann 1998a, S. 7). Sie verbinden den
Wolfgang Schadewaldt (1960): Das Wort der Dichtung. »rückhaltlose[n] Einsatz der eigenen Existenz«
Mythos und Logos. In: Gestalt und Gedanke 6, S. 90- (Bartsch 1997, S. 123) mit sprachkritisch und
128; – Neva Šlibar (2000): Von einem, der auszog, das
ethisch begründeter poetologischer Selbstrefle-
Fürchten zu lernen. Ingeborg Bachmanns Gedichtzy-
klus Von einem Land, einem Fluss und den Seen. In: xion sowie mit der Erprobung ganz unterschiedli-
Kucher/Reitani, S. 200-218; – Rita Svandrlik (1984): cher Formen lyrischen Sprechens.
Ästhetisierung und Ästhetikkritik in der Lyrik Ingeborg Den wenigen lyrischen Veröffentlichungen
Bachmanns. In: Text + Kritik (1984), S. 28-49; – Rita steht allerdings ein umfangreicher Korpus nach-
Svandrlik (2000): Thematisierungen der Schrift. Über gelassener Gedichtentwürfe aus den 1960er Jah-
Bachmanns Brief in zwei Fassungen. In: Kucher/Reitani
ren gegenüber, der die Annahme eines ›Verstum-
(2000), S. 151-163; – Siegfried Unseld (1989): Anru-
fung des Großen Bären [1956]. In: Koschel/von Wei- mens‹ der Lyrikerin (trotz der Schwerpunktver-
denbaum (1989), S. 16-19. schiebung zur Todesarten-Prosa) zusätzlich
Marion Schmaus widerlegt. Fünf nachgelassene Gedichtentwürfe
aus den Berliner Jahren (1963–65) hat Hans Höl-
ler im Rahmen seiner Faksimile-Edition von Ent-
2.4. Späte Gedichte würfen zu drei der vier »Kursbuch«-Gedichte
ediert (Bachmann 1998a). Die gleichen fünf Ge-
In den Jahren 1961 bis 1963 hat Ingeborg Bach- dichtentwürfe haben die Erben der Dichterin zu-
mann in Interviews verschiedentlich nahegelegt, sammen mit 99 anderen Entwürfen aus dem ge-
sie habe nach ihrem zweiten Lyrikband Anrufung sperrten Nachlaß unter dem Titel »Ich weiß keine
des Großen Bären (1956) und der Gedichtgruppe bessere Welt« herausgegeben (Bachmann 2000b).
in der Zeitschrift »Botteghe Oscure« (1957) »fast Diese Auswahlausgabe umfaßt vor allem zahl-
bewußt aufgehört, Gedichte zu schreiben« (GuI, reiche stark autobiographische Gedichtentwürfe
28). Damit schien die Autorin den öffentlichen aus den Jahren 1962 bis 1964, in denen Bach-
Eindruck eines Gattungswechsels von der Lyrik mann die durch die schmerzhafte Trennung von
zur Erzählprosa zu bestätigen, der durch ihren Max Frisch ausgelöste Lebenskrise verarbeitet.
ersten Erzählband Das dreißigste Jahr (1961) ent- Daneben stehen u. a. Gedichte, die sich den Prag-
standen war. Bei näherer Hinsicht erweist sich reisen des Frühjahrs 1964 (S. 160–164) und der
die vermeintliche Absage an die Lyrik jedoch als Ägyptenreise im April/Mai 1964 (S. 155–157,
Ausdruck einer sprach- und literaturkritischen 165–169) verdanken sowie einige deutlich spä-
Selbstbesinnung der Autorin auf der Suche nach tere Entwürfe (S. 170–175; vgl. zur editorischen
einer anderen, neuen lyrischen Sprache im Sinne Problematik der späten Gedichte Göttsche).
der literaturtheoretischen Grundüberlegungen Vier der von Bachmann selbst veröffentlichten
ihrer Frankfurter Vorlesungen (W 4, 192): »Ich späten Gedichte sind Widmungsgedichte poeto-
habe aufgehört, Gedichte zu schreiben, als mir logischen Charakters an verehrte bzw. befreun-
der Verdacht kam, ich ›könne‹ jetzt Gedichte dete Lyriker und Komponisten. Das Gedicht Ihr
schreiben, auch wenn der Zwang, welche zu Worte (1961) trägt die Widmung »Für Nelly
schreiben, ausbliebe. Und es wird eben keine Sachs, die Freundin, die Dichterin, in Verehrung«
Gedichte mehr geben, eh’ ich mich nicht über- (W 1, 162). Es verdankt sich der Begegnung
zeuge, daß es wieder Gedichte sein müssen und Ingeborg Bachmanns mit Nelly Sachs am 25./26.
Späte Gedichte 79

Mai 1960 in Zürich (zusammen mit Max Frisch letzte Ausdruckskraft bleibt (W 1, 171; vgl. zu
und Paul Celan) aus Anlaß der Verleihung des diesen musikalischen Widmungsgedichten den
Droste-Preises der Stadt Meersburg an Nelly Artikel »Bachmann und die Musik«).
Sachs am 29. Mai 1960 (Celan, Bd. 2, S. 439 f.). Die zahlreichen, aus dem gesperrten Nachlaß
Auf der Suche nach einer lyrischen Sprache, die veröffentlichten Gedichtentwürfe der Jahre 1962
weder der in der Gesellschaft herrschenden bis 1964 (Bachmann 2000b) zeigen zum einen,
Rede- und Denkweise noch den Klischees der wie die Autorin in ihrer mit der Trennung von
lyrischen Tradition erliegt, entwirft die poetolo- Max Frisch verbundenen Lebenskrise lyrische
gische Sprachkritik des Gedichts einen Span- Rede therapeutisch verwendet. Insofern sind
nungsbogen von dem Aufruf an die Lyrik als diese Gedichtentwürfe als autobiographische Do-
»Utopia der Sprache« (W 4, 268) – »Ihr Worte, kumente zu lesen, in denen Bachmann die tra-
auf, mir nach!, / und sind wir auch schon weiter, dierten ebenso wie die selbst erarbeiteten lyri-
/ zu weit gegangen, geht’s noch einmal / weiter, schen Sprechweisen rücksichtslos zerschreibt.
zu keinem Ende geht’s.« – bis zur radikalen Ab- Sie sprechen von der Enttäuschung ihrer Liebes-
sage an die »schlechte Sprache« (W 4, 268) for- und Partnerschaftserwartungen, von dem Trauma
melhafter oder ideologischer Rede in dem »lyri- einer Abtreibung, von Wut und Schmerz, Depres-
sche[n] Appell« (Mechtenberg 1978, S. 84): sion und Verzweiflung, aber auch von Widerstand
»Kein Sterbenswort, / Ihr Worte!« (W 1, 162 f.) und Neuorientierung. Zum anderen dokumentie-
Stärker ideologiekritisch ausgerichtet ist die poe- ren diese Entwürfe daher aber in der immer
tologische Sprachreflexion in dem Gedicht Wahr- neuen Variation wiederkehrender Motive, Wen-
lich (1965), das Bachmann Anna Achmatowa ge- dungen und Zitate das auch literarische Ringen
widmet und anläßlich der Verleihung des ›Pre- um den lyrischen Ausdruck der erlittenen Verlet-
mio Etna-Taormina‹ an diese russische Lyrikerin zungen. Für die Schreibende bedeutet ihre Le-
vorgetragen hat (Taormina, 12. 12. 1964). Hier benskrise notwendig auch eine Schaffenskrise –
bildet das Verstummen die sprachskeptische Vor- »als wären die Worte am Leben, als wäre das
aussetzung literarischen Sprechens – »Wem es Leben am Wort« und »Meine Gedichte sind mir
ein Wort nie verschlagen hat, / […] dem ist nicht abhanden gekommen« (Bachmann 2000b, S. 126,
zu helfen« –, und doch läßt das diskursive Uni- 11) –, doch ermöglicht das Schreiben zugleich
versum der Moderne keinen Raum mehr für eine Gegenwehr und Selbstfindung: »Ich habe die Fe-
›absolute‹ Sphäre der Lyrik jenseits der gesell- der / wieder in der Hand / härter gespitzt […]«
schaftlichen Sprachpraxis: »Einen einzigen Satz (ebd., S. 89). Das leidende Ich dieser Entwürfe
haltbar zu machen, / auszuhalten in dem Bimbam findet (wie später das Ich in Malina) in Richard
von Worten. // Es schreibt diesen Satz keiner, der Wagners Musikdrama Tristan und Isolde ein äs-
nicht unterschreibt.« (W 1, 166) Lyrik kann ihre thetisches Ausdrucksmodell (siehe Bachmann
utopische Kraft also nur in der kritischen Ausein- 2000b, S. 95–115), es spricht sich (wie später in
andersetzung mit der gegebenen Diskursrealität Enigma) Trost zu mit dem Frauenchor aus Mah-
entfalten. lers 3. Sinfonie (»du sollst ja nicht weinen«; ebd.,
Das Gedicht In memoriam Karl Amadeus Hart- S. 39, 51), identifiziert sich mit der verzweifelten
mann (1965) aus dem Epitaph auf diesen mit der Liebe der italienischen Dichterin Gaspara
Autorin bekannten Komponisten setzt demgegen- Stampa – das Zitat »vivere ardendo e non sentire
über die überlegene Ausdruckskraft der Musik il male« (ebd., S. 120), das zugleich Gabriele
gegen die sprachlichen Rituale öffentlicher d’Annunzios Roman Das Feuer zitiert, wird in
Trauer (Bachmann 1980), und das »Kursbuch«- ähnlicher Ausdrucksfunktion in den Roman Ma-
Gedicht Enigma, das die Widmung »Für Hans lina eingehen (TKA 3.1, 542) – und ringt in
Werner Henze aus der Zeit der Ariosi« trägt, führt diesem intertextuellen Dialog mit Musik und
mit Zitaten aus Alban Bergs Peter Altenberg- Literatur zugleich um »ein neues Leben« (Bach-
Liedern und dem Frauenchor aus dem 5. Satz von mann 2000b, S. 107). Die existentielle Dimen-
Gustav Mahlers 3. Sinfonie einen vielschichtigen sion der Gedichte aber ist verbunden mit der
intermedialen Dialog mit der Musik, die ange- Reflexion der gesellschaftlichen Ursachen des ei-
sichts der Endzeit (»Nichts mehr wird kommen«) genen Leidens. So sieht sich das lyrische Ich der
am Rande des Verstummens der Sprache die Entwürfe »zum Experiment / gemacht« in einer
80 II. Das Werk

»Gesellschaft«, der es »die Revolution« wünscht tiellen Reflexion von Partnerschaft und Abschied
(ebd., S. 9f.), setzt gegen »die schwachsinnige gehoben. Die Eingangszeile »Gemeinsam be-
Moral der Opfer«, d. h. der Selbst-Opferung nutzt: Jahreszeiten, Bücher und eine Musik« er-
(ebd., S. 20), eine selbstbewußte »Politik der öffnet eine lebensgeschichtliche Gedächtnistopo-
Schwäche« (ebd., S. 152) und analysiert in der graphie gemeinsamer Gegenstände, Interessen
eigenen ›Zutraulichkeit‹ die Voraussetzung der und Erfahrungen als Erinnerung an eine Liebe,
Zerstörung ihrer »prästabilierte[n] Harmonie« die – hierin ist ihr »Absolutheitsanspruch«
(ebd., S. 37). In thematisch-motivischer Nähe zu (Oberle 1990, S. 67) gesehen worden – zugleich
den (späteren) Todesarten-Texten umkreisen die eine ganze »Welt«, ja die gültige Welt des lyri-
Entwürfe in diesem Sinne die Verschränkung von schen Ich bedeutet: »Nicht dich habe ich ver-
politischer Zeitgeschichte und sozialer Alltags- loren, / sondern die Welt.« (W 1, 170) Die Sub-
erfahrung im Verhältnis der Geschlechter und limierung der biographischen Verstörung in die
erkennen in der seelisch-körperlichen Leiderfah- Sprache der Melancholie exemplifiziert die in
rung des Ich zugleich die »Deportationen« und den Entstehungsprozessen der späten Gedichte
Vernichtungserfahrungen der Opfer des Natio- insgesamt beobachtete »Unterdrückung von Un-
nalsozialismus wieder: Dieses Ich ist »ganz ein mittelbarkeit« zugunsten einer »sich durchset-
Körper, auf dem die Geschichte / und nicht die zenden Werkidee« (Höller in Bachmann 1998a,
eigne, ausgetragen wird« (ebd., S. 60). S. 9).
Mit solcher Einbettung der Lebenskrise in ei- Eine weitere Spur aus dem nachgelassenen
nen geschichtlichen Horizont stehen jene Ge- Entwurfskomplex führt zu dem am meisten dis-
dichtentwürfe in Verbindung, die (in motivischer kutierten poetologischen Gedicht Ingeborg Bach-
Nähe zu der Büchnerpreisrede Ein Ort für Zu- manns, dem »Kursbuch«-Gedicht Keine Delika-
fälle) Erfahrungen aus dem »geteilten Berlin« des tessen. Einer der vormals gesperrten Entwürfe
Kalten Krieges thematisieren, in dem »eine Ideo- verschränkt Lebenkrise und Schaffenskrise zu
logie die andere rammt« (Bachmann 2000b, einem Verlust der bisherigen lyrischen Sprache:
S. 133, 147). Der teils groteske, teils satirische »Meine Gedichte sind mir abhanden gekommen«
Blick auf Berlin als symbolischen Ort des Un- (Bachmann 2000b, S. 11). Der trauernde Ab-
friedens (Bachmann 2000b, S. 130–149) ist auch schied von den »schönen Worten, mit euren Ver-
hier Teil einer literarischen Überkreuzung von heißungen« verbindet sich hier mit dem Entwurf
individueller Verstörung und politisch-histori- einer anderen, sarkastischen Sprache als lyri-
scher Situation, wie sie besonders eindringlich in scher Antwort auf eine von Gewalt geprägte Welt:
dem Gedichtentwurf Schallmauer zum Ausdruck »es muß würziger sein, eine gepfefferte Metapher
kommt (Bachmann 1998a, S. 19). Der fast kör- / müßte einem einfallen. Aber mit dem Messer
perliche Einbruch des Lärms startender und lan- im Rücken.« (ebd.) In den Entwürfen zu dem
dender Flugzeuge in die Wahrnehmungswelt ei- Gedicht Keine Delikatessen (Bachmann 1998a,
nes kranken Ich ist hier Ausgangspunkt der Aus- S. 46–79) läßt sich dann der Weg von einer poeto-
einandersetzung mit dem »Wahn« einer vom logisch funktionalisierten Konsumkritik zu einer
technischen Fortschritt besessenen und von Ge- scharfen Abrechnung mit all jenen Formen der
walt geprägten Gesellschaft (vgl. Höller 1994). Lyrik verfolgen, die in ihrer rein ästhetischen
Aus dem Komplex der autobiographischen Ge- Metaphernsprache oder im leerlaufenden
dichtentwürfe hat Bachmann nur ein Gedicht, Sprachexperiment gegenüber »Elend« und »Ver-
Eine Art Verlust, in der Form einer Lesung ver- zweiflung«, »Hunger / Schande / Tränen / und /
öffentlicht (Hörfunkaufnahme der BBC London, Finsternis« in der Welt versagen: »Soll ich / eine
15. Juli 1967). Dieses Gedicht ist sowohl durch Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte?
seine Vorstufe Mild und leise (N455), einem der / die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? /
wiederkehrenden Wagner-Zitate, als auch durch Wer wird sich den Schädel zerbrechen / über so
den Entwurf Memorial (Bachmann 2000b, S. 42) überflüssige Dinge – // […] (Soll doch. Sollen
mit dem Konvolut jener Entwürfe verbunden, in die andern.) // Mein Teil, es soll verloren ge-
denen die Autorin ihre Trennung von Max Frisch hen.« (W 1, 172 f.) Im Kontext des berühmten
verarbeitet. Das Autobiographische wird hier »Kursbuch«-Hefts 15, in dem Karl Markus Mi-
aber auf die allgemeinere Ebene einer existen- chel, Hans Magnus Enzensberger und Walter
Späte Gedichte 81

Boehlich ideologiekritisch den ›Tod‹ der ›bürger- diesen »kleine[n], in sich brüchige[n] Utopien«
lichen Literatur‹ verkündeten, ist Keine Delika- (Höller in Bachmann 1998a, S. 8) für die Wieder-
tessen als Bachmanns »Abrechnung« mit der Ly- begegnung mit jenem mythischen Habsburger
rik schlechthin verstanden worden (Oelmann Österreich, das Bachmann als ihre geistige Hei-
1980, S. 74), und die Stellung des Gedichts in der mat entwarf. So führt beispielsweise der Weg
Werkausgabe am Ende der Werkgruppe Lyrik hat vom Wenzelsplatz »nachhause« »in eine Gasse,
das Mißverständnis eines vollständigen Ab- die weit unten in meiner Vergangenheit endet /
schieds auch vom eigenen lyrischen Schaffen be- und mein Leben ist« bzw. »in der meine Herkunft
kräftigt. Im »Kursbuch« jedoch eröffnet Keine ist« (Bachmann 1998a, S. 23). Auch das im »Kurs-
Delikatessen die als Zyklus zu verstehenden buch« veröffentlichte Gedicht Prag Jänner 64
(Kaulen) vier zuletzt veröffentlichten Gedichte, spricht diese Erfahrung der seelischen Wieder-
und es steht ihm am Schluß der Gruppe kontra- herstellung in einer »geistigen Heimkehr«
punktisch Bachmanns Hommage an die poetische (N2349, zitiert nach Bartsch 1997, S. 127) aus:
Imagination in dem Gedicht Böhmen liegt am »Seit jener Nacht / gehe und spreche ich wieder, /
Meer gegenüber. Überzeugender sind daher In- böhmisch klingt es, / als wär ich wieder zuhause«
terpretationen, die das Gedicht in der werkge- (W 1, 169). In der symbolischen Topographie des
schichtlichen Linie der poetologischen Gedichte Gedichts erstreckt sich der wiedergewonnene
als radikalisierte (Selbst-) Kritik lesen (z. B. Höl- Raum von der Moldau über die Donau »bis zum
ler 1987, Bartsch 1997, Höller in Bachmann Ural«.
1998a), als Absage an (traditionelle oder schein- Das wichtigste Gedicht dieser thematischen
bar avantgardistische) Formen der Lyrik, die Gruppe ist aber zweifellos Böhmen liegt am Meer,
Bachmanns kritischem Ethos nicht genügen, und das in seinem Titel im Shakespeare-Jahr 1964 die
– in Auseinandersetzung mit der »massiven re- unmögliche Topographie von Shakespeares spä-
staurativen Vereinnahmung ihrer Lyrik in den tem Drama The Winter’s Tale als »literarische
fünfziger Jahren« (Höller in Bachmann 1998a, Utopie« (Bartsch 1997, S. 127) zitiert und auf
S. 82) – in diesem Sinne auch als Absage an jenen verschiedene Shakespeare-Stücke anspielt (Both-
»Teil« des eigenen lyrischen Werks, in dem die ner 1986, S. 325ff.; Cambi). In teils klassischen,
Autorin sich nicht vollständig von der kritisierten teils variierten antithetischen Alexandriner-Ver-
ästhetischen Konsumierbarkeit und ideologi- sen, deren Spiel von Ordnung und Normdurch-
schen Vereinnahmbarkeit glaubt befreit zu haben. brechung der thematisierten »Gleichzeitigkeit
In Interviews des Jahres 1973 hat Bachmann sich von Zugrundegehn und Unverlorensein« »ent-
entsprechend – wie wohl schon 1968 in einem spricht« (Neumann, S. 384), im Zitat barocker
gesperrten Antwortbrief an K. M. Michel Vanitas- und Vagantenmotive, in der für Bach-
(N1523–29) – von der kurzschlüssigen Totsagung manns Werk leitmotivischen »Poetik des Anein-
der Literatur distanziert und zugleich gesagt, sie andergrenzens« der Kulturen und Sprachen so-
»stehe noch« zu ihren älteren Werken, »nur zu wie in der philosophischen Dialektik des Zu-
einigen Gedichten nicht mehr« (GuI, 138). grundegehens als eines ›auf den Grund-Gehens‹
Das kontrapunktisch gegen Keine Delikatessen entwirft das Gedicht noch einmal »Bachmanns
gesetzte Gedicht Böhmen liegt am Meer gehört Mitteleuropa-Utopie« (Höller in Bachmann
zusammen mit Prag Jänner 64 zu jenen Ge- 1998a, S. 126 f.) als Sinnbild von Freiheit und
dichten, die sich den beiden Pragreisen Ingeborg Frieden, als »Heimat aller Heimatlosen« (Neu-
Bachmanns im Januar und Anfang März 1964 mann, S. 386) und »Sehnsuchtsfigur« der »›Rück-
verdanken. Im gleichen Kontext entstanden auch kehr zu einem nie Gewesenen‹« (Weigel 1999,
die nachgelassenen Gedichtentwürfe Wenzels- S. 357). In diesem Sinne hat die Autorin Böhmen
platz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag (Bach- liegt am Meer selbst rückblickend als ihr »letz-
mann 1998a) und Heimkehr über Prag (Bach- te[s] Gedicht« und als ein »Geschenk« für »alle«
mann 2000b); auch Enigma steht durch den Ent- bezeichnet, »die nicht aufgeben zu hoffen auf das
wurf Auf der Reise nach Prag mit dieser Gruppe Land ihrer Verheißung« (N2349, zitiert nach
in Verbindung (Bachmann 1998a, S. 137). Im Bachmann 1998a, S. 119). Infolge seines Publika-
Kontrast zu Berlin als dem symbolischen Ort der tionsdatums ist dieses Gedicht rezeptionsge-
Verstörung und des Kalten Krieges steht Prag in schichtlich auch mit der Hoffnung auf einen de-
82 II. Das Werk

mokratischen Sozialismus im ›Prager Frühling‹ aus noch mindestens zwei unveröffentlichte späte
in Zusammenhang gebracht worden (Neumann, Gedichtentwürfe aus dem Zeitraum 1961–66, die
Oberle 1990, Cambi). radikale Mitte (N2484) und Meine Beatles
Auch der Reise Ingeborg Bachmanns nach (N3800); eine Abgleichung der aus dem gesperr-
Ägypten und in den Sudan im April/Mai 1964 ten Nachlaß veröffentlichten Gedichtentwürfe
verdanken sich einige nachgelassene Gedichtent- (Bachmann 2000b) mit den verbleibenden Sper-
würfe, zunächst in der Antizipation (Bachmann rungen in deren Umfeld bzw. im Konvolut der
2000b, S. 155–157), dann in der Auseinander- Lyrik (N1–500) läßt im übrigen zahlreiche wei-
setzung mit Erfahrungen landschaftlicher und tere unbekannte Gedichtentwürfe vermuten, an-
kultureller Fremde (ebd., S. 165–169). In einer gesichts der Sperrungspraxis und des Nachlaß-
motivischen Vorstufe zum kritischen Exotismus umfeldes möglicherweise auch solche aus den
und der Neokolonialismuskritik des Wüsten- späten Jahren (Göttsche). Eine endgültige Ein-
buchs und des Buchs Franza werden die exotisti- schätzung von Bachmanns lyrischem Schaffen in
schen Topoi der ›wilden Liebe‹, der erotischen ihren letzten römischen Jahren ist daher zur Zeit
»Nacht in Ägypten«, der »Orgie« (ebd., S. 22, 156, noch nicht möglich.
169) gegen die »bürgerliche Infamie« der west-
Quellen: Ingeborg Bachmann (1965): In memoriam
lichen Zivilisation und ihrer »niedrigen weißen
Karl Amadeus Hartmann. In: Epitaph. Karl Amadeus
Rasse« gehalten (ebd., S. 169). Die Nacht der Hartmann. München 1966 [= Katalog zur Ausstellung
Liebe, in der das lyrische Ich »wieder sprechen« des »Epitaph für Karl Amadeus Hartmann« München
und »gehen gelernt« hat (ebd., S. 157), fungiert 1965]; – Ingeborg Bachmann (1968): Vier Gedichte. In:
widersprüchlich sowohl als »Rache […] an allem, Kursbuch 15, S. 91–95; – Paul Celan (2001): Paul Celan
was weiß ist / weiß war, weiß sein wird«, als auch – Gisèle Celan-Lestrange: Briefwechsel. Mit einer Aus-
wahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus
als eine Utopie, in der sich »die Rassen ver-
dem Französischen von Eugen Helmlé. (Hg.) Betrand
schränken« (ebd., S. 165). In recht konventio- Badiou in Verbindung mit Eric Celan. Anmerkungen
neller exotistischer Topik imaginiert sich das Ich übersetzt und für die deutsche Ausgabe eingerichtet von
der Gedichtentwürfe als »Königin vom Sambesi« Barbara Wiedemann. 2 Bde. Frankfurt/M.
und Afrika als »terra nova, […] ultima speranza«
Literatur: Bartsch (1997); Bothner (1986); Höller
(ebd., S. 167 f.).
(1987); Höller in Bachmann (1998a); Mechtenberg
Die letzten der aus dem Nachlaß veröffentlich- (1978); Oberle (1990); Oelmann (1980); Thiem (1972);
ten Gedichtentwürfe (Bachmann 2000b, S. 170– Weigel (1999).
175) heben sich thematisch-motivisch deutlich Fabrizio Cambi (2000): Ein Ich zwischen Scheitern und
von den früheren ab und dürften erheblich später Annäherung ans Wort. Böhmen liegt am Meer
entstanden sein. Neben einer Kritik des politi- (1964–66). In: Kucher/Reitani (2000), S. 243–252; –
Dirk Göttsche (2003): Textkritische Überlegungen zur
schen Alltagsdiskurses (Soziologie) steht in
späten Lyrik Ingeborg Bachmanns. In: Albrecht/Gött-
Strangers in the Night – der Titel von Frank sche (2003); – Hans Höller (1994): Schallmauer. Ein
Sinatra wird auch in Simultan zitiert (TKA 4, 111) spätes unveröffentlichtes Gedicht von Ingeborg Bach-
– eine durch Altersreflexionen melancholisch ge- mann. In: Pichl/Stillmark (1994), S. 39–50; – Heinrich
färbte Feier verjüngender Liebe, in An jemand Kaulen (1991): Zwischen Engagement und Kunstauto-
ganz anderen ein weiterer Versuch eines Liebes- nomie. Ingeborg Bachmanns letzter Gedichtzyklus Vier
Gedichte (1968). In: Deutsche Vierteljahrsschrift 65,
gedichts und in Dein Tod, und wieder der Nachruf
S. 755–777; – Peter Horst Neumann (1982): Ingeborg
auf einen durch »fünf Schüsse« getöteten Freund Bachmanns Böhmisches Manifest. In: Koschel/von
(Bachmann 2000b, S. 173). Im Wiener Nachlaß Weidenbaum (1989), S. 382–388.
befinden sich (nach Maßgabe der Datierung an- Dirk Göttsche
hand von Maschinenschriftbildern) darüber hin-
83

3. Hörspiele

Als Bachmann im März 1959 für ihr Hörspiel Der In diesem Sinne können die drei von Bach-
gute Gott von Manhattan der Hörspielpreis der mann publizierten Hörspiele als jeweils unter-
Kriegsblinden verliehen wurde, nahm sie dies schiedliche Erkundungen dieses Spannungsver-
zum Anlaß, sich in ihrer Preisrede eingehend mit hältnisses zwischen Unmöglichem und Mögli-
der Aufgabe des Schriftstellers auseinanderzu- chem gelesen werden. Alle drei betonen das
setzen. Dem Titel der Rede Die Wahrheit ist dem essentielle Gebundensein der Menschen an die
Menschen zumutbar entsprechend beharrte sie jeweilige Gesellschaftsordnung, setzen jedoch
darauf, daß diese Aufgabe nicht darin bestehen auch das Bedürfnis voraus, die Grenzen dieser
könne, Trost zu spenden oder Leid zu lindern. Ordnung zu überschreiten. Anders als in den
Stattdessen müsse der Schriftsteller zum Ver- Untersuchungen von Hilde Haider-Pregler (1986)
ständnis des »großen geheimen Schmerz[es], mit und Kurt Bartsch (1979), die Bachmanns Hör-
dem der Mensch vor allen anderen Geschöpfen spiele ebenfalls im Kontext der Preisrede Die
ausgezeichnet ist«, beitragen und »ihn, im Ge- Wahrheit ist dem Menschen zumutbar untersu-
genteil, wahrhaben und noch einmal, damit wir chen, lassen sich diese Hörspiele (wie auch Bach-
sehen können, wahrmachen« (W 4, 275). Sie manns Werke im allgemeinen) auch als Kritik an
gesteht zu, daß sie in Der gute Gott von Manhat- der Ausschließlichkeit eben jener beiden Para-
tan einen »Grenzfall« darstelle, der aber gerade digmen lesen, die so oft zum Verständnis ihrer
in seiner extremen Suche nach dem Unmöglichen Texte herangezogen worden sind. Im Kontext des
erhellend sei: »Denn bei allem, was wir tun, einen Paradigmas (etwa Freudscher oder Marcu-
denken und fühlen, möchten wir manchmal bis sescher Provenienz) geht das Verlangen nach Auf-
zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns lehnung gegen die bestehende Gesellschaft auf
wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns eine Quelle außerhalb dieser zurück und wird als
gesetzt sind.« (W 4, 276) Durch den Blick auf das der Gesellschaft entgegengesetzt und feindlich
Utopische werde es den Menschen ermöglicht, verstanden, im Kontext des anderen (aus Fou-
nach etwas jenseits des Gegebenen zu streben, caultscher Perspektive) ist der Widerstand als
was gerade die Kriegsblinden sehr gut nachvoll- Effekt der Gesellschaftsordnung selbst zu ver-
ziehen könnten: »Wer, wenn nicht diejenigen stehen. Bachmanns eigener Standpunkt liegt je-
unter Ihnen, die ein schweres Los getroffen hat, doch dazwischen: Der Wunsch oder auch Ver-
könnte besser bezeugen, daß unsere Kraft weiter such, aus der Ordnung auszutreten, wird als
reicht als unser Unglück, daß man, um vieles Kritik an der Ordnung aufgefaßt, die zur Verände-
beraubt, sich zu erheben weiß, daß man ent- rung der Ordnung führen kann, aber trotz allem
täuscht, und das heißt ohne Täuschung, zu leben werden die Menschen letztendlich »in der Ord-
vermag.« (W 4, 277) Die Wirklichkeit könne uns nung bleiben müssen«.
zwar nicht die alternativen Welten der Kunst Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ist es
bieten, doch hat die Kunst gerade die Funktion, nicht verwunderlich, daß Bachmann nicht nur
eben jene Ideale zu postulieren, nach denen die Faschismus oder Kommunismus, sondern – be-
Menschen streben können. Bachmann faßt dies sonders deutlich in Der gute Gott von Manhattan
in einer inzwischen vielzitierten Formulierung – jede »Ordnung« als totalitär betrachtete. Alle
zusammen: »Es ist auch mir gewiß, daß wir in der drei Hörspiele stellen den Widerstand gegen die
Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus bestehende Ordnung zwar als möglichen dar, be-
der Gesellschaft nicht gibt und wir uns anein- stehen aber auch darauf, daß dieser Widerstand
ander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen zugleich ein von der Ordnung ›kontaminierter‹
aber haben wir den Blick gerichtet auf das Voll- ist. Bachmanns Texte zeigen, daß gerade die Fi-
kommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei guren, die sich außerhalb der Ordnung zu stellen
es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen versuchen (Jennifer, Wildermuth, die Hauptfigur
Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem in Alles, Franza, vielleicht sogar das Ich in
Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten.« Malina) zum Scheitern verurteilt sind, während
(W 4, 276)
84 II. Das Werk

sich die Überlebenden in der Welt, wie sie ist, zungsbehörde dem ›Department of State‹ im Mai
zurechtfinden (Malina, Hanna, Jan, die Haupt- 1951 mit: »Red-White-Red has been guided by
figur in Das dreißigste Jahr: »Steh auf und geh! the method of oblique rather than frontal pro-
Es ist dir kein Knochen gebrochen.«; W 2, 137) paganda – a tactic made possible because of the
Bachmann war allerdings weder bereit, sich mit opportunity of locally blending U. S. information
der bestehenden Ordnung zu versöhnen, noch policy into an indigenous-seeming Austrian
auf das Visionäre zu verzichten. Das kommt bei- home network.« (National Archive 511.63/
spielsweise in ihrem Statement in dem Fernseh- 5–1551, U. S. Legation Vienna to Department of
film »Ingeborg Bachmann in ihrem erstgebore- State, 15. 5. 1951; zitiert nach Wagnleitner, S. 98)
nen Land« zum Ausdruck, wo sie sich ausdrück- Besonderen Wert legten die Amerikaner darauf,
lich zu den märchenhaften Partien in Malina daß »high-caliber Austrian talent in political and
bekennt: »Ich glaube wirklich an etwas, und das other programming under overall American gui-
nenne ich ›ein Tag wird kommen‹.« (GuI, 145) dance« eingestellt wurde (National Archive
Auf einer profaneren Ebene beklagt sie sich bei 511.63/11–452, Telegramm: Thompson an De-
Hans Werner Henze über die sozialdemokrati- partment of State, Wien, 4. 11. 1952; zitiert nach
sche Kritik an ihrer politischen Einstellung: »[…] Wagnleitner, S. 139). Die österreichische Beleg-
ich glaube doch, daß unsere Ansprüche, Ideen schaft des Senders bezog von den Amerikanern
und Forderungen sich über den Tag erheben müs- hohe Gehälter, und für Hörspiele, Literatursen-
sen wie eine Melodie – also ich bleibe unbelehr- dungen, Nachrichten, Bildung, Musik und an-
bar, und ich glaube, daß wir diesen Ideen, auch dere Unterhaltungsprogramme standen großzü-
wenn niemand es verlangt, treu bleiben müssen, gige Budgets zur Verfügung – und das war auch
weil man nicht existieren kann ohne den Ab- für Bachmann eine Chance.
solutheitswahn, den Grass mir zum Beispiel vor- Kürzlich hat sich Joseph McVeigh (2002) einge-
wirft.« (Brief vom 26. 7. 1965 an Hans Werner hend mit Bachmanns Erfahrungen bei dem Sen-
Henze; zitiert nach Henze 1996, S. 248) Entspre- der Rot-Weiß-Rot beschäftigt und gleichzeitig
chend läßt sich Bachmanns Darstellung des Mög- neues Licht auf ihre eigene Arbeit für das Me-
lichen und Unmöglichen als ganz konkrete Aus- dium Rundfunk geworfen. Zusammen mit Kolle-
einandersetzung mit dem lesen, was in der Ent- gen aus dem Literaturkreis um den aus dem Exil
stehungszeit der Hörspiele, also während des zurückgekehrten Hans Weigel im Café Raimund
Kalten Krieges, als möglich und unmöglich galt. – Jörg Mauthe, Peter Weiser und (zeitweise)
Bachmanns erste Rundfunkerfahrungen stehen Wolfgang Kudrnofsky – hat Bachmann das Script-
in engem Zusammenhang mit dem Kalten Krieg. Department bei Rot-Weiß-Rot aufgebaut. (Mau-
Sie kam 1951 als Angestellte der amerikanischen the bemerkt dazu: »Wir haben keine Ahnung
Besatzungsmacht zum Radio, zunächst als gehabt, was das ist, haben uns aber nicht lange
Schreibkraft und dann als Scriptwriter und Re- bitten lassen«; Mauthe, S. 250.) Mauthe stellt die
dakteurin beim Wiener Sender Rot-Weiß-Rot. Aufgaben des Script-Departments als ziemlich
Über diese Anstellung gelangte sie ins Zentrum eklektisch dar: »Wir hatten damals alles zu ma-
der Politik des Kalten Krieges in Österreich. chen, was die anderen Abteilungen entweder
Reinhold Wagnleitner weist darauf hin, daß Rot- nicht tun konnten oder wollten: Hörspiele aussu-
Weiß-Rot unter der Kontrolle der US-amerikani- chen und selbst schreiben, Features verfassen
schen Besatzungsbehörde »spätestens ab 1950 oder in Auftrag geben.« (Mauthe, S. 250) Am
zum wichtigsten Propagandamedium der USA in wichtigsten war für Bachmann die Serie Die Ra-
Österreich« wurde (Wagnleitner, S. 134). Im Ver- diofamilie: zwischen Anfang 1952 und Sommer
gleich zu den recht unbeholfenen Bemühungen 1953 schrieb sie fünfzehn Radiofamilie-Skripte
der Sowjets mit ihrem Sender RAVAG war die US- entweder allein oder zusammen mit ihren Kolle-
Propaganda sehr viel besser ›verpackt‹. Der ame- gen Mauthe und Weiser. (McVeigh hat diese
rikanischen Medienpolitik in Österreich lag eine Skripte vor kurzem in Mauthes Nachlaß entdeckt
am 13. September 1950 vom ›Department of und wird sie demnächst herausgeben.)
State‹ angeordnete »Psychological Offensive« zu- Mauthes Erinnerung zufolge entwickelten er
grunde, die auch als Strategie für den Sender Rot- und Bachmann die Serie zusammen: »Die Bach-
Weiß-Rot maßgeblich war. So teilt die US-Besat- mann und ich haben uns dann in das kleine
Hörspiele 85

Tschoch in der Bandgasse gesetzt und beraten. Ein Geschäft mit Träumen
Innerhalb von zwei Stunden hatten wir das Kon-
Bachmanns erstes Hörspiel Ein Geschäft mit
zept beisammen.« (Mauthe, S. 251) In einem sati-
Träumen wurde erstmals am 28. Februar 1952
rischen Sketch mit dem Titel »Versuch einer Re-
von Rot-Weiß-Rot gesendet. Sigrid Weigel
konstruktion«, der zur Feier von Mauthes siebzig-
schreibt dazu: »Die Perfektion ihrer dramatur-
stem Geburtstag geschrieben wurde und diesen
gischen Anweisungen, der Einsatz von Geräu-
Gründungsaugenblick festzuhalten versucht, legt
schen, Musik, Lautstärke, Hall und Filter sowie
Peter Weiser seiner Figur Mauthe folgende Worte
die Stimmenführung von Hintergrund und
in den Mund: »Es wird eine politische Sende-
Hauptfiguren belegen ihre professionellen Erfah-
reihe werden, ohne daß der Hörer kapiert, daß
rungen mit dem Medium Rundfunk und dem
sie es ist, es wird eine erzieherische Sendereihe
Genre Hörspiel.« (Weigel 1999, S. 260) Am 4.
werden, ohne daß der Hörer kapiert, daß sie es
März 1952, weniger als eine Woche nach der
ist, es wird eine gesellschaftsprägende Sende-
Ursendung von Ein Geschäft mit Träumen,
reihe werden, ohne daß der Hörer kapiert, daß
brachte Rot-Weiß-Rot unter dem Titel Das Herr-
sie es ist, und es wird eine lustige Sendereihe
schaftshaus Bachmanns Übersetzung von Tho-
werden, und das wird das einzige sein, was der
mas Wolfes Theaterstück Mannerhouse. (Später
Hörer kapiert.« (Weiser 1994, S. 26) Genau dies
bearbeitete sie auch Peter Sandbergs Übersetzung
war auch das Programm von Rot-Weiß-Rot: Un-
von Mannerhouse für den Rundfunk; W 1, 665.)
terhaltung wurde benutzt, um die Botschaft des
Bachmann richtete auch Franz Werfels Novelle
Kalten Krieges zu übermitteln. Erst nach der
Der Tod des Kleinbürgers für den Rundfunk ein
Veröffentlichung der Radioskripte wird die Bach-
(Höller 1999, S. 47) und übersetzte Louis Mac-
mann-Forschung ihre Bedeutung für Bachmanns
Neices Hörspiel The Dark Tower (Sendedatum 8.
sonstiges Schreiben gründlich untersuchen kön-
Oktober 1952; W 4, 406). Die Uraufführung von
nen, aber einiges kann vielleicht schon jetzt fest-
Ein Geschäft mit Träumen ist nicht aufgezeichnet
gehalten werden. Im Nachwort zu einer Samm-
worden, und das Hörspiel selbst war fast ver-
lung kurzer, auf der tatsächlichen Sendereihe ba-
gessen, bis es in Bachmanns Nachlaß entdeckt
sierender Prosatexte beschreibt Weiser das von
und 1976 zum ersten Mal veröffentlicht wurde
Mauthe und Bachmann formulierte Konzept der
(Bachmann 1976). (Eine Erzählung gleichen Ti-
Radiofamilie: »Es sollte eine Familie sein, die
tels, aber leicht abweichenden Inhalts, die Bach-
erstens für das damals (1951) noch existierende
mann etwa in der gleichen Zeit schrieb, wurde
Bürgertum typisch war, zweitens aber imstande
am 3. November 1952 vom NWDR Hannover
sein mußte, das kleine und große Geschehen der
gesendet und zum ersten Mal in der Ausgabe
Zeit mit einem Anflug von Ironie, vielleicht sogar
»Werke« von 1978 gedruckt.) Am 20. Dezember
Persiflage widerzuspiegeln: die 4 Alliierten, den
1975 hat der Deutschlandfunk unter der Regie
Kalten Krieg, die Entnazifizierung, den begin-
von Herbert von Cramer Ein Geschäft mit Träu-
nenden Wiederaufbau, den zu Ende gehenden
men in neuer Inszenierung ausgestrahlt.
Schleichhandel, den beginnenden Postenscha-
Der Titel deutet bereits an, daß Bachmanns
cher, die sichtbar werdende Korruption und – die
Hörspiel in einer Zeit spielt, die von Konsum und
Festigung des Begriffes der wiedergewonnenen
Werbung geprägt ist; er klingt fast wie ein Oxy-
österreichischen Identität.« (Weiser 1990, S. 249)
moron, wie die treffende Beschreibung der ame-
Diese Erläuterung könnte sich auch als durchaus
rikanischen Intention, die Europäer zum »Ame-
hilfreich für das Verständnis von Bachmanns Hör-
rican way of life« zu ›bekehren‹. Viele Bachmann-
spielen erweisen, wenn man davon ausgeht, daß
ForscherInnen haben Ein Geschäft mit Träumen
die Autorin darin auf ähnliche Weise versucht,
(ebenso wie Der gute Gott von Manhattan) mit
politische Fragen in einem politischen Kontext zu
Bachmanns Gedicht Reklame aus dem Jahre 1956
behandeln, ohne daß ihr Publikum das unbedingt
in Verbindung gebracht. Reklame endet mit den
bemerkt.
Zeilen:
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
86 II. Das Werk

in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne einem Essay aus dem Jahr 1961 hat Heinz
sorge Schwitzke, ein ausgezeichneter Kenner des Hör-
was aber geschieht spiels der frühen Nachkriegszeit, darauf hinge-
am besten wiesen, daß Günter Eich mit seinem 1950 ent-
wenn Totenstille standenen Hörspiel Träume »der eigentliche
Durchbruch« der neuen Gattung gelungen war
eintritt (W 1, 114)
(Schwitzke, S. 13). Wenngleich Eichs Hörspiel
Die kursiven Zeilen evozieren Slogans der Radio- erst 1953 im Bayerischen Rundfunk zur Auffüh-
werbung, während der Terminus »Traumwäsche- rung kam, ist anzunehmen, daß Bachmann dieses
rei« an jene amerikanischen ›Seifenopern‹ den- Hörspiel von Günter Eich bereits kannte, als sie
ken läßt, die der Radiofamilie erklärtermaßen als ihr eigenes schrieb. Kurt Bartsch schreibt dazu:
Modell gedient haben, aber auch an die Proteste »Die Präferenz für den Traum als modus proce-
des österreichischen Personals gegen die ame- dendi im Hörspiel hat zweifellos mit dem Selbst-
rikanische Entscheidung, Rundfunkwerbung verständnis der traditionellen Ausprägung des
überhaupt zuzulassen. Der Diktion nach erinnert literarischen Radiogenres, genuine Ausdrucks-
das Lied des Drehorgelmannes, der die Traum- form für Konflikte zu sein, die auf einer ›inneren
ladensequenzen einleitet, ebenfalls an das Ge- Bühne‹ ausgetragen werden, und mit den dem-
dicht Reklame: »Zwischen heute und morgen / entsprechenden, in den 1950er Jahren aktuellen
liegt die Nacht und der Traum, / macht euch hörspieldramaturgischen Vorstellungen zu tun.
drum keine Sorgen, / macht euch drum keine Die dem Medium Hörfunk wesenhafte ›Abstrak-
Sorgen […].« (W 1, 193) Vor allem aber betonen tion von einer sichtbar gegenständlichen Welt‹
sowohl das Gedicht als auch das Hörspiel den […] und die Möglichkeit, dank der radiotech-
Vorrang kommerzieller vor existentiellen Fragen, nischen Gestaltungsmittel und vermöge seiner
und es geht, wie Neva Šlibar betont, um die akustischen Ausdrucksmittel zwischen verschie-
»thematische Gegenüberstellung und Verschrän- denen Zeitebenen sowie zwischen realen, irrea-
kung von omnipräsenter Konsumwelt und kon- len oder traumhaften Räumen auch überzeugend
stanten bohrendenden Fragen nach dem Sinn des zu wechseln, erleichtern die Darstellung psychi-
Seins« (Šlibar, S. 113). Ganz buchstäblich geht scher Grenzsituationen und existentieller, eben
das Hörspiel von einer Gleichung aus, die Benja- auf einer ›inneren Bühne‹ stattfindender Kon-
min Franklin, Max Weber und Karl Marx glei- flikte.« (Bartsch 1988, S. 80) Bachmanns Verwen-
chermaßen schätzten und die impliziert, daß, wer dung des Traummaterials unterscheidet sich je-
immer dieser Logik folgt, bereits dem alles um- doch wesentlich von der Eichs, und zwar auf eine
fassenden Warencharakter des alltäglichen Le- Weise, die auch für ihre spätere Arbeit von Be-
bens zum Opfer gefallen ist: »Zeit ist Geld«. deutung ist. In ihrem wachen Leben erscheinen
Wenn menschliche Existenz, Bachmanns Rede Eichs Figuren normal und zufrieden, und erst
zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegs- ihre unheilvollen und bedrohlichen Träume ver-
blinden zufolge, im Spannungsfeld zwischen Un- raten, was sich hinter der Normalität der frühen
möglichem und Möglichem lokalisiert ist, dann 1950er Jahre verbirgt. Für Bachmanns Figur Lau-
ist Laurenz, der Protagonist des Hörspiels, bis zu renz dagegen ist das alltägliche Leben eine ein-
seiner Entdeckung des Traumladens noch völlig zige Kränkung, und die Träume, die in dem
der Sphäre des Möglichen verhaftet. In dem Hör- Traumladen vor ihm entfaltet werden, enthüllen
spiel geht es jedoch um seine Begegnung mit dem auf sehr konkrete Weise, wie und warum er leidet
Unmöglichen. Jürgen P. Wallmann bemerkt in (wie im zweiten Kapitel von Malina das Ich) und
seiner Rezension der gesammelten Hörspiele: wonach er sich sehnt (wie im Fall des Ich in den
»Schon in diesem ersten Hörspiel Ingeborg Bach- »Geheimnissen der Prinzessin von Kagran«).
manns findet man die so typische Verbindung von Als einfacher Angestellter in einem von einem
Realem und Irrealem, die Übergänge zwischen tyrannischen Generaldirektor beherrschten Büro
Traum und Wachen.« (Wallmann, S. 194) Es ist ist Laurenz fast obsessiv bemüht, seine Arbeit
bereits mehrfach betont worden, daß diese Ak- einwandfrei zu erledigen. Bartsch beschreibt
zentuierung nicht nur für Bachmann, sondern für Laurenz »als Produkt kleinbürgerlicher Erzie-
das Hörspiel dieser Zeit überhaupt typisch war. In hung […], eingeübt ins Stillhalten, ins passive
Hörspiele 87

Erdulden der bestehenden Verhältnisse, gegen zes, auf dem Bachmanns spätere Hörspiele, be-
die er sich jede bewußte ›Revolte‹ versagt. Er sonders Der gute Gott von Manhattan, beruhen.
nimmt widerspruchslos die Erniedrigungen sei- Für Höller ist es der »Gegensatz zwischen dem
ner beruflichen Stellung auf sich, in der er trotz ›anderen Zustand‹ der Liebe und der geschicht-
der geradezu mustergültigen Erfüllung der bür- lich gewordenen ›Ordnung‹, dem gesetzlich ab-
gerliche Tugenden von Fleiß und Bescheidenheit gesicherten System der Institutionen und Kon-
(W 1, 183) der Willkür des Generaldirektors ventionen des Bestehenden« (Höller 1987,
ausgesetzt ist. […] Hier entlarvt sich die Un- S. 75 f.). Bartsch schreibt: »Im dritten Traum des
menschlichkeit eines Systems, in dem der sozial Laurenz wird der latente Wunsch des kleinen
Schwache keinen Anspruch auf humane Arbeits- Angestellten manifest, den kleinbürgerlichen
bedingungen und keine Chance auf individuelle Zwangsverhältnissen und den in der alltäglichen
Selbstverwirklichung hat, sondern durch den au- Realität verschleierten, in den ersten beiden
toritär Herrschenden zur willenlosen, auf Knopf- Träumen jedoch aufgedeckten zerstörerischen
druck funktionierenden Maschine degradiert Kräften zu entkommen und die Erfüllung in der
wird.« (Bartsch 1979, S. 317) Weil die Träume totalen mystischen Vereinigung mit der geliebten
nicht in dieser Arbeitswelt angesiedelt sind, er- Frau zu finden.« (Bartsch 1988, S. 82) Der dritte
scheinen sie zunächst als deren Gegensatz. Doch Traum enthält Motive, die häufig bei Bachmann
drückt sich in ihnen keineswegs das Unerreich- anzutreffen sind – Schiffsreise, Wasser, Unter-
bare menschlicher Hoffnungen aus, und sie ste- wasserwelt –, und in denen sich hier die her-
hen damit auch nicht für das ›Unmögliche‹ im beiphantasierte Beziehung zu der Sekretärin
Sinne von Bachmanns Rede. Im ersten Traum, Anna ausdrückt. Als Verkörperung noch großar-
»in dem einer bekannten Traumsymbolik (Tun- tigerer Phantasie als derjenigen, die Laurenz sich
nel, Flucht, Blut) Erinnerungszeichen der jüng- auszudrücken erlaubt, gibt sich Anna keineswegs
sten Geschichte (Bomben) hinzugefügt sind« mit den Freuden einer Privatsphäre der 1950er
(Weigel 1999, S. 262), leitet der Generaldirektor Jahre zufrieden, in der Laurenz sich am Ende
einen Luftkrieg, löst Bomben aus und »greift seines Arbeitstags erholen könnte. An einer
unser Herz an« (W 1, 196). Von seinem eigenen Stelle im Text, die, wie Erika Tunner betont hat,
Schrei »Erbarmen!« (W 1, 197) wird Laurenz an Wagners Tristan und Isolde erinnert (Tunner,
geweckt. In Traumsprache übersetzt, zeigt sich S. 216), heißt es: »Und ich hasse die Stadt mit den
hier, was der tyrannische Direktor seinen Unter- Dächern, die auf meine Schultern drücken, und
gebenen tatsächlich antut, und gleichzeitig wer- die Umarmungen der kleinen grauen Tränen am
den Laurenz’ geheimste Wünsche aufgedeckt, Ufer, ich hasse das Leben und die Menschen, die
indem er sich im Traum in einen verläßlichen in die Berge fahren wollen, sich ein Haus bauen
Führer verwandelt, auf den seine weniger mu- und mir im Garten des Abends die Augen mit
tigen Kollegen angewiesen sind. Küssen bedecken… Aber ich liebe den Tod.« (W
Vor dem Hintergrund seiner tatsächlichen Si- 1, 209) Annas Schiff geht in einem gewaltigen
tuation sind der zweite und der dritte Traum Sturm unter, und Laurenz findet sie in Gestalt
schon eher ›unmöglich‹. Im zweiten Traum wird einer Undine-ähnlichen Meerjungfrau am Mee-
er selbst zum Generaldirektor, dem der Rest sei- resboden wieder. Bartsch bemerkt dazu: »Mit
ner ›Welt‹ Anerkennung zollt und auf dessen dem Eintauchen in das fremde Element und mit
Launen eingegangen werden muß. Während der der Auflösung der Körperlichkeit vollzieht sich
tatsächliche Generaldirektor sich vor ihm tief die mystische Vereinigung.« (Bartsch 1988, S. 83)
verbeugt, erinnert ihn Laurenz daran, daß er In einer Sprache, die an Der gute Gott von Man-
einmal »Generaldirektor eines lächerlichen Kon- hattan oder sogar an »Die Geheimnisse der Prin-
zerns [war], den ich übernommen, was sage ich, zessin von Kagran« erinnert, erklärt Laurenz
hinaufgeführt, zu einer der gigantischsten, einer schwärmerisch: »Ja, wir werden ewig jung sein
noch nie dagewesenen weltumspannenden Orga- und nie sterben. Wir werden für immer bei-
nisation gemacht habe« (W 1, 202). Der dritte sammen sein, und nichts soll uns trennen. Unser
Traum ist noch phantastischer. Sowohl Kurt Haus wird auf den Quellen des Lebens stehen,
Bartsch als auch Hans Höller verstehen Laurenz’ wir werden in allen Geheimnissen seiner wech-
dritten Traum als Vorwegnahme des Gegensat- selnden Mauern wohnen. Und in den Spiegeln
88 II. Das Werk

des Grundes kann ich deine schöne Gestalt ver- Laurenz’ Unfähigkeit, sich auf seine Phantasien
tausendfältigt sehen.« (W 1, 212) Höller versteht einzulassen, allerdings weniger nachsichtig: »Da-
die dahinter verborgenen Wünsche als die nach mit wird implizit die Zeit als ›echter Wert‹ über
einem »Dasein ohne Herrschaft des Menschen das Geld als Scheinwert gestellt. So gelesen, hat
über den Menschen und die Natur, geschichts- das Hörspiel Teil an dem kulturkonservativen
los[em] Sein im Einklang mit der Natur, Schön- Diskurs darüber, was man alles für Geld nicht
heit, die im Rhythmus der Übereinstimmung und kaufen könne, ein Diskurs, der selbst schon zum
vielfältigen Spiegelung der ›schönen Gestalt‹ des Stereotyp geworden ist.« (Weigel 1999, S. 262 f.)
andern, der der Geliebte ist, liegt, Zeitlosigkeit, Für Weigel bietet die Erzählung Ein Geschäft mit
die den Tod hinter sich hat und das Sterben nicht Träumen, deren Entstehungszeit sie nach der des
mehr kennt« (Höller 1987, S. 89). Da diese Phan- Hörspiels ansetzt, eine komplexere Lösung an:
tasie mit seiner Arbeitswelt nicht das geringste »Zwar gilt auch in der Erzählung, daß man
gemein hat, ist das der Traum, den Laurenz sich Träume nicht kaufen kann, aber die dagegen
wünscht. gesetzte Äquivalenz von Zeit und Traum ist zu-
In der Bachmann-Forschung besteht weder gleich komplizierter geworden, denn daß Träume
über die Bedeutung des Hörspielschlusses noch Zeit kosten, heißt noch lange nicht, daß man mit
über die Beziehung zwischen dem Hörspiel und Hilfe von Zeit auch über Träume verfügen
der gleichnamigen Erzählung Einigkeit. Im Hör- könne.« (ebd., S. 264) Bartsch dagegen meint,
spiel ist Laurenz nicht bereit, die Zeit für den daß in der Erzählung der Traum Laurenz grund-
Traum zu bezahlen, die der Traumverkäufer ver- legend verwandelt hat: »Er ist jedoch vom letzten
langt. Als der Verkäufer ihm erklärt, »Träume Traum derart betroffen, daß er sich in den norma-
kosten Zeit, manche sehr viel Zeit«, protestiert len Arbeitsprozeß nicht wieder einzugliedern
Laurenz, daß er schon »für den kleinsten Traum« vermag.« (Bartsch 1988, S. 84) Bei derart unter-
keine Zeit übrig hat: »ich muß arbeiten, und schiedlichen Ansätzen wird jedoch übereinstim-
meine Arbeit geht meiner Zeit vor« (W 1, 213). mend davon ausgegangen, daß Laurenz aus
Höller verbindet Laurenz’ Weigerung, den Gründen, die auf seine eigene psychische Kon-
Traum zu kaufen, mit seiner Männlichkeit: »Im stitution zurückzuführen sind, unfähig bleiben
ersten Hörspiel ist es ebenfalls bereits der Mann, wird, auf irgendeine Weise die außerhalb seiner
der – wie in der späteren Erzählung Undine geht Arbeitswelt liegenden und qualitativ davon ver-
oder im Roman Malina – jenen anderen Zustand schiedenen Phantasien zu verwirklichen, die
in der Liebe, jene eigentümlichen Seins- und seine Träume versprechen. Da Laurenz glaubt,
Zeitverhältnisse des utopischen Moments zugun- daß er es sich nicht leisten kann, sich auf das
sten der gesellschaftlichen Institutionen und ih- »Unmögliche« einzulassen, ist ihm das »Wider-
rer durch Arbeit und Herrschaft sanktionierten spiel des Möglichen mit dem Unmöglichen« ver-
Zeitverhältnisse verrät« (Höller 1987, S. 91). Für wehrt, das ihm erlauben könnte, seine Möglich-
Bartsch bedeutet dagegen Laurenz’ Unwille, keiten zu erweitern.
seine Phantasien zu verwirklichen, daß seine Es ist jedoch noch eine andere Lesart möglich,
klassenspezifische Sozialisation sogar die Sehn- die bislang allerdings nur im Ansatz gesehen
sucht nach jenem »Unmöglichen« verhindert, das wurde. Ausgehend von Bachmanns Behauptung,
Bachmanns Auffassung nach das Spektrum von »daß wir in der Ordnung bleiben müssen«, heißt
Alternativen im Rahmen des »Möglichen« er- es bei Bartsch: »Würde dem dritten Traum des
weitern könnte: »An der Ablehnung des Handels Laurenz Dauer verliehen, bedeutete dies ›den
– gerade Zeit meint Laurenz nicht entbehren zu Austritt aus der Gesellschaft‹ (W 4, 276), und der
können – macht Bachmann die nachhaltige Verin- ist […] nicht möglich.« (Bartsch 1988, S. 84)
nerlichung der Normen und Wertvorstellungen Doch auch im dritten Traum sind Laurenz’ Phan-
der Gesellschaft besonders durch den sogenann- tasien so sehr von der »Ordnung« unterwandert,
ten kleinen Mann deutlich: Laurenz zögert kei- daß sie ihn daran hindern, sich eine tatsächliche
nen Augenblick, das freudlose Leben und die Alternative zu eben dieser bestehenden Ordnung
Arbeit unter entwürdigenden Bedingungen der auch nur vorzustellen. Das bedeutet, daß Lau-
Verwirklichung eines Wunschtraumes vorzuzie- renz’ Träume nicht als das Gegenteil seiner
hen.« (Bartsch 1988, S. 83 f.) Weigel beurteilt »kleinbürgerlichen Wünsche, Ängste und Wert-
Hörspiele 89

vorstellungen« (ebd., S. 83) aufzufassen sind, nik«: Brief an Hans Paeschke vom 30. 7. 1953).
sondern wenigstens zum Teil als ihre phantasie- Dieses Hörspiel ist jedoch, falls es jemals über
volle Darstellung. Jan Peter Domschke hat sehr das Planungsstadium hinaus gelangt ist, zumin-
richtig beobachtet, daß Laurenz’ Träume seinen dest unter diesem Titel nicht erhalten. Die Regi-
faschistoiden Charakter verraten: »Seine uner- stratur des literarischen Nachlasses verzeichnet
füllten Wünsche und seine Unfähigkeit, anders allerdings den Entwurf zu einem Hörspiel mit
zu denken, werden von Ingeborg Bachmann dem Titel Wohnen, Weiterwohnen (Koschel/von
durch Träume entlarvt, sie sind das Mittel, um Weidenbaum 1981, S. 203); als Titel für ein Pro-
uns über das von dieser Art von Menschen sorg- jekt des weiblichen Ich ist dieser Entwurf in den
fältig Geheimgehaltene in Kenntnis zu setzen, Roman Malina eingegangen (TKA 3.1, 598; vgl.
besser, zu warnen. Denn Herr Laurenz ist kein Kommentar TKA 3.2, 958). In dieser Zeit experi-
Einzelfall. Unter der Maske der Wohlanständig- mentierte Bachmann auch mit anderen Formen
keit sind diese Leute zu jedem Verbrechen fähig, der Rundfunkproduktion. Ihr Radioessay zu Ro-
sie werden von den ›Generaldirektoren‹ miß- bert Musils Mann ohne Eigenschaften entstand
braucht, weil sie sich mißbrauchen lassen wollen nach dem Erscheinen dieses Romans im Dezem-
– um ihres kleinen Vorteils willen.« (Domschke, ber 1952 (gesendet im Frühjahr 1954; vgl. Weigel
S. 79) In diesem Sinne stellen alle drei Träume, 1999, S. 203). 1953 schrieb sie den Radioessay
so sehr Laurenz sich auch danach sehnt, im Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Lud-
Traum über die ihn einengende Ordnung hinaus wig Wittgensteins, der am 16. September 1954 im
zu gelangen, gerade diese Möglichkeit in Frage. BR München erstmals gesendet wurde (W 4,
Während Laurenz in seinen ersten beiden Träu- 377). Im BR München wurden im ersten Halbjahr
men ganz offenkundig eins ist mit den ihn ver- 1955 (W 4, 378) bzw. am 13. März 1958 (W 4, 380)
folgenden Mächten, zeigt sein dritter Traum auf auch die Radioessays Das Unglück und die Got-
subtilere Art, daß selbst seine Vorstellung von tesliebe – Der Weg Simone Weils und Die Welt
unbedingter Liebe ein Produkt gerade jenes auto- Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämonium
ritären männlichen Systems ist, dessen Opfer er zum ersten Mal gesendet. Im Sommer 1953 hatte
ist. Der Traum erreicht seinen Höhepunkt, als Bachmann Wien verlassen und war nach Italien
Anna aufhört, ihn sadistisch zu quälen, seinen übersiedelt, wo sie zunächst in der Künstlerkolo-
Mut und seine Opferbereitschaft anerkennt, ihm nie in der Nähe ihres Freundes Hans Werner
ewige Liebe verspricht (»Ich werde dich lieben Henze auf der Insel Ischia, dann in Neapel und
um deiner Treue willen, und ich werde dir treu schließlich in Rom wohnte. Obwohl Henze
sein um deiner Liebe willen«; W 1, 212) und sich schreibt, daß Bachmann aus den gleichen Grün-
selbst sogar für unwürdig erklärt: »Mein Gott, ich den wie er nach Italien gezogen sei, gelang es
verdiene dein Bleiben nicht.« (W 1, 211) Wie in keinem von beiden, dem Kalten Krieg zu ent-
der Erzählung Undine geht glauben die Männer, kommen. Während seine Kompositionen bei
daß ihre Erlösung nur in der Vorstellung von Musikfestivals aufgeführt wurden, die der CIA
etwas zu finden ist, das völlig anders ist als sie finanzierte (Bachmann war meist als Besucherin
selbst, und wie in der Erzählung Ein Schritt nach dabei), verfaßte sie unter dem Pseudonym Ruth
Gomorrha ist auch in Ein Geschäft mit Träumen Keller (dem Namen, den sie auch unter die in der
keine neue Zukunft denkbar, weil Laurenz sich gleichen Zeit entstandenen Beiträge für die
diese nur unter den Vorzeichen der Vergangen- »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« setzte) zwi-
heit vorstellen kann, d. h. im Sinne jenes kom- schen Juli 1954 und Juni 1955 als Auslands-
merzialisierten männlichen Alltags in der Früh- korrespondentin für Radio Bremen insgesamt
zeit des Kalten Krieges, dem Laurenz gerade zu vierunddreißig Nachrichtensendungen. Wenn-
entkommen versucht. gleich diese erst kürzlich wiederentdeckten Texte
In der Zeit zwischen dem ersten Hörspiel Ein (Bachmann 1998b) noch nicht wissenschaftlich
Geschäft mit Träumen und dem nächsten, Die untersucht worden sind, ist doch recht offenkun-
Zikaden (1954 geschrieben), plante Bachmann dig, daß Bachmann die üblichen Denkschemata
im Sommer 1953 ein weiteres mit dem Titel Die des Kalten Krieges der zeitgenössischen west-
Straße der vier Winde, das sie in einem Brief an europäischen Berichterstattung in keinerlei Hin-
die Zeitschrift »Merkur« erwähnt (vgl. »Chro- sicht in Frage stellt. (Sie berichtet z. B. am 9.
90 II. Das Werk

Dezember 1954: »Auffallend ist, wie vorsichtig an Bachmann an Platons Mythos bedeutsame Ände-
der ›wirtschaftlichen Strippe‹ gezogen wird, ob- rungen vorgenommen hat: »Während Platons Zi-
wohl die Kommunisten Italiens außer dem des kaden das Lebensnotwendige über dem Singen
offenen Aufstandes kein Mittel gescheut haben, vergaßen, hören die Zikaden des Hörspiels ab-
um das Mehr-Parteien-System der parlamentari- sichtlich mit dem Leben auf, sie flüchten in den
schen Demokratie zu zerstören.« [Bachmann Gesang. Und während Platons Zikaden ihr Leben
1998b, S. 34]) Diese Linie entspricht vermutlich ihrer Lust des Singens nachgeben können und
der politischen Ausrichtung des Senders Radio dürfen, sind Ingeborg Bachmanns Zikaden zum
Bremen: In den Jahren vor Bachmanns Italienbe- Singen ›verzaubert, aber auch verdammt‹.«
richterstattung hatte Radio Bremen, in einer (Spiesecke 1993, S. 64) Bartsch weist zu Recht
Stadt angesiedelt, die seit November 1951 von darauf hin, daß das Hörspiel »als Absage an Kunst
einer Großen Koalition aus SPD, CDU und FDP als Selbstzweck gedeutet werden [kann]. Ein sol-
regiert wurde, erfolglos dafür gekämpft, »Aus- ches l’art pour l’art ist in den Augen der Autorin
landssender« oder »Bundessender« zu werden, ›unmenschlich‹ […] und im Sinne ihrer Ausfüh-
der »bundesrepublikanische politische Sendun- rungen in der ersten Frankfurter Vorlesung auch
gen« in die damals sogenannte Ostzone aus- unmoralisch« (Bartsch 1988, S. 91). In dieser
strahlte (vgl. von Reinken, S. 149–213). Hinsicht ist auch Höllers Beobachtung wichtig,
daß das Hörspiel auf eine thematische Akzentver-
schiebung in Bachmanns Schriften hinweist:
Die Zikaden
»Das Hörspiel Die Zikaden, kurz nach dem Er-
Bachmann begann 1954 in Rom mit der Arbeit an scheinen des Lyrikbandes Die gestundete Zeit
ihrem zweiten, vom Nordwestdeutschen Rund- geschrieben, steht werkgeschichtlich […] zwi-
funk in Hamburg in Auftrag gegebenen Hörspiel schen zwei entschieden voneinander abhebbaren
Die Zikaden und beendete es im Winter 1954/55 Utopie-Konzeptionen. In Anrufung des Großen
in Neapel (Uraufführung im NWDR Hamburg am Bären vollzieht sich der kritische Bruch mit den
23. März 1955). Man kann das Hörspiel als Bach- traditionellen räumlich-geographischen Zeichen
manns Versuch verstehen, sich mit ihren Erfah- der Ausfahrts- und Insel-Utopie, die im ersten
rungen auf der Insel Ischia auseinanderzusetzen, Lyrikband eine wichtige Bedeutung hatten.«
die wie die meisten Mittelmeerinseln in der hei- (Höller 1987, S. 94) Es ist anzunehmen – doch
ßen Jahreszeit vom ›Gesang‹ der Zikaden wider- auch dies wäre erst noch zu untersuchen –, daß
hallt. In den 1950er Jahren lebten auf Ischia auch Bachmanns Kritik sich nicht zuletzt auch gegen
viele Künstler wie W. H. Auden, Truman Capote, vormals politische Autoren richtet, die sich, wie
Anthony Hecht, Chester Kallman, Pier Paolo Pa- z. B. W. H. Auden, in den 1950er Jahren, demora-
solini, Ernst Schnabel, William Walton u. a. lisiert vom kulturellen Klima der Zeit, aus dem
(Hapkemeyer 1990, S. 65; Höller 1999, S. 84). politischen Kampf zurückgezogen haben. Hans
Das zentrale Bild des Hörspiels geht auf einen Höller hat bereits darauf hingewiesen, daß auch
Dialog in Platons Phaidros zurück: »Man erzählt Henzes eigener Kommentar (in einem Beitrag
aber, daß diese Zikaden einstmals Menschen wa- über die Folgen seiner Flucht aus Deutschland
ren, ehe es noch Musen gab. / Aber als die Musen nach Italien unter dem Titel »Die Krise des bür-
entstanden und der Gesang an den Tag trat, da gerlichen Künstlers«) in diese Richtung geht
wurden einige von jenen so hingerissen vor Lust, (Höller 1987, S. 100): »Als ich nach Kriegsende
daß sie singend Speise und Trank vergaßen und, endlich meine Arbeit aufnehmen konnte, stieß
ohne es innezuwerden, dahinstarben. Von diesen ich an allen Ecken und Enden auf das Erbe der
stammt seitdem das Geschlecht der Zikaden, das faschistischen Herrschaft. […] Darauf reagierte
von den Musen dies Geschenk empfing, von ihrer ich so, wie viele andere auch: Enzensberger, An-
Entstehung an keinerlei Nahrung zu bedürfen, dersch, Hildesheimer, Ingeborg Bachmann – ich
sondern ohne Speise und Trank sogleich zu sin- ging aus Deutschland weg, sobald ich es mir
gen, bis sie sterben, dann aber zu den Musen erlauben konnte […]. So baute ich in Italien um
kommen, um ihnen zu melden, wer von den meine Person und meine Arbeit eine eigene Welt
Menschen hier eine von ihnen verehre.« (Platon, auf, aus meinen Vorstellungen, meinen Wün-
S. 61 f.) Hartmut Spiesecke betont jedoch, daß schen und Träumen. Ich merkte nicht, wie ich
Hörspiele 91

mich dabei zusehends isolierte. Wie meine Mu- für das Repertoire persönlicher ›Tragödien‹, von
sik immer privater wurde, wie sie mehr und mehr denen die Boulevardpresse (nicht nur) in dieser
von privaten Anlässen ausging, private Mitteilun- Zeit mit Vorliebe berichtet. Überdies haben die
gen enthielt, an einzelne, an Private sich richtete Figuren dieses Hörspiels ganz offensichtlich die
[…]. Mit einem Mal hatte ich den Eindruck, Sitten der Gesellschaft mitgebracht, die sie hinter
nichts mehr zu verstehen, nichts mehr zu haben, sich lassen wollten. Schon die Sehnsucht nach
abgeschnitten zu sein; ich merkte, daß ich in dem Fremden, dem Süden, dem Exotischen, dem
einer Einöde lebte, wo man aufhört zu denken Anderen ist seit je ein fester Bestandteil nord-
und sich nur noch mit Gefühlen abgibt, Gefühle europäischer Phantasien. Das wird besonders
kultiviert.« (Henze 1976, S. 145 f.) Die moralische deutlich in den Dialogen der Figuren mit dem
Botschaft des Hörspiels wird noch betont durch ›Eingeborenen‹ Antonio, auf den sie ihre in-
einen Erzähler – ein Kunstgriff, der an das epi- timsten Wünsche projizieren und der sie letzt-
sche Theater erinnert und sonst nirgendwo so endlich immer mit einem schroffen »Nein« ab-
explizit in Bachmanns Schriften vorkommt. Der weist. (In dieser Hinsicht sind die Figuren, wor-
Erzähler stellt den Schauplatz vor, sinnt über auf Höller, ein Gedicht Bachmanns zitierend,
seine eigene Vergangenheit nach und unter- hinweist, tatsächlich im Wortsinn »des Kontinen-
streicht gleichzeitig die allegorische Bedeutung tes Gefangene«; Höller 1987, S. 97; vgl. W 1, 57.)
des Hörspiels: »[…] warum spreche ich von die- Daher ist es wohl auch ohne Bedeutung, daß die
sen Leuten? Ich kenne sie ja nicht. […] Sie Inselzeitung nur Lokalnachrichten bringt, denn,
kommen aus der ganzen Welt. Und ich kenne sie wie es später bei Bachmann heißt, in der ›kleinen
alle.« (W 1, 222) Ähnlich auch am Schluß des Geschichte‹ ist schon ›die große‹ enthalten (TKA
Hörspiels: »Die Insel und die Personen, von de- 2, 270).
nen ich erzählte, gibt es nicht. Aber es gibt andere Die Figur Robinson, eine der beiden Haupt-
Inseln und viele Menschen, die versuchen, auf figuren des Hörspiels, hat wie die anderen »das
Inseln zu leben. Ich selbst war einer von ihnen Vergessen gesucht« (W 1, 230), aus der Sicht des
[…].« (W 1, 267) Höller sieht in der von dem Erzählers allerdings geht sein »endgültiger Aus-
Erzähler vertretenen Position Bachmanns »Wen- tritt aus einer Gesellschaft, die sich fortgesetzt an
dung gegen die irrationalistischen Tendenzen des meinem Leben vergriffen hat« (W 1, 259), »ein
Hörspiels der fünfziger Jahre«. In diesem Sinne wenig zu weit« (W 1, 250). Auch Robinson hat
können auch die Regieanweisungen als ein »In- seine Vergangenheit mitgebracht: schon sein
strumentarium kritischer Verfremdung« verstan- Name erinnert an die sarkastische Bemerkung
den werden (Höller 1987, S. 95): »Keine der Per- von Marx, Robinson Crusoe könne nur deswegen
sonen soll deklamieren oder in den Text Geheim- auf seiner Insel überleben, weil ihm die ganze
nisse hineinlegen, die nicht vorhanden sind.« (W Technologie und alle Fertigkeiten zur Verfügung
1, 219) stehen, die die Engländer im siebzehnten Jahr-
Zwar sieht es so aus, als hätten sich die Figuren hundert entwickelt haben: »unser Robinson, der
des Hörspiels aus persönlichen Gründen auf die Uhr, Hauptbuch, Tinte und Feder aus dem Schiff-
Insel zurückgezogen: Mrs. Brown hat ein Kind bruch gerettet, beginnt als guter Engländer bald
durch eine ungewollte Abtreibung verloren, Mr. Buch über sich selbst zu führen« (Marx, S. 91).
Brown einen Sohn im Krieg; Prinz Ali mußte auf Der »Gefangene«, Robinsons Gegenspieler, wird
den Thron verzichten, und Jeanette wünscht sich dagegen unfreiwillig auf der anderen Insel ge-
ewige Jugend und Schönheit. Doch Bachmann fangen gehalten, die ironischerweise »Ort der
war, wie nicht zuletzt aus ihren Ausführungen Erlösung« genannt wird (W 1, 223), eine Bezeich-
über die »Geschichte im Ich« in den Frankfurter nung, die an den Slogan erinnert, der über dem
Vorlesungen hervorgeht (W 4, 230), lange vor der Tor von Auschwitz steht: »Arbeit macht frei«. Der
Entstehung des feministischen Slogans davon Gefangene ist sich darüber im klaren, daß er auch
überzeugt, daß ›das Private politisch‹ ist. Tatsäch- im Exil oder in der Gefangenschaft dem Pan-
lich sind diese Figuren regelrecht Objekte einer optikum der Gesellschaft nicht entkommt: »sie
für die 1950er Jahre typischen Satire (und nicht hat mich nur versetzt, transferiert auf den Außen-
zuletzt der »Versprechungen der Fremdenver- posten. Sie hat ihre Augen immer auf mir.« (W 1,
kehrsindustrie«; Bartsch 1988, S. 91); sie stehen 262) Er fungiert als moralische Kontrastfigur zu
92 II. Das Werk

den trägen Inselbesuchern, denn er weiß, was es Lebensentwurf und einer gesellschaftlichen Rea-
bedeutet, gewaltsam aus der Gesellschaftsord- lität, der die menschliche Selbstverwirklichung
nung ausgeschlossen zu werden. In gewisser Hin- gleichgültig ist: »Sie können in Ihren vier Wän-
sicht haben die Inselbewohner sich für das »Un- den ein Familienglück patriarchalischen Stils
mögliche« entschieden, und in dieser Position pflegen oder die Libertinage, oder was immer Sie
sind sie nicht in der Lage, einen (künstlerischen wollen – draußen rotieren Sie in einer funk-
oder anderweitigen) Beitrag zur Erweiterung der tionellen Nützlichkeitswelt, die ihre eigenen
menschlichen Möglichkeiten zu leisten. Das ist Ideen über Ihre Existenz hat. […] Hie Innerlich-
jedoch die Forderung, die der Gefangene Ro- keit und Sinnbezüge, Gewissen und Traum – da
binson hinterläßt: »Willst du nicht aufstehen und Nützlichkeitsfunktion, Sinnlosigkeit, Phrase und
sehen, ob diese Hände zu gebrauchen sind? Oder sprachlose Gewalt.« (W 4, 198) Das war auch das
willst du dir die Welt erlassen und die stolze Thema von Bachmanns letztem Hörspiel Der gute
Gefangenschaft? Such nicht zu vergessen! Erinn- Gott von Manhattan, in dem privates Glück im
re dich! Und der dürre Gesang deiner Sehnsucht Kampf mit einer vollständig verwalteten Gesell-
wird Fleisch.« (W 1, 267) schaft liegt und von ihr zunichte gemacht wird.
Roland Heger nennt Die Zikaden »das formal Einmal mehr gehen Ereignisse aus Bachmanns
vollendetste der drei Hörspiele« (Heger, S. 174), Leben, die vom Kalten Krieg bestimmt sind, in
und dies liegt vor allem an der integralen Rolle das Hörspiel ein: Im Sommer 1955 nahm sie an
der Musik, die Hans Werner Henze vermutlich in einem von Henry Kissinger geleiteten Harvard
enger Zusammenarbeit mit Bachmann kompo- International Seminar teil, dessen Ziel es war,
nierte. Spieseckes Untersuchung des Hörspiels »Personen zwischen fünfundzwanzig und vierzig
ist eine der wenigen, die die Originalproduktion Jahren, die auf dem Weg zu Führungspositionen
hinzuziehen und die Beziehung von Text und in ihren Heimatländern sind«, »Amerikas grund-
Musik thematisieren. (Aus unerfindlichen Grün- legende Werte« nahezubringen (Harvard Sum-
den ist die Komposition von Henze, wie Spies- mer School International Seminar Annual Re-
ecke bemerkt, »weder im Druck erschienen noch ports, S. 2). (Es ist anzunehmen, daß eine Wo-
überhaupt in einem Werkverzeichnis aufgeführt«; chenendfahrt der Seminarteilnehmer von Boston
Spiesecke 1993, S. 56.) Die Musik, die im Hör- nach New York den biographischen Ausgangs-
spiel zweiundzwanzigmal vorkommt, »fungiert punkt des Hörspiels darstellt.) Kritiker der
hier als Teil der Konstruktion und ist damit nicht, 1970er Jahre haben diesem Hörspiel vorgewor-
wie häufig, Klangkulisse, sondern konstitutiv für fen, daß es »allemal die Realität unbeschädigt«
die Form« (ebd., S. 57). Spiesecke betont auch, lasse (Wondratschek, S. 190), und doch geht es
daß Henzes Musik erst vom Schluß des Hörspiels darin mehr als in den beiden anderen um die
aus verstanden werden kann: Erst dann wird klar, zerstörerischen Eigenschaften dessen, was sich
daß die Dissonanz der Henzeschen Musik der damals als das ›Mögliche‹ darstellte. Im Kontext
Dissonanz der Zikaden entspricht, also dem »wil- des Kalten Krieges kann es kaum überraschen,
de[n], frenetische[n] Gesang« von KünstlerIn- daß Bachmann Manhattan zum Schauplatz
nen, die es als Folge ihres Rückzugs in utopische macht, jene Stadt, die, wie Bartsch es formuliert,
Bereiche aufgegeben haben, die menschlichen »für die bürgerliche kapitalistische Gesellschaft
Möglichkeiten zu erweitern, sich dabei selbst zur der fünfziger Jahre den Maßstab der westlichen
Bedeutungslosigkeit verurteilend: »Auf der Zivilisation und den Inbegriff des Fortschritts
Flucht in den Gesang wurden [die Zikaden] dür- verkörperte« (Bartsch 1988, S. 85).
rer und kleiner, und nun singen sie, an ihre Die Antagonisten des Hörspiels sind der Gute
Sehnsucht verloren – verzaubert, aber auch ver- Gott von Manhattan, Personifizierung eines all-
dammt, weil ihre Stimmen unmenschlich sind.« mächtigen Prinzips gesellschaftlicher Herrschaft,
(W 1, 268) und Jan und Jennifer, ein leidenschaftliches Lie-
bespaar, dessen ›anderer Zustand‹ ekstatischer
Erotik die Stabilität des Systems bedroht, für das
Der gute Gott von Manhattan
der Gute Gott steht. Die Liebesaffäre der beiden
In den Frankfurter Vorlesungen spricht Bach- wird gewöhnlich als Darstellung der Sphäre des
mann von der Diskrepanz zwischen dem privaten Unmöglichen im Sinne von Bachmanns Kriegs-
Hörspiele 93

blindenrede gelesen. Danach ist Jennifer (als teren Verlauf des Verhörs unterhält sich der alte
weibliche Figur sozusagen die ›natürliche‹ Ver- Mann mit dem Richter zunehmend wie mit sei-
körperung des Anderen) die zum Scheitern ver- nesgleichen, und dieser erkennt ihn als den Gu-
urteilte Befürworterin einer subversiven, im Wi- ten Gott von Manhattan. Gegen Ende des Hör-
derspruch zur Zivilisation stehenden Sexualität, spiels erklärt der Gute Gott in dem, was er sein
die deshalb vom Guten Gott eliminiert werden »Glaubensbekenntnis« nennt, daß die Liebe der
muß. Jan dagegen kann dieser Lesart zufolge den Hauptgegner der gesellschaftlichen Ordnung sei:
›anderen Zustand‹ nicht durchhalten und bestä- »Ich glaube an eine Ordnung für alle und für alle
tigt am Schluß wieder seine Loyalität gegenüber Tage, in der gelebt wird jeden Tag. Ich glaube an
der alltäglichen Ordnung des Guten Gottes, in- eine große Konvention und an ihre große Macht,
dem er Jennifer verläßt. Dieses Verständnis der in der alle Gefühle und Gedanken Platz haben,
Beziehung zwischen »Triebstruktur und Gesell- und ich glaube an den Tod ihrer Widersacher. Ich
schaft« entspricht deutlich dem von Herbert Mar- glaube, daß die Liebe auf der Nachtseite der Welt
cuses gleichnamiger Studie, die in dem Jahr in ist, verderblicher als jedes Verbrechen, als alle
Boston veröffentlicht wurde, in dem Bachmann Ketzereien.« (W 1, 318) Die Aufrechterhaltung
dort an dem genannten Sommerseminar teil- dieser Ordnung verlangt also die Hinrichtungen
nahm (Lennox 2000). Bachmanns Darstellung derjenigen, die, wie Liebespaare, es wagen, sie
spiegelt das allgemeine Verständnis von Freiheit zu übertreten: »Es geschah nur Recht.« (W 1, 306)
und Unfreiheit auf dem Höhepunkt des Kalten Am Ende kommen der Richter und der Gute Gott
Krieges, der die Welt in zwei ›totalitäre‹ Blöcke darin überein, daß sie lediglich zwei verschie-
teilte. Widerstand, wenn er überhaupt noch exi- dene Formen desselben Herrschaftsprinzips ver-
stierte, war lediglich als Produkt jenes einzigen körpern: »Richter Es gibt nicht zwei Richter –
Bereichs vorstellbar, der als noch nicht von der wie es nicht zwei Ordnungen gibt. / Guter Gott
sozialen Ordnung geprägt galt: der Erotik als Dann müßten Sie mit mir im Bund sein, und ich
dem intimsten Schauplatz des Privatlebens. Wie weiß es nur nicht. Dann war es vielleicht nicht
in dem Hörspiel Ein Geschäft mit Träumen und beabsichtigt, mich außer Gefecht zu setzen, son-
vor allem in dem Gedicht Reklame umgibt Bach- dern etwas zur Sprache zu bringen, worüber bes-
mann ihr Liebepaar mit ›Stimmen‹ der Massen- ser nicht geredet werden sollte. Und zwei Ordner
kultur, die endlos die banalen, aber vage bedroh- wären einer.« (W 1, 319)
lichen Schlagwörter wiederholen: »gehen bei Im Rahmen dieser Deutung ist die Darstellung
grünem licht weitergehen / denk daran der Handlanger des Guten Gottes, der Bomben
solange es zeit ist / du kannst es nicht mit ausliefernden Eichhörnchen namens Frankie und
dir nehmen« (W 1, 276). Ob als »Ausdruck für Billy, in Zweifel gezogen worden, da sie eine an
das unpersönliche Aneinandervorbeihasten und Walt Disneys Zeichentrickfilme erinnernde Ver-
für die Kommunikationslosigkeit der Menschen rücktheit in eine Sphäre einführen, die sonst
in der Großstadt« (Haider-Pregler, S. 68) oder als einzig von Rationalität beherrscht wird. Offen-
Werbeslogans dokumentieren sie die allgegen- kundig ist die Bedeutung der Eichhörnchen im
wärtigen Auswirkungen der amerikanischen Hörspiel nicht leicht auszumachen, doch stellt
(oder allgemeiner: modernen) Massenkultur auf der Kontext des Kalten Krieges eine Erklärung
das tägliche Leben. bereit: Der Deckname des amerikanischen Plans
Dieses ebenfalls als Rahmenerzählung aufge- für die Versorgung von Wien im Falle einer Blok-
baute Hörspiel (der Richter fungiert oft als Er- kade (wie der von Berlin) war »Squirrel Cage« –
zähler, der allerdings nicht außerhalb der Hand- »Eichhörnchenkäfig«. Hier wurde demnach auch
lung steht) beginnt an einem heißen Augusttag die Natur vom Kalten Krieg vereinnahmt und
der 1950er Jahre in einem New Yorker Gerichts- diente den Interessen der Amerikaner.
saal. Der Angeklagte ist ein alter Mann, dem Wie der Richter und der Gott offenbar den
Verbrechen zur Last gelegt werden, die nicht nur beschränkten Bereich des Möglichen bewohnen,
abscheulich, sondern auch sinnlos scheinen, so wird die Beziehung von Jan und Jennifer meist
nämlich Bomben auf Liebespaare geworfen und der Behauptung des Guten Gottes entsprechend
zuletzt eine junge amerikanische Studentin na- als Darstellung von dessen Gegenteil verstanden.
mens Jennifer hingerichtet zu haben. Im wei- Nach der ersten Begegnung in der Grand Central
94 II. Das Werk

Station, dem New Yorker Hauptbahnhof, ent- Gegenteils, mit dem Machtprinzip des Gottes in
wickelt sich die Beziehung langsam vom Flirt zu Verbindung steht. Macht wird nicht nur mit der
etwas sehr viel Bedeutsameren. Jennifer, das Moderne und der Rationalisierung, sondern auch
emanzipierte amerikanische »girl« der 1950er mit Männern in Verbindung gebracht. Im Ge-
Jahre (zumindest wie Europäer es sich vorstell- genzug bleibt die Frau, deren erotische Selbst-
ten), ergreift gegenüber einem zunächst zögern- überschreitung sie zum Tode verurteilt, als Ver-
den Jan die Initiative und macht die ersten Avan- körperung einer subversiven und grenzüber-
cen. Während sie aber von Nacht zu Nacht vom schreitenden Sexualität zurück, die das totalitäre
Erdgeschoß eines billigen Stundenhotels zu ei- Ordnungsprinzip des Guten Gottes bedroht.
nem Zimmer im siebenundfünfzigsten Stock- In einer komplexeren Deutung dieses Hör-
werk mit Aussicht auf Manhattan aufsteigen – ein spiels ließe sich die Beziehung zwischen dem
indianisches Wort, das Jan zufolge »himmlische »Möglichen« und dem »Unmöglichen« jedoch
Erde« bedeutet (W 1, 279) – und die erotische nicht nur als Antagonismus à la Marcuse ver-
Ekstase immer intensiver wird, gibt auch Jan stehen, sondern, sozusagen Bachmanns Position
schließlich seinen Widerstand auf. »Jetzt waren im Spannungsfeld zwischen Marcuse und Fou-
sie beim Spielen«, berichtet der Gott: »Spielten: cault entsprechend, eher als »Widerspiel«. Denn
Liebe. […] Aber es erging ihnen beim Spiel wie wie Laurenz in dem Hörspiel Ein Geschäft mit
beim Lachen. Sie verstießen gegen jeden ver- Träumen und die Inselbesucher in dem Hörspiel
nünftigen Brauch, den man davon machen kann.« Die Zikaden steht auch Jennifer nicht völlig au-
(W 1, 292) Von Leidenschaft überwältigt ver- ßerhalb der Ordnung, der sie zum Opfer fällt. (In
kündet Jan schließlich die Ankunft einer neuen dieser Hinsicht könnte man auch an die Vorrede
Welt, die auf dem Verzicht auf Zweckmäßigkeit zum Buch Franza denken, in der Bachmann er-
basiert: »Ich weiß nichts weiter, nur daß ich hier klärt, daß es zwei Varianten eines verbrecheri-
leben und sterben will mit dir und zu dir reden in schen Systems gibt, ein »Denken, das zum Ver-
einer neuen Sprache; daß ich keinen Beruf mehr brechen führt«, und eins, das »zum Sterben
haben und keinem Geschäft nachgehen kann, nie führt«; TKA 2, 78.) Man könnte sogar argumen-
mehr nützlich sein und brechen werde mit allem, tieren, daß für Jennifer die Unterwerfung unter
und daß ich geschieden sein will von allen an- den Mann, also der weibliche Masochismus, die
deren.« (W 1, 321) Als er aber einen kurzen Grundvoraussetzung einer weiblichen Erotik ist,
Augenblick lang den Liebesort verläßt, um sein die um der Liebe willen die eigene Auslöschung
Schiffsticket für die Rückreise nach Europa zu- und Zerstörung anzunehmen bereit ist (vgl. z. B.:
rückzugeben, erliegt er der momentanen Versu- »Ich werde bald nichts mehr sein.«; W 1, 320).
chung, in eine Bar zu gehen: »Weil er plötzlich, Jennifer drängt Jan dazu, seine Fingernägel in
als die Entscheidung gefallen war, Lust verspürte, ihre Handflächen zu graben, obwohl er prote-
allein zu sein, eine halbe Stunde lang ruhig zu stiert: »Hast du mich nicht aufgefordert zu allem?
sitzen und zu denken, wie er früher gedacht Es ist mir noch nie in den Sinn gekommen,
hatte, und zu reden, wie er früher geredet hatte jemand so weh zu tun.« (W 1, 283) Einmal ver-
an Orten, die ihn nichts angingen […]. Er war liebt, überläßt diese unabhängige junge Frau dem
rückfällig geworden, und die Ordnung streckte Mann vollkommen die Initiative; Jan übernimmt
einen Augenblick lang die Arme nach ihm aus.« die Führung, er bestimmt den Verlauf der Liebes-
(W 1, 326 f.) Daher ist Jan nicht in dem Hotel- affäre und entscheidet, wann sie zusammen blei-
zimmer, als die Bombe des Guten Gottes ex- ben und wann sie sich trennen. Er quält und
plodiert; es ist Jennifer allein, die um der Liebe verhöhnt sie, während sie sich seinen Forderun-
willen stirbt, und mit ironischem Echo in Bezug gen und Launen beugt. Als er droht, sie zu schla-
auf das Ende von Goethes Faust erklärt der Gute gen, weil sie gewagt hat, seinem Verlangen nach
Gott Jan als »gerettet«, denn er hat nicht grund- Trennung zuzustimmen (»Ich sollte dich schlagen
sätzlich gegen die Ordnung verstoßen: »Die Erde vor allen Leuten, schlagen werde ich dich …«; W
hatte ihn wieder.« (W 1, 327) Am Ende des 1, 301), willigt sie begierig ein. Ähnlich wie in
Hörspiels entsteht also der Eindruck – und so dem Romanfragment Das Buch Franza wird die
wird das Hörspiel auch meist gelesen –, daß Jan, Eroberung von Jennifers Körper als eine Ent-
trotz seiner überschwenglichen Beteuerung des deckungsreise in die jungfräuliche Neue Welt
Hörspiele 95

dargestellt, die sich wiederum ihrem kolonialen Oder-Polaritäten des Kalten Krieges ermögli-
Herrn willig überläßt: »Könnt ich mehr tun, mich chen. In einem ganz anderen Kontext haben Lisa
aufreißen für dich und in deinen Besitz über- Lowe und David Lloyd auf eine neue Lesart von
gehen […]« (W 1, 315). In ihrem letzten gemein- Walter Benjamins »Engel der Geschichte« hinge-
samen Zusammensein unterwirft Jennifer sich wiesen, indem sie andeuten, daß das Neue aus
Jan vollkommen – gegen seinen Willen – und einer Umgestaltung des Möglichen hervorgeht:
macht ihn damit zu einem traditionellen Patriar- Unser Augenblick sei nicht der einer fatalisti-
chen, dem sie sich unterordnen will: »Jan ent- schen Verzweiflung. Denn indem wir das Antlitz
setzt Was tust du? Tu das nicht! / Jennifer Auf der Vergangenheit zuwenden, versuchen wir
den Knien vor dir liegen und deine Füße küssen? nicht das Zerschlagene zusammenzufügen, son-
Ich werde es immer tun. Und drei Schritte hinter dern uns mit dem Sturm in eine Zukunft zu
dir gehen, wo du gehst. Erst trinken, wenn du bewegen, wo die Trümmer mehr als Reste sind:
getrunken hast. Essen, wenn du gegessen hast. Sie enthalten die Alternative (vgl. Lowe/Lloyd,
Wachen, wenn du schläfst.« (W 1, 321) Diese S. 27).
Beispiele legen nahe, daß Jennifer keine vor- und Bachmanns Interesse am Medium Rundfunk
außersoziale Sexualität verkörpert, sondern viel- und die Arbeit an ihren eigenen Hörspielen fal-
mehr als Produkt eines schon existierenden Dis- len, wie Bartsch zu Recht betont, »zeitlich mit der
kurses von ›gender‹ und Sexualität zu verstehen Blütezeit der literarischen Rundfunkgattung im
ist. Innerhalb dieses Diskurses ist die weibliche deutschen Sprachraum in den fünfziger Jahren
Sexualität nur vorstellbar als eine, die jener des zusammen«. Materielle Bedingungen waren zum
Mannes von vornherein unterlegen ist. guten Teil für den damaligen Vorrang des Hör-
Man könnte behaupten, daß die beiden Dis- spiels verantwortlich, da »der Hörfunk das ein-
kurse über Sexualität, der an Marcuse und der an zige Medium war, das nach den kriegsbedingten
Foucault angelehnte, sich schlichtweg widerspre- Zerstörungen des literarischen Distributionsap-
chen und innerhalb des Hörspiels nicht zu ver- parates einen relativ großen Rezipientenkreis er-
mitteln sind (vgl. Lennox 2000). Unabhängig von reichen konnte (die Bevölkerung war noch aus
der Frage, ob dies tatsächlich Bachmanns ›Inten- der nationalsozialistischen Zeit mit Empfangsge-
tion‹ entspricht, läßt sich das Hörspiel aber auch räten bestens versorgt)« und weil »es für die
als Kritik an Jennifers Überzeugung lesen, ›daß Autor(inn)en auch die finanziell einträglichste
es den Austritt aus der Gesellschaft gibt‹, da Veröffentlichungsmöglichkeit bot«. Anfang der
sowohl ihr eigenes Verhalten als auch das von sechziger Jahre, als die Verlage wieder rentabel
Laurenz und Robinson beweisen, daß das nicht waren und das Fernsehen die Medienvorherr-
der Fall ist. Vielleicht geht es um das ›Widerspiel schaft übernahm, »schwindet mit dem Interesse
des Möglichen und des Unmöglichen‹, nicht um der Rezipienten auch das der Schriftsteller(in-
das Unmögliche schlechthin (das wäre auch eine nen) am Hörfunk« (Bartsch 1988, S. 77). Wie
Erklärung dafür, daß das Ich am Schluß von sehr viele ForscherInnen bereits bemerkt haben,
Malina in die Wand verschwinden muß). Viel- entsprechen Bachmanns Hörspiele auch formal
leicht ist es nicht unbedingt ein Verrat an der und thematisch den Schwerpunkten der dama-
Ekstase und der Freiheit, wenn man sich gele- ligen Gattung. Schon 1971 heißt es zum Beispiel
gentlich wünscht, wie der Gute Gott von Jan bei Hädecke: »[…] die Hörspiele der Ingeborg
behauptet, »normal, gesund und rechtschaffen Bachmann sind geradezu Musterbeispiele jenes
wie ein Mann [zu sein], der vor dem Abendessen Typs Hörspiel, das dem Zuhörer eine innere
ein Glas in Ruhe trinkt und aus seinem Ohr das Bühne, einen Innenraum der Imagination und
Geflüster einer Geliebten und aus seinen Nüstern Identifikation schuf, ihn mitten ins Spiel hinein-
den hinreißenden Geruch verscheucht hat – ein nehmen wollte; Exempel einer Kunstform des
Mann, dessen Augen sich wieder beleben an Hörens, die dennoch alles Hörbare, das außer-
Druckerschwärze und dessen Hände sich halb von Handlung und Rolle lag, nur sparsam,
schmutzig machen müssen an einer Theke« (W 1, untermalend, leitmotivisch einsetzte, auch die
327). Zumindest würde diese Deutung der drei Musik niemals um ihrer selbst willen verwen-
Hörspiele ein neues Verständnis von Bachmann dete, keiner ›Hörsensation‹ [Helmut Heißenbüt-
jenseits der mittlerweile veralteten Entweder/ tel], keiner Art von Schall und Geräusch den
96 II. Das Werk

gleichen Rang zusprach wie der sinnbestimmten Marx und Friedrich Engels (1971): Werke, Bd. 23.
Sprache, dem Dialog; es sind Modelle eines Hör- Berlin (Ost); – Platon (1977): Phaidros oder Vom Schö-
nen. Stuttgart.
spiels, das ›schon wegen des ganz spirituellen
‘Materials’, Sprache, Klang, innere Anschauung, Literatur: Höller (1987); Höller (1999); Koschel/von
aus denen es seine Gestalten und Bilder baut‹, Weidenbaum (1981); Lennox (2000); McVeigh (2002);
Spiesecke (1993); Weigel (1999).
keine realistische Kunst sein konnte – so Heinz
Kurt Bartsch (1979): Die Hörspiele Ingeborg Bach-
Schwitzke, Theoretiker und Ideologe des, sozu- manns. In: Die andere Welt. Aspekte der österreichi-
sagen, klassischen deutschen Hörspiels der schen Literatur des XIX. und XX. Jahrhunderts. (Hg.)
Nachkriegszeit.« (Hädecke, S. 126) Kurt Bartsch u. a. Bern, S. 311–334; – Kurt Bartsch
Die Stärken und auch die Schwächen des Hör- (1988): Ingeborg Bachmann. Stuttgart; – Jan-Peter
spiels der 1950er Jahre, wie sie in Bachmanns Domschke (1984): Die Träume des Herrn Laurenz. In:
Acta Neophilogica 17, S. 77–80; – Wolfgang Hädecke
Texten zum Ausdruck kommen, entsprechen den
(1989). Die Hörspiele der Ingeborg Bachmann [1971].
darstellerischen Möglichkeiten der Zeit, womit In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 118–131; –
nicht nur die aus heutiger Sicht ziemlich schlichte Hilde Haider-Pregler (1986): Ingeborg Bachmanns Ra-
technische Ausrüstung und der Mangel an Rund- dioarbeit. Ein Beitrag zur Hörspielforschung. In:
funkerfahrung gemeint sind, sondern auch – und Barbe/Wögerbauer (1986), S. 24–81; – Harvard Sum-
dies ist genau so wichtig – der Mangel an Be- mer School International Seminar Annual Reports
(1955): Report Entire. Cambridge/MA; – Roland Heger
griffen zur Erfassung der Nachkriegserfahrung in
(1977): Das österreichische Hörspiel. Wien; – Lisa
einer Zeit, in der Zweifel an den Denkschemata Lowe und David Lloyd (1997): Introduction. In: Lowe
des Kalten Krieges als gleichbedeutend mit Verrat und Lloyd: The Politics of Culture in the Shadow of
betrachtet wurden. (Das ist an den oft vorsich- Capital. Durham/NC, S. 1–32; – Jörg Mauthe (1973):
tigen politischen Formulierungen vieler Hör- Script Department – was ist das? In: Vom dritten Reich
spiele ebenso abzulesen wie an den vielen Miß- zum Dritten Mann. Helmut Qualtingers Welt der vier-
ziger Jahre. (Hg.) Wolfgang Kudrnofsky. Wien, S. 247–
verständnissen, denen sie ausgesetzt waren.) In
255; – Claus Reinert (1983): Unzumutbare Wahrheiten?
diesem Zusammenhang ist Bachmann gelungen, Einführung in Ingeborg Bachmanns Hörspiel Der gute
was sie in den Frankfurter Vorlesungen formu- Gott von Manhattan. Bonn; – Heinz Schwitzke (1961):
lierte: »zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsen- Bericht über eine junge Kunstform. In: Sprich, damit
tieren, und etwas zu präsentieren, für das die Zeit ich dich sehe. Sechs Hörspiele und ein Bericht über
noch nicht gekommen ist« (W 4, 196). Als Rudolf eine junge Kunstform. (Hg.) Heinz Schwitzke. Mün-
chen, S. 9–29; – Neva Šlibar (1995): Das Spiel ist aus –
Alexander Schröder 1955 den Bremer Literatur-
oder fängt es gerade an? Zu den Hörspielen Ingeborg
preis an Ilse Aichinger und Herbert Meier über- Bachmanns. In: Text + Kritik (1995), S. 111–122; – Erika
reichte, fand er bewegende und Bachmanns Tunner (1986): Von der Unvermeidbarkeit des Schiffs-
Kriegsblindenrede überraschend ähnliche Worte, bruchs. Zu den Hörspielen von Ingeborg Bachmann. In:
um das komplexe und kämpferische politische Barbe/Wögerbauer (1986), S. 82–99; – Liselotte von
Projekt ihrer Hörspiele zu charakterisieren. Reinken (1975): Rundfunk in Bremen 1924–1974. Eine
Dokumentation. Bremen; – Reinhold Wagnleitner
Diese Worte könnte man gleichermaßen auf
(1991): Coca-Colonisation und Kalter Krieg. Die Kul-
Bachmanns Hörspiele beziehen: Sie bieten eine turmission der USA in Österreich nach dem Zweiten
»Flucht in eine Welt hinter der Welt, deren un- Weltkrieg. Wien; – Jürgen P. Wallmann (1994): Reale
mögliche Möglichkeiten den möglich geworde- und irreale Welt [1976]. In: Schardt (1994), S. 193–94;
nen Unmöglichkeiten der Wirklichkeit den Spie- – Peter Weiser (1994). Die Familie Nr. 1. Hörspiel.
gel vorhalten, um in ihm die Gorgo gleichsam Versuch einer Rekonstruktion. In: Jörg Mauthe. Sein
Leben auf 33 Ebenen. (Hg.) David Axmann. Wien,
selbst zu versteinern und zu entmächtigen« (zi-
S. 25–33; – Peter Weiser (1990): Die Geschichte der
tiert nach Heger, S. 147). Familie Floriani. In: Familie Floriani. Ein wienerischer
Quellen: Ingeborg Bachmann (1976): Die Hörspiele. Lebenslauf in dreißig Bildern. Jörg Mauthe und Peter
Ein Geschäft mit Träumen. Die Zikaden. Der gute Gott Weiser. Wien, S. 248–252; – Wolf Wondratschek und
von Manhattan. München; – Hans Werner Henze Jürgen Becker (1970): War das Hörspiel der Fünfziger
(1976): Musik und Politik. Schriften und Gespräche Jahre reaktionär? Eine Kontroverse am Beispiel von
1955–1975. München; – Hans Werner Henze (1996): Ingeborg Bachmanns Der gute Gott von Manhattan. In:
Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographi- Merkur 24, S. 190–94.
sche Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt/M.; – Karl Sara Lennox
97

4. Libretti

Zwar hat Ingeborg Bachmann nach eigener Aus- (1868/69), zu der Henze die Musik geschrieben
sage schon als Kind versucht, eine Oper zu schrei- hatte (Uraufführung der ursprünglichen Fassung
ben (GuI, 124). Den Ausgangspunkt und die am 1. September 1952 im Hebbel-Theater Ber-
Grundlage ihrer Arbeit als Librettistin bildete lin). Bachmanns Neufassung, motiviert durch die
jedoch erst die Freundschaft mit dem gleichaltri- öffentliche Kritik an Gsovskys Textbearbeitung,
gen Komponisten Hans Werner Henze, den sie führt Dostojewskis Protagonisten in lyrischem
bei der Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1952 auf Monolog durch sieben Bilder, die sich zu einer
Burg Berlepsch bei Göttingen kennenlernte. Seit freien Paraphrase des Romans zusammenziehen.
den im Sommer 1953 gemeinsam auf der Insel Myschkin erscheint zunächst als ein außenste-
Ischia verbrachten Wochen verband Bachmann hender Kommentator, als Puppenspieler in ei-
und Henze eine langjährige künstlerische Zu- nem Marionettentheater, der dann aber in den
sammenarbeit, in der »das von Hofmannsthal Tanz der anderen Figuren hineingezogen und
geforderte ›Ineinanderarbeiten‹ von Librettistin durch deren Leidenschaften auf der Suche nach
und Komponist« in ähnlich glücklicher Weise Liebe, Wahrheit und Freiheit in den endgültigen
gelingt wie bei Hugo von Hofmannsthal und Ri- Wahnsinn getrieben wird. Motive wie die Verwei-
chard Strauss (Plachta, S. 301). Henze führte gerung intentionalen als entfremdeten Handelns
Bachmann nicht nur in die Welt des Musikthea- – »dies ist das Ziel, von uns selbst / nicht be-
ters ein, für das sie ein »besessenes Interesse« sessen zu sein / und jedes Ziel zu verfehlen« (W
entwickelte (W 1, 433), seit sie im Januar 1956 in 1, 67) –, der »Abgesang einer Geschichte, / die
Mailand die Sängerin Maria Callas in Verdis Oper unsre Opfer verachtet« (W 1, 73) oder Myschkins
La traviata erlebt hatte; er teilte mit ihr in den Darstellung als Ausgestoßener auf seinem »Weg
1950er Jahren auch jenes gesellschaftskritische durch die Gegenwart« in einer zerstörten Welt
Kunstverständnis, das sie beispielsweise in ihrem mit »zerrissenen Sonnen« (W 1, 72) – solche
Essay Musik und Dichtung oder der Preisrede Motive exemplifizieren die Verbindung von Ele-
Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar formu- menten des Existentialismus mit einer Kritik am
liert hat (Musik und Literatur als Infragestellung mangelnden Geschichtsbewußtsein der Nach-
herrschender Ordnungen im Rahmen einer tradi- kriegszeit, die der surrealistischen Parabolik von
tionsbewußten, weiterentwickelten Moderne, als Bachmanns lyrischer Dostojewski-Adaptation
ästhetische Opposition gegen die Restaurations- eingeschrieben ist.
gesellschaft vor dem Hintergrund zeitgeschichtli- Petra Grell und Thomas Beck haben das Ver-
cher Erfahrung, Musik als eine ›andere Sprache‹ hältnis von Bachmanns lyrischem Textbuch zu
der Freiheit, Differenz von Theater und Oper; Gsovskys Prosafassung (wie sie in dem Exposé
vgl. Henze 1984, Henze 1996). Erst als sich ihre Panoptikum in Bachmanns Nachlaß dokumen-
politischen und ästhetischen Anschauungen in tiert ist; N3843–3871) und Dostojewskis Roman
der zweiten Hälfte der 1960er Jahre auseinander- untersucht und den dramaturgischen wie sprach-
entwickelten, indem Henzes politische Radikali- lichen Konzentrationsprozeß herausgearbeitet,
sierung mit Bachmanns sprachkritischer Auffas- den Gsovskys Vorlage in Bachmanns lyrischer
sung von der ästhetischen Eigenständigkeit der Bearbeitung erfährt. Während Gsovsky »Bruch-
Literatur und Kunst in Widerspruch geriet, en- stücke von Dostojewsky-Zitaten aus verschiede-
dete auch die künstlerische Partnerschaft. nen Abschnitten des Romans – und somit unter-
schiedlichen Sinnzusammenhängen – mit einer
eigenen interpretierenden Zusammenfassung
Ein Monolog des Fürsten Myschkin
des Geschehens [verbindet]«, »[komprimiert]
Das erste Zeugnis dieser künstlerischen Zusam- Bachmanns metaphorische Sprache […] das Ge-
menarbeit ist Bachmanns lyrische Neufassung schehen« und verleiht ihm durch Bezüge zum
des Textbuchs zu Tatjana Gsovskys Ballettpanto- zeitgeschichtlichen Kontext der Nachkriegsjahre
mime nach F. M. Dostojewskis Roman Der Idiot wie zu ihrer gleichzeitigen Lyrik zusätzliche Be-
98 II. Das Werk

deutungsdimensionen im Sinne der »Darstellung Librettoplan in dem Exposé Anchises und Aphro-
existentieller Grundkonstellationen« (Grell 1995, dite aus dem Konvolut der »fremden Texte« in
S. 73 f., 87). Schon Hans Egon Holthusen hatte in Bachmanns Nachlaß (ebd., Bd. 2, S. 1138:
der Ballettpantomime den »existenzialistisch ge- N3003–3007). Bei diesem (durch zwei Blattver-
tönte[n] Weltschmerz« einer »Cocteauschen Or- luste fragmentarischen) maschinenschriftlichen
phée-Stimmung« entdeckt (Holthusen, S. 26). Exposé eines mythologischen Singspiels in sechs
»Kreisform des Geschehens«, Sprachproblema- Bildern, einer modernen, als Schäferspiel insze-
tik, »Licht- und Kältemetaphern« verleihen Bach- nierten Variante der Liebe zwischen der Göttin
manns Dostojewski-Adaptation formale und mo- Aphrodite und dem Troerfürsten Anchises, han-
tivische Geschlossenheit (Beck 1997, S. 140ff.). delt es sich aber (nach Maßgabe von Stil und
»Puschkins Ballade vom armen Ritter« (W 1, 71), Syntax) aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich
die Dostojewski in seinem Roman zitiert, wird nicht um einen Text Ingeborg Bachmanns, son-
bei Bachmann »zum ›Abgesang‹ Myschkins auf dern allenfalls um eine denkbare Vorlage unbe-
die untergegangenen Ideale einer Literatur« der kannter Hand für das gedachte »Homer-Bruch-
Balladenwelt, »die längst Geschichte wurde« stück«.
(Beck 1997, S. 142). Im Nachlaß überliefert sind dagegen die Frag-
Unter dem Titel Ein Monolog des Fürsten mente des zweiten Librettoprojekts um die
Myschkin hat Bachmann ihr lyrisches Textbuch Schönheitskönigin Belinda, von dem Bachmann
im Oktober 1953 bei der Tagung der Gruppe 47 in Kaschnitz erzählt. Dieses Libretto hat sie Hans
Schloß Bebenhausen bei Tübingen vorgetragen Werner Henze spätestens im November 1955 ver-
und zugleich in ihrem Gedichtband Die gestun- sprochen (Brief an H. Böll vom 7. 11. 1955); die
dete Zeit (1953) gedruckt. Ihre Uraufführung er- Oper war zeitweilig »fürs nächste Musikfest in
lebte diese Neufassung der Ballettpantomime je- Donaueschingen« vorgesehen (Brief an S. Unseld
doch erst am 8. Januar 1960 in der Städtischen vom 6. 12. 1955) und beschäftigt sie bis minde-
Oper Berlin, wobei die Choreographin Tatjana stens Juni 1956 (Brief an H. Kesten vom 13. 6.
Gsovsky »die Rolle des Fürsten Myschkin« aller- 1956). Es handelt sich (in Hans Werner Henzes
dings »in einen Tänzer und einen Sprechpart Worten) um »die Geschichte eines aus dem nea-
aufteilte« (Grell 1995, S. 56). Spätere Inszenie- politanischen Proletariat aufsteigenden Film-
rungen greifen aber wieder auf Bachmanns Kon- stars« (Interview 1986, zitiert nach Spiesecke
zeption Myschkins »als dem einzigen Schauspie- 1993, S. 83), dessen tragisch verirrtes Freiheits-
ler unter Tänzern« (N3796, zitiert nach Beck und Glücksverlangen die Folie einer scharfen
1997, S. 140), als Grenzgänger in der experi- Kritik an den modernen Medien, insbesondere
mentellen Vereinigung von »Musik, Dichtung dem Film, sowie an ihrer Kommerzialisierung in
und Tanz« zurück (Kommentar H. W. Henzes zur Kunstbetrieb und Medienwirtschaft der 1950er
Wiener Inszenierung 1988, zitiert nach Grell Jahre bildet. Einen entscheidenden Anstoß er-
1995, S. 57). hielt dieses Projekt durch den Besuch dreier
Opernabende in der Mailänder Scala gemeinsam
mit Henze im Januar 1956, darunter insbeson-
Belinda-Libretto
dere eine Generalprobe zu Luchino Viscontis
In die ersten italienischen Jahre der engen Zu- Inszenierung von Giuseppe Verdis Oper La tra-
sammenarbeit mit Hans Werner Henze in Ischia, viata mit Maria Callas in der Hauptrolle (24.
Rom und Neapel fallen auch die Anfänge von Januar 1956). Dieses Erlebnis bezeichnet Bach-
Bachmanns Arbeit für die Oper. Marie Luise Ka- mann als »bei weitem das Schönste, was ich je auf
schnitz gegenüber erzählt Bachmann 1956 in einer Opernbühne gesehen habe« (Brief an K.
Rom »von ihren Operntexten, dem 1., verwor- Piper vom 5. 2. 1956), und es veranlaßt sie und
fenen, Homer-Bruchstück, das sie sehr drama- Henze, bei der Sopran-Rolle der geplanten Be-
tisch fand, aber die Herren vom Südwestfunk linda-Oper an Maria Callas zu denken (Henze-
keineswegs. Dem 2., jetzigen, die Schönheits- Interview 1986, zitiert bei Spiesecke 1993,
königin, die wahnsinnig wird« (Kaschnitz, Bd. 1, S. 83).
S. 555). Die Herausgeber der Kaschnitz-Tagebü- Da die nachgelassenen Entwürfe ungedruckt
cher vermuten den ersten, bislang unbekannten sind, empfiehlt sich hier eine charakterisierende
Libretti 99

Inhaltsangabe auf der Grundlage des zweiten Li- phone« »bedienen«, bildet eine »Kontrapunkt-
brettokonzepts (N3505ff.) in Verbindung mit den studie für drei bis vier Grammophone (durch
entsprechenden ausgeführten Szenen (vgl. die Lautsprecher übertragen)« die Klangfolie für »ab-
Neuordnung der Libretto-Fragmente in Spies- wechselnd vom Tenor und vom Sopran vorge-
ecke 1993, S. 223–229, und die operntechnisch tragene Schlager und Sinfonieorchester«, wäh-
akzentuierte Zusammenfassung sowie die Arien- rend Belinda in grotesker Puppenhaftigkeit zu-
zitate in Beck 1997, S. 144ff.): (1) Das erste Bild gleich in einer »Reklamesendung« »sonderbare
zeigt eine »kleine meridionale Dorfpiazza« im Dinge zu sonderbaren Zwecken« bewirbt, dann
südlichen Italien, wo Belinda »als Angestellte der zu allem Überfluß auch noch eine »Ansprache an
Bar […] Kaffee im Friseurladen [seviert]« und die Soldaten« hält und »ein Lied für die Truppen«
von einem Manager auf der Talentsuche für sei- singt (N3473). Mitten in diesem Lied bricht sie
nen Schönheitswettbewerb entdeckt wird jedoch ab, schickt eine Art Hilferuf an Tommaso
(N3505). Von Freiheitssehnsucht und Fernweh »über den Äther« (N3558) und versucht, »einen
zerrissen (N3495), folgt Belinda diesem Angebot Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden«
sofort und ohne Rücksicht auf den sie liebenden (N3473). (6) Von diesem Wendepunkt an tritt die
Tommaso, der sich nach ihrem überstürzten Auf- Selbstentfremdung Belindas in ihrer Medienrolle
bruch auf die Suche nach ihr begibt. (2) In einer als ein innerer Konflikt in den Vordergrund, der
Schneiderwerkstatt wird Belinda für den Schön- in der Dreieckskonfiguration mit Canetti und
heitswettbewerb vorbereitet; sie erlebt ihre Ver- Tommaso ausgetragen wird. Im »Bühneneingang
wandlung in ein Kunstprodukt und Medienereig- eines Lichtspielpalastes« bleibt Tommaso nach
nis mit »wallende[n] Vorgefühle[n] eines kom- der Premiere von Belindas und Canettis Film
menden Triumphes« (N3501). (3) Schon zunächst verborgen, während die Filmstars ihre
unmittelbar nach der »Vorstellung« wird die neue Verlobung ankündigen (N3474). (7) Bei der Pre-
Schönheitskönigin einer »Diva« immer »ähnli- mierenfeier in Belindas Haus läßt Tommaso
cher« und von Reportern und Pressefotografen durch den Portier im Wissen um die Differenz
umringt. Während der Manager auf einer Presse- zwischen »Belindas Fühlen und Handeln« und
konferenz »unwahre und sensationelle Einzel- den »Gesetzen« der Medien-»Scheinwelt« dann
heiten über die Vergangenheit Belindas« lanciert, einen Ölzweig überreichen (N3476). (8) Belinda,
gelingt dem Filmstar Canetti die »Eroberung Be- die auf der Premierenfeier in ihrem »roten Salon«
lindens«, die Tommasos Einspruch ›stolz‹ miß- selbst die Enttäuschung ihrer Erwartungen emp-
achtet (N3482). (4) Das vierte Bild zeigt Belinda findet, versteht den Ölzweig paradoxerweise als
bei Filmaufnahmen mit Canetti zu einer Rokoko- »Zeichen« für den »Tod« (N3477); in »Rede und
Liebesszene, die ihr erst gelingt, als sie bei dem Gegenrede« rücken Belinda und Tommaso »im-
Liebhaber an Tommaso denkt (N3471). (5) Das mer näher zusammen«, bis Tommaso ein Messer
fünfte Bild bildet dann den Höhepunkt der Medi- zückt und vom Manager und anderen »eleganten
enreflexion als Grundlage einer umfassenden Herren« überwältigt wird, während sich die
Kommerzialisierungs- und Technologiekritik und Bühne in einen »grossen und weiten Raum voller
zugleich den librettistischen Rahmen für ein En- Lichtreklamen« verwandelt (N3478). (9) Im
semble Neuer Musik im Stile Luigi Nonos: »Im Raum dieser »rotierende[n] Lichtreklamen« zeigt
Reklameturm« befinden sich »Glaswände, Stahl- das letzte Bild »Belinda allein« »in einem leuch-
rohrmöbel, Neonlicht, Mikrophone, Telephone, tenden Wahnsinn, in dem ihre Persönlichkeit
Megaphone. Man muss sich einen Raum vor- aufs Höchste gesteigert erscheint«, indem sie im
stellen, der ein Gemisch aus Luxushotelhalle, Licht des anbrechenden Morgens nun die »Al-
Atomstation und Rundfunkaquarium ist.« Dar- leinherrschaft über ein Reich unverletzbarer
über hinaus soll er Züge einer »Nervenklinik« Schönheit« gewinnt (N3478). Daß das Absolute
aufweisen, in der »die Beschäftigten alle in weis- nur im Wahnsinn jenseits der sozialen Welt ge-
sen Kitteln auftreten« und eine »Rotationsma- wonnen wird, markiert einen Grenzübertritt, wie
schine« »laufend grosse Plakate mit dem Bild ihn wenige Jahre später die Erzählungen des
Belindas« projiziert. Während »der Manager und Bandes Das dreißigste Jahr vielfältig themati-
sein Schatten« »gleichzeitig mehrere Mikro- sieren.
phone« und »eines der ständig läutenden Tele- Raumstruktur, »Konfliktmuster«, Figurenkon-
100 II. Das Werk

stellation und Motivik des Belinda-Librettos wer- Librettistin begründet (W 1, 433). In ihrem »er-
den durch eine »bipolare Kontraststruktur« ge- sten Libretto« habe sie »Arien mit Gedichten,
prägt, die »der natürlichen und ehrlichen Welt Rezitative mit Dialogen usf.« verwechselt, wäh-
des Heimatdorfes« die »verlogene Schein-Sphäre rend es in Wahrheit entscheidend auf das »Hint-
der Stadt« mit ihrer »synthetisch-sterilen Kon- anstellen der eigenen Arbeit unter die allein
sum-Welt« gegenüberstellt (Beck 1997, S. 148, wichtige des Komponisten« gehe (W 1, 434).
152). Natursymbole (blühender Baum und Stern- Schon in einem nachgelassenen Essay-Entwurf
schnuppe im 1. Bild), Opernrequisiten (das aus dem Kontext des Belinda-Librettos stellt sie
weiße Schultertuch, das Belinda Tommaso über- fest, daß »der Text« »notwendiger Weise hinter
reicht) und mythologische Motive (Zerbrechen der Musik zurückbleiben [muß]«, da »die wirk-
des Spiegels, Ölzweig) strukturieren und visua- liche Begebenheit […] in der Musik [sei], die
lieren das Operngeschehen. Die Arientexte wei- Freude, der Schmerz in der menschlichen
sen »großenteils auf höchstem lyrischen Sprach- Stimme« (N3519). Der Entwurf, der mit dieser
niveau« (Beck 1997, S. 149) enge Bezüge zu den Überlegung auf die Apotheose der menschlichen
Gedichten des gleichzeitig entstehenden zweiten Stimme in dem Essay Musik und Dichtung
Gedichtbandes Anrufung des Großen Bären auf. (1959) vorausdeutet, schließt mit einer Kritik an
Thomas Beck hat die Handlung des Librettos Bertolt Brechts Opernkritik. Brecht habe trotz
»gleichsam als dramatische[n] Reflex« des Ge- ›bewundernswürdiger‹ Intention »die Rechnung
dichts Reklame interpretiert und die motivischen ohne die Musik gemacht«: »Es gibt keine lehr-
Überschneidungen zwischen Belindas Arie (im 2. hafte Musik.« (N3519) Musik und Libretto kon-
Bild) und der von Henze 1957 vertonten, er- stituieren in dem »lyrischen Theater« der Oper
weiterten Fassung des Gedichts Im Gewitter der (W 1, 434) eine Kunstwelt mit eigenen ästhe-
Rosen (Aria I) herausgearbeitet; diese Arie ist tischen Gesetzen, in der die »Rechtfertigung« des
zugleich geradezu eine »konkrete Vorstufe« des Librettos »nur von der Musik kommen [kann]«
Gedichts Aria II (W 1, 160 f.; Beck 1997, S. 153, (W 1, 373), wie Bachmann 1960 in ihrem Kom-
150 f.). Trotz dieser »lyrischen und deshalb im mentar zur Kleist-Oper Der Prinz von Homburg
librettistischen Sinne problematischen Sprache« schreibt.
hat Beck zudem im Hinblick auf die beiden er-
sten, ausgeführten Bilder die »dramatische Bega-
Der Prinz von Homburg
bung« Ingeborg Bachmanns herausgestellt (Beck
1997, S. 147), während Hartmut Spiesecke vor Einer Anregung des italienischen Regisseurs Lu-
allem die strukturellen Probleme des Belinda- chino Visconti folgend (Henze 1984, S. 76), set-
Librettos benennt: die unzureichende Exposition zen Bachmann und Henze ihre künstlerische Zu-
der Protagonisten, die ›zu konzentrierte‹ Über- sammenarbeit 1958/59 mit der Umarbeitung von
lagerung unterschiedlicher Darstellungsintentio- Heinrich von Kleists Schauspiel Prinz Friedrich
nen, das »Mißverhältnis von dramatischer und von Homburg (1811) in die Oper Der Prinz von
realer Zeit«, die unausgearbeitete Simultaneität Homburg fort (Uraufführung am 22. Mai 1960 an
paralleler Szenen und die Komplexität der lyri- der Staatsoper Hamburg). Angesichts des literari-
schen Sprache (Spiesecke 1993, S. 76 f., 80 f., 92; schen Rangs der Vorlage sah Bachmann es einer-
vgl. Grell 1995, S. 251 f., 260). Vor der Folie der seits als ihre Aufgabe an, »die Dichtung so unbe-
Kulturkritik der 1950er Jahre ist dieses Libretto- schädigt wie möglich der Musik zu übergeben
fragment gleichwohl ein bemerkenswerter Ver- […] für ein zweites Leben in der Musik und mit
such, die Kommerzialisierung der Kunst und die der Musik« (W 1, 372). Andererseits reflektiert
technologische Revolution der Medienwelt als sie in dem Programmtext Entstehung eines Li-
künstlerische Herausforderungen ernstzuneh- brettos die Chance und Notwendigkeit jener kriti-
men und im Anschluß an die Neue Musik in eine schen Auseinandersetzung mit der Rezeptions-
Erneuerung der Oper umzusetzen. geschichte von Kleists Drama, zu der Henze und
Im Rückblick hat Bachmann das Scheitern die- sie sich herausgefordert sahen und die zugleich
ses ambitionierten Versuchs zu einem Original- eine Auseinandersetzung mit deutscher Ge-
libretto mit der künstlerischen »Sonderstellung schichte und deutschem Geschichtsbewußtsein
des Librettos« und ihrem eigenen Lernprozeß als im 20. Jahrhundert darstellt. Aufgrund einer
Libretti 101

»trotz Abweichung vom Kleistschen Wortlaut tige[n] Durchdringung von Legalität und Indivi-
übereinstimmenden Textstelle (im Grab-Erlebnis dualität« in Kleists Drama (und insbesondere
Homburgs)« ist darüber hinaus vermutet worden, auch in der Figur des Kurfürsten) hat man in der
daß Bachmann das Homburg-Libretto (1935) des Oper die Tendenz zu einem kurfürstlichen Gna-
Komponisten und NSDAP-Funktionärs Paul denakt als einseitigem Sieg des Gefühls gesehen
Graener (1872–1944) gekannt haben könnte, so (Beck 1997, S. 195, 191). Bachmanns Kritik des
daß ihre »humanistisch-pazifistische« Kleist-Be- Legalitätsdenkens im Zeichen des Freiheitsbe-
arbeitung u. a. auch als Gegenentwurf gegen den griffs und der moralischen »Empfindung« hat
militärischen Nationalismus und Führerkult von aber gleichfalls den vernünftigen Ausgleich von
Graeners Kleist-Oper zu lesen wäre (Beck 1997, Staats- und Individualinteressen im Auge, der
S. 195, 163). Dies wäre dann ein konkretes Bei- den Wertekonflikt des Dramas bestimmt. Daher
spiel für jene ideologische Funktionalisierung kann sie schließlich auch den berühmten Schluß-
Kleists, der Bachmann in ihrem Libretto ent- satz von Kleists Drama – »In Staub mit allen
gegentritt, indem sie sich rezeptionsgeschichtlich Feinden Brandenburgs!« (W 1, 368) – überneh-
in die Spannung zwischen Heinrich Heines ästhe- men, denn er bedeutet angesichts der Milita-
tischer Bewunderung für Kleists Schauspiel und rismuskritik des Librettos keine »opernhaft naive
Bertolt Brechts ideologiekritischer Kleist-Lek- Apotheose« des Nationalismus mehr (W 1, 374),
türe stellt (W 1, 369 f.). sondern den Ausblick auf ein utopisches »Ideal-
Gegen den preußisch-soldatischen Patriotis- Land« innerer Freiheit (Henze 1984, S. 79).
mus der Vorlage und seine Vereinnahmung durch Die notwendige Straffung und Umarbeitung
Nationalismus und Nationalsozialismus, »gegen von Kleists Drama in Bachmanns Libretto-Kür-
neu aufkeimende obrigkeitsstaatliche und milita- zung des Texts um ca. zwei Drittel auf zehn Bilder
ristische Tendenzen in den fünfziger Jahren« in drei Akten, Zusammenfassung von Neben-
(Bartsch 1997, S. 91) akzentuiert Bachmanns Li- figuren und Ensemblebildung, szenische Insze-
bretto die »Luft der Freiheit« und Gerechtigkeit nierung verdeckter Handlung, Auflösung dialo-
in Kleists Drama (W 1, 371). Sie transformiert gischer Strukturen, gestischer Affektausdruck,
sein preußisches Staatsideal im Sinne ihrer Auf- operntypische Änderungen der Textzuordnung
fassung der »Literatur als Utopie« (W 4, 271) und Montage von Versen, verbunden mit punktu-
aktualisierend in eine »human-aufgeklärte« ellen Interpolationen aus Kleists Dramen Amphi-
Staatsutopie (Achberger 1980, S. 124 f.). Dies tryon, Penthesilea und Die Familie Schroffenstein,
zeigt sich nicht nur in der weitgehenden Kürzung Vereinfachung und Entpoetisierung der Sprache
des Militärischen (Spiesecke 1993, Beck 1997), (Kreutzer, Schlütter, Achberger, Spiesecke 1993,
sondern auch in der Hervorhebung des »Kon- Grell 1995, Beck 1997) –, diese Umarbeitung
flikt[s] zwischen Gesetz und Gefühl« (Grell 1995, bringt mithin eine »eigene Interpretation« der
S. 188) und in entsprechenden pointierten Um- Vorlage hervor (Achberger, S. 122), die über eine
formulierungen, durch die Bachmann »die heroi- bloße ›Literaturoper‹ hinausführt (Grell 1995,
sche Welt und ihren trügerischen Anspruch« ent- S. 233) und sogar als »eine vollkommene Neu-
larven und dem »Mißverständnis« Kleists als ei- formung der Vorlage bei weitgehender Beibehal-
nes »nationalen, patriotischen Dichter[s]« tung des Kleistschen Wortlautes« betrachtet wor-
entgegentreten will (W 1, 371, 374). So ist die den ist (Beck 1997, S. 156; siehe zu den nach-
Lehre, die der Kurfürst in Homburgs Gewissen- gelassenen Libretto-Entwürfen Spiesecke 1993,
haftigkeit verkörpert sieht, nun nicht mehr die Grell 1995). Entschiedener als die Vorlage arbei-
von »Kriegszucht und Gehorsam« (Kleist V.5), tet die Oper mit der kontrastierenden »Gegen-
sondern jene, »Was Freiheit und was Würde sei« überstellung der ›Traum-Sphäre‹ Homburgs mit
(W 1, 362). Entsprechend entfällt Homburgs aus- der ›Gesetzeswelt‹ des Kurfürsten« (Beck 1997,
drückliche Berufung auf »das heilige Gesetz des S. 166), die sich in der kontrapunktischen Motiv-
Kriegs« (Kleist V.7), und am Schluß des Librettos technik von Henzes Komposition (vgl. de la
wiederholen die Damen – anders als in der Vor- Motte) ebenso spiegelt wie in der traditionellen
lage – die Einsicht der Offiziere, »Daß die Emp- Stimmfachbesetzung mit ihrem Gegeneinander
findung einzig retten kann!« (W 1, 367, vgl. 363 von Schicksalsbariton (Homburg) und Tenor
bzw. Kleist V.5). An die Stelle der »gegensei- (Kurfürst) als »Verkörperung des Un- oder Über-
102 II. Das Werk

menschlichen« (Beck 1997, S. 182; Grell 1995, bindet sich in den sechs tableauartigen Bildern,
S. 174). Entsprechende Umstrukturierungen be- in denen Bachmann und Henze Hauffs frührea-
treffen sowohl die Konfiguration (so verliert der listische Gesellschaftssatire auf das Philistertum
Obrist Kottwitz als sympathischer Repräsentant der Restaurationsepoche adaptieren, mit einer
des Soldatentums an relativem Gewicht) als auch tragikomischen Reflexion der individuellen und
die Figurenanlage: Natalie verkörpert als kollektiven Gefährdungen hinter der bürgerli-
»›emanzipierte‹ Frauengestalt« nun »den für das chen Ordnung. Charakteristisch sind bereits die
Libretto zentralen Begriff der ›Freiheit‹« (Beck typisierende Umbenennung von Hauffs Hand-
1997, S. 174 f.). In diesen Zusammenhang gehört lungsort Grünwiesel in das partikularstaatlich
insbesondere auch die existentialistisch geprägte klingende »Hülsdorf-Gotha« (in den Entwürfen
Auffassung des Prinzen von Homburg selbst als zunächst »Schaumburg-Lippe«; N15303) und die
»erster moderner Protagonist« (W 1, 371) und Umdatierung des Geschehens in das Jahr der
»deutscher Hamlet« (Henze im Programmheft Julirevolution 1830 (W 1, 378), das die Gefähr-
der Hamburger Uraufführung, zitiert nach dung der bürgerlichen Ordnung signalisiert
Plachta, S. 299), der im Libretto deutlicher noch (Spiesecke 1993, S. 148).
als im Drama in den Mittelpunkt rückt. So wird Die Forschung hat Henzes musikalische
beispielsweise die Konfrontation mit dem eige- Charakterisierungskunst, die figurengebundene
nen Grab, die Homburg bei Kleist nur rück- Leitmotivtechnik, die Verarbeitung von opera
blickend erzählt, in der Oper in einem neu einge- buffa-Konventionen, die gestische Deutlichkeit
fügten Bild als »existentielle Grenzerfahrung von tonmalerischer Bildinszenierung und die drama-
Todesangst« (Bartsch 1997, S. 90) visualisiert, turgisch funktionalisierten Zitate aus der euro-
und die »innere Homburghandlung« tritt insge- päischen Musiktradition von Mozart (Die Entfüh-
samt in den Vordergrund (Schlütter, S. 242). Ana- rung aus dem Serail) bis zu Mahler und Stra-
log hebt die Traum-Motivik, die das Drama ein- winsky herausgearbeitet (Spiesecke 1993,
rahmt und die Henze in der Oper musikalisch S. 150ff., 179 f.; Grell 1995, S. 98 f.; Beck 1997,
unterstreicht (Spiesecke 1993, S. 110ff.), das kon- S. 244ff.). Grell und Beck haben darüber hinaus
zentriertere Geschehen im Libretto auf die sym- den Entstehungsprozeß des Librettos in den
bolische Ebene eines ästhetischen Reflexionsmo- nachgelassenen Entwürfen im Verhältnis zur lite-
dells der moralischen Grundlagen der Gesell- rarischen Vorlage rekonstruiert und auf der
schaft im problematischen Ausgleich von »Staats- Grundlage entsprechender Arbeitsnotizen insbe-
und Individualinteressen« (Spiesecke 1993, sondere auch gezeigt, wie Bachmann zeit- und
S. 119). milieutypische Zitate aus Hauffs Mitteilungen aus
den Memoiren des Satan und Motive aus dem
Leben Lord Byrons, möglicherweise auch aus
Der junge Lord
dem Tagebuch von Mary Shelley (zu John Ed-
Fanden Bachmann und Henze mit ihrer Kleist- ward Trelawny) und aus Knigges Buch Über den
Oper bei Publikum und Kritik bereits große Be- Umgang mit Menschen in ihr Libretto einarbeitet
achtung, so gelang ihnen mit der 1963/64 ent- (Miller; Grell 1995, S. 99ff., 121ff.; Beck 1997,
standenen komischen Oper Der junge Lord (Ur- S. 214ff.; in Bachmanns Bibliothek erhalten ist
aufführung am 7. April 1965 an der Deutschen der Band: Byron [1960]: Briefe und Tagebücher.
Oper Berlin) ein regelrechter Bühnenerfolg. Ur- Ausgewählt und eingeleitet von Friedrich Bur-
sprünglich hatte Henze für seinen Kompositions- schell. Frankfurt/M. und Hamburg [= Fischer-
auftrag von der Deutschen Oper Berlin an eine Bücherei 341]). Das Libretto erzählt von der
Bearbeitung von William Shakespeares Komödie großartigen Ankunft eines englischen Lords und
Love’s Labour’s Lost gedacht, doch hat ihm seines Hausstands in einem deutschen Provinz-
Bachmann stattdessen ein Originallibretto nach städtchen, dessen Bürgertum ihn, als er alle
der Parabel Der Affe als Mensch aus Wilhelm hochgesteckten geselligen Erwartungen durch
Hauffs Märchenzyklus Der Scheik von Alessan- völlige Verweigerung enttäuscht, xenophobisch
dria und seine Sklaven (1827) vorgeschlagen ausgrenzt, zumal als er statt der Bürger eine
(Henze 1984, S. 111). Die in Text und Musik Zirkusgesellschaft in sein Haus einlädt. (Für die
zitathafte Evokation einer Biedermeierwelt ver- burleske Zirkusszene hatten Bachmann und
Libretti 103

Henze zunächst an eine Balletteinlage gedacht, kultureller Differenz den komischen Kontrast der
wie überhaupt im Inventar und Figurenensemble Welten plastisch überhöht. Der koloniale Exo-
Elemente der Commedia dell’arte-Tradition der tismus des neu eingeführten Personals – der exo-
opera buffa ausgemacht werden können [Beck tischen Tiere, des requisitenhaften Mohren und
1997, S. 216ff.].) Die Ankunft und gesellschaft- der komischen Köchin aus Jamaica – hat hier
liche Einführung seines angeblichen Neffen Lord ebenso seine Funktion wie der Auftritt des Lords
Barrat, des unter größten Peinigungen dressier- als eine stumme Figur, die durch ihren Sekretär
ten Zirkusaffen, der Bachmann »dargestellt nur spricht bzw. singt, als Ausdruck der Sprachlosig-
in der Oper denkbar« schien (W 1, 435), macht keit zwischen seiner Welt und der des deutschen
diesen vermeintlichen jungen Lord in einem voll- Bürgertums (Spiesecke 1993, S. 154).
ständigen Affektwandel dann jedoch zum dämo- Darüber hinaus führt Bachmann eine Liebes-
nisch-animalischen Verführer einer Zerrüttung handlung ein, die – als genregerecht unstan-
und Enthemmung der bürgerlichen Sitten. Sei- desgemäße Verbindung eines gebildeten jungen
ner scheinbar nur exzentrischen Norm äfft vor Adeligen (des Studenten Wilhelm von Thingen)
allem die örtliche Jugend nach, bis das vermeint- mit dem bürgerlichen Mündel (Luise) der ton-
liche Vorbild sich in einem furiosen Tanzfinale als angabenden Baronin Grünwiesel tragisch ange-
der Affe entpuppt, der der guten Gesellschaft den legt – die ›Affenparabel‹ begleitet und psycho-
satirischen Spiegel vorhält. Das gilt auch in logisch vertieft, indem Luise in den Bann des
sprachlicher Hinsicht, da Lord Barrats versatz- jungen Lords gerät und Wilhelm dadurch ei-
stückartige Goethe-Zitate die Formelhaftigkeit fersüchtig macht. In der Form einer konventio-
der Bürgersprache und ihren Bildungsdünkel nellen Dreieckskonstellation veranschaulicht die
parodieren (Beck 1997, S. 272). Liebeshandlung mithin an der tragikomischen
Obwohl Bachmann sich im Handlungsgrund- Faszination Luises die von dem Affen auf ani-
riß und in vielen Einzelmotiven – bis hin zu der malische Weise verkörperte Gefährdung bürger-
›leicht rhythmisierten Sprache‹ (W 1, 435) – an licher Geschlechtsidentität und Sozialität durch
ihre Vorlage hält, erfährt Hauffs Parabel im Zuge die »Wildnis von Gefühlen« (W 1, 424), während
der operntypischen Konzentration des Gesche- zugleich an Wilhelm eine kritische Außenper-
hens doch eine deutliche Uminterpretation im spektive auf die Verführung und Verführbarkeit
Sinne eines ›diabolischen Experiments‹ (W 1, der Gesellschaft durch den provozierenden
436), das über die satirische Entlarvung der bür- neuen Tonangeber, den vermeintlichen Lord,
gerlichen Gesellschaft hinaus zwei gegensätzli- entworfen wird. Erst in letzter Minute finden die
che Welten aufeinanderstoßen läßt (Spiesecke Liebenden genregerecht wieder zusammen. In-
1993, S. 97; Grell 1995, S. 149). Bachmann hat sofern fungiert die groteske Gestalt des dressier-
die notwendige Raffung der Handlung – aus zehn ten Affen als ein Katalysator, der die Brüchigkeit
Jahren wird ein Zeitraum von wenigen Wochen der scheinbar so gesicherten bürgerlichen Ord-
und Monaten im Herbst/Winter 1830, die zahl- nung aufdeckt. Die Überschreitung des Komi-
reichen Visitentouren, Wirtshaus- und Ballbe- schen ins Groteske entlarvt »das immanent Dia-
suche, bei denen der vermeintliche junge Lord in bolische im scheinbar Gemütlichen«, »deutsches
der Vorlage in die Provinzgesellschaft eingeführt Spießertum erscheint als Nährboden für eine Un-
wird, werden in der komischen Oper in zwei menschlichkeit, die im Animalischen Lord Bar-
Gesellschaftsabende zusammengezogen – in die- rats ihre bühnengerechte Verkörperung findet«
sem Sinne mit einer nachhaltigen Umstrukturie- (Beck 1997, S. 258). Mit Rücksicht auf das Leiden
rung der Konfiguration verbunden. Die Libretti- dieser gepeinigten Kreatur kann diese Gesell-
stin verwandelt Hauffs einsamen Fremden in ei- schaftskritik allerdings auch dialektisch gelesen
nen englischen Lord, der mit großem exotischen werden: Der verkleidete und gewaltsam dres-
Gefolge seinen spektakulären Einzug in die Pro- sierte Affe erscheint dann als groteske Inkarna-
vinzstadt hält. Sie hat dadurch die individuelle tion des Menschlichen, an der sich »die Grau-
Konstellation von Gesellschaft und Außenseiter samkeit der Bürger, die die Menschlichkeit for-
aus der Vorlage zum kulturellen Zusammenprall dern, zeigt« (Spiesecke 1993, S. 163). In jedem
von Fremdem und Eigenem ausgestaltet, wobei Fall verleiht das »Spannungsfeld zwischen tradi-
die Überblendung von sozialer, nationaler und tionell verwendeter komischer Opernmotivik
104 II. Das Werk

und ihrer zunehmend grotesken Verzerrung« der liche zeitbezogene Problemfolie, die es Bach-
Oper die beklemmenden Zügen der bedrohli- mann erlaubte, auf einen ausdrücklich didakti-
chen Phantastik und des ›schwarzen Humors‹ schen Schluß (wie in Hauffs Parabel) zu
E. T. A. Hoffmannscher Prägung, und durch die verzichten.
Nachricht von einem gebildeten jungen Mann in Quellen: Hans Werner Henze (1984): Musik und Poli-
Hoffmanns Kreisleriana hatte sich Hauff ur- tik. Schriften und Gespräche 1955–1984. (Hg.) Jens
sprünglich zu seiner Parabel anregen lassen Brockmeier. München; – Hans Werner Henze (1996):
(Beck 1997, S. 253; Miller). Bei Hoffmann fun- Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographi-
giert der Brief eines gebildeten Affen als quasi- sche Mitteilungen 1926–1995. Frankfurt/M.; – Marie
Luise Kaschnitz (2000): Tagebücher aus den Jahren
exotistisches Medium der Kritik europäischer
1936–1966. 2 Bde. (Hg.) Christian Büttrich, Marianne
Kultur, Bildung und Wissenschaft bis hin zu einer Büttrich und Iris Schnebel-Kaschnitz. Frankfurt/M.; –
Parodie des bürgerlichen Musikbetriebs. Briefwechsel Ingeborg Bachmanns mit dem Piper Ver-
Das Komische in Bachmanns Libretto ist also lag im Deutschen Literaturarchiv (Marbach); Heinrich
abgründig, und die opera buffa verwandelt sich in Böll-Archiv (Köln); Briefwechsel mit Hermann Kesten
ein Medium gesellschaftskritischer Reflexion. im Literaturarchiv der Monacensia (München); Archiv
des Suhrkamp Verlags (Frankfurt/M.).
»In dieser engen Stadt […], in der keine Freiheit
ist«, wie Wilhelm klagt (W 1, 382), sind die Literatur: Bartsch (1997); Beck (1997); Grell (1995);
Grundlagen gewaltfreier Sozialität und indivi- Spiesecke (1993).
dueller Entfaltung gefährdet. Nicht zufällig erin- Karen Achberger (1980): Literatur als Libretto. Das
deutsche Opernbuch seit 1945. Mit einem Verzeichnis
nert die Oper an die katastrophische Erfahrung der neuen Opern. Heidelberg; – Hans Egon Holthusen
des Nationalsozialismus, wenn Sir Edgars Haus (1958): Kämpfender Sprachgeist. Die Lyrik Ingeborg
nachts mit dem Wort »Schande« beschmiert wird Bachmanns. In: Koschel/von Weidenbaum (1989),
(W 1, 403; vgl. Bartsch 1997, S. 91; Grell 1995, S. 24–52; – Hans-Joachim Kreutzer (1977): Libretto und
S. 138). Sie assoziiert so die sensationslüsterne Schauspiel. Zu Ingeborg Bachmanns Text für Henzes
Verführbarkeit des biedermeierlichen Bürger- Der Prinz von Homburg. In: Werke Kleists auf dem
Musiktheater. (Hg.) Klaus Kanzog und Hans-Joachim
tums mit den politischen Massenmanipulationen Kreutzer. Berlin (= Jahresgabe der Heinrich von Kleist-
des 20. Jahrhunderts. Selbst Nebenmotive wie Gesellschaft 1973/74), S. 60–100; – Norbert Miller
das Spottlied der Kinder auf den Mohren (als (1982): »Geborgte Tonfälle aus der Zeit«. Der junge
Anspielung auf Rassismus und Fremdenfeind- Lord oder Keine Schwierigkeiten mit der komischen
lichkeit; W 1, 404) variieren das Thema gesell- Oper. In: Für und Wider die Literaturoper. (Hg.) Sigrid
schaftlicher Gewalt in einer autoritär denkenden, Wiesmann. Laaber (= Thurnauer Schriften zum Musik-
theater, Bd. 6), S. 87–104; – Diether de la Motte (1960):
hierarchisch strukturierten Gesellschaft, die – Der Prinz von Homburg. Ein Versuch über die Kompo-
wie die Formelhaftigkeit und Uneigentlichkeit sition und den Komponisten. Mainz; – Bodo Plachta
ihrer Rede zeigt – »Gewalt durch Sprache« (Beck (2001): Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze.
1997, S. 262) ausübt. Die komische Oper besitzt Das ›Ineinanderarbeiten‹ von Librettistin und Kompo-
in der »Anfälligkeit des deutschen Bürgertums nist. In: Literarische Zusammenarbeit. (Hg.) Bodo
für den Faschismus« und in den impliziten Paral- Plachta. Tübingen, S. 285–302; – Hans-Jürgen Schlüt-
ter (1977): Ingeborg Bachmann: Der Prinz von Hom-
lelen zwischen der dargestellten Restaurations- burg. Akzentuierungen eines Librettos. In: Sprach-
epoche und den »restaurative[n] Tendenzen in kunst 8, S. 240–250.
der politischen und gesellschaftlichen Entwick- Dirk Göttsche
lung nach 1945« (Bartsch 1997, S. 92) eine deut-
105

5. Erzählprosa

5.1. Frühe Erzählprosa kratischen Pluralismus aus. An diese zweite


schließt sich dann ab Mitte der 1960er Jahre eine
Geschichte, Politik und Gesellschaft sind zentrale dritte Phase an, in der die Todesarten-Romane
Themen nicht nur der Gedichte, sondern auch und die Erzählungen des Simultan-Bandes ent-
der Romane und Erzählungen Ingeborg Bach- stehen und in der das Problem einer Übersteige-
manns. Die Kritik der faschistischen Ideologie rung dieses Pluralismus mit in Bachmanns politi-
steht hierbei aufgrund ihrer persönlichen Erfah- sche und gesellschaftliche Kritik einbezogen
rungen und ihrer intellektuellen Orientierung wird.
zeit ihres Lebens im Zentrum ihres Interesses. Als Heranwachsende waren der Autorin solche
Allerdings lassen sich im Hinblick auf Bach- Perspektiven jedoch zunächst fremd; von den
manns weltanschaulich-politische Orientierung vierzehn ihrer frühen Erzählungen aus den spä-
drei Phasen ihrer geistigen und künstlerischen ten 1940er und frühen 1950er Jahren sind acht in
Entwicklung unterscheiden. In einer ersten der (damals relativ auflagenschwachen) konser-
Phase kritisiert sie den Faschismus von einem vativen »Wiener Tageszeitung« publiziert wor-
traditionell-konservativen Standpunkt aus, der den, dem »Zentralorgan der Österreichischen
im wesentlichen den Wertekanon des bürger- Volkspartei«, die von 1945 an ein Vierteljahrhun-
lichen 19. Jahrhunderts gegen einen als vor- und dert lang den österreichischen Regierungschef
antibürgerlich verstandenen Totalitarismus aus- stellte, ehe im April 1970 mit Bruno Kreisky zum
spielt. Künstlerische Qualität und ideologische ersten Mal ein Politiker der SPÖ das höchste
Orientierung der in dieser Phase entstandenen Regierungsamt übernahm.
frühen Erzählungen mögen die Anhänger der
späteren Prosawerke zuweilen enttäuschen, doch
Die Fähre
für die Bachmann-Forschung ist es wichtig, ein
zutreffendes Bild von der allmählichen Entwick- Diese vermutlich 1945 entstandene Kurzge-
lung der Autorin zu gewinnen, die in einem schichte wurde zuerst am 4. August 1946 – zu-
bürgerlichen, an traditionellen Werten orientier- sammen mit vier Illustrationen – in der »Kärnt-
ten Milieu aufwuchs. Bachmanns früheste Texte ner Illustrierten« (Klagenfurt) abgedruckt. Eine
reflektieren noch keine Auseinandersetzung mit zweite, in mehr als 80 Textdetails davon ab-
Joyce, Faulkner, Gide oder vergleichbaren Au- weichende Fassung, der die Werkausgabe im we-
toren, sondern kombinieren im wesentlichen be- sentlichen folgt, erschien am 24. April 1949 in der
kannte Motive und Redewendungen aus der Er- »Wiener Tageszeitung«. Das Werk schildert die
zähltradition des 19. Jahrhunderts. Die Autorin Gedanken und Empfindungen des jungen Fähr-
hat diese Texte später nie wieder publiziert, ja manns Josip, der in einer ruhigen ländlichen
kaum noch erwähnt. Stilistisch sind sie teilweise Gegend Menschen und Lasten über einen breiten
durch typische Debütanten-›Fehler‹ wie die Ge- Fluß befördert. Am anderen Ufer befindet sich
suchtheit von Verben und Adjektiven, den Ver- das Herrenhaus, dessen schon älterer Bewohner
zicht auf raumzeitliche Konkretisierung zur Sug- als mächtig und gut, aber auch als ruhelos charak-
gestion überzeitlicher Relevanz, parabolische terisiert wird. Josip sieht es mit Unbehagen, daß
Handlungsstrukturen zur Erzielung einer ge- sich die törichte und einfache junge Maria des
heimnisvollen ›dichterischen‹ Atmosphäre u. ä. öfteren abends übersetzen läßt, um dem Herrn
gekennzeichnet. noch Beeren, Brot oder Honig zu bringen. Eines
Ihre allmähliche Befreiung von dieser Tradi- Abends kommt es dann zu einer schicksalhaften
tionsorientierung datiert in die 1950er Jahre, an Wende. Denn Josip soll Maria übersetzen, ohne
deren Ende mit den Erzählungen aus dem Band daß sie einen Auftrag zu erledigen hätte: »Er
Das dreißigste Jahr erstmals entschiedene Kritik bemerkt, daß sie nichts bei sich trägt. Sie hat
an faschistischer und bürgerlicher Ideologie ge- keinen Korb, keine Tasche, auch kein Tuch, das
übt wird, und zwar vom Standpunkt eines demo- sich zum Bündel wölbt. Sie bringt nur sich.« (W
106 II. Das Werk

2, 13) Maria ist also bereit, die Geliebte des dieser Lesart mit Marias Verzicht auf Transzen-
Herrn zu werden. Doch Josip weigert sich nun, denzerfahrungen und ihrer Einsicht in die »Not-
sie überzusetzen. Er ahnt und befürchtet, daß das wendigkeit, sich auf das Realitätsprinzip einzu-
Mädchen sein Herz an einen Mann hängen wird, lassen« (ebd., S. 41).
dessen Ruhelosigkeit sie auf Dauer nicht zu be-
friedigen vermag. Josip selbst wird Maria im
Das schöne Spiel
Winter zum Tanz einladen.
Bachmann variiert hier das traditionsreiche Dieser durchaus bemerkenswerte, am 1. April
Motiv des herkunftsbedingten Liebeskonfliktes, 1949 in der »Wiener Tageszeitung« gedruckte,
wobei der sozialpsychologische Gesichtspunkt in aber nicht in die Werkausgabe aufgenommene
den Vordergrund gerückt wird. Nicht sozialer Text beschreibt eine Gruppe von Kindern, die
Neid oder direkte Eifersucht bewegt den Fähr- durch eine Trümmerlandschaft an den Stadtrand
mann zu seiner Handlung, sondern die skepti- gehen, um »das verbotene, schönste Spiel« zu
sche Einsicht in die Asymmetrie einer Liebes- spielen, nämlich Krieg. Ein Schlachtplan wird
beziehung, in welcher der Herr nichts, Maria ausgearbeitet, Stöcke werden geschnitten, und
aber sehr viel zu verlieren hätte. Josip sieht Ma- alte Konservenbüchsen dienen als Bombenersatz.
rias Beziehung zum Besitzer des Herrenhauses Als eines der Mädchen seine Strümpfe zerreißt,
nicht als Chance für einen sozialen Aufstieg, son- erlischt zunächst die Begeisterung. Doch »der
dern nur als Gefahr. Er, dessen Augen »jung und Kapitän«, der Anführer der Kinderschar, findet
scharf« sind (W 2, 10), will das als schlicht und eine Lücke in der angrenzenden Friedhofsmauer
naiv gezeichnete Mädchen davor bewahren, die und läßt seine Gefolgsleute eine Attacke gegen
flüchtige Liebschaft eines Mannes zu werden, der imaginäre Feinde führen, die sich in den Gräbern
von Ruhelosigkeit umgetrieben wird und in Ma- verschanzt haben sollen. Das Spiel findet ein
ria mehr den Typus als das Individuum sehen jähes Ende, als ein halb real, halb irreal ge-
könnte. Josips Weigerung verfehlt nicht ihre Wir- schilderter Zug von Kriegsversehrten erscheint,
kung. Nach einer »von Nachdenklichkeit erfüll- der den Kindern das Grauen und den Ernst des
ten Minute« (W 2, 13) wendet sich Maria um und Krieges vor Augen führt. Die Kinder »wollen das
gibt ihr Vorhaben auf. Ist damit gesagt, daß eine Spiel nicht mehr spielen« und lieber nach Hause
Frau wie Maria gut daran tut, den ihr zustehen- gehen (Bachmann 1949a, S. 5). Ähnlich wie spä-
den Platz in der Gesellschaft zu kennen und zu ter in ihrer Erzählung Jugend in einer öster-
behalten? Oder wird hier das »Zusammenspiel reichischen Stadt beschreibt Bachmann die Kind-
von sozialer Hierarchie und Geschlechterbezie- heit hier als Phase einer Naivität, die in kriegeri-
hung« (Weigel 1999, S. 55) entlarvt und damit schen Zeiten moralisch prekär werden kann.
Kritik an jenen Herren geübt, die sich – wie schon Zudem wird umgekehrt kriegerisches Handeln
bei Schnitzler (Liebelei) oder Hofmannsthal (Der als ›kindlich‹, d. h. als unreif, gedanken- und
Tor und der Tod) – ihre Geliebten nur deshalb im verantwortungslos entlarvt.
Volk suchen, weil sie ihr egoistisches Bedürfnis
nach Ruhe und Einfachheit befriedigen wollen,
Im Himmel und auf Erden
und die an deren sozialem Aufstieg keinerlei
Interesse haben? Bachmanns Erzählung läßt Im Alter von 22 Jahren publizierte Bachmann
diese Frage offen, bewegt sich aber so oder so (wiederum in der »Wiener Tageszeitung«, 29. 5.
innerhalb der Grenzen jener im bürgerlichen 1949) diesen Text, der das zentrale Thema ihres
Zeitalter für überzeitlich erklärten Liebes- und Todesarten-Zyklus’, wenn auch in floskelhaften
Familienideologie, die vom Bürgerlichen Trauer- Wendungen, vorwegnimmt (Hapkemeyer
spiel des späten 18. Jahrhunderts bis hin zum 1982b). Die Erzählung schildert das Ende der
Realismus des späten 19. Jahrhunderts immer Beziehung zwischen der naiv-unselbständigen
wieder literarisiert worden ist. Amelie und ihrem tyrannischen Lebensgefährten
Eine alternative Deutung geht davon aus, daß Justin, der sie schlägt, demütigt und schließlich
der Herr die »unsinnliche Geistigkeit«, Josip da- zum Werkzeug eines Diebstahls macht. Als Ame-
gegen die »vitale Natürlichkeit« verkörpert (Hap- lie endlich begreift, daß Justin sie schamlos aus-
kemeyer 1982b, S. 34). Die Erzählung endet nach genutzt hat, »stürzte die Einfalt aus ihren Augen
Frühe Erzählprosa 107

und wechselte mit einem Abgrund des Wissens, Die Versuchung


der mit einemmal ihn und sie und das Gefüge
Dieser stark gleichnishafte Text (erschienen in
ihrer Beziehungen verschlang« (W 2, 18). Sie
der »Wiener Tageszeitung« vom 7. August 1949,
stürzt sich aus dem Fenster, während der heim-
nicht in die Werkausgabe übernommen) erzählt
liche Verursacher ihres Selbstmordes innerlich
die Geschichte eines Bergwanderers mit Namen
ungerührt zusieht. Die Charakterisierung beider
Jonas, der erschöpft in einem Schneefeld liegen-
Hauptfiguren kann nur als klischeehaft und holz-
bleibt und schließlich stirbt, der jedoch in seinen
schnittartig bezeichnet werden. Gleichwohl läßt
letzten Stunden einer fremden, als Verkörperung
sich von diesem Text aus eine thematische Linie
des Todes deutbaren Gestalt begegnet. Dieser
bis zu Bachmanns letzten Prosawerken ziehen.
rätselhafte Fremde, aus dessen Gliedern »der
Der Abdruck in der Werkausgabe weicht in drei
Wind das Fleisch geblasen haben muß«, geleitet
(unbedeutenden) orthographischen Details vom
ihn mühelos hinauf bis zum Gipfel und bleibt für
Wortlaut der Erstveröffentlichung ab.
die Dauer eines Gewitters bei ihm in einer Berg-
hütte. Als Jonas an der Zigarette seines Begleiters
Das Ufer ziehen will, kommt es zu einer Verwandlung:
»Nur einmal wagt Jonas die Zigarette anzusetzen.
Diese (am 3. Juli 1949 in der »Wiener Tages- Er gibt sie zurück, empfindet dumpf die Ue-
zeitung« gedruckte, nicht in die Werkausgabe bergabe als vollzogen. Durch seinen Mund fließt
übernommene) Erzählung beschreibt den Selbst- der Rauch wie ein schwerer Nebel.« Die hier
mordversuch der jungen Hanna, die ins Wasser erwähnte »Uebergabe« ist der letzte Schritt auf
gehen will, die aber von einem einsamen Mann Jonas’ Weg in die Sphäre des Todes. Am nächsten
mit Namen Simon am Ufer gefunden und mit in Morgen hastet er, »ohne sich umzusehen«, ab-
seine ärmliche Hütte genommen wird. Im Ge- wärts. Im Tal jedoch findet er alles verändert vor.
spräch mit ihrem Retter enthüllt sie dort die Der Fremde, mit dem er noch einmal sprechen
Ursache ihrer verzweifelten Handlung: »Ich habe wollte, ist verschwunden, und Jonas »stirbt weg,
mich immer geängstigt. Vor jedem Windstoß, vor ohne Antwort, verwittert, versengt und verloren«
jedem Laut, vor dem kleinsten Weg, den der (Bachmann 1949c, S. 6). Der wenig beachtete
Uhrzeiger gemacht hat. […] Ich habe manchmal Text ist ein für die Literatur der Nachkriegszeit
geschrien, ganz, ganz leise, nur mit den Augen nicht untypischer Versuch zur metaphysisch-exi-
und den Nasenflügeln, vielleicht auch mit den stentialistischen Überhöhung einer Grenzerfah-
Händen. Und das haben Sie gefühlt.« (Bachmann rung, nämlich des mit dem Tod bestraften Ver-
1949b, S. 5) Simon gewinnt demnach den Cha- suchs, »sich über die Grenze des Menschlichen zu
rakter eines Erlösers, der Hanna durch seine erheben« (Weigel 1999, S. 69).
Rettungstat von einer tief sitzenden Existenz-
angst befreit hat. Durch die Entkonkretisierung
von Raum und Zeit sowie durch den kryptischen Das Lächeln der Sphinx
Kommunikationsstil beider Figuren bleibt Han-
nas Angst aber in eine religiös-metaphysische Diese stark gleichnishafte Erzählung, die zuerst
Dimension entrückt. Politisch-gesellschaftliche in der »Wiener Tageszeitung« vom 25. September
Hintergründe, die ja in Bachmanns späteren Wer- 1949 gedruckt wurde, greift das seit der Antike
ken von zentraler Bedeutung sind, finden in die- bekannte Motiv der mit Vernichtung drohenden
sem frühen Werk der Autorin keine Beachtung. Sphinx auf, die nur durch die korrekte Beant-
Bemerkenswert im Hinblick auf zentrale Motive wortung von drei unlösbar erscheinenden Rätsel-
in Bachmanns späteren Erzählungen ist jedoch fragen überwunden werden kann. Bachmanns
der Hinweis auf die Ausdrucksnot Hannas, die Erzählung schildert die Geschichte eines Königs,
ihre Ängste nicht durch Worte, sondern nur der mit einer riesenhaften Sphinx »um das Fort-
durch stumme Signale mit Augen, Nasenflügeln bestehen des Landes und seiner Menschen zu
und Händen zum Ausdruck bringen kann. ringen hatte« (W 2, 19). Das Fabeltier verlangt
zunächst Auskunft über das Innere der Erde so-
wie über alles, was die Erde an Geschöpfen trägt.
Beide Fragen kann der König mit der Hilfe seiner
108 II. Das Werk

Hofgelehrten beantworten. Zuletzt will die der aufgenommen. Gegenüber dem Erstdruck
Sphinx wissen, wie das Innere der Menschen (Bachmann 1949e) weist die Zweitveröffentli-
beschaffen ist. Hier versagt die Wissenschaft des chung von 1951 (in »Stimmen der Gegenwart«)
Königs und seiner Helfer. Auf der Guillotine läßt acht relativ unbedeutende Veränderungen in
er schließlich seine sämtlichen Untertanen ent- Wortlaut und Interpunktion auf.
haupten, um ihr Inneres nach außen zu kehren.
Die lächelnde Sphinx ist mit dieser Antwort zu-
Die Karawane und die Auferstehung
frieden und entfernt sich. Die Pointe dieser etwas
bemühten Parabel liegt in der Parallelisierung Dieser vielleicht am deutlichsten christlich ge-
von wissenschaftlicher Rationalität und kriege- prägte Text Bachmanns wurde zuerst unter dem
rischem Massenmord, wie er durch das perfekt Titel Karawane im Jenseits in einer Weihnachts-
durchorganisierte Guillotinieren versinnbildlicht nummer der »Wiener Tageszeitung« veröffent-
wird. Das Lächeln der Sphinx kann damit als licht (25. 12. 1949; Bachmann 1949f). Drei Jahre
literarische Umsetzung eines Grundgedankens später erschien in der Osterausgabe des »Wiener
der 1947 in Amsterdam publizierten »Dialektik Kuriers« (12. 4. 1952) eine an mehr als 70 Stellen
der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno in Wortlaut und Interpunktion veränderte Fas-
aufgefaßt werden, in der »die zerstörerische Ten- sung, in der die Metaphorik an die Jahreszeit und
denz einer sich absolut setzenden Rationalität« das andersartige festliche Ereignis angepaßt wor-
(Weigel 1999, S. 75) entlarvt wurde. Im lächeln- den war (z. B. »Es war Frühling …« statt »Es fiel
den Weiterschreiten der Sphinx erkannte Weigel Schnee …«). Die Werkausgabe folgt im wesentli-
allerdings auch den Ansatz einer Versöhnungsge- chen dieser optimistischeren Ostervariante. Der
ste (ebd., S. 79 f.). Der Abdruck in der Werk- Text greift das schon im alten Orient geläufige
ausgabe weicht in drei grammatisch-orthographi- Motiv der Totenkarawane auf, die ein als Wü-
schen Details vom Wortlaut der Erstveröffentli- stenlandschaft dargestelltes Jenseits durchwan-
chung ab. dert und dabei von bösen Dämonen, durch wilde
Tiere, sexuelle Phantasien oder – wie hier bei
Bachmann der Knabe – durch ungeheuren Lärm
Die Mannequins des Ibykus
gepeinigt und aufgestört wird (vgl. Lindemann,
Einer antiken Legende zufolge wurde der grie- S. 45–54). Die Erzählung endet mit einer Ver-
chische Lyriker Ibykos von Räubern erschlagen, wandlungsszene, in der die Flamme eines ver-
was eine ihn begleitende Schar von Kranichen, brennenden unschuldigen Kindes einsam in ei-
die dem Übeltäter folgte, enthüllte. Schiller, des- nem »unermeßlichen Dunkel« weiterleuchtet,
sen Werke Bachmann in ihrer Jugendzeit intensiv das alles ringsumher einschließlich der anderen
studiert hatte, griff den Stoff in seiner bekannten Toten verschlungen hat. Damit knüpft Bachmann
Ballade Die Kraniche des Ibykus auf, auf deren offenbar an die religiös-ethische Vorstellung an,
Titel Bachmanns Erzählung anspielt. Freilich un- daß nur die Reinheit eines kindlichen Herzens
terwirft sie das Motiv einer harmlos-heiteren der Prüfung eines Totengerichtes standhalten
Kontrafaktur, denn anstelle der Kraniche sind es kann. Später wird Bachmann diese optimistisch-
bei ihr – sehr kostbare, weil aus Porzellan gefer- rousseauistische Kindheitsauffassung in ihrer Er-
tigte – Schaufensterpuppen, die den Übeltäter zur zählung Alles dementieren.
Strecke bringen, der einen der ihren umgestoßen
und zerstört hat. Interesse kann die von Bach-
Stadt ohne Namen: Der Kommandant
mann gleich zweimal zur Publikation gebrachte
und das Anna-Fragment
Erzählung (»Wiener Tageszeitung«, 16. 10. 1949;
»Stimmen der Gegenwart«, 1 [Wien 1951], S. 74– Aus Berichten von Hans Weigel und Heimito von
77) heute höchstens noch wegen ihrer Darstel- Doderer wissen wir, daß Bachmann am Ende
lung des Zusammenhangs zwischen glänzender ihrer Studienzeit einen Roman fertiggestellt
Schönheit und puppenhafter, todesähnlicher Er- hatte, der den Titel Stadt ohne Namen trug und
starrung für sich beanspruchen. Dieser Gedanke den der Wiener Herold-Verlag unter bestimmten
wird später in Bachmanns Hörspiel Die Zikaden Bedingungen zu publizieren bereit war. Bach-
und in ihrer Erzählung Probleme Probleme wie- mann war jedoch mit den Änderungswünschen
Frühe Erzählprosa 109

des Verlages offenbar nicht einverstanden und stischen Handlungssequenzen wird in den ersten
verzichtete auf eine Veröffentlichung. Über den sieben Zeilen des Textes dadurch erklärt, daß S.
weiteren Verbleib des Manuskriptes ist nichts als Schlafender gezeigt wird, der kurz auf-
bekannt. In Bachmanns Nachlaß finden sich je- schreckt, aber sogleich wieder in Müdigkeit zu-
doch zwei Fragmente, die mit ihrem Roman in rücksinkt. Die Symbolsprache seines Traumes
Verbindung stehen. Dabei dürfte Der Komman- kann im Hinblick auf den historischen Kontext
dant mit hoher Wahrscheinlichkeit eine eigen- dieser Erzählung leicht entschlüsselt werden.
ständige Erzählung sein, die ganz oder in Teilen Denn durch ihre Übertragung kafkaesker Motive
als Grundlage für das erste Kapitel des verschol- auf die Sphäre des Militärischen entlarvt die
lenen Romanes diente. Das sogenannte Anna- Autorin den totalitären Überwachungsstaat als
Fragment, bei dem es sich nicht um eine Druck- scheinrationales Gebilde, in dessen Machtzen-
vorlage, sondern um eine frühere Bearbeitungs- trum blanke Irrationalität herrscht und dessen
stufe handelt, kann dagegen nicht sicher in der Kommandeure keine Identität, keine Orientie-
Romanhandlung verortet werden (vgl. Kommen- rung, keine Legitimation und keinen eigenen
tar in TKA 1, 501ff.). Willen besitzen. Bachmann bewegt sich damit im
Der gleichnishaft-kafkaeske Text Der Kom- Rahmen einer Faschismusdeutung, die den To-
mandant erzählt die Geschichte des »S.«, der talitarismus nicht auf ein Zuviel, sondern auf ein
zunächst dreimal eine Zugreise anzutreten ver- Zuwenig an Rationalität zurückführt. Am deut-
sucht. Er vergißt jedoch jedesmal seine Ausweis- lichsten ausformuliert wurde diese Position von
papiere und faßt deshalb den Entschluß, ohne Georg Lukács in seinen Studien »Goethe und
Identitätsnachweis »auf dem Fußweg sein Ziel zu seine Zeit« (1947) sowie »Die Zerstörung der
erreichen« (TKA 1, 4). An der Kontrollbarriere Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schel-
XIII verwickelt er die Grenzkontrolleure in ein ling zu Hitler« (1954). Theodor W. Adorno, des-
Gespräch und schenkt ihnen Alkohol ein, bis sie sen Positionen Bachmann in späteren Jahren in
ihn gegen alle Vorschriften ohne Widerstand pas- vielerlei Hinsicht folgte, wandte sich gegen diese
sieren lassen. Auf seinem weiteren Fußweg, des- Irrationalismus-These und argumentierte, daß
sen Ziel ihm selbst nicht bekannt ist, gerät er an vielmehr ein leerlaufender instrumenteller Ra-
die Spitze einer marschierenden Kolonne, mit tionalismus den Nationalsozialismus gekenn-
der er am Abend schließlich das monumentale zeichnet habe (»Dialektik der Aufklärung«, 1947;
Gebäude einer Kommandantur erreicht. Dort »The Authoritarian Personality«, 1950). Damit
wird er zu seiner eigenen Überraschung als der war der Gesellschaftsanalyse von Stadt ohne Na-
neue Kommandant begrüßt und bezieht ein Spie- men und Der Kommandant zumindest in Teilen
gelkabinett als Arbeitszimmer. Zu seinen Auf- die gedankliche Grundlage entzogen. Vielleicht
gaben gehört auch die Aufklärung des Vorfalles liegt hier die Erklärung dafür, daß sich Bachmann
an der Kontrollbarriere XIII, der von den perfek- in späteren Jahren nicht um eine Vollendung oder
ten Überwachungssystemen des Machtapparates, Neufassung des Romanes bemühte, sondern nur
dem er dient, aufgezeichnet wurde. »S.« weiß einzelne Motive daraus in ihr Todesarten-Projekt
nicht mehr, daß er selbst der Schuldige ist, der übernahm. Liest man die Erzählung als »Parabel
die Grenzkontrolleure überlistet hat. Er ermittelt eines Lebenswegs«, so mündet sie in eine Auf-
mit aller Energie gegen sich selbst, gelangt je- deckung jenes Wechselspiels von »Selbstverken-
doch zu keinem klaren Resultat. Irritiert von den nung und Fremdbestimmung« ein (Kommentar
ihn umgebenden Spiegeln, die aus allen Richtun- in TKA 1, 503 f.), das die Biographie vieler
gen sein Konterfei zurückwerfen, eilt er wieder Kriegsmitläufer, aber auch allgemein die des In-
zur Barriere, darf aber wegen fehlender Papiere dividuums in der modernen Massengesellschaft
nicht passieren. Er macht sich zu Fuß auf den prägt.
Rückweg und erlebt hierbei die Wiederholung Das unvollendete Anna-Fragment schildert die
des Geschehenen: Er gerät wieder an die Spitze Geschichte der jungen Anna, die von rätselhaften
einer Truppe, gelangt wieder zu einem monu- Fremden aus einer von Vernichtung bedrohten
mentalen Gebäude und wird wieder als neuer Stadt gerettet wird. Sie wendet sich auch inner-
Kommandant begrüßt. lich von dem diese Stadt beherrschenden »Vater«
Die traumlogische Verknüpfung dieser phanta- (TKA 1, 14) ab und überquert den Fluß, der die
110 II. Das Werk

Grenze zur Sphäre der Freiheit markiert. Ihre So oder so dokumentiert der Text, daß sich Bach-
gefährliche Flucht gelingt. Am rettenden Ufer mann mit der christlichen Faschismus-Kritik aus-
öffnet ihr eine – hier nicht die Sünde, sondern die einandersetzte und daß sie sich offenbar in späte-
Klugheit symbolisierende (vgl. Mt. 10,16) – ren Jahren so weit von diesen gedanklichen Zu-
»doppelköpfige Schlange« (TKA 1, 20) die Augen sammenhängen und Traditionen emanzipierte,
und führt eine durchgreifende innere Verwand- daß sie eine Vollendung oder Neufassung des
lung Annas herbei: »Wo früher das Dunkel wie Textes nicht in Erwägung zog, sondern nur ein-
ein unentwirrbares Gestrüpp ihren Weg gesperrt zelne Motive daraus (Vatergestalt in Malina, Wü-
hatte, hellte strahlendes Licht die Gegend auf stenstrandvision in Das Buch Franza) in ihrem
[…].« (TKA 1, 20) Nach diesem, hier bei der Todesarten-Projekt wieder aufgriff (vgl. Kom-
frühen Bachmann noch als göttliche Offenbarung mentar in TKA 1, 501–505).
geschilderten Erkenntnisschock (TKA 1, 22) will
Anna die Stadt retten, aus der sie geflohen ist.
Auch ich habe in Arkadien gelebt
Mit einem Brandmal versehen, das ihre Ver-
wandlung bezeugt, kehrt sie um und tritt uner- Der aus lateinischen Inschriften des 17. Jahr-
schrocken den Wachtposten entgegen, um ihren hunderts bekannte Satz ›Et in Arcadia ego‹
neuen wahren Glauben zu verkünden: »Glaubt (›Auch ich [war] in Arkadien‹) wird in Texten von
mir, wir haben falsch gedient, einem Gesetz, das Herder, Schiller, Goethe, E.T.A. Hoffmann und
nicht geschrieben war!« (TKA 1, 24) Und tatsäch- Eichendorff zitiert. Er bringt dort die wehmütige
lich bewirkt Anna eine Umkehr. Die Soldaten Erinnerung an das in Vergils Hirtengedichten zur
ändern ihren Sinn. »Er«, d. h. der Gott, der sich Idylle verklärte Arkadien und allgemein an glück-
Anna offenbarte, ist nun »der neue Kommandant« selige Zeiten und Orte zum Ausdruck. Bach-
der in letzter Minute geretteten Stadt. manns kurze Ich-Erzählung bezeichnet mit dieser
Im Hinblick auf den zeitgeschichtlichen Hin- Formel die Sehnsüchte eines Landflüchtlings,
tergrund des Werkes liegt eine einfache Deutung der in der Stadt zu Erfolg, Ehre, Ansehen und
auf der Hand. Gott bedroht die dem bösen, fal- Vermögen gelangt und der trotzdem in sich einen
schen Vater (Hitler) ergebenen Städte mit Ver- »Ruf« (W 2, 39) vernimmt, der ihn zurück an die
nichtung. Wer sich der Offenbarung öffnet, kann Stätte seiner Herkunft zieht. Sein Arkadien wird
jedoch gerettet werden; eine innere Umkehr und als eine statische Sphäre des Elementaren, Kla-
Rückkehr zu Gott ist möglich und kann die Kata- ren, Ewigen und Schönen beschrieben, an dem
strophe abwenden. Heroische, von Gott gezeich- das Getriebe der mobilen städtischen Gegen-
nete Menschen wie das Mädchen Anna können wartsgesellschaft spurlos vorbeigeht. Hierin liegt
die Soldaten umstimmen und dem geschriebenen ein für die spätere Bachmann untypischer anti-
Gesetz (Bibel) wieder Geltung verschaffen. modernistischer Zug, zumal die Rückkehr nach
Unterstellt man, daß das Anna-Fragment den Arkadien am Ende der Erzählung als eine Heim-
Schluß des Bachmannschen Romanes gebildet holung in den Himmel dargestellt und damit
hätte, so wäre dieses Werk als zeittypisches Do- metaphysisch-religiös überhöht wird. Wohlmei-
kument einer christlichen Faschismuskritik zu nendere Interpretationen können hierin aller-
lesen, wie man sie eher bei Elisabeth Langgässer dings auch eine Anknüpfung an die von Erwin
oder Reinhold Schneider vermuten würde. Mög- Panofsky beschriebene Tradition des Arkadien-
lich ist es allerdings auch, daß die Anna-Ge- Motivs sehen, bei der die Formel ›Et in Arcadia
schichte nur eine Episode innerhalb des Romans ego‹ als Ausspruch des Todes gedeutet wird (Wei-
Stadt ohne Namen bildete und daß am Ende auch gel 1999, S. 252–259). Der Abdruck in der Werk-
die christliche Hoffnung als Illusion entlarvt wor- ausgabe weicht an zwei Stellen von der Inter-
den wäre. Darauf deutet insbesondere der Um- punktion der Erstveröffentlichung in »Morgen.
stand hin, daß »die totalitäre Vaterfigur durch Monatsschrift freier Akademiker« (Jg. 7, Nr. 4
einen ›Vater‹ ersetzt wird, dessen Erscheinung vom April 1952) ab.
einer christlichen Wahrheitslehre entstammt
[…], während die Gesten der Demut und Unter-
werfung unter das Gesetz einer symbolischen
Vaterinstanz gleich bleiben« (Weigel 1999, S. 66).
Frühe Erzählprosa 111

Ein Geschäft mit Träumen (Prosafassung) ler« (W 2, 79), denn der Protagonist und Ich-
Erzähler verliert Annas Freundschaft. Der Leser
Dieses Werk stellt eine Prosafassung des im glei-
bleibt im Zweifel, ob Anna ihn wegen seiner
chen Jahr (1952) publizierten, wesentlich um-
Grausamkeit verläßt oder weil sie durchschaut
fangreicheren Hörspiels mit der gleichen Über-
hat, daß er mit seiner Behinderung nicht fertig
schrift dar. Es schildert die Erlebnisse eines Büro-
geworden ist und sich mit dramatischen Lügen-
angestellten, der an einem Sommerabend auf
geschichten wichtig zu machen und ihr Mitgefühl
seinem Heimweg in ein Geschäft tritt, in dem
zu sichern versucht. Der Text liefert subtile Ein-
undefinierbare Waren verkauft werden. Die wei-
blicke in die widersprüchlichen Empfindungen
tere Handlung macht deutlich, daß es sich hierbei
einer mit individuellen Zügen ausgestatteten Au-
um Produkte der Traumfabrik, d. h. um Filme,
ßenseitergestalt. Er dokumentiert damit Bach-
handelt, von denen der Verkäufer ihm einen vor-
manns Abkehr von abstrakt-parabolischen Dar-
führt. Der Ich-Erzähler erkennt darin seine Ge-
stellungsformen, wie sie typisch für ihre Erzäh-
liebte Anna wieder, identifiziert sich also mit den
lungen der 1940er und frühen 50er Jahre waren,
fiktiven Geschehnissen und möchte den Film/
und deutet voraus auf ihre in den Texten des
Traum daraufhin kaufen. Doch der Verkäufer er-
Todesarten-Projektes zur Meisterschaft entwik-
klärt ihm, daß seine Waren nicht mit Geld, son-
kelte literarische Psychologie der Modernisie-
dern mit Lebenszeit bezahlt werden.
rungsverliererinnen.
Die kurze Erzählung stellt eine zeittypische
Kritik an der damals boomenden Traumfabrik
Hollywood dar, die den Menschen in eine sekun- Ein Fenster zum Ätna
däre, fiktive Welt versetzt, die außerdem seine Von dieser Erzählung Bachmanns sind lediglich
Phantasie korrumpiert und die ihn damit um ein fünf Nachlaßfragmente aus den 1950er Jahren
Stück seiner eigenen, eigentlichen Lebenszeit be- erhalten, deren Studium einen interessanten Ein-
trügt. Im Hinblick auf die Entwicklung von Bach- blick in die Werkstatt der Autorin gewährt. Sie
manns Erzählstil ist vor allem die stärkere Kon- schildern eine Sizilienreise zweier Männer, die
kretion von Raum, Zeit und Milieu hervorzu- sich vor zehn Jahren im Krieg kennengelernt
heben. Wie viele der frühen Prosawerke der haben, als – wie es im ersten Textbruchstück
Autorin zeigt jedoch auch Ein Geschäft mit Träu- heißt – »der ältere bei einem Bombenangriff auf
men noch eine starke Tendenz zur parabolischen Messina sein Bein verloren 〈hatte〉 und durch die
Darstellung und kann deshalb auch als prinzi- Umsichtigkeit und Hilfeleistung des ihm damals
pielle, die Kulturindustrie nur als Beispiel ver- unbekannten Zürcher gerettet wurde« (TKA 1,
wertende Konsum- und Kapitalismuskritik aufge- 26 f.). Dieser Friedrich Zürcher, der im zweiten
faßt werden. und dritten Fragment »Franz Wieser« und in den
letzten beiden Textzeugen »Fortner« heißt, hätte
vermutlich die Hauptfigur des Werkes werden
Der Hinkende sollen. Der plot des Textes läßt sich nicht er-
Dieser Text greift das u. a. aus Thomas Manns ahnen; sein Titel scheint nicht als Anspielung auf
Erzählung Tobias Mindernickel (1898) bekannte Hitchcocks Das Fenster zum Hof (1954) gemeint
Motiv des gesellschaftlichen Außenseiters und zu sein. Die beiden ersten Fragmente erinnern in
Verlierers auf, dessen aufgestaute seelische Span- erzähltechnischer und inhaltlicher Hinsicht an
nungen sich in einem sinnlos-gewaltsamen Be- viele ähnliche Werke mit auktorialen Erzählein-
freiungsschlag entladen. Bachmanns Erzählung gängen aus der Romanliteratur des 19. Jahrhun-
läßt allerdings offen, ob es sich um eine er- derts wie z. B. L’éducation sentimentale (1869)
fundene »Geschichte« (W 2, 79) oder um die von Gustave Flaubert oder An International Epi-
Wahrheit handelt, wenn der Hinkende seiner sode (1878) von Henry James (vgl. auch Kom-
Hotelnachbarin Anna berichtet, daß er als Kind mentar in TKA 1, 505–507; Bartsch, S. 136).
einer Katze die Beine abgeschnitten habe, um Quellen: Bachmann (1949a–c, e–f).
sich mit diesem demonstrativ-symbolischen Akt Literatur: Hapkemeyer (1982b); Weigel (1999).
am Schicksal »zu rächen« (W 2, 81). So oder so Kurt Bartsch (1998): Das dreißigste Jahr und das Todes-
erweist sich seine Gesprächigkeit aber als »Feh- arten-Projekt. In: Heidelberger-Leonard (1998),
112 II. Das Werk

S. 130–140; – Uwe Lindemann (2000): Die Wüste. zept, die Beziehung zwischen den Generationen,
Terra incognita – Erlebnis – Symbol. Eine Genealogie das Verhältnis zwischen Denken und Handeln,
der abendländischen Wüstenvorstellungen in der Lite-
die Definition der Geschlechterrollen, den Reali-
ratur von der Antike bis zur Gegenwart. Heidelberg.
Jost Schneider täts- und Wahrheitsbegriff, die Sprach- und
Kunstauffassung und vieles andere. Im Feuilleton
wurden die Erzählungen ambivalent aufgenom-
5.2. Das dreißigste Jahr und men, d. h. in die bis dahin einmütig positive
Erzählfragmente aus dem Umfeld Rezeption Bachmanns mischen sich nun kritische
Untertöne (vgl. Hotz 1990, S. 97–115; Schardt
Im Verlauf der frühen 1950er Jahre emanzipierte 1994, S. 52–89). Im folgenden werden zunächst
sich Ingeborg Bachmann von den traditionell- die Erzählungen aus Ingeborg Bachmanns erstem
bürgerlichen Wertmaßstäben, die ihre Adoles- Erzählband Das dreißigste Jahr (1961) betrachtet,
zenz und ihre ersten Erzählungen noch geprägt im Anschluß die im Umfeld entstandenen Er-
hatten. Eigene Erfahrungen in der österreichi- zählfragmente.
schen Nachkriegsgesellschaft, ihre geisteswis-
senschaftlichen Studien und die Begegnung mit
Jugend in einer österreichischen Stadt
Intellektuellen wie Paul Celan, Ilse Aichinger,
Hans Werner Henze, Hans Werner Richter, Hein- Wie schon nach dem Ersten so erschienen auch
rich Böll, Luigi Nono u.v.a. trugen maßgeblich nach dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche literari-
dazu bei, daß die Autorin nicht nur ihren Stil sche Werke, die sich mit der schwierigen Situa-
fortentwickelte, sondern auch ihren dezidierten tion des Kriegsheimkehrers beschäftigten. Figu-
Antifaschismus anders und solider, nämlich aus ren wie Brechts Soldat Kragler aus Trommeln in
dem Geist eines nachbürgerlich-demokratischen der Nacht (1922), Borcherts Unteroffizier Beck-
Pluralismus heraus fundierte. Dabei konnte sie mann aus Draußen vor der Tür (1946) oder Dö-
von der Erfahrung ausgehen, daß sich die geistige blins Invalide Edward Allison aus Hamlet oder
Liberalisierung und Pluralisierung nach 1945 of- die lange Nacht nimmt ein Ende (1956) verdeut-
fenkundig langsamer und stockender vollzog als lichten hierbei in ihrer Vielschichtigkeit, daß die
die politische Demokratisierung im engeren Schwierigkeit, eine Heimat zu finden, nicht nur
Sinne, die ja von den Besatzungsmächten schlag- kriegsbedingt ist, sondern zu den grundlegenden
artig realisiert und institutionell abgesichert wor- Problemen der Mitglieder einer demokratisch-
den war. Bachmanns Augenmerk richtete sich pluralistischen Gesellschaft gehört. Tatsächlich
deshalb eher auf das Problem der nachzuholen- ist neben der sozialen und psychischen auch die
den ›inneren‹ Demokratisierung als auf die Äu- räumliche Mobilität ein Wesensmerkmal dieser
ßerlichkeiten der Parteienpolitik. Ihre Werke, be- neu entstandenen Gesellschaften. Arbeitsmigra-
sonders auch ihre Prosaschriften, thematisieren tion, aber auch Landflucht und Tourismus nah-
weniger die jeweils aktuellen Vorkommnisse in men bis dato ungekannte Ausmaße an und lok-
der österreichischen und europäischen Tagespo- kerten die Bindung des einzelnen an die Stätte
litik als vielmehr die geistig-seelischen Trans- seiner Herkunft. Der damit verbundene Zuge-
formationen, die dem einzelnen im Zuge dieser winn an Freiheit und Flexibilität wurde jedoch
inneren Liberalisierung und Demokratisierung im konservativen geistigen Klima der Nach-
abzuverlangen waren. Zu denken ist hierbei nicht kriegszeit zunächst nicht als Chance, sondern
nur an die ideologische Umorientierung im Sinne vielfach als Attacke auf Heimatverbundenheit
einer ›reeducation‹, sondern an die Auslotung oder persönliche Identität erlebt.
aller Konsequenzen, die der Übergang von einem Von der Relevanz dieses Problems für die breite
totalitaristisch-autoritären zu einem demokra- Öffentlichkeit legt insbesondere der sentimentale
tisch-pluralistischen Denken und Empfinden mit Heimatfilm Zeugnis ab, der in den 1950er Jahren
sich bringen mußte. Dieser Übergang berührte, einen beispiellosen Boom erlebte. Streifen wie
wie Bachmanns Erzählungen der späten 1950er Hans Deppes Schwarzwaldmädel (1950) oder
und frühen 1960er Jahre zeigen, nicht nur das Harald Reinls Rosen-Resli (1954) propagierten
politische Bewußtsein im engeren Sinne, son- das nicht selten an die faschistische Blut-und-
dern auch den Heimatbegriff, das Identitätskon- Boden-Ideologie anknüpfende Bild einer un-
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 113

zerstörten und unzerstörbaren deutschen Hei- Über die autobiographische Dimension des
mat, die den Fremden oder Heimkehrenden sei- Textes hinaus kann die Binnenhandlung der Er-
ner Ängste und Zweifel entheben und seiner zählung als wichtiger Beitrag Bachmanns zur
Identität versichern können sollte. Die Reise in Thematisierung des Problems Kindheit im Fa-
die Heimat ist hierbei in der Regel eine Rückkehr schismus aufgefaßt werden. Besonders deutlich
in die Sphäre der Kindheit, ein Wiedereingehen wird dies in der Kindersprachen-Episode, bei der
in die heile Welt eines nur vorübergehend ver- die Kinder das passende »Gegenwort« (W2, 89)
lorenen Paradieses. zu »alles«, also das Wort »nichts«, nicht finden
Vor dem Hintergrund derartiger Tendenzen in können. Obwohl sie von Tod und Vernichtung
der Massenkultur ihrer Zeit ist der erste Text aus umgeben sind, fehlt den Kindern doch die be-
Ingeborg Bachmanns Prosaband Das dreißigste wußte Erfahrung des Nichts, des Todes oder
Jahr zu verstehen, eine 1959 in der Zeitschrift Nichtseins, das sich aus ihrer kindlichen Per-
»Botteghe Oscure« (Rom) erstmals publizierte spektive noch nicht auf einen Begriff bringen
Erzählung mit dem Titel Jugend in einer öster- läßt.
reichischen Stadt, mit der Bachmann offen Stel- Erzähltechnisch ist an Bachmanns Text beson-
lung gegen die antimodernistische Verklärung ders der ihn prägende Perspektivwechsel bemer-
von persönlicher Identität und Heimatideologie kenswert, mit dem sich Bachmann in die durch
bezieht. Das Werk schildert in einer Rahmen- Namen wie Benjamin oder Koeppen bezeichnete
handlung die Gedanken und Gefühle eines Ich- Tradition eines dezidiert modernen autobiogra-
Erzählers, der längere Zeit nach Ende des Zwei- phischen Erzählens einreiht. Der Erzähler der
ten Weltkrieges seine – aufgrund der Erwähnung Rahmenhandlung berichtet nicht selbst in der
bekannter Sehenswürdigkeiten leicht identifi- Ich-Form über seine Kindheitserlebnisse, son-
zierbare – Geburtsstadt Klagenfurt besucht. dern überläßt einer anonym bleibenden Erzählin-
Trauer, die Empfindung des Fremdseins und das stanz das Wort, die das Geschehen mit größerer
Gefühl der Verlassenheit überfallen hierbei den Distanz, aus auktorialer Höhe beschreibt und
Erzähler, der gegen Ende des Textes folgerichtig kommentiert. Für den Leser heißt dies, daß er
eine ernüchternde Lehre aus der Rückkehr in die Kindheit des Rahmenerzählers nicht als etwas
seine ›Heimat‹ zieht: »Das Wenigste ist da, um untrennbar mit dessen Persönlichkeit Verbunde-
uns einzuleuchten, und die Jugend gehört nicht nes präsentiert bekommt. Identität im Sinne ei-
dazu, auch die Stadt nicht, in der sie stattgehabt ner Bejahung der eigenen Geschichte wird in
hat.« (W 2, 93) dieser Erzählung nicht gestiftet; der Text bleibt
Zu diesem skeptischen Fazit paßt es, daß die im des Risses eingedenk, der den Erwachsenen vom
durch Leerzeilen markierten Binnenteil der Er- Kind, das Ich von heute vom Ich von gestern
zählung geschilderte Kindheit als eine überwie- trennt. Gleichwohl bleibt sich der Rahmener-
gend von Unfreiheit und Orientierungslosigkeit zähler der untergründigen Beziehungen bewußt,
geprägte Entwicklungsphase beschrieben wird, die ihn mit dem anderen, der er einmal gewesen
wobei die enge Bindung des Kindes an seine ist, verbinden. Seine Attitüde ist nicht die des
heimatliche Nahumgebung wie eine – besonders verantwortungslosen Verwandlungskünstlers,
in Kriegszeiten – verhängnisvolle und bedenk- der nur mit ästhetischem Interesse auf seine ei-
liche Horizontverengung erscheint. Daß diese zu- gene Geschichte zurückblickt. Vielmehr endet
mindest teilweise autobiographische Erzählung Bachmanns Text mit einem expliziten Hinweis
Bachmanns ersten Prosaband eröffnet, mag hier- auf die Schwierigkeiten des Rahmenerzählers,
bei auch als Hinweis auf eine Selbstkritik der das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu ver-
Autorin zu verstehen sein, die ihre geistige binden und als Geschichte ein und derselben
Emanzipation damit erst auf die Zeit ihres Weg- Persönlichkeit zu verstehen. Nur wenn ein vor
zugs von Klagenfurt datiert. Das geistige und dem Stadttheater stehender Baum im Licht der
seelische Klima, von dem sich Bachmann zu lö- Herbstsonne golden leuchtet, empfindet er wie
sen hatte, wurde von Uwe Johnson in seiner einst und kann er sich in die Welt jenes Kindes,
detail- und kenntnisreichen Bachmann-Studie das er selbst einmal war, zurückversetzen.
Eine Reise nach Klagenfurt (1974) dokumen- Aus motivgeschichtlicher Sicht könnte dieser
tiert. Schluß des Werkes als Anknüpfung an die be-
114 II. Das Werk

schwichtigende Naturlyrik der Nachkriegszeit die Hauptfigur als auch die zahlreichen Neben-
(Kasack, Schaefer, Bergengruen) interpretiert figuren (Moll, Helena u. a.) werden nicht als
werden, die zu zeigen versuchte, daß die Welt Individuen, sondern als Typen gezeichnet, die
trotz Krieg und Zerstörung im Kern heil geblie- etwas Allgemeines, für eine ganze Generation
ben sei. Doch eher ist im Falle Bachmanns an Charakteristisches verkörpern.
Katherine Mansfields berühmte Erzählung Bliss Kompositorisch ist der Text insofern mit Ju-
(1920) zu denken, in der ein prächtig blühender gend in einer österreichischen Stadt verwandt, als
Baum ein Lebensglück symbolisiert, das sich er eine Rahmenhandlung enthält, in die allge-
schließlich als trügerisch erweist. Der auch im meinere Reflexionen eingebettet sind, und zwar
Sinne von Walter Benjamins Thesen »Über den Reflexionen über die Situation der um 1960 Drei-
Begriff der Geschichte« (1942) als ›Vergangen- ßigjährigen. Diese Rahmenhandlung schildert
heitsbild‹ deutbare Baum wird damit – bei Mans- zwölf Monate im Leben eines Mannes, der nach
field wie bei Bachmann – zu einem mehrdeutigen Studium und Berufsausbildung, ziellosen Reisen
Naturzeichen (vgl. Bannasch 1997, S. 190), das und Gelegenheitsarbeiten plötzlich, mit Beginn
zwar ein ungetrübtes Glück meinen kann, das seines 30. Lebensjahres, aus seiner bisherigen
jedoch die Erinnerung an die Fragilität desselben Sorglosigkeit und Unbekümmertheit erwacht
mit aufbewahrt. Bachmanns österreichische Stadt und zu einer Italienreise aufbricht, die ihn der
ist damit keine unzerstörte und unzerstörbare Selbstfindung und Reifung näherbringen soll.
Heimat, die den Heimkehrenden seiner Ängste Die erhoffte Wirkung stellt sich jedoch nicht ein,
und Zweifel entheben und seiner Identität ver- weshalb er schließlich resigniert und eine An-
sichern könnte. Wie für Brecht, Borchert und stellung irgendwo im »Norden« (W 2, 133) an-
Döblin bleibt auch für sie heikel und ungewiß, nimmt. Als er auf dem Weg dorthin per Anhalter
was die Heimatfilmindustrie dem Kulturkonsu- von Genua nach Mailand fahren will, kommt es
menten als schützendes Refugium anzudienen zu einem Verkehrsunfall; der Fahrer stirbt, er
verstand. selbst überlebt und entwickelt nun doch noch
Der in den von Bachmann autorisierten Buch- neuen Lebensmut und Tatendrang.
ausgaben sowie in der Werkausgabe gedruckte Diese schnell rekapitulierten Geschehnisse bil-
Text weicht an acht Stellen vom Wortlaut und an den das äußere Handlungsgerüst, in das sehr
mehr als siebzig (interpretatorisch unbedeuten- ausführliche Deskriptions- und Reflexionsse-
deren) Stellen von Orthographie und Interpunk- quenzen eingefügt sind. In ihnen werden zahl-
tion des Erstdrucks ab. reiche Mißstände und Fehlentwicklungen aufge-
deckt, die das geistige Klima in der restaurativen
Nachkriegsgesellschaft prägen. Intoleranz, Kon-
Das dreißigste Jahr
kurrenzdenken, Unaufrichtigkeit, Uniformität
Die bekannte Titelgeschichte aus Bachmanns er- und manches andere wird hierbei angeprangert
stem Prosaband zeichnet ein Porträt jener Ge- und durch exemplarische Handlungsepisoden
neration, die in den 1920er Jahren geboren veranschaulicht. Als zentrales Problem für den
wurde und nach dem Krieg ein Restaurations- Erzähler schält sich hierbei die Identitätsfrage
klima vorfand, in dem der Antimodernismus tri- heraus, die er ganz im Sinne eines demokrati-
umphierte und in dem demokratisch-pluralisti- schen Pluralismus behandelt: »Auf der Weiter-
sche Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten reise hörte er sich Geschichten eines Mitreisen-
erst noch durchgesetzt werden mußten. Obwohl den an, der ihm darlegte, wieviel Prozent aller
Bachmann selbst zu dieser Generation gehört Irren sich für Napoleon, wieviel für den letzten
und obwohl sie sich persönlicher Erfahrungen Kaiser, für Lindbergh, Hitler oder Gandhi hiel-
und Erinnerungen bedient, handelt es sich nicht ten. Es erwachte Interesse in ihm, und er fragte,
um einen autobiographischen Text. Der dreißig- ob man sich denn ohne Schaden für sich selber
jährige Protagonist des Werkes ist nicht mit Bach- halten könne und ob das nicht auch Irrsinn sei.«
mann oder mit sonst einer konkreten histori- (W 2, 125) ›Sich für sich selber zu halten‹ würde
schen Person gleichzusetzen, was besonders die bedeuten, im Sinne einer vorpluralistischen, an-
Typisierungstechnik veranschaulicht, derer sich timodernen Ich-Auffassung einen Persönlich-
die Autorin in dieser Erzählung bedient. Sowohl keitskern zu postulieren, der unveränderlich ist
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 115

und der dem Individuum eine stabile psychische ist, der jedoch erst im 20. Jahrhundert durch
Identität garantiert. Schon in der Literatur der Autoren wie Joseph Conrad, Saul Bellow, Günter
Jahrhundertwende (Schnitzler) war diese Vor- Grass oder auch Max Frisch zu einem zentralen
stellung kritisiert und zugunsten einer moder- Stilmittel der Erzählkunst fortentwickelt worden
neren Konzeption verabschiedet worden, die ist (zu Bachmanns intensiver und kritischer Aus-
das Prinzip des Pluralismus in die Psyche hinein einandersetzung mit Frisch vgl. Albrecht 1989a).
verlängerte und deren Zielpunkt der flexible In für den ungeübten Leser verwirrender Manier
Mensch war, der sich auf die gestiegene räum- wird hierbei über ein und dieselbe Person mal in
liche und soziale Mobilität innerlich einzustellen der ersten und mal in der dritten Person Singular
wußte. Dieses freiheitlichere Persönlichkeitskon- gesprochen. Innensicht und Außensicht, Selbst-
zept war allerdings im Nationalsozialismus wie- wahrnehmung und Fremdwahrnehmung ergän-
der verdrängt worden. Und in der Nachkriegszeit zen sich und bilden ein vielschichtiges, nicht
war man nicht sofort auf den bis 1933 erreichten selten auch widersprüchliches Panorama der un-
Stand zurückgekehrt, ja es hatte sogar Stimmen terschiedlichen Persönlichkeitsfacetten des Prot-
gegeben, die den Faschismus geradezu als eine agonisten. Schon von der Form her wird damit
Konsequenz aus der Identitätskrise des Jahrhun- veranschaulicht, daß Bachmann ihren Dreißig-
dertbeginns deuteten. Zu nennen ist hier be- jährigen am Ende zu einer pluralistischen Ich-
sonders Max Picards einflußreicher Essay »Hitler Auffassung gelangen läßt, die ihn davor bewahrt,
in uns selbst« (Erlenbach 1946), in dem Autoren eine biographische Kontinuität zu imaginieren,
wie Joyce und Dos Passos als intellektuelle Weg- eine stabile Identität zu postulieren und sich da-
bereiter des Faschismus dargestellt worden wa- mit gegen alle Evidenz ›für sich selbst zu halten‹.
ren. Bachmanns Aufgabe bestand in dieser Situa- Daß der Verzicht auf eine solche Identität zwar
tion darin, das solcherart verleumdete pluralisti- schmerzlich ist, letzten Endes jedoch zu einem
sche Identitätskonzept zu rehabilitieren und jene zeitgemäßen und gut lebbaren Verständnis seiner
restaurative Gesellschaft zu kritisieren, die sich selbst führen kann, verdeutlicht der optimistische
an die vorpluralistische Idee einer stetigen bio- Appell am Ende von Bachmanns Text.
graphischen Kontinuität klammert. Ihr Dreißig- Der Bibelton dieses Appells (Anspielung auf
jähriger beendet seine Italienreise deshalb, ohne Matth. 9,5) macht auf ein weiteres Stilmittel auf-
zu einer endgültigen Selbstfindung zu gelangen, merksam, dessen sich Bachmann in Das drei-
doch dies ist eben kein Beweis eines Scheiterns, ßigste Jahr bedient, um verschiedene Facetten
sondern der Durchbruch zu jener moderneren, der Persönlichkeit des Protagonisten voneinan-
flexibleren Ich-Auffassung, für die schon Schnitz- der abzugrenzen. Es handelt sich um den gezielt
ler in seinen Dramen und Erzählungen geworben eingesetzten Wechsel der Stillage, der besonders
hatte. in zwei lyrisch-monologischen Einschüben zu be-
Stilistisch und erzähltechnisch konnte diese merken ist, in denen die intimsten Empfindun-
Identitätskonzeption nicht ohne Auswirkungen gen und Sehnsüchte des Dreißigjährigen darge-
bleiben. Denn ein Individuum, das sich nicht stellt werden (W 2, 112–114 und 126–128). Die
mehr als jederzeit mit sich und seiner Geschichte historische Aufgabe der von Bachmann darge-
identisch und einverstanden empfindet, wird stellten Generation, die Durchsetzung einer de-
sich teilweise von sich selbst distanzieren wollen. mokratisch-pluralistischen Kultur in einem
Folgerichtig bedient sich Bachmann einer hierzu Klima der Restauration und des Antimodernis-
passenden Erzähltechnik, die eine derartige Di- mus, wird darin als eine existenzielle Befreiungs-
stanzierung ermöglicht. Dazu gehört zunächst die tat gefeiert, die an unabgegoltene Gesellschafts-
Pluralisierung des Diskurses durch Einbeziehung utopien und Freiheitsvorstellungen anknüpft.
zahlreicher Zitate und Anspielungen, etwa auf Philosophische Deutungen der Erzählung kön-
Wittgenstein (vgl. Seidel) oder auf Kafka und nen hier ansetzen und die Irrfahrten des Prot-
Rimbaud (vgl. Bartsch 1986). Vor allem aber ist agonisten als eine Suche nach Transzendenzer-
auf den von Franz Stanzel in seiner »Theorie des fahrungen interpretieren (Pilipp).
Erzählens« (S. 135–148) detailliert analysierten
Ich-/Er-Wechsel hinzuweisen, der ansatzweise
schon bei Dickens und Thackeray festzustellen
116 II. Das Werk

Alles wendet sich jedoch gegen die radikal-messiani-


schen Aspekte dieses Denkens.
Auch die dritte Erzählung aus Das dreißigste Jahr Alles schildert die Gedanken und Erinnerun-
reflektiert den historischen Hintergrund des gen eines Mannes, der sich Rechenschaft über
künstlerischen Schaffens von Bachmann, ihr En- sein Verhalten bei der Erziehung seines vor einer
gagement für eine Ersetzung der bürgerlich-re- Weile tödlich verunglückten Sohnes zu geben
staurativen durch eine demokratisch-pluralisti- versucht und der hierbei zu der Einsicht gelangt,
sche Gesellschaftsordnung. Das Problem einer die Bewältigung seiner eigenen tiefgreifenden
durchgreifenden gesellschaftlichen Erneuerung Sprach-, Sinn- und Beziehungskrise wider jede
wird hierbei am Beispiel eines in der ersten Vernunft und Erfahrung von diesem seinem Kind
Phase des Pluralismus, den 1920er Jahren, ent- verlangt zu haben. Sein Sohn Fipps – der Name
standenen und in den 1950er Jahren wieder- spielt auf Wilhelm Buschs Bildergeschichte
belebten Phänomens erörtert. Näherhin handelt Fipps, der Affe an – sollte »der erste Mensch« (W
es sich um eine radikalrousseauistische Variante 2, 143), d. h. der erste wirkliche, neue Mensch,
der Reformpädagogik, eine Variante, die man als werden. Der natürliche Nachahmungstrieb und
messianisch oder soteriologisch bezeichnen die ›normalmenschliche‹ Bösartigkeit des Soh-
kann. Das Kind wird hierbei als ein Erlöser be- nes machen jedoch diese überzogene Erlösungs-
trachtet, der die Gesellschaft von Grund auf er- hoffnung des Vaters zunichte, dessen Beziehung
neuern soll. In ihrem Vortrag über »Frieden und zu Fipps sich deshalb in Haß und Gleichgültigkeit
Erziehung« von 1932 kleidete Maria Montessori verwandelt. Nach dem plötzlichen Unfalltod des
diesen Gedanken in die Formulierung: »Wir Sohnes gelangt der Vater dann zwar zu aufrich-
müssen uns zum Kinde wenden als zu einem tiger und kritischer Selbsterkenntnis. Gleichzei-
Messias, zu einem Retter und Erneuerer des Vol- tig muß er jedoch feststellen, daß sich seine als
kes und der Gesellschaft.« (Montessori, S. 13) pragmatisch-realistisch geschilderte Frau Hanna
Ziel dieser Pädagogik, die sich in den 1950er unter stummen Vorwürfen innerlich von ihm ab-
Jahren in Italien, Deutschland, Österreich und gekehrt hat.
den USA stark ausbreitete, war ein ›neuer Dieser tragische, an Strindbergs Erzählung
Mensch‹, eine neue Generation von anderen, Rückfälle (1884/85) erinnernde Handlungsver-
besseren Menschen. lauf impliziert nicht, daß Bachmann die reform-
Insofern die reformpädagogische Bewegung pädagogische Erziehungsidee gänzlich diskredi-
auf eine Verabschiedung der vorpluralistischen, tiert. Auf erzähltechnisch raffinierte Weise streut
bürgerlichen Bildungsideale des 19. Jahrhun- sie immer wieder auffällige, in der zweiten Per-
derts abzielte, konnte Bachmann mit ihr im Prin- son Singular formulierte Appelle und Maximen
zip einverstanden sein. Doch der Weg, den Mon- in den Text ein, die im Sinne einer umfassenden
tessori und andere beschritten, war aus ihrer Erziehungsutopie für die grundlegende Erneue-
Sicht ein Irrweg. Nicht das Kind, sondern der rung der Gesellschaft werben (z. B. W 2, 145:
Erzieher mußte nach ihrer Auffassung die gesell- »Lehr ihn die Wassersprache!«; W 2, 158: »Lern
schaftliche Erneuerung zustande bringen. Bach- erst das Weitergehen.«). Eine zentrale Rolle
mann akzeptierte also weitgehend das Ziel der spielt hierbei die Sprachproblematik, deren Vor-
Reformpädagogik, nicht jedoch die von ihr pro- rang auch Fipps’ Vater erkennt: »Und ich wußte
pagierten Mittel. plötzlich: alles ist eine Frage der Sprache und
In persönliche Berührung mit dieser Problema- nicht nur dieser einen deutschen Sprache, die mit
tik kam Bachmann zur Entstehungszeit von Alles anderen geschaffen wurde in Babel, um die Welt
durch die Geburt der Tochter von Günter Eich zu verwirren. Denn darunter schwelt noch eine
und Ilse Aichinger, mit der sie befreundet war. Sprache, die reicht bis in die Gesten und Blicke,
Wie ihr 1957 entstandenes Gedicht Mirjam zeigt, das Abwickeln der Gedanken und den Gang der
stand sie der optimistischen, mit reformpädago- Gefühle, und in ihr ist schon all unser Unglück.
gischen Konzepten eng verwandten Kindheits- Alles war eine Frage, ob ich das Kind bewahren
philosophie von Aichinger, die sich deutlich in konnte vor unserer Sprache, bis es eine neue
deren Kurzgeschichten äußert, nicht grundsätz- begründet hatte und eine neue Zeit einleiten
lich ablehnend gegenüber. Bachmanns Erzählung konnte.« (W 2, 143) Was diese Idee betrifft, so
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 117

folgt der Erzähler dem Vater, indem er an den plizit formulierten – ›Botschaft‹ wichtige Grund-
besagten Stellen den Erzählfluß unterbricht und gedanken der in den 1960er Jahren entwickelten
(in der zweiten Person Singular) gleichsam in der kritisch-emanzipatorischen Pädagogik (Mollen-
›neuen‹ Sprache in den Text hineinspricht. hauer, Klafki, Schaller) vorweggenommen. Im
Der Erzähler schlägt sich also in bestimmter neueren Schulunterricht hat sie deshalb viel Be-
Hinsicht auf die Seite des Vaters, doch anderer- achtung gefunden. Philosophische Deutungen se-
seits läßt der Handlungsverlauf keinen Zweifel hen in dem Text die zeitunabhängige Gestaltung
daran, daß dessen Verhalten nicht durch die ihm eines menschlichen Grundproblems, nämlich der
zugrunde liegenden guten Absichten gerechtfer- Sehnsucht nach Erreichen eines – mit Musil zu
tigt ist. Gegenüber seiner Frau hat sich der Vater reden – ›anderen Zustandes‹, in dem außer-
ins Unrecht gesetzt. Vor allem aber kann ihm eine geschichtliche und außergesellschaftliche Tran-
Mitschuld am Unfalltod seines Sohnes angelastet szendenzerfahrungen zu machen wären (Baden;
werden, einem typisch Bachmannschen Tod mit Pilipp).
hohem Symbolwert. Durch den Sturz auf einen
Felsen erleidet Fipps während eines Schulaus-
Unter Mördern und Irren
flugs eine Kopfwunde, die zum Aufbrechen einer
Zyste und damit zum Tod führt. Hiermit ist einer- Teils aus pragmatischen, teils aus strategischen
seits an die »Eiterquelle« (W 2, 150) des Bösen Erwägungen wurden die Entnazifizierungsmaß-
erinnert, das – wie in Wilhelm Buschs gleich- nahmen der Alliierten schon in den 1950er Jah-
namiger Affenfigur – von Anfang an in Fipps ren reduziert und schließlich eingestellt. In
steckt. Andererseits ist damit jedoch auch die Österreich geschah dies endgültig durch die so-
Wegstoßbewegung des Vaters sinnfällig darge- genannte NS-Amnestie vom 14. März 1957. Nicht
stellt, der sein Kind, als es seine übertriebenen nur, aber auch aus diesem Grunde war in den
Heilserwartungen nicht erfüllen kann, nach eige- Jahrzehnten nach 1945 die Erneuerung der Ge-
nem Bekenntnis »aus [seiner] Liebe fallen« läßt sellschaftsordnung aus dem Geiste des demo-
(W 2, 147). Einsicht und Reue des Vaters kom- kratischen Pluralismus von innen heraus be-
men demnach zu spät; sein fallengelassenes Kind droht. Der politisch-institutionelle Rahmen für
ist gestorben, und seine pragmatisch-konformi- eine solche Erneuerung war zwar geschaffen und
stische Frau, in der manche Interpreten aller- befestigt worden, doch eine entsprechende Ver-
dings eine positive Gegenfigur zum Ich-Erzähler änderung der Mentalität ließ noch längere Zeit
erkannten (vgl. Haberkamm), hat sich von ihm auf sich warten. Viele Ehemalige und Sympa-
abgewandt. thisanten des NS-Regimes, darunter Professoren,
Insgesamt liefert Bachmanns Text demnach Mediziner, Juristen und Wirtschaftslenker, rück-
keine eindeutige Antwort auf die Frage nach Pro ten schnell wieder in ihre früheren Posten ein,
und Contra der Reformpädagogik. Insofern sie während Exilierte und Verfolgte oftmals mit In-
eine grundlegende Erneuerung der Gesellschaft tegrationsschwierigkeiten zu kämpfen hatten.
anstrebt, kann Bachmann ihr zustimmen. Inso- Das Zusammenleben von Opfern und Tätern ge-
fern sie diese Erneuerungsaufgabe jedoch dem staltete sich verständlicherweise schwierig.
Kind überträgt, macht sie sich einer unmensch- Sollte der Mantel des Schweigens und des Ver-
lichen, Beziehungen zerstörenden und letzten gessens über die Vergangenheit gebreitet wer-
Endes sogar todbringenden Überforderung den? Konnten sich Opfer und Täter ohne wei-
schuldig. Daß für sich und die Gesellschaft nichts teres an einen Tisch setzen? Oder bedurfte es
erreichen wird, wer seinem Kind alles abver- eines fortgesetzten kompromißlosen Widerstan-
langt, ist eine Botschaft, die allerdings nicht im des, selbst um den Preis einer Gefährdung des
Sinne eines Bildungskonservatismus ausgelegt gesellschaftlichen Zusammenhaltes?
werden darf. Die appellierenden Einsprüche des Bachmanns Erzählung Unter Mördern und Ir-
Erzählers machen deutlich, daß über dem Ge- ren, die diese Problematik behandelt, schildert
danken an das Machbare nicht der Blick für das die Geschehnisse eines Freitagabends, an dem
zu Verändernde verloren gehen darf. sich sieben Teilnehmer eines Herrenstammti-
Bachmanns Erzählung hat mit dieser – im Ver- sches mehr als zehn Jahre nach Kriegsende in
gleich zu anderen Texten der Autorin relativ ex- einem Lokal in der Wiener Innenstadt einfinden.
118 II. Das Werk

Vier der älteren Mitglieder des Kreises ergehen größere Entschiedenheit, die das erlebende Ich
sich dabei in schwärmerischen Erinnerungen an unmittelbar nach der Tat gewinnt, wiederum zu
ihre soldatischen (Un-) Taten und provozieren relativieren: »Wer aber weiß das? Wer wagt das
hierdurch Unmut und Verlegenheit bei den drei zu sagen?« (W 2, 186) Bachmanns Erzählung
anderen, als »Juden« (W 2, 161) bezeichneten erteilt sowohl einer relativistischen Duldung der
Teilnehmern der Runde, zu denen auch der – Täter als auch einer rigoristischen Konfronta-
namenlos bleibende – Ich-Erzähler gehört. Er tionshaltung eine Absage. Sie liefert ein anschau-
und sein Freund Friedl diskutieren im Wasch- liches Porträt von vier Unverbesserlichen mit au-
raum der Gaststätte die Frage, ob sie sich mit den toritär-militaristischen Charakterstrukturen, un-
vier Kriegsenthusiasten überhaupt noch an einen terzieht darüber hinaus aber auch den Typus des
Tisch setzen können, finden jedoch kein zwin- unschlüssigen Dulders und den des selbstgerech-
gendes Argument gegen ihre »jämmerliche Ein- ten Märtyrers einer kritischen Prüfung, an deren
trächtigkeit« (W 2, 173) und kehren letztlich doch Ende sie sich im Gestus der Frage auf eine distan-
wieder zu ihrer Wirtshausbank zurück. Dort hat zierte, mit keiner dieser drei Haltungen zu identi-
sich unterdessen ein weiterer Gast eingefunden, fizierende Position zurückzieht.
ein geheimnisvoller Fremder von hünenhafter Zur Erzielung dieses Distanzierungseffektes
Gestalt, der dem Stammtischgespräch alsbald ein bedient sie sich raffinierter erzähltechnischer
Ende macht, indem er schildert, was er als un- Mittel, die eine partielle Auktorialisierung des
freiwilliger NS-Soldat erlebt hat und wie er we- erzählenden Ichs bewirken. Dieses Ich blickt ge-
gen Feigheit vor dem Feinde und Wehrkraftzer- legentlich – besonders deutlich am Textanfang –
setzung erst ins Gefängnis, dann in eine psychia- aus unbestimmbarer zeitlicher und räumlicher
trische Klinik und schließlich in ein Lager Distanz auf die Vergangenheit zurück, als bewege
gesteckt worden ist. Wie um diese provozierende es sich in einer ganz anderen Sphäre als ›seine‹
Gegenrede zu beglaubigen, dringt der Unbe- Figuren. Auch in der virtuos changierenden, die
kannte schließlich in eine im Nachbarraum statt- verschiedenen Ebenen der narrativen Kommu-
findende Jubiläumsfeier ehemaliger Frontkämp- nikation verwischenden Verwendung des Perso-
fer ein, wobei er den Tod findet. Der Anblick nalpronomens der ersten Person Plural (W 2,
seiner blutenden Wunden bringt den herbeieilen- 160 f.) macht sich die auktoriale Überlegenheit
den Protagonisten und Ich-Erzähler zu einer und Distanziertheit der Erzählinstanz bemerk-
neuen, entschiedeneren Haltung hinsichtlich der bar; erzählendes Ich, erlebendes Ich, Nebenfi-
Schuld- und Gewaltfrage. guren und impliziter Leser werden hier in unter-
Nach dieser Handlungsübersicht scheint es auf schiedlichen Konstellationen unter der Bezeich-
den ersten Blick, als plädiere Bachmanns Erzäh- nung »wir« zusammengefaßt, wodurch der
lung für jene Strenge und Kompromißlosigkeit, Erzähler seine Souveränität in puncto Perspektiv-
die der Unbekannte durch seine Opfertat an den wahl und Perspektivveränderung auf subtile
Tag legt. Dem steht jedoch der Befund entgegen, Weise spürbar werden läßt. Damit beantwortet
daß dieser Unbekannte als gefühlloser geborener Bachmanns Erzählung formal die inhaltlich offen
»Mörder« (W 2, 181–184) geschildert wird, der bleibende Frage nach der Entscheidung zwischen
als halb-allegorische Figur kein typisches NS- Rigorismus und Relativismus. Weder das eine
Opfer repräsentiert, sondern eher, im Guten wie noch das andere, sondern nur eine habitualisierte
im Bösen, die Geisteshaltung des prinzipiellen Selbstreflexion und Selbstdistanzierung nach
Rigorismus verkörpert. Und zudem endet Bach- dem Muster des Erzählers ermöglicht es, sich
manns Erzählung mit ambivalenten Formulierun- zumindest zeitweise aus dem Kreis der Mörder
gen, die sowohl diesen heroischen Rigorismus und der Irren zu lösen.
des Unbekannten als auch den ›jämmerlichen‹
Relativismus des Ich-Erzählers hinterfragen.
Ein Schritt nach Gomorrha
Spürbar markiert durch einen Tempus- und Mo-
duswechsel verlagert sich der Darstellungsfokus Zu den tragenden Säulen der bürgerlichen Ge-
in der letzten Zeile des Textes vom Wahrneh- sellschaft des 19. Jahrhunderts gehörte die In-
mungs- und Bewußtseinshorizont des erleben- stitution Ehe in ihrer am Ende des 18. Jahr-
den auf denjenigen des erzählenden Ichs, um die hunderts von Lessing, Schiller, Friedrich Schle-
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 119

gel u. a. konzipierten Spielart als unvergängliche die Homosexualität keine Lösung, sondern nur
und hochintensive Liebesbeziehung, in der die eine Verlagerung ihrer Beziehungsprobleme mit
Partner eine zugleich sexuell-körperliche, emo- sich bringen würde. Über den Einzelfall hinaus
tional-seelische und geistig-intellektuelle Bin- wird die Ehekritik in Bachmanns Erzählung in
dung eingehen. Höhere Anforderungen an die Richtung auf ein allgemeineres Grundproblem
räumliche, soziale und psychische Mobilität zer- ausgeweitet. Viel eher als die individuellen
störten jedoch die gesellschaftlichen Grundlagen, Schwächen ihres Ehepartners sind es die Mängel
die eine Realisierung dieses Ideals ermöglichten der Institution Ehe, die Charlotte plötzlich be-
oder ermöglicht hätten. Seit Flauberts Madame wußt werden und die sie dazu veranlassen, ihre
Bovary (1856) und Ibsens Nora oder Ein Puppen- Gemeinschaft mit Franz innerlich aufzukündi-
heim (1879) wurde die Ehe deshalb immer wie- gen. Hierbei ist es ohne Zweifel von großer Be-
der als ein goldener Käfig beschrieben, in dem deutung, daß Charlotte ihre Begegnung mit Mara
vor allem die vom Arbeitsleben ferngehaltenen als eine Inversion der traditionell-bürgerlichen
Frauen des gehobenen Bürgertums Zwang, Ein- Geschlechterrollen erlebt und sich erstmals, be-
samkeit und Unverständnis statt körperlicher, sonders in ihrem Blaubart-Traum (W 2, 212), in
seelischer und geistiger Erfüllung fanden. In den die Position eines ›männlichen‹ Ehepartners ver-
ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts setzt sieht, der – wie sie nun bemerkt – von den
wurden in der Folge zahlreiche literarische Al- Mängeln der Institution einseitig profitiert, in-
ternativentwürfe entwickelt und diskutiert, die dem er Macht ausüben kann, ohne diese Macht
im Geiste des Pluralismus auf eine Neudefinition persönlich erwerben oder legitimieren zu müs-
oder Abschaffung der Institution Ehe abzielten sen. Wichtiger als die äußerliche Trennung von
(Strindberg, Wedekind, D. H. Lawrence u. a.). Im Franz ist für Charlotte die Verweigerung der
Nationalsozialismus wurde diese wichtige Dis- Identifikation mit ihrer bis dahin unhinterfragten
kussion zugunsten eines ebenso obsoleten wie Rolle als inferiore Dienerin eines in beidersei-
verabsolutierten (klein-) bürgerlichen Familien- tigem Einvernehmen regierenden Herren. Ein
ideals unterbunden, das im restaurativen Gei- Schritt nach Gomorrha spielt nicht eine idea-
stesklima der 1950er und 1960er Jahre nahezu lisierte homosexuelle Liebe gegen obsolete Ehe-
unverändert seine Geltung behielt. ideale aus, sondern formuliert eine Kritik an
Ingeborg Bachmann, deren unkonventioneller, sämtlichen Traditionen und Konventionen, die
unbürgerlicher Lebensstil von den Parteigängern das eigentlich universale Liebesvermögen auf
des gesellschaftlichen Antimodernismus und An- eine begrenzte Zahl aktuell ›zulässiger‹ Bezie-
tipluralismus zuweilen als Provokation empfun- hungstypen einzuschränken versuchen (vgl. W 2,
den wurde, wandte sich im Leben wie in der 205 f.).
Kunst offensiv gegen dieses Ideal. Ihre Erzählung Die sprachliche Gestaltung des Textes ist rela-
Ein Schritt nach Gomorrha beschreibt am Bei- tiv untypisch für Bachmanns Erzählstil dieser
spiel der Wiener Konzertpianistin Charlotte ei- Jahre, da die personale Erzählsituation in ihm
nen Emanzipationsprozeß, an dessen Ende die fast vollständig dominiert. Bachmann macht sehr
Gewinnung einer neuen Liebes- und Lebens- reichen, virtuosen Gebrauch von den modernen
perspektive liegt. Im Gespräch mit der lesbischen narrativen Mitteln der Innenweltdarstellung (In-
Partybesucherin Mara entfremdet sich Charlotte nerer Monolog, Erlebte Rede) und läßt den Leser
nachhaltig von ihrem Ehemann Franz, der ihrer damit sämtliche Geschehnisse aus der Perspek-
gemeinsamen Wohnung und allgemein ihrem tive der Protagonistin erleben und wahrnehmen.
Leben einseitig seinen Stempel aufgeprägt hat. Wo der Erzähler doch einmal spürbar hervortritt,
Charlottes allmähliche Wandlung führt hierbei formuliert er eine prinzipielle Ehekritik, die als
von der ängstlichen Abwehr gegen die sinnliche Rechtfertigung der Emanzipationsbestrebungen
Ausstrahlung Maras über die Erkenntnis des Charlottes aufgefaßt werden kann: »Wie immer
Scheiterns ihrer Ehe und den Wunsch nach Um- eine Ehe auch geführt wird – sie kann nicht
kehrung der konventionellen Geschlechterrollen willkürlich geführt werden, nicht erfinderisch,
bis hin zu einer ›Katzenjammer‹-Stimmung, in kann keine Neuerung, Änderung vertragen, weil
der Charlotte zwar mit der mädchenhaften Mara Ehe eingehen schon heißt, in ihre Form einge-
das Bett teilt, in der sie aber auch erkennt, daß hen.« (W 2, 203) Die Position der Protagonistin
120 II. Das Werk

wird nicht, wie es sonst bei Bachmann fast durch- Kapitel schildert Vorgeschichte und Verlauf eines
gängig der Fall ist, von einem superior-externen mehrtägigen Gerichtsverfahrens, in dem der
Alternativstandpunkt aus kommentiert und kriti- Richter Anton Wildermuth über den Fall eines
siert, weshalb hier ausnahmsweise eine identi- Namensvetters, des wegen Vatermordes ange-
fikatorische Lektüre möglich und zielführend ist. klagten Landarbeiters Josef Wildermuth, befin-
Dies mag mit der besonderen Thematik des Wer- den soll und das ein abruptes Ende erfährt, als
kes zusammenhängen, da unter den gegebenen der Richter inmitten der Verhandlung mit einem
gesellschaftlichen Umständen eine distanzier- Schrei zusammenbricht. Die genaueren Ursachen
tere, kritischere Darstellung womöglich Beifall und Hintergründe dieses Zusammenbruchs wer-
aus der falschen Ecke nach sich gezogen hätte. den in diesem ersten Kapitel von der Warte einer
Bachmann, unter deren persönlichen Freunden, externen Erzählinstanz aus in der dritten Person
Kollegen und Bekannten mehrere Homosexuelle Singular dargestellt. Das nachfolgende zweite
waren, beschreibt Charlottes Konfrontation mit Kapitel ist demgegenüber in der ersten Person
der Homosexualität nicht als eine Verwirklichung Singular verfaßt und gibt die Sichtweise des Rich-
der ideal-utopischen Liebe, wohl aber als eine ters selbst wieder, der im Rückblick auf seine
Möglichkeit zur Befreiung aus traditionellen bür- Lebensgeschichte und vermittels weit ausgreifen-
gerlichen Beziehungsstrukturen, die in einer de- der philosophisch-psychologischer Reflexionen
mokratisch-pluralistischen Gesellschaft nicht Klarheit über die Entstehungsursachen seines
mehr wünschenswert und realisierbar sind. In Debakels gewinnen will.
frühen Rezensionen wurde hierauf nicht selten Der auktoriale Erzähler des ersten Kapitels
mit Unverständnis reagiert, da die Darstellung besitzt eine eindeutige Erklärung des Falles, die
lesbischer Liebe in den 1950er und 1960er Jahren er in ruhiger und flüssig ausformulierter Form
noch stark tabuisiert war (vgl. Marti, S. 94 f.). vorträgt. Wildermuth selbst hingegen, der Ich-
Erzähler des zweiten Kapitels, verfällt im Laufe
seiner Darlegungen in einen immer zerrissener
Ein Wildermuth
und akohärenter werdenden Stil, der seine in-
Die Menschen des demokratisch-pluralistischen nere Erregung widerspiegelt und der sprachlich
Zeitalters leben in einer Wirtschafts- und Gesell- veranschaulicht, daß er zu keiner stimmigen Er-
schaftsordnung, die ihnen höchste räumliche, so- klärung gelangt. Bemerkenswerterweise münden
ziale und psychische Mobilität abverlangt. Wie seine Reflexionen und Empfindungen zuletzt in
Jugend in einer österreichischen Stadt zeigt, er- Fragen und Anredeformeln ein, die den Leser
fordert diese Mobilität ein verändertes Identitäts- über alle Grenzen zwischen fiktionsinterner und
konzept; der Pluralismus macht sich im Inneren fiktionsexterner Kommunikationsebene hinweg
des Individuums als erzwungene geistig-seeli- in Wildermuths Gedankengänge hineinziehen
sche Flexibilisierung bemerkbar. Nicht nur die und zum Dialogpartner machen. Des Ich-Erzäh-
Selbst-, sondern auch die Wirklichkeitswahrneh- lers Suche nach der Wahrheit führt also letzten
mung wird von diesem Prozeß erfaßt. In ihr Endes in ein dialogisches Sprechen hinein, in
macht sich die Pluralisierung als erkenntnistheo- dem sich Züge des Mystizismus (Beicken 1988,
retischer Relativismus oder Konstruktivismus S. 181), aber auch des erkenntnistheoretischen
geltend, so daß Menschen dieses Zeitalters typi- Relativismus erkennen lassen (Harris, S. 61)
scherweise nicht mehr eine, sondern mehrere Eine wichtige Rolle für die Gesamtdeutung des
Wirklichkeiten (Lebenswelten), nicht mehr Textes spielt der den beiden numerierten Kapi-
›die‹, sondern höchstens ›eine‹ Wahrheit erken- teln vorangestellte Einleitungsteil, in welchem
nen zu können glauben. ein personal-auktorialer, mit demjenigen des er-
Bachmanns Erzählung Ein Wildermuth thema- sten Kapitels nicht notwendig identischer Erzäh-
tisiert das Problem der Durchsetzung und Recht- ler vorgreifend das Verhalten des Richters in der
fertigung eines solchen Relativismus, und zwar Zeit nach seinem Zusammenbruch schildert.
einerseits auf der Inhalts- und andererseits auf Diese Einleitung endet mit einem doppelsinni-
der Formebene. Der Text ist in eine kurze Ein- gen Hinweis auf Wildermuths Auffassung von
leitung und zwei nachfolgende, mit arabischen den Zeitungsberichten, die sich mit seinem Fall
Ziffern markierte Kapitel unterteilt. Das erste beschäftigen: »Er las die Berichte und Stellung-
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 121

nahmen, kannte sie bald auswendig, versuchte, bolischer Ebene den Vatermord des Angeklagten
wie ein Unbeteiligter, die Geschichte in sich zu nach, denn der Vater des Richters wird als kom-
erzeugen und dann in sich zu zerschlagen, die promißloser Anhänger eines rigoristischen
man für die Öffentlichkeit aus dem Vorfall ge- Wahrheitsgebotes dargestellt, von dem sich der
macht hatte.« (W 2, 215) Tatsächlich lesen sich Sohn allmählich distanziert. Im Sinne des mo-
die beiden nachfolgenden Kapitel wie der Ver- dernen Pluralismus ist der Schrei des Richters
such Wildermuths, (s)eine Geschichte »in sich zu damit ein vehementer Protest gegen die konsen-
erzeugen« (wohlgeformt-abgerundetes Kapitel 1) suelle Vereinheitlichung einer vielgestaltigen,
und anschließend »in sich zu zerschlagen« (zer- immer aus mehreren unterschiedlichen Perspek-
rissen-uneinheitliches Kapitel 2). Bachmanns Er- tiven gleichzeitig zu betrachtenden Wirklichkeit.
zählung gewinnt damit eine zusätzliche, selbst- Philosophische Deutungen sehen in der Erzäh-
reflexiv-poetologische Dimension. lung, besonders in der Gestaltung des Textendes,
Ein Wildermuth wirbt letzten Endes für eine einen Ausdruck für Bachmanns Suche nach
relativistische, dem pluralistischen Zeitalter an- Transzendenzerfahrungen, nach einer stummen,
gemessene Wirklichkeits- und Wahrheitskonzep- absoluten Wahrheit, die in einer mystischen Eins-
tion. Relativismus darf hierbei jedoch nicht mit werdung von Sein und Bewußtsein erfahrbar
Subjektivismus verwechselt werden, wie die werden könne (Pilipp).
Schilderung der Frau des Richters zeigt, deren
phantasievolle Ausschmückung ihrer Beobach-
Undine geht
tungen und Erfahrungen als eine »Verdunkelung«
(W 2, 237) der Tatsachen kritisiert wird. Für den Das künstlerische Engagement für einen demo-
Richter ist und bleibt die Wahrheit »nur zur kratischen Pluralismus war nach 1945 schwie-
Hälfte Menschenwerk, denn es muß ihr auf der riger und problematischer als vor 1933. Schon
anderen Seite etwas entsprechen, dort, wo die das frühe 20. Jahrhundert hatte seine Sprach-
Tatsachen sind« (W 2, 248). Er orientiert sich und Wahrnehmungskrise durchlebt, wovon Hugo
damit an einem Korrespondenzmodell von Wahr- von Hofmannsthals Chandosbrief (1902) in ein-
heit, wie es – in Abgrenzung von konkurrieren- drucksvoller und überzeugender Weise Zeugnis
den Modellen, die Wahrheit als den Konsens der ablegt. Doch nach dem Holocaust war diese Krise
Sachverständigen oder als bloße Kohärenz im für die Literatur ganz unabweisbar, ja existenzbe-
Sinne der inneren Stimmigkeit auffassen – in der drohend geworden.
Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie des Ihren prominentesten Ausdruck fand sie in
20. Jahrhunderts besonders von Wittgenstein dem vielzitierten Satz aus Theodor W. Adornos
verteidigt worden war (vgl. Seidel). Daß der Essay »Kulturkritik und Gesellschaft« (1951), wo-
Mensch die Tatsachen nicht ohne weiteres zuver- nach es »barbarisch« sei, »nach Auschwitz ein
lässig erkennen kann, bedeutet für Bachmann Gedicht zu schreiben« (Adorno, S. 30). Mit ›Ly-
nicht, daß es keine Tatsachen gibt. Ihre Erzäh- rik‹ war hierbei nicht einfach die dritte literari-
lung plädiert nicht für die Verabsolutierung sub- sche Hauptgattung neben Epik und Drama ge-
jektiver Hirngespinste und nicht für eine absolute meint, sondern allgemein jede Kunst des schö-
Übereinstimmung von Sein und Bewußtsein, nen Scheins, die so tat, als sei nichts gewesen, die
sondern für Skepsis sowohl gegenüber egozen- zur Tagesordnung zurückkehrte und weiterhin
trischer Tatsachenverleugnung als auch gegen- bedenkenlos an die künstlerischen Traditionen
über allen »Machtworte[n]« (W 2, 225), die auf der letzten Jahrhunderte anknüpfte. Adorno plä-
einer derartigen Übereinstimmung zu basieren dierte demgegenüber für eine des Holocaust je-
scheinen. derzeit eingedenk bleibende Kunst, eine sperrige
Dazu paßt es, daß der Zusammenbruch des Kunst, die nicht mehr mitspielt und die sich
Richters nicht wegen der Endlosigkeit des Ge- gleichsam aus jener Sprache zurückzieht, in der
richtsstreites, sondern angesichts einer mögli- die Nazischergen ihre Kommandos gebrüllt und
chen Übereinstimmung zwischen Staatsanwalt, ihre Marschlieder gesungen hatten.
Geschworenen und Publikum erfolgt (W 2, 225). Ingeborg Bachmann, die mit Adorno persön-
Wie die Namensgleichheit verdeutlicht, vollzieht lich befreundet war, greift diese Problematik in
der Richter im Laufe des Prozesses auf sym- ihrer Erzählung Undine geht auf, wobei ihre Un-
122 II. Das Werk

dinenfigur die Kunst darstellt (GuI, 46), die sich klenstruktur in Prousts A la recherche du temps
nun, nachdem »helle Orte« (wie z. B. Weimar) in perdu hingewiesen (Kaiser 1993).
»Schandorte« (wie z. B. Buchenwald) verwandelt Darüber hinaus ist die Erzählung feministisch
worden sind (W 2, 260), aus der Menschenwelt gedeutet, diese Deutung aber auch aus verschie-
zurückzieht und die Kommunikation aufkündigt. denen Blickwinkeln kritisiert worden. So er-
Näherhin handelt es sich um eine Abschiedsrede, blickte Planté in Bachmanns Typisierungstechnik
in der die Kunst über die Ursachen dieses Rück- eine gelungene emanzipatorische Strategie
zuges reflektiert und ihre Erfahrungen mit den (Planté), und Baackmann interpretierte den Text
Menschen, die unter dem Sammelnamen ›Hans‹ als Absage an jede stereotype Festschreibung von
angeredet werden, bilanziert. Die Betrachtung Geschlechterrollen (Baackmann). Schuscheng
der Menschengesellschaft aus dem Blickwinkel monierte demgegenüber, daß Bachmanns Undi-
eines fremden Wesens eröffnet natürlich vielfäl- nenfigur das Klischee der Frau als Repräsen-
tige Möglichkeiten zur Gesellschaftskritik, und in tantin des unentfremdeten Seins reproduziere
der Tat nutzt Bachmann diese Gelegenheit aus- (Schuscheng 1987), und nach Golisch »deuten
führlich, um ihre Undine über das hohle Ge- sich in Undine geht leider bereits die fragwürdig-
schwätz, das vorgetäuschte Familienglück, die sten Klischees der späteren sogenannten ›Frau-
kleinliche Politik und allerlei sonstige Fehler und enliteratur‹ an« (Golisch 1997, S. 104).
Mängel der menschlichen Gesellschaft klagen zu Unumstritten ist allerdings, daß Bachmanns
lassen. Undine weiß allerdings auch von Augen- Erzählung die Stofftradition um eine originelle
blicken des glückhaften Einverständnisses und neue Facette bereichert, wie der detaillierte Ver-
der erfüllten Liebe zu berichten, so daß die Bi- gleich mit den Undine-Texten von Paracelsus,
lanz zunächst ausgeglichen zu sein scheint. Fouqué, Giraudoux und anderen zeigt (El Nawab,
Schließlich besinnt sich Undine jedoch auf jene Fassbind-Eigenheer). Ihre Undine ist die erste
gräßlichen Ereignisse, die ihr das Bleiben un- Wasserfrau in der europäischen Literatur, die
möglich machen, nämlich die Mordtaten an den nicht aufgrund eines Fluches oder Versprechens
erwähnten ›Schandorten‹. Nicht ohne Bedauern gehen muß, sondern von sich aus gehen will.
nimmt sie Abschied und zieht sich endgültig in Unstrittig ist auch, daß Undine geht werkge-
die Unterwasserwelt zurück. schichtlich eine Schlüsselstellung zugeordnet
Bachmanns erzählstilistische Hauptleistung werden kann, da sich hierin Bachmanns in den
liegt in der sprachlichen Veranschaulichung die- 1960er Jahren intensivierte Auseinandersetzung
ses (unfreiwilligen) Rückzugs in die ›Kunst der mit der Geschlechterrollenproblematik ankün-
Kommunikationsverweigerung‹. Außer dem digt.
hierzu prädestinierten Undinenmotiv selbst und Der in der Werkausgabe abgedruckte Text
diversen Anspielungen auf die Tradition der lite- weicht an sechzehn Stellen im Wortlaut und an
rarischen Hermetik (besonders auf Celans Büch- weiteren acht (interpretatorisch unbedeutenden)
nerpreisrede; vgl. Kann-Coomann 1988) benutzt Stellen von Orthographie und Interpunktion des
sie hierzu am Ende des vieldiskutierten Textes Erstdrucks in der »Frankfurter Allgemeinen Zei-
den lyrikspezifischen Zeilenumbruch, um das tung« vom 20. Mai 1961 ab.
Entrückte, Andersartige, Jenseitige der Unter-
wasserwörter zu verdeutlichen, mit denen sich
Portrait von Anna Maria
die aus der Alltagswelt ausgetretene Kunst an die
Menschen wendet. Undine geht ist damit in er- Diese zwischen 1955 und 1957 entstandene un-
ster Linie ein künstlerisches Manifest der Au- vollendete Erzählung aus dem Umfeld des Ban-
torin, die darin u. a. auf poetische Weise be- des Das dreißigste Jahr zeigt, wie die über eine
schreibt und begründet, weshalb ihre Texte nicht Persönlichkeit des öffentlichen Lebens im Um-
problemlos zu konsumieren sind, sondern lauf befindlichen Gerüchte eine solche Eigen-
schwerverständlich sein müssen. Kaiser hat 1991 dynamik entwickeln können, daß schließlich
auf kompositionstechnische Parallelen zwischen selbst über elementare Merkmale und Eigen-
Bachmanns Erzählung und Prousts Le temps re- schaften dieser Person ganz gegensätzliche Auf-
trouvé bzw. allgemein zwischen der Anlage des fassungen existieren. Im Mittelpunkt der Erzäh-
Erzählbandes Das dreißigste Jahr und der Zy- lung steht die berühmte Malerin Anna Maria P.,
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 123

der die Ich-Erzählerin des Textes dreimal, in Wie Hapkemeyer zeigte, kann die Erzählung
Draiano, Venedig und Rom, begegnet. Obwohl auch als »Kritik an der menschlichen Sprache
sich hieraus nur eine flüchtige Bekanntschafts- überhaupt« interpretiert werden (Hapkemeyer
beziehung entwickelt, werden diese Begegnun- 1982b, S. 90).
gen zum Ausgangspunkt zahlreicher Phantasie-
geschichten über die Beziehung zwischen beiden
Der Schweißer
Frauen. Wenn die Ich-Erzählerin hiergegen ge-
sprächsweise protestiert und sich dabei auf die In seiner Aphorismensammlung Die fröhliche
»Wahrheit« (W 2, 54) beruft, hat es zunächst den Wissenschaft (1882) unterzog Friedrich Nietzsche
Anschein, als folge Bachmanns Erzählung dem die Weltanschauung des bürgerlichen Zeitalters
traditionsreichen Motiv der Klage über die Tri- einer vernichtenden Kritik. Der Gottesglaube,
umphe der auf Flügeln dahineilenden Fama. die Werteordnung und das Kulturideal der Ge-
Doch die Wahrheitsgewißheit der Ich-Erzählerin sellschaft des 19. Jahrhunderts wurden als Illu-
selbst wird am Ende des Textes erschüttert, als sie sionen und Ideologien entlarvt. Dem heraufzie-
die inzwischen verstorbene Malerin auf einer ihr henden Zeitalter des demokratischen Pluralis-
von deren Mutter anvertrauten Photographie mus konnte Nietzsche jedoch keine alternative
nicht mehr wiedererkennt, während ihr Freund Perspektive abgewinnen. Aus einem für die Bil-
das Portrait sofort als dasjenige der Malerin iden- dungsschicht seiner Epoche charakteristischen
tifiziert (W 2, 57). Antiegalitarismus heraus flüchtete er in einen
Durch diese nachträgliche Infragestellung der gesellschaftsabgewandten und fatalistischen Äs-
Glaubwürdigkeit des erzählenden Ichs demon- thetizismus, ohne eine lebbare und politisch ver-
striert Bachmann, daß es ›die‹ Wahrheit über mittelbare Konzeption für die Gestaltung des
eine Person nicht geben kann. Damit ist zunächst kommenden demokratischen Pluralismus zu
der biographistischen Kunstdeutung jede Grund- entwickeln.
lage entzogen, was für die damals schon unter In ihrer Erzählung Der Schweißer schildert
intensiver Medienbeobachtung stehende Autorin Bachmann, die sich besonders in ihren Hörspie-
selbst nicht ohne Belang war; zu Beginn der len engagiert gegen nietzscheanisch oder sonst-
Erzählung wird explizit beklagt, daß »Künstler oft wie gerechtfertigte »Austritte aus der Gesell-
durch die Art ihrer Nebenbeschäftigung die schaft« (W 4, 276) gewandt hatte, welche Kon-
Phantasie der anderen weitaus mehr und nach- sequenzen die Begegnung mit derartigen
drücklicher beschäftigen und seltener durch das, Fluchtphantasien haben kann. Der 35jährige An-
wodurch sie es eigentlich tun sollten und wohl dreas Reiter, Schweißer bei den Wiener Stadt-
auch hin und wieder tun – durch ihre Arbeiten« werken, bekommt zufällig Nietzsches Fröhliche
(W 2, 48). Wissenschaft in die Hände, wird durch die Lek-
Darüber hinaus dementiert die Erzählung aber türe seiner kleinbürgerlichen Umwelt entfremdet
auch in allgemeinerem Sinne die vorpluralisti- und begeht schließlich Selbstmord, da ihn seine
sche Identitätskonzeption des bürgerlichen Zeit- intellektuelle Erweckung zur Vernachlässigung
alters, die unterstellte, daß es einen unverän- aller gesellschaftlichen und moralischen Ver-
derlichen Wesenskern der individuellen Persön- pflichtungen – besonders seiner pflegebedürfti-
lichkeit geben müsse. Demgegenüber zeigt gen Frau gegenüber – treibt.
Bachmanns Portrait von Anna Maria, daß In- Reiter ist damit eine ambivalente Figur. Denn
dividuen facettenreiche Gebilde sind, die sich einerseits ist sein Erkenntnisschock, der ihn zu
nicht auf eine Quintessenz, auf einen ›Kern ihres eigenständigem Nachdenken und zur Aufgabe
Wesens‹, reduzieren lassen. Auch Jugend in einer seiner bürgerlichen, kranken-, unfall- und le-
österreichischen Stadt und Das dreißigste Jahr bensversicherten Durchschnittsexistenz bringt
veranschaulichen diese pluralistische Persönlich- (vgl. W 2, 69), ein Moment der inneren Befreiung
keitsauffassung der Autorin, die den Text unter und Verselbständigung. Andererseits gelangt er
der Regie von Egon Monk zu verfilmen plante jedoch, und hier ist eine implizite Nietzschekritik
(vgl. GuI, 35, 41); entsprechende Drehbuchent- Bachmanns unüberhörbar, nicht zu einer Neu-
würfe haben sich in Bachmanns Nachlaß in der begründung von Sozialität und Moralität, son-
Österreichischen Nationalbibliothek erhalten. dern nur zu jener in der Fröhlichen Wissenschaft
124 II. Das Werk

propagierten Leidenschaft des Erkennens, die ihr Buch Franza so stellen auch diese Textbruch-
Dasein bloß ästhetisch rechtfertigende, intellek- stücke eine Misch- und Übergangsform dar. Zeigt
tuelle Übermenschen, aber keine pluralistischen das erste Fragment noch den aus Das dreißigste
Persönlichkeiten, wie sie die demokratische Ge- Jahr bekannten, stärker auktorialen und genera-
genwartsgesellschaft benötigt, hervorbringt. Rei- lisierenden Darstellungsstil, so weisen die Leda-
ter löst sich vom Vergangenen, findet jedoch nicht Fragmente und das mit »Stadtpark« überschrie-
ins Gegenwärtige, sondern treibt in ein Abseits. bene Bruchstück schon die psychologisierende,
Daß er sich gefährlichen Lehrmeistern ver- personale Erzählweise auf, welche die Texte des
schreibt, wird ihm als einem ungebildeten Orien- späteren Todesarten-Projektes kennzeichnet. In
tierungssuchenden in Bachmanns Erzählung al- der Unvereinbarkeit beider Darstellungsstile ist
lerdings nicht angekreidet. Negativfigur ist viel- vielleicht die Ursache dafür zu suchen, daß Bach-
mehr der Doktor, der den bei Bachmann häufigen mann ihre Skizzen und Pläne nicht ausarbeitete
Typus der versagenden Helferfigur repräsentiert und nur einzelne Motive und Formulierungen aus
und der den sinnsuchenden Schweißer mit Flos- den Eugen-Fragmenten in ihre späteren Prosa-
keln und Banalitäten abspeist. werke übernahm (vgl. Kommentar in TKA 1,
Die differenzierte Darstellung des Erwek- 509–514).
kungserlebnisses ihres Protagonisten macht es
unmöglich, Bachmanns Stellung zu Nietzsche auf
Geschichte einer Liebe
eine extreme Position festzulegen. Sie gehört we-
der zu den Nietzsche-Anhängern (Jünger, Benn, Erhöhte räumliche, soziale und psychische Mobi-
Heidegger u. a.), die den Amoralismus des Philo- lität, wie sie für die Epoche des demokratischen
sophen ignorierten oder marginalisierten, noch Pluralismus charakteristisch ist, entzieht den im
zu den Nietzsche-Gegnern (Kerr, Lukács u. a.), bürgerlichen Zeitalter entworfenen Konzepten
die eine direkte Linie von Nietzsche zu Hitler von Ehe, Liebe und Familie die gesellschaftliche
ziehen wollten. Sie nähert sich damit der ambiva- und wirtschaftliche Grundlage. In der Folge ent-
lenten Position von Horkheimer und Adorno an, stehen vermehrt alternative Partnerbeziehungen,
die in ihrer »Dialektik der Aufklärung« den Ver- die nicht auf Liebe im Sinne der dauerhaften
nunftkritiker Nietzsche gegen den Antidemokra- körperlichen, geistigen und seelischen Verbin-
ten Nietzsche verteidigten. dung, sondern auf flüchtigen und zugleich inten-
siven Erlebnissen der Übereinstimmung von Kör-
per, Geist und/oder Seele basieren. Von D. H.
Eugen-Roman I
Lawrence über Simone de Beauvoir und Henry
Unter der Bezeichnung »Eugen-Roman I« ver- Miller bis hin zu Botho Strauß und Elfriede Jeli-
sammelt die Kritische Ausgabe von Ingeborg nek sind die mit diesem Wandel der Liebesauf-
Bachmanns Todesarten-Projekt acht nachgelas- fassung einhergehenden Probleme in der Lite-
sene Prosafragmente aus dessen Vorgeschichte, ratur des 20. Jahrhunderts immer wieder thema-
in denen Episoden aus dem Leben des jungen tisiert worden. Bachmanns Geschichte einer
Eugen Tobai geschildert werden. Sie zeigen den Liebe, von der nur sechs Textfragmente aus dem
etwa dreißigjährigen Protagonisten gegen Ende Nachlaß der Autorin erhalten sind, reiht sich in
des Zweiten Weltkriegs als Kriegsverwundeten in diese Tradition ein. Der Reiz der in ihr beschrie-
einem Prager Lazarett, als mittellosen Fremden benen Wochenendbeziehung zwischen einer
in Rom, wo er eine Liebesaffäre mit der als Wienerin und einem verheirateten Italiener be-
extravagant geschilderten Deutsch-Italienerin steht gerade in der Distanz, die zwischen beiden
Leda Steiner beginnt, und schließlich als Heim- Partnern erhalten bleibt und die beiden ihre in-
kehrer im Stadtpark von Wien. Obwohl die Skiz- dividuelle Freiheit sichert. So kann die Ich-Er-
zen für dieses Romanprojekt so unausgeführt zählerin im nachhinein feststellen, daß ihr italie-
blieben und/oder so lückenhaft überliefert sind, nischer Geliebter für sie »kein Mensch«, sondern
daß ein zusammenhängender Handlungsverlauf »nur ein Mann« gewesen sei (TKA 1, 49). Und
kaum erschlossen werden kann, verdienen die ihm ist umgekehrt seine Wiener Freundin »oft so
Fragmente Interesse, da sie die Entwicklung von entrückt, daß er nicht mehr erschrocken gewesen
Bachmanns Erzählstil dokumentieren. Wie Das wäre, ein Stück von einem Kometen, geschwärzt
Das dreißigste Jahr und Erzählfragmente aus dem Umfeld 125

und kalt, in seinem Bett zu finden« (TKA 1, 57). Sterben für Berlin
Die Erzählung thematisiert auch die Gefahr, daß
Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer stellte
eine solche Liebe auf Distanz – zumal wenn eine
der amerikanische Publizist Stewart Alsop in ei-
Sprachbarriere die Partner trennt – zur Bildung
nem »Spiegel«-Artikel mit der Überschrift »Ster-
von subjektiv-egozentrischen Projektionen und
ben für Berlin?« (15. 11. 1961) die Frage, ob es die
zur Entfernung von der historisch-gesellschaft-
Alliierten verantworten könnten, im Falle einer
lichen Realität führen kann. Bachmann knüpft
atomaren Eskalation des Ost-West-Konfliktes das
damit einerseits an das Thema ihres Hörspieles
Leben von 200 Millionen Menschen für die Ver-
Der Gute Gott von Manhattan an, weist aber
teidigung von 2 Millionen Berlinern aufs Spiel zu
andererseits schon auf eine Problematik voraus,
setzen. Bachmanns in Teilen autobiographische
die in einigen Texten ihres Todesarten-Projektes
Prosafragmente, deren Titel diesen Artikel zi-
(Malina, Simultan, Drei Wege zum See) eine
tiert, beschreiben die Gedanken und Empfindun-
wichtige Rolle spielen wird. Das dritte, vierte
gen eines Schriftstellers, der bei einem Besuch
und fünfte der Fragmente (TKA 1, 51–60) enthält
Westberlins und einer Stippvisite im Osten der
Reflexionen über das Verhältnis zwischen indivi-
Stadt etwas von der bedrohlichen und aggressi-
dueller und allgemeiner Geschichte, die später
ven Atmosphäre zu spüren bekommt, die hier
im Franza-Fragment (TKA 2, 270) wiederauf-
herrscht und die auf eine tieferliegende, nicht mit
genommen werden (vgl. Kommentar in TKA 1,
tagespolitischen Ereignissen erklärbare Gewalt-
515–517).
bereitschaft hindeutet. Der Text dokumentiert
Bachmanns genaue Kenntnis der politischen
Zeit für Gomorrha Lage und enthält einige Motive, die später in
ihrer Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle so-
Dieses kurze Prosafragment umreißt die Ge-
wie in Texten des Todesarten-Projektes wieder
schichte der jungen und seelisch noch ungefestig-
aufgegriffen werden (vgl. Kommentar in TKA 1,
ten Justine, die in kriminelle Gesellschaft gerät
523 f.).
und schließlich in einen Selbstmordversuch ge-
trieben wird. Nach einer anschließenden Kar-
riere als Schauspielerin »suchte sie nach einer
Der Tod wird kommen
Bindung« (TKA 1, 68) und geht eine Ehe ein, in
der sie als Partnerin eines berühmten Mannes in Dieser unvollendete Prosatext, der zuerst in der
der Bedeutungslosigkeit einer konventionellen Zeitschrift »Jahresring 76/77: Literatur und
Gattinnenrolle versinkt. Soweit die Kürze des Kunst der Gegenwart« (Stuttgart 1976, S. 88–95)
erhaltenen Textbruchstückes solche Vermutun- aus Bachmanns Nachlaß veröffentlicht wurde,
gen zuläßt, kann davon ausgegangen werden, daß enthält die klarste und schärfste Abrechnung der
Bachmanns Handlungsskizze auf die Gestaltung Autorin mit jener idealisierten Vorstellung von
einer jener Modernisierungsverliererinnen ab- der Familie, die schon in der – von Bachmann
zielt, die uns später im Todesarten-Projekt und in zitierten (W 2, 269) – Schrift »Die Heilige Fami-
den Erzählungen des Simultan-Bandes immer lie« (1845) von Marx und Engels bzw. in der
wieder begegnen und die den Pluralismus in Studie »Der Ursprung der Familie, des Privatei-
seiner pervertierten Erscheinungsform als bru- gentums und des Staats« (1884) von Friedrich
talisierten Daseinskampf am eigenen Leib zu Engels als Ideologem des bürgerlichen Zeitalters
spüren bekommen. Darauf deutet auch der Name entlarvt worden war. Mit schneidendem Sarkas-
Justine hin, der an die gleichnamigen Opferge- mus beschreibt der Ich-Erzähler seine Familie als
stalten aus de Sades La nouvelle Justine (1797) »kopflose[s] Ungeheuer« (W 2, 269), das kon-
und aus der Romantetralogie The Alexandria trolliert und bespitzelt, anklagt, verurteilt und
Quartet (1957–60) von Lawrence Durrell erin- alles beschwatzt, ohne daß ein wirklicher Aus-
nert. Bis auf den Titel und das Motiv der Passivi- tausch von Gedanken möglich wäre. Bachmann
tät lassen sich kaum Überschneidungen mit der reiht sich damit in die lange, von Hasenclever
Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha aus dem über Bronnen und Werfel bis zu Lenz oder Walser
Dreißigsten Jahr erkennen (vgl. Kommentar in reichende Reihe prominenter Autoren des 20.
TKA 1, 517–520). Jahrhunderts ein, die in ihren Werken gezeigt
126 II. Das Werk

haben, daß die am Ende des 18. Jahrhunderts manns von 1954. In: Heidelberger-Leonard (1998),
entwickelte Familienauffassung des bürgerlichen S. 67–78; – Marion Gehlker (1997): Blurring Gender
Boundaries. Desire, the Body and Writing in Ingeborg
Zeitalters unter den Bedingungen eines demo-
Bachmann’s Simultan Cycle. Diss. New York Univer-
kratischen Pluralismus nicht zu halten ist. sity; – Dirk Göttsche (2000): Auf der Suche nach der
Quellen: Theodor W. Adorno (1998): Kulturkritik und »großen Form«. Ingeborg Bachmanns erster Todesar-
Gesellschaft I (= Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. ten-Roman. In: Béhar (2000), S. 19–40; – Klaus Haber-
von Rolf Tiedemann). Darmstadt; – Maria Montessori kamm (1989): Alles oder nichts. Ingeborg Bachmanns
(1973): Frieden und Erziehung [1932]. (Hg.) Paul Os- Erzählung im Diskurs mit Max Frischs Roman Homo
wald und Günter Schulz-Benesch. Freiburg, Basel, faber. In: Modern Language Notes 104, S. 612–635; –
Wien. Judith May Harris (1983): Modes of Domination. The
Social Dimension in Ingeborg Bachmann’s Fiction.
Literatur: Achberger (1995); Albrecht (1989a); Baack-
Diss. Berkeley; – Sabine Hotho-Jackson (1994): Sub-
mann (1995); Bannasch (1997); Bartsch (1982); Beik-
versiveness in Ingeborg Bachmann’s Later Prose. In:
ken (1988); Gehle (1995); Golisch (1997); Hapkemeyer
New German Studies 18, S. 55–71; – Madeleine Marti
(1982b); Hotz (1990); Kaiser (1993); Kann-Coomann
(1992): Hinterlegte Botschaften. Die Darstellung lesbi-
(1988); Schardt (1994); Schneider (1999); Schuscheng
scher Frauen in der deutschsprachigen Literatur seit
(1987); Stoll (1991); Weigel (1999).
1945. Stuttgart; – Imke Meyer (1998): »Ein Schandge-
Karen R. Achberger (1982): Bachmann und die Bibel.
setz erkennt man, nach dem alles angerichtet ist«. Tä-
Ein Schritt nach Gomorrha als weibliche Schöpfungs-
ter-Opfer-Konstellationen in Ingeborg Bachmanns Er-
geschichte. In: Höller (1982), S. 97–110; – Monika Al-
zählung Unter Mördern und Irren. In: Modern Austrian
brecht (1993): Die Suche nach Malina. Zur Genese von
Literature 31, H. 1, S. 39–55; – Heidy M. Müller
Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt in den 50er
(1986): Verurteilt zur Liebe. Ingeborg Bachmanns Un-
und frühen 60er Jahren. In: Pattillo-Hess/Petrasch
dine. Ironische Tragödin eines säkularisierten Passions-
(1993), S. 46–56; – Susanne Baackmann (1995): »Bei-
spiels. In: Studia Germanica Gandensia 8, S. 124–139;
nah mörderisch wahr«. Die neue Stimme der Undine.
– Gerhard Neumann (1990): Christa Wolf: Selbstver-
Zum Mythos von Weiblichkeit und Liebe in Ingeborg
such – Ingeborg Bachmann: Ein Schritt nach Go-
Bachmanns Undine geht. In: German Quarterly 68,
morrha. Beiträge weiblichen Schreibens zur Kurzge-
S. 45–59; – Hans Jürgen Baden (1962): Es gibt ein
schichte des 20. Jahrhunderts. In: Sprache im tech-
Reich …. In: Frankfurter Hefte 17, S. 559–561; – Lisa
nischen Zeitalter 28, S. 58–77; – Frank Pilipp (1999):
de Serbine Bahrawy (1989): The Voice of History. An
The Desperate Desire for Transcendence in Ingeborg
Exegesis of Selected Short Stories from Ingeborg Bach-
Bachmann’s Short Prose. In: Postscript. Publication of
mann’s Das dreißigste Jahr and Simultan from the
the Philological Association of the Carolinas 16, S. 23–
Perspective of Austrian History. Bern u. a.; – Kurt
32; – Christine Planté (1988): »Ondine«, ondines –
Bartsch (1982a): »Frühe Dunkelhaft« und Revolte. Zu
femme, amour et individuation. In: Romantisme 18,
geschichtlicher Erfahrung und utopischen Grenzüber-
Nr. 62, S. 89–102; – Heike Seidel (1979): Ingeborg
schreitungen in erzählender Prosa von Ingeborg Bach-
Bachmann und Ludwig Wittgenstein. Person und Werk
mann. Habil. Graz; – Kurt Bartsch (1986): »Und der
Ludwig Wittgensteins in den Erzählungen Das drei-
Fluchtweg kommt uns nicht, wie den Vögeln, zustat-
ßigste Jahr und Ein Wildermuth. In: ZfdPh 98, S. 267–
ten.« Zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste
282; – Alfred Söntgerath (1967): Pädagogik und Dich-
Jahr. In: Barbe/Wögerbauer (1986), S. 127–150; – Kurt
tung. Das Kind in der Literatur des 20. Jahrhunderts.
Bartsch (1998): Das dreißigste Jahr und das Todesarten-
Stuttgart u. a.; – Franz K. Stanzel (1995): Theorie des
Projekt. In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 130–140;
Erzählens. 6. Aufl. Göttingen; – Andrea Stoll (1993):
– Craig Decker (1996): »wenn je etwas gut und ganz
Erinnerung und Schreibprozeß – Zur ästhetischen Re-
werden soll«. Bachmann’s Unter Mördern und Irren
levanz subjektiver und kollektiver Erinnerungsformen
and the Political Culture of the »Stammtisch«. In: Mo-
im Werk Bachmanns. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 225–
dern Austrian Literature 29, H. 3/4, S. 43–56; – Renate
238; – Ursula Töller (1998): Erinnern und Erzählen.
Delphendahl (1985): Alienation and Self-Discovery in
Studie zu Ingeborg Bachmanns Erzählband Das drei-
Ingeborg Bachmann’s Undine geht. In: Modern Au-
ßigste Jahr. Berlin; – Catherine Viollet (1995): Text-
strian Literature 18, H. 3/4, S. 195–210; – Mona El
genetische Mutationen einer Erzählung. Ingeborg
Nawab (1993): Ingeborg Bachmanns Undine geht. Ein
Bachmanns Ein Schritt nach Gomorrha. In: Schreiben.
stoff- und motivgeschichtlicher Vergleich mit Friedrich
Prozesse, Prozeduren und Produkte. (Hg.) Jürgen
de la Motte-Fouqués Undine und Jean Giraudoux’ On-
Baurmann, Rüdiger Weingarten. Opladen, S. 129–143;
dine. Würzburg; – Ruth Fassbind-Eigenheer (1994):
– Bernd Witte (1996): Ingeborg Bachmann: Undine
Undine oder Die nasse Grenze zwischen mir und mir.
geht. In: Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2.
Ursprung und literarische Bearbeitungen eines Wasser-
Stuttgart, S. 93–116.
frauenmythos. Von Paracelsus über Friedrich de la
Jost Schneider
Motte Fouqué zu Ingeborg Bachmann. Stuttgart; – Hol-
ger Gehle (1998): Die NS-Verbrechen und das Erzähl-
problem. Ein nachgelassenes »Vorwort« Ingeborg Bach-
Todesarten-Projekt: Überblick 127

5.3. Todesarten -Projekt brechen gegangen« sei, der »doch nicht vor zwan-
zig Jahren plötzlich aus unsrer Welt verschwun-
den sein« kann (TKA 2, 77).
5.3.1. Überblick
Eine frühe Interviewäußerung zu den Todes-
Der Sommer 1962, als Ingeborg Bachmann sich arten aus dem Mai 1965 bezieht die Arbeit am
im August/September in ihre Wohnung in Ueti- ersten Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) aus-
kon am See zurückzog, um – wie sie ihrem Ver- drücklich auf das lange Ringen um die ›große
leger mitteilt – sich dort »ein〈zu〉schließen« und Form‹ des Romans zurück: »Ich denke schon seit
»eine neue Arbeit anzufangen« (Briefe an Klaus vielen Jahren an diesem Roman herum, immer
Piper und Hans Rössner vom 7. 8. 1962, zitiert an demselben, mache mir Notizen und überlege
nach TKA 1, 489, 618), bezeichnet vermutlich seine Struktur.« (GuI, 56) Dem Piper-Verlag, der
den Anfang jenes umfangreichen Todesarten-Pro- schon vor dem Erscheinen von Bachmanns zwei-
jekts, das seither im Mittelpunkt ihrer literari- tem Gedichtband einen Roman zum Gegenstand
schen Arbeit stand. Diese Ausweitung war des Verlagsvertrags machen möchte (Brief an
1962/63, als Ingeborg Bachmann die frühesten Heinrich Böll, Anfang 1955) und spätestens seit
Entwürfe zu ihrem ersten Todesarten-Roman um 1958 immer wieder auf einen Roman drängt, hat
die Figuren Eugen, Fanny, Anton Marek und die Autorin offenbar erstmals im Oktober 1963
Karin Krause schrieb, aber sicherlich noch nicht definitiv von einem »Roman« berichtet und To-
abzusehen. Vielmehr ging es ihr zunächst darum, desarten als seinen Titel angegeben (Gesprächs-
in der Wiederanknüpfung an ihre Romanver- protokoll Otto Best vom Oktober 1963, Brief von
suche der 1950er Jahre, insbesondere an die Ent- Klaus Piper an Bachmann vom 30. 10. 1963); in
würfe um Eugen Tobai (Eugen-Roman I), eine einem Interview vom November 1964 deutet sie
Darstellungsform für das neue Sujet der »Todes- dann auch öffentlich an, »daß das nächste Buch
arten« zu finden, der verborgenen, ›sublimen ein Roman sein wird« (GuI, 46). Seinen Titel
Verbrechen‹ der modernen Gesellschaft, die »täg- verdankt das Todesarten-Projekt wohl dem Ab-
lich in unsrer Umgebung […] stattfinden«, wie schnitt »Viele Arten zu töten« in Bertolt
sie später in den Vorreden zum Buch Franza in Brechts Me-Ti (Brecht 1995, S. 90; vgl. Bartsch
Anlehnung an J. A. Barbey d’Aurevillys Erzäh- 1982, S. 121); Sara Lennox hat kürzlich heraus-
lung Die Rache einer Frau aus dem Zyklus Les gefunden, daß dieses »Buch der Wendungen«
Diaboliques schreibt (TKA 2, 75). Entscheidende 1965 in der Redaktion von Uwe Johnson eine
Impulse für das neue Schwerpunktthema der Neuauflage im Suhrkamp Verlag gefunden hat,
»Todesarten« dürften von Theodor W. Adornos also bald nach Johnsons und Bachmanns gemein-
im November 1959 veröffentlichtem Essay »Was samem Berlin-Aufenthalt (Brecht 1965).
bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« und Allerdings entfaltet das Todesarten-Projekt
seiner zentralen These von dem »Nachleben schon in der Arbeit am ersten Todesarten-Roman
des Nationalsozialismus in der Demokratie« eine Eigendynamik, die die Planungen der Au-
(Adorno, S. 555 f.) ausgegangen sein, der in der torin (und ihrer Verleger) immer wieder durch-
Folge eine Wende im bundesdeutschen Klima der kreuzt. Später wird Bachmann die »Verschiebung
Verdrängung einleitete und auf die in den 1960er [ihrer] Baupläne« vorsichtiger jeweils nur so weit
Jahren einsetzende Aufarbeitung der jüngsten kommentieren, wie sie »den eigenen Plan ab-
Vergangenheit vorausweist (vgl. Lennox 2003, sehen kann« (Brief an Klaus Piper vom 14. 11.
Kapitel 10: »Bachmann and Cultural Studies: 1970, zitiert nach TKA 2, 359). Hatte die Autorin
Gender and the Cold War«). Von Bachmanns im September 1965 ihren ersten Todesarten-Ro-
langanhaltender Auseinandersetzung gerade mit man noch kommentiert – er hat »Wien zum
dieser Arbeit Adornos, die sie bereits bei ihrer Schauplatz, die Zeit ist die Gegenwart« und
Bekanntschaft mit ihm anläßlich ihrer Frank- Österreich fungiert im Sinne Robert Musils als
furter Vorlesungen im Wintersemester 1959/60 »geschichtliche[s] Experimentierfeld« der mo-
kennengelernt haben dürfte (die Buchfassung dernen Gesellschaft (GuI, 64) –, so hat sie diesen
von 1963 befindet sich in ihrer Bibliothek), zeugt Roman im weiteren Verlauf des Jahres wohl zu-
nicht zuletzt die in den Vorreden zum Buch nächst zurückgestellt, dann aber vollständig auf-
Franza formulierte Frage, »wohin der Virus Ver- gegeben, denn sein thematisch-motivisches Ma-
128 II. Das Werk

terial, seine Figuren und seine Darstellungsmit- Auch das 1966 parallel zum Buch Franza ent-
tel werden in den jüngeren Todesarten-Texten – standene Requiem für Fanny Goldmann, die aus-
im Buch Franza, im Requiem für Fanny Gold- gelagerte und völlig neue Verarbeitung des
mann, später in Malina und im Goldmann/Rott- Fanny-Stoffes aus dem ersten Todesarten-Roman,
witz-Roman – neu verarbeitet. Schon im Herbst wird Ende 1966 als eigenständige Erzählung wie-
1965 beginnt Bachmann mit der Arbeit an jenem der aufgegeben. Sie wird jedoch in den seit dem
zunächst ebenfalls Todesarten genannten Roman Winter 1966/67 neu entstehenden Goldmann/
um Franziska Ranner, der posthum unter dem Rottwitz-Roman eingearbeitet, der – das poly-
Titel Der Fall Franza bekannt geworden ist, für zentrische Strukturmodell des ersten Todesarten-
den Bachmann im Verlagsbriefwechsel jedoch im Romans wiederaufgreifend – in seiner Rahmen-
Frühjahr 1966 den Titel Das Buch Franza fest- handlung um den Erzähler Malina und einen
gelegt hat. (Dieser Roman »heißt« keineswegs jungen österreichischen Schriftsteller auf der
»mal ›Der Fall Franza‹, mal ›Das Buch Franza‹« Frankfurter Buchmesse die »Todesarten« der
[Weigel 1999, S. 513], vielmehr wird der Titel österreichischen Schauspielerin Fanny Gold-
Der Fall Franza von Bachmann nur ein einziges mann und der deutschen Journalistin Eka Kott-
Mal in der Verlagskorrespondenz genannt [Brief witz (später Aga Rottwitz) ineinander spiegelt.
an Klaus Piper vom 3. 6. 1966], dort jedoch im Gleichzeitig beginnt Ende 1966 auch die Arbeit
Rückblick auf die beiden aufgegebenen Titelmög- an dem Roman Malina, der seit Mitte 1967 in
lichkeiten Franza oder Der Fall Franza, die spä- Absprache mit Bachmanns neuem Verleger Sieg-
ter nie wieder zur Debatte stehen [Brief an Klaus fried Unseld ins Zentrum ihres Schreibens rückt
Piper vom 14. 11. 1970].) und der einzige zu Lebzeiten abgeschlossene und
In einer Lesung in Zürich trägt sie am 9. Januar veröffentlichte Todesarten-Roman werden sollte.
1966 bereits ein »Rohmanuskript« dieses neuen Die weiblich-männliche Doppelfigur Ich/Malina
Romans vor (TKA 2, 18), bei einer Lesereise und das imaginäre »Ungargassenland« bilden den
durch Norddeutschland im März 1966 dann Ausgangspunkt der Romanentstehung, bei einem
schon weitgehend ausgearbeitete Fassungen der Klagenfurtaufenthalt Ende 1967 findet Bachmann
Kapitel »Heimkehr nach Galicien« und »Die für den »Mittelteil« die Lösung des Traumkapi-
ägyptische Finsternis«, letzteres zugleich eine tels (Brief an Siegfried Unseld vom 4. 1. 1968,
Neuverarbeitung zentraler Motive aus ihrem Wü- zitiert nach TKA 3.2, 792), und die Entwürfe und
stenbuch (1964/65), dem literarischen Ertrag ih- Reinschriften zeigen bis zuletzt die intensive Ar-
rer Reise nach Ägypten und in den Sudan im beit an der komplexen dialektischen, reflexiven
April/Mai 1964. Die für das Mittelstück des Kapi- und musikalischen Struktur dieses Romans, der
tels »Die ägyptische Finsternis« vorgesehene Ein- 1971 als »Ouvertüre« zu einem geplanten Todes-
arbeitung der mit Wadi Halfa assoziierten sym- arten-Zyklus erscheint (GuI, 95).
bolischen Erfahrung einer utopischen Gegenwelt Die Erweiterung der Todesarten von einem
zur kritisierten europäischen Welt allerdings ist einzelnen Roman zu einem geplanten Zyklus
unausgeführt, und auch das Kapitel »Jordanische vollzieht sich bereits am Übergang vom ersten
Zeit«, dessen konkurrierende Entwürfe teils im Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) zum Buch
Umkreis der Lesereise vom März 1966, teils erst Franza. Schon im Februar 1966 ist im Verlags-
im Sommer 1966 entstehen, bleibt fragmenta- briefwechsel von den »weiteren Bänden des ge-
risch. Im Herbst 1966 wird das Buch Franza planten Zyklus« (jenseits des Franza-Romans)
schließlich zurückgestellt, da »das Manuskript« die Rede (Brief Hans Rössners an Bachmann vom
der Autorin nun vorkommt »wie eine hilflose 25. 2. 1966, zitiert nach TKA 2, 393); in Vorrede-
Anspielung auf etwas […], das erst geschrieben Entwürfen aus dem Frühjahr 1967 meint der
werden muß« (Brief an den Lektor Otto Best vom »Titel« Todesarten, der Anfang 1966 noch den
25. 11. 1966, zitiert nach TKA 1, 626). Das »rich- Franza-Roman bezeichnete, nun das geplante li-
tige Verarbeiten dessen, was schon da ist« (Brief terarische »Kompendium der Verbrechen, die in
an Hans Rössner vom 22. 12. 1966, zitiert nach dieser Zeit begangen werden«, als ganzes, »ein
TKA 1, 626), führt statt zur Überarbeitung dieses Buch, das aus mehreren Büchern besteht« (TKA
Romans jedoch zu einem nochmaligen Neuan- 2, 359, 361), und im Juni 1967 wird Malina
satz. ausdrücklich als »Beginn« bzw. »Introitus« dieses
Todesarten-Projekt: Überblick 129

geplanten Todesarten-Zyklus festgelegt (Brief an ment blieben (Kommentar in TKA 1, 615). Hierzu
Siegfried Unseld vom 26. 6. 1967, Brief Unselds gehören neben den bereits genannten Texten
an Bachmann vom 8. 6. 1967, zitiert nach TKA auch die Büchnerpreis-Rede Ein Ort für Zufälle
3.2, 791). Auf konkrete Äußerungen über die (1964), die in der Traumkonzeption ihrer frühen
Zykluskomposition ließ Bachmann sich jedoch Entwurfsstadien auf das zweite Kapitel des Ma-
nicht ein und deutete lediglich an, daß auch bei lina-Romans vorausweist, und das Wüstenbuch;
ihr jenes typische Verfahren literarischer Zyklus- beide Textgenesen sind zudem aufs engste mit-
bildung zu erwarten war, das sich an Honoré de einander und mit dem Buch Franza verflochten.
Balzacs Romanzyklus La comédie humaine an- Zum Todesarten-Projekt gehören auch die Si-
lehnt und sich beispielsweise auch in Günter multan-Erzählungen und andere in diesem Um-
Grass’ Danziger Trilogie (1959–1963) findet: Sie kreis entstandene Erzählentwürfe (Rosamunde,
könne »nur sehr wenig« darüber sagen, gab sie Freundinnen u. a.), an denen Bachmann in den
nach dem Erscheinen der »Ouvertüre« Malina Jahren zwischen 1966/67 und 1972 gearbeitet
an, »außer daß einige Personen, die hier auftau- hat. Zwar hat sie in den Entwürfen zu einer
chen und deren Namen fallen, daß die in den Vorrede für die Simultan-Erzählungen gelegent-
späteren Büchern vorkommen werden, aber dann lich nahegelegt, sie habe »in einer Zeit, in der
dort Hauptrollen spielen oder wichtige Rollen [sie] finster und angestrengt versuchte, mit dem
haben« (GuI, 96, vgl. 127). Als Anschlußtexte an Buch Todesarten zurechtzukommen, vor allem
die »Ouvertüre« Malina plante die Autorin zuletzt mit dem ersten Band [Malina, M. A./D. G.] und
eine Ausarbeitung des Erzählfragments Gier aus dessen unsinnlichen Partien«, diese »komischen
dem Umkreis der Simultan-Erzählungen und den Geschichten« von »Wienerinnen« gewisserma-
Goldmann/Rottwitz-Roman, der jedoch eben- ßen zu ihrer eigenen »Entspannung« geschrieben
falls Fragment geblieben ist (undatierter Brief an (TKA 4, 3, 12). Wieviel Selbststilisierung sich in
Siegfried Unseld vom Sommer 1972). Angesichts diesen für die Veröffentlichung geschriebenen
der mehrfachen Konzeptionswechsel, die den li- Vorreden verbirgt, läßt sich jedoch nicht zuletzt in
terarischen Arbeitsprozeß an den Todesarten der gleichzeitig entstandenen Verlagskorrespon-
kennzeichnen, muß allerdings offen bleiben, wel- denz ablesen. Denn als der Verleger Klaus Piper
che Texte in welcher Gestalt und Reihenfolge den ihr nach der Lektüre der Erzählungen seine
geplanten Zyklus tatsächlich ausgemacht hätten, Freude über den neuen leichten Tonfall der Er-
wäre er durch den tragischen Tod der Autorin zählungen mitteilt, weist sie ihn dezidiert darauf
nicht vorzeitig abgebrochen. hin, daß »man sich« eine »›leichte Hand‹ […] nur
Im Zuge seiner Entfaltung umfaßt das Todes- sehr schwer erwirbt« (Brief an Klaus Piper vom
arten-Projekt jedoch mehr Texte als jene, die 14. 11. 1970). Und vor allem schreibt sie in den
ausdrücklich Gegenstand der sich entwickelnden gleichen poetologischen Entwürfen zum Simul-
Zyklusplanung Ingeborg Bachmanns sind. Schon tan-Band ihren »Wienerinnen« ein »Abstürzen in
der erste Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) die letzten Dinge« aus der »Banalität ihrer Exi-
ist kein Teil des geplanten Zyklus, und doch hat stenz« zu (TKA 4, 3); diese Frauenfiguren, »die
er nicht nur den Titel Todesarten hervorgebracht, am Rande von meinem Hauptbuch lebten, aber
sondern ist zweifellos auch die wichtigste Keim- dort keinen Platz fanden« (TKA 4, 12), sind mit-
zelle jenes Komplexes von Erzähltexten, die hin nicht nur durch das gemeinsame Figurennetz
durch die Problemstellung der »Todesarten« mit- mit dem engeren Todesarten-Zyklus verbunden,
einander verknüpft sind. In Abgrenzung von der sondern auch thematisch-motivisch und poetolo-
engeren Zyklusplanung Ingeborg Bachmanns gisch. So entwirft Bachmann für die Simultan-
(Todesarten-Zyklus) meint der Begriff »Todesar- Erzählungen in Anspielung auf Honoré de Bal-
ten-Projekt« daher all jene Texte, die unter dem zacs Zyklus La comédie humaine das Projekt
Leitbegriff der »Todesarten« »thematisch-moti- einer literarischen Sittengeschichte der Zeit
visch, genetisch und zum Teil auch zyklisch aufs (TKA 4, 10, 15) und verweist damit unmittelbar
engste miteinander verknüpft sind« in jenem auf ihr Verständnis der Todesarten als ein »Bild
»übergreifenden literarischen Arbeitsprozeß, der letzten zwanzig Jahre […], immer mit dem
dessen Stationen und Ergebnisse in wesentlichen Schauplatz Wien und Österreich« (GuI, 66). Wie
Teilen zu Lebzeiten unveröffentlicht« und Frag- der geplante Zyklus »eine einzige große Studie
130 II. Das Werk

aller möglichen Todesarten« werden sollte (GuI, Fanny Goldmann, Goldmann/Rottwitz-Roman,


66), so befassen sich auch die Simultan-Erzäh- Gier); die Simultan-Erzählungen werden in ei-
lungen nach dem Verständnis ihrer Autorin mit nem eigenen Artikel behandelt, das Wüstenbuch
den ›sublimen Verbrechen‹ der modernen Ge- und Ein Ort für Zufälle finden sich in dem Artikel
sellschaft. Bachmann hat diese Erzählungen kei- »Künstlerische und journalistische Prosa«.
neswegs »ausdrücklich aus dem Projekt heraus- Quellen: Theodor W. Adorno (1977): Gesammelte
genommen« (Weigel 1996, S. 354), im Gegenteil, Schriften. (Hg.) Rolf Tiedemann et al., Bd. 10.2 (Kul-
nach dem Erscheinen des Simultan-Bandes im turkritik und Gesellschaft II). Frankfurt/M.; – Bertolt
Herbst 1972 und in bezug auf diesen formulierte Brecht (1965): Me-ti. Buch der Wendungen. Redaktion
sie jenes Statement, das inzwischen als Pro- Uwe Johnson. Frankfurt/M.; – Bertolt Brecht (1995):
gramm der Todesarten gilt: »Zu sagen, was neben Buch der Wendungen. In: Brecht: Große kommentierte
Berliner und Frankfurter Ausgabe. (Hg.) Werner Hecht
uns jeden Tag passiert, wie Menschen, auf welche et al., Bd. 18 (Prosa 3). Berlin, Weimar, Frankfurt/M.
Weise sie ermordet werden von den andern, das
muß man zuerst einmal beschreiben, damit man Literatur: Bartsch (1982); Bartsch (1997); Höller
(1999); Lennox (2003); Weigel (1999).
überhaupt versteht, wie es zu den großen Morden
Monika Albrecht (1998): Text-Torso oder Trümmer-
kommen kann.« (GuI, 116; vgl. Albrecht 1998, feld? Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt im Jahr
S. 31–34) Obwohl die Simultan-Erzählungen 1973. In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 28–46; –
eine eigene Gruppe bilden und kein Bestandteil Albrecht/Göttsche (1995): Textkritische Kommentare
des geplanten engeren Todesarten-Zyklus sind, in TKA 1–4, Editorisches Nachwort in TKA 1, 615–695;
gehören sie also dennoch kontrapunktisch zum – Sigrid Weigel (1996): Entwicklungslogik statt Spuren-
lektüre. Zur Edition von Ingeborg Bachmanns Todes-
übergreifenden Todesarten-Projekt.
arten-Projekt. In: Merkur 50, S. 350–355.
In textgenetischer Hinsicht läßt sich die Ver- Monika Albrecht und Dirk Göttsche
flechtung der Einzeltexte im Todesarten-Projekt fol-
gendermaßen veranschaulichen (vgl. TKA 1, 620):
5.3.2. Malina
Todesarten 〈Eugen-Roman II〉
(1962/63–1965)
Rezeption und Struktur
Malina ist bekanntlich der einzige zu Lebzeiten
EIN ORT FÜR ZUFÄLLE (1964/65) Ingeborg Bachmanns publizierte Text aus dem
Wüstenbuch (1964/65) geplanten Todesarten-Zyklus – und das mittler-
weile am meisten interpretierte Prosastück der
Ein Buch Franza (Todesarten) österreichischen Autorin. Als der Roman am 17.
Requiem für Fanny
(1965/66) Goldmann (1966) März 1971 erschien, beendete er eine mehrjäh-
rige Publikationspause Bachmanns. Dies und die
»Malina-Promotion-Tour« (Hotz 1990, S. 152) –
MALINA 〈Goldmann/Rottwitz-
(1966/67–1971) Roman〉 (1966/67 ff.) zwei Lesetourneen 1971, persönliche Werkkom-
mentare Bachmanns in verschiedenen Inter-
views, stilisierte Lesungsberichte in den Feuil-
›Wienerinnen‹ (1967/68ff.) letons, die vor allem der Leseperformance und
Rosamunde (1964, 1967/1968)
Freundinnen u. a.
dem Äußeren der Autorin galten – ließen den
SIMULTAN:
Roman zum Zeichen eines glanzvollen Comeback
Simultan (1967/68–1972) der einst vor allem als Dichterin gefeierten
Probleme Probleme Schriftstellerin werden. Trotz seiner komplexen
Ihr glücklichen Augen
Das Gebell und nicht immer leicht verständlichen Struktur,
Gier (1970 ff.)
Drei Wege zum See (1971/72) trotz seiner ›Unzeitgemäßheit‹ vor dem Hinter-
grund des Politisierungsprozesses der 68er Revo-
lution, der sexuellen Freizügigkeit und der zeit-
Die nachfolgenden Artikel widmen sich zu- genössischen Forderung nach Dokumentarlite-
nächst den Romanen Malina und Das Buch ratur, avancierte der »Außenseiter«-Roman
Franza, dann den übrigen Todesarten-Fragmen- wochenlang zum Bestseller – Kopf an Kopf mit
ten (erster Todesarten-Roman, Requiem für Erich Segals Love Story und mit Hildegard Knefs
Todesarten-Projekt: Malina 131

Der geschenkte Gaul (»Autoren. Gut im Rennen«, menfügung‹ und enge Verzahnung alter, oft frag-
in »Wochenpresse«, 14. 7. 1971). mentarisch gebliebener Textkonzeptionen ver-
Zahlreiche Kritiker erhoben hingegen schwere schiedene narrative Ebenen übereinander und
Vorwürfe: Der Roman sei schwach und wirr, führt sie teilweise auch gegeneinander, so daß die
peinlich und gänzlich mißraten (Marcel Reich- Erzählperspektive nicht immer eindeutig ist.
Ranicki in der »FAZ« vom 28. 9. 1974 und vom Resultat dieser Textgenese sind vielfache intra-
16. 9. 1980), er treibe einen kompliziert selbst- textuelle Bezüge innerhalb des Romans (vor al-
gefälligen Schabernack mit Identitäten (Wir- lem im Hinblick auf die Handlung und das Perso-
sing), er sei diffus und wabere ins Ungefähre nal), die auf andere Motive oder Texte des Todes-
(Jürgen P. Wallmann in »Die Tat« vom 6. 3. 1971), arten-Projektes verweisen und den Roman
rinne in leere Floskeln aus (Heißenbüttel) und gleichsam als Teil einer Gesamtkomposition und
ähnliches mehr. Zum Teil entbinden sich die rhizomatischen Vernetzung kennzeichnen (Wei-
Rezeptionswidersprüche, wo sie nicht einer Er- gel 1999, S. 343). Verstärkt wird die so erzielte
wartungshaltung gegenüber der Lyrikerin Bach- strukturelle Offenheit des Romans durch zahl-
mann entspringen, aus dem Text selbst, der auf reiche intertextuelle Verweise auf Literatur, Phi-
Vieldeutigkeit angelegt ist und durch dessen Ge- losophie, Musik und Kulturgeschichte sowie
nese ein heterogenes, schwer einzuordnendes durch die Auflösung der Gattungsgrenzen, die
Buch entstand, das »man aus alter Gewohnheit sich im widersprüchlichen Gegeneinander von
wohl Roman nennen wird« (TKA 3.2, 787). Texten und Paratexten abzeichnet.
Die Anfänge des Romans Malina datieren bis Markiert etwa die Titelauszeichnung das Buch
1966 zurück, Vorformen einzelner Motive und als einen Roman, so verweist dagegen die Aufli-
Figuren entstanden bereits in den frühen 1950er stung der Personen zu Beginn des Textes sowie
Jahren. Ohne daraus gleich eine werkgenetische die Einheit von Zeit (»heute«) und Ort (»Wien«)
Entwicklungsteleologie ableiten zu müssen (vgl. auf ein Drama, während musikalische Anwei-
die Kritik von Weigel 1996), läßt sich Malina im sungen am Ende die Dialoge sogar partiell in
Anschluß an diese lange Konzeptionsphase als Duette verwandeln. Partiell deswegen, weil nur
Verdichtung, Verschiebung und Weiterentwick- die Partien der Ich-Figur mit Regulierungen für
lung älterer Textentwürfe verstehen (Kommentar Tempo, Lautstärke, Ausdruck und Emotionali-
in TKA 3.2, 785–801): »Für mich spielt das eine tätsgraden versehen sind, die ihres Dialogpart-
große Rolle beim Schreiben«, so Ingeborg Bach- ners jedoch nicht. Andere Passagen, die als Text
mann 1971 in einem Interview, »daß alles inein- im Text graphisch hervorgehoben sind, lassen
ander verschränkt ist. Ich habe ja fast 1000 Seiten sich als Märchen deuten (»Es war einmal«; TKA
vor diesem Buch geschrieben, und diese letzten 3.1, 348), werden jedoch als »Legende« bezeich-
400 Seiten aus den allerletzten Jahren sind dann net (TKA 3.1, 347).
erst der Anfang geworden, der mir immer gefehlt Analog zu den Schwierigkeiten einer formalen
hat.« (GuI, 96) Gattungsfestlegung bleiben auch die inhaltlichen
Als »Ouvertüre«, aber zugleich auch Endpunkt Bestimmungen uneindeutig. Während der von
eines langen Schreibprozesses, bezeichnet Ma- Bachmann verfaßte Text auf dem Rückumschlag
lina den Kondensationspunkt einer zyklischen der Originalausgabe eher von einer Mordge-
Struktur, die das gesamte Todesarten-Projekt schichte und einem Krimi kündet (TKA 3.2, 742),
prägt (vgl. Göttsche 1992, S. 188). Dabei erweist läßt die Innenseite des Klappentextes eine (un-
sich der Roman in doppeltem Wortsinn als eine glückliche) Romanze und ein Buch über die Liebe
»Komposition«: Zum einen durchzieht Bach- erwarten (TKA 3.2, 740 f.).
mann den Roman mit wiederkehrenden The- Ebenso vielschichtig und polyphon ist das nar-
men, Motiven und Variationen und stellt die Par- rative Verfahren. Ausgehend von einer schreiben-
allelität ihres Verfahrens zur Komposition musi- den Ich-Figur, die jegliche Erzählmöglichkeit be-
kalischer Stücke bewußt aus – auch indem streitet, erweist sich das Verfertigen einer kohä-
zahlreiche musikalische Intertexte (Noten, Li- renten Geschichte als problematisch, und diese
bretti, Anspielungen auf Sängerinnen und Kom- Problematik schlägt sich in der offenen Struktur
ponisten etc.) in den Roman einmontiert werden. nieder. Zwischen lückenhaften ›Telefongesprä-
Zum zweiten lagert die (im Wortsinn) ›Zusam- chen‹, monologischen Duetten, Interviews, pseu-
132 II. Das Werk

dotherapeutischen Traumanalysen, dem Legen- Figurenanlage und Inhalt


dentext mit seinen utopischen Projektionen, so-
Bereits die Verlagshinweise zur Erstausgabe ver-
wie zahllosen Zitaten und Anspielungen auf die
merken explizit, daß die Ich-Figur und Malina –
Literatur- und Kulturgeschichte nähert sich die
entgegen der gesonderten Aufführung im Perso-
Ich-Figur zwar scheinbar ihrer eigenen »dunklen
nenverzeichnis zu Beginn des Buches – keine
Geschichte« (TKA 3.1, 490), jedoch bleibt diese
eigenständigen Personen darstellen. Vielmehr
bis zuletzt ›verschwiegen‹ (TKA 3.1, 292) und
bilden sie offenbar zwei Aspekte eines (stereo-
narrativ nicht zu fassen. Weder erfährt der Leser
typen) geschlechtlichen Binarismus. Wie in der
oder die Leserin den Namen des sprechenden
Forschung wiederholt angemerkt wurde, reprä-
Ich, noch wird deutlich, um welche Geschichte es
sentiert das erzählende Ich dabei die weibliche,
sich genau handeln könnte, noch wird eindeutig
emotional-subjektive Seite, Malina hingegen die
gesagt, worin der Grund für die Erzähl- und
männliche, rational-objektive Seite. Auch die
Erinnerungsschwierigkeiten liegt, mit denen die
dritte Hauptfigur (Ivan) wurde bereits als eine
Ich-Figur sich von Anfang an auseinandersetzen
weitere psychische Manifestation des erzählen-
muß. Geheimes Zentrum bleibt so eine Leer-
den Ich gedeutet (Hartlaub, S. 146; Summerfield
stelle, welche die Ich-Figur nicht zu füllen ver-
1976, S. 38). Bachmann selbst gab dafür in einem
mag – unter den Überschriften »Todesarten« oder
Interview erste Hinweise (GuI, 88). Der Roman
»Die ägyptische Finsternis« (ein Verweis auf das
ermöglicht so stets zwei Lesarten, ohne aber in
Buch Franza) produziert sie lediglich leere Sei-
einer völlig aufzugehen: die einer konventionel-
ten (TKA 3.1, 333). Am Ende übergibt die Ich-
len Dreiecksgeschichte und die eines intrapsy-
Figur dem Titelhelden Malina resigniert alle ihre
chischen Konfliktes.
»Wortscherben« (TKA 3.1, 671): »Übernimm du
Auch andere Figuren werden nicht unbedingt
die Geschichten, aus denen die große Geschichte
eindeutig der einen oder anderen Möglichkeit
gemacht ist. Nimm sie alle von mir.« (TKA 3.1,
zugeordnet. Die Haushälterin Lina etwa könnte,
688 f.)
bereits durch den Namen als eine Abspaltung von
Wie Bachmann in einem Interview erklärte,
Malina charakterisiert, ein weiterer Teilaspekt
war mit dem zweiten Band des Todesarten-Pro-
der Ich-Figur sein. Ellen Summerfield hat daher
jektes tatsächlich eine Art Fortsetzung von Ma-
vorgeschlagen, den Roman durchgehend als Auf-
lina mit neuem Erzähler geplant: »Ja. Malina
lösung einer Einzelfigur zu lesen (ähnlich neu-
wird uns erzählen können, was ihm der andere
erdings wieder Schneider 1999, S. 268, der den
Teil seiner Person, das Ich, hinterlassen hat.«
Begriff der »Facettenfigur« bevorzugt). Dem ent-
(GuI, 96) Allerdings steht dieser Ankündigung
spräche zugleich die Heterogenität der Erzählfä-
entgegen, daß Malina, die neu gewonnene »ob-
den. Für die Theorie eines solchen ›Romans des
jektiv[e]« und »souverän[e]« Position eines »to-
Nebeneinander‹ wären jedoch alle Figuren zu
tal[en]« Erzählens (TKA 3.2, 740), am Ende des
überprüfen, auch die nicht im Personenverzeich-
Romans das »Vermächtnis« der Ich-Figur zerreißt
nis aufgenommenen – beispielsweise der Vater,
und wegwirft (TKA 3.1, 693). In der Bachmann-
der die Träume der Ich-Figur im zweiten Kapitel
Forschung wird dies seit Beginn der feministi-
beherrscht, die Schwester Eleonore, Melanie,
schen Rezeption als Anklage gegen die typisch
Lily, Herr Ganz, Martin Ranner, Alexander Fleis-
patriarchale Verdrängung weiblicher Autorschaft
ser, Herr Mühlbauer, die Altenwyls, Fräulein Jel-
zugunsten eines männlichen Autors und als Kri-
linek u. a. Insgesamt lassen sich außerhalb der
tik an der nur vorgeblich objektiven, auktorialen
Legenden-Erzählung über 70 Figuren ausma-
Erzählposition gedeutet. Nach Bachmanns eige-
chen, die ein- oder auch mehrmals erwähnt wer-
ner Aussage erwies sich das Ich (wohl mitsamt
den (Hapkemeyer 1984, S. 353; Schleith, S. 49–
seinen Hinterlassenschaften) jedoch als »subjekt
56) und zum Teil in anderen Todesarten-Texten
und unbrauchbar« (TKA 3.2, 740), und Malinas
wieder auftauchen.
Handeln scheint als Ausdruck dieser Auffassung
Abgesehen vom Personenverzeichnis, das also
die radikale Überwindung einer verworfenen Er-
letztlich nur ein Teilverzeichnis darstellt, ist das
zählposition vorzuführen.
Buch formal in weitere vier Teile untergliedert:
drei Kapitel und ein Vorkapitel. Graphisch her-
Todesarten-Projekt: Malina 133

vorgehoben, bildet zudem die Legende gleich- dem Synonym für ›Mann‹ in Undine geht) dem
sam einen vertikal zur horizontalen Achse der Ich vorgeblich eine auf ungeklärte Weise ver-
Kapitelgliederung angeordneten fünften Ab- lorene Ganzheit zurück (TKA 3.1, 303 f., 309).
schnitt. Hinter den Verlusten verbirgt sich nach Einschät-
Das Vorkapitel erläutert die Gründe für die zung der Ich-Figur ein Krankheitsbild und eine
gewählte Zeit und den gewählten Ort der folgen- Pathologie, welche die Ich-Figur nicht genauer
den Erzählung und markiert sowohl die Figuren benennt, jedoch als ansteckenden Infekt ein-
Malina und Ivan als auch die Ich-Figur als drama- schätzt (TKA 3.1, 308) – der Gedanke an das
tis personae und fiktive Größen (TKA 3.1, 277). »Virus Verbrechen«, das im Buch Franza explizit
Da die Erzählfigur selbst als ›ich‹ spricht, sind benannt wird, liegt nahe.
die Grenzen zwischen erzählendem und erzähl- Während die Bachmann-Forschung in den
tem Ich von Anfang an unklar. Das Ich, so könnte Sprach- und Körpersymptomen in der Regel ein
man folgern, setzt sich gewissermaßen selbst, Angstsyndrom oder Hysterie diagnostiziert und
scheint mit und in der Erzählung erst zu ent- geschlechtsspezifisch interpretiert (etwa Röh-
stehen. Ferner schildert das Vorkapitel die An- nelt, Bauer, Kanz 1999), dürften einige der pa-
fänge der Bekanntschaft zwischen dem Ich und thologischen Indizien eher auf die ästhetische
Malina, die sich gemeinsam eine Wohnung tei- Moderne zurückzuführen sein: Der Heiler Ivan
len, und deutet bereits die Dreiecksgeschichte wäre dann die Antwort auf Hugo von Hofmanns-
zwischen Ich, Ivan und Malina an, die alle in thals ›Chandos-Brief‹ und dessen Befund, daß
derselben Straße leben. Diese Straße, das »Un- die Worte eben nicht mehr »fest und faßlich«
gargassenland«, ist zugleich als imaginärer Ort (TKA 3.1, 304) sind, sondern wie modrige Pilze
gekennzeichnet, »weil sie nur in mir ihren Bogen im Mund zerfallen. Doch obwohl die Ich-Figur
macht« (TKA 3.1, 283). In dieser imaginären mit Ivan angeblich eine ›andere‹ Sprache ent-
Topographie verklammern sich subjektive und wickelt, in der sich die »Dinge« gerade nicht
objektive Wahrnehmungen, spiegelt sich Innen »empfehlen und zurückziehen zu sich selber«
und Außen, Realität und Phantasie untrennbar (TKA 3.1, 307), bleibt das Glücksbuch, welches
ineinander. das Ich für Ivan verfassen will, ungeschrieben –
Neben den Signalen für das Fiktive und für das und auch das Glückskapitel zeugt eher von schei-
Imaginäre wird im Vorkapitel erstmals die Erin- ternder Kommunikation denn von einer neuen
nerungsproblematik als strukturelle Vorausset- Sprache: »Ich bin / Was bist du? / Ich bin / Was?
zung für die nächsten Kapitel eingespielt. Denn / Ich bin glücklich / […] Es ist zu laut, ich kann
obwohl die Ich-Figur bemerkt, alles störe sie in nicht lauter / Was willst du sagen?« (TKA 3.1,
ihrer Erinnerung, wird paradoxerweise sogleich 343 f.)
im ersten Kapitel, »Glücklich mit Ivan«, erzählt, Nebenbei verweist sowohl das zweimalige »Ich
wie die Beziehung zwischen dem Ich und Ivan bin« als auch das Thema der Angst auf existenz-
begonnen hat. Dabei ist zu unterscheiden zwi- philosophische Problemstellungen: Einerseits
schen einem Haupttext, der die Ausschließlich- soll die Versicherung der eigenen Existenz durch
keit und heilende Macht der Liebe vorzuführen die Liebe erfolgen, andererseits scheitert diese
sucht, und einem im Verlauf des Kapitels immer Versicherung gerade im Entwurf einer possessi-
dominanter werdenden Subtext, der das Schei- ven Liebe, in der sich der Liebende zum Objekt
tern dieser Liebeskonzeption präsentiert, die vor in der Welt des Anderen macht (darin diskutiert
allem auf klaren geschlechtlichen Hierarchien das Kapitel gleichsam die Entwürfe Gabriel Mar-
sowie auf der Selbstaufgabe und der ›selbstge- cels und Jean-Paul Sartres). Nur kurz wird eine
wählten Unmündigkeit‹ der Ich-Figur basiert Lebenskunst entworfen (»mein Wille ›gut zu le-
(»Ich lebe in Ivan. Ich überlebe nicht Ivan«; TKA ben‹, um wieder brauchbar zu sein«; TKA 3.1,
3.1, 323). 365), bevor der Roman zunehmend die »Krank-
Der Heilungsprozeß, den der Haupttext sugge- heit zum Tode« (Kierkegaard) und das »Sein zum
riert, leitet ebenso die Überwindung einer kör- Tode« (Heidegger) thematisch zu variieren scheint.
perlichen Selbstentfremdung ein wie die Über- Am Ende, in dem Kapitel »Von letzten Dingen«,
windung einer Sprachkrise – beide Male erstattet entwirft Malina für das Ich schließlich den Zu-
Ivan (bekanntlich das russische Wort für ›Hans‹, stand der reinen Existenz: »Du wirst dort so sehr
134 II. Das Werk

du sein, daß du dein Ich aufgeben kannst.« (TKA und dadurch die Ich-Figur zum (Ein-) Geständnis
3.1, 664) Inwiefern Malina eine existenzphiloso- der ›richtigen‹ Erinnerung zu zwingen (TKA 3.1,
phische Lösung durchspielt oder verwirft, müßte 550). Während aber die Ich-Figur sich einer Er-
allerdings erst noch erforscht werden. kenntnis nähert, welche scheinbar die Traumati-
Auf einer Parallel-Ebene wiederholt das Mär- sierung erklärt (»Blutschande. Das ist doch nicht
chen von der Prinzessin von Kagran die Liebes- zu verwechseln, ich weiß, was das heißt«; TKA
geschichte zwischen der Ich-Figur und dem Un- 3.1, 552), beansprucht Malina die Deutungsho-
garn Ivan und verlagert sie zugleich auf eine heit – und durchkreuzt damit die narrative Re-
andere Zeitebene, »mehr als zwanzig Jahrhun- konstruktion einer ›authentischen‹ Vergangen-
derte« zurück. Hier tritt ein Fremder auf, der die heit und Identität des Ich: »Nein, nein, du weißt
Prinzessin zweimal rettet, doch am Ende entwirft es eben nicht […], du verwechselst sogar deine
er »schweigsam« die erste Todesart und treibt ihr Leben.« »Ich habe nur ein Leben.« »Überlaß es
selbst den tödlichen Dorn ins Herz (TKA 3.1, mir.« (TKA 3.1, 552)
356 f.). In der zyklischen Anlage von chronolo- Damit wird das Ende des Romans erneut prälu-
gischer Vorzeit und narrativer Nachzeitigkeit – diert. Während im dritten Kapitel Malina und die
die Ich-Figur schreibt diese Geschichte im 20. Ich-Figur sich in zahlreichen Dialogen buchstäb-
Jahrhundert, und sie kennt Ivan bereits über ein lich auseinander-setzen und Malina dabei einen
Jahr lang – entsteht eine Begründungsstruktur zunehmend dominanteren Part erhält, zeigt sich
der Wiederholung: Die Ich-Figur mußte Ivan die narrrative Identität der Ich-Figur immer un-
treffen und dieser wird nicht nur als Heiler, son- gewisser: Ausgestattet mit fremden Geschichten
dern auch als ›Mörder‹ der Ich-Figur auftreten. und Erinnerungen (TKA 3.1, 584), erweist sie
Diese Wiederholungsstruktur versucht das Ich im sich als ein »Ich ohne Gewähr« (W 4, 218). Auf
Roman durch die Setzung des ›Heute‹ still zu Malinas Drängen hin gibt die Erzählfigur schließ-
stellen, um sich so gegen »ein Morgen, das ich lich gänzlich den Anspruch auf ein ›ich‹ auf. Es
nicht will« (TKA 3.1, 468) zu verwahren. Aus folgt die Geschichtenübergabe an Malina, wenig
dieser Stillstellung der Zeit erklären sich auch später verschwindet das Ich in einem Riß in der
die Erinnerungs- und Erzählschwierigkeiten der Wand und wird zu einem stummen ›es‹: »es kann
Ich-Figur (ebd.). Allerdings ist deutlich, daß das nicht mehr schreien, aber es schreit doch: Ivan!«
›Heute‹ längst schon verloren ist (vgl. Hima, (TKA 3.1, 693) Übrig bleiben Malina, der die
S. 191). Und so läßt sich die Zukunft zwar noch persönlichen Gegenstände der Ich-Figur ent-
kurzfristig mit paradiesischen Visionen neu ent- sorgt, Ivan, der noch einmal die bekannte Num-
werfen (Freiheit, Gleichheit, Liebe, Güte, Poesie mer anruft, aber von Malina erfährt, daß es am
unter den Menschen, Harmonie mit der Natur). anderen Ende keine Frau (mehr) gibt, und eine
Doch im Verlauf des Ivan-Kapitels reißen die Erzählinstanz, die nach dem Verschwinden und
Visionen immer wieder ab und setzen neu an, bis Verstummen des erzählten Ich die letzten Passa-
sie unmerklich in eine postapokalyptische Land- gen vorbringt und diese mit den viel zitierten
schaft einmünden (TKA 3.1, 455). Worten schließt: »Es war Mord.« (TKA 3.1, 695)
Mit dem Rückzug Ivans wird Malina zuneh-
mend wichtiger für die Ich-Figur (TKA 3.1, 499).
Erzählproblematik
Im Anschluß an das Glück/Schlaf-Kapitel erzählt
sie Malina ihre Träume, der sie sogleich analy- Insgesamt lassen sich drei im Roman mitein-
tisch zu bearbeiten sucht. Die Schilderung von 35 ander verknüpfte Grund-›Todesarten‹ erkennen:
Traumsequenzen, in denen die Ich-Figur vom Die »mörderische Vernünftigkeit« mit der daraus
Vater gequält, getötet oder anderweitig zum resultierenden »Unfähigkeit zur Liebe« (TKA 3.2,
Schweigen gebracht wird, ist daher immer wie- 741), die Gewalt (geschichtlich, gesellschaftlich,
der von kurzen Dialogszenen unterbrochen, in geschlechtsspezifisch) sowie die spätmoderne
denen Malina nach der Wahrheit hinter den Träu- Subjektproblematik, die nicht nur mit der Frage
men forscht (und mit ihm zahlreiche Literatur- nach Erinnerung und Identität verbunden ist,
wissenschaftlerInnen, vgl. etwa Stuber, S. 153– sondern auch mit der (Un-) Möglichkeit des Er-
206). Wie ein Psychoanalytiker versucht er, Deck- zählens.
erinnerungen und Traumsymboliken aufzulösen In den Frankfurter Vorlesungen hat Ingeborg
Todesarten-Projekt: Malina 135

Bachmann dieses Problem ausführlich behandelt rative Analysen lösen das Problem mit unter-
und verschiedene Ich-Konzeptionen in der mo- schiedlichen Erzählebenen (Schneider 1999,
dernen Literatur vorgeführt: Den Versuch, auf S. 291): Fiktive Erzählrede und Figurenrede
die Erfindung des Ich zu verzichten und eine sind voneinander zu trennen (Schleith), er-
Identität zwischen Autor und Romanheld herzu- zähltes und erzählendes Ich sind solange un-
stellen (Henry Miller, Louis Ferdinand Céline), unterscheidbar, bis die Figurenrede schließ-
der sich besonders im Tagebuch als eine Maske- lich endet (Albrecht 1989a, S. 199; Grimkow-
rade mit der Ich-Form erweist. Die doppelte Ich- ski 1992, S. 87). Das verwirrende Spiel
Erzählung zwischen Rahmenhandlung und Ich- zwischen Figurenrede und übergeordneter
Bericht (Tolstoi, Dostojewski) als ein leicht Erzählinstanz ermöglicht es, das Drama der
durchschaubares Versteckspiel, hinter dem das inneren Zerrissenheit der Ich-Figur litera-
Ich sich umso besser preisgeben kann. Die Ich- risch zu inszenieren (Göttsche 1990, S. 113).
Figur, die im Erzählen ihre Katharsis sucht, sich b) Da Malina als kontrollierende Instanz fun-
aber selbst schon nicht mehr geheuer ist (Italo giert bzw. (aus feministischer Sicht) auf Ko-
Svevo). Ich-Mitteilungen, deren Subjektivität sten der Ich-Figur zum Erzähler avanciert,
sich im Objektiven aufzulösen trachtet (Marcel kommt nach deren Verschwinden in der Wand
Proust), und Ich-Figuren, die sich depersonali- auch nur der titelgebende Held als Erzähler in
sieren (Hans Henny Jahnn), bis sie schließlich im Frage (etwa Bail, S. 54, 79; Bartsch, S. 142 f.;
Versuch, gänzlich zu verschwinden, an die Bauer, S. 26; Schmitz 1998, S. 15). Diese Deu-
Grenze der Sprache vorstoßen (Beckett; vgl. W 4, tung zieht sich so und ähnlich seit Erscheinen
217–237). des Romans durch, wobei anfangs der Autorin
Jede dieser Ich-Konzeptionen läßt sich in Ma- Ingeborg Bachmann nicht selten der Vorwurf
lina wiederfinden, und je nachdem welche (oder sprachlicher und narrativer Inkonsequenz ge-
ob überhaupt eine) davon jeweils wahrgenom- macht wurde (vgl. etwa Wirsing).
men wurde, variieren die Interpretationen. Von c) Der Text spricht selbst: Die weibliche Figur
der autobiographischen Lesart bis zum poststruk- verstummt, »aber der anklagende Text über-
turalistischen Zeichenspiel, von der feministi- lebt, um von einer veränderbaren Leserschaft
schen Lektüre bis zur psychoanalytischen Dia- rezipiert zu werden« (Boa, S. 142). Am Ende
gnose, von der erzähltheoretischen Analyse bis verschwindet nicht nur die Ich-Figur, auch das
zur intertextuellen Spurensuche wird dabei im- Erzähl-Ich ist nicht mehr präsent, nachdem in
mer wieder eine Frage umkreist: Wer spricht – der ›Säuberungsaktion‹ Malinas sogar die be-
vor allem nach dem Verschwinden der Ich-Figur sitzanzeigenden Personalpronomen (»meine
in der Wand? Brille«, »meine Augen«, »mein Vermächtnis«;
Aufgeworfen wurde die Frage bereits 1971 von TKA 3.1, 693) aus dem Text entfernt worden
Hans Mayer, und sie provoziert bis heute immer sind. Unversehens wurde das narrative Ni-
neue Deutungsversuche. Dabei finden sich mitt- veau gewechselt (Brachmann 1999, S. 194),
lerweile alle potentiellen Erzählpositionen be- und hinter dem narrativen Maskenspiel kann
setzt: die Ich-Form verschwinden. Vielleicht rea-
giert das Ende des Romans damit bereits auf
a) Die Stimme des weiblichen Ich erzählt über die poststrukturalistische These vom ›Tod des
den Tod hinaus oder gegen ihn an (etwa Autors‹. Daß Bachmann diese jedoch offenbar
Baumgart, S. 148; Bossinade 1990, S. 207). kritisch wertet (»Es war Mord«) und nicht als
Das erzähllogische Paradoxon wird dabei – lustvolle jouissance, mag auch mit den ge-
vor allem in den frühen Kritiken – zumeist schlechtsspezifischen Codierungen zusam-
umgangen oder ignoriert (etwa Krolow, Woh- menhängen – schließlich ist es ein weibliches
mann, Blöcker), oder aber es wird dahin- Autorsubjekt, über das sich ein männlich-pa-
gehend gedeutet, daß eben gerade in diesem ternaler Text hinweg fortschreibt (Herrmann,
Paradoxon der Experimentcharakter und die S. 206 f.).
Fiktionalität eines letztlich unmöglichen d) Die souveräne Erzählposition hat sich zugun-
weiblichen Schreibens betont wird (Leon- sten eines multiperspektivischen und poly-
hard, S. 143; Geesen, S. 260). Neuere nar- phonen Erzählens aufgelöst (Summerfield
136 II. Das Werk

1976; Bossinade 1990, S. 221–225; Weigel Programme (Göttsche 1987, S. 199; Bossinade
1999; ähnlich auch Grimkowski 1992, S. 131). 1990, 152–170) und beide greifen in den Erzähl-
Es läßt sich daher nicht feststellen, aus wel- und Schreibprozeß der Ich-Figur, die ihrerseits
cher Perspektive am Ende erzählt wird. Hinter an einem Todesarten-Projekt arbeitet, massiv ein:
der polyphonen Figurenrede erscheint – in Obwohl bislang nur Überschriften existieren,
den Brüchen und Leerstellen – eine ›andere weiß Ivan bereits, was das Ich für ein Buch schrei-
Stimme‹, die das Erzählen im Modus der ben will und fordert das exakte Gegenteil (TKA
Unmöglichkeit dokumentiert (Kohn-Waech- 3.1, 333 f.). Malina korrigiert die Art des Er-
ter 1992, S. 30, 44, 124) und den Einbruch des zählens. Gleichzeitig stellen beide Figuren aber
Semiotischen ins Symbolische markiert paradoxerweise die Voraussetzungen für das Er-
(Röhnelt). zählen bereit: Ivan hilft der Ich-Figur, ihre
e) Der ganze Roman wird als »Dokument einer Sprachkrise zu überwinden (TKA 3.1, 304), Ma-
Lebenskrise« (Hartung) und Erzählkrise ge- lina hält sie immer wieder dazu an, ihre Erinne-
lesen und (auto-)biographisch gedeutet. Da- rungen zu ordnen.
durch wird der Kommentar der letzten Passa- Mit Malinas Hilfe scheinen im zweiten Kapitel
gen überhaupt keiner Erzählinstanz, sondern auch die unbewußten Ursachen für die Erinne-
der Autorin Ingeborg Bachmann selbst zuge- rungsstörung geklärt zu werden. Die geschilder-
schrieben. ten Träume handeln allesamt von zahllosen Ge-
walttaten seitens des Vaters. Sie reichen von
Trotz (oder gerade wegen) dieser Fülle an Inter- Schreib- und Sprechverboten über Inzest bis zum
pretationen der letzten Roman-Passagen sowie Tod der Tochter in der Gaskammer und rufen
überhaupt der Narrativik in Malina beansprucht neben kulturell gängigen Vorstellungen über die
jeder neue Beitrag für sich, nun endlich die ulti- Repressionsmechanismen des Patriarchats auch
mative Untersuchung zu diesem Thema zu prä- Bilder des Faschismus auf, um diese damit zu
sentieren (vgl. etwa Grimkowski 1992, S. 1; verknüpfen und als traumatische Urszenen für
Schneider 1999, S. 268; Brachmann 1999, die Entschlüsselung der Erzählschwierigkeiten
S. 162). bereit zu stellen.
Die Erzählproblematik stellt sich in Malina
aber nicht nur als ein formales, erzähltheore-
Psychowissenschaftliche Deutungszugänge
tisches Phänomen dar oder als Ausdruck einer
und Erinnerungsarbeit
weiteren Erzählkrise der Moderne, die – zwi-
schen dem zeitgenössischen Slogan vom ›Tod der Bereits zeitgenössische Rezensenten haben den
Literatur‹ und dem vom ›Tod des Autorsubjektes‹ Roman als »psychoanalytisches Seelendrama«
– literarhistorisch eingebettet und begründet sein (Kaiser, S. 109) oder »Geschichte einer Neurose«
mag. Auf der Erzählebene selbst werden viel- (Heißenbüttel, S. 129) gelesen. Analog dazu fin-
mehr zwei weitere Möglichkeiten angeboten: Er- den sich in der Bachmann-Forschung immer wie-
stens ist die »Begabung des Ich zur Erinnerung«, der Ansätze, den Roman als Produkt einer Ver-
die für Bachmann etwa noch Prousts Protago- drängung und die Konzeption der Ich/Malina-
nisten in der Suche nach der verlorenen Zeit Doppelung als Ich-Spaltung zu deuten (vgl. etwa
auszeichnet (W 4, 250), im späten 20. Jahrhun- Ezergailis und die Forschungsdiskussion bei
dert (nach zwei Weltkriegen, nach Vietnam und Zettl, S. 123). Eine multiple Persönlichkeit also
der Shoah) traumatisch gestört. Zweitens unter- scheint in dieser Perspektivierung die Hauptfigur
liegt das Ich, das bei Bachmann weiblich markiert des Romans zu bilden, und das Erinnerungs-
ist, Redeverboten. problem wäre dann als ein psychopathologisches
Für letztere macht in Malina die Ich-Figur Syndrom zu erklären. Indiz und körperliche Spur
ausdrücklich die männlichen Protagonisten ver- für die Verdrängungsleistung bilden die Angst-
antwortlich: in den Träumen den Vater (den ›drit- und Hysteriesymptome der Ich-Figur (etwa
ten Mann‹), ansonsten aber Malina, selbst Bauer, S. 11).
Schriftsteller und Verfasser eines apokryphen Wie Malina versuchen manche InterpretInnen,
Werks, und Ivan (TKA 3.1, 275, 287, 620). Beide die als Ursache vermutete ›dunkle Geschichte‹
Figuren stehen für unterschiedliche narrative ans Licht zu bringen, und wie die Ich-Figur fin-
Todesarten-Projekt: Malina 137

den sie diese in dem Wort »Blutschande« vorge- nicht normierbarer Vorgang und entzieht sich als
geben. Gegen vermeintliche Verharmlosungen in assoziative, unstrukturierte und irrationale Ge-
der Forschung, die den Vater weniger als reale dächtnisbewegung einem linearen Erzählen. Als
denn als symbolische Figur interpretieren (und Prozeß der Destruktion und Dekomposition
dafür entsprechende Hinweise im Text finden zwingt die Erinnerung in Malina zur Gattungs-
können), wird der Inzest mit dem Vater als pri- auflösung, zu sprachlichen Entgrenzungen (von
märer Grund des Tochter-Traumas hervorgeho- der Lühe 1993, S. 138 f.), zu Brüchen in der Er-
ben (Horn) – bisweilen auch unter Ausdehnung zählung (Stoll 1991), zur Dekonstruktion des Er-
auf biographische Spekulationen zur Autorin zählens überhaupt (Göttsche 1987, S. 200) und
selbst. Die Leerstelle, um die der Roman kreist, mündet in der völligen Zerstörung des Ich (Grim-
wäre somit gefüllt, Malina erweist sich als Be- kowski 1992, S. 170). Insofern wäre der Roman
richt eines Inzest-Opfers. gerade als Absage an das Freudsche Projekt les-
Diagnosen wie diese werden allerdings der bar. Zudem haben die Untersuchungen zur Ge-
komplexen Struktur des Romans wenig gerecht nese des Romans gezeigt, daß Malina entstanden
und können kaum der Endpunkt einer literatur- ist, als die Arbeiten am zweiten Kapitel des
wissenschaftlichen Analyse sein (ähnlich: von der Franza-Buches stockten, und daß Bachmann die
Lühe 1993, S. 136). Denn so deutlich und offen- spezifische »Technik« der Traumerzählungen für
sichtlich Bachmanns Text zunächst verschiede- den Mittelteil erst relativ spät fand: Ihr voran
nen psychoanalytischen Mustern folgen mag – ging zunächst die Idee eines »Fotoromanzos«
etwa C. G. Jungs Anima/Animus-Theorie, Sig- (Kommentar in TKA 3.2, 792). Es liegt daher
mund Freuds Traumdeutung oder Jacques La- nahe, die Traumlogik als einen darstellungstech-
cans Sprachmodell (Zettl, Costabile-Heming/Ka- nischen Kunstgriff und als Lösung für ein nar-
randrikas, Schottelius 1990) –, so sehr zitiert der ratives Problem zu deuten.
Roman offenkundig genau diese Muster als lite- Dieser Kunstgriff ermöglicht, wie es scheint,
rarische und narrative Modelle (neben vielen zwei Dinge: Einerseits Erinnerungsarbeit, Ich-
anderen) und ironisiert sie auch – z. B. wenn das Problematik und Erzählstruktur miteinander zu
erzählende Ich seine gesamte Lektüre und verketten und andererseits die vorgeführte Auf-
abendländische Bildung für ein Kochbuch auf lösung der Ich-Figur nicht allein als ein erzähl-
den Abfallhaufen der Kulturgeschichte zu werfen theoretisches oder ästhetisches Projekt der Mo-
bereit ist, »Freud, Adler und Jung« eingeschlos- derne weiter zu führen und zu radikalisieren,
sen (TKA 3.1, 371). sondern als traumatische Reaktion auf verschie-
Außerdem folgt die Suche nach der traumati- dene Formen der Gewalt in ein ethisches Pro-
schen Urszene offenkundig selbst schon einem blem zu verwandeln, um »eine neue sittliche
literarischen Modell: William Faulkners Schall Möglichkeit zu begreifen und zu entwerfen« (W
und Wahn. Ingeborg Bachmann nimmt in ihren 4, 191).
Frankfurter Vorlesungen ausdrücklich darauf Be-
zug, und Malinas seltsame Replik auf den Ver-
Zeitgenössischer Kontext und Aufarbeitung
dacht der »Blutschande« (um den auch Faulkners
der Geschichte
Roman kreist), die Ich-Figur verwechsle wohl
ihre Leben (s. o.), verweist unmittelbar auf die Zum festen Bestand der Malina-Deutungen ge-
komplizierte Zeitstruktur des Prätextes, impor- hört der Hinweis auf strukturelle Parallelen zwi-
tiert diese gleichsam in den neuen Kontext und schen Patriarchat, Kapitalismus und Faschismus,
markiert zudem eine intertextuelle Schnittstelle, der spätestens seit den 1970er Jahren zum com-
die dem psychoanalytischen Zugriff auf ver- mon sense der feministischen Bewegung gehört
meintlich verschüttete Ich-Erlebnisse literarische und in Bachmanns Roman gleichsam seine Illu-
Fiktion unterschiebt. stration gefunden hat. Vor allem in den Träumen
Letztlich schildert der Roman daher keine nar- des zweiten Kapitels werden immer wieder Ana-
rative Rekonstruktion der Erinnerung und der logien zwischen Shoah, sexueller Gewalt und
Identität (Bauer, S. 5) – etwa durch eine Freud- ökonomischer Ausbeutung hergestellt und bei-
sche Redekur –, sondern gerade das Gegenteil: des topisch in der Figur des Vaters zusammen
Erinnerung ist ein prinzipiell unabschließbarer, geführt. Die Traumaszenarien und der narrativ
138 II. Das Werk

umkreiste Erinnerungsverlust beziehen sich so knüpft, ähnelt Malina jenen ab 1970 zahlreich
keineswegs allein auf individualpsychologisch entstehenden Versionen historischer und (auto-)
deutbare Geschehnisse, sondern auch auf die kol- biographischer ›Trauerarbeit‹, die nicht selten
lektive Kriegs- und Nachkriegsgeschichte (vgl. um eine (nationalsozialistische) Vaterfigur herum
etwa Gehle 1995; Weigel 1999, S. 25). zentriert werden (Herrmann). Dem Genre der
Malina kann einerseits als eine Reflexion über ›Väterliteratur‹ entspricht auch, daß der Weg aus
die mit dem ›Zivilisationsbruch Auschwitz‹ ver- der Erzählkrise nach dem propagierten ›Tod der
bundene Krise des Darstellens gelesen werden. Literatur‹ ins jeweilige Innere der Hauptfigur
Andererseits zielt der Roman mit seiner dialekti- führt und die literarhistorische ›Tendenzwende‹
schen Bewegung von Erinnern und Vergessen auf weg von der littérature engagée hin zu einer
eine ›Gedächtnisarbeit‹ in der Sprache, die das selbstbezüglichen ›Neuen Innerlichkeit‹ und
vermeintlich Entzogene der Shoah und die ver- ›Neuen Subjektivität‹ einleitet. Malina könnte
meintliche Vergangenheit des Krieges in die Ge- mit seinem nach Innen verlegten Schauplatz als
genwart überführt: »Es ist ein großer Irrtum zu Teil dieser Bewegung verstanden werden. Aus-
glauben, daß man nur in einem Krieg ermordet drücklich plädiert Bachmann denn auch 1971 für
wird oder nur in einem Konzentrationslager – die Exhumierung der literarischen Scheinleiche
man wird mitten im Frieden ermordet.« (GuI, 89) (GuI, 78), nachdem sie bereits 1955 die Diskus-
Insofern geht es in Malina weniger um die hi- sion zwischen littérature pure und littérature en-
storischen Ereignisse der Nazizeit selbst als um gagée für veraltet erklärt hat (GuI, 11). Anderer-
das Fortwirken faschistischer Strukturen im All- seits läßt sich der Roman mit der aufgeworfenen
tag der Nachkriegszeit (GuI, 144), um den histo- Subjektproblematik und dem Verschwinden der
risch begründeten Utopieverlust (Vietta, S. 109) Ich-Figur durchaus als eine frühe Kritik an einem
und um das Psychogramm einer (post-) katastro- ›subjektiven‹ Erzählen deuten.
phischen Befindlichkeit (vgl. Botz). Profiliert wird die Reflexion über den Zusam-
Für die Auseinandersetzung mit ›Auschwitz‹ menhang von individueller Geschichte und Hi-
gibt es sowohl biographische als auch literarhi- storie in Malina vor dem Hintergrund der gesell-
storische Begründungen. So hat Ingeborg Bach- schaftlichen Realität Österreichs und einer spe-
mann den Einmarsch deutscher Truppen in Kärn- zifischen kulturellen Identität. Der Roman
ten als traumatisches Jugenderlebnis geschildert: dokumentiert so auch ein Stück österreichischer
»Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Zeit- und Alltagsgeschichte (Göttsche 1998). Ne-
Tag meine Erinnerung anfängt« (GuI, 111). Als ben dem Nationalsozialismus rekurriert der Ro-
Erinnerungs-Urszene, die historisch nicht be- man dabei auf den »Zusammenbruch der Monar-
zeugt ist – je nach Zeugenaussage lag Ingeborg chie« (TKA 3.1, 298) als einem weiteren wichti-
Bachmann zu diesem Zeitpunkt mit Grippe im gen historischen Bezugspunkt, an den die zweite
Bett bzw. mit Diphtherie im Krankenhaus oder österreichische Republik in der Nachkriegszeit
war im Ski-Urlaub (Brokoph-Mauch, S. 190; mit dem habsburgischen Mythos wieder anzu-
Weigel 1999, S. 316) –, markiert dieser nachträg- knüpfen suchte. Der auch in Malina propagierte
lich gesetzte Erinnerungsursprung eine biogra- ›Austritt aus der Geschichte‹ wird von Bachmann
phisch bedeutungsvolle Zäsur in der Wahrneh- entgegen zeitgenössischer Nostalgie und Ver-
mung eines historischen Kontinuums. Von noch drängungsstrategie jedoch gerade nicht in eine
größerer Bedeutung für das Bewußtsein gegen- rückwärts gerichtete, konservative Geschichts-
über dem eigenen historischen Ort dürfte Bach- manipulation überführt, sondern gleichsam als
manns Begegnung mit Paul Celan gewesen sein eine postnationale Utopie von Sprachen- und
(Weigel 1999, S. 25). Kulturenvielfalt in einem »Haus Österreich« ent-
Zugleich entsprechen Faschismuskritik und In- worfen – grenzüberschreitend und deterritoriali-
einanderblendung von Privatem und Politischem siert (TKA 3.1, 391–398; vgl. Schmid-Borten-
gängigen zeitgenössischen Überzeugungen. In- schlager, S. 26).
dem Bachmanns Roman Familie und Gesellschaft Mit dem Habsburger Mythos greift der Roman
(den »allergrößte[n] Mordschauplatz«; TKA 3.1, auf einen Topos österreichischer Literatur zu-
617), individuelle Traumatisierung der Ich-Figur rück, in den er sich auf vielfältige Weise ein-
und kollektive Geschichtsbilder miteinander ver- schreibt und von dem er sich zugleich distanziert.
Todesarten-Projekt: Malina 139

Deutlich wird dies etwa an der Legende vom Mühlbauer, mir fällt die Wiener Nachtausgabe
edlen Ritter Prinz Eugen, der die Türken schlug ein, Herr Mühlbauer bangt vielleicht schon um
und die Festung Belgrad einnahm. Nicht zufällig seinen Job, ich muß auch ein wenig an Herrn
nennt die Ich-Figur in Malina ihr alter ego im Mühlbauer denken.« (TKA 3.1, 392) Die Komik
Eingedenken an dieses erste erlernte Lied mit zielt hier in ironischer Absicht auf einen von
dem ersten erlernten Männernamen zunächst Mühlbauer verkörperten politisch opportunen,
»Eugenius« (TKA 3.1, 288). Auf der Figuren- aufdringlich indiskreten und nichts weniger als
ebene spiegelt sich so noch einmal die Werk- investigativen Journalismus, der immer diesel-
genese der Todesarten, in welcher der Historiker ben Fragen stellt (im Roman sind diese daher
Eugen Tobai früherer Romanentwürfe schließlich ausgespart und umgekehrt verwendet Bachmann
von dem – »aus Gründen der Tarnung« – im in Interviews Versatzstücke aus den Romanant-
Heeresmuseum arbeitenden Malina abgelöst worten, vgl. etwa GuI, 80 und TKA 3.1, 391 f.),
wird. Zudem wird mit dem Einüben des (iro- der nicht genehme Antworten löscht oder von
nischerweise von dem Deutschen Ferdinand vorneherein abzubiegen versucht. Doch der »bös-
Freiligrath verfaßten) Liedtextes eine Art Ur- artig liebevoll[e]« (GuI, 98) Humor Bachmanns
szene kultureller Identität präsentiert, in der be- richtet sich auch auf überkommene gesellschaft-
reits – wie im Roman selbst auch – die Geschlech- liche Verhaltensweisen. Während Mühlbauer vor
terdifferenz mit Krieg und Gewalt zusammenge- allem mit seinen »Küß-die-Hand-Anrufen« (TKA
bunden ist. 3.1, 382) daran partizipiert, erweist sich die eben-
Anders als der Historiker Eugen repräsentiert falls »mit den Mitteln der Lächerlichkeit« (GuI
Malina eine doppelte Form der Geschichtsver- 98) beschriebene High Society am Wolfgangsee
waltung: Als Militärhistoriker archiviert er die als letzter Hort vergangener Zeiten. Vor allem die
materiellen Relikte der österreichischen Historie Altenwyls, die als Figuren eigentlich Hofmanns-
– bis hin zum zerschossenen Automobil des in thals Lustspiel Der Schwierige (1921) entstam-
Sarajevo ermordeten Erzherzogs Franz Ferdi- men und bei denen laut Roman »der Hofmanns-
nand (TKA 3.1, 496 f.). Als Schriftsteller ist Ma- thal und der Strauss natürlich […] jeden Som-
lina darüber hinaus potentiell auch für die imma- mer« zu Besuch waren (TKA 3.1, 484), pflegen
terielle Seite der Überlieferung zuständig. Zwi- neben französischer Konversation die Alt-Wiener
schen Geschichte und Poesie aber verwandeln Küche und bevorzugen auch sonst die anachroni-
sich die Fakten in Legenden, und es entsteht das stischen Zustände der Vorkriegszeit: das Haus
kulturelle Gedächtnis und ideologische Funda- ohne fließendes Wasser und Zentralheizung, die
ment einer Nation – das wußte schon Hugo von Handtücher aus handgewebtem Leinen.
Hofmannsthal, der unter der in Malina zitierten Das Bild einer anachronistischen und die Zeit
Überschrift »Prinz Eugen, der edle Ritter« (TKA des Nationalsozialismus ausblendenden Nach-
3.1, 288) 1915 eine Legende veröffentlichte, die kriegsgesellschaft wird ergänzt durch Anspielun-
nicht nur eine Linie von den Schlachten Eugens gen auf zeitgenössische Ereignisse, die während
zur Gründung und Sicherung des Hauses Öster- der Entstehung des Romans von Bachmann stets
reichs bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zog, aktualisiert und bis an die jeweilige Gegenwart
sondern ausdrücklich zur Belebung des nationa- des Arbeitsprozesses herangeführt wurden (Gött-
len Gefühls gedacht war. sche 1998, S. 195 f.). Auf diese Weise entsteht ein
Indem der Roman sowohl strukturell als auch Österreich-, oder besser Wienroman, der die ge-
inhaltlich auf die Topoi österreichischer Ge- sellschaftlichen Diskurse und Vorstellungen do-
schichtsmythen und Gründungslegenden ver- kumentiert und gleichermaßen als Satire darauf
weist, sie variiert und zugleich ironisch ausstellt, wie als Zeitstück gelesen werden kann. Durch
schreibt der Roman eine Art »kritische Heimat- diese Form der »kritischen Heimatliteratur« und
literatur« (Brokoph-Mauch). Die Nonkonformi- durch die explizite Bezugnahme vor allem auf
tät der postnationalen und postimperialen Ideen österreichische Autoren (vgl. GuI, 11 f., 80) grenzt
etwa, die das Ich in einem Interview mit einem sich Bachmann im übrigen deutlich von Deutsch-
Journalisten entwickelt, werden an den abwehr- land ab. Aus den unterschiedlichen kulturellen
enden Reaktionen des Gegenüber deutlich: »Zu- Identitäten resultiert für sie eine entscheidende
nehmendes Erschrecken von seiten des Herrn Differenz in Sprache und Denken (GuI, 132).
140 II. Das Werk

Ebenso distanziert sich Bachmann durch die Teil- der Beziehung zwischen Mann und Frau« (GuI,
habe an der österreichischen Literaturgeschichte 144). Ähnlich zwiespältig verlief auch die femini-
vom deutschen Literaturbetrieb, der sie einer- stische Rezeption von Malina: Während das
seits zwar unterstützt, andererseits jedoch auch Buch seit den achtziger Jahren zum feministi-
stark vereinnahmt hat. Mit einem ironischen Sei- schen Kultbuch avanciert ist, galt Bachmanns
tenhieb heißt es denn auch in Malina: »die Deut- Weiblichkeitsbegriff zunächst als wenig progres-
schen fallen ja auf alles herein« (TKA 3.1, 473). siv: zu sehr dem Klischee vom weiblichen Maso-
Das Ineinander von Gewalt, Angst und Humor chismus und hilflosen Opfer verpflichtet, zu we-
ist in der Malina-Forschung bislang wenig unter- nig auf gesellschaftliche Zwänge aufmerksam
sucht worden (vgl. Achberger 1998). Offenbar machend. Und da Bachmann im ›männlichen‹
dient die gegenseitige Verschränkung des Tra- Literaturgeschäft durchaus erfolgreich war,
gikomischen einerseits der Kontrastierung, wohl wurde sie – wie manch andere Autorinnen auch –
auch der Steigerung des tragischen Geschehens, in dem sich etablierenden Frauenliteraturbetrieb
sowie der Modellierung einer inneren Gespalten- zunächst nicht rezipiert: Ihre Texte entsprachen
heit der Ich-Figur: Gefühl und Intellekt, Anteil- »nicht den Emanzipationsvorstellungen und Le-
nahme und Distanz, objektives Erleben und sub- sebedürfnissen des feministischen Diskurses«
jektive Wahrnehmung finden sich seit langem in (Weigel 1987, S. 28).
der Gattungstheorie jeweils dem Tragischen oder Dies hat sich, nach dem Tod Bachmanns und
Komischen zugeordnet. Andererseits läßt sich seit Erscheinen der Werkausgabe 1978, grund-
vermuten, daß der Roman – so hat es Friedrich legend geändert. Gerade die Prosatexte schie-
Hebbel zur Erklärung der tragikomischen Form nen nun genuin weibliche Erfahrungen auf rea-
seines Trauerspiels in Sizilien (1847) formuliert – listische Weise zu repräsentieren – zumal sie
»ein tragisches Geschick in untragischer Form« manchen auf Bachmanns Leben und Sterben zu-
vorführt, da es längst keine sittliche Macht mehr rückführbar schienen. Mit dem Wandel der femi-
gibt, »sondern ein Sumpf von faulen Verhältnis- nistischen Literaturtheorie von ihren ideologie-
sen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hin- kritischen Anfängen zur poststrukturalistischen
unterwürgt, ohne ein einziges zu verdienen« Analyse richtete sich das Interesse der durch die
(Hebbel, S. 388). Bereits in der ästhetischen An- feministische Literaturwissenschaft in hohem
lage könnte Malina dann als ein ethisches Refle- Maße intensivierten Bachmann-Forschung je-
xionsmodell über die moderne Gesellschaft und doch weniger auf identifikatorische Bezüge als
die »Krankheit unserer Zeit« (GuI, 72) gelesen auf symbolische Strukturen und Diskursforma-
werden. Der Roman wäre vielleicht als eben tionen (vgl. Lennox 1992). Unter Rückgriff auf
solch ein »kühne[r] geschichtsphilosophische[r] psychoanalytische Theorien wurde Malina des-
Versuch« und »Roman der Weltanschauungskri- halb seit den achtziger Jahren zum Erprobungs-
tik« noch zu erforschen, wie ihn Bachmann ihrer- feld zentraler Denkfiguren feministischer diffé-
seits in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften rence, vor allem solcher der Hysterie und der
und dessen »bittere[r] Komik« vorgefunden hat écriture féminine.
(W 4, 24, 94). Die diesen Figuren zugrunde liegenden An-
sätze gehen davon aus, daß die Frau einerseits als
Repräsentationsfigur des Weiblichen und als
Feministische Zugänge
Darstellungsobjekt in der symbolischen Ordnung
Von der feministischen Bewegung hat sich Inge- (im patriarchalen Zeichensystem ›Kultur‹) anwe-
borg Bachmann einerseits deutlich distanziert send ist, andererseits aber als Subjekt daraus
und erklärt, daß »sie von der ganzen Emanzipa- ausgeschlossen bleibt. Die Ich-Diffusion und
tion nichts hält« (GuI, 109). Andererseits scheint der Zerfall eines einheitlichen Subjektes in Ma-
jedoch die Wahl einer als weiblich markierten lina bietet die Möglichkeit, genau diese doppel-
Ich-Perspektive in Malina darauf zu zielen, das te Position auszustellen und das Ich zugleich
»Gefühlstreiben« und »Unglück der Frauen« als Ich und als Nicht-Ich sprechen zu lassen.
(TKA 3.1, 609, 613) den »Krankheiten« der Män- Dabei kommt das im logozentrischen Diskurs
ner (TKA 3.1, 607) mit einigem Impetus gegen- Verdrängte, ›Andere‹ des Weiblichen in einer
über zu stellen: »Der Faschismus ist das erste in écriture féminine zum Vorschein, die sich vom
Todesarten-Projekt: Malina 141

(aus dem Logos ausgeschlossenen) Körper her kommen, […] mir fällt kein Satz mehr ein. […]
schreibt (Kohn-Waechter 1992, S. 104; Bauer, Kein Tag wird kommen« (TKA 3.1, 651).
S. 13 u. ö.). In »einer anderen Sprache […] mit Die »Legende einer Frau, die es nie gegeben
Haut und Haar« (TKA 3.1, 306) offenbart sich so hat« mahnt ohnehin zur Vorsicht: Nie gegeben hat
in Bachmanns Roman scheinbar das widerstän- es nicht nur die Legende, sondern auch die darin
dige Potential eines wiederholt von (paternalen) vorgestellte Frau, und da die Ich-Figur in der von
Redeverboten ins Verstummen getriebenen weib- ihr selbst entworfenen Frauen-Fiktion ein poten-
lichen Ich: Zwar braucht dieses Ich Malina, ohne tielles ›Versteck‹ sieht, wäre zunächst die Frage
den die Geschichte nicht in die symbolische Ord- nach der Geschlechterinszenierung in Malina zu
nung des Textes überführt werden kann, doch stellen. Irritierenderweise erscheint nämlich die
entsteht in dieser Verdoppelung eine neue als weiblich markierte Ich-Figur selbst schon wie-
Schreibweise (Weigel 1984; Röhnelt, S. 4), in der der geschlechtlich gedoppelt: »Bin ich eine Frau
gegenläufige Erzählstrategien und Stimmen sich oder bin ich etwas Dimorphes?« (TKA 3.1, 619)
durchkreuzen und überlagern; die dabei entste- Offenbar führt die geschlechtliche Ambivalenz
henden Brüche und Fragmentierungen markie- und scheinbare Androgynität von Ich/Malina für
ren subversive Störungen in der symbolischen die Ich-Figur zu einem gender trouble, der je
Ordnung. nach Situation neu akzentuiert wird: Während
Trotz aller Repressionen durch den Vater, Ivan Ivan das Ich als »sehr weiblich« (TKA 3.1, 454)
und Malina gelänge es demnach, die ›andere‹ wahrnimmt und im Traumkapitel der »Friedhof
Stimme zu erheben und Zeugnis abzugeben vom der ermordeten Töchter« (TKA 3.1, 502) die Ich-
Opfertod im Widerstand gegen das Patriarchat Figur als Tochter ausweist, muß sich das Ich in
(Leonhard, S. 142; zur Stilisierung der Ich-Figur Distanz zu den männlichen Figuren vor dem
als Opfer in der Bachmann-Forschung vgl. Kohn- Spiegel mit »Wässerchen« und Cremes erst als
Waechter 1992, S. 36 f.). In nuce führt dies ein eine Frau entwerfen (TKA 3.1, 448), und schließ-
Vatertraum vor, in dem das Ich in einem Duett auf lich wundert sich die Ich-Figur sogar, zusammen
der Bühne steht, aber erkennt, daß nur der Mann mit Malina als »Mann und Frau« wahrgenommen
zu hören sein wird, »weil mein Vater nur für ihn zu werden: »[…] wir wußten damit nichts anzu-
die Stimme geschrieben hat und nichts natürlich fangen. Wir haben sehr gelacht.« (TKA 3.1, 581)
für mich« (TKA 3.1, 517). Die Ich-Figur singt Statt die Zuordnung der Ich-Figur zu den hin-
auch ohne Vatertext, stürzt in den leeren Orche- länglich bekannten Topoi der Weiblichkeit
stergraben und bricht sich das Genick. (Angst, Hysterie, Sprachlosigkeit, Liebe, Tod)
Doch im Opern-Traum fehlt das Publikum, die stets neu zu wiederholen (vgl. auch Behre 1992),
Stimme verhallt ungehört, und ähnliche Situa- dürfte es daher gerade auch im Hinblick auf die
tionen werden in den Träumen immer wieder Sprach- und Erzählstruktur sinnvoll sein, die –
durchgespielt (Höller 1987, S. 281). Nach dem zum Teil deutlich ausgestellte – Konstruktion der
Verschwinden der Ich-Figur entsorgt Malina den geschlechtlichen Positionen durch eben solche
blauen Stein – Signum für ein antipaternales, Topoi in den Blick zu nehmen. Dies entspräche
widerständiges »Schreiben im Staunen« (TKA auch einer theoretischen Entwicklung von der
3.1, 559) – und damit offenbar auch die letzte feministischen Literaturwissenschaft zu den gen-
Hoffnung auf ein alternatives »weibliches Textbe- der studies, die anstelle einer Weiblichkeit (oder
gehren« (Morrien 1996). Malina ließe sich daher Männlichkeit) die Vielfalt der Positionen im Feld
durchaus als Absage an eine weibliche Utopie der der Geschlechterdifferenzen betonen.
›anderen‹ Sprache deuten, und stützen könnte In Malina sind diese vermutlich erneut in dem
sich diese Lesart nicht nur auf die Gewinnung Maße flexibel und widersprüchlich, wie die lite-
Malinas als titelgebender Erzählfigur, sondern rarischen Prätexte wechseln: Die »›Antwort‹ auf
auch auf die im Roman ebenfalls formulierte das Bild der Frau bei Max Frisch« (Albrecht
Einsicht in die Zukunftslosigkeit der Legenden- 1989a, S. 129), der das Leben seiner ehemaligen
erzählung von einer ›anderen‹, utopischen Zeit, Lebensgefährtin literarisch ausbeutete, dürfte an-
in der die »Poesie« des weiblichen Geschlechts ders aussehen als die Replik auf Hans Weigels
wiedererschaffen wird (TKA 3.1, 449): »[…] ich Roman Unvollendete Symphonie und dessen sub-
denke an mein Buch, es ist mir abhanden ge- jektive, ›weibliche‹, mit Blick auf Bachmann ent-
142 II. Das Werk

worfene Erzählperspektive (Brüns, S. 207). Kon- der 1999, S. 22, 129; Albrecht 1992, S. 287); Mu-
terkariert werden diese (wie auch immer) bio- sil, Frisch, Celan, Hofmannsthal, Rimbaud, Al-
graphisch konnotierbaren Weiblichkeiten zudem gernon Blackwood, Ungaretti, auch Thomas
dadurch, daß Bachmann die Ich-Figur mit Bach- Mann, aber weniger Dante, de Sade, Hölderlin,
mann-Klischees aus dem zeitgenössischen jour- Lewis Carroll, Brecht, Faulkner, Beckett, Svevo,
nalistischen Diskurs ausstattete. Diese entspre- Bernhard u.v.a.m. Eine systematische Untersu-
chen jedoch kaum dem Geschlechtermodell in chung der Intertexte wäre wünschenswert, ist
Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, der als vermutlich aber kaum durchführbar: Immer neue
ein wichtiger Intertext für Malina gilt. Musils Zitate und Verweise lassen sich in Bachmanns
geschlechtliches Doppel wiederum wird ergänzt Roman entdecken, und Bachmanns intertextuelle
durch das Verwirrspiel uneindeutiger Namen, Praxis dürfte ohnehin weniger als aktualisierte
wie es Bachmann in Faulkners Roman Schall und Variante der Einflußforschung interessant sein
Wahn vorfindet: »Da gab es […] zweimal den denn als poetisches Verfahren.
Namen Quentin, einmal als männlichen und ein- Ausgehend von Bachmanns Hinweis auf den
mal als weiblichen Vornamen.« (W 4, 251 f.) Die Kompositionscharakter ihres Romans ist die Pa-
Reihe der potentiellen Intertexte ließe sich weiter rallele zwischen der musikalischen und der li-
fortsetzen und könnte die Analyse des Geschlech- terarischen Strukturierung sowie die poetologi-
terarrangements in Malina neu beleben. sche Funktionalisierung musikalischer Intertexte
bereits des öfteren herausgearbeitet worden
(Achberger 1984, Greuner 1990, Spiesecke 1993,
Intertextualität
Caduff 1998). Zu fragen wäre aber auch nach
In den letzten Jahren ist eine Reihe von Arbeiten filmischer Perspektivierung (etwa Blickregie,
entstanden, die literarische, musikalische, philo- Rauminszenierung, Schnitte und Szenenwechsel)
sophische und wissenschaftliche Prätexte erfor- und dramaturgischer Ausstattung der »Gedan-
schen, um so dem komplexen intertextuellen Be- kenbühne« (Theatralität, Performativität).
deutungsgeflecht von Bachmanns Roman auf die Als Folie dazu könnte auch die Auseinander-
Spur zu kommen. Bachmanns »Welt im Zitat« setzung mit Werner Schroeters heftig umstritte-
(Helbling, S. 115) erstreckt sich dabei vom 19. ner Malina-Verfilmung von 1991 dienen, die
Jahrhundert (Freiligrath, Hölderlin, Meyrink, nicht nur auf Bachmanns Roman, sondern auch
Rilke, Tolstoi, Dostojewski, Strindberg u.v.m.) auf Elfriede Jelineks Drehbuch und Schroeters
bis zur Gegenwart und eröffnet so einen weiten eigener Textinterpretation beruht. Die Kürzun-
diachronen Deutungsraum, der zudem interme- gen und Vereindeutungen (gerade auch im Hin-
dial angelegt ist und Film, Musik, Theater und blick auf den ›Geschlechterkampf‹) in diesem
Oper einschließt. dennoch palimpsesthaften plot können ebenso
Ausgehend von Bachmanns übrigen Arbeiten – beklagt werden wie die auf das filmgeschichtliche
Essays, Libretti, Hörspielen etc. – und anderen Renomée hin kalkulierte Ausbeutung der Arbeit
biographischen Hinweisen hat sich aber dennoch einer Schriftstellerin durch einen männlichen Re-
ein ›Kanon‹ an Intertexten etabliert, der immer gisseur (Seiderer, S. 18). Doch der Kamerablick,
wieder ins Blickfeld rückt – und die textanalyti- der zwischen intimer Nähe und voyeuristischem
sche Perspektive vielleicht auch allzu stark auf die Begehren immer wieder die Gesichter von »der
Rezeption bestimmter Autoren und Texte fokus- Frau« und Malina dem Publikum präsentiert (wo-
siert (Schneider 1999, S. 22): Heidegger, Witt- bei sich »die Frau« dem framing wiederholt ent-
genstein und auch Bloch – aber nicht so sehr zieht), spiegelt die Frage nach der Choreographie
Adorno, Kierkegaard und Nietzsche; Komponi- des Visuellen, dem Begehren des Vater-Regis-
sten und Sängerinnen (etwa Bellini, Mozart, seurs, aber auch des lesenden Publikums auf den
Beethoven, Wagner, Schönberg und Hans Werner Roman zurück. Und die Gestaltung der Räume
Henze, Schwarzkopf und Callas) – aber selten (Farbe, Ausstattung, Verwischung der Grenze
Film-Regisseure wie etwa Graham Greene, Ing- zwischen Innen- und Außenraum etc.; vgl.
mar Bergmann, Louis Malle oder jene populären Gleichauf, S. 165) könnte die Topographie der
Spielfilme, zu deren Besuch die Ich-Figur Ivan realen und imaginären Orte in Malina neu be-
überreden will (TKA 3.1, 328; vgl. auch Schnei- leuchten, die bislang kaum untersucht ist.
Todesarten-Projekt: Malina 143

Auch die Kommunikationsmedien und -for- Ezergailis (1982): Women Writers – The Divided Self.
men (Telefon, Brief) innerhalb des Romans lie- Analysis of Novels by Christa Wolf, Ingeborg Bach-
mann, Doris Lessing and Others. Bonn; – Mechthild
ßen sich sicher noch weiter erforschen. Vielleicht
Geesen (1998): Die Zerstörung des Individuums im
teilt nicht jede(r) die Überzeugung, daß Bach- Kontext des Erfahrungs- und Sprachverlusts der Mo-
mann eine »geniale Medientheoretikerin und derne. Figurenkonzeption und Erzählperspektive in der
Diskursanalytikerin avant la lettre« war (Weigel Prosa Ingeborg Bachmanns. Rheinfelden; – Ingeborg
1999, S. 27). Doch intertextuelle Analysen des Gleichauf (1995): Mord ist keine Kunst. Der Roman
Romans, die noch stärker aus kulturwissenschaft- Malina von Ingeborg Bachmann und seine Verwand-
lung in ein Drehbuch und in einen Film. Hamburg; –
licher und intermedialer Perspektive erfolgen,
Dirk Göttsche (1990): Erinnerung und Erzählstruktur
dürften für die Malina-Forschung in jedem Fall in der erzählenden Prosa Ingeborg Bachmanns. In:
eine wünschenswerte Bereicherung darstellen. Literatur in Wissenschaft und Unterricht 23, S. 99–118;
– Dirk Göttsche (1992): Malina und die nachgelassenen
Quellen: Friedrich Hebbel (1963): Ein Trauerspiel in Todesarten-Fragmente. Zur Geschichte des reflexiven
Sizilien. In: Friedrich Hebbel: Werke, Bd. 1. (Hg.) und zyklischen Erzählens bei Ingeborg Bachmann. In:
Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. Stoll (1992), S. 188–209; – Andreas Hapkemeyer
München, S. 383–417. (1984): Die Funktion der Personennamen in Ingeborg
Bachmanns später Prosa. In: Literatur und Kritik
Literatur: Albrecht (1989a); Behre (1992); Bossinade
187/188, S. 352–363; – Geno Hartlaub (1994): Das
(1990); Brachmann (1999); Caduff (1998); Gehle
Schizoid der Welt [1971]. In: Schardt (1994), S. 145–
(1995); Göttsche (1987); Göttsche (1998); Greuner
148; – Rudolf Hartung (1992): Dokument einer Lebens-
(1990); Grimkowski (1992); Höller (1987); Hotz
krise. Ingeborg Bachmanns erster Roman: Malina
(1990); Kanz (1999); Kohn-Waechter (1992); Lennox
[1971]. In: Stoll (1992), S. 129–133; – Helmut Heißen-
(1992); Morrien (1996); Schmitz (1998); Schneider
büttel (1994): Im Namen der Liebe [1971]. In: Schardt
(1999); Schottelius (1990); Spiesecke (1993); Stoll
(1994), S. 128–130; – Brigitte Helbling (1995): Ver-
(1991); Summerfield (1976); von der Lühe (1993);
netzte Texte. Ein literarisches Verfahren von Weltenbau.
Weigel (1984); Weigel (1999).
Mit den Fallbeispielen Ingeborg Bachmann, Uwe John-
Karen [R.] Achberger (1984): Der Fall Schönberg. Mu-
son und einer Digression zum Comic Strip Doonesbury.
sik und Mythos in Malina. In: Text + Kritik (1984),
Würzburg; – Carol Anne Costabile-Heming, Vasiliki
S. 120–131; – Karen R. Achberger (1998): »Bösartig
Karandrikas (1997): Experimenting with Androgyny.
liebevoll« den Menschen zugetan. Humor in Ingeborg
Malina and Ingeborg Bachmann’s Jungian Search for
Bachmanns Todesarten-Projekt. In: Albrecht/Göttsche
Utopia. In: Mosaic 30/3, S. 214–218; – Britta Herrmann
(1998), S. 227–243; – Monika Albrecht (1992): Mein
(2001): Töchter des Ödipus. Zur Geschichte eines Er-
Name sei Gantebein – mein Name? Malina. Zum inter-
zählmusters in der deutschsprachigen Literatur des 20.
textuellen Verfahren der ›imaginären Autobiographie‹
Jahrhunderts. Tübingen; – Gabriele Hima (1995): Die
Malina. In: Stoll (1992), S. 265–287; – Gabriele Bail
Funktion der Dialogizität in der Aufdeckung der »ver-
(1984): Weibliche Identität. Ingeborg Bachmanns Ma-
schwiegenen Geschichte« in Malina. In: Nicht (aus, in,
lina. Göttingen; – Kurt Bartsch (1988): Ingeborg Bach-
über, von) Österreich. Zur österreichischen Literatur,
mann. Stuttgart; – Edith Bauer (1998): Drei Mord-
zu Celan, Bachmann, Bernhard und anderen. (Hg.)
geschichten. Intertextuelle Referenzen in Ingeborg
Tamàs Lichtmann. Frankfurt/M. u. a., S. 171–196; –
Bachmanns Malina. Frankfurt/M. u. a.; – Reinhard
Peter Horn (1995): Die Realität im Phantasma: Tochter
Baumgart (1989): Ingeborg Bachmann – Malina [1971].
sein. Spiegelungen. Zu Ingeborg Bachmanns Roman
In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 141–149; –
Malina. In: Lesen und Schreiben. Literatur – Kritik –
Günter Blöcker (1971): Auf der Suche nach dem Vater.
Germanistik. Festschrift für Manfred Jurgensen zum
In: Merkur 25, S. 395–398; – Elizabeth Boa (1994):
55. Geburtstag. (Hg.) Volker Wolf. Tübingen, Basel,
Schwierigkeiten mit der ersten Person. Ingeborg Bach-
S. 83–102; – Joachim Kaiser (1992): Liebe und Tod
manns Malina und Monika Marons Flugasche, Die
einer Prinzessin. Ingeborg Bachmanns neuer Roman
Überläuferin und Stille Zeile Sechs. In: Pichl/Stillmark
[1971]. In: Stoll (1992), S. 109–114; – Karl Krolow
1994, S. 125–145; – Gerhard Botz (1993): Historische
(1994): Liebe als mörderisches Risiko [1971]. In:
Brüche und Kontinuitäten als Herausforderungen –
Schardt (1994), S. 112–114; – Sara Lennox (1989):
Ingeborg Bachmann und post-katastrophische Ge-
Bachmann und Wittgenstein. In: Koschel/von Weiden-
schichtsmentalitäten in Österreich. In: Göttsche/Ohl
baum (1989), S. 600–621; – Sigrun D. Leonhard (1995):
(1993), S. 199–214; – Gudrun Brokoph-Mauch (1997):
Zur Problematik des Ich in Ingeborg Bachmanns Ma-
Österreich als Fiktion und Geschichte in der Prosa
lina. In: Brokoph-Mauch/Daigger (1995), S. 142–159;
Ingeborg Bachmanns. In: Modern Austrian Literature
– Hans Mayer (1992): Malina oder Der große Gott von
30, Heft 3/4, S. 185–199; – Elke Brüns (1998): Außen-
Wien [1971]. In: Stoll (1992), S. 122–125; – Ilse Neu-
stehend, ungelenk, kopfüber weiblich. Psychosexuelle
mann (1985): Ingeborg Bachmanns Roman Malina –
Autorpositionen bei Marlen Haushofer, Marieluise Flei-
Kognition durch den Leser. Spontane Textablehnung
ßer und Ingeborg Bachmann. Stuttgart, Weimar; – Inta
und kognitive Lesedistanz. Hamburg; – Inge Röhnelt
144 II. Das Werk

(1990): Hysterie und Mimesis in Malina. Frankfurt/M. »ein wenig ins Altern gekommen« sei (Krolow,
u. a.; – Ulrich Schleith (1996): Zur Genese der Er- S. 259), fehlte in der Forschung lange Zeit die
zählinstanz in Ingeborg Bachmanns Malina. Frankfurt/
historische Distanz (Albrecht 1998, S. 61). Post-
M. u. a.; – Sigrid Schmid-Bortenschlager (1984): Die
österreichisch-ungarische Monarchie als utopisches strukturalistisch und feministisch orientierte Li-
Modell im Prosawerk von Ingeborg Bachmann. In: Acta teraturwissenschaftlerinnen entdecken in dem
Neophilologica 17, S. 21–31; – Ute Seiderer (1994): Charakter des Unfertigen ein »Verfahren der De-
Film als Psychogramm. Bewußtseinsräume und Vorstel- komposition« (Schuller, S. 150) und die Dekon-
lungsbilder in Werner Schroeters Malina. München; – struktion der epischen Ordnung (Weigel 1984,
Bettina Stuber (1994): Zu Ingeborg Bachmann. Der Fall
S. 87). So avancierte er für manche zum poetolo-
Franza und Malina. Rheinfelden, Berlin; – Susanne
Thiele (1991): Die Selbstreflexion der Kunst in Inge- gischen und programmatischen Herzstück der
borg Bachmanns Roman Malina. In: The Germanic Todesarten (Schuller, S. 150). 1986 wurde der
Review 66/2, S. 58–69; – Silvio Vietta (1992): Die lite- Roman verfilmt (R.: Xaver Schwarzenberger, D.:
rarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstel- Rolf Basedow).
lung von Hölderlin bis Thomas Mann. Stuttgart; –
Sigrid Weigel (1987): Die Stimme der Medusa.
Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen. Struktur und Inhalt
Dülmen-Hiddingsel; – Sigrid Weigel (1996): Entwick-
lungslogik statt Spurenlektüre. Zur Edition von Inge- Mit den Schauplätzen Kärnten, Wien und Ägyp-
borg Bachmanns Todesarten-Projekt. In: Merkur 50, ten gliedert sich der Text formal zunächst in drei
S. 350–355; – Sibylle Wirsing (1971): Malina. In: Neue Kapitel, jedoch erprobt Bachmann in den ver-
deutsche Hefte 18/2, S. 141–146; – Gabriele Wohmann schiedenen Arbeitsphasen mehrere Strukturmo-
(1992): Nachtwald voller Fragen. Ingeborg Bachmann:
delle, die ihre fortlaufende Suche nach der geeig-
Malina [1971]. In: Stoll (1992), S. 115–118; – Walter
Zettl (1991): Das verborgene Ich. Gedanken zu Inge- neten Komposition dokumentieren (Gutjahr
borg Bachmanns Roman Malina. In: Jahrbuch des Wie- 1988, S. 58; Albrecht 1998a, S. 37). Die »außer-
ner Goethe-Vereins 95, S. 119–130. ordentliche Landkarte« (W 4, 239) der jeweiligen
Britta Herrmann Schauplätze z. B. ist dichotomisch angeordnet:
Kairo und die Wüste wiederholen dabei in ihrer
Kontrastierung von Stadt und Land, Kultur und
5.3.3. Das Buch Franza
Natur, Fremdbestimmung und Selbstbestim-
Ingeborg Bachmann hat den Roman über die mung (bzw. Unbestimmbarkeit) die Opposition
Figur Franziska Ranner (Franza), der im März von Wien und dem (fiktiven) Kärntner Heimat-
1967 erscheinen sollte, nie fertig gestellt. Nach dorf Galicien.
einer kritischen Relektüre dessen, was im Som- Trotz ihrer vermeintlichen geographischen Lo-
mer/Herbst 1965 bis Mai 1966 unter vielfachen kalisierbarkeit und trotz autobiographischer Pa-
Rückgriffen auf das Wüstenbuch (1964/1965) ent- rallelen zu Bachmanns eigener Ägypten-Reise
standen war, brach Bachmann die Arbeit ab, es 1964 markieren die genannten Orte eine imagi-
folgte eine Reorganisation des Todesarten-Kon- näre Topographie (TKA 2, 78), in der die Grenze
zeptes; die Suche nach einer neuen ästhetischen zwischen dem psychosozialen Drama der Prot-
Struktur mündete einerseits in die Überarbeitung agonistin Franza und dem historisch-kulturellen
der 1966 entworfenen Fanny Goldmann-Erzäh- Raum aufgehoben ist (Gutjahr 1988, S. 47 f.). So
lung, andererseits aber in die ersten Arbeiten am steht die Wüste als Metapher für die innere »Ver-
Malina-Roman (Kommentar TKA 2, 397). Als wüstung« der Protagonistin (TKA 2, 272) dem
Der Fall Franza erschien das Romanfragment idyllischen Kärntner Gailtal gegenüber, welches
erstmals 1978 in der vierbändigen Werkausgabe. die frühere Ursprünglichkeit und Intaktheit Fran-
Ingeborg Bachmann hatte diesen Titel neben an- zas repräsentiert. Vorgeführt werden Stationen
deren erwogen. Wie die kritische Ausgabe des einer Reise »durch eine Krankheit« (TKA 2, 77)
Todesarten-Projektes von 1995 belegt, stützt eine und zugleich die verschiedenen Etappen in der
Reihe von Briefen jedoch die Vermutung, daß Rekonstruktion eines Geschehens, mit dessen
Bachmann sich zuletzt für Das Buch Franza ent- Ergebnis das Fragment unvermittelt einsetzt:
schieden hat. »Der Professor, das Fossil, hatte ihm die Schwe-
Obwohl bereits 1978 Kritiker konstatierten, ster zugrunde gerichtet.« (TKA 2, 131)
daß der ›Bachmann-Sound‹ der 1950er Jahre Indem das Franza-Fragment dem »geistigen
Todesarten-Projekt: Das Buch Franza 145

Massaker« innerhalb der Gesellschaft (TKA 2, Klinik in den Kindheitsort Galicien, wo ihr Bru-
73) und in den »makabren Familienzusammen- der Martin sie findet. Trotz ihres desolaten physi-
hängen« (TKA 2, 160) nachspürt, unternimmt es schen und psychischen Zustandes bringt Franza
den Versuch, ›Faschismus‹ als »Wort für ein pri- den zunächst ablehnenden Bruder dazu, sie auf
vates Verhalten« (TKA 2, 53) gleichsam neu zu eine bevorstehende geologische Studienreise
entdecken (Brinkemper, S. 163; Weigel 1993, nach Ägypten mitzunehmen. Nach einer Verge-
S. 17). Dabei werden zahlreiche Bilder und waltigung stirbt sie in Kairo. Soweit die histoire
Denkfiguren entwickelt, die später im Malina- oder die story, von der Bachmann selbst wieder-
Roman wieder auftauchen: etwa der Gaskam- holt gesagt hat, daß sie im modernen Roman
mertraum und der Friedhof der Töchter als Bil- einen Inhalt wiedergibt, »der nicht der Inhalt ist«
der für die strukturelle Identität von Patriarchat (TKA 2, 74; vgl. Rauch, S. 42).
und Faschismus, die schizoide Spaltung der Ich- Indem das Erzählen im Franza-Fragment sei-
Figur, das Problem von Erinnern und Erzählen. nen Ausgang von der Zerstörung der Protagoni-
Wie Bachmann in einer Vorrede verdeutlicht, hat stin nimmt, wird eine Art negative (weibliche)
Literatur die Aufgabe, den alltäglichen Verbre- Anthropologie entworfen (Gutjahr 1988, S. 35),
chen und sublimen Todesarten in der Zivilisation die von der Ganzheit zur völligen Auflösung und
ihre »schreckliche Poesie« zurückzuerstatten – in Abwandlung der Stationenreihenfolge aus
(TKA 2, 72). Damit bezieht sich Bachmann auf Dantes Göttlicher Komödie – vom Kärntner Para-
die Idee einer Literatur als Sittengeschichte, wie dies über die Wiener Hölle ins »Purgatorium«
sie Jules Barbey d’Aurevilly in dem Erzählband (TKA 2, 248) der Wüste führt (Gutjahr 1988,
Les Diaboliques (1874) und Honoré de Balzac in S. 137). Die Austreibung aus dem Paradies be-
seinem Zyklus La comédie humaine entworfen ginnt mit der Pubertät und dem erotischen Früh-
haben (Kommentar TKA 2, 473). lingserwachen Franzas. Anhand der weiblichen
Einerseits markiert das Franza-Fragment die Geschlechtswerdung wird so der Übergang von
alltägliche Gewalt als zeitunabhängig und univer- der Naturgeschichte zur Kulturgeschichte rein-
sal – etwa durch den Verweis auf das Blaubart- szeniert (vgl. Weigel 1999, S. 522). Der ›Fall
Märchen (Schneider). Andererseits ist die Ver- Franza‹ erscheint damit (aus Martins Erzählper-
knüpfung des Privaten mit dem Politischen ei- spektive) auch als Sündenfall (Gutjahr 1988,
nem konkreten historischen Kontext geschuldet: S. 137).
Kurz bevor die ersten ›Weiberräte‹ sich im Um- Teil des von Martin erinnerten Kindheitspara-
feld der Studentenbewegung formieren, und kurz dieses ist die elternlose und erotisch besetzte
bevor ab 1969 die Rede von der Frau als »Neger Gemeinschaft von Bruder und Schwester. Sie zi-
aller Völker« (Schrader-Klebert, S. 1f.) die femi- tiert als geschwisterliche unio mystica den ›an-
nistische Runde macht, präsentiert Bachmann – deren Zustand‹ siamesischer Verdoppelung, den
vielleicht in Anlehnung an Simone de Beauvoirs Bachmann in Robert Musils Mann ohne Eigen-
bahnbrechendes Buch »Das andere Geschlecht« schaften vorfand (W4, 100; vgl. Hapkemeyer
(1949) – das Geschlechterverhältnis und die Ehe 1982a, S. 52; Weber 1986, S. 56–63; Gutjahr
als eine hierarchische Institution, die nach dem 1988, S. 86–88). Mit dem Verweis auf den ägypti-
Modell der Klassengesellschaft und der Rassen- schen Mythos vom königlichen Geschwisterpaar
diskriminierung funktioniert. Isis und Osiris wird diese ›Dyade‹ in einen vor-
Rekonstruiert wird in dem Franza-Fragment christlichen Kontext zurück versetzt, in dem we-
zunächst die Geschichte der in Kärnten aufge- der das göttliche Verbot, das der ›Vater‹ dem
wachsenen Franziska Ranner, die nach Kriegs- biblischen Ur-Paar gegenüber ausspricht, noch
ende in Wien Medizin studiert, dort den be- das Inzesttabu Gültigkeit haben. Zugleich impli-
rühmten Psychiater Leopold Jordan heiratet, von ziert der einstige Kultsatz der Geschwister (»Un-
ihm psychisch zerstört und als Fallgeschichte ver- ter hundert Brüdern…«) – eine Zitatparaphrase
wertet wird. Franzas ›Fall‹ bildet zugleich die aus Robert Musils Gedicht Isis und Osiris – die
Kehrseite ihres sozialen Aufstiegs in die Wiener Auflösung der Geschlechterdifferenz durch ge-
Gesellschaft, der jeweils durch die Liaison mit genseitige kannibalistische Inkorporation. Jen-
renommierten Männern erreicht wird. Zu Be- seits des Sündenfalls und der Ödipusgeschichte
ginn des Romans flieht Franza aus einer Wiener wird so ein alternatives Liebeskonzept entworfen
146 II. Das Werk

(ähnlich Lennox 1984, S. 167; Weigel 1984, letztlich in der Traumlogik (TKA 2, 228–230; vgl.
S. 80), das jenes »Unbehagen in der Kultur« um- Göttsche 1990, S. 110 f.).
geht, bei dem im Laufe der Geschlechtswerdung In der traumatischen Erinnerung überlagern
die Ablösung der symbolischen Positionen Sohn/ sich individuelle und kollektive Geschichte.
Mann/Vater und Tochter/Frau/Mutter stets neu Denn indem Jordan Franza zum Versuchsobjekt
vollzogen werden muß (vgl. Freud 1974, macht, gleicht er den Angeklagten des Nürnber-
S. 232 f.). Bachmann erteilt dem ›anderen Zu- ger Ärzteprozesses, und die von ihm gegen Fran-
stand‹ jedoch eine Absage (anders Thau 1986): zas Willen eingeleitete Abtreibung wird zum ver-
Mit Einsetzen von Franzas Pubertät und mit Be- späteten Euthanasieprojekt (Lennox 1984,
ginn des Friedens »war etwas dazwischen ge- S. 164). Als medizinischer »Spätschaden« (TKA
kommen« (TKA 2, 153), Franzas Liebe zum ›Be- 2, 215) rückt Franza durch metonymische Ver-
satzer‹ und Vater/Mann Sir Percy Glyde über- schiebung in eben jene symbolische Position jü-
führt Isis und Osiris in die durch Besitz und discher Opfer, die ihr bereits durch ihren Her-
Macht strukturierte Ödipusgeschichte, und das kunftsort und durch ihre Sprache zugewiesen
Wiederfinden der Geschwister erweist sich als wird: Mit der Umbenennung des Gailtals in Gali-
»Mythos einer Kindheit« (TKA 2, 158). cien hat Bachmann eine topographische Chiffre
Galicien – später auch Ägypten – bilden Ge- geschaffen, in der der Kärntner Lebensraum der
dächtnisräume, mit deren Hilfe Martin die deutsch-slowenischen Minderheit der Windi-
Schwester als starke Figur zugleich erinnert und schen mit der habsburgischen Enklave des polni-
bildlich entwirft. Demgegenüber sind Franzas schen Galizien verknüpft wird (Wertheimer,
Erinnerungen zunächst durch Erzählungen struk- S. 226 f.). Auf diese Weise erinnert Bachmann an
turiert, die im Text jedoch von Martin paraphra- den strukturellen Zusammenhang zwischen der
siert werden (TKA 2, 174). Auch die Fragmente Judenvernichtung und der ethnischen ›Homo-
aus der »Jordanischen Zeit« geben nur partiell genisierung‹, bei der 1941 annähernd tausend
Franzas Perspektive wieder, nicht selten über- ›nicht eindeutschungswillige‹ Kärntner Slowe-
nimmt ein auktorialer Erzähler. Erzählstrukturell nen gewaltsam vertrieben und in Lager ins ›Alt-
gesehen gilt Franza nicht als Subjekt ihrer eige- reich‹ verschleppt wurden. Und obwohl sich
nen Geschichte, sondern als erzähltes Objekt Franza sehr wohl assimiliert – sie findet aus der
(Grimkowski 1992, S. 18). Dies mag damit zu- windischen Sprache akzentfrei heraus und gibt
sammenhängen, daß im ursprünglichen Roman- sogar ihren Namen (erst den Vornamen, dann
entwurf nicht Franza, sondern Martin als Haupt- den Nachnamen) auf (TKA 2, 153) –, behält sie
figur geplant war (Tabah, S. 99). Statt daher aus die Position der Marginalisierten und ethnisch
dem stärker monologisch strukturierten dritten Kolonisierten.
Kapitel eine narrative Emanzipation Franzas zu Auf die verdeckte Wiederkehr des biologisti-
rekonstruieren (Hapkemeyer 1982a, S. 61–67; schen, ›epidermisierten‹ Rassismus in der Kon-
Tabah, S. 104), läßt sich eher vermuten, daß der struktion des soziokulturell Anderen hat 1952
fragmentarische Text insgesamt verschiedene Er- Frantz Fanon hingewiesen (Fanon 1980, S. 120).
zählkonzepte erprobt. Inwiefern Bachmann mit dieser Diskussion ver-
Zugleich wird die Erzählproblematik im traut war, ist noch zu erforschen. Wenn Fanon
Franza-Fragment mit der Erinnerungsproblema- jedoch in seiner Kritik an C. G. Jung eine ethische
tik enggeführt. Statt wie »früher« die Vergangen- Verschiebung vorführt, die das kolonisierte Sub-
heit narrativ zu ordnen und verfügbar zu machen, jekt spaltet in ein verinnerlichtes ›weißes‹ kollek-
wird Franza nach der »Jordanischen Zeit« von tives Unbewußte und das Körperzeichen der
traumatischen Bildern und verdichteten Wieder- ›schwarzen‹ Haut (Fanon 1980, S. 121), so zeigt
holungsszenen der Gewalt überschwemmt (TKA Bachmann die gleiche Diskrepanz zunächst zwi-
2, 213). In dieser ›anderen Erinnerung‹ bleibt die schen der ›weißen Maske‹ von Franzas Wiener
Vergangenheit auf distanzlose Weise präsent Existenz und ihrer »goldene[n] gallizische[n]
(Rauch, S. 44). Dementsprechend vermischen Haut« (»ich ausgeweidet, mit Wiener Stroh aus-
sich im zweiten Kapitel die beiden Erzähltempi gestopft«; TKA 2, 230). Als eine der »Einge-
Präteritum und Präsens. Wie später im Malina- borenen« (TKA 2, 262) scheint die galicische
Roman liegt die adäquate Form der Darstellung »Wilde« in Ägypten, gleichsam von der kulturel-
Todesarten-Projekt: Das Buch Franza 147

len Entfremdung geheilt, wieder aufzuerstehen eines ›anderen‹ Ich wahr, mit dem sie um ihre
(TKA 2, 265), die zitternde Franza – eben noch Identität ringt (TKA 2, 251). Nicht zufällig wird
»tot und weiß« (TKA 2, 173) – wird zunächst damit auf biblische Verkündigungsszenen ange-
»braun und fest«. Doch dient die vorgebliche spielt (vgl. Weber 1986, S. 223): Sowohl zu Mo-
Entsprechung von Topographie und Körperzei- ses als auch zu Johannes dem Täufer, der die
chen vor allem dazu, die Dynamik der kulturellen neuen Christen bezeichnenderweise im Jordan
(und geschlechtlichen) Diskriminierung zurück tauft (Mt 3, 1–6), auch den aus dem ägyptischen
zu übersetzen in den Kontext von Rassismus und Exil nach Israel zurückgekehrten Jesus (Mt 3,
Kolonisation, und indem Bachmann die weiße 13–17), bildet Franza eine Gegenfigur, und die
Frau Franza im dritten Kapitel als Metonymie zitierte Passion Christi (Zeller, S. 34; Weber
der Freudschen Metapher von der Weiblichkeit 1986, S. 222) mündet letztlich nicht in eine
als ›dunklem Kontinent‹ vorführt, verbindet sie (weibliche) Heilsgeschichte, sondern – mit der
das Jordansche Projekt psychischer Enteignung zerbrochenen Trinität von Vater, Gott und Leo
mit der Kolonisation Afrikas (Lennox 1998, Jordan (Patriarchat, Religion und Wissenschaft)
S. 14). – in die eigene »Dekomposition« (TKA 2, 287).
Bachmann wählt für den Prozeß der Meta- Die »andre Stimme« (TKA 2, 323) wird end-
morphose die gleiche Metapher wie Verena Ste- gültig freigesetzt, wenn Franza sich als Reaktion
fan 1975 in ihrem feministischen Bestseller Häu- auf die erneute Vergewaltigung durch einen ›Wei-
tungen (TKA 2, 206). Aber im Buch Franza geht ßen‹ den Kopf an einer der Pyramiden in Gizeh
es weniger um einen Neuanfang als um die ge- einschlägt. Nicht nur wird das Hirn als metony-
waltsame Formierung des Körpers durch Kultur mischer Ort des Rationalismus und als Gegen-
und Geschichte, die Franzas Transformation auch bewegung zum geistigen Enteignungs- und Kolo-
beim zweiten Mal offen legt: ein Würgemal am nialisierungsprozeß »in einem braunen oder
Hals (TKA 2, 208), jedes Wort führt zu Erstik- schwarzen Gehirn« zerstört (TKA 2, 278). Viel-
kungsanfällen, die Haut wirft platzende Blasen mehr versucht Franza offenbar auch, stellvertre-
(TKA 2, 206), bevor sie sich löst. Franzas körper- tend für die entfernten Mumien, gleichsam mit
liche Reaktionen markieren so die Schnittstelle dem Kopf durch die Wand in das mythologische
zwischen einer somatischen Sprache des Unbe- Totenreich der Ägypter zurückzukehren. Das
wußten sowie ihrer historischen Deutung und nach dem Bau des Assuan-Staudammes vom Nil
Bedeutung (vgl. Weigel 1994, S. 49 f.). In Ägypten überflutete Wadi Halfa erscheint denn auch nicht
bilden sie zudem das Medium für ein aus der nur deshalb als der eigentlich letzte Bestim-
europäischen Geschichte ausgeschlossenes, mungsort Franzas (TKA 2, 328), weil sie dort –
›fremdes‹ Gedächtnis. An die Seite der bishe- aufgehoben in einer utopisch gestalteten Völker-
rigen hysterischen Anfälle treten dabei magische gemeinschaft – am glücklichsten war, sondern
Praktiken der Einverleibung, welche die Kolo- Wadi Halfa wäre auch der Ort, mit dem Franza
nialgeschichte gleichsam pars pro toto vorführt erneut und endgültig in jenem Nilschlamm ver-
(vgl. Cassirer): Indem Franza, das Wiener schwinden könnte, der als Symbol für den Toten-
›Strohpräparat‹ (TKA 2, 230), mimetisch zur gott Osiris gilt. Darin angedeutet ist nicht nur
»Mumie« wird (TKA 2, 269), vergegenwärtigt der eine Absage an die christlich-jüdische Religion
von Jordan »beleidigt[e]« (TKA 2, 271) und ge- und eine mythische Reinszenierung der geschwi-
schändete Körper die Schändung der Pharaonen- sterlichen Vereinigung, sondern auch ein Gegen-
gräber durch weiße Archäologen. Umgekehrt modell zum psychoanalytischen Projekt der Er-
wiederholt die Störung der kultischen Totenruhe kundung unbekannter Seelenräume – einer »Kul-
durch die Überführung der Mumien in das Kai- turarbeit etwa wie die Trockenlegung der
roer Museum Jordans systematische Zerstörung Zuydersee« (Freud 1991, S. 81): Im Nil, dem
von Franzas natur- und sprachmagischer Weltauf- »Überschwemmer«, bleiben die Dinge im Verbor-
fassung (TKA 2, 171, 230). genen ›aufgehoben‹, die »ägyptische Finsternis
»[I]m Übergang zu etwas nicht Erkennbarem« […] ist vollkommen«. Sie wird zum Zeichen für
(TKA 2, 287) verdoppelt sich so nicht nur Franzas das Vergessen und für das Nicht-Repräsentier-
Körper (TKA 2, 283), sondern auch ihr Selbst. bare und birgt zugleich beides wie eine »Laterne«
Seit Betreten der Wüste nimmt sie die Stimme in sich (TKA 2, 333).
148 II. Das Werk

Kultur und Geschlecht Coca-Cola-Bedarfs in der Wüste (Lennox 1998,


S. 20 f.): Zur Stabilisierung der eigenen Identität
Die von Bachmann vorgeführten »Todesarten« und aus Karrieregründen entwirft Franza sich
zielen auf Erfahrungen der Vergewaltigung, Un- etwa schon in Wien als heroische Retterin »der
terwerfung und Enteignung in ihrer individuel- Neger oder der Überschwemmten« (TKA 2, 234).
len, historischen und gesellschaftlich-kulturellen Sie konstruiert so jene Dichotomie von Opfer-
Dimension und werden im Buch Franza entlang position und (kultureller) Überlegenheit, inner-
der Achsen von gender, race und class vorgeführt. halb derer sie später lediglich die Seiten wech-
Indem diese Achsen jedoch jeweils ineinander selt, um sich dabei das selbst entworfene ›An-
verschoben werden, drohen die jeweiligen »To- dere‹ regelrecht einzuverleiben (vgl. etwa Weber
desarten« ihren spezifischen historischen und 1993, S. 109). Dabei interpretiert Franza unter
kulturellen Kontext zu verlieren. Mit dem Rück- Vernachlässigung der historischen Fakten Teile
zug aus der Geschichte in den Mythos, der Ver- der Kolonialgeschichte derart ichbezogen um,
knüpfung von Weiblichkeit und Magie, der Frau daß darin entweder ein narrativer Kunstgriff zur
als Wildnis und Wilde sowie als Repräsentation Figurencharakterisierung gesehen werden kann,
des ›Anderen der Vernunft‹ verwendet Bach- der im Sinne eines »kritischen Exotismus« (Dial-
mann jene zeitlichen, topographischen und ide- lo, S. 34) die europäischen ›Orientalismen‹ Fran-
engeschichtlichen Topoi, mit denen auch femini- zas wiederholt und sie zugleich offen zu legen
stische Ansätze versucht haben, eine weibliche versucht (Lennox 1998, S. 15). Oder es steht zu
Existenzweise zu entwerfen, die jenseits der vermuten, daß gerade die zuletzt eingefügten und
Grenzen einer dominanten ›männlichen‹ Kultur nicht weiter überarbeiteten Passagen über den
liegen. Doch reproduzieren diese Topoi, wie Genozid an den Aborigines lediglich das histori-
nicht zuletzt die Kritik der black feminists seit sche Wissen der Zeit widerspiegeln bzw. schlicht
den achtziger Jahren gezeigt hat, auf problemati- Fehlinformationen enthalten (Albrecht 1998).
sche Weise jenen männlichen, ›weißen‹ Blick, Dabei wäre auch genauer zu untersuchen, wie
der seit der Aufklärung die »wahre[n] Wilde[n]« Bachmann mit der Sekundärliteratur, den zahl-
und das »Mysterium« in den Frauen sieht (Dide- reichen hinzugezogenen Reiseführern und Doku-
rot, S. 172 f.). Zudem wiederholt die Kontrastie- mentationen über Ägypten verfährt (Weber 1993,
rung von ›weißem Rationalismus‹ und ›orien- S. 106 f.; Lennox 1998, S. 18). So werden die
talischer‹ Entgrenzung innerhalb des Romans Verhaltensregeln für Europäer durchaus ironi-
(Haschischrausch, [Homo-] Sexualität) jenes Bild siert (TKA 2, 258 f.), und der Filmbericht, den
des Orients, mit dessen Hilfe und durch dessen sich Martin bei den Altenwyls ansieht, ist »mit
Ausgrenzung sich Europa konstituiert hat (Len- den erinnerten Bildern [nicht] übereinzubrin-
nox 1998, S. 19) – auch wenn Bachmann im gen« (TKA 2, 329).
Wüstenbuch noch versucht, mit dieser Gegen- In jedem Fall zeigt sowohl der Text als auch die
überstellung eine (von der Forschung bislang lange Zeit unkritische Rezeption der in der Bach-
nicht weiter beachtete) transgeschlechtliche Lie- mann-Forschung vielzitierten Selbstidentifika-
besutopie zu entwerfen und die Gewalt zwischen tion Franzas (»ich bin eine Papua«; TKA 2, 232),
den Geschlechtern als ein Produkt heterosexuel- mit welchen Topoi der europäische Diskurs und
ler Männlichkeitskonstruktion vorzuführen (TKA die ›weiße‹ Literatur Alterität konstruieren: In-
1, 247–249). dem Bachmann Franza durch verschiedene inter-
Möglicherweise ist dies auch der Grund, textuelle Übernahmen und Verweise gleichsam in
warum der nachfolgende Malina-Roman auf den die Rolle des lyrischen Ich aus Rimbauds Prosa-
Schauplatz Wien beschränkt blieb: Es gibt im gedicht-Zyklus Une saison en enfer einpaßt, wie-
Franza-Text einige versteckte Hinweise auf die derholt Franza dessen hierarchisierende Setzung
Fragwürdigkeit der Alteritätswahrnehmung der des Fremden als ein unterlegenes, aber utopi-
Protagonisten (Albrecht 1998, S. 85). So wird sches Prinzip (Göttsche 1991, S. 149 f.; Lennox
Franza, genauso wie ihr Bruder Martin (»ein 1998, S. 16). Auch hier ist bislang unklar, ob der
Weißer [unter] Weißen«; TKA 2, 331), selbst als Verdacht der ›literarischen Kolonisation‹ (Brin-
Teil der kritisierten kulturimperialen Weltsicht ker-Gabler, S. 98; Weber 1993, S. 106) begründet
charakterisiert, und dies nicht nur aufgrund ihres ist, oder ob Bachmann zugleich Kritik an Rim-
Todesarten-Projekt: Das Buch Franza 149

baud üben wollte. Ihr intertextuelles Verfahren spezifischen Masochismusverdacht belegt. Ob es


beschränkt sich jedenfalls offenbar auf europäi- Franza tatsächlich gelingt, gerade durch ihren
sche Autoren – obwohl sich in Bachmanns Biblio- Tod jenes Denken zu überwinden, daß »zum Ster-
thek zumindest auch Aimé Césaires Drama Im ben führt« (TKA 2, 78; vgl. Lennox 1984, S. 163,
Kongo. Ein Stück über Patrice Lumumba (1966, 175; Weigel 1984, S. 83; Gutjahr 1988, S. 182;
dt. 1966 mit einem Essay von Sartre) befand: Riedner, S. 328 f.), bleibt auch in der letzten Fas-
Neben Dante, Barbey, Musil, Rimbaud und sung fraglich: Im Roman verhallt die »andre
Frisch werden in der Forschung bislang vor allem Stimme« ungehört, eine konkrete Utopie wird
Wilkie Collins’ Schauerroman The Woman in nicht entworfen – es sei denn im Sinn einer
White (1860, dt. 1965) und T. E. Lawrences auto- Rückkehr vor die Geschichte der Kolonisation
biographischer Bericht über den arabischen Auf- (Weigel 1984, S. 86). Eine solche regressive Wen-
stand (1916–1918), The Seven Pillars of Wisdom dung dürfte jedoch eher der europäischen Ro-
(1926), genannt. Dabei bliebe noch zu erkunden, mantik als den antikolonialen Befreiungsszena-
welche Rolle der Bezug gerade auf romantisie- rien der 1960er Jahre entsprechen (vgl. Fanon
rende Orientberichte und auf Autoren der euro- 1966, S. 45). Und noch im Wüstenbuch erscheint
päischen Décadence spielt und inwiefern sich die der Selbstmord durchaus nicht als Akt der Befrei-
Zitierpraxis im Franza-Fragment von dem ge- ung oder des Widerstandes, sondern als Ver-
denkenden Dialog mit Paul Celan im Malina- zweiflungstat aus »Ohnmacht« gegenüber dem
Roman unterscheidet (Weigel 1999, S. 411–435). Stärkeren, denn Frauen »können nur sich selber
Offenbar entspringt die »andre Stimme« im Text den Tod geben. Sie können nicht herausfordern,
nicht zufällig dem Kopf einer ›white lady‹ und zum letzten Gefecht.« (TKA 1, 248)
bleibt als pure Negation der ›Weißen‹ erneut auf Franzas Austritt aus der Geschichte – der hi-
dieselben fokussiert, ohne einen interkulturellen storischen wie ihrer eigenen – erkennt die Macht
Dialog in Gang zu setzen. Doch mag dies auch des Stärkeren an und macht sie zugleich durch
dem historischen Kontext geschuldet sein: Statt deren Reinszenierung sichtbar (vgl. Weigel 1993,
Bachmann vorschnell als postkoloniale Autorin S. 17). Symptomatisch hierfür ist etwa die Be-
vereinnahmen (oder kritisieren) zu wollen, gilt es gegnung mit dem Nazi-Arzt Körner in Ägypten,
daher zunächst ihre Auseinandersetzung mit der nicht zufällig ein Mode-Arzt der »amerikanischen
sogenannten Neokolonialismus-Debatte in den Kolonie« (TKA 2, 299), den Franza aufsucht, um
1960er Jahren zu untersuchen (Albrecht 1998). die gleiche »toxische Dosis« (TKA 2, 315) zu
In der Forschung wurde mehrfach darauf hin- verlangen, die er den Opfern seiner Versuche
gewiesen, daß es Franza als einziger Protagoni- während des faschistischen Euthanasiepro-
stin der Todesarten möglich ist, sich ihrer doppel- gramms verabreicht hat. Ihm bringt sie damit –
ten Position als Opfer und Mittäterin bewußt zu stellvertretend für Jordan – »das Fürchten« bei
werden und die ›weiße‹ Instanz in sich zu zer- (TKA 2, 317), denn ihre »Ausmerzung« ruft als
stören. Damit hätte Franza jene »blutige Opera- Wiederholungsakt genau das in Erinnerung, was
tion« und jene Rückkehr zum »Eingeborenen- in den historischen Nürnberger Protokollen –
status« vollzogen, die Jean-Paul Sartre im Vor- und im Gedächtnis der Täter – als Lücke mar-
wort zu Frantz Fanons Die Verdammten dieser kiert ist: »Und: das weiß ich nicht. Und: darüber
Erde auf die Europäer zukommen sieht: »der war mir nichts bekannt.« (TKA 2, 306)
Kolonialherr [wird] ausgerottet, der auch in je-
dem von uns steckt.« (Fanon 1966, S. 20, 24)
Gedächtnis und Geschichte
Fanons Buch erschien bereits 1961, wurde 1965
ins Deutsche übersetzt, im »Kursbuch« vorabge- Franza leidet nicht nur an der in Wien erlittenen
druckt und 1966 im Suhrkamp-Verlag publiziert. psychischen Zerstörung, sondern auch an einer
In den frühen Entwürfen zum Franza-Roman »Krankheit des Damals« (TKA 2, 170), die mit
wird das Bewußtsein der Mittäterschaft aller- dem Zusammenbruch des ›Hauses Österreich‹
dings noch Martin zugeordnet, der Franza stell- begann, so daß sich letztlich die Frage stellt, wie
vertretend für alle Frauen als »willige Vertreterin die »Geschichten aller« und die »große Ge-
eines verbrecherischen Systems« (TKA 2, 6) be- schichte« zusammenpassen (TKA 2, 270). In ih-
zeichnet und so mit dem gängigen geschlechts- ren Frankfurter Vorlesungen hat Ingeborg Bach-
150 II. Das Werk

mann darauf hingewiesen, daß sich das Ich »nicht seits entspricht es dem österreichischen Nach-
mehr in der Geschichte aufhält, sondern daß sich kriegsmodell einer rückwärtsgewandten ›Hei-
neuerdings die Geschichte im Ich aufhält« (W 4, lung‹ und eines ›Austritts aus der Geschichte‹.
230). Während in Malina vor allem die mit dieser Dieses negative Geschichtsmodell, in dem sich
Geschichtsvorstellung verbundene Erzähl- und Franza – wie Österreich – ausschließlich als Op-
Subjektproblematik in den Vordergrund rückt, fer positioniert, enthält den Wunsch nach einem
betont das Franza-Fragment die geschichtsphilo- Schmerz- und »Gedächtnisverlust« (TKA 2, 170,
sophischen Implikationen. Dabei scheint Bach- 278), aber erst im Tod tritt Franza gleichsam in
mann nicht zuletzt den Gedächtnistheorien Wal- das »Haus Österreich« wieder ein und »in ihren
ter Benjamins verpflichtet zu sein, dessen Werke wirklichen alten Namen« (TKA 2, 170). Wie der
sich zum Großteil in ihrer Privatbibliothek be- im Krieg gefallene Vater in Ägypten gestorben,
fanden (Weigel 1994, S. 96). Wie Benjamin geht wird sie nun bei der Mutter im ›antikolonialen‹,
Bachmann (mit Freud) davon aus, »daß das Ge- vielsprachigen Dreiländereck begraben.
dächtnis nicht ein Instrument zur Erkundung der Bei der Beerdigung verweist Franzas verpaßter
Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz« Austritt aus der Kirche (TKA 2, 329) jedoch auf
(Benjamin 1985, S. 486), und offenbar hat sich ihren (vergeblichen) Versuch, die (Religions)Ge-
die Autorin auch an Benjamins Diktum orien- schichte auf anti-paternale Weise neu zu lesen.
tiert, daß »die Erinnerung nicht erzählend«, son- Wenn sie etwa den von Martin anempfohlenen
dern »episch und rhapsodisch« vorgehen müsse James Henry Breasted (TKA 2, 173), Autor von
(ebd., S. 487). »History of Egypt« (1906) und »The Dawn of
Anders als Benjamin erprobt Bachmann den Conscience« (1934), zurückweist, so zielt dies
Zusammenhang von Gedächtnisformen und Ge- indirekt auch gegen Sigmund Freuds Arbeit »Der
schichtskonzepten anhand von geschlechtlich Mann Moses und die monotheistische Religion«
und kulturell divergierenden Modellen. So wird (1939). Freud entfaltet Breasteds These, daß die
das Gedächtnismodell der Lagerungen, Schich- Wurzeln der monotheistischen Religion in Ägyp-
ten und Fundstellen dem Geologen Martin zuge- ten zu finden sind und auf die Regierungszeit
wiesen, der mit der Hinwendung zur Erdge- jenes Pharaos zurückgehen, der nach Martins
schichte aus einem linearen in ein vertikales Ge- Einschätzung die Bildnisse seiner Vorgängerin
schichtsmodell überwechselt. Individuelle wie Hatschepsut zerstören ließ. Indem sich die Wis-
kulturelle Verlust- und Schmerzerfahrungen wer- senschaftlerin Franza mit deren Geschichte iden-
den dadurch zum Naturereignis (TKA 2, 191 f.). tifiziert, wird einerseits die Religionsgeschichte
Das bei Benjamin mit dem Schichtungsmodell revidiert und eine ›weibliche‹, magisch-mythi-
verknüpfte Ideal der »sorgsamsten Durchfor- sche Alternative angedeutet. Andererseits führt
stung« (Benjamin 1985, S. 486) hingegen wird gerade diese Revision altbekannte eurozentrische
dem Psychiater und Psychoanalytiker Jordan zu- Modelle der kulturgeschichtlichen Entwicklung
geordnet, wandelt sich dabei von der Selbst- zur vor, deren Stufen – magisch-mythisches Weltbild,
Fremdbeobachtung und mündet in einen »Be- Religion, Wissenschaft (Freud 1960, S. 108; Cas-
deutungswahn« (TKA 2, 216), der Franzas Erin- sirer, Bd. 2, S. 32, Bd. 3, S. 91) – lediglich neue
nerungen zu Fehlleistungen erklärt (TKA 2, Vorzeichen erhalten.
186 f.). Auf diese Weise können Gedächtnis und
Geschichte des (weiblichen, kolonialen) Anderen
Schrift und Lektüre
angeeignet und solchermaßen neu konstruiert wer-
den, daß das vormalige Subjekt allenfalls noch als Eng verbunden mit den Gedächtnisformen und
Objekt darin anwesend ist. Der Beobachter wird Geschichtsmodellen ist die Frage der Repräsen-
so gleichsam zum allwissenden Erzähler (Brin- tation. Franzas somatisches und traumatisches
kemper, S. 163). Als drittes Modell führt Bach- Gedächtnis setzt ein, nachdem alles, was sie »je
mann die Mnemonik des Schmerzes vor, die so- sichtbar getan hatte«, aus der symbolischen Ord-
wohl an das Körpergedächtnis (TKA 2, 278) als nung verdrängt worden und unsichtbar geworden
auch an das Namensgedächtnis (TKA 2, 171) ist (TKA 2, 209). Als Co-Autorin von Jordan aus
rückgebunden wird. Franzas Geschichtsmodell dem gemeinsamen Buch über die Nürnberger Ärz-
ist einerseits eines der Wiederholung, anderer- teprozesse ausgelöscht, wird sie zum Objekt von
Todesarten-Projekt: Das Buch Franza 151

Jordans Schrift und bildet nun selbst einen Text, dächtnis zeigt sich am Ende auch in dem Ägyp-
den es zu deuten gilt: »zerblättert« (TKA 2, 208), tenfilm, der mit Martins Erinnerungsbildern
gelesen und als ›Fall‹ in Jordans Stenokürzeln nicht übereinstimmt, und verweist zurück auf
neu verschriftet. In der Forschung ist darauf hin- den Anfang des Romans. Hier wird ein poetolo-
gewiesen worden, daß dies – wie überhaupt das gisches Programm entworfen, das aus der Fiktion
ganze Fragment – als Teil einer Auseinander- Erkenntnisse über die reale Welt zu gewinnen
setzung mit dem literarischen Verfahren Max sucht, denn das »Wortgeröll« spielt stets auf et-
Frischs gelesen werden kann (Albrecht 1989a, was an, »das es gibt, und auf anderes, das es nicht
S. 112). Zugleich entwickelt der Text ein alterna- gibt« (TKA 2, 133). Diese narrative Doppelfunk-
tives Schriftmodell, das vielleicht nur bedingt als tion, die bekanntlich seit Aristoteles zur Aufwer-
›weibliche‹ Schreibweise und Dekomposition tung der Fiktion gegenüber der Geschichtsschrei-
der Schrift (Schuller, Weigel 1984) gedeutet wer- bung gedient hat, charakterisiert Bachmann in
den kann, sondern – wie die Theorien der écri- den Frankfurter Vorlesungen als Differenz zwi-
ture féminine selbst auch – auf sprachphilosophi- schen symbolischer und imaginärer Ebene: In
schen Überlegungen der Moderne basiert. jedem großen literarischen Werk sei etwas »ver-
Statt nämlich wie Martin die von Jordan weg- blüht, verwittert« (W 4, 258), so daß ein Mangel
geschlossenen Brieffragmente Franzas, die wie- entsteht, in den Neues eingetragen werden kann.
derholt auf etwas verweisen, das sich nicht in Insofern eröffnet Literatur die utopische Mög-
Worte fassen läßt, als einen mißratenen Text zu lichkeit, gerade das zu lesen, was nie geschrieben
deuten (»ein unglücklich formulierter Satz […]. wurde (Benjamin 1977b).
Peinlich«; TKA 2, 146) oder als das graphologi- Quellen: Walter Benjamin (1977a): Über Sprache über-
sche Dokument einer verfehlten Entwicklungs- haupt und über die Sprache des Menschen. In: Benja-
stufe zu werten (TKA 2, 145, 216 f.) und auf diese min: Schriften, Bd. II,1. (Hg.) Rolf Tiedemann, Her-
Weise Schrift lediglich als Symbolsystem wahr- mann Schweppenhäuser. Frankfurt/M., S. 140–157; –
zunehmen, scheint Bachmann dafür zu plädieren, Walter Benjamin (1977b): Über das mimetische Ver-
das mimetische Vermögen der Sprache neu zu mögen. In: Ebd., S. 210–213; – Walter Benjamin
(1985): Berliner Chronik. In: Benjamin: Schriften, Bd.
entdecken. Dies erfordert ein Lektüremodell, das VI. (Hg.) Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäu-
Sprache nicht allein als »Mitteilung des Mit- ser. Frankfurt/M., S. 465–519; – Ernst Cassirer (1964):
teilbaren, sondern zugleich [als] Symbol des Philosophie der symbolischen Formen. 4 Bde. Darm-
Nicht-Mitteilbaren« begreift (Benjamin 1977a, stadt; – Denis Diderot (1953): Über die Frauen. In:
S. 156). Und es erfordert eine Schrift, in der Erzählungen und Gespräche. Leipzig; – Frantz Fanon
(1966): Die Verdammten dieser Erde. Vorwort von
Subjekt und Objekt des Geschriebenen identisch
Jean-Paul Sartre. Frankfurt/M.; – Frantz Fanon (1980):
sind. Eine solche Schrift findet Franza in den Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt/M.; – Sig-
ägyptischen Hieroglyphen: »Ihr habt euch gut mund Freud (1960): Totem und Tabu. In: Freud: Ge-
beschrieben.« (TKA 2, 291) Ausschlaggebend ist sammelte Werke, Bd. 9. (Hg.) Anna Freud, Eduard
für Bachmann jedoch offenbar weniger eine Bibring, Ernst Kris. Frankfurt/M.; – Sigmund Freud
Rückkehr in ein Medium der sinnlichen Ähnlich- (1974): Das Unbehagen in der Kultur [1930]. In: Freud:
Kulturtheoretische Schriften. Frankfurt/M., S. 191–
keit, die am Übergang zwischen Körperlektüre
270; – Sigmund Freud (1991): Neue Folge der Vor-
und alphabetischer Schrift steht (Benjamin lesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frank-
1977b, S. 213). Wichtig ist vielmehr das Material furt/M.
der Schrift: Im (Grab-) Stein bleibt noch in der
Literatur: Albrecht (1989a); Albrecht (1998); Göttsche
Tilgung der Symbole das Ausgelöschte als »Le-
(1991); Grimkowski (1992); Gutjahr (1988); Hapke-
benszeichen« sichtbar (TKA 2, 291, vgl. auch meyer (1982a); Lennox (1984); Lennox (1998); Thau
169 f.). Eine Lektüre solcher Leerstellen ermög- (1986); Weber (1986); Weigel (1984); Weigel (1999).
licht einerseits eine Geschichte der »Zerstörungs- Monika Albrecht (1998a): Text-Torso oder Trümmer-
wut« (TKA 2, 274), die am Ende offenbar auch feld? Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt im Jahr
Martin erlernt hat (TKA 2, 330), andererseits 1973. In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 28–47; –
Peter Brinkemper (1985): Ingeborg Bachmanns Der Fall
entziehen sich die »ausgekratzten Zeichen« (TKA
Franza als Paradigma weiblicher Ästhetik. In: Modern
2, 274) der Reduktion auf die Symbolfunktion der Austrian Literature 18, Heft 3/4, S. 147–182; – Gisela
Sprache (Weigel 1984, S. 85). Brinker-Gabler (1993): Andere Begegnung. Begegnung
Die Differenz zwischen Aufzeichnung und Ge- mit dem Anderen zwischen Aneignung und Enteig-
152 II. Das Werk

nung. In: Seminar 29, S. 95–105; – M. Moustapha Keimzelle des Todesarten-Projekts darstellt, zu
Diallo (1998): »Die Erfahrung der Variabilität«. Kri- den beiden als Anschluß an die »Ouvertüre« Ma-
tischer Exotismus in Ingeborg Bachmanns Todesarten-
lina geplanten Teilen des Todesarten-Zyklus
Projekt im Kontext des interkulturellen Dialogs zwi-
schen Afrika und Europa. In: Albrecht/Göttsche (1998), (dem parallel zu Malina entstandenen Gold-
S. 33–58; – Dirk Göttsche (1990): Erinnerung und Er- mann/Rottwitz-Roman sowie der Erzählung Gier
zählstruktur in der erzählenden Prosa Ingeborg Bach- aus dem Umfeld der Simultan-Erzählungen) und
manns. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 13, zu der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann,
S. 99–118; – Karl Krolow (1994): Der gefolterte Mensch einer Zwischenstufe zwischen der Fanny-Ge-
[1979]. In: Schardt (1994), S. 257–259; – Angelika
schichte des ersten Todesarten-Romans und der
Rauch (1992): Die Über(be)setzung der Vergangenheit.
Ingeborg Bachmanns Roman Der Fall Franza. In: Ger- Fanny Goldmann-»Todesart« des Goldmann/
man Quarterly 65, S. 42–54; – Ursula Renate Riedner Rottwitz-Romans. Während Ingeborg Bachmann
(1996): Zwischen der Erfahrung von Zerstörung und im Buch Franza und auch in Malina in der Tradi-
utopischem Entwurf. Formen des Umgangs mit dem tion des Individualromans die »Todesart« einer
Fremden in Ingeborg Bachmanns Romanfragment Der weiblichen Figur zur Grundlage der Darstellung
Fall Franza. In: Das nahe Fremde und das entfremdete
und Reflexion gesellschaftlicher Gewaltstruktu-
Eigene im Dialog zwischen den Kulturen. Festschrift
für Nabil Kassem. (Hg.) Dietlinde Gipser, Iman Scha- ren in den Nachkriegsjahrzehnten macht,
labi, Ellen Tichy. Hamburg, Kairo 1996, S. 299–332; – schließt sie im ersten Todesarten-Roman und im
Jost Schneider (1996): Funktionen des Blaubart-Zi- Goldmann/Rottwitz-Roman an das vielfigurige,
tates in Ingeborg Bachmanns Romanfragment Das polyzentrische Strukturmodell des Gesellschafts-
Buch Franza. In: Märchen und Moderne. Fallbeispiele romans an, um im Sinne einer kritischen literari-
einer intertextuellen Relation. (Hg.) Thomas Eicher.
schen Sittengeschichte die Gewaltstrukturen des
Münster, S. 115–132; – Karin Schrader-Klebert (1969):
Die kulturelle Revolution der Frau. In: Kursbuch 17, Alltags, insbesondere des Geschlechterverhält-
S. 1–46; – Marianne Schuller (1984): Wider den Bedeu- nisses, und die Auseinandersetzung mit der euro-
tungswahn. Zum Verfahren der Dekomposition in Der päischen und österreichischen Geschichte im
Fall Franza. In: Text + Kritik (1984), S. 150–155; – Zeichen des Nationalsozialismus in einen ästhe-
Bettina Stuber (1994): Zu Ingeborg Bachmann. Der Fall tischen Reflexionszusammenhang zu bringen
Franza und Malina. Rheinfelden, Berlin; – Mireille
(Göttsche 1998). Die poetologischen Grundlagen
Tabah (1998): Zur Genese einer Figur: Franza. In:
Heidelberger-Leonard (1998), S. 91–106; – Hermann dieses Zusammendenkens von privater Ge-
Weber (1993): »Zerbrochene Gottesvorstellungen«. schichte und Weltgeschichte hat Bachmann sich
Orient und Religion in Ingeborg Bachmanns Roman- zum Teil schon früher erarbeitet, und zwar be-
fragment Der Fall Franza. In: Göttsche/Ohl (1993), sonders in einer aus zwei komplementären
S. 105–127; – Sigrid Weigel (1993): Zur Polyphonie des Aspekten zusammengesetzten Denkfigur, die aus
Anderen. Traumatisierung und Begehren in Bachmanns
der Arbeit an den Frankfurter Vorlesungen und an
imaginärer Autobiographie. In: Pattilo-Hess/Petrarsch
(1993), S. 9–24; – Sigrid Weigel (1994): Bilder des den Erzähltexten derselben Zeit erwachsen ist
kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwarts- (Albrecht 2003): In dieser Denkfigur verbindet
literatur. Dülmen-Hiddingsel; – Jürgen Wertheimer sich die Einsicht, daß die Geschichte im einzel-
(1988): »Galizien«, Transitraum zum Untergang. Inge- nen ihre Spuren hinterläßt (komprimiert in der
borg Bachmanns Raum-Projektionen in Der Fall vielzitierten Formel »Geschichte im Ich«; W 4,
Franza. In: Space and Boundaries. Proceedings of the
230), mit der Zurückführung der »politische[n]
XIIth Congress of the International Comparative Lite-
rature Association, Bd. 2. München, S. 226–233; – Eva Geschichte auf den sozialen Alltag der Gesell-
Christina Zeller (1988): Ingeborg Bachmann: Der Fall schaft« (Göttsche 1998a, S. 56), die in der zeit-
Franza. Frankfurt/M. u. a. gleichen Reflexion über die »eigene Geschichte«
Britta Herrmann und »die große Geschichte« formuliert wurde
(TKA 1, 60; vgl. auch 51 f., 53, 54 f.). Diese für
das Todesarten-Projekt insgesamt leitmotivische
5.3.4. Andere unvollendete Todesarten-Texte
wechselseitige Verschränkung von Lebensge-
Neben dem Romanfragment Das Buch Franza, schichte und politischer Zeitgeschichte, von Zeit-
dem am weitesten ausgearbeiteten und am brei- kritik und Reflexion des Geschlechterverhältnis-
testen rezipierten der unvollendeten Todesarten- ses ist in der dreischrittigen Ausgestaltung der
Texte, enthält der Nachlaß der Autorin Entwürfe Fanny Goldmann-Geschichte besonders augen-
zu ihrem ersten Todesarten-Roman, der die fällig, während im Gier-Fragment die kriminal-
literarischen Elemente der Todesarten-Texte ein-
mal ganz in den Vordergrund rücken.
Todesarten-Projekt: Andere unvollendete Todesarten-Texte 153

Erster Todesarten-Roman (Eugen-Roman II) fluß des ›seltsamen Klubs‹ und seiner diversen
Versuchsreihen zurückgehen.
Ingeborg Bachmanns erster Todesarten-Roman, In dem ersten Todesarten-Roman wird mit den
an dem sie in den Jahren 1962 bis 1965 gearbeitet Mitteln der aus Bachmanns Frühwerk vertrauten
hat, ist erst in der Kritischen Ausgabe des Todes- surrealistischen Parabolik eine »ironische Kon-
arten-Projekts (1995) aus dem Nachlaß rekon- trafaktur« (Göttsche 2000, S. 31) von Robert Mu-
struiert worden. Während sie in ihren Roman- sils Modell des Habsburgerreiches als »geschicht-
entwürfen der 1950er Jahre nach dem Modell des liche[s] Experimentierfeld« (GuI, 64) der Mo-
Entwicklungsromans die Nachkriegszeit im Spie- derne gestaltet, in dem »die Geschichte, obgleich
gel der Erfahrungen von Kriegsheimkehrerfigu- die Uhren immer nachzugehen scheinen, sich in
ren reflektiert hatte (Ein Fenster zum Ätna, Eu- Wirklichkeit etwas weiter befand als an anderen
gen-Roman I), legt sie ihren ersten Todesarten- Stellen der weniger empfindlichen Erdoberflä-
Roman als den »Entwurf eines vielfigurigen che« (TKA 1, 99). Mit seiner grotesken Verbin-
Wiener Zeitromans« an, »in dem sich unter- dung von Österreichthematik und Zeitkritik –
schiedliche ›Geschichten‹ wechselseitig beleuch- u. a. in der Form der von der »Austrotour« ver-
ten« (Göttsche 2000, S. 23). Den Ausgangspunkt anstalteten Wiener Stadtrundfahrten (TKA 1,
dieser polyzentrischen Zeitreflexion bilden zu- 163 f.), wie Bachmann sie später in dem aus
nächst die Erfahrungen des männlichen Protago- Malina herausgenommenen Text Besichtigung ei-
nisten Eugen, einer veränderten Wiederauf- ner alten Stadt satirisch gestaltet –, von faschi-
nahme des Kriegsheimkehrers Eugen Tobai aus stoider Organisation und Technologie- bzw. Wis-
dem Romanfragment 〈Eugen-Roman I〉, nun kon- senschaftsgläubigkeit exemplifiziert der Geheim-
zipiert als ein habilitierter Historiker, der »die bund auf seine eigene, erschreckende Weise die
Geschichte« »zu verwalten« hat (TKA 1, 115, 162). »Krankheit unserer Zeit« (GuI, 72), die Thema
Als Historiker verbürgt Eugen den zeitkritischen schon des ersten Todesarten-Romans ist.
Blick des Romans auf die gesellschaftliche Ent- Eugen ist jedoch nicht nur ein Historiker, der
wicklung Österreichs (und insbesondere des durch seine Verbindungen zum Seltsamen Klub
Schauplatzes Wien in der Nachkriegszeit) und als Integrationsfigur der Zeitkritik und der Ge-
zugleich die Auseinandersetzung mit österreichi- schichtsthematik fungiert, sondern zugleich eine
scher Geschichte und österreichischem Ge- männliche Parallel- und Vorläuferfigur der Todes-
schichtsbewußtsein vom Zusammenbruch des arten-Protagonistinnen. Er erleidet alptraum-
Habsburgerreiches über die Erfahrung des Natio- hafte Todesangst-Erlebnisse, wie sie später
nalsozialismus bis zum Kalten Krieg. In diesem Franza und die Ich-Figur in Malina erschüttern
Sinne erzählt das »I. Kapitel / Ein seltsamer (TKA 1, 107–111), und lebt in der beständigen
Klub« von Eugens Initiation in einen politischen »Furcht, ermordet zu werden« (TKA 1, 106).
Geheimbund, der mit Hilfe einer Art symbo- Während die entsprechenden Erfahrungen der
lischer »Waschmaschinen« Österreichs »Austritt weiblichen Figuren aber das Ergebnis von männ-
aus der Geschichte« betreibt und nach einer »and- licher Machtausübung und eigenem weiblichen
ren Bestimmung« der Menschheit sucht (TKA 1, Rollenverständnis sind, also Motive im Diskurs
97). Er bedient sich dabei aber auf zynische Weise der Todesarten-Romane über das herrschende
jener Art von »Gefühlsversuche[n]«, »Liebesver- Geschlechterverhältnis in der Nachkriegsgesell-
such[en]« und »Furcht- und Mut-Untersuchun- schaft, brechen Eugens Verstörungen mit ebenso
gen« (TKA 1, 99 f.), die an die Menschenversuche elementarer Unmotiviertheit über ihn herein wie
einer präfaschistischen Organisation im Berlin über die Protagonisten in Bergmanns Film Das
der 1920er Jahre erinnern, wie sie in Ingmar Schlangenei; seine Todesangst-Erlebnisse und
Bergmanns Film Das Schlangenei (1976; vgl. seine Furcht vor Mord lesen sich insgesamt als
Bergmann 1977) thematisiert werden. Wenn- Ausdruck eines existentialistischen Geworfen-
gleich eine potentielle gemeinsame Quelle von seins und der ›Ohnmacht‹ (TKA 1, 104) ange-
Bachmann und Bergmann für diese Versuche bis- sichts einer technisierten und ungesicherten
lang noch nicht ermittelt ist, drängt sich doch der Welt, haben aber dennoch ihre Wurzeln – und
Gedanke auf, daß Eugens unmotivierte Anfälle möglicherweise sogar ebenso reale wie in Ingmar
von Todesangst auf einen entsprechenden Ein- Bergmanns Film – in den gesellschaftlichen Ge-
154 II. Das Werk

waltstrukturen seiner Zeit. Wie die surrealisti- an, denen kontrapunktisch die humoristisch dar-
sche Parabolik des Seltsamen Klubs exemplifi- gestellte Episode um Eugen und seine »neueste
ziert die Weiterführung existentialistischer Mo- Affaire« (TKA 1, 139) oder Mareks Briefwechsel
tive aus Bachmanns Werk der späten 1940er und mit Barbara von Pfaundler (TKA 1, 145–148)
1950er Jahre mithin die Schwellenposition des gegenüberstehen. So entsteht schrittweise ein
ersten Todesarten-Romans (und inbesondere der ausgebreitetes Netz von vielfältig miteinander
Entwürfe der ersten Arbeitsphase 1962/63) zwi- verbundenen Figuren und Paaren, die teils aus
schen ihrem früheren Erzählwerk und dem der psychologisierenden Innenperspektive, teils
neuen Projekt der Todesarten. oder in anderen Kontexten aus der Außenper-
Eugens Todesangst-Erlebnisse verbinden ihn spektive einer Gesellschaftsdarstellung beleuch-
mit den Verstörungen der Protagonistinnen des tet werden, wo sie neben solche typischen Zeit-
ersten Todesarten-Romans, die ihren vorrangigen romanfiguren wie den Freimaurer und Stadtfüh-
Grund nun allerdings im Verhältnis der Ge- rer Gustav Hämmerle, Fannys »erste[n]
schlechter haben. Im Mittelpunkt der jüngeren Liebhaber« (TKA 1, 165), oder den ehemaligen
Entwürfe (Arbeitsphase 1964) steht unter den kommunistischen Kulturbeauftragten Stepanek
Überschriften »Die gestohlenen Jahre« (TKA 1, treten, der nach dem Österreichischen Staats-
117ff.) und »Phase 2« (TKA 1, 142ff.) das Schick- vertrag an seiner Ächtung durch den neuen Anti-
sal der ehemaligen PEN-Sekretärin Fanny – ihr kommunismus zu zerbrechen droht (TKA 1,
Nachname schwankt zwischen »P.«, »S.«, 100ff.).
»Strotzky« und »Strotzka« –, die dem von ihr Obwohl die Verschränkung von exemplari-
geliebten jungen Autor Anton Marek, einem schen »Todesarten« und übergreifender Zeitkritik
skrupellosen gesellschaftlichen Aufsteiger aus sowie das Konfigurationsprinzip der wechselsei-
der Provinz, zum erfolgreichen Beginn seiner tigen Spiegelung im Fragment des ersten Todes-
literarischen Karriere verhilft, um sich dann von arten-Romans also klar hervortreten, sind die
ihm in seinem ersten Roman als biographisches überlieferten Entwürfe stilistisch ausgesprochen
Material »ausgeschlachtet« zu sehen (TKA 1, heterogen und zeigen deutliche Spuren der Suche
118). »Fanny als Furie, als Rächerin ihrer Ehre« nach geeigneten Darstellungsmitteln für das
(TKA 1, 143) bleibt eine groteske Phantasie; statt- neue Sujet der »Todesarten«. Dies schlägt sich vor
dessen verfällt dieses »Opfer der Literatur« (TKA allem in den ersten Entwürfen auch in einer
1, 135; vgl. auch 353) dem Alkoholismus und der Brechung des Erzählflusses durch poetologische
Selbstzerstörung und veranschaulicht so die Zer- Selbstreflexionen nieder, beispielsweise über den
störbarkeit des von ihr verkörperten weiblichen Begriff des Helden (TKA 1, 87), die »Theorie
Identitäts- und Rollenverständnisses. Der Roman einer Figur« (TKA 1, 89) oder die Unabschließ-
führt allerdings deutlich über ihren Tod hinaus, barkeit des Erzählens, die hier bereits die Be-
beleuchtet dessen Resonanz in der dargestellten gründung für jenes zyklische Erzählen vorweg-
Wiener Gesellschaft und fügt Fannys »Todesart« nimmt, das aus der Arbeit am ersten Todesarten-
im Sinne ihrer Repräsentativität die Schicksale Roman hervorgeht: Seit »Tausendundeine Nacht«
anderer Frauenfiguren hinzu, die auf ihre Weise wisse man, so der Erzähler, »daß an jedes Er-
ebenfalls die moralische »Krankheit unserer zählte sich ein weitres anhängen kann. Muß, es
Zeit« veranschaulichen. Karin Krause, die an- muß sich dran knüpfen, […] denn alles Endliche
fangs nicht mehr als eine Negativfolie zu Fanny zu zu erzählen, dazu würde keine Unendlichkeit der
sein scheint, wird in ihrem Leiden an Mareks Erzählmöglichkeiten ausreichen« (TKA 1, 92).
Rücksichtslosigkeit (als Präfiguration der Deut- Diese Reflexion über die Unabschließbarkeit des
schen Aga Rottwitz im späteren Goldmann/Rott- Erzählens verweist nicht zuletzt auch auf Robert
witz-Roman) zur gleichgewichtigen Parallel- und Musil, indem sie dessen Einsicht aufgreift, daß
Kontrastfigur, zumal sie sich als Deutsche in »alles schon unerzählerisch geworden ist und
Wien ausgegrenzt und auch von Eugen ›verraten‹ nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in
sieht (TKA 1, 161). Der Dreieckskonstellation einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet«
Fanny/Toni/Karin lagern sich in den Paaren (Musil, S. 650). Vor der Erweiterung der Arbeit
Britta und Wolf, Jordan und Elvira (»Eheduell«; an einem einzelnen Todesarten-Roman zum Plan
TKA 1, 112ff.) weitere potentielle »Todesarten« eines Todesarten-Zyklus begründet die poetologi-
Todesarten-Projekt: Andere unvollendete Todesarten-Texte 155

sche Reflexion die polyzentrische Struktur des mann ein, die Arbeit an dieser Erzählung bringt
vielfigurigen Gesellschaftsromans, der in der vor allem auch die Figur Maria Malina hervor
Tradition der literarischen Moderne zugleich (Albrecht 1998a, S. 43ff.), deren dort ebenfalls
seine eigene Literarizität reflektiert. In diesem schon genannter Bruder in der Folge zu einer
Sinne wird Fanny in der verzweifelten Ausein- Zentralfigur der Todesarten und zur Titelfigur
andersetzung mit ihrer moralischen Zerstörung der »Ouvertüre« Malina werden soll.
durch Toni Marek zur »Musterschülerin der Die Wiederaufnahme des Fanny-Stoffes aus
neuen Literatur« und zur Sammlerin der Schick- dem ersten Todesarten-Roman geht mit einer ent-
sale von weiblichen Opfern männlichen Schrei- schiedenen Neuanlage der Protagonistin und ei-
bens (TKA 1, 135). In werkgeschichtlicher Per- ner zeitgeschichtlichen Vertiefung ihres Schick-
spektive sind solche Motive nicht nur der Aus- sals einher. Aus der ehemaligen PEN-Sekretärin
gangspunkt für die im Buch Franza und in Fanny P./S./Strotzky/Strotzka wird Fanny bzw.
Malina immer systematischer ausgeweitete In- Stephanie Theres Wischnewski, die älteste Toch-
tertextualität, sondern auch für die Fokussierung ter eines in die Ermordung des österreichischen
der Zeitkritik auf den Literaturbetrieb in der Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß in dem natio-
Rahmenhandlung des Goldmann/Rottwitz-Ro- nalsozialistischen Putsch 1934 verstrickten
mans. Oberst aus dem gehobenen Wiener Bürgertum.
Sie nimmt als Schauspielerin in den ersten Nach-
kriegsjahren den Namen Fanny Goldmann an,
Requiem für Fanny Goldmann
also den Namen ihres Mentors und zeitweiligen
Parallel zur Arbeit am Buch Franza hat Ingeborg Ehemannes Harry/Ernst Goldmann, eines jüdi-
Bachmann 1966 auch den Fanny-Stoff des ersten schen Remigranten, der als amerikanischer Kul-
Todesarten-Romans wiederaufgenommen und zu turoffizier nach Wien zurückkehrt (TKA 1,
Entwürfen einer eigenen Erzählung mit dem Ti- 289 f.). Die Neukonstruktion der Figur bedeutet
tel Requiem für Fanny Goldmann ausgeweitet, also zunächst eine schärfere soziale Verortung,
deren Material Ende 1966/67 dann aber in die ihren spezifischen »Erfahrungsfundus, Emp-
den Goldmann/Rottwitz-Roman eingearbeitet findungsfundus« (GuI, 63) und damit die lebens-
wurde. Durch die Ausgabe »Werke« (1978) wurde geschichtlichen und moralischen Voraussetzun-
unter dem Titel Requiem für Fanny Goldmann gen ihrer Verführbarkeit und Zerstörbarkeit
zunächst eine kontaminierende Zusammenstel- durch den ›Mörder‹ Anton Marek erhellt, wie
lung ausgewählter Entwürfe aus den ersten bei- umgekehrt auch dieser deutlicher als das Produkt
den Stufen der Fanny-Geschichte bekannt; im kleinbürgerlicher Aufstiegsmentalität dargestellt
folgenden geht es dagegen auf der Grundlage der wird (TKA 1, 288, 304 f.). Mit der lebensge-
Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts schichtlichen Vertiefung von Fannys Schicksal
(1995) allein um jenes zweite, eigenständige Sta- verbinden sich ausführliche Retrospektiven in die
dium dieses Arbeitsprozesses, das diese Über- erste Nachkriegszeit, die mit der Formel »in einer
schrift ursprünglich meint. In diesem Stadium längstvergangenen Zeit« (TKA 1, 289, 290) von
konzentriert sich die Erzählung ganz auf die Ti- nun an als Einleitung der Goldmann-Geschichte
telfigur Fanny Goldmann, und entsprechend re- fungieren und Fannys persönliches Drama in die
duziert sich die Bedeutung ihrer Parallel- und zeitgeschichtliche Perspektive einer Auseinan-
Gegenfigur im ersten Todesarten-Roman, Karin dersetzung mit der Geschichte der österreichi-
Krause, auf ihre Funktion in der Dreieckskon- schen Nachkriegsgesellschaft rücken. Im Zen-
stellation Fanny/Toni/Karin. Zugleich verschiebt trum steht hier die Welt des Theaters, in der
sich das mit der Wiener Welt der Todesarten Fanny dank ihrer Haltung, ihrer Schultern und
verbundene Figurennetz. Die Figur Eugen tritt ihres »Tonfalls« (TKA 1, 291) einen begrenzten
von nun an ganz zurück und taucht nur noch in Erfolg als Schauspielerin erlebt, bevor sie zur
einem autoreflexiven Rückblick auf die Genese »schönen Statistin« herabsinkt, während ihr in
der Titelfigur in dem Roman Malina auf (TKA Maria Malina, der nachmaligen Schwester des
3.1, 288). Dagegen geht nicht nur die Figur Mar- späteren männlichen Erzählers Malina, eine
tin (Ranner) aus dem gleichzeitig entstehenden wahrhaft »große Schauspielerin« gegenübersteht
Buch Franza in das Requiem für Fanny Gold- (TKA 1, 294). Fanny, die lediglich ihre Schönheit,
156 II. Das Werk

ihre »Manieren« und ihren »Konversationston« reichischen Schauspielerin Fanny Goldmann und
(TKA 1, 313, 309) auf die Bühne trägt, ist als der deutschen Journalistin Eka Kottwitz/Aga
Schauspielerin demgegenüber nur das Produkt Rottwitz, die sich im Sinne einer Poetik der »Ana-
der nostalgischen Österreich-Phantasie des Re- logie[n]« (TKA 1, 389) wechselseitig spiegeln
migranten Harry Goldmann (TKA 1, 296) und und zugleich auf das verborgene Drama von Ma-
repräsentiert theatergeschichtlich die restaura- linas Schwester Maria verweisen (Albrecht
tive Wiederanknüpfung an das klassizistische 1989a, Albrecht 1993). In seiner überlieferten
bürgerliche Vorkriegstheater (Göttsche 1998, Form ist dieses Romanfragment erst durch die
S. 175). Dennoch hält sie bis zuletzt an diesem Kritische Ausgabe des Todesarten-Projekts be-
Selbstentwurf »einer Frau mit Haltung« und »den kannt geworden (1995), während die Ausgabe
unsterblichen Schultern der 1950er Jahre« fest der »Werke« (1978) ohne Rücksicht auf den äs-
(TKA 1, 287, 311) und entgleitet als »Antiquität« thetischen Strukturzusammenhang unter der
(TKA 1, 320) so mehr und mehr der sich verän- Überschrift »Aus den Entwürfen zur Figur Ma-
dernden Wirklichkeit der Nachkriegsjahrzehnte. lina« nur eine kontaminierende Zusammenstel-
Nicht zufällig vermag sie der Auseinandersetzung lung von Teilen der Rahmenhandlung bot (W 3,
ihres geschiedenen Mannes Ernst Goldmann mit 525ff.).
seiner jüdischen Herkunft und der »Geschichte Der Goldmann/Rottwitz-Roman geht in sei-
der Juden« später nicht mehr zu folgen (TKA 1, nem Motivbestand aus der Weiterentwicklung
299 f.). So gehört sie trotz der partiellen Emanzi- und Neukomposition älterer Motive, Figuren und
pation aus dem sozialen Milieu ihrer Herkunft in Handlungselemente und in seiner Grundidee aus
zeitgeschichtlicher Hinsicht zu den »Strategen dem Konzept des Malina-Romans hervor (Al-
des Vergessens« (Heidelberger-Leonard 1994, brecht 1993). Als Bachmann ihren ersten Roman
S. 119), denen die Erzählung in der Figur Harry/ als »Ouvertüre« der Todesarten bezeichnete, fügte
Ernst Goldmann die Auseinandersetzung mit sie hinzu: »Malina wird uns erzählen können,
dem Nationalsozialismus und den Problemen jü- was ihm der andere Teil seiner Person, das Ich,
discher Identität im deutschsprachigen Raum hinterlassen hat.« (GuI, 95 f.) Diese Interview-
entgegenstellt (Heidelberger-Leonard 1998a). aussage korrespondiert mit dem Schluß des Ma-
Angesichts der Frankfurter Auschwitz-Prozesse lina-Romans, an dem dieses weibliche Ich seine
(1963–65) entwirft Bachmann die zeitgeschicht- »Geschichten« dem männlichen alter ego Malina
liche Vertiefung der Fanny-Erzählung also als ein übereignet (TKA 3.1, 688). Der Plan, Malina in
›Schreiben nach Auschwitz‹. diesem Sinne die Hinterlassenschaft des weib-
lichen Ichs antreten zu lassen, hat die um 1966/67
begonnene Arbeit am Goldmann/Rottwitz-Ro-
Goldmann/Rottwitz-Roman
man tatsächlich bis zuletzt begleitet. Noch im
In den späteren 1960er Jahren experimentierte Jahr 1973 gab Bachmann an, daß die Malina-
Ingeborg Bachmann mit unterschiedlichen Rea- Figur sogar »durch alle Bände« durchgehen solle
lisationsformen und Schreibweisen ihrer Todes- (GuI, 127). Bei dieser Idee, die männliche Hälfte
arten-Poetologie. Kontrapunktisch zu der Dekon- der Doppelfigur Ich/Malina als Erzähler der »To-
struktion des traditionellen Erzählens in dem desarten« auftreten zu lassen, handelt es sich um
gleichzeitig begonnenen reflexiven Bewußtseins- einen ebenso virtuosen wie einfachen Kunstgriff:
roman Malina hat sie an den Entwürfen zu dem »Eine Figur bringt durch ihr bloßes Vorhanden-
breit angelegten Goldmann/Rottwitz-Roman ge- sein den gesamten Bedeutungshorizont der ›Ou-
arbeitet, der die konsequenteste Verwirklichung vertüre‹ in einen Erzähltext ein und begründet
des in den Todesarten verfolgten Projekts einer das Wechselspiel zwischen dem Malina-Roman
kritischen Geschichtsschreibung des gesellschaft- und den im folgenden geplanten Romanen.« (Al-
lichen Alltags im Spannungsfeld von individuel- brecht 1998a, S. 37)
ler Lebensgeschichte und politischer Zeitge- Eine der Implikationen dieser Rückbindung
schichte darstellt (Göttsche 1998, S. 179). In ei- der Malina-Figur an die Todesarten-Ouvertüre ist
ner Rahmenhandlung im Umfeld der Frankfurter die Übernahme der dort im letzten Satz (»Es war
Buchmesse erzählt Malina dem jungen Schrift- Mord«) angedeuteten Erzählmotivation in den als
steller Klaus Jonas die »Todesarten« der öster- Anschluß geplanten Roman: Sowohl in Malina
Todesarten-Projekt: Andere unvollendete Todesarten-Texte 157

(TKA 3.1, 287 f.) als auch im Goldmann/Rott- zähler [wollen] uns weismachen […], daß nichts
witz-Roman ist Malinas Schwester Maria auf der mehr stattfindet oder sich alles, was stattfindet,
Ebene der fiktiven Realität das Opfer eines »per- als zu langweilig und unwichtig erweist, um be-
fekte[n] Mord[es]« (TKA 1, 382) geworden, eines richtet zu werden« (TKA 1, 398). Mit diesem
Mordes, bei dem es außer dem ›perfekten Mör- Seitenblick auf »unsere Erzähler« dürfte sie an
der‹ keine Zeugen gibt und ein Hai die Leiche jene ›realistischen‹ Zeitgenossen gedacht haben,
beseitigt hat. Malina wird als Sammler und Er- die, wie Arno Schmidt erstmals in einem Radio-
zähler von »Geschichten mit letalem Ausgang« Nachtstudio Mitte der 1950er Jahre, darauf be-
vorgestellt, nicht zuletzt von Geschichten von standen, »daß ›in Wirklichkeit‹ viel weniger ›ge-
Frauen, denen »dasselbe passiert ist« wie seiner schieht‹, als die katastrophen-freundlichen Dra-
Schwester (TKA 1, 388), nicht durch einen Hai, matiker uns weismachen wollen« (Schmidt,
aber doch so, daß der Mörder juristisch nicht S. 131). Darüber hinaus wirken die poetologi-
haftbar gemacht werden kann. Damit gravitiert schen Reflexionen in dem Rahmenteil des Gold-
der gesamte Goldmann/Rottwitz-Roman im mann/Rottwitz-Romans oft so, als habe Bach-
Grunde um den Mord an der Schwester Malinas mann – in Anlehnung an das ›offen-artistische
und des weiblichen Ich aus dem Malina-Roman Erzählen‹ von Max Frischs Roman Mein Name sei
(Albrecht 1998a, S. 43–45). Gantenbein (1964) – der Malina-Figur Gedanken
Über solche zentralen Strukturmerkmale hin- zur Komposition des im Entstehen befindlichen
aus lassen sich jedoch aus dem hinterlassenen Textes in den Mund gelegt (z. B. TKA 1, 431 f.; vgl
Stadium der Fragmente schwerlich Rückschlüsse Frisch, S. 327).
auf eine endgültige Gestalt des Goldmann/Rott- Wie alle Todesarten spielt auch der Goldmann/
witz-Romans ziehen. Gerade hinsichtlich von Rottwitz-Roman (in seiner Rahmenerzählung)
Malinas Erzählerrolle hat Bachmann immer wie- etwa in der Zeit seiner Entstehung und entwirft
der neue Möglichkeiten durchprobiert, und vor zugleich ein »Bild der letzten zwanzig Jahre«
allem bei sehr fragmentarischen Texten ist oft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und des
nicht auszumachen, wer sie erzählt, Malina oder Faschismus (GuI, 66). Die erzählte Zeit der frü-
ein anonymer, in Konkurrenz zu Malina auftre- hen Entwürfe ist sogar eindeutig auf den Herbst
tender Erzähler, dessen Perspektive sich kaum 1966 datierbar, wenn Bachmann auf ein Ereignis
von der Malinas unterscheidet (Albrecht 1998a). anspielt, das sich »ein halbes Jahr zuvor« abge-
In der zuletzt entstandenen Einleitung, die das spielt hat (TKA 1, 340), nämlich Peter Handkes
jüngste überlieferte Konzept des Romans in nuce spektakulärer Auftritt bei der Frühjahrstagung
enthält (Albrecht 1989a, S. 244–255), eröffnet der Gruppe 47 an der Princeton University. Mit
dieser allwissende Erzähler den Roman und stellt dem vierzigjährigen Malina kontrastiert der auf
Malina zunächst als Figur unter Figuren vor: den jungen Peter Handke verweisende »kleine
»Aus der Paßkontrolle näherten sich zwei Män- Revoluzzer« und »Rebell« Klaus Jonas (TKA 1,
ner«, und dabei handelt es sich um den jungen 340, 397) nicht zuletzt als Vertreter einer neuen
Schriftsteller »Klaus Jonas […] und Malina« Generation und der Umbruchsituation der 1960er
(TKA 1, 396). Jahre. Dennoch bleiben der gesellschaftliche
Vor allem in der Rahmenerzählung finden sich, Wandel und die Politisierung des kulturellen Le-
wie schon im ersten Todesarten-Roman (Eugen- bens hier noch ebenso unthematisiert wie die
Roman II), poetologische Reflexionen, die hier Diskussion um den vermeintlichen ›Tod der Lite-
bereits auf den entsprechenden Überlegungen zu ratur‹, die Außerparlamentarische Opposition
den vorangehenden Todesarten-Texten aufbauen und die Studentenrevolte. Damit zielt dieser
können – etwa die in Anlehnung an J. A. Barbey Aspekt des Romans insgesamt wohl eher »auf den
d’Aurevillys Erzählung Die Rache einer Frau ent- Vorabend und Beginn dieser gesellschaftlichen
wickelte These von den verborgenen, ›sublimen Krise« (Göttsche 1998, S. 184). Die Rahmener-
Verbrechen‹ der modernen Zivilisation, um die zählung besteht, neben den Dialogen von Malina
es schon im Buch Franza gehen sollte (TKA 2, und Jonas, in die die Binnengeschichten einge-
75). Im Kontext der eben genannten Romanein- bettet werden sollten, vor allem aus einer Reihe
leitung erinnert Bachmann sozusagen ex negativo von Szenen im Umfeld der Frankfurter Buch-
an diese Prämisse, wenn es heißt, »unsere Er- messe, die den Literaturbetrieb der 1960er Jahre
158 II. Das Werk

unter dem Stichwort »Literatur und Verbrechen« Gier


(TKA 1, 388) kritisch und zum Teil satirisch
beleuchten. In der Begegnung zwischen Malina Gemäß der Absprache mit dem Verleger Siegfried
und Jonas ist dagegen nicht zuletzt das Potential Unseld sollte die Erzählung Gier im Mai 1973 als
eines ›anderen Literaturbetriebs‹ angelegt, das nächste Publikation nach dem Roman Malina
»literarische Denkmodell eines Dialogs der Ge- (Frühjahr 1971) und dem Erzählband Simultan
nerationen«, den Bachmann zwar als scheitern- (Herbst 1972) erscheinen. In dem Verlagspro-
den darstellt, der generell jedoch »geeignet wäre, spekt für das erste Halbjahr 1973 war die Erzäh-
eine andere Literaturtradition als die der vom lung über ein »Eifersuchtsdrama« mit tödlichem
Buchmarkt gesteuerten Richtungen zu etablie- Ausgang (TKA 4, 505) bereits als Neuerscheinung
ren« (Göttsche 1998, S. 185). in der Reihe »Bibliothek Suhrkamp« angekün-
Die Gegenüberstellung von zwei sich gegen- digt. Trotz des mehrfachen Drängens des Verlags
seitig erhellenden Binnengeschichten, die im hat Bachmann den Text jedoch nicht abgeschlos-
Goldmann/Rottwitz-Roman von der Person und sen; das hinterlassene Entwurfsmaterial ist, mit
der Erzählmotivation der Figur Malina zusam- Ausnahme einiger kurzer, für den Verlag entwor-
mengehalten werden, hat ihre Wurzeln in dem fener Texte (Kommentar TKA 4, 614), im wesent-
Strukturmodell des ersten Todesarten-Romans lichen bereits in jenem Sommer 1970 entstanden,
(Albrecht 1993, S. 136), erfolgt hier jedoch als in dem Bachmann bei einem längeren Aufenthalt
Konzentration auf die Geschichten jeweils einer in Kärnten »das Milieu gefunden [hatte], das [sie]
deutschen (Aga Rottwitz) und einer österreichi- schon lange darstellen wollte, das der wirklich
schen Frauenfigur (Fanny Goldmann), die zu ›Reichen‹, die in diesem Lande die großen Jag-
»Opfer[n] der Literatur« (TKA 1, S. 353) gewor- den und ihre Jagdhäuser haben« (Brief an Hans
den sind wie so viele andere vor jenen, die »sich Rössner [Piper Verlag] vom 12. 8. 1970, zitiert
ein Leben mit einem Künstler« zugemutet haben nach TKA 4, 606). Die erste kritische Edition der
(TKA 1, 360). Mit der Figur der ›roten Gräfin‹, Erzählung (Bachmann 1982) folgte der Ordnung
der politisch links stehenden Journalistin Aga der Nachlaßentwürfe in der Österreichischen Na-
Gräfin Rottwitz, die zunächst Eka Kottwitz heißt tionalbibliothek (Pichl 1982), die sich jedoch als
(und damit in verwandtschaftlichem Verhältnis revisionsbedürftig erwies. Im vierten Band der
zu einer Figur aus Heinrich von Kleists Drama Kritischen Edition der Todesarten (1995) wurde
Der Prinz von Homburg zu denken ist), wird der die Erzählung Gier daher aus dem Nachlaß neu
Schauspielerin Fanny Goldmann nunmehr eine rekonstruiert.
ganz neue Komplementärfigur an die Seite ge- Bachmann hat bereits während ihres Aufent-
stellt, die vor allem eine Fülle neuer Details aus halts in Klagenfurt im Sommer 1970 mit der
dem Szenario der hier als »Machtkampf« (TKA 1, Arbeit an Gier begonnen. Wenngleich die Erzäh-
419) dargestellten Geschlechterverhältnisse in lung zu diesem Zeitpunkt offenkundig bereits auf
den Roman einbringt (Albrecht 1993, S. 143; ein katastrophales Ende hin angelegt war (Al-
Göttsche 1998, S. 180 f.). Die Binnengeschichte brecht 1997, S. 334), geht das Motiv des Doppel-
um die deutsche Journalistin besitzt allerdings in mordes mit anschließendem Selbstmord des Tä-
den überlieferten Entwürfen (noch?) nicht »die ters auf den tatsächlichen römischen ›Mordfall
gleiche zeitgeschichtliche Tiefendimension wie Casati‹ zurück, von dem Bachmann bei ihrer
die österreichische« (Göttsche 1998, S. 180), Rückkehr nach Rom Anfang September 1970 aus
während die späten Entwürfe zur »ersten Nach- der Presse erfahren hat (vgl. die Quellenzeug-
kriegszeit« in der Goldmann-Geschichte darauf nisse im Kommentar der Kritischen Edition; TKA
schließen lassen, daß Bachmann zumindest dort 4, 607–612). Bei der Weiterarbeit an der Erzäh-
eine »erhebliche Ausweitung der zeitgeschichtli- lung haben die Berichte über diesen Mordfall,
chen Retrospektive im Sinne der Struktur des der die italienische Presse wochenlang beschäf-
Goldmann/Rottwitz-Romans als eines Zeitro- tigte, Bachmann offensichtlich als eine Art
mans« geplant hatte, die nicht zuletzt auch die an »Neuer Pitaval« gedient, »an dessen Material das
die Figur des Remigranten Harry/Ernst Gold- Vorhaben einer literarischen Sitten- und Bewußt-
mann gebundene Thematik der Shoah und der seinsgeschichte im Geiste Balzacs und Barbeys
jüdischen Identität betreffen sollte (Göttsche ansetzen konnte« (Kommentar TKA 4, 612).
1998, S. 178).
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 159

Im Sinne eines figurenbezogenen Verfahrens mann (1977): Das Schlangenei. Filmerzählung. Ham-
der literarischen Zyklusbildung (GuI, 96, 127) burg; – Max Frisch (1976): Ich schreibe für Leser.
Antworten auf vorgestellte Fragen [1964]. In: Frisch:
taucht auch die Protagonistin der Erzählung Gier,
Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Frankfurt/M.,
Elisabeth Mihailovics, bereits in anderen Erzähl- Bd. V.2, S. 323–334; – Robert Musil (1978): Der Mann
texten auf. Sie ist die »Cousine« der Hauptfigur ohne Eigenschaften. (Hg.) Adolf Frisé. Reinbek bei
Beatrix in der Erzählung Probleme Probleme Hamburg; – Arno Schmidt (1989): Barthold Heinrich
(TKA 4, 161), in Übereinstimmung mit dieser Brockes, oder Nichts ist mir zu klein [1955]. In:
(TKA 4, 172) berichtet das Ich in Malina, daß Schmidt: Bargfelder Ausgabe. Werkgruppe II. Dialoge,
Bd. 1. (Hg.) Arno Schmidt Stiftung zu Bargfeld. Zü-
Elisabeth mit Anton Marek zusammen war, bevor
rich.
sie »an den Bertold Rapatz geraten ist« (TKA 3.1,
616), und vor allem läuft sie kurz vor ihrem Tod Literatur: Albrecht (1989a); Göttsche (1998); Höller
(1987).
Elisabeth Matrei, der Protagonistin der Erzäh-
Monika Albrecht (1993): Poetologische Anthropologie.
lung Drei Wege zum See, über den Weg (TKA 4, Zur Strukturgenese von Ingeborg Bachmanns fragmen-
354–356). Diese liest dann noch während ihres tarischem Todesarten-Roman. In: Göttsche/Ohl (1993),
Besuchs in ihrem Elternhaus in Kärnten in der S. 129–145; – Monika Albrecht (1997): Eine Quelle zu
Zeitung, daß Elisabeth Mihailovics und ihr der Erzählung Gier und ihre Dokumentation in der
»Liebhaber« von ihrem Ehemann Bertold Rapatz kritischen Edition von Ingeborg Bachmanns Todesar-
ten-Projekt. In: Beihefte zu editio 9 (= Quelle – Text –
ermordet worden sind, der sich anschließend
Edition. Ergebnisse der deutsch-österreichischen Fach-
selbst erschossen hat (TKA 4, 449–454). tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edi-
In der Erzählung Gier stehen die kriminal- tion in Graz vom 28. Februar bis 3. März 1996), S. 333–
literarischen Elemente des Todesarten-Projekts 339; – Monika Albrecht (1998a): Text-Torso oder Trüm-
(Höller 1987, S. 229 f.) ganz im Vordergrund. merfeld? Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt im
Während die subtilen psychischen Morde in den Jahre 1973. In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 28–46;
– Monika Albrecht (2003): »Sire, this village is yours«.
Todesarten-Texten ansonsten nach außen als
Ingeborg Bachmanns Romanfragment Das Buch
Selbstmord oder Selbstzerstörung erscheinen, Franza aus postkolonialer Sicht. In: Albrecht/Göttsche
geht es in dem Erzählfragment Gier um eine (2003); – Dirk Göttsche (1992): Malina und die nach-
tatsächliche Bluttat, um »einen Doppelmord, für gelassenen Todesarten-Fragmente. Zur Geschichte des
den der Täter auch juristisch hätte haftbar ge- reflexiven und zyklischen Erzählens bei Ingeborg Bach-
macht werden können, wenn er sich nicht jedem mann. In: Stoll (1992), S. 188–209; – Dirk Göttsche
(1998a): Zeit, Geschichte und Sozialität in Ingeborg
gesetzlichen Zugriff durch seinen Selbstmord un-
Bachmanns Todesarten-Projekt. In: Heidelberger-Leo-
mittelbar nach der Tat entzogen hätte« (Albrecht nard (1998), S. 48–66; – Dirk Göttsche (2000): Auf der
1997, S. 334). Bevor es jedoch sozusagen als Ab- Suche nach der »großen Form«. Ingeborg Bachmanns
schluß eines langen Prozesses zu dem Mord erster Todesarten-Roman. In: Béhar (2000), S. 19–40; –
kommt, wird in den überlieferten Entwürfen zu Irene Heidelberger-Leonard (1994): Ingeborg Bach-
der Erzählung Gier die »Geschichte einer Persön- manns Todesarten-Zyklus und das Thema Auschwitz.
In: Pichl/Stillmark (1994), S. 113–124; – Irene Heidel-
lichkeitszerstörung« erzählt, »bei der die Prot-
berger-Leonard (1998a): Ernst Goldmann-Geschichten
agonistin sich auf ein ihr völlig fremdes Leben und Geschichte. In: Heidelberger-Leonard (1998),
einläßt, dabei alles Eigene aufgibt und mehr und S. 80–90; – Robert Pichl (1982): Editorische Notiz. In:
mehr zu einer willenlosen Marionette wird« Höller (1982), S. 63–84.
(ebd., S. 336). Offenkundig ging es Bachmann Monika Albrecht und Dirk Göttsche
auch in dieser Erzählung neben einer Darstellung
rücksichtsloser Tätermethoden um die Zerstör-
barkeit des von der Protagonistin verkörperten 5.4. Simultan und Erzählfragmente
weiblichen Identitäts- und Rollenverständnisses aus dem Umfeld
und damit um die Mitwirkung des Opfers an der
›Ermordung‹, die in diesem Fall allerdings tat- Im Verlauf der 1960er Jahre sah sich Bachmann
sächlich in einem grausigen Blutband ihr Finale zu einer erneuten Weiterentwicklung ihres poli-
findet. tisch-gesellschaftstheoretischen Denkens veran-
Quellen: Ingeborg Bachmann (1982): Gier (Fragment). laßt, und zwar sowohl durch die Radikalisierung
Aus dem literarischen Nachlaß herausgegeben von Ro- der politischen Auseinandersetzung (Studenten-
bert Pichl. In: Höller (1982), S. 17–61; – Ingmar Berg- bewegung) als auch durch persönliche, beson-
160 II. Das Werk

ders schmerzhafte Erfahrungen mit gescheiterten geblichen – gesellschaftstheoretischen Perspek-


und problematischen Sozialbeziehungen (Tren- tive vielleicht am deutlichsten von Richard Sen-
nung von Max Frisch). Zwar läßt sich auch für nett (»The Corrosion of Character«, 1998) be-
diese Zeit noch konstatieren, daß Bachmann im schrieben worden sind.
wesentlichen vom Standpunkt eines demokrati- In ihren poetologischen Entwürfen zu den Si-
schen Pluralismus aus scharfe Kritik an faschi- multan-Texten (TKA 4, 3–20) hat Bachmann
stischer Ideologie und konservativ-bürgerlichen unterstrichen, daß es sich nicht um ein »Buch
Wertvorstellungen äußert, so wie dies auch im für Frauen«, sondern um ein »Buch für Men-
Dreißigsten Jahr schon der Fall gewesen war. Als schen« handelt (TKA 4, 11; vgl. auch TKA 4, 18;
neues Motiv tritt nun jedoch eine Kritik dieses Bannasch 1997). Unter Anspielung auf die von
demokratischen Pluralismus im Sinne einer Be- Balzac und Flaubert begründete Tradition des
stimmung seiner Grenzen und Risiken hinzu. Die realistisch-naturalistischen Gesellschaftsromans
Pluralisierung der Gesellschaft schlägt sich im (TKA 4, 8, 15) bekennt sie sich zu dem Ziel, »das
Individuum, wie Bachmann jetzt immer deutli- simultane Denken und Fühlen der Personen, die
cher zeigt, als Flexibilisierung der Persönlichkeit zusammenhängen« (TKA 4, 7), beschreiben zu
nieder, was wiederum zu spezifischen Problemen wollen, also eine Art Mentalitätsgeschichte des
im Bereich der Sozialität und der Moralität führt. pluralistischen Zeitalters am Beispiel Wiens zu
Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Bachmann liefern. Dazu gehört auch die Kunst, unbedeu-
sich schließlich von den Grundlagen des demo- tende Personen mit ihren alltäglichen Leiden zu
kratischen Pluralismus ganz entfernt hätte, aber schildern, ohne sie einerseits zu ironisieren oder
in ihren Erzählungen der späten 1960er und frü- andererseits zu idealisieren. Um die hierzu er-
hen 1970er Jahre weist sie deutlich auf die Ge- forderliche Mischung aus Distanz und Nähe her-
fahren hin, die mit einer unkontrollierten und zustellen, bedient sich Bachmann in diesen Tex-
unbegrenzten Flexibilisierung der Persönlichkeit ten der ständigen Perspektivverschiebung. Inner-
verbunden sein können. Dazu gehören nicht nur halb eines Abschnittes, ja oft sogar innerhalb ein
die unmittelbar psychologisch oder psychiatrisch und desselben Satzes wechselt sie von Erzäh-
relevanten Fragen des Identitätsverlustes, son- lerbericht und direkter Rede zu Erlebter Rede
dern auch die Probleme des Lebens in verschie- oder Innerem Monolog und umgekehrt. Die Fi-
denen Sprachen und Soziolekten, der Entfrem- guren kommen also ausführlich selbst zu Wort,
dung vom eigenen Körper, der völligen Auflösung werden aber zugleich immer wieder von einer
des romantischen Liebeskonzeptes, der Fragilität Außenperspektive aus beschrieben. Insofern die-
flexibilisierter Verwandtschaftsbeziehungen so- ses Verfahren für alle Texte des von Monika Al-
wie der Vereinsamung durch soziale und räum- brecht und Dirk Göttsche so genannten Todes-
liche Mobilität. Insofern Immobilität ein zen- arten-Projektes charakteristisch ist, kann von ei-
trales Element der weiblichen Geschlechterrolle ner gestalterisch (und natürlich auch thematisch)
im bis heute stark nachwirkenden patriarchali- sehr engen Anbindung der Simultan-Erzählun-
schen Geschlechterrollenkonzept des bürgerli- gen an Malina und die späten Romanfragmente
chen Zeitalters ist, sind Frauen von diesen Verän- der Autorin gesprochen werden (vgl. Bannasch
derungen stärker betroffen als Männer. Es kann 1997; Heidelberger-Leonard 1998).
deshalb nicht verwundern, daß Bachmann die Im Feuilleton fanden die Erzählungen ein dif-
genannten Probleme am Beispiel von Frauen- ferenziertes Echo; Bachmann war (erst) jetzt als
schicksalen nachzeichnet. Darüber hinaus spie- Prosaistin akzeptiert (vgl. Hotz 1990, S. 157–171;
gelt sich in dieser stärkeren Akzentuierung der Schardt 1994, S. 163–192). Im folgenden werden
Geschlechterthematik die Fortentwicklung des zunächst die Erzählungen des Bandes Simultan,
feministischen Denkens in den 1960er Jahren dann die Erzählfragmente aus seinem Umfeld
wider. Insgesamt reflektieren die Romane des dargestellt.
Todesarten-Projektes und die Erzählungen des
Simultan-Bandes von allen Texten der Autorin
Simultan
am deutlichsten die aktuellen Probleme der »con-
dition postmoderne« (Jean-François Lyotard), Die erste der fünf Erzählungen dieser Sammlung,
wie sie aus der – für Bachmanns Denken maß- deren Überschrift auch den Titel des Gesamt-
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 161

bandes bildet, kreist um eine Hauptfigur, die Die erzähltechnische Gestaltung des Werkes
geradezu als Prototyp des von Sennett beschrie- zielt darauf ab, den Leser zu solcher Hilfeleistung
benen ›flexiblen Menschen‹ gelten kann, da sie zu befähigen. Hierin liegt ein gewichtiger Unter-
ein Maximum an räumlicher, sozialer und psy- schied zwischen den Texten des ersten und des
chischer Mobilität realisiert. Der Text schildert zweiten Erzählbandes der Autorin. Denn wäh-
einige Tage im Leben der äußerlich erfolgrei- rend Das dreißigste Jahr von der Prämisse auszu-
chen, innerlich jedoch unglücklichen Simultan- gehen schien, daß die darin behandelten Pro-
dolmetscherin Nadja, die im Anschluß an einen bleme letzten Endes durch bloßes Nachdenken zu
beruflich bedingten Aufenthalt in Rom eine lösen seien, führt uns Bachmann in den Werken
mehrtägige Ausflugsfahrt an die Westküste Kala- des Simultan-Bandes Figuren vor, die der Hilfe
briens unternimmt. Sie wird hierbei von Ludwig bedürfen, die also nicht aus eigener Kraft zu einer
Frankel, einem hohen Funktionär der FAO (Food solchen Lösung gelangen können. Eine Aufgabe
and Agriculture Organization of the United Na- des Lesers besteht darin, die versteckten Hilfe-
tions) begleitet, den sie gerade erst in Rom ken- rufe wahrzunehmen, die diese Figuren aussen-
nengelernt hat und der – wie sie selbst auch – aus den, und sich auf diese Weise auf entsprechende
Wien stammt. Kommt ihr der Aufbruch aus Rom Hilfeleistungen einzustellen und vorzubereiten.
hierbei zunächst noch »wie der in ein übliches Folgerichtig tritt der auktoriale Erzähler in den
Abenteuer« vor (TKA 4, 113), so entwickelt sich Simultan-Erzählungen, verglichen mit den Tex-
die Ausflugsreise für Nadja schon bald zu einer ten aus Das dreißigste Jahr, merklich zurück.
schweren seelischen Strapaze, denn einerseits Statt dessen rückt die Innenweltdarstellung im
erwecken einzelne Wahrnehmungen auf der Rahmen personaler Erzählsituationen stark in
Fahrt immer wieder ihre Erinnerung an den kata- den Vordergrund. Durch Erlebte Rede und In-
strophalen Verlauf früherer Liebesbeziehungen, neren Monolog werden dem Leser direkte Ein-
und andererseits entpuppt sich ihr Begleiter, mit blicke in das Denken und Empfinden der Prot-
dem sie sich in der vertrauten Sprache der agonistinnen ermöglicht (vgl. O’Regan). Diese
gemeinsamen Heimat verständigen zu können Figuren soll er gleichsam ›aushorchen‹, soll sich
gehofft hatte, mehr und mehr als unsensibler aber nicht mit ihnen identifizieren. Es handelt
Tölpel, der alle Anzeichen ihrer seelischen Be- sich nicht um positive Figuren, deren Weg als
drängnis ignoriert oder mißversteht. Ihren dra- vorbildhaft gezeichnet wird, sondern um schwa-
matischen Höhepunkt findet die Handlung in der che, ja teilweise unsympathische Charaktere, de-
Beschreibung einer von Frankel initiierten Be- ren Schwächen sachlich zu konstatieren sind,
sichtigungsfahrt zu dem hoch über dem Golf von ohne daß die Hilfsbereitschaft deshalb erlahmen
Policastro thronenden monumentalen Christus- dürfte. Wenn sich Nadja an der Bar als kapri-
Standbild von Maratea Superiore, einer Fahrt, in ziöses Geschöpf präsentiert (TKA 4, 131) oder
deren Verlauf Nadja einen schweren Anfall von eiskalt den Tod ihres lästigen Reisebegleiters
Höhenangst erleidet (vgl. Dierick), der sinnfällig imaginiert (TKA 4, 122), handelt es sich um
veranschaulicht, wie der flexible, sowohl räum- offenbar gezielt eingesetzte Mittel der Sympa-
lich als auch sozial und psychisch höchst mobile thielenkung, mit denen Bachmann demonstriert,
Mensch des neuen Kapitalismus jeden Halt zu welche Probleme in puncto Sozialität und Morali-
verlieren droht. Daß ausgerechnet eine Christus- tät im Umgang zwischen flexiblen Menschen
statue solche Empfindungen auslöst, macht deut- neuen Typs entstehen können. Nadja ist keine
lich, daß auch die Religion keinen solchen Halt Schurkenfigur, sondern ein Produkt ihrer Zeit,
mehr zu geben vermag. Außerdem enthüllt einer Zeit, die Selbstdarstellung, Bindungs-
die Höhenangst-Episode noch einmal besonders schwäche und Egozentrik geradezu fördert und
deutlich die gedanken- und teilnahmslose Hal- erfordert.
tung Frankels, der die Symptome von Nadjas Deutlichstes Symptom dieser Krisensituation
durchdringender Vernichtungsangst verkennt ist der Verlust an Gültigkeit, den Nadjas Sprache
und von der leichten Seite nimmt. Wenn Bach- erfährt. Daß sie von Beruf Simultandolmetsche-
mann ihre Protagonistin zuletzt nach außen hin rin ist, verdeutlicht, daß sie keine eigene Sprache
die Fassung wiedergewinnen läßt, erweckt sie zu sprechen versteht, daß ihr auch die Sprache
insgesamt dennoch den Eindruck, daß diese in- keine feste und sichere Heimat mehr sein kann,
tensiver Hilfe und Zuwendung bedarf.
162 II. Das Werk

wie dies anders in der Exilliteratur oftmals be- Leben der zwanzigjährigen Wienerin Beatrix, die
schrieben wurde. Das Dauerexil des flexiblen ihre schulische Ausbildung ohne Abschluß vor-
Menschen führt auf der einen Seite im Extremfall zeitig beendet hat und die nun in bescheidenen
nicht nur zu äußerer, räumlicher, sondern auch zu Verhältnissen von den geringen Mieteinkünften
innerer, sprachlich-gedanklicher Heimat- und ihrer nach Südamerika verheirateten Mutter lebt.
Haltlosigkeit. Auf der anderen Seite garantiert Über ihren Vater erfährt der Leser nichts.
diese perfektionierte sprachlich-geistige Mobili- Freundschaftliche Beziehungen pflegt Beatrix
tät eine äußerst sensible und zeitadäquate Anpas- nur zu Erich, einem unglücklich verheirateten,
sung an ständig wechselnde Umgebungen. Bach- 35jährigen Angestellten der österreichischen
manns Text macht hiermit auf ein Dilemma auf- Luftfahrtgesellschaft AUA, für den sie jedoch im
merksam, das im Titel der Erzählung und des Innersten wenig Zuneigung empfindet und des-
Gesamtbandes schlüssig auf einen Begriff ge- sen Sorgen und Hoffnungen zu teilen sie bloß
bracht wird. Denn die Simultaneität des Unver- vorgibt. Ihr Leben verstreicht so in Eintönigkeit,
einbaren ist ein Zentralproblem für den hyper- ohne daß Beatrix jedoch unter der Monotonie
flexiblen Menschen des neuen Kapitalismus, der ihres Daseins zu leiden scheint, denn ihre große
in sich alle Möglichkeiten findet, der sich aber Passion ist der tiefe, traumlose Schlaf, der sie das
womöglich für keine zu entscheiden vermag. So- als grauenvolle Belastung empfundene Alltags-
zialität und Moralität müssen in dieser Situation leben vergessen läßt. Offensichtlich spielt Bach-
neu begründet werden. Aber genau hieran schei- mann mit diesem Motiv auf den Oblomow-Ro-
tert Frankel, der als versagende, nur potentielle man von Iwan Gontscharow an, der zuerst eine
Helferfigur dem Leser demonstriert, wie er es ähnlich schlafsüchtige Figur in den Mittelpunkt
nicht machen soll. Simultan verdeutlicht, daß der einer Romanhandlung stellte, sofern bei diesem
Pluralismus zwar ohne Alternative ist, daß er Motiv überhaupt von einer Handlung gesprochen
aber nicht nur Freiheit, sondern auch Bindungs- werden kann. Nur im Schönheits- und Frisiersa-
unfähigkeit mit sich bringen kann. Bachmanns lon René, den sie mindestens einmal in der
Erzählung, die als erste des entstehenden Bandes Woche aufsucht, verwandelt sich Beatrix in eine
zunächst als Hörfunkaufnahme des NDR Hanno- muntere und selbstbewußte Frau, die ihre »Angst
ver (7. Oktober 1968) und dann in der »Neuen vor dem Leben« (TKA 4, 194) vorübergehend
Rundschau« (1970, S. 448–469) veröffentlicht meistern kann.
wurde, hat damit sehr früh ein zentrales Problem Wie die meisten anderen Protagonisten aus
der Gegenwartsgesellschaft thematisiert (vgl. zur Bachmanns Simultan-Band verkörpert auch Be-
Entstehungsgeschichte der Simultan-Erzählun- atrix den Typus der – zur Vermeidung einer iden-
gen jeweils Kommentar in TKA 4, 547ff.). tifikatorischen Lektüre mit Bedacht nicht durch-
gängig sympathisch gezeichneten – Modernisie-
rungsverliererin, deren negative Eigenschaften
Probleme Probleme
als eine Folgeerscheinung traumatischer Verlet-
Wenn das demokratisch-pluralistische Zeitalter zungen aufzufassen und zu erklären sind. Um
durch höhere Anforderungen an die räumliche, Hinweise auf derartige Traumata zu geben und
seelische und psychische Mobilität gekennzeich- um gleichzeitig die diesbezügliche Aufmerksam-
net ist, dann repräsentiert Beatrix, die Protagoni- keit und Sensibilität des Lesers zu schulen, be-
stin dieser Erzählung, die Inkorporation der Mo- schreibt Bachmann einen normalen Tag im Le-
bilitätsverweigerung. Dabei ist sie jedoch keine ben ihrer Protagonistin, die um halb zehn von
Vertreterin einer anderen Werte- und Gesell- einem Anruf ihres Freundes Erich geweckt wird,
schaftsordnung. Sie hat dem Pluralismus, in dem die aber erst gegen Mittag aufsteht und die dann
sie lebt, keine Alternative entgegenzusetzen, son- am Nachmittag ihren Schönheitssalon aufsucht.
dern stellt eine ›Modernisierungsverliererin‹ dar, Zu einer aufschlußreichen Durchbrechung ihrer
die sich in einer flexibel gewordenen Welt, aus Lebensroutine kommt es nur, als Beatrix von
noch zu erläuternden Gründen, nicht einzurich- einer neu angestellten Kosmetikerin zu »huren-
ten weiß und keine Lösung für ihre massiven haft« (TKA 4, 205) geschminkt wird, woraufhin
Anpassungsprobleme findet. sie in Weinen ausbricht und den Salon überstürzt
Bachmanns Erzählung schildert einen Tag im verläßt.
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 163

Es bedarf keiner psychologischen Spezial- sierten jungen Frau, die aufgrund seelischer Nöte
kenntnisse, um zu bemerken, daß sexuelle Pro- nicht den gegenwartstypischen Anforderungen
bleme hier eine gewichtige Rolle spielen. Tat- an räumliche, soziale und psychische Mobilität
sächlich durchzieht die Sexualitätsthematik das gerecht zu werden vermag. Beatrix bleibt im Bett,
Werk auf mehreren Motiv- und Symbolebenen. konzentriert sich ganz auf Erich als ihre einzige
In ihrem Verhalten gegenüber Erich zeigt Beatrix Bezugsperson und denkt gar nicht oder nur das,
»eine unbezähmbare Lust zu aufreizenden Spie- was sie schon immer dachte. Diese durch ihre
len«, aber »eine noch wildere Abwehr« hindert kosmetische Maske veranschaulichte Unflexibili-
sie innerlich daran, den Akt zu vollziehen und tät und todesähnliche Erstarrung (vgl. Meyer
sich ganz auf die Beziehung mit Erich einzulassen 1995, S. 102) ist jedoch keine Lösung, sondern
(TKA 4, 172). Sie bleibt deshalb, wie es unter führt letzten Endes in den Zusammenbruch.
Anspielung auf den Titel eines 1894 erschienen Demnach zeigt Bachmann hier eine Figur, die
Romanes von Marcel Prévost heißt, eine »demi- sich ändern müßte und sollte, die dies aus eige-
vierge« (Halbjungfrau) (TKA 4, 173). Die über- ner Kraft aber nicht zuwege bringen kann. Hilfe
mäßige lusthemmende Abwehr der Protagonistin muß von denen kommen, die aus dem oberfläch-
könnte auf eine erzwungene frühe Entwicklungs- lichen Gerede einer solchen Person jene ver-
beschleunigung verweisen. Doch letzten Endes steckten Hinweise und Hilferufe herauszuhören
gibt Bachmanns Text keine Gewißheit, ob diese vermögen, die auf die verborgenen Ursachen ei-
Frau ein Mädchen sein will, weil sie als Mädchen ner derartigen Unflexibilität verweisen.
vor der Zeit zur Frau wurde. Auf eine eindeutige
Diagnose wie Kindesmißbrauch oder Ähnliches
Ihr glücklichen Augen
zielt Bachmanns Text nicht ab. Vielmehr richtet
die Autorin ihr Hauptaugenmerk auf das kom- Das Leben in der demokratisch-pluralistischen
plexe, widersprüchliche Innenleben der in den Gegenwartsgesellschaft erfordert ein erhöhtes
Mittelpunkt ihrer Simultan-Erzählungen gerück- Maß an geistig-seelischer Flexibilität. Dazu ge-
ten Verliererinnenfiguren, die ihre Leidensge- hört die Fähigkeit, nicht nur die vertrauten eige-
schichte nicht offen vor sich her tragen, sondern nen, sondern auch andersartige Milieus und Le-
die sich zurückziehen, eine Fassade aufbauen und bensformen wahrzunehmen und sich immer wie-
ihre seelischen Narben – bei René oder sonstwo der aufs Neue ein realitätsnahes Bild von der
– überschminken lassen. Vielfalt des teils vertrauten und teils befremdli-
Die Besonderheit der Beatrix-Figur besteht chen Alltags der Gesellschaft zu verschaffen. Zu
nun allerdings gerade in ihrer Passivität, in ihrem einer Überforderung kann es hierbei kommen,
(anscheinend erzwungenen) Nicht-denken-Wol- wenn die Balance zwischen Vertrautem und Be-
len. Erzähltechnisch hat dies zur Folge, daß sich fremdendem gestört und letzteres als dominant
Bachmann einer besonders subtilen Form der wahrgenommen wird.
Rede- und Gedankenwiedergabe bedienen Dies ist der Fall bei Miranda, der Protagonistin
mußte. Hierbei leiht der Erzähler einer selbst des dritten der fünf Simultan-Texte, der zuerst in
nicht denkenden Figur seine Stimme, um ihre einer Hörfunkaufnahme des NDR Hannover vom
gleichsam latent bleibenden, nicht aktuell rea- 7. November 1969 veröffentlicht und dann in der
lisierten Gedanken und Empfindungen zu formu- Zeitschrift »Merkur« vorabgedruckt wurde (Jg.
lieren. Vielfach artikuliert der Erzähler also nicht 25, Heft 7 vom Juli 1971). Bachmanns Erzählung
das, was die Figur aktuell denkt und meint, son- schildert die letzte Phase der Beziehung zwischen
dern das, was sie gedacht hätte, sofern sie über- Miranda und ihrem Liebhaber Josef, der sie mit
haupt gedacht hätte. Dieses diffizile, von der ihrer Freundin Anastasia betrügt und schließlich
Erzählforscherin Ann Banfield (1982) theoretisch ganz verläßt. Miranda, die dies schon sehr früh
analysierte Darstellungsverfahren spiegelt auf sti- kommen sieht, versucht sich ihrerseits rechtzeitig
listischer Ebene den Inhalt des Werkes wider und von Josef zu lösen und sich ihre tiefe innere
ist als zusätzliches Mittel der impliziten Figuren- Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. Als sie
charakterisierung aufzufassen. jedoch später, nach der erfolgten Trennung, Ana-
Insgesamt liefert Probleme Probleme das er- stasia und Josef, die jetzt »ein Paar« sind (TKA 4,
zähltechnisch raffinierte Porträt einer traumati- 272), zufällig in einem Salzburger Café begegnet,
164 II. Das Werk

kommt es zu einer jener Katastrophen, die so die von dieser Einsicht überwältigt wird, die
charakteristisch für das Ende der Simultan- und keine realistische Auffassung von den Möglich-
Todesarten-Texte sind und die der inneren Zer- keiten ihrer neuen Lebenssituation gewinnt und
störung und Vernichtung ihrer Protagonistinnen die deshalb auf Hilfe von außen angewiesen
noch einmal sinnfällig Ausdruck verleihen. Beim bleibt: »Miranda weiß nicht, was ihr fehlt, und
übereilten Aufbruch aus dem Café tritt Miranda sie möchte sagen, so hilf mir doch!« (TKA 4, 258)
gegen die Richtung in eine Glasdrehtür und Über ihre Funktion innerhalb des konkreten
bleibt aus Mund und Nase blutend am Erdboden Handlungszusammenhanges hinaus verweist
liegen. diese Formulierung auf das sprachliche und gei-
Ihren besonderen Symbol- und Ausdruckswert stig-seelische Grundproblem, das in den Simul-
bezieht diese Unfallkatastrophe aus ihrer unmit- tan-Erzählungen thematisiert wird. Miranda und
telbaren Verknüpfung mit dem Motiv der absicht- die übrigen Protagonisten bleiben selbst im Un-
lichen Seh- und Erkenntnistrübung, das in dieser gewissen über die Natur ihrer Leiden, weshalb
Erzählung, deren Titel das Türmerlied aus Goe- potentielle Helfer einer besonderen Sensibilität
thes Faust II zitiert, von herausragender Bedeu- bedürfen, um die in ihrem Verhalten und Spre-
tung ist. Miranda übersieht nicht nur die Glastür, chen versteckten, unbewußten Anzeichen der
die ihr zum Verhängnis wird, sondern vieles an- sich anbahnenden Katastrophen erkennen zu
dere in ihrer Umgebung. Sie ist stark kurz- und können.
zerrsichtig, wagt es aber nicht, ihre Brille zu Um diese Sensibilität bei ihren Lesern zu schu-
gebrauchen, da sie »die Wirklichkeit nicht tole- len, bedient sich Bachmann im Simultan-Band
riert« (TKA 4, 258) und sich ihrer Lebenswirk- und ergo auch in Ihr glücklichen Augen ausgiebig
lichkeit nicht auszusetzen vermag. Mit Brille er- der verschiedenen modernen Techniken der lite-
kennt sie hinter der Normalität des Alltags die rarischen Innenweltdarstellung. Erlebte Rede,
nackte Fratze des permanenten Krieges, der in Innerer Monolog und auktorialer Gedankenbe-
der nur äußerlich befriedeten Gesellschaft richt treten an die Stelle von Aktionssequenzen.
herrscht. Miranda kann sich dieser Erkenntnis Äußerlich geschieht nur wenig, während sich im
nicht ständig aussetzen, ohne zugrunde zu gehen. Inneren der Hauptfigur seelische Tragödien er-
Sie bedarf der – mehr oder minder – freiwilligen eignen, an deren Ende sie genauso gründlich
Seh- und Erkenntnistrübung, um in einer als zerstört und vernichtet ist, als wenn sie körper-
feindlich wahrgenommenen Umgebung über- lichen Schlägen und Schmerzen ausgesetzt ge-
haupt existieren zu können. wesen wäre. Auch Miranda entpuppt sich hierbei
Zweifellos stellt Bachmanns Theorie des per- – wie Beatrix in Probleme Probleme – als eine
manenten Krieges, zu der sie sich in Interviews Modernisierungsverliererin, die psychisch nicht
auch persönlich immer wieder bekannt hat (vgl. gerüstet ist, um sich den Anforderungen einer
GuI, 89, 97, 110, 111, 116, 128 u. ö.), ihre radikalste Konkurrenzgesellschaft auszusetzen, wenn diese
und schärfste Kritik an der demokratisch-plurali- den Wettbewerbsgedanken bis in die Intimsphäre
stischen Gesellschaft der 1960er und 1970er hineinträgt und selbst noch in der Konkurrenz
Jahre dar. Doch anders als Miranda hielt es Bach- um einen Mann geltend macht.
mann für zumutbar, sich der Wirklichkeit dieses Auch hier ist allerdings das Wegschauen für
Krieges auszusetzen, um ihn aktiv und nachhaltig Bachmann keine Lösung. Sie widmete ihre Er-
bekämpfen zu können. Bachmann war nicht anti- zählung dem – aufgrund der autoritär-antidemo-
demokratisch und nicht antipluralistisch einge- kratischen Züge seines Denkens allerdings um-
stellt, doch sie erkannte und beschrieb mit un- strittenen – Arzt und Psychologen Georg Grod-
nachsichtiger Konsequenz, wie dieser Pluralis- deck, der 1918 im 97. seiner »Vorträge«
mus im Großen wie im Kleinen, im Öffentlichen beschrieben hatte, wie das Unbewußte die Wirk-
wie im Privaten, immer wieder als Deckmantel lichkeitswahrnehmung beeinflussen und bis hin
für ungezügelten Wettbewerb und für die ge- zur Erblindung zensieren kann. Das Fragment
waltsame Durchsetzung des eigenen Ego miß- eines von Bachmann nicht publizierten Essays
braucht wird. In Miranda schildert die Autorin über Groddeck (Bachmann 2000a, S. 163–170)
hingegen eine an die Gertrude aus André Gides belegt, daß die Autorin mit dessen unkonven-
Symphonie pastorale (1919) erinnernde Figur, tioneller Psychologie vertraut war. Nicht ihre Ab-
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 165

neigung gegen Brillen, sondern ihre psychisch gedruckt wurde, verdeutlicht diese Problematik
bedingte Fehlsichtigkeit ist vor dem Hintergrund am Beispiel der 85jährigen Frau Jordan, einer in
dieser psychosomatischen Theorie das Haupt- bescheidenen Verhältnissen lebenden Witwe, die
problem Mirandas. Insofern ihre psychischen vor dem Ersten Weltkrieg als Gouvernante in
Probleme gesellschaftlich bedingt sind, können einer reichen griechischen Familie arbeitete und
feministische Interpretationen in Bachmanns Er- die nach dem Tod ihres Mannes und der Erzie-
zählung nicht zuletzt eine Studie über das Funk- hung ihres Sohnes isoliert in einer herunter-
tionieren jener patriarchalen Sanktionsmecha- gekommenen Einzimmerwohnung in Wien lebt.
nismen erkennen, die eine Disziplinierung und Obwohl dieser Sohn, der aus Bachmanns Todes-
Normierung des weiblichen Sehens sicherstellen arten-Zyklus bekannte Erzschurke Leo Jordan,
sollen (vgl. Kleinspehn, S. 103–108). Darüber ein berühmter und wohlhabender Psychiatriepro-
hinaus kann die Krankheit im Sinne von Bach- fessor ist, läßt er seine Mutter in Armut und
manns Groddeck-Essay als eine künstlerische Einsamkeit ihr Dasein fristen. Gleichwohl bleibt
Produktion aufgefaßt werden (Bachmann 2000a, die schon etwas verwirrte, gebrechliche und le-
S. 166), wodurch Miranda nicht nur als Moder- bensuntüchtige Alte in unkritischer Bewunde-
nisierungsverliererin, sondern auch – bis zu ei- rung für ihren Sohn befangen. Nur ihre sich
nem gewissen Grade – als Vorbildfigur erschiene, steigernden akustischen Halluzinationen – sie
die sich der als scheinhaft erkannten modernen hört lautes Bellen wie von ihrem früheren Hund
Welt gezielt verweigert (Dusar 1994; kritisch Nuri, der Leo wütend anzubellen pflegte – veran-
dazu Bannasch 1997, S. 8, 11–13, 35–39, 209). schaulichen ihren stummen inneren Protest ge-
gen das rücksichtslose Verhalten ihres Sohnes.
Leo Jordan verkörpert hierbei die häßliche
Das Gebell
Kehrseite des Pluralismus, nämlich das entfes-
Die Generation der um 1900 Geborenen mußte selte Konkurrenzverhalten, das den freien Wett-
sich im Laufe ihres Lebens auf drei Gesellschafts- bewerb als Freibrief für die egomanische Durch-
systeme einstellen. Zunächst erlebte sie bis 1918 setzung eigener Interessen und Machtansprüche
das Ende jener bürgerlichen Ära, deren Wertvor- mißbraucht. Dem weiß seine Mutter nichts ent-
stellungen von 1945 bis gegen Ende der fünfziger gegenzusetzen, weil sie sich innerlich nicht fort-
Jahre vorübergehend wiederbelebt wurden. Sie entwickelt und sich nicht an die neuen Gegeben-
machte dann die Zeit der Naziherrschaft durch, heiten angepaßt hat. Ihre Glanzzeit als geliebte
die in mancher Hinsicht vorbürgerliche, feudali- Gouvernante, an die sie nostalgische Erinnerun-
stisch-autoritäre Strukturen wiederaufleben ließ. gen pflegt, liegt vor dem Ersten Weltkrieg, also in
Und sie wurde Zeuge jener Demokratisierung jenem bürgerlichen Zeitalter, das die Ideologie
und Pluralisierung, die zuerst zwischen 1918 und des Familiensinns kultivierte und der Frau eine
1933 stattfand, die nach 1945 institutionell wie- inferiore Position als Mutter, Geliebte und Haus-
derbelebt und ab den 1960er Jahren, nach einem frau zuteilte. Bachmanns Erzählung ist allerdings
durchgreifenden Mentalitätswandel, endgültig keine Abrechnung mit dieser Unflexibilität, son-
durchgesetzt und mit Leben erfüllt wurde. Fra- dern eine Kritik an jenen, die flexibel genug sind,
gen der geistig-seelischen Identitätsfindung, der um über Leichen zu gehen. Denn es wird nicht
Orientierung in Wert- und Gesellschaftsordnun- wie eine persönliche Schuld, sondern wie eine
gen sowie der Schaffung einer eigenen kulturel- verständliche Schwäche geschildert, daß die alte
len und sozialen Lebenswelt stellten sich für Frau Jordan mehr in der Vergangenheit als in der
diese Generation immer wieder und in verschärf- Gegenwart lebt.
ter Form. Die neuere Mentalitätsgeschichte lehrt, Bedeutend problematischer ist der Fall ihrer
daß einige den turbulenten äußeren Entwick- Schwiegertochter, der im Mittelpunkt von Bach-
lungsgang der Gesellschaft innerlich nicht voll- manns Romanfragment Das Buch Franza stehen-
ständig mitvollzogen und deshalb geistig nie oder den Franziska, die sich anschickt, die Opferrolle
zumindest verspätet im demokratischen Plura- ihrer Schwiegermutter zu übernehmen und fort-
lismus ankamen. zusetzen. Durch ihre innere Wesensverwandt-
Bachmanns Erzählung Das Gebell, die in der schaft und die Ähnlichkeit ihres Verhaltens ge-
»Süddeutschen Zeitung« (13./14. 5. 1972) vorab- genüber Leo erweisen sich beide Frauen als Ver-
166 II. Das Werk

treterinnen des gleichen, nur durch Alter und Drei Wege zum See
äußere Lebensumstände voneinander unter-
schiedenen Opfertyps. Als eine Grundthese von Wie die erste so beschreibt auch die umfang-
Das Gebell läßt sich demnach festhalten, daß die reiche letzte Erzählung des Simultan-Bandes die
weibliche, letzten Endes der Familienideologie Tragödie eines ›flexiblen Menschen‹ (Sennett),
des bürgerlichen Zeitalters entstammende Op- der zwar den im demokratisch-pluralistischen
ferrolle unterschwellig von Generation zu Ge- Zeitalter üblichen extremen Anforderungen an
neration vererbt und wiederholt wird. die räumliche, die soziale und die psychische
Durch ein hohes Maß an Innenweltdarstellung Mobilität nach außen hin perfekt entspricht, der
(auktorialer Gedankenbericht und Erlebte Rede) jedoch innerlich damit nicht zu Rande kommt
macht Bachmanns Erzählung die Gedanken und und schwere seelische Verwundungen erleidet.
Empfindungen beider Frauen transparent und Die Autorin greift damit eine sehr aktuelle politi-
liefert damit einen wichtigen, kritisch-emanzipa- sche Fragestellung auf, nämlich diejenige, ob das
torischen Beitrag zu einer literarischen Psycho- Gesellschafts- und Persönlichkeitsideal des
logie der tradierten weiblichen Opferrolle. Dabei ›neuen Kapitalismus‹ (Sennett) für das Indivi-
wird auch explizit auf das – letzten Endes öko- duum lebbar und zumutbar ist.
nomische – »Interesse« verwiesen (TKA 4, 288), Bachmann scheint dies im Prinzip zu bejahen,
das beide Frauen an Leo kettet. Doch die akusti- doch sie wirbt um Verständnis für jene, die an
sche Halluzination des wütenden, gegen Leo ge- diesen Idealen trotz aller Bemühungen scheitern
richteten Hundegebells, in der die alte Frau Jor- und denen deshalb von anderen geholfen werden
dan zuletzt versinkt, artikuliert jene innere Ab- muß. Es kann als eine der Grundthesen des Si-
wehr, die den unfreiwilligen Komplizen vom multan-Bandes insgesamt bezeichnet werden,
Täter unterscheidet. daß der Pluralismus den Altruismus voraussetzt,
Anstatt sich gegenseitig über Leos wahren Cha- weil sonst die Gefahr besteht, daß er in einen
rakter aufzuklären, täuschen allerdings beide Op- brutalisierten Wettbewerb umschlägt, in dem die
fer sich selbst und ihr Gegenüber über das Aus- freie Konkurrenz als Deckmantel zur Durchset-
maß ihrer inneren Verwundungen hinweg und zung egoistischer Interessen und Machtansprü-
gewinnen bis zuletzt nicht genügend Klarheit che mißbraucht und das Nebeneinander als Ge-
über das Geflecht der Zwänge und Interessen, in geneinander aufgefaßt wird.
dem sie sich verheddern. Franziskas löbliche So- Hier ist der Anknüpfungspunkt für Bachmanns
lidarität mit ihrer vernachlässigten Schwieger- Rekurs auf den Habsburg-Mythos, demzufolge in
mutter reicht nicht aus, um der aggressiven Ego- der K.u.K.-Monarchie die verschiedenen Ethnien
manie Jordans wirkungsvoll und nachhaltig ent- Österreich-Ungarns bis zum Ersten Weltkrieg
gegenzutreten. Bachmanns Erzählung ist in friedlich miteinander gelebt hätten (vgl. Magris).
diesem Sinne ein Plädoyer für einen reflektier- Bachmanns Protagonistin ist in dieser Hinsicht
teren, wirkungsvolleren weiblichen Widerstand desillusioniert (TKA 4, 416), doch als politisch-
gegen die skrupellose Tyrannei des Vaters, des gesellschaftliche Utopie behält dieser Mythos für
Sohnes und des Ehemannes auf dem Wege einer sie seine Faszinationskraft. Er steht für die Mög-
Bewußtmachung und Überwindung von Restbe- lichkeit, den Pluralismus des demokratischen
ständen der obsoleten patriarchalischen Fami- Zeitalters – im Privaten wie im Öffentlichen –
lienideologie des bürgerlichen Zeitalters im Be- friedlich zu gestalten und nicht in einen offenen
wußtsein der Frau. Bachmann knüpft damit in oder versteckten Verdrängungswettbewerb um-
vielerlei Hinsicht an die Familien- und Gesell- schlagen zu lassen.
schaftskritik der Frankfurter Schule an, wie sie Drei Wege zum See schildert einige Tage im
schon in der vielzitierten Studie über »Autorität Leben der in Paris wohnenden 49jährigen Elisa-
und Familie« (1936) von Max Horkheimer aus- beth Matrei, einer international tätigen und er-
formuliert und soziologisch begründet worden folgreichen Photojournalistin, die nach der Teil-
war. nahme am Hochzeitsfest ihres in London leben-
den Bruders für einige Tage zu ihrem Vater nach
Klagenfurt fährt und die dort auf langen ein-
samen Waldspaziergängen über ihre beruflichen
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 167

und privaten Schwierigkeiten nachsinnt. Wie der rufsfeldern assoziiert, die sich für sie als Irrwege
Leser hierbei erfährt, erregt die Heirat ihres we- oder Sackgassen entpuppt haben.
sentlich jüngeren Bruders in Elisabeth nicht nur Elisabeths soziale Mobilität zeigt sich darin,
Gefühle der Freude und des Glücks, denn mit daß sie inzwischen einer anderen Bildungs- und
Robert ist sie früher in einer fast inzestuösen, die Gesellschaftsschicht angehört als ihr Vater, wes-
Grenzen der normalen Geschwisterliebe über- halb ihnen die gemeinsame Denk- und Sprech-
schreitenden Weise verbunden gewesen, so daß weise als Basis für eine intimere Verständigung
sie seine Vermählung als direkten Liebesverlust abhanden gekommen ist. Als rechtschaffener und
empfindet. Darüber hinaus führt ihr das Ehe- biedersinniger, aber zugleich etwas rückständiger
glück des Bruders erneut das eigene Unglück in und schlichter Alt-Österreicher steht Herr Matrei
Liebesangelegenheiten vor Augen. Ihre Liebe zu dem Kosmopolitismus seiner Tochter, die sich als
Franz Joseph Trotta ist mit Mißverständnissen »Exilierte« versteht (TKA 4, 384), mit hilflosem
belastet und führt zu keiner dauerhaften Verbin- Unverständnis gegenüber. Wenn Elisabeth ihrem
dung, wobei Name und Genealogie der Trotta- Vater bei einem Schwimmausflug »I love you«
Figur an Joseph Roths Romane Radetzkymarsch zuruft (TKA 4, 445), ohne akustisch und sprach-
(1932) und Die Kapuzinergruft (1938) anschlie- lich von ihm verstanden werden zu können,
ßen, in denen der Niedergang des Habsburger- äußert sich darin eine nur noch emotionale, kom-
reiches und die Ambivalenz des Habsburg-My- munikativ nicht mehr vermittelbare Anhänglich-
thos geschildert werden (vgl. Omelaniuk; Len- keit, die an den Aphorismus von Ebner-Eschen-
sing; Bannasch 1997, S. 150–152). Elisabeths Ehe bach erinnert, wonach die Empfindung der Ein-
mit Hugh, einem jungen New Yorker Architek- samkeit niemals schmerzlicher ist, als wenn sie
ten, ist nur von kurzer Dauer, weil dieser seine uns im Schoße unserer Familie überfällt.
homosexuelle Neigung nicht mit einer heterose- Elisabeths psychische Mobilität und Flexibili-
xuellen Verbindung zu vereinbaren vermag. Und tät tritt am deutlichsten bei der Beschreibung
von Philippe, ihrem aktuellen, erst 28 Jahre alten ihrer zahlreichen Liebesbeziehungen zutage.
Geliebten, plant sie sich zu trennen. Gleichwohl Keine ihrer vielen Partnerschaften erweist sich
läßt es sie nicht unberührt, als Philippe ihren als dauerhaft; die große Liebe ihres Lebens,
Plänen noch zuvorkommt und ihr nach der Rück- dieses Grundelement der Familienideologie des
kehr aus Klagenfurt gesteht, die Tochter eines bürgerlichen Zeitalters, erblickt sie heute in die-
gemeinsamen Bekannten, mit dem Elisabeth frü- sem und morgen in einem anderen Partner. In-
her kurz liiert war, geschwängert zu haben und tensive Liebesbeziehungen wechseln mit ober-
nun heiraten zu müssen. Irritation und Verzweif- flächlichen Abenteuern und problematischen
lung der Protagonistin kann es deshalb nicht Freundschaften ab. Darin liegt kein Versagen
mindern, als ihr ein jugoslawischer Vetter Trottas oder gar eine moralische Schuld der Protagoni-
bei einem überraschenden Zusammentreffen am stin, sondern eine Anpassung an ihre spezifi-
Wiener Flughafen eröffnet, sie seit Jahren heim- schen Lebensumstände, die ihr keine Aufrecht-
lich zu lieben. erhaltung dauerhafter Sozialbeziehungen gestat-
Elisabeth ist, wie diese Handlungsübersicht ten. Obwohl Bachmann auch die individuellen
verdeutlicht, in der Tat der ›flexible Mensch‹ par psychischen Voraussetzungen und Konsequenzen
excellence, ein typisches »Produkt der dominan- dieser Bindungsproblematik anspricht, thema-
ten Kultur« ihrer Zeit (Mahrdt, S. 45). Ihre ex- tisiert sie damit doch in erster Linie ein all-
treme räumliche Mobilität macht sich im stän- gemeines Problem der spätkapitalistischen Ge-
digen Wechsel ihrer Wohnorte bemerkbar, wird sellschaftsordnung, die entgegen allen familien-
aber besonders durch ihre vergeblichen Bemü- politischen Sonntagsbekenntnissen selbst die
hungen veranschaulicht, auf den im Titel des Auflösung des traditionellen Familienmodells
Werkes genannten ›drei Wegen‹ den Wörther verursacht und verschuldet. In dieser Auflösung
See zu erreichen. Diese drei falsch kartographier- liegt sowohl die Chance der Befreiung als auch
ten Wanderwege stehen offenkundig für Elisa- das Risiko der Vereinsamung. Beides veranschau-
beths verschlungene Lebenswege und sind durch licht Bachmann im Lebensgang ihrer Protagoni-
die Erinnerungen der Protagonistin jeweils mit stin, die am Ende in einen gefährlichen Hero-
bestimmten Partnerschaften, Wohnorten und Be- ismus flüchtet und eine riskante journalistische
168 II. Das Werk

Mission nach Saigon übernimmt. Mit einem Zitat versprachlichen. Demnach stellen auch die Texte
von Ludwig Anzengruber hat Freud 1915 in sei- des Simultan-Bandes einen Versuch dar, Leid-
ner Studie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« die erfahrungen zu formulieren, ohne dabei Sensa-
Geisteshaltung, in der sich Elisabeth ganz am tionslüsternheit oder politische Gesinnungsäuße-
Ende des Werkes befindet, in die Formel »Es rungen zu provozieren oder auch nur zu ermögli-
kann dir nix gschehn!« gekleidet, eine Formel, chen. Der Stil dieser Erzählungen und so auch
die Bachmann offenkundig in den letzten zwei von Drei Wege zum See ist deshalb erzähltech-
Sätzen ihrer Erzählung zitiert (TKA 4, 471; vgl. nisch komplex. Das hohe Maß an Innenweltdar-
Freud, S. 56). stellung bietet aufschlußreiche Einblicke in die
Drei Wege zum See verdeutlicht damit noch Psyche der Verliererinnenfiguren, erzwingt dabei
einmal, daß der flexible Mensch der Gegenwart, aber auch eine besondere Konzentration und Auf-
wie ihn Elisabeth verkörpert, einerseits neuartige merksamkeit. Bachmann läßt ihre Figuren den-
Freiheiten und Entwicklungschancen besitzt, daß ken und sprechen, ohne in offene Anklagen zu
er aber andererseits spezifischen Gefahren ausge- verfallen. Vielmehr wird das feine Gewebe aus
setzt wird, durch die er auf das Wohlwollen und Selbsttäuschungen und Selbsttröstungen darge-
die Unterstützung anderer angewiesen ist. Der stellt, in das sich gerade Verlierer einzuweben
eigentlich wünschenswerte Pluralismus kann in versuchen und das der Leser erst durchdringen
Daseinskampf und brutalen Verdrängungswett- muß, um aus der Fülle der Bewußtseinsinhalte
bewerb ausarten, wenn er nicht von Sozialität, dieser Protagonisten die entscheidenden Hin-
Moralität, Altruismus begleitet wird. Elisabeths weise herauszufiltern, die den Grund ihrer Lei-
Beziehungspersonen sind hierzu nur in einge- denserfahrungen enthüllen: »Der Leser wird
schränktem Maße fähig und gewillt. zum Detektiv, angewiesen auf die Indizienketten
Neben ihrer offensichtlichen gesellschaftskriti- einer verräterischen Sprache« (Bannasch 1997,
schen hat Bachmanns Erzählung auch noch eine S. 111).
poetologische Dimension. In Gesprächen mit ih- Von großer Bedeutung ist hierbei Bachmanns
rem Freund Trotta kommt Elisabeth zu der Ein- ausgefeilte Technik der Sympathielenkung, denn
sicht, daß in ihrer Tätigkeit als Kriegsbericht- ihre Verliererfiguren werden nicht einseitig posi-
erstatterin »etwas Beleidigendes« liegen könne tiv gezeichnet, sondern mit all ihren Schwächen,
und daß ihre Photos von Kriegsopfern »nicht zur die geeignet sind, potentielle Helfer abzuschrek-
Stimulierung für Gesinnung« mißbraucht werden ken. Auch Elisabeth ist in dieser Hinsicht ein
dürften (TKA 4, 386). Darin liegt zunächst eine ambivalenter Charakter, was besonders ihre Hal-
scharfe Kritik an den Massenmedien, wie sie in tung gegenüber ihrer neuen Schwägerin und ihre
ähnlicher Form auch bei Benjamin und Kracauer Hintergedanken gegenüber Philippe verdeutli-
zu finden ist (Bannasch 1997, S. 106 f.). Bach- chen. Drei Wege zum See unterscheidet sich in
manns Formulierungen lassen sich aber auch auf dieser Hinsicht deutlich von einem frühen Text
die Todesarten- und Simultan-Texte selbst an- wie Jugend in einer österreichischen Stadt, der ja
wenden. Denn Bachmann führt dem Publikum in Thematik und Motivik viele Ähnlichkeiten
darin Verlierergestalten vor, die im permanenten aufweist, der aber auf der optimistischeren Prä-
Krieg des von manchen zum Daseinskampf per- misse basiert, daß der Leser durch plötzliche
vertierten Pluralismus harte Blessuren davontra- gedankliche Einsichten (dort: in die ideologische
gen. Eine Beleidigung wäre es, daraus nur phra- Funktion des Heimatgedankens) beeinflußt wer-
senhafte politische Bekenntnisse abzuleiten und den kann. Bachmanns spätere Prosawerke be-
die Betroffenen sich selbst zu überlassen. Viel- schäftigen sich demgegenüber mit Problemen,
mehr muß die Hilfsfähigkeit des Rezipienten die mit bloßem Sprechen und Nachdenken nicht
ganz unmittelbar angesprochen und geschult zu lösen sind.
werden. Daß Bachmann dies für möglich hielt,
zeigt der im Text enthaltene Hinweis auf Jean
Rosamunde
Amérys Essay Die Tortur (»Merkur«, 1965), in
dem es dem Autor gelungen sei, »was mit ihm Im Umkreis der Arbeit am Simultan-Band sind
geschehen war, in der Zerstörung des Geistes eine Reihe von Erzählfragmenten entstanden, die
aufzufinden« (TKA 4, 390) und authentisch zu Ingeborg Bachmann nicht mehr für diese Buch-
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 169

publikation ausgearbeitet hat (vgl. Kommentar in Psychologin ist, ohne daraus Vorteile im Hinblick
TKA 4, 547ff.). Hierzu gehört die relativ weit auf ihre Chancen zur Selbstreflexion oder Selbst-
gediehene Erzählung Rosamunde, deren über- erkenntnis ziehen zu können. Es kann als scharfe
lieferte Entwürfe (wie die der übrigen Erzähl- Kritik Bachmanns an der wissenschaftlichen Psy-
fragmente aus dem Simultan-Umfeld) in der Kri- chologie ihrer Tage aufgefaßt werden, daß Rosa-
tischen Ausgabe des Todesarten-Projekts ediert munde, obwohl sie alles über Neurosen und Pro-
worden sind. Bis auf die finale Katastrophe, mit jektionen weiß, diese Lehren und Erkenntnisse
der alle fertiggestellten und publizierten Texte nicht für die Lösung ihrer eigenen Probleme
des Simultan-Typs enden, sind sämtliche Ele- fruchtbar machen kann. »Die Psychologie hat
mente eines späten Bachmannschen Prosawerkes doch noch gar nicht angefangen«, läßt Bachmann
erkennbar. Der Text erzählt die Geschichte der ihre Protagonistin am Ende des fünften Text-
dreißigjährigen Dr. Rosamunde Ranner, die als fragmentes denken (TKA 4, 41). Im Hinblick auf
Assistentin am Psychologischen Institut der Wie- die im Text genannten Schulen der Psychologie
ner Universität arbeitet und die kurz vor einem (v. a. Psychoanalyse und Behaviorismus) könnte
seelischen Zusammenbruch zu stehen scheint. dies in die provozierende These einmünden, daß
Ihr Fehler ist es, »die Ideen ganz andrer Jahr- die Lehren von Freud, Reich und Watson der
hunderte mit sich zu schleppen« (TKA 4, 26) und Kultur des bürgerlichen 19. Jahrhunderts zuge-
sich in Träumereien zu verlieren, die in konzen- rechnet werden müssen und keine Lösung für die
trierter, verschärfter Form die Liebesauffassung psychischen Probleme des Menschen im demo-
und das Geschlechterrollenideal des bürgerli- kratisch-pluralistischen Zeitalter bereithalten
chen 19. Jahrhunderts umkreisen. Dazu gehört (vgl. Bannasch 1997, S. 8, 18–22). Zu diesen Pro-
insbesondere eine ans Masochistische grenzende blemen gehören vor allem die Identitätsauffas-
Vorstellung von weiblicher Inferiorität, die durch sung und die Neugestaltung sozialer Beziehun-
krasse Vergewaltigungsphantasien veranschau- gen. Beides spielt in Rosamunde eine bedeutende
licht wird (TKA 4, 24; vgl. Kommentar 562–564), Rolle. Die innenperspektivische Erzählweise
sowie eine romantische Vorstellung vom Traum- Bachmanns erlaubt es, immer wieder auf Rol-
mann als einem Erlöser, der unter der Schale den lenkonflikte der Protagonistin hinzuweisen, die
Kern, in der Assistentin die Prinzessin entdeckt letzten Endes feststellt, daß in ihr keine Prinzes-
und der ihr auf diese Weise zur Vollendung ihrer sin schlummert, sondern ein »riesiger freier
weiblichen Identität verhilft (TKA 4, 25). Bach- Raum« (TKA 4, 39) existiert, den sie nicht auszu-
manns Erzählung zielt darauf ab, diese Liebes-, füllen weiß. Rosamunde steht ihrer eigenen be-
Weiblichkeits- und Identitätskonzeption als un- ruflichen, aber auch ihrer privaten Existenz mit
zeitgemäß und vernichtungbringend zu entlar- Distanz gegenüber; sie erlebt den Pluralismus
ven. Zu diesem Zweck werden Rosamundes Ge- ihrer Persönlichkeit nicht als Freiheitsgewinn,
danken und Empfindungen jedoch nicht aus auk- sondern als Wesensverlust. Auch die Gestaltung
torialer Perspektive kritisiert oder gar im Stile ihrer sozialen Beziehungen enthüllt den für sie
Theodor Fontanes und Thomas Manns ironisiert. charakteristischen, von Bachmann erzähltech-
Vielmehr werden sie – wie in allen Texten des nisch objektivierten Gegensatz zwischen Sein
Todesarten-Projektes und des Simultan-Bandes und Schein. Der ichbezogene, ehrgeizige Thea-
zu beobachten – im Rahmen einer personalen terkritiker Sigurd Wawra, mit dem sie liiert ist,
Erzählsituation mit einem hohen Anteil an In- hat keine Vorstellung davon, was in ihrem In-
nenweltdarstellung (Erlebte Rede, Innerer Mo- neren vor sich geht, und wird von ihr mit einer
nolog) in ihrer fatalen, auf die Katastrophe zu- Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachtet.
steuernden Konsequenz offengelegt und erzähle- Wenn Rosamunde Wawras Hand küßt, mit der er
risch objektiviert. Auch Rosamunde ist eine sie im Affekt geohrfeigt hat (TKA 4, 28), entlarvt
Unterlegene und Hilfebedürftige, deren Ge- dies noch einmal ihre Vorstellung von Liebe,
schichte sich nahtlos in Bachmanns literarische Sexualität und Weiblichkeit. Daß »Nachdenken
Psychologie der Modernisierungsverliererinnen nicht ihre Stärke war« (TKA 4, 31), wird Rosa-
einfügt. munde zum Verhängnis, weil sie keine Helfer
Seine besondere Bedeutung gewinnt der Text findet, die sich in ihre Gedanken und Empfin-
durch den Umstand, daß die Betroffene selbst dungen hineinversetzen und die Gefahr, in der
170 II. Das Werk

sie schwebt, erkennen können. Wie Nadja, Bea- ist in den weiteren Problemhorizont einer Neu-
trix oder Elisabeth geht damit auch Rosamunde ordnung der Partnerbeziehungen unter den Be-
der sicheren Katastrophe entgegen. Rosamunde dingungen der gesellschaftlichen Pluralisierung
ist ein für Bachmanns späte Poetik charakteri- einzuordnen, wie Bachmann ihn immer wieder
stisches, über eine bloße Entwurfsskizze weit thematisiert hat. Wie die anderen Protagonistin-
hinausreichendes Prosafragment von hohem lite- nen des Todesarten-Projektes und der Simultan-
rarischen Wert, das den vollendeten und publi- Erzählungen ist auch Sissi eine ›Modernisie-
zierten Texten des Simultan-Bandes an die Seite rungsverliererin‹, die den Zerfall traditionell-
gestellt zu werden verdient. bürgerlicher Familienstrukturen und monogamer
Partnerbeziehungen nicht als Freiheitszuwachs,
sondern als Bedrohung ihrer Identität erlebt. Das
Kleinere Erzählfragmente aus dem
kurze Textfragment enthält keine Hinweise auf
Simultan-Umfeld
die Ursachen dieser Adaptionsstörung oder auf
Das relativ unbedeutende, sehr kurze Prosafrag- mögliche Lösungen des seelischen Konfliktes der
ment Die ausländischen Frauen (TKA 4, 44 f.) Protagonistin.
schildert ein Gespräch zwischen einem Mann Das kurze Prosafragment Freundinnen schließ-
und einer Frau in einem Salzburger Restaurant, lich entlarvt den Mythos des ›Gesprächs unter
in dessen Verlauf die Diskrepanz zwischen Sein Freundinnen‹, indem es die Äußerungen von
und Schein, äußerlichem Einverständnis und in- Marietta und der sie besuchenden Gisi mit den
nerer Distanz zwischen den beiden enthüllt wird. Hintergedanken beider Frauen kontrastiert:
Der Mann führt das große Wort und prahlt mit »Nein, zwischen uns [Marietta und Fritz] ist alles
seinen Liebeserfahrungen in Italien, Amerika ganz gut, wie immer, murmelte sie, und sie
und Frankreich. Die Frau verhält sich defensiv, dachte, warum erzähle ich ihr [Gisi] denn nicht,
stimmt allem zu und läßt sich von ihm belehren, wie es wirklich ist, und warum lasse ich Gisi
doch ihre in Erlebter Rede und auktorialem Er- andauernd im Glauben, ich sei mit Fritz zu-
zählerbericht enthüllten Gedanken und Empfin- sammen, wenn ich doch jeden dritten Tag Lucien
dungen beweisen, daß sie nicht bei der Sache ist, treffe, aber schließlich seh ich doch nicht ein,
von den ihr aufgezwungenen Gesprächsthemen warum ich das dieser Frau erzählen soll, es geht
abschweift und innerlich unberührt bleibt. In schließlich nur uns beide was an.« (TKA 4, 54)
welchen Handlungszusammenhang Bachmann Die Heuchelei und Unaufrichtigkeit beider
diese Episode hätte stellen wollen, ist nicht re- Freundinnen wird hierbei nicht als individuelle
konstruierbar, doch Szenerie, Inhalt und Darstel- Schwäche oder Charakterfehler dargestellt. Im
lungsstil des Textbruchstückes sind so charak- Hintergrund steht vielmehr das in Bachmanns
teristisch für die späte Prosa der Autorin, daß in Spätwerk immer wieder thematisierte Problem
jedem der Todesarten- und Simultan-Texte (mit der psychischen Flexibilisierung und der damit
Ausnahme von Das Gebell) Platz für diese oder einhergehenden Rollenkonflikte. Auch die Be-
eine ähnliche Szene gewesen wäre. gegnung mit der ›besten Freundin‹ ist unter den
Demgegenüber schildert das sogenannte Sissi- Bedingungen des bis ins Individuum durchschla-
Fragment die bis zur Identitätskrise gehenden genden Pluralismus ein Rollenspiel. Die Wahr-
Spannungen und Widersprüche im Inneren einer heit über mein Inneres ist so facettenreich wie
jungen Frau namens Sissi, die ihre Freunde Bar- dieses Innere selbst, und auch das aufrichtige
bara und Lajos und deren Kinder Felicitas und Gespräch unter Freundinnen kann niemals alle
Peter besucht. Sissi hat mit Lajos ein Verhältnis, diese Facetten erfassen. In beiden Protagonistin-
das sie jedoch zu beenden versucht, weil sie ihr nen bleibt deshalb eine innere Distanz gegenüber
eigenes Verhalten »ungerecht« und »widerwärtig« der anderen erhalten. Den sich hieraus ergeben-
findet (TKA 4, 47 f.), gleichzeitig aber Schwierig- den Chancen der seelischen Verselbständigung
keiten hat, sich endgültig innerlich von Lajos zu werden in Bachmanns Text auch die Nachteile
lösen. So gerät sie in eine »unendlich[e] Entfer- und Risiken gegenübergestellt. Marietta bekennt
nung […] zu ihrem eigenen Ich« (TKA 4, 48); sich explizit zu einer äußerst liberalen Sexual-
ihre »unhaltbare Situation« (ebd.) bleibt letzten moral (TKA 4, 55), ist jedoch gleichzeitig »tief-
Endes ungeklärt. Das relativ kurze Prosafragment verletzt« (TKA 4, 54), wenn Gisi an alte Wunden
Simultan und Erzählfragmente aus dem Umfeld 171

rührt und sie an vergangene unglückliche Liebes- A Legacy of Joseph Roth. In: Seminar 19, S. 246–264; –
beziehungen erinnert. Das Textfragment gehört Veronica O’Regan (1996): »Erfahrung nicht des Em-
pirikers, sondern des Mystikers«. A Re-Evaluation of
aufgrund dieser thematischen Ausrichtung ein-
Ingeborg Bachmann’s Understanding of Wittgenstein
deutig in den Umkreis der Simultan-Erzählun- and its Application to Simultan. In: Sprachkunst 27,
gen, in denen Bachmann die Chancen und Ri- S. 47–65; – Veronica O’Regan (1997): »Dieses Span-
siken der vom gesellschaftlichen Fortschritt er- nungsverhältnis, an dem wir wachsen«. Utopian Impul-
zwungenen maximalen räumlichen, sozialen und ses at the Level of Narrative Discourse in Ingeborg
psychischen Mobilisierung des ›flexiblen Men- Bachmann’s Simultan. In: Sprachkunst 28, S. 229–245;
– Elizabeth Petuchowski (1990): »Meanwhile, back at
schen‹ (Sennett) erörtert und veranschaulicht.
the ranch …« Or: Modes of Simultaneity in Works by
Quellen: Sigmund Freud (1982): Studienausgabe, Bd. Ingeborg Bachmann, Wolfgang Hildesheimer and Paul
IX. (Hg.) Alexander Mitscherlich et al. Frankfurt/M. Celan. In: DVjs 64, S. 338–369; – Robert Pichl (1991):
Literatur: Achberger (1995); Bannasch (1997); Bartsch Verfremdete Heimat – Heimat in der Verfremdung.
(1997); Dusar (1994); Heidelberger-Leonard (1998); Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See oder die Auf-
Höller (1999); Hotz (1990); Schardt (1994); Schneider klärung eines topographischen Irrtums. In: Begegnung
(1999). mit dem ›Fremden‹. Grenzen – Traditionen – Ver-
Ann Banfield (1982): Unspeakable Sentences. Narra- gleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-
tion and Representation in the Language of Fiction. Kongresses, Tokyo 1990. (Hg.) Eijiro Iwasaki, Bd. 9.
Boston, S. 183–223; – Augustinus P. Dierick (1981): München, S. 447–454; – Robert Pichl (1998): Ingeborg
Eros and Logos in Ingeborg Bachmann’s Simultan. In: Bachmanns Ihr glücklichen Augen. Eine Apologie der
German Life and Letters 35, S. 73–84; – Rhonda Rhea Strukturanalyse. In: Heidelberger-Leonard (1998),
Duffaut (1997): Beyond Definition. Language Games, S. 118–129; – Heide Rieder (1994a): Die »Heidenangst«
Gender, and Nationality in Ingeborg Bachmann’s Prose. vor dem Leben. Schlafsucht und narzißtische Störung
Diss. University of California, Irvine; – Ingeborg Dusar in Ingeborg Bachmanns Erzählung Probleme Probleme.
(1990): Identität und Sprache. Ingeborg Bachmanns In: Österreich in Geschichte und Literatur 38, S. 309–
Erzählung Simultan. In: Bild-Sprache. Texte zwischen 315; – Heide Rieder (1994b): Von Goethe zu Georg
Dichten und Denken. Festschrift für Ludo Verbeeck. Groddeck. Ästhetischer Anspruch und Blickverweige-
(Hg.) Luc Lamberechts und Johan Nowé. Leuven, rung in Ingeborg Bachmanns Erzählung Ihr glücklichen
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Ingeborg Bachmann’s Oh Happy Eyes. In: Thunder und Literatur 38, S. 295–309; – Arno Rußegger (1998):
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(Hg.) Gudrun Brokoph-Mauch. Riverside, S. 76–90; – es ist ein Buch für Menschen.« Bemerkungen zur Dar-
Thomas Kleinspehn (1991): Der flüchtige Blick. Sehen stellungsweise von Frauen- und Männerbildern in In-
und Identität in der Neuzeit. 2. Aufl. Reinbek bei Ham- geborg Bachmanns Simultan. In: Hier spricht der Dich-
burg; – Leo A. Lensing (1985): Joseph Roth and the terin. Wer? Wo? Zur Konstitution des dichtenden Sub-
Voices of Bachmann’s Trottas. Topography, Autobio- jekts in der neueren österreichischen Literatur. (Hg.)
graphy, and Literary History in Drei Wege zum See. In: Friedbert Aspetsberger. Innsbruck, Wien, S. 93–112; –
Modern Austrian Literature 18, H. 3/4, S. 53–76; – Peter Sänger (1983): Christus und sein Kreuz in deut-
Jürgen Manthey (1983): Wenn Blicke zeugen könnten. scher Gegenwartsprosa. Erzählmotive bei Ingeborg
Eine psychohistorische Studie über das Sehen in Lite- Bachmann und Christa Wolf. In: Sänger: Spiegelbild.
ratur und Philosophie. München, Wien; – Helgard Interpretationsversuche, Stellungnahmen, Thesen zum
Mahrdt (1996): Zu den ›Sitten‹ der Zeit in Ingeborg Thema ›Kirche und Literatur‹. Berlin, S. 82–118; –
Bachmanns später Erzählung Drei Wege zum See. In: Sigrid Schmid-Bortenschlager (1984): Die österrei-
Austriaca 21, Nr. 43, S. 37–56; – Imke Meyer (1995): chisch-ungarische Monarchie als utopisches Modell im
»Im Spiegel ist Sonntag, im Traum wird geschlafen«. Prosawerk von Ingeborg Bachmann. In: Acta Neophilo-
Prozeß und Stillstand in Ingeborg Bachmanns Erzäh- logica 17, S. 21–31; – Richard Sennett (1998): The
lung Probleme Probleme. In: The Germanic Review 70, Corrosion of Character. New York [dt. 1998 unter dem
S. 99–104; – Claudio Magris (1988): Der habsburgische Titel: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapi-
Mythos in der österreichischen Literatur. 2. Aufl. Salz- talismus]; – Ulrich Vormbaum (1989): Spiegelwelten.
burg; – Peter W. Nutting (1985): »Ein Stück wenig Zu Ingeborg Bachmanns Erzählung Probleme Probleme
realisiertes Österreich«. The Narrative Topography of im Spiegel ihres Erzählbandes Das dreißigste Jahr. In:
Ingeborg Bachmann’s Drei Wege zum See. In: Modern Literatur für Leser, S. 203–212.
Austrian Literature 18, H. 3/4, S. 77–90; – Irena Omela- Jost Schneider
niuk (1983): Ingeborg Bachmann’s Drei Wege zum See.
172

6. Künstlerische und journalistische Prosa

Bachmanns essayistische Prosa ist in der For- bettet, so daß den Hörern und Lesern in Deutsch-
schung sowohl auf Theodor W. Adornos Aufsatz land zugleich die gesellschaftlichen Verhältnisse
»Der Essay als Form« (1958) als auch auf Robert des Nachbarlandes deutlich werden. Informatio-
Musils Begriff der ›essayistischen Existenz‹ im nen zum Durchschnittseinkommen und zu spezi-
Mann ohne Eigenschaften bezogen worden: »Die fisch ›italienischen‹ Lebensgewohnheiten stehen
Rechtfertigung der Bezeichnung Bachmanns als neben der Erläuterung politischer Strukturen.
Essayistin scheint aber gerade in der begrifflichen Die Römischen Reportagen, denen die Forschung
Unbestimmtheit, in der Undefinierbarkeit des bislang kaum Beachtung geschenkt hat, zeichnen
Essays zu liegen, die einerseits eine alte, tradi- sich weder durch intellektuelle Eigenwilligkeit in
tionsreiche literarische Gattung ist, andererseits der Darstellung der geschilderten Verhältnisse
im 20. Jahrhundert zum Essayismus als einer noch durch eine besondere sprachliche Originali-
Lebenshaltung erweitert wurde.« (Świderska tät aus; eine Reihe von Formulierungen sind ita-
1989, S. 93) Diese Unbestimmtheit läßt sich je- lienischen Zeitungen entnommen und lediglich
doch durchaus genauer fassen als ein Spannungs- ins Deutsche übertragen (Höller 1999, S. 91).
feld, das sich zwischen den literaturkritischen Daß Bachmann selbst diese journalistischen Ar-
Arbeiten und der künstlerischen Kurzprosa Bach- beiten kaum anders denn als Finanzierungs-
manns eröffnet. Dient in den literaturkritischen grundlage für ihr ›eigentliches‹ literarisches
Arbeiten Bachmanns die Form des Essays dazu, Schaffen eingeschätzt haben dürfte, dafür spricht
die Kritik zum »Schauplatz geistiger Erfahrung« nicht zuletzt ihre Entscheidung, sie unter Pseud-
(Adorno, S. 29) zu erweitern, so erprobt Bach- onym zu veröffentlichen – ganz im Gegensatz zu
mann in ihrer künstlerischen Kurzprosa dagegen den unter ihrem eigenen Namen ausgestrahlten
literarische Modelle ›essayistischer Existenz‹ im Radioessays über Robert Musil, Marcel Proust,
Sinne Musils (Musil, S. 253). Die künstlerische Simone Weil und Ludwig Wittgenstein, die zu-
Kurzprosa Ingeborg Bachmanns läßt sich so nä- gleich Fragestellungen behandeln, die für ihr
herhin als eine spezifische, die Gattungsgrenzen eigenes Schreiben von zentraler Bedeutung sind.
überschreitende literarische Experimentalform Dies ist in den Römischen Reportagen bei weitem
bestimmen, die im Laufe der Werkentwicklung nicht in gleichem Maße der Fall.
ganz unterschiedliche Gestalt annimmt. Gleichwohl lassen sich auch hier motivische
Bezüge zum übrigen Werk der Autorin feststel-
len. »Die Erinnerung an Pomp und Bildhaftig-
Römische Reportagen
keit,« so heißt es beispielsweise in einem Beitrag
In der Zeit vom Sommer 1954 bis zum Herbst vom 12. Mai 1955, »an prunkhafte Repräsen-
1955 verfaßt Ingeborg Bachmann, inzwischen tationen in monarchischen Zeiten kann man
nach Rom übersiedelt, kurze journalistische Bei- nicht durch eine unsinnliche und bilderfeindliche
träge über die gesellschaftlichen und politischen Bürokratie verdrängen. Der Staat, in diesem Fall
Verhältnisse in Italien. Unter dem Pseudonym die Republik, braucht augenfällige, ja augenfäl-
Ruth Keller entstehen insgesamt 34 Rundfunk- lige [sic!] Symbole. […] Auf den Straßen Roms
beiträge und 8 Zeitungsartikel, die erst 1998 als hört man, es sei besser, einen Kopf im Her-
Arbeiten Bachmanns wiederentdeckt und unter melinmantel auf dem Thron zu haben als einen
dem Titel Römische Reportagen zusammenge- Hermelinmantel ohne Kopf.« (Bachmann 1998b,
stellt wurden (vgl. Kogel). Die Reportagen be- S. 75) In dem undatierten Entwurf [Jede Jugend
richten über aktuelle Tagesereignisse in Italien ist die dümmste] aus dem Nachlaß greift Bach-
wie die Wahl des Staatspräsidenten, einen Skan- mann diese Überlegungen zur Ästhetik des Politi-
dal in der italienischen Oberschicht oder greifen schen wieder auf, wenn sie fragt: »Wo ist die
Meldungen aus dem Wirtschaftsteil italienischer marxistische Mode? Der Armenkittel der Bürger-
Zeitungen auf. Diese Ereignisse sind stets in tracht, die blaue Jacke und die Ledermäntel – oh
ihren jeweiligen sozialpolitischen Kontext einge- nein, sie sind der letzte Triumph von Klassen, die
Künstlerische und journalistische Prosa 173

die untersten Klassen zur Schäbigkeit verurteilt Auch für die biographischen Selbstauskünfte
haben. Rote Federn müßte man sich an den Kopf Bachmanns läßt sich diese künstlerische Über-
stecken, in gelbblaugrünen, in violetten und hin- formung aufzeigen. Dies gilt für den kurzen und
reißenden Farben, in kultischen Bemalungen die nur vermeintlich rein informativen Text Biogra-
Befreiung feiern. […] Der Kommunismus muß phisches (W 4, 301 f.) ebenso wie für den einige
Luxus sein, oder er wird nicht sein.« (W 4, 333) Jahre jüngeren Text Der Tod wird kommen (W 2,
Die (Wieder-) Entdeckung der Römischen Re- 266–276).
portagen ist weder unter poetologischen noch In dem Text Biographisches, den Bachmann im
unter literarischen Aspekten bedeutsam zu nen- November 1952 einer Lesung von Gedichten für
nen. Daß Teile der Literaturkritik sie dennoch als den Nordwestdeutschen Rundfunk voranstellt –
geradezu spektakulär empfanden, hängt vielmehr und der vermutlich deshalb etwas abrupt mit
damit zusammen, daß sie wesentlich zu der einem Abschnitt über das Verfassen von Gedich-
längst überfälligen Korrektur eines klischeehaf- ten endet –, beschreibt sich Bachmann als eine
ten Bachmann-Bildes in der Öffentlichkeit bei- Autorin, die in dörflicher Abgeschiedenheit in
trugen. Das Klischee der hilf- und ratlosen Frau, einem Grenzgebiet aufgewachsen ist. Ihr Leben
das Bachmann spätestens seit den Frankfurter erscheint als eine fortgesetzte Überschreitung
Vorlesungen im Wintersemester 1959/60 anhaf- dieser frühen Grenzen, die jedoch mehr sind als
tete, wurde nun endgültig hinfällig. Denn zum nur Ländergrenzen: Die Kindheit verläuft als ein
einen belegen die Römischen Reportagen, daß Leben zwischen zwei bzw. drei Landes- und
Bachmann durchaus in der Lage war, politische Sprachgrenzen, und der Wechsel der jungen Er-
und alltagspragmatische Zusammenhänge zu be- wachsenen aus dem Gailtal in die Stadt Wien
obachten, zu analysieren und auf eine ebenso wird zu einem Umzug an eine neue Grenze »zwi-
verständliche wie informative Weise zu ver- schen Ost und West, zwischen einer großen Ver-
sprachlichen. Zum anderen bezeugen sie Bach- gangenheit und einer dunklen Zukunft« (W 4,
manns Professionalität, auf diese Weise ihren 301). Vor diesem Hintergrund entfaltet sich in
Lebensunterhalt zu bestreiten. Daß sie, die ver- Biographisches alles Folgende: »Und wenn ich
meintlich weltabgewandte Dichterin, sich zeit- auch später nach Paris und London, nach
lebens den pragmatischen Anforderungen, die Deutschland und Italien gekommen bin, so be-
eine Existenz als freie Autorin mit sich bringt, sagt das wenig, denn in meiner Erinnerung wird
bewußt gewesen ist und sie auch zu meistern der Weg aus dem Tal nach Wien immer der
verstand, war ihr so wichtig, daß sie immer wie- längste bleiben.« (ebd.) Über die Metapher der
der ausdrücklich darauf hinwies (vgl. GuI, 109, Grenze entwirft sich Bachmann hier als eine ›ty-
145). pische‹ Angehörige des ›Hauses Habsburg‹. Der
auf eine lange Tradition in der österreichischen
Literatur zurückgreifende Mythos vom ›Haus
Autobiographische Essays
Habsburg‹ (Magris 1988) beschwört »ein Stück
Von ihren frühen literaturkritischen Radioessays wenig realisiertes Österreich« (W 4, 302), die
bis zur Anton-Wildgans-Preisrede von 1972 be- Utopie einer Völkergemeinschaft, in der die
tont Bachmann den engen Zusammenhang von friedliche Koexistenz verschiedener nationaler
eigener Erfahrung und Schreiben. Die Einarbei- Gruppen möglich wäre. Bachmanns zwanzig
tung autobiographischen Materials in das künst- Jahre später entstandene Erzählung Drei Wege
lerische Werk zeigt, daß damit nicht das unge- zum See wird mit der Figur der weitgereisten
brochene Aufzeichnen von ›Selbsterlebtem‹ ge- Elisabeth Matrei, die ihren Vater im Haus ihrer
meint ist – nicht zuletzt deshalb, weil Bachmann Kindheit besucht, diese Zusammenhänge wieder
der eigenen Erfahrung immer auch Lektüreerleb- aufgreifen und – auf nicht unproblematische
nisse zurechnet. Die Herausgeber der kritischen Weise (Bannasch 1995, S. 131ff.) – weiter aus-
Ausgabe des Bachmannschen Spätwerks sehen führen.
ein Merkmal der Arbeitsweise Bachmanns ge- Der ursprünglich für den Erzählband Das drei-
rade darin, »von der Thematisierung autobio- ßigste Jahr vorgesehene (vgl. den Artikel »Leben
graphischer Details zur ästhetischen Bewältigung und Werk im Überblick«), erst aus dem Nachlaß
eigener Erfahrung« (TKA 1, 565) zu gelangen. in der Zeitschrift »Jahresring« (1976/77) veröf-
174 II. Das Werk

fentlichte künstlerische Prosatext Der Tod wird Kogel, S. 86) und das 1969 entstandene Zugege-
kommen berichtet zwar in der Ich- bzw. Wir-Form ben lassen dabei nicht nur stilistisch einen an-
von ›der Familie‹, bietet aber keine biographi- deren Duktus erkennen als die journalistischen
schen Mitteilungen. Er fragt vielmehr nach den Berichte. Sowohl in der Verwendung und Ausge-
Möglichkeiten der Überwindung des Todes in staltung einiger für das Früh- und Spätwerk zen-
einer säkularen Welt, in der die Familie – nicht traler Motive als auch durch ihr poetisches Ver-
von ungefähr, wie der Text entwickelt – »ge- fahren und ihre Poetologie ergänzen, erläutern
wissermaßen […] eine heilige [ist], denn sie und entwickeln diese Texte Überlegungen des
wird viel im Mund geführt, sie scheint etwas Bachmannschen Werks; nicht zuletzt das späte
Untadeliges, Göttliches zu sein« (W 2, 269). Die Entstehungsdatum von Zugegeben belegt diese
Familie, die sich mit ihren sozialen und sprach- Kontinuität.
lichen Ritualen, ihren Sprichworten und Redens- Der Essay Was ich in Rom sah und hörte zeich-
arten der eigenen Gruppenidentität versichert, net das Portrait Roms als einer Stadt, die nicht
erscheint in Bachmanns Text als Mikrokosmos den idealisierten Klischees entspricht, wie sie
der Gesellschaft schlechthin. In ihrem überzeit- Reiseführer den Besuchern anpreisen. »In Rom
lichen Alltagswissen ebenso wie den überkom- sah ich, daß dem Palazzo Cenci, in dem die
menen Vorurteilen, als deren Trägerin sie fun- unglückliche Beatrice vor ihrer Hinrichtung
giert, wird die Familie zum konstituierenden Ort lebte, viele Häuser gleichen. Die Preise sind
einer bürgerlichen Gedächtniskultur, die auf hoch, die Spuren der Barbarei überall. Auf den
diese Weise gewissermaßen den Tod überwindet. Terrassen morschen die Oleanderkübel zugun-
Die Redensarten, die das Familiengedächtnis sten der weißen und roten Blüten; die möchten
prägen, werden im Text literarisch inszeniert fortfliegen, denn sie kommen gegen den Geruch
und, insbesondere im Schlußteil der Erzählung, von Unrat und Verwesung nicht auf, der die Ver-
mit einer Sprache, die Anleihen an biblische gangenheit lebendiger macht als Denkmäler.« (W
Formulierungen unternimmt, kontrastiert. Die- 4, 30) Mit seinen Bauwerken und Ruinen hebt
ses poetische Verfahren kennzeichnet bereits Rom nicht nur die eigene Geschichte ins Bewußt-
Bachmanns 1961 in dem Band Das dreißigste sein der Bewohner. An den Spuren der Gewalt,
Jahr erschienene Titelerzählung; zu recht ist da- die an den zerstörten und verfallenen Bauwerken
her auch der Text Der Tod wird kommen in der sichtbar werden, zeugt Rom von den Möglich-
Werkausgabe von 1978 in den zweiten Band auf- keiten eines bewußten Umgangs mit der erinner-
genommen, der Bachmanns Erzählungen ver- ten Erfahrung von Leid und Verfall. Das Leben in
sammelt. der Stadt wird zur alltäglichen Einübung kollekti-
ver und individueller Erinnerungsstrategien jen-
seits gewaltsamer ›Vergangenheitsbewältigun-
Die Rom-Essays
gen‹ und Verdrängungsleistungen. Sigmund
In insgesamt drei Texten entfaltet Bachmann als Freuds Essay »Das Unbehagen in der Kultur«, auf
österreichische Schriftstellerin in Rom das Bild den Hans Höller verweist, wird in diesem Zu-
von Rom als einem anderen Ort, einem Ort, an sammenhang als ein für Bachmanns Rom-Essay
dem sich die »Utopie in Permanenz« ereignet (W wichtiger Bezugstext plausibel (Höller 1987,
4, 337). Diese Utopie gestaltet sie jedoch nicht als S. 192). Freud führt Rom mit seinen sich über-
einen traumhaften Gegenentwurf zur schlechten lagernden Bauschichten als ein Gleichnis für die
Realität, sondern vielmehr als einen unspektaku- menschliche Psyche an, da in Rom wie in einem
lären Ort, an dem ›Normalität‹ in einer anson- ›psychischen Wesen‹ mit »ähnlich langer und
sten ›wahnsinnigen‹ Welt herrscht. Ein Vergleich reichhaltiger Vergangenheit […] nichts, was ein-
dieser literarischen Rom-Texte mit der Darstel- mal zustandegekommen war, untergegangen ist,
lung der römischen Verhältnisse in den Römi- in dem neben der letzten Entwicklungsphase
schen Reportagen macht den Unterschied zwi- auch alle früheren noch fortbestehen« (Freud,
schen journalistischer und künstlerischer Prosa S. 202). In eben diesem Sinne macht Bachmanns
in Bachmanns Werk einsichtig. Was ich in Rom Essay Was ich in Rom sah und hörte die »Ewige
sah und hörte von 1955, der 1957 für Radio Stadt« als »eine Totalität des menschlichen Ge-
Bremen fertiggestellte Entwurf [Ferragosto] (vgl. dächtnisses erfahrbar« (Höller 1987, S. 192).
Künstlerische und journalistische Prosa 175

Was ich in Rom sah und hörte ist ein von einen ersten Wendepunkt im essayistischen und
zahlreichen Allgemeinplätzen deutscher Italien- literaturkritischen Schaffen der Autorin, an dem
sehnsucht durchzogener Text. Diese sprachlichen diese die »doppelte Autorposition, die mit der
Klischees und literarischen Topoi werden nun doppelten Lektüre von Literatur und Philosophie
Absatz für Absatz demontiert. Der Essay scheint korrespondiert«, aufgebe (Weigel 1999, S. 88).
zunächst im aufklärerischen Bemühen um ein Weigel versteht damit bereits den frühen Rom-
von verklärenden Klischees bereinigtes Rom-Bild Essay – und nicht erst die Arbeiten des Spätwerks
einer Ästhetik des Häßlichen das Wort zu reden. (Schmidt) – als eine Antwort Bachmanns auf
»Wir erleben über den Versuch, die Augen offen Walter Benjamin. Tatsächlich lassen sich insbe-
zu halten und hinter die ›schöne‹ Fassade Roms sondere im Hinblick auf die Bedeutung des Ri-
zu sehen, einen Wandel mit: weg von einem rein tuals und die Konzeption eines rituellen Spre-
ästhetischen Sehen über den schwierigen Prozeß chens die Spuren der Benjaminschen Schriften
der Erkenntnis, der den Versuch, die Augen zu aufzeigen (Huml 1999, S. 220ff.). Das Jahr 1955,
verschließen, nicht ausläßt, hin zu einem Ge- in dem der Text entsteht, mit Weigel als einen
brauch der Augen im verantwortlichen Austausch einschneidenden Wendepunkt im gesamten
mit der Welt.« (Huml 1999, S. 216) Das zur Flos- Schaffen Bachmanns herauszustellen, bedeutet
kel verkürzte Alltagswissen wird in Bachmanns allerdings, den Text unnötig überzustrapazieren;
Rom-Text durch die Wahrnehmungen des Ich nicht zuletzt deshalb, weil bereits Bachmanns
konterkariert; formelhaft wird jeder neue Textab- kurzer Text Das Lächeln der Sphinx von 1949 als
schnitt mit dem Hinweis darauf eingeleitet, was die Erprobung einer »Schreibhaltung vis-à-vis
das Ich entgegen seinen Erwartungen gesehen der geschichtsphilosophischen Reflexionen kri-
hat. Indem der Text diese Verweigerungen des tischer Theorie« (Weigel 1994, S. 23) charakte-
Ich gegenüber den Redensarten mit einem rituel- risiert werden kann, der deutliche Spuren der
len Sprachgestus inszeniert, artikuliert er zu- Benjamin-Lektüre erkennen läßt. Auch muß es
gleich den ›Gegenzauber‹ zu allen Redensarten fraglich erscheinen, ob es eine »doppelte Lektüre
und Allgemeinplätzen, die der Text vorführt von Literatur und Philosophie« in den Schriften
(Huml 1999, S. 220ff.); die abschließende Pas- Bachmanns überhaupt je gegeben hat. Vielmehr
sage mündet schließlich in eine einzige Aneinan- bezeugen der ›poetische‹ Abschluß der Disserta-
derreihung von Sprichworten. Der letzte Satz tion ebenso wie die ›literarische‹ Sphinx-Parabel,
aber setzt mit Pathos noch einmal dem Hörensa- daß Bachmann zu keinem Zeitpunkt ihres Schaf-
gen das Wissen um eine Möglichkeit der Wahr- fens literarisches und philosophisches Denken
nehmung eines ›tatsächlichen‹ Wissens entge- voneinander getrennt hat (Agnese 1996).
gen, das Wissen darum, »daß uns die Augen zum In ihrer Rede Die Wahrheit ist dem Menschen
Sehen gegeben sind« (W 4, 34). Die poetologi- zumutbar, die Bachmann 1959 zur Verleihung des
sche, aus der besonderen Bedeutsamkeit des Se- Kriegsblindenpreises hält, greift sie die Unter-
hens resultierende Problematik, die Bachmann scheidung in (Alltags-) Sprache und Sehen, wie
hier gegen das Hörensagen und die Alltagsspra- sie sie in dem Essay Was ich in Rom sah und hörte
che ausspielt, teilt den Text in zwei einander entwickelt, als eine zwischen zwei Formen des
letztlich widersprechende Textebenen, die der Sehens – eines äußerlichen und eines inneren
sprachlichen und die der thematischen Gestal- Sehens – wieder auf. An der unterschiedlichen
tung. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, Bildlichkeit, die Bachmann in beiden Texten
wenn ›die Sprache‹ gegen ›die Sprachlosigkeit‹ wählt, um den Abstand zwischer ›wahrer‹ und
innerhalb eines literarischen Textes gestellt wird, konventionalisierter Wahrnehmung anschaulich
zeigt sich in der paradoxen poetologischen Kon- zu machen, läßt sich jedoch keine grundsätzliche
struktion des Essays, der in diesem Punkt den Differenz zwischen beiden Texten ablesen. Viel-
wenig später entstandenen Erzählungen, wie ins- mehr belegt der kurze Rom-Text [Ferragosto], der
besondere der Erzählung Alles, entspricht. im August 1957 von Radio Bremen gesendet
Sigrid Weigel stellt in ihrer umfangreichen Un- wurde (Kogel, S. 86), daß im Frühwerk Bach-
tersuchung des essayistischen Werks Bachmanns manns Sehen und Hören einander nicht aus-
Essay Was ich in Rom sah und hörte an den schließen müssen; in [Ferragosto] heißt es, daß
Anfang ihrer Ausführungen. Sie bestimmt ihn als das Ich in Rom sehen und hören gelernt habe (W
176 II. Das Werk

4, 336). Lediglich um der Anschaulichkeit willen, verklärenden bzw. eines die Wahrheit ›korrigie-
so läßt sich daher vermuten, werden in der lite- renden‹ Sehens explizit noch einmal auf, wenn
rarischen Inszenierung von Was ich in Rom sah sie die Weigerung der Protagonistin, ihre Brille
und hörte Sehen und Hören gegeneinanderge- aufzusetzen, als die einzig mögliche Überlebens-
stellt. Thematisch geht es in [Ferragosto] ebenso strategie beschreibt; auch die übrigen Simultan-
wie in Was ich in Rom sah und hörte darum, die Erzählungen spielen diese Thematik in verschie-
sinnliche Wahrnehmung gegen das Buchstaben- denen Variationen durch. So fällt im Spätwerk
wissen auszuspielen. Das paradoxe Widerspiel Bachmanns dem Sehen nicht mehr das Privileg
von verzauberndem und klarem Sehen, von Mög- zu, für die Evidenz des ›unmittelbar‹ Geschauten
lichem und Unmöglichem, das Bachmann in ih- zu bürgen. Aus dem voraussetzungslosen, eine
rer Kriegsblindenpreisrede entfaltet, zeichnet unmittelbare Sicht auf die ›ganze Wahrheit‹
sich damit von seiner Thematik her schon in eröffnenden Sehen des Frühwerks wird im
beiden frühen Rom-Texten ab. Spätwerk eine hochartifizielle Leistung, die ei-
Erst im Spätwerk verzichtet Bachmann darauf, nem künstlerischen Schöpfungsvorgang gleich-
lyrische ›Formeln‹ als die Hoffnungsträger einer kommt.
›anderen Sprache‹ in die ›Alltagssprache‹ ihrer
Prosatexte einzulassen. Erst dort gewinnt die ge-
Ein Ort für Zufälle (Büchnerpreisrede)
schwätzige Alltagssprache die Qualität einer eige-
nen Beredtheit, die sich nicht nur ›hinter‹, son- In dem künstlerischen Prosatext Ein Ort für Zu-
dern auch in den Floskeln selbst zu erkennen fälle, mit dem sich Bachmann 1964 für die Verlei-
gibt. So setzt auch erst der 1969 entstandene hung des Georg Büchnerpreises bedankt, ent-
Rom-Text Zugegeben, der nun ausdrücklich die wickelt Bachmann mit der ›kranken‹ Stadt Berlin
Situation der in Rom arbeitenden und über Wien das Gegenmodell zu dem ›gesunden‹ Rom.
schreibenden Autorin der Todesarten reflektiert, Grundiert von der allgegenwärtigen nationalso-
der Gegenüberstellung von Hörensagen und Se- zialistischen Vergangenheit Berlins beschreibt
hen, von konventionell übermitteltem und unver- Bachmann die Großstadt vermittelt über eine
stellt gewonnenem Wissen, wie sie in den beiden Zusammenstellung von zwar verfremdeten, doch
frühen Rom-Texten entwickelt wird, eine andere als konkret erkennbaren ›politischen Schlüssel-
Auffassung entgegen. In genauer Entgegenset- ereignissen‹, wie sie in der Zeit ihres eigenen
zung zu den Texten der 1950er Jahre (bis hin zu Berlinaufenthalts stattfanden, also in der Zeit
dem Erzählband Das dreißigste Jahr) formuliert zwischen Frühjahr 1963 und Oktober 1964
Bachmann in Zugegeben das Bekenntnis zu ei- (Schneider, S. 133). Trotz dieser Verweise auf
nem selektiven Rom-Bild, das den (Augen-) konkrete Ereignisse der Zeitgeschichte handelt
Schein mit seiner verklärenden Schönheit der es sich jedoch um einen fiktionalen Text, »wenn
Wahrheit vorzieht. So heißt es dort: »Zugegeben, ›fiktional‹ hierbei nicht mit ›erfunden‹ übersetzt,
die Leute sind etwas schöner und sehr freund- sondern – etwa im Sinne Isers – als ›zugleich real
lich, aber man weiß ja, was dahintersteckt. Weiß und imaginär‹ definiert wird« (ebd., S. 137). Die
man es wirklich? Man weiß doch gar nichts. Mir literarische Gestaltung des Textes trägt der durch
genügt es, daß die Leute nicht unfreundlich sind, Büchners Lenz vorgegebenen Wahnsinnsthema-
sondern freundlicher sind.« (W 4, 340) Mit die- tik Rechnung: Berlin erscheint als ein Ort, an
sem selbstreflexiven Bekenntnis zu einer gegen dem sich der Wahnsinn – der Büchnersche ›Zu-
die gesellschaftliche Realität gesetzten ›Ober- fall‹ im Sinne vom Anfall – kristallisiert. Bach-
flächlichkeit‹ erweist sich das motivisch eng mit mann schließt mit ihrer Rede eng an Büchners
den frühen Rom-Texten verwandte Zugegeben als Lenz an, wenn auch sie das Leiden ihrer Kranken
ein Teil des Bachmannschen Spätwerks. Der ge- als ein durch äußere soziale Bedingungen verur-
naue Blick auf die sichtbare Welt wird nun abge- sachtes Leiden charakterisiert. Bleibt bei Büch-
blendet, denn die Sicht auf die ›ganze Wahrheit‹ ner der Wahnsinn jedoch auf einen Einzelnen
ist nicht zu ertragen. Sie ist zu schrecklich, als beschränkt, so wird er bei Bachmann als ein
daß mit und in ihr zu leben möglich wäre. In der kollektives Leiden dargestellt (Bartsch 1985,
späten Erzählung Ihr glücklichen Augen greift S. 136). Die sprachliche Gestaltung der Groß-
Bachmann diese Thematik des ›wahren‹ und des stadtdarstellung erscheint als eine einzige Ab-
Künstlerische und journalistische Prosa 177

folge von Übertreibungen: Sind die hoffnungs- Titel der Endfassung ihrer Rede mit der Formu-
vollen Ausblicke aus der Stadt ins Utopische lierung Ein Ort für Zufälle zum Ausdruck kommt.
überhöht, so wird zugleich die Wahrnehmung der Zudem wird deutlich, daß Bachmann in der
Großstadt selbst von ungeheurer Lärmbelästi- Büchnerpreisrede zunächst zwei verschiedene
gung, schreienden Reklametafeln, flutendem Au- Stoffkreise – das ›verwüstete‹ Berlin und die
toverkehr und massenhaftem Alkoholkonsum ägyptische Wüste – eng miteinander verbunden
charakterisiert. Beängstigender aber als diese ins zur Darstellung bringen wollte. Die ägyptische
Traumatische getriebene Großstadterfahrung Wüste setzt den Verwüstungen der Großstadt ihr
wirkt die unbestimmte Wahrnehmung der Kran- heilsames Nichts entgegen. Diese beiden ant-
ken, daß da »etwas« ist (ebd., S. 139). Sie zieht agonistischen Wüstenlandschaften, die Groß-
sich durch den gesamten Text und ruft den Ein- stadtwüste Berlin und die ägyptische Wüste, sind
druck einer unterschwelligen, doch gerade des- in den ersten Entwürfen der Büchnerpreisrede
halb um so gefährlicheren Bedrohung hervor. Mit durch ein visionäres Traumgeschehen miteinan-
der verharmlosenden Behauptung des Pflegeper- der verzahnt. So erläutert Bachmann noch in
sonals »Es ist nichts« wird der schizophrene Zu- einer frühen Fassung, »daß von Absatz zu Absatz
stand der Stadt jedoch all denen gegenüber zu sich zwei Bewegungen überschneiden. Daß ich
leugnen gesucht, die an den ›kranken‹ Verhält- Sie einerseits nach Berlin transportiere, und im
nissen selbst ›krank‹ und schizophren geworden nächsten in die Wüste. Wie eines zum andern
sind. kommt, in ein Berlin, das nicht von einer Person
Bachmann beginnt mit den Vorarbeiten zu ih- besucht wird, sondern von einem Delirium, von
rer Rede unmittelbar im Anschluß an die Mittei- einer Krankheit, könnte man sagen, von schlech-
lung der Preisvergabe nach der Rückkehr von ten Träumen, und kontrapunktisch ein Ich, dem
einer längeren Ägyptenreise (April/Mai 1964). zuzutrauen ist, daß es sich auf einer Reise be-
Vorausgegangen war dieser Reise ein einjähriger findet, vielleicht weniger auf einer Reise als auf
Stipendienaufenthalt in Berlin seit April 1963. einem Weg der Heilung und in der Unmöglich-
Der Berlin-Aufenthalt verknüpft sich für Bach- keit, verordnete Eindrücke zu haben.« (TKA 1,
mann mit persönlichen traumatischen Erfahrun- 181) In den späteren Textstufen gibt Bachmann
gen. Ein Entwurf aus dem Nachlaß, in dem sie die enge Verknüpfung von Stadt und Wüste, von
über ihre Berliner Begegnungen mit Witolt Gom- Krankheit und Heilung weitgehend auf. In der
browicz berichtet, schließt mit der lapidaren Be- Endfassung der Büchnerpreisrede erinnert nur
merkung, daß sie schließlich sehr »krank« ge- noch der Ritt, den die Kranken auf dem Rücken
worden sei (W 4, 330). Nicht nur der Bericht über der dem Zoo entflohenen Kamele in die märki-
Bachmanns Ägyptenreise (Opel 1996) legt nahe, sche Wüste unternehmen – also auch: aus dem
daß es sich bei dieser Krankheit um ein psychi- von der Mauer umgrenzten Westteil der Stadt in
sches Leiden handelte; Bachmanns desolater Zu- das ostdeutsche Umland hinaus –, an die einstige
stand war unter ihren Freunden und selbst im Gegenüberstellung der beiden Wüsten. Die the-
weiteren Bekanntenkreis kein Geheimnis, und matische Gegenüberstellung von Krankheit und
doch ist die unmittelbare Verknüpfung von per- Heilung, wie sie die ersten Entwürfe vorsehen,
sönlichem und gesellschaftlichem Wahnsinn in wird in der Schlußfassung also stark zurückge-
der Büchnerpreisrede alles andere als nur ein nommen. Den Wüstenstoff gliedert Bachmann
selbsttherapeutischer Versuch, wie schon Bach- zunächst in das geplante Wüstenbuch aus; er
manns intensive Arbeit an der literarischen Form bildet schließlich die Vorarbeiten für das Frag-
des Textes zeigt. ment gebliebene Buch Franza.
Die Vorgeschichte der Büchnerpreisrede ist Mit der thematischen Einschränkung verän-
kompliziert. Die ersten Entwürfe zeigen, daß dert sich auch die sprachliche Gestaltung der
Bachmann ursprünglich vorhatte, ihre Rede en- Rede. Bachmann rückt vom Traumcharakter der
ger auf das Werk Büchners – auch auf seine ersten Entwürfe ab und entscheidet sich für die
naturwissenschaftlichen Schriften – zu beziehen. Form der überzeichnenden »Prosagroteske«
Davon rückt sie zunehmend ab; es bleibt die (Bartsch 1985, S. 135). Die Großstadt potenziert
Verbindung über die Wahnsinnsthematik in die Vielzahl zur erdrückenden Menge: In über-
Büchners Lenz, wie sie schließlich auch in dem füllten Straßen bewegen sich hektisch unzählige
178 II. Das Werk

Menschen und Autos, der Lärm ist unerträglich sein Unglück‹ (wovon Bachmann in der Kriegs-
und der ›normale‹ Drogenkonsum floriert. Diese blindenrede noch überzeugt war; W4, 277). Sein
Fassung der Büchnerpreisrede, die Bachmann im Unglück – das, bis auf wenige Ausnahmen, in den
Oktober 1964 bei der Preisverleihung vorträgt, folgenden Werken mit der Geschlechterfrage ver-
überarbeitet sie für eine Einzelveröffentlichung knüpft ihr Unglück sein wird – ist in den Roman-
in Buchform (Bachmann 1965). Sie streicht die fragmenten und in Malina ein unheilbares und
einleitenden Worte, überarbeitet einige Formu- tödliches. Mit der Einführung der Krankheits-
lierungen geringfügig und fügt einige wenige be- thematik in das Werk Bachmanns bezeichnet die
sonders ›berlinspezifische‹ Passagen – so etwa Büchnerpreisrede so einen Wandel, der sich in
eine Passage über den Stadtteil Kreuzberg oder den Frankfurter Vorlesungen bereits angekündigt
die architektonische Besonderheit des ›Berliner hatte. Bachmann definiert hier die Leiderfahrung
Zimmers‹ – ein. Beigegeben sind dieser Ver- nicht nur – wie in der Ghetto-Passage des frühen
öffentlichung Zeichnungen von Günter Grass, die Rom-Textes Was ich in Rom sah und hörte – als
sich nur zum Teil unmittelbar auf den Bachmann- der literarischen Gestaltung vorgängig, sondern
schen Text beziehen, darüber hinaus aber mit als jeder literarischen Gestaltung vorrangig. In
ihren überdimensionalen Insekten, Käfern, Vö- diesem Sinne ist der Verzicht auf jede poetologi-
geln und Würmern, die sich vor grauen Brand- sche Unterfütterung der Büchnerpreisrede als ein
mauern in der Großstadtkulisse Berlin bewegen, programmatischer zu verstehen. Die Streichun-
auch durchaus eigene Bilder entwerfen. Damit gen der poetologischen Passagen aus den frühen
reagieren sie gleichermaßen auf die im Text vor- Entwürfen stützen diese Annahme und belegen
gegebenen bildhaften Motive – etwa die Kran- die Tendenz, »auf dem Hintergrund einer sich
kenschwester oder die Kamele – wie auf die verschärfenden Sprachskepsis das Sprechen über
sprachliche Gestaltung des Textes als Groteske, Literatur in das literarische Sprechen selbst zu-
auf die sie mit ihren unwirklichen (Über-) Zeich- rückzunehmen« (Göttsche 1990, S. 198).
nungen antworten. Darin, daß Bachmann in der Endfassung ihrer
Die ersten Entwürfe der Büchnerpreisrede zei- Büchnerpreisrede jede poetologische Betrach-
gen, daß Bachmann zunächst geplant hatte, un- tung wieder gestrichen hat, liegt die eigentliche
mittelbar an die poetologischen Ausführungen Besonderheit dieses Textes im Vergleich zu den
der Frankfurter Vorlesungen und der Kriegsblin- literaturkritischen Arbeiten. Mit seiner experi-
denpreisrede anzuknüpfen. In den ersten Ent- mentellen Form und seiner Poetik des Leidens
würfen zur Büchnerpreisrede geht es ihr noch weist Ein Ort für Zufälle so auf die Todesarten
darum, ihre poetologischen Überlegungen über voraus. Die Spaltung des Ich in ein beobachten-
die Funktion der Literatur als einer Möglichkeit, des und ein betroffenes bereitet die Aufspaltung
das menschliche Fassungsvermögen zu erwei- in Franza und die Erzählerfigur Martin im Buch
tern, genauer auszuführen und zu erläutern. Im Franza und schließlich in das Ich und den das Ich
Vergleich mit den Frankfurter Vorlesungen spie- überlebenden Malina als dem Erzähler der Todes-
geln die Vorarbeiten zu Ein Ort für Zufälle eine arten vor (Höller 1987, S. 210). Die Büchner-
Schwerpunktverlagerung im Werk Bachmanns. preisrede zeigt auch mit ihren politischen An-
Im Hinblick auf die Literatur tritt der Versuch, spielungen, daß Bachmann diese Poetologie nicht
das Leiden zu erfassen, deutlich in den Vorder- als eine privatistische verstanden wissen möchte,
grund. Zwar verfolgt Bachmann von Anfang an in sondern in einen konkreten gesellschaftlichen
ihrem Werk die Auffassung einer sich vom Lei- Kontext einbettet. Dies gilt insbesondere auch für
den herschreibenden Dichtung. Nun aber wer- die der Rede eingeschriebene Auseinanderset-
den die Worte verstärkt daraufhin geprüft, ob sie zung mit der Hypothek des Nationalsozialismus
das Ausmaß des erlittenen Schmerzes erfassen (Kienlechner).
können und so – das ist die Hoffnung, die sich Wie Celan, der Büchnerpreisträger von 1960,
von nun an mit der Wirkung von Literatur ver- der seine poetologischen Reflexionen vom »20.
bindet – möglicherweise auch zu ertragen helfen. Jänner«, dem Datum der Wannseekonferenz,
In den kommenden Jahren rückt jedoch zuneh- ausgehen läßt, so bestimmt auch Bachmann in
mend die Einsicht ins Zentrum, daß ›die Kraft ihrer Büchnerpreisrede mit Auschwitz ein Ereig-
des Menschen‹ oftmals nicht ›weiter reicht als nis, von dem sich ihr Selbstverständnis als Au-
Künstlerische und journalistische Prosa 179

torin herschreibt. Der ursprüngliche Titel »Deut- und Wüstenthematik, wie sie sich in den Vor-
sche Zufälle«, den Bachmann zunächst für ihre arbeiten zur Büchnerpreisrede niederschlägt, ist
Rede wählt und den sie erst für die Veröffentli- nur von kurzer Dauer. Ihr geht die Absicht voraus,
chung 1965 in Ein Ort für Zufälle abändert (vgl. eine eigenständige Bearbeitung des Wüstenstoffs
hierzu kritisch Höller 1987, S. 209), verweist aus- vorzunehmen; auf diese greift Bachmann zurück,
drücklich auf die Rückbindung der Berlinbe- nachdem sie den Wüstenstoff weitgehend aus
schreibung an die nationalsozialistische Vergan- den Entwürfen für die Büchnerpreisrede ausge-
genheit und ihre Fortwirkung bis in die 1960er gliedert hat. So schreibt sie im April 1965 an
Jahre, die hier grotesk veranschaulicht wird: »Am ihren Verleger Klaus Piper, sie plane, ein kleines
Knie der Königsallee fallen, jetzt ganz gedämpft, Buch über ihre Ägyptenreise zu schreiben. Im
die Schüsse auf Rathenau. In Plötzensee wird Herbst desselben Jahres zeichnet sich dann je-
gehenkt. […] Im Café Kranzler […] halten die doch bereits ein Konzeptionswandel auf den
Frauen die Filztöpfe fest über die Augen gezogen, Franza-Roman hin ab, für den das Wüstenbuch
sie kauen und greifen zu, seit damals.« (TKA 1, als Materialgrundlage zu dienen beginnt (Kom-
219) Beide Büchnerpreisreden, die Bachmanns mentar TKA 1, 564, 568). In Auseinandersetzung
mit ihrer in die Gegenwart hineinreichenden mit der Tradition europäischer Orient-Berichte
deutschen Vergangenheit und die Celans mit ih- und dem literarischen Orientalismus (Göttsche
rem impliziten Verweis auf die Wannseekonfe- 1991, S. 110 f.), konzipiert Bachmann das Wüsten-
renz, haben mit der nationalsozialistischen Tä- buch zunächst als einen Reisebericht. Wie der
terschaft denselben Bezugspunkt. Dennoch ver- Rom-Essay so weisen auch diese Entwürfe eine
folgen sie, wie Böschenstein in seinem Vergleich Doppelstruktur von touristischer Erwartungshal-
der beiden Reden ausführt, unterschiedliche tung und ihrer Enttäuschung auf der einen Seite
Zielsetzungen: »hier die Darstellung der eigenen und der Entstehung einer individuellen Aneig-
Dichtung, dort die Entblößung der Realität, die nung des zunächst als fremd Erlebten auf der
den Grund, auf dem sie sich erhebt, zudeckt, so anderen Seite auf. Vor dem Hintergrund der Zu-
daß alles Erscheinende unwahr, unwesentlich, in sammenführung von Gender- und Kolonialis-
einem exhibitionistischen Sinn verrückt wird. musthematik (Lennox 1984, S. 108), wie sie
Die Art ihres Bezugs auf Lenz als Maßstab für die Bachmann im Wüstenbuch unternimmt, ist die-
Erkenntnis der eigenen Zeit beweist indes, daß ses Verfahren nicht unproblematisch; Weber
beide letztlich dieselben Geschehnisse, Erfah- spricht kritisch von einer »vorschnellen Identi-
rungen und Gefahren in den Blick nehmen.« fikation« (Weber 1986, S. 109) des zerstörten
(Böschenstein, S. 269) Doch ist diese Gemein- weiblichen Ich mit den ›primitiven‹ Bewohnern
samkeit, die Celan und Bachmann in ihrem Be- des als exotisch wahrgenommenen Landes.
zug auf die nationalsozialistische Vergangenheit Bachmann führt die Reise des Ich von Kairo
verbindet, keineswegs ungebrochen. In Der Me- über Luxor und Assuan an den Stationen einer
ridian nennt Celan die Wannseekonferenz einen klassischen Ägyptenreise – und ihrer eigenen
historischen Einschnitt, unter dessen Eindruck vom April/Mai 1964 – entlang. Von Anfang an
die Gegenwart und die Literatur nach 1945 steht. verknüpft sie die reale Reise des Ich mit der
Bachmann hingegen geht von einem Fortleben inneren Reise durch eine Krankheit. Die Wüste
des Nationalsozialismus aus (Kienlechner). In metaphorisiert Bachmann in der christlich-mysti-
den Romanentwürfen des Spätwerks und schen und philosophischen Tradition (Weber
schließlich in Malina wird Bachmann diesen Ge- 1986, S. 123), in Anspielung auf Rimbaud (Gött-
danken der Kontinuität weiterführen und kon- sche 1991, S. 153) und auf das Wüstenmotiv in
kretisieren. Im Verhältnis der Geschlechter wird den Gedichten Ungarettis (Hoell 2001, S. 108) zu
sie schließlich versuchen, das Fortleben national- einem großen Purgatorium, in dem das Ich seiner
sozialistischer Täterschaft aufzuzeigen. Vernichtung ausgesetzt ist und zugleich Heil(ung)
sucht. Die Sonne schließlich soll das weibliche
Ich des Wüstenbuchs in seinen Anstrengungen
Das Wüstenbuch
unterstützen, Licht in das Dunkel des Verbre-
Die im Sommer 1964 von Bachmann vorüber- chens zu bringen, das ihm widerfahren ist. »Das
gehend ins Auge gefaßte Verknüpfung von Berlin- ist vorbedachter Mord, und die Sonne, die
180 II. Das Werk

Sonne, die bringt es an den Tag. […] Die Sonne Bachmanns nicht mehr voneinander zu trennen.
hat alle Unterlagen, die Dokumentenlage könnte Im Unterschied zum Frühwerk – insbesondere zu
nicht besser sein. Hier ist ein vorbedachter Mord der Erzählung Unter Mördern und Irren, die den
geschehen. Es war mehr als eine Verwechslung. Tätern die ›normalen‹ Menschen entgegenstellt
Ich war gemeint. Ich. Ich. Welch ungeheure Kon- – verschiebt sich jedoch die Zweiteilung der Welt
spiration wird hier aufgedeckt.« (TKA 1, 254) im Spätwerk Bachmanns: Mörder und Irre sind
Tritt die Idee einer zielgerichteten Reisebewe- nun zweierlei Menschen, das Irrewerden an der
gung vorübergehend in der zweiten Arbeitsphase Welt ist Zeichen von Integrität; unter diesen Vor-
zurück – vermutlich zu jenem Zeitpunkt, als zeichen kann von ›Gesundheit‹ nicht mehr ge-
Bachmann eine Verknüpfung von Berlin- und sprochen werden. Die »Tollheit ist doch nichts
Wüstenthematik für die Büchnerpreisrede er- weiter als der physische, psychische Ausdruck für
wägt (Kommentar TKA 1, 567) –, so kehrt Bach- etwas Unerträgliches, also der Ausdruck einer
mann in der dritten Arbeitsphase wieder zur Niederlage vor der Realität. Aber es ist zugleich
ursprünglichen Konzeption zurück. Scheint der die Niederlage der Realitäten vor dem Geist, der
dritte Entwurf zunächst mit der Endstation in der sich eher verrücken läßt, als daß er nachgibt
»Hölle« (TKA 1, 275) des durch die Weißen be- […].« (TKA 1, 175) Der Irrsinn, so entwickelt es
reits zerstörten Assuan zu enden, so führt Bach- Bachmann in der Büchnerpreisrede und in den
mann den Entwurf weiter bis hin zu dem utopi- folgenden Prosawerken, kommt von außen und
schen Erlebnis des Ich in Wadi Halfa, bei dem fährt in die Menschen ein. Die Kranken jedoch
Weiße und Schwarze ein Essen teilen: »[…] es ist sind nicht allein Opfer dieses Wahnsinns, der von
der bewußteste Augenblick, der natürlichste, das ihnen Besitz nimmt, sondern in ihrer Krankheit
erste und einzige Essen hat stattgefunden, findet artikuliert sich zugleich eine schöpferische Po-
statt, es ist das erste und einzige gute Essen, wird tenz. In einem späten Essay über die psycho-
vielleicht die einzige Mahlzeit in einem Leben somatischen Schriften Georg Groddecks erläutert
bleiben, die keine Barbarei, keine Gleichgültig- Bachmann diesen Zusammenhang: »Groddecks
keit, keine Gier, keine Gedankenlosigkeit, keine erste und kühnste Vermutung hat sich als richtig
Rechnung, aber auch keine, gestört hat.« (TKA 1, erwiesen, es gibt keine Krankheit, die nicht vom
282) Das geographische Ziel der Reise erscheint Kranken produziert wird, auch keinen Bein-
angesichts dieses Erlebnisses schließlich gleich- bruch, keinen Nierenstein. Es ist eine Produk-
gültig. tion, wie eine künstlerische, und die Krankheit
Anders als in dem Roman Das Buch Franza bedeutet etwas.« (W 4, 351) Zeigen sich in der
erzählt Bachmann im Wüstenbuch aus der Ich- Büchnerpreisrede die Symptome einer Krankheit
Perspektive. Der Konzeptionswandel vom Reise- noch an einer Stadt, so wird im Wüstenbuch,
buch zum Roman bringt einen Wechsel der Er- später in den Romanfragmenten und schließlich
zählhaltung und die Hinzunahme der Bruder- in Malina der (weibliche) Körper zum Ort dieser
figur mit sich, die die (männliche) Erzählerfigur Symptome. Unter dem Vorzeichen dieser existen-
der (weiblichen) Todesarten präfiguriert. In den tiellen Beschädigung findet sich in den Wüsten-
Wüstenbuch-Entwürfen dagegen steht noch nicht buch-Entwürfen erstmals eine explizite Absage
diese poetologische Fragestellung, sondern die Bachmanns an die Poetologie ihres Frühwerks. In
Krankheitsthematik im Zentrum, und zwar als einem Interview zu Undine geht hatte Bachmann
Zentralmetapher eines kritischen Rückblicks auf im November 1964 formuliert: »Die Undine ist
die Struktur europäischer Zivilisation im Raum keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um
einer fremden Natur und Kultur, in deren Wahr- es mit Büchner zu sagen, ›die Kunst, ach die
nehmung sich prägnante Beobachtungen und Kunst.‹ Und der Autor, in dem Fall ich, ist auf der
abendländische Blickprägungen überlagern anderen Seite zu suchen, also unter denen, die
(siehe zur Motivtradition der Wüste Weber 1986, Hans genannt werden.« (GuI, 46) Das Wüsten-
zum kritischen Exotismus Diallo 1998). Nicht erst buch greift diese Formulierung mit ihrem Bezug
seit der Büchnerpreisrede, sondern schon seit auf Büchner – und damit auch auf Ein Ort für
dem Text Was ich in Rom sah und hörte mit seiner Zufälle – auf. Das weibliche Ich in der Wüste hat
Beschwörung der römischen ›Normalität‹ sind mit dem kunstsuchenden Hans nichts mehr ge-
Krankheits- und Wahnsinnsthematik im Werk mein, weder das Geschlecht noch das Ziel seiner
Künstlerische und journalistische Prosa 181

Sehnsucht: »Im Tal der Könige, in dieser Toten- schon schneller, die Maschine bebt, als wollte sie
stadt, was suchst du. Doch nicht die ›Kunst‹, ach bersten, die mit silbernen Nägeln vernähten Teile
die Kunst. Was suchst du in dieser ungeheuerli- absprengen, die Eingeweide unter Flammen aus-
chen Stadt, bei diesen Zeichen, angesichts dieser spucken – als wollte sie sich selbst vernichten und
Wüste, die deine Ziele in Frage stellt, deine an Ort und Stelle in die Erde oder zur Hölle
Reiseziele, deine Ziele aus Jahren. Was, so sprich fahren.« (W 4, 37) Der Text Die blinden Passa-
doch, suchst du hier!« (TKA 1, 251) giere beschwört das Wunderbare wie das Vermes-
sene des Fliegens nicht nur als eine individuelle
Erfahrung, sondern auch in seiner mythisch ver-
Andere Kurzprosa
bürgten Qualität. Die Geschichte des Ikarus, über
Im Werk Bachmanns kommt der Frage nach dem die sich ein Vater mit seinem Sohn im Flugzeug
ekstatischen Leben, dem schönen wie dem unterhält und die gewöhnlich als eine Geschichte
schrecklichen, und dem Schreiben darüber – der menschlicher Vermessenheit erzählt wird, wird
Frage nach der »Kunst, ach der Kunst« – eine in dem Gespräch zwischen Vater und Sohn in
zentrale Bedeutung zu. Auch die kurzen Entwürfe eine Geschichte über menschliche Berauschtheit
Tagebuch, Leipzig, Die blinden Passagiere sowie und Ekstase (um)gedeutet. Denn nicht der tech-
[Jede Jugend ist die dümmste], [Auf das Opfer nischen Unzulänglichkeit der Mittel wird die
darf sich keiner berufen] aus dem Nachlaß krei- Schuld am Sturz des Fliegenden ins Meer zuge-
sen aus verschiedenen Perspektiven um diese schrieben, sondern seinem naiven Irrglauben,
Frage. dem überschwenglichen Glücksgefühl des Flie-
Der nach der Teilnahme an einem Lyrik-Sym- gens vernunftbestimmt standhalten zu können.
posion der Universität Leipzig im Frühjahr 1960 »Der Vater: ›Die Flügel schmolzen in der Sonne.‹
entstandene Text Leipzig beschreibt als einziger Pause. Der Vater: ›Er wollte eben fliegen.‹ Das
die Abwesenheit jeder Form von Ekstase. Die Kind: ›Wie konnte er nur! Ein Herz ist kein
»aus dem Erotischen evakuierte[n] Menschen« Motor.‹« (W 4, 39) Im Unterschied zu den der
(W 4, 338) leben, häßlich geworden von den Routine ergebenen und auf die Routine vertrau-
erlittenen Enttäuschungen, in einer Stadt ohne enden Erwachsenen weiß das Kind um die Anfäl-
Schönheit. Selbst Rauschmittel tragen in Leipzig ligkeit des Menschen für Rausch und Ekstase:
keine ›berauschenden‹ Namen mehr: »Sowjeti- Das Herz des Menschen ist keine Maschine.
scher Sekt, sowjetischer Kognak, die Worte fehl- Bachmanns kurzer Text erweist sich als die
ten nie, und ich war einmal drauf und dran zu Fortführung eines Musilschen Gedankens. Das
sagen, ›russischer‹, unterdrückte das Wort aber Gespräch, das sie zwischen Vater und Sohn ent-
als unpassend und sagte, ›Ja, so einen‹, weil mir stehen läßt, findet seine Entsprechung im Mann
das Wort ›sowjetisch‹ nicht über [die] Lippen ohne Eigenschaften. Im Anschluß an einen Dia-
wollte im Zusammenhang mit Kognak.« (W 4, log über die Differenz zwischen tagheller Mystik
339) und diffuser ›Intuition‹ wählt Ulrich das Beispiel
Der Text Die blinden Passagiere dagegen insze- des Ikaros, um seine Position zu erläutern. »Nach
niert die Spannung zwischen glanzloser Alltags- seiner Überlegung«, so heißt es bei Musil, »war
routine und Ekstase. Mit dem Titel des 1955 nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildun-
geschriebenen Essays bezieht sich Bachmann gen nachgab, die einer überlegenen Nachprüfung
programmatisch auf die Bedeutung, die dem Se- nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachs-
hen in ihrem Frühwerk zukommt. Es handelt sich flügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen,
nämlich bei diesen Passagieren um Reisende, die rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum
keinen Blick mehr für das Außergewöhnliche fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln
haben, um Fluggäste, die so routiniert sind, daß erlernen.« (Musil, S. 765 f.) In den beiden litera-
ihnen das Wunderbare und Vermessene des Flie- turkritischen Essays über Musils Mann ohne Ei-
gens gar nicht mehr zu Bewußtsein kommt. Der genschaften, die Bachmann verfaßt hat, wird
Text hingegen berichtet von einem Ich, das zum diese Passage zitiert (W 4, 26, 100). In ihrem
ersten Mal fliegt und durch die erregte Wahr- Kurzprosatext Die blinden Passagiere kehrt Bach-
nehmung dieses Ich hindurch ›belebt‹ der Text mann die Passage in einer auf ›essayistische Ge-
zugleich das Flugzeug. »Die Motoren gehen nauigkeit‹ bedachten dialektischen Bewegung
182 II. Das Werk

um, wenn sie die Fluggäste wieder an ihren Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas
einstigen Traum vom Fliegen erinnert. ablegen, das ist eine der furchtbarsten und ge-
In dem kurzen undatierten Text [Jede Jugend dankenlosesten, schwächsten Poetisierungen.«
ist die dümmste] aus dem Nachlaß wird deutlich, (W 4, 335) Mit einer vergleichbaren Formulie-
welche Bedeutsamkeit der Ekstase zukommt. rung von dem »Opfer zu nichts« (W 2, 178) weist
Bachmann entwirft hier – wie bereits, wenn auch Bachmann auch in den Erzählungen Unter Mör-
sehr viel nüchterner, in den Römischen Repor- dern und Irren und Jugend in einer österreichi-
tagen – die kultische Feier der Ekstase als die schen Stadt den Opfergedanken zurück (Bartsch
Voraussetzung eines Lebens jenseits des Wahn- 1982; Gehle 1995, S. 154ff.). Die Poetisierung des
sinns. Es ist ein Leben, das sich nicht nach der Leidens kommt seiner Funktionalisierung gleich:
Zeitrechnung von Uhren und Kalendern bemes- der sinnlose Tod bekommt einen Sinn zu-ge-
sen läßt, sondern das sich durch einen unkon- schrieben. Mit ihrer ›Poetologie der Pathetik‹,
trollierbaren Überschwang und Überfluß im die an der sprachlichen Gestaltung einzigartiger
›Heute‹ auszeichnet. Die literarische Form, das Leiden(schaften) interessiert ist, versucht Bach-
Pathos, die diesem Leben in Leiden(schaft) ent- mann dieser Gefahr zu entgehen.
spräche, ist jedoch verschwunden. »Die Freude Als Beitrag für eine seit dem Sommer 1961
ist verschwunden, das Pathos auf einer Papier- geplante deutsch-französisch-italienische Zeit-
landschaft, auf Spruchbändern verendet. Pathe- schrift, die unter dem Namen »Gulliver« heraus-
tisch sind nur wir. Der Cortex ist Pathos. […] Der gebracht werden sollte, konzipiert Bachmann
Cortex ist luxuriös, das Geäst, die Nervenbahnen, den Text Tagebuch; die Werkausgabe datiert den
die dramatischen Abläufe, die Depressionen, die Text auf April 1963. Die wechselvolle Geschichte
Hochzeiten müssen verwirklicht werden kön- dieses Projekts bis hin zum Scheitern der Ver-
nen.« (W 4, 333 f.) Für ihren Versuch, dem Pathos handlungen mit den ausländischen Kollegen do-
in der Literatur (wieder) zu seinem Recht zu kumentiert der Briefwechsel zwischen dem Spre-
verhelfen, hat Bachmann mit dem nicht selten cher der deutschen Gruppe Uwe Johnson und
geäußerten Vorwurf der Larmoyanz ebensoviel seinem Verleger Siegfried Unseld (Johnson/Un-
unberechtigte Ablehnung erfahren wie die An- seld 1999, S. 1094–1136; dazu Weigel 1999,
erkennung eines vermeintlich unmittelbaren S. 383ff.). Wie Johnsons Schreiben von 15. Au-
›Einfühlungsvermögens‹ an ihrem Schreiben gust 1961 zeigt, ist Bachmann von Anfang an
vorbeigeht. Die pathetischen Formulierungen neben Hans Magnus Enzensberger, Martin Wal-
und Passagen im Werk Bachmanns sind nicht ser und Johnson Mitglied der deutschen Delega-
sprachlicher Fahrlässigkeit oder gefühlvollem tion, bis zum Schluß bleibt sie an dem Projekt
Überschwang geschuldet, sondern zeugen von beteiligt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen
dem Versuch, Leiden(schaft) sprachlich zu fassen in Paris am 29. April 1963 einigen sich die Au-
und literarisch zu gestalten. In ihrer Hommage à toren darauf, die ursprünglich als Probenummer
Maria Callas formuliert Bachmann in diesem gedachte Zusammenstellung der Artikel beizube-
Sinne von der großen Operndiva: »[…] sie ist halten und 1964 als ein Heft der Zeitschrift »Il
groß in jedem Ausdruck, und wenn sie ihn ver- menabo di lettura« (No. 7) in italienischer Spra-
fehlt, was zweifellos nachprüfbar ist in manchen che zu veröffentlichen. Elio Vittorini, Mitglied
Fällen, ist sie immer noch gescheitert, aber nie der italienischen Delegation, hebt die Sprach-
klein gewesen.« (W 4, 342) skepsis der deutschen Gruppe als ihr besonderes
Entscheidend für eine klarere Konturierung ›Gruppenmerkmal‹ hervor. Die Mitglieder der
dieser ›Poetologie der Pathetik‹ ist, daß sich Gruppe, so Vittorini, »scheinen anzunehmen,
Bachmanns Bemühen um Pathos auf die Sprache, daß die Politik, die im Nazismus ihren Höhe-
nicht aber auf Inhalte richtet. Deutlich wird diese punkt fand, all dem, was in Deutschland von
Differenz in der Ablehnung einer Poetisierung Goethe an gesagt worden ist, jede Gültigkeit
des Leidens. Es darf, so formuliert sie in ihrem einer positiven Tradition genommen hat; so daß
undatierten Entwurf [Auf das Opfer darf sich auch die Worte, die wir oder die Franzosen oder
keiner berufen], »keine Opfer geben (Menschen- ich weiß nicht wer sonst noch für grundlegend
opfer), Menschen als Opfer, weil der geopferte seit Hegel halten, ihnen trügerisch und gefährlich
Mensch nichts ergibt. Es ist nicht wahr, daß die erscheinen; und sie fühlen sich nur ganz ruhig bei
Künstlerische und journalistische Prosa 183

den Aufklärern und Barockdichtern.« (Johnson/ Literatur: Agnese (1996); Bannasch (1995); Bartsch
Unseld, S. 1136) Bachmanns emphatische Be- (1982); Bartsch (1985); Bartsch (1988); Diallo (1998);
Gehle (1995); Göttsche (1991); Hoell (2000); Höller
schwörung der Möglichkeiten sprachlicher Ver-
(1987); Höller (1999); Huml (1999); Lennox (1984);
ständigung, die sie in Tagebuch vornimmt, läßt Świderska (1989); Weber (1986); Weigel (1999).
sich nicht unter diesen Eindruck subsumieren. Bernhard Böschenstein (1997): Die Büchnerpreisreden
Vielmehr formuliert Bachmann ihren Wunsch von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. In: Böschen-
nach einer gelingenden Verständigung zwischen stein/Weigel (1997), S. 260–269; – Dirk Göttsche
den Nationen als ein Plädoyer für die essayisti- (1990): Liebeserklärungen und Verletzungen – Zur Li-
teraturkritik von Martin Walser und Ingeborg Bach-
sche Form sowohl im Sinne Adornos wie auch
mann. In: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit.
Musils, in der die Sprachutopie in einen kon- DFG-Symposion 1989. (Hg.) Wilfried Barner. Stuttgart
kreten historischen Kontext eingebettet ist. (= Germanistische Symposien, Bd. XII), S. 197–212; –
»Denken, gewiß, auch historisch denken und vor Joachim Hoell (2001): Ingeborg Bachmann. München;
allem utopisch denken, daß die Risse eines Tages – Dagmar Kann-Coomann (1997): Undine verläßt den
wirklich aufspringen, dort wo sie aufspringen Meridian. Ingeborg Bachmann gegenüber Paul Celans
Büchnerpreisrede. In: Böschenstein/Weigel (1997),
müssen und die Grenzverläufe sich zeigen müs-
S. 250–259; – Sabina Kienlechner (2000): Dichter in
sen, als ideologische, wenn man so will, als Risse der deutschen Wüste. Was Ingeborg Bachmann in Ber-
im Gebrauch von Sprache, die nicht nur den lin sah und hörte. In: Sinn und Form, S. 195–212; –
Schreibenden betreffen, aber den Schreibenden Jörg-Dieter Kogel (1998): Nachwort. Die Geschichte
zuerst betreffen, weil er nicht mit einem nationa- einer Wiederentdeckung. In: Bachmann (1998b),
len Fertigprodukt ›Sprache‹ oder einem inter- S. 79–86; – Claudio Magris (1988): Der habsburgische
Mythos in der österreichischen Literatur. 2. Aufl. Salz-
nationalen Wunschprodukt ›Sprache‹ umgehen
burg; – Adolf Opel (1996): Ingeborg Bachmann in
kann und es gebrauchen kann, sondern, von ihr Ägypten. »Landschaft, für die Augen gemacht sind.«
geprüft und sie prüfend, ein Abenteuer mit der Fotografie von Kurt-Michael Westermann. Wien; –
Sprache hat, dessen Ausgang ungewiß ist.« (W 4, Tanja Schmidt (1989): Beraubung des Eigenen. Zur
70) Darstellung geschichtlicher Erfahrung im Erzählzyklus
Simultan von Ingeborg Bachmann [1986]. Koschel/von
Quellen: Theodor W. Adorno (1958): Noten zur Lite- Weidenbaum (1989), S. 479–502; – Jost Schneider
ratur I. Frankfurt/M.; – Ingeborg Bachmann (1965): (2000): Historischer Kontext und politische Implika-
Ein Ort für Zufälle. Mit Zeichnungen von Günter tionen der Büchnerpreisrede Ingeborg Bachmanns. In:
Grass. Berlin; – Sigmund Freud (1982): Studienaus- Albrecht/Göttsche (2000), S. 127–139; – Sigrid Weigel
gabe, Bd. IX. (Hg.) Alexander Mitscherlich et al. Frank- (1994): Am Anfang eines langen Wegs. Urszene einer
furt/M.; – Uwe Johnson und Siegfried Unseld (1999): Poetologie. In: du (1994), S. 20–23, 90.
Briefwechsel. (Hg.) Eberhard Fahlke und Raimund Fel- Bettina Bannasch
linger. Frankfurt/M.; – Robert Musil (1978): Der Mann
ohne Eigenschaften. (Hg.) Adolf Frisé. Reinbek bei
Hamburg.
184

7. Kritische Schriften

und 1992) abarbeiten wird: Heideggers Existen-


7.1. Philosophische Essays
tialismus und Ludwig Wittgensteins Sprachphi-
und Dissertation losophie. Es zeichnet sich ein Komplementärver-
hältnis von Heidegger und Wittgenstein ab, das
Ingeborg Bachmanns Dissertation
schematisch mit der Unterscheidung von Inhalt
Nach nicht ganz einjähriger Arbeit reicht Inge- und Form umrissen werden kann. Der Gegen-
borg Bachmann ihre Dissertation Die kritische standsbereich der Heideggerschen Philosophie
Aufnahme der Existentialphilosophie Martin wird als legitim anerkannt: »die unaussprech-
Heideggers am 19. Dezember 1949 an der Philo- baren, unfixierbaren Unmittelbarkeiten des emo-
sophischen Fakultät der Universität Wien ein tional-aktualen Bereichs des Menschen« (Diss.,
(vgl. Pichl, S. 173). Es handelt sich um einen 114 f.), worunter Heideggers Grunderlebnisse
Forschungsbericht, der die bis dato vorliegenden von Tod, Angst und Sorge fallen. Die Methode
Heidegger-Kritiken, vor allem zu »Sein und hingegen, »Metaphysik«, »die die Form einer
Zeit«, »Kant und das Problem der Metaphysik« Theorie«, d. h. den Anschein eines Begründungs-
sowie der Antrittsvorlesung »Was ist Metaphy- zusammenhangs annimmt und mit dem System-
sik?«, referiert. Das Spektrum reicht vom logi- anspruch einer prima philosophia auftritt, wird
schen Positivismus (Carnap), dem Historischen als »gefährliche Halbrationalisierung einer
Materialismus (Hartwig, Anders) über den Neu- Sphäre« gebrandmarkt, »die mit einem Wort
kantianismus (Cassirer, Rickert) und die Dilthey- Wittgensteins berührt werden kann. ›Wovon man
schule (Misch) bis zur Dialektischen Theologie nicht sprechen kann, darüber muss man schwei-
und dem Neuthomismus. Die Positionen werden gen.‹« (Diss., 115; vgl. W 4, 114, 373) Wittgen-
weitgehend ohne eigenständige Thesen vorge- steins Schweigen wird als philosophisch adäqua-
stellt, aber aus einer deutlich zu erkennenden ter Ausdruck jenes Erfahrungsraumes benannt,
Heidegger-kritischen Perspektive. In einem In- dem »die Kunst mit ihren vielfältigen Möglich-
terview äußert Bachmann 1973 rückblickend, sie keiten in ungleich höherem Mass« entgegen-
habe »gegen Heidegger dissertiert«, und begrün- kommt. Goyas Bild Kronos verschlingt seine
det ihre Absage, auf Heideggers Wunsch ein Ge- Kinder und das abschließend zitierte Sonett Bau-
dicht zu seiner Festschrift zum 70. Geburtstag delaires Le gouffre werden als »Darstellungs-
beizusteuern, mit der von seinem Werk ausge- möglichkeit des ›Unsagbaren‹« gefaßt, »in dem
henden »Verführung […] zum deutschen Irratio- sich die Auseinandersetzung des modernen Men-
naldenken« (GuI, 137). Der »Anti-Heidegger-Af- schen mit der ›Angst‹ und dem ›Nichts‹ verrät«
fekt« wird jetzt »politisch-historisch« akzentuiert (Diss., 116). Damit akzentuiert der Schluß der
und im Erfahrungsraum des »Post-Holocaust« ve- Studie noch einmal prägnant, was als gemein-
rortet (Gehle, S. 249, 251; vgl. Weber 1986, samer Tenor nahezu aller Kritiken herausgestellt
S. 39 f.). wurde, nämlich die philosophische Rechtferti-
Über das philosophiegeschichtliche Interesse gung des künstlerischen Ausdrucks angesichts
an einer umfassenden Darstellung der frühen der Heideggerschen Existenzanalyse (vgl. Diss.,
Heidegger-Kritiken hinaus ist die Dissertation für 9 f., 40, 48, 58, 103). Heideggers mit den Höl-
die Forschung vor allem dadurch beachtenswert, derlin-Interpretationen vollzogene ›Kehre‹ zur
daß Ingeborg Bachmann hier ein philosophisches Dichtung als Seinsentwurf, auf die die Disserta-
Spannungsfeld eröffnet, an dem sich ihr gesam- tion nur marginal in Fußnoten und im Literatur-
tes literarisches Werk von der Lyrik (Behre; We- verzeichnis verweist, erscheint somit als notwen-
ber 1986, S. 45–55) über die Hörspiele (Wallner dige Konsequenz aus der Interessenlage von
1985, S. 186 f.; Wallner 1990, S. 151–154) und die »Sein und Zeit« (vgl. Weber 1986, S. 45ff.). Die-
Erzählungen des Dreißigsten Jahres (Bartsch, ser ästhetische Standpunkt führt dazu, daß Bach-
S. 530; Hunt; Seidel; Weber 1986, S. 28–39) bis mann, entgegen der Forschungsmeinung (vgl.
zum Todesarten-Projekt (Kohn-Waechter 1991 Wallner 1985, S. 177 f., 185; Mazzarella, S. 154;
Philosophische Essays und Dissertation 185

Świderska 1989, S. 14 f.), Heidegger durchaus ge- Spuren nachzugehen, ist ein Desiderat der For-
recht wird. schung (vgl. Wallner 1985, S. 188 f.).
Die Kehrseite der die Dissertation abschlie-
ßenden »Kunstemphase« ist jedoch, daß Kunst als
Die philosophischen Essays als Rede
»bessere Metaphysik« einem »antiintellektuellen
von ›letzten Dingen‹
Kunstverständnis« folgt, indem diese in einen
Ausdrucksbereich verwiesen wird, »in den das Viele der in der Dissertation vorgestellten Philo-
Denken nicht hinreicht« (Weigel 1999, S. 90; vgl. sopheme werden von der Bachmannschen Ge-
Lennox, S. 609 f.; Wallner 1990, S. 148). Dies gilt dankenbühne nicht mehr abtreten, sondern in
allerdings nur, wenn Bachmanns Dissertation, einem Vorgang der ›Existentialisierung‹ als Ge-
wie bislang geschehen, auf das neopositivistische stalten zum literarischen Leben erweckt und in
Philosophieverständnis verkürzt wird. Weitaus die Geschichte gestellt. Erste Schritte in diese
eindringlicher und raumgreifender wird in der Richtung vollziehen die Essays zu Ludwig Witt-
Doktorarbeit hingegen eine kulturphilosophisch- genstein und Simone Weil (Weber 1986, S. 26–
hermeneutische Richtung vorgestellt, die als Ver- 28), indem in der Einheit von Theorie und Praxis,
mittlungsfigur zwischen Heidegger und dem lo- von Werk und Leben gleichsam imaginäre Bio-
gischen Positivismus fungiert und die zugleich graphien gezeichnet werden. Der Äußerung ei-
die Kritik beider Positionen ermöglicht. Mit Paul nes Studienkollegen zufolge hat Bachmann zu-
Hofmanns »verstehender Sinn-Wissenschaft« nächst eine Dissertation über den »Typus des
(Diss., 47), die dem Sinn in symbolischen Aus- Heiligen« in Angriff genommen, die wohl auf-
drucksformen nachspürt, Wilhelm Grebes Hand- grund der Berufung des intendierten Betreuers
lungstheorie und Georg Misch als Vertreter der Alois Dempf nach München nicht realisiert
Diltheyschule gewinnt ein Philosophietypus Ge- wurde (vgl. Pichl, S. 171 f.). Die Signatur dieses
stalt, der einerseits Existenzanalyse nicht in Hei- Vorhabens kennzeichnet jedoch die philosophi-
deggersche Wesensschau überführt, andererseits schen Essays, indem Wittgenstein und Weil nach
einen Ausdruck findet, der dem »mechanisti- einem »neuen Typus der Heiligkeit« (W 4, 152),
schen Dogmatismus« (Diss., 98) des Wiener wie es explizit im Weil-Essay heißt, porträtiert
Kreises entgeht. Ingeborg Bachmanns Äußerung, sind (vgl. Agnese 1996, S. 236 f.; Świderska 1989,
hier werde »Schweigen 〈über das〉 Sprechen von S. 11 f.). Auffällig sind die skizzierten Gemein-
Existenz« (Diss., 42) gelegt, macht darauf auf- samkeiten: Beide erscheinen als intellektuelle
merksam, daß eine adäquate Sprachform – ein Außenseiter, die exemplarisch die Extreme ihrer
»positives« (W 4, 120), artikuliertes Schweigen – Zeit in sich vereinen: Wittgenstein die Polarität
für das gefunden ist, wovon Heidegger nur in von Wissenschaft und Mystik (W 4, 116 f.), Weil
›gefährlicher Halbrationalisierung‹, der logische diejenige von Vernunft und Bekenntnis (W 4,
Positivismus als »ausschliessliche Analyse der na- 129). Darin rücken Wittgenstein und Weil in die
turwissenschaftlichen Sprache« (Diss., 2) gar Nähe zu Robert Musil (Weber 1986, S. 74 f., 77,
nicht reden kann. Gegenstand der Reflexion ist 79; Bartsch). Beider Werk führt mit dem deus
die »Totalität des Seelenganzen« eines »sein kon- absconditus Traditionen der negativen Theologie
kretes Leben er-lebend spürendes Ich«, das einer weiter (siehe W 4, 22 f., 117ff., 147 f., 152, 154;
zergliedernden »›psychologischen‹ Beschrei- Weber 1986, S. 25 f., 74–79). Beiderseits wird die
bung« verschiedener »Erleb〈ens〉weisen« oder Literarizität des Philosophierens hervorgehoben
Ich-»Funktionen« (Diss., 43, 47, 45) zugänglich (siehe W 4, 15, 103, 107, 122 f., 129 f.). Der
ist. Es handelt sich um eine vorläufige, am Hi- spätere Rundfunkbeitrag zu Simone Weil läßt
storismus Diltheys geschulte Philosophie, gemäß erkennen, daß die philosophischen Essays eine
dem Diktum: »was der Mensch sei, das erfahre er Einheit in komplementärer Entgegensetzung bil-
nur durch die Geschichte« (Diss., 70). In Grund- den: »Da alles, was die ›letzten Dinge‹ betrifft,
zügen entsteht hier im Referat eine ästhetische von der Art ist, daß es entweder dem Schweigen
Philosophie, die zwar in den philosophischen oder dem Bekenntnis überlassen ist« (W 4, 129).
Essays Ingeborg Bachmanns keine explizite Fort- Während Ludwig Wittgensteins Philosophie
setzung findet, wohl aber in nuce die literarische schweigend auf die letzten Dinge hinweist,
Philosophie des Prosawerks entwirft. Diesen spricht Simone Weils Werk ungeschützt im Mo-
dus des Bekenntnisses von ihnen.
186 II. Das Werk

Das Schweigen: Die Wittgenstein-Essays zugleich »gegen die wissenschafts- und fort-
schrittsgläubigen Tendenzen« (W 4, 126) des
Durch ihre Essays zu Ludwig Wittgenstein An- Neopositivismus bestimmt wird. Somit nimmt
fang der 1950er Jahre und die von ihr initiierte Wittgenstein nun einen dritten Ort jenseits der in
Suhrkamp-Ausgabe des »Tractatus« und der »Phi- der Dissertation entfalteten Opposition von Hei-
losophischen Untersuchungen« 1960 hat Inge- degger und Neopositivismus ein (vgl. Weigel
borg Bachmann entscheidend an der Wieder- 1999, S. 98). Im Sinn einer Grenzüberschreitung
belebung der Wittgenstein-Rezeption im deut- wird Wittgensteins Satz aus dem »Tractatus« –
schen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Gren-
mitgewirkt (vgl. GuI, 58; Weigel 1999, S. 86, 88). zen meiner Welt« (5.6) – für Bachmann zum
Dokumente der »geistigen Begegnung« (GuI, 12) Movens einer kritischen Arbeit an der Alltags-
mit der Sprachphilosophie Wittgensteins sind die sprache, die den »Philosophischen Untersuchun-
in die Werkausgabe aufgenommenen Essays Lud- gen« gemäß als in Sprachspielen sedimentierte
wig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten »Lebensform« (W 4, 124; vgl. Lennox, S. 614–
Philosophiegeschichte (1953) und Sagbares und 616) verstanden wird. Daß diese Lektüre »einen
Unsagbares – Die Philosophie Ludwig Wittgen- Schritt« (W 4, 117) über Wittgenstein hinausgeht,
steins (entstanden 1953 und im Hörfunk gesendet markiert vor allem der Rundfunk-Essay. Die Be-
am 16. September 1954; W 4, 377). Im Nachlaß wegung des Denkens wird verkehrt: Wittgen-
befinden sich zwei weitere Texte, in denen Inge- stein zufolge begrenzt die klare Darstellung des
borg Bachmann Wittgenstein noch gänzlich im Sagbaren das Unsagbare von innen, bei Bach-
Kontext des Wiener Kreises wahrnimmt: Philo- mann wird das Unsagbare zur Möglichkeitsbe-
sophie der Gegenwart und der Radio-Essay Der dingung des Sagbaren (vgl. W 4, 116; Weigel
Wiener Kreis, Logischer Positivismus – Philoso- 1999, S. 96). Dieser ›eine Schritt‹ über Wittgen-
phie als Wissenschaft (vgl. Lennox, S. 604–611; stein hinaus bedeutet zugleich Bachmanns Aus-
Weigel 1999, S. 87, 93 f.). Als verschollen gilt der tritt aus der Philosophie, wie dies ihre Resi-
in Briefunterlagen dokumentierte Rundfunkbei- gnifikation des Wittgensteinschen Schweigens
trag Logik als Mystik (W 4, 406 f.). Charakte- veranschaulicht, das als artikuliertes »positives
ristisch für die publizierten Wittgenstein-Texte Schweigen« (W 4, 120) in ihrem literarischen
ist, daß Bachmann im Porträt eines modernen Werk zur Sprachform des »sich Zeigenden« wird
Mystikers den Akzent auf sein ›ungeschriebenes‹ (W 4, 126). Ein Diskurswechsel, der jedoch
Werk, den Lebensvollzug als »Versuch eines hei- durchaus in der Konsequenz Wittgensteins liegt.
ligmäßigen Lebens« legt (W 4, 12, 121). Gegen- Denn er war zum einen der Überzeugung: »Philo-
stand ist mithin die »›Mystik des Herzens‹, die sophie dürfte man eigentlich nur dichten« (Witt-
mystische Wirklichkeitserfahrung der ganzen genstein 1977, S. 53), zum anderen, daß von den
Person, die vor oder hinter dem Denken steht« aus der Philosophie ausgeschlossenen Lebens-
(W 4, 117). In ihrer ethisch-ästhetischen Lektüre problemen, der Ethik nur »in der ersten Person«
des »Tractatus« erweist sich Bachmann insofern (Waismann, S. 116) gesprochen werden könne.
als kongeniale Leserin Wittgensteins, als dieser Damit ist der Weg vom Schweigen zum Bekennt-
selbst im Brief an Ludwig von Ficker 1919 das nis in Bachmanns Denken vorgezeichnet.
»Ethische« als eigentlichen Sinn und ungeschrie-
benen »zweiten Teil« seines Buches bezeichnet,
Das Bekenntnis: Der Simone Weil-Essay
der »von Innen her begrenzt« (Wittgenstein 1969,
S. 35) werde. Die den »Tractatus« prägende dop- Ist Ludwig Wittgenstein bei Bachmann das
pelte Mitteilungsstruktur des ›Sagens‹ und ›Zei- Schweigen über die letzten Dinge zugeordnet, so
gens‹ wird fruchtbar gemacht: Neben der Phi- wird in dem 1955 gesendeten Radio-Essay Das
losophie als Wissenschaft, d. h. als Kontrolle Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone
der naturwissenschaftlichen Erfahrungssätze, Weils das Werk der französischen Philosophin
tritt die ethisch-historische Dimension der unter dem Vorzeichen des Bekenntnisses gelesen
Sprachkritik Wittgensteins zutage, die näherhin (W 4, 129). Ihrem Werk ist etwas eigen, was
als Protest »gegen das metaphysisch verseuchte Wittgenstein fehlt: das »soziale und politische
westliche Denken, vor allem das deutsche«, und Denken« (W 4, 132). Wittgensteins ›vita contem-
Philosophische Essays und Dissertation 187

plativa‹ wird mit Weils ›vita activa‹ ein Ideal zulegen«, wird deren religiöses Bekenntnis in ein
weltlicher Askese entgegengesetzt (W 4, 133). säkularisiertes ethisches Bekenntnis überführt:
Obwohl in der Forschung bislang vornehmlich »Das Eintreten für die Einschränkung des Bö-
die Wittgenstein-Essays im Hinblick auf Bach- sen«, des Großen Tiers, »wird dann zu einer
manns Poetik Beachtung gefunden haben, ist es echten Pflicht der Gesellschaft gegenüber« (W 4,
dieser philosophische Essay, der Grundzüge der 153 f.). Dieser Verpflichtung ist Ingeborg Bach-
Todesarten präfiguriert (Agnese 1996, S. 223 f., mann im Todesarten-Projekt nachgekommen, das
236 f.; Belluzzo, S. 69ff., 79 f.), sowohl deren Ge- das philosophische Werk insofern abschließt, als
genstandsbereich als auch deren literarische ihm ein Philosophieverständnis zugrunde liegt,
Form: ein soziales und politisches Denken im das – in Kontinuität zum Weil-Essay und in ra-
Modus der Bekenntnisrede in Form einer »imagi- dikaler Abgrenzung gegenüber der früheren po-
nären Autobiographie« (GuI, 73). Weils Wendung sitivistisch-wittgensteinschen Fassung der Phi-
gegen jegliche Totalitarismen, das »Große Tier« losophie als Wissenschaft – diese als dem
der Ideologien als Personifikation all dessen, »Schweigen oder dem Bekenntnis« überlassene
»was Macht ausübt und Macht ausgeübt hat« (W Verhandlung über die »letzten Dinge« (W 4, 129)
4, 149), kehrt in der Figur des Vater/Mörders der versteht. Die mit »Von letzten Dingen« über-
Todesarten wieder. Ihre Analyse des »Unglücks« schriebene Auseinandersetzung zwischen Malina
des Arbeiters, dieser paradoxen »nackten Exi- und Ich, in deren Lebens- und Sprachform Lud-
stenz« ohne Zukunft und Ziel, jedoch ›ausge- wig Wittgenstein (vgl. Bartsch, S. 530 f.; Kohn-
zeichnet‹ durch das Bedürfnis nach Schönheit Waechter 1992, S. 23 f., 112–114; Weber 1986,
und Poesie als »tägliche Substanz seines Lebens« S. 32) und Simone Weil (vgl. Belluzzo, S. 69 f.,
(W 4, 142, 144, vgl. 197), bestimmt erweitert zum 79 f.) ihre Fortsetzung finden, macht dies deut-
Unglück des Menschen und spezifischer noch der lich.
Frau die Täter-Opfer-Dialektik der Todesarten.
Quellen: Ludwig Wittgenstein (1969): Briefe an Lud-
Vor allem die Charakterisierung des weiblichen
wig von Ficker. (Hg.) Georg Henrik von Wright, Walter
Ich in Malina nimmt Momente von Weils Analyse Methlagl. Salzburg; – Ludwig Wittgenstein (1977): Ver-
der Arbeiterexistenz auf (TKA 3.2, 960). Mit Si- mischte Bemerkungen. Frankfurt/M.; – Ludwig Witt-
mone Weils ›Fabriktagebuch‹ gewinnt ein Theo- genstein (1980): Tractatus logico-philosophicus. Lo-
rietypus Gestalt, der konsequent induktiv, »von gisch-philosophische Abhandlung [1921]. Frankfurt/
vielen Besonderheiten auf das Allgemeine« M.
schließend, vom Einzelnen, dem »bestimmte[n] Literatur: Agnese (1996); Kohn-Waechter (1992); Świ-
Arbeiter« und nicht dem »abstrakten« (W 4, 135, derska (1989); Weber (1986); Weigel (1999).
139) ausgehend, erfahrungsbezogen und ge- Kurt Bartsch (1980): Ingeborg Bachmanns Wittgen-
schichtsgesättigt ist. Ein zentrales Moment der stein- und Musil-Rezeption. In: Jahrbuch für inter-
Denk- und Sprachkritik des Todesarten-Projekts, nationale Germanistik 8/4, S. 527–532; – Maria Behre
(1990): Die zumutbare Unbestimmtheit. Naturphiloso-
die durch abstrakte Denksysteme vollzogene
phie des Liquiden und Dunklen im Frühwerk Ingeborg
»geistige Enteignung« (TKA 3.1, 438), die Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft
Sprachverlust bedingt, tritt in Weils Kritik der 17, S. 163–184; – Serge Belluzzo (1996): Via negativa.
»Psychotechnik« in Erscheinung, durch deren sta- Passion et compassion. Ingeborg Bachmann lit Simone
tistische Berechnungen »die Versklavung« des Ar- Weil. In: Austriaca 43, S. 63–83; – Holger Gehle (1993):
beiters »perfekt werde« (W 4, 139). Eine Folge Ingeborg Bachmann und Martin Heidegger. Ein Skizze.
In: Göttsche/Ohl (1993), S. 241–252; – Irmgard Hunt
solcher Abstraktion ist auch, daß der Arbeiter
(1990): Bemerkungen über Lichtung – Erleuchtung –
nicht in seiner Sprache über sein Unglück spre- Epiphanie. In: Sprache im technischen Zeitalter 113,
chen kann, sondern nur »in den Phrasen von S. 49–57; – Gudrun Kohn-Waechter (1991): Das »Pro-
Menschen, die keine Arbeiter sind« (W 4, 141). blem der Post« in Malina von Ingeborg Bachmann und
Gesellschaftskritik schlägt hier direkt in eine Martin Heideggers ›Der Satz vom Grund‹. In: Die Frau
Sprachform um, die auch den Anderen als An- im Dialog. Studien zur Theorie und Geschichte des
Briefes. (Hg.) Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge.
deren bestehen läßt in der Annahme, daß er
Stuttgart, S. 225–242; – Sara Lennox (1989): Bachmann
»etwas völlig anderes ist als das, was man in ihm und Wittgenstein [1985]. In: Koschel/von Weidenbaum
liest« (W 4, 150). In Bachmanns Versuch, »Si- (1989), S. 600–621; – Eugenio Mazzarella (1995): Spra-
mone Weils Werk im Sinn echter Aktualität aus- che und Existenz: Ingeborg Bachmann und Martin Hei-
188 II. Das Werk

degger. In: Kulturwandel im Spiegel des Sprachwan- S. 68), die am Modell eines Konzertabends unter-
dels. (Hg.) Karl-Egon Lönne. Tübingen, Basel, S. 153– schiedliche Aspekte des modernen Musiklebens
159; – Robert Pichl (1986): Dr. phil. Ingeborg
im Hinblick auf die abschließende Frage »Was
Bachmann. Prolegomena zur kritischen Edition einer
Doktorarbeit. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft aber ist Musik?« (W 4, 57) beleuchten, eine fixie-
16, S. 167–188; – Heide Seidel (1979): Ingeborg Bach- rende theoretische Antwort jedoch poetisch un-
mann und Ludwig Wittgenstein. Person und Werk Lud- terlaufen.
wig Wittgensteins in den Erzählungen Das dreißigste Die ersten drei Miniaturen führen in einer an
Jahr und Ein Wildermuth. In: Zeitschrift für deutsche Kurt Tucholskys Theaterkritiken erinnernden
Philologie 98, S. 267–282; – Friedrich Waismann
Weise in grotesk-komischer Verfremdung die Ri-
(1989): Wittgenstein und der Wiener Kreis. Kritische
Ausgabe, Bd. 3. (Hg.) B. McGuinness, Joachim Schulte. tualisierung des bürgerlichen Konzertbetriebs
Frankfurt/M.; – Friedrich Wallner (1985): Jenseits von vor Augen (Symphoniekonzert, Oper, Ballett).
wissenschaftlicher Philosophie und Metaphysik. Nach- Auf den Abschnitt »Vorbereitungen«, der den An-
wort zur Dissertation von Ingeborg Bachmann. In: fang eines bürgerlichen Konzertabends satirisch
Diss., S. 177–199; – Friedrich Wallner (1990): Philo- mit den gewalttätigen Volksbelustigungen im kai-
sophie der Dichtung – Dichtung der Philosophie. Witt-
serlichen Rom vergleicht und zugleich die mate-
genstein-Rezeption bei Ingeborg Bachmann und ihre
Folgen. In: Wittgenstein ›und‹: Philosophie – Literatur. riale Herkunft der Instrumente aus der Natur ins
(Hg.) Wendelin Schmidt-Dengler. Wien, S. 147–157. Gedächtnis ruft, folgt der sarkastische Aphoris-
Marion Schmaus mus »Garderobe«: »An der Garderobe bringt das
Publikum die Ohren in Ordnung und gibt das
Gehör ab.« (W 4, 46) Dem entsprechend ironi-
7.2. Musikästhetische Essays schen Blick auf die »Zuhörer« schließt sich in
lyrisch-assoziativer Reihung im vierten Stück
Die künstlerische Zusammenarbeit und Freund- eine Reflexion über »Ohren« als das körperliche
schaft mit dem Komponisten Hans Werner Medium der Musikerfahrung an. Erst anschlie-
Henze, der Ingeborg Bachmann zugleich in die ßend wendet sich der Text dem eigentlichen Mu-
Welt des Musiktheaters einführt, bildet den bio- sikereignis zu, so daß die satirische »Dekonstruk-
graphischen Ausgangspunkt einer Reihe von mu- tion des Musikbetriebs« »als Voraussetzung« für
sikästhetischen Essays, in denen die Autorin ne- eine »andere Rede über Musik« erscheint (Caduff
ben ihrer Arbeit an den Libretti insbesondere 1998, S. 95, 97): Ein Abschnitt charakterisiert
in den 1950er Jahren das Verhältnis von Musik unterschiedliche Typen von »Dirigenten« als
und Literatur reflektiert. Der Bezug ihres Musik- »Magier am Werk«, ein weiterer beleuchtet das
verständnisses zu ihrer ästhetischen Sprachrefle- Mißverhältnis von Körper und Stimme der »Sän-
xion begründet die poetologische Bedeutung die- ger«, ein dritter das »Ballett«, dessen Tänzer »mit
ser Essays für ihr Literaturverständnis und für dem Körper Kunst machen« (W 4, 51). Der achte
die Entwicklung einer »musikalischen Poetik« Abschnitt »Partituren« umreißt dann mit dem
(Spiesecke 1993) in ihrem Werk. traditionellen (auf das 18. Jahrhundert zurück-
Am Anfang dieser musikästhetischen Essays gehenden) Topos »die Musik ist eine Sprache«
steht der ungewöhnliche Prosatext Die wunder- (W 4, 52) die ästhetische Funktion der Musik und
liche Musik (1956), der in der Tradition moder- reflektiert in deutlicher Analogie zur Literatur
ner Kurzprosa Gattungsgrenzen durchbricht und die Differenz zwischen der Partitur als »Schrift-
essayistische, narrative und lyrische Elemente zu bild« und der Musik als innerem Hörbild des
einer ironisch und satirisch gefärbten Reflexion Komponisten bzw. als ästhetischem Ereignis (W
ästhetischer, anthropologischer und soziologi- 4, 52). In ihrer »Dialektik« von »Überdauern« und
scher Aspekte des Phänomens Musik verbindet. »Vergehen« (Weigel 1999, S. 170 f.) stellt sich die
Zuerst in dem Jahrbuch für »die deutsche Lite- Musik als ›Zeitkunst‹ dar (W 4, 59).
ratur und Kunst der Gegenwart« »Jahresring Die sich anschließenden Abschnitte über »alte«
1956/57« unter dem Titel Musik, dann unter dem und »neue Musik«, »schwere und leichte Musik«
erweiterten Titel in der »Zeitschrift für neue verbinden die ironische Kritik am kommerziellen
Musik« »Melos« (September bis November 1956) Musikbetrieb und an einer leerlaufenden Avant-
erschienen, setzt sich der Text aus 14 »poeti- garde, die an Theodor W. Adornos Aufsatz »Das
sche[n] Miniaturen« zusammen (Greuner 1990, Altern der Neuen Musik« (1954) und an Henzes
Musikästhetische Essays 189

entsprechende Kritik erinnert (Caduff 1998, Jahre (Greuner 1990, S. 65 f.; Caduff 1998,
S. 100 f.), mit sehr genauen musikgeschichtlichen S. 83ff.) – in »Musik und Dichtung« eine gemein-
Reflexionen beispielsweise zur Geschichte des same »Gangart des Geistes« zu entdecken (W 4,
Cembalos (Eberhardt 2002, Kap. VII 4.2) sowie 60). Der Rhythmus und die menschliche Stimme
mit einer emphatischen Anthropologie und Äs- erweisen sich in einer Wiederanknüpfung an die
thetik der Musik: Dank der Musik »gerät [die »romantische Musikästhetik« (Spiesecke 1993,
Welt] zurück in die Fugen« (W 4, 52), und: »Wir S. 25) als die Grundlage einer potenzierenden
brauchen Musik. / Das Gespenst ist die lautlose »Vereinigung« beider Künste (W 4, 60). Wie die
Welt.« (W 4, 54) Nach einer humorvollen Charak- moderne Lyrik durch ihre Verbindung mit der
terisierung der »Musikstädte« und einer Hom- Musik sich »der Teilhabe an einer universalen
mage an Mozart beantwortet Bachmann die Sprache wieder versichern« kann, so wird die
Frage nach dem Wesen der Musik im letzten Musik durch die Sprache »politisch, mitleidend,
Abschnitt gerade nicht theoretisch, sondern poe- teilnehmend« (W 4, 61). Dies gelingt vor allem
tisch in Anspielung auf Hans Christian Andersens durch die existentiale Ausdruckskraft der
Märchen Die Nachtigall in der symbolischen Ver- menschlichen Stimme, die als mediale Einheit
anschaulichung der Musik als des Anderen der von Körper und Geist am Schluß des Essays
Sprache (Caduff 1998, S. 104; Eberhardt 2002, emphatisch gegen das »Räumen von Herzlän-
Kap. VII 4.2). Die Reflexion über die Spannweite dern«, den »Abgang aus Gedanken« und die »Ver-
der Musikerlebnisse von der »tragische[n] Welt« abschiedung so vieler Gefühle« in der modernen
bis zur »Welt heiterer Genüsse« mündet an der Gesellschaft gestellt wird (W 4, 62). »Mitein-
Grenze zum Verstummen in einen Dialog der ander, und voneinander begeistert, sind Musik
Musik mit ihrem Hörer, der – auch in seiner und Wort ein Ärgernis, ein Aufruhr, eine Liebe,
Perspektivenverkehrung – an den poetologischen ein Eingeständnis«, das dem »Verlangen nach
Entwurf Das Gedicht an den Leser (Eberhardt Freiheit« Ausdruck verleiht und in »hoffnungs-
2002, Kap. VII 4.2) oder an den Schluß der Erzäh- loser Annäherung an Vollkommenheit« den uto-
lung Undine geht erinnert: »Was hörst Du noch, pischen »Augenblick der Wahrheit« antizipiert
weil du mich nicht hören kannst, wenn die Musik (W 4, 61). Der Essay verknüpft seine Musikästhe-
zu Ende ist? / Was ist es?! / Gib Antwort! / ›Still!‹ tik mithin nicht nur mit der ästhetischen Sprach-
/ Das vergesse ich dir nie.« (W 4, 58) Diese reflexion und dem literarischen Utopieverständ-
paradoxale Pointierung der poetischen Reflexion nis der wenig später geschriebenen Frankfurter
über das Verhältnis von Musik und Sprache im Vorlesungen (1959/60), sondern auch mit dem
dialogisierten Topos der Unsagbarkeit und des kritischen Ethos der Preisrede Die Wahrheit ist
Schweigens weist bereits auf das späte Gedicht dem Menschen zumutbar (1959).
Enigma voraus (Caduff 1998, S. 105). Die emphatische Idee der Vereinigung von Mu-
Der zuerst in einer Festschrift der »Musica sik und Dichtung ist zweifellos vor dem Hinter-
Viva«, einer von dem mit Bachmann befreunde- grund von Bachmanns Begeisterung für die Oper
ten Komponisten Karl Amadeus Hartmann in- und damit im Kontext ihrer Libretti zu lesen
itiierten Konzertreihe für Neue Musik, erschie- (Caduff 1998, S. 89), zumal sie sich in der Ver-
nene Essay Musik und Dichtung (1959) reflek- knüpfung des Axioms der Freiheit der Künste mit
tiert demgegenüber in theoretischer Form das dem Insistieren auf ihrer politisch-moralischen
Verhältnis von Musik und Literatur als zweier Funktion und gesellschaftlichen Bedeutung mit
künstlerischer ›Medien‹ (W 4, 59). Ausgehend Hans Werner Henzes künstlerischem Selbstver-
von einer Kritik öffentlicher Diskurse über beide ständnis in den fünziger und frühen 1960er Jah-
Kunstformen, in der Bachmann vor dem Hinter- ren trifft (siehe Henze). Das Erlebnis der Opern-
grund der modernen Sprachskepsistradition an sängerin Maria Callas bei einer Generalprobe zu
ihre Wittgenstein-Lektüre anknüpft, kontrastiert Verdis Oper La traviata war im Januar 1956 in
sie zunächst wiederum die »verschuldete Spra- Mailand nach Bachmanns eigener Darstellung
che« (nach Auschwitz) mit der »Reinheit« der der Punkt, an dem ihre »Einstellung gegenüber
Musik (W 4, 59 f.), um dann aber – in Anlehnung der Oper« von Indifferenz »in ein besessenes
an Hölderlin und zugleich in deutlicher Nähe zu Interesse« umschlug (W 1, 433). Sie widmet der
Adornos musikästhetischen Schriften der 1950er Sängerin später den nachgelassenen Essay-Ent-
190 II. Das Werk

wurf Hommage à Maria Callas, in dem das Erleb- 434). Diese scheinbare »Abstrusität« begründe
nis der außergewöhnlichen Stimme von der Fas- die »Überlegenheit des lyrischen Theaters«, in-
zination durch den Menschen Maria Callas und dem sie »elementarsten Ausdrucksbedürfnis-
seine künstlerische Ausdrucksfähigkeit nochmals se[n]« gerecht werde, die sich mit den Mitteln
übertroffen wird. Der für die »Wiederkehr des des ›Prosatheaters‹ nicht darstellen ließen (W 1,
Belcanto« berühmte Opernstar (Caduff 1998, 434). Die Oper ist damit als ein ästhetisches
S. 113) erscheint Bachmann mit einem Zitat aus Modell der Wirklichkeit charakterisiert, das sei-
Georg Büchners Drama Dantons Tod, das zu- nen eigenen medialen Gesetzen gehorcht. Wie
gleich Paul Celans Büchnerpreisrede Der Meri- Bachmann in dem kleinen Nachlaßentwurf über
dian (1960) zitiert, als »die Kunst, ach die Kunst«, Giuseppe Verdis Oper Othello ausführt, der sei-
mit einem Zitat aus Giacomo Puccinis Oper Tosca nem Schriftbild nach zwischen 1961 und 1966
(Caduff 1998, S. 117) als die Verkörperung mo- entstanden ist, gehört zu dieser Eigengesetzlich-
derner künstlerischer Existenz schlechthin: »ecco keit auch, daß in der Oper »alles heraus muß«
un artista. Sie hat nicht Rollen gesungen, nie- (W 4, 345), die Ausstellung der Gefühle also und
mals, sondern auf der Rasierklinge gelebt« (W 4, die Visualisierung der inneren Konflikte.
342 f.). Eine Sonderstellung im Kontext der musik-
Jene beiden Programmtexte, die Ingeborg ästhetischen Schriften nehmen Ingeborg Bach-
Bachmann zur Uraufführung von Henzes Opern manns Zwischentexte zu Carl Maria von Webers
Der Prinz von Homburg und Der junge Lord Oper Der Freischütz (1967) ein, die »auf Anre-
geschrieben hat, sind im wesentlichen Kommen- gung von Max Liebermann« entstanden und »an-
tare zu ihren Libretti und thematisieren musik- läßlich des Gesamtgastspiels der Hamburgischen
ästhetische Fragen nur im Hinblick auf die Staatsoper während der Weltausstellung in
»ruhmlose Sonderstellung des Librettos« zwi- Montreal und während der Eröffnungssaison der
schen Musik und Literatur (W 1, 433). Immerhin neuen Metropolitan Opera im New Yorker Lin-
ist auffällig, daß diesen aus der Praxis der Li- coln Center« 1967 »in französischer und eng-
brettistin entstandenen Kommentaren das Pathos lischer Sprache« vorgetragen wurden (Kommen-
des programmatischen Essays Musik und Dich- tar W 1, 663). Es handelt sich um eine interpre-
tung fehlt, daß sie dessen ästhetische Grund- tierende Zusammenfassung der Opernhandlung,
gedanken aber dennoch teilen. Der Programm- die vor allem die sexuelle Symbolik der Märchen-
text Entstehung eines Librettos (1960) sieht die motivik herausarbeitet. Bachmann liest die in der
»Rechtfertigung« des Librettos zu der Kleist-Oper Oper verarbeitete Volkslegende vom Freischütz
Der Prinz von Homburg »nur« in der Musik, die psychoanalytisch als Ausdruck des »Unbewußten
in der Oper zusammen mit dem Text eine »neue eines Volks« (W 1, 437), als Chiffrierung eines
Ganzheit« bilde (W 1, 373). Angesichts des lite- Wissens vom Geschlechterverhältnis, in dem die
rarischen Rangs der Vorlage wünscht sich die Geschlechtsidentität des liebenden Mannes
Autorin, daß Kleists Drama durch ihr Libretto (Max) gestört ist, während die junge Frau (Aga-
»ein zweites Leben in der Musik und mit der the) ganz »eins ist mit ihrem Geschlecht« (W 1,
Musik« erhielte (W 1, 372). In ihren Notizen zum 441).
Libretto für die Oper Der junge Lord (1965) Quellen: Hans Werner Henze (1984): Musik und Poli-
spricht Bachmann dann ausdrücklich vom »Hint- tik. Schriften und Gespräche 1955–1984. (Hg.) Jens
anstellen der eigenen Arbeit unter die allein Brockmeier. München.
wichtige des Komponisten« (W 1, 434) und re- Literatur: Caduff (1998); Eberhardt (2002); Grell
flektiert ihren Lernprozeß als Librettistin. Als (1995); Greuner (1990); Spiesecke (1993); Weigel
charakteristisch für die besondere Struktur des (1999).
Librettos bezeichnet sie »die Überlappungen von Dirk Göttsche
Texten« und den »gleichzeitige[n] Ablauf von
kontradiktorischen, variierten oder zur Deckung
kommenden Textstellen«, indem die Figuren der
Oper »vom Duett bis zum Ensemble, nicht nach-
einander, sondern miteinander, gegeneinander
und nebeneinander zu Wort kommen« (W 1,
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 191

7.3. Literaturkritische Essays Neben Adorno erweist sich der Einfluß Robert
und Frankfurter Vorlesungen Musils und seiner Konzeption einer ›essayisti-
schen Existenz‹, wie er sie in seinem Roman Der
Das Verständnis der essayistischen Schriften In- Mann ohne Eigenschaften entwickelt (Bartsch
geborg Bachmanns ist angewiesen auf eine be- 1988, S. 24ff.), als mindestens ebenso wesent-
sondere Berücksichtigung der Form, die mit ihrer lich; ausführlich bezieht sich Bachmann in der
im Anschluß an Adorno und Musil entwickelten letzten ihrer Frankfurter Vorlesungen über »Lite-
Auffassung des Essays einhergeht. Zeugt die ab- ratur als Utopie« auf Musil. Im Mann ohne Eigen-
schließende Zusammenfassung ihrer Disserta- schaften gibt Musil seine Definition des Essays
tion von der grundlegenden Kritik an dem Ver- als »die einmalige und unabänderliche Gestalt,
such, die Unzulänglichkeit wissenschaftlicher Be- die das innere Leben eines Menschen in einem
grifflichkeit mit ›Intuition‹ überbieten zu wollen entscheidenden Gedanken annimmt« (Musil,
(Bartsch 1988, S. 19), so dokumentiert Bach- S. 247). Bachmann teilt die hier von Musil formu-
manns Auseinandersetzung mit den Schriften lierte Auffassung, daß Leben und Werk eng auf-
Wittgensteins einen Gegenentwurf zu dieser Art einander zu beziehen sind, und hält jenseits aller
des unbestimmten Denkens im bewußten Um- Schwerpunktverlagerungen, die sie in ihren lite-
gang mit dem Wissen um die Vorbegrifflichkeit raturkritischen und poetologischen Arbeiten im
der Sprache. Diese Auffassung bestimmt auch Laufe der Jahre vornimmt, daran fest. Dabei geht
Adornos Ausführungen über den »Essay als es ihr keineswegs um eine biographistische Spu-
Form«, auf die Bachmanns literaturkritische Ar- rensuche, sondern vielmehr um eine Auseinan-
beiten und die Frankfurter Vorlesungen immer dersetzung mit den Werken der von ihr behandel-
wieder bezogen worden sind (bes. Świderska ten Autorinnen und Autoren als deren ›geistige
1989, S. 6ff.). »In Wahrheit«, so heißt es bei Autobiographien‹ – so wie sie selbst in einem
Adorno, »sind alle Begriffe implizit schon kon- Gespräch den Roman Malina als ihre eigene
kretisiert durch die Sprache, in der sie stehen. »geistige, imaginäre Autobiographie« (GuI, 73)
Mit solchen Bedeutungen hebt der Essay an und ausgewiesen hatte.
treibt sie, selbst wesentlich Sprache, weiter; er
möchte dieser in ihrem Verhältnis zu den Be-
Literaturkritik der 1950er Jahre
griffen helfen, sie reflektierend so nehmen, wie
sie bewußtlos in der Sprache schon genannt Die beiden in der Werkausgabe veröffentlichten
sind.« (Adorno 1958, S. 27) Der Essay, so formu- Buchbesprechungen (zwei weitere siehe Bareiss/
liert Adorno, zeugt »vom Überschuß der Inten- Ohloff 1978, S. 18, 19), die Bachmann im Januar
tion über die Sache und damit jener Utopie, 1952 und im Januar 1953 für »Wort und Wahrheit.
welche in der Gliederung der Welt nach Ewigem Monatsschrift für Religion und Kultur« vorlegt,
und Vergänglichem abgewehrt ist. Im emphati- zeigen, daß sie der Frage nach den Möglichkeiten
schen Essay entledigt sich der Gedanke der tradi- eines Schreibens nach Auschwitz nicht nur im
tionellen Idee von Wahrheit.« (ebd., S. 25) Dieser Hinblick auf die eigenen Arbeiten, sondern auch
sprachphilosophische Ansatz Adornos und seine in ihrer Beurteilung der Werke anderer Autoren
Betonung der utopischen Qualität des Essays be- einen zentralen Stellenwert zumißt. Lebenshal-
stimmen Bachmanns Auffassung maßgeblich. tungen, die von dem Wissen um Auschwitz unbe-
Ihre Bezugnahme auf das Utopieverständnis an- rührt scheinen – und Werke, die diesen Lebens-
derer Autoren – insbesondere auf Bloch, der in haltungen Ausdruck verleihen –, kennzeichnet
diesem Zusammenhang diskutiert worden ist Bachmann als von ihrer Zeit überholt.
(Mechtenberg 1978, S. 17 f.; dagegen Bartsch In einer Rezension von José Orabuenas Kind-
1988, S. 24 f.) – tritt ohne Zweifel hinter die heit in Cordoba ist es die Rede von der »Behag-
Bedeutsamkeit Adornos zurück; zum Beschluß lichkeit«, die Bachmann nicht mehr gelten lassen
ihrer dritten Vorlesung stellt Bachmann Adorno kann. Wo, so argumentiert sie, die Kluft zwischen
mit der ihm entlehnten Formulierung von der Gegenwart und Vergangenheit so tief empfunden
Literatur als dem »Platzhalter« der menschlichen wird wie in der Nachkriegszeit, ist der Versuch
Stimme (W 4, 237; Adorno, S. 175) ausdrücklich einer Vermittlung zwischen diesen beiden ›Zei-
heraus (Gutjahr 1993, S. 308). ten‹ notwendig. Sie ist es, die sich im Text nie-
192 II. Das Werk

derschlagen muß; die Geste behaglichen Zurück- teske. »Freilich will es gelegentlich scheinen, als
lehnens dagegen, wie Orabuena sie vorführt, er- beruhe der Eindruck des Humorvollen, des
scheint deplaziert. »Daß die klaffenden Risse in manchmal geradezu Harmlosen auf einer opti-
der Welt und die Einbrüche aus dunklen Be- schen Täuschung. Die verwirrte Welt, in der sich
zirken, die ernste Stellungnahme erfordern, mit Karl Roßmann befindet, ist nicht weniger grauen-
einer kindlichen Geste des Vertrauens geschlos- erregend, nicht weniger feindselig als alle an-
sen werden, kann nicht mehr unsere Sache sein. deren Welten, die Kafkas magische Phantasie je
[…] Die Vorstellung, ›religiöses Behagen‹ zu ersann.« (W 4, 316 f.) In ihrer Büchnerpreisrede
empfinden, muß heute Unbehagen auslösen, wie wird Bachmann sich ebenfalls für die Form der
das Wort ›Behagen‹ überhaupt aus unserem Voka- Groteske entscheiden, nun jedoch das umge-
bular gestrichen worden ist.« (W 4, 311) kehrte Verfahren wählen, wenn sie das scheinbar
Als nicht weniger unzeitgemäß charakterisiert Harmlose als eine ›optische Täuschung‹ zur Dar-
Bachmann die Neuauflage der Dichtungen Alfred stellung bringt.
Momberts aus einer Anthologie mit dem Titel Von einer die Romanhandlung grundierenden
Der himmlische Zecher (1909). Das Unzeitge- Leid- und Schmerzerfahrung einerseits und dem
mäße des wiederaufgelegten Werks erläutert utopischen Gehalt des Romans andererseits geht
Bachmann in zweierlei Hinsicht: zum einen im Bachmann auch in ihrer Deutung des Manns
Hinblick auf die Lesenden, die nicht mehr hinter ohne Eigenschaften aus. Das Gewicht ihres ersten
die Erfahrung von Auschwitz zurückgehen kön- Kurzbeitrags zu Robert Musil, der anläßlich der
nen. Zum anderen im Hinblick auf den Autor 1952 von Adolf Frisé herausgegebenen Ausgabe
Mombert selbst, dessen im Anschluß an Nietz- des Romans als einer von drei Beiträgen in der
sche und George entwickelte Geniekonzeption Zeitschrift »Akzente« im Februar 1954 erscheint,
schließlich von der eigenen Lebenswirklichkeit liegt dabei auf der Erläuterung des Musilschen
und seinem notwendig gewordenen Rückzug ins Utopieverständnisses; Bachmann markiert diese
Exil eingeholt wurde. »Auf der Flucht aus der Akzentuierung bereits durch die Überschrift ihres
Zeit ist wieder ein Werk von der Zeit überholt Essays: Ins tausendjährige Reich. »Der Rückgriff
worden: die ›Traum-Himmel‹ und ›Äther-Ge- des Manns ohne Eigenschaften«, so führt sie in
wölbe‹ sind zusammengestürzt, und es zeigt sich, ihrem Beitrag erläuternd aus, »auf die Idee vom
daß auch Dichter, die den Schöpferthron ein- tausendjährigen Reich, sein Verlangen nach dem
zunehmen meinten, fallen können – ›in die Don- ›anderen Zustand‹ der ›unio mystica‹, ist we-
nerhallen des Lebens‹ …« (W 4, 315) Die hier niger befremdend, wenn man sie mit Musil als
geäußerten, mit ihrer gefährlichen Nähe zum eine mögliche Utopie begreift und die Utopie
nationalsozialistischen Verständnis des ›Herren- nicht als Ziel, sondern als Richtung vor Augen
menschen‹ begründeten Vorbehalte gegen jede hat.« (W 4, 27) Bachmann deutet die nachge-
Art einer ›übermenschlichen‹ Geniekonzeption lassenen Romanentwürfe des Manns ohne Eigen-
in der Kunst wird Bachmann in ihrer zweiten schaften, die über die Erfüllung der Liebesutopie
Frankfurter Vorlesung an einer Reihe weiterer und über die getrennte Fortsetzung der Lebens-
beispielhaft genannter Autoren und Künstler- läufe von Ulrich und Agathe berichten, als das
gruppen konkretisieren und ausführen. Scheitern der Geschwister an der Unmöglichkeit,
Bachmanns kleiner, für zwei Sprecher einge- ekstatische Liebe auf Dauer zu stellen. Der Aus-
richteter Radiobeitrag über Kafkas Romanfrag- tritt aus der Ordnung – so entwickelt es Bach-
ment Amerika hingegen, der im Dezember 1953 mann nicht nur im Hinblick auf Musils Geschwi-
vom Hessischen Rundfunk ausgestrahlt wird, sterpaar, sondern auch in ihrem Hörspiel Der
läßt nicht nur ihre Bewunderung für das Werk gute Gott von Manhattan und in der Rede zur
erkennen, sondern auch – wie in allen ihren Verleihung des Kriegsblindenpreises – ist nicht
größeren literaturkritischen Arbeiten – die Nähe möglich. Die in der einsamen ekstatischen Erfah-
des eigenen Werks zum jeweils besprochenen. rung gewonnene ›Moral vor jeder Moral‹ (Musil)
Gegen die undurchdringlichen Verhältnisse, de- muß vielmehr mit der Moral der Gesellschaft
nen sich Kafkas Protagonist ausgeliefert sieht, vermittelt werden.
stellt Bachmann die Klarheit der Sprache Kafkas Sehr viel ausführlicher kann Bachmann diese
und die literarische Form der komischen Gro- Überlegungen in ihrem längeren, im Frühjahr
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 193

1954 entstandenen (vgl. Weigel 1999, S. 203) und ihrer Arbeit über das »philosophische Vermächt-
für vier Sprecher eingerichteten Radioessay dar- nis« der Autorin zeigen, daß sich eine Reihe von
legen. Nicht nur der ironische und satirische Musilschen Formulierungen in den Frankfurter
Gehalt des Manns ohne Eigenschaften rückt nun Vorlesungen wiederfinden, ohne daß Bachmann
stärker in den Vordergrund, sondern auch ein eigens – wie in der fünften Vorlesung – explizit
wesentlicher Strang der Gesamtkonzeption des auf Musil verwiese. So etwa die Formulierung
Romans, die ›Parallelaktion‹, die die Roman- vom »lebendigen Urteil«, das dem »objektiven«
handlung auf den Krieg zulaufen läßt. Die einzel- gegenübergestellt wird (W 4, 259), von der
nen (Männer-) Figuren werden von Bachmann schlechten Sprache des Lebens, die gegen die der
als Akteure der Parallelaktion charakterisiert und Literatur ausgespielt wird (W 4, 268), bis hin zur
den Hörern vorgestellt. Die Funktion der Frauen- utopischen Existenz des Schreibenden (Agnese
figuren hingegen, die in ihrem Verhältnis zu Ul- 1996, S. 105 f.).
rich verschiedene Möglichkeiten und Qualitäten Bachmanns auf den Spuren von Wittgenstein
von Liebesverhältnissen durchspielen (vgl. Pe- und Musil unternommene Suche nach einer Me-
kar), wird von Bachmann vernachlässigt. Ihr In- taphysik, die den »Heiligen mit und ohne Reli-
teresse gilt nicht so sehr der Genese der Liebes- gion« (Musil, S. 254) gerecht wird, führt sie zu
geschichte zwischen Ulrich und Agathe als dem den Schriften der französischen Philosophin Si-
Verhältnis der »letzten Liebesgeschichte« zum mone Weil. In ihrem Radiobeitrag Das Unglück
Krieg, den sie als das »umfassende Problem des und die Gottesliebe – der Weg Simone Weils, der
Romans« versteht (W 4, 101). Es kommt Bach- 1955 vom Bayerischen Rundfunk gesendet wird,
mann in ihrer Deutung des Romans darauf an, beschreibt Bachmann Leben und Werk Weils: Es
die ›Moral vor aller Moral‹, die von den Lieben- entsteht die Vita einer modernen Heiligen. Bach-
den erfahren wird, bei Musil mit der gesellschaft- mann schildert Weils soziales und – daraus resul-
lichen Moral vermittelt zu finden. »Wir haben«, tierend – politisches Engagement als hervorge-
so zitiert sie Musil, »nicht zuviel Verstand und zu gangen aus einer Anteilnahme, die keine Grenze
wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Ver- zwischen dem Leiden anderer und dem eigenen
stand in den Fragen der Seele.« (W 4, 95) Ich zu ziehen vermag. Das Leben der Philo-
Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Werk sophin, die das Leben einer Fabrikarbeiterin
Robert Musils, von der auch die zwischen 1955 führt, geht, so zeigt Bachmann Weil zitierend,
und 1958 entstandenen Rundfunkbearbeitungen vollkommen in der Gegenwart auf, »›denn ich
zweier seiner Dramen zeugt – Die Schwärmer hatte meine Vergangenheit wirklich vergessen
und Vinzenz und die Freundin bedeutender Män- und ich erwartete keine Zukunft mehr, da mir die
ner (vgl. W 4, 406) –, schlägt sich in einer Fülle Möglichkeit, diese Erschöpfungszustände zu
von impliziten Verweisen und expliziten Zitaten überleben, kaum vorstellbar erschien‹« (W 4,
nieder. Sie durchziehen das gesamte Werk Bach- 155). Umgekehrt – und Bachmann zitiert auch
manns von den Kurzprosatexten (Die blinden diese Passage – formuliert Weil das Vergessen
Passagiere), den Frankfurter Vorlesungen und von Vergangenheit und Zukunft nicht nur als die
den frühen Erzählungen – und hier besonders der Folge, sondern auch als die entscheidende Vor-
Titelerzählung Das dreißigste Jahr – über die aussetzung, um die »heilsame Wirkung des Un-
Eingangspassage der Büchnerpreisrede (Höller glücks« (W 4, 149) erfahren zu können. Die Heil-
1987, S. 209) bis hin zur Konzeption des Ge- samkeit dieses Unglücks liegt, so erläutert Bach-
schwisterpaares Franza und Martin in Das Buch mann, in dem Weg der ›negativen Utopie‹, für
Franza (Bannasch 1995, S. 164 f.) und zur aufge- den sich Weil entscheidet: »dieser unendliche
spaltenen Erzählerposition in ein Ich und einen Abstand, [in] den sie durch die Annahme des
›unverständigen‹ Malina in Malina (Rußegger, äußersten ›Unglücks‹ gebracht wird, soll es ihr
S. 324 f.). Wie Musil so bestimmt auch Bachmann möglich machen, Gott nicht als Individuum, als
ihren Utopiebegriff als einen immer wieder neu Persönlichkeit zweifelnd oder glaubend gegen-
herzustellenden ›Richtungsbegriff‹. »Dieses uto- überzustehen, sondern als ausgelöschte und
pische Richtungnehmen ist für Bachmann eine, ja nackte Existenz die Gnade zu erfahren. So wird
die entscheidende Funktion von Literatur.« uns also, unter den Händen, ihr vielseitiges und
(Bartsch 1988, S. 29) Barbara Agnese kann in vielschichtiges Werk zum Zeugnis reiner Mystik,
194 II. Das Werk

vielleicht dem einzigen, das wir seit dem Mittel- des Krieges und die Spiegelung des Krieges in
alter erhalten haben.« (W 4, 147) Unter Bezug- der Sprache und schließlich die Krise der Erfah-
nahme auf Weils Formulierung von den Men- rung bzw. die Genese des Kunstwerks aus der
schen, die »Poesie wie Brot« benötigen (W 4, leidvollen Erfahrung. Die Momente von Glück,
143), wählt Bachmann in der Schlußpassage der die der Roman schildert, beschreibt sie als mysti-
ersten Frankfurter Vorlesung das Bild des Schlä- sche Versenkungen. So charakterisiert Bachmann
fers, der von den literarischen Werken geweckt Proust am Ende des Radioessays zwar als »Posi-
werden möchte: »Poesie wie Brot? Dieses Brot tivist und Mystiker, für den nur die Welt der
müßte zwischen den Zähnen knirschen und den Kunst absolut war und der sich aus der Gefangen-
Hunger wiedererwecken, ehe es ihn stillt. Und schaft hier keinen Ausblick und keine Hoffnung
diese Poesie wird scharf von Erkenntnis und bit- erlaubte« (W 4, 180), doch sie schließt mit der
ter von Sehnsucht sein müssen, um an den Schlaf Zitation einer Auferstehungsszene, in der »Bü-
der Menschen rühren zu können. Wir schlafen ja, cher wie Engel mit entfalteten Flügeln« als ein
sind Schläfer, aus Furcht, uns und unsere Welt »Symbol der Auferstehung« ihres Autors erschei-
wahrnehmen zu müssen.« (W 4, 197 f.) nen (ebd.). »Es sollte deutlich geworden sein,« so
Wenn Bachmann auch die besonders ausführ- konstatiert Weigel, »daß die Klammer von Bach-
liche Nennung der biographischen Daten Simone manns Proust-Lektüre durch den Zusammen-
Weils in ihrem Radioessay als ein Mittel ver- hang zwischen dem ›grausamen Gesetz der
teidigt, der Legendenbildung um Weils Person Liebe‹ und dem ›grausamen Gesetz der Kunst‹
entgegenzutreten, so läßt sich doch zugleich un- gebildet wird und daß es genau dieser Zusam-
schwer erkennen, daß sie selbst mit ihrem Essay menhang ist, der den Kern ihrer Affinität zu
eine Stilisierung vornimmt. In der Gestaltung Prousts opus magnum darstellt. Wird dieser Zu-
ihrer späten Frauenfiguren greift Bachmann auf sammenhang in der Erzählung Undine geht in
dieses frühe ›Frauenbild‹ zurück. Die Protagoni- einer mythischen Figur verkörpert, so ist er in
stin des Franza-Fragments, das Ich in Malina und Malina konstitutiv für die Erzählkomposition des
Miranda in der Erzählung Ihr glücklichen Augen Romans.« (Weigel 1999, S. 211 f.) Die Klammer
sind ebenso wie die Simone Weil des Radioessays der Leidensgenese, in die Weigel das Bachmann-
nicht in der Lage, sich von den Leiden ihrer sche Gesamtwerk solcherart einspannt, zeigt eine
Mitmenschen abzugrenzen. Spezifischer jedoch wichtige Kontinuität der Bachmannschen Poeto-
als diese Unfähigkeit zur Grenzziehung ist Bach- logie auf. Sie vernachlässigt allerdings die
manns Interesse an Weils Leben als einem Le- Schwerpunktverlagerung, welche in der Büch-
ben, das in der unbedingten Gegenwart geführt nerpreisrede und in den späten literaturkriti-
wird; das Ich in Bachmanns Roman Malina wird schen Arbeiten zutage tritt, in denen das Leiden
in dieser unbedingten Gegenwart des »Heute« nicht nur – wie noch in dem Proust-Essay und in
leben. Wie Weil wird es sich den »letzten Din- den Frankfurter Vorlesungen – dem Schreiben
ge[n]« (W 4, 129) zuwenden und an der Unbe- vorgängig, sondern dem Schreiben vorrangig ist.
dingtheit seines Denkens und der mit seinem Kaiser relativiert den zentralen Stellenwert, den
Denken unauflöslich verschränkten Lebensfüh- Weigel dem Proust-Essay zumißt, nicht zuletzt
rung zugrundegehen. auch dadurch, daß er auf die (gegenüber dem
Bachmanns Proust-Lektüre, die sie in ihrem Proust-Essay) differenzierteren Ausführungen
Radioessay Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in der Frankfurter Vorlesungen hinweist. Bach-
ein Pandämonium vom 13. Mai 1958 vorstellt, manns an Walter Benjamin und Ernst Robert
erzählt die Handlung des Romans Auf der Suche Curtius geschulte Deutung, die sich insbesondere
nach der verlorenen Zeit als eine neuartige Dar- in der engen Verknüpfung von Liebe und Kunst
stellung von Liebe und ihrer »Kristallisation« niederschlägt, verkürze die Proustsche Mystik
(W 4, 163), die schließlich auf den Krieg zuläuft. um ihr Eigenstes. Auf die messianische Deutung
Bereits in diesem Radioessay fokussiert Bach- der glückhaft erlebten Momente beschränkt, ent-
mann Prousts Roman auf Themen, die in ihrem gehe ihr die eigentliche Qualität des Proustschen
literarischen Werk bedeutsam werden: die Dar- Mystikverständnisses, die mystische Qualität der
stellung der ›großen Geschichte‹ in der indivi- »mémoire involontaire« (Kaiser 1993, S. 333).
duellen ›kleinen Geschichte‹, die Metaphorik Bachmanns kurze essayistische Arbeiten – zum
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 195

Teil nicht länger als ein bis zwei Seiten – spielen Der undatierte Entwurf Gedicht an den Leser
Themen durch, die sie in ihren größeren Texten schließlich deckt sich in seinem Bekennntnis zur
wieder aufnimmt und können daher hier zur Sehnsucht des Textes – nicht der Sehnsucht des
Erläuterung von Einzelfragen herangezogen wer- Dichters! – nach dem Leser mit Überlegungen,
den. In dem Text [Wozu Gedichte?] aus dem Jahr wie Bachmann sie ausführlicher in der Kriegs-
1955 formuliert die Autorin ihr Vertrauen in ei- blindenpreisrede und in der Rede zur Verleihung
nen rituellen Sprachgebrauch, der jenseits aller des Anton-Wildgans-Preises vorstellt: Die »un-
aufklärerischen sprachlichen Entzauberungsar- stillbare Liebe« des Textes ist allein auf den Leser
beit steht und den Lesern »Formeln in ein Ge- gerichtet (W 4, 307) und entzieht sich jedem
dächtnis legt« (W 4, 303 f.). Der im selben Jahr Versuch einer gesellschaftspolitischen Funktio-
entstandene Kurzprosatext Was ich in Rom sah nalisierung. Anders als in ihren beiden Preis-
und hörte setzt diese Überlegungen literarisch reden beschreibt Bachmann das Verhältnis von
um, die zweite Frankfurter Vorlesung Ȇber Ge- Text und Leser hier allerdings nicht im Hinblick
dichte« greift sie noch einmal auf. auf die Rolle der Vermittlertätigkeit, die dem
Die Ausführungen, die Bachmann in ihrem Autor dabei zukommt, sondern im Hinblick auf
undatierten Text [Zur Entstehung des Titels ›In den Leser.
Apulien‹] anstellt, lassen sich unmittelbar auf
Bachmanns vierte Frankfurter Vorlesung bezie-
Literarische Preisreden
hen, die vom auratischen Strahlen literarischer
Namen und Orte handelt. Die in dem kurzen Im Frühjahr 1958 wird Bachmann für ihr Hör-
Beitrag formulierte Differenz zwischen den Orts- spiel Der gute Gott von Manhattan mit dem
bezeichnungen der Geographie und den »ver- Hörspielpreis der Kriegsblinden geehrt, der
sunkenen und erträumten« (W 4, 305) Namen in höchsten Auszeichnung, die in Deutschland für
literarischen Texten fließt ein in Bachmanns Hörspiele vergeben werden kann. Der gute Gott
Überlegungen zum »Umgang mit Namen« und von Manhattan beschreibt den Extremfall von
dem »Atlas, den nur die Literatur sich sichtbar Liebe und ihr Scheitern; die Liebeskonzeption,
macht« (W 4, 259). die Bachmann hier vorstellt, ist angelehnt an
Im September 1961 bittet Hans Werner Richter Musils Konzeption der asozialen Liebeserfah-
Ingeborg Bachmann um einen Beitrag für den rung im ›anderen Zustand‹. Ausgehend von ih-
»für das kommende Jahr geplanten ›Almanach rem Hörspiel erläutert Bachmann in ihrer Dan-
der Gruppe 47‹« (Briegleb 1997, S. 55). Der un- kesrede die poetologischen Konsequenzen dieser
vollendet gebliebene Text, den sie daraufhin ver- Konzeption eines Verhältnisses von Individuum
faßt, liest sich nicht so sehr wie der Bericht über und Gesellschaft, mit denen sie sich bereits in
eine wichtige Institution des deutschen Literatur- ihrem Essay über Musils Mann ohne Eigenschaf-
betriebs in den 1960er Jahren, wie es die Gruppe ten auseinandergesetzt hatte. In der Kriegsblin-
47 auch war, als vielmehr wie der Erlebnisbericht denpreisrede geht es ihr nun darum, die Aufgabe
einer heiteren Ausflugsfahrt. Den Verweis auf des Schriftstellers als eine zu beschreiben, die
Günter Eich – der in der Gruppe 47 mit seinem zwischen dem asozialen Außersichsein des ›an-
von Bachmann in ihrem Text eigens erwähnten deren Zustands‹ und der Gesellschaft vermittelt.
Hörspiel Träume scharf als ein ›reaktionärer Um diese Vermittlertätigkeit des Schriftstellers zu
Schriftsteller‹ angegriffen worden war – zeigt beschreiben, wählt Bachmann die durch eine
jedoch, daß Bachmann sich in ihrem literarischen lange philosophische und theologische Tradition
Urteil nicht dem der Gruppe anschließt. Viel- eingeführte Metapher von einem äußeren, dem
mehr charakterisiert sie Eich als wichtigen Ver- Äußerlichen verhaftet bleibenden Sehen und ei-
treter einer neuen literarischen Richtung, wenn nem inneren, wahrhaftigen und erkenntnishaften
sie anläßlich der Aufführung seines Hörspiels ihr Sehen. »Wir sagen«, so formuliert sie, »sehr ein-
Erstaunen erinnert (W 4, 325). Die ausführliche fach und richtig, wenn wir in diesen Zustand
Darstellung der Lyrik Günter Eichs, die Bach- kommen, den hellen, wehen, in dem der
mann in der zweiten Frankfurter Vorlesung unter- Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen
nimmt, kann als ein weiterer Beleg für diese aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine
Einschätzung des Eichschen Werks verstanden Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenom-
werden.
196 II. Das Werk

men haben, sondern weil wir begreifen, was wir stand‹ –, die ihn in besonderer Weise zu seiner
doch nicht sehen können. Und das alles soll die Vermittlertätigkeit prädestiniert. Dies zumindest
Kunst zuwege bringen: daß uns, in diesem Sinne, legt Bachmanns 1972 gehaltene Rede zur Verlei-
die Augen aufgehen.« (W 4, 275) In der nicht nur hung des Anton-Wildgans-Preises (vergeben von
metaphorischen Rede von der Blindheit des der Vereinigung Österreichischer Industrieller)
Menschen und vom Aufgehen seiner Augen vor nahe. Mit weitaus größerem Nachdruck als in der
einem Publikum, das überwiegend aus Blinden Blindenpreisrede weist sie auch hier jeden Glau-
besteht, verbindet Bachmann die Bezugnahme ben an die Möglichkeit des Schriftstellers, un-
auf ihr Publikum mit ihrer poetologischen Kon- mittelbar wirken zu können, und an eine durch
zeption eines erkenntnishaften Sehens, das sie seine ›Seherschaft‹ herausgehobene gesellschaft-
der die Wahrheit verstellenden, phrasenhaften liche Position zurück. Das Besondere, das die
Alltagssprache entgegenhält. Existenz des Autors vor den anderen auszeichnet,
Macht Bachmann im Zusammenhang mit der die Asozialität seines Schaffens, ist nicht mitteil-
Metaphorik des Sehens Anleihen bei dem »Se- bar. Mitteilbar sind allein seine Werke, die ge-
her«-Brief Rimbauds aus dem Jahr 1872, zeigt lesen werden: Sie sind es, »die die Welt verän-
jedoch gerade der Blick auf Rimbaud, welche dern«, wenn es ihnen gelingt, mit »kristallini-
Akzentverschiebung sie in ihrer Auffassung von schen Worten« die Phrasenhaftigkeit der
der Aufgabe des Schriftstellers vornimmt. Wäh- Alltagssprache zu zerschreiben (W 4, 296 f.). Dies
rend es dort heißt: »Ich sage, es ist notwendig, kann allerdings nur dann gelingen, wenn die
sich sehend zu machen […]. Der Poet macht sich Werke Ausdruck eines ›essayistischen‹ Zusam-
sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte menfalls seines Denkens und Lebens sind, wie
Entregelung aller Sinne.« (Rimbaud, S. 15), geht Musil ihn gefordert hatte und wie Bachmann ihn
es Bachmann gleichermaßen um die Entregelung insbesondere in ihrem Essay über Simone Weil
der Sinne wie um die Rückführung dieser Erfah- beschreibt.
rung in gesellschaftliche Zusammenhänge. Dar- Die Hoffnung in die Sprache, der Bachmann in
über hinaus wählt Bachmann, im Unterschied zu ihrer Kriegsblindenpreisrede Ausdruck verliehen
der genialischen Seherpose Rimbauds, nicht die hatte, findet sich in der Formulierung von den
Ich-, sondern die Wir-Form, wenn sie von dem »kristallinischen Worten« wieder, wenngleich
Wunsch des Menschen spricht, sehend zu wer- auch deutlich zurückgenommen. Das einst be-
den. In ihrer Beschreibung der schriftstelleri- schworene Spannungsverhältnis zwischen Lite-
schen Tätigkeit wählt Bachmann daher auch fol- ratur und Lesenden jedoch, das es dem Men-
gerichtig nicht die Metapher des Sehers, sondern schen erlaubt, im »Widerspiel des Unmöglichen
die des Blinden, der sich allein mit Hilfe seiner mit dem Möglichen« seine Möglichkeiten zu er-
taktilen Fähigkeiten in einer ungewissen Umge- weitern (W 4, 276), ist so in der späten Rede nicht
bung zu orientieren versucht: »Alle Fühler ausge- mehr denkbar. Die mit der Metapher des Spiel-
streckt, tastet er nach der Gestalt der Welt, nach felds verbundene Vorstellung eines prozeßhaften,
den Zügen der Menschen in dieser Zeit. Wie wechselseitigen Sich-Aneinander-Abarbeitens ist
wird gefühlt und was gedacht und wie gehandelt? in Bachmanns Rede zur Verleihung des Anton-
Welche sind die Leidenschaften, die Verkümme- Wildgans-Preises dem momenthaften Aufblitzen
rungen, die Hoffnungen …?« (W 4, 276) Zwar ist der »kristallinischen Worte« gewichen, die die
es, wie Bachmann deutlich macht, der unbe- Literatur in ihren Sternstunden bereithält. Die
dingte Wunsch des Dichters, zu wirken und seine Büchnerpreisrede Ein Ort für Zufälle (1964), die
Leser zu erreichen. Dieser Wunsch aber kann, so aufgrund ihrer literarischen Form in dem Artikel
entwickelt es bereits ihr Gedicht an den Leser, nur »Künstlerische und journalistische Prosa« behan-
vermittels des Werks erfolgen; der Schriftsteller delt wird, markiert den entscheidenden poetolo-
als Privatperson – und er kann nichts anderes gischen Wendepunkt in dieser Entwicklung.
sein, als eine Privatperson – ist ebenso blind wie
die Menschen, an die sich sein Werk richtet.
Die Frankfurter Vorlesungen
Möglicherweise aber ist es die herausgehobene
einsame Arbeitsweise des Dichters – und deren Im Wintersemester 1959/60 richtet die Universi-
Nähe zum außergesellschaftlichen ›andern Zu- tät Frankfurt am Main eine Gastdozentur für
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 197

Poetik ein, die »einem bedeutenden Dichter oder pretation, Historismus, Formalismus, sozialisti-
auch Literaturkritiker jeweils für ein oder zwei scher Realismus« usw. (W 4, 183 f.). Bachmann
Semester die Gelegenheit geben sollte, sich zu formuliert mit dieser Verweigerung den grund-
den Studierenden in Vorlesungen über eine von sätzlichen Einwand gegen eine Form von Wissen-
ihm selbst zu stellende Frage der zeitgenössi- schaft, die nur mehr um sich selbst kreist und den
schen Literatur theoretisch darstellend zu äußern Bezug zur Wirklichkeit aus den Augen verloren
und sich ihnen in Seminaren an Hand eines hat. Was sie von ihrem diskurserprobten Publi-
bestimmten Gegenstandes im Gespräch zu stel- kum einfordert, dem die Rede über Wirklichkeit,
len« (Viebrock, S. 288). Ingeborg Bachmann, die Erfahrung, Schuld und Moral im Zusammenhang
als erste Dozentin nach Frankfurt berufen wird, mit Literatur zunächst naiv erscheinen muß, ist
versucht diesen Anforderungen gerecht zu wer- eine neue Ernsthaftigkeit im Umgang mit der
den (Schlosser, S. 296ff.) und setzt zugleich Maß- Literatur und ihren Wirkungsmöglichkeiten. Der
stäbe für die nachfolgenden Autorinnen und Au- neopositivistische Begriff der »Scheinfragen«
toren. »Die Abgrenzung vom Ästhetizismus, die (Swiderska 1989, S. 40), den Bachmann in den
utopische Wirkungsabsicht, das Begehen unver- Titel ihrer ersten Vorlesung aufnimmt, weist die-
trauten Geländes, die Traumdimension der Lite- ses Bemühen als ein programmatisches aus.
ratur, die Vorstellung, die eigene Zeit repräsen- In der zweiten Vorlesung begründet Bachmann
tieren zu müssen, der Versuch, […] in der Welt ihre Absage an eine ästhetizistische Kunstaus-
nach Auschwitz nicht die Sprache zu verlieren: all übung und wendet sich – im Anschluß an Roland
diese Aspekte werden in der Folge von anderen Barthes, wie Weigel vermutet (Weigel 1984,
Autorinnen und Autoren aufgegriffen und weiter- S. 64 f.) – dezidiert von jeder Form der Genieäs-
gedacht.« (Lützeler, S. 8f.) thetik ab. Die ›reinen Kunsthimmel‹ des George-
Dem Ausschreibungstext zunächst scheinbar Kreises erscheinen ihr dabei ebenso problema-
zuwiderlaufend, setzt Bachmann sich in ihren tisch wie die l’art pour l’art-Bewegungen des
Frankfurter Vorlesungen allerdings nicht mit zeit- Surrealismus und des Futurismus. Wie schon in
genössischen Autoren, sondern mit kanonisier- der Buchkritik zu Momberts Der himmlische Ze-
ten Autoren der klassischen Moderne ausein- cher bestimmt auch hier die gefährliche Nähe des
ander. Sie greift insbesondere ihre in den Radio- Genies zum ›Herrenmenschen‹ der nationalso-
essays zu den Werken Prousts und Musils zialistischen Ideologie Bachmanns Argumenta-
begonnenen Überlegungen wieder auf und führt tion. »Halten Sie mich nicht für allzu engstirnig,
sie weiter. Nur in ihrer zweiten Vorlesung, der daß ich darauf beharre, auf Schuldfragen in der
Vorlesung »Über Gedichte«, stellt Bachmann – Kunst, und daß ich sie derart in den Vordergrund
und zwar ausschließlich – die Arbeiten lebender rücke. […] Ich halte es für durchaus nicht zufäl-
Autoren vor. Mit ihrer Zurückhaltung im Hin- lig, daß Gottfried Benn und Ezra Pound […], daß
blick auf die übrigen Gattungen einerseits und es für jene beiden Dichter […] nur ein Schritt war
den beispielhaften Zitationen in der Lyrik-Vorle- aus dem reinen Kunsthimmel zur Anbiederung
sung andererseits versucht sie, so ist anzuneh- mit der Barbarei.« (W 4, 206) Daß Bachmann sich
men, selbst zur Kanonisierung von ihr geschätz- der Frage nach dem Zusammenhang von Lite-
ter Autorinnen und Autoren beizutragen. Zum ratur und Moral ausgerechnet in ihrer zweiten
Zeitpunkt der Frankfurter Vorlesungen kann sie Vorlesung über Gedichte – über jene Gattung
darauf vertrauen, daß ihr, die bereits mit zwei also, die gemeinhin als ›apolitisch‹ gilt – zu-
herausragenden Gedichtbänden einige Berühmt- wendet, ist bedeutsam vor dem Hintergrund von
heit erlangt hat, als einer Autorität Gehör ge- Adornos Diktum, nach Auschwitz könne kein
schenkt werden wird. Gedicht mehr geschrieben werden (Adorno 1998,
Den vermuteten Erwartungen ihres akademi- S. 30). Es macht die Voraussetzung deutlich, un-
schen Publikums verweigert sich Bachmann ter der die bis zu diesem Zeitpunkt als Lyrike-
gleich zu Beginn der Veranstaltungsreihe pro- rin in Erscheinung getretene Autorin in den
grammatisch. Sie macht deutlich, daß sich ihre Frankfurter Vorlesungen über Literatur spricht:
Vorlesungen grundlegend von herkömmlichen Auch die lyrische Sprache muß sich angesichts
unterscheiden werden, in denen »die Rettungs- dieser Erfahrungen vom Leiden herschreiben
ringe bereit gemacht [sind] – einfühlsame Inter- und die Lesenden verstören. Kafka zitierend,
198 II. Das Werk

fordert Bachmann: »Ein Buch muß die Axt sein der Moderne niederschlägt. »Die erste Verände-
für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.« rung, die das Ich erfahren hat, ist, daß es sich
(W 4, 211) Im Unterschied zur Literatur vor 1945 nicht mehr in der Geschichte aufhält, sondern
aber muß die Leidensgenese von Literatur nun daß sich neuerdings die Geschichte im Ich auf-
auch als eine ethische Forderung formuliert hält. Das heißt: nur so lange das Ich selber unbe-
werden. fragt blieb, solange man ihm zutraute, daß es
Bachmanns Rede vom »inwendigen Fassungs- seine Geschichte zu erzählen verstünde, war auch
vermögen« (W 4, 200), das sie dem Gedicht in die Geschichte von ihm garantiert und war es
ihrer zweiten Vorlesung zuschreibt, ist einer jener selbst als Person mitgarantiert.« (W 4, 230) Die
Begriffe, die in den Frankfurter Vorlesungen hel- Erzählung Das dreißigste Jahr spielt diese Pro-
fen sollen, das schwierige Verhältnis von Wirk- blematik der Ich-Identität durch, wenn sie den
lichkeit und Literatur genauer zu beschreiben. grundlegenden Zweifeln an einem zusammen-
Gedichte, so heißt es in der zweiten Vorlesung, hängenden, mit sich selbst identischen Ich Aus-
können nicht übersetzt werden, denn: »Wo sie druck verleiht. Diesen Reflexionen entspricht die
neue Fassungskraft haben, ist die so inwendig in rhetorische Gestaltung der Frankfurter Vorlesun-
der jeweiligen Sprache und manifestiert sich gen insgesamt: »Die Rednerin changiert zwi-
nicht auch im Auswendigen, wie in Romanen, in schen der Position des Wir, des Ich und des
Theaterstücken.« (W 4, 200 f.) Die dichterische Schriftstellers. Sie zählt sich also zu denen, die in
Sprache erweitert die Möglichkeiten des Men- der Sprache verfangen sind, sie ist diejenige,
schen, sich anderen, allererst aber sich selbst welche in der Redeposition diese Verfangenheit
verständlich zu machen und seine Erfahrungen in reflektiert, und sie entfaltet zugleich die Möglich-
Sprache zu übersetzen. Im (Prosa-) Spätwerk keit eines dichterischen Sprachzugangs.« (Gut-
kann dieser inwendigen Bedrängnis allerdings jahr, S. 303)
nicht mehr – wie noch in den Frankfurter Vor- Die Frage der Geschlechtszugehörigkeit spielt,
lesungen und in den ein Jahr danach veröffent- wie in der Forschung zu recht angemerkt wurde
lichten Erzählungen Das dreißigste Jahr – mit (von der Lühe, S. 581), bei der Behandlung der
›dem Wort‹ begegnet werden. Nur mehr in einer Ich-Problematik in den Frankfurter Vorlesungen
›auswendigen Umschreibung‹ kann auf sie ver- noch keine Rolle. In einigen Erzählungen des
wiesen werden. Daß jedoch neben dem Glauben Erzählbandes Das dreißigste Jahr kommt dieser
an die ›andere Sprache‹, wie sie noch den ersten Frage hingegen bereits ein ganz entscheidendes
Erzählband auszeichnet, bereits die Sprachskep- Gewicht zu, insbesondere in den Erzählungen
sis des Spätwerks vorbereitet ist, dafür spricht die Ein Schritt nach Gomorrha und Undine geht.
hier schon vorgenommene Unterscheidung zwi- Es läßt sich daher vermuten, daß Bachmann
schen der ›inwendigen Sprache‹ der Lyrik und die Differenz zwischen weiblichem und männ-
der ›auswendigen Sprache‹ der Prosa. In ihrer lichem Ich in ihren poetischen Texten zwar für
dritten Vorlesung führt Bachmann diese Über- darstellungswürdig hielt, sie zum Zeitpunkt der
legungen im Hinblick auf die Prosa – und hier: Frankfurter Vorlesungen für ihre poetologischen
ganz überwiegend auf den modernen Roman als Erwägungen jedoch als noch nicht wesentlich
Inbegriff des Prosatextes bezogen – weiter aus; erachtete. Erst in den Fragmenten des unvoll-
obgleich sie in den Frankfurter Vorlesungen auf endeten Franza-Romans wird Bachmann das
einige Theatertexte, insbesondere auf die Beck- (Er-)Finden der männlichen Erzählerfigur
etts, Bezug nimmt, interessiert sie das Drama als ebenso mit der Geschlechter- wie mit der Krank-
eine eigene Gattung offenkundig kaum. Vor dem heitsthematik verknüpfen.
Hintergrund der Sprachproblematik ist in diesem Bleibt die Frage nach der Erzählperspektive bis
Zusammenhang allein die Differenz zwischen ins Spätwerk hinein virulent, so ist jene nach den
der Lyrik als dem Sinnbild einer ›anderen Spra- spezifisch dichterischen Möglichkeiten der Spra-
che‹ und allen übrigen Gattungen und Textsorten che eher Kennzeichen der frühen poetologischen
entscheidend. Arbeiten Bachmanns. Die Überlegungen, die
Die dritte Vorlesung widmet Bachmann dem Bachmann in diesem Zusammenhang in den
Verhältnis des seiner selbst ungewiß gewordenen Frankfurter Vorlesungen anstellt, belegen den
Ich zur Geschichte, so wie es sich in der Literatur entscheidenden Eindruck, den die Walter Benja-
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 199

min-Lektüre in ihrem Werk hinterlassen hat. Begriff von Utopie, der in den Frankfurter Vor-
Dies gilt insbesondere für die vierte der Frank- lesungen poetische und poetologische Rede sol-
furter Vorlesungen, in der Bachmann auf ähnliche cherart miteinander verknüpft, daß eine morali-
Weise wie in ihrem kurzen Text [Zur Entstehung sche Tendenz im Sinne der Musilschen Utopie
des Titels ›In Apulien‹] über das auratische Strah- der ›induktiven Gesinnung‹ erkennbar wird, »ein
len von Namen und Orten in der Literatur um Erkenntnis ringendes Denken; auch die Rea-
spricht. »Weil der Dichtung in Glücksfällen Na- lität ist nur als eine Richtung zu bezeichnen und
men gelungen sind und die Taufe möglich war, ist nur durch Sprache erreichbar« (Świderska 1989,
für Schriftsteller das Namensproblem und die S. 41; vgl. Bartsch 1988, S. 24ff.).
Namensfrage etwas sehr Bewegendes, und zwar Die Frankfurter Vorlesungen markieren Bach-
nicht nur in bezug auf Gestalten, sondern auch manns stärkere Hinwendung zur Prosa; nach
auf Orte, auf Straßen, die auf dieser außerordent- 1960 hat Bachmann nur noch wenige Gedichte
lichen Landkarte eingetragen werden müssen, in veröffentlicht. Diese Entscheidung für die Prosa
diesen Atlas, den nur die Literatur sichtbar ist verstanden worden als ein Versuch, die insbe-
macht.« (W 2, 239) Entsprechend hatte Benjamin sondere in der zweiten Vorlesung beschriebene
in seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und Gefahr einer ästhetizistischen Kunstauffassung
über die Sprache des Menschen« zur Natur des zu meiden, die in der »zur Perfektion getriebenen
Namens formuliert: »Der Name ist dasjenige, lyrischen Sprache« liege (Bürger, S. 19 f.). Die
durch das sich nichts mehr, und in dem die positiven Beispiele aus der zeitgenössischen Ly-
Sprache selbst und absolut sich mitteilt. Im Na- rik, die Bachmann gerade in ihrer zweiten Vorle-
men ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die sung gegen einen solchen Ästhetizismus anführt,
Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mittei- zeigen jedoch, daß diese um Vereindeutigung
lung die Sprache selbst in ihrer absoluten Ganz- bemühte Auffassung zu kurz greift; eine grund-
heit ist, da allein gibt es den Namen, und da gibt sätzliche Abkehr von der utopischen Qualität der
es den Namen allein.« (Benjamin, S. 144) Es ist lyrischen Sprache findet sich – wie es ihre Rede
das Verdienst Tanja Schmidts (1989), im Hinblick zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises ein
auf das Bachmannsche Spätwerk erstmals auf die letztes Mal eindrücklich belegt – in Bachmanns
Spuren der Benjamin-Lektüre aufmerksam ge- poetologischem Werk nicht.
macht zu haben. Seither haben eine ganze Reihe In der Forschung sind die Frankfurter Vor-
von Untersuchungen der Bachmann-Forschung, lesungen zumeist nicht als ein zusammenhängen-
insbesondere die Arbeiten von Sigrid Weigel, der Text betrachtet, sondern für die Klärung ein-
ihre Befunde bestätigt und um Benjamin-Bezüge zelner Fragestellungen herangezogen worden,
im Frühwerk ergänzt. die sich in der Auseinandersetzung mit Bach-
Als die kunstvolle Inszenierung der gegebenen manns künstlerischer Prosa ergeben. Einer sol-
Sprache erhält die Literatur – sinnbildlich in der chen Betrachtungsweise erschließen sich jedoch
lyrischen Sprache – für die ›eigentliche Sprache‹ weder der Aufbau und die Rhetorik der Frank-
Statthalterfunktion. Hierin knüpft Bachmann furter Vorlesungen – also ihre poetische Qualität –
wiederum an Adorno an ( Świderska 1989, Gut- noch ihre Bedeutsamkeit als eigenständiger Bei-
jahr), den sie in der Zeit ihrer Vorlesungsreihe in trag über die Literatur des 20. Jahrhunderts.
Frankfurt auch persönlich kennenlernt. Zugleich Irmela von der Lühes (1989) und Ortrud Gutjahrs
schlägt sie wieder den Bogen zurück zu ihrer (1993) Darstellungen der Frankfurter Vorlesun-
ersten Vorlesung, in der sie auf dem Zusammen- gen hingegen würdigen die fünf Texte als zusam-
hang von Wirklichkeit und Literatur, auf der mengehörige und stellen dabei das Moment des
Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhält- Inszenatorischen und Rhetorischen ins Zentrum
nisse durch die Literatur so nachdrücklich be- ihrer Ausführungen. Beide Deutungen lesen die
standen hatte. Sie erweitert Adornos gesell- Frankfurter Vorlesungen als einen kunstvollen,
schaftspolitisch akzentuierte Rede vom Künstler auf seine eigene Deutungsbedürftigkeit aufmerk-
als dem »Statthalter des gesellschaftlichen Ge- sam machenden, poetischen Text. Nicht im Wi-
samtsubjekts« (Adorno 1958, S. 194) um eine lite- derspruch zu diesen beiden Interpretationen,
rarische Dimension. Im Anschluß an Musils ›es- sondern diese um einen wesentlichen Aspekt er-
sayistische Existenz‹ entwickelt Bachmann einen gänzend, sollten Bachmanns Frankfurter Vorle-
200 II. Das Werk

sungen jedoch ebenso in ihrer poetischen und auf außerliterarische Kriterien zulaufen läßt. So
poetologischen wie in ihrer literaturwissenschaft- formuliert sie etwa in ihrer Besprechung der
lichen und -didaktischen Qualität gewürdigt wer- Glasglocke Sylvia Plaths: »wenn jemand etwas zu
den. Denn sie präsentieren sich allererst nicht als erzählen hat und so wenig Zeit hat, darüber
interpretationsbedürftige, sondern als interpretie- nachzudenken, scheint es von selbst zu geraten,
rende, erfolgreich um Allgemeinverständlichkeit und der Dringlichkeit sind alle bloßen Kunst-
bemühte Ausführungen zu grundlegenden Fra- fragen untergeordnet, ohne daß etwas andres
gen der Literaturwissenschaft. Bachmanns würde als Kunst, und nicht die Schablone des
Frankfurter Vorlesungen bieten damit auch eine Kunstabenteuers, der Exhibition, des Verrats und
beispielhaft betriebene Literaturwissenschaft des Selbstbetrugs […].« (Bachmann 2000a,
und -didaxe, die in ihre »theoretische Umsorge« S. 182) Und ihre Ausführungen zu Witold Gom-
(W 4, 193) nicht nur die eigenen poetologischen browicz münden in die Feststellung: »[…] –
›Problemkonstanten‹ (W 4, 193), sondern auch wenn ich denken muß und darf an jemand, dann
die Werke anderer Autorinnen und Autoren ein- würde mir zu G. immer einfallen, daß er ein Herz
schließt. Somit gilt Bachmanns Verweigerungs- hatte. Er war darum wohl auch ein sehr großer
haltung zu Beginn der Frankfurter Vorlesungen Schriftsteller.« (W 4, 330) Diese Kriterien, an
nicht der Wissenschaft schlechthin. Sie gilt viel- denen sich ihre Literaturkritik orientiert, sind in
mehr einer sich als ›avanciert‹ verstehenden Li- den Frankfurter Vorlesungen vorgezeichnet;
teraturwissenschaft, die nicht nur gern vom ›Tod Bachmann hält auch im Spätwerk an ihnen fest.
des Autors‹ spricht, sondern die sich auch vor- Sie sind nun jedoch ergänzt um eine Poetologie,
zugsweise am liebsten gleich mit toten Autoren die der Krankheitsthematik und dem (Ver-)
beschäftigt. Demgegenüber zeigt Bachmann in Schweigen einen zentralen Stellenwert zu-
ihren Frankfurter Vorlesungen eine Form der Li- schreibt. Ebenso wie Bachmann sich in ihren
teraturbetrachtung auf, die auf der ›Lebendig- frühen Radioessays mit Autorinnen und Autoren
keit‹ von toten wie lebenden Autoren besteht, auf auseinandersetzt, die um ihre eigenen poetologi-
ihren Erfahrungen, ihrem Leiden und ihren schen Fragen nach Utopie und Sprache kreisen,
›Stürzen ins Schweigen‹ – und die sich damit so handeln die Werke, die sie in ihren letzten
zugleich gegen die zynische Verabschiedung wen- Jahren bespricht, von Krankheit und Mord – oder
det, die in der Rede vom ›Tod des Autors‹ stets sie werden von ihr zumindest darauf ›hinge-
mit enthalten ist. lesen‹. So erkennt Bachmann etwa in der Verdi-
Oper Otello, wie schon der Komponist selbst,
nicht Othello, sondern Jago als die zentrale Figur
Literaturkritik der 1960er Jahre
– und zwar einen Jago, der mit Franzas Mann,
Bachmanns späte literaturkritische Essays über dem sadistischen Psychiater Leo Jordan, viel ge-
Witold Gombrowicz, Georg Groddeck, Leo Lip- mein hat. »Die anderen sind die Menschen, un-
ski, Sylvia Plath, Thomas Bernhard, Guiseppe zulänglich, mitleiderregend, krank, dumm,
Ungaretti und Bertolt Brecht entstehen nach dem blind, aber Jago ist erhaben in seiner Furcht-
Konzeptionswandel des Todesarten-Projekts in barkeit, er versucht die andren zutod.« (W 4,
der Zeit zwischen Ende 1966 und 1970. Sie blei- 345)
ben zu Lebzeiten Bachmanns unveröffentlicht, Bachmanns im Frühjahr 1970 (Weigel 1999,
obgleich zwei größere Essays – der über Grod- S. 454) niedergelegte Erinnerungen an den polni-
deck anläßlich der Neuauflage seiner »Psycho- schen Dichter Witold Gombrowicz beschreiben
analytischen Schriften zur Psychosomatik« und die Qualität eines sprachlosen Einverständnisses,
der über Lipskis Roman Piotru š – ursprünglich das sich gemeinschaftlich den unaussprechlichen
zur Veröffentlichung vorgesehen waren, aus un- Zumutungen der alltagssprachlichen Umwelt
bekannten Gründen jedoch nicht fertiggestellt entgegensetzt: »[…] er sagte etwas Fürchterli-
wurden. ches, wir standen beide auf und zahlten sofort
In ihren Spätschriften folgt Bachmann dem in und gingen.« (W 4, 327) Die beiden Autoren
Ein Ort für Zufälle beschriebenen ›Umweg‹ der lernen sich als Stipendiaten der Ford Foundation
Kunst über die Kunstlosigkeit, wenn sie ihre im Frühjahr 1963 in Berlin kennen und freunden
literaturkritischen Betrachtungen immer wieder sich an. Persönliche Dinge kommen jedoch zwi-
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 201

schen ihnen nicht zur Sprache. Nur im wortlosen ten Groddecks trifft Bachmann auf Überlegun-
Gelächter geben sie sich in ihrem Verlorensein gen, wie sie sie auch in ihrem Romanentwurf Das
und mit ihren ›Krankheiten‹ einander zu erken- Buch Franza entwickelt: Die eigene Körperspra-
nen. »Am Ende sagte er, wir, Sie und ich und die che kann von der kranken Franza selbst nicht
andren, wir werden einen kollektiven Selbst- ›gelesen‹ werden, und der weibliche Körper wird
mord begehen, und den wird die arme Ford zum Symptom einer umfassenden gesellschaft-
Foundation auch noch bezahlen müssen. Darüber lichen Störung. Den Groddeckschen Gedanken
haben wir länger geredet und gelacht, aber es war dagegen, daß die Hervorbringung der Krankheit
[nichts] zum Lachen dabei, denn im Grund der Produktion eines Kunstwerks gleichkommt,
wußten wir beide, daß wir es vielleicht tun greift Bachmann in einer ihrer späten und dem
würden. Wenn auch nicht mehr auf Kosten der Andenken Georg Groddecks gewidmeten Erzäh-
Ford Foundation.« (W 4, 327 f.) Im Gelächter lung wieder auf: In Ihr glücklichen Augen weigert
eröffnet sich Bachmann schließlich auch der Ein- sich die Protagonistin Miranda, eine Brille zu
blick in das eigentliche Wesen Gombrowiczs, der tragen, und malt sich stattdessen lieber die häß-
sie in einem unangenehmen Gespräch so lange liche Wirklichkeit zu einem ›schönen‹ Bild um.
peinigt, bis sie in Tränen ausbricht, der ihre Mit den Begriffen der Selektion und der Klassi-
Verletztheit dann aber nicht zu ertragen vermag. fizierung wählt Bachmann zur Beschreibung der
Bachmann zeichnet Gombrowicz als einen Men- Freudschen Verdienste um die Psychoanalyse
schen, dessen bewußter Wille zur Zerstörung Formulierungen, die an den nationalsozialisti-
gegen eine ›tiefer liegende‹, unbewußte Güte schen Sprachgebrauch angelehnt sind. »Grod-
machtlos ist. Damit rückt sie ihn in die Nähe der deck hatte es nicht mit ›Nervenkrankheiten‹ zu
Musilschen Heiligen, so wie Ulrichs Schwester tun, die Freud selektiert und klassifiziert, und mit
Agathe sie einst charakterisiert hatte: »Das Was- der Schaffung der Neurosenlehre und seiner
ser ist geflossen, und was der Heilige tat, kam Analyse, er war ein gewöhnlicher Arzt […].«
auch so über den Rand geflossen, als wäre er ein (ebd., S. 165) Das Freudsche Verfahren, so legt es
nach allen Richtungen sacht überströmendes die von Bachmann verwendete Terminologie
Brunnenbecken. So, denke ich, müßte man sein, nahe, eröffnet die Möglichkeit einer ›faschisti-
dann täte man immer recht, und es wäre doch schen‹ Ausübung der ärztlichen Tätigkeit – wie
völlig gleichgültig, was man täte.« (Musil, etwa Leo Jordan sie im Buch Franza praktiziert.
S. 744) Im Unterschied dazu wird Groddeck als ein
Bachmanns 1967 ursprünglich für den »Spie- Mensch beschrieben, der 1933 aufgrund seines
gel« vorgesehene Rezension der Schriften Georg Engagements gegen die Judenvernichtung
Groddecks (W 4, 399) konkretisiert und erläutert Deutschland verlassen mußte (zur Korrektur die-
ihr neu erwachtes Interesse an jenem Unbewuß- ser Einschätzung siehe Kommentar ebd.,
ten, das sich nicht alltagssprachlich artikuliert, S. 212).
sondern das sich in Gesten und körperlichen Bachmanns Rezension des Romans Piotru š von
Symptomen äußert. Den »Vorläufer der Psycho- Leo Lipski aus dem Frühsommer 1967 kontra-
somatik« (Bachmann 2000a, S. 164) charakteri- stiert entschieden mit den Vorwürfen, insbeson-
siert Bachmann dabei im Unterschied zu dem dere dem der Pornografie, die gegen den Roman
begrifflich klareren und theoretisch überlegenen erhoben wurden und gegen die Bachmann ihn in
Freud als einen zwar widersprüchlichen und ge- Schutz nimmt. Sie liest den Roman als ein Doku-
legentlich diffusen, in seinem Grundgedanken ment des Leidens nach Auschwitz. Damit fließen
jedoch überzeugend(er)en Wissenschaftler. zentrale Themen des Bachmannschen Spät-
»Groddecks erste und kühnste Vermutung hat werks, sowohl die Frage nach den Erscheinungs-
sich als richtig erwiesen, es gibt keine Krankheit, formen dieses Leidens wie die Frage nach seinen
die nicht vom Kranken produziert wird, auch Darstellungsmöglichkeiten im beredten Ver-
kein Beinbruch, kein Nierenstein. Es ist eine schweigen, in die Besprechung ein. Die Rezen-
Produktion wie eine künstlerische, und Krank- sion erfolgt in drei Arbeitsphasen. Zunächst legt
heit bedeutet etwas. […] Sie sagt das, was der Bachmann den Schwerpunkt ihrer Ausführungen
Kranke nicht versteht, obwohl sie sein eigenster auf die Sprachproblematik, auf die Frage, wie das
Ausdruck ist […].« (ebd., S. 165 f.) In den Schrif- »Maximum an Exil« auszudrücken ist, das dem
202 II. Das Werk

Protagonisten des Romans – einem Krüppel, der meist kurzen, nicht mehr als eine Seite umfassen-
Auschwitz überlebt hat und nun in Israel nicht den Entwürfen. Der Belanglosigkeit der Bern-
heimisch werden kann – widerfährt. In der zwei- hardschen Gedichte stellt Bachmann seine Prosa
ten Phase verlagert sich der Fokus auf die persön- gegenüber, die sich nicht in »Buchstabenexpe-
liche Betroffenheit der Rezensentin beim Lesen. rimenten« (Bachmann 2000a, S. 186) verliere,
Programmatisch wird sie solcherart ins Zentrum sondern die den Wörtern ihre Bedeutung zurück-
gerückt, daß dabei die Frage nach der literari- gebe und das nicht Darstellbare umkreise. Bern-
schen Qualität in den Hintergrund treten muß. hards Prosastücke, schreibt Bachmann, »sind von
»Ob es ein gutes Buch ist. Ich weiß es nicht einer so fürchterlichen Eindringlichkeit, so kon-
mehr.« (Bachmann 2000a, S. 174) Bachmann cha- gruent, und mehr noch mit dem, was nicht mehr
rakterisiert Lipskis Roman als ein »Untergangs- darstellbar ist – in dessen Sog es geschrieben
buch, nicht weil dort etwas untergeht, sondern wird. Diese Prosa ist so wenig pathologisch, von
weil in einzelnen etwas untergeht, was die and- solcher Genauigkeit und Beherrschtheit 〈〉« (ebd.,
ren noch eine Weile betreiben, Leben, Politik, S. 184). Die geistige Verwandtschaft beider Au-
Lieben, Essen, Schlafen« (ebd., S. 175). In der toren zeigt sich insbesondere in den Zitaten, die
dritten Arbeitsphase führt Bachmann diese Über- Bachmann für ihre Rezension auswählt. Darin ist
legungen aus, wenn sie es als ein »Niemands- die Rede von den ›zu kurzen Kleidern‹, in denen
landbuch« bezeichnet, in dem ein »privates Gol- die Menschen herumlaufen, »die ein Betrug sind,
gatha«, das Leiden nach Auschwitz beschrieben weil sie zu kurz sind, zu eng sind, zu schlecht
ist (ebd., S. 177) – und in dem doch nie das Wort sind« (ebd., S. 187). Ähnlich formuliert Bach-
Auschwitz fällt. mann in ihrem undatierten Entwurf [Jede Jugend
Die Besprechung des Romans Die Glasglocke ist die dümmste]: »Wir haben nicht gelebt. Wir
von Sylvia Plath entsteht nach der Veröffentli- haben uns keine Federn angesteckt, wir sind
chung der ersten deutschen Übersetzung Anfang nicht jeden Tag vor Glück umgesunken, wir ha-
1969. Aufschlußreich ist insbesondere die Defini- ben, in den falschen Häusern, in den verdrehten
tion des Autobiographischen, die Bachmann hier Kleidern, in den schmerzenden Schuhen, in dem
vornimmt – und die bereits vorausweist auf ihre starren Dreck, die Luft, verunreinigt von Ab-
eigene Konzeption eines autobiographischen gasen und Gedankenlosigkeiten, eingeatmet.«
Schreibens, wie sie es in ihrer »geistigen Autobio- (W 4, 334) Neben den poetologischen Überein-
graphie« (GuI, 73), dem zu dieser Zeit noch nicht stimmungen, wie sie in der Rezension zum Aus-
beendeten Roman Malina, vorführt. Die Glas- druck kommen, findet sich eine Vielfalt von lite-
glocke sei, so schreibt Bachmann, »autobiogra- rarischen Korrespondenzen zwischen den Wer-
phisch in dem Sinn, in dem die geistige Figur ken Bernhards und Bachmanns (vgl. Hoell
einer denkenden, zerfallenden, geschlagenen 2000).
und zerstörten Kreatur einzig interessant und Von Bachmanns Berichten über ihre Begeg-
mitreißend an einem anderen sein kann« (Bach- nungen mit Guiseppe Ungaretti, dessen Gedichte
mann 2000a, S. 181). Wieder handelt es sich um sie ins Deutsche übertragen hatte, entsteht der
ein Buch von der »Hölle« (ebd., S. 183), wieder erste Teil zwischen November 1966 und vor An-
um einen Krankenbericht. Ist auch die Krankheit fang 1969, den zweiten Teil schreibt Bachmann in
mit Groddeck als eine künstlerische Produktion der Zeit nach Ungarettis Tod im Juni 1970. Sein
des Kranken zu verstehen, so rühmt Bachmann Werk, über das sich Bachmann bereits 1961 in
an Plaths Roman die genaue Beschreibung der einem Nachwort zu ihren Übersetzungen geäu-
schrecklichen Wirklichkeit des Krankseins. ßert hatte, steht nun nur vermeintlich nicht mehr
»Nichts ist poetisch an Krankheit, und die großen im Zentrum ihrer Erinnerungen. Bachmann be-
Kranken von Dostojewski bis Sylvia Plath wissen richtet von einem Tag, den sie, von Schmerzen
es, die Krankheit ist das schlechthin Entsetzliche, gequält, in der schützenden Obhut Ungarettis
es ist etwas mit tödlichem Ausgang.« (ebd., verbringt. Am Ende dieses Zusammenseins gibt
S. 182) er ihr vier Glücksbringer mit auf den Weg, die sie
Das überlieferte Material zum Werk Thomas nur deshalb annehmen kann, weil sie gerade
Bernhards entstand nach dem Erscheinen von nicht als eine unmittelbare Hilfeleistung gemeint
Watten. Ein Nachlaß 1969 und besteht aus zu- sind. Denn wichtiger als anderen zu helfen, so
Literaturkritische Essays und Frankfurter Vorlesungen 203

meint Bachmann, sei es Ungaretti immer ge- Quellen: Theodor W. Adorno (1958): Noten zur Lite-
wesen, »einen Satz zu schreiben oder Blakes ratur I. Frankfurt/M.; – Theodor W. Adorno (1998):
Kulturkritik und Gesellschaft I (= Gesammelte Schrif-
Hölle zu beschreiben« (Bachmann 2000a, S. 190).
ten, Bd. 10.1). (Hg.) Rolf Tiedemann. Darmstadt; –
Doch, so formuliert Bachmann: »Wie die Glücks- Walter Benjamin (1977): Über Sprache überhaupt und
bringer umstehen dann die Sätze jemand, und über die Sprache des Menschen. In: Benjamin: Ge-
das ist Hilfe.« (ebd.) Wieder erweist sich als das sammelte Schriften II.1. (Hg.) Rolf Tiedemann und
Zentrum auch dieses ›Erlebnisberichts‹ das Lei- Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M., S. 140–
den. Zwar kann von ihm nicht gesprochen wer- 157; – Robert Musil (1978): Der Mann ohne Eigen-
schaften. (Hg.) Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg; –
den, doch die Sätze ›umstehen‹ es ebenso hilf-
Arthur Rimbaud (1988): Das poetische Werk. Aus dem
reich und möglicherweise trostspendend wie die Französischen von Hans Therre und Rainer G.
Glücksbringer Ungarettis den leidenden Men- Schmidt. München.
schen.
Literatur: Agnese (1996); Bannasch (1995); Bareiss/
Im Jahr 1969 plant Bachmann, eine Anthologie Ohloff (1978); Briegleb (1997); Hoell (2000); Höller
mit Gedichten Brechts herauszugeben, zu diesem (1987); Kaiser (1993); Mechtenberg (1978); Świderska
Anlaß verfaßt sie den Text [Bertolt Brecht: Vor- (1989); Weigel (1984); Weigel (1999).
wort zu einer Gedichtanthologie]. Gegen Brechts Kurt Bartsch (1980): »Ein nach vorn geöffnetes Reich
in seinen theatertheoretischen Schriften immer von unbekannten Grenzen.« Zur Bedeutung Musils für
Ingeborg Bachmanns Literaturauffassung. In: Robert
wieder erhobene Forderung, daß das Theater in
Musil. Untersuchungen. (Hg.) Uwe Baur, Elisabeth Ca-
ein unterhaltsames Raucherzimmer umzuwan- stex. Königstein/Ts., S. 162–169; – Kurt Bartsch (1988):
deln sei – in dem sozusagen nur ganz ›nebenbei‹ Ingeborg Bachmann. Stuttgart; – Christa Bürger (1984):
gelernt werde –, verbannt Bachmann den didak- Ich und wir. Ingeborg Bachmanns Austritt aus der äs-
tischen Brecht zwar nicht in die Schule und in die thetischen Moderne. In: Text + Kritik (1984), S. 7–27; –
Schullektüre, weist sein ›Raucherzimmer‹ jedoch Ortrud Gutjahr (1993): Rhetorik und Literatur. Inge-
borg Bachmanns Poetik-Entwurf. In: Göttsche/Ohl
als ein zur ›schulischen Anstalt‹ umfunktionier-
(1993), S. 299–314; – Joachim Hoell (2001): Ingeborg
tes Theater aus. Nicht dieser Brecht aber, son- Bachmann. München; – Paul Michael Lützeler (1994):
dern der andere Brecht, der Brecht ohne den Einleitung: Poetikvorlesungen und Postmoderne. In:
belehrenden »Brecht-Ton« (W 4, 365), der Ver- Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschspachigen Ge-
fasser einiger ausgewählter Gedichte, ist der von genwartsliteratur. (Hg.) Lützeler. Frankfurt/M., S. 7–
ihr bevorzugte. Denn anders als der didaktische 19; – Thomas Pekar (1989): Die Sprache der Liebe bei
Robert Musil. München; – Arno Rußegger (1993):
Brecht läßt dieser sich weder als sozialistischer
Halbe Sätze. Ein Vergleich literarischer Verfahrenswei-
Staatsdichter ideologisch funktionalisieren, noch sen bei Robert Musil und Ingeborg Bachmann. In:
kann er für die privaten Zwecke schöngeistiger Göttsche/Ohl (1993), S. 315–327; – Horst Dieter
Erbauung genutzt werden. Damit aber erfüllt er Schlosser (1988): Schriftsteller als Vermittler. In: Poe-
die Voraussetzungen eines einsamen Dichter- tik. Essays über Ingeborg Bachmann et al. und andere
tums, das sich allein in den ›Werken selbst‹ und Beiträge zu den Frankfurter Vorlesungen. (Hg.) Horst
Dieter Schlosser, Hans Dieter Zimmermann. Frank-
nur dem Einzelnen mitteilt. »Ich glaube, er hat
furt/M., S. 295–305; – Tanja Schmidt (1989): Berau-
kein Publikum. Er ist so fremd wie Hölderlin, bung des Eigenen. Zur Darstellung geschichtlicher Er-
und sein Pathos, das von mir bewunderte Pathos, fahrung im Erzählzyklus Simultan von Ingeborg Bach-
den großen Ton, versteht es auch nicht. Sieh jene mann [1986]. In: Koschel/von Weidenbaum (1989),
Kraniche, und, wer es hinwegfegen wird, der S. 479–502; – Helmut Viebrock (1988): Dichter auf dem
Wind.« (W 4, 366 f.) Die Qualität des Pathos, so Lehrstuhl. In: Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann
et al. und andere Beiträge zu den Frankfurter Vor-
entwickelt Bachmann hier noch einmal einen
lesungen. (Hg.) Horst Dieter Schlosser, Hans Dieter
ihrer poetologischen Grundgedanken, liegt Zimmermann. Frankfurt/M., S. 288–294; – Irmela von
darin, daß es in seiner sprachlichen Gestalt die der Lühe (1989): »Ich ohne Gewähr«. Ingeborg Bach-
Herkunft des Werks aus der Leiderfahrung zu manns Frankfurter Vorlesungen zur Poetik [1982]. In:
erkennen gibt, zugleich aber mit seinem »großen Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 569–599.
Ton« über die sprachliche Kraft verfügt, jenseits Bettina Bannasch
der alltäglichen Phrasen seine Worte zu setzen.
204

8. Übersetzungen
›Übersetzen als Menschenrecht‹ Hörspiele: Übersetzungen und Funk-
einrichtungen
Ȇbersetzen ist die erste Pflicht, auch wenn sie
nicht in 〈die〉 Charta der Menschenrechte aufge- Ungeachtet dieser grundlegenden poetologi-
nommen ist.« (TKA 4, 17) Ingeborg Bachmann schen Dimension hat Bachmann verhältnismäßig
äußert ihr emphatisches Eintreten für ein solches wenig übersetzt. Zu ihren Lebzeiten wurde ledig-
›Menschenrecht‹ nicht im Zusammenhang mit lich eine Sammlung mit Gedichten des italieni-
einer Übersetzung, sondern in einem Entwurf aus schen Lyrikers Giuseppe Ungaretti publiziert. Im
dem Nachlaß, der ihren Prosaband Simultan be- Nachlaß der Dichterin finden sich zudem noch
gleiten sollte. In diesem Kontext wird das ݆ber- weitere Arbeiten, die jedoch weniger unter dem
setzen‹ auch zu einer metaphorisierenden Be- oben skizzierten Anspruch an die Übersetzertä-
schreibung der Verständigung: Nadja, die Heldin tigkeit, sondern vor allem als Produkte ihrer
der Erzählung, ist Dolmetscherin und wechselt Radioarbeit zu sehen sind. Radiokulturpro-
mühelos zwischen verschiedenen Sprachwelten: gramme waren in den 1950er Jahren für die
Französisch, Englisch, Italienisch, Russisch sind Vermittlung moderner und besonders auch
die Sprachen ihres Alltags. Das Deutsche, »den fremdsprachiger Dichtung ein wichtiger Faktor.
alten Singsang« (TKA 4, 101), wird sie erst im Das Übersetzen gehörte zu den alltäglichen Auf-
Laufe der Erzählung als eigene Sprache wieder- gaben der Redakteure, die sich nicht auf die
entdecken. Dem »seltsame[n] Mechanismus« Produktionen des Buchmarktes verlassen konn-
(TKA 4, 115) des Sprachwechsels ist in der Erzäh- ten. Von dieser Radioarbeit zeugt auch Bach-
lung neben translatorischen Aufgaben auch noch manns Übertragung von Thomas Wolfes Das
eine Form identitätskonstituierender Authentizi- Herrschaftshaus (posthum W 1, 445–512), das,
tät zu eigen. Übersetzen wird »auf dem Weg zu wie auch das bislang unpublizierte Hörspiel Der
einer Verständigung mit dem anderen lebens- schwarze Turm von Louis MacNeice, 1952 im
notwendig« (Dressler, S. 111). Nadjas letzter und Radiosender Rot-Weiß-Rot uraufgeführt wurde
in diesem Sinne erster wirklicher Übersetzungs- (Sendetermine 4. 3. 1952/8. 10. 1952). Zwei wei-
versuch eines Satzes aus der Bibel scheitert dem- tere Manuskripte sind im Nachlaß den Über-
entsprechend: »Ich bin nicht so gut, ich kann setzungen zugeordnet: Unter dem Titel Herren-
nicht alles, ich kann noch immer nicht alles. Sie haus erschien 1953 Peter Sandbergs Übersetzung
hätte den Satz in keine andere Sprache über- von Wolfes Schauspiel. Für den Südwestfunk
setzen können, obwohl sie zu wissen meinte, was (SWF) übernahm Bachmann 1958 die Funkein-
jedes dieser Wort bedeutete und wie es zu wen- richtung einer Hörspielfassung (Sendetermin
den war, aber sie wußte nicht, woraus dieser Satz 7. 1. 1958). Im Oktober des gleichen Jahres pro-
wirklich gemacht war.« (TKA 4, 143) Die meta- duzierte der Sender außerdem ihre Bearbeitung
phorische Bedeutung des ›Übersetzens‹ in der eines Theaterstückes von Albert Camus: Belage-
Erzählung Simultan entspricht einer grundlegen- rungszustand, 1948 in Paris als Schauspiel urauf-
den poetologischen Struktur, die bei der Ausein- geführt, wurde am 31. Oktober 1958 vom SWF in
andersetzung mit den Bachmannschen Überset- der Funkeinrichtung Ingeborg Bachmanns pro-
zungen mitbedacht werden muß. »Ausgangs- duziert (Auskunft SWR-Archiv Baden-Baden).
punkt einer autobiographischen Poetologie in
ihrer übersetzerischen und essayistischen Arbeit«
(Goßens, S. 43) ist dabei immer die Konfronta- Späte Übersetzungen aus dem Italienischen
tion mit dem Anderen.
Während die erste Phase übersetzerischer Arbeit
von den frühen Radioarbeiten geprägt ist, ist ein
zweites Übersetzungskonvolut des Nachlasses
eng mit ihrem Leben in Italien verbunden. Bach-
mann lebte 1953–57 in Ischia, Rom und Neapel,
1959–62 zeitweilig in Rom und ließ sich 1965
Übersetzungen 205

endgültig dort nieder. Italien wird zum sprach- 2000a, S. 191) hin, das sie um 1960 zunächst vor
lichen und sozialen Lebensmittelpunkt der Dich- der Begegnung mit Giuseppe Ungaretti zurück-
terin. Auch die deutschsprachige Kulturland- schrecken ließ. Die späte Erzählung Simultan
schaft nimmt die weiterhin auf deutsch schrei- (1972) zeigt dann jedoch ein multilinguales
bende Bachmann zunehmend in ihrem Sprachprofil, das neben dem Deutschen vor al-
italienischen Umfeld wahr. Der Band »Fazit Rom. lem vom Italienischen geprägt ist.
Das literarische Profil von Rom«, den Gerald
Bisinger und Walter Höllerer 1970 für das ›Lite-
Die Ungaretti-Übersetzung
rarische Colloquium Berlin‹ zusammenstellten,
präsentiert Ingeborg Bachmann als einzige Die Übersetzung der Gedichte Giuseppe Unga-
deutschsprachige Autorin neben der versammel- rettis bedeutet einen (auch auf biographischer
ten italienischen Avantgarde. Ebene) wichtigen Schritt in Bachmanns italieni-
Die 1966 entstandene Übersetzung von fünf schen Assimilationsbemühungen: Durch Unga-
Werbetexten für die Firma Olivetti, die sich im retti wird sie auch in Rom zunehmend Beachtung
Nachlaß erhalten hat, ist sicherlich ein Kuriosum, und Anerkennung finden. Giuseppe Ungaretti
das dieser Situation zu schulden ist. Ob diesen gilt seit den 1920er Jahren als einer der Haupt-
Versuchen jedoch, wie ein dem Nachlaßkonvolut vertreter moderner italienischer Lyrik und wurde
beiliegender Brief des Auftraggebers angekün- seitdem verschiedentlich in Zeitschriften und
digt (N1547), weitere Aufträge gefolgt sind und Anthologien übersetzt (vgl. Dressler sowie Go-
ob die Texte jemals innerhalb einer Werbekampa- ßens, S. 16–51). Seit dem Ende der 1950er Jahre
gne Verwendung fanden, konnte bislang nicht bemühten sich zahlreiche Übersetzer verstärkt
festgestellt werden. Eine Publikation war auch um eine möglichst umfassende Übertragung der
für die Übersetzung eines Essays mit dem Titel Gedichte Ungarettis in die deutsche Sprache:
Fataler Monolog (1969) von Roberto Calasso Verschiedene Übersetzungsprojekte, die häufig
nicht nachweisbar, die sich als Typoskript im auf private Initiative zurückgehen, stellten seine
Nachlaß erhalten hat. Der Germanist und Adel- Gedichte in bibliophilen Ausgaben oder Zeit-
phi-Verleger Calasso, mit dem Bachmann seit schriften vor. Diese frühen Bemühungen fanden
Mitte der 1960er Jahre eng befreundet war, skiz- ihren ersten Höhepunkt nun in der Auswahl In-
ziert in diesem poetisch-historischen Essay die geborg Bachmanns, deren Übersetzung Giuseppe
letzten Turiner Tage des Philosophen Friedrich Ungaretti: Gedichte 1961 als 70. Band in der
Nietzsche. Das Italienische war mittlerweile zur »Bibliothek Suhrkamp« erschien. Gemeinsam
Alltagssprache der Dichterin geworden, die sie mit der 1968 erschienenen Übersetzung der spä-
mit zunehmender Perfektion beherrschte. Ge- ten Gedichte durch Paul Celan steht Bachmanns
rade in dieser Zeit weist Bachmann häufig auf Übersetzung bis heute beinahe synonym für den
ihren vertrauten Umgang mit der italienischen deutschsprachigen Ungaretti und trug entschei-
Sprache seit Kindheitstagen hin: So tritt die To- dend zu jener Prominenz des Italieners in
pographie des Geburtsortes an der »italienisch- Deutschland bei, die andere italienische Her-
jugoslawischen« Grenze neben die Selbstver- metiker wie Eugenio Montale oder Salvatore
ständlichkeit, mit der ihr Vater zwischen dem Quasimodo deutlich übertrifft.
Deutschen und dem Italienischen gewechselt sei: Bachmann möchte mit ihrer Auswahl aus den
»schon für meinen Vater war es selbstverständlich Ungaretti-Gedichten einen Schattenriß der poe-
italienisch zu sprechen, er hat auch gewünscht, tologischen Genese des ›vita d’un uomo‹ geben.
daß ich es lerne« (Bisinger, S. 76). Ihr eigenes Neben 38 Gedichten aus Ungarettis erstem Ge-
Sprachvermögen im Italienischen entwickelte dichtband L’allegria (1919/1942) wählt Bach-
sich allerdings erst allmählich. »Im Laufe ihres mann einige Gedichte aus dem mittleren und
annähernd zwanzig Jahre währenden Aufenthalts späteren Werk des Dichters aus: Auf je sechs
im Land wird sie sich unter Beibehaltung eines Gedichte aus Sentimento del tempo (1936/1943)
gewissen Akzents das Italienische auf hohem Ni- und Il dolore (1947) folgen zwei Gedichte aus
veau anzueignen wissen.« (Hapkemeyer 1990, dem späten Band Il taccuino del vecchio (1960)
S. 63) Noch in einem späteren Entwurf weist sie und abschließend das Finale aus La terra pro-
auf ihr »fehlerhaftes Italienisch« (Bachmann messa (1950). Seine frühen Gedichte haben Un-
206 II. Das Werk

garetti in Italien bekannt gemacht und seinen Verlusterfahrungen immer wieder. Mit der chro-
Ruhm als ›Ahnherr‹ des Hermetismus begrün- nologischen Anordnung der Gedichte folgt Bach-
det. Hier zeichnet sich die frühe Entwicklung des mann einem Ordnungsprinzip Ungarettis und
jungen Dichters ab, der, aus Ägypten kommend, läßt auch die Auswahl als ›Tagebuch‹ des ›vita
sich den Kreisen der französischen Avantgarde d’un uomo‹ erscheinen, in dessen Mittelpunkt
anschließt. Seine ersten Gedichte kommen im- die traumatischen Lebenserfahrungen des Dich-
mer wieder auf die Stationen dieses existentiel- ters stehen. Die konzentrierte Sprachwelt und
len wie poetologischen Werdeganges zurück. Die poetische Realisierung dieser Erfahrungen bilden
Gedichte aus der Kriegszeit, die Ungaretti zu- dabei nur das Gerüst für die »eigene schöne
nächst auf dem Karst, dann an der Champagne- Biographie« (W 1, 618). Für Bachmann ist diese
Front schrieb, zeigen dagegen eine aufs äußerste Rekonstruktion biographischer Elemente ein
verkürzte Form menschlichen Sprechens. In die- wichtiges Anliegen aller großen Dichter, die sie
sem Kontext entstand das Gedicht Mattina – zu den poetischen Vorfahren Ungarettis rechnet.
vielleicht das bekannteste Gedicht Ungarettis, auf Ungarettis Dichtung gleicht damit den Versuchen
jeden Fall eines der kürzesten Gedichte der Welt- Dantes, Petrarcas und Leopardis, »das erste Er-
literatur: »M’illumino / d’immenso«, von Bach- zittern über all das, was sie erfuhren und was
mann als »Ich erleuchte mich / durch Unermeß- ihnen widerfuhr, in die italienische Sprache«
liches« übersetzt (W 1, 514 f., vgl. Hudde). Eine (W 1, 620) zu bringen.
solche sprachliche Kürze und unmittelbare Nüch- Der Erkundungsversuch in einem autobiogra-
ternheit, die zugleich existentielle Grunderfah- phischen Feld verbindet Bachmanns Ungaretti-
rungen menschlichen Seins anspricht, kannte die Auswahl eng mit ihren eigenen literaturtheo-
italienische Literatur bis dahin nicht. Die späte- retischen Reflexionen. Der biographische Blick
ren Gedichte, von denen Bachmann nur wenige gerät zum Prospekt einer autobiographischen
auswählte, werden die Reflexion über mensch- Selbstinszenierung: »Übersetzt Ingeborg Bach-
liche Existenz weiter in den Mittelpunkt rücken, mann Gedichte von Giuseppe Ungaretti, befin-
daneben aber auch die Möglichkeiten einer mo- den wir uns sprachlich mitten im Ausdrucksbe-
dernen Lyrik in ihrem Bezug zu traditionellen reich der Verwundung und Zerstörung, der das
Formelementen (Metrum, Reim), zur Religion semantische und thematische Zentrum ihrer lite-
und zum Mythos vorführen. Auch wenn ihre raturtheoretischen Reflexionen bildet. Es dürfte
äußere Form im italienischen Original den revo- die Affinität zur traumatischen Erfahrung der
lutionären Gestus des Frühwerkes zurücknimmt, geschichtlichen Realität im Krieg sein, die sie zu
erkennt Bachmann hier Ungarettis Versuch, »mit Autoren hinzieht, die sich rückhaltlos den de-
der abgemühten, überladenen und dekorativen struktiven Gesetzen ihrer Zeit aussetzen.« (Höl-
Sprache im italienischen Gedicht« zu brechen (W ler 1987, S. 164) Bachmann möchte ihren Lesern
1, 620). In ihrer Übersetzung wird sie entspre- diese autobiographische Parallele vermitteln und
chend verfahren und in freien Versen und reimlos skizziert in ihrem Nachwort das Bild des »uomo
übersetzen. Bachmann betont gerade diese initia- di pena«, des Schmerzensmannes, als Destruk-
torische Bedeutung der frühen Gedichte und tionsgeschichte eines lyrischen Subjektes, dessen
führt damit ihre Genealogie poetischer Avant- »voce vivente« immer auf der Suche nach dem
garde, die sie zur gleichen Zeit in ihrer ersten »Wesentlichen in einem Gedicht« ist (W 1, 620,
Frankfurter Poetik-Vorlesung entwickelt (W 4, 619). So verstanden entspricht die Ungaretti-
182–199), fort: »Denn in den frühen Gedichten Übersetzung den Forderungen, die Bachmann an
sind alle die neuen Töne und Gesten da, die wir ein ›Menschenrecht für Übersetzung‹ stellt: Sie
zuerst kennenlernen sollten, alle die neuen Mög- ist ein Angebot zum Dialog auf der Ebene auto-
lichkeiten, die Ungaretti in seiner Sprache ent- biographischer Parallelität. ›Wörtlichkeit‹ im lin-
deckte.« (W 1, 618) In ihrer Auswahl setzt sie guistischen Sinne ist nicht das Ziel der Bach-
einen thematischen Akzent und wählt Gedichte, mannschen Übersetzung. Vielmehr muß man
in denen Ungaretti seine Kriegserfahrungen und Übersetzung als eine Form der ›Kritik‹ im Benja-
den Tod von Freunden und Verwandten themati- minschen Sinne verstehen, in der die Überset-
siert. Auch in den späteren Gedichten, die Bach- zerin versucht, den Entsprechungen des Fremden
mann auswählt, finden sich diese persönlichen in der eigenen Sprachwelt nachzugehen.
Übersetzungen 207

Bachmann hat die Ungaretti-Gedichte um die (ebd., S. 524) hervor. Nur durch den Entste-
Jahreswende 1959/1960 übersetzt. Eine erste hungsort des Gedichtes und seine Datierung –
Auswahl von fünf Gedichten aus Ungarettis er- »Mariano, il 25 guigno 1916« (ebd., S. 32) – wird
stem Gedichtband L’allegria publizierte sie be- die erotische Illusion aufgebrochen und mit der
reits 1960 in Hans Magnus Enzensbergers »Mu- Gewalt des Krieges konfrontiert.
seum der modernen Poesie«; diese wie auch ei- Bachmanns Arbeitsweise wird an dieser Über-
nige an anderer Stelle erschienene Vorabdrucke setzung recht anschaulich: Die erste Fassung
(vgl. Dressler, S. 292 f.) geben einen Blick in die bleibt nahe am italienischen Original. Bachmann
Werkstatt der Übersetzerin. Im Vergleich mit dem erarbeitet im Sprachlichen wie im Grammatikali-
späteren Erstdruck der Gedichtauswahl finden schen eine Wörtlichkeit, die auch später nur an
sich hier einige Übersetzungsvarianten, die spä- einzelnen Stellen zugunsten eigener Formulie-
ter revidiert wurden. Bis zur zweiten Auflage der rungen zurückgenommen wird. Rhetorische Fi-
Ungaretti-Auswahl (1963) wird Bachmann im- guren, wie die Iteration zu Beginn des Gedichtes,
mer wieder Korrekturen an den Übersetzungen versucht sie möglichst beizubehalten. Im Erst-
vornehmen. Unter textkritischen Gesichtspunk- druck wird sie dann sogar italienische Sprachei-
ten sind diese Vorabdrucke von gleicher Relevanz genheiten wie die Hiatvermeidung in »mill’una«
wie die wenigen, im Nachlaß erhaltenen Typo- auf das Deutsche übertragen: Aus der ursprüngli-
skripte, die freilich einen noch deutlicheren Ein- chen Fassung »tausendundeiner« wird in der
blick in den Arbeitsprozeß der Autorin geben. So Druckfassung »tausend’einer«. Im Übersetzungs-
lautet das Gedicht Phase (W 1, 533) in einer prozeß ist vor allem die erhebliche Korrektur in
frühen, im Nachlaß erhaltenen Fassung: der vierten Strophe auffallend: Die Übersetzung
folgt anfangs der sprachlichen Vorgabe und wird
Phase
als Fünfzeiler übersetzt. Im Druck nimmt Bach-
Geh geh
mann eine entscheidende Änderung vor: Aus
wiedergefunden hab ich
»des Mittags / der eine Ohnmacht war« wird »der
den Abgrund der Liebe
ohnmächtige Mittag«. Durch die attributive Re-
Im Aug
duktion verkürzt Bachmann das abschließende
von tausendundeiner Nacht
Quintett des Originals auf ein Quartett. An an-
hab ich geruht
deren Stellen tritt jedoch die von Bachmann
An den verlassenen Gärten
selbst konstatierte sprachliche Unsicherheit her-
[ging] sank diese Nacht
vor: So ist »ella« (V. 8) eher als personifizierende
wie eine Taube
Imagination der Geliebten oder der Liebe zu
Zwischen der Luft
verstehen und weniger als syntaktischer Bezug zu
des Mittags
»notte« (V. 5), den Bachmann mit der Überset-
der eine Ohnmacht war
zung in »diese Nacht« suggeriert. Im Vergleich
hab ich ihr gepflückt
mit der ersten Fassung der Übersetzung tritt das
Orangen und Jasmine
Gedicht in eine eigenständige Distanz zum Origi-
(N3327, Hervorhebungen P. G.)
nal. Es zeigt Bachmanns Bemühen, sich von den
Ungarettis Gedicht erschien erstmals 1916 in der Vorgaben des Originals zu lösen und Ungarettis
Auswahl Il porto sepolto, später auch im gleich- Gedicht in die eigene poetische Sprachwelt zu
namigen Binnenzyklus des Bandes L’allegria. übertragen. Diese ›Aktualisierung‹ wird auch
Obwohl die Gedichte 1915/16 im Schützengra- durch die von Bachmann nicht übersetzte Datie-
ben des Karstes entstanden sind, kann man sie rung des Gedichtes deutlich, die im Original den
dennoch nicht als Kriegsgedichte bezeichnen: Bruch zwischen imaginierter Vergangenheit und
»Nella mia poesia non c’è traccia d’odio per il gegenwärtiger Erfahrung markiert. Bachmann
nemico, né per nessuno: c’è la presa di coscienza vermeidet damit eine Historisierung der Über-
della condizione umana […].« (Ungaretti 1969, setzung und überträgt das poetische Bild in ihre
S. 520 f.) Aus dem Hafen des Opaken tritt hier die gegenwärtige Sprachwelt. Als ›übersetzerisch
Erinnerung an das Leben in Ägypten und die identisch‹ ist entsprechend weniger eine lingui-
Imagination an eine »presenza femminile con la stische als vielmehr eine analytische Qualität zu
quale feci esperienza di forsennata lussuria« bezeichnen, die das Übersetzen direkt neben an-
208 II. Das Werk

dere Formen philologischer Kritik rückt. Bach- beit zu Bachmanns Übersetzungen. Neun Jahre
manns Versuch, die Parallelität zweier dichte- später wird Stephanie Dressler (2000) die Über-
rischer Biographien auf dem Weg der Überset- setzung auch in ihrer Wechselbeziehung zum
zung vorzustellen, ist als geglückt zu bezeich- dichterischen Werk untersuchen. Neben der
nen. sprachlichen Valenz interessieren sie vor allem
Das Erscheinen der Ungaretti-Übersetzung die poetischen Dimensionen der Übersetzung.
stieß im deutschsprachigen Feuilleton auf durch- Dressler versteht die Übersetzung als Kunstwerk,
gehend positive Resonanz. Trotz aller vorherigen das als impliziter Bestandteil des Bachmann-
Bemühungen anderer Übersetzer wurde erst die schen Œuvres zu begreifen ist und seine Spuren
Bachmann-Auswahl von einem größeren Publi- auch in ihren späteren Arbeiten hinterlassen
kum wahrgenommen: »So registriert man mit hat.
Genugtuung, daß zumindest eine Probe seines
Quellen: Ingeborg Bachmann (1970): Zugegeben, hier
Œuvres nun auch bei uns erhältlich ist.« (Brandt,
habe ich erlernt, mit den anderen auszukommen. In:
vgl. auch Musa, S. 2) Die Dominanz des Früh- Das literarische Profil von Rom. (Hg.) Gerald Bisinger
werkes wie auch die teilweise fehlerhafte Über- und Walter Höllerer. Berlin, S. 76–77; – Giuseppe Un-
setzung wird jedoch in fast allen Besprechungen garetti (1960): [Übersetzungen von Ingeborg Bach-
kritisiert. Alice Vollenweider wirft Bachmann in mann:] Mattina (S. 22); Fase (S. 26); Allegria di nau-
ihrer Rezension mangelnde Sorgfalt vor und li- fragi (S. 76); Finale (S. 81); Sono una creatura (S. 226).
In: Museum der modernen Poesie. (Hg.) Hans Magnus
stet Fehler und Mißverständnisse ausführlich auf
Enzensberger. Frankfurt/M.; – Giuseppe Ungaretti
(Vollenweider, S. 139). In der zweiten Auflage (1961; 2. Aufl. 1963): Gedichte. Italienisch und deutsch.
ihrer Übersetzung (1963) wird Bachmann diese Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann.
und andere Fehler korrigieren. Frankfurt/M.; – Giuseppe Ungaretti (1969): Vita d’un
Die Literaturwissenschaft widmet sich erst seit uomo. Tutte le poesie. (Hg.) Leone Piccioni. Milano; –
dem Ende der siebziger Jahre der Ungaretti- Thomas Wolfe (1953): Ein Herrenhaus. Deutsch von
Peter Sandberg. Hamburg.
Übersetzung: Lea Ritter-Santini stellt die Über-
setzung bei einem Ungaretti-Symposion (1979) Literatur: Hapkemeyer (1990); Höller (1987).
vor und deutet die Fehlerleistungen als ›kreativen Christoph Baehr (1991): Ingeborg Bachmanns Über-
Irrtum‹. Bernhard Böschenstein vergleicht »das setzung von Gedichten der Sammlung Allegria von
absichtslose, der Prosa zustrebende, Fremdhei- Giuseppe Ungaretti. In: Österreichische Dichter als
Übersetzer. (Hg.) Wolfgang Pöckl. Wien, S. 403–495; –
ten der Sprache des Originals mildernde Über-
Bernhard Böschenstein (1982): Exterritorial. Anmer-
setzungsverfahren Ingeborg Bachmanns« mit kungen zu Ingeborg Bachmanns deutschem Ungaretti.
»Paul Celans Betonung einer sprachlichen Eigen- Mit einem Anhang über Paul Celan. In: Zur Geschicht-
welt des Übersetzers, der das Original noch viel lichkeit der Moderne. (Hg.) Theo Elm und Gerd Hem-
weniger abzubilden trachtet, sondern sich ihm in merich. München, S. 307–322; – Ingeborg Brandt
einer gewollten syntaktischen Abweichung (1961): Ein dunkler Dichter wird populär. Giuseppe
Ungaretti und seine Nachdichterin Ingeborg Bach-
selbstständig gegenüberstellt« (Böschenstein,
mann. In: Die Welt, 30. November, S. 3; – Stephanie
S. 315). Der Vergleich der drei von beiden Dich- Dressler (2000): Giuseppe Ungarettis Werk in deut-
tern übersetzten späten Gedichte (Cantetto senza scher Sprache. Unter besonderer Berücksichtigung der
parole, Per sempre, Finale) avanciert zum be- Übersetzungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans.
liebten Thema vieler Übersetzungsanalysen und Heidelberg; – Peter Goßens (2000): Paul Celans Un-
bereichert den sogenannten ›Celan-Bachmann- garetti-Übersetzung. Edition und Kommentar. Heidel-
berg; – Hinrich Hudde (1996): Mich erhellt die Weite.
Diskurs‹ um weitere Facetten. Am Beispiel Un-
Übersetzungsbemühungen um Ungarettis berühmtes
garettis vergleichen die Interpreten dann häufig Kurzgedicht. In: Italienisch 35 (Mai 1996), S. 72–75; –
nicht die jeweilige Übersetzung des italienischen Werner Menapace (1980): Die Ungaretti-Übersetzun-
Gedichtes als vielmehr die Kunstfertigkeit der gen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Innsbruck; –
deutschsprachigen Übersetzer miteinander. Da- Gilda Musa (1962): Ungaretti in Germania, presentato
gegen konzentriert sich Christoph Baehrs Ana- da Ingeborg Bachmann. In: La fiera letteraria 17, Nr. 5.
(4. Februar 1962), S. 1f.; – Lea Ritter-Santini (1981):
lyse (1991) in ausführlichen Interpretationen auf
Dietro una luce immortale. De L’Allegria tedesca e
elf von Bachmann übersetzte Gedichte und ist, altro. In: Atti del convegno internazionale su Giuseppe
neben der früheren Dissertation Werner Mena- Ungaretti. Urbino 3–6 Ottobre 1979. (Hg.) Carlo Bo,
paces (1980), lange Zeit die umfangreichste Ar- Mario Petrucciani u. a. Urbino, Bd. 2, S. 1275–1286; –
Übersetzungen 209

Alice Vollenweider (1962): Der Meister im Hinter-


grund. In: Neue Deutsche Hefte 9, Heft 85, S. 134–
139.
Peter Goßens
III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns
Werk
212

1. Bachmann und die Philosophie

1.1. Existentialphilosophie In jüngster Zeit wird vor allem Bachmanns


und Existentialismus politisch-moralisch motivierte Distanz gegenüber
Heideggers Philosophieren hervorgehoben. Be-
Bachmanns Rezeption der Existenzphilosophie zeichnend ist ihre dafür in einem späten Inter-
und deren Niederschlag in ihrem Werk sind bis- view (1973) gegebene Begründung, welche Poli-
lang von der Forschung fast ausschließlich mit tik und Philosophie im Hinweis auf Heideggers
dem Namen Heideggers verbunden worden, weil »Rektoratsrede« und die »Verführung […] zum
sie über Die kritische Aufnahme der Existential- deutschen Irrationaldenken« verbindet (GuI 137,
philosophie Martin Heideggers 1949 ihre Dis- Hervorhebung J. E.). Ausgehend von dieser Per-
sertation geschrieben hat. Darin stellt sie fest, die spektive hat Gehle (S. 249) auch die Äußerungen
»Grunderlebnisse, um die es in der Existential- in der Dissertation, wo von Heideggers »gefähr-
philosophie geht, [seien] tatsächlich irgendwie liche[r] Halbrationalisierung« die Rede ist (Diss.,
im Menschen lebendig« (Diss., 129). Sie ent- 129; vgl. W 4, 14, 126), als Beleg dafür lesen
zögen sich jedoch der philosophischen Analyse, wollen, daß Bachmann sich bereits 1949 »im
weil diese sich an der »Erkenntnisweise der Real- Raum des Post-Holocaust« aufzuhalten begonnen
wissenschaften« zu orientieren habe, wolle sie habe. Dazu drei Überlegungen:
sich als wissenschaftliche qualifizieren (Diss., (1) Der Jargon der Existenzphilosophie (nicht
127). Der damit eingeführte Maßstab ist der der nur) Heideggerscher Prägung ist im fraglichen
Verifikation. Kunst wird nicht an ihrer Verifizier- Zeitraum intellektuelles Allgemeingut. Seine At-
barkeit gemessen und bietet daher die Möglich- traktivität erklärt sich u. a. dadurch, daß sich die
keit, sowohl jene »Grunderlebnisse« darzustellen Krise des Selbstverständnisses einer Generation
als auch sie zu rezipieren. Diese These ist früh auf nach der Erfahrung des Nationalsozialismus mit
das eigene Schreiben Bachmanns bezogen wor- seiner Hilfe existentiell statt historisch interpre-
den: als Begründung der Überlegenheit von tieren ließ. Entsprechend schreibt Bachmann am
Dichtung über Philosophie und als Bekenntnis Ende ihrer Dissertation von der Auseinander-
zum Ausdruck jener »Grunderlebnisse«. Bis »ins setzung des »modernen Menschen mit der ›Angst‹
einzelne hinein« könnten »Korrespondenzen von und dem ›Nichts‹«, die man in Baudelaires Ge-
Dichtung und Studium aufgewiesen werden« dicht Le Gouffre lesen könne (Diss., 130; Hervor-
(Behre, S. 164). Die »Heideggersche Denkfigur hebung J. E.) – also in einem Text von 1862, lange
der Interpretation des Seins auf seine Zeitlichkeit vor dem ›Zivilisationsbruch‹ Auschwitz. Daß die
hin als ›Sein zum Tode‹«, wie sie in seinem »Grunderlebnisse« ihrer Generation historisch
Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927) zu lesen ist, wesentlich durch die Erfahrung des National-
präge »schon den Gedichttitel« Die gestundete sozialismus beeinflußt sein könnten, scheint nur
Zeit (Bothner 1986, S. 142). Für die Erzählungen in wenigen Texten der Lyrikbände, in den Erzäh-
wurde insbesondere das Motiv der ›Lichtung‹ in lungen Jugend in einer österreichischen Stadt und
Undine geht im Vergleich mit Heideggers »Der Unter Mördern und Irren, deutlich dann aber in
Ursprung des Kunstwerks« (1935) hervorgeho- den 1960er Jahren in den Texten und Textfrag-
ben (u. a. Hunt). Bachmanns Sprachskepsis folge menten des Todesarten-Projekts auf.
Heideggers Analyse des ›Geredes‹ (Weber 1986, (2) Weigel meint, Bachmann habe das in ihrer
S. 53; vgl. dagegen Diss., 129). Eine genaue Lek- Dissertation vertretene Konzept von Philosophie
türe von Heideggers Texten sei weder in der als Wissenschaft im Spätwerk aufgegeben und
Dissertation noch in späteren Texten erkennbar, plädiere insbesondere in Malina für ein Über-
meint dagegen Wallner (S. 185). Doch belegt die schreiten philosophischer Rationalität (Weigel
Bibliothek Bachmanns ein kontinuierliches Inter- 1999, S. 540 u. ö.). Ähnlich ist in der Figur
esse an Heideggers Schriften über ihr Philoso- Malina ein Sammelbild des patriarchal-rationa-
phiestudium hinaus bis hin zu »Die Technik und len, ›phallogozentrischen‹ Denkens vermutet
die Kehre« (1962) (vgl. Pichl 2003). worden, das im Roman der Kritik unterzogen
Existentialphilosophie und Existentialismus 213

werde (vgl. z. B. Kohn-Waechter 1992, Frei Ger- rückzuweisen (Kohn-Waechter 1991; Weigel
lach 1998). Demgegenüber ist zu bedenken, daß 1999, S. 554–555), interpretiert wohl zu Unrecht
es zwischen dem späten Interview und der frühen die Anspielung als Auseinandersetzung um eine
Dissertation eine kontinuierliche Beurteilung philosophische Frage (vgl. Eberhardt 2002, Kap.
dessen gibt, vor dem als ›gefährlich halbrational‹ VII.4).
gewarnt wird. In dieser Auseinandersetzung ist Bachmanns über Heidegger hinausgehende
die positive Konnotation von ›Rationalität‹ un- Rezeption der Existenzphilosophie, etwa Kierke-
übersehbar, die als »ungeheuer genaues Denken« gaards, Jaspers’ (vgl. TKA 3.1, 652) oder Arendts,
und »klare[r] Ausdruck« konkretisiert wird (GuI, und des französischen Existentialismus, insbe-
136). sondere Sartres und Camus’, ist bisher nicht un-
(3) Während Bachmanns Distanz zur ›verfüh- tersucht. Letztere scheint aber als ausgemacht zu
rerischen‹ aber ›irrationalen‹ Form des Heideg- gelten (vgl. Kanz 1999, S. 41). Göttsche (2000,
gerschen Denkens sich kontinuierlich durch ihr S. 20) erkennt den Niederschlag von Bachmanns
Werk zieht, wandelt sich ihre grundsätzliche Zu- Interesse schon im frühen (ca. 1950) – größten-
stimmung zur Frage nach den »Grunderlebnis- teils verlorenen – Roman Stadt ohne Namen. Das
sen« in Dissertation und Frühwerk zur Kritik im Gedicht Alle Tage fordere die »Revolte«, von der
Spätwerk. Läßt sich z. B. die Erzählung Jugend in Camus in L’homme révolté schreibt; auf diesen
einer österreichischen Stadt als Ausdruck eines Essay spiele Bachmann auch in ihrem ersten
Lebensgefühls der ›Geworfenheit‹ interpretie- Todesarten-Romanfragment (Eugen-Roman II,
ren, so wird sowohl im Buch Franza als auch in um 1962) an (ebd., S. 39, Anm. 18), wobei die
Malina der Existenzphilosophie und erkennbar sadistische Haltung der Erzählstimme gegenüber
dem Heidegger von »Sein und Zeit« widerspro- ihrer Figur auch auf de Sade (als den ›alten
chen. So heißt es im Buch Franza: »Schlagt alle Marquis‹) verweisen könnte (TKA 1, 85; vgl.
Bücher zu, das Abrakadabra der Philosophen TKA 3.1, 368). In diesem Zusammenhang dürfte
[…], die […] nicht wissen, was die Angst ist.« ein Vergleich des Fragments mit den etwa zeit-
(TKA 2, 58, vgl. 217) Gegen die ›geheimnisvolle gleich entstandenen, jüngst veröffentlichten Ge-
Angst‹ als Heideggersches »Existential« wird die dichtentwürfen (Bachmann 2000b) hilfreich sein.
von Franza erfahrene »Todesangst« gehalten. In Bachmanns Bibliothek finden sich vor allem
Deutlich ist der Vorwurf, die Philosophie verliere Titel Camus’ aus den 1950er Jahren. In den
sich im Abstrakten; die Rede vom »Existential« Frankfurter Vorlesungen streift sie als eine unter
verkenne (und verlängere damit) die wahre Na- anderen Debatten die seinerzeit von Sartres
tur einer Angst, die Reaktion auf reale Gewalt- Qu’est-ce que la littérature? (1947, deutsch 1950)
erfahrung ist und die sehr genau weiß, ›wovor ausgelöste Diskussion um engagierte Literatur
sie sich ängstet‹ (vgl. »Sein und Zeit«, §44): vs. l’art pour l’art (W 4, 186). In vergleichbarer
»Mein Mann ermordet mich« (TKA 2, 58). Ana- Weise wird historisch distanziert auf die existen-
log ist die Kierkegaard-Anspielung im Entwurf tialistische Generationserfahrung der ›Unbe-
des Requiems für Fanny Goldmann zu verstehen haustheit‹ der 1950er Jahre in Drei Wege zum See
(TKA 1, 323; zum Komplex Angst vgl. auch Kanz angespielt (vgl. Göttsche 1998, S. 200). Ange-
1999). sichts eines ›Mordschauplatzes Gesellschaft‹
In der ›Kranewitzer-Episode‹ zu Beginn des muß eine Philosophie der selbstbestimmten Frei-
dritten Kapitels von Malina ist die Rede von der heit schließlich anachronistisch erscheinen.
»latenten Angst«, welche das »Briefaustragen« ei-
Quellen: Martin Heidegger (1960): Sein und Zeit. 9.
gentlich verlange und die gehalten wird gegen
Aufl. Tübingen; – Pichl (2003).
das ›Sinnieren‹ der Universitätsphilosophie
ȟber das Ontos On [Sein des Seienden], die Literatur: Agnese (1996); Bothner (1986); Eberhardt
Aletheia [Wahrheit]« (TKA 3.1, 571). Auch hier (2002); Frei Gerlach (1998); Göttsche (1998); Kanz
wird das konkrete Leid gegen die abstrakte exi- (1999); Kohn-Waechter (1992); Weber (1986); Weigel
(1999).
stentialphilosophische Redeweise gehalten. Die
Maria Behre (1991): Die zumutbare Unbestimmtheit.
in der Forschung wiederholt zu lesende These, es Naturphilosophie des Liquiden und Dunklen im Früh-
gehe hier Bachmann darum, den ›Satz vom werk Ingeborg Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillpar-
Grund‹ und Heideggers Überlegungen dazu zu- zer-Gesellschaft, 3. Folge 17, S. 163–184; – Holger
214 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Gehle (1993): Ingeborg Bachmann und Martin Hei- griffs weist auch auf den Einfluß Musils hin,
degger. Eine Skizze. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 241– der schließlich im Begriff des »Utopischen« als
252; – Dirk Göttsche (2000): Auf der Suche nach der
der Richtung der Literatur in den Frankfurter
»großen Form« – Ingeborg Bachmanns erster Todes-
arten-Roman. In: Béhar (2000), S. 19–40; – Irmgard Vorlesungen mündet (1959/60; vgl. Bartsch
Hunt (1990): Bemerkungen über Lichtung – Erleuch- 1980).
tung – Epiphanie. In: Sprache im technischen Zeitalter In ihren poetischen Texten der 1940er und
113, S. 49–57; – Gudrun Kohn-Waechter (1991): Das 1950er Jahre bedient sich Bachmann vor allem
»Problem der Post« in Malina von Ingeborg Bachmann zweier Bildräume, um die transzendierende Kraft
und Martin Heideggers »Der Satz vom Grund«. In: Die
(dichterischen) Sprechens zu behaupten. Die An-
Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des
Briefes. (Hg.) Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge. lehnung an christliche und biblische Sprachbilder
Stuttgart, S. 225–242; – Friedrich Wallner (1985): Jen- (vgl. Weber 1986) findet sich schon vor der theo-
seits von wissenschaftlicher Philosophie und Metaphy- retischen Fundierung des Mystik-Begriffs in der
sik. Nachwort zur Dissertation von Ingeborg Bach- Wittgenstein-Lektüre, so z. B. in den Briefen an
mann. In: Diss., S. 177–199. Felician (1945/46) oder in [Die Welt ist weit],
Joachim Eberhardt
später z. B. in der genuin poetologischen Aussage
in dem Gedicht Was wahr ist (1956): »was wahr
ist, rückt den Stein von deinem Grab« (W 1, 118).
1.2. Sprachphilosophie und Der zweite Bereich ist der der Musik, deren
poetologische Sprachreflexion Ausdruckskraft Bachmann wiederholt als vor-
bildlich für ihr Schreiben hinstellt (vgl. das Inter-
Im wesentlichen gibt es zwei Ansatzpunkte der view mit Gerda Haller, zitiert bei Greuner 1990,
Sprachreflexion in Bachmanns theoretischen und S. 69). In poetischen Texten dienen dem Bereich
poetischen Schriften: einen ästhetischen und ei- der Musik entlehnte Bilder zur Charakterisierung
nen ethischen. Kennzeichnend für den ästhe- literarischen Sprechens von den frühen Gedich-
tischen Ansatz, der die poetologische Reflexion ten (z. B. Abends frag ich meine Mutter, 1948)
in den 1940er und 1950er Jahren bestimmt, ist über den Preis des »Lieds« im letzten der Lieder
die strikte Abtrennung des gewöhnlichen vom auf der Flucht (1956) und dem rätselhaften Trost
literarischen Sprechen, das als Sprechen in einer der Musik in Enigma (1967) bis hin zu den
»schönen Sprache« vorgestellt wird (vgl. das 8. einmontierten Stellen aus dem Pierrot lunaire in
Stück des Zyklus Von einem Land, einem Fluß Malina (1971). Dabei scheint gelegentlich der
und den Seen; W 1, 92). Seinen theoretischen Versuch auf, mit der Anspielung auf bestimmte
Ausgang nimmt dieser Ansatz schon in der Dis- Musikstücke die der Musik zugeschriebene Aus-
sertation Bachmanns (1949) bei der Auseinander- druckskraft (vgl. den Essay Musik und Dichtung,
setzung mit dem Philosophieren Martin Heideg- 1959) auf den eigenen Text zu übertragen.
gers und Ludwig Wittgensteins Bestimmung der Nach 1957 beginnt Bachmann sich auf das
Grenzen wissenschaftlichen Sprechens im »Trac- Schreiben von Prosa zu konzentrieren. Es steht zu
tatus logico-philosophicus«. Grundgedanke ist, vermuten, daß dies einhergeht mit einem Wandel
daß das poetische Sprechen diese Grenze über- der poetologischen Konzeption. Dieser Wandel
schreiten kann, weil es nicht im referenztheo- läßt sich charakterisieren als Übergang von einer
retischen Sinne auf Wahrheit zielt. Die Forschung ästhetischen zur ethischen Sprachreflexion. Be-
sprach in diesem Zusammenhang schon früh von zeichnend ist, wie Bachmann in der ersten der
»Sprachskepsis« und »Sprachhoffnung« im Werk Frankfurter Vorlesungen (1959), ausgehend vom
Bachmanns (Fehl 1970). Worauf sich die Sprach- Chandos-Brief Hofmannsthals, für ›unser Jahr-
hoffnung der Dichtung richtet, ist allerdings mit hundert‹ eine ›schwere Erschütterung des Ver-
dem Hinweis auf den Ausdruck der existentia- trauensverhältnisses‹ »zwischen Ich und Sprache
listischen ›Grunderlebnisse‹ nur unzureichend und Ding« referiert (W 4, 188). Das Referat
und zudem im Jargon der kritisierten Philoso- schließt nach Hinweisen auf Rainer Maria Rilkes
phie bestimmt. In den Wittgenstein-Essays zu Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids
Beginn der 1950er Jahre ist gemäß dem Satz Brigge, Novellen von Musil und Gottfried Benns
6.522 des »Tractatus« vom »Mystischen« die Rede »Rönne-Novellen« mit der These, die Not des
(W 4, 19, 113); Bachmanns Aneignung des Be- Schriftstellers mit der Wirklichkeit münde für
Sprachphilosophie und poetologische Sprachreflexion 215

ihn »in den Konflikt mit der Sprache« (W 4,191). Essay von Hans Magnus Enzensberger, 1962),
Gemeint ist damit, daß die je neuen Erfahrungen wobei etwa Theodor W. Adorno sich ebenfalls auf
der Autoren eine ihnen je angemessene Sprache die Erfahrung des Nationalsozialismus beruft.
erfordern, die darum stets und von jedem selbst Zusammenfassen läßt sich dies alles in dem
neu erschrieben werden muß. Bachmanns »Kon- historisch-empirisch gestützten Gedanken, daß
flikt mit der Sprache«, impliziert dies, ist ein die Art der Sprachverwendung das Denken be-
anderer als der Hofmannsthals oder Musils. Die stimmt (vgl. GuI,26). Bachmann beschreibt die
Kritik am Gebrauch ›vorgefundener Sprache‹ das Denken manipulierende Kraft der Sprache
(GuI,84) wird in diesem Zusammenhang sowohl wie Karl Kraus als Herrschaft der »Phrasen«, von
ästhetisch wie ethisch begründet. Der jetzt be- denen man sich nicht bestimmen lassen dürfe
hauptete Zusammenhang zwischen neuer Erfah- (W 4, 297; zu Kraus, Bachmann zitiert ihn mehr-
rung und »neue[r] Sprache« (W 4, 192) wird in fach, vgl. GuI,25; W 4, 185, 206; Fehl 1970, S. 14–
den in der gleichen Zeit entstandenen Erzählun- 17; Eberhardt 2002, Kapitel IX.2). Im Essay Tage-
gen aus dem Band Das dreißigste Jahr themati- buch (1963) entlarvt Bachmann das Kleben am
siert. Die Protagonisten der Titelerzählung und eigenen Idiom als Verhinderung wirklichen Dia-
von Alles kehren das Bedingungsverhältnis von logs. Das Gedicht Keine Delikatessen (1967) ver-
Erfahrung und Sprache um: Darum muß ihr Ver- sucht den Warencharakter von Sprachkunstwer-
such scheitern, mit einer »neuen Sprache« einen ken zu enthüllen (Höller in Bachmann 1998a),
neuen Erfahrungsraum, eine »neue Welt« zu ohne freilich sich selbst dem Waresein entziehen
schaffen (W 2, 132). zu können. In einem undatierten Fragment aus
In der zweiten Frankfurter Vorlesung reflek- dem Umkreis der Arbeit an Malina ist davon die
tiert Bachmann in Auseinandersetzung mit der Rede, daß »Mann und Frau […] Knechte einer
Dichtungskonzeption Celans die Möglichkeiten Sprache« seien (TKA 3.2, 934–935).
lyrischen Sprechens nach 1945. Dabei hebt sie Die Konzentration von Bachmanns Nachden-
hervor, daß Celan mit dem Band Sprachgitter ken über Sprache auf deren verantwortungsvol-
(1959) eine ›Entkleidung‹ dichterischen Spre- len Gebrauch läßt sich in Analogie sehen zu
chens durch eine »äußerst harte Überprüfung der Wittgensteins Korrektur seiner Frühphilosophie
Bezüge von Wort und Welt« vornehme (W 4, in den »Philosophischen Untersuchungen«. Im
216). Indem sie auf Celans Bremer Rede (1958) Sinne der von Bachmann in ihren frühen Essays
verweist, kennzeichnet sie zugleich die Bewe- vertretenen Perspektive, daß die »Philosophi-
gung der Sprache als ›dialogische‹ (Celan, schen Untersuchungen« eine Erweiterung des
S. 186). Ob die zustimmende Auseinanderset- »Tractatus« darstellen (W 4, 123; vgl. Agnese
zung mit dieser Konzeption, wie sie auch im – 1996, S. 48; O’Regan, S. 52), ließe sich behaup-
Celan zitierenden – Fragment Das Gedicht an ten, daß die »Grenzen meiner Sprache« (»Tracta-
den Leser erkennbar ist (um 1959; vgl. Neu- tus«, 5.6) auch die Grenzen meiner »Lebensform«
mann), einen Niederschlag in den späten Ge- sind (»Philosophische Untersuchungen«, § 19).
dichten und anderen Texten findet, ist offen (vgl. Ob Bachmann diesen gedanklichen Schritt mit-
Kann-Coomann zu Undine geht). hilfe und wegen der »Philosophischen Unter-
In den 1960er Jahren wird für Bachmann zu- suchungen« getan hat, ist kaum zu entscheiden.
nehmend die Beobachtung wichtiger, daß mit Wittgensteins wertfreie Darstellung der Sprache
Sprache die Gesellschaft nicht nur abgebildet, als Basis der geteilten Lebensform antizipiert in
sondern auch ihre Wahrnehmung manipuliert wesentlichen Punkten Lacans Konzept einer
werden kann. In der unmittelbaren Nachkriegs- ›Symbolischen Ordnung‹ und der Konstitution
zeit sind die sprachlichen Manipulationen der der Psyche durch Sprache (vgl. Göttsche 1987,
Nationalsozialisten vorübergehend Gegenstand S. 153–154; Lennox, S. 616). Sowohl die Witt-
öffentlichen Nachdenkens, etwa in der Artikel- genstein-Lektüre als auch die Kraus-Lektüre und
serie »Aus dem Wörterbuch des Unmenschen« in die linke, historisch und kulturkritisch motiverte
der Zeitschrift »Die Wandlung« (ab 1946). In den Sprachkritik in den 1950er und 1960er Jahren in
1960er Jahren spielt für die linke Kritik auch die Deutschland mögen Bachmann den Weg geebnet
Manipulation durch die »Bewußtseins-Industrie« haben, zu der in der feministischen Literaturkri-
der Medien eine Rolle (vgl. den gleichnamigen tik heute so einflußreichen These der Abhängig-
216 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

keit des Denkens von der Sprache der jeweiligen Bachmanns literarische Philosophie bestimmen.
Gesellschaft zu gelangen. Die in Walter Benjamins Schrift Ȇber den Be-
Quellen: Paul Celan (1983): Ansprache anläßlich der griff der Geschichte« (1942) und in Horkheimer/
Entgegennahme des Literaturpreises der freien Hanse- Adornos »Dialektik der Aufklärung« (1947) in
stadt Bremen. In: Celan: Gesammelte Werke in fünf Bezug auf die Katastrophe des Nationalsozialis-
Bänden. Frankfurt/M., Bd. 3, S. 185–186; – Ludwig mus vorgenommenen Zeitdiagnosen bezeichnen
Wittgenstein (1984): Tractatus logico-philosophicus. den gesellschaftskritischen Rahmen für Ingeborg
Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchun-
gen (= Werkausgabe, Bd. 1). Frankfurt/M.
Bachmanns gesamtes Œuvre.
Ingeborg Bachmanns Verhältnis zur Kritischen
Literatur: Agnese (1996); Bartsch (1980); Eberhardt
Theorie kann insbesondere an drei Texten disku-
(2002); Fehl (1970); Göttsche (1987); Greuner (1990);
Höller in Bachmann (1998a); Weber (1986). tiert werden, die gleichermaßen in sozialphiloso-
Dagmar Kann-Coomann (1997): Undine verläßt den phischer bzw. -psychologischer Perspektive Ge-
Meridian. Ingeborg Bachmann gegenüber Paul Celans sellschaftskritik nach Auschwitz betreiben: Hork-
Büchnerpreisrede. In: Böschenstein/Weigel (1997), heimer/Adornos »Dialektik der Aufklärung«,
S. 250–259; – Sara Lennox (1989): Bachmann und Witt- Herbert Marcuses »Triebstruktur und Gesell-
genstein. In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 600–
schaft« (engl. 1955, dt. 1957) und Günther An-
621; – Peter Horst Neumann (1997): Ingeborg Bach-
manns Fragment Das Gedicht an den Leser – eine ders’ »Die Antiquiertheit des Menschen« (1956).
Antwort auf die Sprachgitter-Gedichte Paul Celans. In: Bereits die frühe Erzählung Das Lächeln der
Böschenstein/Weigel (1997), S. 167–175; – Veronica Sphinx (1949) deutet Sigrid Weigel als »literari-
O’Regan (1996): »Erfahrung nicht des Empirikers, son- sche Relektüre einiger Thesen aus der ›Dialektik
dern des Mystikers«. A Re-Evaluation of Ingeborg Bach- der Aufklärung‹« (Weigel 1999, S. 81). In Ana-
mann’s Understanding of Wittgenstein and its Applica-
logie zu Horkheimer/Adorno verfolgt dieser Text
tion to Simultan. In: Sprachkunst 27, S. 47–65.
Joachim Eberhardt den Umschlag von Aufklärung in Mythologie und
bezieht die Kritik an der Verselbständigung der
instrumentellen Vernunft im Szenario maschinel-
1.3. Kritische Theorie len Massenmords auf den Nationalsozialismus.
und Soziologie Die Erzählung Das dreißigste Jahre setzt diesen
Dialog fort, indem am Protagonisten die Aporie
Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung mit Kritischer Theorie leibhaftig durchexerziert
der Kritischen Theorie, mit der zeitgenössischen wird: Die Wahrnehmung der Gesellschaft als
jüdischen Theorie und Soziologie reicht von der ›Verblendungszusammenhang‹ ist mit dem Ver-
Studienzeit bis zum Todesarten-Projekt. Mit fahren immanenter Kritik nur unzureichend ver-
Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Han- mittelt und bedingt letztlich einen kritischen
nah Arendt war sie persönlich bekannt (vgl. Wei- Standpunkt ›außerhalb‹. Bachmanns Protago-
gel 1999, S. 7f., 462ff., 473 f.; Morris, S. 156 f.). nist, einer, der sich im versuchten Austritt aus der
Anders als im Falle Heideggers oder Wittgen- Gesellschaft »zu weit erhoben hatte« (W 2, 108),
steins findet diese Auseinandersetzung allerdings vollzieht die Erkenntnis, innerhalb der bestehen-
nicht im Genre des philosophischen Textes, son- den Sprache und gesellschaftlichen Konventio-
dern im essayistisch-poetologischen und literari- nen agieren zu müssen. Die literarische Version
schen Werk der Autorin statt. Damit ist bereits Kritischer Theorie im Roman Malina als kon-
eine erste Affinität zur Kritischen Theorie be- sequent standpunktgebundene Gesellschaftskri-
nannt, deren Verbindung von Kunst und Philo- tik radikalisiert diese Einsicht noch im Verzicht
sophie mit Bachmanns Abkehr von der wissen- auf jegliche auktoriale Distanzierung und in der
schaftlich-positivistischen Philosophie Mitte der Beschränkung auf die Erfahrung einer Einzelnen,
1950er Jahre konvergiert. Die aphoristisch-es- die durch intertextuelle Vernetzung oder durch
sayistische Form des Philosophierens sowie die die Traumsprache erweitert wird. Und noch eine
in Adornos musiksoziologischen und literatur- andere Form der kritischen Fortschreibung der
theoretischen Schriften entwickelte Vorstellung »Dialektik der Aufklärung« zeichnet sich – be-
einer Kunst, die eine von Naturbeherrschung und ginnend mit der Erzählung Undine geht (Weigel
Identitätszwang befreite Vergesellschaftung des 1999, S. 147ff.) – bis zum Todesarten-Projekt ab,
Individuums antizipiert, sind Momente, die auch die die Diagnose einer Aufspaltung der Vernunft
Kritische Theorie und Soziologie 217

in instrumentelle und kommunikative im Hin- konzeption steht dem Werk Walter Benjamins
blick auf die Arbeitsteilung der Geschlechter ver- näher als den ›großen Erzählungen‹ einer Dia-
folgt. Mit Undine und den Protagonistinnen des lektik der Aufklärung. Mit Benjamins Denkbil-
späten Prosawerks erhält das Ausgeschlossene, dern des ›Erwachens‹, der ›Jetztzeit‹ und des
das Andere der Vernunft eine Stimme. Schließ- ›Engels der Geschichte‹ ist ein Geschichtsver-
lich wird durch das Doppelwesen Malina-Ich die ständnis angezeigt, das sich im ›Eingedenken‹
Auseinandersetzung zwischen diesen beiden kul- (vgl. Remmler, S. 18–21) auf das Bruchstückhafte
turgeschichtlich und geschlechtlich codierten bezieht, diesen Prozeß als augenblickliche Kon-
Vernunftformen in eine Person verlegt (Höller stellation von Vergangenheit und Gegenwart ver-
1987, S. 264 f.; Weigel 1994; Weigel 1999, steht sowie im Blick auf die Geschichte als Kata-
S. 530ff.). Wie die Erzählung Unter Mördern und strophe eine rettende Kritik im Modus von
Irren (Bartsch 1997, S. 104) wäre auch die in die Sprachmagie und profanem Messianismus anti-
Vaterfigur konzentrierte Machtanalytik der To- zipiert (vgl. Höller 1987, S. 154, 260 f.; Weigel
desarten auf ihre Verbindung zu den unter Mit- 1994, 154ff., 235 f.). Diese Affinität ist bereits im
arbeit Adornos entstandenen »Studien zum auto- Essay Was ich in Rom sah und hörte (1955)
ritären Charakter« (engl. 1950, dt. 1973) zu be- nachgezeichnet worden (Höller 1987, S. 201 f.;
fragen. Für die sozialpsychologischen Aspekte Weigel 1999, S. 99–112). Rom wird einer im
des Todesarten-Projekts ist ebenso Herbert Mar- Sinne Benjamins archäologischen Betrachtung
cuses Beitrag zur Dialektik der Aufklärung in unterzogen, die in der Ghettoszene zugleich der
»Triebstruktur und Gesellschaft« prägend gewe- Toten im Moment der Stille, im Aussetzen von
sen, ein Buch, das Bachmann Hans Werner Bezeichnung, gedenkt, wie sie in Anklang an den
Henze zur Lektüre empfohlen hat (vgl. Morris, Messianismus eine rettende Kritik vollzieht. In
S. 150 f.). Der von Marcuse diagnostizierte Kon- seinem Gedicht An Ingeborg Bachmann nach
flikt zwischen Lust- und Realitätsprinzip wird ihrem Besuch im Ghetto von Rom (1967; vgl.
gleichermaßen in der Ich-Ivan- wie in der Ich- Weigel 1999, S. 5–15) reagiert Gershom Scholem
Malina-Konstellation reinszeniert: Zum einen kritisch auf die in Bachmanns Rom-Essay Gestalt
mit utopischem Akzent auf die kultur- und gesell- werdende messianische Hoffnung, die für die
schaftsbildende Funktion des freien Eros, zum Adressaten nach der Zäsur der Shoah ›zu spät‹
anderen mit gesellschaftskritischem Akzent auf komme. Der Dialog mit Benjamin setzt sich in
die herrschaftsbedingte Triebunterdrückung. In den Erzählungen des Dreißigsten Jahres bis zum
Hinblick auf Marcuse hat Hans Höller diese Todesarten-Projekt fort. Vor allem Benjamins
Bachmannsche Problemkonstante von der Lyrik zwischen Traum- und Wachwelt angesiedelter
(Mein Vogel; Erklär mir, Liebe) über das Hörspiel Erkenntnismoment des ›Erwachens‹ im Zusam-
Der gute Gott von Manhattan (vgl. Lennox 2000) menhang mit der Gedächtnistopographie der
und die Erzählung Das dreißigste Jahr bis zum Stadt und seine Theorie der Sprachmagie, derzu-
Todesarten-Projekt rekonstruiert (Höller 1987). folge eine andere, mimetische Sprache in den
Hier läßt sich Günther Anders’ in die Diskrepanz Prozeß der Bezeichnung als Einbruchsstelle pro-
von Herstellen und Vorstellen, technischem Fort- faner Erleuchtung hineinragt, durchzieht die
schritt und unserer zurückgebliebenen Auffas- Texte (Weigel 1994, Weigel 1999). Schließlich ist
sungsgabe gefaßte Dialektik der Aufklärung in der Erregungszustand des ›Heute‹ in Malina in
die »Antiquiertheit des Menschen« anschließen, Analogie zu Benjamins messianischem Modell
insbesondere da er im Aufweis des Mangels einer der ›Jetztzeit‹ gesetzt worden (vgl. Weigel 1994,
›Geschichte der Gefühle‹ den Ausweg in der S. 93 f.; Remmler, S. 20, 97). Ist der gesellschafts-
Ausbildung einer ›moralischen Phantasie‹ sucht kritische Gehalt der Todesarten einer Dialektik
– ein Kontext, der in Bachmanns Werk auch über der Aufklärung verpflichtet, so verweist die Erin-
Robert Musil präsent ist. Die Ausstellung solcher nerungs- und Erzählproblematik auf das Werk
›Antiquiertheit‹ hat Dirk Göttsche anhand der Walter Benjamins. Der Erzähler Malina erscheint
sozialen Milieustudien zu Fanny Goldmann und im Gewand des Benjaminschen Engels (siehe
Toni Marek nachgewiesen (Göttsche 1998, TKA 1, 364; Weigel 1994, S. 94 f.), der rück-
S. 58 f.). wärtsgewandt auf den Trümmerhaufen der Ge-
Ingeborg Bachmanns Sprach- und Geschichts- schichte starrt, dessen Sprechen jedoch von der
218 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Hoffnung getragen ist, ›die Toten zu wecken und rung eine Einheit von Kultursoziologie, Psycho-
das Zerschlagene zusammenzufügen‹. logie und wissenschaftskritischer Philosophie,
Literatur: Bartsch (1997); Göttsche (1998); Höller die deutlich anstelle eines Monismus den kriti-
(1987); Lennox (2000); Weigel (1999). schen Dialog mit den Naturwissenschaften auf-
Leslie Morris (2000): Interview mit Hans Werner weist, vor allem im Konzept der Anthropologie
Henze. In: Albrecht/Göttsche (2000), S. 143–159; – des »homo patiens« (Untertitel »Versuch einer
Karen L. Remmler (1996): Waking the dead. Corre- Pathodizee«, Frankl 1950). Sein Ansatz bildet den
spondences between Walter Benjamin’s Concept of Re-
Gegenpol zur Kulturdiktatur eines reinen, essen-
membrance and Ingeborg Bachmann’s Ways of dying.
Riverside; – Sigrid Weigel (1994): Bilder des kulturel- tiell dominanten Rationalismus, die ganzheitli-
len Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur. che Ausweitung des Geisteslebens in die Be-
Dülmen-Hiddingsel. reiche des Existentiellen, der religionswissen-
Marion Schmaus schaftlich einzuholenden Alterität und des
verdrängten Leidensdruckes, aber auch die Ab-
wehr des Nihilismus (vgl. zu Dempf und Gabriel
1.4. Religion Behre 1991, zu Frankls Konzept einer durch Lo-
gotherapie befreienden ›unbewußten Religiosi-
Der evangelische Theologe Peter Sänger, dessen tät‹ Behre 1998a und 2000a).
Abhandlung in den vorliegenden, sprachphiloso- Viele Einzeluntersuchungen auf der von Sän-
phisch-theologischen Dissertationen zum Thema ger skizzierten ersten Deutungsebene können un-
(Weber 1986, Habbel) nicht rezipiert wird, unter- ter drei Gesichtspunkten programmatisch zusam-
scheidet drei Deutungskreise des Themas ›Bach- mengestellt werden, die sich aus Bachmanns spe-
mann und die Religion‹: den ersten, weiteren mit zifisch in der von Dempf, Gabriel und Frankl
in der Sprachtradition unverzichtbar präsenten geprägten Religionsauffassung herleiten. Dempf
Wortfeldern, den zweiten, engeren mit der singu- projektiert im Sinne von Augustinus die Einheit
lären Botschaft einer Liebesethik und den drit- von religio naturalis (als Erkenntnismethode für
ten, innersten mit stummer Signatur des Leidens eine vielschichtige Wirklichkeit), religio fabulosa
an immanenten Welterfahrungen wie Sprachlo- bzw. poetica (als Sprachkunst angesichts der Er-
sigkeit und Kommunikationsverlust (Sänger). fahrungsfülle) und religio civilis (als ethische
Bachmanns Bezüge zu Martin Heidegger, Robert Gestaltung der Sozietät) (Dempf, S. 283). Die
Musil, Ludwig Wittgenstein und Simone Weil Hoffnung auf ein ›geschlossenes Weltbild‹ sieht
(Weber 1986) bedürfen im Blick auf Mystik einer Bachmann mit ihren Lehrern auch bei ›orthodox
Ergänzung durch den von Bachmann herausgear- katholischen Schriftstellern‹ als nicht mehr rele-
beiteten Epiphanie-Begriff bei Proust (Göttsche vant an (GuI, 49). Bachmanns eigener philo-
1987, S. 178 f.; Stauf). Sigrid Weigel benennt in sophischer Ansatz kann nur unter Rückgriff auf
diesem Sinne »Momente christlicher Heilslehre ihre Auseinandersetzung mit theologischen Aus-
in den frühen Erzählungen« von 1949 anhand der sagen zur Thanatologie, Ethik und Eschatologie
biblischen Geschichten nachempfundenen Topo- beschrieben werden. Für sie bedeutet Religion
graphie zu Fluß, Berg und Wüste, wobei sie im zum einen Thanatologie als Gegengewicht zu
Buch Franza eine Weiterentwicklung des Wü- Fortschrittsideologie und Wiederaufbaumentali-
stenmotivs zu einem ›Ort der Mystik‹ sieht (Wei- tät und darin zugleich ein auch religionskritisches
gel 1999, S. 67, 496–508). Deutlicher wird die Endlichkeitsbewußtsein, das der Beschwörung
Bindung der Utopie an die futurische als religiöse des »Endes« dialektisch die Herausforderung des
Sprache in Malina, wo Wüste »Offenbarungen« Neuanfangs entgegensetzt: »Ein Ende mit der
und »Erlösung« ermöglicht (TKA 3.1, 455 f.). Ins- Schrift. Ein andrer Anfang.« (TKA 2, 284) Zum
gesamt fehlt in der Forschung eine explizite zweiten bedeutet Religion Ethik, den Willen zu
Rückbindung an Bachmanns intellektuell-theo- Rechtfertigung und Gerechtigkeit im apokalyp-
retischen Ausgangspunkt, ihr Studium bei Alois tisch geschulten zeitkritischen Blick auf die
Dempf, Leo Gabriel und Victor Frankl, dem »Kriegsschauplätze« der Gesellschaft (W 2, 183).
Freund Hans Weigels. Frankl entwirft in einem Schließlich bedeutet Religion Eschatologie, The-
von Nietzsches Werk geschärften Denkstil unter matisierung der letzten Dinge wie im dritten
unmittelbarem Bezug auf die Nazidiktaturerfah- Kapitel des Romans Malina (»Von letzten Din-
Religion 219

gen«) mit seiner Spannung von Vernichtungser- dem Krieg«; W 2, 159; bzw. »der Faschismus […]
fahrung und utopischer Erlösungssehnsucht. in der Beziehung zwischen einem Mann und
Das Thema Religion bedarf bei Bachmann ins- einer Frau«; GuI, 144) und unbedingtem Kunst-
gesamt noch der weiteren Erforschung: willen (Juxtaposition von »ecce homo« und »ecco
(1) Für die im Frühwerk-Nachlaß zahlreichen un artista«; W 4, 342) tritt der Aufopferungsge-
religiös inspirierten Gedichte muß die inhaltlich danke in den weiblichen Figuren, der absolute
fixierende Gattung ›religiöse Lyrik‹ neu be- Einsatz der Person, bis zum Motiv des Stellvertre-
stimmt werden, z. B. im Bezug zu Nikolaus Cusa- tertodes (Göttsche 1987, S. 166) dominant in den
nus, Gabriels Forschungsgebiet, das Gedicht Das Vordergrund. In bezug auf den Opfergedanken ist
Göttliche: »Dein Schatten ist ein Licht zugleich« die Verwechslung von heteronom oktroyiertem
(N 5569), oder zu Trakl Klage: »Dunkle Wünsche ›victim‹ and autonom-freiwilligem ›sacrifice‹
kommen, Herr zu Dir« (N5682, 25.11.45), Preis- nicht deutlich ausgeschlossen. Eine Klärung der
gabe: »Föhn, lauer Wind zur Nacht« (N6283, Funktion des Opferkonzeptes bietet sich an in der
Kalvarienberg 30.10.45). Bachmann beabsich- Verbindung von Musik und Ritus (Behre 2000b),
tigte eine Dissertation bei Dempf zum Thema z. B. in Henzes mythologisch inspirierten Tanz-
»Typus des Heiligen« (Michael Benedikt, nach Musikdramen. Allerdings gehört zum Kunstfrei-
Pichl, S. 172) zu schreiben, mußte sich – wegen raum die Kritik jeder Ideologie, sowohl die der
Dempfs Berufung nach München – umorientie- historischen Verdrängung (»Unsere Gottheit, /
ren, von der ganzheitlich-historischen Kulturphi- die Geschichte, hat uns ein Grab bestellt«; W 1,
losophie in der Tradition Wilhelm Diltheys zum 49) als auch der hypostasierten, gefangenneh-
sprachanalytischen Logischen Positivismus. menden Liebe. Diese bedeutet wie im Gedicht
Dempfs Widerstand gegen den Nationalsozia- Eine Art Verlust nach ihrem Ende einen umfas-
lismus begründete sich aus einem politischen senden Weltverlust, der als nihilistische Reli-
Katholizismus, wie er in den Kulturzeitschriften gionskritik im Sprachgestus ›befreiender Blas-
»Hochland« und »Abendland« vertreten wurde. phemie‹ ausgedrückt wird (Hieber): »angehim-
Dempfs erneuter Einfluß im Nachkriegs-Wien melt ein Etwas und fromm gewesen vor einem
(1945–1950) – nach dessen Berufung (1936) und Nichts« (W 1, 170).
der noch im März 1938 folgenden, auch für Bach- Quellen: Alois Dempf (1992): Alois Dempf 1891–1982.
manns Doktorvater Victor Kraft geltenden, Philosoph, Kulturtheoretiker, Prophet gegen den Natio-
Zwangspensionierung – ist bemerkenswert. Er nalsozialismus. (Hg.) Vincent Berning und Hans Maier.
bestärkt die Zweifel an Bachmanns Motivation Weißenhorn; – Victor Frankl (1950): Homo patiens.
zum Wechsel des Dissertationsthemas und an Versuch einer Pathodizee. Wien.
ihrer philosophischen Herkunft allein aus der Literatur: Göttsche (1987); Höller (1999); Weber
Rationalitätskritik (Weigel 1999, S. 91, 81). (1986); Weigel (1999).
(2) Bachmanns biographischer Ausgangspunkt, Maria Behre (1991): Die zumutbare Unbestimmtheit.
Naturphilosophie des Liquiden und Dunklen im Früh-
ihre Situation als Protestantin in Klagenfurt, ins-
werk Ingeborg Bachmanns. In: Jahrbuch der Grillpar-
besondere im Ursulinengymnasium, findet – z. B. zer-Gesellschaft, 3. Folge 17 (1987–90), S. 163–184; –
in den unveröffentlichten frühen Gedichten – Maria Behre (1998a): Analyse der Religion als Rück-
einen bisher ungehörten Widerhall, ein Faktum, verbindung. Gegenläufiges Schreiben des Curriculum
das ihr Leben in Italien, speziell in Rom, eben- Vitae bei Ingeborg Bachmann. In: Der Deutschunter-
falls tangiert (vgl. die Reflexionen auf dem Prote- richt 50, S. 70–79; – Maria Behre (2000a): Das Gedicht
als existentiale Methode des Lebens im Immerzu-ans-
stantischen Friedhof; W 4, 35). Darüber hinaus
Sterben-Denken bei Ingeborg Bachmann. In: Albrecht/
enthält die Nachlaßbibliothek Quellenfunde wie Göttsche (2000), S. 95–110; – Maria Behre (2000b):
Martin Bubers Bibelübersetzung. Bachmanns Be- Ingeborg Bachmanns Gedicht Enigma – ein letztes
schäftigung mit dem Judentum aus der Perspek- Gedicht als Neuanfang. In: Kucher/Reitani (2000),
tive Österreichs gewinnt durch neue biographi- S. 264–278; – Marie-Luise Habbel (1992): »Diese Wü-
sche Materialien zu ihren Freunden Jack Hamesh ste hat sich einer vorbehalten«. Biblisch-christliche Mo-
tive, Figuren und Sprachstrukturen im literarischen
(Höller 1999), Hans Weigel und Celan einen
Werk Ingeborg Bachmanns. Altenberge; – Jochen Hie-
überpersönlichen Versöhnungsanspruch. ber (1998): Zeichen der Liebe. In: Frankfurter Antho-
(3) Durch die Verknüpfung von Individual- logie der FAZ, 11. 4. 1998; – Robert Pichl (1986): Dr.
schicksal, zeitgeschichtlichem Unglück (»nach phil. Ingeborg Bachmann. Prolegomena zur kritischen
220 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Edition einer Doktorarbeit. In: Jahrbuch der Grillpar- auf die »utopische Existenz« des Schriftstellers
zer-Gesellschaft, 3. Folge 16 (1984–86), S. 167–188; – bezogen (W 4, 271) – Ingeborg Bachmann spricht
Peter Sänger (1983): Christus und sein Kreuz in der
von einem »moralischen, erkenntnishaften Ruck«
deutschen Gegenwartsliteratur. Erzählmotive bei Inge-
borg Bachmann und Christa Wolf. In: Sänger: Spiegel- – und produktionsästhetisch gewendet zur Be-
bild. Interpretationsversuche, Stellungnahmen, Thesen dingung der Möglichkeit einer »neuen Sprache«,
zum Thema »Kirche und Literatur«. Berlin-Ost, S. 82– die ihrerseits zu »neuer Wahrnehmung, neuem
118; – Renate Stauf (2000): »Komm. Nur einmal. Gefühl, neuem Bewußtsein« (W 4, 192, 195)
Komm.« Epiphanieerfahrungen bei Ingeborg Bach- erziehen kann. Die prägnanteste Verbindung von
mann. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der
existentieller und poetologischer Funktion der
Jahrhundertwenden. (Hg.) Wolfgang Braungart und
Manfred Koch. Paderborn u. a., S. 29–41. Utopie des ›anderen Zustands‹ führt der Roman
Maria Behre Malina vor Augen. Mit Malina und Ich werden
zugleich zwei Erkenntnisformen, »der Verstand
und das Gefühl« (TKA 3.1, 579), und zwei Er-
1.5. Bachmanns Utopiebegriff zählformen – die ›trockene gute‹, d. h. ethisch
qualifizierte, Stimme Malinas und die ›erregten,
Theoretisch relevant verwendet Ingeborg Bach- schönen‹, d. h. ästhetisch qualifizierten, Worte
mann den Begriff Utopie nur in vier Texten: im des Ich (TKA 3.1, 681 f.) – in einer Figur zusam-
[Ferragosto]-Text, in ihren beiden Essays zu Ro- mengezogen. Noch im Juni 1973 bekennt sich
bert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaf- Ingeborg Bachmann zu der »einzigen Hoffnung«,
ten und in der Frankfurter Vorlesung »Literatur daß Literatur Ausdruck und Erziehung zu ganz-
als Utopie«, auch hier handelt es sich um Musil- heitlicher Individualität ist, also »das Zusammen-
Zitate (vgl. Agnese 1996, S. 104ff.). Daraus kann gehen« von »höchster Vernünftigkeit« und »höch-
jedoch nicht geschlossen werden, daß Utopie bei ster Emotion« (N2346, zitiert nach Schmaus
Bachmann nur ein »Deckbegriff« für »Erlösungs- 2000, S. 201; vgl. GuI, 139).
begehren« (Weigel 1999, S. 487) bzw. Messianis- Mit der ›Utopie des Lebens in Liebe‹ bezeich-
mus ist, sondern dies deutet auf die Relevanz, die net Musil den Versuch der Geschwister Ulrich
Musils Utopiekonzeption für Ingeborg Bach- und Agathe im Mann ohne Eigenschaften, den
manns Werk hat (Agnese 1996, S. 103–114; ›anderen Zustand‹ in Abkehr von der Gesell-
Bartsch 1980a; Weber 1986, S. 55–74). Im Hin- schaft im Mikrokosmos des Paares in inter-sub-
blick auf seinen Roman unterscheidet Robert Mu- jektive Praxis zu überführen. Der »Weg des Den-
sil drei Utopien: die Utopie des »anderen Zu- kens« fällt, wie Bachmann in ihrem Musil-Essay
stands«, des »Lebens in Liebe« und die der »in- ausführt, »mit dem Weg der Liebe zusammen«
duktiven Gesinnung oder des gegebenen sozialen (W 4, 26). Die in der Liebe vollzogene Bewußt-
Zustands« (Musil, S. 1579). Die hierin impli- seins- und Weltentgrenzung setzt die herr-
zierte erkenntnistheoretische, praktische und schende gesellschaftliche Ordnung zugunsten ei-
zeitdiagnostische Dimension führt Bachmann in ner anderen möglichen Ordnung außer Kraft und
ihrem ästhetischen Utopiekonzept eng. ist darin gemäß dem Musilschen ›Möglichkeits-
Als Krisenphänomen der Moderne diagnosti- sinn‹ gelebter Utopismus. Daß beide Utopien,
ziert Musil in seinem Roman den Verlust ganz- der ›andere Zustand‹ und die Liebe, in Musils
heitlicher Individualität. Der ›andere Zustand‹ Roman scheitern, deutet Bachmann jedoch nicht
als Erkenntnismoment, in dem Verstand und Ge- als Absage, sondern als Ausdruck ihres Augen-
fühl, in Musils Worten »Mathematik und Mystik« blickscharakters: »Liebe als Verneinung, als Aus-
(W 4, 98), eine Synthese eingehen, wird so Bach- nahmezustand«, das »Außersichsein, die Ekstase
manns Deutung gemäß zum Ausgangspunkt für währen – wie der Glaube – nur eine Stunde«
den Entwurf einer »neuen Moral« (W 4, 25, 96). (W 4, 102, 27). In der Musil-Lektüre entwickelt
Diese existentiell-erkenntnistheoretische Di- Bachmann das zentrale Signum ihres Utopiebe-
mension des Utopiebegriffs kehrt im [Ferrago- griffs: Es handelt sich um einen Erkenntnis- oder
sto]-Text wieder, wo der »utopische Charakter« Lebensmoment, der seine Wertigkeit darin er-
Roms gerade in der »geistig fühlbaren Botschaft« hält, daß er den »Sinn für die noch nicht geborene
(W 4, 337) begründet liegt. In den Frankfurter Wirklichkeit« eröffnet (W 4, 87). Als »Richtbild«
Vorlesungen wird Musils ›anderer Zustand‹ dann und »Ahnung« wird Utopie so zum »Movens des
Bachmanns Utopiebegriff 221

Geistes« (W 4, 100). Das gilt für die Liebes- nicht gekommen ist« (W 4, 196; vgl. Agnese 1996,
utopien im Guten Gott von Manhattan, in Ein S. 106). Die Repräsentationsform dieses ›Etwas‹
Schritt nach Gomorrha und Undine geht sowie ist »Verneinung«, »Verstoß gegen die schlechte
im Buch Franza und in Malina. Im besonderen Sprache« des Lebens (W 4, 102, 268). Utopie
gestaltet sich die Liebesutopie in Bachmanns wird so in Bachmanns Werk zu Gesellschafts-
Werk als Möglichkeitssinn für andere Formen der und Sprachkritik im Modus der Negativität, zum
Geschlechterordnung: sei es als Geschwisterliebe Entwurf von »Gegenzeit« (W 1, 317) und »Gegen-
(Das Spiel ist aus, Das Buch Franza, Drei Wege bild« (W 2, 212), zu einer kontrafaktischen Hoff-
zum See), als Androgynität (Malina-Ich) im Rück- nung (GuI, 128, 145). Den französischen Wider-
griff auf Musils Reflexionen zur ›Zweigeschlecht- standskämpfer René Char zitierend endet die
lichkeit der Seele‹ (vgl. Agnese 1996, S. 136–142; Frankfurter Vorlesung »Literatur als Utopie« mit
Schmaus 2000, S. 123–138) oder als lesbische einem sprachlichen Akt der ›résistance‹, »mit
Liebe (Ein Schritt nach Gomorrha). Auch diesen einer Salve Zukunft« (W 4, 271; vgl. GuI, 139;
Aspekt des Musilschen Utopiebegriffs überführt Höller 1987, S. 153). Induktiv gesinnt ist Bach-
die Vorlesung »Literatur als Utopie« in eine poe- manns Utopiekonzeption auch darin, daß »neue
tologische Kategorie. Literaturrezeption wird im Leid-Erfahrungen« wie in der Kriegsblinden-
Anklang an die letzte Zeile von Das Spiel ist aus Rede (GuI, 139; vgl. Höller 1987, S. 149–154)
als ›Atemtausch‹ bezeichnet (W 4, 271) und da- oder später in den Todesarten als ›andere Zu-
durch als Liebesverhältnis gedeutet. Die ausführ- stände‹ integriert werden, die ›sehend machen‹
liche Zitierpraxis der Poetikvorlesungen stellt für den gesellschaftlichen ›Mordschauplatz‹.
sich somit als sprachlicher Vollzug der Liebes- Verdankt sich der Utopiebegriff in Bachmanns
utopie dar. Mit der Äußerung »Liebe ist ein Werk fast ausschließlich Musilzitaten, so hat sie
Kunstwerk« (GuI, 109) hat Bachmann diese Uto- diesen Begriff jedoch für ihre Zeit aktualisiert
pie später auf die Werkästhetik der Todesarten und dies wiederum in dem ihrem Konzept eigen-
bezogen, was sowohl durch die oben angedeutete tümlichen Gestus des Dialogs: mit Ernst Bloch
Vermittlung verschiedener Erzählformen und (W 4, 196; GuI, 42), Theodor W. Adorno und
Textgenres als auch durch verstärkte intertexuelle Walter Benjamin (W 4, 157; GuI, 140). In Ernst
Textverfahren eingelöst wird (vgl. Schmaus 2000, Blochs »Prinzip Hoffnung« (1959) ist es gerade
S. 191ff.). die Kunst, die das ›Noch-Nicht‹, die »Tiefen- und
Mit Musils ›Utopie der induktiven Gesinnung Hoffnungsdimension« (Bloch, S. 945) der Wirk-
oder des gegebenen sozialen Zustands‹, mit der lichkeit vermittelt. Bachmanns von einer Gat-
Der Mann ohne Eigenschaften enden sollte, tungsbezeichnung abgelöstes Utopieverständnis,
kommt das Andere der Utopie, das ›Böse‹, der das die Literatur als »ein nach vorn geöffnetes
Krieg ins Spiel (siehe W 4, 101) und damit die Reich von unbekannten Grenzen« (W 4, 258)
zeitdiagnostische Funktion des Utopiebegriffs. bestimmt, läßt sich als Blochzitat lesen (Mech-
Der Erkenntnis- und Erfahrungsgewinn der vor- tenberg 1978). Allerdings verbleiben die ziel-
angehenden Utopien ist in dieser Konzeption feindlichen Richtbilder Musils und Bachmanns
aufbewahrt, wird aber für die Analyse der eige- in signifikanter Differenz zu Blochs ›konkreter
nen Zeit, in Musils Fall der Erste Weltkrieg, Utopie‹ des Sozialismus (Bartsch 1997, S. 29). In
instrumentalisiert. Das Widerspiel der Utopien ihrer Negativität stehen sie Adorno näher, dem-
im Mann ohne Eigenschaften deutet Ingeborg zufolge Kunst in Verweigerung der Affirmation
Bachmann dahingehend, »daß an die Stelle der »das Unaussprechliche, die Utopie« nur durch
geschlossenen Ideologien«, die zum Krieg füh- »absolute Negativität« aussprechen kann
ren, »offene treten« (W 4, 27, 102). Der Titel des (Adorno, S. 55; vgl. Mechtenberg 1978, S. 92 f.;
verschollenen Radio-Essays Utopie contra Ideo- Bartsch 1997, S. 29). Augenblickscharakter und
logie (vgl. W 4, 406) impliziert ähnliches. In den Zitat rücken Bachmanns Utopieverständnis je-
Frankfurter Vorlesungen wird der Zusammen- doch deutlicher in Korrespondenz zu Walter Ben-
hang von ›gegebenem sozialen‹ und ›anderem jamins Sprach- und Geschichtsauffassung. Denn
Zustand‹ in die Wendung übersetzt, dem Schrift- laut Benjamin sind nur im »Augenblick der Ge-
steller könne es idealiter gelingen, »seine Zeit zu fahr« die mit messianischer Jetztzeit aufgelade-
repräsentieren« und etwas, »für das die Zeit noch nen Bilder der Vergangenheit »zitierbar« (Ben-
222 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

jamin 1974, S. 694 f.). Mithin verschränken sich anderen die zeitdiagnostische Funktion in Hin-
Utopie und Trauma hier in ähnlicher Weise wie in blick auf Krieg und Todesarten.
Bachmanns Konzeption. Spricht die Vorlesung
Quellen: Theodor W. Adorno (1973): Ästhetische Theo-
»Literatur als Utopie« von der »Nachahmung«
rie. (Hg.) Gretel Adorno, Rolf Tiedemann. Frankfurt/
einer »erahnten Sprache«, »die noch nie regiert M.; – Walter Benjamin (1974): Gesammelte Schriften,
hat« (W 4, 270 f.), so ist diese paradoxe Formulie- Bd. I.2. (Hg.) Rolf Tiedemann, Hermann Schweppen-
rung als Referenz auf Benjamins »Über das mi- häuser. Frankfurt/M.; – Walter Benjamin (1977): Ge-
metische Vermögen« zu verstehen: »Was nie ge- sammelte Schriften, Bd. II.1. (Hg.) Rolf Tiedemann,
schrieben wurde, lesen.« (Benjamin 1977, S. 213; Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.; – Ernst
Bloch (1959): Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2. Frankfurt/
vgl. Agnese 1996, S. 264–268; Weigel 1999,
M.; – Robert Musil (1952): Der Mann ohne Eigen-
S. 490ff.) schaften. (Hg.) Adolf Frisé. Hamburg.
Im Zitat, in der Auseinandersetzung mit Musil,
Bloch, Adorno und Benjamin gewinnt Utopie in Literatur: Agnese (1996); Bartsch (1997); Höller
Ingeborg Bachmanns Werk als Ȋsthetische Kate- (1987); Mechtenberg (1978); Schmaus (2000); Weber
(1986); Weigel (1999).
gorie« (Mechtenberg) Gestalt, wobei aber nicht
Kurt Bartsch (1980a): Ingeborg Bachmanns Wittgen-
übersehen werden darf, was an den Rändern stein- und Musil-Rezeption. In: Jahrbuch für inter-
dieses Begriffs liegt: zum einen die Wirkungs- nationale Germanistik 8/4, S. 527–532.
intention in Richtung auf eine ›neue Moral‹, zum Marion Schmaus
223

2. Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie


in Bachmanns Werk

würfen zum Buch Franza als »größten Pionier


Studium der Psychologie
[…], wie historisch er auch geworden sein mag«
Zwei Jahre vor ihrem Tod hob Bachmann ihre (TKA 2, 16), bezeichnet, scheint sie eine weitaus
enge »Beziehung« zu österreichischen »Autoren« intensivere »Beziehung« (GuI, 80) als etwa zu
hervor, u. a. auch zu Sigmund Freud (GuI, 80). Alfred Adler oder Carl Gustav Jung gehabt zu
Schon als Studentin hatte sie Lehrveranstaltun- haben (TKA 3.2, 943 zur Aufzählung in Malina:
gen über Tiefenpsychologie belegt: »Angewandte »Freud, Adler und Jung«, TKA 3.1, 371). Von
Psychologie« bei Lambert Bolterauer (Sommer- beiden sind – trotz Bachmanns offensichtlicher
semester 1947), »Psychische Heilmethoden unter Kenntnis der Terminologie vor allem Jungs (TKA
besonderer Berücksichtigung der Individualpsy- 3.2, 957 zu »Animus«, TKA 3.1, 555; »anima« und
chologie« bei Karl Novotny. An ein Praktikum in »meine Dorfelektra«, TKA 2, 7; vgl. auch die
der Wiener Nervenheilanstalt »Am Steinhof«, das Nennung des Schweizer Psychoanalytikers in
sie im September 1947 im Rahmen ihres Stu- TKA 4, 42) – keine Titel in ihrer Bibliothek zu
diums absolvierte, schloß sich im Winterseme- verzeichnen. Doch legt die Bestückung mit an-
ster 1947/48 ein »Psychotherapeutisches Prakti- deren einschlägigen Werken, wie Otto Ranks psy-
kum« bei Viktor E. Frankl an (Pichl 1986, S. 171). choanalytischer Studie »Sexualität und Schuld-
Sie war mit Freuds wichtigsten Schriften ver- gefühl«, Richard von Krafft-Ebings »Verirrungen
traut. Die Annahme bei Uwe Johnson (S. 7) und des Geschlechtslebens« oder Max Prinz zu Lö-
Peter Beicken (1988, S. 45 f.), Bachmann habe wensteins »Traumweisheit und Traumdeutung«
Freud ins Italienische übersetzt, konnte bisher (vgl. Beicken 1988, S. 45), Konrad Lorenz’ Unter-
nicht verifiziert werden; ebenso wenig ist geklärt, suchungen »Über tierisches und menschliches
ob sie den 1963 in einem Brief erwähnten Radio- Verhalten« sowie Lorenz’ und Paul Leyhausens
Essay mit dem Titel Freud als Schriftsteller nur Studie über »Antriebe tierischen und mensch-
geplant oder auch tatsächlich geschrieben hat lichen Verhaltens« (vgl. Pichl 2003) oder Frankls
(vgl. W 4, 406 f.). Was sich hinter dem Titel »Handbuch der Neurosenlehre und Psychothera-
»Psychologie in Purkersdorf«, eines am 12. April pie unter Einschluß wichtiger Grenzgebiete« (vgl.
1953 ausgestrahlten Hörfunkbeitrags im Rahmen Behre 2000, S. 96) nahe, daß sie über grund-
der Unterhaltungssendung Die Radiofamilie ver- legende fachwissenschaftliche Kenntnisse hin-
birgt, wird die geplante Veröffentlichung der sichtlich psychischer Konflikte verfügte. In ihrer
Skripte zeigen (McVeigh 2002). Frankfurter Vorlesung »Über Gedichte« erwähnt
Von ihrem wissenschaftlichen und privaten In- sie selbst ihre Lektüre literarischer Texte, die in
teresse an der Psychoanalyse und Psychosomatik einem deutlichen Bezug zur Psychoanalyse ste-
zeugt auch Bachmanns Bibliotheksbestand, zu hen (vgl. W 4, 200ff.).
dem zahlreiche Titel Sigmund Freuds gehören: Ein Kenner der Psychoanalyse war z. B. Wystan
Neben einem Auswahlband seiner Briefe besaß Hugh Auden, dessen nach dem Zweiten Welt-
sie seine Briefwechsel mit Oskar Pfister und Ar- krieg viel gelesene Ekloge Das Zeitalter der Angst
nold Zweig sowie Ausgaben wie »Das Unheim- (engl. 1947) sie in gleich zwei Ausgaben besaß
liche. Aufsätze zur Literatur« und nicht zuletzt die (Pichl 2003). In Malina, neben dem Buch Franza
(teilweise ungeöffnete) »Studienausgabe« in elf der Text mit dem offensichtlichsten Rekurs auf
Bänden (vgl. Pichl 2003). Band 6 der Studien- konkret psychologische bzw. psychoanalytische
ausgabe über »Hysterie und Angst« gehörte zu Fragestellungen, weisen mehrere Passagen Über-
den geöffneten und wegen der offenkundigen einstimmungen mit Auden auf (TKA 3, 654, 962).
Verarbeitung psychoanalytischer Angsttheorien Eine seiner beiden Männerfiguren heißt »Malin«
in ihrem Todesarten-Projekt (vgl. Kanz 1999) ver- und ist kanadischer Militärarzt in mittleren Jah-
mutlich auch von Bachmann am meisten rezipier- ren. Die männliche Titelfigur in Malina ist vier-
ten Bänden. Zu Freud, den sie in Vorrede-Ent- zig und arbeitet im Wiener Heeresmuseum. Au-
224 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

dens an Freuds Methodik der Freien Assoziation Die psychoanalytische Rätselfrage in Das
orientierte Beschreibung der ›Gespräche‹ von Lächeln der Sphinx
vier sich zufällig nachts in einer New Yorker Bar
zusammenfindenden Personen, die mehr mono- In dem offenen Brief »Zur sexuellen Aufklärung
logisieren als kommunizieren und die im Rausch der Kinder« (1907) hatte Freud das Rätsel der
ihre geheimsten Gedanken enthüllen, erinnern Sphinx zur psychoanalytischen Rätselfrage
an die Gespräche, in denen das ›weibliche Ich‹ schlechthin erklärt (Freud 1975, Bd. 5, S. 164 f.).
zur Analysandin und Malina zum Analytiker wird Er brachte das in der Selbstanalyse entdeckte
(TKA 3.1, 634). Schicksal, die »Verliebtheit in die Mutter und die
Mit dem ebenfalls in dieser Vorlesung erwähn- Eifersucht gegen den Vater« (Freud 1962, S. 193),
ten Gustav René Hocke (W 4, 211) teilte Bach- mit dem des Ödipus in Verbindung und stilisierte
mann insbesondere das psychologische Interesse es zur fundamentalen Bestimmung der Mensch-
an der Angst. In dem kulturgeschichtlichen Essay heit. In der Figur des Ödipus sah er zugleich auch
»Die Welt als Labyrinth« z. B. hatte Hocke den den Mann des Logos. Die Sphinx, aus psycho-
Manierismus als »Urgebärde« gedeutet, die in analytischer Sicht ein Muttersymbol, verkörpert
der Moderne aus der Unsicherheit und Realitäts- zugleich ein Wesen, vor dem Ödipus »mit ›Witz‹
angst erwachse (Hocke, S. 63ff.). Von dem in den nichts ausrichten kann« (Worbs, S. 314).
Vorreden zum Buch Franza zusammen mit Freud Die grundlegende psychoanalytische Rätsel-
genannten »unentdeckten Sacher-Masoch« (TKA frage steht im Zentrum einer frühen, von der
2, 16), der in seinen Texten die Verknüpfung von Forschung wenig beachteten Erzählung, die den
sinnlicher Lust und Schmerzempfindung va- für diesen Rezeptionszusammenhang verräteri-
riierte – jene Spielart der Perversion, die später schen Titel Das Lächeln der Sphinx (1949) trägt.
(1886) von dem Psychiater Richard von Krafft- Der Herrscher eines Landes fühlt sich seit län-
Ebing als »Masochismus« definiert wurde –, be- gerem ›bedroht‹. Die »Bedrohung kommt von
finden sich die Wiener Hofgeschichten und der oben«, so meint er, »von unausgesprochenen For-
Roman Ein weiblicher Sultan in ihrer Bibliothek derungen und Weisungen, denen er folgen zu
(Kommentar TKA 2, 468). müssen glaubte und die er nicht kannte«. Er will
Die Auseinandersetzung der Autorin mit psy- den »Schatten«, der »vielleicht die Bedrohung
chologischen Fragestellungen entspricht nicht barg«, zurück ins Leben zwingen, und bald sieht
nur einem zeitgenössischen Phänomen (dem er ein »ungeheures Tier«, die »furchteinflößende
neuerwachten Interesse an der Psychoanalyse v. a. seltsame Sphinx« (W 2, 19). Entsprechend der
bei den Linksintellektuellen der 68er-Bewe- psychoanalytischen Deutung, daß mythische
gung), sondern sie besteht lebenslang, und Bach- Monster als »Projektionen der Angst« zu begrei-
mann bleibt stets bemüht, »ihre Kenntnisse durch fen sind, ist aus der Unruhe und dem Bedro-
fortgesetzte Lektüre [zu] vertiefen. Ihre Beschla- hungsgefühl des Mannes die Erscheinung der
genheit auf diesem Gebiet geht später so weit, Sphinx entstanden (Weigel 1994, S. 20; Weigel
daß das Gespräch mit einem Psychiater, zu dem 1999, S. 77). Es beginnt »das tödliche Spiel« (W
sie sich wegen ihrer Angstzustände in Therapie 2, 21). Der Herrscher kann die drei Rätselfragen
begeben will, in ein Fachgespräch zwischen zwei lösen, das »Ungeheuer« scheint durch die ratio-
Kennern der Materie umschlägt und sich darin nale, wissenschaftliche Beantwortung der Fragen
erschöpft.« (Hapkemeyer 1990, S. 27 f.) In der »beinahe entzaubert« (W 2, 20). Die logischen
späten Erzählung Drei Wege zum See wird eine Erklärungen haben ihm das Furchteinflößende
ähnliche Situation im Zusammenhang mit Angst- genommen. Trotz seines scheinbaren Sieges über
anfällen der Protagonistin beschrieben (TKA 4, das furchterregende Irrationale ist der König am
409); doch bereits in ihren frühen Erzählungen Ende im Grunde kein König mehr, denn es fehlen
hatte sich die Autorin selbst als genaue ›Kennerin ihm nun die Untertanen. Mittels eines Tötungs-
der Materie‹ (Hapkemeyer) erwiesen. instruments, der Guillotine, hatte er die dritte
Frage der Sphinx zu beantworten versucht, in-
dem er jeden seiner Untertanen enthaupten ließ,
um herauszufinden, was denn jeweils in den
Menschen verborgen sei.
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 225

Redekuren: Männliche Figuren [zu]brechen« (Wolf, S. 69) und das Es zum Ich
als Psychoanalytiker werden zu lassen (vgl. Freud 1975, Bd. 1,
S. 516).
In den beiden hier zentralen Texten des Todes- Das Analysemodell in Malina kehrt sich aller-
arten-Projekts, Das Buch Franza und Malina, dings für kurze Zeit um, und die Protagonistin
werden Gesprächssituationen beschrieben, in de- übernimmt die Funktion der Analytikerin (Kanz
nen die jeweilige Protagonistin wie in der psy- 1999, S. 115ff.). In dem Kapitel »Von letzten Din-
choanalytischen ›Redekur‹ zur Analysandin, die gen« spricht sie ausdrücklich Gefahrensituatio-
jeweilige männliche Bezugsfigur zum Analytiker nen an, in denen sich Malina einmal befunden
wird, so im Buch Franza, wenn sich Bruder und hat. Diese Passagen um den »alten Zettel« (TKA
Schwester 1964 in Galicien wiedertreffen. Franza 3.1, 632ff.) verarbeiten die »Angst-Erlebnisse Eu-
scheint sich in einem lebensgefährlichen Zustand gen Tobais«, spielen also auf die »Todesangst-
zu befinden, ist zunächst kaum in der Lage zu Entwürfe« im unvollendeten ersten Todesarten-
sprechen (TKA 2, 164). Der Bruder versucht in Roman an (Eugen-Roman II; Kommentar TKA
psychotherapeutischer Weise auf sie einzugehen, 3.2, 960).
so daß sie dann doch irgendwann »zusammen- Die weibliche Ich-Figur versucht Malina an
hängend, aber sehr langsam, als müßte sie jedes drei Situationen zu erinnern, in denen er in Ge-
Wort von der Zungenwurzel bis zu den Zähnen fahr war. Ihr Bemühen, ihn zum Sprechen zu
schieben«, spricht. »Dann ging es bald besser, sie bringen, bleibt allerdings weitgehend erfolglos.
artikulierte« (TKA 2, 165). Malina bestreitet die vergangene Situation zu-
Die Gesprächssituationen auf der Überfahrt nächst, muß ihr jedoch am Ende indirekt Recht
nach Ägypten sind auch insofern klassisch psy- geben (TKA 3.1, 634). Das ›weibliche Ich‹ kann
choanalytische, als Franza erst allmählich wieder ihn letztlich seiner Angst überführen. Da Malina
anfangen kann zu sprechen und sich, frei assoziie- darauf aggressiv reagiert, stellt sich das frühere
rend, mit ihrer Vergangenheit auseinanderzuset- Beziehungsmodell und Analyseverhältnis bald
zen. Ihre Angst nimmt dementsprechend ab, und wieder ein – zugunsten der »Gewinnung der
sie scheint sich zu stabilisieren: Die ›Redekur‹ Figur von Malina, die objektiv und souverän ist,
zeigt somit (zumindest kurzzeitig) Wirkung. Im während das Ich subjekt und unbrauchbar war«,
Zusammenhang mit der psychoanalytischen so die Autorin in einem Entwurf zur Inhalts-
Funktion Martins ist dessen »Faszination für angabe. Denn nur so könne »später jede fragwür-
Breasted« wichtig, »eine[n] Ägyptologen, dem dige Erzählerperspektive« wegfallen, »weil Ma-
gegenüber Franza gleichgültig ist. […] James lina alles weiß und frei über alle Figuren verfügt«
Henry Breasted war der Autor von ›The Dawn of (TKA 3.2, 740). Mehr noch: Er mißbraucht seine
Conscience‹ (1933), eine Arbeit, die Freud be- Souveränität und sein Mehrwissen. Ähnlich wie
nutzte, um in ›Der Mann Moses und die mono- der Psychiater Jordan im Buch Franza setzt er es
theistische Religion‹ seine These zu unterstüt- zur Zerstörung der weiblichen Figur ein. Für
zen, daß Moses in Wirklichkeit Ägypter und nicht Bachmann liegt darin sogar das eigentliche Motiv
Jude war.« (Lennox 1984, S. 166) der ganzen Analyse: »die Auseinandersetzung
Auch der männliche Doppelgänger in Malina zielt auf die Vernichtung des Ich ab, das von
fungiert als Analytiker (vgl. Stoll, S. 255), und Malina zur Einsicht gezwungen wird, daß es zu
zwar in dem aufklärenden und rationalisierenden verschwinden hat« (TKA 3.2, 739).
Sinne, wie es Freud einfordert; will Malina doch
dem ›weiblichen Ich‹ zu einer linearen und lo-
Der ›Fall Franza‹ als ›Fall Dora‹?
gisch-kausalen Aufarbeitung von dessen Vergan-
genheit, zur »verschwiegenen Erinnerung« ver- Die Thematisierung von Angst in Verknüpfung
helfen, bei der es immer einen »Grund« aufzu- mit psychoanalytischem Wissen ist im gesamten
decken gibt und an deren Ende »Ordnung«, Todesarten-Projekt dominant. Die körpersprach-
Wahrheit und »Erkenntnis« stehen sollen (TKA lichen Artikulationsmuster, die bei den Frauen-
3.1, 292, 537, 583) – gemäß dem psychoanalyti- figuren auf immer ähnliche Weise ablaufen (Zit-
schen Programm, »die Wand zu einem der gut tern, Schlottern, Zusammenknicken der Beine,
versiegelten Hohlräume des Gedächtnisses ein- schnelles Atmen, Schwindelgefühl, Erbrechen;
226 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Kanz 1999), stimmen auf oft verblüffende Weise reden zum Buch Franza ankündigt, daß sie in
mit den Freudschen Beschreibungen pathologi- ihrer Protagonistin diverse inwendige Dramen
scher Symptomatik, insbesondere der Hysterie stattfinden läßt (TKA 2, 78). Auch vor diesem
und Angstneurose, überein. Freud zufolge ist Hintergrund erscheint eine lediglich auf das Phä-
Angst »ein Affektzustand, der aus einer Erre- nomen ›Hysterie‹ hin zugespitzte Interpretation
gungssteigerung, aus Reaktionen zur Abfuhr die- allzu reduktionistisch. Nach einer weniger pa-
ser Erregung, aus der Wahrnehmung dieser Erre- thologisierenden Lesart ist Franzas Anspielung
gung und ihrer Abfuhr und aus einem diesen auf das Märchen von Schneewittchen schlicht als
gesamten Verlauf begleitenden Unlusterlebnis (Real-) Angst vor Vergiftung durch ihren sadisti-
besteht. Abfuhrreaktionen wären hierbei etwa schen Ehemann zu interpretieren (Kanz 1999,
Störungen im Herzschlag- und Atemrhythmus, S. 172). Diese Perspektive widerspricht derjeni-
Schweißausbrüche sowie motorische Unruhe gen Gutjahrs nicht grundsätzlich, liegt ihr doch
(Zittern und Schütteln).« (Krohne, S. 11) vor allem daran, die Auswirkungen psychoso-
Nicht nur die Rolle Franzas als Therapierte, zialer Bedingungen auf die Psychogenese einer
sondern auch das zeitweilige Abhandenkommen Frau herauszuarbeiten.
der Sprache, die dann über diverse andere Sym- Eine pathologisierende Diagnose der literari-
ptome gleichsam re-materialisiert wird, stellen schen Gestalt erscheint auch dann noch proble-
diese Figur in eine Reihe mit den ›großen Hy- matisch, wenn man den Diskurs der Psycho-
sterikerinnen‹ der Weltliteratur (Lennox 1984, analyse noch gründlicher zu Rate zieht (vgl. Kanz
S. 165). Die Hysterie in Der Fall Franza – so der 1995; Kanz 1999, S. 69ff.). Sowohl der Hysterie
Titel früherer Editionen – läßt sich, je nach In- als auch der Angstneurose liegen Freuds und
terpretationsgemeinschaft, als Stigmatisierung Breuers »Studien über Hysterie« zufolge trau-
oder subversive Strategie lesen, so daß der Text matische Erlebnisse zugrunde, und oft sind die
als Fort- bzw. Umschreibung einer Krankenge- Funktionen des Körpers gestört (vgl. Freud 1999,
schichte verstanden werden kann. Marianne Bd. 1, S. 142 f.). Die Traumata werden im Anfall
Schuller interpretiert den Fall Franza dement- mit Hilfe des Körpers in die Gegenwart geholt.
sprechend auf der Folie des ›Falls Dora‹ als eine Franzas Körper (re-)produziert während ihrer
Hysterie-Studie mit umgekehrten Vorzeichen, in Wüstenreise immer wieder Erinnerungen an die
der die Psychoanalyse (gemeint ist die Figur des früher erlebte Angst, was sich vor allem in
Psychiaters Jordan), stellvertretend für die pa- Schwindelanfällen äußert, bei denen ihr die
triarchale Wissenschaft überhaupt, nicht als Hei- Beine versagen und der Boden unter ihr zu
lungsmöglichkeit, sondern als Ursache der Hy- wanken scheint (TKA 2, 292). Die zum Teil fast
sterie dargestellt werde (Schuller, S. 151). wortwörtliche Übereinstimmung solcher Schil-
Ortrud Gutjahr verweist in ihrer psychoanalyti- derungen mit Freuds Beschreibungen angstneu-
schen Lektüre auf die Erstickungsanfälle Franzas, rotischer Symptomatik sind frappierend, gehört
die aus ihrer Sicht das Etikett »hysterische An- zu ihnen doch vor allem »der Schwindel«, der von
fälle« gerechtfertigt erscheinen lassen (Gutjahr »Empfindungen« begleitet wird, »daß der Boden
1988, S. 116). So hustet Franza in einem Vorent- wogt, die Beine versinken, daß es unmöglich ist,
wurf an einem »Apfelschnitz […] herum, als wäre sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die
es vergiftet«, und bekommt »keine Luft mehr« Beine bleischwer, zittern oder knicken ein«
(TKA 2, 56 f.), in anderen Szenen verweigert oder (Freud 1975, Bd. 6, S. 31 f.).
erbricht sie das Essen (TKA 2, 60, 246). Zwar hat Daß Franzas körperliche Symptome ihre ver-
die psychologische Forschung Erbrechen und schütteten Erinnerungen symbolisieren, läßt sich
Magersucht zu den prägnantesten Merkmalen mit der Erinnerungskonzeption in den »Studien
der Hysterie gerechnet, da jedoch literarische zur Hysterie« vergleichen (Weigel 1999, S. 318).
Figuren keine realen Personen sind und ihre Franzas als »Reise durch die Krankheit« beschrie-
Charaktere nicht im Sinne eines tatsächlichen bene Wüstenfahrt ist »als Reise durch die Ge-
Krankheitsbildes konstruiert sein müssen, kön- dächtnisspuren ihrer Vorzeit« interpretierbar,
nen auf sie zahlreiche Beschreibungen sich mög- ihre »Symptome« als »›archaische Erbschaft‹
licherweise widersprechender Krankheitsbilder (Freud)«, als »phylogenetisches Gedächtnis der
zutreffen, zumal Bachmann bereits in den Vor- westlichen Zivilisationsgeschichte« (Weigel
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 227

1999, S. 501). Die Protagonistin selbst wird aus Die Traumdeutung im Buch Franza
dieser Sicht zum »Gedächtniskörper, der eine und in Malina
symptomale Lektüre von Dauerspuren möglich
macht«, bzw. zum »Symptomkörper«, über den Das zweite Kapitel in dem Roman Malina, »Der
die »Lesbarkeit der Geschichtsbilder« medial dritte Mann« betitelt, besteht aus Tag- und Nacht-
vermittelt wird (ebd., S. 517). träumen des ›weiblichen Ich‹, die nach Bach-
Trotz solcher Parallelen zwischen literarischen manns Entwurf einer Inhaltsangabe »zeigen« sol-
und psychoanalytischen Beschreibungen psychi- len, »was die wahre Ursache der Zerstörung die-
scher Zustände ist auf die Differenzen zu achten: ses Ichs ist« (TKA 3.2, 739). Es gibt rekurrente
Bachmann diagnostiziert nicht, sondern ver- Figurationen der Angst in Malina, so das frauen-
sucht, die Empfindungen Franzas zu veranschau- fressende Krokodil, das in mehreren Alpträumen
lichen, indem sie aus einer personalen Perspek- der ›weiblichen‹ Hauptfigur Furcht verbreitet
tive schreibt und den Körper sprechen läßt, und immer auch die ›Vater-Instanz‹ verkörpert
dessen Sprache sie weder als Krankheitssym- (TKA 3.1, 552). Das ›weibliche Ich‹ hat »die
ptomatik kenntlich macht noch als solche be- Wahl«, »von dem Krokodil zerrissen zu werden
wertet. Anders als der Analytiker bleibt die oder in den Fluß zu gehen, wo er am tiefsten ist«
Schriftstellerin immer bei der Deskription, ohne (TKA 3.1, 553). Vor dem Hintergrund der Theo-
medizinische Etikettierungen vorzunehmen. rien C. G. Jungs, von denen es im Text heißt, das
Wichtig ist ihr aufzuzeigen, was die physischen ›weibliche Ich‹ habe sie selbst rezipiert (TKA 3.1,
Phänomene ausdrücken und wie es zu ihnen 371 f.), ließe sich das Krokodil als das Unbewußte
gekommen ist. Dies entspricht zum einen ihrer der Träumerin lesen, zumal es jenem »Tiersym-
an Georg Groddeck geschulten Auffassung, daß bol« zu entsprechen scheint, das Jung selbst ver-
Körperzeichen auf bestimmte psychische Regun- wendete, um die Funktionsweisen des kollekti-
gen verweisen. Zum anderen aber wird hier ihre ven Unbewußten zu erklären (vgl. Jung 1971,
kritische Distanz zur Psychoanalyse deutlich. S. 99 f.). Das ›weibliche Ich‹ muß sich zwischen
Doch selbst solche Passagen im Buch Franza, der Auseinandersetzung mit seinem Unbewußten
die von psychoanalytischen Beschreibungsmo- (und damit auch dem ›Vater‹) und der völligen
dellen gänzlich losgelöst scheinen und lediglich Verdrängung entscheiden. Ersteres ist mit der
auf die explizit angeführte lebhafte Phantasie der Angst vor neuen Erkenntnissen über die eigene
Protagonistin verweisen (TKA 2, 190) – etwa ihre Person verbunden, die möglicherweise so uner-
Vorstellung von »tausend« angstauslösenden träglich sein könnten, daß sie das ›weibliche Ich‹
Sphinxen (TKA 2, 277) –, können zu einer pa- innerlich zu »zerreißen« drohen.
thologisierenden, auf die Psychoanalyse zurück- Nach Freud stammen »Traum und Wahn […]
greifenden Lektüre verführen, wurde und wird aus derselben Quelle, vom Verdrängten her, der
doch innerhalb der Hysterieforschung immer Traum ist der sozusagen physiologische Wahn
wieder die Bedeutung des Visuellen für hysteri- des normalen Menschen« (Freud 1975, Bd. 10,
sche Personen betont (vgl. Freud 1975, Bd. 6, S. 58 f.). Wie im Wahn tauchen auch im Traum
S. 187–195; Freud/Breuer, S. 282). Gerade die- Bilder auf, die vom Bewußtsein normalerweise
sem Beschreibungsmodell der Hysterie wohnt nicht zugelassen werden und daher sprachlich
ein utopisches Moment inne, das vor allem von schwer oder gar nicht zu fassen sind, es kommen
feministisch orientierten Literaturwissenschaft- bereits vorhandene Gefühlszustände verstärkt, da
lerinnen häufig angeführt wird, die das Visuelle unzensiert, zum Ausdruck: »Die Angst war grö-
als Möglichkeit interpretieren, »die Imagination ßer im Traum« (TKA 3.1, 535), konstatiert die
eines anderen Eintritts in die Sprache« zu voll- Protagonistin in Malina entsprechend. Weil das
ziehen (Kyora, S. 24 f.). Die Verdichtungsmecha- Bewußtsein während des Schlafens nicht mehr
nismen, die auf die Intensität von Emotionen als Hemmschwelle im Weg steht, müssen die
verweisen, werden im Buch Franza mit Bildern ›wahren‹ Gefühle nicht mehr verdrängt werden.
von Tieren, Kretins, Käfigen, Geisterbahnen Angst stellt für die weibliche Hauptfigur offen-
oder Riesen beschrieben (Kanz 1999, S. 85ff.), in sichtlich einen Affekt dar, den es im Wachzustand
Malina vor allem in Traumsequenzen, deren Dar- zu unterdrücken gilt – entsprechend Freuds zwei-
stellungen stark an Freuds »Traumdeutung« ter Angsttheorie, nach der Angstträume Schock-
(1900) orientiert sind.
228 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

erlebnisse und Traumata verarbeiten, die im dere Äußerungen des Unbewußten im Alltag zu
Wachzustand verdrängt werden müssen, weil sie »begreifen«: »Wenn irgendwo stand ›Sommer-
für das Subjekt unerträglich sind. Die Protagoni- moden‹, habe ich gelesen ›Sommermorde‹. Das
stin vermittelt nicht nur immer wieder ihr Traum- ist nur ein Beispiel. Ich könnte dir Hunderte
erleben, sondern verweist auch auf ihre Kenntnis nennen.« (TKA 3.1, 537) Dieser Hinweis auf die
der Traumtheorie Freuds (z. B. TKA 3.1, 536), Bedeutung des Verlesens etwa verweist unmiß-
dessen Werk sie überhaupt intensiv rezipiert zu verständlich auf Freuds Abhandlung über Fehl-
haben scheint. Explizit heißt es, sie habe »Freud, leistungen »Zur Psychopathologie des Alltags-
Adler und Jung gelesen bei 360 Watt in einer ein- lebens«, insbesondere das Kapitel »Verlesen und
samen Berliner Straße, zu den leisen Umdre- Verschreiben« (Freud 1999, Bd. 4, S. 118–147).
hungen der Chopin-Etüden« (TKA 3.1, 371f.). Was sich im Traum zeigt, löst Angst aus, zumal
Freuds Traumtheorie beschreibt nicht zuletzt es auch die ambivalente Funktion Malinas deut-
die Umgestaltung von Angstinhalten auf dem lich macht: »Die ganzen Geschichten, die aus-
Weg vom Unbewußten zum Bewußten (Freud gespart werden, weil das Ich über sich nichts
1975, Bd. 2, S. 305ff.). Die andere Gestalt der erzählen darf – denn sein Doppelgänger verbietet
Angst, die vom Unbewußten im Traum kreiert es ihm ja –, die kommen in den Träumen vor;
wird, kann unterschiedliche Ausmaße und Bilder etwa die Erklärung für seine Zerstörung, für sein
annehmen. In welcher Ausformung die Traum- Schon-beinahe-Vernichtetsein durch eine Vorge-
zensur sie letztlich auftreten läßt, entscheidet sie schichte«, kommentiert die Autorin ihren Text
mit Hilfe bestimmter Mechanismen wie »Ver- (GuI, 89). Im Traum scheint sich alles in der
dichtung« und »Verschiebung« (ebd., S. 318ff.; Gegenwart abzuspielen. Er ist »nirgends in der
Laplanche/Pontalis, S. 603). Diese Akte der Zen- Zeit und nirgends im Ort« (GuI, 103). Für die
sur werden in beiden Todesarten-Kompositionen Protagonistin in Malina gibt es – ähnlich wie für
verarbeitet. Ein Vater, der Blumen – »die Blumen die Protagonistin in der durchgängig im Präsens
für mein Leben« – wie »Wanzen« zertritt (TKA gehaltenen Erzählung Ihr glücklichen Augen –
3.1, 509), Menschen, die als »grinsende Larven« auch in der eigenen Lebensrealität immer nur ein
auf das ›weibliche Ich‹ zukommen (TKA 3.1, »Heute«. Das wird gleich zu Beginn des Romans
503), oder ein »Riesenrad, das Exkremente aus in der Personenvorstellung deutlich, und die
den Gondeln schüttet« (TKA 3.1, 504) und lang- psychische Dimension dieser Verankerung im
sam auf das Ich zufährt – das sind Beispiele für Heute hat Bachmann selbst noch einmal im Inter-
die Horrorszenarien, denen die ›weibliche‹ Figur view expliziert (GuI, 103).
in ihren Träumen ausgesetzt ist und die auf ihren Die Vergangenheit des Ich wird mithilfe seiner
›wahren‹ Zustand verweisen. Daß die Traum- Träume auf diese Weise nicht etwa rekonstruiert,
deutung für sie »die Via regia zur Kenntnis des sondern in die Gegenwart geholt. Der Rückgriff
Unbewußten« ist (Freud 1975, Bd. 2, S. 577), der Autorin auf die »traumatische Erfahrung der
bemerkt die Freudrezipientin selbst. Sie fängt an, Geschichte« (Höller 1987, S. 85) geht mit der
Bedeutung, Funktionsweise und die ganz eigene Aktualisierung all der Ausdrucksmöglichkeiten
»Logik« des Traums zu durchschauen und geht einher, die Freud im »Traumgedächtnis« er-
darin mit den Vorstellungen Freuds konform kannte, vor allem mit einem »uneingeschränkten
(TKA 3.1, 535ff.). Noch in den bizarrsten und Gebrauch von sprachlichen Symbolen« (Freud
unverständlichsten Träumen verbirgt sich aus sei- 1999, Bd. 17, S. 89). Dies ermöglicht den Rezipi-
ner Sicht ein Gehalt, den man mithilfe der enten »eine Steigerung der Wahrnehmungslei-
Traumdeutung enthüllen kann, so daß »jeder stung, weil in den einzelnen sprachlichen Zei-
Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde chen der lebensgeschichtliche und historische
herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das Sinn mitgedacht werden muß, zumal es zum
seelische Treiben des Wachens einzureihen ist« Erfahrungsmodus, wie ihn die Traumsprache in-
(Freud 1975, Bd. 2, S. 29). szeniert, gehört, Lebensgeschichte und Gesell-
Anders als die weibliche Hauptfigur glaubt Ma- schaftsgeschichte zu verschränken, die innersten
lina an »die Wahrheit«, die für ihn nur in der Bezirke des Ich mit seinen Ängsten und Träumen
sichtbaren Wirklichkeit liegt (TKA 3.1, 537). Sie zu verstehbaren Symbolen zu verdichten« (Höller
dagegen beginnt, neben ihren Träumen auch an- 1987, S. 86).
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 229

Im Buch Franza gibt es weniger Rekurse auf lungen scheinen insgesamt eher auf Wirkung als
Freuds »Traumdeutung« als in Malina, allerdings auf unmittelbare Verstehbarkeit zu zielen.
sehr explizite. Wie eine Zusammenfassung der Das mit Freuds Konzept des »Traumgedächt-
Traumtheorie Freuds nehmen sich hier z. B. die nisses« theoretisch skizzierte »Verstehensmodell
Reflexionen der Protagonistin über den Traum ermöglicht, literarisch bewußt gehandhabt, eine
als großen Dramatiker aus. Es ist die »unver- intensivierende Darstellung der Mächte, denen
lautbare chaotische Wirklichkeit, die sich im sich das Ich ausgesetzt fühlt« (Höller 1987, S. 86).
Traum zu artikulieren versucht, die dir manchmal Doch kann eine angemessene Rezeption solcher
genial zeigt, in einer Komposition, was mit dir ›Traumtexte‹ nur unter gewissen Bedingungen
ist, denn anders würdest du’s nie begreifen« geleistet werden. Dazu gehören etwa »rezeptive
(TKA 2, 229). Entsprechend der psychoanalyti- Voraussetzungen«, wie sie in den fünfziger und
schen Annahme, daß bei der Angstneurose »ein sechziger Jahren nicht vorgelegen haben. Es gab
Quantum Angst frei flottierend vorhanden ist« damals noch »keine Position, die zu einem Ver-
(Freud 1975, Bd. 6, S. 30), geht es um ›flottie- ständnis dieses rückhaltlosen Ausdrucksbereichs
rende Angst‹, die die Protagonistin sogar im des Entsetzens und der Angst in der Lage ge-
Traum befalle. Auch sonst ist die Einschätzung wesen wäre«. Erst in den achtziger Jahren waren
der Bedeutung des Traums ähnlich: Im Traum, »Ansätze« zu bemerken, »diese Form der Erfah-
dem ›ein Shakespeare die Hand leihen‹ und ›ein rung, wie sie aus den Werken Ingeborg Bach-
Goya die Bühnenbilder malen‹ kann und in dem manns spricht, in ihrer poetologischen Brisanz zu
sich sämtliche furchterregenden Menschen aus reflektieren« (ebd., S. 310).
dem Umkreis der Schlafenden zu »einer Person«
verdichten können (TKA 2, 229), zeigen sich die
Lacan-Rezeption
Angst und auch ihre möglichen Ursachen, die im
Wachzustand womöglich verdrängt werden. Bachmanns Körperkonzept ist deutlich an neue-
Wichtig ist in diesem Zusammenhang »das Be- ren psychologischen Auffassungen orientiert. So
deutungsfeld der Hieroglyphen«, die im Ägypten- macht die Protagonistin in Das Buch Franza
kapitel »in Form einer ›unentzifferbaren Schrift‹, einmal traumähnliche, künstlich mit Haschisch
als die sich für Franza ihre Sprache des Unbe- stimulierte Spaltungserfahrungen durch, hat
wußten leibhaftig darstellt«, auftauchen – ein »nicht mehr einen, sondern zwei Körper«, nimmt
Bild, das explizit auf Freuds Vergleich der Traum- sich als »verdoppelt« wahr (TKA 2, 283). Aus
sprache mit Hieroglyphen in seiner »Traumdeu- Gutjahrs Sicht ist es Jordan, der in dieser Hal-
tung« rekurriert (Weigel 1999, S. 520; vgl. auch luzinationsphantasie als das »internalisierte
Lennox 1984, S. 168). ›schlechte‹ Objekt, als der überdimensionale, be-
Eine ›Poetologie des Traums‹ im Hinblick auf drohliche zweite Körper Franzas« erscheint. Sein
Bachmanns Todesarten-Projekt wäre noch ge- »Verlust« werde über die »Spaltungsphantasie
nauer herauszuarbeiten, auch hinsichtlich der im […] als körperliches Erleben gestaltet« (Gutjahr
Vorfeld und im Umkreis entstandenen Texte. Al- 1988, S. 156 f.).
brecht und Göttsche haben bereits auf den Während dissoziierender Körpererfahrungen,
»Traumcharakter« der frühen Entwürfe zur Büch- die als »zentrale Bestandteile psychotischer Phä-
nerpreis-Rede hingewiesen (TKA 1, 555). Eine nomene« gelten, tritt die Angst nach psycho-
Arbeit über Bachmanns Poetologie des Traums analytischer Auffassung besonders kraß ins Bild
müßte mit einer Reflexion über die grundlegen- (Keitel, S. 80). Jacques Lacan bezeichnete das
den Unterschiede zwischen fiktiven und ›realen‹ Phänomen, daß Analysanden in Analysephasen,
Träumen bzw. Traumprotokollen einhergehen. in denen sie weit in das Stadium der Undifferen-
Die literarische ›Inszenierung‹ von Träumen ziertheit regredieren, gehäuft von abgelösten
steht meist thematisch, personell, aber auch Körperteilen träumen, als »Phantasmen«, die
sprachlich in einem erkennbaren Zusammen- »von einem zerstückelten Bild des Körpers« aus-
hang mit dem übrigen Text. Die poetische Kon- gehen (Lacan 1973a, S. 67). Auch in der heutigen
zeptualisierung psychoanalytischen Wissens über psychotherapeutischen Praxis gilt es als charak-
Träume baut bei Bachmann oft auf Vereinfachung teristisch für Psychotiker, daß sie nicht in der
und Reduktion. Ihre komplexen Traumdarstel- Lage sind, »bei einem fehlenden Körperteil die
230 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Ganzheit des Leibes wiederherzustellen« und agonistin veranschaulichen, die sie selbst kurz
»den einzelnen Teilen des Leibes ihre entspre- vor ihrem Tod thematisiert (TKA 2, 325). Ihrem
chenden, spezifischen Funktionen zuzuordnen« Sprechen und Denken wird auf diese Weise nicht
(Pankow, S. 16 f.). Die im Buch Franza beschrie- nur semantisch, sondern bis in die Syntax hinein
benen Körpererfahrungen entsprechen demnach ›Realitätsgehalt‹ verliehen. Damit vermittelt
oft psychopathologischer Symptomatik, insbe- Bachmann über den literarischen Text, was Lacan
sondere den Konzeptionen Lacans. theoretisch formuliert hatte: Das »Unbewußte
Für eine Lacan-Rezeption spricht u. a., daß wird nicht ausgedrückt, es sei denn durch Ent-
Bachmann, ähnlich wie dieser, psychische Sym- stellung, Verdrehung, Umsetzung« (Lacan 1978a,
ptomatik an Sprache knüpft. Der Weg dahin ist S. 66).
nicht zuletzt vor dem Hintergrund ihrer frühen Der Zustand der Sprache wird bei Bachmann
Auseinandersetzung mit Viktor E. Frankls Logo- zum Symptom des inneren Zustands der Prot-
therapie zu erklären. Frankl entwickelte nicht agonistinnen, die Brüchigkeit von deren Spre-
nur die Theorien Freuds und Jungs weiter, von chen z. B. zum Signal der Angst (Kanz 1999,
deren starker Gewichtung der Triebe er sich ab- S. 51ff.). Das entspricht einer noch heute inner-
setzte, sondern er stellte gegen »eine Aufklärung halb der Psycholinguistik gültigen Auffassung:
über das Unbewußte, über dessen subhumane »Ängstliche Menschen unterscheiden sich von
›Potentiale‹ der Sexualität und der Aggressivität« nichtängstlichen in ihrer Sprechweise«, so
die »humanen Phänomene der ›Liebe‹ und des Grimm und Engelkamp, die sieben Kategorien
›Hasses‹« (Behre 2000, S. 97). Sein Begriff des von Ängstlichkeit indizierenden Sprechstörun-
›Logos‹ umschließt immer auch »etwas unbe- gen unterscheiden: »Satzänderungen, Wiederho-
wußt Geistiges, das der Sprechakt des Patienten, lungen, Auslassungen, Stottern, Versprecher, un-
seine bewußte Äußerung und Selbstdeutung, vollständige Sätze und Intrusionen inkohärenter
birgt« (ebd., S. 98). Zwar mögen Frankls auf eige- Laute« (Grimm/Engelkamp, S. 79). Die Sprache
nen Erfahrungen beruhende Studien » … trotz- der Figuren spricht Angst, so ließe sich in Anleh-
dem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt nung an Lacan formulieren, der mit solchen Auf-
das Konzentrationslager« (1946/47) inhaltlich fassungen der modernen Psycholinguistik vorge-
starken Einfluß auf Bachmanns Auseinanderset- arbeitet hat. ›Es spricht‹, lautet seine Grundregel
zung mit dem Nationalsozialismus, insbesondere der Psychoanalyse, die vor allem beinhaltet, daß
im Buch Franza, gehabt haben (Behre 2000, der Analysand in freier Assoziation das sagen
S. 98 f.), doch waren es wohl gerade seine Über- soll, was ihm gerade in den Sinn kommt (vgl.
legungen zur Verknüpfung von Sprache, unbe- Lacan 1973b, S. 86ff.). Seine Forderung, auf das
wußtem Erleben und Erkenntnis, sein Primat des Sprechen hinter dem bewußt Gesprochenen zu
Sprechens – in seinem »Handbuch der Neurosen- hören, zielt darauf, Grundlegendes über die
lehre und Psychotherapie« leitete er die Kunst zu sprechende Person zu erfahren: »Gerade in dem,
überleben von der Fähigkeit zu denken und zu was der Sprache widersteht, in der Brüchigkeit
sprechen ab –, sein Konzept von der »Sprache als der Rede und in ihren gröbsten Verzerrungen,
Gegenenergie zur tödlichen Umgebung« (Behre artikulieren sich die Fragmente eines Dialogs,
2000, S. 99), die Bachmann nachhaltig geprägt auf den es zu hören gilt.« (Pagel, S. 117)
haben. Nicht nur sind sie in ihre eigenen sprach- Die sprachlich hochgradig bewußt kompo-
psychologischen und -philosophischen sowie nierte Prosa Bachmanns rekurriert ziemlich of-
poetologischen Reflexionen eingegangen, son- fensichtlich auf diese Konzeption. Weigel war
dern sie dürften einen gewichtigen Hintergrund bereits in den achtziger Jahren davon überzeugt,
auch für ihre wahrscheinliche Auseinanderset- daß der Autorin die Thesen Lacans »bekannt
zung mit den sprachpsychologischen Theorien gewesen sein« müßten. Vor dem Hintergrund von
Lacans bilden, bei dem es heißt: »Das Unbe- Bachmanns Psychologiestudium und der anhal-
wußte ist strukturiert wie eine Sprache.« (Lacan tenden Beschäftigung mit Psychologie, vor allem
1978b, S. 26) aber wegen ihres »notorischen Interesses für
Aneinanderreihungen von unvollständigen, Sprache« dürfte Lacan sogar »zu der für sie auf-
bruchstückhaften Satzfragmenten sollen im Buch regenden Lektüre gezählt haben« (Weigel 1984,
Franza die psychische Zerbrochenheit der Prot- S. 73). Dann wäre es umso wahrscheinlicher, daß
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 231

Bachmann Lacans Unterscheidung von ›vollem‹ Auseinandersetzung mit Groddeck


und ›leerem‹ Sprechen vertraut war. »Volles
Sprechen« ist nicht durch die Verdrängung ge- Eine ähnliche Unterscheidung von ›leer‹ und
kürzt, weist z. B. Versprecher und Brüche auf und ›voll‹, bzw. ›äußerlich‹ und ›inwendig‹ wird von
»realisiert« nach Lacan »die Wahrheit des Sub- Bachmann im Zusammenhang mit dem Ster-
jekts«; wo dies verfehlt wird, spricht er vom ben, mit der Differenzierung zwischen den psy-
»leeren Sprechen« (Lacan 1978a, S. 66, 68). Auf chischen und den physischen Todesarten der
die Protagonistinnen des Todesarten-Projekts be- Protagonistinnen im gesamten Todesarten-Pro-
zogen hieße das, daß z. B. gerade ihr Unver- jekt sowie in den fast gleichzeitig als »Abfälle«
mögen, ihre Angst in Worte zu fassen, diese auf (TKA 4, 17) verfaßten Simultan-Erzählungen ge-
›authentische‹ Weise bekundet. Auch ihr Schwei- troffen. Um die »sublimen Verbrechen« dreht sich
gen und ihre Stummheit werden so zu Signifikan- die Vorrede zum Buch Franza, »so sublim, daß
ten von Angst (Kanz 1999, S. 53 f.). Die Angst wir sie nicht zu sehen und zu begreifen ver-
scheint ihnen im wahrsten Sinne des Wortes die mögen, obwohl sie täglich in unsrer Umgebung,
Sprache zu verschlagen. Im Schweigen aber sieht in Ihrer Nachbarschaft, und also unter unseren
Lacan eine zentrale Bedeutung des Sprechens, Augen stattfinden« (TKA 2, 75). Die Verknüpfung
»weil hier das Subjekt die ›Leere‹ seiner Rede der Sehmetaphorik mit dem Wahrheitspara-
vernehmen kann« und weil es eine entscheidende digma, um die es Bachmann schon in ihrer 1959
Bedingung der Möglichkeit für ein »volles Spre- anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der
chen« enthält (Pagel, S. 119; Teichmann, S. 123). Kriegsblinden gehaltenen Rede Die Wahrheit ist
Vor dem Hintergrund der abendländischen lo- dem Menschen zumutbar ging, wo sie dafür plä-
gozentrischen Auffassung, nach der man ist, dierte, daß die Kunst dazu beitragen solle, »daß
wenn man spricht und sich selbst als Subjekt uns […] ›die Augen aufgehen‹« (W 4, 275), diese
vernimmt, sind die stummen bzw. schweigenden Verknüpfung wird in der Erzählung Ihr glück-
Frauen bei Bachmann Objekte, ist es ihnen doch lichen Augen beim Wort genommen. Der Text ist
ab einem bestimmten Punkt nicht mehr möglich, noch deutlicher an den Theorien Georg Grod-
sich selbst im Sprechen als Subjekt zu setzen. Sie decks orientiert als die anderen Simultan-Erzäh-
entsprechen damit Lacans Konzept von der Ge- lungen, deren Krankheitsthematik insgesamt auf
nese des ›männlichen‹ Subjekts. Der Knabe ver- der Folie seiner Schriften gelesen werden kann
sucht nach Abschluß des Spiegelstadiums, die (vgl. Bannasch 1997, S. 48).
Erfahrung des Sich-selber-Habens im Sprechen Bachmann sollte für die Wochenzeitschrift
zu finden. Sprechende Subjekte sind für Lacan »Der Spiegel« eine Rezension über Georg Grod-
Männer. Zwar verwenden Frauen die gleiche decks Schriften schreiben (vgl. W 4, 399; Weigel
Sprache, aber es ist ihnen unmöglich, sich in ihr 1999, S. 290). Der geplante Text ist nie erschie-
als Subjekt des Begehrens zu setzen (Lacan nen, doch liegen posthum veröffentlichte, ver-
1973a, S. 61–70). Daß vor allem Das Buch Franza mutlich 1967 entstandene Entwürfe vor (Kom-
dementsprechend gelesen werden kann, legen mentar in Bachmann 2000a, S. 204). Bachmann
zahlreiche Passagen nahe, die Franza aus der bezeichnet Groddeck darin als den »bedeutend-
Perspektive ihres Bruders beschreiben und ihre sten Vorläufer der Psychosomatik« (Bachmann
Funktion als nurmehr schmückendes Beiwerk 2000a, S. 164). Groddeck hatte 1909 damit be-
eines ›männlichen‹ Subjekts unterstreichen. gonnen, seine Therapien mit einer psychoana-
»Defektgewordene Registriermaschine« (TKA 2, lytischen Methode eigener Prägung zu ergänzen.
140), »Gerank« oder »aufgezogener Kreisel« Seit 1913 hatte er die Theorien Freuds studiert,
(TKA 2, 193) sind nur einige der Bilder für die mit dem er 1917 in einen Briefwechsel trat. Freud
automatisierte Passivität, die er »seiner hoch- übernahm den Begriff des »Es« von ihm, wan-
mütigen Schweigerin, seiner totenblassen« im delte ihn aber in differenzierterer Form ab. Bach-
nachhinein attestiert (TKA 2, 194). manns Rezension mit ihrer an Groddeck orien-
tierten Auffassung von Krankheit schließt hier
an: »wir werden vom Es regiert«; der Regent im
Hintergrund, das Unbewußte, »spricht durch die
Krankheit in Symbolen« und läßt den Körper
232 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

seine Sprache sprechen, so daß das Ich nur mehr S. 285) Kurzsichtigkeit sei ein »Beweis […] für
als eine hohle »Maske« erscheint (Bachmann langwierige und schwere innere Konflikte zwi-
2000a, S. 166). Die ›Wahrheit‹ der Person, so legt schen der persönlichen Anschauung […] und der
der Text nahe, enthüllt sich allein über die ›au- konventionellen Tagesanschauung«. Der Kurz-
thentische‹ Sprache des Körpers. sichtige nehme »die Konventionen seiner Umge-
Im Buch Franza gibt es mehrere Hinweise bung und Zeit, die Mode der Sittlichkeit, zu
darauf, daß Franza ihre seelischen Empfindun- ernst«, der er sein »natürliches symbolisches
gen über die entstellte Sprache des Körpers ar- Empfinden und Denken aufopfern« wolle, und
tikuliert. Bereits auf der Überfahrt nach Ägypten »weil seine Verdrängungskräfte gegenüber den
zeigt sie deutlich psychosomatische Symptome. symbolischen Kräften zu schwach« seien, schä-
So entstehen »Blasen« an ihren Händen, während dige er seine Sehorgane. Da »die Kurzsichtigkeit
sie ihrem als Psychoanalytiker fungierenden Bru- von dem Menschen selbst aufgebaut wird, um
der von ihrer Vergangenheit zu erzählen beginnt. sich aus Seelennöten zu retten«, sei es schwer
Die Aufarbeitung ihrer Angsterlebnisse ruft neu- nachzuvollziehen, »warum ein solcher Mensch
erlich Angst in ihr wach und evoziert äußerlich sich eine Brille aufsetzt und damit das mit vieler
sichtbare Reaktionen des Körpers, die auch, wie Entsagung erworbene Hilfsmittel unbrauchbar
die Protagonistin glaubt, beim Gegenüber »Grau- macht« (ebd., S. 308). Für Groddeck stellt die
sen« erregen können. Für sich selbst interpretiert Brille sogar ein Täuschungsmanöver anderen ge-
sie diese Symptome als heilsame ›Häutung‹ genüber dar (ebd., S. 308 f.).
(TKA 2, 206). Psychosomatisch reagiert sie auch Diese Differenzierung zwischen Wahrheit und
beim Besuch des Mumiensaals eines ägyptischen Täuschung in Verbindung mit der Sehmetaphorik
Museums, indem sie sich angesichts der »von ist für die Interpretation der Erzählung Ihr glück-
Gier entstellten Gesichter« der Touristen, die lichen Augen (oder vielmehr des gesamten Si-
»dicht über die Grabsärge gesenkt« sind, erbricht multan-Komplexes) zentral. Die Protagonistin
und den »Leichenschändern« so »vor die Füße« dieser Erzählung, die dem Gedächtnis Groddecks
›speit‹ (TKA 2, 289 f.). gewidmet ist, wirkt wie eine Verkörperung seiner
Ein anderer Aspekt von Groddecks psycho- theoretischen Ausführungen. Daß sich der Text
analytischem Denken wird in den Simultan-Er- nicht nur explizit an Groddeck richtet, sondern
zählungen aufgegriffen. In dem Essay »Vom Se- ausdrücklich auch auf seinen Essay von 1932
hen, von der Welt des Auges und vom Sehen ohne rekurriert, darauf verweist unter anderem ein
Augen« (1932) geht es Groddeck um »die Ver- Passus in den Vorentwürfen, der auf den Verdrän-
drängungsvorgänge beim Sehen«, das Auge »als gungsmechanismus beim Sehen anspielt, wel-
ein Werkzeug des Verdrängens« und »das Sehen cher, wenn er nicht ausreiche, zu einer Schädi-
ohne Auge« (Groddeck, S. 264, 274), jenes ›in- gung der Augen führen müsse (TKA 4, 209; vgl.
nere‹ Sehen, das sich in Träumen, Visionen, Illu- Groddeck, S. 308). Nicht nur die Replik auf den
sionen oder Halluzinationen zeigt. Es gibt also innerhalb der Psychoanalyse grundlegenden, in
»zwei Arten des Sehens« für ihn, wobei das ›in- der Erzählung als »altmodisch« abqualifizierten
nere‹ Sehen eine »Tätigkeit« ist, »die der Mensch Begriff der »Verdrängung« gehört zu den kriti-
ununterbrochen ausübt, und ohne die ein Sehen schen Attacken der literarischen Figuren gegen
überhaupt unmöglich ist« (ebd., S. 275). Nach die Vorstellungen Freuds. Auch Erich, verheira-
Groddeck wird »durch die Brille die Überan- teter Liebhaber der Protagonistin in Probleme
strengung des Auges nicht behoben, sondern ver- Probleme, spricht sich einmal sehr deutlich gegen
schlimmert« (ebd., S. 284). Der »Sehakt« bestehe das »Analysieren« seiner »Situation« aus, ja, es sei
nicht nur aus dem »Sehen des Sichtbaren«, son- das Wichtigste, »die Situationen nicht zu analy-
dern auch aus dem »Nichtsehenwollen von Sicht- sieren, sondern sie sich entwickeln zu lassen, die
barem«, dem »Verdrängen dessen, was gesehen Lösung komme von selbst« (TKA 4, 190). Daß in
werden könnte. Für uns sind Sehstörungen ein der Erzählung Ihr glücklichen Augen jedoch auch
Hilfsmittel des Es, um auch dann noch verdrän- im positiven Sinne mit psychologischem Begriffs-
gen zu können, wenn die normalen Hilfsmittel inventar hantiert wird, zeigt die positive Bezug-
des Verdrängens (übersehen, nicht erinnern, den nahme auf Groddecks Vorstellung vom ›inneren‹
Blick abwenden usw.) nicht ausreichen.« (ebd., Sehen, zumindest in einem der Entwürfe: »Mi-
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 233

randa hört Geschichten, sie hat keine Halluzina- Gesten und Blicke, das Abwickeln der Gedanken
tionen.« (TKA 4, 219) Dazu kommt der Hinweis, und den Gang der Gefühle.« (W 2, 143)
daß sie psychosomatisch auf belastende Situa- Die literarischen Darstellungen ›authenti-
tionen reagiert, ja daß sie gar ein eigenes ›Sy- scher‹ Körperzeichen von Emotionen werden bei
stem‹ entwickelt habe, diese auszuhalten, daß ihr Bachmann durch den Rekurs auf die Psycho-
nämlich zwar »die sichtbare Welt« fehle, aber analyse einerseits wissenschaftlich autorisiert,
»leider nicht die andre, die mündlich, schriftlich, steigern somit den Effekt von Authentizität, er-
geräuschhaft, licht- und dunkelhaft sie umgibt, weisen sich dadurch aber andererseits als bloße
und über Licht und Geräusch hat sie Zugang zu Reproduktion eines vorgängigen Diskurses, der
der Welt, über Kopfschmerzen, weil die Brille ihr seinerseits wieder vorgegebene Diskurse repro-
fehlt, weil Josef ihr fehlt« (TKA 4, 224). In der duziert. Der Körper, der nurmehr ein Reprodu-
Endfassung ist explizit davon die Rede, daß Mi- zent vorgegebener Symptome ist, ist aus dieser
randa »ihre kranken optischen Systeme als ein Sicht als Authentizitätsgarant ›verschwunden‹.
›Geschenk des Himmels‹ empfindet«, als »Privi- Wie eine Umsetzung dieses Gedankens nimmt
leg« und als »Auszeichnung« (TKA 4, 244). sich in diesem Zusammenhang die Absage der
Protagonistin in Malina an ihre »Leibhaftigkeit«
aus (TKA 3.1, 403).
Ein psychoanalytisches Sprachverständnis?
Kritik an Psychoanalyse, Psychiatrie,
Bachmanns Texte sind mit Recht von der Selbst-
Psychologie
erfahrungsliteratur der siebziger Jahre und deren
Authentizitätsanspruch abgegrenzt worden. Der Dafür, daß solche Hinweise auf den Konstruk-
Autorin ist der Inszenierungscharakter von tionscharakter des psychoanalytischen Diskurses
›Wahrheit‹ und ›Authentizität‹ bewußt, und sie von Bachmann bewußt intendiert waren, spre-
konstruiert ihre Themen dementsprechend chen Passagen, die deutlichere Kritik an Psycho-
(Kanz 1999, S. 63ff.). Um den von ihr explizit logie, Psychiatrie und Psychoanalyse formulie-
erwünschten Authentizitätseffekt literarischer ren. Die Titelfigur im Buch Franza, für die Angst
Gefühlsartikulationen zu erzielen, mußte sie zur ständigen Begleiterin auch im Alltag und
demnach paradoxerweise schreibend nach ad- selbst in der Wüste wird, die sie doch zu Anfang
äquaten Ausdrucksformen jenseits von Sprache ihrer Reise als »große Heilanstalt« bezeichnet
und Schrift suchen, oder präziser formuliert: (TKA 2, 90), wird von »Angst flankiert, flankiert
diese im verbalen Text als nonverbal konstru- von nicht einer Sphinx, von tausend Sphinxen«
ieren. Die unzureichenden Zeichensysteme der (TKA 2, 277). Dieser Vergleich läßt die massive
symbolischen Ordnung ersetzt Bachmann daher Wirkung der Angst erahnen und diese gleich-
oft durch die Literarisierung anderer Artikula- zeitig als Inbegriff des Rätselhaften erscheinen:
tionsformen, zum Beispiel durch körper- oder »meine Tagrätsel sind größer als meine Traum-
traumsprachliche (Kanz 1999, S. 63ff., S. 88ff.). rätsel, du merkst dann, daß es keine Traumrätsel
Über sie kristallisiert sich ein Sprachbegriff her- gibt, sondern nur Rätsel, Tagrätsel, unverlautbare
aus, der nicht mehr die logische Form der ver- chaotische Wirklichkeit« (TKA 2, 229). Daß »das
balen Sprache meint, sondern eine Sprache au- Angstproblem […] ein Rätsel« sei, »dessen Lö-
ßerhalb der ›symbolischen Ordnung‹. Er läßt sung eine Fülle von Licht über unser ganzes
sich, wie bereits Weigel (1984) festgestellt hat, in Seelenleben ergießen müßte«, hatte schon Freud
die Nähe eines psychoanalytischen Sprachver- in seiner Vorlesung über »Die Angst« formuliert
ständnisses rücken, gelten doch auch für Freud (Freud 1975, Bd. 1, S. 380). Bachmann jedoch
Gebärden und Phantasiebilder sowie andere Aus- läßt ihre Protagonistin hier ganz anderer Mei-
drucksformen »seelischer Tätigkeit« als »Spra- nung als Freud sein. Da Angst »der Überfall«, der
che« (Freud 1999, Bd. 8, S. 403). Eine ähnliche »Terror, der massive Angriff auf das Leben« sei,
Erweiterung des Sprachbegriffs nimmt Bach- dürfe man sie nicht zum »Geheimnis« stilisieren
mann explizit in der Erzählung Alles vor: »alles (TKA 2, 58). Auch betont sie mehrmals, daß nur
ist eine Frage der Sprache […]. Denn darunter derjenige über Wissen um die Angst verfügt, der
schwelt noch eine Sprache, die reicht bis in die sie selbst erfahren habe (ebd.). Angst bekommt
234 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

bei ihr den Stellenwert einer seelischen Erschüt- Haltung jener psychiatrie- und vernunftkriti-
terung, die nicht theoretisch erfaßbar ist und sich schen Texte der siebziger und achtziger Jahre
nicht systematisieren oder quantifizieren läßt. vorweg, die beschreiben, wie die Diagnose des
Weder die Philosophie noch eine andere Wissen- Wahnsinns als Disziplinierungsmittel eingesetzt
schaft kann sie angemessen vermitteln. Damit wird.
verwahrt sie sich gegen jegliche Theorien über Auch die Protagonistin in Malina erweist sich
die Angst, auch gegen »die Lösungen der Psycho- als Kritikerin einer nurmehr instrumentell be-
logien« (TKA 2, 69), die trotz zutreffender Aus- griffenen Vernunft und damit auch des psycho-
sagen ›Unsagbares‹ wie die Angst nicht adäquat analytischen Rationalitätskonzepts, wenn sie be-
erfassen können. Bereits in ihrer Dissertation tont, der »Mensch« sei »ein dunkles Wesen, er ist
stellt sie die Kunst dem Versuch der Existential- nur Herr über sich in der Finsternis und am Tag
philosophie Martin Heideggers entgegen, Angst kehrt er zurück in die Sklaverei« (TKA 3.1, 399).
begrifflich zu fassen, und spricht sich gegen »die Sie kehrt diejenigen Prämissen der Aufklärung
gefährliche Halbrationalisierung einer Sphäre« um, an denen auch Freud festgehalten hat, be-
aus (Diss., S. 128 f.). Wiederum wird hier Bach- schrieb er es doch als Kränkung menschlichen
manns Affinität zu Groddeck deutlich, der sich Selbstbewußtseins, daß das Ich »nicht einmal
gegen die Rationalisierung des »Mysteriums« Herr […] im eigenen Hause« sei, sondern Sklave
wandte (Groddeck, S. 322). Aus ihren Überle- seiner dunklen Triebe und Affekte, des »Es«
gungen darüber, wie seelische Erschütterungen (Freud 1975, Bd. 1, S. 284), und er machte es der
literarisch zu vermitteln seien, entwickelte Bach- Psychoanalyse zum Programm, das rationale Ich
mann später ihre Ästhetik der »schrecklichen in seiner Autonomie zu stärken: »Wo Es war, soll
Poesie« – ein Programm, das ihrer Leserschaft Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die
die Augen öffnen sollte für die sublimen alltägli- Trockenlegung der Zuydersee.« (Freud 1975, Bd.
chen ›Verbrechen‹ (TKA 2, 72; vgl. Kanz 1999, 1, S. 516) Genau dieses Denken aber, der Ver-
S. 50ff.). stand, die Rationalität, der wissenschaftliche Lo-
Ein Realisierungsversuch solch ›schrecklicher gos versklaven nach Auffassung des ›weiblichen
Poesie‹ ist das Buch Franza. Die Tatsache, daß Ich‹, das sich in einem Brief explizit zu einer ande-
Franza von Jordan zu einem psychiatrischen Fall ren Auffassung von Vernunft bekennt (TKA 3.1,
degradiert wird, »gefoltert von Worten […], die 409), Wahrnehmung und Fühlen der Menschheit
nachklingen« (TKA 2, 37), ihr Gefühl, auf subtile und sorgen für Verwirrung und Angst.
Weise psychisch von ihm vernichtet zu werden, Sind solche Passagen vielleicht nur implizit als
sowie die scheinbare Ausweglosigkeit der Situa- ironische zu begreifen, so gelang es Bachmann in
tion erzeugen ein Empfinden des Ausgeliefert- ihren Geschichten über die Wienerinnen, ihre
seins, das den Ausgangspunkt ihrer Angst bildet. Kritik an psychologischen Theorien in geradezu
Sie fühlt sich als Internierte des psychiatrischen satirischer Weise zu formulieren. Rosamunde in
Diskurses. Jordans ›Waffe‹, das psychiatrische der gleichnamigen Erzählung aus dem Nachlaß –
Fachvokabular, ermöglicht es, jede menschliche vermutlich die »Wiederaufnahme eines Entwurfs
Eigenschaft und jedes menschliche Verhalten zu aus dem Jahr 1964« (Kommentar TKA 4, 550) –
benennen und anschließend zu kategorisieren. ist eine circa 30jährige promovierte Psychologin,
Franza dagegen kann auf kein wissenschaftliches deren Verhältnis zu ihrem Fach in der auch sonst
Instrumentarium zurückgreifen und befindet sich komischen Geschichte satirische Züge erhält. So
ihm gegenüber in einer Ohnmachtsposition. Das kann sich die Protagonistin bereits nicht so ganz
Gefühl der eigenen Machtlosigkeit äußert sich mit der äußerlich-formalen Bestätigung ihrer
u. a. in den beschriebenen psychosomatischen wissenschaftlichen Befähigung als Psychologin
Symptomen, der psychische Verfall setzt ein, an identifizieren: »Jetzt sagten alle Frau Doktor zu
dessen Ende der physische Tod steht. Der Macht- ihr, das war ihr peinlich« (TKA 4, 35). Das liegt
effekt psychiatrischer Diagnosen hat letztlich auch daran, daß sie ein frappantes Mißverhältnis
nicht nur die Selbstübernahme der Pathologisie- zwischen ihren Realitätserfahrungen und den
rung bewirkt, sondern zugleich auch zur Dis- psychologischen Lehrbuchmeinungen wahr-
ziplinierung sämtlicher Regungen und Affekte nimmt. Zwischen ihrem Alltag als Frau und den
geführt. Das Romanfragment nimmt damit die psychologischen Theorien über ›die‹ Frau, die sie
Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie in Bachmanns Werk 235

als Assistentin der Psychologie ver- bzw. bear- Ohne von feministischen Theorien auszugehen
beiten muß, herrscht für sie ein himmelweiter und obwohl ihr das Werk Irigarays noch unbe-
Unterschied: Nichts im wirklichen Leben, so be- kannt sein mußte, bietet Bachmann mit ihren
findet sie, ist »nach der Art der Lehrbücher und literarischen Texten nicht nur ›Bestätigungen‹
Analytiker«. Das beginnt bereits beim Thema von Irigarays theoretischen Konzepten, sondern
›Sexualität‹: »Rosamunde starrte vor sich hin, die ergänzt diese oder geht sogar über sie hinaus.
Orgasmustheorie. Schon sehr interessant, and- Ähnlich wie Irigaray sich gegen eindeutige Defi-
rerseits kannte sie keinen Menschen, der Orgas- nitionen des Weiblichen sperren will, verharren
musschwierigkeiten hatte« (TKA 4, 34). Bachmanns Weiblichkeitskonzeptionen – kaum
anders als ihre Konstruktionen von Männlichkeit
– niemals in Eindeutigkeit. Fragen wie die des
Parallelen zur feministischen Freud-Kritik
›weiblichen Ich‹ in Malina »Bin ich eine Frau
der siebziger Jahre
oder etwas Dimorphes? Bin ich nicht ganz eine
Vor dem Hintergrund der Verquickung von Weib- Frau, was bin ich überhaupt?« (TKA 3.1, 619)
lichkeit und Todesartenproblematik in Bach- korrelieren jedoch nur nach einer bestimmten
manns Prosa liegt es nahe, ihre Texte mit der Auffassung mit den Proklamationen Irigarays, die
feministischen Freud-Kritik zu lesen, gerade im Gefahr läuft, das »Weibliche« – auch wenn sie
Hinblick auf das Franza-Fragment, in dem eine dies nicht beabsichtigt – gleichzeitig zu dem zu
Frau Opfer des psychiatrischen Diskurses wird. stilisieren, was es nicht erst seit Freud war: zum
Zu den einflußreichsten Freud-Kritikerinnen Nicht-Erklärbaren, zum »Rätsel« (Freud 1975,
zählt die Analytikerin und Philosophin Luce Iri- Bd. 1, S. 544) und »dark continent« (Freud 1975,
garay, die sich seit den siebziger Jahren kritisch Ergänzungsbd., S. 303). Die Bemerkungen des
mit der Frage nach der Definition der Frau im ›weiblichen Ich‹ in Malina hingegen, die auf die
hegemonialen philosophischen und psychoana- starre Kategorisierung ›Frau‹ abzielen, könnten
lytischen Diskurs auseinandergesetzt hat. Dane- genauso gut als Infragestellung der konventionel-
ben gibt es weitere Verbindungslinien, die sich len Aufteilung der Geschlechter in ›Mann‹ oder
zwischen dem Werk Bachmanns und Irigarays ›Frau‹ gelesen werden. Sie scheinen Möglich-
Ausführungen über ›Weiblichkeit‹ ziehen lassen keiten androgyner oder bisexueller – ›dimor-
– etwa die Auffassung, daß das ›Weibliche‹ das pher‹ – Geschlechtlichkeiten jenseits binärer Ge-
(kulturell) Ausgegrenzte ist und in der Nähe des schlechtercodierungen mit einzubeziehen oder
Unbewußten situiert wird (vgl. Kanz 1999, gar anzuvisieren, statt traditionelle – von der
S. 163ff.). Die von Bachmann in Das Buch Psychoanalyse reproduzierte – neu zu zementie-
Franza und in Malina beschriebenen Artikula- ren (Kanz 1999, S. 165).
tionsformen der ›Hysterie‹ und der Angst sind
Leiden, in denen sich Verdrängtes, im Alltag Quellen: Sigmund Freud (1962): Aus den Anfängen der
Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen
Abgespaltenes, ›Weibliches‹ zeigen kann. Hier
und Notizen aus den Jahren 1887–1902. Frankfurt/M.;
verfährt die Autorin analog jenen feministischen – Sigmund Freud (1963): Das Unheimliche. Aufsätze
Theorien der siebziger Jahre, die Hysterie auf zur Literatur. Frankfurt/M.; – Sigmund Freud und Os-
eine (hier positiv umbewertete) Ortsbestimmung kar Pfister (1963): Briefe 1909–1939. (Hg.) Ernst L.
des ›Weiblichen‹ zurückgeführt haben, obwohl Freud u. Heinrich Meng. Frankfurt/M.; – Sigmund
(oder gerade weil) sie eine traditionellerweise Freud und Arnold Zweig (1968): Briefwechsel. (Hg.)
Ernst L. Freud. Frankfurt/M.; – Sigmund Freud
schon immer Frauen zugeordnete Form psy-
(1972): Briefe. Ausgewählt und mit einem Vorwort
chischer Abweichung ist (vgl. Gay, S. 245; Ka- versehen v. Margarete Mitscherlich-Nielsen. Frankfurt/
hane, S. 97; von Braun, S. 428ff.; Lindhoff, M.; – Sigmund Freud (1975): Studienausgabe. 10 Bde.
S. 170; Showalter, S. 68 f.). Die Körpersprache und ein Ergänzungsband. (Hg.) Alexander Mitscher-
bei Bachmann läßt sich in die Nähe einer »Syntax lich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt/
des Weiblichen« im Sinne Irigarays rücken – im M. 1969–1975; – Sigmund Freud (1999): Gesammelte
Werke. Chronologisch geordnet. 18 Bde. und ein Nach-
übrigen eine »Syntax«, die man »auch hören«
tragsband. [London 1940–52]. Frankfurt/M.; – Sig-
kann, so Irigaray, »wenn man sich die Ohren mund Freud und Josef Breuer (1999): Studien über
nicht mit Sinn zustopft, in der Sprache der Hysterie [1892–1899]. In: Freud (1999), Bd. 1, S. 81–
Frauen in der Psychoanalyse« (Irigaray, S. 140). 312; – Georg Groddeck (1966): Vom Sehen, von der
236 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Welt des Auges und vom Sehen ohne Augen [1932]. In: mann, Anne Duden, Monika Maron und Maria Erlen-
Groddeck: Psychoanalytische Schriften zur Psychoso- berger. In: Script 7, S. 14–19; – Evelyne Keitel (1986):
matik. (Hg.) Günter Clausen. Wiesbaden, S. 263–331; – Psychopathographien. Die Vermittlung psychotischer
Gustav René Hocke (1957/59): Die Welt als Labyrinth. Phänomene durch Literatur. Heidelberg; – Heinz W.
Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur. Krohne (1976): Theorien zur Angst. Stuttgart u. a.; –
2 Bde. Hamburg; – Uwe Johnson (1974): Eine Reise Sabine Kyora (1993): Psychoanalyse und Prosa im 20.
nach Klagenfurt. Frankfurt/M.; – Carl Gustav Jung Jahrhundert. In: Frauen in der Literaturwissenschaft.
(1971): Über die Psychologie des Unbewußten. Olten; – Rundbrief Psychoanalyse 38/39, S. 23–29; – Jean La-
Jacques Lacan (1973a): Das Spiegelstadium als Bildner planche und Jean-Bertrand Pontalis (1992): Das Voka-
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1850–1915. Baltimore, London; – Christine Kanz Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frank-
(1995): »Und wieder die Angst«. Zur Darstellung psy- furt/M.
chischer Phänomene in Texten von Ingeborg Bach- Christine Kanz
237

3. Bachmann und die Zeitgeschichte

3.1. Nationalsozialismus sozusagen in den Kontext der Ende der 1950er


Jahre entstandenen Erzählung zurückprojiziert
Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Natio- wird. Inzwischen gilt dieses Statement seit lan-
nalsozialismus und die zeitkritische Ausrichtung gem – und meist auch in dem von Johnson ›mon-
ihres Werks als eines Schreibens ›danach‹, nach tierten‹ Sinn – als Dreh- und Angelpunkt von
dem Krieg, nach der NS-Diktatur und nach Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Natio-
Auschwitz gehören zu den am meisten diskutier- nalsozialismus, hat die Autorin damit doch sozu-
ten Themen der Bachmann-Forschung – aller- sagen ein historisch bedingtes »Urtrauma ihrer
dings erst seit Beginn der 1980er Jahre, genauer: Sozialisation« (Heidelberger-Leonard 1992,
seit im Zuge der Neuentdeckung der Autorin S. 289) explizit in den Diskurs über ihr Werk
(vornehmlich durch die feministische Literatur- eingebracht und der »erste[n] Erkenntnis des
wissenschaft) auch jene andere »Verschiebung Schmerzes« auf privater Ebene an die Seite ge-
des Erkenntnisinteresses« stattfand (Bartsch stellt (TKA 3.1, 295): »Es hat einen bestimmten
1997, S. VII), mit der die frühere Auffassung von Moment gegeben«, sagte sie im Dezember 1971
der »Geschichtsferne der Dichterin« radikal in gegenüber der Zeitschrift »Brigitte«, »der hat
Frage gestellt wurde (Höller 1987, S. 10). Eine meine Kindheit zerstört. Der Einmarsch von Hit-
wichtige Rolle bei dieser ›historischen Wende‹ lers Truppen in Klagenfurt. Es war etwas so Ent-
der Bachmann-Forschung hat der 1982 von Hans setzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung
Höller herausgegebene Essay-Band »Der dunkle anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich
Schatten, dem ich schon seit Anfang folge« ge- ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt
spielt. Ein Jahr später, anläßlich des zehnten nie mehr hatte. Natürlich habe ich das alles nicht
Todestages von Ingeborg Bachmann 1983, er- verstanden in dem Sinn, in dem es ein Erwach-
schien eine Auswahlsammlung ihrer »Gespräche sener verstehen würde. Aber diese ungeheure
und Interviews« unter dem (Zitat-) Titel »Wir Brutalität, die spürbar war, dieses Brüllen, Sin-
müssen wahre Sätze finden« (GuI, 19), mit der gen und Marschieren – das Aufkommen meiner
auch all jene Äußerungen zum Faschismus einer ersten Todesangst.« (GuI, 111) Zwar ist diese
breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurden, die Aussage nicht ganz so wörtlich zu verstehen, wie
in der Folge (und nicht zuletzt vor dem Hinter- zunächst angenommen wurde, da Bachmann zu
grund des Historikerstreits Mitte der 1980er dieser Zeit »gar nicht in der Stadt« war (Höller
Jahre) ins Zentrum des Interesses rückten. 1999, S. 18); dies ändert jedoch nichts an der
Warum Bachmann eine der wichtigsten Aus- Tatsache, daß die Autorin im Rückblick ein Erin-
sagen zu diesem Thema nicht an prominenter nerungsbild, in dem privates und kollektives Ge-
Stelle, etwa in ihrem »Zeit«-Interview zum Er- dächtnis zusammenfallen, »als Urszene struktu-
scheinen des Romans Malina im Frühjahr 1971, riert« (Weigel 1999, S. 317) und »ihre erste große
sondern ausgerechnet gegenüber einer nicht ge- Schmerz- und Angsterfahrung« am 12. März 1938
rade auf ein literarisch-intellektuelles Publikum beim Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagen-
zielenden ›Frauenzeitschrift‹ machte, sei dahin- furt »ansetzt« (Hapkemeyer 1990, S. 17). Das Sta-
gestellt. Uwe Johnson war dieses Statement of- tement ist somit als »verdichtende Rückprojek-
fenkundig dennoch bekannt; in seinem 1974 er- tion aus späterer Perspektive als Begründung ei-
schienenen Buch Eine Reise nach Klagenfurt nes ›Schreibens nach Auschwitz‹« zu lesen
steht es als einzige Interview-Aussage neben Zi- (Göttsche 1998, S. 166), mit der Bachmann selbst
taten aus Bachmanns Briefen und Werken (John- die »entscheidende Spur zum Verständnis« ihres
son, S. 32 f.). In dem Kapitel »Klagenfurt«, in dem Werks gelegt hat (Höller 1999, S. 18).
dieser Interview-Auszug erscheint, zitiert John- Inzwischen scheint sich allerdings abzuzeich-
son zudem ansonsten ausschließlich aus der Er- nen, daß eine andere Aussage für das Verständnis
zählung Jugend in einer österreichischen Stadt, von Bachmanns Verhältnis zum Nationalsozia-
womit die Interviewaussage aus dem Jahr 1971 lismus von ebenso zentraler Bedeutung ist, auch
238 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

wenn diese keinem zur Veröffentlichung gedach- mutlich hat sich diese Frage auch für Bachmann
ten Text entstammt. Im Nachlaß von Wolfgang gestellt; von ihrem Grundsatz, private Dinge
Hildesheimer befindet sich ein Brief, in dem nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, ist
Bachmann ihre persönliche Konfliktsituation im sie jedoch nicht abgewichen (und hat auch eine
Umfeld der Vertragsverhandlungen zum Anlaß Beteiligung an dem eben genannten Band abge-
für ein generelles Statement über die Situation lehnt; Brief an Peter Härtling vom 11. 10. 1967;
der Zeit nimmt. Auf die Tatsache anspielend, daß Kopie im Besitz der Erben).
ihr (damals neuer) Verleger Klaus Piper einen Über Bachmanns Jugendjahre in der Zeit der
Erfolgsschriftsteller der NS-Zeit, Bruno Brehm, NS-Diktatur ist bislang noch sehr wenig bekannt.
auch nach 1945 noch verlegte, schreibt sie im Vor einiger Zeit ist eine andere wichtige Gestalt
Sommer 1955 von ihrer USA-Reise: »Das Fatale aus dieser Zeit, ihr Deutschlehrer in dem Ab-
ist, daß Piper […] wirklich kein Nazi ist, und iturientenkurs an der Klagenfurter Lehrbildungs-
diese vermischten Zustände machen es am aller- anstalt und möglicher Adressat der Briefe an
schwersten für einen.« (Brief vom 15. 7. 1955 an Felician Josef Friedrich Perkonig in den Blick
Wolfgang Hildesheimer aus Cambridge/MA, zi- geraten (von Weidenbaum 1997 und 1998). Per-
tiert nach Weigel 1999, S. 469) Bachmanns eige- konig, zu dieser Zeit der bedeutendste Kärntner
ner, entschiedener Antifaschismus steht selbst- Heimatschriftsteller, hat seinen Ruhm in den
verständlich außer Frage; in welchem Ausmaß Dienst der Nazis gestellt und galt als einflußrei-
die Autorin im beruflichen und privaten Alltag cher NS-Repräsentant (Höller 1999, S. 34). Zwar
jedoch tatsächlich diesen »vermischten Zustän- ist wohl anzunehmen, daß Bachmann »die politi-
den« und wohl nicht selten solchen und ähnli- sche Tragweite seiner Ämter und seiner Verant-
chen Konflikten ausgesetzt war, läßt sich auch wortung als gefeierter ›völkischer‹ Dichter« nicht
nach jüngsten Erkenntnissen allenfalls im Ansatz oder zumindest nicht in vollem Maße bewußt war
rekonstruieren. Daß diese »vermischten Zu- (von Weidenbaum 1997, S. 25); dennoch bleibt
stände« alle Ebenen des privaten und gesell- tatsächlich, wie Höller zu Bedenken gibt, etwas
schaftlichen Lebens betrafen, zeigt nicht zuletzt »zutiefst Beunruhigende[s]« an diesen »histo-
ein neuer Mosaikstein, der 1999 dem Gesamtbild risch-biographischen Korrespondenzen«, vor al-
des Themas ›Bachmann und der Nationalsozia- lem wegen der »Gespaltenheit des biographi-
lismus‹ hinzugefügt werden konnte. Im Umfeld schen Ich, jene[r] Trennung und Parzellierung,
entsprechender Untersuchungen ist bereits be- bei der das Tagebuch [mit seinen Eintragungen
tont worden, daß »der Nationalsozialismus« in über den jüdischen Remigranten Jack Hamesh]
Österreich »eine breitere Basis erlangt [hat] als nichts von den Briefen weiß und die Briefe nichts
jemals in Deutschland« (Botz, S. 205). Erst kürz- vom Tagebuch und diese wieder nichts von an-
lich hat die Familie Bachmann jedoch die Tat- deren Briefen an andere Personen« (Höller 1999,
sache bekannt gegeben, daß auch Bachmanns S. 35). (Uwe Johnson scheint übrigens von Perko-
Vater schon 1932 in die damals noch illegale nigs Verstrickung in die Politik der Machthaber
NSDAP eingetreten ist und nach 1945 entspre- nicht gewußt zu haben; in seiner Reise nach
chend zunächst »vom Schuldienst ausgeschlossen Klagenfurt erwähnt er diesen im Gegenteil als
war« (Höller 1999, S. 46, 25). Bachmann hat dies Urheber eines Appells »an den Gauleiter und
ihr Leben lang weder öffentlich noch in ihrer Reichsstatthalter von Kärnten […], die Slowe-
(bislang bekannten) privaten Korrespondenz je- nenaussiedlung rückgängig zu machen«; John-
mals erwähnt und folgte damit dem Beispiel der son, S. 49 f.).
meisten ihrer Altersgenossen nach 1945. Im Um- Zu welchen Konfliktsituationen die »vermisch-
feld des gesellschaftlichen Umbruchs der 1960er ten Zustände« immer wieder führen mußten, läßt
Jahre gehörte dann für viele Vertreter der jün- sich auch bei einem Blick auf das beruflich-pri-
geren Generation (wie etwa Peter Härtling, geb. vate Umfeld der mittleren und späteren 1950er
1933, der 1968 einen Band mit dem Titel »Die Jahre erahnen. Denn natürlich war Bachmann
Väter. Berichte und Geschichten« herausgegeben nicht nur mit (jüdischen) Überlebenden des Ho-
hat) die nationalsozialistische Vergangenheit zu locaust und nachweislichen Antifaschisten be-
einem der wichtigsten Probleme bei der Ausein- kannt und befreundet; dies wäre angesichts der
andersetzung mit der Generation der Eltern. Ver- großen Zahl der (um mit Alfred Andersch zu
Nationalsozialismus 239

sprechen) ›anderen‹ auch wohl kaum praktikabel politische Vergangenheit wird Ungaretti von den
gewesen. Zu ihrem Münchener Freundeskreis sauberen Leuten nicht arg nachgetragen, eher
zählte beispielsweise auch ein »SS-Mann von etwas belächelt; man scheint ihn für ein wenig
1933 wie Hans Egon Holthusen« (Brief Alfred korrupt und vor allem für einen schlauen Toska-
Anderschs an Adolf Muschg, zitiert nach Rein- ner gehalten zu haben.« (Brief an Siegfried Un-
hardt, S. 334). (Auch Holthusens Schwester Ur- seld vom 14. 1. 1961)
sula von Welser gehörte zu diesem Freundes- Im Rahmen der Untersuchung von Bachmanns
kreis; sie war die langjährige Lebensgefährtin Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialis-
von Joachim Moras, dem Redakteur von Bach- mus wird dieser ›andere‹ Hintergrund sicherlich
manns Publikationsorganen »Merkur« und »Jah- noch sehr viel weiter auszuloten sein. Die Au-
resring«, mit dem die Autorin bis zu seinem Tod torin hat die »versäumte politisch-gesellschaft-
im April 1961 in einer zunehmend herzlichen liche Neuordnung« (Thamer, S. 221) und die dar-
Verbindung stand.) Hans Egon Holthusen hat aus resultierenden, vielfältigen und unvermeidli-
sich beispielsweise (als Sprecher der deutschen chen Verstrickungen in die »vermischten
Delegation der »Harvard Summer School« des Zustände« der Nachkriegszeit in der Erzählung
Jahres 1953) bei Henry Kissinger entschieden Unter Mördern und Irren literarisiert, besonders
dafür eingesetzt, daß Bachmann im Jahr 1955 zu deutlich etwa in der Mitte des Textes in dem
diesem Seminar eingeladen wurde, und in seiner Dialog zwischen Friedl und dem Ich-Erzähler,
Funktion als Programmdirektor des amerika- Vertretern der jüngeren Generation unter den
nisch-deutschen Kulturinstituts ›Goethe House‹ Teilnehmern an einem Freitagsstammtisch, der
hat er sie im Juni 1962 zu einer Lesung nach New sich aus Tätern und Opfern, Mitläufern und Op-
York eingeladen. positionellen sowie orientierungslosen jungen
Ein letztes Beispiel macht deutlich, wie weit Intellektuellen zusammensetzt: »›Verstehst du‹,
diese »vermischten Zustände« gelegentlich auch fragte er, ›warum wir beisammen sitzen? […]
abrupt in die konkrete Arbeitssituation der Besonders Herz verstehe ich nicht. […] er sitzt
Schriftstellerin eingreifen konnten. Bei der Ar- mit Hutter und Haderer beisammen. Er weiß
beit an dem Nachwort zu ihrer Übersetzung aus- alles über die alle.‹ Ich sagte: ›Wir wissen es
gewählter Gedichte von Giuseppe Ungaretti auch. Und was tun wir?‹« (W 2, 172 f.) Die Erzäh-
machte Bachmann eine Entdeckung, die zu- lung spielt schon im Titel auf eine Situation an, in
nächst, wie sie an Siegfried Unseld schrieb, einer der (im Sinne von Wolfgang Staudtes Spielfilm
»kalten Dusche« gleichkam: »[…] ich habe nun, aus dem Jahr 1946) die ›Mörder‹ immer noch
durch Zufall, erfahren, daß Ungaretti nicht nach ›unter uns‹ sind (vgl. Schneider 1999, S. 211–
Brasilien ging, weil er es in Italien nicht mehr 221). Bereits 1952, sieben Jahre nach Kriegsende,
aushalten konnte (diesem Irrtum ist ja auch Mang hatte Bachmann in ihrem Gedicht Früher Mittag
erlegen). Er war Faschist, ein gemäßigter, wenn auf die Rückkehr der »Henker von gestern« in die
man so will, Böses angerichtet hat er grade nicht, alten Machtpositionen hingewiesen (»Sieben
aber immerhin, Brasilien war keine Emigration, Jahre später, / in einem Totenhaus, / trinken die
er war gut bezahlt von daheim, hat 1924 Musso- Henker von gestern, / den goldenen Becher aus«;
lini ein Gedicht gewidmet […].« Während Bach- W 1, 44). Auch in der erzählten Zeit von Unter
mann sich einige Jahre später im ›Fall Baumann‹ Mördern und Irren (»mehr als zehn Jahre nach
nicht davon beeindrucken läßt, daß Klaus Piper dem Krieg«; W 2, 159) hat sich daran nichts
sie darauf hinweist, Hans Baumann habe das geändert, »das Sagen […] in Presse (Bertoni),
besagte Lied (»Es zittern die morschen Kno- Rundfunk (Haderer), Universität (Ranitzky) und
chen«) vor der Machtergreifung der Nazis im in der Kulturförderung (Hutter)« haben wieder
Alter von erst 18 Jahren geschrieben und sich jene, »die aktiv den faschistischen Staat gestützt
später davon distanziert, spielt sie ihrerseits im haben« (Bartsch 1997, S. 104). In Österreich
›Fall Ungaretti‹ dessen Rolle in der Zeit des wurde die Restauration früherer Machtverhält-
italienischen Faschismus deutlich herunter: »Ein nisse durch die sogenannte Opfer-These zusätz-
Schandfleck für den Suhrkamp Verlag ist das lich erleichtert. Diese »Halbwahrheit«, wie Hans
Buch trotzdem nicht, darüber kann ich Dich be- Höller sie nennt, die These von Österreich als
ruhigen. Die Gedichte werden hoch bewertet; die dem ›ersten Opfer‹ Hitler-Deutschlands, »bedeu-
240 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

tete international eine Entlastung von der Mit- sie es sich bald danach dann ausdrücklich zum
schuld an den Verbrechen des Nationalsozialis- Ziel setzte, sondern immer noch eher ein Schrei-
mus, lenkte aber ab von der Aufarbeitung der ben nach dem Krieg und nach der NS-Diktatur
Vergangenheit, indem sie Täter und Opfer in eine unter Einschluß, aber keineswegs mit Vorrang
verlogene österreichische Opfergemeinschaft des ›Themas Auschwitz‹ – und dies galt ja auch
einschloß« (Höller 1999, S. 40). Max Frisch hat für die meisten anderen Schriftsteller in dieser
diese kollektive Mentalität im Österreich der Zeit.
Nachkriegszeit anläßlich seines Wien-Besuchs Thematische Untersuchungen geraten leicht in
im Januar 1948 als »Waffenstillstand mit der eige- Gefahr, alles und jedes auf den gewählten Aspekt
nen Lüge« bezeichnet (Frisch 1976, Bd. II.2, hin zu lesen; um so notwendiger sind kritische
S. 552). Kompliziert wird die Situation in der Stimmen, die sich dem allgemeinen Strom apolo-
Erzählung Unter Mördern und Irren also nicht getischer Rezeptionen entgegenstellen und Bach-
zuletzt dadurch, daß sich die Menschen nicht mann – beispielsweise – für die Zeit vor ihrem
länger wie noch in der Zeit der NS-Herrschaft Studienbeginn in Wien ein »geschichtsbewußtes
problemlos den ›einen‹ oder den ›anderen‹ zu- Denken im strengen Sinne« schlichtweg abspre-
ordnen lassen. Inzwischen sind jene »vermisch- chen (von Weidenbaum 1997, S. 25). In diesem
ten Zustände« eingetreten, die es Bachmanns Fall werden angesichts der gegenwärtig unzu-
Brief zufolge »am allerschwersten für einen« ma- länglichen (um nicht zu sagen: nicht vorhande-
chen und auch in der Erzählung in diesem Sinne nen) Textgrundlagen zum Jugendwerk zu einem
apostrophiert werden (vgl. auch Weigel 1999, späteren Zeitpunkt wohl noch detailliertere Un-
S. 499): »Damals, nach 45, habe ich auch gedacht, tersuchungen notwendig werden; generell je-
die Welt sei geschieden, und für immer, in Gute doch wären – vor allem angesichts einer Tendenz,
und Böse, aber die Welt scheidet sich jetzt schon schon die »frühesten bekannten Texte Bach-
wieder und wieder anders. Es war kaum zu be- manns« unter dem Bezugspunkt Auschwitz zu
greifen, es ging ja so unmerklich vor sich, jetzt lesen (Gehle 1995, S. 12) – tatsächlich mehr kriti-
sind wir wieder vermischt« (W 2, 173). sche Fragen angebracht, die auf differenzierteren
Ein besonders fataler Aspekt dieser »Zustände« Untersuchungen vor allem der Genese von Bach-
besteht der Erzählung zufolge darin, daß sich die manns Auseinandersetzung mit dem National-
Opfer des NS-Regimes an der Restauration der sozialismus insistieren. Dazu könnte etwa die
früheren Machtverhältnisse beteiligen: »[…] ich Frage gehören, warum Bachmann noch 1952 im
mag [Herz] nicht. Weil ich ihm vorwerfe, daß er NWDR anläßlich der Erstveröffentlichung des
mit denen beisammen sitzt. […] Weil er mitver- oben zitierten Gedichts Früher Mittag (»die Hen-
hindert, daß wir mit ihm und noch ein paar ker von gestern«), das stets als herausragendes
anderen an einem anderen Tisch sitzen können. Beispiel für die frühzeitig einsetzende Ausein-
Er aber sorgt dafür, daß wir alle an einem Tisch andersetzung mit dem Faschismus zitiert wird,
sitzen‹.« (W 2, 175) Daß der Ich-Erzähler hier – ihre Zuhörer einleitend nicht auf den vor »sieben
kaum relativiert durch die anschließend von Jahren« zu Ende gegangenen Genozid in den
Friedl vorgestellte ›Alternative‹ und die daraus Konzentrationslagern, sondern auf den Krieg ein-
entwickelte »Opfer«-Reflexion – einem Holo- stimmte. Denn in der Skizze Biographisches, die
caust-Überlebenden wie Herz, dessen »Frau um- Bachmann anläßlich der bevorstehenden Rund-
gebracht« worden ist und »seine Mutter« (W 4, funkaufnahme verfaßt und dort auch selbst ge-
172), im Grunde die Hauptverantwortung für die lesen hat, heißt es: »dann kam der Krieg und
»vermischten Zustände« zuschiebt, wird von der schob vor die traumverhangene, phantastische
Bachmann-Forschung gewöhnlich übergangen. Welt die wirkliche« (W 4, 301 f.). Nicht einmal
Bachmanns ›unbefangener‹ Umgang mit dem der »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagen-
Anteil der Juden an der Restauration der frü- furt« hat dieser frühen Biographie-Skizze zufolge
heren Machtverhältnisse kann jedoch als An- der Kindheit ein Ende gesetzt, sondern der ein-
haltspunkt dafür gelesen werden, daß Schreiben einhalb Jahre später beginnende Krieg, und hier
für die Autorin selbst in der Zeit des Erzählbands im Jahr 1952 ist auch von einer traumatischen
Das dreißigste Jahr noch keineswegs in dem Urszene noch keine Rede, eher von einem lang-
Sinne ein ›Schreiben nach Auschwitz‹ war, wie samen Prozeß (›der Krieg schiebt die wirkliche
Nationalsozialismus 241

Welt vor die traumverhangene‹), als den die dem stattgefunden hätte, was unter faschistisch
junge Ingeborg Bachmann den Krieg ja auch zu- eigentlich zu verstehen sei – und dies ist sicher-
nächst erlebt haben dürfte, bis er sich mit den lich auch für den zum Konsens der Gruppe 47
Bombardierungen von Klagenfurt ab Oktober gehörenden Antifaschismus charakteristisch (vgl.
1943 auch für die Daheimgebliebenen als trau- Kröll, S. 148; Bartsch 1997, S. 7). Einer der Vor-
matisierende Katastrophe darstellen mußte. Mit reiter der dann in den 1960er Jahren mit Verspä-
Blick auf Bachmanns späteres Werk lassen sich tung einsetzenden Auseinandersetzung mit der
Zeilen wie die über die »Henker von gestern« NS-Vergangenheit war Theodor W. Adorno, der
zweifellos auf die Mörder in den Konzentrations- am 6. November 1959, in der Zeit von Bach-
lagern beziehen, und die waren Bachmanns In- manns Frankfurter Vorlesungen und ihrer Be-
tention nach auch sicherlich nicht ausgenommen. kanntschaft mit ihm, das Titelreferat auf einer
Für die Autorin und ihre Zeitgenossen, die ak- vom deutschen Koordinierungsrat der »Gesell-
tiven und passiven Teilnehmer des Zweiten Welt- schaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit«
kriegs, bestand das Trauma der gerade vergan- veranstalteten Konferenz in Wiesbaden zum
genen Zeit der NS-Herrschaft von 1933 bzw. 1938 Thema »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergan-
bis 1945 jedoch nicht nur in dem abstrakten genheit?« gehalten hat. In die frühen 1960er
Wissen um die grauenhaften Massenmorde in Jahre fallen mehrere Ereignisse, die von einer
den Konzentrationslagern, sondern – was sich zunehmenden Präsenz des ›Themas Auschwitz‹
nicht zuletzt ja auch in den Themen der Literatur in der gesellschaftlich-politischen Öffentlichkeit
der Nachkriegsjahre spiegelt – zudem aus einem in dieser Zeit zeugen. Als alarmierend wurde
weiten Spektrum konkreter Katastrophenerfah- mitten im deutschen Wirtschaftswunder die anti-
rungen. Bachmanns eigene Versuche mit literari- semitische Welle im Winter 1959/60 empfunden.
schen Kriegsheimkehrer-Entwürfen sind in die- Die Statistik verzeichnet nach dem sogenannten
sem Zusammenhang zu sehen (TKA 1, 36–38), »Kölner Initialfall« (einer Anzahl Aktionen gegen
und selbst nach dem Erscheinen des Romans Denkmäler und jüdische Einrichtungen in Köln
Malina wird sie noch den »Krieg« und die »Kon- am 24./25. Dezember 1959) für das erste Halb-
zentrationslager« (in dieser Reihenfolge) in ei- jahr 1960 ein sprunghaftes Ansteigen antisemi-
nem Atemzug nennen (GuI, 89). Ein neuerer tischer und nazistischer Vorkommnisse, und zwar
Ansatz, ihr Schreiben ›danach‹ in den literarhi- um mehr als das Dreifache gegenüber dem Vor-
storischen Kontext zu rücken und dabei »drei jahr (Kraushaar, S. 160). Bachmann war in dieser
Phasen« »im Hinblick auf [ihre] weltanschaulich- Zeit in Zürich und schrieb an der Erzählung
politische Orientierung« zu unterscheiden (vgl. Unter Mördern und Irren (Brief an Reinhard
dazu im vorliegenden Handbuch die Beiträge von Baumgart, Piper Verlag, vom 5. 5. 1960). Im April
Jost Schneider zu Bachmanns Erzählprosa), wird 1961 begann in Jerusalem der Eichmann-Prozeß,
sich in diesem Sinne als fruchtbarer erweisen als der in Deutschland erneut zu einer Welle anti-
das Bemühen, von den frühesten Texten an den semitischer Ausschreitungen führte, und im De-
›Bezugspunkt Auschwitz‹ in Bachmanns Werk zember 1963 wurde vor dem Frankfurter Landge-
hineinzulesen. Denn insgesamt zeichnet sich richt der Prozeß gegen 21 ehemalige Angehörige
jetzt schon ab, »daß die für die Todesarten zen- der Wachmannschaft des Konzentrationslagers
trale Rückbindung der Zeitkritik an die Ausein- Auschwitz eröffnet. Der Frankfurter Auschwitz-
andersetzung mit dem Nationalsozialismus und Prozeß ging im August 1965 nach über 20 Mona-
der Shoah erst sukzessive an Konturen gewinnt« ten zu Ende und wurde die ganze Zeit über von
(Göttsche 1998, S. 164). der Berichterstattung der in- und ausländischen
Anfang der 1960er Jahre machte sich allgemein Medien begleitet. Anfang 1966 wies Bachmann
ein Unwillen gegenüber »den gesellschaftspoli- auf die »Prozeßberichte« hin, mit denen die »Exi-
tisch unwirksam bleibenden Stereotypen des tra- stenz« der »Mörder unter uns« in dieser Zeit
ditionellen Antifaschismus« bemerkbar (Kraus- »allen bewußt gemacht« worden war (TKA 2, 74).
haar, S. 160), der in den folgenden Jahren noch Unter den Zuschauern in Frankfurt befanden sich
zunahm. In Frage gestellt wurde eine Haltung, unter anderem Marie Luise Kaschnitz und Peter
die eher ›gefühlsmäßig antifaschistisch‹ war, Weiss, dessen szenische Darstellung des Ausch-
ohne daß eine wirkliche Auseinandersetzung mit witz-Prozesses im Oktober 1965 unter dem Titel
242 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Die Ermittlung uraufgeführt wurde. Eine Film- nate nach dem Bau der Mauer, auf seinem Höhe-
premiere dürfte dem ›Thema Auschwitz‹ Anfang punkt befand. Darüber hinaus schreibt sie in
der 1960er Jahre (wie Jahre später der US-ame- dieser Zeit u. a. an einem Beitrag zu dem ge-
rikanische TV-Mehrteiler über das Schicksal ei- planten »Almanach der Gruppe 47«, das Gedicht
ner Reihe von Holocaust-Opfern) zusätzlich brei- Ihr Worte entsteht, sie arbeitet an ihrem Beitrag
tere Aufmerksamkeit verschafft haben, der von für die italienisch/französisch/deutsche Zeit-
Stanley Kramer inszenierte und mehrfach preis- schrift »Gulliver« und bereitet mit dem Regisseur
gekrönte Film Das Urteil von Nürnberg (Judge- Egon Monk die Verfilmung der Anna Maria-
ment at Nuremberg, USA 1961), der unter an- Erzählung vor (GuI, 35). In die frühen 1960er
derem einem seiner Hauptdarsteller, dem Jahre gehen jedoch auch die ersten Entwürfe zu
Schweizer Maximilian Schell, den Oskar als be- einem Todesarten-Roman zurück, die besonders
ster Schauspieler eintrug. in der Episode um einen »von den Sowjets ein-
Dieser kursorische Blick auf die frühen 1960er gesetzt[en]« Kulturbeauftragten, der nach dem
Jahre macht deutlich, vor welchem Hintergrund »Staatsvertrag« aus seiner Position gedrängt wird
Bachmann (mit dem für sie typischen Gestus des (TKA 1, 100), an die in der Erzählung Unter
Sichabgrenzens von vermeintlichen oder tatsäch- Mördern und Irren thematisierte Rückkehr der
lichen Modeerscheinungen) im Jahr 1966 in ei- »Henker von gestern« in die alten Machtposi-
ner Vorrede zum Buch Franza darauf hinwies, tionen anknüpft.
daß »heute sehr viel Vergangenheit bewältigt Vor allem in der ersten Zeit der Arbeit an
[wird], von Romanciers, Gedichteschreibern, diesem als Zeit- und Gesellschaftsroman ange-
Journalisten« (TKA 2, 16). Zumindest soweit sich legten Todesarten-Roman scheint Bachmann
dies an den überlieferten Texten ablesen läßt, hat daran gedacht zu haben, das Weiterleben faschi-
die NS-Vergangenheit jedoch in den ersten Jah- stischer Ideen in Österreich zu Beginn der 1960er
ren nach dem »Wendepunkt in der bundesrepu- Jahre am Beispiel einer Art politischen Geheim-
blikanischen Politik der Erinnerung« (Peitsch, bunds darzustellen (»Loge«; TKA 1, 164), mit
S. 104), auf die Bachmann in dieser Vorrede zu- dem die zentrale Figur Eugen in dem als »1.
rückblickt, für sie selbst noch keinen Vorrang Kapitel« überschriebenen Fragment »Ein seltsa-
gehabt. Während beispielsweise ihr damaliger mer Klub« Bekanntschaft macht. Wenn die Mit-
Gefährte Max Frisch sein (aus der Prosaskizze glieder dieses Klubs während des vorsichtigen
Der andorranische Jude hervorgegangenes) ersten Abtastens auf Eugens Hinweis, daß sich
Theaterstück Andorra, das paradigmatisch für »eine Un-Idee [in Österreich] reichlich lang mit
seine Auseinandersetzung mit dem Neo-Antise- Erfolg behaupten« konnte (TKA 1, 98), mit mehr-
mitismus der 1950er Jahre stehen kann, im Früh- deutigem Wortgeplänkel reagieren (»Ein kleiner
jahr 1959 in einer ersten Fassung unter dem Titel Unterbruch. Sieben Jahre. Sieben Jahr sind
Zeit für Andorra abschließt (vgl. Frisch 1976, Bd. um.«), scheint sich bereits anzudeuten, woran
IV.2, S. 579), arbeitet Bachmann unter anderem dann kurze Zeit später, als Eugen von den Men-
an einer Erzählung mit dem Titel Zeit für Go- schenversuchen erfährt, die dieser »seltsame
morrha, die die, wie es später heißt, »erste Nach- Klub« durchführt, kaum noch Zweifel bestehen:
kriegszeit« (TKA 3.1, 598) und das zweifelhafte Diese »Gefühlsversuche«, »Liebesversuch[e]«
Milieu in der Wiener Leopoldstadt zum Thema und »Furcht- und Mut-Untersuchungen« (TKA 1,
hat (TKA 1, 63–69). In dem im Juni 1961 er- 99 f.) erinnern auf erschreckende Weise an die
schienenen Erzählband Das dreißigste Jahr hat persönlichkeitszerstörenden und oft mit dem
sie in nur zwei von sieben Erzählungen (Jugend Selbstmord der Versuchspersonen endenden Ex-
in einer österreichischen Stadt und Unter Mör- perimente einer präfaschistischen Organisation
dern und Irren) die unbewältigte nationalsozia- im Berlin der 1920er Jahre, wie sie in Ingmar
listische Vergangenheit zum Thema gemacht, da- Bergmanns Film Das Schlangenei (The Serpent’s
nach wendete sie sich mit dem Erzählfragment Egg, BRD/USA 1976) dargestellt werden (vgl.
Sterben für Berlin (aus dem Umfeld ihrer Reise in Bergmann 1977). Bachmann hat diesen Aspekt
das geteilte Berlin im November 1961) einem nicht sehr weit ausgefaltet, doch vor allem, wenn
anderen drängenden Problem der Zeit zu, dem Eugen in einem späteren Entwurf »aus dem Club«
Kalten Krieg, der sich damals, nur wenige Mo- kommt und »zu verstört« ist, um sein Gegenüber
Nationalsozialismus 243

richtig wahrzunehmen (TKA 1, 159), drängt sich wurde, befindet sich in Bachmanns Bibliothek).
der Gedanke auf, daß auch seine scheinbar un- Zudem hat Bachmann im Mai 1962 das Manu-
motivierten Anfälle von Todesangst (TKA 1, skript zu dem 1963 unter dem Titel Wohin denn
103–111) auf den Einfluß der von dem »seltsamen ich veröffentlichten Band ihrer langjährigen
Klub« durchgeführten Experimente an Menschen Freundin Marie Luise Kaschnitz gelesen (Kasch-
zurückgehen. nitz 2000, S. 822). Kaschnitz beschäftigt darin
Im Verlauf der Weiterarbeit an diesem ersten ebenfalls der »Gedanke, daß die Grausamkeit,
Todesarten-Roman gerät das mit dem »1. Kapitel« die damals mit so offenem Hohn gewaltet hatte,
skizzierte Konzept allerdings zugunsten der »To- nicht wie durch einen Zauberschlag verschwun-
desarten« von weiblichen Protagonisten allmäh- den sein könne, daß sie noch irgendwo lauere,
lich in den Hintergrund; diese nehmen nicht nur bereit hervorzubrechen und völlig sicher, ihre
immer mehr Raum ein, sie gewinnen auch unter Opfer zu finden« (Kaschnitz 1981, S. 51). Bach-
dem Vorzeichen des (allerdings erst später ex- mann nimmt diese Gedanken in den Vorreden
plizit so genannten) »Faschismus […] als Wort für zum Buch Franza (1966) auf, wenn sie fragt,
ein privates Verhalten« an Kontur (TKA 2, 53). »wohin der Virus Verbrechen gegangen« sei, der
Zwar stellen erst die Vorreden zu dem Roman- »doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus
fragment Das Buch Franza die Poetologie des unsrer Welt verschwunden sein« kann (TKA 2,
Todesarten-Projekts ausdrücklich in den Kontext 77). In einem frühen Entwurf zu dem Kapitel
der Verbrechen des Nationalsozialismus, den- »Jordanische Zeit« hat dieser »Virus Verbrechen«
noch entspricht bereits der »gesellschaftliche Mi- auch einen Namen: »Du sagst Faschismus«, so
krokosmos« des ersten Todesarten-Romans »je- antwortet Franza auf einen (im Text ausgespar-
ner moralischen Darstellungsintention, die In- ten) Einwand ihres Bruders, »[…] ich habe das
geborg Bachmann zuletzt bezüglich der noch nie gehört als Wort für ein privates Ver-
Simultan-Erzählungen bekräftigt hat« (Göttsche halten […]. Aber […] irgendwo muß es ja an-
2000, S. 26): »Zu sagen, was neben uns jeden Tag fangen […].« (TKA 2, 53) Und noch im Juni 1973
passiert, wie Menschen, auf welche Weise sie – nach dem Erscheinen der italienischen Über-
ermordet werden von den anderen, das muß man setzung des Romans Malina und vor dem Hinter-
zuerst einmal beschreiben, damit man überhaupt grund des Neofaschismus in Italien darauf ange-
versteht, warum es zu den großen Morden kom- sprochen, ob sie »das zweite Kapitel […] auf
men kann.« (GuI, 116) diesen Faschismus hin geschrieben hätte« – er-
In seiner sozialpsychologischen Ausrichtung läutert Bachmann dieses Konzept des Faschismus
weist Bachmanns Faschismusverständnis sicher- als privates Verhalten, und vor allem bezieht sie
lich Affinitäten zu dem der Frankfurter Schule auf es nunmehr ausdrücklich auf das Verhältnis der
(vgl. z. B. Thamer, S. 222). In der Prämisse vom Geschlechter: »ich habe schon vorher darüber
Faschismus als privatem Verhalten, die spätestens nachgedacht, wo fängt der Faschismus an. Er
mit Beginn der Arbeit an dem Roman Das Buch fängt nicht an mit den ersten Bomben, die gewor-
Franza ins Zentrum der Todesarten-Poetologie fen werden, er fängt nicht an mit dem Terror,
rückt, ist zudem ein »gesellschaftliches Konti- über den man schreiben kann, in jeder Zeitung.
nuum« vorausgesetzt, »das die nationalsozialisti- Er fängt an in Beziehungen zwischen Menschen.
sche Herrschaft der Jahre 1933 bis 1945 uns Der Faschismus ist das erste in der Beziehung
hinterlassen hat«, und entscheidende Impulse in zwischen einem Mann und einer Frau« (GuI,
diesem Sinne dürfte Bachmanns »Arbeit an der 144).
Vergangenheit in der Gegenwart« (Briegleb, Der Beginn der Arbeit an dem Roman Das
S. 73) auch von der bereits genannten Rede Theo- Buch Franza im Sommer/Herbst 1965 und bald
dor W. Adornos (»Was bedeutet Aufarbeitung der danach an der Erzählung Requiem für Fanny
Vergangenheit?«) mit ihrer zentralen These von Goldmann steht historisch und literarhistorisch
dem »Nachleben des Nationalsozialismus in der auf dem Höhepunkt jener bereits skizzierten
Demokratie« erhalten haben (Adorno, S. 555 f.; Phase der öffentlichen Auseinandersetzung mit
Adornos [erste] Aufsatzsammlung mit dem Titel der NS-Vergangenheit, die um die Wende zu den
»Eingriffe« [Neun kritische Modelle. Frankfurt/ 1960er Jahren einsetzte und nicht zuletzt eine
M. 1963], in die diese Rede aufgenommen Fülle von Publikationen hervorgebracht hat (dar-
244 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

unter als populärstes Beispiel die Studie von len zwischen ihrem Verhalten und dem der Zeu-
Alexander und Margarete Mitscherlich »Die Un- gen der Nürnberger Prozesse zu erkennen (TKA
fähigkeit zu trauern«, 1967). Im Hinblick auf 2, 305 f.), sie bezeichnet ihren Ehemann Leo
Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Fa- Jordan ausdrücklich als »Faschist[en]« (TKA 2,
schismus stellt die Weiterarbeit an den Todes- 247) und denkt »an Jordan […] nicht anders […]
arten um 1965/66 einen Neuansatz dar, insofern als an [den KZ-Arzt] Körner« (TKA 2, 314). In der
nunmehr von der Einsicht, daß die Geschichte im Erzählung Requiem für Fanny Goldmann wählt
einzelnen ihre Spuren hinterläßt (komprimiert in Bachmann einen anderen Zugang zum Thema
der vielzitierten Formel »Geschichte im Ich«; W der NS-Vergangenheit. Die Figur Fanny Gold-
4, 230), der Blick konsequent auf die einzelnen mann gehört zu jenen »Strategen des Vergessens«
und ihren Anteil an dem ›Mordschauplatz Gesell- (Heidelberger-Leonard 1994, S. 119), die ihre Er-
schaft‹ gelenkt (TKA 3.1, 617) und die Kata- fahrungen in der NS-Zeit wie ein abgetragenes
strophen der »große[n] Geschichte« auf das Kleidungsstück (hier: »die Uniform einer deut-
»Denken« der einzelnen, »das zum Verbrechen schen Flakhelferin«) ablegen und mit einem
führt« (TKA 2, 270 bzw. 78), zurückgeführt wer- neuen (hier: in »ein[em] von Tante Paulette ge-
den (vgl. auch Göttsche 1998, S. 164; Göttsche schneiderte[n] dunkellila Kleid«) die Erinnerung
1998a, S. 56ff.). Spätestens bei der Arbeit an dem an den Faschismus zudecken (TKA 1, 289). Auch
Buch Franza beginnt Bachmann auch, sich theo- in der Figur des jüdischen Remigranten Harry
retisch mit dem Faschismus und seinen Opfern Goldmann, der sich später »mit der Geschichte
auseinanderzusetzen (vgl. Kommentar TKA 2, der Juden beschäftigte« und »dem Eichmann-
402, 469–471). Entsprechend kreisen die in die- Prozeß beiwohnen« wird (TKA 1, 299 f.), ist die
ser Zeit entstandenen Entwürfe zum späteren österreichische NS-Vergangenheit und deren Ver-
Kapitel »Jordanische Zeit« »um die historischen drängung in der Zeit nach 1945 in den Entwürfen
und mentalitätsgeschichtlichen Querverbindun- zu der Erzählung Requiem für Fanny Goldmann
gen zwischen dem Nationalsozialismus und sei- als Thema präsent, das allerdings erst in dem
nen Opfern, den Methoden der Psychiatrie und Fanny Goldmann-Teil des späteren Goldmann/
dem Verhältnis der Geschlechter in der moder- Rottwitz-Romans seine entscheidende Vertiefung
nen Gesellschaft« und »weisen vielfältige Spuren erhält.
der genannten Lektüren auf« (Albrecht/Göttsche Ein völlig neues Konzept der Darstellung fa-
1998a, S. 254). schistischer Strukturen im Alltag der Nachkriegs-
In ihrem Todesarten-Projekt setzt Bachmann zeit hat Bachmann mit der Traumdramaturgie
sich vor allem mit dem auseinander, was sie die ihres Romans Malina gefunden, und vor allem
»Krankheit unserer Zeit« nannte (GuI, 72). Ge- die Figur des Vaters kann als »ein Tor zur Ge-
meint ist damit die soziale und ›geistige‹ Gewalt schichte« gelesen werden, »die ›im Ich‹ […] ihre
der modernen westlichen Gesellschaft und der Wirkung getan hat« (Bartsch 1997, S. 147). Ent-
verborgene Zusammenhang zwischen der patri- sprechend führt das Traumkapitel dieses Romans
archalischen Gesellschaftsstruktur, dem Natio- Versatzstücke aus dem historischen Fundus der
nalsozialismus und der Unterwerfung bzw. Aus- NS-Greuel vor, von der Gaskammer über den
grenzung des anderen, also jene »strukturelle elektrischen Stacheldraht bis zu der SS-Uniform
Beziehung zwischen Faschismus, Patriarchat, des Vaters in der berühmten Schlußinszenierung
Ethno- und Logozentrismus« (Weigel 1984a, des Kapitels, die diese Figur in historischen Ko-
S. 5), die die Bachmann-Forschung seit fast zwei stümen der Schlächter und Henker aller Zeiten
Jahrzehnten zentral beschäftigt. In dem Roman- zeigt (TKA 3.1, 502 f., 547 f.), zuletzt in »Silber
fragment Das Buch Franza führt die Suche nach und Schwarz mit schwarzen Stiefeln vor einem
dem Ursprung faschistischen Verhaltens im Kon- elektrisch geladenen Stacheldraht, vor einer Ver-
text von Bachmanns »Theorie des permanenten laderampe, auf einem Wachturm« (TKA 3.1,
Kriegszustands« (Schneider 1999, S. 56) zunächst 564). Die »Reflexionen über die ›Spätschäden‹
dazu, daß die Titelfigur als eine Frau gestaltet des Nationalsozialismus in der Jugend der sech-
wird, die sich völlig mit den Opfern des Fa- ziger Jahre« (Göttsche 1998, S. 195), die Episode
schismus identifiziert: Franza sieht sich selbst als über den Gymnasiasten Michael Frank und seine
»Spätschaden« (TKA 2, 215) und glaubt, Paralle- Mitschüler, die, »maskiert mit den Abzeichen und
Nationalsozialismus 245

Erkennungszeichen einer ihnen und den meisten »gefährliche terminologische Verwischung der
ja schon völlig unbekannten SS« (TKA 3.2, 714), Grenzen« aufmerksam gemacht hat (Heidelber-
einen kollektiven Selbstmord planen, hat Bach- ger-Leonard 1994, S. 113 f.), ist inzwischen der
mann hingegen nicht in die Druckfassung des Ansicht, daß Bachmann »nicht das Verbrechen
Romans aufgenommen. Aktuelle Zeitbezüge, wie [banalisiert], wohl aber kriminalisiert sie den
etwa ein Hinweis auf Jean Amérys Essay »Die Alltag« (Heidelberger-Leonard 1998a, S. 88).
Tortur« aus dem Jahr 1965 (TKA 4, 389), finden Eine Frage, die selten aufgeworfen wird, in die-
sich dagegen in dem Erzählband Simultan. sem Kontext jedoch unverzichtbar ist, betrifft den
Bachmanns Art der Auseinandersetzung mit Fragmentcharakter vieler später Texte (Albrecht
dem Nationalsozialismus ist nicht zuletzt außer- 1998, S. 72ff.; Albrecht 1998a; Albrecht/Göttsche
halb der Bachmann-Forschung auch auf harte 1998b, S. 8; Weigel 1999, S. 484), insofern die in
Kritik gestoßen. Was die Autorin in einem Inter- den Entwürfen vorliegenden Konkretisierungen
view nach dem Erscheinen des Malina-Romans des Themas Nationalsozialismus nicht zuletzt
für ihre Arbeit in Anspruch genommen hat: daß auch unter dem Aspekt der Suche nach einer
»für einen Schriftsteller […] noch etwas ganz Darstellungsweise des »Faschismus in privaten
anderes zu tun [bleibt]«, nämlich »auf eine an- Beziehungen« zu lesen wären.
dere Weise etwas zu sagen«, da »die Sprachen der Eine entscheidende Erfahrung hätte zweifellos
Wissenschaft […] bestimmte Phänomene über- große Bedeutung für Bachmanns weitere literari-
haupt nicht erreichen« können (GuI, 90 f.), sche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozia-
spricht der Historiker Hans-Ulrich Thamer ihr lismus und mit ›Auschwitz‹ gehabt, doch diese
gerade ab: »Auch wenn man diesen Gebrauch des hat sie nicht mehr für ihre literarische Arbeit
Faschismusbegriffs als ›Metapher‹ versteht, so fruchtbar machen können. Während ihrer zehn-
bleibt unübersehbar, daß die Schriftstellerin da- tägigen Reise nach Polen auf Einladung des
mit der zeitgenössischen Inflationierung des Fa- Österreichischen Kulturinstituts Warschau im
schismus-Begriffs folgt, die der Historiker als Mai 1973 wenige Monate vor ihrem Tod be-
wenig erkenntnisfördernd und gar als potentielle sichtigte Bachmann auch die Konzentrationslager
Verharmlosung der tatsächlichen Vernichtungs- Auschwitz und Birkenau, und in einem vom PRT
praxis des Nationalsozialismus kritisieren muß.« Warszawa aufgenommenen Interview hat sie an-
(Thamer, S. 223) Im Fall von ›Auschwitz‹ ist die schließend zu den erschütternden Eindrücken
Vereinnahmung der Opfer schon sehr viel früher Stellung genommen: »Nun hilft einem alles
kritisiert worden als in dem der Völker der ›Drit- nichts, wenn man das weiß, denn in dem Augen-
ten Welt‹ (vgl. hierzu den Artikel »Postkolonia- blick, wo man dort steht, ist alles ganz anders. Ich
lismus und kritischer Exotismus« im vorliegen- kann darüber nicht sprechen, weil … es gibt auch
den Handbuch); derzeit überwiegen in der Bach- nichts zu sagen. Es wäre mir vorher möglich
mann-Forschung Versuche eines ausgewogenen gewesen, darüber zu sprechen, aber seit ich es
Verständnisses. Kurt Bartsch hat 1982 als erster gesehen habe, glaube ich, kann ich das nicht
auf den »inflationär gebrauchten und daher nicht mehr …« (GuI, 131)
ganz unproblematischen Begriff« Faschismus in Quellen: Theodor W. Adorno (1977): Gesammelte
Bachmanns Werk hingewiesen (Bartsch 1982, Schriften. (Hg.) Rolf Tiedemann et al., Bd. 10.2 (Kul-
S. 122); inzwischen gesteht er der Autorin jedoch turkritik und Gesellschaft II). Frankfurt/M.; – Ingmar
zu, daß »diese Übertragung durch einen Gedan- Bergmann (1977): Das Schlangenei. Filmerzählung.
kengang von Bachmann [gerechtfertigt wird], der Hamburg; – Max Frisch (1976): Gesammelte Werke in
zeitlicher Folge. (Hg.) Hans Mayer. Unter Mitwirkung
durchaus nicht der Konsequenz entbehrt«, und
von Walter Schmitz. Frankfurt/M.; – Härtling (1968):
zwar insofern, als Bachmann »Brechts Vorwurf an Die Väter. Berichte und Geschichten. (Hg.) Peter Härt-
den Staat, der in den Faschismus treibt, daß in ling. Frankfurt/M.; – Uwe Johnson (1974): Eine Reise
ihm nur die wenigsten Tötungsarten verboten nach Klagenfurt. Frankfurt/M.; – Marie Luise Kasch-
seien, […] auf die westlichen Nachkriegsgesell- nitz (1981): Wohin denn ich [1963]. In: Kaschnitz: Ge-
schaften« überträgt (Bartsch 1997, S. 131 f.). Auch sammelte Werke. (Hg.) Christian Büttrich und Norbert
Miller, Bd. 2 (Die autobiographische Prosa I). Frank-
Irene Heidelberger-Leonard, die auf das Pro-
furt/M., S. 381–556; – Marie Luise Kaschnitz (2000):
blematische der »private[n] Vereinnahmung die- Tagebücher aus den Jahren 1936–1966. (Hg.) Christian
ser weltgeschichtlichen Katastrophe« und auf die Büttrich, Marianne Büttrich und Iris Schnebel-Kasch-
nitz. 2 Bde. Frankfurt/M., Leipzig.
246 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Literatur: Albrecht (1998); Bartsch (1982); Bartsch (1998), S. 14–27; – Sigrid Weigel (1984a): Die andere
(1997); Gehle (1995); Göttsche (1998); Hapkemeyer Ingeborg Bachmann. In: Text + Kritik (1984), S. 5–6.
(1990); Höller (1987); Höller (1999); Schneider (1999); Monika Albrecht
Weigel (1999).
Monika Albrecht (1998a): Text-Torso oder Trümmer-
feld? Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt im Jahr
1973. In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 28–46; –
3.2. Die Entwicklung der
Monika Albrecht und Dirk Göttsche (1998a): Nachwort. Nachkriegsgesellschaft
In: Ingeborg Bachmann: Das Buch Franza. Das Todes-
arten-Projekt in Einzelausgaben. München, Zürich
Erst aus der Distanz der zweiten Hälfte der
1998, S. 248–263; – Monika Albrecht und Dirk Göttsche
(1998b): Vorwort. In: Albrecht/Göttsche (1998), S. 7– 1960er Jahre wird die Nachkriegszeit in Bach-
10; – Gerhard Botz (1993): Historische Brüche und manns Werk zum Gegenstand eingehender Refle-
Kontinuitäten als Herausforderung – Ingeborg Bach- xion, zu einem Zeitpunkt also, als diese Epoche,
mann und post-katastrophische Geschichtsmentalitäten wie Martin Walser es im Mai 1967 in einer Rund-
in Österreich. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 199–214; – funksendung ausdrückte, bereits »deutlich aufge-
Klaus Briegleb (1992): Vergangenheit in der Gegen-
hört hat« (Walser, S. 117). Mit der parallelen Ar-
wart. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Lite-
ratur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. (Hg.) beit an der Erzählung Requiem für Fanny Gold-
Rolf Grimminger, Bd. 12: Gegenwartsliteratur seit mann und dem Roman Das Buch Franza kommt
1968. (Hg.) Klaus Briegleb und Sigrid Weigel. Mün- es zu jener »geschichtliche[n] Vertiefung der
chen, Wien, S. 73–116; – Dirk Göttsche (1998a): Zeit, Nachkriegszeitdarstellung« (Göttsche 1998,
Geschichte und Sozialität in Ingeborg Bachmanns To- S. 171), die in der Folge das Todesarten-Projekt
desarten-Projekt. In: Heidelberger-Leonard (1998),
kennzeichnen wird. In der Nachkriegszeit selbst,
S. 48–66; – Dirk Göttsche (2000): Auf der Suche nach
der »großen Form« – Ingeborg Bachmanns erster Todes- in den rund zwei Jahrzehnten zwischen dem
arten-Roman. In: Béhar (2000), S. 19–40; – Irene Hei- Ende des Zweiten Weltkriegs und dem gesell-
delberger-Leonard (1992): Ingeborg Bachmann und schaftlichen Umbruch der 1960er Jahre, ist die
Jean Améry. Zur Differenz zwischen der Ästhetisierung unmittelbare Gegenwart als Entstehungshinter-
des Leidens und der Authentizität traumatischer Erfah- grund wirksam, und entsprechend finden sich die
rung. In: Stoll (1992), S. 288–300; – Irene Heidelber-
Charakteristika dieser »Langen Fünfziger Jahre«
ger-Leonard (1994): Ingeborg Bachmanns Todesarten-
Zyklus und das Thema Auschwitz. In: Pichl/Stillmark (Abelshauser) auf vielfältige Weise in Bachmanns
(1994), S. 113–124; – Irene Heidelberger-Leonard Werk – etwa das Nebeneinander rivalisierender
(1998a): Ernst Goldmann-Geschichten und Geschichte. Literaturkonzepte, eine Art ›ungeschriebene
In: Heidelberger-Leonard (1998), S. 80–90; – Wolfgang Sprachregelung‹ im Umgang mit der jüngsten
Kraushaar (1998): Frankfurter Schule und Studenten- Vergangenheit, die eklatante Ideologiefeindlich-
bewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail.
keit der Zeit und nicht zuletzt der Kalte Krieg mit
1946–1995, Bd. 1: Chronik. (Hg.) Wolfgang Kraushaar.
Hamburg; – Friedhelm Kröll (1977): Die »Gruppe 47«. seinen Konsequenzen, dem Antikommunismus,
Soziale Lage und gesellschaftliches Bewußtsein lite- der Westbindung und damit einhergehend der
rarischer Intelligenz in der Bundesrepublik. Stuttgart; – Verdrängung der NS-Vergangenheit.
Helmut Peitsch (1995): Zur Geschichte von ›Vergangen- Mit ihren divergierenden Kulturkonzepten war
heitsbewältigung‹. BRD- und DDR-Kriegsromane in die Nachkriegszeit auch reich an entsprechenden
den fünfziger Jahren. In: 1945–1995. Fünfzig Jahre
Konflikten (vgl. Hermand 1986, S. 13), und dazu
deutschsprachige Literatur in Aspekten. (Hg.) Gerhard
P. Knapp und Gerd Labroisse (= Amsterdamer Beiträge gehörte vor allem die Kluft zwischen den litera-
zur neueren Germanistik, 38/39). Amsterdam, Atlanta, turpolitischen Lagern und ihren jeweiligen Auf-
S. 89–117; – Stephan Reinhardt (1990): Alfred An- fassungen von der Rolle der Zeitgeschichte in der
dersch. Eine Biographie. Zürich; – Hans Ulrich Thamer Literatur. Bachmanns Position innerhalb der
(1993): Nationalsozialismus und Nachkriegsgesell- ideologisch polarisierten Kultur der 1950er Jahre
schaft. Geschichtliche Erfahrung bei Ingeborg Bach-
ist eine Art Zwischenstellung, die auch als Ur-
mann und der öffentliche Umgang mit der NS-Zeit in
Deutschland. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 215–224; – sache dafür gesehen wird, daß sie von den unter-
Inge von Weidenbaum (1997): Ist die Wahrheit zumut- schiedlichsten Seiten her Anerkennung fand (vgl.
bar? In: Böschenstein/Weigel (1997), S. 23–28; – Inge z. B. Hotz 1990, S. 90 u. ö.). Das vielzitierte State-
von Weidenbaum (1998): Zumutbare Wahrheiten? An- ment der ersten Frankfurter Vorlesung im No-
merkungen zur Werkausgabe von 1978 und dem »Todes- vember 1959: »Daß Dichten außerhalb der ge-
arten-Projekt« von 1995. In: Heidelberger-Leonard
schichtlichen Situation stattfindet, wird heute
Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft 247

wohl niemand mehr glauben« (W 4, 196), dürfte Interviews dieser Zeit auch auf, wie selbstver-
dabei am Ende einer langen Orientierungsphase ständlich Bachmann mit dem Vokabular dieser
stehen, an dem das Pendel nunmehr auf die Seite Literaturkonzeption umgeht, etwa wenn sie An-
der »bewußte[n] Zeitgenossenschaft« ausgeschla- fang 1955 über »die merkwürdige Beziehung zwi-
gen ist (Höller 1987, S. 13) – oder zumindest schen zeitgebundenen Motiven, zeitgebundenen
zeichnet sich ab, daß diese Haltung bewußter Sprachmitteln und dem absoluten Charakter ei-
Zeitgenossenschaft in den Jahren davor nicht nur nes Gedichts« spricht und erwähnt, daß bei Dante
unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen »die zeitgenössischen Themata eine überzeitliche
konnte, sondern auch Schwankungen unterwor- Bedeutung gewonnen haben« (GuI, 11). Es er-
fen war. In einem Entwurf aus dem Nachlaß, der scheint zudem fraglich, ob Bachmann diese (Teil-)
im ersten Teil eine überarbeitete Fassung der Orientierung am klassischen Dichtungsideal, die
Skizze Biographisches (1952) darstellt (vgl. W 4, Ausrichtung der Literatur auf die sogenannte
301 f.), aber deutlich später, im Umfeld des zwei- conditio humana und auf das Überzeitliche, zum
ten Gedichtbandes Anrufung des Großen Bären Zeitpunkt der Frankfurter Vorlesungen abgelegt
(1956), entstanden ist, hält Bachmann zum Bei- hatte – und ob sie dies überhaupt jemals getan
spiel »Zeitnähe« noch für etwas durchaus Zweit- hat. Denn zwar stellt sie in den Vorlesungen klar,
rangiges: »Die ›Zeitnähe‹ soll uns nicht küm- wie wichtig die »geschichtliche Situation« für den
mern; die Zeit prägt uns ohne Zutun.« (N836) Schriftsteller ist, gleichzeitig finden sich dort je-
Dies liest sich wie ein Zugeständnis an die kon- doch auch Sätze wie: »Zeitlos freilich sind nur die
servative Kritik an ihrem ersten Lyrikband Die Bilder. Das Denken, der Zeit verhaftet, verfällt
gestundete Zeit (1953), in dem »Zeitnähe« ja of- auch wieder der Zeit.« (W 4, 195) Daß auch die
fenkundig zu ihrem poetologischen Programm ›zeitlosen Bilder‹ einmal unter dem Aspekt ihrer
gehörte – etwa in dem Hinweis auf die »ge- gesellschaftlichen Konstruiertheit betrachtet
stundete Zeit«, mit dem sie, wie vorher schon werden könnten, dieser Gedanke scheint Bach-
Wolfgang Koeppen in seinem Roman Tauben im mann hier am Ende der 1950er Jahre ebenso fern
Gras (1951), darauf aufmerksam macht, daß »die gelegen zu sein wie den Traditionalisten des Kul-
Zeit […] kostbar« ist, »eine Atempause auf dem turbetriebes die Vorstellung, daß das Allgemein-
Schlachtfeld«, weil es der Menschheit nach Hiro- Menschliche sich einmal als universalisiertes
shima möglich ist, »den Erdball in die Luft zu westlich-europäisches Konzept erweisen würde.
sprengen« (Koeppen, S. 11; vgl. Höller 1987, Bachmanns Festhalten an einem sozusagen un-
S. 30). In den Gedichten des Bandes Anrufung auflöslichen Rest zeitlosen Ideengutes macht je-
des Großen Bären sind solche ›Zeitvokabeln‹ doch deutlich, in welchem Maße die sehr ein-
dann sehr weit zurückgenommen, und folgerich- flußreichen konservativen Strömungen des Lite-
tig bescheinigte Hans Egon Holthusen, einer der raturbetriebs noch Ende der 1950er Jahre das
herausragenden Repräsentanten der konservati- Denken der Vertreter der jüngeren Generation
ven Literaturkritik, diesem zweiten Lyrikband, beeinflußten, von denen angeblich »niemand
daß die »Zufälligkeiten der zeitgenössischen Sze- mehr« glaubte, daß die Literatur »außerhalb der
nerie« und die »Botschaften moralisch-politi- geschichtlichen Situation« steht.
scher Art« dem »Notwendigen, Immerwähren- Charakteristisch für die Nachkriegszeit ist si-
den, Urbildlich-Wahren« gewichen seien: »Die cherlich auch die allenthalben anzutreffende Ka-
gesellschaftlich-zivilisatorischen Bewandtnisse tastrophenmetaphorik und »eine für die deutsche
der Epoche treten zurück, und eine von allem Nachkriegsliteratur typische Irrealisierung im
allzu Heutigen gereinigte Aufmerksamkeit richtet Umgang mit den Verbrechen des Nazismus«
sich auf die Erscheinungen des natürlich-kreatür- (Weigel 1999, S. 261). Die jüngste Vergangenheit
lichen Seins.« (Holthusen, S. 566, 571 f.) Der Ein- kam meist nur in vagen Andeutungen vor, man
fluß dieses traditionalistischen Literaturver- sprach etwa, um noch einmal Hans Egon Holt-
ständnisses ist noch deutlich am Werk, wenn husen zu zitieren, von dem »Geheimnis jenes
Bachmann Mitte der 1950er Jahre im Zusam- geschichtlichen Unheils, das sich zu unseren Leb-
menhang mit den Gedichten des zweiten Ly- zeiten unter deutschem Himmel ereignet hat«
rikbandes ›Zeitnähe‹ als poetologisches Konzept (Holthusen, S. 567). In seinem Essay »Von deut-
abwertet. Vor diesem Hintergrund fällt in den scher Vergeßlichkeit« aus dem Jahr 1956 hat Paul
248 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Schallück beklagt, daß das Naziregime und die ziehen und auf der eigenen, vermeintlich unab-
von ihm verursachten Greuel sozusagen zum un- hängigen Position zu bestehen – eine Haltung,
abwendbaren Schicksal hochstilisiert wurden, die in der Nachkriegszeit wesentlich zu dem all-
die Ursache der ›Katastrophe‹ dagegen stets völ- gemeinen Rückzug ins Private und scheinbar Un-
lig unklar blieb: »Wir leben und tun immer mehr politische beigetragen hat. Kritische Schriftstel-
so, als sei nichts geschehen, als seien Trümmer ler und Intellektuelle wie Ingeborg Bachmann
und Massengräber lediglich die Folgen eines Or- haben allerdings eigene Wege gefunden, das Pro-
kans, einer Naturkatastrophe und nicht eines na- blematische jeglicher Ideologie mit ihren jewei-
tionalsozialistischen Verbrechens, eines lange ligen gesellschaftskritischen Überzeugungen zu-
vorbereiteten und schließlich verlorenen Kriegs.« sammenzudenken. Alfred Andersch etwa hat sich
(Schallück, S. 13) Schon in frühen Arbeiten zur in seinem Essay »Die Blindheit des Kunstwerks«
Lyrik Ingeborg Bachmanns finden sich kritische aus dem Jahr 1956 zwar ebenfalls gegen jede
Stimmen, die darauf hingewiesen haben, daß in Ideologie, gleichzeitig jedoch für »die Literatur
den meisten Gedichten »jede Ursache« für die einer ziellosen, aber keineswegs sinnlosen Re-
lyrische Grundsituation »im Dunkel gelassen volte« ausgesprochen (Andersch, S. 33; vgl. Her-
wird« (Thiem 1972, S. 63). Inzwischen wird die mand 1986, S. 576). Bachmann fand in der ›offe-
von Paul Schallück kritisierte Schicksals- und nen Utopie‹ ihres Landsmanns Robert Musil –
Katastrophenmetaphorik der Nachkriegszeit »Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung« (W
auch grundsätzlich im Zusammenhang mit dem 4, 27) – einen Ansatzpunkt, den sie dem »Denken
Einfluß des klassisch-traditionalistischen Litera- in geschlossenen Ideologien« entgegenstellte,
turkonzepts gesehen, insofern »die Aufhebung in oder, wie sie es im Frühjahr 1954 in ihrem Radio-
die Dimension des Ewigen und Immerwähren- Essay über Musil ausdrückte: »Und doch ist […]
den […] letztlich eine Auflösung von Zeit« be- diese Utopie, als Richtbild, die Voraussetzung für
deutet und »die Geschichte als Naturzusammen- ein anderes Richtbild, das den Menschen aus den
hang erscheint« (Weigel 1999, S. 243) – mit dem ideologischen Klammern befreien kann.« (W 4,
Ergebnis »eine[r] problematische[n] Metaphori- 101 f.)
sierung der Rede über die Nazi-Vergangenheit, Im Umfeld der sogenannten Truman-Doktrin
die auch in Bachmanns Lyrik begegnet« (ebd., kam es im März 1947 offiziell zum ›Ausbruch‹ des
S. 79). Kalten Kriegs und in der Folge in weiten Teilen
Ein herausragendes Merkmal der Nachkriegs- der Bevölkerung zur Entstehung einer Art »west-
mentalität war (auch und gerade bei den Intel- liche[r] Ersatzidentität« (Davidis u. a., S. 16), ei-
lektuellen und Schriftstellern) ein »allgemeine[r] ner dezidiert antikommunistischen Haltung, die
Ideologieverdacht, der allerdings in seiner for- in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands
cierten Betonung der bürgerlichen Individualität und Österreichs vor allem von amerikanischer
selbst ein deutlich ideologisches Moment ent- Seite auch gezielt gefördert wurde. Deutliche
hält« (Hermand 1982, S. 107). Nach der Erfah- Spuren dieses allgegenwärtigen Antikommunis-
rung des Krieges und des Faschismus herrschte mus sind in den zwischen Juli 1954 und Septem-
jene Überzeugung vor, die auch Bachmann in ber 1955 unter dem Pseudonym Ruth Keller ver-
ihrem Essay über Robert Musil aus dem Jahr öffentlichten Rundfunk- und Zeitungsbeiträgen
1954 zum Ausdruck brachte, »daß das Denken in zu finden, in denen Bachmann auf wenig origi-
geschlossenen Ideologien direkt zum Krieg führt« nelle Weise »die alten Vorurteile des Kalten Krie-
(W 4, 27). Mit Hannah Arendts Studie »The ges« bedient (Höller 1999, S. 91): Sie sieht darin
Origins of Totalitarianism« (1951; deutsch: »Ele- Italien durch »den Totalitarismus von links wie
mente und Ursprünge totaler Herrschaft«, 1958) den von rechts« bedroht, sie hält es offenbar für
erschien in den 1950er Jahren ein Schlüsseltext erforderlich, die italienischen »Kommunisten
dieser Gesellschaftstheorie; gleichzeitig waren in nicht nur in Schach zu halten, sondern sie auch
einem weniger reflektierten Umfeld Totalitaris- wirksam zu bekämpfen«, und die Vokabeln des
musvorstellungen weit verbreitet, die den Fa- Kalten Krieges – »Linksextremisten«, »ultraro-
schismus und den Kommunismus schlichtweg te[r] Vormarsch« – sind in diesen Berichten über-
gleichsetzten. Die Reaktion sehr vieler Intellektu- all präsent (Bachmann 1998b, S. 31, 63 f.). Den
eller bestand darin, sich allen Ideologien zu ent- Bericht vom 9. Dezember 1954 hat Sara Lennox
Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft 249

zudem sehr treffend mit US-amerikanischen Rückprojektion handeln wie im Fall des berühm-
Denkmustern der McCarthy-Ära verglichen, in- ten Statements über den Einmarsch von Hitlers
sofern Bachmann der Kommunistischen Partei Truppen in Klagenfurt. Auch die Titel in Bach-
unterstellt, daß sie alle Bereiche der italienischen manns Bibliothek, die auf eine eingehendere
Gesellschaft infiltriert habe (vgl. Lennox 2003, Auseinandersetzung mit dem Sozialismus schlie-
Kapitel 10): »Die Untersuchungen ergaben, daß ßen lassen, stammen allesamt aus den späten
die kommunistische Partei über das ganze Land 1950er bzw. den 1960er und 1970er Jahren. Wenn
ein weites Netz geschäftlicher Beziehungen aus- Bachmann hingegen in demselben Entwurf fort-
gebreitet hatte, möglich gemacht und begünstigt fährt: »immer zurückschreckend vor dem Preis
[…] auch durch die ›Mittäterschaft‹ gewisser für die Verwirklichung. Mein ›die Hände in den
Privatunternehmungen sowie durch die ›Unter- Schoß legen‹, sieht mir manchmal selber aus wie
stützung‹ ausländischer Staaten.« (Bachmann ›Einverständnis‹, wie die Annahme des Bösen,
1998b, S. 32). ein Ja-sagen zu einer Welt, die ich nicht gut-
Die Berichte für Radio Bremen und die West- heißen kann. Aber es ist doch vor allem eine
deutsche Allgemeine Zeitung sind, wie bereits Lähmung« (N2051 f., zitiert nach Höller 1999,
erwähnt, nicht unter Bachmanns eigenem Namen S. 93), dann deutet dies bereits auf die spätere
erschienen, und zudem dürften sie »im wesentli- Position voraus, in der die Autorin zusehends
chen Zusammenfassungen«, zum Teil sogar weniger ›Einverständnis mit der Welt‹ signali-
»wörtliche Übersetzungen aus italienischen Zei- siert. Im Januar 1963 nach ihrer derzeitigen Lek-
tungen« gewesen sein (Höller 1999, S. 91). An- türe befragt, gab sie an: »Im Moment sieht es […]
zeichen dafür, daß auch Bachmanns ›eigenes‹ nach recht systematischer Beschäftigung aus mit
Denken (zumindest in der Mitte der 1950er dem historischen Materialismus« (GuI, 42; vgl.
Jahre) nicht ganz frei von antikommunistischen auch das Zitat aus der sozialistischen Internatio-
Einflüssen war, finden sich jedoch auch in ihrem nale, »zum letzten Gefecht«, im Wüstenbuch;
literarischen Werk. Etwa zeitgleich mit der Arbeit TKA 1, 248), und der Abstand zu ihren ›ideo-
an diesen Reportagen ist der Essay über Simone logiefeindlichen‹ Texten der Nachkriegszeit
Weil und deren Kritik an »alle[n] Totalitarismen« konnte nicht größer sein, als Bachmann im Som-
entstanden (W 4, 150). Auch Weil denkt, Bach- mer 1973 entschieden erklärte, sie »glaube nicht
mann zufolge, alle Systeme »von Allah bis zum an diesen Materialismus, an diese Konsumgesell-
Marxismus, vom römischen Imperium bis zu Hit- schaft, an diesen Kapitalismus, an diese Unge-
ler« zusammen und spricht von ihnen, in Anleh- heuerlichkeit, die hier stattfindet, an diese Be-
nung an Platos »Politeia«, als »den Großen Tie- reicherung der Leute, die kein Recht haben, sich
ren« (W 4, 150). Kurt Bartsch hat diese Partien an uns zu bereichern« (GuI, 145). Sara Lennox
des Essays über Simone Weil mit dem Titelge- hat zudem darauf hingewiesen, daß die Partien in
dicht von Bachmanns zweitem Lyrikband in Zu- dem Roman Malina über die »erste Nachkriegs-
sammenhang gebracht, in dem die »Bedrohung zeit« (TKA 3.1, 598) von marxistischer Termino-
durch Ideologien, die allesamt zu totalitärer Ver- logie und zum Teil deutlichen Referenzen auf
einnahmung, Verfügbarkeit und Minderwertung »Das Kapital« und andere Texte durchzogen sind
des Menschen neigen«, in dem Bild des »Großen (»Anhäufung von Waren«; »Jeder, der arbeitet,
Bären« verdichtet ist (Bartsch 1997, S. 64). Viel- war, ohne es zu wissen, ein Prostituierter, wo
leicht ist es vor dem Hintergrund der nunmehr habe ich das schon einmal gehört?«; TKA 3.1,
zugänglichen Römischen Reportagen nicht ganz 599, 596; vgl. Lennox 2003, Kapitel 10).
so abwegig, bei diesem Bild des »Großen Bären« Der Kalte Krieg ›nach außen‹ brachte ›nach
auch an jenen »Russischen Bären« zu denken, der innen‹ die Konsolidierung einer politischen und
in der Entstehungszeit des Gedichts in ein ›rotes‹ sozialen Ordnung mit sich, die auf einem ein-
Schreckgespenst verwandelt worden war. Bei der deutigen Bekenntnis zur westlichen Kultur und
Behauptung in einem (bislang nicht datierten) nicht zuletzt zum American Way of Life basiert.
Entwurf aus dem Nachlaß: »früh« schon habe sie Diese Westbindung Deutschlands und Öster-
den »Kommunismus als eine wirkliche Idee emp- reichs unter den Bedingungen des Kalten Kriegs
funden« (N2051 f., zitiert nach Höller 1999, führte nicht zuletzt zu der neuerlichen Stabilisie-
S. 93), dürfte es sich jedenfalls um eine ähnliche rung von Familie und Privatleben und entspre-
250 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

chend zur Redomestizierung der weiblichen ander und Margarete Mitscherlich in ihrer Studie
Hälfte der Bevölkerung, womit beiden Ge- »Die Unfähigkeit zu trauern« aus dem Jahr 1967
schlechtern wieder ihr vermeintlich natürlicher als Charakteristikum der nachkriegsdeutschen
Platz in der sozialen Ordnung zugewiesen wurde. Psyche beschrieben haben. Sara Lennox weist
Der Frage, wie sich dieser Aspekt der Nach- darauf hin, daß Bachmanns Roman und der Film
kriegszeit in Bachmanns Werk niederschlägt, hat Der dritte Mann von Carol Reed, dem das zweite
sich traditionell die feministische Literaturwis- Malina-Kapitel seinen Titel verdankt, in dieser
senschaft angenommen, wobei vor allem für die Hinsicht eines gemeinsam haben: Weder im Film
Texte der 1950er Jahre festzustellen war, daß noch im Roman wird die Ursache für die darge-
Bachmann hier im wesentlichen traditionelle Be- stellte soziale und politische Situation explizit
griffe von Weiblichkeit reproduziert. Neuere fe- thematisiert; der ›schwarze Markt‹ beispiels-
ministische Theorien stellen einen komplexeren weise ist einfach das Gegebene (TKA 3.1, 598).
theoretischen Rahmen bereit, in dem der Begriff Liest man vor dem Hintergrund dieser ›Leer-
›Gender‹ dezentriert ist und nunmehr auch alle stelle‹ den »dritten Mann« im Leben der Ich-
andern Determinanten in den Blick geraten, die Figur, den übermächtigen Vater, (mit den Mit-
das Leben von Frauen (und Männern) innerhalb scherlichs) als Bachmanns Variante jener Vater-
der jeweiligen geschichtlichen Situation formen. projektionen, die in der kollektiven Psyche der
Materialistisch-feministische Theorien verstehen Nachkriegszeit an die Stelle von Hitler getreten
darüber hinaus literarische und andere Texte als sind und die den Nachkriegsdeutschen erlaubt
Interventionen in sinnstiftende und meinungs- haben, sich mit den Siegern zu identifizieren,
bildende Praktiken; in diesem Sinne leisten die sich selbst als Hitlers Opfer zu sehen und den
Texte einen Beitrag zu der Konstruktion dessen, Holocaust zu vergessen, dann wäre zumindest ein
was in der jeweiligen geschichtlichen Situation Teil der »verschwiegenen Erinnerung« der Ich-
als real und normal gilt, als ›the way things are‹, Figur als verdrängte Erinnerung an die eigene
und sind daher geeignet, die herrschenden Ver- Verstrickung in den Nationalsozialismus zu ver-
hältnisse entweder zu stützen oder in Frage zu stehen, als unbewältigte Vergangenheit, von der
stellen. Vor diesem Hintergrund können Bach- sie in ihren Träumen verfolgt wird. Das zweite
manns weibliche Figuren als Produkte des Gen- Kapitel des Malina-Romans würde somit nicht
der-Diskurses der Nachkriegszeit gelesen wer- zuletzt die kollektive Verdrängungs-›Leistung‹
den (vgl. insgesamt zu diesem Abschnitt Lennox der Deutschen und Österreicher in der Nach-
2003, Kapitel 10). Der Ich-Aspekt der Ich-Ivan- kriegszeit zur Darstellung bringen.
Relation in Malina wäre demnach als eine zeit- Um diesen Ansatz zu verdeutlichen und weiter-
spezifische Darstellung dessen zu verstehen, was zudenken: Es wäre in diesem Sinne (unter an-
in der Nachkriegszeit als feminin definiert wor- derem) die doppelte Bedeutung des zentralen
den ist. So gesehen folgt das weibliche Ich in dem Begriffs »Blutschande« herauszustellen – einer-
Roman Malina in den Alltagssituationen mit Ivan seits im Sinne der Nürnberger Gesetze und an-
gleichsam dem Drehbuch, das die Nachkriegszeit dererseits im Sinne des Inzest –, die dazu führt,
für Frauen bereithielt. Aus diesem Blickwinkel daß der »dritte Mann« überhaupt erst als Vater
fällt dann auch auf, daß der Roman zwar Ende erscheint. Das Ich kreiert im Traum diese Va-
der 1960er Jahre spielt, der diesem Ich-Aspekt terfigur (mit dem Potential der Blutschande als
zugrunde liegende Begriff von Weiblichkeit je- Inzest), um etwas anderes zu verhüllen, nämlich
doch auf Weiblichkeitsvorstellungen der 1950er daß es ihm (wie auch der Fanny-Figur; TKA 1,
Jahre rekurriert (die ihrerseits an ältere Modelle 127) nicht gelingt, an den Begriff »Blutschande«
anknüpfen). Eine interessante neue Perspektive im Sinne der Nationalsozialisten heranzukom-
ergibt sich aus der Sicht materialistisch-femini- men. In einem Dialog versucht Malina, dem Ich
stischer Theorie, um noch ein Beispiel zu nen- gerade dies klarzumachen: »Ich: […] ich komme
nen, auch hinsichtlich der für die Nachkriegszeit nicht weiter, es zeigt sich nichts, ich höre immer
typischen Verdrängung der NS-Vergangenheit, nur […] eine Stimme […] die sagt: Blutschande.
wenn man nämlich den Ich-Aspekt des Traum- Das ist doch nicht zu verwechseln, ich weiß, was
kapitels als eine Darstellung jener zeitspezifi- es heißt. / Malina: Nein, nein, du weißt es eben
schen Ausweichbewegungen versteht, die Alex- nicht.« (TKA 3.1, 552) Die Deutung dieses Ich-
Die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft 251

Aspekts in dem Roman Malina als Darstellung entsprechende Erwartungen wecken könnte,
der kollektiven Verdrängungs-›Leistung‹ in der keine Entwürfe dieser Art überliefert. Zudem gilt
Nachkriegszeit – und dies spricht für die Trag- ihr Interesse zunehmend der »ersten Nachkriegs-
fähigkeit des materialistisch-feministischen An- zeit«, wie es im Goldmann/Rottwitz-Roman und
satzes – schließt keineswegs aus, daß das Ich parallel dazu auch im Malina-Roman heißt (TKA
auch ein Opfer männlicher Dominanz und der 1, 353; TKA 3.1, 598), jener »längst vergangenen
faschistischen Strukturen der Nachkriegszeit ist. Zeit, die alle, die in ihr gelebt haben, die erste
Sie wirft jedoch zweifellos neues Licht auf die in Nachkriegszeit nennen, ohne daß man je jemand
der Bachmann-Forschung seit langem intensiv von einer zweiten Nachkriegszeit sprechen ge-
diskutierte, problematische Identifizierung der hört hätte, und womit ungefähr die Jahre von
Bachmannschen Figuren mit den Opfern des Fa- 1945 bis 1952 gemeint sein dürften« (TKA 1,
schismus; von daher dürfte dieser Ansatz künftig 389).
auch einen Beitrag zu der gerade erst begonne- Einen frühen Vorläufer hat dieser Motivkom-
nen Auseinandersetzung um den Niederschlag plex in Bachmanns Essay über Simone Weil, ohne
der konkreten Zeit der NS-Herrschaft in Bach- daß dort zwischen Österreich und Deutschland
manns Werk leisten. unterschieden würde – wofür allerdings in erster
Der materialistisch-feministische Zugang zu Linie die Tatsache verantwortlich sein dürfte, daß
Bachmanns Werk ist ein faszinierender neuer der Text für den Bayerischen Rundfunk geschrie-
Weg, Bachmanns Auffassung von der (Nach- ben wurde. Zu Beginn dieses Radioessays aus
kriegs-) »Geschichte im Ich« auf die Spur zu dem Jahr 1955 findet sich eine Kurzcharakteristik
kommen (W 4, 230). Wenn man bisherige Deu- der frühen 1950er Jahre, die schon an die ent-
tungen derart gegen den Strich liest, dann fällt sprechenden späteren Reflexionen denken läßt:
auch besonders auf, daß die NS-Vergangenheit »1953 – das bedeutete, daß man das Wort vom
und Auschwitz – entgegen den Erwartungen, die ›geistigen Vakuum‹ nur mehr selten hörte und
die große Zahl der Untersuchungen zum Thema über so allgemeine Forderungen wie der nach
Faschismus und Holocaust in der Bachmann-For- ›geistiger Erneuerung‹ zu den Forderungen des
schung weckt – tatsächlich »kein Thema, und Alltags übergegangen war. Man hatte ja ›aufge-
sicherlich kein greifbares« in Bachmanns Werk holt, was aufzuholen war‹, alles ›Ungewöhnli-
sind (Heidelberger-Leonard, S. 113). Die in der che‹ hatte wieder seinen Platz in der Ordnung
Erzählung Requiem für Fanny Goldmann und im des kulturellen Lebens.« (W 4, 128) An diese Art
Goldmann/Rottwitz-Roman skizzierte Ge- der Reflexion über die »erste Nachkriegszeit«,
schichte des Selbstmords des Obersten Wisch- und zwar nunmehr »als einer eigenständigen
newski, Fanny Goldmanns Vater, im Jahr 1938 Umbruchperiode« (Göttsche 1998, S. 172),
gehört zu den wenigen Ausnahmen (TKA 1, knüpft die Autorin vor allem in ihrem Roman
289 f., 292, 390, 450), und erklärtes Ziel der Au- Malina und in den Entwürfen zum Goldmann/
torin war es ja, einer Angabe aus dem Jahr 1969 Rottwitz-Roman an. Bachmann scheint sich hier
zufolge, ein »Bild der letzten zwanzig Jahre« an den »essayistischen Partien in Musils ›Mann
(GuI, 66), der Nachkriegszeit zu gestalten. Dabei ohne Eigenschaften‹« zu orientieren, von denen
scheint es Bachmann weniger um die deutsche sie in den Frankfurter Vorlesungen sagte: »Ma-
als vielmehr um die österreichische Nachkriegs- chen nicht alle die Denkversuche das Buch erst zu
zeit zu gehen (Göttsche 1998, S. 180, 183), die dem, was es ist?« (W 4, 194) Die erste Nach-
nicht zuletzt wegen der »offizielle[n] staatli- kriegszeit in Wien mit ihrem »Schwarzmarkt«
che[n] Nachkriegspolitik« »kulturell und men- (TKA 3.1, 598 f.), den Ruinen und den Entbeh-
talitätsgeschichtlich« durch ihre »Kontinuität mit rungen zur Zeit des Wiederaufbaus (TKA 3.1,
der Epoche vor 1938« geprägt war (Höller 1999, 598; TKA 1, 441), der versäumten geschichtli-
S. 40 f.). Jedenfalls sind für den Goldmann/Rott- chen Möglichkeit (TKA 1, 442 f.), der Remigra-
witz-Roman, in dem Bachmann den ›Mordschau- tion nach dem Ende des Kriegs (TKA 1, 442) und
platz Gesellschaft‹ »nicht zuletzt als deutsch- nicht zuletzt dem »Bedürfnis, an die vorletzte
österreichisches Schlachtfeld darstellen wollte« Vergangenheit anzuknüpfen« (TKA 1, 443), wird
(Albrecht 1993, S. 136) und der eben wegen der zum tragenden Bestandteil der zeitgeschichtli-
Kontrastierung von Deutschland und Österreich chen Ebene dieser Romane. Andere zentrale
252 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Aspekte der Nachkriegszeit wie etwa der Kalte Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im
Krieg, der Antikommunismus und die Westbin- Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar (= Mar-
bacher Kataloge, 48). (Hg.) Ulrich Ott und Friedrich
dung sind dagegen allenfalls am Rande gegen-
Pfäfflin. Marbach am Neckar, S. 7–18; – Irene Heidel-
wärtig. In einem frühen Entwurf zum Buch berger-Leonard (1994): Ingeborg Bachmanns Todes-
Franza greift Bachmann nochmals das Thema arten-Zyklus und das Thema Auschwitz. In: Pichl/
Antikommunismus in der Nachkriegszeit auf, wie Stillmark (1994), S. 113–124; – Jost Hermand (1982):
sie es im ersten Todesarten-Roman gestaltet hat Unbewältigte Vergangenheit. Westdeutsche Utopien
(TKA 1, 100–102); im Buch Franza hat Jordan nach 1945. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland
1945–49. Schreibweisen, Gattungen, Institutionen (=
einen Bruder, der »Kommunist« ist, »Gründer
Argument-Sonderband, 83). (Hg.) Jost Hermand, Hel-
einer der ersten Zeitungen Wiens nach dem mut Peitsch, Klaus R. Scherpe. Berlin, S. 102–128; –
Kriege«, der schon bald danach wieder »aus dem Jost Hermand (1986): Kultur im Wiederaufbau. Die
Impressum« »zum Verschwinden gebracht« wird Bundesrepublik Deutschland 1945–1965. München; –
(TKA 2, 63). Sowohl in der Stepanek-Episode des Hans Egon Holthusen (1958): Kämpfender Sprachgeist.
ersten Todesarten-Romans als auch in der Wie- Zur Lyrik Ingeborg Bachmanns. In: Merkur 12, S. 563–
584.
deraufnahme des Motivs im Franza-Roman fällt
Monika Albrecht
jedoch auf, daß Bachmanns Interesse weniger
dem Antikommunismus als Alltagsphänomen,
sondern eher den Opfern dieser in der Nach- 3.3. Der kulturgeschichtliche
kriegszeit überall präsenten Haltung gilt. Ein Umbruch von 1968
recht umfangreicher später Entwurf zum Gold-
mann/Rottwitz-Roman (TKA 1, 440–452) »liest »Weit draußen […] sammeln sich Leute zu Oster-
sich insgesamt wie die Skizze einer geplanten, märschen, Protestkundgebungen, Aufklärungs-
aber nicht mehr ausgeführten erheblichen Aus- aktionen […], es muß etwas passiert sein, sonst
weitung der zeitgeschichtlichen Retrospektive« wären sie nicht zusammengekommen.« (Walser,
(Göttsche 1998, S. 178); es ist also davon auszu- S. 115) Mit dieser Einschätzung war Martin Wal-
gehen, daß die »erste Nachkriegszeit« zu den ser in den 1960er Jahren nicht allein; in dieser
Aspekten des Todesarten-Projekts gehört, die Zeit umfassenden gesellschaftlichen Wandels,
Bachmann noch weiter ausfalten wollte. der mit der symbolischen Jahreszahl 1968 und
Quellen: Alfred Andersch (1965): Die Blindheit des Stichworten wie Vietnamkrieg, Studentenre-
Kunstwerks [1956]. In: Andersch: Die Blindheit des volte, Neue Frauenbewegung etc. nur unzurei-
Kunstwerks und andere Aufsätze. Frankfurt/M., S. 21– chend charakterisiert ist, verließen viele Schrift-
33; – Wolfgang Koeppen (1986): Tauben im Gras steller den Schreibtisch zugunsten politischer Ak-
[1951]. In: Koeppen: Gesammelte Werke in sechs Bän- tivitäten oder funktionalisierten ihn zumindest in
den. (Hg.) Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit
mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Frank-
diesem Sinne um. Bachmann hielt dies jedoch
furt/M. 1986, Bd. 2; – Paul Schallück (1962): Von nicht für die Aufgabe des Schriftstellers (vgl. W 4,
deutscher Vergeßlichkeit [1956]. In: Schallück: Zum 296), wie denn ihre Entwicklung in den 1960er
Beispiel. Essays. Frankfurt/M., S. 12–16; – Martin Wal- Jahren überhaupt »an manchen aktuellen
ser (1968): Engagement als Pflichtfach für Schriftsteller. Trends« vorbeilief (Schneider 1999, S. 20). Für
Ein Radio-Vortrag mit vier Nachschriften. In: Walser:
jene Kollegen, die nach Wegen suchten, der ge-
Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt/M.,
S. 103–126. sellschaftlichen Verantwortung gerecht zu wer-
den, die aus ihrer Rolle als öffentliche Person
Literatur: Bartsch (1997); Göttsche (1998); Höller
erwächst, hat sie zudem wenig schmeichelhafte
(1987); Höller (1999); Hotz (1990); Lennox (2003);
Thiem (1972); Weigel (1999). Bemerkungen übrig gehabt: »die deutschen
Werner Abelshauser (1987): Die Langen Fünfziger Schriftsteller, die sich dem Verdacht aussetzen,
Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik radikale, gefährliche Ansichten zu vertreten,
Deutschland 1949–1966. Düsseldorf; – Monika Al- [denken] fast ausnahmslos derart gemäßigt […],
brecht (1993): Poetologische Anthropologie. Zur Struk- daß sie sich in einem anderen Land […] dem
turgenese von Ingeborg Bachmanns fragmentarischem
Verdacht aussetzen würden, zuwenig zu denken«
Todesarten-Roman. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 129–
145; – Michael Davidis, Bernhard Fischer, Gunther (GuI, 50). Gemessen an den vielfältigen Möglich-
Nickel, Brigitte Raitz (1995): Konstellationen – Lite- keiten, die die 1960er Jahre bereithielten, war
ratur um 1955. In: Konstellationen. Literatur um 1955. Bachmann – was ihr vermutlich nicht nur Hans
Der kulturgeschichtliche Umbruch von 1968 253

Werner Henze zum Vorwurf gemacht hat – poli- allerdings kann sich kaum jemand ausdrücken,
tisch nicht sehr engagiert (vgl. Lennox 1992, alles murmelt, das ist wahr, es ist ein großes
S. 105). Zwar hat sie beispielsweise die im De- Gemurmel, das mir wenig gefällt, oder es gibt die
zember-Heft 1965 der Zeitschrift »Konkret« ge- Mauerdichter, aber die nehmen Sie doch auch
druckte »Erklärung über den Krieg in Vietnam« nicht ernst. Vorwärts für den Sieg. Nieder der
unterschrieben; verglichen mit dem Engagement Imperialismus, das sind liebe Wünsche, aber es
anderer Schriftsteller gegen diesen Krieg ist dies ist schlecht ausgedrückt und schlimmer noch, es
jedoch eher eine Geste, und darüber hinaus läßt sich verwechseln mit allem.« (N1529, zitiert
scheint die Autorin den vielschichtigen Umbrü- nach Weigel 1999, S. 397) Das Stichwort »Mau-
chen der 1960er Jahre eher distanziert gegenüber erdichter« bezieht sich auf die Wandinschriften in
gestanden zu sein. Paris im Mai 1968, um die es im ersten Teil von
Mit der allgemeinen Politisierung der Litera- Michels Essay geht (Michel, S. 169–173); der
turszene wurden »vorher gültige und die Nach- Hinweis auf die ›gar nicht sprachlosen‹ Schrift-
kriegsliteratur prägende Konzepte radikal aufge- steller der klassischen Moderne dürfte ex nega-
kündigt« (Hotz 1990, S. 142), und stellvertretend tivo auf dessen Schluß antworten, wo es heißt,
für viele erklärte Hans Magnus Enzensberger das »Verstummen«, die »verröchelnde Stimme
1968, daß sich für »literarische Kunstwerke […] der Poesie« (Beckett), erkläre »zwingender als
eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in jedes Manifest […], daß unsere Welt sich nicht
unserer Lage nicht angeben« läßt (Enzensberger, mehr poetisieren läßt, nur noch verändern« (Mi-
S. 195). Angesichts des Schlagworts vom ›Tod der chel, S. 185); und zuletzt klingt einmal mehr der
Literatur‹ und der Forderung nach welt- und Einfluß der Frankfurter Schule auf Bachmanns
gesellschaftspolitischem Engagement begannen Denken an, hier Adornos Warnung vor der Ge-
die meisten der jüngeren, aber auch viele ältere fahr einer ideologischen Vereinnahmung der en-
Schriftsteller an ihrer Arbeit zu zweifeln. Marie gagierten Literatur, wie er sie u. a. 1962 in seinem
Luise Kaschnitz notiert im April 1965 in ihrem Vortrag »Engagement« formuliert hat (vgl.
Tagebuch über ein Gespräch mit Bachmanns frü- Adorno, bes. S. 429). Die wenigen derzeit zu-
herem Lebensgefährten: »Frisch hat einen ge- gänglichen Zeilen dieses Entwurfs lassen schon
wissen Haß auf die Literatur, die Kultur, den erkennen, daß Bachmann Michels Essay sehr
Kulturschaum […]. Alle Berichte, etwa über die kritisch gegenüberstand. In einem undatierten
sozialen Verhältnisse im Volkswagenwerk, die Brief oder Briefentwurf zeigt sie sich zudem we-
Lage in Hungergebieten usw., erschienen ihm nig erfreut darüber, daß ihre vier neuen Gedichte
viel wichtiger.« (Kaschnitz, S. 926) Es ist nicht in dem fraglichen »Kursbuch«-Heft erschienen
auszuschließen, daß auch Bachmann (trotz ihres waren: »wenn ich geahnt hätte, daß ich mit
später bekundeten Desinteresses; vgl. GuI, 78) Beckett die Ehre habe, vor dem ›Ende der Lite-
damals daran gedacht hat, in diese literaturpoliti- ratur‹ abgedruckt zu werden, hätte ich die Manu-
schen Debatten einzugreifen. In Reaktion auf den skripte vermutlich zurückgezogen« (Kopie im Be-
Aufsatz »Ein Kranz für die Literatur« im Novem- sitz der Erben).
ber-Heft 1968 der Zeitschrift »Kursbuch« hat sie Weiterreichendere gesellschaftliche Folgen als
einen Brief an den Verfasser Karl Markus Michel die Behauptung vom ›Tod der Literatur‹ hatten
entworfen (vgl. das Incipit von N1523: »Lieber die in dieser Zeit entwickelten Thesen der Neuen
Herr Michel […]«; Koschel/von Weidenbaum Frauenbewegung. Bachmann allerdings erklärte
1981, S. 195), der allerdings zum größten Teil im Mai 1971, »daß sie von der ganzen Emanzipa-
dem gesperrten Nachlaß zugeschlagen wurde, so tion nichts hält« (GuI, 109; vgl. zu ihrer Haltung
daß nicht zu entscheiden ist, ob es sich um einen bezüglich der beginnenden ›sexuellen Befreiung‹
privaten oder einen ›offenen‹ Brief handeln in den 1960er Jahren den Abschnitt über Marie
sollte: »Und jetzt legen Sie ihr einen Kranz hin, Luise Kaschnitz in dem Artikel »Deutschspra-
der neuen oder der alten Literatur, wem eigent- chige Literatur nach 1945«). Aussagen dieser Art
lich, Kafka, Joyce, oder Proust oder Pound oder werden meist mit dem Hinweis beiseite gescho-
Benn, die waren alle gar nicht sprachlos, sondern ben, daß die Autorin sich generell dagegen ge-
vehement, lauter Tollköpfe, wenn Sie wollen, wehrt habe, die »Phrasen« ihrer Zeit nachzuspre-
aber sie konnten sich ausdrücken, und heute chen (vgl. z. B. W 4, 297; GuI, 72, 91). Dennoch
254 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

läßt sich kaum leugnen, daß Bachmann beispiels- der Drucklegung herausgenommenen Textteile)
weise in der Infragestellung traditionellen Rol- und in die beiden Rahmenerzählungen des Si-
lenverhaltens eher die Gefahr eines Verlusts als multan-Bandes ein, wobei jedoch oft der Ein-
die Chance einer Befreiung sah (etwa wenn sie druck entsteht, als handele es sich tatsächlich nur
den »Zauber« und »Charme der Wiener Frauen« um Stichworte und Zeitvokablen – etwa wenn die
gegen die »〈laute〉 Emanzipiertheit« der Italiene- Sekretärin des Ich in einer Zeitungsumfrage an-
rinnen ausspielt; TKA 4, 16, 14; vgl. Albrecht gibt, »die Männer, die sie wirklich bewundert, die
1996, Albrecht 2002). Wie fremd ihr dieses neue heißen Martin Luther King, Lumumba und Che
Denken war, zeigt sich nicht zuletzt in einem Guevara« (TKA 3.2, 711), oder wenn Malina vor
Interview aus dem Jahr 1971: Darauf hingewie- Gästen zu einer sicherlich ironisch gemeinten,
sen, daß die »Frauen heute«, anders als das weib- aus heutiger Sicht aber fast altväterlich wirken-
liche Ich des Romans Malina, »nicht mehr bereit« den Reflexion über »flower power« ansetzt (TKA
seien, »diese traditionelle Rolle zu spielen«, gab 3.2, 712). In der Erzählung Drei Wege zum See
sie zur Antwort: »Für mich stellt sich nicht die wird die Kampagne zur Abschaffung des § 218 für
Frage nach der Rolle der Frau, sondern« – als die Hauptfigur lediglich zum Anlaß für eine neu-
wenn sich dies trennen ließe – »nach dem Phäno- erliche Formulierung ihrer Medienkritik und für
men der Liebe – wie geliebt wird.« (GuI, 109) eine Reflexion darüber, »daß das alles sie gar
Auch wenn die öffentlichen Debatten der 1960er nichts anging« (TKA 4, 420), die Pariser Studen-
und frühen 1970er Jahre noch ein recht simples tenrevolte wird bereits im Spiegel ihrer Desillu-
Bild von der Geschlechterproblematik vermittelt sionierung dargestellt (»wo war der Mai geblie-
haben, läßt sich in Bachmanns Ablehnung der ben?«; TKA 4, 470), und auch die angekündigte
Bewegung schwerlich jener größere Weitblick Reise nach Saigon bleibt als Begründung für die
ablesen, der ihr immer so gern unterstellt wird – Risikobereitschaft der Protagonistin letztlich aus-
im Gegenteil, ihre Äußerungen ähneln verdäch- tauschbar (TKA 4, 470). Mit der sich hier auf-
tig den vermeintlich ernüchterten Befunden der drängenden Frage, ob Bachmann die gesell-
sogenannten postfeministischen 1980er Jahre. schaftsgeschichtliche Zäsur, deren Zeugin sie
Während die Probleme dieser Zeit des Rück- war, tatsächlich als solche erkannt hat, tut sich
schlags (»Backlash«) realiter auf die Tatsache zu- allerdings ein weites Forschungsfeld auf.
rückgingen, daß sich nur sehr wenig geändert Quellen: Theodor W. Adorno (1974): Gesammelte
hatte und dieses mühsam Erreichte bereits wie- Schriften. (Hg.) Rolf Tiedemann et al., Bd. 11 (Noten
der verloren zu gehen drohte, wurde allenthalben zur Literatur). Frankfurt/M.; – Hans Magnus Enzens-
die Behauptung verbreitet, daß der Feminismus berger (1968): Gemeinplätze, die Neueste Literatur
eine Generation von zwar emanzipierten, jedoch betreffend. In: Kursbuch 15, S. 187–197; – Marie Luise
Kaschnitz (2000): Tagebücher aus den Jahren
unglücklichen und überforderten Frauen hervor- 1936–1966. (Hg.) Christian Büttrich, Marianne Büttrich
gebracht habe (vgl. Faludi, bes. S. IX–XXIII). und Iris Schnebel-Kaschnitz. 2 Bde. Frankfurt/M.,
Genau dieser Ton klingt auch schon in dem eben Leipzig; – Karl Markus Michel (1968): Ein Kranz für die
zitierten Interview an, besonders, wenn Bach- Literatur. Fünf Variationen über eine These. In: Kurs-
mann fortfährt: »Die pseudo-moderne Frau mit buch 15, S. 169–186; – Martin Walser (1968): Engage-
ihrer quälenden Tüchtigkeit und Energie ist für ment als Pflichtfach für Schriftsteller. Ein Radio-Vortrag
mit vier Nachschriften. In: Walser: Heimatkunde. Auf-
mich immer höchst seltsam und unverständlich sätze und Reden. Frankfurt/M., S. 103–126.
gewesen.« (GuI, 109)
Literatur: Göttsche (1998); Hotz (1990); Koschel/von
Die Themen der Zeit um 1968 finden sich etwa
Weidenbaum (1981); Lennox (1992); Schneider (1999);
im »Goldmann/Rottwitz-Roman mit seiner in der Weigel (1999).
Mitte der sechziger Jahre spielenden Rahmen- Monika Albrecht (2002): Männermythos, Frauenmy-
handlung«; dieser Roman läßt auch im Ansatz thos, und danach? Anmerkungen zum Mythos Ingeborg
»den gesellschaftlichen Wandel der ›letzten Bachmann. Erscheint in dem Tagungsband der »Women
zwanzig Jahre‹« erkennen, jedoch noch ohne die in German Studies Annual Conference« (Edinburgh,
28.–31. Juli 2000). (Hg.) Sarah Colvin, Laura Martin,
Facetten der Politisierung des kulturellen und
Alison Phipps und Christl Reissenberger; – Monika
gesellschaftlichen Lebens (Göttsche 1998, S. 176, Albrecht (1996): »Ein Mann, eine Frau …« Erzählper-
184). Stichworte hierzu gehen jedoch in den Ma- spektive und Geschlechterdiskurs in Ingeborg Bach-
lina-Roman (allerdings vor allem in die kurz vor manns Roman Malina. Vortrag anläßlich der Konferenz
Postkolonialismus und Kritischer Exotismus 255

»If we had the Word. Ingeborg Bachmann. An Anniver- fällt zusammen mit der etwa Mitte der 1960er
sary Symposion October 25–26, 1996«, State University Jahre einsetzenden Entdeckung der ›Dritten
of New York at Binghamton; – Susan Faludi (1992):
Welt‹ durch deutschsprachige Schriftsteller und
Backlash. The Undeclared War Against American Wo-
men. New York. Intellektuelle (Albrecht 1998, S. 64–68). In dieser
Monika Albrecht Zeit begann das (vor allem mit Namen wie Hans
Magnus Enzensberger und Peter Weiss verbun-
dene) Engagement für außereuropäische Wider-
3.4. Postkolonialismus und standsbewegungen und besonders gegen den
Kritischer Exotismus amerikanischen Krieg in Vietnam. Publikationen
aus diesem Umfeld wie das »Kursbuch«-Heft vom
Lange bevor der Begriff »Postkolonialismus« zum August 1965 mit dem Teilvorabdruck der deut-
ersten Mal im Zusammenhang mit Ingeborg schen Übersetzung von Frantz Fanons »Les dam-
Bachmann genannt worden ist, erfreuten sich nés de la terre« und Enzensbergers eigenem Auf-
jene Aspekte ihres Werks, die inzwischen zum satz »Europäische Peripherie« stellen den Hinter-
Gegenstand der Kritik aus postkolonialer Sicht grund dar, vor dem sich im Franza-Roman die
avanciert sind, bereits großer Beliebtheit. Vor- Neokolonialismuskritik und die Kritik an einem
herrschenden Lesarten der 1980er Jahre zufolge europäischen »Geist«, der »in einem braunen
formuliert Bachmann mit ihrem Buch Franza oder schwarzen Gehirn« wiederaufersteht, ent-
»die Einsicht, daß die Geschichte der Kolonisie- faltet (TKA 2, 278). In diesem Zusammenhang ist
rung und die Geschichte des Patriarchats ver- auch die Bezugnahme auf Arthur Rimbauds ra-
schiedene Opfer haben, aber einen Täter« (Wei- dikale Zivilisationskritik in seinem Prosagedicht-
gel 1984, S. 82). Ein erstes Plädoyer dafür, diesen zyklus Une saison en enfer zu sehen, die bereits
Roman »kritisch [zu] lesen als einen Text, der im Wüstenbuch zu finden ist und später im Buch
nicht nur die koloniale Enteignung thematisiert, Franza vor allem in dem leitmotivischen Zitat
sondern gleichzeitig Kolonisierung nochmals »Die Weißen kommen« deutlich wird (TKA 1,
verdoppelt« (Brinker-Gabler, S. 98), kam dann 257; TKA 2, 278; vgl. Göttsche 1991). Die ersten
jedoch Anfang der 1990er Jahre aus der US- Anfänge einer Literatur, die sich in den 1960er
amerikanischen Germanistik. Bald danach wurde Jahren des »kolonialen Blicks« bewußt wurde
auch die (im deutschsprachigen Raum bis heute (Buch), sind inzwischen allerdings dahingehend
nur zögernd wahrgenommene) Zugangsweise kritisiert worden, daß die Prämissen und Thesen
der Postcolonial Studies in die Bachmann-For- eher mit den politischen Bedürfnissen engagier-
schung eingebracht, genauer gesagt jener Be- ter Schriftsteller selbst als mit der Realität in den
reich, der sich mit der Analyse des kolonialen Ländern der ›Dritten Welt‹ zu tun hatten (Len-
und neokolonialen Diskurses beschäftigt (Len- nox 1994, S. 185).
nox 1995). Eine der wichtigsten Leistungen der Auch Bachmanns Beitrag stellt sich aus heu-
Postcolonial Studies besteht darin, die Aufmerk- tiger Sicht vielschichtiger und nicht zuletzt auch
samkeit darauf zu lenken, wie tief der Kolonia- problematischer dar als es den früheren Rezipi-
lismus und Imperialismus nicht nur in die Kultur enten erschienen ist – und dies in mehrfacher
der Kolonisierten, sondern auch in die der west- Hinsicht. Gerade dieser Aspekt des Franza-Ro-
lich-europäischen Gesellschaften eingeschrieben mans enthält bei näherem Hinsehen eine Fülle
ist (Hall, S. 227). Mit dem Einbezug dieser neuen von Ungereimtheiten, und zunächst einmal han-
Fragestellungen ist eine Reihe von Facetten des delt es sich bei den vielzitierten »Schlüsselsätzen«
Bachmannschen Werks in den Blick geraten, die über den vermeintlichen Selbstmord kolonisier-
sowohl die traditionelle als auch die poststruk- ter Völker schlichtweg um fatale Irrtümer der
turalistisch beeinflußte Literaturwissenschaft der Figur Franza (Albrecht 1998, S. 71ff.). Angesichts
früheren Jahre ausgeblendet hatten, und erst in der Tatsache, daß der australische Kontinent
diesem Kontext wurde auch die Frage nach der »Schauplatz des ersten Genozids der modernen
Position des Franza-Romans innerhalb der Geschichte« war (Supp, S. 224), zeigt insbeson-
deutschsprachigen Literatur der 1960er Jahre dere Franzas Behauptung, daß »die Ureinwoh-
gestellt. ner« Australiens »nicht vertilgt« wurden (TKA 2,
Die Arbeit an dem Roman Das Buch Franza 230), wie weit Bachmanns Romanfigur von der
256 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

historischen Realität entfernt ist. Auch die ver- Diese eigenartige Ambivalenz kennzeichnet
meintlich ›magische Weltsicht‹ dieser Figur hält, insgesamt Bachmanns Darstellung des ›kolonia-
wenn man sie in Bezug zu der Kosmologie von len Aspekts‹ in den Todesarten-Texten, insbe-
sogenannten Naturvölkern setzt, keiner näheren sondere auch im Fall der Analogie zwischen Fran-
Prüfung stand (Albrecht 1998, S. 76–83). Ob zas Situation und der kolonisierter Völker, mit
diese Fehlgriffe im Sinne einer Erzählstrategie der die patriarchalische Gesellschaftsstruktur
von Bachmann intendiert waren oder ob es sich zwar kritisiert, aber gleichzeitig im Sinne eines
dabei lediglich um Fehlinformationen der Au- »Umsetzen[s] der herrschenden Prinzipien aus
torin handelt, wird wegen des Fragmentcharak- untergeordneter Position« erneut reproduziert
ters des Franza-Romans jedoch kaum zu klären wird (Thürmer-Rohr 1996, S. 158). Aus heutiger
sein (ebd., S. 83–88). Immerhin scheint Bach- Sicht stellt sich diese Analogie zudem als allzu
mann die fragwürdigen Analogien des Buchs grobe Vereinfachung dar, denn was in den 1960er
Franza später in ihrem Roman Malina sozusagen Jahren noch in dem Slogan »Frauen sind die
implizit zu korrigieren, wenn sie einräumt, daß Neger aller Völker und der kollektiven Ge-
wir es uns durch »unsere Zivilisierung […] längst schichte« auf den Punkt gebracht werden konnte
verscherzt haben, uns auch nur mit den wildesten (Schrader-Klebert, S. 1), wäre heute allenfalls als
der Wilden in einem Atemzug nennen zu kön- Strukturanalogie akzeptabel – in dem Sinne, daß
nen« (TKA 3.1, 408, Hervorhebung M. A.). der »koloniale Rassismus« tatsächlich »im we-
Die Wahrnehmung und Darstellung des Frem- sentlichen derselben Logik […] wie der Sexis-
den als solche dagegen hat zumindest von seiten mus« folgt, und »die Ausgrenzungsmechanismen
einer interkulturell ausgerichteten afrikanischen gegenüber Frauen und ethnischen Minderheiten
Germanistik ein im wesentlichen positives Echo in der Konstruktion der/des Anderen kulturge-
gefunden. Denn entscheidend ist aus dieser schichtlich in vielen Dimensionen nahezu iden-
Sicht, daß die Begegnung mit dem Fremden im tisch« sind (Rommelspacher, S. 106, 97). Vor die-
Wüstenbuch und in den verschiedenen Fassungen sem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern
des Franza-Romans im Sinne einer Relativierung das Buch Franza darüber hinausgeht, die Welt-
eurozentristischer Sichtweisen und einer Kritik sicht einer weißen Frau zu reproduzieren, die
an den Werten und Normen der europäischen sich selbst zum Opfer stilisiert und den anderen
Welt mit ihrem universalen Geltungsanspruch Opfern des westlichen Dominanz- und Herr-
genutzt wird: »Wenngleich die ästhetische Rea- schaftssystems zuordnet (Albrecht 1998, S. 88–
lisierung im einzelnen keineswegs immer un- 91). In diesem Sinne ist Bachmanns unvollende-
problematisch ist, überwiegt bei der Betrachtung ter Franza-Roman ein »widersprüchlicher Text«,
des Gesamtwerkes der reflexive Charakter des »der einerseits in die Gleichsetzung von ›Ge-
Blickes auf die fremde Kultur, so daß man von schlecht‹ (gender) und ›Rasse‹ einstimmt, und
einem kritischen Exotismus sprechen kann, der andererseits – an anderen Stellen des Romans –
Bachmanns Darstellung des Fremden in den To- Franzas Einstellung zu ›Rasse‹ und Herrschaft
desarten kennzeichnet.« (Diallo, S. 33 f.) Legt einer näheren Prüfung unterzieht« (Lennox 1998,
man die kritische Meßlatte höher, wie die west- S. 16). Verstreute Spuren (wie etwa Bachmanns
liche Germanistik es in diesem Fall ja tut, dann Arbeit an der Relativierung der Figurenperspek-
stellt sich allerdings die Frage, ob in den Texten tive) deuten darauf hin, daß es nicht lediglich
nicht doch eine »Enteignung« des Fremden vor- Wunschvorstellungen aus heutiger postkolonialer
liegt (Brinker-Gabler, S. 98), ob das Fremde bei Sicht sind, die in dem Text Ansätze zu einer
Bachmann letztlich (wie schon bei Rimbaud) »Erforschung von Rassenidentität und imperialen
nicht doch nur »als Mittel benutzt [wird], um den Strukturen« erkennen lassen (ebd., S. 22). Si-
Zustand der europäischen Psyche zu erforschen« gnalfunktion dürfte in dieser Hinsicht das Leit-
(Lennox 1998, S. 16 f., 22). Offenkundig verbirgt motiv der Coca Cola-Flasche haben, die für die
sich hinter der aus heutiger Sicht ›politisch kor- Infiltrierung des außereuropäischen Raums
rekten‹ Haltung, hinter einer, die die Verbrechen durch den westlichen Kulturimperialismus als
wahrnimmt und artikuliert, die im Namen der solche stehen kann (vgl. die Ironie in dem Satz:
Zivilisation begangen werden (Diallo, S. 54), Franza »drehte […] sich […] um, mit der leeren
dennoch gleichzeitig »auf komplexe Weise eine Coca-Cola-Flasche in der Hand. Europa war also
imperialistische Geste« (Lennox 1998, S. 22).
Postkolonialismus und Kritischer Exotismus 257

zuende«; TKA 2, 28; vgl. Albrecht 1998, S. 83 f.; Studie »Triebstruktur und Gesellschaft« entfaltet
Lennox 1998, S. 20 f.). Und zumindest in dem hat. Nicht zuletzt unter dem Einfluß von Michel
›Exkurs in den schönsten Frühling‹ im ersten Foucault hat sich diese These allerdings inzwi-
Kapitel deutet vieles darauf hin, daß Bachmann schen als nicht haltbar erwiesen. Deshalb stellt
die Absicht hatte, im Sinne der vielzitierten For- sich von heute aus auch die Frage, ob »solche
mel von der »Geschichte im Ich« (W 4, 230) der Konzepte eines natürlichen und ursprünglichen
Hinterlassenschaft der Kolonialgeschichte in ih- Begehrens, das die Kultur zu kanalisieren und
rer Titelfigur nachzugehen. Denn dieser Rück- regulieren hat, nicht bis zu einem gewissen Grad
blick auf das Frühjahr nach Kriegsende illustriert mit imperialistischen Strategien verwandt oder
sinnfällig, wie die von dieser Geschichte hervor- sogar auf solche zurückzuführen [sind], mit Stra-
gebrachten kollektiven Kolonialphantasien und tegien, die entwickelt wurden, um aufsässige
-legenden Franzas Wahrnehmung, ihr Denken übersexualisierte Eingeborene (oder auch weiße
und ihr Verhalten bestimmen – und zwar bereits Frauen) zu kontrollieren« (Lennox 1998, S. 28).
lange bevor sie in ihrer Ehe mit Jordan zum Aber auch wenn Bachmanns diesbezügliche An-
selbsterklärten Opfer einer ›Kolonisation‹ wird sätze und Erzählstrategien insgesamt heutigen
(Albrecht 2003). Ansprüchen nicht immer genügen können, hat
In dem späteren Goldmann/Rottwitz-Roman sie mit ihrer Darstellung der rassistischen und
hat Bachmann dann weitere »Strategien für die imperialistischen Fundamente der europäischen
Darstellung der Begegnung der White Lady mit Identität in ihrer Zeit doch einen wichtigen Bei-
dem Dark Continent« entwickelt. »Wo Das Buch trag zur Darstellung der konkreten Auswirkun-
Franza den Zusammenprall von Rassen- und Ge- gen der Kolonialgeschichte auf die Psyche der
schlechterkategorien noch direkt thematisierte, Einzelnen geleistet.
zeigen spätere Texte einfach eine weibliche Psy- Eine Reihe weiterer Fundstücke deutet darauf
che, die so völlig von zeitspezifischen Rassen- hin, daß Bachmanns Werk auch dann für Frage-
und Geschlechterdiskursen bestimmt wird, daß stellungen aus postkolonialer Sicht von Interesse
sie keine Kritik ihrer eigenen Situation formu- ist, wenn man die Anwendungsmöglichkeiten
lieren kann, die über das hinausgeht, was die der Postcolonial Studies für die deutsche Litera-
herrschenden Diskurse erlauben.« (Lennox 1998, turwissenschaft auf die Untersuchung jener Dis-
S. 22 f.) Signalwörter wie »Lady Chatterley« oder kurse begrenzen würde, die sich direkt mit au-
»White Lady« lassen bereits darauf schließen ßereuropäischen Gegebenheiten beschäftigen.
(TKA 1, 426, 424), daß es sich bei dem Gold- Zu diesen Fundstücken gehören beispielsweise
mann/Rottwitz-Roman durchaus nicht um das die beiden Gedichte Harlem und Liebe: Dunkler
Ergebnis unreflektierter europäischer Phantasien Erdteil aus der Mitte der 1950er Jahre, die in
handelt. Vor allem in der Episode um die Verge- ihrer diesbezüglich klischeehaften Bildlichkeit
waltigung der Protagonistin Eka Kottwitz durch jedoch eher als Kontrastfolie für die spätere Bear-
einen Studenten aus Somalia und ihren anschlie- beitung des Themas ›Kolonialismus und Impe-
ßenden Versuch, »ihr Ich wiederherzustellen« rialismus‹ zu werten sind. Allerdings ist Bach-
(TKA 1, 430), werden vielmehr die von rassisti- manns Hinweis auf den »Neger unter den Gästen«
schen Vorstellungen geprägten Fundamente in dem Essay Die blinden Passagiere (1955) auch
weiblicher Sexualität aufgedeckt. Damit stellt dahingehend gelesen worden, daß die Autorin
dieser fragmentarisch gebliebene Goldmann/ schon in den 1950er Jahren »auf die Fremdbilder
Rottwitz-Roman am Beispiel eines ›Kulturzusam- in ihrer eigenen Gesellschaft aufmerksam [ge-
menstoßes‹ die Grundlagen eines europäischen macht hat], um den Paternalismus bloßzulegen,
weiblichen Bewußtseins dar, das von imperiali- der das Verhältnis des Europäers zum Schwarzen
stischen und rassistischen Phantasien unterwan- charakterisiert« (Diallo, S. 48). Vor diesem Hin-
dert ist. Den Hintergrund dieser Erzählstrategie tergrund wäre auch das frühere Werk aus post-
bildet allerdings Bachmanns Auffassung von ei- kolonialer Sicht neu zu überdenken.
ner subversiven und im Widerspruch zur Zivilisa- Ein Fundstück aus dem Entstehungsumfeld des
tion stehenden Triebhaftigkeit, die sich an Her- Wüstenbuchs (und vor allem dessen »Orgia«-Pas-
bert Marcuses »Repressionshypothese« anlehnt sagen) hat Sara Lennox vor einiger Zeit aus dem
(Foucault, S. 19 f. u. ö.), wie er sie 1955 in seiner Nachlaß zitiert und darauf hingewiesen, daß die-
258 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

ses Gedicht Immer wieder Schwarz und Weiß an Wahrnehmung des Fremden und der kolonialen
die Rassenfantasien von Liebe: Dunkler Erdteil Denkstrukturen weißer Protagonisten bestan-
erinnert (Lennox 1998, S. 29 f.). Mit der Ver- den.
öffentlichung der »Unveröffentlichten Gedichte« Quellen: Hans Magnus Enzensberger (1965): Europäi-
sind inzwischen weitere Entwürfe mit dieser sche Peripherie. In: Kursbuch 2, S. 154–173; – Karin
Thematik zugänglich geworden, die allerdings, Schrader-Klebert (1969): Die kulturelle Revolution der
was generell für die Gedichtentwürfe dieses Ban- Frau. In: Kursbuch 17, S. 1–46.
des gilt, im Zusammenhang mit den gleichzeitig Literatur: Albrecht (1998); Göttsche (1991); Lennox
entstandenen Prosafragmenten und ihrer Bild- (1998); Weigel (1984).
lichkeit zu sehen sind (z. B.: »Rache üben an Monika Albrecht (2003): »Sire, this village is yours«.
allem, was weiß ist« [Terra Nova]; »Die Schmach Ingeborg Bachmanns Romanfragment Das Buch
ist aus mir gegangen in dieser Orgie« [Auflö- Franza aus postkolonialer Sicht. In: Albrecht/Göttsche
(2003); – Gisela Brinker-Gabler (1993): Andere Be-
sung]; Bachmann 2000b, S. 165, 169). Interessan- gegnung. Begegnung mit dem Anderen zwischen An-
terweise finden sich selbst in dem wienerischen eignung und Enteignung. In: Seminar 29, Nr. 2, S. 95–
Milieu einer Fanny Goldmann gelegentlich ›exo- 105; – Hans Christoph Buch (1991): Die Nähe und die
tische‹ Einsprengsel, etwa das Schimpfwort Ferne. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks.
»Hottentotten«, mit dem die Protagonistin alle Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.; – M. Mou-
Zeitgenossen bezeichnet, die ihren Idiosyn- stapha Diallo (1998): »Die Erfahrung der Variabilität«.
Kritischer Exotismus in Ingeborg Bachmanns Todes-
krasien kein Verständnis entgegenbringen (TKA arten-Projekt im Kontext des interkulturellen Dialogs
1, 298). Fanny Goldmann ist vermutlich weder an zwischen Afrika und Europa. In: Albrecht/Göttsche
den deutschen Eingriffen in die afrikanische Ge- (1998), S. 33–58; – Michel Foucault (1995): Sexualität
schichte interessiert, noch ist ihr bewußt, daß es und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen [1976].
sich bei diesem Schimpfwort »Hottentotten« um Frankfurt/M.; – Stuart Hall (1997): Wann war »der
den europäischen Namen der afrikanischen Postkolonialismus«? Denken an der Grenze. In: Hy-
bride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen
Volksgruppe der Khoisan handelt. Im Zusam- Multikulturalismusdebatte. (Hg.) Elisabeth Bronfen,
menhang mit Bachmanns gleichzeitiger Arbeit an Benjamin Marius, Therese Steffen. Tübingen, S. 219–
dem ›kolonialen Aspekt‹ der Todesarten hinge- 246; – Sara Lennox (1994): Enzensberger, Kursbuch,
gen wird dieser gedankenlose rassistische Faux- and »Third Worldism.« The Sixties’ Construction of
pas zu einem Signal dafür, daß schon die Titel- Latin America. In: »Neue Welt« / »Dritte Welt«. Inter-
figur der Erzählung Requiem für Fanny Gold- kulturelle Beziehungen Deutschlands zu Lateinamerika
und der Karibik. (Hg.) Sigrid Bauschinger und Susan L.
mann wie später ihre Parallelgestalt in dem Cocalis. Tübingen, Basel, S. 185–200; – Sara Lennox
Goldmann/Rottwitz-Roman durch eine »völlige (1995): Post-Colonial Theory and German Studies. Un-
Blindheit gegenüber den eigenen, von der Ras- veröffentlichtes Vortragsmanuskript; – Birgit Rommels-
senzugehörigkeit geprägten Determinanten« ge- pacher (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit
kennzeichnet ist (Lennox 1998, S. 23). In einem und Macht. Berlin; – Eckhard Supp (1985): Australiens
Entwurf aus dem Sommer/Herbst 1966 beugt Aborigines. Ende der Traumzeit? Bonn; – Christina
Thürmer-Rohr (1990): Mittäterschaft und Entdek-
sich Malina in seiner Rolle als Erzähler der Todes- kungslust. Zur Dynamik feministischer Erkenntnis. In:
arten »über den World Atlas, um für Martin eine Mittäterschaft und Entdeckungslust. Berichte und Er-
Route nach Accra zu suchen, dann nach Port gebnisse der gleichnamigen Tagung vom 6.–10. April
Gentil« (TKA 1, 337). Warum Malina seine Figur 1988 in Berlin. (Hg.) Studienschwerpunkt »Frauen-
Martin Ranner nach Westafrika schicken will, forschung« am Institut für Sozialpädagogik der TU Ber-
nach Ghana oder Gabun, ist wohl nicht mehr zu lin. Berlin, S. 138–154; – Christina Thürmer-Rohr
(1996): Die postmoderne These vom Tod der Ge-
rekonstruieren; dieses Fundstück ist jedoch vor schichte. Feminismus und Holocaust. In: Widerspen-
allem deshalb von Bedeutung, weil es belegt, daß stige Wechselwirkungen. Feministische Perspektiven in
auch in einer Zeit, in der der unvollendete Psychoanalyse, Philosophie, Literaturwissenschaft und
Franza-Roman für Bachmann bereits problema- Gesellschaftskritik. (Hg.) Ita-Maria Grosz-Ganzoni.
tisch zu werden begann (vgl. TKA 2, 396 f.), Tübingen, S. 145–172.
offenbar noch weitere Pläne zur Ausarbeitung der Monika Albrecht
259

4. Literarische Kontexte, Dialoge und Lektüren

4.1. Deutschsprachige Literatur des dern um die Aufnahme von Leitmotiven mit
18. und 19. Jahrhunderts strukturbildender Funktion, um einander wech-
selseitig kommentierende Zitat-Collagen und um
Für Ingeborg Bachmanns Auseinandersetzung Verweisketten, die den jeweiligen Text zum Frag-
mit der deutschsprachigen Literatur des 18. und ment eines historischen Kompendiums und einer
19. Jahrhunderts ist vor allem ein Moment si- »ungeschriebenen Geschichte« (W 4, 271) der
gnifikant, das Manfred Pfister als ›Dialogizität‹ Literatur als Utopie werden lassen.
bezeichnet, nämlich eine Form der Intertextuali-
tät, in der der zitierende Text zum zitierten in
Raum- und Zeitutopien
semantischer und ideologischer Spannung steht
(Pfister, S. 29). Der literarische Dialog mit die- In den Italien-Gedichten des Gedichtbandes An-
sem Textkorpus gestaltet sich als ›Dekonstruk- rufung des Großen Bären, im Hörspiel Die Zi-
tion‹ und als poetologische Reflexion auf die kaden sowie in der frühen Erzählung Auch ich
literargeschichtlichen Zäsuren: »Ja, ich glaube habe in Arkadien gelebt und dem Essay Was ich in
auch, daß man die alten Bilder, wie sie etwa Rom sah und hörte werden klassisch-romanti-
Mörike verwendet hat oder Goethe, […] nicht sche Raumutopien aufgerufen und dekonstruiert.
mehr verwenden darf, weil sie sich in unserem Der Arkadien-Text spielt sowohl auf Schillers
Mund unwahr ausnehmen würden. Wir müssen Gedicht Auch ich war in Arkadien geboren an
wahre Sätze finden, die unserer eigenen Bewußt- (Hapkemeyer 1982b, S. 50) wie auch auf das
seinslage und dieser veränderten Welt entspre- Motto von Goethes Italienischer Reise (Huml
chen.« (GuI, 19) Idealtypisch läßt sich die ideo- 1999, S. 318 f.; Weigel 1999, S. 255 f.). Die Topo-
logische Spannung zur Literatur des 18. und 19. graphie ist jedoch verkehrt, nicht der Süden,
Jahrhunderts mit dem Kontrast einer alten, sondern die zurückgelassene österreichische Hei-
›schönen‹ Kunstform, die mit Autoren wie Goe- mat ist gemeint. Das Italienbild in Lyrik und
the, Hölderlin und Novalis aufgerufen wird, und Prosa zitiert Goethes Reise als ästhetische und
einer modernen, nicht-mehr-schönen Kunst be- biographische Chiffre und überschreitet ihn zu-
schreiben, die sich selbst im Erfahrungsraum des gleich im Blick auf die »historischen ›Todesarten‹
Post-Holocaust verortet. Das Aufreißen dieser hi- der römischen Gesellschaft« (Huml 1999, S. 348).
storischen Kluft kann anhand der Auseinander- Das Hörspiel Die Zikaden führt den Topos der
setzung mit Goethes Ballade Der König in Thule »im Nirgendwo angesiedelten Insel wie Goethes
in Bachmanns Gedicht Früher Mittag veran- Thule oder Mörikes Orplid oder das geheimnis-
schaulicht werden. Das Motiv des Festmahls wird volle Atlantis des E.T.A. Hoffmann« (Tunner,
sarkastisch entstellt und weist auf die »unheim- S. 418; siehe W 4, 239, 305 f.) und des Novalis
liche Kontinuität zwischen der edelklassischen weiter und zeigt die eskapistische Tendenz sol-
Vergangenheit und der bedrohlichen Gegenwart« cher Utopien auf. Allerdings bleiben in der Kritik
(Mosès, S. 200). In Malina verkehrt sich das Vor- Momente des Utopischen bewahrt: die »Suche
haben, in Zitation romantischer Utopien ein nach Liebe«, die »Sehnsucht nach Selbstverwirk-
›schönes Buch‹ zu schreiben, unversehens in ein lichung und [die] Erkenntnis der Bedrohung je-
»Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505). Jedoch ist der menschlichen Existenz« (Tunner, S. 420). Mit
zwischen der Lyrik und dem Spätwerk eine Um- dem Element des Wassers und mit dem Erfah-
kehrung der Argumentationsrichtung zu ver- rungsraum des Traumes, wie im Hörspiel Ein
zeichnen: Erscheint in den frühen Texten die alte Geschäft mit Träumen, wird im Rekurs auf die
Kunstsprache im Hinblick auf die Gegenwart als Romantik (Novalis, Brentano, Eichendorff; vgl.
unzeitgemäß, so macht die ›alte Sprache‹ (TKA 1, Tunner, S. 420–425) eine Gegenwelt der Erfül-
364) vergangener Literatur in den Todesarten lung und lustvollen Auflösung im Unbekannten
diese erst erzählbar. Insgesamt gilt, daß es sich evoziert. In Bachmanns Erzählung Undine geht
nicht nur um Zitate einzelner Sätze handelt, son- verkehrt sich die Argumentationsrichtung, nicht
260 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

mehr die mißlingende Vermittlung mit der Reali- Ein Ort für Zufälle zeigen gegenüber der End-
tät diskreditiert den U-topos, sondern von jenem fassung noch deutlichere Lektürespuren von
aus wird die Realität dekonstruiert. Die Topo- Büchners literarischem und theoretischem Werk.
graphie wird nun gleichsam entsubstantialisiert Zentriert ist die Auseinandersetzung jedoch auf
zum »Orientierungstraum« (W 4, 265). Die die einem ›Wahnsinn von außen‹ erlegene Dich-
Stimme der Kunst, Undine (GuI, 46; Schneider terfigur der Lenz-Erzählung (TKA 1, 549, 553,
1999, S. 259–264), ist an einem unsicheren ›Nir- 595; vgl. Schneider 1999, S. 160ff., 444 f.). Deren
gend-Ort‹ als Grenzgängerin zwischen der Men- Signatur kennzeichnet noch Beatrix in Probleme
schenwelt und dem Wasser situiert. Probleme (Bannasch 1997, S. 66–69) und die Ich-
In Malina treten dann neben der romantisch Erzählerin in Malina, der das Motiv des Wahn-
konnotierten Raumutopie des ›Ungargassenlan- sinns zugeordnet ist und deren Wahrnehmungs-
des‹ (vgl. Beck, S. 310; dazu kritisch Bartsch perspektive dem ›auf dem Kopf gehen‹ von Büch-
1991, S. 219–225) verstärkt Zeitutopien in Er- ners Lenz korrespondiert (Schmaus 2000, S. 145,
scheinung: in der Kagran-Legende im Modus der 179).
Vergangenheit, in den Utopie-Fragmenten im In diesen Kontext gehört auch Bachmanns Aus-
Modus der Zukunft. Hier wird mit der Idee des einandersetzung mit Friedrich Nietzsche. Bereits
siderischen Menschen und des goldenen Zeit- das Gedicht Anrufung des Großen Bären läßt sich
alters aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen als Variation auf Nietzsches »Gott ist tot« ver-
(Beck, S. 309 f.; Schmaus 2000, S. 108, 152, stehen (siehe GuI, 33). In der aus dem Nachlaß
157–161; Uerlings, S. 29 f.) und Ludwig Tiecks veröffentlichen Erzählung Der Schweißer wird
Schöner Magelone gearbeitet (Kohn-Waechter dem Protagonisten durch die Lektüre von Nietz-
1992, S. 175). Bleiben die im Zitieren romanti- sches »Die fröhliche Wissenschaft« eine Erkennt-
scher Zeitutopien vollzogenen Schreibversuche nis zuteil, die Höller in Korrespondenz zu Höl-
der Ich-Erzählerin Fragment, so werden auf die- derlins ›heilgem Wahnsinn‹ gelesen hat: Reiter
sem Wege doch die historischen Bedingungen begreift sich in einem höheren gesellschaftlichen
dieses Scheiterns zur Sprache gebracht. Dies Zusammenhang (Höller 1987, S. 128–131; kri-
zeigt sich vor allem in der gegenüber Ein Ge- tisch dazu Eberhardt). Schließlich hat Bachmann
schäft mit Träumen radikalen Umdeutung der in einem Vorreden-Entwurf zum Buch Franza die
Traumsprache, die nun im Kapitel »Der dritte Täter-Opfer-Dialektik der Todesarten, »jenseits
Mann« die Darstellung des NS-Traumas ermög- von Gut und Böse« (TKA 2, 17 f.), in Anklang an
licht. Nietzsche formuliert. Malinas Götzenvernich-
tung steht in der Genealogie von Nietzsches ›Gott
ist tot‹ (Kohn-Waechter 1992), und es finden sich
Die Existenz der SchriftstellerIn
im weiteren Anspielungen auf Nietzsches »Ecce
Ein weiterer zentraler Aspekt im Hinblick auf Homo« (TKA 3.1, 495, 512; vgl. Eberhardt) und
Ingeborg Bachmanns Verhältnis zur deutschen »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das
Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts liegt in Leben« (TKA 3.2, 936 f.) in Malina. Auch Inge-
der Selbstverständigung über die Existenz der borg Bachmanns zentraler sprachskeptischer
SchriftstellerIn. In den Frankfurter Vorlesungen Grundsatz der Todesarten-Poetologie »die Spra-
sind es die mit Kleist, Grillparzer, Mörike und che ist die Strafe« (TKA 3.1, 393; vgl. W 4, 297) –
Brentano aufgerufenen »Stürze ins Schweigen« in Anlehnung an das Fragment des Anaximander
(W 4, 188), die sie unter den Bedingungen einer formuliert – scheint sich ihrer Nietzsche-Lektüre
radikalisierten Sprachskepsis nach der Zäsur des zu verdanken. Denn dieser kommentiert das
Holocaust interessieren. So perspektiviert Inge- Fragment in »Die Philosophie im tragischen Zeit-
borg Bachmann Kleist und seinen Protagonisten alter der Griechen« als tragisch-ethische Welt-
Prinz Friedrich von Homburg in ihrer Libretto- sicht, als eine »nie endende Todtenklage« (Nietz-
Fassung des Dramas für Hans Werner Henze auf sche, S. 820). In Malina wird im Anschluß an
die modernen Züge »unaussprechlicher« Exi- diese Passage die Aufgabe der Dichtung in eben
stenz: »komplexes Ich und leidende Kreatur in diesem Sinn als Totenklage bestimmt.
einem« (W 1, 371; vgl. Bartsch 1991, S. 226–229). Eine ähnliche Konstellation von moderner Er-
Die frühen Entwürfe ihrer Büchnerpreis-Rede fahrung der Götterferne (W 4, 116), Motiv des
Deutschsprachige Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts 261

Wahnsinns und poetologischer Reflexion – »Und Gedächtnis und kollektiver Autorschaft. In den
wozu Dichter in dürftiger Zeit?« (GuI, 15; W 4, Lyrikbänden wird durch Zitate des Volkslieds wie
303) – bildet auch die Folie für Bachmanns Dialog auch der Grimmschen Hausmärchen die Ambiva-
mit dem Werk Friedrich Hölderlins. Bereits in lenz von Heimat als Sprachheimat einerseits und
der Dissertation ist er, vermittelt über Heideggers dem Unheimlichen der gesellschaftlichen Ord-
Hölderlin-Interpretationen, präsent (vgl. Diss. nung andererseits reflektiert. Exemplarisch hier-
60, 118 f., 121 f., 125, 127). Die Gedichte, vor für sind Früher Mittag und der Gedichtzyklus Von
allem Große Landschaft bei Wien, Paris und An einem Land, einem Fluß und den Seen, wo die
die Sonne sind auf ihre intertextuellen Bezüge zu Lieder Am Brunnen vor dem Tore, Goethes zum
Hölderlin befragt worden (Beicken 1988, S. 91; Volkslied gewordenes König in Thule (Bartsch
Mosès, S. 202–207; Huml 1999, S. 292). In Ma- 1991, S. 217ff.) sowie die Märchen Von einem, der
lina wird durch ein leitmotivisch wiederkehren- auszog, das Fürchten zu lernen, Hänsel und Gre-
des, variiertes Zitat aus dem Fragment von Hy- tel (Šlibar, S. 200–206) und Jorinde und Joringel
perion die Thematik der »gestörten Erinnerungs- zu einem Intertext verwoben sind. Die Verführ-
erzählung« eingeführt (TKA 3.2, 930; vgl. barkeit des deutschen Kleinbürgertums steht im
Göttsche, S. 112 f.). »Hölderlins Bild« gehört, ne- Zentrum von Ingeborg Bachmanns Opernlibretto
ben der »Totenmaske von Kleist« (TKA 3.1, 511), Der junge Lord, das auf Wilhelm Hauffs Märchen
zum Besitz, den das Ich vor der Zerstörung durch Der Affe als Mensch basiert.
den Vater bewahrt. Im weiteren ist es die Ambivalenz des Ge-
Eine gleichermaßen widerständige Funktion schlechterverhältnisses, zum einen Liebesutopie
gegen die Macht des Vaters nimmt der in der und Geschwistermythos, zum anderen der Ge-
Kagran-Legende zitierte romantische Topos des schlechterkampf, der in der Auseinandersetzung
›fremden Sängers‹ ein, der Lektürespuren von mit diesem Textkorpus thematisch wird. Neben
Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (Schmaus dem über Friedrich de la Motte-Fouqué (Nawab;
2000, S. 166; Uerlings, S. 27), Tiecks Schöner Bartsch 1991, S. 230ff.) und E.T.A. Hoffmanns
Magelone und E.T.A. Hoffmanns Johannes Kreis- Zauberoper (Endres, S. 452) vermittelten Un-
lers Lehrbrief aufweist (Kohn-Waechter 1992, dine-Stoff ist vor allem das Blaubart-Märchen zu
S. 60–62). Insbesondere der Heinrich von Ofter- nennen, das sich von Charles Perrault über Lud-
dingen nimmt durch Figurenpersonal, Hand- wig Tiecks dramatisierte Fassung in seinen Volks-
lungsmomente und Leitmotive – die blauen, ro- mährchen bis zu Bartóks Oper tradiert hat. In der
ten und weißen Blumen – eine strukturbildende Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha wird im
Funktion für die Legende und für den Malina- Rollentausch der Geschlechter das Blaubartmotiv
Roman insgesamt ein (Schmaus 2000, S. 108–111; auf Charlotte bezogen (W 2, 212; vgl. Dusar 1994,
Uerlings, S. 27–30). Im weiteren wird in Malina S. 208–216), in den Todesarten prägt es die
durch Novalis und Hölderlin der frühromanti- Mann-Frau-Beziehungen (TKA 2, 69, 207; TKA
sche Bildungsroman in seiner signifikanten Gat- 3.1, 5; TKA 3.2, 930). In diesen Kontext lassen
tungspluralität als eine Schreibutopie zitiert sich ebenso die Anspielungen auf die Instru-
(Beck, S. 309; Bartsch 1991, S. 222; Schmaus mentalisierung des Spuks in Fontanes Roman
2000, S. 192 f.), in der die Vorstellung dialogi- Effi Briest einordnen. Innstetten baut einen
scher Identität, die Liebesutopie und die Poeti- »Angstapparat aus Kalkül« (Fontane, S. 132) auf,
sierung der Wirklichkeit eine Synthese einge- wobei Tierpräparate (Hai und Krokodil) eine
hen. wichtige Rolle spielen, der seine Frau zur Hy-
sterikerin macht. Hai und Krokodil begleiten als
Todesängste leitmotivisch die Protagonistinnen
Gattungszitate
der Todesarten (vgl. Beck, S. 306 f., 320; TKA 1,
In den Zusammenhang der Gattungszitate in In- 277, 338, 347 f., 381, 448, 601; TKA 2, 30, 65, 98,
geborg Bachmanns Werk gehören die zahlreichen 225; TKA 3.1, 520, 552–554). Auch die Referenz
Anspielungen an Volkslied, Märchen und Kunst- auf Märchenelemente aus Brentanos Roman
märchen, die von der Lyrik bis zum Todesarten- Godwi, Günderrodes Erzählung Timur und
Projekt reichen. Mit ihnen verbindet sich seit der E. T.A Hoffmanns Johannes Kreislers Lehrbrief
Romantik der Themenkomplex von kollektivem sowie auf das romantische Kunstmärchen (Tiecks
262 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Schöne Magelone, Novalis’ Atlantis, Eros und den Wanderjahren assoziiert. Goethes Entsa-
Fabel) in Malina ist im Hinblick auf den Topos gungsmotiv spielt die Erzählung gleich in mehr-
der toten Geliebten als Destruktion einer männ- facher Variation im Hinblick auf den jüngeren
lichen Opferlogik gelesen worden (Kohn-Waech- Liebhaber, den Bruder und die Trottas durch. Die
ter 1992, S. 60–74). Gerade an Novalis läßt sich Erzählung Ihr glücklichen Augen aus dem Band
jedoch veranschaulichen, daß mit dem Rekurs auf Simultan zitiert im Titel ironisch das Türmerlied
die Frühromantik eine Vorstellung dialogischer, aus dem Faust II (Dusar 1994, S. 106–109).
zweigeschlechtlicher Identität und eine Liebes- Anklänge an Schillers Dramen finden sich be-
utopie aufgerufen werden, durch deren Zitat die reits in Ingeborg Bachmanns Jugendwerk. Im
Ich-Erzählerin den Machtstrukturen des Patriar- Trauerspiel in fünf Akten Carmen Ruidera und
chats Widerstand leistet (Schmaus 2000, S. 119– der historischen Novelle Das Honditschkreuz
123, 150ff., 164 f.). In dieser Funktion wird das wird die österreichische Gegenwart im histori-
romantische Motiv des Liebestodes durch die schen Szenario napoleonischer Fremdherrschaft
Anklänge an August von Platens und Richard gespiegelt und der Widerstand mit Schillerschem
Wagners Tristan und Isolde (TKA 3.2, 954, 956, Freiheitspathos und Pflichtrigorismus assoziiert.
961) sowie an Nietzsches Klage der Ariadne Die Konfliktsituationen lösen sich in beiden Fäl-
(Kohn-Waechter 1992, S. 48, 52; GuI, 74) im Text len der klassischen Dramaturgie gemäß nur im
weitergeführt. Tod (Hapkemeyer 1983, S. 3; Bartsch 1997,
Zuletzt ist im Zusammenhang der Gattungs- S. 37 f.; Beicken 1988, S. 33 f., 42, 59 f.; Weigel
zitate Ingeborg Bachmanns Dialog mit der Wei- 1999, S. 56ff.). Der »Schillersche Tugendkatalog
marer Klassik zu nennen, der vom Früh- bis zum der Frau« (Weidenbaum, S. 28) prägt die Briefe
Spätwerk zentral auf das Dramatische fokussiert an Felician. Bereits parodistisch wird Schiller im
ist. Vor allem Goethes Faust ist ein Prätext, auf Text Die Mannequins des Ibykus behandelt, in-
den sich Bachmann konstant bezieht: Angefan- dem die zur Schaufensterpuppe verdinglichte
gen von den im Nachlaß überlieferten Jugend- Frau an der Moral von Schillers Die Kraniche des
gedichten Goethe und Zwei Seelen wohnen, ach! Ibykus buchstäblich zerbricht (vgl. Beicken 1988,
In meiner Brust (vgl. Hapkemeyer 1983, S. 1–3; S. 62; Weigel 1999, S. 71ff.). Vergleichbar den
Bartsch 1997, S. 36; Huml 1999, S. 92), dem das Anspielungen auf Goethes Iphigenie tauchen
Malina/Ich-Doppel später seine eigene ge- Schiller-Zitate dann wieder im Kontext der To-
schlechtsspezifische Variation geben wird. Wie desarten auf. Maria Stuart bietet einen Identi-
bereits erwähnt, nehmen die Gedichtbände das fikationsraum für die Protagonistinnen (TKA 1,
Gretchen-Lied König in Thule auf (W 1, 44, 90) 605; TKA 4, 624). Darüber hinaus stellt das als
sowie das Dichtungsverständnis der Zueignung Schullektüre ausgewiesene, zitierte Tellsche Frei-
aus dem Faust (Mein Vogel, An die Sonne; vgl. heitspathos eine biographische Chiffre und einen
Huml 1999, S. 311–317). Im Hörspiel Der gute intratextuellen Verweis auf das Frühwerk dar
Gott von Manhattan wird in ironischem Bezug (TKA 2, 480; TKA 3.2, 925). Die Anklänge an die
auf ›das Ewig-Weibliche zieht uns hinan‹ Jans Weimarer Klassik gehören, zusammen mit jenen
Rückkehr in die gesellschaftliche Ordnung mit an Grillparzers Dramen Die Jüdin von Toledo,
dem Faust-Zitat »Die Erde hatte ihn wieder« Das goldene Vlies (TKA 1, 598 f.; Höller 1983)
kommentiert (W 1, 327; vgl. Bartsch 1997, S. 84; und Ein treuer Diener seines Herrn (Bannasch
Beicken 1988, S. 116). Und der Gute Gott instru- 1997, S. 142ff.) sowie an Nestroys Der Zerrissene
mentalisiert Goethes Schweigegebot aus dem Di- (TKA 3.2, 958; TKA 1, 606) in den umfassen-
van-Gedicht Selige Sehnsucht »Sagt es niemand, deren Rahmen eines Gattungszitats, das die To-
nur den Weisen« für seine Mordpläne (Goethe, desarten als moderne Tragödien des Weiblichen
S. 18; vgl. Beicken 1988, S. 119). In den Todes- ausweist (siehe Kohn-Waechter 1992, S. 156 f.;
arten erscheint die Schauspielerin Fanny Gold- Schmaus 2000, S. 189 f., 198). Diese lassen sich
mann als Verkörperung von Goethes Iphigenie nicht mehr in die klassische Dramenform brin-
(TKA 1, 288, 311, 441; TKA 4, 419). Die Prot- gen, die Theorie der drei Einheiten wird in Ma-
agonistin aus Drei Wege zum See, eine »Frau von lina ironisch aufgenommen und ad absurdum
fünfzig Jahren« (TKA 4, 5, 621), wird mit Goe- geführt (vgl. GuI, 75 f., 102 f.).
thes Novelle Der Mann von funfzig Jahren aus Durch das hoch komplexe intertextuelle Ver-
Europäische Literatur vor 1900 263

fahren gibt sich das Todesarten-Projekt zugleich erzählenden Prosa Ingeborg Bachmanns. In: Literatur
als Geschichtskompendium gesellschaftlicher in Wissenschaft und Unterricht 23, S. 99–118; – Hans
Höller (1983): Der Todesarten-Zyklus des 19. Jahr-
Machtstrukturen und als eine Geschichte der Li-
hundert. Ingeborg Bachmann und Franz Grillparzer. In:
teratur als Utopie zu erkennen. Die Auseinander- Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 15, S. 141–153; –
setzung mit der deutschsprachigen Literatur des Stéphane Mosès (1997): Das Festmahl der Götter. Ein
18. und 19. Jahrhunderts findet unter beiden mythologisches Motiv bei Paul Celan und Ingeborg
Gesichtspunkten statt. Jedoch ist im Hinblick auf Bachmann. In: Böschenstein/Weigel (1997), S. 189–
das Spätwerk eine deutliche Differenzierung zwi- 208; – Mona El Nawab (1993): Ingeborg Bachmanns
Undine geht. Ein stoff- und motivgeschichtlicher Ver-
schen Klassik und Romantik zu verzeichnen, die
gleich mit Friedrich de la Motte-Fouqués Undine und
mit der »Einstellung auf Krankheit« (W 4, 279) Jean Giraudoux’ Ondine. Würzburg; – Manfred Pfister
als bewußte Abgrenzung von Goethes Diktum, (1985): Konzepte der Intertextualität. In: Intertextuali-
das Klassische sei das Gesunde, das Romantische tät. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien.
das Kranke (nach Eckermann 1981, S. 310), be- (Hg.) Ulrich Broich, Manfred Pfister. Tübingen, S. 1–
griffen werden kann. Programmatisch schließt 30; – Neva Šlibar (2000): Von einem, der auszog, das
Fürchten zu lernen. Ingeborg Bachmanns Gedichtzy-
die Ich-Erzählerin in Malina ihre Geburt mit dem
klus Von einem Land, einem Fluss und den Seen. In:
Todestag E.T.A. Hoffmanns zusammen (TKA 3.2, Kucher/Reitani (2000), S. 200–218; – Erika Tunner
932), die Signatur des Schreibens ist mithin nach- (1989): Von der Unvermeidbarkeit des Schiffbruchs
romantisch. Die Auseinandersetzung reicht von [1986]. In: Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 417–
Novalis, Hölderlin, Kleist, Büchner bis zu Nietz- 431; – Herbert Uerlings (2000): Novalis und die Mo-
sche und schließlich jenen Autoren des 20. Jahr- derne. Seghers – Hilbig – Benn – Bachmann. In: Blü-
thenstaub – Rezeption und Wirkung des Werkes von
hunderts, deren eigener Dialog mit der Romantik
Novalis. (Hg.) Herbert Uerlings. Tübingen, S. 7–41; –
in die Zitat-Collagen der Todesarten verwoben Inge von Weidenbaum (1997): Ist die Wahrheit zumut-
ist: Robert Musil, Hermann Broch und Paul Ce- bar? In: Böschenstein/Weigel, S. 23–28.
lan (vgl. Beck, S. 310ff.; Schmaus 2000, S. 109– Marion Schmaus
115; Uerlings, S. 31–35).
Quellen: Johann Peter Eckermann (1981): Gespräche
mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Bd. 1. 4.2. Europäische Literatur vor 1900
(Hg.) Fritz Bergemann. Frankfurt/M.; – Johann Wolf-
gang von Goethe (1982): Werke (Hamburger Ausgabe), Nach eigenem Bekunden hat Ingeborg Bachmann
Bd. 2: Gedichte und Epen II. (Hg.) Erich Trunz. Mün- schon als Jugendliche »trotz der Nazierziehung«
chen; – Theodor Fontane (1985): Effi Briest. Roman. Autoren der österreichischen und deutschen Mo-
(Hg.) Gotthard Erler. 7. Aufl. Berlin, Weimar; – Fried-
derne wie »Thomas Mann und Stefan Zweig und
rich Nietzsche (1988): Die Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen. In: Nietzsche: Kritische Studi- Schnitzler und Hofmannsthal« gelesen (Tagebuch
enausgabe, Bd. 1. (Hg.) Giorgio Colli, Mazzino Monti- 1945, zitiert in Höller 1999, S. 8f.), und ihre
nari. München, S. 799–872. Aufbrüche aus Klagenfurt nach Wien und aus
Wien in ein europäisches Leben mit wechseln-
Literatur: Bannasch (1997); Bartsch (1997); Beicken
(1988); Dusar (1994); Hapkemeyer (1982b); Hapke- den Wohnorten in Italien, Deutschland und der
meyer (1983); Höller (1987); Huml (1999); Kohn- Schweiz haben wesentlich dazu beigetragen, ihr
Waechter (1992); Schmaus (2000); Schneider (1999); durch vielfältige Anregungen jenen breiten Hori-
Weigel (1999). zont europäischer Literatur zu vermitteln, in dem
Kurt Bartsch (1991): Affinität und Distanz. Ingeborg sich ihr Schreiben durch intertextuelle Verflech-
Bachmann und die Romantik. In: Romantik – eine
tungen situiert. Bachmann hat diesen europäi-
lebenskräftige Krankheit. Ihre literarischen Nachwir-
kungen in der Moderne. (Hg.) Erika Tunner. Amster- schen Horizont ihres Selbstverständnisses als Au-
dam, S. 209–234; – Hans-Joachim Beck (1988): Malina torin 1955 auf die mit »Grillparzer und Hof-
oder die Romantik. Literarische Rezeption und Kompo- mannsthal, Rilke und Robert Musil« belegte
sition in Ingeborg Bachmanns Romantrilogie Todes- »österreichische Tradition« zurückgeführt, die als
arten. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. solche bereits »sehr europäisch« sei, da die Öster-
38, S. 304–324; – Joachim Eberhardt (2003): Bachmann
reicher »an so vielen Kulturen partizipiert und ein
und Nietzsche. In: Albrecht/Göttsche (2003); – Ria
Endres (1989): Die Paradoxie des Sprechens [1983]. In: andres Weltgefühl entwickelt« hätten »als die
Koschel/von Weidenbaum (1989), S. 448–462; – Dirk Deutschen« (GuI, 12). Nun ist es zwar ein all-
Göttsche (1990): Erinnerung und Erzählstruktur in der gemeines Kennzeichen der literarischen Mo-
264 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

derne und ihrer Selbstreflexivität, daß die Texte ratur, die [sie] immer aufgeregt« hätten, seien für
immer zugleich auf das »›imaginäre Museum‹ sie »das Leben«: »Und es sind keine Sätze, die ich
der Weltliteratur« reagieren (Thiem 1972, zitiere, weil sie mir so sehr gefallen haben, weil
S. 101); Bachmann hat die Intertextualität der sie schön sind oder weil sie bedeutend sind,
literarischen Moderne durch eine Bemerkung in sondern weil sie mich wirklich erregt haben.«
ihren Frankfurter Vorlesungen aber auch ganz (GuI, 69) Angesichts der extensiven Intertextuali-
bewußt in die Nachfolge von Goethes Konzept tät ihres eigenen Werks, die schon in der Text-
vom Ende der »Nationalliteratur« und vom Be- genese – etwa des Malina-Romans (Brachmann
ginn einer »Epoche der Weltliteratur« gestellt (W 1999, S. 48–95) – strukturierende und thematisch
4, 264; Goethe am 27. 1. 1827 in Eckermann, Bd. verdichtende Funktion besitzt, ist diese ver-
1, S. 211). Die Engführung von österreichischer meintliche Kritik des Zitats im Rekurs auf die
Literatur und (europäischer) ›Weltliteratur‹ in zugleich existentiale und metaphysische Katego-
den Selbstkommentaren der Autorin kann bereits rie des ›Lebens‹ als Kritik einer bestimmten (bil-
als ein erster Hinweis auf jene charakteristische dungsbürgerlichen) Zitierpraxis zu lesen. Gegen
Überlagerung mehrfacher intertextueller Bezüge das Zitat als bloße »Traditionspflege« (Schneider
in ihren Werken gelesen werden, die über den 1999, S. 111) geht es der Autorin darum, »auf
dialogischen Bezug zu Einzelwerken oder -au- utopischer Basis« eine »konstruktive […] Bezie-
toren hinaus immer wieder die »Polyphonie« ›in- hung zur Tradition herzustellen« (Agnese 1996,
tertextueller Felder‹ hervorbringt (Weigel 1999, S. 266), anders gesagt, in Anknüpfung, Variation
S. 155, 188). und Gegenentwurf einen Dialog mit literarischen
Obwohl die Frankfurter Vorlesungen und Bach- Werken und europäischen Autoren zu führen, der
manns intertextuelle Praxis die Bedeutung be- diese Tradition zugleich fortschreibt und revi-
legen, die der tradierte Kanon der europäischen diert, indem er dem eigenen Werk utopische
Literatur für ihr schriftstellerisches Selbstver- Bedeutungspotentiale des entworfenen Kanons
ständnis besaß – und hierin stand sie durchaus in einschreibt. In diesem Sinne ist Bachmanns ex-
der bürgerlichen Bildungstradition ihrer Zeit –, tensive Intertextualität immer auch Arbeit am
sind ihr die Vorkriegskonzepte der ›Geistesge- literarischen Kanon der europäischen Kulturtra-
schichte‹ und des ›Abendlandes‹, die bis in die dition.
1960er Jahre fortgeschrieben werden, entschie-
den problematisch geworden (W 4, 266, 69). Es
Klassiker der ›Weltliteratur‹: Dante, Petrarca,
ist nicht zufällig ihr Beitrag Tagebuch zu der
Shakespeare
italienischen Probenummer der geplanten euro-
päischen Literaturzeitschrift »Gulliver«, in dem Beispiele für diese Arbeit am literarischen Kanon
sie sich sowohl vom Provinzialismus der Natio- bieten Bachmanns literarische Rekurse auf die
nalliteratur (W 4, 63 f.) als auch von oberfläch- Anfänge der neuzeitlichen europäischen Litera-
licher »Abendländerei«, vom »sich Zuhausefüh- tur. In ihren Frankfurter Vorlesungen nennt die
len zwischen Griechenland und moderner Indu- Autorin Dante Alighieris Hauptwerk La Divina
striegesellschaft« abgrenzt (W 4, 69). Nach dem Commedia (zusammen mit Cervantes’ Don Qui-
endgültigen Untergang des ›alten Europa‹ im jote) als Beispiel für das Altern der Klassiker, das
Zweiten Weltkrieg und angesichts der Vermark- dialektisch zu neuer Interpretation herausfordert
tung der Literatur in der modernen Medienwirt- und »uns« so »antreibt, mit der Literatur«, deren
schaft (W 4, 74, 73) fordert Bachmann in der »ganze Vergangenheit sich in die Gegenwart
Tradition der Moderne eine Neubegründung der drängt«, »als einer Utopie zu verfahren« (W 4,
Literatur als »Abenteuer mit der Sprache« auf der 259). Daß dieses Verständnis des literarischen
kritischen Erfahrungsgrundlage der eigenen kul- Dialogs mit der Tradition die negative Utopie
turellen und sprachlichen Herkunft (»Dialekt und einschließt, zeigt die Tatsache, daß sich Bach-
Dialektik«) in einem neu entworfenen europäi- manns Dante-Zitate ausschießlich auf den ersten
schen Horizont (W 4, 70). Teil der Divina Commedia, auf das »Inferno«
Ähnlich differenziert muß auch Bachmanns beziehen. Die Autorin, die mehrere Ausgaben
Statement verstanden werden, es gebe für sie von Dantes Hauptwerk besaß (TKA 2, 467), zi-
»keine Zitate«, »die wenigen Stellen in der Lite- tiert die Anfangszeilen des »Infernos« in ihren
Europäische Literatur vor 1900 265

Entwürfen zu dem Romanfragment Das Buch im ersten Todesarten-Roman (TKA 1, 112), auf
Franza als literarische Chiffre für die ›Todesart‹ Hamlet und Titus Andronicus in den Malina-
ihrer Protagonistin (TKA 2, 12), und der Aufbau Entwürfen (TKA 3.1, 13, 97), und vor allem auf
des Romans ist insgesamt als ›Umkomposition‹ die Miranda aus Shakespeares spätem Drama
von Dantes »Dreiteilung von Inferno, Purgatorio The Tempest in der gleichnamigen Protagonistin
und Paradiso« gelesen worden (Gutjahr 1988, der Erzählung Ihr glücklichen Augen, deren Be-
S. 137). In Malina wird aus der entsprechenden mühen um Nichtwahrnehmung der abgründigen
Erinnerung an Dantes »Inferno« in den Entwür- sozialen Wirklichkeit mit dem naiven Verkennen
fen (TKA 3.1, 13) im Traumkapitel der End- der höfischen Realität als »brave new world«
fassung das ›polyphone‹ intertextuelle Motiv durch Shakespeares Miranda (The Tempest, V.1)
»Ein Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505), in dem in einem hintergründigen Analogie- und Kon-
sich die Anspielung auf Dantes »Inferno« mit der trastverhältnis steht. Im Zentrum von Bach-
auf Arthur Rimbauds Prosagedichtzyklus Une sai- manns Shakespeare-Rezeption steht jedoch die
son en enfer überkreuzt (Brachmann 1999, imaginäre Topographie seines späten Dramas
S. 247). The Winter’s Tale, die die Autorin in ihrem spä-
Wie sich die Adaptierung der Klassiker in der ten Gedicht Böhmen liegt am Meer als symboli-
thematischen Konzentration auf bestimmte, als schen Ausdruck für die Imaginationskraft der
zentral wahrgenommene Aspekte ihres Werks Literatur kontrapunktisch gegen die Sprachskep-
mit dem literarischen Gegenentwurf verbindet, sis anderer später poetologischer Gedichte wie
das zeigt noch deutlicher Bachmanns Dialog mit Keine Delikatessen und Enigma stellt. Im Shake-
Francesco Petrarcas Zyklus I trionfi in ihrem speare-Jahr 1964 als Teil des literarischen Er-
eigenen Gedichtzyklus Lieder auf der Flucht aus trages zweier Pragreisen entstanden, verbindet
dem zweiten Gedichtband Anrufung des Großen dieses Gedicht, dem Bachmann geradezu den
Bären. Dieser Zyklus, der in der »Zeit eines Status eines literarischen Vermächtnisses zumaß
intensiven Studiums der klassischen lateinischen (Statement im Film von Gerda Haller 1973, zi-
und italienischen Literatur« entstand und dem als tiert in Bachmann 1998a, S. 119), vor dem Hinter-
Motto ein Petrarca-Zitat vorangestellt ist, ist ins- grund des ehemaligen Habsburgerreiches die
gesamt als eine »Gegenbewegung zum Triumph- »Mitteleuropa-Utopie« der Autorin (Höller in
zug Petrarcas« angelegt (Weigel 1999, S. 155, Bachmann 1998a, S. 127) mit einer literarischen
157), die vom Titelmotiv der Flucht als Chiffre »Sprach-Utopie« (Oberle 1990, S. 281), für die
für die ›Unbehaustheit‹ des modernen Menschen hier die »Subtextur« der Shakespearezitate aus
bis zum ausdrücklichen Gegenentwurf – als Teil The Winter’s Tale, Love’s Labour’s Lost, Twelfth
eines komplexen, Rilke, Musil und Celan ein- Night, The Two Gentlemen of Verona und The
schließenden Veweisungsnetzes – im Schlußge- Merchant of Venice steht (Cambi, S. 247 f.; Ag-
dicht reicht: »Die Liebe hat einen Triumph und nese 1996, S. 256ff.). Dagegen markiert das Zitat
der Tod hat einen, / die Zeit und die Zeit danach. der Widmung »To The Onlie Begetter«, die
/ Wir haben keinen.« (W 1, 147) Auch das poeto- Shakespeare seinen Sonetten voranstellte, im
logische Motiv des Salamanders, in dem Bach- Mühlbauer-Interview des Malina-Romans (TKA
mann in ihrem Gedicht Erklär mir, Liebe Liebes- 3.1, 390) die gegenläufige, mit dem Sujet der
und Dichtungsthematik engführt (W 1, 110), »Todesarten« verknüpfte, abgründige Verbindung
kann – neben dem Verweis auf Gaspara Stampas von Poetologie und Geschlechterproblematik.
Gedicht Per un nuovo amore – auf Petrarca zu-
rückgeführt werden (Bothner 1986, S. 109;
Französischer und russischer Realismus: Balzac,
Oberle 1990, S. 10).
Barbey, Tolstoi, Dostojewski u. a.
Bachmanns Dialog mit William Shakespeare
steht ebenfalls in unmittelbarem Zusammenhang Während Bachmann in der Literatur des deut-
mit der poetologischen Reflexion ihres literari- schen Realismus offenbar keine wichtigeren An-
schen Selbstverständnisses. Zwar finden sich vor regungen gefunden und beispielsweise die (erst
allem in ihrem Spätwerk verstreute Anspielun- in den 1960er Jahren wiederentdeckte) Moder-
gen auf verschiedene Shakespearefiguren, auf nität Wilhelm Raabes nicht gesehen hat (Brief an
Cordelia (King Lear) und Desdemona (Othello) Walter Boehlich vom 19. 1. 1961), besitzen die
266 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Autoren des französischen und russischen Rea- sondere in der Nachfolge von Honoré de Balzacs
lismus insbesondere für die Ausarbeitung ihrer Erzählzyklus La comédie humaine. Daher ist es
Todesarten-Poetologie entscheidende Bedeutung. nicht verwunderlich, daß Bachmann in späteren
Besonders evident ist dies in Bachmanns erstem Formulierungen ihrer Todesarten-Poetologie un-
Versuch, die poetologische Konzeption ihres ent- mittelbar auf Balzac rekurriert, so in den poetolo-
stehenden Todesarten-Projekts zusammenfas- gischen Entwürfen zum Simultan-Band, der sich
send zu charakterisieren, in den Vorrede-Ent- im Spiegel von Frauenporträts nach französi-
würfen zum Buch Franza (TKA 2, 16–18, 71–78, schem Vorbild mit den »moeurs einer Zeit« befaßt
359–361). Dort bezieht sie sich auf Jules Amédée (TKA 4, 15, vgl. 10), oder im Goldmann/Rott-
Barbey d’Aurevillys Novellenzyklus Les diaboli- witz-Roman, in dem der Erzähler in Anlehnung
ques (1874), und zwar explizit auf dessen Konzept an Balzacs Zyklus-Vorrede als »Beobachter dieser
der ›verborgenen Verbrechen‹ hinter »dem Vor- Jahre und ihrer Sitten« auf die »Beschreibung von
hang des Privatlebens und der Häuslichkeit« (wie Tragödien, die tatsächlich stattfinden«, drängt
es in der von Bachmann neben dem Original (TKA 1, 398, vgl. 604). Die Arbeit an den Todes-
verwendeten Übersetzung heißt; Barbey, S. 183) arten wird insgesamt von einer intensiven Balzac-
in der Novelle Le dessous de cartes d’une partie de Lektüre begleitet, die sich in vielfältigen Zitaten,
whist (Eine Whistpartie mit verdeckten Karten), Anspielungen und Motivanalogien niederschlägt
vor allem aber auf die poetologischen Eingangs- (vgl. zu Bachmanns Balzac-Ausgaben TKA 3.2,
passagen des Schlußstücks La vengeance d’une 943). Das Buch Franza zitiert den »Spruch der
femme (Die Rache einer Frau), das sie in einem Medici« aus Balzacs Katharina von Medici (TKA
literaturkritischen Nachlaßentwurf als »ein atem- 2, 62) und läßt in seinem poetologischen Rekurs
raubendes Meisterwerk« bezeichnet, das »eine auf Barbey zugleich Balzacs Novelle Albert Sava-
der wenigen haltbaren Theorien« aufweise rus anklingen, die ebenfalls von den »morali-
(N1942, zitiert nach TKA 2, 473; vgl. Göttsche schen Verbrechen, die der menschlichen Justiz
1991). Gegen den öffentlichen Vorwurf, die mo- kein Eingreifen gestatten«, als den »infamsten
derne Literatur sei ›kühn‹, entwickelt Barbey und abscheulichsten« erzählt (Balzac, Bd. 2,
dort seinen Entwurf der Literatur als »Sitten- S. 122; vgl. TKA 2, 473). Im Requiem für Fanny
geschichte« einer Zeit der »hohen Civilisation«, Goldmann erinnert die Gegenüberstellung von
in der »Verbrechen« und »Mord« nun im »Reich« Talent und Charakter an entsprechende Passagen
des Geistes, »der Sitten und der Gefühle« statt- in Balzacs Romanen Modeste Mignon und Glanz
fänden (Barbey, S. 356 f.). In der Form eines »Pla- und Elend der Kurtisanen (TKA 1, 331, vgl.
giat[s] aus seltsamen Gründen«, wie sie diese 600 f.); der Goldmann/Rottwitz-Roman spielt in
Form der intertextuellen Anknüpfung mit Bezug der Bewertung des Todes von Maria Malina ver-
auf Flaubert einmal genannt hat (N1860, zitiert mutlich auf Balzacs Die Fischerin im Trüben an
nach Göttsche 1991, S. 131), adaptiert die Au- (TKA 1, 448, vgl. 608); und in Gier wird Balzacs
torin Barbeys Poetologie einer Darstellung der Herzogin von Langeais charakteristischerweise
›sublimen Verbrechen‹ des Geistes und der Mo- neben Barbeys Fürstin von Turre-Cremata als
ral (TKA 2, 75) zur Begründung ihres eigenen Symbolfigur des französischen Gesellschaftsro-
Entwurfs einer literarischen Sittengeschichte der mans erwähnt (TKA 4, 487).
Nachkriegszeit in den Todesarten, und das Sujet Im Gegensatz zur Barbey- und Balzac-Rezep-
von Barbeys Erzählung Die Rache einer Frau – tion hat Bachmanns Gustave Flaubert-Lektüre
die Moral der Gesellschaft aus der Perspektive bislang noch kaum Aufmerksamkeit gefunden,
der weiblichen Erfahrung sozialer Gewalt im Ge- obwohl Barbara Agnese grundsätzlich auf die in-
schlechterverhältnis – verleiht dieser intertex- tertextuelle Verbindung der österreichischen Mo-
tuellen Selbstreflexion zusätzliches Gewicht, wie derne mit der französischen Tradition der ›édu-
auch entsprechende Anspielungen im Requiem cation sentimentale‹ in der Linie »Stendhal –
für Fanny Goldmann (TKA 1, 322) und in Gier Flaubert – Proust« in den Todesarten hingewiesen
(TKA 4, 487) belegen. hat (Agnese 1996, S. 241). Das Zitat aus Flauberts
Natürlich steht Barbeys Verständnis der Lite- Brief an Louise Colet vom 5./6. Juli 1852 – »Avec
ratur als Sittengeschichte in der Tradition des ma main brulée, j’écris sur la nature du feu« (TKA
französischen Gesellschaftsromans und insbe- 3.1, 390, vgl. 576 und TKA 3.2, 945) – chiffriert in
Europäische Literatur vor 1900 267

Malina die existentiale Situation des Ich als einer nem Totenhaus als literarische Metapher der »To-
von ihren Erfahrungen gezeichneten Schriftstel- desarten« gegenüberstehen (TKA 3.1, 334, zu
lerin; es wird von Bachmann als einer der »Sätze« Bachmanns Dostojewski-Ausgaben TKA 3.2,
bezeichnet, die sie »gern selbst geschrieben 936). Wenn Malina im Goldmann/Rottwitz-Ro-
hätte« (GuI, 71). Die poetologischen Entwürfe man als Sammler von »Geschichten mit letalem
zum Simultan-Band zitieren Flauberts bekanntes Ausgang« dargestellt wird (TKA 1, 388, vgl. 603),
Diktum »Madame Bovary, c’est moi, d’après moi« so zitiert dies in ähnlichem Sinn Dostojewskis
(TKA 4, 15), und die Frankfurter Vorlesungen Roman Die Brüder Karamasow. Den Ausgangs-
diskutieren »die Tragikomödie der Wissenschaft« punkt von Bachmanns literarischer Auseinander-
in Flauberts spätem Roman Bouvard et Pécuchet setzung mit diesem russischen Autor bildet aller-
(W 4, 261). dings ihre Adaptierung seines Romans Der Idiot
Ebenfalls noch näher zu erforschen ist die Be- in dem lyrischen Ballett-Textbuch Ein Monolog
deutung der russischen Erzählkunst des 19. Jahr- des Fürsten Myschkin mit seiner ganz anderen,
hunderts für Ingeborg Bachmann. In Malina existentialistisch geprägten Kunst- und Künst-
rückt der in den Träumen des Ich wiederkeh- lerproblematik (W 1, 62ff.; siehe hierzu den Ar-
rende »Ballsaal aus Krieg und Frieden« (TKA 3.1, tikel »Libretti«). Bachmann hat selbst darauf
513 f.) Leo Tolstois großen Roman an eine zen- hingewiesen, daß »wir unser Urteil über einen
trale Stelle des intertextuellen Verweisungsnet- Autor« »im Lauf unseres Lebens« »häufig mehr-
zes, das sich hier tatsächlich zu einem inter- mals« »ändern« (W 4, 259).
medialen Bedeutungsraum erweitert. Denn nicht Diesem literarischen Dialog mit Klassikern der
nur wirft die Hervorhebung gerade dieser Szene europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts la-
die Frage auf, ob der Bezug auf Tolstois Roman gern sich eine Fülle von weiteren intertextuellen
nicht durch den auf Prokofjews Oper gleichen Bezügen an. So verwenden beispielsweise die
Titels (1952) überlagert wird, in der dem Ball ein poetologischen Entwürfe zu den Simultan-Erzäh-
prägnantes Bild gewidmet ist; das ergänzende lungen ein Zitat aus Alfred de Vignys Gedicht La
Motiv des »Teppich[s] aus Krieg und Frieden«, colère de Samson, um Gegensatz und Komple-
das sich kaum in Tolstois Roman, wohl aber in mentarität der Geschlechter auf den Punkt zu
dessen Verfilmung durch King Vidor (1955) in bringen: »Es wird 〈der Mann〉 Sodom, 〈die〉 Frau
eben dieser Ballszene findet (TKA 3.1, 554, vgl. Gomorrha haben.« (TKA 4, 18) Daß die Autorin
Kommentar TKA 3.2, 956 f.), zeigt auch die Über- ihre Figur Miranda in Ihr glücklichen Augen
lagerung der literarischen Tolstoi-Rezeption Stendhals De l’amour lesen läßt (TKA 4, 261),
durch das Medium des Films. Bachmann zitiert verdeutlicht die »aus den Fugen geratene«, »ver-
die Verfilmung zudem auch in dem utopischen rückende Kopie« von Stendhals Konzept der
Motiv des vom Ich in seiner Liebe zu Ivan er- ›amour passion‹ in dieser Erzählung (Dusar
hofften, tatsächlich aber längst verlorenen ›gan- 1994, S. 44; vgl. Agnese 1996, S. 172ff.). Die
zen Lebens‹ (TKA 3.1, 311, vgl. 3.2, 933), das in Protagonistin der Erzählung Probleme Probleme
charakteristischer Polyphonie zugleich auf Rilke ist als spielerische Variation von Iwan Alexan-
anspielt (Brachmann 1999, S. 230), so daß sich drowitsch Gontscharows Oblomow (1859) ange-
insgesamt ein multidimensionales intermediales legt (Schneider 1999, S. 311), und der Name jenes
Verweisungsfeld ergibt. britischen Offiziers, in den sich die jugendliche
In ihren Frankfurter Vorlesungen hat Bach- Franziska Ranner im Buch Franza verliebt (Lord
mann Tolstoi (die Erzählung Die Kreutzersonate Percival Glyde; TKA 2, 188), eröffnet als Zitat des
mit ihrer Rahmenstruktur) und Dostojewski (die männlichen ›Schurken‹ aus Wilkie Collins’ Ro-
Herausgeberfiktion in den Aufzeichnungen aus man The Woman in White (1860) intertextuell die
einem Totenhaus) als zwei gegensätzliche Bei- Möglichkeit einer kritischen Gegenlektüre des
spiele für moderne Möglichkeiten der Ich-Erzäh- vermeintlich ›schönsten Frühlings‹ der Protago-
lung gegenübergestellt (W 4, 226 f.), und auffälli- nistin (TKA 2, 169) nach dem Ende des Zweiten
gerweise spiegelt sich diese Entgegensetzung Weltkriegs (Lennox 1988).
noch in dem intertextuellen Netz des Malina-
Romans, indem den potentiell utopischen Tol-
stoi-Zitaten Dostojewskis Aufzeichnungen aus ei-
268 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Frühe europäische Moderne: Baudelaire, Um so relevanter ist die Auseinandersetzung


Rimbaud u. a. Arthur Rimbauds mit eben dieser Geschichte der
Gewalt für Bachmanns Arbeit am literarischen
Trotz des Bewußtseins der historischen und kul- Kanon. Eine Reihe leitmotivisch wiederkehren-
turgeschichtlichen Differenz hat Ingeborg Bach- der Zitate aus Rimbauds Prosagedichtzyklus Une
mann ihr literarisches Selbstverständnis im Dia- saison en enfer durchzieht die Entwürfe zur Büch-
log mit den Autoren und Werken der Moderne nerpreisrede, zum Wüstenbuch und zum Buch
entwickelt – wie z. B. die literarhistorische An- Franza und später den Malina-Roman, schließt
lage ihrer Frankfurter Vorlesungen zeigt – und das Projekt einer literarischen Sittengeschichte
daher deren Vorgeschichte im 19. Jahrhundert, der Nachkriegszeit in den Todesarten mithin in-
vor allem im französischen Symbolismus, be- tertextuell an die radikale Kulturkritik dieses
sondere Bedeutung zugemessen. So fungiert französischen Symbolisten an und schreibt die
Charles Baudelaires Gedicht Le gouffre (Der Ab- Texte mit nordafrikanischem Schauplatz darüber
grund) aus der Sammlung Les fleurs du mal hinaus in die Tradition des Kritischen Exotismus
schon in Bachmanns Dissertation als paradigma- ein (Göttsche 1991, Allerkamp). Die Zitatmotive
tisches »sprachliches Zeugnis äusserster Darstel- »Die Weißen kommen« (Landungsmotiv; TKA 1,
lungsmöglichkeit des ›Unsagbaren‹« (Diss., 130) 180, 195, 257, 272, 283; TKA 2, 34, 73, 111) und
und wird in ihrem sprachphilosophischen Lud- »ich bin von niedriger Rasse« (Inferioritätsmotiv;
wig Wittgenstein-Essay 1953 noch einmal in die- TKA 1, 180, 195, 257, 283; TKA 2, 34) themati-
ser Funktion aufgerufen (W 4, 21). (In dem etwa sieren die Gewaltgeschichte des europäischen
gleichzeitigen Radioessay zu Wittgenstein tritt Kolonialismus in Afrika in deutlicher Nähe zur
ein Hölderlin-Zitat an seine Stelle; W 4, 116.) Neokolonialismuskritik Frantz Fanons – die Wei-
Schon im letzten Kriegswinter hatte die Jugend- ßen werden trotz ›Revolutionen‹ und ›Resolu-
liche diese Baudelaire-Lektüre als »Trost« emp- tionen‹ im Zeichen neokolonialer Globalisierung
funden (Tagebuch, zitiert in Höller 1999, S. 12), »auferstehen in einem braunen oder schwarzen
und noch in dem Gedicht Die gestundete Zeit ist Gehirn« (TKA 2, 111) –, wobei die dialektische
die Adaptierung von ›schwarzen‹ Motiven aus Umkehrung des Überlegenheitsanspruchs der
Baudelaires Le gouffre zu erkennen (Dorowin, (männlichen) Europäer in der Identifikation der
S. 103 f.). Besonders deutlich ist der literarische weiblichen Reisenden mit den unterworfenen
Dialog mit Baudelaire in Bachmanns erstem Ge- nicht-europäischen Kulturen die Kritik des Ras-
dichtband in dem Gedicht Tage in Weiß, das in sendenkens und des wirtschaftlichen wie kultu-
dem poetologischen Motiv des Flugs mit dem ren Imperialismus in durchaus problematischer
Albatros an Baudelaires Gedichte L’albatros und Weise mit einer Kritik des Geschlechterverhält-
Élevation anknüpft (Oelmann 1980, S. 16 f.; Bö- nisses überblendet (vgl. den Artikel »Postkolonia-
schenstein, S. 355), indem es zugleich die männ- lismus und Kritischer Exotismus«). Die Umkeh-
liche Sprecherposition der literarischen Tradition rung des Inferioritätsmotivs – »Der weiße Mann
verabschiedet (Gölz 1998, S. 235) und den Ästhe- ist inferior.« (TKA 1, 283) – führt schließlich zu
tizismus von Mallarmés Albatros-Gedicht Le einem neuen, dialektischen poetologischen Zi-
vierge, le vivace verwirft. In einem frühen Ent- tatmotiv – »Die Schönheit ist inferior« (TKA 1,
wurf zur Büchnerpreisrede hat Bachmann in der 247; vgl. TKA 3.1, 652; 3.2, 718) –, das sich mit
Form eines Gedankenspiels grundsätzlich dar- der Anspielung auf Rimbauds Prosagedicht Being
gelegt, daß angesichts der herrschenden Ge- beautous zum intertextuellen Entwurf einer zu-
schichte politischer und sozialer Gewalt der Äs- gleich ästhetischen und moralischen Utopie der
thetizismus der frühen Moderne »museal« ge- Schönheit als Grundlage des Glücks verknüpft.
worden ist: »wären doch diejenigen tot, deren Mit dieser dem weiblichen Ich in Malina einge-
Aufregungen noch aus dem Papier zittern und schriebenen Utopie steht auch das in diesem
lebendig die Parnassiens mit sanften melodiösen Roman neu hinzutretende leitmotivische Rim-
Sätzen, auf Marmorblumen und Kerzengeflacker baud-Zitat »Nous allons à l’Esprit« (Vergeisti-
mit Goldgewebtem, mit Parfums, wäre das so, gungsmotiv; TKA 3.1, 389, 438, 691) in Verbin-
wie schön könnte man sprechen. Es wär eine dung, indem es in der dialektischen Doppel-
andre Zeit.« (TKA 1, 171) figuration Ich/Malina dem überlebenden
Europäische Literatur vor 1900 269

männlichen Malina-Anteil den ›Geist‹, dem un- Bachmann nicht zuletzt zur Konturierung ihres
tergehenden weiblichen Ich aber die ›Schönheit‹ Geschlechterdiskurses im Todesarten-Projekt Be-
zuordnet und so die symbolische Ordnung der zug nimmt. So nennt sie einen Entwurf zu der
Todesarten-Ouvertüre zugleich auf die von Rim- Erzählung Das Gebell beispielsweise in ironi-
baud angezielte übergreifende Ebene einer Kritik scher Verkehrung des Titels von Tschechows Er-
der westlichen Kulturentwicklung bezieht. In den zählung Die Dame mit dem Hündchen »Die Frau
Zitatmotiven »ich bin in der Hölle« (TKA 1, 181, ohne Hund« (TKA 4, 279; zu Bachmanns Tsche-
258), »meine Höllenzeit« (TKA 3.1, 5) und »Ein chow-Ausgaben TKA 4, 629) und arbeitet im
Buch über die Hölle« (TKA 3.1, 505) überkreuzt Traumkapitel von Malina in der symbolischen
sich der Bezug auf Rimbauds Une saison en enfer Darstellung von Gewalt in Familie und Ge-
mit dem auf Dantes »Inferno« (Brachmann 1999, schlechterverhältnis intertextuell mit Ibsens Dra-
S. 247) und verleiht dem Sujet der »Todesarten« ma Wenn wir Toten erwachen (TKA 3.1, 548; vgl.
damit weitere historische Tiefe, während an an- Bauer, S. 86–106).
deren Stellen des Werks die Anspielung auf Rim- Quellen: Honoré de Balzac (o. J.): Die menschliche
bauds Gedicht Le bateau ivre zugleich Paul Ce- Komödie. Gesamtausgabe in 12 Bdn. (Hg.) Ernst San-
lans Übertragung mitmeint (W 4, 196; TKA 4, der. Gütersloh; – Jules Barbey d’Aurevilly (1907): Die
405; vgl. Weigel 1999, S. 409). Das Zitat eines Teuflischen. Aus dem Französischen von M. v. Berthof.
Einleitungsstichworts aus Une saison en enfer in Wien, Leipzig; – Johann Peter Eckermann (1981): Ge-
den Entwürfen zur Büchnerpreisrede – »Die Ge- spräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Le-
bens. 2 Bde. (Hg.) Fritz Bergemann. Frankfurt/M.; –
schichte einer meiner Verrücktheiten« (TKA 1, Arthur Rimbaud (1982): Sämtliche Dichtungen. Fran-
183; vgl. Rimbaud, S. 298) – verweist, wie Mo- zösisch und Deutsch. Hg. und übertragen von Walther
nika Albrecht herausgestellt hat, auf die noch Küchler. 6. Aufl. Heidelberg.
näher zu untersuchende stilistische Nähe zwi-
Literatur: Agnese (1996); Albrecht (1998); Brachmann
schen Rimbauds Prosagedichtzyklus und Bach- (1999); Dusar (1994); Gölz (1998); Göttsche (1991);
manns Text Ein Ort für Zufälle (Albrecht 1998, Gutjahr (1988); Höller (1987); Höller in Bachmann
S. 65, Anm. 24). Hans Höller hat darüber hinaus (1998a); Höller (1999); Oelmann (1980); Schneider
auf die bis in den Stil hineinreichende Ähnlich- (1999); Thiem (1972); Weigel (1999).
keit zwischen Rimbauds Seher-Brief und Bach- Andrea Allerkamp (1988): Stationen der Reise durch
die Ich-Landschaften – Zwischen Arthur Rimbaud und
manns Kriegsblinden-Preisrede hingewiesen
Ingeborg Bachmann. In: Literarische Tradition heute.
(Höller 1987, S. 150) und so deutlich gemacht, Deutschsprachige Gegenwartsliteratur in ihrem Ver-
daß ihr intertextueller Dialog mit Rimbaud auf hältnis zur Tradition. (Hg.) Gerd Labroisse und Ger-
poetologischen Übereinstimmungen beruht. hard P. Knapp. Amsterdam (= Amsterdamer Beiträger
Im intertextuellen Horizont von Bachmanns zur neueren Germanistik, 24), S. 159–179; – Edith
Werk finden sich darüber hinaus vielfältige an- Bauer (1998): Drei Mordgeschichte. Intertextuelle Re-
ferenzen in Ingeborg Bachmanns Malina. Frankfurt/M.
knüpfende und abgrenzende Zitate und Anspie-
u. a.; – Bernhard Böschenstein (1993): Ingeborg Bach-
lungen, die die intensive literarische Auseinan- mann und die moderne französische Lyrik. In: Gött-
dersetzung mit dem europäischen Kanon der frü- sche/Ohl (1993), S. 353–363; – Fabrizio Cambi (2000):
hen Moderne vor 1900 belegen. Die Lektüre Ein Ich zwischen Scheitern und Annäherung ans Wort:
Oscar Wildes schlägt sich beispielsweise im Re- Böhmen liegt am Meer. In: Kucher/Reitani (2000),
quiem für Fanny Goldmann in der Sprachrefle- S. 243–252; – Hermann Dorowin (2000): Die schwar-
zen Bilder der Ingeborg Bachmann. Ein Deutungsvor-
xion (TKA 1, 319, vgl. 599 f.) und in dem Motiv
schlag zu Die gestundete Zeit. In: Kucher/Reitani
des vergifteten chinesischen Buches aus Wildes (2000), S. 96–108; – Sara Lennox (1988): Bachmann
Roman The Picture of Dorian Gray nieder (TKA Reading/Reading Bachmann. Wilkie Collins’s The Wo-
1, 324; vgl. Marquardt/Bluhm), und der Nach- man in White in the Todesarten. In: German Quarterly
laßtext [Jede Jugend ist die dümmste] erinnert an 61, S. 183–192; – Ulrike Marquardt und Lothar Bluhm
Wildes Schrift The Soul of Man under Socialism (1997): Das vergiftete Buch. Zu einem intertextuellen
Spiel in Ingeborg Bachmanns zweitem Todesarten-Ro-
(Schneider 1999, S. 394). Zu berücksichtigen wä-
man. In: Wirkendes Wort 47, S. 353–358.
ren in diesem Zusammenhang auch die Anfänge Dirk Göttsche
des modernen Dramas bei Henrik Ibsen, August
Strindberg und Anton Tschechow (vgl. zu letz-
teren Schneider 1999, S. 128, 208, 290), auf die
270 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

4.3. Klassische Moderne kriegs und des Nationalsozialismus und ange-


sichts der gesellschaftlichen Entwicklung in der
Ingeborg Bachmanns Frankfurter Vorlesungen, Zeit des Kalten Krieges notwendig eine andere
ihre Kommentare zu ihrem eigenen Werk und als zuvor.
das extensive intertextuelle Verweisungsnetz ih- In bewußter Fortführung der »österreichischen
rer Texte zeigen gleichermaßen die zentrale Be- Tradition«, die schon immer »sehr europäisch«
deutung der ›klassischen‹ Moderne zwischen gewesen sei (GuI, 12), ist für Bachmann zudem
dem Fin de siècle und der Machtergreifung des die europäische Moderne (und hier vor allem die
Nationalsozialismus für ihr literarisches Selbst- französische) kaum weniger bedeutsam als die
verständnis. Die Fanny des ersten Todesarten- deutschsprachige, wenngleich letztere durch die
Romans, die als »Musterschülerin der neuen Li- in den Frankfurter Vorlesungen diskutierten Au-
teratur« »von Joyce und Kafka bis Michaux und toren und Werke präsenter und zugleich besser
Heissenbüttel« alles zur Kenntnis genommen hat erforscht ist. Vor dem Hintergrund der Absage an
und doch zugleich durch ihre »Geschädigten- das überholte Konzept der Nationalliteraturen
ecke« zu den weiblichen »Opfer[n] der Literatur« (W 4, 264) stimmt Bachmann auch dem »vehe-
einen eigenen Akzent setzt (TKA 1, 135), die Aga menten Einspruch, von Musil etwa,« gegen jene
Rottwitz des Goldmann/Rottwitz-Romans, die zu, die die österreichische Literatur »als eine
›selbstverständlich‹ über den Kanon der Mo- besondere eigene oder regionale gar […] de-
derne ›verfügt‹ (TKA 1, 433), und das weibliche klarieren« (Brief an Hans Rössner vom 1. 5.
Ich des Malina-Romans mit seiner umfassenden 1971). Auch wenn sie sich von der Ȇberanstren-
Bibliothek (TKA 3.1, 371, 511 f.) sind in diesem gung Hofmannsthals bei dem Versuch, die ver-
Sinne durchaus fiktive Reflexionsfiguren von störte geistige Tradition Europas noch einmal in
Bachmanns eigenen literarischen Interessen und seinem Werk zu erneuern« (W 4, 194), durch den
Kenntnissen. entstandenen historischen Abstand nach dem
Es ist vor allem die Wiener Moderne von Hugo Ende des alten Europa im Zweiten Weltkrieg
von Hofmannsthal bis Robert Musil, die Bach- unwiderruflich geschieden weiß (vgl. auch Tage-
manns Verständnis der literarischen Moderne buch; W 4, 69ff.), situiert sich Bachmanns Werk
insgesamt prägt und der sie sich maßgeblich ver- doch wie seines intertextuell in einem europäi-
pflichtet weiß, wobei sie zugleich jedoch die hi- schen Horizont der literarischen Moderne.
storische und literarhistorische Differenz der
Nachkriegsliteratur gegenüber der frühen Mo-
Österreichische Moderne: Hofmannsthal, Musil,
derne der ersten Jahrhunderthälfte deutlich her-
Roth u. a.
ausstellt. In den Formen der zitierenden Anknüp-
fung und der eigenständigen Weiterentwicklung, Wie sich Anknüpfung und Abgrenzung in Bach-
des Gegenentwurfs und der modifizierenden manns Verhältnis zur ›klassischen‹ Moderne mit-
Transposition führt ihr Werk einen intensiven einander verbinden, das zeigt besonders deutlich
literarischen Dialog mit Autoren und Werken der ihre Auseinandersetzung mit Hugo von Hof-
›klassischen‹ Moderne, für den die veränderten mannsthal. In den Frankfurter Vorlesungen ist es
Erfahrungen ihrer Generation – die Jugend im Hofmannsthals »berühmte[r] ›Brief des Lord
Krieg, das Wissen um die Verbrechen des Natio- Chandos‹«, der paradigmatisch die epistemologi-
nalsozialismus und die Kritik der fortdauernden sche Krise im Aufbruch der Moderne, deren Aus-
Gewalt in der modernen Gesellschaft – ebenso druck in einer literarischen Sprachkrise und zu-
wichtig sind wie das literarhistorische Denkmo- gleich die Verabschiedung des Ästhetizismus des
dell der Moderne, die fortlaufende Innovation späten 19. Jahrhunderts repräsentiert: »Der
der Problemstellungen und Ausdrucksmöglich- Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht
keiten der Literatur in ihrer Auseinandersetzung nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der ge-
mit den Problemen der Zeit. Die »neue Sprache«, samten Verhältnisse gegenüber.« (W 4, 188)
die nach Bachmanns Verständnis als Ausdruck Diese »gewaltige Umwälzung […] unserer gan-
eines ›neuen Geistes‹ die gesellschaftliche Rele- zen Anschauungswelt« (Moderne Rundschau,
vanz der »Literatur als Utopie« sichert (W 4, 192, 1. 4. 1891, zitiert nach Wunberg, S. 23) bleibt für
271), ist nach der Katastrophe des Zweiten Welt- Ingeborg Bachmann ebenso verbindliche Grund-
Klassische Moderne 271

lage der Moderne wie der fortdauernde »Konflikt Gleichwohl geht Bachmanns literarischer Dia-
mit der Sprache« (W 4, 191). Gleichwohl haben log mit Hofmannsthal weit über den Resonanz-
sich die Problemstellungen der Literatur seit raum der modernen Spachskepsistradition und
1900 verschoben: »Religiöse und metaphysische die Kritik an der ideologischen und ökonomi-
Konflikte sind abgelöst worden durch soziale, schen Funktionalisierung des ›Mythos Habsburg‹
mitmenschliche und politische.« (W 4, 190 f.) (Magris) hinaus. Schon früh ist bemerkt worden,
So schreibt Bachmann einerseits die von Hof- daß ihr Gedicht Große Landschaft bei Wien –
mannsthal, Karl Kraus und anderen Autoren der einer von Bachmanns eigenen Beiträgen zu ei-
Wiener Moderne begründete Tradition moder- nem symbolischen Österreich – Hofmannsthals
ner Sprachreflexion fort, und zwar sowohl in der Terzinen: Über Vergänglichkeit zitiert (Thiem
Form erkenntnistheoretischer Sprachskepsis 1972, S. 104), und zwar in einer charakteristi-
(z. B. in den Erzählungen Das dreißigste Jahr und schen Gegenbewegung: Wo es bei Hofmannsthal
Ein Wildermuth) als auch in Gestalt moralischer heißt: »Noch spür ich ihren Atem auf den Wan-
und ideologiekritischer Sprachkritik (vor allem gen« (Hofmannsthal, S. 21), antwortet Bach-
im Todesarten-Projekt und in den späten Ge- manns lyrisches Ich: »(Und ihren Atem spür ich
dichten), sowohl thematisch-motivisch als auch nicht mehr auf den Wangen!)« (W 1, 59). Das
in der sprachreflexiven Innovation der literari- »Eingangs-Statement« von Bachmanns »Zeitge-
schen Verfahrensweisen (vgl. Göttsche 1987). Im dicht« Herbstmanöver – »Ich sage nicht: das war
Sinne einer solchen produktiven Adaptation ist gestern.« (W 1, 36) – »stellt einen programmati-
beispielsweise auch die Figur Malina als Nach- schen intertextuellen Bezug zu Hugo von Hof-
fahre von Hofmannsthals Lord Chandos und als mannsthals Erstlingsdrama Gestern her« (Bartsch
»eine Art ›Sammelperson‹ der europäischen Mo- 2000, S. 90), welches die Behauptung seines Prot-
derne« interpretiert worden (Kohn-Waechter agonisten widerlegt: »Das Gestern lügt und nur
1992, S. 19; Höller 1987, S. 258). Andererseits das Heut ist wahr!« (Hofmannsthal, S. 218) Im
aber ist die geistige Welt vor allem des späteren Brunnenmotiv des Gedichts Früher Mittag (W 1,
Hofmannsthal mit dem alten Europa unterge- 44) klingt auch Hofmannsthals Weltgeheimnis an
gangen, so daß Hofmannsthal auch für das alte – »Der tiefe Brunnen weiß es wohl« (Hofmanns-
Habsburger Österreich steht, dessen anachroni- thal, S. 20; Sonnleitner, S. 116) –, und die dicho-
stische Reinszenierung im Vergangenheitskult tomische Bildwelt des Gedichts Paris erinnert an
der Zweiten Republik Gegenstand von Bach- Hofmannsthals Manche freilich (Reiniger, S. 71).
manns Satire ist (siehe z. B. den aus Malina her- Die Miranda der Erzählung Ihr glücklichen Au-
ausgenommenen Text Besichtigung einer alten gen ist als Anknüpfung nicht nur an Shakespeares
Stadt). Hierher gehören die ironischen Hof- The Tempest, sondern auch an die gleichnamige
mannsthal-Reminiszenzen des Malina-Romans, Figur aus Hofmannsthals frühem Drama Der
die anachronistische österreichische High Society Weiße Fächer gelesen worden (Agnese 1996,
um die Figur Antoinette Altenwyl, die ihren Na- S. 256); das Motiv des schützenden ›schwarzen
men der Kontraktion zweier Figurennamen aus Mantels‹ in der Binnenerzählung »Die Geheim-
Hofmannsthals Lustspiel Der Schwierige ver- nisse der Prinzessin von Kagran« in Malina (TKA
dankt (Helene Altenwyl und Antoinette Hechin- 3.1, 350) erinnert an die wiederkehrende Mantel-
gen) und in Salzburg die Premiere von Hof- Motivik bei Hofmannsthal, etwa in seinem Li-
mannsthals Jedermann besucht (TKA 3.1, 490, bretto Die Frau ohne Schatten (Brachmann 1999,
vgl. 3.2, 949 zu Bachmanns Hofmannsthal-Aus- S. 233), und auch Bachmanns Reflexion über den
gaben; vgl. auch Thau 1986, S. 38ff.). Ähnlich Gegensatz zwischen Deutschen und Österrei-
ironisch sind die Anspielungen auf den Jeder- chern steht in der Tradition Hofmannsthals
mann – die zweifellos mehr den österreichischen (Schmid-Bortenschlager, S. 23; Bannasch 1997,
Theaterkult treffen als Hofmannsthals Drama – S. 143). Schließlich hat man Hofmannsthals
im Buch Franza (TKA 2, 214), bzw. auf Hof- Frauenfiguren hinter »Bachmanns Wiederent-
mannsthals »Gräfin Altenwyl« und die »süßen deckung der […] Weisheit und Freiheit der
Mädel« aus Arthur Schnitzlers frühen Dramen in Frauen und einer lustvoll erfahrenen Geschlech-
den poetologischen Entwürfen zum Simultan- terdifferenz« im Simultan-Band vermutet (Höller
Band (TKA 4, 16). 1999, S. 150). Dagegen darf die Analogisierung
272 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

von Hofmannsthals ›Verstummen‹ als Lyriker mit diesem Roman seine kanonische Bedeutung für
dem vermeintlichen »Versiegen« von Bachmanns die literarische Moderne zu sichern, und sie er-
lyrischer Produktion (Klinger, S. 400) angesichts stellte für den Bayerischen Rundfunk Hörspielbe-
der inzwischen bekannt gewordenen lyrischen arbeitungen von Musils Dramen Die Schwärmer
Arbeiten der Autorin aus den 1960er Jahren als (1956) und Vinzenz und die Freundin bedeuten-
überholt gelten. der Männer (1958) (vgl. Rogowski 1990 und
In Anbetracht der offensichtlichen themati- 1995). Darüber hinaus spielt Musil in den poeto-
schen Gemeinsamkeiten – der Auseinanderset- logischen Überlegungen ihrer Frankfurter Vor-
zung mit dem Verhältnis der Geschlechter als lesungen eine entscheidende Rolle, verdankt die
Ausgangspunkt einer literarischen Sittenge- Autorin ihm doch ihren zentralen Begriff der
schichte der Zeit, der Verschränkung von Be- »Literatur als Utopie« (W 4, 271), und zwar der
wußtseinsdarstellung und Gesellschaftskritik »Utopie nicht als Ziel, sondern als Richtung«
und dem Interesse an Psychologie – ist es er- (W 4, 27), als ein beständiges Überschreiten der
staunlich, daß Arthur Schnitzler (nach bisheri- gegebenen Verhältnisse und ihrer »schlechten
gem Kenntnisstand) im intertextuellen Verwei- Sprache« (W 4, 260; vgl. den Artikel »Bachmanns
sungsnetz von Bachmanns Werk bei weitem nicht Utopiebegriff«). Vor diesem Hintergrund adap-
das gleiche Gewicht besitzt wie Hofmannsthal. tiert Bachmanns Entwurf einer zugleich sprach-
Bekannt sind hier nur die Anspielungen auf reflexiven und gesellschaftskritischen Poetologie
Schnitzlers Drama Reigen in Bachmanns Gedicht auf eigene Weise solche von der Autorin als zen-
gleichen Titels (W 1, 35) sowie in Malina als tral wahrgenommenen Aspekte von Musils Werk
symbolischer Intertext für die »universelle Pro- wie seine zugleich anthropologische und zeit-
stitution« im Geschlechterverhältnis der Nach- kritische Erkundung der »Moral der Moral«
kriegszeit (TKA 3.1, 615; vgl. Bannasch 1997, (W 4, 96), sein als »ziel-feindlich, beweglich«
S. 169ff.) und die Montage von Notenzitaten in charakterisiertes »Denken« als radikale Kritik des
demselben Roman als Anknüpfung an Schnitzlers »Denken[s] in geschlossenen Ideologien« (W 4,
entsprechendes Verfahren in seiner Erzählung 27), seine »taghelle Mystik« des »anderen Zu-
Fräulein Else (Lindemann 2000, S. 84ff.). Wenn stand[s]« (W 4, 26) und kontrapunktisch seine
dieser Befund sich bestätigen sollte, so scheinen »Utopie des gegebenen sozialen Zustands« als
die Klischees der Schnitzler-Rezeption (vor sei- Absage an den ekstatischen Austritt aus der gege-
ner Wiederentdeckung als Klassiker der Mo- benen Ordnung (W 4, 27; vgl. zu Bachmanns
derne in den 1960er Jahren) – Schnitzler als der Musilrezeption zusammenfassend Bartsch 1980;
überholte Chronist des alten Österreich und Au- Bartsch 1997, S. 24ff.; Agnese 1996, S. 103ff.).
tor der ›süßen Mädel‹ – der Autorin tatsächlich Hans Höller hat darüber hinaus gezeigt, wie
den Blick für die »Affinitäten« (GuI, 124) zwi- Bachmann in Musils Mann ohne Eigenschaften
schen seinem Werk und dem ihren verstellt zu »die beunruhigende Nähe von Liebe und Gewalt«
haben. entdeckt und wie ihre »zum damaligen Zeitpunkt
Um so entscheidender ist die Auseinander- ungewöhnliche Lesart des Romans« – »Alle Li-
setzung mit Robert Musil für Bachmanns lite- nien, die Musil nachgezogen hat, führen zum
rarisches Selbstverständnis und ihre Entwicklung Krieg« (W 4, 101) – ihr eigenes Thema des
als Autorin. Im Rückblick bezeichnet sie Musil als ›ewigen Krieges‹ präludiert (Höller 1999,
den »erste[n] Autor des 20. Jahrhunderts, den S. 71 f.).
[sie] gelesen« habe, und zwar bereits mit »fünf- Diese zentrale Bedeutung Musils für Bach-
zehn oder sechzehn Jahre[n]« (GuI, 124), so daß manns Poetologie spiegelt sich in vielfältigen in-
die Lektüre seines Romans Der Mann ohne Ei- tertextuellen Verweisungen. In der Lyrik zeigt
genschaften zur Initiationserfahrung in die lite- sich dies beispielsweise in der kontrastierenden
rarische Moderne wurde, zum »erste[n] Buch, Evokation eines Zitats aus Musils Drama Die
das in frühen Jahren einen ungeheuren Eindruck Schwärmer in der apokalyptischen Bildlichkeit
auf mich gemacht hat« (GuI, 56). Bachmann trug des Schlußstücks aus dem Zyklus Lieder auf der
in den frühen 1950er Jahren durch ihren Essay Flucht: Wo Musils Thomas vom »stumme[n]
Ins tausendjährige Reich und durch den Radio- Steigen und Sinken von Gestirnen um dich«
Essay Der Mann ohne Eigenschaften dazu bei, spricht (Musil, Bd. 6, S. 331), pointiert Bach-
Klassische Moderne 273

manns lyrisches Ich: »Nur Sinken um uns von Schicksal des Helden« verknüpft, einen »unmaß-
Gestirnen.« (W 1, 147; vgl. Thiem 1972, S. 118 f.) geblichen Menschen« zum »Spiegelmenschen«
Dem Protagonisten und der Handlungsführung der »Welt seiner Zeit« macht (W 4, 90, 86), so
der Erzählung Das dreißigste Jahr mit ihrer betreiben die Texte des Todesarten-Projekts ins-
Rückwendung von Erlebnissen des ›anderen Zu- gesamt eine literarische Sittengeschichte Öster-
stands‹ zur ›Utopie des gegebenen Zustands‹ ist reichs und Deutschlands nach dem Zweiten
(neben anderen Vorbildern aus der Literatur der Weltkrieg im Spiegel von »unmaßgeblichen Men-
Moderne) auch Musils Ulrich eingeschrieben schen« der Nachkriegszeit. Die Verbindung von
(vgl. Bartsch 1986, S. 130 f.; Bartsch 1997, S. 114). Bewußtseinsroman und Zeitroman in Malina
Die Antithetik von (ekstatischen) Grenzüber- etwa zielt nicht minder auf eine hochgradig re-
schreitungen und »positive[r] Resignation« flektierte, kritische Gesamtbilanz der gesell-
(Schulz, S. 238) in den Erzählungen des Bandes schaftlichen und kulturellen Verhältnisse als in
Das dreißigste Jahr steht insgesamt im Horizont seinem viel größeren Rahmen Musils Roman-
von Bachmanns Musil-Rezeption. fragment.
Die Spuren dieser intensiven Rezeption rei- Immer wieder hat Bachmann sich darüber hin-
chen bis tief in das Todesarten-Projekt und seine aus literarisch mit Musils ›tagheller Mystik‹ und
Ouvertüre Malina hinein. Dort zitieren beispiels- seinem Begriff des ›anderen Zustands‹ ausein-
weise die utopischen Projektionen des Erzählers andergesetzt. Indem Erlebnisse des ›anderen Zu-
– die Menschen »werden sich in die Lüfte heben, stands‹ als ›Grenzfälle‹ des alltäglichen Lebens
sie werden unter die Wasser gehen« (TKA 3.1, die herrschende »Ordnung« aufsprengen und die
426 f.) – Musils Bildlichkeit (Bartsch 1997, gedachten Grundlagen unserer Welt in Frage
S. 79 f.), und das weibliche Ich übernimmt in stellen, erlauben sie der Literatur, jenes »Wider-
seinen Briefen jenen »alte[n] Spruch«, den Aga- spiel des Unmöglichen mit dem Möglichen« in
the ihrem Bruder Ulrich vorliest: »wirf alles, was Gang zu setzen, durch das die Literatur im Sinne
du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen« (TKA 3.1, von Bachmanns Utopiebegriff »unsere Möglich-
459; vgl. Musil, Bd. 3, S. 863). Wenn in den keiten« erweitert (W 4, 276). Schon in der frühen
frühen Romanentwürfen ein »Schatten über [Ma- Erzählung Die Karawane und die Auferstehung
linas] Schulter [fällt]« und der männlichen Hälfte erinnert das akustisch vermittelte mystische Er-
der entstehenden Doppelfigur Ich/Malina bei der lebnis des Knaben in diesem Sinne an Musils
literarischen Arbeit hilft (TKA 3.2, 9), so klingt Erzählung Die Amsel (Bartsch 1997, S. 46 f.). Im
darin Ulrichs Wahrnehmung Agathes als »die Kontext dieses Aspekts von Bachmanns Musil-
schattenhafte Verdopplung seiner selbst« an (W Rezeption ist aber vor allem das Hörspiel Der
4, 26). Solche Anspielungen – und es werden gute Gott von Manhattan diskutiert worden, das
noch weitere vermutet (Brachmann 1999, den ekstatischen Entwurf eines ›anderen Zu-
S. 226ff.) – verleihen der Diskussion einer »(tie- stands‹ der Liebe als Provokation der herrschen-
fen-) strukturelle[n] Übereinstimmung« zwi- den Ordnung mit einer subtilen Kritik am »Aus-
schen Musils Roman und Bachmanns Todesarten- tritt aus der Gesellschaft« (W 4, 276) verbindet
Ouvertüre als innovativer literarischer »Denk- (vgl. z. B. Bartsch 1997, S. 82ff.; Weigel 1999,
versuche« (W 4, 194) zusätzliches Gewicht S. 216 f.; Schneider 1999, S. 153 f.). Diese »Poli-
(Bartsch 1980, S. 166; vgl. Rußegger, Beck). tisierung der Liebe« hat ihr Vorbild in Musils
Diese Strukturanalogien rühren einerseits von eigenen Tagebuchüberlegungen zur Kraft der
Entsprechungen im Sujet her – wenn der »Weg Liebe, eine andere »Weltorientierung« hervor-
des Denkens« für Musils Ulrich Bachmann zu- zubringen (Höller 1987, S. 118), und zugleich in
folge »mit dem Weg der Liebe zusammen[fällt]« dem Nachlaßkapitel »Reise ins Paradies« des
(W 4, 26), so treten beide Wege für das weibliche Manns ohne Eigenschaften (Strutz). Die »mit
Ich in Malina aporetisch auseinander und sind dem Vorzeichen des Unmöglichen versehen[e]«
doch gerade in ihrem Konflikt aufeinander be- Liebesutopie, die das weibliche Ich in Malina zur
zogen –, andererseits von gattungsgeschichtli- Geltung zu bringen versucht, zeigt dann die cha-
chen Parallelen: Wie Musil in seinem Mann ohne rakteristische Überlagerung mehrfacher intertex-
Eigenschaften nach Bachmanns Beobachtung tueller Bezüge durch die Verbindung von Ele-
Kulturgeschichte mit dem »individuelle[n] menten von Musils Konzept des ›anderen Zu-
274 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

stands‹ mit solchen aus der frühromantischen (siehe W 4, 89) modifizierend fortschreibt (vgl.
Liebesutopie des Novalis (Schmaus 2000, S. 153). Fanta). Die von Musil inspirierte Stilisierung
Mit Bezug auf die Regine der Schwärmer und die Österreichs zu »einem kleinen Land, das, um es
Agathe des Manns ohne Eigenschaften ist das überspitzt zu sagen, bereits aus der Geschichte
weibliche Ich auch als »Musils Stimme« in dem ausgetreten ist und eine übermächtige, mon-
Roman Malina gelesen worden (Behre 1992, ströse Vergangenheit hat«, der Autorin aber
S. 218ff.). als eben dieses »einstige geschichtliche Experi-
Da Musil auch das scheiternde Experiment der mentierfeld« »mehr und Genaueres über die
Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe im Gegenwart zu sagen hat« als beispielsweise
Mann ohne Eigenschaften als einen ›anderen Zu- Deutschland (GuI, 63 f.), diese Modifikation des
stand‹ darstellt, schließen sich Anspielungen auf literarischen ›Mythos Habsburg‹ schlägt sich bei-
dieses Motiv und insbesondere auf Musils ent- spielsweise im ersten Todesarten-Roman in dem
sprechendes Nachlaßgedicht Isis und Osiris, das Motiv eines Geheimbunds nieder, der Öster-
schon Bachmanns Radio-Essay zu Musils Roman reichs »Austritt aus der Geschichte« betreibt
zitiert (W 4, 98 f.), an, zumal hier das utopische (TKA 1, 97) und dem Roman darin als Instrument
literarische Modell eines anderen, auf Gleich- der Zeitkritik dient (Göttsche 2000). Gleichwohl
wertigkeit und Gegenseitigkeit beruhenden Ge- bezeichnet das multikulturelle Zusammenleben
schlechterverhältnisses gegeben ist. In Bach- der Völker im alten Habsburgerreich auch für
manns Gedicht Das Spiel ist aus etwa fungiert Bachmann, was ihr im Kleinen das Dreiländer-
Ulrichs und Agathes Liebe als Folie für die »›posi- und Dreispracheneck ihrer Herkunft bedeutete:
tive Konstruktion‹ einer Gegenwirklichkeit« zur »ein Stück wenig realisiertes Österreich« (W 4,
herrschenden Ordnung der Gewalt (Oberle 1990, 302), das vor allem in der Erzählung Drei Wege
S. 50; vgl. Bothner 1986, S. 206ff.). Das Zitat von zum See in Anknüpfung an Joseph Roth noch
Musils Gedicht spielt dann im Buch Franza eine einmal als ein zeitkritisches Reflexionsmodell
leitmotivische Rolle als intertextueller »Kult- österreichischer Geschichte und Identität fun-
Satz« der Geschwister Franziska und Martin Ran- giert.
ner (TKA 2, 84, 150, 204, 254), die Musils ägypti- Bachmann hat ihre große Erzählung Drei Wege
sierender Utopie einer vollkommenen Vereini- zum See um die Lebenskrise einer international
gung der Geschlechter aber gerade nicht zu erfolgreichen Fotojournalistin als literarische
entsprechen vermögen: »Die Liebe als Vernei- Fortschreibung von Joseph Roths zeitkritischen
nung, als Ausnahmezustand, kann nicht dauern. Österreich-Romanen Radetzkymarsch (1932)
Das Außer-sich-sein, die Ekstase währen – wie und Die Kapuzinergruft (1938) angelegt, indem
der Glaube – nur eine Stunde.« (W 4, 27; vgl. sie nicht nur Roths Figurenarsenal und Topo-
Bartsch 1997, S. 67) Die »mit der Geschwister- graphie in die Gegenwart transponiert, sondern
liebe verbundene Vorstellung des ›Sich-im-affi- auch seine mythisierende Auseinandersetzung
nen-Anderen-Wiederfindens‹« ist in der erzähl- mit dem Untergang der Habsburgermonarchie
ten Gegenwart des Franza-Romans »nur noch als und deren fortdauernder Bedeutung für eine
erinnerte Utopie« präsent (Schmaus 2000, österreichische Identität in kritischer Wendung
S. 125). In einer anderen Lektüre evoziert das aufgreift (Omelaniuk 1983; Lensing 1985; Thau
Zitat des Schlußverses von Isis und Osiris – »Und 1986, S. 48ff.; Bannasch 1997, S. 150ff.). Die
er ißt ihr Herz, und sie das seine« (Musil, Bd. 6, stoffliche Anknüpfung hat Bachmann in einem
S. 465) – das »grausame Gesetz der Kunst« mit Interview selbst benannt: »Roths ›Kapuziner-
seinem »notwendigen Konnex von Untergehen gruft‹ endet damit, daß dieser Trotta, als 1938 die
und Überdauern, von Sterben und Gerettetsein, Deutschen kommen, weiß, daß seine Welt unter-
von Tod und ewigem Leben« (Höller 1987, geht. Bei Roth erfahren wir nun, daß er sein Kind
S. 270). ins Exil nach Paris schickt. Nun habe ich mir
Auch in ihrer literarischen Auseinandersetzung überlegt: was geschieht weiterhin mit diesem
mit Österreich knüpft Bachmann an Musil an, jungen Trotta?« (GuI, 121) Dieser mit den sym-
indem sie die Transformation der Habsburger- bolischen Vornamen Franz Joseph Eugen belegte
monarchie in das zeitkritische Denkmodell junge Trotta wird in Bachmanns Fortschreibung
»Kakanien« aus dem Mann ohne Eigenschaften zum entscheidenden Mentor der Protagonistin,
Klassische Moderne 275

indem er ihr auf der Folie seiner eigenen Heimat- klisch aneinander anschließende Familienro-
losigkeit als ein in Frankreich lebender Exilant mane strukturiert –, sondern eines topographi-
des alten Habsburger Österreich sowie als schar- schen, in welchem der Kulturraum selbst als
fer, aber verbitterter Kritiker des neuen Öster- geschichtlicher hervortritt (Nutting, S. 80; Bro-
reich und der Nachkriegszeit insgesamt dazu ver- koph-Mauch, S. 194; Weigel 1999, S. 402). Im
hilft, ihre eigene Verwurzelung in dem rückblik- übrigen kann Roths Verfahren des zyklischen Er-
kend mythisierten ›Österreich‹ der Kaiserzeit zu zählens, in dem ein Text den anderen im Rahmen
entdecken, eine verschüttete geistige Heimat, der eines wiederkehrenden Figurennetzes und einer
sie ihre »Moral« (TKA 4, 418) und ihren spezifi- rekurrierenden Topographie (Galizien/Wien) er-
schen »Erfahrungsfundus, Empfindungsfundus« gänzt und kommentiert, als eines der Vorbilder
(GuI, 63) verdankt. In der Folge der Faszination für Bachmanns eigenes zyklisches Erzählen in
durch und Auseinandersetzung mit Franz Joseph den Todesarten gelten (vgl. Göttsche 1992).
Eugen Trotta und seinen ebenfalls an Roth an-
schließenden Spiegelfiguren – ihrem altöster-
Lyriker der Moderne: Trakl, Rilke, Benn,
reichischen Vater, ihrem zeitweiligen Liebhaber
Brecht u. a.
Manes und dem sie vergeblich liebenden Branco
Trotta als kontrapunktischem Repräsentanten der Auf ihr Verhältnis zur Naturlyrik und auf die
für Franz Joseph Eugen geschichtlich verlorenen, »Ähnlichkeit einzelner lyrischer Bilder« in ihren
›gesunden‹ slowenischen Heimat (TKA 4, 353) – Gedichten mit Klassikern der Moderne ange-
wird sich die Protagonistin ihrer realen Heimat- sprochen, hat Ingeborg Bachmann sich 1964 –
losigkeit bewußt und gewinnt doch zugleich neue wie andernorts gegen das rhetorische Zitieren –
Selbstsicherheit aus der »geistige[n] Formation« gegen den Begriff der »Vorbilder« verwahrt:
der österreichischen Tradition (GuI, 79). Bemer- »Aber die Vorbilder, die einem von Kritikern vor-
kenswerterweise ist der Franz Joseph Eugen gehalten werden, das sind nicht nur Else Lasker-
Trotta der Erzählung nicht nur die Zentralfigur Schüler, nicht nur Trakl, sondern noch vierzig
der Österreichthematik, sondern als radikaler andere. Mit Trakl ist es vielleicht etwas anderes.
Zeitkritiker zugleich ein Instrument von Bach- Ich meine weniger, daß er ein Vorbild für mich
manns Medienkritik, die sich hier an der ideo- ist, aber daß er aus dem Sprachklima kommt, das
logischen Funktion und moralischen Unverant- sicher auch das meine ist, das österreichische in
wortlichkeit der Berichterstattung aus dem Alge- einem sehr weiten Sinn.« (GuI, 45) Zwar spielen
rischen Bürgerkrieg entzündet (TKA 4, 384 f.). Österreicher ›im sehr weiten Sinn‹ wie Trakl und
Diese literarische Medienkritik hat in Joseph Rainer Maria Rilke für Bachmanns literarischen
Roths »Polemik ›Über das Dokumentarische‹« Dialog mit der lyrischen Moderne eine beson-
eines ihrer Vorbilder (Bannasch 1997, S. 109). dere Rolle (wie für alle Lyriker ihrer Genera-
Zusätzliches Gewicht erhält die Auseinanderset- tion), doch erfaßt ihre intertextuelle Arbeit am
zung mit der Geschichte der Gewalt im 20. Jahr- Kanon der Moderne auch andere Autoren wie die
hundert aus der Perspektive österreichischer Antipoden Gottfried Benn und Bertolt Brecht,
Zeiterfahrung durch den Verweis auf den Essay zwischen denen man ihre Lyrik zu situieren ver-
»Die Tortur« des ebenfalls exilierten Österrei- sucht hat (Belluzzo, S. 117).
chers Jean Améry, der die ›Stimme Trottas‹ in die Obwohl der Expressionismus für Bachmanns
Realität transponiert (TKA 4, 389; vgl. Heidelber- literarische Entwicklung insgesamt eine ver-
ger-Leonard 1993). Diese Überlagerung der in- gleichsweise geringe Rolle gespielt zu haben
tertextuellen Bezüge zu Roth und Améry unter- scheint, sind in der Lyrik expressionistische Spu-
streicht die Abgrenzung Bachmanns von Joseph ren entdeckt worden, so in dem frühen Nachlaß-
Roths Österreich-Nostalgie und die im Sinne von gedicht Ängste (Kohn-Waechter 1992, S. 48), in
Bachmanns Musilrezeption utopische Funktion der Motivik der »Weltangst« etwa in dem Gedicht
der Erzählung als geschichtliche »Erinnerungs- Hinter der Wand (W 1, 15), in der Sturz- und
arbeit« an den Gewalterfahrungen des 20. Jahr- Schrei-Motivik des Gedichts Die große Fracht aus
hunderts, nun allerdings nicht mehr, wie bei dem ersten Lyrikband Die gestundete Zeit (W 1,
Roth, im Medium eines genealogischen Ge- 34) oder in dem Zeilenstil des Gedichts Erklär
schichtsmodells – Roths Zeitromane sind als zy- mir, Liebe aus dem zweiten Gedichtband (W 1,
276 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

109 f.; vgl. Bothner 1986, S. 127, 175; Oberle xiven Prozeß der »Literatur als Utopie« (W 4,
1990, S. 6). Ein früher Versuch der Forschung, 271) wird in Anlehnung an diesen Roman formu-
auch in Bachmanns Erzählprosa der 1950er und liert: »Was wir das Vollendete in der Kunst nen-
frühen 1960er Jahre »wiederkehrende expressio- nen, bringt nur von neuem das Unvollendete in
nistische Elemente« nachzuweisen (in Motivik, Gang.« (W 4, 268) Malte schreibt analog: »Um
Namensgebung und Montagetechnik, in den Stil- alles Fertige steigt das Ungetane und steigert
techniken der Steigerung, des Imperativischen sich.« (Rilke 1966, Bd. 6, S. 929) Entsprechend
und des Gestischen; Schulz, S. 239 f.), ist seither ihrer Ablehnung des Ästhetizismus (TKA 1, 171)
nicht wieder aufgegriffen worden. Offensichtlich ist Bachmanns intertextueller Dialog mit Rilke
ist dagegen der Trakl-Ton in Bachmanns frühem vor diesem Hintergrund in ähnlicher Weise von
Gedicht Betrunkner Abend mit seiner charak- Gegenentwürfen geprägt wie der mit Hofmanns-
teristischen Farb-, Blut-, Nacht-, Gewalt- und thal. So kehrt ein früher Entwurf zum Buch
Familienmotivik (W 1, 14). Ulrich Thiem weist Franza mit dem Satz »Tot ist, wer liebt, nur der
darüber hinaus im lyrischen Werk 15 Trakl-Zitate Geliebte lebt« (TKA 2, 4) beispielsweise die Me-
nach, die von Trakls Blau über Stern- und Stirn- taphysik der Liebe in Rilkes Malte um, die ja
motive bis zum Motivkreis Tod und Mord reichen ihrerseits als ›Umwertung‹ der Liebe konzipiert
und so insgesamt die erhebliche Bedeutung von war: »Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr.
Trakls Bildlichkeit für die Entwicklung von Bach- Ach, daß sie sich überstünden und Liebende
manns eigener lyrischer Sprache belegen (Thiem würden. Um die Liebenden ist lauter Sicherheit.«
1972, S. 258 f.). So evoziert beispielsweise das und »Geliebtwerden ist vergehen, Lieben ist dau-
erste der Lieder auf der Flucht mit dem Einbruch ern.« (Rilke 1966, Bd. 6, S. 924, 937) In Malina
des Winters in den Süden (W 1, 138) Trakls klingt in der Motivreihe, in der das weibliche Ich
Wintergang in a-moll (Thiem 1972, S. 111), und zunächst glaubt, im »Zeichen« von Ivan im Sinne
der Monolog des Fürsten Myschkin greift in den ihrer Metaphysik der Liebe »siegen« zu können
Zeilen »Blaue Steine flogen nach mir und er- (TKA 3.1, 303), dann aber das von Malina einge-
weckten mich vom Tode. / Sie rührten von einem forderte Konzept des ›Siegens‹ als Selbstbehaup-
Sternengesicht, das zerbrach.« (W 1, 72) Trakls tung angesichts ihres sich abzeichnenden Unter-
Prosagedicht Traum und Umnachtung auf, ohne gangs ablehnt (TKA 3.1, 663 f.), in der Form der
aber die Jugendstilrelikte in Trakls Bildlichkeit Kontrafaktur auch der bekannte Schlußvers von
fortzuschreiben (Thiem 1972, S. 122). In ähn- Rilkes Requiem für Wolf Graf Kalckreuth an:
lichem Sinne ist Bachmanns Psalm als Gegenent- »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.«
wurf zur Morbidität von Trakls Psalm-Gedichten (Rilke 1966, Bd. 1, S. 664) Bachmanns Gegenent-
interpretiert worden (Weigel 1999, S. 163 f.). Als wurf gilt aber nicht nur Rilkes Liebesmetaphysik,
Trakl-Reminiszenzen werden auch die Blau-, sondern auch seiner Metaphysik der Kunst. Dies
Dunkel- und Dornmotivik der Kagran-Legende zeigt insbesondere die Form, in der das dichte
(TKA 3.1, 354ff.) und die Motivik des Stürzens intertextuelle Verweisungsnetz des poetologi-
im Traum des Ich vom Tod seines Kindes Animus schen Schlußstücks von Bachmanns Gedichtzy-
in Malina verstanden (TKA 3.1, 556 f.; vgl. Kohn- klus Lieder auf der Flucht Rilkes 19. Sonett an
Waechter 1992, S. 163 f.; Schottelius 1990, Orpheus (»Wandelt sich rasch auch die Welt«)
S. 101). aufnimmt. Rilkes immer noch ästhetizistisch ge-
Erheblich ambivalenter ist Bachmanns Verhält- tönter Apotheose der Kunst – »Einzig das Lied
nis zu Rainer Maria Rilke, von dem sie sich »sehr überm Land / heiligt und feiert« (Rilke 1966, Bd.
weit entfernt« fühlt, und doch durch die öster- 1, S. 743) – stellt Bachmann die radikalere Vision
reichische Tradition verbunden (GuI, 32). Zu- einer die Apokalypse und damit die Menschheit
sammen mit den Werken von Hofmannsthal, Mu- überdauernden Dichtung gegenüber: »Doch das
sil und Benn wird Rilkes Roman Die Aufzeich- Lied überm Staub danach / wird uns überstei-
nungen des Malte Laurids Brigge in den gen.« (W 1, 147; vgl. Thiem 1972, S. 119)
Frankfurter Vorlesungen als ein Grundtext der Thiem hat in Bachmanns Lyrik insgesamt 16
Moderne gewürdigt (W 4, 190), und auch die Rilke-Zitate aus den Sonetten an Orpheus, den
beständige Selbstüberschreitung der künstleri- Duineser Elegien, dem Stundenbuch und anderen
schen Ausdrucksmöglichkeiten im sprachrefle- Werken identifiziert (Thiem 1972, S. 256ff.) und
Klassische Moderne 277

damit die Bedeutung dieses Dialogs für Bach- Wie komplex das intertextuelle Verhältnis von
manns Selbstpositionierung in der Tradition der Anregung und Abgrenzung, von wahrgenomme-
Moderne herausgestellt. Charakteristischerweise nen »Affinitäten« (GuI, 125) und entschiedenen
steht die Anknüpfung an Rilkes Utopie der ret- Differenzen sein kann, das erhellt exemplarisch
tenden Dichtung in Bachmanns Gedicht Mein Bachmanns Auseinandersetzung mit jenen zwei
Vogel neben der Absage an sein poetologisches Antipoden der ›klassischen‹ Moderne, deren
Konzept eines ›Sagens der Dinge‹ in Tage ein Werk und Wirkung in die Nachkriegszeit hinein-
Weiß (Oelmann 1980, S. 22, 52). Die Spuren der reicht, so daß die literarische Rezeption hier zwei
Rilke-Rezeption reichen von frühen Gedichten mächtigen Zeitgenossen gilt: Gottfried Benn und
wie Offenbarung (N157) und [Die Welt ist weit] Bertolt Brecht, zu dessen Gedichten sie 1969 ein
über die Orpheusgestalt in Dunkles zu sagen oder Vorwort entworfen hat (W 4, 365ff.). Ein Brief an
das Motiv der Lupinen in Die gestundete Zeit Heinrich Böll aus dem Jahr 1956 bringt sehr
(Bothner 1986, S. 120, 145 f.; Höller 1999, S. 79; deutlich ihr ambivalentes Verhältnis zu diesen
Reininger, S. 70) bis zu Zitatmotiven am Ende der beiden Klassikern der Moderne zum Ausdruck,
Kagran-Legende in Malina, wo sich die Rilke- deren Werk für sie Anstoß und Herausforderung
Reminiszenzen mit den Paul Celan-Zitaten zu war, ohne für ihre eigene lyrische Sprache als
einem intertextuellen Feld verschränken (Kohn- Angehörige der jungen Nachkriegsgeneration
Waechter 1992, S. 45, 162; Höller 1999, S. 62). noch verbindlich sein zu können: »Überhaupt,
An anderer Stelle des Romans überkreuzt sich in Brechts Tod, und auch Benns, wenn man will –
dem Leitmotiv des vom Ich erhofften utopischen, jetzt sind alle Alten tot bei uns. Dran hängt sich
aber unrealisierbaren ›ganzen Lebens‹ (TKA 3.1, eine Menge Nachdenken.« (Brief vom 25. 8. 1956
311) die Anspielung auf King Vidors Verfilmung an H. Böll)
von Tolstois Roman Krieg und Frieden (Kommen- In ihren Frankfurter Vorlesungen hat Bach-
tar TKA 3.2, 933) mit einer weiteren Überblen- mann die Bedeutung von Benns »Rönne«-Novel-
dung von Rilke- und Celan-Zitaten, der Anspie- len im Kanon der modernen Prosa unterstrichen
lung auf Celans Gedicht Das ganze Leben und (W 4, 190) und als positives Erbe seines Ästhe-
dem darin möglicherweise bereits mitgedachten tizismus die »Gewißheit« hervorgehoben, »daß
Zitat aus Rilkes Portugiesischen Briefen: »Ach, man mit guter Gesinnung noch lange kein gutes
warum willst du nicht, daß es das ganze Leben Gedicht macht« (W 4, 214). Dagegen steht jedoch
sei?« (Rilke 1979, S. 37; vgl. Brachmann 1999, die scharfe Kritik an dem historischen Zusam-
S. 230) Schließlich ist darauf aufmerksam ge- menhang zwischen Ästhetizismus und Faschis-
macht worden, daß das groteske Berlin der Büch- mus in der europäischen Moderne, in der es für
nerpreisrede Ein Ort für Zufälle von Maltes ab- Autoren wie »Gottfried Benn und Ezra Pound«
gründigem Erlebnis der modernen Großstadt Pa- »nur ein Schritt war aus dem reinen Kunsthim-
ris mitgeprägt ist (Höller 1987, S. 220). mel zur Anbiederung mit der Barbarei« (W 4,
Zweifellos ist Ingeborg Bachmanns literari- 206). Gegen das Benn zugeschriebene l’art pour
scher Dialog mit der Lyrik der Moderne noch bei l’art setzt die Autorin ihr moralisches Verständnis
weitem nicht erschöpfend erforscht. Ulrich der Literatur und deren Verpflichtung auf die
Thiems Register von 14 Zitaten aus dem Werk »Schuldfragen« der Geschichte (ebd.). Hier steht
Else Lasker-Schülers und von 15 weiteren zu ihre abgrenzende poetologische Selbstreflexion
Oskar Loerke (Thiem 1972, S. 253ff.) verdeut- durchaus im Einklang mit ihrer literarischen
licht schlaglichtartig den Forschungsbedarf, und Wirkung, denn ihr Erfolg als neue Stimme der
seine Funde intertextueller Bezüge zu Gedichten deutschsprachigen Lyrik in den Jahren 1953/54
von Ferdinand von Saar, Georg Heym und Ger- ist durch die Abwendung von der »die Schwere
trud Kolmar (ebd., S. 106 f., 114, 111, 121 f.), die der Alltagswirklichkeit scheinbar weitgehend
Entdeckung kontrapunktischer Bezugnahmen auf ausklammernden Naturlyrik in der Nachfolge des
Stefan George (Oberle 1990, S. 94), von dessen 1941 verstorbenen Oskar Loerke und von der
Kunstreligion Bachmann sich entschieden absetzt radikal realitätsenthobenen Artistik eines Gott-
(W 4, 186, 196), wie auch die Spuren der Lektüre fried Benn« entscheidend mitbegründet (Bartsch
moderner französischer Lyrik (Böschenstein) 1997, S. 50). Bachmanns intertextueller Dialog
zeigen die Notwendigkeit weiterer Untersu- mit Benn vollzieht sich daher einerseits in der
chungen.
278 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Abgrenzung. So kann ihr Gedicht Die blaue Schneider 1999, S. 109). Dagegen begeistert sie
Stunde beispielsweise geradezu als eine Parodie sich z. B. für Brechts frühes Drama Im Dickicht
auf Benns Gedichte Blaue Stunde und Anemone der Städte, »das auf der Bühne (mehr als beim
gelesen werden (Thiem 1972, S. 125; Oberle Lesen) aufgeht wie eine Orchidee, wild und
1990, S. 118). Das bereits zitierte poetologische schön und chaotisch, man zittert drei Stunden,
Schlußstück des Zyklus’ Lieder auf der Flucht weil man wirklich der Explosion einer neuen
wendet sich »unverkennbar gegen Gottfried Sprache beiwohnt, einem Geniestreich, der mich
Benns Kunstmetaphysik« (Höller 1999, S. 100), mehr ergriffen hat als all die guten rühmlichen
und die im »Wechselbezug von Sprache und Stücke aus der späteren Zeit« (Brief an Joachim
Liebe« gefundene »dialogische und sprachutopi- Moras vom 23. 11. 1960). Entsprechend stellt ihr
sche Poetologie der Autorin« »widerspricht […] Vorwortentwurf zu einer geplanten Anthologie
diametral« Benns Entwurf des absoluten Ge- von Brechts Lyrik den Lyriker Brecht, dem ihr
dichts (Oberle 1990, S. 289). Andererseits gehen Hauptinteresse gilt, in die Tradition Friedrich
die von Thiem aufgeführten Benn-Zitate in Bach- Hölderlins als Repräsentanten ihres eigenen Ent-
manns Lyrik – die Intertextualität zwischen wurfs der »Literatur als Utopie«, als ›Vorbild‹ für
Bachmanns Gedicht Die große Fracht und Benns die Möglichkeiten der Literatur als »Ausdrucks-
expressionistisch getöntem Gedicht Das späte Ich traum«, als »vieltausendjährige[r] Virus gegen
etwa oder die zwischen ihrem Reigen und seinem die schlechte Sprache« der sozialen und politi-
Gedicht Liebe – nicht im Gegenentwurf auf schen Wirklichkeit (W 4, 367).
(Thiem 1972, S. 251 f.; Bothner 1986, S. 10, 145, Im Herbst 1954 ist Brecht mit Bachmanns Ge-
175), sondern zeigen einen differenzierteren Dia- dichten des Bandes Die gestundete Zeit weniger
log. Tatsächlich hat die Forschung sowohl An- ehrfurchtsvoll umgegangen, indem er sie durch
klänge an den Benn der 1930er Jahre festgestellt Unterstreichungen auf jene Verse reduzierte, die
(etwa in Ausfahrt; vgl. Reininger, S. 72) als auch den charakteristischen »Brecht-Ton« (W 4, 365)
an den späten Benn (etwa in Mein Vogel; vgl. aufweisen (vgl. Höller 1999, S. 78 f.). Tatsächlich
Oelmann 1980, S. 45). Da Benns als Apologie sind es die zeitgeschichtlichen Gedichte von
einer Metaphysik der Kunst rezipierte ›Marba- Bachmanns erstem Lyrikband, die »in der Mo-
cher Rede‹ »Probleme der Lyrik« (1951) vom tivik wie im grammatischen Gestus« am deutlich-
modernen Gedicht fordert, gerade im Medium sten »an Brechts Anweisungen ›Aus einem Lese-
seiner Autonomie »Probleme der Zeit, der Kunst, buch für Städtebewohner‹« anschließen (ebd.,
der inneren Grundlagen unserer Existenz« zur S. 78; vgl. Höller 1987, S. 22 f.). In motivischer
Geltung zu bringen (Benn, S. 361), bleibt die Hinsicht klingt im ersten der Lieder auf der
Beziehung »Bachmann und Benn« beim derzeiti- Flucht Brechts Kinderkreuzzug und in Große
gen Diskussionsstand tatsächlich »ein schwieri- Landschaft bei Wien die Stadtmotivik von
ges Terrain« (Kucher, S. 54), das für die unter- Brechts Gedicht Vom armem B.B. an (Thiem
schiedlichen Phasen und Aspekte von Benns 1972, S. 106 f.). Vor dem Hintergrund der prinzi-
Werk einer differenzierteren Neuvermessung piellen Analogien zwischen Brechts und Bach-
bedarf. manns Auffassungen von den zeit- und gesell-
Während Bachmanns Auseinandersetzung mit schaftskritischen Aufgaben der Literatur (siehe
Benn weithin die Bruchlinien des zeitgenössi- Achberger 1991 und 1993) ist es jedoch nicht
schen Benn-Diskurses spiegelt, ist ihr Dialog mit verwunderlich, daß die Bedeutung Brechts für
Brecht eine eigenständiger interpretierende Ar- Bachmann über ihre Lyrik hinausgeht, auch
beit am Kanon der Moderne. Den Brecht, der wenn das Urteil, die »Brechtsche Schreibart« sei
»unbezweifelbar für den Klassenkampf geschrie- das »wichtigste Vorbild« für die »Erzählweise«
ben hat« (W 4, 366), erkennt sie zwar an, warnt der Autorin gewesen (Schneider 1999, S. 105),
auch davor, den »große[n] Dichter« und den sicher zu weit geht. So stellt ihr Hörspiel Der gute
›Kommunisten‹ Brecht auseinanderzudividieren Gott von Manhattan schon vom Titel her auch
(W 4, 194), sein Konzept einer ›lehrhaften‹, di- eine Antwort auf Brechts Parabelstück Der gute
rekt politischen Literatur (oder Musik) aber lehnt Mensch von Sezuan dar (Höller 1999, S. 114), und
sie vor dem Hintergrund ihres sprachreflexiven die Reflexion über die verborgenen geistigen und
Literaturverständnisses ab (N3519; vgl. auch moralischen Verbrechen des gesellschaftlichen
Klassische Moderne 279

Zusammenlebens verbindet das Todesarten-Pro- schlusses »der Frau aus dem öffentlichen Diskurs
jekt mit Brechts »Buch der Wendungen« Me-ti, im allgemeinen sowie aus dem des Kulturbe-
dessen Abschnitt »Viele Arten zu töten« sowohl triebs im besonderen« (Bartsch 1997, S. 141; vgl.
den Titel als auch die Poetologie der Todesarten Höller 1992, S. 240).
mitgeprägt hat: »Es gibt viele Arten zu töten. Man Die Kunst-Leben-Problematik bildet auch die
kann einem ein Messer in den Bauch stechen, Folie der intertextuellen Bezüge des Malina-Ro-
einem das Brot entziehen, einen von einer Krank- mans zu Thomas Manns Roman Doktor Faustus,
heit nicht heilen, einen in eine schlechte Woh- die durch die beiden Romanen gemeinsame in-
nung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schin- tensive Auseinandersetzung mit der Musik und
den, einen zum Selbstmord treiben, einen in den dem Nationalsozialismus eine zusätzliche Di-
Krieg führen usw. Nur weniges davon ist in un- mension erhalten. Nicht nur gemahnt das Traum-
serem Staate verboten.« (Brecht, S. 466; vgl. kapitel von Bachmanns Todesarten-Ouvertüre an
Kommentar TKA 2, 474) das Motiv der Hadeswanderung im Doktor
Faustus (Höller 1999, S. 142), die späte Party-
szene, in der Malina dem Ich auf einem Klavier
Moderne Erzähler: Thomas Mann, Kafka,
aus Arnold Schönbergs Pierrot lunaire vorspielt
Proust u. a.
(TKA 3.1, 671ff.), erinnert auch an den Bordell-
Obwohl Bachmanns Bibliothek zuletzt nur we- besuch Adrian Leverkühns im 16. Kapitel von
nige Titel von Thomas Mann enthielt (siehe TKA Manns Roman (Achberger 1995, S. 115). Vor al-
3.2, 921) und etwa die Malina-Entwürfe seinen lem aber geben »Beethovens späte Klaviersona-
Namen eher ironisch als Repräsentanten einer ten, über die Thomas Mann im achten Kapitel«
vergangenen Literaturepoche nennen (TKA 3.1, des Doktor Faustus seinen Organisten Wendell
44), sichern Thomas Manns literarhistorische Kretzschmar »in Worten dozieren läßt« (Schnei-
Stellung zwischen Tradition und Moderne und der 1999, S. 281), eines der Modelle für die musi-
die Kunst-Leben-Problematik seinem Werk ei- kalischen Vortragsbezeichnungen ab, mit denen
nen nicht unerheblichen Platz im intertextuellen die Stimme des weiblichen Ich im dritten Kapitel
Verweisungsnetz von Bachmanns Werk. Die des Malina-Romans orchestriert wird (Achberger
Frankfurter Vorlesungen markieren Manns lite- 1993, S. 276 f.). Der intertextuelle Dialog mit
rarhistorische Schwellenposition, indem sie ihn Thomas Manns Doktor Faustus führt also ins
als »Namenszauberer«, als den »letzte[n] gro- Zentrum der quasi-musikalischen Komposition
ße[n]«, doch bereits ›ironischen‹ »Namenserfin- von Bachmanns Todesarten-Ouvertüre.
der« im vergleichenden Kontrast mit Kafka und Galt Thomas Mann in der Nachkriegszeit ge-
James Joyce diskutieren (W 4, 247). Neben bei- wissermaßen schon als Altmeister der Moderne,
läufigen Bezügen wie der Erwähnung von Felix so wurde das Werk von Franz Kafka erst jetzt
Krull in den Malina-Entwürfen (TKA 3.1, 77, 81) intensiver entdeckt und übte so auf die junge
oder einer Reminiszenz aus den »Josephs-Ro- Generation der Nachkriegsautoren und -autorin-
manen« in Bachmanns Gedicht Früher Mittag nen eine nachhaltige Wirkung aus. Bachmann hat
(Oelmann 1980, S. 64) ist es vor allem der für sich von dieser Breitenwirkung zwar schon 1956
Thomas Manns Werk grundlegende und in seiner distanziert – »Ich liebe Kafka, nicht aber das
Erzählung Tonio Kröger paradigmatisch gestal- Kafka-Epigonentum« (GuI, 20) –, sie hat sich mit
tete Konflikt von Kunst und Leben, Künstler und seinem Werk jedoch eingehend auseinanderge-
Bürger, mit dem sich Bachmann in ähnlicher setzt, seinem Roman Amerika beispielsweise ei-
Weise auseinandersetzt wie mit der Kunstmeta- nen Radio-Essay gewidmet (1953) und Kafkas
physik in Teilen der lyrischen Moderne. Die Spu- Josef K. in den Frankfurter Vorlesungen als Para-
ren dieses Dialogs als Ringen mit dem »harte[n] debeispiel für den Konstruktionscharakter der
Gesetz der Kunst« sind schon in den Briefen an Namen in der modernen Literatur diskutiert (W
Felician gesehen worden (Höller 1999, S. 32 f.), 4, 242ff.). Fasziniert hat sie (wie so viele Autoren
und die Problematik des weiblichen Ich in Ma- der Epoche) die in »seiner Sprache und [der] Art
lina reinszeniert den durch Thomas Mann reprä- der Darstellung« begründete »Magie von Kafkas
sentierten »Widerspruch von Kunst und Leben« Werk« (W 4, 321), die Kafkas radikale Auflösung
unter den verschärften Bedingungen des Aus- des konventionellen Wirklichkeitsverständnisses
280 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

(das »Nichtfunktionieren« der Wirklichkeit; W 4, Identität entlarvt, indem die Protagonisten durch
321) an Bachmanns erkenntniskritisches Ver- Identitätskrisen geführt werden, in denen ihnen
ständnis der Literatur als einer ›neuen Sprache‹ die »Fiktionalität« ihrer vermeintlich »authenti-
und Ausdruck eines ›neuen Geistes‹ anschließbar sche[n] und stabile[n] Identitäten« bewußt
macht (W 4, 192). Kafkas Werke zeigen nicht nur werde, was auf der »Inhaltsebene« »gleichzeitig
in besonderer Weise »die durchgehende Manife- den Verlust der Sinnhaftigkeit ihres Handelns
station einer Problemkonstante, eine unverwech- und ihrer Existenz« bedeute (Meyer, S. 3, 215).
selbare Wortwelt, Gestaltenwelt und Konflikt- Besser erforscht ist Bachmanns Interesse am
welt« (W 4, 193), ihre parabolischen Welten er- Werk Marcel Prousts (vgl. zu Bachmanns Proust-
ziehen auch auf unvergleichliche Art »zu neuer Ausgaben TKA 3.1, 943), dem sie anläßlich der
Wahrnehmung, neuem Gefühl, neuem Bewußt- deutschen Übersetzung seines Hauptwerks A la
sein« (W 4, 195). In diesem Sinne adaptiert Bach- recherche du temps perdu 1958 einen Radio-Essay
mann in den Frankfurter Vorlesungen Kafkas poe- gewidmet hat. In den Frankfurter Vorlesungen
tologische Maxime: »Ein Buch muß die Axt sein fungiert Prousts Recherche dann u. a. als para-
für das gefrorene Meer in uns.« (W 4, 211; Kafka, digmatisches Beispiel für jene entscheidende
S. 27 f.; vgl. Höller 1987, S. 188) »Veränderung« im Verhältnis von Subjekt und
Bachmanns poetologischer Dialog mit Kafka Geschichte in der Moderne, die Bachmann auf
setzt sich im literarischen Werk auf ganz unter- die Formel bringt, »daß [das Ich] sich nicht mehr
schiedliche Weise fort. Die parabolische Erzähl- in der Geschichte aufhält, sondern daß sich neu-
form früher Erzählwerke wie Der Kommandant erdings die Geschichte im Ich aufhält« (W 4,
(Weigel 1999, S. 73) und das Anna-Fragment aus 230). Bachmanns Proust-Lektüre schließt zwar
dem verschollenen Roman Stadt ohne Namen an Ernst Robert Curtius, Walter Benjamin und
(Kommentar TKA 1, 501ff.; Kanz 1999, S. 14) André Maurois an, erlangt entschiedene Eigen-
stehen ganz offensichtlich im Kontext der surrea- ständigkeit jedoch in der thematischen Akzentu-
listisch und existentialistisch überformten Kafka- ierung des Baron de Charlus als des modernen
Rezeption der unmittelbaren Nachkriegsjahre. »homme traqué« (W 4, 160), »des gejagten, ge-
Das gilt nicht zuletzt auch für die symbolische hetzten Menschen«, in der Hervorhebung der
Vaterfigur im Anna-Fragment, die zugleich auf »Metaphorik des Krieges« als eines »Krieges im
die »ausgesprochen kafkaeske[n] Züge« der sym- Frieden« und der indirekten Darstellung des Er-
bolischen Vaterfigur des Traumkapitels in Malina sten Weltkriegs in Paris sowie in der eigentümli-
vorausweist (Lattmann, S. 126; Höller 1999, chen Rückführung der Proustschen Mystik auf
S. 29). In dem Erzählband Das dreißigste Jahr »die ungeheure Schärfe der Wahrnehmung« (Kai-
spielt die Titelerzählung mit ihrem Eingangs- ser 1993, S. 329–336). Indem Bachmann die
motiv des verwandelt Erwachenden auf Kafkas »›Mystik‹ der mémoire involontaire souverän
Erzählung Die Verwandlung an (Bartsch 1997, übergeht« und »sich von der ›Mystik‹ des darin
S. 96), und die Erzählung Ein Wildermuth weist begründeten Kunstabsolutismus distanziert«,
mit ihrer »Gegenüberstellung von äußerlich bü- wird Proust ihr »zu einem bestimmenden Autor,
rokratisch genauer Vorgangsschilderung und im- weil er auf die Krise der Erfahrung unter den
plizierter […] thematische[r] Sinnlosigkeit« Bedingungen einer sich in Katastrophen entla-
deutlich kafkaeske Züge auf (Schulz, S. 82). denden Moderne durch die Analyse der ›Ge-
Zweifellos werden sich in Zukunft noch weitere schichte im Ich‹ (W 4, 230) eine wesentliche
Elemente von Bachmanns intertextuellem Dialog Antwort gab« (Kaiser 1993, S. 334, 330). Aus »der
mit Kafka herausarbeiten lassen. Die bislang ein- spezifischen historischen Perspektive des Nach-
zige einschlägige Arbeit (Meyer) weicht auf eine kriegs« ersetzt sie Prousts ›mémoire involon-
vergleichende Analyse in dem sehr allgemeinen taire‹ durch ein historisch-moralisches Konzept
Horizont moderner Identitätsproblematik aus: In der »Erinnerung aus oder als Zwang« (Weigel
Bachmanns Erzählungen Probleme Probleme, 1999, S. 207, 209). Damit verbindet sich auch ein
Unter Mördern und Irren und Ein Wildermuth Widerruf von Prousts »holzschnittartige[r] Dis-
werde wie in Kafkas Erzählungen Das Urteil und soziation des erotischen und des ästhetischen
Die Verwandlung die »historische, soziale und/ Begehrens am Ende der Recherche« (Kaiser 1993,
oder ideologische Konstruiertheit« personaler S. 330). Nicht zufällig spielt Bachmann in ihrer
Klassische Moderne 281

Kritik der Gewalt im Geschlechterverhältnis im- italienischen Autors Italo Svevo, dem Bachmann
mer wieder auf den Titel von Prousts Roman hinsichtlich der Dekonstruktion des Ich im mo-
Sodom und Gomorra an (vgl. die Erzählungen dernen Erzählen eine wichtige Rolle zumißt (W
Ein Schritt nach Gomorrha und Zeit für Go- 4, 227 f.), und Ferdinand Célines Reise ans Ende
morrha sowie TKA 3.1, 368), der »die Korrespon- der Nacht, die Bachmann durch ihr radikal au-
denzen zwischen der dämonischen Sphäre der thentisches Ich fasziniert hat (W 4, 221 f.; vgl.
Liebe und dem Krieg« symbolisiert (Weigel 1999, Höller 1987, S. 161) und in Malina ein Refle-
S. 209; vgl. Solibakke). xionsmodell für die symbolische Reise des Ich
Indem Bachmann Proust »von dem früh rezi- »der untersten Nacht entgegen« darstellt (TKA
pierten Musil her« liest (Kaiser 1993, S. 330), 3.1, 296). William Faulkner, dessen Hauptwerk
wird sein großer Romanzyklus zu einem der lite- The Sound and the Fury in den Frankfurter Vor-
rarhistorischen Modelle für ihr eigenes Projekt lesungen die Dekonstruktion der Namensgebung
einer umfassenden literarischen Sittengeschichte in der modernen Literatur exemplifiziert (W 4,
der Zeit in den Todesarten. Wichtiger als gele- 251 f.), bildet in Malina auch eine der Folien für
gentliche Anspielungen auf Teile und Motive der die Erinnerungsarbeit des Ich (vgl. den Artikel
Recherche in Malina (TKA 3.1, 71, 368, 372, 512) »Malina«), und die Darstellung lesbischer Liebe
ist für die produktive Nachwirkung der Proust- in der Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha
Lektüre daher die strukturelle Analogie der weist »auffällige Parallelen« zu der Erzählung
Werke: die Verknüpfung von Zeitkritik und Sub- Geneviève von André Gide auf, den Bachmann
jektthematik in der Darstellung der »Geschichte auch in ihrer Vorlesung über »Das schreibende
im Ich«. In ähnlichem Sinne konnte schon in den Ich« erwähnt (W 4, 224 f.; Schneider 1999,
Sujets und der zyklischen Anlage des Erzählban- S. 224). Schließlich finden sich im Goldmann/
des Das dreißigste Jahr eine intensive Ausein- Rottwitz-Roman sowie in der Erzählung Drei
andersetzung mit Proust nachgewiesen werden Wege zum See die Spuren von Bachmanns Lek-
(Kaiser 1993). türe D. H. Lawrences. Die Anspielungen auf des-
Bachmanns literarischer Dialog mit der Lite- sen Werke Lady Chatterley’s Lover (TKA 1, 426),
ratur der europäischen Moderne bedarf zwei- The Woman Who Rode Away (TKA 4, 374), Ein
fellos noch weiterer, systematischerer Erfor- moderner Liebhaber (TKA 1, 387, vgl. 603) und
schung, wobei die kanonischen Autoren nicht Der Hengst St. Mawr (TKA 4, 424, vgl. 633)
unbedingt die wichtigsten sein müssen. Dies belegen Bachmanns Auseinandersetzung mit
zeigt etwa das Beispiel James Joyce, der zwar in Lawrences Geschlechterdiskurs. Zu erwähnen
der Frankfurter Vorlesung über den »Umgang mit sind auch die intertextuellen Bezüge zu Heinrich
Namen« neben anderen für die Verunsicherung Mann (TKA 1, 433, vgl. 605), Hans Henny Jahnn
des Verhältnisses von Identität und Sprache in (W 4, 233 f.; vgl. Schneider 1999, S. 284), Ödön
der ›klassischen‹ Moderne steht (W 4, 248) und von Horváth (TKA 1, 441, vgl. 606; TKA 3.1,
in seiner kanonischen Bedeutung auch im Todes- 701), Hermann Broch (W 4, 198; vgl. Beck) und
arten-Projekt verschiedentlich erwähnt wird Alfred Döblin (TKA 1, 433, vgl. 605).
(TKA 1, 135, 433; TKA 4, 27), zu dem Bachmann Quellen: Gottfried Benn (1990): Probleme der Lyrik
jedoch nicht mehr als ein distanziertes Verhältnis [1951]. In: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur
entwickelt: Im Gegensatz zu Proust habe es bei Gegenwart. (Hg.) Ludwig Völker. Stuttgart, S. 358–
Joyce für sie »immer nur zur Achtung, aber nie 365; – Bertolt Brecht (1967): Gesammelte Werke in 20
zum plaisir gereicht« (Brief vom 1. 12. 1956 an Bdn., Bd. 12. (Hg.) Suhrkamp-Verlag in Verbindung mit
Elisabeth Hauptmann. Frankfurt/M.; – Hugo von Hof-
Siegfried Unseld, zitiert nach Weigel 1999,
mannsthal (1979): Gedichte. Dramen I. 1891–1898 (=
S. 205). So spielt beispielsweise auch Joyces Kon- Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden). (Hg.)
zept der Epiphanie (des zumeist ästhetisch ver- Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frank-
mittelten mystischen Augenblickserlebnisses) in furt/M.; – Franz Kafka (1958): Briefe 1902–1924.
Bachmanns Werk nicht die gleiche Rolle wie Frankfurt/M.; – Robert Musil (1981): Gesammelte
Musils ›anderer Zustand‹. Werke in neun Bänden. (Hg.) Adolf Frisé. Reinbek bei
Hamburg; – Rainer Maria Rilke (1966): Sämtliche
Zum weiteren intertextuellen Horizont der eu-
Werke. 6 Bde. (Hg.) Rilke-Archiv in Verbindung mit
ropäischen Moderne in Bachmanns Werk gehö- Ruth Sieber-Rilke und Ernst Zinn. Frankfurt/M.
ren beispielsweise der Roman Zeno Cosini des 1955–1966; – Rainer Maria Rilke (1979): Die drei Lie-
benden. Frankfurt/M.
282 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Literatur: Achberger (1995); Agnese (1996); Bannasch (1983): Ingeborg Bachmann’s Drei Wege zum See. A
(1997); Bartsch (1980); Bartsch (1997); Behre (1992); Legacy of Joseph Roth. In: Seminar 19, S. 246–264; –
Bothner (1986); Brachmann (1999); Göttsche (1987); Anton Reininger (2000): Das Gedicht Ausfahrt. Politi-
Heidelberger-Leonard (1993); Höller (1987); Höller sche Utopie oder existentialistische Poetik? In: Kucher/
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Ingeborg Bachmanns. In: Modern Austrian Literature In: Kucher/Reitani (2000), S. 109–120; – Josef Strutz
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Mut zum Ich – Der Mut zum Alles [1971]. In: Stoll dition der literarischen Moderne gestellt hat und
(1992), S. 126–128; – Claudio Magris (1988): Der habs-
Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihrer Zeit
burgische Mythos in der österreichischen Literatur. 2.
Aufl. Salzburg; – Imke Meyer (2001): Jenseits der unter diesem Aspekt seltener erwähnte. Wenn
Spiegel kein Land. Ich-Fiktionen in Texten von Franz diese Koordinaten bis heute nur unvollständig zu
Kafka und Ingeborg Bachmann. Würzburg; – Peter rekonstruieren sind, dann wird vielmehr eine
West Nutting (1985): »Ein Stück wenig realisiertes Reihe unterschiedlicher Faktoren dafür verant-
Österreich«. The Narrative Topography or Ingeborg wortlich sein, wobei nicht zuletzt auch wech-
Bachmann’s Drei Wege zum See. In: Modern Austrian
selnde Trends in der Literaturwissenschaft und
Literature 18, H. 3/4, S. 77–90; – Irena Omelaniuk
Deutschsprachige Literatur nach 1945 283

der Hintergrund der jeweiligen gesellschaftspoli- Schriftsteller im Wien der Nachkriegszeit, er-
tischen Situation eine wichtige Rolle spielen streckt sich über mehr als zwei Jahrzehnte und
dürften. Vor allem aber hat sich erst in den letzten wird von Bachmann noch über Celans Tod hinaus
Jahren die Quellenlage deutlich verbessert. Mit weitergeführt (z. B. Weigel 1995, S. 126; Höller
der Publikation von Korrespondenzen und an- 1999, S. 59). Höller schreibt dem Beginn von
deren Dokumenten von zeitgenössischen Schrift- Bachmanns literarischem Dialog mit Celan den
stellern und Intellektuellen (Paul Celan, Wolf- Stellenwert einer »tiefgreifenden[n] Verwand-
gang Hildesheimer, Hans Werner Richter, Peter lung ihres Denkens und Schreibens« zu (Höller
Szondi u. a.) bzw. der Öffnung von Nachlässen 1999, S. 59), und Böttiger hat aus der »Legende«
kommt bislang nicht bekanntes Material in den in dem Roman Malina eine »Initiationsszene« zu
Blick, so daß das Netz der persönlichen und einem neuen Verständnis von Dichtung heraus-
literarischen Beziehungen in Zukunft sehr viel gelesen (Böttiger, S. 90). Eine zentrale Rolle in
detaillierter als bisher nachgezeichnet werden diesem ›literarischen Dialog‹ spielen jene in den
kann. Damit dürfte auch eine konkretere Veror- Band Mohn und Gedächtnis eingegangenen frü-
tung von Bachmanns Werk im Kontext der Nach- hen Gedichte, die Celan durch die handschrift-
kriegsliteratur möglich werden. liche Zueignung »f. D.« nachträglich Bachmann
gewidmet haben soll (Koschel). Der größte Teil
der bislang bekannten Verweise auf Paul Celan in
Paul Celan
Bachmanns Werk betrifft auch gerade diese Ge-
Die weitaus größte Aufmerksamkeit zumindest dichte; er findet sich im ersten Kapitel des Ro-
der deutschen Bachmann-Rezeption galt in den mans Malina, genauer gesagt in der »Legende«
letzten Jahren dem Lyriker und Übersetzer Paul »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran«,
Celan, den die Autorin 1948 in Wien kennen- deren Schluß wie aus Celan-Zitaten komponiert
gelernt hat (Celan 2001). Als solche sind die erscheint. Die gegenseitigen Bezugnahmen in
›poetischen Korrespondenzen‹ zwischen Bach- den literarischen und poetologischen Texten be-
mann und Celan seit langem bekannt. Schon in treffen darüber hinaus »auch Codeworte bzw.
den 1960er Jahren wurden Bezüge zwischen ihren -zeilen und Leitmotive gemeinsamer Bezugs-
Gedichten untersucht (z. B. Oppens), und auch punkte in der Literatur- und Philosophiege-
die inzwischen berühmten Zitate aus Celans Werk schichte« (Weigel/Böschenstein, S. 8), die insge-
in Bachmanns Roman Malina (1971) sind schon samt als »Chiffren« gedeutet werden, »deren Be-
bald nach der Veröffentlichung entdeckt worden deutung in einer […] Rückübersetzung von
(Thiem 1972, S. 242 f.). In den 1980er Jahren Literatur in Leben nicht aufgeht« (Weigel 1999,
wuchs die Zahl der ›Fundstücke‹ kontinuierlich 412). In diesem Sinne läßt sich in den Korrespon-
(Riedel, Oelmann 1980, Kann-Cooman 1988 denzen etwa ein gemeinsamer Bezug auf früh-
u. a.), ohne daß dies jedoch einen solchen ›Celan- romantische Motive ablesen, die von beiden »so-
Boom‹ auszulösen vermocht hätte, wie er im letz- wohl als Utopien einer untergegangenen Welt
ten Jahrzehnt zu beobachten war (Kohn-Waech- aufgerufen, als […] auch auf das hier und jetzt
ter 1992, Weigel 1995, Böttiger, Steiner 1998, angewandt werden«. Im »Gegeneinanderführen«
Böschenstein/Weigel 1997, Weigel 1999, Höller dieser Motive eröffnete sich für Bachmann und
1999 u. a.). Im Rückblick scheint das Interesse an Celan ein »Freiraum, in dem sich Dichtung nach
den ›poetischen Korrespondenzen‹ Bachmann- Auschwitz konstituieren kann« (Schmaus,
Celan zumindest in der deutschen Germanistik S. 114). Bei der Frage nach Gemeinsamkeiten in
die Konzentration auf die poststrukturalistisch- der Poetologie der beiden Schriftsteller gehen die
feministischen Ansätze der 1980er Jahre abzu- Meinungen allerdings auseinander. Weigel
lösen (die ihrerseits die zentralen Themen der spricht von einer »feine[n] Differenz zu seiner
erste Phase der Bachmann-Rezeption – Sprach- Poetologie« (Weigel 1999, S. 433); Höller hinge-
thematik, Martin Heidegger und Ludwig Witt- gen sieht größere und auch grundsätzlichere Un-
genstein – in den Hintergrund gedrängt hatten). terschiede, die er im Sinne divergierender Auf-
Die Geschichte des ›literarischen Dialogs‹ zwi- fassungen von der gesellschaftlichen Funktion
schen Celan und Bachmann beginnt, so der der- der Literatur bei Bachmann und Celan deutet
zeitige Konsens, mit der Begegnung der beiden (Höller 1999, S. 63).
284 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Ob es sich bei dieser ›Korrespondenz‹ tatsäch- Zeitschrift »Die Tat« zu lesen, daß der Roman
lich auf Bachmanns Seite um eine »Dauerspur« Malina als »literarische Revanche für Max
handelt (Weigel 1995, 125), scheint allerdings Frischs Mein Name sei Gantenbein« zu verstehen
eher zweifelhaft, da die ›Spur‹ ja immer wieder sei (Toman, S. 21). Untersuchungen der 1970er
für größere Zeiträume verschwindet. Vor allem und 1980er Jahre knüpften hier an und brachten
ist nicht zu übersehen, daß der mit Abstand am vor allem – über diese biographistische Lesart
meisten diskutierte Aspekt, nämlich die »deut- hinausgehend – erste gegenseitige Bezugnahmen
liche Präsenz von Celans Dichtung in Malina« in den Werken von Bachmann und Frisch an den
(Weigel/Böschenstein, S. 7), sich ausschließlich Tag (Probst, Jurgensen, Schmitz). Damit wurde
einer spezifischen Konstellation verdankt: dem Bachmanns späte Prosa schon relativ früh als
zeitlichen Zusammentreffen der späten Arbeits- »Gegenentwurf« und als »eine menschliche und
phase an dem Roman Malina mit Paul Celans ästhetische Auseinandersetzung mit Max Frisch«
Freitod Ende April 1970 (Kommentar TKA 3.2, gelesen (Probst, S. 109) – auch wenn in dieser
799, 855). In diesem Zusammenhang wäre nicht Zeit Auffassungen von der Art vorherrschten, die
zuletzt auch zu fragen, warum Bachmann, nach- Autorin wollte mit »ihren Todesarten […] die
dem Celans Tod zunächst noch einmal zu einer drei großen Romane Max Frischs […], Stiller,
intensiven Reaktivierung des früheren ›Dialogs‹ Homo faber und Mein Name sei Gantenbein, in
geführt hat, dann schließlich ihr Exemplar von weiblicher Variation nachschreiben« (Jurgensen,
Mohn und Gedächtnis mit den persönlichen S. 100 f.). Meine Dissertation aus dem Jahr 1988
Widmungen Paul Celans verschenkt (Koschel). war die erste und bislang einzige größere Unter-
Bezeichnenderweise scheinen Bachmann und suchung zum ›literarischen Dialog‹ von Bach-
Celan selbst unterschiedliche Akzente bei ihrer mann und Frisch (Albrecht 1989a); von einem
gegenseitigen Bezugnahme gesetzt zu haben: späten Rückschlag in die biographistische Lesart
»während Celans Gedichte […] überwiegend An- abgesehen (Bauer), repräsentieren diese und
spielungen auf Begegnungen mit Bachmann, auf meine darauf aufbauenden Aufsätze (1992, 1995)
Gespräche und auch auf Differenzen enthalten, sowie eine Untersuchung zu »Bachmanns Erzäh-
antworten Bachmanns Texte eher auf seine Dich- lung [Alles] im Diskurs mit Max Frischs Roman
tung und auf seine Poetologie« (Weigel/Böschen- Homo faber« (Haberkamm 1989) im wesentli-
stein, S. 11). Genau dies trifft auch für eine an- chen den gegenwärtigen Stand der Forschung.
dere und sehr viel kontinuierlichere ›poetische Bachmann hat auch hinsichtlich ihres ›literari-
Korrespondenz‹ zu, die ebenfalls – diesmal von schen Dialogs‹ mit Max Frisch mehr als nur eine
der ›anderen Seite‹ – über den Tod des Korre- deutliche Spur gelegt; tatsächlich ist bereits die
spondenzpartners hinaus weitergeführt wurde: Zahl der bislang bekannten Zitate und Zitatpara-
Bachmanns ›literarischen Dialog‹ mit Max phrasen, der Bezugnahmen und ›Antworten‹ im
Frisch. Fall Max Frischs umfangreicher als in dem Celans
(Jurgensen, S. 99 f.; Schmitz, S. 115–118, 123,
173; Albrecht 1989a, S. 11 f., 13, 76, 79, 81, 100,
Max Frisch
104, 132–134, 136 f., 157, 159–165, 168–171, 173,
Bachmanns Auseinandersetzung mit dem Werk 175–179., 327, 356–359; Haberkamm 1989,
Max Frischs ist zu ihren Lebzeiten in der Litera- S. 612–635; Albrecht 1992, S. 283; Albrecht 1995,
turwissenschaft nicht thematisiert worden; die S. 140 f., 143, 152). Dennoch scheint die ›literari-
private Beziehung der beiden Schriftsteller in sche Korrespondenz‹ zwischen den beiden Au-
den Jahren 1958–1962, die einen ersten Anknüp- toren für die Literaturwissenschaft momentan
fungspunkt für entsprechende Fragestellungen kein Thema zu sein. Ein ›Frisch-Boom‹ findet
hätte bieten können, war in dieser Zeit über den allenfalls aus Anlaß jeder neuen Bachmann-Pu-
Kreis von Insidern hinaus kaum bekannt. Erst im blikation in der Presse statt, wo die private Bezie-
Jahr 1974, knapp ein Jahr nach Bachmanns Tod hung der beiden Schriftsteller als Bachmanns
(und noch vor der Veröffentlichung von Frischs »Lebenskatastrophe« (Schweikert) gehandelt
Erzählung Montauk [1975], in der der Autor und – in Anspielung auf ein berühmtes Bach-
seine Beziehung zu Bachmann selbst publik ge- mann-Zitat (GuI, 111) – inzwischen schon zum
macht und literarisiert hat), war in der Schweizer »Einmarsch Max Frischs in ihr Leben« hoch-
Deutschsprachige Literatur nach 1945 285

stilisiert wird (Patterer). Bei einem Teil der deut- Herrschaften, wir versuchen jetzt eine Bauch-
schen Literaturwissenschaft hingegen ist eine ei- landung.« (Kaschnitz 2000, S. 612) Das ist eine
genartige Mischung aus Ignoranz und Herab- ungefähre Beschreibung der berühmten Ein-
lassung zu beobachten, die fast schon an eine gangsepisode von Max Frischs im Herbst zuvor
Tabuisierung Max Frischs grenzt: So ist vor eini- erschienenem Roman Homo faber, den Kaschnitz
ger Zeit meiner »These der ›strukturellen Inter- selbst offenbar noch nicht kannte, als sie ›Bach-
textualität‹ von ›Malina‹ und ›Mein Name sei manns Geschichte‹ in ihrem Tagebuch festhielt.
Gantenbein‹ […] mit Verweis auf [Hans] Weigels Bachmanns ›literarischer Dialog‹ mit Frischs
›Unvollendete Symphonie‹ widersprochen« wor- Werk erstreckt sich danach (mindestens) von ih-
den (Brüns 1994, S. 280) – als würde es sich von rem ersten Erzählband Das Dreißigste Jahr bis zu
selbst verstehen, daß das eine das andere aus- ihren letzten Prosatexten vom Beginn der 1970er
schließt –, und ein Jahr später wurde – nunmehr Jahre. Als Chiffre für die Verarbeitung privater
Paul Celan und Max Frisch gegeneinander aus- Erfahrung kann dabei sicherlich das Datum »3.
spielend – behauptet, daß die »intellektuelle Tie- Juli 1958« in dem Roman Malina stehen (TKA
fendimension« ihrer Beziehung zu Paul Celan 3.1, 588), das den Tag bezeichnet, an dem sie Max
»für Bachmann tiefgreifender« gewesen sei »als Frisch in Paris kennengelernt hat (Albrecht
die Beziehung zu Max Frisch« (Caduff, S. 73). 1989a, S. 61–63). (Werkgenetisch hat dieses Da-
Angesichts des außergewöhnlich hohen Grads tum einen Vorläufer in der ebenfalls auf einen
von intertextuellen Bezugnahmen auf das Werk 3.7. verweisenden Sitznummer »37« des Wüsten-
Max Frischs sind die Gründe für solche parado- busses in dem Mitte der 1960er Jahre entstan-
xen Reaktionen nicht ohne weiteres ersichtlich; denen Wüstenbuch [TKA 1, 243; vgl. Albrecht
beim Namen genannt werden sie lediglich bei 1995, S. 139 f.], und inzwischen ist auch ein Ge-
Behre, die kategorisch erklärt: »Frischs Leistung dichtentwurf mit dem Titel An jedem dritten des
liegt nicht auf der Höhe dieser drei Positionen Monats veröffentlicht worden [Bachmann 2000b,
[von Musil, Nietzsche und Celan]« (Behre 1992, S. 51]). Der autobiographische Aspekt stellt je-
S. 213). Dieses Verdikt scheint generell der Aus- doch nur einen kleinen Ausschnitt der Max
grenzung Max Frischs in der Bachmann-For- Frisch betreffenden Intertextualität dar, und die-
schung zugrunde zu liegen. Offenkundig sind ser Befund ist auch nach der jüngsten Publikation
hier noch die Relikte einer (spezifisch deutschen) »Unveröffentlichter Gedichte« (Bachmann
Germanistik am Werk, die alles, was sich (tat- 2000b) nicht zu revidieren. Diese scheinbar nur
sächlich oder vermeintlich) nicht auf dem Hö- um die private Beziehung kreisenden Gedicht-
henkamm der literarischen und philosophischen entwürfe zeigen vor allem die Arbeit an bestimm-
Tradition befindet, entweder gänzlich ignoriert ten Codeworten und Motiven, die auch in den
oder auf die eine oder andere Weise abqualifi- parallel dazu entstandenen Prosatexten (Wüsten-
ziert. buch, Das Buch Franza, Malina) in immer neuen
Bachmann selbst war die ›literarische Korre- Varianten erprobt wurden.
spondenz‹ mit einem der bekanntesten deutsch- Bachmanns Auseinandersetzung mit Frischs
sprachigen Schriftsteller ihrer Zeit jedoch offen- Werk stellt sich zunächst als ein weites Spektrum
kundig sehr wichtig, und diese Auseinanderset- von Zitaten und Zitatparaphrasen dar, die insge-
zung hat auch bereits begonnen, bevor die beiden samt auf eine komplexe ›Antwort‹ auf Max
sich im Juli 1958 persönlich kennenlernten. Im Frischs Werk im allgemeinen und auf seine Poe-
März 1958, also noch bevor Max Frisch sich tologie im besonderen abzielen. Zu den auffällig-
»beim Sender in Hamburg das Hörspiel [Der gute sten Zitaten gehören, um nur wenige Beispiele zu
Gott von Manhattan] vorführen« lassen konnte, nennen, Anspielungen auf Titel wie den Roman
um danach brieflich den ersten Kontakt mit Bach- Mein Name sei Gantenbein: das ›letzte Wort‹ der
mann aufzunehmen (Frisch 1976, Bd. V.1, Malina-Figur auf der letzten Seite von Bach-
S. 676), notiert Marie Luise Kaschnitz »Ingeborgs manns Roman lautet bekanntlich: »Mein Name?
Geschichte von der Notlandung eines Flugzeugs Malina« (TKA 3.1, 694) und deutet bereits als
in Lateinamerika. Das Fahrgestell konnte nicht solches an, daß hier tatsächlich ein ›Gegenent-
ausgefahren […] werden. Schließlich die Stewar- wurf‹ intendiert ist; dazu gehören die Ausführun-
dess mit ihrem strahlenden Lächeln: Meine gen »über Männer« in Malina als satirische Re-
286 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

plik auf die entsprechenden Erörterungen »über stehen »weit auseinander« – zusieht, wie die Va-
Frauen« im Gantenbein-Roman (Albrecht 1989a, terfigur »in einem fort die Kostüme« wechselt
S. 133–143); und dazu gehört die Kernprämisse (TKA 3.1, 563). Vor diesem Hintergrund wäre
der Todesarten-Poetologie von den ›subtilen Ver- allerdings noch zu untersuchen, wie sich Bach-
brechen‹ der modernen Gesellschaft, bei denen manns eigene Versuche mit dem ›offen-artisti-
»kein Blut« fließt »und das Gemetzel […] inner- schen‹ Erzählverfahren Max Frischs (Gockel) in
halb des Erlaubten und der Sitten« stattfindet den Kontext ihrer Kritik am Gantenbein-Roman
(TKA 2, 78): Dieser Gedanke findet sich auch in einfügen (vgl. im ersten Todesarten-Roman die
Max Frischs Roman Stiller aus dem Jahr 1954, ›offen-artistische‹ Einleitung TKA 1, 89, sowie
dessen Protagonist nach eigenen Aussagen seine S. 92, Z. 5–29; S. 93, Z. 26–94; S. 94, Z. 1–2;
»Gattin ermordet« hat (Frisch 1976, Bd. III.2, S. 99, Z. 13–17).
S. 384): »Es gibt allerlei Arten, einen Menschen Immer neue Zufallsfundstücke (Albrecht 1995
zu morden, oder wenigstens seine Seele, und das und 2002, vgl. auch im vorliegenden Handbuch
merkt keine Polizei.« (ebd., S. 476) den Artikel »Nationalsozialismus«) weisen darauf
Vor allem in ihrem Roman Malina hat Bach- hin, daß längst noch nicht alle Verweise auf das
mann – oft an exponierter Stelle – deutliche Werk Max Frischs bei Bachmann (und umge-
Zeichen der intertextuellen Bezugnahme auf das kehrt) als solche erkannt worden sind. Und vor
Werk Max Frischs gesetzt. Der Schlußmonolog allem mehren sich die Anzeichen dafür, daß es
der Malina-Figur (TKA 3.1, 693 f.) ist beispiels- über die vielfältigen Zitate und Zitatparaphrasen
weise aus paraphrasierten Frisch-Zitaten kompo- aus dem Werk des jeweils anderen hinaus auch
niert (Albrecht 1989a, S. 168–171), die im Vor- gemeinsame Bezugspunkte in der Geistesge-
kapitel erzählte Suche nach der Figur Malina schichte aufzufinden gilt. Frisch war, um ein Bei-
wurde in Anlehnung an die ›Montage der Figur spiel zu nennen, in der Nachkriegszeit mit Bertolt
Gantenbein‹ (Mayer, S. 319) gestaltet (Albrecht Brecht befreundet und verdankt diesem Kontakt
1989a, S. 173–175), und auch die Zeit- und Orts- vielfältige Anregungen für seine eigene Theater-
angabe zu Beginn des Romans Malina (»Zeit arbeit; Bachmanns nachhaltiges Interesse an
Heute / Ort Wien«; TKA 3.1, 276) verweist auf Brecht zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Absicht,
ein Werk Max Frischs – und nicht nur auf Hans eine Anthologie von Brechts Gedichten heraus-
Weigels Roman Unvollendete Symphonie (H. zugeben (W 4, 401). Die Tatsache, daß sich so-
Weigel, S. 9), denn dieser dürfte die Einheit von wohl Bachmann als auch Frisch in ihren Re-
Ort und Zeit seinerseits Max Frischs »Farce« Die flexionen über die nicht unter Strafe gestellten
Chinesische Mauer (1946) entliehen haben (auf ›subtilen Verbrechen‹ der modernen Gesellschaft
dessen Hauptfigur, den »Heutigen«, Bachmann auf Brechts »Buch der Wendungen« Me-ti bezie-
auch in ihrem Roman Das Buch Franza anspielt; hen (Brecht, S. 90), könnte sich als ein Anhalts-
vgl. TKA 2, 230; Albrecht 2002). Die Hinweise punkt für eine solche gemeinsame Referenzfigur
auf Max Frisch am Anfang und am Ende des in der Literaturgeschichte erweisen (zum Ver-
Malina-Romans bilden sozusagen einen Rah- hältnis von Bachmanns Lyrik zu Brecht vgl. Höl-
men, in dem sich Bachmanns literarische Ausein- ler 1999, S. 78). Ein weiterer gemeinsamer Be-
andersetzung mit seinem Werk in Malina ent- zugspunkt des geistigen Horizonts von Bachmann
faltet. Trotz vieler Gemeinsamkeiten deutet die und Frisch, der durch die Konzentration auf
Art und Weise, wie Bachmann zu Frischs Werk in Bachmanns Heidegger-Rezeption bislang nicht in
Beziehung tritt, auf eine umfassende Kritik vor den Blick gekommen ist, dürfte sich aus einer
allem an dem Erzählverfahren des Romans Mein Anspielung auf den Existenzphilosophen Sören
Name sei Gantenbein und an jener Poetik der Kierkegaard ergeben (TKA 1, 323, 600), der be-
›Geschichten von außen‹ (Haberkamm 1982), die kanntlich von zentraler Bedeutung für Max
in der Formel »Ich probiere Geschichten an wie Frischs Arbeit gewesen ist. Auch Bachmanns bis-
Kleider« im Roman präsent gehalten wird (Frisch lang kaum beachtete Auseinandersetzung mit Si-
1976, Bd. V.1, S. 22). Bachmanns Kritik an dieser mone de Beauvoirs Roman L’invitée (1943;
Poetik verdichtet sich zu einem allegorischen deutsch Sie kam und blieb, 1953) in der Erzäh-
Bild, wenn das Ich im letzten Traum des zweiten lung Ein Schritt nach Gomorrha (Retif) wäre vor
Kapitels von Malina aus kritischer Distanz – sie dem Hintergrund von Frischs Werk zu betrach-
Deutschsprachige Literatur nach 1945 287

ten. In ihrer »umfassende[n] […] Gesamtdeu- Zyklusbildung der Todesarten nicht nur an Bal-
tung von Max Frischs Roman« Homo faber in zacs Romanzyklus La comédie humaine, sondern
Alles einerseits (Haberkamm 1989, S. 622) und auch an Günter Grass’ Danziger Trilogie
Frischs Auseinandersetzung mit Beauvoirs Studie (1959–1963) denken läßt, ist doch fraglich, ob
»Das andere Geschlecht« in eben diesem Roman sich hinter diesen Bezugnahmen eine eingehende
Homo faber andererseits (Lubich, S. 53 f.) zeich- Auseinandersetzung mit der Arbeit von Günter
net sich ein sehr komplexer literarischer Dialog Grass verbirgt. Dies dürfte für viele solcher Zitate
ab. In diesem Zusammenhang ist auch ein erst und Zitatparaphrasen gelten, doch ist natürlich
vor kurzem bekannt gewordenes biographisches auch nicht auszuschließen, daß in Zukunft ›poeti-
Detail von Interesse: Marianne Frisch-Oellers sche Korrespondenzen‹ aufgedeckt werden, wo
erinnert sich, daß Beauvoirs »Das andere Ge- sie zur Zeit noch keineswegs vermutet werden.
schlecht« zu den ersten Gesprächsthemen ge- Vielleicht ist es in diesem Sinne angebracht, dem
hörte, als sie 1962 zusammen mit ihrem dama- Hinweis auf ein »Mäusefest« in dem Roman Ma-
ligen Freund Tankred Dorst in die gemeinsame lina weiter nachzugehen (TKA 3.1, 359): Denn
Römische Wohnung von Bachmann und Frisch die Titelerzählung des Bandes »Mäusefest und
eingeladen war (Bircher, S. 100). Offensichtlich andere Erzählungen« von Johannes Bobrowski,
war es Anfang der 1960er Jahre im Bekannten- die in dem Laden eines alten Juden unmittelbar
kreis des Schriftstellerpaares Bachmann/Frisch nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen
üblich, Simone de Beauvoirs Thesen zu diskutie- spielt (Bobrowski, S. 9–13), erweitert den Reso-
ren. Auch hier würde sich also ein geeigneter nanzraum von Bachmanns Roman Malina auf
Ansatzpunkt ergeben, einer bislang unbekannten durchaus adäquate Weise. Wenn Bobrowski, den
Schnittstelle des intellektuellen Horizonts von Bachmann 1960 kennengelernt hat, in der Bach-
Ingeborg Bachmann und Max Frisch nachzuge- mann-Forschung bislang noch keine Rolle ge-
hen. spielt hat, dann zeugt dies ja lediglich von den
anders gelagerten Interessenschwerpunkten –
und dies könnte durchaus für weitere, bislang
Andere Vertreter und Vertreterinnen der
noch nicht in den Blick geratene Autorinnen und
deutschsprachigen Literatur nach 1945
Autoren zutreffen.
Paul Celan und Max Frisch, diese herausragen- Die derzeit bekannten Spuren von Bachmanns
den und in ihrer Bedeutung für Bachmanns Werk Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen
relativ gut erforschten Gestalten der deutsch- deutschsprachigen Literatur betreffen zumeist
sprachigen Literatur nach 1945, sind nur zwei in Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die die Au-
einer langen Reihe von Schriftstellern und torin auch persönlich gekannt hat. Aus der Lite-
Schriftstellerinnen, die Bachmann durch ihre Bü- raten- und Künstlerszene ihrer Wiener Zeit
cher und/oder auch persönlich gekannt hat. Ob 1946–1953 (Heimito von Doderer, Milo Dor,
mit einer Bekanntschaft oder Freundschaft auch Reinhard Federmann, Rudolf Felmayr, Hermann
eine – wie auch immer geartete – Auseinander- Hakel, Wolfgang Kudrnofsky, Walter Toman u. a.)
setzung mit dem Werk des jeweiligen Kollegen scheint neben Hans Weigel vor allem Ilse Ai-
oder der Kollegin einhergeht, wäre jedoch je- chinger von besonderer Bedeutung und »in den
weils am Einzelfall zu prüfen. So spielt beispiels- Jahren um 1950 für Ingeborg Bachmann eine Art
weise der um das Leit- und Titelmotiv kompo- Leitfigur« gewesen zu sein (Hapkemeyer 1990,
nierte Rom-Essay Zugegeben vom Ende der S. 33). Parallelen sind besonders zwischen Bach-
1960er Jahre wohl auf den Eingang eines Romans manns früher Erzählung Das schöne Spiel und
von Günter Grass an: »Zugegeben«, mit diesem Aichingers Roman Die größere Hoffnung aus dem
Wort beginnt seine Blechtrommel aus dem Jahr Jahr 1948 gesehen worden (Weigel 1999, S. 61),
1959. Aber auch wenn Bachmann ein Exemplar und vor allem ist Aichingers Roman für Bach-
dieses Romans mit einer persönlichen Widmung manns lyrisches Werk von zentraler Bedeutung
von Günter Grass besaß, auch wenn sie in dem (Höller 1999, S. 44).
1967 entstandenen Essay über Leo Lipski eben- Mit Bachmanns Anschluß an die Gruppe 47 im
falls auf Die Blechtrommel anspielt (Bachmann Jahr 1952 wächst die Zahl der deutschsprachigen
2000a, S. 218) und das Verfahren literarischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen in ihrem
288 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Bekanntenkreis (Alfred Andersch, den sie in den erklärte, darüber habe man keine Kritik zu
1950er Jahren häufig sieht, wäre hier etwa zu schreiben (GuI, 126). In demselben Interview aus
nennen), und mit ihren Wohnortwechseln kom- dem Jahr 1972 erwähnt sie auch ihren Lands-
men bald danach auch noch weitere Kreise hinzu: mann Thomas Bernhard, der zu den wenigen
der erste ›Römische Kreis‹ deutschsprachiger Schriftstellern gehört, denen sie in den 1960er
Schriftsteller und Künstler, der sich Anfang der Jahren literaturkritische bzw. essayistische Texte
1950er Jahre im Café Doney und im Café Greco widmete (W 4, 361–364; Bachmann 2000a,
trifft (Gustav René Hocke, Marie Luise Kasch- S. 184–188, 209 f.). Ein vergleichender Blick auf
nitz, Hermann Kesten u. a.), daran anschließend das Werk von Bachmann und Bernhard galt neu-
der ›Münchener Kreis‹ (Wolfgang Hildesheimer, erdings den Aspekten ›mythenreiche österreichi-
Hans Egon Holthusen, Dieter Lattmann u. a.), sche Vorstellungswelt‹ und ›ererbter österreichi-
bald danach wieder Rom, Zürich, dann ein ›Ber- scher Albtraum‹ (Hoell 2000, S. 9). Für eine an-
liner Kreis‹ (Günter Grass, Walter Höllerer, Uwe dere potentiell hochinteressante Konstellation
Johnson, Hans Werner Richter u. a.), und damit sind bislang nur Äußerungen der einen Seite
dürfte sich die Liste der potentiellen literarischen entdeckt worden: Hans Magnus Enzensberger,
Bezugspersonen noch keineswegs erschöpfen. der 1959 zum Objekt von Max Frischs Eifersucht
In den frühen 1950er Jahren war neben den wurde (Frisch 1976, Bd. V.1, S. 712 f.), scheint
Arbeiten von Ilse Aichinger sicherlich das Werk Bachmanns Arbeit gegenüber sehr kritisch ge-
von Günter Eich für Bachmann ein solcher Be- wesen zu sein. Bei der Tagung der Gruppe 47
zugspunkt, und vor allem ist ihr Hörspiel Ein Ende September 1957 am Starnberger See nutzte
Geschäft mit Träumen von »Eichs erfolgreichem er in einer Diskussion über ihr Gedicht Liebe:
Hörspiel ›Träume‹ inspiriert« (Höller 1999, Dunkler Erdteil das Forum, um seine generellen
S. 47 f.). In einem Interview aus dem Jahr 1956 Einwände gegen die Entwicklung der Kollegin
nennt sie neben Heinrich Böll, mit dem sie eine anzubringen: »Es sind eben für Ingeborg Bach-
vertrauensvolle Freundschaft verband, auch Gün- mann einfach sanftere Tage gekommen, ich
ter Eich unter den Freunden, die ihr »wertvoll möchte fast sagen, weichere. Und, ja, vielleicht
sind« (GuI, 21). Für die späten 1950er Jahre liegt kann man darüber nicht rechten, oder vielleicht
seit kurzem der Beleg einer bislang noch weitge- ist das gar keine Kritik mehr, aber ich muß sagen,
hend unbekannten Beziehung vor; Bachmanns die härteren waren mir lieber.« (zitiert nach
Brief an Wolfgang Hildesheimer zu seinen Stük- Schutte, S. 86) Jahre später ›antwortete‹ Enzens-
ken Spiele, in denen es dunkel wird zeugt von berger auch auf eine Interviewäußerung Bach-
einem intensiven poetologischen Gedankenaus- manns: »Wir müssen«, hatte Bachmann in einer
tausch mit dem befreundeten Kollegen (Weigel Aufnahme des Bayerischen Rundfunks mit dem
1999, 470 f.; vgl. auch Achberger). In den 1960er Pathos der 1950er Jahre erklärt, »wahre Sätze
und 1970er Jahren verfolgte Bachmann offenbar finden, die unserer eigenen Bewußtseinslage und
mit großem Interesse die Entwicklung von zwei dieser veränderten Welt entsprechen.« (GuI, 19)
österreichischen Kollegen. Zwar hat sie Peter Anfang der 1960er Jahre erklärt Enzensberger
Handkes berühmten Auftritt bei der Tagung der diese Bemühung zumindest für äußerst fragwür-
Gruppe 47 in Princeton im Frühjahr 1966 nicht dig. Anhand eines konkreten Beispiels (»unsere
selbst miterlebt, doch nicht lange danach taucht Epoche sei auf die Namen Auschwitz und Hiro-
in ihrem Goldmann/Rottwitz-Roman ein shima getauft«) wendet er gegen Bachmanns
Handke-Porträt in der Gestalt des jungen Schrift- »wahre Sätze« ein: »Es hört sich, zwanzig Jahre
stellers Klaus Jonas auf, der »mit einem Pamphlet nach dieser Taufe, bereits wie ein Gemeinplatz
die ganze etablierte Literatur vor den Kopf gesto- aus dem kulturkritischen Feuilleton an. Wahre
ßen hatte« (TKA 1, 340). Die zunehmende Be- Sätze werden heute abgeschabt, ehe sie sich ent-
rühmtheit des jungen österreichischen Kollegen falten können, und behandelt wie kurzlebige
reflektiert Bachmann später auch in der Erzäh- Konsumgüter, die sich beliebig wegwerfen und
lung Drei Wege zum See (TKA 4, 436), und vor durch jüngere Modelle ersetzen lassen« (Enzens-
allem hat ihr Handkes Erzählung Wunschloses berger, S. 18; vgl. auch Enzensbergers posthume
Unglück (1972) offenbar so großen Eindruck ge- ›Hommage‹ an Bachmann in dem »Epilog: Böh-
macht, daß sie in einem Interview kategorisch men am Meer« in seinem Essayband Ach, Europa
Deutschsprachige Literatur nach 1945 289

[1987]; vgl. Schneider 1999, S. 77). Hier scheint des Kind« auftauchen (W 4, 30) und spielt damit
sich eine weitere Konstellation ›poetischer Kor- auf die wohl berühmteste Erzählung von Marie
respondenz‹ anzudeuten. Luise Kaschnitz an. Später wird sie der Schwä-
gerin ihrer Romanfigur Eka Kottwitz/Aga Rott-
witz denselben Spitznamen »Baby« geben (TKA
Marie Luise Kaschnitz
1, 394 u. ö.), mit dem auch die Frau von Marie
Die Spur zumindest einer potentiellen ›Korre- Luise Kaschnitz’ Neffen Michael Freiherr Mar-
spondenzpartnerin‹ im ›literarischen Dialog‹ er- schall von Bieberstein in Rom gerufen wurde
scheint hingegen deutlicher als die der eben ge- (Kaschnitz 2000, S. 926). Darüber hinaus deuten
nannten Zeitgenossen: die von Marie Luise Ka- alle Anzeichen darauf hin, daß zwischen Bach-
schnitz, die allerdings bislang nur unter mann und Kaschnitz auch ein Austausch über die
biographischem, noch nicht unter intertextuel- schriftstellerische Arbeit stattgefunden hat. Ein
lem Gesichtspunkt Beachtung gefunden hat. entsprechender Hinweis erfolgte bereits zu bei-
Kaschnitz gehörte bereits zu Bachmanns erstem der Lebzeiten in dem Prosaband Tage, Tage,
Römischen Kreis, der sich regelmäßig im Café Jahre, wo es heißt: »I. B. erzählte mir, daß eine
Doney und im Café Greco traf, und in ihren Episode ihres neuen Buches von einer chinesi-
literarischen Texten und Tagebüchern sind auch schen Geschichte angeregt sei« (Kaschnitz
des öfteren private Treffen erwähnt, beispiels- 1981–89, Bd. 3, S. 128; vgl. Kaschnitz 2000,
weise im Mai 1956, wenn sie anläßlich eines S. 612). Im Mai 1962 hat Bachmann offenbar ein
Besuchs bei Bachmann und Henze in Neapel Manuskript von Kaschnitz gelesen, das 1963 un-
notiert: »Früher hätte I. wohl gelebt wie E. ter dem Titel Wohin denn ich veröffentlicht
Brontë, in einem einsamen Landhaus, in dem es wurde (Kaschnitz 2000, S. 822). Dieser Text do-
spukt, jetzt wird auch ein so völlig unaktiver kumentiert nicht nur Kaschnitz’ Auseinanderset-
Mensch rund um die Erde gerissen!« (Kaschnitz zung mit dem Tod ihres Mannes, hier fand sie –
2000, S. 559) Die freundschaftliche Beziehung wie viele Schriftsteller zu Beginn der 1960er
der beiden Schriftstellerinnen hat auch die ver- Jahre – erstmals auch deutliche Worte für die bis
schiedenen Wohnsitze in den 1960er Jahren dahin immer noch weitgehend verdrängte NS-
überdauert, und Kaschnitz gehörte wie Uwe Vergangenheit. So beschäftigt sie in diesem Buch
Johnson in dieser Zeit zu jenen Freunden, denen nicht zuletzt der »Gedanke, daß die Grausamkeit,
Bachmann während ihrer Reisen ihre Römische die damals mit so offenem Hohn gewaltet hatte,
Wohnung überließ (Kaschnitz 1981–89, Bd. 3, nicht wie durch einen Zauberschlag verschwun-
S. 122ff.). Aus einer solchen langjährigen persön- den sein könne, daß sie noch irgendwo lauere,
lichen Beziehung erwächst natürlich auch eine bereit hervorzubrechen und völlig sicher, ihre
Reihe gemeinsamer Bezugspunkte. So war Bach- Opfer zu finden.« (Kaschnitz 1981–89, Bd. 2,
mann offenbar nicht die einzige, die einen Bei- S. 434) In diesem Sinne wird auch Bachmann
namen für den Suhrkamp-Verleger Siegfried Un- einige Jahre später fragen, »wohin der Virus Ver-
seld hatte, auch Kaschnitz bezeichnete ihn »in brechen gegangen ist – er kann doch nicht vor
einer Mischung von heiterer Sympathie, zärt- zwanzig Jahren plötzlich aus unsrer Welt ver-
licher Ironie und aufrichtiger Anerkennung nie schwunden sein« (TKA 2, 77).
anders als den ›großen Siegfried‹« (Gersdorff, Auch wenn die literarischen Werke und das
S. 283). Mit diesem Namen ist Unseld bekannt- schriftstellerische Selbstverständnis der beiden
lich auch in das Traumkapitel des Romans Ma- Autorinnen auf den ersten Blick sehr unter-
lina eingegangen (TKA 3.1, 505). schiedlich zu sein scheinen, fällt doch eine Reihe
Die Spuren des ›literarischen Dialogs‹ sind auf von Bezügen auf, die an eine noch weiterrei-
beiden Seiten durchaus vielfältig. Bachmann er- chende ›poetische Korrespondenz‹ denken läßt.
wähnt Kaschnitz unter einer Handvoll zeitgenös- So geht es beispielsweise sowohl in Bachmanns
sischer Lyriker in ihrer zweiten Frankfurter Vor- Erzählung Ihr glücklichen Augen als auch in
lesung (W 4, 206–208), und in ihrem in der ersten Kaschnitz’ Erzählung Die Schlafwandlerin um
Zeit der persönlichen Bekanntschaft entstande- das Nicht-Sehen-Wollen, wobei das Motiv bei
nen Essay Was ich in Rom sah und hörte läßt sie Bachmann allerdings in erster Linie in der Nach-
nicht einfach ein Kind, sondern »ein dickes blon- folge Georg Groddecks unter psychologischem
290 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Gesichtspunkt entfaltet wird, während bei Kasch- Intimität von zwei Personen.« (GuI, 68) Daß sich
nitz die poetologische Dimension im Vorder- hier eine grundsätzliche Problematik ganz an-
grund steht. Ein weiterer Bezugspunkt ist die derer Art auftut, scheinen allerdings weder Bach-
beiden Autorinnen gemeinsame Skepsis gegen- mann noch Kaschnitz gesehen zu haben. Denn
über der beginnenden ›sexuellen Befreiung‹ in erst in den 1970er Jahren sollten jüngere Schrift-
den 1960er Jahren. In der Erzählung Rosamunde stellerinnen sich mit dem Problem konfrontiert
hat Bachmann den Niederschlag diesbezüglicher sehen, daß wer »über sexualität« schreiben will,
Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas als »wort um wort und begriff um begriff an der
»Aufklärungswahn« bezeichnet, mit dem »die Il- vorhandenen sprache« aneckt (V. Stefan, S. 3).
lustrierten […] die Leute […] mehr als je zuvor Für Bachmann und Kaschnitz, die beiden Vertre-
[verblödeten]« (TKA 4, 37), und Anfang der terinnen älterer Generationen, hat sich diese Pro-
1970er Jahre karikierte sie diesen Trend in den blematik noch nicht als eine sprachliche darge-
Medien in ihrer Erzählung Probleme Probleme: stellt; sie konnten sich in dieser Frage noch auf
»Doppelmord in Stuttgart. Sicher eine gräßliche das Diskretionspostulat und auf das Schamgefühl
Gegend […]. Sex in Deutschland. Das war sicher zurückziehen, mit dem sie aufgewachsen waren.
noch ärger.« (TKA 4, 183; »Sex in Deutschland« Wichtiger war beiden Schriftstellerinnen offen-
war tatsächlich am 2. Mai 1966 die Titelstory der kundig (wie Bachmann es in einem Interview
Zeitschrift »Der Spiegel«) Sowohl Bachmann als ausdrückte) das »Phänomen der Liebe – wie ge-
auch Kaschnitz sahen in dem, was als ›sexuelle liebt wird« (GuI, 109), und vor allem hier dürfte
Befreiung‹ gefeiert wurde, in erster Linie die es äußerst lohnenswert sein, die Gemeinsam-
Gefahr eines Verlustes (vgl. Kaschnitz 1981–89, keiten und Differenzen von Bachmann und
Bd. 7, S. 912: »[…] nichts mehr von dunklem Kaschnitz zu untersuchen. Denn in der Art und
Geheimnis […]«). Darum ist es auch Bachmann Weise, wie in Kaschnitz’ frühem Roman »über
in ihrem Roman Malina zu tun, wenn sie »Illu- das Verhältnis von Weiblichkeit, Phantasie und
strierte«, »Zeitungen«, »Kino« und »Bücher« kri- Schreiben« (I. Stephan, S. 122) eine Liebesbezie-
tisiert (»verschwinden soll jedes Geheimnis«; hung dargestellt wird, finden sich viele Parallelen
TKA 3.1, 307) und vor diesem Aspekt der Ich- zu der Darstellung der Ich-Ivan-Beziehung in
Ivan-Beziehung demonstrativ »die Tür« schließt Bachmanns Malina-Roman. In der vergleichen-
und »den Vorhang fallen« läßt, »um ein Tabu den Analyse dieser im Abstand von fast vier Jahr-
wiederherzustellen« (TKA 3.1, 305). Interessan- zehnten erschienenen Romane Liebe beginnt
terweise scheint sich Bachmann dieser Position (1933) und Malina (1971) ließen sich deutlicher
keineswegs immer so sicher gewesen zu sein, wie als bisher jene Topoi von Weiblichkeit als solche
bislang angenommen wurde (denn auch die Tat- herausarbeiten, die sich als Erbe des bürger-
sache, daß das erste Kapitel des Malina-Romans lichen 19. Jahrhunderts auf dem Umweg über die
bis kurz vor der Drucklegung »Glücklich schlafen ›restaurativen‹ 1950er Jahre noch bis in die Zeit
mit Ivan« hieß [TKA 3.1, 299], hat die Forschung der Arbeit an dem Malina-Roman gehalten ha-
ja nicht wirklich verunsichern können). Einige ben und die Bachmann bei der Inszenierung der
der kürzlich veröffentlichten Gedichtentwürfe Geschlechterrollen in Malina zum Einsatz
belegen, daß die Autorin durchaus eine Zeitlang bringt.
auf der Suche nach einer Ausdrucksweise für den In dem Literaturverständnis der beiden Auto-
tabuisierten Bereich war. Im Malina-Roman ist es rinnen dürften sich allerdings mehr Differenzen
dann jedoch wieder bei Andeutungen wie »Das als Gemeinsamkeiten finden, und es sieht so aus,
also ist deine Religion« geblieben (TKA 3.1, 327; als habe Kaschnitz sogar einmal vorgehabt, sich
vgl. den Gedichtentwurf Mit einem Dritten spre- diesbezüglich öffentlich von Bachmann abzu-
chen in Bachmann 2000b, S. 74–79), und in ei- grenzen. In dem 1964 für Anna Achmatowa ge-
nem Interview nach Erscheinen des Romans, in schriebenen Gedicht Wahrlich hatte Bachmann
dem sie direkt darauf angesprochen wurde (»Die gefordert: »Einen einzigen Satz haltbar zu ma-
Sexualität wird in der Schilderung dieser Liebes- chen, / auszuhalten in dem Bimbam von Wor-
beziehung ganz ausgeklammert. Warum eigent- ten.« (W 1, 166) Ob Kaschnitz, die sich im Lauf
lich?«), stellte sie kategorisch fest: »Weil es dar- ihrer Schriftstellerkarriere immer wieder genö-
über nichts zu sagen gibt. Das gehört in die tigt sah, die ihr eigene Art zu schreiben zu ver-
Deutschsprachige Literatur nach 1945 291

teidigen, sich von diesen Zeilen unangenehm (2002): Männermythos, Frauenmythos, und danach?
getroffen fühlte, muß Spekulation bleiben. Im- Anmerkungen zum Mythos Ingeborg Bachmann. Er-
scheint in dem Tagungsband der »Women in German
merhin setzte sie gegen Bachmanns abqualifizie-
Studies Annual Conference« (Edinburgh, 28.–31. Juli
rendes »Bimbam von Worten« ein anderes »bim 2000). (Hg.) Sarah Colvin, Laura Martin, Alison Phipps
bam«, mit dem sie ironisch-trotzig auf ihrer eige- und Christl Reissenberger; – Edith Bauer (1998): Drei
nen Schreibweise besteht: »Ich sehe und höre, Mordgeschichten. Intertextuelle Referenzen in Inge-
reiße die Augen auf und spitze die Ohren, ver- borg Bachmanns Malina. Frankfurt/M., Bern u. a.; –
suche, was ich höre, zu deuten, hänge es an die Helmut Böttiger (1996): Orte Paul Celans. Wien; – Urs
Bircher (2000): Mit Ausnahme der Freundschaft. Max
große Glocke, bim bam« (Kaschnitz 1981–89, Bd.
Frisch 1956–1991. Zürich; – Corinna Caduff (1995):
7, S. 827). Der Text ist dann allerdings doch nicht Neunhundert neue Seiten Bachmann. Freuden und Fra-
in den noch zu Bachmanns Lebzeiten erschie- gen. Ingeborg Bachmanns nachgelassenes Todesarten-
nenen Prosaband Orte (1973) eingegangen, son- Projekt. In: Die Weltwoche. Zürich, 5. Oktober 1995,
dern erst aus dem Nachlaß von Marie Luise S. 73; – Dagmar von Gersdorff (1992): Marie Luise
Kaschnitz bekannt geworden. Kaschnitz. Eine Biographie. Frankfurt/M.; – Heinz
Gockel (1976): Max Frisch. Gantenbein – das offen-
Quellen: Johannes Bobrowski (1965): Mäusefest und artistische Erzählen. Bonn; – Klaus Haberkamm (1982):
andere Erzählungen. Berlin; – Bertolt Brecht (1995): Einfall – Vorfall – Zufall. Max Frischs Homo faber als
Buch der Wendungen. In: Brecht: Große kommentierte ›Geschichte von außen‹. In: Modern Language Notes
Berliner und Frankfurter Ausgabe. (Hg.) Werner Hecht 97, S. 713–744; – Klaus Haberkamm (1989): Alles oder
u. a., Bd. 18 (Prosa 3). Berlin, Weimar, Frankfurt/M., nichts. Ingeborg Bachmanns Erzählung im Diskurs mit
S. 45–194; – Celan (2001): Paul Celan – Gisèle Celan- Max Frischs Roman Homo faber. In: Modern Language
Lestrange. Briefwechsel. Mit einer Auswahl von Brie- Notes 104, S. 612–635; – Manfred Jurgensen (1981):
fen Paul Celans an seinen Sohn Eric. Aus dem Französi- Ingeborg Bachmann – Die neue Sprache. Bern; – Chri-
schen von Eugen Helmlé. Hg. und kommentiert von stine Koschel (1997): »Malina ist eine einzige Anspie-
Bertrand Badiou in Verbindung mit Eric Celan. An- lung auf Gedichte«. In: Böschenstein/Weigel (1997),
merkungen, Bd. 2. Frankfurt/M.; – Hans Magnus En- S. 17–22; – Frederick A. Lubich (1990): Max Frisch:
zensberger (1964): Politik und Verbrechen. Frankfurt/ Stiller, Homo faber und Mein Name sei Gantenbein.
M.; – Max Frisch (1976): Gesammelte Werke in zeit- München; – Hans Mayer (1964): Mögliche Ansichten
licher Folge. (Hg.) Hans Mayer. Frankfurt/M., Bd. II.1: über Herrn Gantenbein. In: Die Zeit, 18. 9. 1964; – Kurt
Die Chinesische Mauer. Eine Farce [1946]; Bd. III.2: Oppens (1963): Gesang und Magie im Zeitalter des
Stiller [1954]; Bd. V.1: Mein Name sei Gantenbein Steins. Zur Dichtung Ingeborg Bachmanns. In: Merkur
[1964]; Bd. V.1: Montauk [1975]; – Marie Luise Kasch- 17, S. 175–193; – Hubert Patterer (1998): Vom Schrei-
nitz (1981–89): Gesammelte Werke. (Hg.) Christian ben als Strafe & Obsession. »Es wird der schönste
Büttrich und Norbert Miller. Frankfurt/M., Bd. 1: Liebe Sommer bleiben«. Die neue, legendenfreie Biografie
beginnt [1933]; Bd. 2: Wohin denn ich [1963]; Bd. 3: über Ingeborg Bachmann. In: Kleine Zeitung (Graz/
Tage, Tage, Jahre [1968]; Bd. 7: Neue Kurzprosa Klagenfurt), 5. Februar 2000, S. 84–85; – Gerhard F.
[1970]; – Marie Luise Kaschnitz (2000): Tagebücher aus Probst (1978): Mein Name sei Malina – Nachdenken
den Jahren 1936–1966. (Hg.) Christian Büttrich, Ma- über Ingeborg Bachmann. In: Modern Austrian Litera-
rianne Büttrich und Iris Schnebel-Kaschnitz. 2 Bde. ture 11, S. 103–119; – Françoise Retif (1987): Simone de
Frankfurt/M., Leipzig; – Verena Stefan (1975): Häu- Beauvoir et Ingeborg Bachmann. Tristan ou l’Andro-
tungen. München; – Hans Weigel (1992): Unvollendete gyn. Dijon; – Ingrid Riedel (1981): Traum und Legende
Symphonie [1951]. Graz, Wien, Köln. in Ingeborg Bachmanns Malina. In: Psychoanalytische
und psychologische Literaturinterpretation. (Hg.)
Literatur: Albrecht (1989); Behre (1992); Brüns (1994); Bernd Urban und Winfried Kudszus. Darmstadt,
Hapkemeyer (1990); Hoell (2000); Höller (1999); S. 178–207; – Marion Schmaus (1998): Eine Poetologie
Kann-Coomann (1988); Kohn-Waechter (1992); Oel- des Selbst/Mordes. Überlegungen zur Wahlverwandt-
mann (1980); Schneider (1999); Steiner (1998); Thiem schaft zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan.
(1972); Weigel (1999). In: Albrecht/Göttsche (1998), S. 95–118; – Walter
Karen R. Achberger (1998): »Bösartig liebevoll« den Schmitz (1985): Max Frisch. Das Spätwerk (1962–82) –
Menschen zugetan. Humor in Ingeborg Bachmanns Eine Einführung. Tübingen; – Schutte (1988): Dichter
Todesarten-Projekt. In: Albrecht/Göttsche (1998), und Richter. Die Gruppe 47 und die deutsche Nach-
S. 227–243; – Monika Albrecht (1992): Mein Name sei kriegsliteratur. Ausstellung der Akademie der Künste
Gantenbein – mein Name? Malina. Zum intertextuellen 28. Oktober bis 7. Dezember 1988. (Hg.) Jürgen
Verfahren der ›imaginären Autobiographie‹ Malina. In: Schutte. Berlin; – Uwe Schweikert (1998): »Mein Teil,
Stoll (1992), S. 250–264; – Monika Albrecht (1995): es soll verlorengehen«. Ingeborg Bachmann: Gedichte
»Bitte aber keine Geschichten«. Ingeborg Bachmann als aus dem Nachlaß und Römische Reportagen [Rez.]. In:
Kritikerin Max Frischs in ihrem Todesarten-Projekt. In: Frankfurter Rundschau, 18. April 1998; – Inge Stephan
Text + Kritik (1995), S. 136–153; – Monika Albrecht (1984): Liebe als weibliche Bestimmung? Frauenbild
292 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

und mythische Strukturen in den beiden frühen Ro- Franza ist Aimé Césaires »Stück über Patrice
manen Liebe beginnt und Elissa von Marie Luise Ka- Lumumba« Im Kongo erwähnenswert, das sie in
schnitz. In: Marie Luise Kaschnitz. (Hg.) Uwe Schwei-
der deutschen Übersetzung von 1966 besaß. Die
kert. Frankfurt/M., S. 119–150; – Lore Toman (1974):
Bachmanns Malina und Frischs Gantenbein. Zwei Sei- in den 1960er Jahren populär werdende latein-
ten des gleichen Lebens. In: Die Tat. Zürich, 24. August amerikanische Literatur ist mit einigen wenigen
1974, S. 21; – Sigrid Weigel (1995): »Sie sagten sich Titeln etwa von Jorge Luis Borges und Pablo
Helles und Dunkles«. Ingeborg Bachmanns literari- Neruda in Bachmanns Bibliothek vertreten. Ins-
scher Dialog mit Paul Celan. In: Text + Kritik (1995), gesamt sind jedoch – ohne daß hier einer sy-
S. 123–135; – Sigrid Weigel und Bernhard Böschen-
stematischen Untersuchung des Bibliothekskata-
stein (1997): Paul Celan – Ingeborg Bachmann. Zur
Rekonstruktion einer Konstellation. In: Böschenstein/ logs vorgegriffen werden kann – bereits bei ei-
Weigel (1997), S. 7–14. nem kursorischen Überblick eindeutige Schwer-
Monika Albrecht punkte bei der ›westlichen‹ Literatur Europas
und der USA zu erkennen, wobei nicht zuletzt der
Kalte Krieg einschließlich seiner Folgen auf dem
4.5. Bachmann und die ›Welt- Buchmarkt eine Rolle spielen dürfte.
literatur‹ ihrer Zeit Auch wenn Bachmann in den Frankfurter Vor-
lesungen »Blok und Majakowski und […] Pa-
»Früher glaubte ich, alle Bücher, die es gibt, sternak« unter den »zeitgenössische[n] Lyri-
würden für mich nicht ausreichen«, sagte Inge- ker[n]« nennt (W 4, 200), scheint sie, von we-
borg Bachmann im Mai 1973 in einem Interview. nigen Ausnahmen abgesehen (vgl. die Widmung
»Aber man hebt sich manches für später auf, in »Für Anna Achmatowa«; W 1, 166), die Gegen-
der asiatischen Literatur, da bin ich abgesehen wartsliteratur des Ostblocks wenig zur Kenntnis
von einigen Hauptwerken noch nicht sehr weit.« genommen und statt dessen die großen russi-
(GuI, 125) Gerade dieses Beispiel macht deut- schen Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhun-
lich, daß die notwendige Selektion aus dem stän- derts bevorzugt zu haben. Nach dem Tod des
dig wachsenden Fundus der Weltliteratur nicht polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz,
nur privaten Kriterien unterliegt. In den 1950er den Bachmann in Berlin kennengelernt hat,
und 1960er Jahren war es ja – anders als etwa in wurde sie gebeten, für die Zeitschrift »Cahier de
der Generation der Expressionisten – nicht üb- l’Herne« einen Beitrag zu seinem Gedenken zu
lich, in der asiatischen Literatur Leseschwer- verfassen (vgl. Weigel 1999, S. 454–459), der je-
punkte zu setzen. Erst gegen Ende der 1960er und doch Fragment geblieben und postum als »Ent-
in den frühen 1970er Jahren, also in der Zeit wurf« in die Ausgabe »Werke« eingegangen ist
dieses Interviews, ist »auf dem Umweg über (W 4, 326–330). Allerdings geht Bachmann in
Amerika« das Interesse an asiatischen Denkwei- diesem Text nicht auf Gombrowicz’ literarische
sen wieder aktualisiert geworden (Reif, S. 117). Arbeit ein – anders als im Fall des in Israel
Tatsächlich sind in Bachmanns Bibliothek so gut lebenden Polen Leo Lipski, dessen Erzählung
wie keine Titel aus der asiatischen Literatur er- Piotruš sie für »außerordentlich« hielt (vgl. Al-
halten. (Wenn im folgenden gelegentlich Hin- brecht/Göttsche 2000, S. 206–208). Der im Som-
weise auf den Katalog dieser Bibliothek [Pichl mer 1967 für die Zeitschrift »Der Spiegel« ge-
2003] ergänzend hinzugezogen werden, dann vor plante, fragmentarisch gebliebene Essay charak-
allem deshalb, weil die derzeitige Forschungssi- terisiert den Ich-Erzähler als »ferne[n]
tuation zum Thema »Bachmann und die ›Welt- Verwandte[n] der Beckettgestalten« (Bachmann
literatur‹ ihrer Zeit« im wesentlichen aus Deside- 2000a, S. 180) und stellt nicht zuletzt ein »Zeug-
raten besteht.) Aber auch aus der schwarzafrika- nis« von Bachmanns »Auseinandersetzung mit
nischen Literatur, die sich immerhin in den der Sprachsituation im zeitgenössischen Israel
1960er Jahren dank der »Literaturvermittler Jan- zwischen Iwrit und den Herkunftssprachen« dar
heinz Jahn und Rolf Italiaander« zunehmender (Weigel 1999, S. 496).
Beliebtheit erfreute (Ehling/Ripken, S. 7), Obwohl Bachmann viele Jahre lang in Italien
scheint Bachmann so gut wie keine Titel besessen gelebt hat, ist die italienische Literatur in ihrer
zu haben. Mit Blick auf ihre ›Entdeckung‹ der Bibliothek insgesamt mit nur knapp über hundert
›Dritten Welt‹ im Umfeld der Arbeit am Buch Titeln vertreten – halb so häufig wie beispiels-
Bachmann und die ›Weltliteratur‹ ihrer Zeit 293

weise die französische. Ein erster Versuch, »Bach- Bachmann im Jahr 1954 zum ersten Mal dort
manns Kontakte mit der italienischen Welt aufzu- veröffentlichte (vgl. Hapkemeyer 1983, S. 63).
zeigen« (Mocali, S. 25), ist kaum über das hinaus- Dieser mehrsprachigen Zeitschrift scheint die
gegangen, was Andreas Hapkemeyer bereits Autorin großen Wert beigemessen zu haben; sie
recherchiert hatte: »Zu den italienischen Freun- hat dort nicht nur selbst wiederholt publiziert,
den und Bekannten zählen die Schriftsteller sondern offensichtlich auch befreundete Kolle-
Giorgio Manganelli, Giancarlo Vigorelli, Alberto gen (wie beispielsweise Anfang 1957 Heinrich
Moravia, Elsa Morante« (Hapkemeyer 1990, Böll) zur Mitarbeit zu gewinnen versucht. Kon-
S. 130; zu Morante vgl. neuerdings einschrän- takte zur Weltliteratur ihrer Zeit dürften sich
kend Henze, S. 157). Bachmann hat bei ihren auch auf internationalen Literaturfestivals wie
Verlegern immer wieder Übersetzungen italie- etwa dem »Festival zweier Welten« in Spoleto
nischer Gegenwartsliteratur angeregt, und umge- (Umbrien) ergeben haben, das Bachmann im
kehrt haben diese sich auch an sie gewandt, wenn Sommer 1965 offenbar erstmals besuchte, oder
italienische Autoren in das Verlagsprogramm auf- auch vom »London Poetry Festival«, wo sie am 15.
genommen werden sollten – bekanntestes Bei- Juli 1967 auf Einladung des englischen Schrift-
spiel ist Bachmanns Übersetzung von Gedichten stellers Ted Hughes las.
Giuseppe Ungarettis, dem sie auch einen frag- In einem frühen Entwurf hat die Figur Malina
mentarisch gebliebenen Essay gewidmet hat (vgl. »heute Hikmet gelesen« (TKA 3.1, 9), also ein
Albrecht/Göttsche 2000, S. 211). Als der Piper Buch von Nazim Hikmet, einem führenden Re-
Verlag für das Jahr 1960 eine Übersetzung des präsentanten der modernen türkischen Literatur
italienischen Lyrikers Salvatore Quasimodo (TKA 3.2, 919), und das Ich im Traumkapitel des
plante (neben Ungaretti eine weitere herausra- Romans reißt dem Vater »voller Haß die französi-
gende Gestalt dieser Zeit), war Bachmann als schen Bücher aus der Hand, denn Malina hat sie
Gutachterin gefragt: »Im Quasimodo habe ich mir gegeben« (TKA 3.1, 511). Wie ihre weibliche
länger gelesen«, schreibt sie am 4. November Hauptfigur dürfte auch Bachmann selbst eine
1959 an Klaus Piper, »man kann den Auswahl- besondere Beziehung zu »französischen Bü-
band durchaus machen. Vielleicht sollte man chern« gehabt haben, wofür nicht zuletzt der
auch den Aufsatz in den Band übernehmen, den Bestand von insgesamt über 200 Titeln in ihrer
er dem Band ›Il falso e vero verde‹ beigefügt hat. Bibliothek spricht. Die in den 1950er Jahren
(›Discorso sulla Poesia‹)«. Letzterem ist der Ver- allgegenwärtige Auseinandersetzung mit den
lag jedoch mit dem 1960 erschienenen Band aus- französischen Existentialisten hat ihren Nieder-
gewählter Gedichte (Das Leben ist kein Traum) schlag nicht zuletzt in Bachmanns Funkeinrich-
nicht gefolgt. Im Herbst 1959 scheint Bachmanns tung von Albert Camus’ Schauspiel L’état de siège
besonderes Interesse dem gerade in deutscher (1948) gefunden, das im Oktober 1958 unter dem
Übersetzung erschienenen einzigen Roman von Titel Belagerungszustand ausgestrahlt wurde.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa Der Leopard zu Während jedoch die meisten Hauptwerke von
gelten; jedenfalls bittet sie den Piper Verlag Camus in Bachmanns Bibliothek erhalten sind,
darum, »ein Leseexemplar vom ›Leopard‹ […] ist Jean-Paul Sartre, der zweite wichtige Vertreter
an Dr. Peter Szondi« schicken zu lassen (Brief des französischen Existentialismus, dort nur mit
vom 10. 10. 1959 an Reinhard Baumgart). »Drei Essays« (»Die Transzendenz des Ego«) in
Spuren von Bachmanns Rezeption der neueren einem Band aus dem Jahr 1964 vertreten. Späte-
italienischen Literatur sind in ihrem Werk bis- stens durch ihre Beziehung zu Max Frisch hat
lang kaum nachgewiesen worden; die Anspie- Bachmann das Werk von Simone de Beauvoir
lung auf den Titel des 1963 erschienenen Romans kennengelernt (vgl. dazu den Artikel »Deutsch-
von Carlo Emilio Gadda La cognizione del dolore sprachige Literatur nach 1945«).
in dem Roman Malina (»Die erste Erkenntnis des In ihrem Werk finden sich zahlreiche Anspie-
Schmerzes«; TKA 3.1, 295) gehört in dieser Hin- lungen auf französische Autoren ihrer Zeit, etwa
sicht zu den seltenen Fundstücken. Gadda war in der letzten Frankfurter Vorlesung, die sie mit
auch in der in französischer, englischer, deutscher einem Satz »von dem französischen Dichter René
und italienischer Sprache erscheinenden Litera- Char« beendete: »Auf den Zusammenbruch aller
turzeitschrift »Botteghe Oscure« vertreten, als Beweise antwortet der Dichter mit einer Salve
294 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Zukunft.« (W 4, 271) Die Zitatparaphrase ent- dessen nach dem Weltkrieg Furore machendes
stammt einem Gedichtband von Char, der 1959 in Versepos Das Zeitalter der Angst Bachmann in
der Übersetzung von Paul Celan erschienen ist gleich zwei Ausgaben besaß« (Kanz 1999, S. 41).
(W 4, 388). Darüber hinaus scheint Bachmann Hans Werner Henze, für den Auden wie Bach-
diesen bedeutenden zeitgenössischen Autor, den mann als Librettist gearbeit hat, erinnert sich
sie »als den jüngsten der Franzosen« unter den allerdings, daß sie »in ihrer Berliner Zeit […]
»zeitgenössische[n] Lyriker[n]« auch in der Vor- fünf Minuten von Auden entfernt, im Grunewald
lesung »Über Gedichte« erwähnte (W 4, 200), [wohnte], aber die Herrschaften sahen sich nie«
auch persönlich kennengelernt zu haben, denn und grüßten sich noch nicht einmal (Henze,
der eben genannte Band in ihrer Bibliothek trägt S. 146).
die Widmung »René Char«. In ihrem ersten To- Anläßlich einer USA-Reise hat Bachmann of-
desarten-Roman erwähnt Bachmann den franzö- fenkundig den afro-amerikanischen Schriftsteller
sischen Lyriker und Prosaisten Henri Michaux in James Baldwin kennengelernt. Im April 1966, als
einem Atemzug mit Helmut Heißenbüttel (TKA sich herausstellte, daß sie nicht zur Tagung der
1, 135), einem deutschen Vertreter der experi- Gruppe 47 nach Princeton fahren konnte, schrieb
mentellen Literatur, und dies wohl nicht ganz zu sie an Hans Werner Richter: »Bitte grüß James
Unrecht, zumal Heißenbüttel selbst das Nach- Baldwin von mir besonders herzlich, ich hätte ihn
wort zu einer deutschen Übersetzung von Vents et so gern wiedergesehen!« Die führenden ame-
poussières geschrieben hat (1962; deutsch Wind rikanischen Schriftsteller der Beat Generation
und Staub, o. J.), die sich mit zahlreichen an- »Ginsberg und Ferlinghetti, Burroughs« erwähnt
deren Büchern von Henri Michaux in Bachmanns Bachmann als Lektüre der Figur Fanni des ersten
Bibliothek befindet. Ein Hinweis darauf, daß Todesarten-Romans (TKA 1, 135; vgl. Kommen-
Bachmann die Arbeit der französischen Schrift- tar TKA 1, 594). Lawrence Ferlinghetti hat Bach-
stellerin Marguerite Duras zur Kenntnis genom- mann Ende Juni 1965 beim »Festival zweier Wel-
men hat, findet sich im Umfeld der Verfilmungs- ten« in Spoleto kennengelernt (Hapkemeyer
pläne ihres letzten Hörspiels; im April 1961 1983, S. 118), Allen Ginsberg beim London Poe-
schreibt Bachmann an ihren Lektor Reinhard try Festival im Juli 1967. Daß sie diese Richtung
Baumgart: »Ich kann doch nicht glauben, daß der der amerikanischen Literatur schon früher zur
›Gute Gott‹ ein Film werden kann, und obwohl Kenntnis genommen hat, bezeugt ihre Anspie-
ich das Stück ja zwei oder drei Jahre geschrieben lung auf Allen Ginsbergs berühmtes Gedicht
habe, ehe die Duras ›Hiroshima‹ geschrieben Howl (erschienen 1956 in dem Band Howl and
hat, wird man das Gefühl haben, er sei in dieser Other Poems bei City Light Books, San Francisco)
Art und natürlich schlechter […].« in ihrer ersten Frankfurter Vorlesung (vgl. W 4,
Das Werk des in Paris lebenden irischen 197: »Beatnikgeheul«; Bachmann besaß eine
Schriftstellers Samuel Beckett führte Bachmann Schallplattenlesung von Howl and Other Poems
in der Frankfurter Vorlesung über »Das schrei- aus dem Jahr 1959; vgl. auch den Terminus »Ya-
bende Ich« als Beispiel für »die letzten bedrük- gefantasie« in dem Roman Malina, der auf die
kenden Verlautbarungen des Ich in der Dichtung« von William Burroughs und Allen Ginsberg ver-
an (W 4, 237); in einem Interview aus dem Jahr wendete kultische Droge südamerikanischer In-
1965 hob sie ebenfalls »die Radikalität« hervor, dianer anspielt; TKA 3, 365 und 941). Von Ted
»mit der er das Ich-Problem stellt«, und gab an: Hughes erhielt Bachmann den 1965 posthum er-
»Ich schätze ihn sehr« (GuI, 57). Für Bachmanns schienenen Gedichtband Ariel seiner Frau, der
langanhaltendes Interesse spricht zudem die Tat- amerikanischen Lyrikerin und Erzählerin Sylvia
sache, daß die Erscheinungsjahre der zahlreichen Plath. Einige Zeit später, nach dem Erscheinen
Beckett-Ausgaben in ihrer Bibliothek von 1958 der deutschen Übersetzung von Sylvia Plaths Ro-
bis 1972 reichen. Ob Bachmann einen heraus- man The Bell Jar (1963; deutsch Die Glasglocke,
ragenden englischen Schriftsteller ihrer Zeit, 1968) entstand Bachmanns fragmentarisch ge-
Wystan Hugh Auden, ebenfalls schätzte, läßt sich bliebener Essay Die Glasglocke / Das Tremendum
zur Zeit schwer beurteilen. In dem Roman Ma- (W 4, 358–360; Bachmann 2000a, S. 181–183).
lina sollen »mehrere Textpassagen […] inhaltlich »Vor dem Hintergrund ihrer Arbeit an den Todes-
Ähnlichkeiten« zu Audens Werk aufweisen, […] arten […] scheint es nicht zuletzt die Darstellung
Bachmann und die ›Weltliteratur‹ ihrer Zeit 295

einer ›Todesart‹ in der komplexen Form eines Menschen« (TKA 1, 392), und zwar genau im
autobiographisch begründeten Schreibens zu Sinne von Lawrence Durrell, der in seinem Rho-
sein, die Bachmann an Plaths Roman interessiert dos-Buch Reflections on a Marine Venus aus dem
hat« (Albrecht/Göttsche 2000, S. 209). Auf den Jahr 1953 (deutsch 1968) darüber reflektiert,
Titel des Romans Tender is the Night des ame- »daß Krankheit ihre Wurzeln in einer falschen
rikanischen Schriftstellers F. Scott Fitzgerald Metaphysik, einer bestimmten Einstellung zum
spielt sowohl ein später Entwurf zu der Erzäh- Leben hat« (Durrell 1988, S. 25; vgl. zu Bach-
lung Rosamunde (TKA 4, 41) als auch die Erzäh- mann und Durrell auch Diallo 1998 und 1998a).
lung Simultan an (TKA 4, 111). Wenn das ›wahre Faszinosum‹ für Bachmann
Einige Fundstücke aus dem Umfeld der Ägyp- der in Alexandria geborene griechische Lyriker
tenreise im Jahr 1964 sollen abschließend zeigen, Konstantínos Kaváfis war, dann darf allerdings
daß die Untersuchung von Bachmanns Beziehung nicht übersehen werden, daß Lawrence Durrell
zur Weltliteratur zweifellos noch zahlreiche mit seinen Alexandria-Romanen das seine zu
Überraschungen bereithalten wird. »Sie kennt dem ›Mythos Kaváfis‹ beigetragen hat. Ob Bach-
natürlich das ›Alexandria Quartett‹ von Law- mann den »alten Dichter der Stadt«, wie er dort
rence Durrell«, schreibt Bachmanns damaliger immer wieder genannt wird (Durrell 1977, S. 8
Reisebegleiter, »bei aller Anerkennung der Tech- u. ö.), den »klugen, ironischen Griechen«, dessen
nik und des inhaltlichen Umfanges […] hält sich »herrliche Zeilen« Justine zu Beginn des nach ihr
ihre Bewunderung jedoch in Grenzen. Zu den benannten Romans rezitiert (ebd., S. 19), durch
wahren Faszinosa, die Alexandria birgt, gehören Durrells Alexandria-Quartett kennengelernt hat,
für sie die Gedichte und das Leben von Kon- muß derzeit jedoch offen bleiben, ebenso wie die
stantinos Kavafis« (Opel 1996, S. 76). Trotzdem Frage, ob Bachmann nicht nur den ›Mythos Kavá-
gibt es zwischen Bachmann und dem Engländer fis‹, sondern auch das Werk dieses griechischen
Lawrence Durrell eine Reihe von Bezügen, die Dichters kannte. In ihrem Wüstenbuch finden
immer wieder an eine Art Geistesverwandtschaft sich immerhin Passagen, die an das berühmte
denken lassen. Eine Szene in Durrells Roman poetologische Gedicht Na meínei von Kaváfis er-
Justine, dem 1957 erschienenen ersten Alexan- innern, dessen deutscher Titel Um zu bleiben der
dria-Roman, erinnert beispielsweise auf verblüf- zweisprachigen Auswahl seines Werks im Suhr-
fende Weise an Bachmanns 1957 entstandene kamp Verlag den Namen gegeben hat. Gemein-
Erzählung Porträt von Anna Maria: »Ich entsinne sam ist beiden das Verlangen, flüchtige Schönheit
mich noch, wie [Justine] vor dem mehrteiligen und Vollkommenheit festzuhalten, bei Kaváfis
Spiegel […] saß […] und sagte: ›Schau! Fünf eine erotische Szene in einer Taverne, die im
verschiedene Bilder von derselben Gestalt. Wenn Gedicht ›versteinert‹ wird um ›stehen zu blei-
ich ein Schriftsteller wäre, würde ich versuchen, ben‹, »um zu bleiben« (»die Vorstellung davon, /
eine vieldimensionale Wirkung der Charaktere sechundzwanzig Jahre hat sie durchschritten;
zu erreichen, eine Art Prismenansicht. Warum jetzt kam sie, / um zu bleiben in diesem Gedicht«;
sollten die Menschen nicht mehrere Profile Kaváfis, S. 53), bei Bachmann einerseits ein ›voll-
gleichzeitig haben?‹« (Durrell 1977, S. 19) Und kommener Augenblick‹ gelungener Sozialität
genau diesen Gedanken haben Bachmann und (»vier schwarze Hände und eine weiße Hand sind
Durrell ja in den genannten Texten umgesetzt. abwechselnd im Teller […], man müßte das Bild
Zudem läßt Durrells multiperspektivisches Zy- versteinern lassen in diesem Augenblick, in dem
kluskonzept insgesamt immer wieder an Bach- etwas vollkommen ist«; TKA 1, 281 f.) und an-
manns Erzählkonzepte denken, etwa an die Ver- dererseits die ›vollkommene Schönheit‹ des grie-
suche mit dem ›offen-artistischen Erzählen‹ im chischen Liebhabers (»Alkis, Alkis. So viele Male
ersten Todesarten-Roman oder an das ›Erzählen habe ich seinen Namen wiederholt […], ich
in Analogien‹ des Goldmann/Rottwitz-Romans. könnte nur mit den Nägeln etwas aus dem Papier
Und vielleicht ist es auch kein Zufall, daß die reißen, mit den Zähnen eine Spur hineindrücken
promovierte Philosophin Bachmann den Begriff […]. Er soll hier stehenbleiben, wie er aufge-
»Metaphysik« im Goldmann/Rottwitz-Roman in standen ist, mit der Olivenhaut«; TKA 1, 247).
einer durchaus unphilosophischen Weise ein- Ein Titel von Konstantínos Kaváfis ist in Bach-
setzt; sie spricht dort von der »Metaphysik eines manns Bibliothek allerdings nicht erhalten, und
296 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

auch darüber hinaus ist die neugriechische Lite- (2000): Das Leben, die Menschen, die Zeit. Hans Wer-
ratur mit einer Auswahl der Gedichte des Lyri- ner Henze im Gespräch mit Leslie Morris (Rom, 4.
Januar 1999). In: Albrecht/Göttsche (2000), S. 143–
kers Odysséas Elýtis sowie einer englischen
159; – Konstantínos Kaváfis (1989): Um zu bleiben.
Übersetzung des bekannten Sorbas-Romans von Liebesgedichte. Griechisch und Deutsch. Übersetzung
Níkos Kasantsákis (Bíov kai politeía tou Aléxh und Nachwort von Michael Schroeder. Frankfurt/M.; –
Zormpá, 1946) insgesamt nur äußerst spärlich Heinrich Böll-Archiv (Köln); Hans Werner Richter-Ar-
vertreten. Angesichts von Bachmanns Plan, für chiv im Archiv der Akademie der Künste (Berlin);
längere Zeit nach Griechenland überzusiedeln, Briefwechsel mit dem Piper-Verlag im Deutschen Lite-
raturarchiv (Marbach).
der in den Jahren 1954-1956 sehr konkrete
Gestalt angenommen hat, mag dies erstaunen; Literatur: Diallo (1998); Hapkemeyer (1983); Hapke-
offenkundig läßt sich jedoch von Bachmanns Le- meyer (1990); Kanz (1999); Opel (1996); Pichl (2003);
Weigel (1999).
benssituation nicht notwendig auch auf Lektüre-
Monika Albrecht und Dirk Göttsche (2000): Textkri-
schwerpunkte schließen. Mit Titeln von Sopho- tischer Kommentar. In: Albrecht/Göttsche (2000),
kles, Euripides, Aischylos, etc. erinnert Bach- S. 198–211; – M. Moustapha Diallo (1998a): »Die Er-
manns Bibliothek in dieser Hinsicht eher an die fahrung der Variabilität«. Kritischer Exotismus in Inge-
des Ich in dem Roman Malina, das seinen ein- borg Bachmanns Todesarten-Projekt im Kontext des
zigen griechischen unter den vielen im Traum- interkulturellen Dialogs zwischen Afrika und Europa.
In: Albrecht/Göttsche (1998), S. 33–58; – Holger Eh-
kapitel erwähnten Autoren zwar auf Griechisch
ling und Peter Ripken (1997): Die Literatur Schwarz-
grüßen kann (»Chaire, Thukydides!«; TKA 3.1, afrikas. Ein Lexikon der Autorinnen und Autoren.
S. 512), doch gilt der Gruß einem Griechen, der München; – Maria Chiara Mocali (1993): Die Bach-
im fünften Jahrhundert vor Christi gelebt hat. mann-Rezeption in der italienischen Literaturwissen-
schaft und Literatur. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 25–36;
Quellen: Lawrence Durrell (1977): Das Alexandria- – Wolfgang Reif (1973): Zivilisationsflucht und literari-
Quartett. Justine, Balthasar, Mountolive, Clea sche Wunschräume. Der exotische Roman im ersten
[1957–60]. Reinbek bei Hamburg; – Lawrence Durrell Viertel des 20. Jahrhunderts. Diss. Universität des
(1988): Leuchtende Orangen. Rhodos – Insel des Helios Saarlandes.
[1953]. Reinbek bei Hamburg; – Hans Werner Henze Monika Albrecht
297

5. Bachmann und die Musik

In den Interviews zu ihrem Roman Malina, der Musik und Literatur reflektieren. In enger Ver-
»Ouvertüre« des geplanten Todesarten-Zyklus bindung mit dem sprachkritischen Ansatzpunkt
(GuI, 95), hat Ingeborg Bachmann von ihrem und dem ästhetischen Utopieverständnis ihrer
»besondere[n] Verhältnis zur Musik« gesprochen Frankfurter Vorlesungen (1959/60) sowie dem
und die Musik an den biographischen Anfang kritischen Ethos ihrer Preisrede Die Wahrheit ist
ihres Schreibens gestellt: Sie habe »als Kind zu- dem Menschen zumutbar (1959) begreift Bach-
erst zu komponieren angefangen«, für eine Oper mann hier in einer Wiederanknüpfung an die
geschrieben, »was die Personen singen sollten«, Musikästhetik der Romantik die Musik poetolo-
und sich erst für die Literatur entschieden, als sie gisch als das Andere der Wortsprache und zu-
gemerkt habe, daß für das Komponieren »die gleich metaphorisch als eine ›andere Sprache‹,
Begabung nicht groß genug« gewesen sei (GuI, die ihre höchste Ausdrucks- und Wirkungskraft
124). Dennoch habe sie zur Musik nach wie vor aus ihrer »Vereinigung« mit der Sprache im Ge-
»eine vielleicht noch intensivere Beziehung als sang, also in der menschlichen Stimme gewinne,
zur Literatur« (GuI, 107), da sich in der Musik so wie umgekehrt die Literatur »durch Musik«
»das Absolute« zeige, das sie »nicht erreicht sehe (durch den »Rhythmus« als »Gangart des Gei-
in der Sprache« (GuI, 85), da also Musik der stes«) sich »ihrer Teilhabe an einer universalen
»höchste Ausdruck« sei, »den die Menschheit Sprache wieder versichern« könne (W 4, 60 f.). In
überhaupt gefunden hat« (Statement zum Film der spezifischen Diktion einer modernen Ro-
von Gerda Haller 1973, zitiert nach Greuner mantikrezeption und in besonderem Hinblick auf
1990, S. 69). Dieses emphatische Bekenntnis zur die Gattungen Lyrik und Oper führen Bachmanns
Musik besitzt im diskursiven Kontext der Ma- musikästhetische Essays also jenen Dialog der
lina-Interviews zwar auch die strategische Funk- Literatur mit der Musik, der große Teile ihres
tion einer Leseanweisung für die komplexe, Werks auch literarisch prägt. Obwohl kurzschlüs-
quasi-musikalische »Komposition« (GuI, 96) die- sige Analogiebildungen zwischen musikalischen
ses Romans, es verweist jedoch zugleich grund- und literarischen Strukturen mit Recht kritisiert
sätzlich auf die zentrale Bedeutung der Musik in worden sind (Eberhardt 2002), kann daher für
Ingeborg Bachmanns literarischem Werk und in Ingeborg Bachmanns Werk auch jenseits der Li-
ihrem Literaturverständnis, in dem Sprachrefle- bretti von einer »musikalischen Poetik« (Spies-
xion und Musikästhetik sich poetologisch ergän- ecke 1993) gesprochen werden. Diese musikali-
zen. sche Poetik umfaßt vielfältige Zitate und Anspie-
Seinen deutlichsten Ausdruck findet Bach- lungen aus der Welt der Musik (von oft zentraler
manns »besonderes Verhältnis zur Musik« – nach motivischer Bedeutung), den Komplex der poeto-
dem jugendlichen Ineinander von Komponieren logischen Musikmotive um die traditionellen To-
und Schreiben, von dem im Nachlaß noch die poi der Dichtung als Lied und des Dichters als
Klavierlied-Komposition Silbermond (N3802– Sängers, quasi-musikalische literarische Kompo-
3811) zeugt – in ihrer künstlerischen Zusammen- sitionsverfahren, seltener auch Thematisierun-
arbeit mit dem Komponisten Hans Werner gen von Musik und Musikleben oder Widmungs-
Henze, vor allem also in den Libretti zu Henzes gedichte an befreundete Komponisten. Im Mit-
Opern Der Prinz von Homburg und Der junge telpunkt dieser musikalischen Poetik steht trotz
Lord sowie in der Ballettpantomime Ein Mono- gelegentlicher Motive aus den Bereichen Volks-
log des Fürsten Myschkin (vgl. hierzu den Artikel musik, Filmmusik, Jazz und Pop die europäische
»Libretti«). Im gleichen Kontext entstanden Tradition der klassischen Musik, die vor allem in
Bachmanns musikästhetische Schriften, insbe- der Lyrik und in dem Roman Malina von zen-
sondere die Essays Die wunderliche Musik (1956) traler Bedeutung ist.
und Musik und Dichtung (1959), die (neben der Die andere Seite dieses literarischen Dialogs
Satire auf den bürgerlichen Musikbetrieb) poeto- mit der Musik bilden zahlreiche Vertonungen
logisch das Verhältnis der künstlerischen Medien ihrer Werke, insbesondere ihrer Gedichte. Bach-
298 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

manns kleine Schallplattensammlung enthielt zu- dete Zeit (1953) für den Untergang jenes alten
letzt im übrigen einen knappen Querschnitt Österreich, das bei Bachmann zum Mythos inter-
durch die klassische europäische Musikliteratur kulturellen Zusammenlebens wird. In dem Zy-
(Oper, Oratorien, symphonische, Kammer- und klus Von einem Land, einem Fluß und den Seen in
Klaviermusik) von Bach bis Henze, darunter je- dem zweiten Gedichtband Anrufung des Großen
doch nur wenige der von ihr literarisch zitierten Bären (1956) sind »Tanz«, »Maultrommeln« und
Werke (Mozarts Motette Exsultate Jubilate etwa, »Flötenstimmen« Teil eines Erntedankfestes, mit
Bellinis La sonnambula, Wagners Tristan und dem sich die Musik am Ende des Sommers »in
Isolde oder Mahlers 9. Sinfonie [vgl. Achberger das Sommerland« verabschiedet (W 1, 90). Na-
2003]). turmetaphorisch kehrt die kulturelle Verknüp-
fung von Tanz und Musik in Erklär mir, Liebe
wieder im Tanz des Skorpions zur »Silbersand-
Musik als Thema und Motiv in der Lyrik
musik« (W 1, 109). Hingegen verschränkt sich im
Nur in wenigen Gedichten hat Bachmann Musik »Regenblues« des Gedichts Harlem (W 1, 113) die
ausdrücklich zum Thema gemacht, und doch hat romantische Metapher von der Musik als Sprache
sie dieses Sujet von der frühesten bis zur späten der Natur mit dem musikalischen Inbegriff der
Lyrik beschäftigt. In jener produktiven Über- afroamerikanischen Kultur als Kennzeichen einer
gangsphase am Kriegsende, die die Schwelle vom sanften New Yorker Melancholie. Vollständig
Jugend- zum Frühwerk markiert, entsteht das exotistisch wird die kulturelle Musikmotivik in
Gedicht Vor einem Instrument – entworfen am dem Gedicht Liebe: Dunkler Erdteil (1957), in
»30.XI.[1945]« (N6293), neugefaßt am »29.6.46« dem »die süßen Hölzer« »dunkle Trommeln [rüh-
(N6175) –, das das Verhältnis des lyrischen Ich zu ren]« (W 1, 158). Das Gedicht Reklame schließ-
seinem Instrument (Ingeborg Bachmann spielte lich reflektiert kulturkritisch die Funktionalisie-
in ihrer Jugend Klavier) als Spannung von Er- rung und Kommerzialisierung der Musik in der
lösung und Verführung, Selbsterkenntnis und Werbung (W 1, 114). Es entwirft eine Dramatur-
Selbstvergessen durch die Musik beschreibt. Nur gie zweier gleichzeitiger Stimmen, die an ähn-
die Bindung an die »Welt« hindert das Musiker- liche musikalische Strukturen in dem Hörspiel
Ich daran, die »Grenze« zur absoluten Sphäre der Die Zikaden und dem Roman Malina und darin
Musik zu überschreiten (N15917 in »du« 1994, zugleich an Bachmanns Librettotheorie erinnert.
S. 22). Musik erscheint in dieser Variante des für Das zentrale Musik-Gedicht aus der Haupt-
Bachmann zentralen Motivs der Grenze bzw. des phase von Bachmanns lyrischem Werk ist aber
Aneinandergrenzens in romantischer Tradition zweifellos Schwarzer Walzer (W 1, 131). In teils
als das transzendente Andere der sozialen Wirk- daktylischem Rhythmus entwirft das Gedicht
lichkeit, in dessen Erfahrung das Subjekt gleich- eine nächtliche Gondelfahrt durch Venedig als
wohl erst wahrhaft zu sich kommt. Dagegen fun- eine Reise durch Klänge und Farben, als »schwar-
giert in dem vermutlich etwa gleichzeitigen Ge- zen Walzer« mit »Introduktion«, »Auftakt«, »Pau-
dicht Notturno (jüngste Fassung N6206 f.) die sen« und »Coda«. Eine entsprechende Anspie-
musikalische Genrebezeichnung nur als poetolo- lung in dem Roman Malina legt nahe, daß Bach-
gische Metapher für ein Liebesgedicht, in dem mann dabei an die Barcarole im vierten Akt von
die Nacht der Raum sowohl der Erfüllung der Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählun-
Liebe als auch der Erinnerung an verlorene Liebe gen bzw. an deren Verfilmung durch Michael
ist. Powell und Emeric Pressburger (1951) dachte
Einen eigenen Bereich der musikalischen Poe- (TKA 3.1, 297; vgl. Caduff 1998, S. 159 f.).
tik bildet die Ebene der kulturellen Musikmotive. Der künstlerischen Zusammenarbeit mit dem
Insbesondere die österreichische Kultur wird Komponisten Hans Werner Henze verdanken
wiederholt durch ihre Musik charakterisiert, ge- sich die Erweiterung des Gedichts Im Gewitter
legentlich mit Blick auf die öffentliche Inszenie- der Rosen zu der zweistrophigen Fassung Aria I
rung musikalischer Tradition auch satirisch be- sowie das Gedicht Freies Geleit (Aria II), das in
leuchtet. So steht das Ende der »Tänze« und einer Arie des fragmentarischen Belinda-Libret-
»Dissonanzen« (W 1, 59) in dem Gedicht Große tos eine »konkrete Vorstufe« besitzt (Beck 1997,
Landschaft bei Wien aus dem Band Die gestun- S. 151). Beide Gedichte entstanden – und das
Bachmann und die Musik 299

erklärt ihre musikalischen Titel – für Henzes durch die »Kunst des Schweigens« gelesen wor-
Vertonung Nachtstücke und Arien für Sopran und den (Behre, S. 277, 272).
großes Orchester (1957). Diesem langjährigen Bachmanns zweites musikalisches Widmungs-
künstlerischen Partner und Freund widmete gedicht, In memoriam Karl Amadeus Hartmann
Bachmann auch eines ihrer letzten veröffentlich- (Bachmann 1965), ist ein poetischer Nachruf auf
ten Gedichte, Enigma (Erstveröffentlichung in diesen 1963 verstorbenen Komponisten, mit dem
einer Aufnahme der BBC vom 15. Juli 1967, sie durch Henze seit der Mitte der 1950er Jahre
gedruckt im »Kursbuch« 15, November 1968). bekannt war. Es ging zunächst als Handschrift in
Dieses Gedicht, das mit seinen verflochtenen den »Epitaph für Karl Amadeus Hartmann«
Zitaten ausdrücklicher als jedes andere der Au- (1965) ein und ist seither nur in dem Katalog
torin Musik zum Thema hat, trägt im Druck die »Karl Amadeus Hartmann und die Musica Viva«
Widmung »Für Hans Werner Henze aus der Zeit (Bachmann 1980) wiederabgedruckt worden
der Ariosi« (W 1, 171), das ist Henzes Vertonung (vgl. auch Hoffmann). Das Gedicht verbindet die
von Gedichten Torquato Tassos für Sopran, Vio- ›einsame‹ Trauerarbeit der Erinnerung an den
line und Orchester, die vom London Symphony Verstorbenen mit einer Kritik der Oberflächlich-
Orchestra unter Leitung von Colin Davis am 23. keit gesellschaftlichen Umgangs und sprachlicher
August 1964 in Edinburgh uraufgeführt wurde. Verständigung, deren Notwendigkeit als Grund-
Mit einem abgewandelten Zitat aus den Peter lage der sozialen Ordnung zwar anerkannt wird,
Altenberg-Liedern von Alban Berg (op. 4) – der zugleich aber wiederum sprachkritisch und
»Nichts mehr wird kommen« – evoziert das Ge- musikästhetisch die überlegene Ausdruckskraft
dicht zunächst die apokalyptische Erwartung voll- der Musik als Sprache der Gefühle gegenüber-
ständiger Zukunftslosigkeit, um dann mit einem gestellt wird: »Gelassen wir allesamt. / Die uner-
Zitat aus dem Frauenchor der 3. Sinfonie von läßliche Tarnung. // Zuviel übersehen und über-
Gustav Mahler – »Du sollst ja nicht weinen, / sagt hört. / Die Partitur allein kennt die Fermate. //
eine Musik« – die Trostfunktion der Musik aufzu- Blumen darüber. Ein Damals in Reden gepresst. /
rufen, die damit aber hinter der transzendieren- Alles ohnehin. Obenhin.« Aufschlußreich für den
den Kraft der »Vereinigung« von Musik und Dich- ästhetischen Konzentrationsprozeß, der in Bach-
tung (W 4, 60) in Bachmanns Musikästhetik der manns später Lyrik die Gedichtentstehung prägt,
1950er Jahre zurückbleibt (Eberhardt 2002, Kap. ist der Blick auf den nachgelassenen Entwurf zu
VII 4.1). Musik ist hier nicht mehr zweifelsfrei diesem Widmungsgedicht, der unter dem Titel
»Inbegriff einer utopischen Kommunikation« (so Frage in anfangs jambischem Rhythmus und ganz
Höller in Bachmann 1998a, S. 160), und doch anderer Sujetfügung von den Sinneswahrneh-
»kommt noch einmal die Erwartung zum Aus- mungen ausgeht: »Augen, seid ihr ausgelaufen /
druck, daß Musik eintreten kann, wo die Sprache Ohrgang fühl da einer / Alles tot. Ist alles tot? /
an ihre Grenze kommt« (Spiesecke 1993, S. 188), Ohren, kommt euch nichts mehr zu? / Kein Ge-
denn das Gedicht schließt: »Sonst / sagt / nie- räusch und keine Worte. // […] Wir umfangen,
mand / etwas.« – also gleichsam im »Warten auf hören, sehen.« (Bachmann 2000b, S. 34) Nur die
das rettende Wort« (Höller in Bachmann 1998a, »Posaune«, die sich mit dem »Stichwort Tod«
S. 161), so wie Henze seine Ariosi als »Refle- verbindet, deutet hier bereits auf die Spannung
xionen über das Ende einer Liebe« verstand (zi- von sprachloser Trauer und musikalischem Aus-
tiert nach Spiesecke 1993, S. 187). Das Mahler- druck in der Endfassung voraus. (In der Zeile
Zitat verdankt sich einer Einfügung des Kompo- »Alles tot. Ist alles tot?« klingt die im folgenden
nisten in seine Vorlage, das Armer Kinder erläuterte Reminiszenz aus Wagners Musikdrama
Bettlerlied aus Des Knaben Wunderhorn (Spies- Tristan und Isolde an.)
ecke 1993, S. 185; Eberhardt 2002, Kap. VII 4.1); In weniger emphatischer und ästhetisch noch
das Altenberg-Zitat stellt die Apotheose des Lie- nicht verdichteter Form vertrauen auch einige der
des angesichts der Apokalypse im Schlußgedicht nachgelassenen späten Gedichtentwürfe aus den
der Lieder von einer Insel (W 1, 147) in Frage, Jahren 1962 bis 1966, in denen die Autorin die
und doch ist der lyrische Vorgang des Gedichts in Trennung von Max Frisch verarbeitet, der Aus-
seinem Dialog mit der Musik als Entwurf einer druckskraft und ganz konkreten Trostfunktion
»neue[n] Ethik des Sprechens« im Durchgang der Musik. Es sind genau jene später in den
300 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Roman Malina eingearbeiteten Zitate aus Ri- lisierten Topoi des Dichters als Sängers und der
chard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde, Dichtung als Lied. Die Anknüpfung an diese
mit denen das lyrische Ich dieser Entwürfe in zugleich rhetorische und ästhetische Tradition
seinem Leid um Hilfe ruft: »seht ihr’s Freunde? / begründet die poetologische Motivik des Liedes,
Seht ihr’s nicht?« und die wiederholt als Ge- der Stimme und des Tons in Bachmanns Lyrik
dichttitel verwendete Wendung »mild und leise« und im weiteren die Verwendung von Musik-
aus Isoldes Liebestod-Arie, »Tot ist alles. Alles motiven als poetische Metaphern für das Verhält-
tot« aus Markes Abschiedsgesang (beide aus dem nis von Ich und Welt sowie die »musikalische
3. Auftritt des 3. Aktes) sowie aus dem großen Logik« (Weigel 1999, S. 161) ihrer lyrischen
Duett von Tristan und Isolde im 2. Auftritt des 2. Sprache.
Aktes: »So stürben wir / um ungetrennt zu sein« In der frühesten Lyrik vor Bachmanns Auf-
(Bachmann 2000b, wiederholt S. 95–115; vgl. bruch nach Wien stehen diese Musikmetaphern
TKA 3.1, 518 und 546). Der Entwurf Habet acht, noch ganz im Zeichen der romantischen Topik
der in seinem Titel Brangänes Part zitiert (Wag- des Dichters als Sänger und der Musik als Spra-
ner II.2), paßt sich auch in seinem jambischen che der Natur und der (›nächtlichen‹) Gefühle.
Rhythmus Wagners musiklyrischer Sprache an Hier vernimmt das lyrische Ich »aus Dunkel […]
(Bachmann 2000b, S. 104). Ein anderer Entwurf ein Tönen« (N6170), lauscht dem »Geflüster« des
veranschaulicht ausdrücklich, wie die Opernzi- Abends (N6215) und dem »Klang aus einem tie-
tate als die Sprache eines Leidens an der Grenze fen Meer« (N6250), es hört sehnsuchtsvoll die
zum Verstummen fungieren, die aber noch weit »lockenden Gesänge« der »Ferne« (N6244) und
von der intertextuellen Verdichtung und ästhe- beschreibt die Erfüllung erotischer Wünsche als
tischen Modellbildung des Gedichts Enigma ent- Wissen »um der Liebe süsse Lieder« (N5397). Es
fernt ist: »Seht ihr, Freunde, seht ihrs nicht! / daß wünscht sich, »frei [zu] sein« »wie Nachtlieder in
ichs nicht überlebt / auch nicht überstanden habe den Sphären« (W 1, 624), und tritt selbst als
/ seht ihrs nicht, / daß ich einwärts gehe, daß / Sänger eines Nachtlieds auf (N6211). Etwas stär-
fürderhin einwärts rede, daß / ich mich einziehe ker individualisiert ist diese Topik in den pro-
[…]« (Bachmann 2000b, S. 115). Dem Pathos des salyrischen Briefen an Felician (1945/46), in de-
Wagnerschen Liebestodes steht bei Bachmann nen der »Musikhauch der Luft« als Gedächtnis-
mithin der Hilferuf einer Verzweiflung gegen- zeichen Klagenfurts fungiert (Bachmann 1991,
über, die keine metaphysische Verklärung mehr S. 18) und der konventionelle Topos der Musik
kennt. Der Identifikation im zitierenden Rück- als Sprache der Liebe – ähnlich dem Gedicht Vor
gang auf ein Ausdrucksmodell der musikalischen einem Instrument – in das poetologische Motiv
Tradition ist also eine abgrenzende Anverwand- der Musik als das Andere der alltäglichen Welt
lung eingeschrieben. Ähnlich kolportiert in dem und ihrer Sprache umschlägt: Das lyrische Ich
Entwurf An jedem dritten des Monats (Bach- »möchte […] auf dem Klang einer Melodie« zu
mann 2000b, S. 51) das Gustav Mahler-Zitat »du dem »Herzen« seines Geliebten »kommen«, um
sollst ja nicht weinen« das fruchtlose Trostgerede damit den Schritt in die transzendente Welt der
Ungenannter in einer von »Lieblosigkeit« gepräg- Musik zu tun: »Ein Übermaß ist göttlich. Musik
ten Welt (ebd., S. 142). Dagegen setzt ein noch ist überfaßlich. Stimmen sind um und um die
unveröffentlichter später Gedichtentwurf mit Tagesgeräusche zu vergessen […]«, so daß der
dem Titel Meine Beatles (N3800) in humorvoller Geliebte der Musik »lauschen« wird, »den Blick
Form eine Feier der Jugend, des Lebens und der verloren oder in Dich und zugleich in den Him-
Liebe. mel gerichtet« (Bachmann 1991, S. 25). Daß die
Engführung einer Metaphysik der Liebe mit ei-
ner Metaphysik der Musik hier mit religiösen
Musik als Metapher in der Lyrik
Motiven arbeitet, ist für diese Schwellenphase
Die Verknüpfung von Sprachreflexion, Poetologie zwischen Jugend- und Hauptwerk charakteri-
und Musikästhetik in Bachmanns Verständnis des stisch.
Verhältnisses von Musik und Dichtung bildet den Bachmanns lyrisches Frühwerk aus ihren Stu-
Hintergrund für ihre Adaptierung der aus der dienjahren in Wien führt diese romantische To-
Antike tradierten und von der Romantik reaktua- pik einerseits (und teils nochmals in unmittel-
Bachmann und die Musik 301

barer Anknüpfung an Joseph von Eichendorff) Adressaten: »Wie Orpheus spiel ich / auf den
fort: »Leise lauschen wir zusammen: / meine Saiten des Lebens den Tod« – »Aber wie Orpheus
Mutter träumt mich wieder, / und sie trifft, wie weiß ich / auf der Seite des Todes das Leben, /
alte Lieder, / meines Wesens Dur und Moll.« (W und mir blaut / dein für immer geschlossenes
1, 10) Noch in einem Gedicht aus dem Jahre 1952 Aug.« (W 1, 32) Dieser poetologischen Adaptie-
heißt es: »Und der Mund der Welt war weit und rung eines antiken »Ursprungsmythos der Dich-
voll Stimmen an meinem Ohr« (W 1, 22). Doch tung« (Weigel 1999, S. 141) steht in dem Gedicht
steht diesen »Gesänge[n] der Vielfalt« (W 1, 22) Thema und Variation die Verwendung einer mu-
andererseits nun die poetologische Verknüpfung sikalischen Formidee als Modell literarischer
von Liedtopik und Sprachproblematik gegenüber Komposition gegenüber: Die Herbstmotive der
als Ausdruck jener existentialen Metaphorisie- ersten beiden Strophen, die die Verlusterfahrung
rung generationstypischer Entfremdungserfah- der Eingangszeile – »In diesem Sommer blieb der
rungen und (Selbst-) Zweifel, die Bachmanns Honig aus« – ausführen, werden in den Folge-
Lyrik seit dem Kriegsende prägen. In einem der strophen wörtlich wieder aufgegriffen und in
»Lynkeus«-Gedichte (1948) wird das innere Lied neuen Bildkontexten variiert (W 1, 42 f.; vgl.
zur Metapher des Verstummens: »Wir singen, Manacorda). Es ist dieses strukturelle Beispiel
den Ton in der Brust. / Dort ist er noch niemals für Bachmanns musikalische Poetik allerdings
entsprungen.« (W 1, 11) In dem Gedicht Dem (wie später in Malina) keine strenge Übertragung
Abend gesagt (1952) verkehrt sich die romanti- einer musikalischen in eine literarische Form,
sche Topik in den Ausdruck der existentiellen sondern deren freie Transformation.
»Zweifel« des lyrischen Ich: »Müdigkeit singt an Der Rückgriff auf traditionellere lyrische For-
meinem Ohr.« (W 1, 17) Wo das innere Singen men und Bilder verbindet sich in Bachmanns
dennoch »noch ein Beginnen« verkörpert, steht zweitem Gedichtband Anrufung des Großen Bä-
ihm nun die Sprachskepsis gegenüber: »Ein Wort ren (1956) auch mit einer stärkeren Verwendung
nur fehlt! Wie soll ich mich nennen, / ohne in von Musikmetaphern aus der antiken und ro-
anderer Sprache zu sein.« (W 1, 20) mantischen Topik. In dem Zyklus Von einem
In den Gedichten des Bandes Die gestundete Land, einem Fluß und den Seen steht der »Tep-
Zeit (1953) wird die romantische Musiktopik pich aus den Liedern« (W 1, 93) für den magi-
dann im Rückgang auf ihre antiken Ursprünge in schen Aufbruch in eine ferne, andere Welt, wie
Bachmanns eigene lyrische Sprache transfor- sie sich in dem Gedicht Tage in Weiß im »Schwa-
miert und gewinnt in dieser Umformung dort nengesang« vernehmen läßt (W 1, 112). Zwar
sowohl motivische als auch poetologische und wird die romantische Italientopik in dem Gedicht
strukturelle Bedeutung im Sinne der Anfänge Das erstgeborene Land umgekehrt, indem »kein
einer musikalischen Poetik. Für die motivische Vogel […] / sein Lied in Quellen auf[frischt]« (W
Adaptierung steht das mythologische Motiv der 1, 119), doch steht in Landnahme das Blasen des
›Muscheln blasenden‹ »Ungeheuer des Meers« in Horns, »um dieses Land mit Klängen / ganz zu
dem Gedicht Ausfahrt (W 1, 29). Poetologische erfüllen«, symbolisch für Neuanfang und innere
Bedeutung gewinnt die Engführung von Dich- Inbesitznahme (W 1, 98). Am deutlichsten ist die
tung und Musik im Zeichen des antiken Topos poetologische Funktion der Lied-Metapher aller-
vom Dichter als Sänger in dem Orpheus-Gedicht dings in den beiden Zyklen Lieder von einer Insel
Dunkles zu sagen. In der für Bachmanns Lyrik und Lieder auf der Flucht. Der erste Zyklus feiert
der 1950er Jahre charakteristischen Verschrän- den Einklang von Ich und Du im kulturellen
kung von Liebes- und Dichtungsthematik identi- Motiv der festlichen Musik und zugleich in der
fiziert sich das lyrische Ich mit dem mythologi- Metapher des Zikadengesangs als Ausdruck der
schen Sänger Orpheus, dessen Kunst aus der Harmonie von Mensch und Natur: »Platz der
Trauer um Verlust und Tod der Geliebten Eury- Musik und der Freude! / Wir haben Einfalt ge-
dike geboren wird. Im Lied partizipiert die Lyrik lernt, / wir singen im Chor der Zikaden« (W 1,
an der Möglichkeit der Musik, das ›Dunkel‹ der 122). Die Lieder auf der Flucht überführen diese
unaussprechlichen Durchdringung von Leben Metaphorisierung der Musik als die Sprache ei-
und Tod zum Ausdruck zu bringen, und zugleich ner Übereinstimmung von Ich und Du und Welt
an dem dialogischen Bezug des Liedes zu seinem in der Liebe in eine Sprache der Erinnerung, die
302 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

sogar den Tod überwindet: »Wart meinen Tod ab ›kratzt‹, zwischen dem Wunsch nach Musik und
und dann hör mich wieder, / es kippt der Schnee- dem nach Befreiung von der Musik hin- und
korb, und das Wasser singt, / in die Toledo mün- hergerissen wird und nach seinem »Ton« sucht
den alle Töne, es taut, / ein Wohlklang schmilzt (Bachmann 2000b, S. 22, 89, 26 f., 137). In einem
das Eis. […] // Die Becken füllt, / hell und vermutlich wesentlich späteren Gedichtentwurf
bewegt, / Musik.« (W 1, 147) Der poetologischen mit dem Titel Strangers in the night symbolisiert
Engführung von Liebesthematik und Musikmo- dieser Song von Frank Sinatra, der auch in der
tivik – »Innen sind deine Knochen helle Flöten, / Erzählung Simultan zitiert wird (TKA 4, 111), die
aus denen ich Töne zaubern kann« (W 1, 142) – (verlorene) Erfahrung der Jugend: »Mir ist ein
folgt im Schlußstück des Zyklus die rhythmisierte paar Wochen geschenkt worden, / was Jugend ist,
Apotheose des Liedes angesichts der evozierten und ich habe gewußt, ich / habe keinen Teil
Apokalypse der Geschichte: »Nur Sinken um uns daran, / Ich möchte jung sein, [w]eil ich es nie
von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. / Doch war« (Bachmann 2000b, S. 172).
das Lied überm Staub danach / wird uns über-
steigen.« (W 1, 147) Diese Zeilen sind als Summe
Musik und Hörspiel
des Zyklus (Eberhardt 2002, Kap. VII 4.1), als
Utopie der Musik (Spiesecke 1993, S. 20 f.), als Schon in Bachmanns erstem Hörspiel Ein Ge-
hoffnungsvolles »poetologisches Programm« schäft mit Träumen (1952) fungiert eine »leise
(Oberle 1990, S. 169), aber auch als »poetolo- irritierende Musik« »als Leitmotiv« der Traum-
gisches Scheitern« (Caduff 1998, S. 134) gelesen sphäre (W 1, 191), die Regieanweisungen sehen
worden, sie können jedoch vor dem Hintergrund für die einzelnen Träume dramaturgische Musi-
der Verflechtung von Sprachreflexion, Poetologie kalisierungen vor, und Laurenz’ Gesang markiert
und Musikästhetik bei Bachmann auch auf die den ›anderen Zustand‹ des Übergangs zwischen
potenzierende »Vereinigung« von Musik und Alltag und Traum (W 1, 185; Caduff 1998,
Dichtung im Gesang (W 4, 60) bezogen werden. S. 142). Daß Musik in der gleichnamigen Erzäh-
Im Rahmen eines dichten, Petrarcas Zyklus I lung keine Rolle spielt, verweist auf ihre mediale
trionfi, Rilkes XIX. Sonett an Orpheus, Musils Funktion im Hörspiel (Caduff 1998, S. 144 f.). Ein
Drama Die Schwärmer und Paul Celans Gedicht Dokument der künstlerischen Zusammenarbeit
Fadensonnen dialogisch einbeziehenden inter- Ingeborg Bachmanns mit dem Komponisten
textuellen Verweisungsnetzes (vgl. zuerst Thiem Hans Werner Henze ist dann Henzes Musik zu
1972, S. 118ff.) partizipiert die Literatur hier an Bachmanns zweitem Hörspiel Die Zikaden (Ur-
der überlegenen Ausdruckskraft der Musik. sendung NWDR, 25. März 1955). Die Musik
Neben der gebrochenen Hommage an die Mu- fungiert hier nach Bachmanns Regieanweisung
sik in dem späten Gedicht Enigma führen die ausdrücklich nicht – wie im literarischen Wort-
späten Gedichte der 1960er Jahre andere Aspekte hörspiel der Zeit üblich – als »Musikbrücke«
der Musikmetaphorik weiter. Die Sprach- und zwischen den Hörspielszenen, sondern sie ist
Literaturkritik des Gedichts Keine Delikatessen »nahtlos unter- und eingelegt« (W 1, 220). Sie
bedient sich satirisch des Vergleichs von Musik- bildet damit einen integralen Bestandteil medi-
und Sprachgebrauch in dem Motiv der zu ver- engerechter akustischer Sinnkonstitution, indem
nichtenden »Wortopern« (W 1, 173), und in Eine sie motivisch zwischen der sozialen Welt und den
Art Verlust – einer der Entwürfe trägt den Titel entmenschlichten Stimmen der Zikaden vermit-
»Mild und leise« (N455), ein Zitat aus Isoldes telt, jener ehemaligen Menschen, die (dem My-
Liebestod-Arie in Wagners Tristan und Isolde thos aus Platons Dialog Phaidros entsprechend)
(III.3) – bildet »eine Musik« gemeinsam mit Ge- »auf der Flucht in den Gesang« (W 1, 268) ihre
genständen des Alltags ein Gedächtniszeichen menschliche Ausdruckskraft verloren haben. Der
der verlorenen »Welt« der Liebe (W 1, 170). In »kontrapunktischen Stimmenführung« (Höller
den nachgelassenen Gedichtentwürfen aus den 1987, S. 99) entspricht die dramaturgische Ver-
Jahren 1962 bis 1966 ist Musik ganz allgemein wendung von »vier verschiedene[n] Arten Mu-
Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit eines sik«, mit denen Henze die »Symbolqualität des
autobiographischen Ich, das seine verlorene »Zu- Textes hervorzuheben versucht« (Spiesecke 1993,
kunftsmusik« beklagt, ein »grausames Lied« S. 59 f.). Die akustische Inszenierung der Parabel
Bachmann und die Musik 303

tödlicher Zivilisationsflucht wird kompositorisch durch Schallplatten mit »neapolitanische[n] Lie-


ergänzt durch »die Kombination zwischen dem der[n] von Múrolo oder Opern, Bellini, Verdi«
Durchspielen einer variierten Bildreihe (die (TKA 4, 477). In satirischer Form beleuchtet die
Wunschszenen mit Antonio) und der dialekti- kulturelle Musikmotivik in dem aus Malina her-
schen Durchführung eines Themas (Insel/Ge- ausgenommenen Text Besichtigung einer alten
fängnis)« (Weigel 1999, S. 186). Die ästhetische Stadt die touristische Kommerzialisierung einer
Integration von Musik, Stimmendramaturgie, anachronistischen Wiener Musikkultur, für die
Motivarbeit und Gesangsthematik gehört damit das Lied Wien, Wien, nur du allein von Rudolf
in die Reihe der »musikalische[n] Strukturie- von Sieczynski sowie die Operetten Der Zigeu-
rung« der Literatur in Bachmanns Werk (Achber- nerbaron von Johann Strauss (Sohn), Die Csár-
ger 1988, S. 203), sie ist Ausdruck einer musikali- dásfürstinnen von Emmerich Kálmán und Die
schen Hörspielpoetik. lustige Witwe von Franz Lehár stehen (TKA 3.2,
701). Beiläufigere Musikmotive in den Todes-
arten-Texten reichen von Richard Wagners Lo-
Musikalische Poetik in Malina und anderer
hengrin (TKA 2, 59) über die Titelmelodien der
Erzählprosa
Filme Die Brücke am River Kwai (1957) von
Mit Ausnahme des Romans Malina besitzt Musik David Lean und Der dritte Mann (1949) von
in Bachmanns Erzählprosa geringere Bedeutung Carol Reed (TKA 3.2, 711) bis zu dem Jazz-
als in der Lyrik. Vereinzelte Musikmotive veran- Musiker John Coltrane (TKA 4, 30).
schaulichen symbolisch die Befindlichkeit der Fi- Die zentrale Bedeutung der Musik in Malina
guren oder sind – teils satirisch dargestellter – kündigt sich bereits in den letzten Entwürfen zu
Bestandteil der kulturellen Welt, in der sie sich dem Ende 1966 zurückgestellten Roman Das
bewegen. In Bachmanns frühen Erzählungen fun- Buch Franza an, in dem Bachmann die Ge-
giert der »Ton« (ähnlich wie in den Gedichten) als schichte von Franzas Zerstörung in dem Kapitel
»Kunde eines Anderen« jenseits der sozialen Welt »Jordanische Zeit« um eine neue Zwischensta-
(Caduff 1998, S. 121), z. B. als Sehnsuchtston und tion zwischen ihrem Aufbruch aus der Kärntner
musikalischer Ruf romantischer Ferne (W 2, 25 f., Provinz und ihrer desaströsen Ehe mit dem
39). In der späten Erzählung Ihr glücklichen Au- Psychiater Leo Jordan bereichert. Die Liebe der
gen hingegen symbolisiert Mirandas und Josefs Studentin zu dem Pianisten Ödön Csobadi mo-
Besuch eines ›Sonntagskonzerts‹ einen letzten tiviert hier einen ersten Entwurf jener musikali-
Rest an Gemeinsamkeit in einer zerbrechenden schen Intertextualität, die die Todesarten-»Ouver-
Partnerschaft und signalisiert zugleich deren Zu- türe« (GuI, 95) prägen wird. In enger, allerdings
gehörigkeit zum gebildeten Wiener Bürgertum noch wenig spezifischer Verknüpfung zitiert der
(TKA 4, 269 f.). Daß bei diesem Konzert nicht – Entwurf Arnold Schönbergs Melodram Pierrot
wie Miranda meint – »schon wieder« »die Vierte lunaire, Alban Bergs expressionistische Klavier-
Mahler«, sondern Gustav Mahlers 6. Sinfonie sonate op. 1, die 3. Strophe des von Franz Schu-
gegeben wird (ebd.), chiffriert intertextuell die bert (D 920/921, op. 135) vertonten Gedichts
sich abzeichnende »Todesart« Mirandas, denn Ständchen von Franz Grillparzer mit den auf
während Mahlers 4. Sinfonie G-Dur ein Sopran- Diogenes anspielenden Versen »Sucht’ ein Weiser
solo mit dem Volkslied Wir genießen die himmli- nah und fern / Menschen einst mit der Laterne«,
schen Freuden aus Des Knaben Wunderhorn ent- ein Klavierkonzert in Es-Dur, bei dem wohl an
hält, führt die 6. Sinfonie a-Moll den Beinamen Mozart oder Beethoven zu denken ist, Robert
»die tragische« (TKA 4, 629). Die Ersetzung der Schumanns Kreisleriana und den Walzer An der
Brahms- und Schubert-Anspielungen aus den schönen blauen Donau von Johann Strauss
Vorfassungen des Textes durch die scheinbar be- (Sohn) (TKA 2, 235 f.). Diese Passage bildet den
deutungslose Verwechslung zweier Mahler-Sin- werkgeschichtlichen Ausgangspunkt für die mu-
fonien (siehe TKA 4, 269, Apparat A_4) veran- sikalische Poetik des Romans Malina, in dem
schaulicht also schlaglichtartig das innere Drama sich Musik- und Notenschriftzitate mit einer mu-
der Protagonistin. In dem Todesarten-Fragment sikalischen Leitmotivik und einer in Teilen quasi-
Gier behauptet die junge Sibilla ihre italienische musikalischen Erzählstruktur zu einer »neue[n]
Identität gegen ihren österreichischen Vater Sprache« (W 4, 192) des Erzählens verbinden.
304 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

Die Dekonstruktion des epischen Erzählens in auch die Bemerkung, »daß in dem Haus vis-à-vis
dem ästhetischen Reflexionsraum dieses Romans immerhin Beethoven taub die Neunte Sinfonie,
begründet die Darstellungsfunktion der musika- aber auch noch anderes, komponiert hat« (TKA
lischen Intertextualität bzw. Intermedialität im 3.1, 363). Ein eigener Komplex von Musikzitaten
Rahmen eines komplexen, selbstreflexiven Er- verbindet sich mit dem satirisch gefärbten Blick
zählverfahrens, das seine innovative Struktur im auf die österreichische High Society und ihre
Dialog mit der Musik entwickelt. Hier hat auch Traditionspflege in der Episode am Wolfgangsee.
Bachmanns umstrittener Begriff der »Komposi- Mit Bezug auf die Salzburger Festspiele sind hier
tion« (GuI, 96; vgl. Caduff 1998, Eberhardt 2002) Mozarts Zauberflöte und Verdis Requiem (TKA
seine Funktion als Bezeichnung einer narrativen 3.1, 482) Stichworte einer leerlaufenden Kon-
»Vereinigung« von Musik und Dichtung, die epi- versation; im Blick auf die Klavierliedersamm-
sche Sukzession in einen genau komponierten lung Sang und Klang – genannt werden u. a.
polyphonen Prozeß des Mit-, Neben- und Gegen- Franz Schuberts Claudius-Vertonung Der Tod und
einanders vielfältiger und zum Teil gleichzeiti- das Mädchen (D 531), die Oper Die Regiments-
ger Stimmen, Motive und Diskurse überführt tocher von Gaetano Donizetti, die Champagner-
(Beicken 1988, Göttsche 1993, Spiesecke 1993, arie aus Mozarts Don Giovanni und die Arie Des
Caduff 1998). Sommers letzte Rose aus Friedrich von Flotows
Das Spektrum der musikalischen Zitate und Oper Martha (TKA 3.1, 486) – reflektiert das Ich
Anspielungen in Malina reicht von Werken der seine ehemalige Zugehörigkeit zu und jetzige
europäischen Konzert- und Opernliteratur über Entfremdung von dieser österreichischen Kultur
Operetten, Volklieder und Chansons bis zur zeit- und Gesellschaft. In den dialogischen Selbstre-
genössischen Filmmusik. Im Vorkapitel verbindet flexionen des 3. Kapitels steht dagegen die Musik
sich »das erste Lied«, das die Ich-Figur »zu lernen von Miles Davis zu Louis Malles Film L’ascen-
hatte« – Carl Loewes Vertonung von Ferdinand seur pour l’échafaud als Erinnerungszeichen für
Freiligraths Prinz Eugen, der edle Ritter (op. 128; die auf seine eigene ›Ermordung‹ vorauswei-
TKA 3.1, 288) –, mit dem mythischen multikultu- sende Begegnung des Ich mit einem Mörder
rellen Österrreich als magischem Herkunftsraum (TKA 3.1, 624). In den Romanentwürfen fungiert
Malinas. Dem stehen in einem ironischen und der von Claude Débussy als Oper, von Arnold
ideologiekritischen Blick auf das heimatliche Schönberg und Jean Sibelius symphonisch bear-
Klagenfurt Anspielungen auf die Kärntner Lan- beitete Pelléas et Mélisande-Mythos Maurice
deshymne und das Volkslied Verlassn, verlassn Maeterlincks als Reflexionsmodell der doppel-
bin i des Klagenfurters Thomas Koschat gegen- gängerartigen Verbindung des weiblichen Ich mit
über (TKA 3.1, 293). Im 1. Kapitel kommt das seinem männlichen alter ego Malina (TKA 3.1,
kurzlebige Glück des Ich mit Ivan bei einer mu- 24).
sikgetränkten Autofahrt auf der Wiener Ring- Im Zentrum der musikalischen Intertextualität
straße in Zitaten aus dem Chanson Auprès de ma stehen allerdings die leitmotivischen Schönberg-,
blonde zum Ausdruck (TKA 3.1, 342ff.), während Mozart-, Wagner-, Offenbach- und Bellini-Zitate,
Zitate aus dem Chanson Jeanneton prend sa fau- in denen jeweils eine Singstimme (teils ein So-
cille in komischer Brechung die Problematik des pran) als musikalisches Identifikations- und Re-
Geschlechterverhältnisses und die beginnende flexionsmedium des weiblichen Ich fungiert.
Entfremdung von Ivan andeuten: »Les hommes Zweifellos die markanteste Form musikalischer
sont des cochons / […] / Les femmes aiment les Intertextualität bzw. Intermedialität in Malina
cochons« (TKA 3.1, 378). Die Unfähigkeit, ein bilden die Zitate aus Arnold Schönbergs Melo-
ungarisches Kinderlied mitzusingen, signalisiert dram Pierrot lunaire (für Sprechstimme, Klavier,
in ähnlichem Sinne das Scheitern der Utopie Flöte, Klarinette, Geige und Violoncello, op. 21)
eines Familienlebens mit Ivan und seinen Kin- nach 21 von Otto Erich Hartleben ins Deutsche
dern (TKA 3.1, 444). Wie sehr der Lebensraum übertragenen Gedichten Albert Girauds, da die
des Ich von Musik geprägt ist, zeigt nicht nur die leitmotivischen Textzitate vor allem aus dem letz-
über ihr wohnende Opernsängerin, die zu ihrem ten Stück des Zyklus, O alter Duft aus Märchen-
Nachteil mit Elisabeth Schwarzkopf und Maria zeit, sich zu Beginn und gegen Ende des Romans
Callas verglichen wird (TKA 3.1, 336), sondern in einer Art musikalischer Rahmung mit der Ein-
Bachmann und die Musik 305

montierung von (bearbeiteten) Notentextauszü- tendem Übergang zwischen Sprechen und Singen
gen verbinden (TKA 3.1, 281 f., 672 f.). Das erste ansiedelt, ist wohl weniger ›idealer‹, zwischen
Partiturzitat gilt dem Anfang des Schlußstücks: Sprechen und Gesang ›noch ungeschiedener‹
»O alter Duft aus Märchenzeit« (TKA 3.1, 281), ›Ausdruck‹ (Caduff 1998, S. 192, 198) als viel-
das ausführlichere zweite bietet eine gekürzte mehr die »Bewegung der Zerrissenheit« »zwi-
Fassung der dritten und letzten Strophe dieses schen Ausdruck und Konstruktion« (Greuner
Gedichts: »All meinen Unmut geb ich preis; / 1990, S. 79, 82) in einer Dekonstruktionsform
[…] und träum hinaus in selge Weiten … / O des Gesangs und in diesem Sinne Teil eines
alter Duft aus Märchenzeit!« (TKA 3.1, 673; vgl. musikalischen Grenzgangs zwischen Tradition
auch Dollenmayer) Durch die mit der Kürzung und Moderne. Daher fungiert Schönbergs Pierrot
verbundene Partiturmontage entsteht ein unvoll- lunaire über seine motivische Bedeutung hinaus
ständiger Takt, der als musikalische Spur der als poetologischer Intertext der Dekonstruktion
Zerstörung des Ich gelesen worden ist (Caduff des Erzählens und der Suche nach neuen Darstel-
1998, S. 193; dagegen Eberhardt 2002, Kap. VIII lungsmöglichkeiten in der ästhetischen Struktur
4.1.1). Eine solche Form des intermedialen Dia- des Romans (vgl. Greuner 1990, S. 75). In dieser
logs der Literatur mit der Musik hat ihr Vorbild Dekonstruktionsform führt die musikalische Poe-
eigentlich nur in den Notenzitaten aus Robert tik in Malina das Projekt einer »Vereinigung« von
Schumanns Carnaval in Arthur Schnitzlers Er- Musik und Dichtung aus dem Essay gleichen
zählung Fräulein Else (Lindemann 2000). Titels fort.
In Malina reflektiert die Melancholie von In besonderer Weise intermedial ist ein zweites
Schönbergs Pierrot die Erinnerung des Ich an musikalisches Kernmotiv angelegt, das ebenfalls
seine eigene »Märchenzeit« vor der Zerstörung vom expositionsartigen Vorkapitel des Romans
seiner Lebens- und Glücksfähigkeit, die in der seinen Ausgang nimmt und mit den Pierrot-Zita-
symbolischen Wiener Stadttopographie des Ro- ten durch seine Erinnerungsfunktion verbunden
mans mit dem Stadtpark und der dortigen ersten ist, die Verknüpfung des Geburtstags des Ich (und
Begegnung mit Malina assoziiert ist (TKA 3.1, der Autorin) am 25. Juni mit dem Todestag des
281 f.). In einer intertextuellen Engführung Dichters und Komponisten E. T. A. Hoffmann
schließt sich an das zweite Notenzitat – auf der (25. Juni 1822), mit dem wiederum die Erinne-
fiktionalen Ebene spielt Malina dem Ich auf einer rung an Jacques Offenbachs Oper Hoffmanns
Party das Schönbergstück auf dem Klavier vor – Erzählungen bzw. an deren Verfilmung durch Mi-
ein Heimweg des Doppelgängerpaares Ich/Ma- chael Powell und Emeric Pressburger (1951) as-
lina durch den Stadtpark an, der angesichts des soziiert wird (TKA 3.1, 296 f., vgl. 154 f. und oben
sich abzeichnenden Untergangs des Ich noch ein- zum Gedicht Schwarzer Walzer). Literatur, Musik
mal Zitate aus mehreren Stücken des Pierrot und Film bilden hier also einen gemeinsamen
lunaire miteinander verbindet (TKA 3.1, 673, intertextuellen Horizont, in dessen Mittelpunkt
motivisch vorweggenommen im Buch Franza; die Barcarole mit dem nächtlichen Preis der
TKA 2, 234 f.). Die Pierrot-Zitate sind mithin Teil Liebe im Duett zwischen der Kurtisane Giulietta,
der zentralen Erinnerungsthematik, die den Ro- Hoffmanns dritter Geliebter, und Niklaus, Hoff-
man leitmotivisch durchzieht. Zugleich verweist manns Muse, zu Beginn des vierten, veneziani-
die Androgynität des Pierrot auf die Verbindung schen Aktes steht. Da die Muse Niklaus von
von Männlichem und Weiblichem in der Doppel- einem Mezzo-Sopran gesungen wird, handelt es
figur Ich/Malina (Spiesecke 1993, Caduff 1998), sich um ein Duett weiblicher Stimmen, in dem
und seine Außenseiterstellung spiegelt die Ent- sich Liebe (Giulietta) und Kunst (Muse) verei-
fremdung des Ich von der sozialen Welt. Nicht nen, wobei die Verkörperung von Hoffmanns
zufällig stellt das Ich daher der bürgerlichen Mu- künstlerischem Genius (Niklaus/Muse) als männ-
sikkultur ein Zitat aus Schönbergs Melodram lich-weibliche Doppelfigur an die Konstellation
gegenüber (TKA 3.1, 487) und rettet sich im Ich/Malina erinnert. Der Barcarolenrhythmus
Traumkapitel in der Durcharbeitung patriarcha- dieses Duetts durchzieht in dem musikalischen
lischer Gewalterfahrung in die Stimme des Pier- Glücksmotiv »dadim dadam« (TKA 3.1, 297) vor
rot (TKA 3.1, 546). Die »überschnappende allem die Vorstufen des Romans, während es in
Stimme« (TKA 3.1, 281), die Schönberg in glei- der Endfassung z. B. durch den Chanson Auprès
306 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

de ma blonde (TKA 3.1, 343ff., vgl. Apparate M_4 der partriarchalischen Gesellschaft reflektiert,
und M_5) oder durch das Pierrot lunaire-Zitat singt eine italienische Sängerin – wiederum im
»Und träum hinaus in sel’ge Weiten« ersetzt wird »Ballsaal« aus Tolstois bzw. Prokofjevs Krieg und
(TKA 3.1, 490, vgl. Apparate M_4 bis M_6). Im Frieden – die Worte »Alfin tu giungi, alfin tu
ersten Fall stimmte der Nocturne-Charakter der giungi«, mit denen in der Oper Amina ihren
Barcarole nicht zur erzählten Glücks-Ekstase ei- Geliebten Elvino begrüßt, so wie das Ich im
ner Autofahrt auf der Wiener Ringstraße, im Traum den eintretenden Malina als seinen erlö-
zweiten unterstreicht die Ersetzung im Wechsel senden Tanzpartner umarmt (TKA 3.1, 514; vgl.
des musikalischen Tons das dargestellte Zerbre- Bellini I.1). Die Erlösung, die Bellinis Amina
chen des Glücks. Die beibehaltenen Wiederauf- tatsächlich erlebt, bleibt dem Ich in Malina je-
nahmen des Motivs im Traumkapitel (TKA 3.1, doch verwehrt. Wie Mozarts Motette, so steht
527, 554 f.) – im zweiten Fall mit dem Walzertanz auch die große italienische Oper für eine Welt
im symbolischen Raum von Leo Tolstois Roman und Kunst, die in der Literatur nach Auschwitz,
Krieg und Frieden (oder dem Ballsaal im 2. Bild in der Bachmann sich verortet, ihre Gültigkeit
von Sergej Prokofjews gleichnamiger Tolstoi- verloren hat, so daß sie nur noch als musikali-
Oper) verknüpft – führen musikalisch vor, wie scher Ausdruck einer verlorenen Utopie herbeizi-
das schon in Hoffmanns Erzählungen gegen eine tiert werden kann.
grotesk-phantastische Welt gesetzte Glücksver- Der zentrale musikalische Intertext für die
sprechen dieser Musik durch die von der Va- symbolische Darstellung der Zerstörungsge-
terfigur verkörperte Gewalt zerschlagen und da- schichte des Ich im Traumkapitel ist jedoch Ri-
mit zugleich symbolisch das »Herz« des Ich »ge- chard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde.
brochen« wird: aus dem melodischen »dadim Wie schon in den autobiographischen Gedicht-
dadam« wird das Störgeräusch »krakkrak« einer entwürfen der Jahre 1962 bis 1966 bringen die
beschädigten Schallplatte (TKA 3.1, 554 f.). Zitate aus diesem klassischen Liebesdrama der
Noch eindeutiger mit dem Versuch eines utopi- europäischen Musikgeschichte den vom weib-
schen ›ganzen Lebens‹ (TKA 3.1, 311) im Glück lichen Ich verkörperten Anspruch auf ein ›ganzes
mit Ivan und seinem Scheitern verbunden sind Leben‹ und die Klage um seine Vernichtung zum
die Anspielungen auf Mozarts (für Sopransolo Ausdruck. Im Traum vom Versagen des Ich in der
und Orchester komponierte) Motette Exsultate »Oper meines Vaters« veranschaulichen Zitate
Jubilate (KV 165) als Inbegriff der Freude und aus dem großen Liebesdialog von Tristan und
zugleich der untergegangenen »›großen‹ Tradi- Isolde (»So stürben wir, um ungetrennt«), aus
tion« europäischer Tonalität (TKA 3.1, 334 f.; Isoldes Liebestod-Arie (»Seht ihr’s Freunde, seht
Achberger 1984, S. 127). Der Entwurf eines ek- ihr’s nicht!«) und aus Markes Klagegesang nach
statischen Lebens in der Liebe erweist sich so Tristans Tod (»Tot denn alles. Alles tot.«), daß das
auch als nicht realisierbar: »Jubilate. Über ei- Ich sich gezwungen sieht, alle Rollen der Oper
nem Abgrund hängend, fällt es mir dennoch ein, selbst zu übernehmen, nachdem es in der Auffüh-
wie es anfangen sollte: Exsultate.« (TKA 3.1, rung doppelt negiert, zugleich im falschen Li-
339) In stärker verschlüsselter Form chiffrieren bretto und unhörbar war (TKA 3.1, 516–518; vgl.
auch die Zitate aus Vincenzo Bellinis Oper La Wagner II.2, III.3). Im Zitat der Wagnerschen
sonnambula, die im Roman für die italienische Todesmotivik findet die eigene Situation des Ich
Oper schlechthin stehen, den Weg des Ich vom symbolischen Ausdruck (Greuner 1990, Spies-
verzweifelten Glücksentwurf zur Konfrontation ecke 1993, Eberhardt 2002). In dem kontrapunk-
mit der Geschichte seiner Identitätszerstörung. tischen Traum der Liebe zum eigenen, jüngeren
Im Zeichen des Glücks des Ich mit Ivan singt die Selbst in einer von Männern befreiten Welt
Opernsängerin, eine Nachbarin des Ich, die (Eberhardt 2002), der auch als Dekonstruktion
Worte »cari amici, teneri compagni«, mit denen der möglichen Utopie lesbischer Liebe gelesen
die Protagonistin der Oper, Amina, die Gäste worden ist (Achberger 1988), singt ein junges
ihrer Verlobungsfeier begrüßt (TKA 3.1, 336; vgl. Mädchen dann Isoldes Part aus dem Liebesduett,
Bellini I.1). In einem der Alpträume des Kapitels eine ältere Mentorin die Wächterrolle Brangänes
»Der dritte Mann«, das die Zerstörung des Ich im (Wagner II.2), während die Ich-Figur sich statt in
Horizont einer Kulturgeschichte der Gewalt in Tristans Worten mit dem leitmotivischen Schluß-
Bachmann und die Musik 307

stück aus Schönbergs Pierrot lunaire ausdrückt. Über diese musikalische Inszenierung der
Auf diese Weise kommt es zu einer Engführung Stimmenführung hinaus, die Malina in besonde-
der zentralen Wagner- und Schönberg-Zitate rer Weise mit dem ›Miteinander, Gegeneinander
(TKA 3.1, 546), die auf den unmittelbaren Zu- und Nebeneinander‹ gleichzeitiger Stimmen in
sammenhang zwischen dem Scheitern der Lie- der Oper verbindet (W 1, 434), ist auf die starke
besutopie (Tristan und Isolde) und der Identitäts- »Musikalisierung der Sprache« in Malina (und
und Ausdrucksproblematik (Pierrot lunaire) ver- anderen Werken Bachmanns) hingewiesen wor-
weist. den (Greuner 1990, S. 88), die auf den Ebenen
Neben die vielfältigen, im intertextuellen Uni- der Lautstruktur, des (Satz-) Rhythmus’, der Mo-
versum des Romans miteinander verflochtenen tivarbeit und der Stimmenführung einen spezi-
bzw. variierend oder kontrapunktisch aufeinan- fisch literarischen Beitrag zur musikalischen Poe-
der verweisenden Musikzitate tritt in der musika- tik der Autorin leistet (Greuner 1990, Lindemann
lischen Poetik von Malina die literarische Adap- 1993, Caduff 1998, Lindemann 2000), der aus
tierung musikalischer Strukturen in der narra- anderer Perspektive jedoch auch als Lyrisierung
tiven Inszenierung der »Gedankenbühne« (TKA diskutiert werden kann.
3.1, 630), auf der der Roman seine komplemen-
tären Intentionen als Bewußtseins- und Zeitro-
Vertonungen
man gestaltet. Die Dekonstruktion des Erzählens
in der komplexen Darstellung eines Bewußt- Auf Ingeborg Bachmanns literarischen Dialog mit
seinsprozesses, der in der Erinnerung einer Ichfi- der Musik antworten Komponisten durch Ver-
gur an die Geschichte ihrer Zerstörung zugleich tonungen insbesondere ihrer Gedichte. Hans
eine zeitkritische Reflexion gesellschaftlicher Ge- Werner Henze hat seiner Librettistin bislang drei
walterfahrungen seit dem Nationalsozialismus Vertonungen gewidmet, die Nachtstücke und
vollzieht, mündet mit dem Dialog zwischen dem Arien in der Tradition des »spätromantischen
weiblichen Ich und seinem männlichen alter ego Orchesterliedes« (Spiesecke 1993, S. 102), an de-
Malina schließlich in eine Gegeneinanderfüh- ren Uraufführung bei den Donaueschinger Mu-
rung zweier Stimmen, von denen die weibliche siktagen 1957 Ingeborg Bachmann teilnahm,
mit Hilfe expressiver Vortragsbezeichnungen »Chorphantasien« auf die Lieder auf der Flucht
nach dem Vorbild von Beethovens späten Klavier- (1964) sowie eine Neuvertonung von Bachmanns
sonaten (op. 109–111) und Schuberts Streichquar- lyrischem Monolog des Fürsten Myschkin (1990).
tett Nr. 14 d-moll Der Tod und das Mädchen (D Die Lieder auf der Flucht sind bislang insgesamt
810) ausgezeichnet ist (Achberger 1988, Greuner dreimal vertont worden (Reimann 1957, Henze
1990). Als Verkörperung des Anderen der Ratio- 1964, Jánarceková 1988), und die musikalischen
nalität überschreitet die Ich-Stimme so die Aus- Qualitäten der Stimmführung in Malina haben zu
drucksmöglichkeiten konventionellen Sprechens einer »Sprechkammeroper« angeregt (Brusatti
(Caduff 1998); mit den Vortrags- und Affektbe- 1985).
zeichnungen wie »accelerando«, »crescendo«, Vertonungen: Otto Brusatti (1985): Malina-Suite.
»presto, prestissimo«, »pianissimo«, »cantabile«, Sprechkammeroper (Ursendung am 8. Mai 1985 als
»soavamente«, »agitato« etc. (TKA 3.1, 635ff.) Coproduktion von ORF und WDR); – Arthur Dangel
bewegt das Ich sich wie Schönbergs Pierrot auf (1991): Bachmann-Zyklus (Psalm), op. 55; – Marius
der Grenze zwischen Sprechen und Gesang und Flothius (1965): Hymnus »An die Sonne« für Sopran
und großes Orchester, op. 67; – Hans Werner Henze
gewinnt im Sinne von Bachmanns poetologischer
(1957): Nachtstücke und Arien. Nach Gedichten von
Verknüpfung von Sprachskepsis und Musikästhe- Ingeborg Bachmann, für Sopran und großes Orchester.
tik die überlegene ›andere Sprache‹ der Musik, Mainz 1958 (Uraufführung am 20. Oktober 1957 im
die im Diskurs Malinas jedoch ebenso keinen Ort Rahmen der Donaueschinger Musiktage); – Hans Wer-
mehr findet wie in der satirisch dargestellten ner Henze (1964): Lieder auf der Flucht. Chorphan-
gesellschaftlichen Welt. Nicht als Signal einer tasien auf Gedichte von Ingeborg Bachmann, für Kam-
merchor, Posaune, zwei Violoncelli, Kontrabaß, Por-
befreienden Vereinigung von Musik und Dich-
tativ, Schlagwerk und Pauken. Mainz 1964
tung im Gesang lesen sich diese Vortragsbezeich- (Uraufführung am 23. Januar 1967 in Selb); – Hans
nungen, sondern als Erinnerungszeichen einer Werner Henze (1990): Paraphrasen über Dostojewsky.
verlorenen und doch unersetzbaren Utopie – ähn- In Worte gefaßt für Prinz Myschkin von Ingeborg Bach-
lich wie die Musik in dem Gedicht Enigma.
308 III. Kontexte und Diskurse in Bachmanns Werk

mann, für einen Schauspieler (eine Sprechstimme) und berger (1991): Music and Fluidity in Bachmann’s Un-
elf Instrumentalisten (Instrumente). Mainz 1990 (Ur- dine geht. In: Fictions of Culture. Essays in Honor of
aufführung 12. Januar 1991 in London); – Viera Janár- Walter H. Sokel. (Hg.) Steven Taubeneck. New York
ceková (1988): Lieder auf der Flucht. Auf Gedichte von und Bern, S. 309–320; – Karen R. Achberger (2003):
Ingeborg Bachmann, für Sopran, 3 Flöten, Trompete, Ingeborg Bachmanns Schallplattensammlung. In: Al-
Horn, Posaune, Harfe und Schlagzeug. Kassel 1988; – brecht/Göttsche (2003); – Maria Behre (2000): Inge-
Rudolf Kelterborn (1978): Gesänge an die Nacht, für borg Bachmanns Gedicht Enigma – ein letztes Gedicht
Sopran und Kammerorchester nach Texten von Inge- als Neuanfang. In: Kucher/Reitani (2000), S. 264–278;
borg Bachmann und Erika Burkart; – Aribert Reimann – David Dollenmayer (1997): Schoenberg’s Pierrot lu-
(1957): Lieder auf der Flucht, für Alt, Tenor, gemischten naire in Bachmann’s Malina. In: Modern Austrian Lite-
Chor und Orchester. Klavierauszug Berlin 1960; – An- rature 30, Heft 1, S. 101–116; – Dirk Göttsche (1993):
nette Schlünz (1988): Rosen. Gesangszenen nach Inge- Die Strukturgenese des Malina-Romans. Zur Entste-
borg Bachmann, für Mezzosopran und Klavier, Logik- hungsgeschichte von Ingeborg Bachmanns Todesarten-
synthesizer ad lib. Dresden und Wiesbaden 1995; – Mia »Ouvertüre«. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 147–165; –
Schmidt (1987): Die gestundete Zeit, für Mezzosopran Dirk Göttsche (1999): Ingeborg Bachmann. In: Die
und Gitarre. Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG). Allge-
meine Enzyklopädie der Musik. 2. Ausgabe hg. von
Quellen: Ingeborg Bachmann (1965): In memoriam Ludwig Finscher, Personenteil, Bd. 1. Kassel und Stutt-
Karl Amadeus Hartmann. In: Epitaph. Karl Amadeus gart, Sp. 1562–1566; – Martin Hoffmann (2001): Karl
Hartmann. München 1966 [= Katalog zur Ausstellung Amadeus Hartmann und Ingeborg Bachmann. Musik
des »Epitaph für Karl Amadeus Hartmann« München und Literatur – eine Begegnung der Künste. In: Musik
1965]. in Bayern. Halbjahresschrift der Gesellschaft für Baye-
rische Musikgeschichte 61, S. 73–89; – Eva U. Linde-
Literatur: Achberger (1995); Bartsch (1997); Beck mann (1993): »Die Gangart des Geistes«. Musikalische
(1997); Beicken (1988); Caduff (1998); Eberhardt Gestaltungsmittel in der späten Prosa Ingeborg Bach-
(2002); Greuner (1990); Höller (1987); Höller in Bach- manns. In: Göttsche/Ohl (1993), S. 281–296; – Eva U.
mann (1998a); Kohn-Waechter (1992); Oberle (1990); Lindemann (2000): Über die Grenze. Zur späten Prosa
Spiesecke (1993); Thiem (1972); Weigel (1999). Ingeborg Bachmanns. Würzburg; – Giorgio Manacorda
Karen R. Achberger (1984): Der Fall Schönberg. Musik (2000): Das Gewicht der Wiederholung. Zu Thema und
und Mythos in Malina. In: Text + Kritik (1984), S. 120– Variation. In: Kucher/Reitani (2000), S. 136–150.
131; – Karen R. Achberger (1988): Musik und »Kompo- Dirk Göttsche
sition« in Ingeborg Bachmanns Zikaden und Malina.
In: German Quarterly 61, S. 193–212; – Karen R. Ach-
Anhang
310

1. Siglenverzeichnis (mit Siglen zitierte Ausgaben)

W Ingeborg Bachmann: Werke. 4 Bände. (Hg.) und Dirk Göttsche. München und Zürich: Piper
Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und 1995.
Clemens Münster. München und Zürich: Piper Diss. Ingeborg Bachmann: Die kritische Aufnahme der
1978. Existentialphilosophie Martin Heideggers (Dis-
GuI Ingeborg Bachmann. Wir müssen wahre Sätze sertation Wien 1949). Aufgrund eines Textver-
finden. Gespräche und Interviews. (Hg.) Chri- gleichs mit dem literarischen Nachlaß hg. von
stine Koschel und Inge von Weidenbaum. Mün- Robert Pichl. Mit einem Nachwort von Friedrich
chen und Zürich: Piper 1983. Wallner. München und Zürich: Piper 1985.
TKA Ingeborg Bachmann: Todesarten-Projekt. Kriti- N Sigle für Nachlaßblätter im Nachlaß Ingeborg
sche Ausgabe. 4 Bände in 5 Bänden. Unter Lei- Bachmanns in der Handschriftensammlung der
tung von Robert Pichl hg. von Monika Albrecht Österreichischen Nationalbibliothek Wien.
311

2. Andere Ausgaben und Hilfsmittel

Bachmann, Ingeborg (1949a): Das schöne Spiel. In: Nachlasses in der Österreichischen Nationalbiblio-
Wiener Tageszeitung, 1. 4. 1949, S. 5. thek. Unter Leitung von Robert Pichl hg. von Monika
Bachmann, Ingeborg (1949b): Das Ufer. In: Wiener Albrecht und Dirk Göttsche. Mit einem Anhang:
Tageszeitung, 3. 7. 1949, S. 5. Konkordanz zu der von Christine Koschel und Inge
Bachmann, Ingeborg (1949c): Die Versuchung. In: Wie- von Weidenbaum erarbeiteten »Registratur des lite-
ner Tageszeitung, 7. 8. 1949, S. 6. rarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann«.
Bachmann, Ingeborg (1949d): Versuch über Heidegger. Wien.
René Marcic: Martin Heidegger und die Existential- Bareiss, Otto und Frauke Ohloff (1978): Ingeborg Bach-
philosohie. Selbstverlag der Philosophischen Gesell- mann. Eine Bibliographie. Mit einem Geleitwort von
schaft Bad Ischl [Rezension]. In: Der Standpunkt Heinrich Böll. München und Zürich.
(Bozen), 16. 9. 1949. Bareiss, Otto (1983): Ingeborg Bachmann-Bibliogra-
Bachmann, Ingeborg (1949e): Die Mannequins des Iby- phie 1977/78–1981/82. Nachträge und Ergänzungen.
kus. In: Wiener Tageszeitung, 16. 10. 1949, S. 7. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 3. Folge
Bachmann, Ingeborg (1949f): Karawane im Jenseits. In: 15, S. 173–217.
Wiener Tageszeitung, 25. 12. 1949, S. 11. Bareiss, Otto (1986): Ingeborg Bachmann-Bibliogra-
Bachmann, Ingeborg (1980): In memoriam Karl Ama- phie 1981/82 – Sommer 1985. Nachträge und Ergän-
deus Hartmann. In: Karl Amadeus Hartmann und die zungen, Teil II. In: Jahrbuch der Grillparzer-Gesell-
Musica Viva. Ausstellungskatalog. Mainz und Mün- schaft, 3. Folge 16 (1984/86), S. 201–275.
chen, S. 355. Bareiss, Otto (1991): Ingeborg Bachmann-Bibliogra-
Bachmann, Ingeborg (1981): An Kärnten. In: Die phie Sommer 1985 – Ende 1988. [Nachträge und
Brücke 7 (Klagenfurt), Heft 2, S. 50. Ergänzungen,] Teil III. In: Jahrbuch der Grillparzer-
Bachmann, Ingeborg (1991): Briefe an Felician. Mit Gesellschaft, 3. Folge 17 (1987–90), S. 251–327.
acht Kupferaquatinta-Radierungen von Peter Bi- Bareiss, Otto (1994): Ingeborg Bachmann-Bibliogra-
schof. München und Zürich: Piper. phie. Ende 1988 bis Anfang 1993 (Nachtrag IV). In:
Bachmann, Ingeborg (1998a): Letzte, unveröffentlichte Kritische Wege der Landnahme. Ingeborg Bachmann
Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und im Blickfeld der neunziger Jahre. Londoner Sym-
Kommentar von Hans Höller. Frankfurt/M.: Suhr- posium 1993 zum 20. Todestag der Dichterin (17. 10.
kamp. 1973). (Hg.) Robert Pichl und Alexander Stillmark.
Bachmann, Ingeborg (1998b): Römische Reportagen. Wien (= Sonderpublikationen der Grillparzer-Ge-
Eine Wiederentdeckung. Hg. und mit einem Nach- sellschaft, Bd. 2), S. 163–303.
wort versehen von Jörg-Dieter Kogel. München und Hapkemeyer (1983): Ingeborg Bachmann. Bilder aus
Zürich: Piper. ihrem Leben. Mit Texten aus ihrem Werk. (Hg.)
Bachmann, Ingeborg (2000a): Ausgewählte nachgelas- Andreas Hapkemeyer. München und Zürich.
sene kritische Schriften. Kritische Ausgabe. (Hg.) Koschel/von Weidenbaum (1981): Registratur des lite-
Monika Albrecht und Dirk Göttsche. In: »Über die rarischen Nachlasses von Ingeborg Bachmann. (Hg.)
Zeit schreiben« 2. Literatur- und kulturwissenschaft- Robert Pichl. Aus den Quellen erarbeitet von Chri-
liche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns. (Hg.) stine Koschel und Inge von Weidenbaum. Wien
Monika Albrecht und Dirk Göttsche. Würzburg: Kö- (Masch.).
nigshausen & Neumann, S. 161–225. Pichl, Robert (2003): Ingeborg Bachmann als Leserin.
Bachmann, Ingeborg (2000b): Ich weiß keine bessere Ihre Privatbibliothek als Ort einer literarischen Spu-
Welt. Unveröffentlichte Gedichte. (Hg.) Isolde Mo- rensuche. Mit einer Datenbank auf CD-ROM, bear-
ser, Heinz Bachmann, Christian Moser. München beitet von Anna Babka. Wien (Druck in Vorberei-
und Zürich: Piper. tung).
Weitere nachgelassene Gedichtentwürfe Ingeborg Schmidt, Ellen Marga (1978): Ingeborg Bachmann in
Bachmanns wurden (zumeist als Faksimile) abge- Ton- und Bildaufzeichnungen. Eine Dokumentation.
druckt in Hapkemeyer (1983): Glaube; Bothner (Hg.) Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt/M. In:
(1986): Ängste, Offenbarung; Höller (1987): Vor ei- Ingeborg Bachmann: Werke, Bd. 4. (Hg.) Christine
nem Instrument, Befreiung, Im Krieg, In Feindesland; Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Mün-
du (1994): Vor einem Instrument. ster. München und Zürich, S. 427–528.

Albrecht/Göttsche (1995): Ingeborg Bachmanns Todes-


arten-Projekt. Neue Teilregistratur des literarischen
312

3. Ausgewählte Sekundärliteratur

Zusätzliche Literatur findet sich jeweils am Schluß der Höller (1982): Der dunkle Schatten, dem ich schon seit
einzelnen Handbuchartikel. Anfang folge. Ingeborg Bachmann – Vorschläge zu
einer neuen Lektüre des Werks. (Hg.) Hans Höller.
Wien, München.
Koschel/von Weidenbaum (1989): Kein objektives Ur-
3.1. Sammelbände teil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Inge-
borg Bachmann. (Hg.) Christine Koschel und Inge
Albrecht/Göttsche (1998): »Über die Zeit schreiben«. von Weidenbaum. München und Zürich (= Serie
Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zu In- Piper, 792).
geborg Bachmanns Todesarten-Projekt. (Hg.) Mo- Kucher/Reitani (2000): »In die Mulde meiner Stumm-
nika Albrecht und Dirk Göttsche. Würzburg. heit leg ein Wort …« Interpretationen zur Lyrik Inge-
Albrecht/Göttsche (2000): »Über die Zeit schreiben« borg Bachmanns. (Hg.) Primus-Heinz Kucher und
2. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Luigi Reitani. Wien, Köln, Weimar.
Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg. MAL (1985): Modern Austrian Literature 18, Heft 3/4
Albrecht/Göttsche (2003): »Über die Zeit schreiben« (Sonderheft Ingeborg Bachmann).
3. Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Mayer (2002): Werke von Ingeborg Bachmann. Inter-
Werk Ingeborg Bachmanns. Würzburg (in Vorberei- pretationen. (Hg.) Mathias Mayer. Stuttgart.
tung). Pattillo-Hess/Petrasch (1993): Ingeborg Bachmann.
Barbe/Wögerbauer (1986): Ingeborg Bachmann. Die Schwarzkunst der Worte. (Hg.) John Pattillo-
L’oeuvre et ses situations. Actes du colloque 29, 30 et Hess und Wilhelm Petrasch. Wien (= Wiener Urania,
31 Janvier 1986 Nantes. (Hg.) Jean Paul Barbe und Schriftenreihe 3).
Werner Wögerbauer. Nantes. Pichl/Stillmark (1994): Kritische Wege der Land-
Baumgart/Tebbe (2001): Einsam sind alle Brücken. Au- nahme. Ingeborg Bachmann im Blickfeld der neun-
toren schreiben über Ingeborg Bachmann. (Hg.) ziger Jahre. Londoner Symposium 1993 zum 20.
Reinhard Baumgart und Thomas Tebbe. München Todestag der Dichterin (17. 10. 1973). (Hg.) Robert
und Zürich. Pichl und Alexander Stillmark. Wien (= Sonder-
Béhar (2000): Klangfarben: Stimmen zu Ingeborg Bach- publikationen der Grillparzer-Gesellschaft, Bd. 2).
mann. Internationales Symposium Universität des Schardt (1994): Über Ingeborg Bachmann. Rezensionen
Saarlandes 7. und 8. November 1996. (Hg.) Pierre – Porträts – Würdigungen (1952–1992). Rezeptions-
Béhar. St. Ingbert (= Beiträge zur Robert-Musil-For- dokumente aus vier Jahrzehnten. In Zusammenar-
schung und zur neueren österreichischen Literatur, beit mit Heike Kretschmer hg. von Michael Matthias
Bd. 11). Schardt. Paderborn.
Böschenstein/Weigel (1997): Ingeborg Bachmann und Stoll (1992): Ingeborg Bachmanns Malina. (Hg.) An-
Paul Celan. Poetische Korrespondenzen. Vierzehn drea Stoll. Frankfurt/M. (= suhrkamp taschenbuch
Beiträge. (Hg.) Bernhard Böschenstein und Sigrid materialien, 2115).
Weigel. Frankfurt/M. Text + Kritik (1980): Text + Kritik, Heft 6: Ingeborg
Brokoph-Mauch/Daigger (1995): Ingeborg Bachmann. Bachmann. 4. Aufl. (Hg.) Heinz Ludwig Arnold.
Neue Richtungen in der Forschung? Internationales München.
Kolloquium Saranac Lake, 6.–9. Juni 1991. (Hg.) Text + Kritik (1984): Sonderband Ingeborg Bachmann.
Gudrun Brokoph-Mauch und Annette Daigger. St. Gastredaktion Sigrid Weigel. München.
Ingbert (= Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und Text + Kritik (1995): Text + Kritik, Heft 6: Ingeborg
zur neueren österreichischen Literatur, Bd. 8). Bachmann. Neufassung 5. Aufl. (Hg.) Heinz Ludwig
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316 Anhang

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317

4. Werkregister

Gedichte Die gestundete Zeit (Gedichtband) 5, 6, 22, 23, 42,


55, 56, 57–67, 70, 73, 90, 98, 247, 278, 301
[Abends frag ich meine Mutter] 53, 55, 214, 301 Die große Fracht 40, 275, 278
Abkehr 53 [Die Häfen waren geöffnet] 53
Abschied 53 Die Nacht entfaltet den trauernden Teil des Gesichts
Abschied von England 62 54
Alle Tage 61, 62, 213 die radikale Mitte 82
Am Akragas 73 Die schöne Nacht 53
An den Frieden 54 Die unirdische Welle 53
An der Brücke stehen die Soldaten 54 [Die Welt ist weit] 53, 57, 214, 277, 301
An die Sonne 8, 69, 76, 261 f. Dunkles zu sagen 58 f., 63, 65, 66, 277, 301
An Felician 54
An jedem dritten des Monats 285, 300 Ein Monolog des Fürsten Myschkin 6, 57, 59 f., 65,
An jemand ganz anderen 82 66, 97 f., 267, 276, 297, 307
An Kärnten 44, 54 [Ein Tag vergeht] 54
Ängste 3, 44, 49, 53, 55, 65, 275 Eine Art Verlust 14, 18, 80, 219, 302
Anrufung des Großen Bären (Gedicht) 7, 69–71, 76, Eine einzige Stunde 54
249, 260 Einem Feldherrn 65, 66
Anrufung des Großen Bären (Gedichtband) 6–9, 23, Einem Winter entgegen … 53
42, 67–78, 90, 100, 247, 259, 301 Enigma 16, 18, 77–79, 81, 189, 214, 265, 299 f., 302,
Aria I 9, 73, 100, 298 f. 307
Aria II (Freies Geleit) 9, 71, 73, 75, 100, 298 f. Entfremdung 4, 53, 55
Auf der Reise nach Prag 81 Erklär mir, Liebe 8, 70, 71, 76, 217, 265, 275, 298
Aufblickend 53 [Es könnte viel bedeuten] 53, 55
Ausfahrt 5, 53, 57, 61–63, 66, 278, 301 Exil 65, 75, 77

Befreiung 44, 54 Frage 299


[Beim Hufschlag der Nacht] 53 Freies Geleit (Aria II) 9, 71, 73, 75, 100, 298 f.
Bekenntnis 53 Früher Mittag 57, 63 f., 65, 239 f., 259, 261, 271, 279
Betrunkner Abend 53, 276
Bewegung des Herzens 50, 53 Gebet 53
Beweis zu nichts 57 Gedanke 53
Bleib 73, 76, 77 Geh, Gedanke 9, 76, 77
Böhmen liegt am Meer 14, 15, 18, 39, 45, 78, 81 f., Geschlossen erst, wird mir das Auge wach 54
265 Gestirn des Glückes 54
Brief in zwei Fassungen 70, 73, 76 Glaube 44, 53
Bruderschaft 77 Goethe 48
Buntes Abendspiel am Firmament 54 Göttliches 53
Große Landschaft bei Wien 64, 261, 271, 278, 298
Curriculum Vitae 6, 68
Habet acht 300
Das erstgeborene Land 74, 301 Harlem 68, 73, 257, 298
Das Göttliche 219 Heimkehr über Prag 81
Das Spiel ist aus 69, 70, 74, 76, 77, 221, 274 Heimweg 8, 73
Dein Tod, und wieder 82 Herbstmanöver 63, 271
Dein Wunsch sei 54 Hinter der Wand 53, 54, 275
Dem Abend gesagt 53, 301 Holz und Späne 60, 62
Depressionen 48, 53 Hôtel de la Paix 8, 77
Die blaue Stunde 70, 71, 76, 278
Die Brücken 57, 61 »Ich« 49
Die dunklen Wünsche 54 Ich frage 3, 49, 53, 54
die fallen in seine Gelenke 54 Ich könnte dienen und mich selbst ertränken 54
Die gestundete Zeit (Gedicht) 62, 65, 66, 212, 268, Ich möchte still sterben / So möcht ich sterben still
277 vor Seligkeit 53
318 Anhang

Ihr Worte 12, 77, 78, 242 Reigen 272, 278


Im Gewitter der Rosen 57, 100, 298 Reklame 70, 73, 76, 77, 85, 86, 93, 100, 298
Im Krieg 44, 53 Römisches Nachtbild 70
Im Sommer 53
Immer wieder Schwarz und Weiß 257 f. Salz und Brot 62
In Apulien 73, 75 Schallmauer 45, 80
In der Sturmnacht 54 Schatten Rosen Schatten 73
In Feindesland (In Feindeshand) 44, 45, 54 Scherbenhügel 73
In memoriam Karl Amadeus Hartmann 44, 79, 299 Schranken 53
Incipit 300 Schwarzer Walzer 7, 73, 298, 305
[Sehnsucht Glut sank, versank] 54
Jüdischer Friedhof 81 Silbermond 297
Silberner Tag 54
Keine Delikatessen 18, 37, 45, 77, 78, 80 f., 215, 265 Soziologie 82
Klage 3, 53, 219 Sterne im März 57, 61
Kunst und Natur 53 Strangers in the Night 82, 302
Strömung 9, 37, 77
Landnahme 69, 74, 75, 301
Liebe: Dunkler Erdteil 9, 68, 71, 73, 76, 257 f., 288, Tage in Weiß 277, 301
298 Tagwerden 53
Liebesgedicht./ An deinem Strome habe ich getrun- Terra Nova 258
ken 54 Thema und Variation 301
Lieder auf der Flucht 7, 68–70, 72–76, 214, 265, 272, Toter Hafen 73
276, 278, 301 f., 307 Trauer 53, 54
Lieder von einer Insel 6, 68, 73, 76, 299, 301 Trüber Sinn 54

Mein Herz spricht 53 Übermaß 53


Mein Vogel 8, 69–72, 76, 217, 262, 277 f. [Und sei die Erde] 54
Meine Beatles 82, 300 [Unstillbar. Ich reise in einem winterlichen Wald]
Melancholie 3, 54 54
Memorial 80 Unter dem Weinstock 73
Menschenlos 53
Mild und leise 80, 302 Vergeblichkeit 53
Mirjam 77, 116 Vision 53
Mit einem Dritten sprechen 290 Von einem Land, einem Fluß und den Seen 68–71,
74, 76, 214, 261, 298, 301
Nach dieser Sintflut 77 Vor einem Instrument 3, 44, 53, 54, 298, 300
Nach grauen Tagen 50, 51, 53, 54 Vor Sonnenuntergang 53
Nach vielen Jahren 73
Nacht der Liebe 82 Wahrlich 15, 70, 79, 290
Nachtbild 54 [Was für die Sonne geht] 54
Nachtflug 62, 63, 66 Was wahr ist 73, 214
Nachtlied 300 Wenn Du vom Lichte bist 54
Nebelland 6, 69, 76 Wenn ich Dein denke 54
[Noch fürcht ich] 53 Wenzelsplatz 45, 81
Nord und Süd 73, 75 Wie soll ich mich nennen? 53, 301
Notturno 298 [Wir gehen, die Herzen im Staub] 53, 55, 301
Wunsch 48
Offenbarung 44, 48, 53, 277
Oh, welch ein Glanz ist heute in der Nacht 53 Zünde Lichter 54
Oh, wie ich mich ans Herz der Welt verschwende 54 Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust 48
Ostern 48 Zwischen Tag und Nacht 50, 53

Paris 261, 271


Poliklinik Prag 45, 81 Andere Werke
Prag Jänner 64 14, 16, 18, 78, 81
Psalm 64, 276 Alles 10, 11, 83, 108, 116 f., 175, 215, 233, 284, 287
[Anna-Fragment] 4, 108–110, 280
Rede und Nachrede 70, 71, 76, 77 Auch ich habe in Arkadien gelebt 5, 110, 259
4. Werkregister 319

[Auf das Opfer darf sich keiner berufen] 181 f. Der Wiener Kreis, Logischer Positivismus – Philo-
Auf Reisen 51 sophie als Wissenschaft 186
Deutsche Zufälle, cf. Ein Ort für Zufälle
Belagerungszustand (Übersetzung von Albert Camus’ Die ausländischen Frauen 18, 170
Schauspiel) 204, 293 Die blinden Passagiere 181, 193, 257
Belinda-Libretto 8, 43, 98–100 Die Fähre 3, 4, 50, 105 f.
[Bertolt Brecht: Vorwort zu einer Gedichtanthologie] Die Glasglocke / Das Tremendum (Sylvia Plath: ›Die
18, 200, 203 Glasglocke‹) 18, 45, 200, 202, 294
Besichtigung einer alten Stadt 19, 153, 271, 303 Die Karawane und die Auferstehung 4, 108, 273
Biographisches 5, 173, 240, 246 Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie
Briefe an Felician VII, 3, 44, 51, 54, 214, 238, 262, 279, Martin Heideggers (Dissertation) 3, 44, 184–186,
300 212, 234, 261, 268
Die Mannequins des Ibykus 5, 108, 262
Cälian Hambrusch 3, 50 Die Radiofamilie (Beiträge zur Sendereihe des Sen-
Carmen Ruidera 2, 48, 49, 262 ders Rot-Weiss-Rot) VII, 5, 45, 84 f., 86, 223
Die Schwärmer (Rundfunkbearbeitung von Robert
Dämmerstunde 51 Musils Theaterstück) 8, 193, 272
Das Buch Franza 3, 15 f., 18, 28 f., 31, 33, 37, 43, 67, Die Straße der vier Winde (geplantes Hörspiel) 6, 89
82, 83, 94, 110, 127–129, 132, 133, 137, 144–152, Die Versuchung 4, 107
155, 157, 165, 177–179, 193 f., 198, 201, 212, 218, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar 11, 83, 93,
221, 223–235, 242–244, 246, 252, 255–258, 260, 96, 97, 175, 178, 189, 192, 195 f., 221, 231, 297
265–267, 271, 274, 276, 285 f., 292, 303, 305 Die wunderliche Musik 8, 188, 297
Das Denkmalamt 3, 51 Die Welt Marcel Prousts – Einblicke in ein Pandämo-
Das dreißigste Jahr (Erzählung) 84, 114 f., 123, 174, nium 10, 89, 172, 194, 197, 280
193, 215, 216 f., 271, 273, 280 Die Zikaden 7, 42, 90–92, 94, 108, 259, 298, 302 f.
Das dreißigste Jahr (Erzählungsband) 10, 12, 22, 23, Dissertation, cf. Die kritische Aufnahme der Existen-
32, 37, 42, 51, 67, 78, 99, 105, 112–122, 160 f., 173, tialphilosophie Martin Heideggers
198, 215, 217, 240, 273, 281, 285 Drei Wege zum See 20, 33, 125, 166–168, 173, 213,
Das Gebell 19, 165 f., 269 221, 224, 254, 262, 274, 281, 288
Das Gedicht an den Leser 189, 195 f., 215
Das graue Haus 48, 50 Ein Fenster zum Ätna 7, 111, 153
Das Herrschaftshaus (Übersetzung von Thomas Wolfes Ein Geschäft mit Träumen (Erzählung) 5, 85, 88, 111
Schauspiel) 5, 85, 204 Ein Geschäft mit Träumen (Hörspiel) 5, 85–90, 93,
Das Honditschkreuz 2, 49, 50, 262 94, 111, 259 f., 288, 302
Das Lächeln der Sphinx 4, 107 f., 175, 216, 224, 287 Ein Maximum an Exil (über Leo Lipski: ›Piotru š‹) 17,
Das schöne Spiel 4, 106 45, 200–202, 287, 292
Das Tremendum, cf. Die Glasglocke Ein Ort für Zufälle 15, 23, 31, 35, 80, 125, 129,
Das Ufer 4, 107 176–179, 180, 192, 193, 196, 200, 260, 268 f.,
Das Unglück und die Gottesliebe – Der Weg Simone 277
Weils 7, 89, 172, 185–187, 193 f., 249, 251 Ein Schritt nach Gomorrha 12, 28, 33, 89, 118–120,
Der dunkle Turm, cf. Der schwarze Turm 198, 221, 261, 281, 286
Der Fall Franza, cf. Das Buch Franza Ein Wildermuth 12, 83, 120 f., 271, 280
Der gute Gott von Manhattan 9, 10, 13, 23, 24, 42, 67, Entstehung eines Librettos (Der Prinz von Homburg)
83, 85, 87, 92–96, 125, 192, 195, 217, 221, 262, 273, 100, 190
278, 285 Eugen-Roman I 10, 124, 127, 153
[Der Hinkende] 10, 111
Der junge Lord (Libretto zur Oper von Hans Werner Fataler Monolog (Übersetzung von Roberto Calassos
Henze) 15, 42, 102–104, 190, 261, 297 Essay) 205
Der Kommandant 4, 108 f. [Ferragosto] 174–176, 220
Der Mann ohne Eigenschaften (Radio-Essay) 6, 89, Frankfurter Vorlesungen: Probleme zeitgenössischer
172, 181, 193, 195, 197, 220, 272 Dichtung 11, 12, 23, 39, 42, 62, 75, 78, 91, 92, 95,
Der Prinz von Homburg (Libretto zur Oper von Hans 96, 127, 134 f., 149 f., 151, 152, 173, 178, 189,
Werner Henze nach H. v. Kleist) 11, 12, 100–102, 191–194, 196–200, 213, 214, 220 f., 223, 241, 246 f.,
190, 260, 297 251, 260, 267 f., 270, 272, 276 f., 279–281, 293 f.,
Der schwarze Turm (Übersetzung von Louis MacNei- 297
ces Schauspiel) 5, 85, 204 Franz Kafka: ›Amerika‹ (Radio-Essay) 6, 192
[Der Schweißer] 10, 123 f., 260 Franz Werfel: ›Der Tod des Kleinbürgers‹ (Rundfunk-
Der Spion 50 bearbeitung) 85
Der Tod wird kommen 10, 125 f., 173 f. Franza-Roman, cf. Das Buch Franza
320 Anhang

Freud als Schriftsteller (verschollener Radio-Essay) Portrait von Anna Maria 9, 13, 122 f., 242, 295
223 Probleme Probleme 18, 19, 108, 159, 162 f., 164, 232,
Freundinnen 18, 19, 129, 170 260, 267, 280, 290
Probleme zeitgenössischer Dichtung, cf. Frankfurter
[Georg Groddeck] 17, 45, 164 f., 180, 200 f., 231 Vorlesungen
Geschichte einer Liebe 10, 124 f.
Gier 19, 20, 43, 129, 152, 158 f., 266, 303 [Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises]
Giuseppe Ungaretti: Gedichte (Übersetzung) 20, 173, 195 f., 199
204–208, 292 Rede zur Verleihung des Georg Büchner-Preises, cf.
[Giuseppe Ungaretti] 45, 200, 202 f., 292 Ein Ort für Zufälle
Goldmann/Rottwitz-Roman VII, 17, 18, 20, 44, 128, Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegs-
129, 152, 155, 156–158, 251 f., 254, 257 f., 266 f., blinden, cf. Die Wahrheit ist dem Menschen zumut-
270, 281, 288 bar
[Gruppe 47] 195, 242 Religiöses Behagen? – José Orabuena: ›Kindheit in
Cordoba‹ [Rezension] 5, 191 f.
Hans Weigel: ›Seitensprünge‹ [Rezension] 4 Requiem für Fanny Goldmann 17, 43, 128, 144, 152,
Hel Dörrias 3, 51 155 f., 212, 243 f., 246, 251, 258, 266, 269
Hommage à Maria Callas 8, 182, 190 Römische Reportagen VII, 6, 44, 172 f., 182, 248 f.
Rosamunde 18, 19, 43, 129, 168–170, 234 f., 290,
Ihr glücklichen Augen 18, 19, 163–165, 176, 194, 201, 295
228, 231–233, 262, 265, 267, 271, 289, 303
Im Himmel und auf Erden 4, 106 f. Sagbares und Unsagbares – Die Philosophie Ludwig
In meinem Herbst 51 Wittgensteins 6, 89, 172, 185–187, 214, 268
Ins tausendjährige Reich (Musil-Essay) 6, 172, 181, Schwestern 51
192, 220, 272 Simultan (Erzählung) 18, 19, 160 f., 204 f., 295, 302
Simultan (Erzählungsband) 18, 22, 25, 28, 31, 33, 42,
[Jede Jugend ist die dümmste] 172, 181 f., 202, 269 82, 105, 125, 130, 159–168, 231 f., 243, 245, 271
Jugend in einer österreichischen Stadt 10, 106, [Sissi-Fragment] 170
112–114, 120, 123, 168, 182, 212 f., 237, 242 Stadt ohne Namen 4, 51, 108–110, 213, 280
Stadtgift 51
Karawane im Jenseits, cf. Die Karawane und die Auf- Sterben für Berlin 12, 125, 242
erstehung
Kosmische Ekstasen – Alfred Mombert: ›Der himmli- Tagebuch 14, 181–183, 215, 264
sche Zecher‹ [Rezension] 5, 192 Tagwerden 50
[Thomas Bernhard:] Ein Versuch, cf. Watten und an-
Leipzig 181 dere Prosa
Logik als Mystik (verschollener Radio-Essay) 186 Todesarten (Eugen-Roman II) VII, 10, 13–15, 44, 127,
Ludwig Wittgenstein – Zu einem Kapitel der jüngsten 128, 152, 153–155, 157, 158, 213, 225, 242 f., 252,
Philosophiegeschichte 6, 186 f., 214, 268 265, 270, 274, 286, 294 f.
Todesarten-Projekt VII, 13–18, 27, 29–33, 42, 44, 105,
Malina 4, 17–19, 22, 24–28, 30 f., 33, 37–39, 55, 60, 109–111, 124, 127–159, 160, 169, 176, 187, 212,
65, 66, 79, 83 f., 88, 89, 95, 110, 125, 128, 130–144, 216 f., 221, 223, 225, 229, 231, 241, 243 f., 246, 252,
145 f., 148 f., 152, 155–157, 159, 160, 178–180, 187, 260–263, 266, 268 f., 271, 273, 275, 279, 281, 287
191, 193, 194, 202, 212–218, 220 f., 223, 225, 227 f., Todesarten-Zyklus 16–18, 25, 27, 29, 30, 43, 44, 106,
233–235, 243 f., 249–251, 254, 256, 259–265, 128–130, 152, 165, 281, 287
267–269, 270–274, 276 f., 279, 281, 283–287, 289 f.,
293 f., 296, 297 f., 300, 303–307 <Über Georg Groddeck>, cf. [Georg Groddeck]
Margarete Holm 51 <Über Giuseppe Ungaretti>, cf. [Giuseppe Ungaretti]
Musik, cf. Die wunderliche Musik Undine geht 12, 27, 29, 88, 89, 121 f., 133, 180, 189,
Musik und Dichtung 11, 97, 100, 189 f., 214, 297, 302, 194, 198, 212, 215, 221, 259 f.
305 Unsere Toten, cf. Der Tod wird kommen
Unter Mördern und Irren 12, 117 f., 180, 182, 212,
Notizen zum Libretto (Der junge Lord) 190 217, 239–242, 280
Utopie contra Ideologie 221
Olivetti-Werbetext 16, 205
Otello 190 Versuch über Heidegger [Rezension] 3
Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer
Philosophie der Gegenwart 186 (Rundfunkbearbeitung von Robert Musils Theater-
Poetologische Entwürfe zum Simultan-Band 266 f., 271 stück) 10, 193, 272
4. Werkregister 321

Watten und andere Prosa / Ein Versuch (über Thomas Wüstenbuch 15, 16, 44, 82, 128, 129, 144, 148, 149,
Bernhard) 18, 45, 200, 202 177, 179–181, 249, 255–257, 268, 285, 295
Was ich in Rom sah und hörte 7, 174–176, 178 f., 180,
195, 217, 259, 289 Zeit für Gomorrha 10, 125, 242, 281
Wien-Venedig, cf. Geschichte einer Liebe Zugegeben 174, 176, 287
Wienerinnen 18, 19, 129 [Zur Entstehung des Titels ›In Apulien‹] 195,
[Witold Gombrowicz] 200 f., 292 199
Wohnen, Weiterwohnen 89 [Zwischentexte zur konzertanten Aufführung des
[Wozu Gedichte?] 7, 71, 195 ›Freischütz‹] 190
322

5. Personenregister

Achberger, Karen 31 Baudelaire, Charles 184, 212, 268


Achmatowa, Anna 15, 79, 290, 292 Bauer, Karin 33
Adler, Alfred 137, 223, 228 Baumann, Hans 17, 239
Adorno, Theodor W. 12, 108 f., 121, 124, 127, 142, Baumgart, Reinhard 10, 11, 24, 40, 241, 293, 294
172, 183, 188, 191, 197, 199, 215, 216 f., 221 f., 241, Beauvoir, Simone de 124, 145, 286 f., 293
243, 253 Beck, Thomas 97, 100
Agnese, Barbara 193, 266 Becker, Jürgen 20, 24
Aichinger, Helga 4 Becker, Peter von 40
Aichinger, Ilse 4 f., 8 f., 22, 51, 55, 60, 61, 96, 112, Beckett, Samuel 36, 135, 142, 253, 294
287 f. Beethoven, Ludwig van 142, 279, 304, 307
Aischylos 296 Behre, Maria 32
Albrecht, Monika 31, 33, 44 f., 160, 269 Beicken, Peter 29, 223
Alsop, Stewart 125 Bellini, Vincenzo 142, 298, 303 f., 306
Altenberg, Peter 299 Bellow, Saul 115
Améry, Jean 20, 25, 36, 168, 245, 275 Benedikt, Michael 56, 219
Amichai, Yehuda 18 Benjamin, Walter 10, 51, 64, 95, 113, 150 f., 168, 175,
Anders, Günther 184, 216 f. 194, 198 f., 206, 216 f., 221 f., 280
Andersch, Alfred 6, 9, 11, 22, 57, 63, 90, 238 f., 248, Benn, Gottfried 55, 124, 197, 214, 253, 275–278
288 Berg, Alban 79, 299, 303
Andersch, Gisela 11 Bergengruen, Werner 114
Andersen, Hans Christian 189 Bergmann, Ingmar 142, 153, 242
Angst-Hürlimann, Beatrice 25 Bernhard, Thomas 18, 31, 36, 45, 142, 288, 200, 202
Annunzio, Gabriele d’ 79 Best, Otto 128
Anzengruber, Ludwig 168 Bieberstein, Karin Maria Freifrau Marschall von (geb.
Arendt, Hannah 13, 213, 216, 248 Magnus) 289
Aristoteles 66, 151 Bieberstein, Michael Freiherr Marschall von 289
Arlt, Ingeborg 37 Bienek, Horst 23, 26
Arnold, Heinz Ludwig 19 Bisinger, Gerald 205
Atzler, Elke 24 Blackwood, Algernon 142
Auden, Wystan Hugh 15, 90, 223, 294 Bloch, Ernst 12, 142, 191, 221 f.
Auer, Fred 15, 17 Blöcker, Günter 24, 67
Augustinus 218 Blok, Alexander 292
Bloom, Harold 33
Baackmann, Susanne 33, 38, 39, 122 Boa, Elizabeth 38
Bach, Johann Sebastian 298 Bobrowski, Johannes 12, 287
Bächler, Wolfgang 5 Boehlich, Walter 14, 81, 265
Bachmann, Dieter 32 Böll, Annemarie 12
Bachmann, Heinz (Bruder) VIII, 2, 16, 19 Böll, Heinrich 5, 7 f., 9, 13, 22, 35, 52, 98, 112, 127,
Bachmann, Isolde (Schwester) VIII, 2, 5 277, 288, 293
Bachmann, Matthias (Vater) 2, 7, 9, 15, 20, 49, 238 Bolterauer, Lambert 223
Bachmann, Olga (Mutter) 2, 7, 9 Bondy, Barbara 23
Bachtin, Michail 33 Borchert, Wolfgang 112, 114
Baehr, Christoph 208 Borges, Jorge Luis 292
Baldwin, James 294 Böschenstein, Bernhard 30, 179, 208
Balzac, Honoré de 18, 55, 129, 145, 158, 160, 266, 287 Bothner, Susanne 32, 55
Banfield, Ann 163 Böttiger, Helmut 283
Bannasch, Bettina 33 Brahms, Johannes 303
Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée 127, 145, 149, Braun, Volker 40
157 f., 266 Breasted, James Henry 150, 225
Bareiss, Otto 27 Brecht, Bertolt 18, 56, 64, 66, 100 f., 112, 114, 127,
Barthes, Roland 197 142, 200, 203, 245, 275, 277–279, 286
Bartók, Béla 261 Brehm, Klaus 238
Bartsch, Kurt 29, 83, 86–88, 90, 95, 245, 249 Brentano, Clemens 259–261
Basedow, Rolf 144 Breuer, Josef 226
5. Personenregister 323

Brinkemper, Peter 29 Dor, Milo 287


Brinker-Gabler, Gisela 33 Dorowin, Hermann 64
Broch, Hermann 263, 281 Dorst, Tankred 287
Bronnen, Arnolt 125 Dos Passos, John Roderigo 115
Brontë, Emily 289 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 6, 59, 60, 97 f.,
Brusatti, Otto 307 135, 142, 202, 267
Buber, Martin 219 Draesner, Ulrike 40
Büchner, Georg 15, 176 f., 190, 260, 263 Dressler, Stephanie 208
Burroughs, William 294 Drewitz, Ingeborg 35
Busch, Wilhelm 116 Duden, Anne 38
Butor, Michael 15 Duffaut, Rhonda 33
Byron,George Gordon Noël Lord 102 Dufhues, Josef Hermann 13
Duras, Marguerite 294
Caetani, Marguerita 9 f. Durrell, Lawrence 125, 295
Calasso, Roberto 17 f., 205 Dürrenmatt, Friedrich 13
Callas, Maria 8, 97 f., 142, 182, 189 f., 304 Dusar, Ingeborg 31
Camus, Albert 51, 204, 213, 293
Capote, Truman 90 Ebner-Eschenbach, Marie von 167
Carnap, Rudolf 184 Eich, Günter 8 f., 22, 58, 62, 86, 112, 195, 288
Carroll, Lewis 142 Eich, Mirjam 116
Cassirer, Ernst 184 Eichendorff, Joseph von 48, 110, 259, 301
Celan, Paul 4 f., 9, 12, 19, 25, 30–32, 55, 57–61, 63, Eifler, Margret 28
72, 75, 79, 112, 122, 138, 142, 149, 178 f., 190, 208, Eigler, Friederike 33
215, 219, 263, 265, 269, 277, 283 f., 285, 294, 302 El ýtis, Odysséas 296
Céline, Louis Ferdinand 135, 281 Endres, Ria 28
Cervantes Saveedra, Miguel de 264 Engels, Friedrich 125
Césaire, Aimé 149, 292 Enzensberger, Hans Magnus 11–13, 16–18, 24, 40, 80,
Char, René 221, 293 f. 90, 182, 207, 215, 239 (»Mang«), 253, 255, 288 f.
Cixous, Hélène 29 Eugen, Prinz von Savoyen-Carignan 139
Claudius, Matthias 304 Euripides 296
Collins, Wilkie 149, 267 Evrard, Pierre 7
Coltrane, John 303
Conrad, Joseph 115 Fanon, Frantz 146, 149, 255, 268
Cramer, Herbert von 85 Faulkner, William 105, 137, 142, 281
Curtius, Ernst Robert 194, 280 Federmann, Reinhard 287
Czechowski, Heinz 40 Fehl, Peter 25, 68
Felmayr, Rudolf 4, 53, 287
Damm, Sigrid 37 Feltrinelli, Giangiacomo 14
Dante Alighieri 72, 142, 145, 149, 206, 247, Ferlinghetti, Lawrence 15, 294
264 f. Ficker, Ludwig von 186
Davis, Colin 299 Fitzgerald, F. Scott 295
Davis, Miles 304 Flaubert, Gustave 111, 119, 160, 266 f.
Débussy, Claude 304 Flotow, Friedrich von 304
Dempf, Alois 3, 185, 218 f. Fontane, Theodor 169, 261
Demus, Klaus 12 Foucault, Michel 33, 65, 83, 94 f., 257
Deppe, Hans 112 Fouqué, Friedrich de la Motte 122, 261
Diallo, Moustapha 33 Frankl, Viktor E. 3, 218, 223, 230
Dickens, Charles 115 Franklin, Benjamin 86
Dilthey, Wilhelm 185, 219 Franz Ferdinand (Erzherzog) 139
Dippel, Almut 33 Franzobel 40 f.
Disney, Walt 93 Frei Gerlach, Franziska 38
Döblin, Alfred 112, 114, 281 Freiligrath, Ferdinand 139, 142, 304
Dodd, Dinah 28 Freud, Sigmund 75, 83, 137, 150, 168 f., 174, 201,
Doderer, Heimito von 4, 108, 287 223–230, 232–235
Dollfuß, Engelbert 155 Fried, Erich 4, 18, 35, 40
Domin, Hilde 40 Frisch, Max 10–14, 25, 32, 78–80, 115, 141 f., 151,
Domschke, Jan Peter 89 157, 160, 240, 242, 253, 284–288, 293, 299
Donizetti, Gaetano 304 Frisch-Oellers, Marianne 287
Döpke, Oswald 8 Frischmuth, Barbara 27
324 Anhang

Frisé, Adolf 192 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 72, 182


Fuchs, Ernst 17 Heger, Roland 92
Heidegger, Martin 3, 25, 55, 66, 124, 133, 142,
Gabriel, Leo 3, 218 f. 184–186, 212–214, 218, 234, 261, 283
Gadda, Carlo Emilio 293 Heidelberger-Leonard, Irene 36, 245
Gandhi, Mahatma 114 Heine, Heinrich 71, 72, 101
Gehle, Holger 58, 212 Heinrich, Jutta 38
George, Stefan 192, 277 Heißenbüttel, Helmut 11, 23, 95, 131, 270, 294
Gerhardt, Marlis 27 Henze, Hans Werner 5–9, 11 f., 14–16, 56, 57, 73, 79,
Gide, André 105, 164, 281 84, 89 f., 92, 97 f., 100–103, 112, 142, 188–190, 217,
Ginsberg, Allen 18, 294 219, 253, 289, 294, 297–299, 302, 307
Giraud, Albert 304 Herder, Johann Gottfried 110
Giraudoux, Jean 122 Hergouth, Alois 39
Gleichauf, Ingeborg 39 Hermlin, Stephan 12
Goethe, Johann Wolfgang von 48–51, 72, 94, 103, 110, Heym, Georg 277
164, 182, 259, 261–264 Hikmet, Nazim 293
Golisch, Stefanie 122 Hildesheimer, Wolfgang 6, 7, 43, 90, 238, 283, 288
Goll, Claire 12 Hitchcock, Alfred 111
Goll, Yvan 12 Hitler, Adolf 110, 114 f., 124, 250
Gölz, Sabine 33 Hocke, Gustav René 7, 10, 224, 288
Gombrowicz, Witold 14, 177, 200 f., 292 Hoell, Joachim 36
Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch 162, 267 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 104, 110, 259,
Göttsche, Dirk 31, 33, 44, 45, 160, 213, 217 261, 263, 305
Goya y Lucientes, Francisco José de 184, 229 Hofmann, Paul 185
Graener, Paul 101 Hofmannsthal, Hugo von 64, 97, 106, 121, 133, 139,
Grass, Günter 11, 13, 15 f., 35, 56, 115, 129, 287 f. 142, 214 f., 270, 276
Grebe, Wilhelm 185 Holan, Wladimir 17
Greene, Graham 142 Hölderlin, Friedrich 32, 55, 142, 184, 189, 203,
Grell, Petra 97 259–261, 263, 278
Grillparzer, Franz 260, 262, 263, 303 Höller, Hans 28 f., 32, 45, 49, 55, 78, 87, 90 f., 174,
Grimm, Jakob und Wilhelm 261 217, 237–239, 260, 269, 272, 283
Groddeck, Georg 17 f., 164, 180, 200 f., 227, 231–234, Höllerer, Walter 12, 205, 288
289 Holschuh, Albrecht 25
Gsovsky, Tatjana 6, 59, 97 f. Holthusen, Hans Egon 13, 23, 68, 98, 239, 247, 288
Guevara Serna, Ernesto (Che) 254 Homer 71, 98, 72
Günderrode, Karoline von 261 Horkheimer, Max 108, 124, 166, 216
Günzel, Elke 39 Horsley, Ritta Jo 28, 29
Gürtler, Christa 28, 29, 32 Horváth, Ödön von 281
Gutjahr, Ortrud 31, 199, 226, 229 Hotz, Constance 22, 33
Huchel, Peter 9, 12
Hädecke, Wolfgang 95 Hughes, Ted 293 f.
Hahn, Ulla 38, 40 Huppert, Isabelle 31
Haider, Jörg 36
Haiser-Pregler, Hilde 83 Ibsen, Henrik 119, 269
Hakel, Hermann 4, 55, 287 Irigaray, Luce 235
Haller, Gerda 20, 214 Italiaander, Rolf 292
Hamesh, Jack 3, 219, 238
Hamm, Peter 41 Jaeggy, Fleur 18
Handke, Peter 157, 288 Jahn, Janheinz 292
Hapkemeyer, Andreas 29, 123, 293 Jahnn, Hans Henny 135, 281
Hartleben, Otto Erich 304 James, Henry 111
Härtling, Peter 238 Jánacerková, Viera 307
Hartmann, Karl Amadeus 5, 79, 189, 299 Jaspers, Karl 213
Hartwig, Theodor 184 Jelinek, Elfriede 30, 39, 124, 142
Hasenclever, Walter 125 Jené, Edgar 4, 60
Hauff, Wilhelm 15, 102–104, 261 Jens, Walter 12, 55, 60
Haushofer, Marlen 30 Jérôme, Françoise 59
Hebbel, Friedrich 140 Jesus Christus 147
Hecht, Anthony 18, 90 Johannes der Täufer 147
5. Personenregister 325

Johnson, Uwe 11, 13–16, 18 f., 35, 40, 43, 113, 127, Lawrence, David Herbert 119, 124, 281
182, 223, 237 f., 288 f. Lawrence, Thomas Edward 149
Joyce, James 105, 115, 253, 270, 279, 281 Lean, David 303
Jung, Carl Gustav 137, 146, 223, 228, 230 Lehár, Franz 303
Jünger, Ernst 124 Lengauer, Hubert 64
Lenk, Elisabeth 28
Kafka, Franz 6, 14, 51, 115, 192, 197 f., 253, 270, 279 f. Lennox, Sara 127, 248–250, 257
Kaiser, Gerhard R. 122 Lenz, Siegfried 125
Kaiser, Joachim 68 Leopardi, Giacomo 206
Kallmann, Chester 90 Lessing, Gotthold Ephraim 118
Kálmán, Emmerich 303 Lettau, Reinhard 15
Kann-Coomann, Dagmar 32 Leyhausen, Paul 223
Kanz, Christine 38 Lindbergh, Charles 114
Kasack, Hermann 114 Lindemann, Gisela 27
Kasantsákis, Níkos 296 Lipski, Leo 17, 45, 200–202, 292
Kaschnitz, Marie Luise 7, 12, 98, 241, 243, 253, 285, Lloyd, David 95
288, 289–291 Loerke, Oskar 277
Kaváfis, Konstantínos 295 Loewe, Carl 304
Keller, Ruth (Pseud. Bachmanns) 6, 89, 172, 248 Löffler, Sigrid 32
Kempker, Birgit 40 Lorenz, Konrad 223
Kerr, Alfred 124 Lowe, Lisa 95
Kesten, Hermann 6, 7, 9, 11, 98, 288 Löwenstein, Max Prinz zu 223
Kiefer, Anselm 40 Lühe, Irmela von der 199
Kienlechner, Toni 7, 35 Lukács, Georg 109, 124
Kierkegaard, Søren 133, 142, 213, 286 Lumumba, Patrice 254, 292
King, Martin Luther 254 Lyotard, Jean-François 160
Kirsch, Sarah 27, 40
Kissinger, Henry 7, 92, 239 MacNeice, Louis 5, 85, 204
Klafki, Wolfgang 117 Maderna, Bruno 7
Kleist, Heinrich von 2, 11, 48, 100–102, 158, 190, Maeterlinck, Maurice 304
260 f., 263 Mahler, Gustav 79, 102, 298 f., 303
Kling, Thomas 40 Mahrdt, Helgard 33
Klinger, Kurt 36 Majakowski, Wladimir 292
Knef, Hildegard 130 Mallarmé, Stéphane 268
Knigge, Adolph Freiherr 102 Malle, Louis 142, 304
Koeppen, Wolfgang 63, 113, 247 Manganelli, Giorgio 293
Kogel, Jörg-Dieter 44 Mann, Heinrich 281
Köhler, Barbara 40 Mann, Thomas 111, 142, 169, 263, 279
Kohn-Wächter, Gudrun 31 Mansfield, Katherine 114
Kolmar, Gertrud 277 Marcel, Gabriel 133
Korsch, Karl 64 Marcuse, Herbert 83, 93–95, 216 f., 257
Koschat, Thomas 304 Maron, Monika 38
Koschel, Christine 42–44 Marx, Karl 3, 86, 91, 125, 249
Kracauer, Siegfried 168 Maurer, Georg 12
Krafft-Ebing, Richard von 223 f. Maurois, André 280
Kraft, Viktor 3, 219 Mauthe, Jörg VII, 84 f.
Kramer, Stanley 242 Mayer, Hans 9, 12, 24, 135
Kraus, Karl 60, 215, 271 Mayröcker, Friederike 39
Kraus, Werner 24 McCarthy, Joseph R. 249
Kreisky, Bruno 105 McCarthy, Margaret 33
Krolow, Karl 24 McVeigh, Joseph 84
Kronauer, Brigitte 39 Mechtenberg, Theo 25
Kucher, Primus-Heinz 32, 58 Mehr, Marielle 40
Kudrnofsky, Wolfgang 84, 287 Meier, Herbert 96
Menapace, Werner 208
Lacan, Jacques 33, 137, 215, 229–231 Meyrink, Gustav 142
Langgässer, Elisabeth 110 Michaux, Henri 270, 294
Lasker-Schüler, Else 72, 275, 277 Michel, Karl Markus 24, 80, 81, 253
Lattmann, Dieter 8, 288 Miller, Henry 124, 135
326 Anhang

Misch, Georg 184 f. Pichl, Robert VIII, 32, 43 f.


Mitgutsch, Anna 39 Pietschnigg, Hubert 49
Mitscherlich, Alexander und Margarete 244, 250 Pilliod, Philippe 10
Mollenhauer, Klaus 117 Piper, Klaus 8, 10, 13, 15 f., 42, 98, 127–129, 179,
Mombert, Alfred 5, 192 238 f., 293
Moníková, Libu še 39 Planté, Christine 122
Monk, Egon 13, 123, 242 Platen, August von 262
Montaigne, Michel de 12 Plath, Sylvia 18, 200, 202, 294 f.
Montale, Eugenio 205 Platon 90, 249, 302
Montessori, Maria 116 Pound, Ezra 197, 253, 277
Morante, Elsa 293 Powell, Michael 298, 305
Moras, Joachim 6, 9, 12, 239, 278 Pressburger, Emeric 298, 305
Moravia, Alberto 293 Prévost, Marcel 163
Morgner, Irmtraud 27 Prokofjew, Sergej 267, 306
Mörike, Eduard 259 f. Proust, Marcel 8, 10, 32, 41, 122, 135 f., 172, 194, 197,
Morris, Leslie 32 218, 253, 280 f.
Moser, Isolde, cf. Bachmann, Isolde (Schwester) Puccini, Giacomo 190
Moses 147, 225
Mozart, Wolfgang Amadeus 102, 142, 189, 298, 303 f., Quasimodo, Salvatore 205, 293
306
Münster, Clemens 9, 42 f. Raabe, Wilhelm 265
Múrolo, Roberto 303 Rank, Otto 223
Musil, Robert 2, 6, 8, 10, 32, 60, 64, 72, 89, 117, 127, Rauch, Angelika 29
140, 142, 145, 149, 153 f., 172, 181, 183, 185, Reed, Carol 250, 303
191–193, 197, 214 f., 217 f., 220–222, 248, 251, 263, Reich, Wilhelm 169
265, 272–274, 276, 281, 285, 302 Reichel, Käthe 64
Mussolini, Benito 239 Reimann, Aribert 307
Reinl, Harald 112
Napoleon Bonaparte 48 f., 114 Reitani, Luigi 32, 58
Neruda, Pablo 292 Richter, Hans Werner 5, 13–15, 22, 55, 112, 195, 283,
Nestroy, Johann Nepomuk 262 288
Neumann, Horst Peter 27 Rickert, Heinrich 184
Nick, Dagmar 39 Riegel, Werner 62
Nietzsche, Friedrich 71 f., 123 f., 142, 192, 218, 260, Rilke, Rainer Maria 50, 55, 60, 66, 72, 142, 214, 263,
262 f., 285 265, 267, 275–277, 302
Nikolaus von Cues (Cusanus) 219 Rimbaud, Arthur 37, 115, 142, 148 f., 179, 196, 255 f.,
Nono, Luigi 5, 7, 99, 112 265, 268 f.
Novalis 32, 259–263, 274 Ritter-Santini, Lea 208
Novotny, Karl 223 Röhnelt, Inge 31
Rohracher, Hubert 3
Oberle, Mechthild 32, 68 Rosenberg, Wolf 7
Oelmann, Ute Maria 32, 58, 68 Rössner, Hans 13, 17, 19 f., 42, 127 f., 270
Offenbach, Jacques 298, 304 f. Roth, Joseph 20, 33, 64, 167, 274 f.
Opel, Adolf 14 f. Reich-Ranicki, Marcel 12, 22 f., 25, 131
Orabuena, José 5, 191 f. Rühmkorf, Peter 61, 62

Paeschke, Hans 6, 7, 9, 89 Saar, Ferdinand von 277


Panofsky, Erwin 110 Sacher-Masoch, Leopold von 224
Paracelsus 122 Sachs, Nelly 12, 78, 79
Pasolini, Pier Paolo 90 Sade, Donatien-Alphonse-François de 125, 142, 213
Pasternak, Boris 292 Sandberg, Peter 85, 204
Patterer, Hubert 285 Sänger, Peter 218
Pausch, Holger 27 Sappho 72
Perkonig, Josef Friedrich 3, 50 f., 54 f., 238 Sartre, Jean-Paul 61 f., 133, 149, 213, 293
Perrault, Charles 261 Schaefer, Oda 114
Petrarca, Francesco 72, 206, 302, 265 Schaller, Klaus 117
Pfister, Manfred 259 Schallück, Paul 247 f.
Pfister, Oskar 223 Schell, Maximilian 242
Picard, Max 115 Schiller, Friedrich von 2, 48, 108, 110, 118, 259, 262
5. Personenregister 327

Schlegel, Friedrich 118 f. Tebbe, Thomas 40


Schlenstedt, Dieter 37 Thackeray, William Makepiece 115
Schmidt, Arno 157 Thamer, Hans-Ulrich 245
Schmidt, Ricarda 38 Thau, Bärbel 31
Schmidt, Tanja 199 Thiem, Ulrich 25, 276–278
Schnabel, Ernst 90 Thukydides 296
Schneider, Reinhold 110 Tieck, Ludwig 260–262
Schnitzler, Arthur 106, 115, 263, 271 f., 305 Tolstoi, Leo 135, 142, 267, 306
Scholem, Gershom 17, 216 f. Toman, Walter 287
Schönberg, Arnold 142, 279, 303–305, 307 Tomasi di Lampedusa, Giuseppe 293
Schottelius, Saskia 31 Töpelmann, Sigrid 37
Schröder, Rudolf Alexander 96 Topitsch, Ernst 4
Schroeter, Werner 30, 31, 39, 142 Trakl, Georg 50, 60, 219, 275 f.
Schubert, Franz 303 f., 307 Truman, Harry S. 248
Schubert, Helga 37 Tschechow, Anton 269
Schuller, Marianne 225 Tucholsky, Kurt 188
Schumann, Robert 303, 305 Tumler, Franz 15
Schuscheng, Dorothe 122 Tunner, Erika 87
Schwaiger, Brigitte 39
Schwarzenberger, Xaver 144 Ungaretti, Giuseppe 12, 17, 142, 179, 200, 202 f.,
Schwarzer, Alice 31 204–208, 239, 293
Schwarzkopf, Elisabeth 142, 304 Unseld, Siegfried 7–9, 17–20, 68 f., 128, 129, 158, 182,
Schweikert, Uwe 284 239, 289
Schwitzke, Heinz 86, 96
Scott, Walter 49 Van Vliet, Jo Ann 38, 39
Segal, Erich 130 Verdi, Giuseppe 8, 97 f., 189 f., 200, 303 f.
Sennett, Richard 160, 166 Vergil 72, 110
Shakespeare, William 14, 81, 102, 229, 265, Vernes, Jules 11
271 Vidor, King 267, 277
Shelley, Mary 102 Vigny, Alfred de 267
Sibelius, Jean 304 Vigorelli, Giancarlo 293
Siecynski, Rudolf von 303 Visconti, Luchino 8, 98
Sinatra, Frank 82, 302 Vittorini, Elio 182
Šlibar, Neva 86 Vollenweider, Alice 208
Sophokles 296
Spiel, Hilde 4, 18, 36 Wagner, Josef 22
Spiesecke, Hartmut 90, 92, 100 Wagner, Klaus 22
Stampa, Gaspara 79, 265 Wagner, Richard 79, 87, 142, 262, 298–300, 302–304,
Stanzel, Franz 115 306 f.
Staudte, Wolfgang 239 Wagnleitner, Reinhold 84
Stefan, Verena 38, 147, 290 Waldheim, Kurt 36
Stendhal 267 Wallmann, Jürgen P. 86, 131
Sternheim, Thea 5 Walser, Martin 13, 19, 24, 125, 182, 246, 252
Strauß, Botho 124 Walton, William 90
Strauss, Johann (Sohn) 303 Watson, John Broadus 169
Strauss, Richard 97 Weber, Carl Maria von 190
Strawinsky, Igor 102 Weber, Max 86
Streeruwitz, Marlene 39 Wedekind, Frank 3, 119
Strindberg, August 116, 119, 142, 269 Weidenbaum, Inge von 42–44
Strittmatter, Thomas 39 Weigel, Hans 4 f., 11, 35, 54 f., 57, 84, 108, 141, 219,
Suhrkamp, Peter 11 285 f., 287
Summerfield, Ellen 27, 132 Weigel, Sigrid 28–30, 40, 58, 85, 88, 108, 175, 197,
Süskind, Patrick 39 199, 212, 216, 218, 230, 283
Svevo, Italo 135, 142, 281 Weil, Simone 40, 172, 185–187, 193 f., 218, 249
Szondi, Peter 18, 283, 293 Weiser, Peter 84 f.
Weiss, Peter 241, 255
Tabah, Mireille 31 Welser, Ursula von 239
Tänzer, Gerhard 40 Werfel, Franz 85, 125
Tasso, Torquato 72, 299 Wiesenthal, Simon 16
328 Anhang

Wilde, Oscar 14, 269 Wolfe, Thomas 5, 85, 204


Wirsing, Sybille 131 Wondratschek, Wolf 24
Witte, Bernd 29
Wittgenstein, Ludwig 6, 7, 25, 32, 64, 75, 77, 115, Zeller, Eva Christina 31, 39
121, 142, 172, 184–187, 191, 193, 214 f., 218, Zeplin, Rosemarie 37
283 Zettl, Walter 17
Wolf, Christa 27, 36 f., 66 Zweig, Arnold 223
Wolf, Gerhard 64 Zweig, Stefan 263
329

6. Mitarbeiter

Dr. Monika Albrecht, geb. 1953, zur Zeit Forschungs- schaft an der Universität Bayreuth; Promotion Mün-
stipendium der DFG für die Arbeit an einer Kriti- chen 1999 (Töchter des Ödipus. Zur Geschichte
schen Edition der kritischen Schriften Ingeborg eines Erzählmusters in der deutschsprachigen Lite-
Bachmanns; Promotion Münster 1988 (»Die andere ratur des 20. Jahrhunderts); derzeitige Forschungs-
Seite«. Zur Bedeutung von Werk und Person Max schwerpunkte: Anthropologie und Technikge-
Frischs in Ingeborg Bachmanns Todesarten), Mither- schichte um 1800, Konzepte der Moderne.
ausgeberin der Kritischen Ausgabe von Ingeborg Prof. Dr. Hans Höller, geb. 1947, nach mehrjähriger
Bachmanns Todesarten-Projekt (1995); derzeitiger Lehrtätigkeit an den Universitäten Neapel, Wroc l̈aw
Forschungsschwerpunkt: deutschsprachige Literatur und Montpellier seit 1979 am Institut für Germani-
des 20. Jahrhunderts aus postkolonialer Sicht. stik der Universität Salzburg; Habilitation Salzburg
Dr. Bettina Bannasch, geb. 1965, wissenschaftliche 1987 über Ingeborg Bachmann (Ingeborg Bachmann.
Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Erinne- Das Werk); Herausgeber der Edition »Ingeborg
rungskulturen« der Universität Gießen; Promotion Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Ent-
FU Berlin 1995 (Von vorletzten Dingen. Schreiben würfe und Fassungen« (1998), Rowohlt-Monogra-
nach Malina. Ingeborg Bachmanns Simultan-Erzäh- phie »Ingeborg Bachmann« (1999), »Thomas Bern-
lungen); derzeitige Forschungsschwerpunkte: Inter- hard: Erzählungen. Kommentar« (2001); derzeitige
medialität von Bild und Text in der Literatur des 17. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie, Fred
und 18. Jahrhunderts, Shoah-Literatur. Wander, Peter Handke, Mitarbeit an der Jean Améry-
Dr. Maria Behre, geb. 1957, Gymnasiallehrerin für Edition sowie an der Thomas Bernhard-Werkaus-
Deutsch, Katholische Religionslehre und Philoso- gabe.
phie sowie Lehrbeauftragte am Germanistischen In- Dr. Christine Kanz, geb. 1965, Wissenschaftliche Assi-
stitut der RWTH Aachen; Promotion Münster 1986 stentin am Institut für Germanistik an der Universität
(»Des dunklen Lichtes voll«. Hölderlins Mythokon- Bern (CH); Promotion Bamberg 1998 (Angst und
zept Dionysos); derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Geschlechterdifferenzen. Ingeborg Bachmanns To-
Literatur/Lyrik des 20. Jahrhunderts. desarten-Projekt in Kontexten der Gegenwartslite-
Dr. Joachim Eberhardt, geb. 1972, Promotion Göttin- ratur); Publikationen u. a. zu den Gender Studies, zur
gen 2000 (»Es gibt für mich keine Zitate«. Inter- Psychoanalyse-Rezeption und zur Gegenwartslitera-
textualität im dichterischen Werk Ingeborg Bach- tur; derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Familien-
manns). strukturen in der literarischen Moderne (1900–
PD Dr. Dirk Göttsche, geb. 1955, Reader in German 1920).
an der Universität Nottingham (GB); Promotion Prof. Dr. Sara Lennox, geb. 1943, Professorin für »Ger-
Münster 1986 (Die Produktivität der Sprachkrise in manic Languages and Literatures« und Leiterin des
der modernen Prosa), Mitherausgeber der Kritischen »Social Thought and Political Economy Program« an
Ausgabe von Ingeborg Bachmanns Todesarten-Pro- der University of Massachusetts in Amherst (USA);
jekt (1995), Habilitation Münster 1999 (Zeit im Ro- Promotion University of Wisconsin in Madison 1973
man. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte (The Fiction of William Faulkner and Uwe Johnson);
des Zeitromans im späten 18. und 19. Jahrhundert); Autorin von »Cemetery of the Murdered Daughters:
derzeitige Forschungsschwerpunkte: Theorie und Feminism, History, and Ingeborg Bachmann« (2003),
Geschichte des Erzählens, literarische Interkulturali- Aufsätze u. a. zur Nachkriegsliteratur, zum Feminis-
tät, moderne Kurzprosa. mus und zur Literatur- und Kulturtheorie; derzeitige
Dr. Peter Gossens, geb. 1966, Wissenschaftlicher Assi- Forschungsschwerpunkte: Gender im Kalten Krieg,
stent am Institut für Komparatistik der Westfälischen Globalisierung und German Studies.
Wilhelms-Universität Münster; Promotion Bonn Dr. Marion Schmaus, geb. 1969, Wissenschaftliche
1998 (Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. Edition Assistentin am Deutschen Seminar der Universität
und Kommentar); Kurator der Ausstellung »Displa- Tübingen; Promotion Tübingen 2000 (Die poetische
ced. Paul Celan in Wien (1947/1948)« im Jüdischen Konstruktion des Selbst. Grenzgänge zwischen Früh-
Museum der Stadt Wien (Katalog Frankfurt/M. romantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa
2002); derzeitiger Forschungsschwerpunkt: Habilita- Wolf, Foucault); Habilitationsprojekt »Psychosoma-
tionsprojekt zur »Komparatistik als Philologie«, Paul tik: Die Konstitution eines Diskurses im späten 18.
Celan, Theorie und Praxis der Übersetzung, Arbeiten und 19. Jahrhundert«.
zur deutsch-jüdischen Literatur und zur Wissen- Prof. Dr. Jost Schneider, geb. 1962, Professor am
schaftsgeschichte. Germanistischen Institut der Ruhr-Universität Bo-
Dr. Britta Herrmann, geb. 1968, wissenschaftliche chum; Promotion Bochum 1989 (Alte und neue
Assistentin für Neuere Deutsche Literaturwissen- Sprechweisen. Untersuchungen zur Sprachthematik
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in den Gedichten Hugo von Hofmannsthals), Habili- punkte: Methodologie, Ästhetikgeschichte, Ge-
tation Bochum 1996 (Die Kompositionsmethode In- schichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhun-
geborg Bachmanns); derzeitige Forschungsschwer- dert bis zur Gegenwart.

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