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SABRINA EBBERSMEYER

PHILOSOPHIE ALS „LEIDENSCHAFT DER ERKENNTNIS"

Zur erkenntnistheoretischen Metaphorik in den Schriften Nietzsches

Das paradox anmutende Nebeneinander von erkenntnistheoretischem Skep-


tizismus und dem Rekurs auf wissenschaftliche Erkenntnismöglichkeiten kenn-
zeichnet die Texte Nietzsches und ist zugleich bis in jüngste Zeit ein viel disku-
tiertes Thema in der Nietzsche-Forschung. Der Frage, ob dieses Paradox tat-
sächlich als ein logischer Selbstwiderspruch des Autors anzusehen ist1, geht die
Frage danach voraus, welchen Status man Nietzsches Bezugnahme auf naturwis-
senschaftliche Elemente zuzuschreiben geneigt ist. Auf diese Frage fallen die
Antworten widersprüchlich aus. Neben Versuchen, durch genaue philologische
Analysen eine ernstgemeinte - wenngleich immer kritisch reflektierte - Bemü-
hung Nietzsches um eine wissenschaftliche Fundierung seiner philosophischen
Äußerungen nachzuweisen2, stehen Versuche, naturwissenschaftliche Elemente
in Nietzsches Texten als Metaphern zu deuten3.

1
Der Vorwurf formuliert sich leise, aber hartnäckig wiederkehrend, vgl. u. a. Schlechta, Karl/
Anders, Anni: Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfangen seines Philosophierens. Stuttgart-Bad
Cannstatt, 1962. Schlechta bemerkt in seinem Kommentar zu Nietzsches Lektüre von Friedrich
Albert Langes Geschichte des Materialismus-. „Nietzsches Skepsis galt nicht nur der Metaphysik als
Begriffsdichtung, sondern auch der wissenschaftlichen Wahrheit - wobei denn nach wie vor
offen bleibt, wie jene allgemeine Skepsis mit einer gewissen positivistischen Zuversicht übereins
zu bringen sind." (S. 57); vgl. auch Spiekermann, Klaus: Nietzsches Beweise für die ewige Wie-
derkehr. In: Nietzsche-Studien 17 (1988). S. 496-538. Spiekermann rekonstruiert die von verschie-
denen Seiten aus unternommenen Versuche, Beweise für Nietzsches Lehre von der ewigen
Wiederkehr zu fuhren. Obwohl er zu dem Fazit gelangt, daß „die Beweisversuche Nietzsches
keine (nur) naturwissenschaftliche Wahrheit" (S. 537) anstreben, verweist er auf den Selbstwider-
spruch, dem Nietzsche unterliege: „Doch Nietzsche ist, gerade in den Beweisen, besessen von
jener Rationalität, deren Fragwürdigkeit er aufgezeigt und die er dennoch im Sinne einer längst
überwundenen alten Wahrheit bemüht; er entgeht nicht dem logischen Selbstwiderspruch, die
Prinzipien, die er leugnet, selbst verwenden oder voraussetzen zu müssen." (S. 497).
2
Vgl. hierzu die umfassende Untersuchung von Spiekermann (a. a. O.).
3
Vgl. Pfotenhauer, Helmut: Physiologie der Kunst als Kunst der Physiologie? Überlegungen zur
literarischen und mythologischen Faktur der Texte. In: Nietzsche-Studien·, 13 (1984). S. 399-411;
Pörksen, Uwe: Die Funktion einer naturwissenschaftlichen Metapher in einem Satz Nietzsches.
In: Nietzsche-Studien 13 (1984). S. 443-447. Beide Untersuchungen konzentrieren sich auf den
Stellenwert einer „'Physiologie der Kunst" im Rahmen des von Nietzsche geplanten Hauptwer-
kes Der Wille ^ur Macht. Bettina Wahrig-Schmidt gibt in ihrem Beitrag zu Nietzsches Bibliothek
und Lektüre (»Irgendwie - jedenfalls physiologisch'. Friedrich Nietzsche, Alexandre Herzen (füs)
und Charles Fere 1888. In: Nietzsche-Studien\ 17 (1988). S. 434-464) einige knappe, aber frucht-
bare Hinweise für das Verständnis physiologischer Ausdrucksweisen. In vorlegender Untersu-
18 Sabrina Ebbersmcyer

Folgende Überlegungen möchten für eine Lesart der Texte eintreten, die
eine philosophische Fragestellung zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Überle-
gungen über den Status naturwissenschaftlicher Elemente macht. Gefragt wird
hier nach Nietzsches Begriff von Philosophie. Am Leitfaden der Vorstellung
von Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis"4 wird Nietzsches kritische
Auseinandersetzung mit einem traditionellen Philosophiebegriff und mit der
Frage nach den Bedingungen menschlicher Erkenntnis skizziert. Hierbei kommt
den Naturwissenschaften, insbesondere der Physiologie, als Mittel der Selbstauf-
klärung des Denkens eine besondere Bedeutung zu (I.). Im Anschluß an diese
Kritik konturiert sich bei Nietzsche eine neue Vorstellung von Philosophie. Mit
Hilfe der von Nietzsche verwendeten Liebesmetaphorik in bezug auf die Leiden-
schaft der Erkenntnis wird diese Vorstellung näher expliziert (II.). Die erkennt-
nistheoretischen Implikationen dieses neuen Begriffs von Philosophie führen
auch Konsequenzen für die Sprache des Philosophierens mit sich. Erst von
diesem philosophischen Kontext aus ergibt sich ein neues Verständnis für die
Bedeutung naturwissenschaftlicher Elemente in den Texten Nietzsches (III·)·5
Die Widersprüche im Werk sowohl wie in der Rezeption können durch eine
Veränderung der Perspektive, unter der sie betrachtet werden, natürlich nicht
gelöst werden — etwa als wäre nun die Grundlage geschaffen, entscheiden zu
können, was Nietzsche denn wirklich meinte —, aber sie erhalten aus dieser
Perspektive eine neue Gestalt. Von dem explizierten Philosophieverständnis, in
dem die Sprache eine umfassende Bedeutung erhält, erscheinen die sich wider-
sprechenden Äußerungen Nietzsches als vernünftig und verständlich. Die Frage,
ob Nietzsches Rekurs auf naturwissenschaftliche Elemente buchstäblich und
ernst oder metaphorisch gemeint ist, tritt in den Hintergrund. Vielmehr gewinnt
die Frage an Bedeutung, welche Funktion die Bezugnahme auf unterschiedliche
sprachliche Diskurse im Text erfüllt.

chung geht es nicht vornehmlich um ein spezielles Werk Nietzsches, sondern um Nietzsches
Werk unter einer bestimmten Fragestellung. Da jedoch der hier zentrale Ausdruck „Leidenschaft
der Erkenntnis" hauptsächlich in den Jahren 1880—1887 von Nietzsche verwendet wird, bezie-
hen sich die folgenden Ausführungen überwiegend auf die Schriften Nietzsches dieser Jahre.
Obwohl zwischen dem Status der von Nietzsche veröffentlichten Schriften und dem der nachge-
lassenen Fragmente unterschieden werden muß, werden hier die Fragmente gleichwertig heran-
gezogen, wo sie den Verlauf von Gedankengängeri erhellen können.
4
Auf die besondere Bedeutung des Ausdrucks „Leidenschaft der Erkenntnis" für Nietzsches
Verständnis von Philosophie hat bereits Mazzino Montinari mit einer philologischen Untersu-
chung des Ausdrucks aufmerksam gemacht. Vgl.: Nietzsches Philosophie ak,Leidenschaft der Erkennt-
nis'. In: Studi germanicl, N. S. 7 (1969). S. 337-352.
5
Vgl. hierzu auch Henkej Dieter: Gedanken zum Umgang mit den Grundstrukturen und Ele-
menten quasi-naturwissenschaftlicher Bezüge im Werk Nietzsches. In: Nietzsche-Studien 18 (1989).
S. 282-289. Henke plädiert dafür, den naturwissenschaftlichen Bezügen in Nietzsches Denken
nicht den Rang von „Anspruchsträgern von Richtigkeit" zuzusprechen, sondern sie im Rahmen
einer „zu interpretierenden Subjektivität" (S. 289) zu deuten. Diese interessante These bleibt
allerdings, wie in einer knappen Skizze nicht anders möglich, allgemein und unausgeführt und
in der Hauptsache ein Appell zur Vorsicht.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" ., 19

„Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng* gegen die Aufklärung"
(M 197) konstatiert Nietesche, zumindest für die erste Hälfte seines Jahrhun-
derts, und entlarvt diesen Hang zugleich als Anachronismus. Während in ande-
ren Ländern Europas, namentlich in Frankreich, im Zuge einer sich durchset-
zenden Aufklärung Fortschritte auf allen Gebieten der Kultur, insbesondere in
den Wissenschaften erzielt wurden, herrschten, in Nietzsches Sicht, in Deutsch-
land noch immer repressive Kräfte vor. Unter dem Begriff Idealismus zusam-
mengefaßt \verden sie von Nietzsche kritisiert und bekämpft6. Die Charakteri-
stik dieses deutschen Ungeistes fällt entsprechend polemisch aus: „Es ist ein
weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus", der „beseelt (ist) vom herz-
lichsten Widerwillen gegen die ,kaltec oder ,trockenec Wirklichkeit, gegen die
Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophi-
scher Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, so-
fern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen liess" (M 190).
Doch die Herrschaft dieses Idealismus ist für Nietzsche nun endgültig zu
Ende gegangen. Nicht weil er bekämpft und besiegt, sondern weil er durch sich
selbst überwunden wurde, indem sich seine eigenen Methoden gegen ihn ge-
kehrt haben: „die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwicke-
lung, die Mitempfindung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des
Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen
des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes schienen, haben
eines Tages eine andere Natur angenommen und fliegen nun mit den breitesten
Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere
Genien eben jener Aufklärung, wider welche sie beschworen waren."
(M 197).
Dieser emphatische Aufruf zum Höhenflug der Aufklärer ist die Reaktion
Nietzsches auf eine als zu stark empfundene Gegenentwicklung. Der Empfin-
dung liegt ein Urteil zugrunde, welches den Zeitgeschmack des späten W.Jahr-
hunderts spiegelt und in der wissenschaftlichen Aufklärung den Fortschritt sieht.
Gleichzeitig wird das Urteil von Nietzsche als Reaktion auf einen nun überlebten
Idealismus begriffen, weshalb es zwar zu einer bestimmten Zeit, nicht aber abso-
lut und der Sache nach zwingend ist Die Beurteilung der Wissenschaft als einer
aufklärenden Macht ist für Nietzsche nur durch und für die spezifische histori-
sche Situation, in der er lebt, gerechtfertigt. In einer Notiz aus dem Nachlaß
heißt es: „Man erreicht einen Höhepunkt seiner Unredlichkeit: und da werden
wir uns verhaßt und wenden den Spiegel gegen uns", der Wahrheitstrieb ent-

VgL z. B. KSA 9, 7(49].


20 Sabrina Ebbersmcyer

steht aus dem „Ekel an der Sättigung der Berauschung durch Illusionen."
(KSA 9, 6[5])7.
Diese „neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss" erfordert
neue Methoden und andere Ziele als die der in traditionellen Bahnen verlaufen-
den philosophischen Gelehrsamkeit. Deshalb fühlt sich, wer in sich den Wahr-
heitstrieb erwachen spürt, von den experimentellen Wissenschaften8 angezogen*
auf ihn „wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller
Zauber" (M450)9. Denn in der Wissenschaft regiert nicht die berauschende
Illusion, sondern die ernüchternde Analyse. Ihre Autorität ist nicht die Tradition,
die überlieferte Meinung, schon gar nicht die mystische Spekulation, sondern
das eigene Hinsehen, die exakte Beobachtung und das überprüfbare Experi-
ment, durch das sich die Wirklichkeit vorurtduslos beschreiben und erkennen
läßt.
Wissenschaft in diesem Sinn bildet das geeignete Terrain, auf dem sich die
Leidenschaft der Erkenntnis entfalten kann.10 Der Wissenschaftler ist der neue
Liebhaber der Erkenntnis, er bildet den Gegensatz zu den Moralisten, Metaphy-
sikern und Romantikern. Es sind bestimmte Tugenden des Wissenschaftlers, die
von Nietzsche immer wieder betont und zu einem Ideal stilisiert werden. Die-
sem Ideal entsprechen, sieht man von seiner zeitgenössischen Einkleidung ab,
eher höfische Ritter als Wissenschaftler in ihrer empirischen Realität11. Denn
nicht jeder verfügt über diese Tugenden und betreibt Wissenschaft aus diesen
Motiven, dessen ist sich Nietzsche bewußt, es sind vielleicht überhaupt die we-
nigsten. Erkennen kann man aus vielen Motiven: „der Eine erkennt aus Liebha-
berei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit; niemals heisst
es: ,erkenne, oder geh' zu Grunde'/" (M 460). Wer sich aber diesem Satz ver-
schrieben hat, ist ein „freier Geist" und Nietzsches Bundesgenosse. Was ihn
auszeichnet, zur Ausnahme macht, ist sein bedingungsloses Verhältnis zur Er-
kenntnis. Ein Ausnahme-Denker ist, wer „die Dinge des Wissens stark empfin-

7
Vgl. auch KSA 9, 6[58].
8
Begriffs- wie metapherngeschichtlich interessant — obgleich im Rahmen dieser Arbeit nicht
weiter ausführbar — ist der Umstand, daß gerade diejenigen Philosophen, gegen cjie Nietzsche
im Namen der Wissenschaft Partei ergreift, wie etwa Hegel, ihre Philosophie ebenfalls als Wis-
senschaft begriffen.
9
Vgl. hierzu ein Fragment aus dem Nachlaß: „Werth der Wissenschaft und Reiz derselben, gegen
die Verstellung. Nimmt man sie halb, so versteht man ihren heroischen Zauber nicht" (KSA 9,
6[228]).
10
Zur Frage inwieweit die experimentellen Wissenschaften Nietzsche als Modell für den Entwurf
einer neuen Philosophie dienen vgl. Gerhardt, Volker: ,Experimental-Philosophie*. Versuch ei-
ner Rekonstruktion. In: Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Hrsg. von Mihailo Djuiric und Josef
Simon. Würzburg, 1986. S. 45-61.
11
Dieser Zusammenhang ist näher ausgeführt bei Borsche, Tilman: Fröhliche Wissenschaft freier
Geister — eine Philosophie der Zukunft? In: Nietzsches Begriff der Philosophie. Hrsg. von Mihailo
Djuric. Würzburg, 1990. S. 53-72.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" · 21

det und gegen ferne Dinge sich so verhält wie gegen die nächsten, so daß sie
ihm wehe thun. Leidenschaft erregen, große Erhitzungen geben können, kurz
daß sie mit den stärksten Trieben bei ihm verschmolzen sind" (KSA 9, 6[65]).
Die Leidenschaft für die „Dinge des Wissens" ist keine Erfindung des
19. Jahrhunderts, wohl aber ihre Einkleidung in den schlichten Mantel der mo-
dernen Wissenschaften. Der Sache nach zeichnet diese Leidenschaft die Philoso-
phen aus. In Nietzsches Sicht freilich nur bestimmte Philosophen, Descartes
und Spinoza etwa, wie auch Platon und Aristoteles. Was sie verbindet, sind nicht
die Ergebnisse ihres Denkens, sondern die Schätzung der Erkenntnis als des
höchsten Wertes. Sie fanden das höchste Glück „im Erkennen, in der Thätig-
keit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes" (M 550).
Den Wissenschaftler treibt es nicht nur zur bedingungslosen Erkenntnis der
Dinge, er fragt auch nach dieser Leidenschaft selbst. Wissenschaft ist auch „ein
Trieb, von den Trieben zu wissen" (KSA 9, 7 [304]). Zu welchen Ergebnissen
kommt der Ausnahme-Wissenschaftler, wenn er seinen eigenen Trieb zum Ge-
genstand seiner Forschungen macht? Sein Berufsethos bewahrt ihn davor, mehr
in diesem Trieb zu sehen, als sich sehen läßt. Zunächst läßt sich der Trieb wie
jeder Gegenstand einer Wissenschaft zuordnen: als Anlage des Menschen gehört
er in den Gegenstandsbereich der Physiologie. Dort läßt er sich mit den Mitteln
und Methoden dieser Wissenschaft näher bestimmen.
Aus der Perspektive des Physiologen, des kritisch distanzierten Beobachters,
ist die Erklärung der Leidenschaft der Erkenntnis knapp und eindeutig: es han-
delt sich um eine Erscheinungsform des kardinalen Grundtriebes aller Lebewe-
sen, des Arterhaltungstriebes, der sich bei einigen Exemplaren der Gattung
Mensch in dieser Form herausgebildet hat: „Jener Trieb, welcher in den höchsten
und gemeinsten Menschen gleichmässig waltet, der Trieb der Arterhaltung,
bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor"
(FW 1). Seine Ziele lassen sich beschreiben: wie jeder Trieb will auch dieser sich
bloß entladen, abreagieren und verfolgt dabei kein höheres Ziel, als welches die
Arterhaltung vorgibt. Seine Reaktionsweisen lassen sich prognostizieren, er op-
fert alles der Erkenntnis, um sich auszuleben. Als physiologisch verifizierbarer
Trieb müßten sich seine Wirkungen ähnlich wie reaktives Verhalten bei Tieren
beschreiben lassen.
Ein genauerer Blick auf die Bedeutung der Leidenschaft der Erkenntnis
erweist diese Einschätzung des Naturwissenschaftlers als problematisch und
nicht ausreichend. Hier ist eine Unterscheidung notwendig zwischen der engen
terminologischen Bedeutung der Begriffe Trieb und Instinkt in der Naturwissen-
schaft und ihrer weiteren Bedeutung bei Nietzsche.
Als Fachtermini in der Physiologie bezeichnen Triebe und Instinkte angebo-
rene artspezifische Antriebe und Handlungsweisen, die der Erhaltung der Art
und des Individuums dienen. Sie sind nicht vom Verstand oder dem Willen
22 Sabrina Ebbcrsmeyer

geleitet, sondern durch die Natur determiniert Wo man nicht reflektiert oder
reflektieren kann, da handelt man instinktiv. Unter streng physiologischer Per-
spektive erscheinen auch psychische12 und mentale Phänomene als durch kausal-
wirksame Naturgesetze determiniert und werden als Epiphänomene qualifiziert.
Ihr Zustandekommen läßt sich materiell und funktional durch die Anwendung
physikalischer und chemischer Gesetze beschreiben. Der Nachweis von reinen
Instinkten und Trieben wird vor allem in Experimenten mit Tieren und Neuge-
borenen gesucht, da sich im Laufe des individuellen Lebens Instinkte mit wil-
lentlichen Handlungsabsichten vermischen und so die Erkenntnis des reinen
Instinktverhaltens verhindern. Exakte Aussagen über die Natur des Menschen
oder besser: über die Natur irn Menschen lass.en sich in der Physiologie nur
durch den im Experiment erbrachten Nachweis unwillkürlicher Mechanismen
machen, oder, in der vergleichenden Physiologie, durch den entsprechenden
Nachweis bei Tieren.
Nietzsches Denken ließe sich mit einem so verstandenen Physiologismus
schwerlich identifizieren. Die Unmöglichkeit eines direkten, unverstellten Zu-
gangs zu unseren Handlungs- und Tatabsichten ist immer wieder Gegenstand
seiner Reflexionen13. Mit welchen Methoden auch die Subjektivität im Erkennen
zu umgehen versucht wird — sei es durch jUnmittelbare' Introspektion, sei es
durch Objektivierung mittels experimenteller Methoden -, die Ergebnisse sind
immer abhängig von demjenigen, der diese Versuche vornimmt und deuten
muß. Es „giebt gar keine , voraussetzungslose' Wissenschaft" (FW 344). Weder
sind Gefühle und die aus ihnen stammenden Inspirationen etwas „Letztes",
Unhintergehbares, da hinter ihnen „Urtheile und Wertschätzungen" (M 35) ste-
hen. Noch kann es den nüchternen Realisten gelingen, die Welt, wie sie „wirklich
beschaffen" ist, zu erkennen, denn auch sie bleiben, selbst in ihrem „ent-
schleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, vergli-
chen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich?
- und was ist für einen verliebten Künstler ,Wirklichkeit'!" (FW 57). Welche
jEigenschaften* und , ' auch der Natur zugeschrieben werden, es sind immer
Subjekte oder Gruppen von Subjekten, die eine Einschätzung aus einem be-
stimmten Interesse heraus vornehmen. Unter dieser Perspektive verfügt der
Mensch nicht über einen unverstellten Zugang zur Natur, auch nicht zu seiner
eigenen. Was ihm als ein solches „unmittelbares" Reagieren der Natur in ihm

12
So z. B. in dem Vor trag: Ueber unsere gegenwärtige Kenntniss vom Ursprung des Menschen.
Bonn, 1898, von Ernst Haeckel, Philosoph, Zoologe und führender Vertreter der Deszendenz-
theorie des 19. Jährhunderts in Deutschland, für den die Liebe der Madonna und die Affenliebe
nur unterschiedliche Erscheinungsformen „eines und desselben mütterlichen Instmctes" (S. 23)
sind. Es ist erwähnenswert, daß sich in den Aufzeichnungen Nietzsches seit 1875 sporadische,
aber immer kritische Bemerkungen zu Haeckel finden lassen. Vgl. insbesondere KSA 8, 12[22];
9, 11[249];9, 11[299].
13
Vgl. hierzu M 117; FW 54; KSA 9, 4[152]; 9, 4{321].
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 23

vorkommen mag, ist immer schon vermittelt. Instinkte sind Urteile, von denen
man vergessen hat, daß sie welche sind. In einer ^ aus dem Nachlaß heißt
es: „Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urthefl (Geschmack in seiner
untersten Stufe) einverleibt ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht
mehr auf Reize zu warten braucht" (KSA 9, 11 [164]).
Nietzsche leugnet nicht, daß es Instinkte gibt, jedoch verwendet er die Be-
griffe Instinkt und Trieb in einem umfassenderen Sinn, der über die enge Be-
stimmung in der Physiologie hinausgeht, ihr sogar widerspricht: Instinkte sind
nach Nietzsche gerade nicht ursprünglich und angeboren, sondern geworden.
Sie sind keine allgemeinen Merkmale der Unterart homo sapiens sapiens, son-
dern sich bei bestimmten Individuen zeigende Verhaltensdispositionen. Zumal
der Trieb der Erkenntnis sichert nicht in jedem Fall das Überleben des Individu-
ums, im Gegenteil: wer den Trieb nach Erkenntnis hat, ist dadurch ausgezeich-
net, „dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt, oftmals
beschämt, oftmals mit erhabenen Spotte und lächelnd - zum Opfer bringt"
(M 459). Selbst die Art ist vor diesem Trieb nicht sicher: „Wir dürfen mit uns
selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich! Die grössten Opfer
sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden" (M 501)14. So verstanden
sind Triebe und Instinkte untauglich, den Menschen auf eine bestimmte Natur
festzulegen. Der Mensch ist eben „das noch nicht festgestellte Thier"
(JGB III 62).
Instinkte und Triebe lassen sich auch mit Nietzsche aus ihrem Gegensatz
zu reflektiertem Handeln und Denken begreifen, aber sie sind relative Begriffe:
das jeweils nicht in Frage Gestellte ist das Instinktive. Und Nietzsche stellt nun
die Frage, was beim bewußten Erkennenwollen immer schon vorausgesetzt ist.
Wir denken instinktiv, insofern wir bestimmte Schemata nicht in Frage stel-
len, auf bestimmte Formen des Denkens nicht verzichten können. Den Denk-
formen liegen bestimmte Urteile zugrunde. Dem Streben nach Erkenntnis liegt
das Urteil voraus, daß Wahrheit mehr Wert als Schein habe. Dieses Urteil wird
als solches nicht reflektiert, insofern man nach Wahrheit strebt, folgt manxihm
blind, instinktiv, man hat es „einverleibt"15. Die Frage nach den Voraussetzun-
gen von Erkenntnis betrifft nicht nur das Vorurteil, daß der Wahrheit mehr
Wert als dem Schein zukomme. Nietzsche weitet das Problem aus auf die Struk-
turen der Sprache überhaupt Die logischen und grammatischen Strukturen der
Sprache, in denen sich jedes bewußte Denken vollzieht, zwingen das Denken in
eine Form, in ein „Schema, welches wir nicht abwerfen können"
(KSA 12, 5[22]). So verstanden sind die Regeln der Grammatik Vorurteile, auf

14
VgL auch M 45; FW 123; FW 319; FW 324.
15
VgL FW 11; KSA 9, 11[164].
24 Sabrina Ebbcrsmeycr

die wir aber beim Denken nicht verzichten können16. Diesen Vorurteilen kann
auch der Wissenschaftler nicht entgehen: „Die Naturforscher machen es nicht
besser, wenn sie sagen ,die Kraft bewegt, die Kraft verursacht* und dergleichen,
- unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit
vom Affekt, unter der Verfuhrung der Sprache und ist die untergeschobenen
Wechselbälge, die »Subjekte* nicht losgeworden" (GM , 13).17
Man kann nun die Frage stellen, wie es zu diesem Instinkt der Wahrheit
gekommen ist. Auf diese Frage hat Nietzsche als der aufklärende Wissenschaft-
ler eine ebenso einfache wie anstößige Antwort parat. „Der Ursprung der Er-
kenntnis" — so der Titel des hierfür zentralen Aphorismus — ist in ihrem Gegen-
satz zu suchen, im Irrtum, genauer: in fundamental einverleibten Irrtümern. Der
Instinkt der Erkenntnis ist in seinem Grunde, d. h. in seinen fundamentalen
Anfangen die Suche nach lebensnotwendigen Irrtümern. Denn in seinen Anfän-
gen unterliegt er dem Primat der Lebenserhaltung: wahr ist, was das Überleben
sichert.
Auch diese Antwort ist nur auf den ersten Blick unproblematisch. Auf ele-
mentarster Ebene ist alles, was existiert, zunächst einmal von seiner Existenz
abhängig. Es wäre absurd zu behaupten, die Erkenntnisfunktion verhindere die
Existenz des Objektes, an dem sie sich zeigt. Die gegenteilige Aussage ist banal.
Sie gewinnt an Brisanz, wenn man sie als Gegenentwurf zu einem Gedanken
der metaphysischen Tradition liest, der diesen gleichsam auf den Kopf stellt:
was ehemals als dasjenige am Menschen galt, was seine Teilhabe am Göttlichen
ausmachte, wird umgedeutet zu einer Funktion dessen, was ihn mit allen tieri-
schen Lebewesen verbindet: die Überlebenssicherung. Die Pointe jedoch bei
Nietzsches Deutung der Herkunft des Wahrheitstriebes ist nun, daß er gerade
nicht im Dienst des Überlebens steht, sondern erst dann auftreten kann, wenn
sich die Frage nach dem Überleben nicht mehr stellt. Dann kann er als Skepsis
an diesen Grundirrtümern ins Leben treten.
Historisch ordnet Nietzsche dieses Ereignis in die Zeit der Eleaten ein. Jenen
„Ausnahmedenkern" schreibt er die Erfindung des Weisen zu, eines Gegenent-
wurfs zu dem Praktischen und Lebenstauglichen, der Unmögliches Jeben will,
nämlich „wahre" Erkenntnis statt „lebensdienlicher". Und obwohl ihr Glaube
den Grundfunktionen des Lebens entgegensteht, legten sie gerade ihn als „Prin-
cip des Lebens" (FW 110) aus. Um dies aber behaupten zu können, wurde es
notwendig, unbedingte, unwandelbare Wahrheiten anzunehmen, die in keiner

16
Zwar kann auf Vorurteile dieser Art nicht verzichtet werden, aber man kann sie im/werten und
das bedeutet hier^ die Form des Denkens zu verändern: „Die richtigen Widerlegungen sind
physiologische (leibliche) also Beseitigungen von Denkweisen." (KSA 11, 26[316]).
17
Vgl. zum Problem der Sprache die Untersuchung von Simon, Josef: Grammatik und Wahrheit.
Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik der metaphysischen Tradition.
In: Nietzsche-Studien, l (1972). S. 1-26,
Philosophie als »^Leidenschaft der Erkenntnis" 25

Weise von den leiblichen Bedürfnissen der Menschen abhängen und nichts mit
der Veränderlichkeit des Lebendigen gemein haben, ^Nachdem dieser Typus der
Wahrheitssuche sich legitimiert hatte, nicht länger die Ausnahme, sondern die
Regel war und als Typus nicht mehr um sein Überleben kämpfen mußte, konnte
sich der Instinkt der Wahrheit weiterentwickeln, d. h. weiter verfeinern, d. h.
wiederum seine Voraussetzungen kritisch in Frage stellen. Dort, wo Gegensätzli-
ches frei, ohne Not des Handelns, aber auch ohne drohende Sanktionen gedacht
werden konnte, konnten sich das zweckfreie Denken, die Lust an der Erkennt-
nis, die „Aeusserüngen eines intellectuellen Spieltriebes" entfalten. Erkennen,
verstanden als Skepsis und Hinterfragen-Wollen, entwickelte sich zum legitimier-
ten Bedürfnis: es wurde ^Beschäftigung, Reiz, Pflicht, Würde" (FW HO).18 Aus
dieser Freiheit und Stärke heraus begibt sich dieser Hang des Geistes in den
Kampf gegen die fundamental einverleibten Irrtümer. Der Kampf treibt sein
Unwesen im Denker: sichern die „unwiderlegbaren" Irrtümer das Leben, so
verkehrt die jüngste Form des Triebes nach Erkenntnis das Verhältnis und de-
gradiert das Leben zum bloßen Mittel seiner Befriedigung, das er notfalls opfern
würde.
Die historisch markierten Positionen sind freilich nicht überwunden im
Sinne einer evolutionisüsch verstandenen Entwicklung. Sie lassen sich zugleich
als Momente des Denkens auslegen, die im heutigen Denken nachwirken, ob-
gleich nicht jedes Denken die feinste Stufe der Redlichkeit erreicht. Sie wirken
nach als unterschiedliche, sogar gegensätzliche Hänge des Geistes.
Durch die genauere Untersuchung der Leidenschaft der Erkenntnis ist deut-
lich geworden, daß es sich nicht um einen Trieb im streng physiologischen
Verständnis handelt. Versteht man Trieb aber nicht im engen terminologischen
Gebrauch der Wissenschaften, sondern metaphorisch, so kann dieser Sprachge-
brauch einiges verdeutlichen. Durch die Analogie von Triebverhalten und Er-
kenntnisstreben werden Aspekte des letzteren betont, die traditionellerweise aus-
geblendet wurden: Wie beim Triebverhalten einem unreflektierten Antrieb ge-
folgt wird, so folgt auch der nach Erkenntnis Strebende blind dem zugrunde
liegenden Urteil, daß Wahrheit mehr Wert als Schein habe. Wie der Trieb über
seine Befriedigung hinaus keinen weiteren metaphysischen Sinn hat, so folgt
auch der Erkenntnissucher seiner individuellen Lustbefriedigung und keinem
höheren Zweck.

18
Auf dieser Stufe wird auch die Rede vom Arterhaltungstrieb entlarvt als ein bestimmtes Vorur-
teil von Menschen der Notlage (vgl. F\V 349) gegenüber der Gattung Mensch, und nicht als
ein ursprünglicher Trieb, der dieses Urteil über den Menschen erzwingt. In einem Fragment
aus dem Nachlaß von 1880 heißt es; „Warum die Gattung erhalten? Man verweist uns an die
Triebe: aber esgiebt weder einen Triejb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der
Gattungs-Erhaltung. Das Nichtsein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein: dann
hat die physiologische Ethik nichts zu sagen." (KSA 9, 6[123J) und aus der gleichen Zeit: „ist
denn Leben eine Pflicht! Unsinn! ihr Physiologen!" (KSA 9, 6(105]).
26 Sabrina Ebbersmeyer

Das Streben nach Erkenntnis wird rückgekoppelt an die leiblichen und indi-
viduellen Bedürfnisse des Menschen. Diese Bestimmung kontrastiert zum Er-
kenntnisbegriff der metaphysischen Tradition, in der das Erkennen als göttliche
und spontane Aktivität verstanden wurde. Im Namen und mit den Mitteln der
Aufklärung, unter ihrem Synonym des 19. Jahrhunderts Wissenschaft, werden
religiöse und metaphysische Dogmen dieser Art von Nietzsche ak unhaltbar
zurückgewiesen und bekämpft. Deshalb sind es nicht so sehr die einzelnen,
empirisch überprüfbaren Ergebnisse der Wissenschaftler auf ihren Teilgebieten,
die Nietzsches Interesse reizen. Der besondere Wert der Wissenschaft liegt für
Nietzsche in ihrer spezifischen, zeitgebundenen Funktion als geistige Gegen-
kraft, Geltungsansprüche traditionell bewährter, aber letztlich unbegründbarer
Meinungen in ihre Schranken weisen zu können. In einer Notiz aus dem Nach-
laß heißt es: „Der Werth der Wissenschaft ist, eine ungeheure Gegenkraft zu
sein: vielleicht entzündet sich, im Widerspruch zu ihr, wieder die Unlogik und
Phantasterei immer von Neuem! - Vielleicht ist dies nöthig!" (KSA 9, 6[58]).
Mag Wissenschaft ihrer Natur nach kritisch und polemisch und d. h. in ihrer
Wirkung aufklärerisch sein; ihre faktische Überzeugungskraft ist abhängig von
der Wertschätzung der Wissenschaft und ihrer Glaubwürdigkeit. Gegen Ende
des 20. Jahrhunderts, angesichts der auch negativen Konsequenzen ungebroche-
ner Wissenschaftsgläubigkeit, ist das Mißtrauen gegenüber den Kompetenzen
der Wissenschaft gewachsen. Die in ihrer Sprache verfaßten Weltdeutungen ru-
fen heute häufiger Skepsis als Vertrauen hervor. Wenn Nietzsche das Ethos der
Wissenschaftler aufgreift und in ihrer Sprache spricht, um sein Interesse zu
artikulieren, so bezieht er sich unmittelbar auf die mächtigste Geisteskraft seiner
Zeit. Das 19. Jahrhundert war zweifellos das Jahrhundert der Wissenschaft, ins-
besondere der Naturwissenschaft. Während man aus der historischen Distanz
die Dominanz einer szientistischen Orientierung als „Hintergrimdmetaphorik"19
beurteilen kann, fehlt der jeweiligen Zeit notwendig diese Distanz. Die Hinter-
grundmetaphorik ist das Vorausgesetzte, nicht in Frage Gestellte, aus dem her-
aus sich die Fragen einer Zeit erst formulieren können und ihre spezifische
Ausrichtung erhalten.
Daß Nietzsche sich intensiv mit moderner Naturwissenschaft, insbesondere
mit der Physiologie seiner Zeit beschäftigt hat, ist unbestritten und der Einfluß
einschlägiger Lektüre auf seine Schriften in zahlreichen Schriften nachgewie-
sen20. Seine Distanz jedoch zu Methoden, Zielen und Ergebnissen der "Wissen-

19
Zur Bedeutung und Funktion der Hintergrundmetaphorik vgl. Blumenberg, Hans: Beobachtung
an Metaphern. In: Archivßr Begriffsgeschichte^ 15 (1971), S. 161-214.
20
Etwa Mittasch, Alwin: Friedrich Nietzsches Naiurbeßissenheit. Heidelberg, 1950. Müller-Lauter,
Wolfgang: Der Organismus als innerer Kampf. Der Einfluß Wilhelm Roux auf Friedrich
Nietzsche. In: Nietzsche-Studien, l (1978). S. 189-223- Bauer, Martin: Zur Genealogie von Nietz-
sches Kraftbegriff. Nietzsches Auseinandersetzung mit J. G. Vogt. In: Nietzsche-Studien, 13 (1984).
S. 211-227.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" * 27

Schäften legt es nahe, ihn auch hierin als „Unzeitgemäßen" seiner Zeit zu verste-
hen. In einem Fragment von 1881 heißt es: „Unser^ Naturwissenschaft ist jetzt
auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere ange-
lernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge:
seht gut! Aber es bleibt eine Baderrede" (KSA 9, 11 [128]). Der auszeichnende
Wert der Wissenschaften liegt darin, daß auf eine spezifische Weise bestimmte
Phänomene besser beschrieben werden können als durch andere Beschreibungs-
weisen.
Die Vorteile der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise führt Nietz-
sche in einem Aphorismus aus „Jenseits von Gut und Böse" aus: „Sie" - die
Physik — „hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die
Handgreiflichkeit für sich: das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundge-
schmack bezaubernd, überredend, überzeugend" (JGB 14). Die Stärke der
naturwissenschaftlichen Sprechart liegt in ihrer Suggestion von Objektivität und
Direktheit. Die experimentelle Methode objektiviert das Erkennen und ermög-
licht, daß jedermann durch sie die Dinge auf gleiche Weise erkennen kann.
Dadurch wird der Eindruck vermittelt, man würde die Dinge erkennen, wie sie
wirklich sind, gleichsam als könne man hierdurch die Phänomene beim Schöpfe
packen. Darüber hinaus kommt diese Erkenntnisweise auf den ersten Blick ohne
metaphysische und moralische Grundannahmen aus. In bezug auf die Leiden-
schaft der Erkenntnis wkkt dieser Sprachgebrauch entauratisierend: das Begeh-
ren nach Erkenntnis und damit der Mensch wird nicht durch den Glanz des
Göttlichen, die Leichtigkeit des Seelengefieders erhöht, sondern durch die Ak-
zentuierung des triebhaft Körperlichen bagatellisiert. Die bisher unbeachteten
oder verdrängten körperlichen, affektiven und nicht wißbaren Aspekte werden
ins Zentrum gerückt.
Diese Stärken sind es, die in Nietzsches Texten fruchtbar gemacht sind, um
moralische und metaphysische Vorurteile als solche zu entlarven. Aber letztlich
ist die "Entscheidung für diesen Sprachgebrauch für Nietzsche nur ästhetisch
gerechtfertigt: „Ein Psychologe nämlich hat heute darin, wenn irgend worin,
seinen guten Geschmack (— Andre mögen sagen: seine Rechtschaffenheit),
dass er der schändlich vermoralisirten Sprechweise widerstrebt, mit der nach-
gerade alles moderne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist"
(GM III, 19).
In diesem Verständnis erweist sich der naturwissenschaftliche und im enge-
ren Sinne physiologische Sprachgebrauch als ein methodischer und erlaubt nicht
den Umkehrschluß etwa der Art, daß nun alles und immer seinen Grund in der
Physiologie hätte, sich auf körperliche Befindlichkeiten zurückführen ließe und
von dort her zu betrachten und zu bestimmen sei. Das hieße, die Physiologie an
die Stelle der Metaphysik setzen, also eine neue metaphysische, unbegründbare
Behauptung aufstellen, und das zeugte von schlechtem Geschmack und einer
28 Sabrina Ebbcrstneyer

Schwäche: jemand hätte es nötig, sich auf einen Glauben zurückzuziehen» Die
Gläubigen unter den Physiologen folgen „mit ihrem Princip der ,kleinstmög-
lichen Kraft'" deshalb auch „der grösstmöglichen Dummheit" 0GB 14). Phy-
siologische Aussagen sind in diesem Sinne nichts Letztes, Unhinterfragbares,
sondern eine spezifische Bildersprache mit ebensolchen Deutungsmustern21, die
ihrerseits auf Modelle und Analogien aus anderen Lebensbereichen angewiesen
bleibt. Verstanden als methodischer Sprachgebrauch aber, ist die naturwissen-
schaftliche Ausdrucksweise für Nietzsches Ziele in seiner Zeit die wirkungsvoll-
ste, weil überzeugendste. Er spricht häufig aus der Perspektive des Wissenschaft-
lers, als Physiologe22 und nutzt ihre Sprache. Seine Fragen wie seine Antworten
jedoch sind philosophischer Art, er fragt nach den Voraussetzungen und Gren^
zen von Erkenntnis. Um dieser Frage genauer nachgehen und seine Argumenta-
tion überzeugender darstellen zu können, nutzt er Ethos und Sprache der Wis-
senschaft. Insofern Nietzsche als Wissenschaftler, mithin als Aufklärer spricht,
nimmt er, indem er sein eigenes Interesse verfolgt, zugleich Bezug auf seine
Zeit.

II.

Was heißt es unter diesen Voraussetzungen, in dieser neuen erkenntnistheo-


retischen Situation, trotzdem nach Erkenntnis zu streben? Auf den ersten Blick
erscheint derjenige, der dennoch nach Erkenntnis strebt, als Kuriosität, lebendi-
ges Paradox oder als Don Quixote, denn sein Vorhaben ist von Anfang an zum
Scheitern verurteilt. Aber diese Einschätzung trifft nur so lange zu, als unter
dem Ziel der Erkenntnissuche noch immer das Erreichen absoluter Wahrheiten
begriffen wird. Ist auch dieses Ziel aufgegeben, so ist die Verwirrung noch
größer: wenn der Liebhaber der Erkenntnis gar nicht die Wahrheit sucht *· was
dann?
Wie sich die Erkenntnis suche im Horizont wandelbarer Wahrheiten zeigt,
läßt sich verdeutlichen, wenn man der Liebesmetaphorik in bezug auf die Lei-
denschaft der Erkenntnis nachgeht. Insofern Nietzsche seinen Begriff* von Phi-
losophie mit Hilfe der Liebesmetaphorik vorstellig macht, steht er damit nicht
allein, sondern in langer Tradition.23 Versucht man, die Art und die Bedeutung

21
Vgl. GM I, 17; AC 29; AC 32.
22
Oft macht Nietzsche diese Einstellung zur Physiologie explizit durch Redewendungen wie etwa
„physiologisch gesprochen". Vgl. JGB 28; GMI, 10; GMIII, 17; KSA 10, 3[1]381..
23
Max Scheler verfolgt diesen Zusammenhang in dem Aufsatz Liebe und Erkenntnis (1916) durch
die gesamte abendländische Geistesgeschichte. Darüberhinaus spricht er ihm i,eine gewisse
welthistorische Typik" (S. 77) zu. In: Gesammelte Werke^ Bd. 6. Hrsg. von Maria Scheler. Bern und
München, 21963, 77—98. Speziell zu Nietzsche vgl. , Slobodan: Lust an der Vernunft. In:
Nietzsches Begriff der Philosophie. Hrsg. von Mihailo Djuric. Würzburg, 1990. S. 131-150. Der
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 29

dieses Liebesverhältnisses näher zu spezifizieren, so ergeben sich zahkeiche Wi-


dersprüche mit eben dieser Tradition. Das neue Verständnis der Metapher evo-
ziert zugleich ein neues Verständnis dessen, wofür sie stehen soll: Die Selbstaus-
legung des Philosophen am Leitfaden der Liebe erfährt Veränderungen.
War Erkennen in platonisch-christlichem Sinn verstanden als beseligende
und kontemplative Liebe zum ewig Schönen und Wahren, wird es nun als unstill-
bares und leidenschaftliches Begehren nach vergänglichen Schönheiten und
Wahrheiten ausgelegt. Auch diese Charakteristik ist nicht vorbildlos, aber prä-
gnanter als in der Philosophie tritt dieses Motiv in der Dichtung hervor. Es ist
kaum ein Zufall, daß Nietzsche den Erkenntnisstrebenden mit dem leidenschaft-
lich Liebenden vergleicht und sogar explizit auf Figuren und Ereignisse aus der
Liebesdichtung der Jahrhunderte Bezug nimmt24.
Das Motiv des unstillbaren, leidenschaftlichen Begehrens läßt sich charakte-
risieren als pathetisch par excellence, und in seinem Pathos liegt gerade seine
besondere Ausdrucksstärke. Die pathetische Wirkung erzeugt diese Art der
Liebe, weil sie auf Vereinigung der Liebenden zielt, diese aber nicht zu erreichen
weiß. Die in der Logik des Motivs liegende Unmöglichkeit wurde in zahlreichen
Variationen in der Dichtung umschrieben, allegorisiert oder historisch plausibel
gemacht. Eine solche Art der Liebe kann sich nicht vollenden: bei Romeo und
Julia ist es der Familienzwist, bei Tristan und Isolde der gesellschaftliche Stand,
bei Petrarca und Laura der Tod, der die Erfüllung in der Zeit verhindert und
sie damit zugleich vor Profanierung schützt, die den Tod dieser Liebe bedeuten
würde. Die Erfüllung ist nur in der Vorstellung real, d. h. in ihrer treibenden,
anregenden, bewegenden Kraft und in Augenblicken des Erfülltseins, die sich
über den zeitlosen Punkt nicht hinausdehnen lassen. „Alle Liebe denkt an den
Augenblick und die Ewigkeit - aber nie an ,die Länge4" (KSA 10, 3[1]293)
charakterisiert Nietzsche treffend. Es gehört zur Logik des Motivs, daß es sich
nicht institutionalisieren läßt. Es verweist auf einen anderen Zustand, der nie-
mals Wirklichkeit werden kann, aber es hält die Sehnsucht wach. Sein hoher
Wert liegt im Anreiz zum Aufbruch.
Trotz der Vielfalt in seiner Ausgestaltung kann man in dem Motiv, eine
immer wiederkehrende Formel entdecken, in welcher sich der höchste Ausdruck
der Leidenschaft manifestiert. Die Liebessehnsucht läßt sich nicht weiter stei-
gern, als das Unmögliche zu begehren. Wenn Nietzsche dieses in der Liebesdich-
tung ausgestaltete Motiv auf den Bereich der Erkenntnis überträgt25, so implan-

Autor untersucht die unterschiedlichen Konzeptionen des Verhältnisses von Lust und Vernunft
bei Platon und Nietzsche.
24
Für Nietzsches Vorstellung von der Liebesleidenschaft ist Stendhals Begriff „amour-passicm"
bedeutsam. VgL Nietzsches direkte und indirekte Bezugnahme auf Stendhals De famour (1882):
FW 123 und die dazu gehörige Vorstufe KSA 14, S. 256; JGB 189; KSA 9, 8[40].
25
VgL u. a.: „Die Unruhe des Entdeckcns und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich
geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen
30 Sabrina Rbbcrsmcyer

tiert er einen auf fremdem Gebiet gebadeten Superlativ der Leidenschaft in


die Sprache über Erkenntnis. In diesem Sinne ist es gerechtfertigt, von einer
„Pathosformel"26 zu sprechen. Im folgenden sollen einige Elemente der Sprache
der Liebesleidenschaft untersucht und ihre Übertragung auf den Bereich der
Erkenntnis näher expliziert werden.
Kaum eine Sprache der Liebesleidenschaft und Sehnsucht kommt ohne die
Metaphorik von Hitze und Kälte, Feuer und Schnee aus. Die glühende Hitze,
Superlativ der Wärmeempfindung, ist eine traditionsreiche Pathosformel, die die
Erregung der Leidenschaft der Liebenden transportiert27. Die Bedeutung des
Feuers ist doppeldeutig: zum einen verzehrt das Feuer alles, was in seine Flam-
men gerät. Andererseits erhält alles durch das/Feuer neuen Glanz, alles was
sich ihm nähert, wird in lichteres Dasein transformiert. Die Ambivalenz der
transformierenden Kraft des Feuers ist es denn auch, die die Metaphorik um
die Hitze der Leidenschaft so attraktiv macht. Für den Liebenden bedeutet dies,
Teile von sich aufzugeben, seine alte Identität hinter sich zu lassen. Gleichzeitig
erhält durch seine Liebe alles einen neuen Glanz.
Der Erkenntnisliebhaber erglüht nicht beim Anblick einer Geliebten, son-
dern eines Gedankens. Wer „in der Leidenschaft des Denkens verbrennt"
(M 481), setzt sich persönlich den Fragen der Erkenntnis aus, ist von ihnen
betroffen, ist bereit, sich transformieren zu lassen, d. h, sein Vorverständnis
hinzugeben, um zu einem neuen Verständnis zu gelangen. Nur wer mit „tiefer
Gluth" (KSA 9, 6 [202]) nach Erkenntnis strebt, strebt wirklich nach ihr. Die
Gefahr des Verbrennens, d. h. die Gefahr, nicht geläutert, sondern verkohlt aus
dem Feuer zu treten, ist kein Argument gegen die Leidenschaft28. Auch nicht
gegen die Leidenschaft des Denkens, deren helle Flamme eine neue, umfassen-
dere, erhellende Erkenntnis, deren Asche ein zugrunde gerichteter Intellekt wäre,
der seine Vermutungen nicht in klärende und produktive Gedanken zu bringen

den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde; — ja, vielleicht sind wir auch unglücklich
Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer
erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen" (M 429).
26
Vgl. Warburg, Aby: Dürer und die italienische Antike (1906). In: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Hrsg.
von der Bibliothek Warburg. Nendeln, Liechtenstein, 1969. S. 443-449. Zum Begriff Pathos for-
mel bei Warburg vgl. Kaegi, Werner: Das Werk Aby Warburgs. Mit einem unveröffentlichten
Brief Jacob Burckhardts. In: Neue Schweizer Rundschau, \ (1933). S. 283-293; für die Übernahme
des Begriffs in die literaturwissenschaftliche Toposforschung: Curtius, Ernst Robert: Antike
Pathosformeln in der Literatur des Mittelalters (1950). In: ders. Gesammelte Aufsätze %ur romani-
schen Philologe. Bern, München 1960. S. 23-27.
27
Daneben fallt auch die häufige Verwendung von Superlativen des Geschmacksinns auf, wie
etwa „schärfste Würze" (z. B. M 240) und „Ekel" (z, B. KSA 9, 6[124]). Dem Verhältnis von
Liebes-, und Essensmetaphorik in bezug auf Erkenntnis kann im Rahmen dieser Arbeit nicht
nachgegangen werden; vgl.. hierzu die Hinweise bei Borsche, Tilman: Was etwas ist. Fragen nach
der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche. München, 1990.
S. 277 f.
29 Vgl. M 240.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" · 31

vermochte. Wer aber dieses Risiko nicht eingehen will, wer also nicht bereit ist,
seinen sicheren Grund von Vorurteilen unabgesichert zu verlassen, dem ist die
Möglichkeit, seine Erkenntnis zu erweitern, von vornherein verschlossen. Es
stellt sich die Frage, ob man „ein Ende in Feuer und Licht oder im Sande"
(M 429) vorzieht.29
Gelegentlich wird Philosophie mit dieser Kraft der Transfiguration selbst
identifiziert. Für die, die ein Leben als Philosoph fuhren, bedeutet dies: „Leben
- das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwan-
deln, auch Alles, was uns trifft, wir können gar nicht anders" (FW Vr 3). Alles,
was einem begegnet, wird durch seine Erkenntnis erhellt. Wie das Feuer alles,
was sich ihm nähert — ob Gold oder Abfall - in ein lichteres Dasein transfor-
miert, so erscheint die Geliebte und alles, was zu ihr gehört — ihre Tugenden
wie ihre Laster — in den Augen des Liebenden kraft seiner Liebe als begehrens-
wert, und so wird jeder Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnis erhellt,
verschönert, geheiligt.
Wie das Feuer, so sind die Liebe und die Leidenschaft der Erkenntnis inten-
siv und transformierend; sie sind aber, wie jenes, auch und vor allem unersättlich.
Über die Unstillbarkeit der Liebesleidenschaft wurde auch in der Antike gedich-
tet, wie Nietzsche natürlich wußte. Der Erkenntnisliebhaber gleicht den „leiden-
schaftlich Liebenden, welche die Vereinigung nicht zu erreichen wissen"
(KSA 9, 11 [69]), schreibt Nietzsche mit Bezugnahme auf Lukrez' Beschreibung
der Liebesleidenschaft. Lukrez, dessen Lehrgedicht „De rerum natura" bezeich-
nenderweise mit einer Anrufung und Huldigung der Venus beginnt, schreibt
über die Liebesleidenschaft: „und es ist allein diese Sache, bei der, je mehr
wir haben, um so mehr entzündet sich in schrecklicher Begierde das Herz."30
Anschließend schildert er das Begehren der Liebenden, die sich vollkommen zu
vereinen wünschen, denen aber gleichwohl die Erfüllung verwehrt bleibt. Die
Aufhebung der Trennung kann ihnen, trotz der großen körperlichen Nähe, nicht
gelingen, sie wird nur um so spürbarer und das Begehren um so größer, je näher
sich die Liebenden kommen, die schließlich nicht davor zurückschrecken, sich
ineinander zu verbeißen.
Dieses Verhältnis überträgt Nietzsche auf die Beziehung des Liebhabers der
Erkenntnis zur Welt der Dinge. Seine unstillbare Begierde richtet sich auf die
Vereinigung mit den Dingen außer ihm. Was ihm begegnet, das will er sich

29
Dieses Entflammen für neue Erkenntnisse führt andererseits zum Abkühlen gegenüber alten
Oberzeugungen und Werten, die die unphilosophischen Geister erregen: „Der Zustand der
absoluten Erkaltung in Bezug auf alle bisher geglaubten Werthe ist vorhergehend dem der
Erhitzung" (KSA 10, l J64]). Und ,Je näher du der völligen Erkaltung kommst, in Bezug auf
alles bisher VCerthgeschätzte, um so mehr näherst du dich auch einer neuen Erhitzung"
(KSA 10, 5[1]67).
30
Lukrez: De rerum tiatura, IV 1089-1090.
32 Sabrina Ebbcrsmcycr

verstehend aneignen, alles soll sich sinnvoll seinem Verstand erschließen. Es


„soll sich alles in Erkenntniß auflösen" (KSA 9, 11 [69]). Dies ist sein Begehren,
aber er „sieht sich abgeschieden — dies ist seine Leidenschaft." Die Unmög-
lichkeit, das Begehren stillen zu können, potenziert sich, je näher man der Er-
kenntnis der Dinge kommt. Die eigenen Grenzen, die individuelle wie menschli-
che Endlichkeit, werden nicht überwunden, sondern treten nur noch deutlicher
hervor.
Durch die Analogie verdeutlicht Nietzsche ein nicht aufzuhebendes Di-
lemma in der Leidenschaft der Erkenntnis. Je mehr man über die Dinge weiß,
desto größer wird das Begehren, mehr von ihnen zu wissen: das Begehren wird
nicht gestillt, sondern angefacht, und um so deutlicher wird die Unmöglichkeit
eines völligen Erkennens. Letztlich erkennen wir nur „die negative Seite aller
wirkenden Dinge, gleichsam wie den Abdruck und Eindruck derselben auf uns:
nicht das Wesen dieser Dinge, sondern unsere Natur allein in einer bestimm-
ten Hemmung und Begrenzung" (KSA 9, 6(418]). Wie den Liebenden bei
Lukrez gelingt es dem Erkennenden, nach Nietzsche, nicht, sich mit dem Objekt
seiner Leidenschaft zu „vereinen".
Bis zur Feststellung dieses Umstandes greift die Analogie, in der Frage nach
den Konsequenzen jedoch, die aus diesem Umstand zu ziehen sind, unterschei-
det sich Nietzsche von Lukrez. Dieser schließt an seine Betrachtungen eine
Aufzählung der negativen, zerstörerischen Konsequenzen der entfesselten Lei^
denschaft an. Jener läßt die neu eröffneten Möglichkeiten sichtbar werden. Denn
dieses Bild der Befindlichkeit des Menschen muß nicht Anlaß zur Klage geben,
es läßt sich auch als eine Befreiung vom Joch ewiger und eindeutiger Wahrheiten
verstehen.
Wenn eingesehen ist, daß die Frage, was etwas sei, nicht unabhängig davon
beantwortet werden kann, was etwas jeweils für uns ist, dann kennt nicht der die
Bedeutungen der Dinge am besten, der über feste Meinungen verfügt, sondern
derjenige, der versucht, die Vielfalt der Bedeutungen kennenzulernen. Dadurch
erhält das Subjekt des Erkennens einen neuen Status: seine Individualität ist kein
zu eliminierendes Übel beim Versuch zu erkennen, vielmehr ermöglicht sie ihm
gerade, die Dinge kennenzulernen. Seine Individualität zu leugnen hieße, so
verstanden, auf die Möglichkeit der Erkenntnis zu verzichten — zumindest für
menschliche Geister: „Sobald wir die Gerechtigkeit zu weit treiben und den
Felsen unserer Individualität^ zerbröckeln, unsern festen ungerechten Aus-
gangspunkt ganz aufgeben, so geben wir die Möglichkeit der Erkenntniß auf: es
fehlt dann das Ding, wozu alles Relation hat" (KSA 9, 6[416]). Die Endlich-
keit in allem Erkennen läßt sich zwar nicht aufheben, aber ihre Grenzen lassen
sich hinausschieben, indem man die Vielfalt möglicher» Perspektiven entdeckt
und ihnen gerecht zu werden versucht, freilich ohne die Hoffnung, jemals ,Ge-
rechtigkeit' erlangen zu können. ~
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 33

Was bleibt also dem zu tun, der trotzdem Erkenntnis begehrt? „Aufgabe:
die Dinge sehen, wie sie sind! Mittel: aus h\mdert Augen auf sie sehen
können, aus vielen Personen!" (KSA9, 11 [65]). Wer sich der Erkenntnis der
Dinge annähert, versucht also, aus möglichst vielen Perspektiven die unter-
schiedlichsten Aspekte der Dinge kennenzulernen. In seiner Seele wohnt „ein
Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine
Augen sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, - ein auch die ganze
Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches Nichts verlieren will, was
ihm überhaupt gehören könnte!" (FW249). Nicht nur die Gegenwart, auch
Vergangenes und Zukünftiges liegen unendlich vielfältig und in diesem Sinne
offen vor dem Begehren des Erkennenden: „Es ist gar nicht abzusehen, was
Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer
noch wesentlich unentdeckt!" (FW 34).
Das Maß des Begehrens legt die Grenzen dessen, was wirklich ist bzw. war,
fest und setzt auch den Kreationen des noch Möglichen Schranken oder -
positiv gewendet — gibt den Möglichkeiten erst die Kraft, Wirklichkeit zu wer-
den. Den Liebenden, wie sie bei Lukrez geschildert werden, wäre vor diesem
Hintergrund zu empfehlen, ihre körperliche Getrenntheit nicht als Behinderung,
sondern als Reiz aufzufassen, sich auf vielfaltige und erregende Weisen einander
anzunähern.
Aber auch diese, eigentlich befreiende Einstellung zur Erkenntnissuche birgt
ihre Gefahren: Schwingt sich die von prinzipiell jeglichem Vorurteil und Dogma
befreite Leidenschaft der Erkenntnis zum Tyrannen auf, so kann dies zum Ekel
und schließlich zum Ersterben des Begehrens fuhren. Mahnfigur ist der wollü-
stige Asket Don Juan.
In einer „Fabel" (M 327) beschreibt Nietzsche die Lust und den Untergang
des „Don Juan der Erkenntniss". Wie sein pendant, das Frauenherzen bricht
und keiner treu bleibt, so läßt Don Juan eine Erkenntnis nach der anderen hinter
sich. Die Leidenschaft treibt sie in immer neue Abenteuer, in immer verwege-
nere Situationen. Wie in Don Juan die Leidenschaft der sinnlichen Liebe ihre
Triumphe feiert, rücksichtslos und um jeden Preis, so die Leidenschaft 3er Er-
kenntnis in dem neuen Don Juan. Was er sucht, hat er nur für einen Moment,
denn jede Erkenntnis fallt einer neuen Einsicht zum Opfer und so fort.
Die Größe der Leidenschaften bewahrt beide davor, stümperhafte Verführer
oder ausgemachte Schurken zu sein, die persönlicher Vorteile wegen anderen
schaden. Im Gegenteil: ihre Größe liegt gerade darin, daß sie stark genug sind,
die Leiden der anderen ihrer Leidenschaft zuliebe zu ertragen. In ihnen herrscht
eine Leidenschaft, die keine anderen Interessen neben sich duldet. Sind ihre
Wege auch von blutenden Herzen gezeichnet, so bleiben doch beide ihrer Lei-
denschaft treu. Wer diese Härte nicht besitzt, für den gilt: „Ihr werdet nicht zu
Don Juans der Erkenntniß, weil ihr nicht Consequenz genug und Charakter
34 Sabrina Ebbersmeyer

habt" (KSA 9, 7[139J). Doch gleich dem Herzensbrecher, der am Ende für seine
eingehändigte Lust zahlen muß, bleibt auch Don Juan der Erkenntnis zum
Schluß, wenn er alle Erkenntnisse hinter sich gelassen hat und sich nunmehr
selbst erkennen muß, nur noch die bittere Einsicht, daß ihm auf dieser Welt
nichts zu erkennen und also nichts zu begehren bleibt. Denn dieser Wollüstling
der Askese erkennt zuletzt, daß er nichts absolut und endgültig erkennen, daß
ihn keine Wahrheit befriedigen kann - besteht er auf Erfüllung dieses An-
spruchs, so muß er eine andere Welt als die des Menschen bejahen.31
In diesem Bild werden die Rücksichtslosigkeit betont, mit der ein tyranni-
scher Trieb vorgeht, und seine Konsequenzen, wenn er sich verselbständigt und
sich nicht mehr bändigen läßt. Es droht die Gefahr, daß er seine eigenen Voraus-
setzungen zerstört: „Dies ist Consequenz von der Leidenschaft der Erkenntniß:
es giebt für ihre Existenz kein Mittel, als die Quellen und Mächte der
Erkenntniß, die Irrthümer und Leidenschaften) auch zu erhalten, aus deren
Kampfe nimmt sie ihre erhaltende Kraft" (KSA 9, 11 [l 41]).
Diese, bis in letzte Konsequenz geführte Wahrheitssuche hat sich auf diesem
Weg vollendet, sie hat ihre Grenze in einem Paradox gefunden: Erkennen ist
zugleich ein nicht-Erkennen. Damit ist der traditionelle Erkenntnisbegriff unsin-
nig geworden. In einem Fragment aus der gleichen Zeit heißt es: „Alle Leiden-
schaft trübt den Blick 1) für das Objekt 2) für den damit Behafteten. Und
nun! Paradoxie! Leidenschaft der Erkenntniß, welche gerade die Erkenntniß
erkennen will und ebenso den von der Leidenschaft Befallenen! Unmöglich!!!
Ist die schöne Unmöglichkeit vielleicht ihr letzter Zauber?" (KSA 9, 15[26]).
Worin könnte dieser bestehen? Auf dieser Stufe der Erkenntnis gibt es kein
Fortkommen, nur noch Verfall, Dekadenz, Nihilismus. Doch Nietzsche fordert
auf, auch diese, mit aller Leidenschaft betriebene Redlichkeit zu überwinden,
freilich erst, nachdem man ihre letzte Konsequent gespürt hat. Um „der Welt
ihren herzbrechenden Charakter nehmen" (KSA 10, 4[34]) zu können, muß man
ihn erst erfahren haben.
Dieses Überwinden ist nicht im Sinne eines Rückfalls hinter den einmal
erreichten Status zu verstehen, dieser wird nicht aufgegeben, sondern aufgeho-
ben in einem umfassenderen Begriff von Erkenntnis, in dem die Wahrhaftigkeit
zu einem Moment wird. „Auch die Wahrhaftigkeit ist nur eins von den Mitteln
zur Erkenntniß, eine Leiter - aber nicht die Leiter." (KSA 10, 5[1]57).32 Ihr
Gegenpol ist die „Wollust"33 oder die „genießende Erkenntniß"34. Was darun-
ter zu verstehen ist und wie Nietzsche das Verhältnis von Liebe und Erkenntnis
konzipiert, läßt sich durch die Liebesleidenschaft der Trobädors veranschauli-

31 Vgl. M 483; FW 344; GM III, 24.


32 Vgl. KSA 10, 1[28]; 10, 2[42]; 10, 3[1]73.
33 Vgl. KSA 10, 1[72]; 10, 5[1]65; 10, 5[21]; 10, 7[108].
34 Vgl. u.a. KSA 9, 11 [l 56].
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 35

chen. Um die erstaunliche Affinität von Nietzsches Begriff der Erkenntnislei-


denschaft mit der Liebesvorstellung der Trobadors deutlich werden zu lassen,
ist es zunächst notwendig, letztere in ihren spezifischer! Zügen darzustellen.35
Das Motiv der unstillbaren Liebe ist ein zentraler und immer wiederkehren-
der Topos in der Dichtung jener Ritter-Dichter, jedoch mit besonderen Akzen-
tuierungen, die etwas Neues für die Liebesdichtung bedeuten und die es gerecht-
fertigt erscheinen lassen, in Ihnen die „Erfinder" der „Liebe als Passion"
(JGB 260) zu sehen.
Die Liebe ist der Ursprung und der Grund alles Guten. So schreibt Andreas
Capellanus, Verfasser des im Mittelalter berühmten Traktates über die höfische
Liebe36, und so singt auch beispielsweise Bernart von Ventadorn37. Dieser Ge-
danke ist keineswegs neu und im Christentum geradezu aufgeblüht38. Neu ist
jedoch, daß der Gegenstand der Liebe eine individuelle Frauengestalt ist, die
vom Liebenden verehrt und bis ins Höchste idealisiert wird. Die Liebe zu einer
Sterblichen, deren Gegenliebe man sich nicht sicher sein kann, spendet die
Kraft, gibt das Licht, in dem alle Taten des Liebenden gerechtfertigt erscheinen,
und in dem sich auch die übrige Welt zeigt.
Die Angebetete besitzt ihre hohe Bedeutung nicht an sich, sondern nur als
Gegenstand der Liebe eines anderen. Natürlich muß sie sich dafür eignen, d. h.
tugendhaft und damit begehrenswert sein, aber keine Eigenschaft ist an sich
weder besonders geeignet noch ungeeignet, ihre Tugendhaftigkeit zu bezeugen.
Ihre jeweilige Auslegung entscheidet über ihren Wert.39 Diese überhöhte Bedeu-

35
Zur Bedeutung der provenzalischen Trobadordichtung für das Philosophieverständnis Nietz-
sches vgl. die Hinweise von Djuric, Mihailo: Philosophie als fröhliche Wissenschaft. In: Niet%
scbes Begriff der Philosophie. Hrsg. von M. Djuric. Würzburg, 1990. S. 37-52 (v. a. S. 38 f.); und
Borsche, Tilman: Fröhliche Wissenschaft freier Geister - eine Philosophie der Zukunft? Ebd. S. 53-72
(v. a. S. 63 f.).
36
Andreas Capellanus: De amore libri fres, 1180? Hrsg. von E. Trojel. Havniae, 1892, ND München,
1964. „Omnis ergo boni erit amor origio et causa. Cessante igitur causa eius de necessitate
cessat effectus. Nullus ergo potent homo facere bona nisi amoris suasione cogatur." Liber l,
Cap. VI A (S. 29).
37
Die Allmacht der Liebe findet sich deutlich ausgedrückt in einem kurzen Vers: „Ben es mortz
qui d'amor no sen/al cor cal que dousa sabor;/e que val viure ses valor/mas per enoi far a la
gen?" (Wohl ist der tot, der von der Liebe nicht irgend süßen Geschmack im Herzen empfindet.
Und was gilt Leben ohne Wert? nur Verdruß erregt es bei den Leuten.), aus: Bernart von Venta-
dorn. Seine Lieder. Hrsg. und übersetzt von Carl AppeL Halle, 1915. S. 187-193.
38
Die Übernahme christlicher und im engeren Sinne augustinischer Elemente der Rhetorik in die
Dichtung der Trobadors anhand des Werteverhältnisses von Begehren und Verstand aufgezeigt
bei: Spencer, Sarah: Rhttoncs ofReason andDesire. Vergil, Augustinet and the Troubadours. New York,
1988.
39
Dies ist sicherlich eine Erfahrung, die jeder Liebende mit dem Gegenstand seiner Liebe macht.
Wichtiger ist jedoch, daß dieser Umstand auf interessante Weise zum Gegenstand der Untersu-
chung über das Wesen der Liebe von Andreas Capellanus gemacht wurde. Die jeweiligen Tugen-
den der Liebenden können als Nachteile ausgelegt werden und umgekehrt, letztendlich kann
aber kein »Argument* für oder gegen die Liebe zwingend sein, vgl. Liber l, Cap. VIA (S. 19-36).
36 Sabrina Kbbersmeycr

tung erhält die Geliebte erst durch die bedingungslose Verehrung des Liebenden.
Er verleiht ihr kraft seines Gesangs, der ebenso vergänglich ist wie seine Dame,
diesen Wert. Gleichwohl steht es dem Liebenden nicht frei, kgendwie und nach
seinem Belieben zu handeln: es gibt Regeln und Gesetze der Liebe, die zu
befolgen sind, wenn die Liebe ihre gute" und verschönernde Kraft entfalten soll.
Die Geliebte fordert Dienste, die seine Zuneigung bezeugen sollen, gestattet
dem Liebenden aber nicht unbedingt Glück. Sein Begehren wird nicht gestillt,
doch vor immer neue Proben gestellt und immer neu entfacht. Man kann in
ihren Dienst treten, sich ihrer würdig erweisen, ohne Anspruch, sie jemals besit-
zen zu dürfen.
Besungen wird in den Liedern der Trobadors nicht nur die Geliebte, sondern
auch und vor allem das Lieben selbst, die Gefühle und die Tätigkeiten des
Liebenden. Wie die Geliebte zu erwerben ist, steht nicht im Zentrum, denn der
Sinn des Liebesverhältnisses besteht nicht einfach im Erwerben der Dame, son-
dern im Werben des Liebenden selbst. Dieses soll den Werbenden veredeln
und züchten,40 Das Verhältnis zu seiner Dame lehrt ihn höfische Regeln und
Verhaltensweisen. Er lernt, seine Begehren zu kultivieren, zu adeln, indem er
sich ihnen nicht blind unterwirft, sondern ihnen eine spezifische Form verleiht,
die nicht nur ihn, sondern auch seine Umgebung erhöht. Der Liebende, der sich
an seinem Ideal ausrichtet, diszipliniert sich und findet seirie höchste Lust im
Dienst an der Geliebten. Zwar treibt ihn die Hoffnung auf vollkommene gegen-
seitige Hingabe an, doch gibt es für diese Erfüllung weder eine Garantie noch
einklagbares Recht und oftmals bleibt sie aus. Aber dadurch erleidet das Liebes-
verhältnis keinen Abbruch, denn die Hingabe ist nicht konstitutiv für diese Lie-
be.
Natürlich geht es immer um fin'amors, um die wahre und reine Liebe, nur
diese hat die Kraft zur Verklärung41 und Veredelung. Aber die reine Liebe ist

40
Nur durch die Liebe können sich die guten Eigenschaften entfalten, weshalb auch in einem
der exemplarischen Lehrgespräche über die Liebe der Liebende seiner Angebeteten gegenüber
argumentieren kann: „Petitum itaque largiri debes amorem, ut benefaciendi causa mihi a te
videatur indulta et per te valeam bonis moribus informari et stabili semper in jßrraitate durare."
Andreas Capellanus, Über l, Cap. VI A (S. 29).
41
Wie weit diese Verklärung reicht, mag ein Vers von Bernart de Ventadorn verdeutlichen. Nicht
nur die Geliebte verklärt sich unter seiner Liebe zum einzigen Wert, die ganze Welt verändert
sich, ist von diesem Prozeß der Transformation betroffen: „Tant ai mo cor ple de joya,/tot me
desnatura./flor blancha, vermelh'e groya/me par la frejura,/c'ab lo ven >et ab la ploya/me creis
Paventura,/per que mos pretz mont'e poya/e mos chans melhura./tan ai al cor d'amoryde joi
e de doussor,/per que I gels me sembla flor/e la neus verdura." (So habe ich mein Herz von
Freude voll, sie will mein Wesen ganz verrücken. Weißes, rotes gelbes Blühen scheint mir die
Kälte, denn mit dem Wind und dem Regen wächst mir das Glück, so daß mein Wert steigt und
gedeiht und mein Sang gewinnt. So viel hab ich im Herzen von Liebe, von Freude und von
Süßigkeit, daß der Frost mir wie Blüte scheint und der Schnee wie Grün.), aus: Appel (1915).
S. 257-268.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 37

nicht unbedingt identisch mit der rein geistigen Liebe.42 Der Unterschied zwi-
schen fin' und fals'amors besteht nicht in ihrem Grad von Sinnlichkeit, sondern
in ihrem Beweggrund: ob sie aus freier Zuneigung oder aus Not und Zwang,
sei dieser körperlicher oder gesellschaftlicher Art, heraus geschieht. Frei ist die
Liebe, wenn sie von keinem weiteren Grund abhängt, die reine Liebe hat ihren
Grund nur in sich selbst. Für den Wert der Liebe ist es nicht entscheidend, ob
sie sich in der Sehnsucht nach der Geliebten erschöpft oder ob sie auch die
körperlich-sinnliche Erfüllung kennt. Zwar ist die Hingabe nicht konsumtiv, aber
sie wird auch nicht verdammt, denn das hieße, sich gegen die eigenen anfäng-
lichen Beweggründe stellen.43 Im Gegenteil: Sinnlichkeit und Wollust können
genossen werden, ohne weder sich noch seine Dame dafür verachten zu müssen.
Der Trobador hat es nicht nötig, sich von den Wurzeln seiner feinen und kunst-
vollen Dichtung der Liebessehnsucht zu trennen, gleichwohl vollendet sich seine
Liebe nicht in ihnen. Die Erfüllung, wenn überhaupt gewährt, ist geheim, frei,
nicht institutionalisierbar und insofern die Ausnahme. Sie läßt sich nicht ,einrich-
tenc, höchstens von Zeit zu Zeit empfangen. Besitzen läßt sich die Dame der
Liebe nicht. Denn besitzt man die Dame — etwa durch Heirat —, dann ist es,
Andreas Capellanus formuliert es drastisch, mit der Liebe aus.44 Auch deshalb
ist die Hingabe zwar eine mögliche, augenblickliche Erfüllung, nicht aber höch-
stes und einziges Ziel.
Auf analogen Wegen bewegt sich der Liebhaber der Erkenntnis.45 Er weiß,
daß seine Wahrheit eine individuelle Wahrheit ist, der Gegenstand seiner Passion

42
Diese Deutung wird vertreten und anhand vieler Beispiele dargestellt u. a. von Lazar, Moshe:
Amour courtOis et Jin'amors1 dans litterature du Xlf siede. Paris, 1964. Vgl. auch Scheludko,
Dimitri: Über die Theorien der Liebe bei den Trobadors. In: Zeitschrift für Romanische Philologie^
60 (1940). S. 191-234. In seiner differenzierten Untersuchung zeigt Scheludko dieses Verständ-
nis der Liebe v. a. in den Liedern Bernart Martis. Diese Auffassung sehr deudich auch bei
Andreas Capellanus: „Licet enim purus et mixtus diversi videantur amores, recte tarnen intuenti-
bus purus amor quo ad sui substantiam idem cum mixto iudicatur amore et ex eadem cum ipso
cordis affectione procedit. Eadem est in illis amoris substantia, sed varius est modus atque
respecrus amandi". Über l, Cap. VI (S. 264).
43
Diese Wendung gegen die eigenen Voraussetzungen sieht Nietzsche in der christlichen Liebes-
konzepdon verwirklicht, die aus diesem Grund von ihm häufig angegriffen wird. Vgl. u. a.'GD
„Moral als Widernatur" 1-4; KSA 10, 3[1]417.
44
In einem Uebesstreit entscheidet die Gräfin von Champagne eindeutig: „Dicimus enim et stabi-
lito tenore firmamus amorem non posse suas inter duos iugales extendere vires. Nam amantes
sibi invicem gratis omnia largjuntur nullius necessitatis ratione cogente. Iugales vero mutuis
tenentur ex debito voluntatibus obedire et in nullo se ipsos sibi invicem denegare." Über l,
Cap. VI F (153). Ob dieses Urteil historisch wirklich gewesen ist oder sich der literarischen
Fiktion des Autors verdankt, ist hier nicht entscheidend, denn in jedem Fall spiegelt sich in
ihm die Liebesauffassung der Zeit, die nicht der individuellen Erfindungsgabe eines einzelnen
zuzuschreiben ist Immerhin hat Andreas CapeUanus von 1170 bis 1228 am Hof der Gräfin
von Champagne gelebt
45
VgL: An den MistraL Ein Tanzlied. Aus: Lieder des Prinzen Vogelfrei (1887 erschienen), KSA 3,
S. 649-651: „Tanzen wir gleich Troubadouren/Zwischen Heiligen und HurenyZwischen Gott
und Welt den Tanz!"
38 Sabrina Ebbersmeyer

ebenso vergänglich wie die geliebte Dame. Aber die Liebe zu ihr, seine Leiden-
schaft zur Erkenntnis, ist sein einzig guter Hang46 und zugleich die — ziemlich
grundlose, weil ungerechte47 — Basis seiner Handlungen. Ähnlich wie in der
Liebesauffassung der Trobadors, wo die Bedeutung des Liebesverhältnisses auf
der Seite des Begehrenden liegt, der durch die Größe und Diszipliniertheit seines
Begehrens die Bedeutung der Geliebten erst erschafft, so erhält die Wahrheit
erst durch das Begehren des Erkennenden ihre alles überragende Bedeutung48.
Durch seine Kraft der Idealisierung bekommt die Wahrheit überhaupt erst ihren
Wert. Ohne begehrendes Subjekt gäbe es das Begehrte gar nicht Worin liegt
dann aber noch länger der Sinn dieses Begehrens? Wie auch bei der liebe der
Trobadors, so steht auch hier nicht das Erreichen eines bestimmten Zieles, son-
dern die eigene Veredelung und Tugendhaftigkeit im Zentrum. Erkennen ist
damit als Tätigkeit nicht als ein einmal zu erreichender Zustand begriffen. Das
Begehrte bleibt wirksam als Regulativ beim Erkennen. Philosophie als Leiden-
schaft der Erkenntnis zeigte sich dann in der Gestalt eines immer tätigen, wa-
chen und bereiten Dienstes für die Wahrheit49.
Jeder, der die Erkenntnis leidenschaftlich liebt, ist bereit, alles für sie zu tun,
allen ihren Forderungen nachzugeben, um sich ihr annähern zu dürfen. Sein
Ideal fordert von ihm, sich notfalls das Herz zu brechen und auf liebgewonnene
Überzeugungen, positive Vorurteile gegen geliebte Menschen etc. zu verzichten.
„Der Werth im Glauben an übermenschliche Leidenschaften"
(M 27), an Leidenschaften, die sich niemals in der Erfüllung vollenden, liegt
genau darin, die Leidenschaften zu adeln und damit auch denjenigen, der diese
Leidenschaft kultiviert: es entsteht „ein neuer übermenschlicher, den Men-
schen hebender Begriff4 (M 27).
Auch den Erkenntnisliebhaber treibt das Begehren an, „zu den göttlichen
Wesen und hinter den Schleier der Erscheinung zu gelangen" (M 474). Gleich-
wohl ist für Nietzsche die Hoffnung auf Erfüllung des Begehrens nicht mehr
möglich, denn hinter den Erscheinungen, ihren Ver-kleidungen ist -«· nichts:
„Und waren nicht alle grossen Leidenschaften der Menschheit bisher solche
Leidenschaften für ein Nichts?" (M 474). Doch findet er sich von Zeit zu Zeit
in den Armen seiner Geliebten, deren vorgebliche Nacktheit freilich als eine
bestimmte Art von Verkleidung erkannt wird, jedoch eine, die ihren Stoff ver-
gessen laßt. Hin und wieder praktiziert er und genießt eine Wahrheit — nicht
aus Trägheit, Mangel an Radikalität oder Redlichkeit, sondern aus sachlichen,
logischen Gründen und d. h., weil es seiner Leidenschaft dient, für sie notwendig

46
Vgl. „Das Erkennenwollen der Pinge, wie sie sind — das allein ist der gute Hang" (KSA 9,
11 [10]).
47
Vgl. KSA 9, 6[416].
48
Vgl. KSA 12, 10[174],
49
Zur Metaphorik des Dienstes an der Wahrheit vgl. u. a. M 201; AC 50.
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 39

ist. Lapidar formuliert: „Um des Erkennens willen das Leben lieben und för-
dern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein
eine ästhetische Bedeutung geben, unseren Geschinack an ihm mehren
ist Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß" (KSA 9, 11 [l 62]).
Diese Grundbedingung ist Voraussetzung, freilich nicht erschöpfende Be-
deutung und Ziel der Leidenschaft Sie erfüllt sich nicht in dieser „Wollust"50.
Die „genießende Erkenntniß"51, die festgestellte Wahrheit, kurz die Überzeu-
gung hat keine Herrschaft über ihn. Seine „grosse Leidenschaft braucht, ver-
braucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, - sie weiss sich souve-
rain" (AC 54). Er unterwirft sich ihnen nicht, sondern gönnt sie sich, um umso
stärker gegen ihre Nachteile angehen zu können. Sie reizen, hinter sich gelassen
zu werden. Die Selbstadelung im Werben um Wahrheit bleibt das hohe Ziel der
Leidenschaft der Erkenntnis.
Der Minnesänger der Erkenntnis hat es nicht nötig, sein Ideal wegen seines
immer unbegründeten Ursprungs zu verachten. Ihn zeichnet nicht der von
Nietzsche so häufig kritisierte Hochmut der Erkenntnis aus (der verabsolutierte
und d. h. in seiner Wirkung unmenschliche asketische Hang des Geistes), son-
dern ein das menschliche Maß zwar nicht verlassender, aber ständig herausfor-
dernder hoher Mut. Ein Hochgestimmtsein, welches auch das an sich bejahen
kann, was dieser hohen Stimmung entgegengesetzt ist, woraus sie aber gleich-
wohl erwächst. In der Liebe ist es die Wollust, in der Erkenntnis die gefundene
Wahrheit. Auf diesen Aspekt zu verzichten, ihn gar zu verurteilen und abzuleh-
nen, ist wenig fruchtbar. Im Gegenteil: auch die verfeinerte Form der Liebe wie
der Erkenntnis würde ohne diese zeugende Kraft verkümmern.
In der Liebe läßt sich damit ein Vorgang feststellen, den Nietzsche auch für
die Erkenntnis beschreibt: die Sublimierung52. Dies ist nicht so zu verstehen,
50
Vgl. Anm. 33.
51
Vgl. Anm. 34.
52
Zur Bedeutung des Begriffs Sublimierung bei Nietzsche vgl. Kaufmann, Walter: Nietzsche. Philo-
sopher, Psychologist, Antichrist. Princeton, New Jersey, 1950 (zitiert nach der deutschen Ausgabe:
Nietzsche. Philosoph — Psychologe — Antichrist. Darmstadt, 21988). In seiner ausführlichen Erörte-
rung weist er auch auf die historischen Bedeutungsverschiebungen des Begriffs hin. Seine These
jedoch, Nietzsche habe „mit seinem Begriff von Sublimierung den Freuds vorweggenommen"
(S. 254), ist nicht überzeugend vorgetragen. Freud schreibt zunächst in „Die .kulturelle' Sexual-
moral und die moderne Nervosität" (1908): „Man nennt diese Fähigkeit, das ursprünglich sexu-
elle Ziel gegen ein anderes, nicht mehr sexuelles, aber psychisch mit ihm verwandtes, zu vertau-
schen, die Fähigkeit zur Sublimierung (S. 150). Als Terminus bezieht sich Sublimierung vor allem
auf den Bereich der Sexualität, daneben später gelegentlich auch auf den Thanatos, den Todes-
trieb. Kulturelle Leistungen werden interpretiert als Ergebnisse ihrer Sublimierung, wie bei-
spielsweise in „Das Unbehagen in der Kultur" (1930): „Die Triebsublimierung ist ein besonders
hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische
Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturle-
ben spielen*4 (S. 457). Bei Nietzsche läßt sich diese Entgrenzung der Bedeutung von Sexualität
nicht finden. Zwar läßt sich Sexualität sublimieren zu feineren Formen der Liebe. Deshalb
lassen sich jedoch nicht alle anderen Begehren, z. B. nach Erkenntnis, auf sublimicrte Sexualität
40 Sabrina Kbbcrsmeyer

daß der Eros ein ursprünglicher Trieb und die Leidenschaft der Erkenntnis eine
sublimierte Form des Eros ist, sondern zwischen Liebe und Erkenntnis besteht
eine Analogie. Beide haben eine (in ihren Anfängen liegende) grobe, natürliche,
ursprüngliche4 Bedeutung, und beide lassen sich unendlich verfeinern. Zwar
läßt sich die Erkenntnis ebensowenig Besitzen wie die Liebesdame der Troba-
dors, jede festgestellte Erkenntnis — wie jede festgeschriebene Liebe — ist ein
Irrtum. Aber dieses Unglück wird als großes Glück begriffen. „Möge man ja
nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum Düsterling geworden sei!
Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich, — nur liebt man anders. Es ist die
Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht ..." (FW Vr 3).
Dennoch bleibt die Ambivalenz bestehen^ Erkennen ist einerseits Durch-
schauen und Entdecken und andererseits ein Verdecken und Übersehen. Es
zeigen sich in ihm zwei unterschiedliche Hänge des Geistes. Wenn es jedoch
gelingt, die erzeugte Spannung als Reiz aufzufassen, dann lassen sich die Vorteile
von beiden ausnutzen und die Nachteile erträglich gestalten: Der asketische
Hang des Geistes fuhrt zum Abbau von Vorurteilen und eingeschliffenen Denk-
gewohnheiten, befreit von Illusionen wie von kulturell-gesellschaftlichen Zwän-
gen, im Ganzen vergrößert er die Erkenntnis der Welt, indem er an keiner
Grenze stehen bleibt. Aber für den Erkennenden bedeutet dies zugleich, hart
gegen sich und seine Vorlieben zu sein und nicht nur sich, auch seinen Geliebten
ständig das Herz zu brechen. Verabsolutiert fuhrt dieser Hang den Erkennenden
in den Nihilismus: „Das Durch-schauen wäre der Tod, der Ekel, das Böse"
(KSA 10, 5[1]213). Wer das Leben nur durchschaut, der muß es hassen. Der
entgegengesetzte Hang des Geistes mehrt die Lust am Dasein: er dichtet zu
Ende, es ist die genießende, feststellende Erkenntnis. Indem er das Dasein als
begehrenswert fingiert, verklärt er es nicht nur, sondern erschafft es als ein
solches. Aber „Als ein Schaffen ist alles Erkennen ein N ich t-erkennen"
(KSA 10, 5[1]213). Schweift dieser Hang zu weit aus, dann wirkt er nur noch
betäubend, und die Verklärung führt nicht zur Klärung, sondern in Nebeldunst.

zurückführen. Die beiden von Kaufmann angeführten Zitate belegen kaum eine Verwendung
des Begriffs, wie sie sich .bei Freud findet. Die ,,sublimirte(n) Geschlechtlichkeit" (VM95),
wie er ohne Zusammenhang zitiert, bezieht sich nur auf die Verfeinerung der Liebe (v. a. im
Christentum). Auch „subiimirter Geschlechtstrieb" bezieht sich im Nietzsche-Fragment nur auf
die Formen der Liebe. Der Zusammenhang von Sublimierung und Erkenntnis wird in Form
einer Reflexion über Platon thematisiert: „Manche Triebe z. B. der Geschlechts trieb sind großer
Verfeinerungen durch den Intellekt fähig (Menschenliebe, Anbetung von Maria und Heiligen,
künstlerische Schwärmerei; Plato meint, die Liebe zur Erkenntniß und Philosophie sei ein subii-
mirter Geschlechtstrieb) daneben bleibt seine alte direkte Wirkung stehen." (KSA 9, 11 [l24]).
Darüber hinaus wird der Begriff von Nietzsche in Zusammenhängen verwendet, die keinen
Bezug zur Sexualität haben, wenn es etwa um die Analyse des Verbrechers, der Genießenden
und der Grausamkeit geht (vgl. M 202; M 402; KSA 9, 8[99]). (ftreud zitiert nach: Sigmwd Freud.
Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u. a. Frankfurt/M., Bd. 7 41966, S. 150; Bd. 14 31963,
S. 457).
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 41

Die Gefahren dieser Vereinseitigung sieht Nietzsche in der Liebe wie in der
Kunst wirklich geworden.53 1,
In ihrer jeweiligen Vereinseitigung liegt die Gefahr^ als Momente einer um-
fassenderen Einheit jedoch können sich die Stärken dieser Hänge entfalten. Ein
Indhdduurn, welches diese Hänge so in sich vereinte, daß sie sich nicht gegensei-
tig hemmen, sondern befruchten, sich gegenseitig reizen, verfügte über Poten-
zen, die sich in bisher getrennten Typen zeigten: die schaffende Kraft des Künst-
lers, den durchschauenden Willen des Philosophen und die heilende und verklä-
rende Kraft des Liebenden.54 „Der Erkennende der Schaffende der Liebende
sind Eins." (KSA 10, 4[23]).
Diese neue Vorstellung von Erkenntnis erhält Kraft und Emphase durch die
Nutzung der Sprache der Liebesleidenschaft. Die mit ihr implantierten Pathos-
formeln verleihen den Aussagen ein Höchstmaß an Ausdrucksstärke. Sie dürfen
nicht inflationär verwendet werden, wenn sie ihre volle Wirkung erzielen sollen,
denn sie funktionieren nicht über die Quantität. Ihre Wirkung wird durch häu-
fige Verwendung und Wiederholung eher verringert als gesteigert, denn sie be-
wegen sich auf der Grenze zum Hohl-Pathetischen und Theatralischen. Hierin
liegt auch ein guter Grund für die nicht sehr breite Textbasis bei Nietzsche.
Doch gewählt gesetzt, können sie ihre volle Wirkung erzielen: Pathos formein
haben im Text — ganz parallel zur Kunst — die Funktion von Sprengmitteln.
Hier freilich nicht gegen die Starre der mittelalterlichen Ausdrucksformen, son-
dern gegen angepaßte und institutionalisierte Erkenntnissuche. Sie lassen den
Gegenstand nicht als einen beliebigen und abgehandelten, sondern als wirklich
begehrten und begehrenswerten erscheinen. Nietzsche selbst charakterisiert gu-
ten Stil, den er zugleich für sich in Anspruch nimmt, folgendermaßen: „Gut ist
jeder Stil, der einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zei-
chen, über das tempo der Zeichen, über die Gebärden - alle Gesetze der
Periode sind Kunst der Gebärde - nicht vergreift." (EH „Warum ich so gute
Bücher schreibe" 4).

III.

Im Begriff der Erkenntnis vereinigen sich damit zwei entgegengesetzte


Aspekte: Skepsis, Hinterfragen als Askese auf der einen Seite, Erschaffen, „Zeu-
53
,JDie Gefährlichkeit der Kunst besteht darin, uns an die eingebildeten Dinge zu gewöhnen, ja
ihnen eine höhere Schätzung zuzusprechen: die Halbwahrheiten, die blendenden Einfalle
vorzuziehen, kurz den Glanz und den Effekt der Dinge als Beweis ihrer Güte, ja ihrer Realität
gelten zu lassen'* (KSA 9, 5[19J). Das gleiche gilt für die Kraft der Debe: „Wir sind aus Üebe
arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Herder und Stehler, welche mehr wahr sein
lassen, als uns wahr scheint" (M 479), denn die Liebe hat „einen geheimen Impuls, in dem
Ändern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben: sich
dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vortheil — und so thut sie es." (M 309).
54
VgJ. auch KSA 10,16[11J.
42 Sabrina ßbbersmeycr

gcn«<55 von Bedeutung als Wollust auf der anderen. Zwar sind sie zwei entgegen-
gesetzte Pole eines stark entgrenzten Begriffs von Erkenntnis, doch stehen sie
gemeinsam in einem neuen Gegensatz, dieser freilich kann nicht begrifflich oder
definitorisch bestimmt werden. Die Frage ist nicht länger, ob eine Erkenntnis
wahr oder falsch ist, sondern aus welchen Motiven sie als wahr oder falsch
bezeichnet wkd. „Ehemals fragte man: ist der Gedanke währ? Jetzt: wie sind
wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft?" (KSA 9, 6[140J).
Es kommt darauf an, wer eine Erkenntnis macht, d. h. einen Sprachgebrauch
prägt, ob die Armut und die Schwäche oder die Fülle und die Stärke das Wort
haben56. Schwäche steht hinter einer Erkenntnis, wenn sie betäubt und Entfal-
tungsmöglichkeiten verhindert. Stärke, wenn durch sie Lebensmöglichkeiten ver-
größert werden. Erkennen ist damit eine Funktion des Lebens, die auf Lebenser-
weiterung ausgeht.
Aus welchen Motiven erkannt wird, läßt sich nur individuell und von Fall
zu Fall klären. Die Bedeutung ist auch in dieser Hinsicht vom Akt des Sprechens
nicht zu trennen. Wie auch die Tugenden der Geliebten gemein und nichtssa-
gend sind, solange sie nicht durch die Worte eines Liebhabers verherrlicht wer-
den, so ist auch eine bestimmte Erkenntnis an sich bedeutungslos. Ihren Wert
erhält sie erst durch den spezifischen zeitlich und örtlich bestimmten Kontext,
in dem sie sich artikuliert.57
Der nicht aufzuhebende Gegensatz im Erkennen spiegelt sich auf sprachli-
cher Ebene in der Nutzung unterschiedlicher Weisen des Redens über Erkennt-
nis. Mit den Sprechweisen übernimmt Nietzsche zugleich deren jeweilige Rheto-
rik: In der Wissenschaft herrscht eine Rhetorik der Nüchternheit, Objektivität
und Distanz. In ihr kann sich der „asketische", skeptische Hang des Erkennens
entfalten. Er bagatellisiert die Leidenschaft der Erkenntnis zu einem gemeinen,
unspektakulären und unwillkürlichen Trieb. Die Rhetorik der Wissenschaft ver-
hindert ein Abgleiten in romantische Schwärmerei und hohles Pathos. Sie zer-
stört die Illusion, sobald diese sich als Wahrheit mißversteht. Die Einsprengsel
einer Sprache der Liebesleidenschaft verweisen auf eine Rhetorik des individuel-
len Pathos. Diese Rhetorik der Verklärung und Erhöhung, der „Glanz der meta-
phorischen Anschauungen" (WL 2, KSA l, S. 889), läßt das Erkennen als höch-
sten Wert aufleuchten. Auf sprachlicher Ebene wkd damit ständig eine Span-
nung erzeugt, die mit der inhaltlichen korrespondiert — nicht durch eine rigide
Verwendung der Begriffe, sondern durch lebendige Begriffsverknüpfungeri, die
sich gelegentlich auch widersprechen.

55 Vgl. KSA 10, 5[1]203; 10, 5[1]213.


56
Zu diesem Gegensatz vgl. u. a. FW 370; AC 2; KSA 10, 7[77]. .
57
Vgl, Borsche (1990): „Was etwas ist, der »Sinn* eines Wortes, oder wie Nietzsche mit einem zu
seiner Zeit geläufigeren philosophischen Terminus sagt, sein ,Wert', entscheidet sich erst im
Moment des wirklichen Gebrauchs, in seiner Autorschaft" (S. 309).
Philosophie als „Leidenschaft der Erkenntnis" 43

Bei der Frage, wie es geschieht, daß Unmißverständliches plötzlich fraglich


werden und Zweifelhaftes sich zur Gewißheit verfestigen kann, gewinnt die
Rhetorik an Bedeutung. Wenn Worten nicht kraft einer übergeordneten Autori-
tät geglaubt wird, dann nur, weil und insofern sie überzeugen. Wer auf Gewalt
der Worte verzichtet und nicht mit Wahrheiten - seien es unangreifbare religiöse
oder künsderische Intuitionen, seien es unbezweifelbare Sätze der Wissenschaft
— überwältigen will, der muß überreden, d. h. in einer Sprache sprechen, die
verstanden wird. Die Entgegensetzung von wahrer Bedeutung und zusätzlicher
rhetorischer Ausschmückung läßt sich nicht aufrechterhalten, wenn auf die An-
nahme absoluter Wahrheiten verzichtet wird, vielmehr zeigt sich in der jeweiligen
Darstellung die Bedeutung selbst. In diesem Horizont ist Rhetorik nicht der
Vernunft entgegengesetzt (als der Wille zum Schein), sondern in ihr wäre, wie
Hans Blumenberg feststellt, „eine Gestalt von Vernünftigkeit selbst zu sehen,
das vernünftige Arrangement mit der Vorläufigkeit der Vernunft"58. Sie ist des-
halb eine Gestalt der Vernünftigkeit, weil sie der erkenntnistheoretischen Situa-
tion Rechnung trägt und zu reden versucht, nach schlagenden Argumenten und
treffenden Worten sucht.
Rhetorische Form ist vom Inhalt nicht ablösbar, denn die Worte erhalten
ihre Bedeutung durch ihren Gebrauch, ihre Geschichte, auf die man Bezug
nimmt, sobald man sie benutzt — und was könnte man anderes machen, als in
schon geprägten Worten zu reden, wenn man überhaupt verstanden werden will.
Das „ursprüngliche Material unseres Geistes" sind eben „fremde Urtheile über
die Dinge" (KSA 9, 6[70]). Um Denkverbindungen, notwendige Begriffsver-
knüpfungen zu beeinflussen, muß man sich auf das Vorverständnis der Begriffe
und ihrer Verwendungsweisen einlassen und zugleich über dieses hinausgehen.
Im rhetorischen Gebrauch der Worte zeigt sich, wieviel aneignende Kraft man
hat, die Worte im intendierten Sinne sprechen zu lassen.
Unter dieser Perspektive erscheint die Verwendung von ,Physiologismenc
weder dilettantisch59 noch positivistisch, die Bezugnahme auf dichterische
Sprachelemente weder orakelhaft-intuitiv noch schwatzhaft. Sondern mittelster
jeweiligen Rhetorik gelingt es Nietzsche zu irritieren und zu überzeugen. Natur-

58
Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Rhetorik. In: Wirklichkeiten, in denen
»trieben. Stuttgart, 1981. (S. 130).
59
So gesehen ist es wenig sinnvoll, Quellenforschung — an sich notwendig und in bezug auf
Nietzsches Schriften noch längst nicht abgeschlossen - in dem Sinne zu betreiben, daß man
die sogenannten Quellen, deren Interpret Nietzsche ist, als das Unverfälschte und Originäre
einstuft und Nietzsches weiterführende Gedanken als das den Quellen gegenüber Abweichende
und Ungenaue abqualifiziert, wie es bisweilen geschieht Insofern man so verfahrt, ist man
vielleicht den Quellen gegenüber redlich, erfährt aber gerade nichts über das Neue an Nietzsches
Gedanken, das sich erst in der Abweichung von der ,Quelle* artikulieren kann. Vgl. hierzu auch
Blumenberg (1971): „Was tut der, der aus einer Queue schöpft? Er schöpft, aber was daraus
wird, ist nachher in der Sprache des Historikers ein »Einfluß*.** (S. 191).
44 Sabrina Ebbcrsmcyer

wissenschaftliches und poeüsches Vokabular bringen zwar Verschiedenes auf


unterschiedliche Weise zur Sprache, aber sie unterscheiden sich nicht hinsichtlich
eines Grades von Wahrheit Man ist es gewohnt, Vokabeln der Liebesleiden-
schaft metaphorisch zu deuten. Bei naturwissenschaftlichen Vokabeln ist dieses
metaphorische Verständnis nicht üblich, wäre es dies, so würde auch ein Teil
seiner Wirkungskraft verloren gehen.
Philosophie als Leidenschaft der Erkenntnis bleibt in sich widersprüchlich.
Aufklären und Verklären sind unauflösliche Momente in jedem Erkennen. In-
dem der Philosoph überlieferte, verfestigte Meinungen kritisiert und Werte de-
struiert, schafft er neue Werte und überredet zu anderen Meinungen die sich —
insofern sie überzeugen — zwangsläufig zu Wahrheiten verfestigen. Doch läßt
sich dieser Widerspruch als Reiz> der permanent neu erzeugte Spannungszustand
zwischen Skepsis und Wissen als Anreiz zum Dasein auslegen. Der philosophier
sehe Eros bliebe damit ein Daimon zwischen Himmel und Erde, den es nach
Unsterblichkeit gelüstet. Aber er wäre es lotaft eines unstillbaren, obgleich sich
als endlich bewußtgewordeiien Begehrens, welches, indem es das Leben unter
die Führung des Denkens stellt, den Denkenden zum Leben verfuhrt.

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