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ALDO VENTURELLI

ASPEKTE UND PROBLEME


DER FRÜHEN NIETZSCHE-REZEPTION IN FRANKREICH:
CHARLES ANDLER UND LUCIEN HERR

Die große Monographie, die Charles Andler Nietesche widmete, erschien


zwischen 1920 und 1931 in sechs Bänden; sie sollte jahrzehntelang eines der
vollständigsten und bedeutendsten Werke der Nietzsche-Philologie bleiben und
stellt noch heute für die Nietzsche-Forschung eine unentbehrliche Grundlage
dar1. Die vor kurzem veröffentlichte Correspondance entre Charles Andler et Luden
Herr (1891—1926), herausgegeben von Antoinette Blum2, erlaubt es heute, die
lange Entstehungsgeschichte dieses Werks besser zu verstehen, seine Verwurze-
lung innerhalb der lebhaften französischen Nietzsche-Rezeption, das dichte
Netz der historischen, philosophischen und politischen Interessen, die sich in.
ihm niederschlugen. Zwar hatte auch schon die Biographie Andlers, die sein
Nachfolger an der Sorbonne und am College de France, Ernest Tonnelat im
Jahre 1937 schrieb3, eine sorgfältige und detaillierte Rekonstruktion des komple-
xen intellektuellen Werdegangs, auch unter Verwendung von Andlers unveröf-
fentlichtem Briefwechsel, geliefert, der den französischen Gelehrten dazu veran-
laßte, Nietzsche in den Mittelpunkt seiner Forschung zu stellen. Aber abgesehen
davon, daß er die Rekonstruktion Tonnelats erweitert und vervollständigt, liefert
dieser Briefwechsel nut Lucien Herr aber auch ein direktes, besonders bedeutsames
Zeugnis für das kulturelle und akademische Leben, innerhalb dessen sich die
ausdauernde und geduldige Forschung Andlers vollzog.

1
Andlers Nietzsche-Buch erschien in sechs Bänden in den Jahren 1920-1931. Um den Charakter
des Buchs besser zu verstehen, kann es nützlich sein, an die Titel der einzelnen Bände zu
erinnern.
- Les precurseurs de Nietzsche, Paris 1920, Bossard;
- Lajeunesse de Nietzsche (jusqu'a la rupture am Baynulh), Paris 1921, Bossard;
- Lf pessh/isme esthetique de Nktqscbe, sä pbilosophe a fepoque wagierienne^ Paris 1921, Bossard;
- Ntet^scbe et le transformisme intellectualiste; lä philosopbie de sä periodefraiifaise, Paris 1922, Bossard;
— La maturite de Nietzsche (jusqu'a sä mort), Paris 1928, Bossard;
- La derniere Philosophie de Nietzsche (le renouvellentent de toutes /es valeurs), Paris 1931, Bossard.
2
Vgl. Correspondance entre Charles Andler et Urnen Herr (1891-1926), hg. von Antoinette Blum und
mit einem Vorwort von Christophe Charle, Paris 1992, Presses de UEcole Normale Superieure.
3
VgJ. E. Tonnelat, Charles Andler. Sa v'te et son auvre, Strasbourg 1937, Publications de la Faculto
de Lettres de JOnivcrsite de Strasbourg, Bd. 77.
262 Aldo Vcnturclli

Die Freundschaft, die ihn mit Herr verband, stellte für den französischen
Gelehrten eine wichtige Unterstützung dar, eine Quelle der Ermunterung, der
Anregungen und Ratschläge, so daß er — wahrscheinlich im jähre 1910 - daran
dachte, Herr vorzuschlagen, Mitautor eines der Bände seiner Monographie zu
sein4. Übrigens war Herr eine herausragende Persönlichkeit der kulturellen und
polirischen Szene Frankreichs: Durch sein Amt als Bibliothekar an der Ecole
Normale, das er von 1888 bis zu seinem Tod im Jahre 1926 bekleidete und für
das er sich bewußt unter Verzicht auf jegliche Aussicht auf eine akademische
Karriere entschieden hatte, übte er einen beständigen Einfluß auf Generationen
von Schülern des angesehenen Pariser Instituts, jener exklusiven Bildungsanstalt
der intellektuellen und politischen Elite Frankreichs, aus. Seinen Höhepunkt er-
reichte dieser Einfluß vor allem in den Jahren-zwischen 1897 und 1899, als Herr
einer der wichtigsten Wortführer jener Bewegung war, die die Revision und die
Aufhebung des Urteils gegen Alfred Dreyfus anstrebte. In diesen Jahren entfal-
tete Herr außerdem eine intensive publizistische Tätigkeit und regte einige wich-
tige verlegerische Initiativen an, besonders die „Societe nouvelle de librairie et
d'edition", die in der Absicht entstand, den von Charles Peguy gegründeten
Verlag zu retten, sowie später die Gründung der „Humanite". Diese vielfältige
Tätigkeit ist symptomatisch für die herausragende Rolle, die Herr im frarizösi-
.schen Sozialismus spielte, auch als Freund und Berater von Jaures, auf den dieser
zu hören pflegte5.
Die Beziehungen, die Andler und Herr miteinander verbänden, waren viel-
fältiger Natur. Beide stammten aus dem Elsaß, beide waren in die Ecole Nor-
male aufgenommen worden, beide verfolgten aufmerksam die Kultur und die
politische Wirklichkeit in Deutschland, und schließlich waren beide seit 1889
Anhänger des Sozialismus. Der Bnejwechsel Andler-Herr stellt folglich vor allem
eine wichtige Basisdokumentation dar, um die Entstehung der Persönlichkeit des
engagierten Intellektuellen nachzuvollziehen, der bestrebt war, die Beziehungen
zwischen Politik und Kultur neu zu definieren, neue Formen der Kommunika-
tion und der Verbreitung der eigenen Forschungsergebnisse zu finden und die
Institutionen, innerhalb derer er arbeitete, zu erneuern. Dies fand seinen beson-
deren historischen Ausgangspunkt genau im Frankreich der „affaire Dreyfus"6.
Im Rahmen der Nietzsche-Forschung kann der Bnefivechsel zunächst die
Möglichkeit bieten, sich die Frage zu stellen, was Intellektuelle wie Andler und
Herr dazu veranlaßt haben mag, sich für Nietzsche zu interessieren. Eine ange-

4
Vgl. Correspondance en/re Charles Andler et Luden Herr (1891-1926), a. a. Q., S. 26-27.
5
Zu Herrs Persönlichkeit vgl. die von Charles Andler geschriebene Biographie: La vie de Lttcien
Herr (1864-1926), Paris 1932, Rieder (neue von uns benutzte Ausgabe: Paris 1977, Maspero).
6
Vgl. dazu das Vorwort von Christophe Charle und die Einleitung von Antoinette Blüm zur
Correspondance entre Charles Andler et Luden Herr, a. a. O., S. 3-34 und C. Charle, Naissance deF
„intellectuek" (1880-1900), Paris 1990, Ed. de Minuit.
Zur frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich 263

messene Antwort auf diese Frage setzt eine genauere zeitliche Bestimmung des
Zeitpunkts voraus, zu dem Andler und Herr mit Nietzsches Denken in Berüh-
rung kamen. Besonders wäre es interessant, festlegen zu können, ob sich dieser
Zeitpunkt in irgendeiner Weise mit der Entfaltung der politisch-intellektuellen
Dreyfus-Bewegung überschnitten oder überlagert hat. Leider beginnt dieser
Briefwechsel, der nur die Briefe enthält, die die beiden Freunde auf Reisen und
während der Ferien austauschten, und der folglich nichts über ihren fast tägli-
chen Gedankenaustausch in Paris aussagt, eigentlich erst ab 1900, mit Ausnahme
einiger Briefe, die zwischen 1891 und 1893 gewechselt wurden, also nach dem
Abschluß der „affaire Dreyfus". Die erste ausdrückliche Erwähnung Nietzsches
finden wir in einem Brief vom August 1903, in dem Andler Herr darum bittet,
ihm die Bände der Biographie von Elisabeth Förster-Nietzsche und die Bände
IX und X der Nietzsche-Ausgabe zurückzugeben, die den Nach/aß aus den Jah-
ren 1869-1876 beträfen7. Die ersten Kurse an der Sorbonne, die Andler Nietz-
sche widmete, gehen auf die Jahre 1902—1903 zurück. Aus einem Brief an Ma-
dame Talayrach d'Eckhardt vom Juli desselben Jahres, in dem er um sehr genaue
Informationen über mögliche Lektüren Nietzsches in Basel nachsucht, geht her-
vor, über welch gründliche Kenntnis des Philosophen er bereits damals ver-
fügte8. Was Herr angeht, so zeugt der Briefwechsel davon, wie er sich in seinen
Ferien im Jahre 1907 einer ausgedehnten Nietzsche-Lektüre widmete. In einem
Brief vom August jenes Jahres, der später analysiert werden wird, teilt er dem
Freund seine Eindrücke über die frühen Schriften und über Menschliches, All^u-
menschliches mit9.
Diese Angaben schließen jedoch nicht aus, daß die beiden Freunde bereits
früher die Gelegenheit hatten, Nietzsches Ideen kennenzulernen. In seiner Bio-
graphie von Herr erinnerte sich Andler daran, wie beispielsweise Gabriel Mo-
nod, jener damals berühmte Vertreter der neuen französischen Geschichts-
schreibung an der Ecole Normale, mit ihm zum ersten Mal im Jahre 1889 über
Nietzsche sprach, während er ihn früher, im Jahre 1886, gegenüber Luden Herr
noch nicht erwähnt hatte, als dieser zu einem langen Studienaufenthalt nach
Leipzig aufbrach10. Einige Jahre später gehörte der ebenfalls aus dem Elsaß
stammende Monod zu den ersten und wichtigsten Unterzeichnern der Petition,
die Herr zugunsten von Alfred Dreyfus angeregt hatte. Es könnte interessant
sein, genauer die Rolle zu ermitteln, die Monod in der ersten Nietzsche-Rezep-
tion in Frankreich gespielt hat. Beispielsweise auch aus den Jugendtagebüchern
von Romain Rolland, dem damaligen Schüler von Monod, der anläßlich seines
Aufenthalts in Rom von 1890-91 durch jenen die Bekanntschaft von Malwida

7
\& dazu Comspondance tntre Charles Andler et Luden Herr (1891-1926). a. a. O., S. 53-54.
8
Dieser Brief wird von Tonnelat, a.a.O., S. 152 zitiert
9
Vgl. dazu Comspondance tntre Charles Andler et Luden Herr (1891-1926), a. a. O., S. 79.
10
VgL dazu C Andler, U vie de Luden Herr (1864-1926), a.a.O., S. 57.
264 Aldo VcrtturcIIi

von Meysenbug machte, läßt sich der Eindruck gewinnen, als spräche der be-
rühmte Historiker wenigstens bis 1889 nur widerwillig über Nietzsche. In den
univcrsitären und kulturellen Kreisen von Paris dürfte es aber später bekannt
gewesen sein, daß es über Monod möglich war, Malwida von Meysenbug ken-
nenzulernen und ihre weit zurückreichenden Erinnerungen an ihre Bekannt-
schaft mit Nietzsche zu sammeln. So erfahren wir z. B. auch durch Rolland von
der Absicht Daniel Halevys, des ersten französischen Übersetzers von Der Fall
Wagner und Autors der ersten aus dem Jahre 1909 stammenden französischen
Biographie Nietzsches, sich 1897 nach Rom zu begeben, um die betagte Autorin
der Memoiren einer Idealistin aufzusuchen11.
Eine erste, wenn auch oberflächliche Berührung Andlers und Herrs mit den
Ideen Nietzsches reicht also wahrscheinlich $chon in das Jahrzehnt zwischen
1890 und 1900 zurück. Herr hatte seinerseits die Möglichkeit gehabt, mit Teodor
de Wyzewa zu verkehren, dessen Artikel aus dem Jahre 1891 in der „Revue
Bleue" dem französischen Publikum eine der ersten Gelegenheiten bot, mit
Nietzsche bekannt zu werden. 1895 widmete übrigens Aridler dem Buch von
Rudolf Steiner, Fnedrich Nietzsche, ein Kämpfergegen seine Zeity eine kurze Besprechung,
die in der Revue critique d'histoire et de litterature erschien12. Trotz ihrer Kürze
verrät die Besprechung des Buches von Steiner ein sicheres Urteil, das auf einer
unmittelbaren Kenntnis von Nietzsches Werk beruht. Andler hält Steiners Ver-
such einer populärwissenschaftlichen Darstellung für nicht geglückt, beurteilt
seine Charakterisierung der Persönlichkeit des Philosophen als unzureichend,
hält das Kapitel über den Übermenschen für das gelungenste des Buches und
wünscht sich eine viel umfassendere und gründlichere Betrachtung von Nietz-
sches geistiger Herkunft. Sicher ist es schwierig, aus diesen kurzen Bemerkungen
allgemeinere Hinweise auf die erste Begegnung Andlers mit Nietzsches Gedan-
ken abzuleiten. Tonnelat zufolge ergibt sich aus dem unveröffentlichten Brief-
wechsel Andlers aus jener Zeit kein Hinweis auf Nietzsche: Andlers vorrangige
Interessen galten damals dem Abschluß seiner 1897 veröffentlichten Disserta-
tion über Les Origines du sodalisme d'Etat en Allernagne und der Rekonstruktion
von Bismarcks Werk, die in den Jahren 1898-99 ihren Abschluß fand. Es ist
jedoch wahrscheinlich, daß sowohl Andler als auch Herr bereits irf den Jahren
zwischen 1890 und 1900 Spuren einer Art von „präformiertem Nietzscheanis-
mus" wahrnahmen, die damals in Frankreich in der Luft lagen. Aus der Über-

11
Vgl. dazu z. B. Hollands kurzen Bericht über einen Besuch bei Monod im Februar 1888, in dem
Rolland über Monods Erinnerungen an Bayreuth und Wagner spricht, jedenfalls ohne irgendei-
nen Hinweis auf Nietzsche (in: Le dottre de la Rue dl Ulm. Journal de Romain Rolland ä /'Bco/e Normale
(1886-1889), Paris 1952, Michel, S. 185); über Halevys Absicht, Malwida von Meysenbug in
Rom zu besuchen, spricht Rolland in seinem Brief an die Verfasserin der Memoiren einer Idealistin
vom 3. November 1897 (in: R. Rolland, Choix de Lettres ä Malwida von Meysenbug, hg. von M. R.
Rolland, Paris 1948, Michel, S. 211). *
12
Die Besprechung erschien im Heft 51 der Revue Critique^ S. 490.
Zur frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich 265

windung des Positivismus und des Naturalismus entstand die Forderung nach
einer neuen Entwicklung des Menschen, der Kult teines überlegenen Individu-
ums, das jegliche traditionelle Konvention ablehnte und dafür kämpfte, eine
grundlegende moralische Erneuerung der gesamten Gesellschaft durchzusetzen.
Auch wenn es nicht möglich ist, eine direkte Parallelität zwischen diesen beiden
Erscheinungen herzustellen, so verstärkten sich diese Grundzüge zum einen
durch die Verbreitung von Nietzsches Gedanken, zum anderen schienen sich
durch die Beteiligung an der Dreyfiis-Bewegung die Sphäre der geistigen Ausein-
andersetzung zu verlassen und eine soziale Dimension zu erlangen. Diese allge-
meine Stimmung verband für gewiß sehr kurze Zeit Intellektuelle und Schrift-
steller, die später ganz unterschiedliche Positionen einnahmen. Davon blieben
wahrscheinlich weder Andler noch Herr unberührt. In diesem Klima erschien
es nicht selten möglich, einen Zusammenhang zwischen Nietzscheanismus und
Sozialismus herzustellen und den Übermenschen als eine kollektive Schöpfung,
eine Form des vollkommenen Wiederaufbaus der Gesellschaft durch ihre mora-
lische Erneuerung zu interpretieren13. Es ist offensichtlich, daß dieses kulturelle
Klima heute nur rekonstruiert werden kann, wenn die einzelnen Erfahrungen
in einer sorgfaltigen Ausgrabungsarbeit geborgen werden. In diesem Sinn kann
der Brießwchsel zwischen Andler und Herr als ein erster bedeutsamer Beitrag
zu diesem allgemeineren Rekonstruktionsvorhaben interpretiert werden. Dies
erscheint umso wünschenswerter, als es eine Generation von Intellektuellen be-
trifft, die einen wichtigen Teil jenes französischen Publikums ausmachte, um das
Nietzsche sich als den bevorzugten Adressatenkreis für seine Werke bemühte.
Im Falle Andler ermöglicht es der Brießvechsel, die Zusammenhänge zwischen
der Entstehung der Nietzsche-Monographie und seinen früheren Werken besser
zu verstehen. Schon in einem Brief vom September 1905 betrachtete Herr die
verschiedenen von Andler behandelten Themen, von denen gerade der geplante
Band über Nietzsche eine besonders bedeutsame Stellung einnahm, als Mo-
mente einer viel umfangreicheren „histoire generale de la litterature et de Tesprit
public en Allemagne au 19e siecle"14. Viele Jahre später wies Herr in einem
Gutachten, das er Ende 1925 an Joseph Bedier schickte, um die Kandidatur An-

13
Eine Parallelität zwischen erster Nietzsche-Rezeption und Teilnahme an der Dreyfus-Bewegung
durch die Freundschaft mit Charles Peguy kann man z. B. bei Daniel Halevy feststellen (vgl.
dazu A. Silvera, Daniel Halhy and bis Times, Ithaca, New York 1966, Cornell University Press,
S. 70-77); von der Freundschaft mit Halevy ist teilweise auch Prousts erste Nietzsche-Rezeption
abhängig. Auch wenn er sich von der Dreyfus-Bewegung fernhielt, zeigt Rollands erste Nietz-
sche-Rezeption beispielhaft einige Aspekte dieser allgemeinen Auffassung (vgl. dazu den Beitrag
von Rene Cheval zu Rolland-Nietzsche in: Association des Amis de Romain Rolland-Bulletin n" 42,
Dezember 1957, S. 4-20). Zum Verhältnis zwischen Nietzsche-Rezeption und Sozialismus in
der ersten französischen Nietzsche-Rezeption und bei Andler, vgl. G. Bianquis, Nietzsche en
France. L'inßuena de Nieljscbe sur la pensee fran^aise, Paris 1929, Alcan, S. 89-95, und E. Tonnelat,
a.a.O., S. 303-306.
14
V$. dazu Correspondance en/re Charles Andter et Luden Herr (1891-1926), a.a.O., S. 65.
266 AJdo VenturcUi

dlers für das College de France zu unterstützen, erneut eindrücklieh hin auf die
„volonte d'unc connaissance profonde de rAUemagne moderne dans sä totalite
vivantc" als das gemeinsame Merkmal der Werke des Freundes. Wenn das Stu-
dium der Ursprünge des Staatssozialismus vor allem das Deutschland in der
Zeit vor Bismarck betraf, wenn dieses Interesse mit einem Aufsatz über den
deutschen Kanzler seine Fortsetzung fand, so mußte das Nietzsche-Studium in
vieler Hinsicht der Höhepunkt dieses großen historischen Gemäldes der deut-
schen Wirklichkeit im 19. Jahrhundert sein. In Nietzsches Werken zeigte sich
tatsächlich „la crise intellectuelle et sentimentale qui prepare et exige Feffondre-
ment de PAllemagne bismarckienne", „la mort de dogmes caducs", „l'eclosion
et la prompte croissance d'une äme nouvelle de,sensibilite et de pensee". Nietz-
sches Werk wurde so interpretiert als „ecroulement interieur qui devance et
annonce Tecroulement d'une construction artificielle, volontake et dogmatique,
qui prepare et annonce l'avenement d'une Allemagne nouvelle, de valeurs nou-
velles, - premier pas vers Peuropeanisation de rAUemagne"15.
Mit diesen allgemeinen Grundzügen von Nietzsches Werk konnte man sich
nur mit Hilfe einer hermeneutischen Methodologie auseinandersetzen, die sich
nicht auf eine einfache literarische und philosophische Betrachtung ihres Stu-
dienobjekts beschränkte, sondern es auf dem Hintergrund einer aufmerksamen
historischen und soziologischen Gesamtbetrachtung entwarf. Wie Antoinette
Blum in ihrer Einleitung zurecht hervorhebt, zeigt der Briefwechsel sehr deutlich
die engen Beziehungen, die Herr und Andler sowohl mit der Soziologie und im
allgemeinen mit den Sozialwissenschaften - u. a. mit Emile Durkheim, Marcel
Mauss und Luden Levy-Bruhl — als auch mit den an der Ecole Normale tätigen
Historikern verbanden16. Noch allgemeiner herrschte bei ihnen ein starkes Be-
wußtsein für die Beziehungen zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen
Disziplinen vor, also eine Vorstellung von Interdisziplinarität als notwendige
Voraussetzung dafür, daß sich das emanzipatorische Potential der wissenschaftli-
chen Arbeit voll entfalten konnte. In seinem Vortrag zur Hundertjahrfeier der
Universität Breslau betonte Andler beispielsweise „la croyance en une regenera-
tion des hommes et des societes par la science; la croyance en une^valeur de la
science enseignee pour elle-meme, toute pure, en dehors de toute preoccupation
religieuse' ou politique, de tout esprit de caste, de toute consideration profession-
nelle ou utilitaire"17. Jede Analyse der literarischen oder philosophischen Er-
scheinungen sollte im Rahmen einer allumfassenden Disziplin erfolgen, die er

15
Ebd., S. 272; vgl. auch die kurze Charakterisierung seines Nietzsche-Buchs in Andlers Brief an
Bedier vom Dezember 1925, zitiert von Tonnelat, a.a.O., S. 313-315.
16
Vgl. die Einleitung von Antoinette Blum zur Correspondance erltre Charles Andler et Luden Herr
(1891-1926), a. a. O., S. 17-18.
17
Vgl. dazu Correspondance entre Charles Andler et loteten Herr (1891-1926), a.a.O.,-S. 259-60.
Zur frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich 267

vor allem als Entwurf eines „fait de civilisation" betrachtete, der in seinen ver-
schiedensten Verzweigungen untersucht wurde.
Gerade im Rahmen dieser allumfassenden Disziplin dachte Andler wahr-
scheinlich daran, eine engere Zusammenarbeit mit Herr bei der Abfassung sei-
ner Monographie zu verwirklichen. In einem vermutlich aus dem Jahre 1910
stammenden Brief lehnt Herr gerührt das Angebot des Freundes ab, als Mit-
autor des Werks zu erscheinen, wobei er dennoch an die gemeinsamen methodo-
logischen Forderungen erinnerte und sich bereit erklärte, in jeder Hinsicht dem
Freund bei der Fertigstellung des Werkes zu helfen. So versicherte er ihm:
Ce que j'ai voulu te dire tout de suite, c'est que je mets, de tout mon cceur, au
service de ton oeuvre, qui doit etre ton oeuvre, et que j'y donnerai, joyeusement,
tout ce que je pourrai, tout ce que tu me demanderas, tout ce que tu me
laisseras te donner, mais que je ne suis pas de taille a donner assez ä cette
oeuvre pour qu'elle soit notre ceuvre commune, pour qu'elle soit autre chose
que ton oeuvre, ä laquelle mon amitie contribuera de toute sä bonne volonte
et de tout son devouement.18
Mit ähnlichen Worten lobte er im Jahre 1921 die beiden damals erschienenen
Bände der Monographie des Freundes als „un beau livre, un grand livre, qui
vivra" und erklärte, daß er als Freund darauf stolz sei, als wäre er selbst der
Autor gewesen19. Der Brießvecbsel liefert jedoch keine genauen Angaben über die
konkrete Art und Weise, wie sich die enge Zusammenarbeit an der langen Arbeit
des Freundes realisieren sollte. Das einzige Urteil Herrs über Nietzsche fand
sich, wie bereits angedeutet, in einem Brief vom August 1907, in dem er sich
besonders in der Beschreibung seiner Eindrücke erging, die in ihm die Lektüre
von Menschliches, All^umenscbKches hervorrief, nachdem er in Nietzsches Jugend-
schriften „trop de verbiage, d'ignorance, de rhetorique outree et facile, trop peu
de sincerite intellectuelle" gefunden hatte. Auch wenn in Menschliches, Altymenscb·
liebes ein Übermaß an Rhetorik und Geziertheit geblieben, und es so „une sorte
de construction theorique d'une Aufklärung modernisee, mediocrement infor-
mee (scientifiquement et historiquement)" geworden sei, erschien es ihm doch
als das bedeutende Werk eines „rüde ecrivain", „stupefiant d'art, de vigueur et
de dexterite artiste, de forme et de langue, de surabondance de choses ingenieu-
ses et jolies"20. Wenn die Aufmerksamkeit für das erste aphoristische Werk
Nietzsches symptomatisch für den intellektuellen Werdegang Herrs erscheinen
mag, so zeugen diese Lektüreeindrücke jedoch nicht von einer so gründlichen
Kenntnis Nietzsches, daß er einen entscheidenden Beitrag zur Abfassung der
Monographie des Freundes leisten konnte. Über eine beständige Ermunterung
oder Ratschläge hinaus, die der Lektüre des Manuskripts entsprangen, konnten
l
* Ebd., S. 100-101.
« Ebd.. S. 185.
2" Ebd., S. 79.
268 Aldo Venturelü

sich wahrscheinlich die Zusammenarbeit mit Herr und sein umfassendes Wissen
für Andler als wertvoll erweisen sowohl für einzelne bibliographische Angaben
als auch für die Diskussion jener allgemeinen und interdisziplinären Aspekte,
die seiner Nietzsche-Interpretation zugrujidelagen.
Im Herbst des Jahres 1910 war Andler davon überzeugt, dem Verleger das
endgültige Manuskript seiner Monographie zuschicken zu können. Sie war da-
mals noch als Einzelband geplant im Gegensatz zu den sechs Bänden, die später
zwischen 1920 und 1931 erscheinen sollten. Die entscheidende Phase der Arbeit
an dieser Monographie läßt sich zwischen dem ersten Kurs an der Sorbonne im
Jahre 1902-1903 und 1910 ansetzen. Im September jenes Jahres drückte Andler
sich vorübergehend befriedigt über die Arbeit aus, die er vor dem unmittelbaren
Abschluß wähnte:
Le resultat, pour le present, me parait satisfaisant. ,[...] Pour Tinstant je suis
dans Petat d'esprit oü Poncroit etre le seul a avoir compris le bonhomme dont
on s'occupe; et Favoir compris pour k premiere fois. [...] Tout ce qui est
science positive dans Nietzsche ne vaut pas un clou. Tout son prophetisme
est, bien entendu, ä mettre au rancart sans plus, et il n'y a plus du tout ä
menager la sequelle de Weimar par des concessions de forme que nous ferions
a son culte. Nietzsche est assez pres de nous par ses infirmites memes, pour
que nous puissions apprendre de lui. Je crois vraiment que sä pensee est tres
coherente, et ä peine troublee, dans ce qu'elle a d'intelligent, par des residus de
niaiserie allemande tenace ou par des soubresauts de sensibilite pathologique.21
Die Betonung der inneren Kohärenz von Nietzsches Denken, die Ableh-
nung jeglichen Prophetismus, die Distanz zu jeglicher Art des Nietzsche-Kults,
dies waren einige der neuen Gesichtspunkte, die Andler mit seiner Monographie
hervorzuheben gedachte. Um sie in einer ersten Fassung fertigzustellen, hätte
es noch einiger Jahre bedurft. Erst 1914 wurde das Manuskript beim Verleger
eingereicht, aber der Druck müßte wegen des Krieges unterbrochen werden.
Aus der Korrektur und Neubearbeitung des Manuskripts sollten dann, wie be-
reits erwähnt, die sechs endgültigen Bände und vor allem die ersten vier hervor-
gehen, die zwischen 1920 und 1922 veröffentlicht wurden. Der Briefwechsel mit
Herr zeugt jedoch vor allem von der ersten entscheidenden Phase der Beschäfti-
gung mit Nietzsche, die sich genau zwischen 1903 und 1910 ansiedeln läßt.
Abgesehen davon, daß er es ermöglicht, die allgemeine Bedeutung der Monogra-
phie Andlers und ihre Stellung innerhalb der französischen Kultur jener Zeit
genauer zu charakterisieren, liefert er interessante Anregungen für die Analyse
der Beziehungen, die der französische Gelehrte zum einen zu Elisabeth Förster-
Nietzsche und zum anderen zu Ida Overbeck und Carl Albrecht Bernoulli unter-
hielt.

21
Ebd., S. 110.
Zur frühen Nietzsche-Rezeption in Frankreich 269

Andler begab sich 1904 nach Weimar in der Hoffnung, den Nachlaß einse-
hen und einen Katalog von Nietzsches Bibliothek qrjialten zu können. In einem
Brief an den Schwager faßt er in sehr prägnanter Weise seine Eindrücke vom
Besuch des Nietzsche-Archivs zusammen: „Mais ce n'est pas un Archiv, c'est le
salon de Mme Förster, tout simplement"22. Ähnliche Eindrücke kommen in
einem Brief an Herr vom September jenes Jahres zum Ausdruck, in dem er
über die magere Ausbeute aus Weimar berichtet. Nietzsches Schwester hatte ihn
sicher freundlich aufgenommen, hatte ihm die Druckfahnen zum letzten Band
ihrer Biographie des Bruders geschenkt und ihm sogar den Vorschlag gemacht,
die Ausgabe „d'importantes choses mythologiques et critiques" zu betreuen.
Aber Andler, der sich nicht imstande fühlte, einen solchen Vorschlag anzuneh-
men, war es nicht gelungen, Einsicht in die unveröffentlichten Manuskripte zu
nehmen, und er hatte nur das Versprechen erhalten, in Zukunft die Druckfahnen
dessen zu bekommen, was in der Nietzsche-Ausgabe veröffentlicht würde, sowie
eine Kopie des Katalogs der Nietzsche-Bibliothek. Es ist jedoch bedeutsam, daß
Andler seit seinem Besuch in Weimar schon die Notwendigkeit einer neuen
Ausgabe von Der Wille ^ur Macht begriffen hatte23.
Ganz anders sind hingegen die Eindrücke, von denen er nach einem Besuch
in Basel im September 1907 berichtete. Im Rahmen der Nietzsche-Forschung
ist sicher der lange Brief an Lucien Herr vom 2. Oktober jenes Jahres der inter-
essanteste des gesamten Briefwechsels. Durch seine Mitarbeiterin Talayrach
d'Eckardt, die durch ihren Vater über gute Kontakte nach Basel verfugte, hatte
Andler schon seit einigen Jahren zum einen um Nachweise und Angaben über
Nietzsches Lektüren in Basel gebeten und war zum anderen mit Bernoulli und
Ida Overbeck in Kontakt getreten. Wie auch andere Briefe an Herr zeigen,
unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zu Bernoulli und traf ihn erneut
1908 und 1909 während seiner Ferien. In der Auseinandersetzung zwischen
dem schweizerischen Gelehrten und Elisabeth Förster-Nietzsche ergriff er offen
Partei für Bernoulli mit einem Artikel über Nietzsche und Overbeck, der 1909
in der Münchner Zeitschrift „Die Propyläen" erschien. Bernoulli und Ida Over-
beck erwogen sogar, ihn zu ihrem Sachverständigen im Prozeß gegen Elisa'beth
Förster-Nietzsche zu bestellen, den sie wegen der Veröffentlichung des Brief-
wechsels Overbeck-Nietzsche führten.
Andler war sich der Bedeutung dieses Briefwechsels voll bewußt: Während
seines Aufenthalts in Basel hatte er die Möglichkeit gehabt, alle Briefe Nietz-
sches an Overbeck einzusehen und war immer mehr davon überzeugt, daß die
Freundschaft mit dem Basler Theologen „Pamirie la plus eclairee et la plus fidele
que Nietzsche ait trouvee sur son chemin" war. In Basel konnte er wahrschein-

22
Vgl. dazu RTonndat, a.a.O., S. 153.
23
Vgl dazu Correspondance entre Charles Andkr ei Jjucitn Herr (1891-1926), a. a. O., S. 59.
270 Aldo VenturcW

lieh außerdem die Koegel-Exzerpte24 in der Abschrift einsehen, die Bernoulli


davon angefertigt hatte. In seinem Brief an Herr spricht Andler in der Tat von
Dokumenten, die von Mitarbeitern des Nietzsche-Archivs kopiert worden waren
und in denen sich Anschuldigungen und kritische Äußerungen des Philosophen
gegenüber der Mutter und der Schwester "fanden. Der Aufenthalt in der Schwei-
zer Stadt ermöglichte also Andler, sich der „idealisation forcee", der gravieren-
den Auslassungen und Verfälschungen der von Elisabeth Förster-Nietzsche ge-
schriebenen Biographie voll bewußt zu werden. — Ein sehr kritisches Urteil fällte
er auch über Erwin Rohde; seiner Meinung nach war dieser schuldig, Nietzsche
zugunsten seiner Karriere als Philologe im Stich gelassen zu haben, während er
sich später, nach der Krankheit des Philosophen, erneut als dessen treuer und
alter Freund hingestellt hatte, weil er verstanden hatte, daß er dadurch zu mehr
Ruhm gelangen würde. — Ein letztes Ergebnis seiner Basler Studien war die
Identifizierung Cosima Wagners als Vorbild für die Figur der Ariadne25.
Die Veröffentlichung des Briefwechsels Herr-Andler leistet also einen wich-
tigen Beitrag dazu, die Vielzahl der Interessen aufzudecken, mit denen sich der
französische Gelehrte Nietzsche näherte, zu verstehen, wie seine große Mono-
graphie einige kulturelle und wissenschaftliche Tendenzen des Milieus widerspie-
gelte, in dem sie entstand, und sie besser in ihre Beziehungen zum-Nietzsche-
Archiv und insbesondere zur Basler Tradition einzuordnen. Er bietet schließlich
die Möglichkeit, einige entscheidende Momente der ersten Nietzsche-Rezeption
in Frankreich zu reflektieren, in denen die Verbreitung von Nietzsches Ideen
mit der Herausbildung einer änderen und moderneren Form des engagierten
Intellektuellen zusammentrifft.

24
Ebd., S. 8l.
25
Ebd., S. 81-82. Zu Andlers Verhältnis zur »Basier Tradition·',, vgl. auch E.Tonnelat, a.a.O.,
S. 153-157,

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