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1
Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der
'Gegenwart, Iserlohn 1866 (= *Gesch. d. Mat.).
2
Brief vom November 1866: KGB 1/2, 184.
Nietzscke «cd Lange 237
die Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym sich vor Schopenhauer ver-
kriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens
keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer."3
In den Jahren nach 1866 gehörte die Geschichte des Materialismus zu den
Büchern, in denen Nietzsche nachzulesen pflegte, wenn er sich über be-
stimmte philosophische Fragen und Probleme orientieren wollte. Offensicht-
lich unterschätzt Jaspers die Bedeutung, die das Werk für Nietzsche hatte,
wenn er Lange neben Spir, Teichmüller, Dühring und v. Hartmann lediglich
als einen der Autoren aufzahlt, denen Nietzsche „die traditionellen Begriff-
lichkeiten" entnimmt.4 Selbst E. Förster-Nietzsche gesteht dem Buch eine
hervorragende Rolle für Nietzsches philosophische Entwicklung zu, läßt es
allerdings bei einer allgemein gehaltenen Bemerkung bewenden.5 Wie in
vielen Fällen hat auch in diesem Bernoulli als einer der ersten die Sachlage im
Ganzen richtig gesehen und beurteilt. Er nennt die Geschichte des Materialis-
mus Nietzsches „philosophisches Leibbuch" und sagt, daß wir in ihm „den
besten Pfadfinder durch das Labyrinth von Nietzsches philosophischen Vor-
aussetzungen" hätten.6 Allerdings benutzt er selbst diesen Wegweiser nur
dazu, um Nietzsches Kenntnisse von Stirner und Feuerbach zu erläutern.
Sein Ansatz gibt sicherlich mehr her: andere Autoren haben dies demon-
striert, indem sie sich auf eine nähere Untersuchung des Zusammenhangs
eingelassen haben, wobei allerdings fast ausschließlich das Denken des frühen
Nietzsche ins Thema gerückt wurde. An erster Stelle ist das von späteren
Autoren nicht immer nach Gebühr beachtete Buch von E. Hocks zu nennen7;
vorher schon hatte Vaihinger das Problem berührt8, später beschäftigten sich
Del-Negro9, Mittasch10 und Dickopp11 damit. Last not least ist die Unter«
suchung von Anni Anders zu nennen12. Diese Arbeiten haben, wie erwähnt,
vor allem die Aufzeichnungen und Vorlesungsausarbeitungen Nietzsches aus
der Leipziger und aus der Basler Zeit auf Spuren seiner Lektüre der
3
Brief von Ende August 1866: KGB 1/2, 159f.
4
Nietzsche. Einfuhrung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 19744, 25.
5
Das Leben Friedrich Nietzsches, 2 Bd.e in 3 TLn, Leipzig 1895 (I), 1897 (H/1) und 1904
(II/2), hier: I, 270.
6
Fr. Overbeck und Fr. Nietzsche. Eine Freundschaft, Jena 1908, 2 Bd.e, hier: I, 221 und
146.
7
Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit der Welt bei Nietzsche. Eine Darstellung
seiner Erkenntnislehre, Leipzig 1914. — Zu Hocks vgl. die Hinweise von H. Baier in
dessen Rezension des Buchs von Schlechta/Anders (vgl. Anm. 12): Nietzsche als Wissen-
Schaftskritiker (ZfphF 20, 1966, S. 135f., Anm. 16).
* Die Philosophie des Als Ob, Berlin 19206, 791 ff.
9
Die Rolle der Fiktione^ in der Erkenntnistheorie Friedrich Nietzsches, München 1923.
10
Vor allem: Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, Stuttgart 1952.
11
Vor allem: Nietzsches Kritik des Ich-denke, Bonn (Dissertationsdruck) 1965.
12
Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens (zus. mit K.
Schlechta), Stuttgart 1962.
238 Jörg Salaquarda
Geschichte des Materialismus hin untersucht und sie haben dabei reichhaltiges
Material zu Tage gefördert. Hocks mag mit der folgernden Bemerkung ein
wenig über das Ziel hinausschießen, aber er kommt dem tatsächlichen
Sachverhalt sicherlich näher als Jaspers: „Langes Geschichte des Materialismus
. . . ist das Werk, das Nietzsche die Grundlagen seiner philosophischen Bil-
dung gegeben hat. Überhaupt kann der Einfluß dieser Lektüre gar nicht groß
genug eingeschätzt werden und geht weit über die Zeit der ersten entschei-
denden Anregung (1866/68) hinaus. Zieht man einmal die persönlichen
Faktoren und den Erlebniswert der Schopenhauerschen Philosophie ab, so
steht für Nietzsche Lange sogar vor Schopenhauer, insofern jener auf Langes
positivistischen Idealismus und Relativismus als das Fundament den Volunta-
rismus wie ein oberes Stockwerk aufsetzt."13
Daß Nietzsche sich 1867/68 mit dem Gedanken trug, seine Studien mit
einer philosophischen Dissertation bzw. Habilitationsschrift abzuschließen,
dazu ist er sicherlich nicht zuletzt durch die jLektüre von Langes Buch
angeregt worden und das von ihm ins Auge gefaßte Thema, „Die Teleologie
seit Kant", ist auch thematisch stark von Lange geprägt, wie aus den Exzerp-
ten ersichtlich ist.14 Es ist vor allem Anders zu danken, daß wir einen
Überblick darüber haben, in wie großem Umfang Nietzsche bei der Ausar-
beitung seiner in Basel gehaltenen Vorsokratiker-Vorlesungen damalige natur-
wissenschaftliche Erkenntnisse mitberücksichtigt hat, auf die er direkt oder
indirekt zuerst durch die Geschichte des Materialismus aufmerksam geworden
war. Das gilt in besonderem Maße für seine Studien über Demokrit.15
Überblickt man Nietzsches schriftstellerische Tätigkeit in der Basler Zeit
insgesamt, dann gewinnt man den Eindruck, daß Langes Grundeinsichten für
ihn damals über alle mehr oder minder wahrscheinlichen Einzelanregüngen
hinaus fundamentale Bedeutung hatten. In der Sekundärliteratur wird zurecht
immer wieder auf die „Spannungen" hingewiesen, die das Leben und Denken
Nietzsches zwischen Basel und Tribschen, zwischen Philologie und Kunst
usw. bestimmten. Klammern wir hier die „persönlichen" Probleme aus* so
läßt sich sagen, daß Nietzsche die Spannung zwischen einerseits der „Arti-
stenmetaphysik" der Geburt der Tragödie und der beiden letzten Unzeit-
gemäßen , und der wissenschaftlichen Haltung andererseits, die in seinen Vor-
lesungen und in zurückgehaltenen Schriften wie Über Wahrheit und Lüge zum
Ausdruck kommt, deswegen eine Zeit lang ertragen konnte, weil er von
seiner Länge-Lektüre her über ein Modell verfügte, das beide Tendenzen
nebeneinander gelten ließ. H. Reichert hat diesen Punkt in seiner Rezension
des Buchs von Schlechta/Anders m. E. nicht genügend berücksichtigt, wenn
13
Das Verhältnis der Erkenntnis, a.a.O. (vgl. Anm. 7), 3. .
14
Vgl. Nachlaß Oktober 1867-April 1868: BAW III, 372ff.
15
Vgl. Nachlaß Oktober 1867-April 1868, a.a.O., 333ff.
Nietzsche und Länge 239
er das intellektuelle Problem von Nietzsches Basler Existenz auf die Formel
„Nihilismus" bringt und sich die Frage stellt, ob Nietzsche schon in dieser
frühen Zeit Nihilist gewesen sei oder noch nicht.16 Tatsächlich hat Nietzsche
eine Spielart des Kritizismus vertreten, indem er die schon bei Lange ange-
legte Biologisierung der apriorischen Bedingungen des Erkennens noch
stärker betonte. Zunächst neigte er dabei, zumindest in seinen Veröffent-
lichungen, mehr der Seite der „Begriffsdichtung" zu, was angesichts der fort-
dauernden Verehrung für Schopenhauer, der Freundschaft mit Wagner und
dem Festhalten an den Gemeinsamkeiten mit den Schul- und Studienfreunden
nahe lag; die Bedeutung der exakten Wissenschaften in den ihnen von Lange
gesetzten Grenzen hat er dabei nie bestritten. Die „Krise von 1876" ist daher
viel stärker eine Lebenskrise als eine völlige intellektuelle Neuorientierung
gewesen. Nietzsche hat nicht, wie seine Freunde argwöhnten, einen Bruch mit
seinem bisherigen Denken vollzogen, sondern er hat die andere Seite seiner
längst ausgebildeten Grundanschauung nunmehr in den Vordergrund ge-
rückt.
Wenn sich der Einfluß Langes auf Nietzsche in dem bisher Angedeuteten
erschöpfte — in der grundsätzlichen Haltung der Basler Zeit und in den Ein-
zeleinflüssen auf die Vorlesungen, die von Anders und früheren Autoren
nachgewiesen worden sind, dann wäre dieser Einfluß bedeutend genug, um
Lange einen hervorragenden Platz „parmi les precurseurs de Nietzsche"
einzuräumen, was Andler in seiner großen Monographie versäumt hat.17
Aber der Einfluß dürfte wesentlich weiter gehen. Meine These lautet, daß
Lange auch für Nietzsches in den4 achtziger Jahren ausgebildete Gedanken
und Konzeptionen von Bedeutung geblieben ist. Aus einer Reihe von Grün^
den ist diese These allerdings nicht leicht zu belegen: Nietzsche hat in seinem
späteren Werk den Namen Langes kaum erwähnt; er hat die Gedanken
Langes nicht einfachhin rezipiert, sondern mit eigenen Überlegungen ver-
woben, und er hat im Ausgang von der Geschichte des Materialismus viele
Autoren zur Kenntnis genommen, deren Gedanken zum Teil die Langes
überlagert haben. — Ich gehe diese drei Probleme kurz durch.
Im Werk Nietzsches fällt der Name Lange sehr selten. Im veröffent-
lichten Werk erwähnt Nietzsche ihn überhaupt nicht und in seinen Briefen
über die schon zitierten Stellen hinaus nur noch einmal. Nach einer erneuten
Lektüre der Geschichte des Materialismus hat er sich 1868 wieder gegenüber
Gersdorff über das Buch geäußert, wobei er dieses Mal die Problemkreise
Darwinismus und Ethik in den Vordergrund rückt: „Wenn Du Lust hast,
16
In: Nietzsche-Studien 2, 1973, 313f.
17
Charles Andler, Nietzsche, sä vie et sä .p^nsee, vol. l: Les precurseurs de Nietzsche,
Paris 1920.
240 Jörg Salaquarda
Dich vollständig über die materialistische Bewegung unsrer Tage, über die
Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, ihren kosmischen
Systemen, ihrer belebten camera obscura etc. zu unterrichten, zugleich auch
über den ethischen Materialismus, über die Manchester-Theorie etc. so weiß
ich Dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen als die „Geschichte des
Materialismus" von Friedr. Alb. Lange . . .-, ein Buch, das unendlich mehr
giebt als der Titel verspricht und das man als einen wahren Schatz wieder und
wieder anschauen und durchlesen mag. . . . Ich habe mir schlechterdings vor-
genommen, mit diesem Manne bekannt zu werden und will ihm meine
Demokritabhandlung als ein Zeichen meiner Dankbarkeit schicken."18 Dar-
aus ist nichts geworden, da Nietzsche die Abhandlung nicht fertigstellte.
Später hat er offenbar den Plan, mit Lange in Kontakt zu treten, nicht mehr
aufgegriffen. Vielleicht hätte er es getan, wenn er die zweite Auflage der Ge-
schichte des Materialismus eingesehen hätte, da Lange in einer Anmerkung des
überarbeiteten ersten Bandes (1873) anerkennend auf seine Geburt der Tra-
gödie hingewiesen hatte.19 Viel Zeit wäre ihm freilich nicht mehr geblieben,
da Lange damals schon schwer von seiner Krankheit gezeichnet war und
kurz darauf gestorben ist. Aber unglücklicherweise hat Nietzsche weder die
zweite Auflage noch die mit ihr identische dritte von 1877, sondern erst wieder
die vierte von 1882 bzw. 188720 zur Kenntnis genommen: dabei handelt es sich
um eine von H. Cohen besorgte „wohlfeile Ausgabe" in einem Band, die zwar
den Text der wesentlich erweiterten und verbesserten zweiten Auflage unver-
ändert wiedergibt, die wichtigen Anmerkungen aber wegläßt. Die erste Ausgabe
dieser vierten Auflage enthält nicht einmal ein Namenregister; in der zweiten
Ausgabe wurde dieser Mangel zwar behoben, aber der Name Nietzsche scheint
in diesem Register nicht auf, da — wie gesagt — die Anmerkungen beim
Abdruck unberücksichtigt geblieben waren.
Hier sei zunächst noch auf einen änderen Aspekt hingewiesen: während
Nietzsche viele seiner Jugendfreunde mit seiner Begeisterung für Schopen-
hauer „ansteckte", gelang ihm dies im Fall Langes kaum. Von Mushacke ist
uns überhaupt keine Reaktion überliefert und von Gersdorff liegen nur allge-
mein gehaltene Antworten vor: er bestätigt Nietzsches erste Mitteilung21, und
18
Brief vom 16. 2. 1868: KGB 1/2, 257f.
19
Geschichte des Materialismus im Abendland und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart.
Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage, 2 Bd.e, Iserlohn 1873 (I) und 1875 (II)
(= 2Gesch. d. Mat.), hier: I, 133, Anm. 44.
20
Zu Lebzeiten Nietzsches erschien das Buch noch drei Male, wobei jedes Mal der Text der
zweiten Auflage unverändert abgedruckt wurde: 18773, 18824 (hg. v. H. Cohen), 1887 (2.
Tausend der 4. Auflage). —'In dem Fragment VII 25 [318] vom Frühjahr 1884 lokalisiert
N. sein Zitat aus den Schlußpassagen der Gesch. d. Mat. auf „p. 822"; dies zeigt, daß er
die Ausgabe von 1882 in Händen hatte.
21
Brief vom 4. 9. 1866: KGB 1/3, 146.
Nietzsche und Lange 241
er berichtet ihm später, daß er das Buch gekauft habe22; ob er es auch gelesen
hat, das geht aus dem Briefwechsel nicht mehr hervor. Rohde hat immerhin
den Versuch gemacht, dem bewunderten Freund auch auf diesem Weg zu
folgen. Nietzsche dürfte in Leipzig mit ihm über Lange gesprochen haben,
und er hat ihm im Lauf des Jahres 1868 sein Exemplar der Geschichte des Ma-
terialismus geliehen. Rohdes Reaktion klingt nicht ganz echt, sie wirkt wie
eine Kritik im Gewände des Lobs: „Ganz gewiß hat er (sc. Lange) Recht, mit
Kants Entdeckung von der Subjectivität der Anschauungsformen so bitter
Ernst zu machen, und wenn er Recht hat, ist es dann nicht ganz in der Ord-
nung, daß ein Jeder sich eine Weltanschauung wähle die ihm, d. h. seinem
ethischen Bedürfniß, als seinem eigentlichen Wesen, genüge? Nun sagt mir
eine Anschauung, die den tiefen, herben Ernst jenes gänzlich Unbekannten
stark betont, innerlichst zu, und so ist mir auch durch die wachsende Über-
zeugung von der subjectiven Phantastik aller Speculation die Schopenhauer-
sehe Lehre durchaus nicht im Werthe gesunken: ein Factum, das gegentheils
wieder bestätigt, daß der Wille, das , stärker, primärer ist als der
kühl erwägende Intellect. — Auch in diesen wichtigen Puncten stimmen wir
Beide, lieber Freund, ja wol von Herzen zusammen."23 Rohde geht fast aus-
schließlich auf die Erlaubnis der „Begriffsdichtung" ein. Wenn man seine
Bemerkungen mit Nietzsches brieflicher Äußerung gegenüber Gersdorff ver-
gleicht, kann man annehmen, daß er nur mit seinen Worten wiederholt, was
Nietzsche ihm in Leipzig mitgeteilt hatte. Nietzsche ist trotz des damaligen
regen Briefverkehrs nicht auf die Äußerung eingegangen. Das mag ein Zufall
sein, man kann aber auch vermuten, daß ihm eine solche vergröbernde Zu-
spitzung der subtilen Position, die er von Lange übernommen hatte, diese
eher problematisch gemacht als in ihr bestärkt haben mag.
Was schließlich den Nachlaß betrifft, so findet sich der Name Lange in
der Basler Zeit — von den Vorlesungsausarbeitungen abgesehen — überhaupt
nicht, und in späterer Zeit ganze drei Male. Diese drei Notizen aus den
Jahren 1884 und 1885 zeigen immerhin, daß Nietzsche auch in diesen Jahren
einzelne Partien der Geschichte des Materialismus wieder gelesen hat, und daß
er somit zu dieser Zeit den Text der stark erweiterten und umgearbeiteten
zweiten Auflage des Werks zur Kenntnis nahm. Denn sein Exemplar der
ersten Auflage hatte Nietzsche noch in den siebziger Jahren Heinrich Ro-
mundt geschenkt. 1887 hat Nietzsche ein Exemplar der zweiten Ausgabe der
vierten Auflage erworben, das in seiner nachgelassenen Bibliothek erhalten
ist.24 Diese Anschaffung eines Buches, das er mindestens einmal ganz gelesen
22
Brief vom 20. 7. 1868: KGB 1/3, 278.
23
Brief von 4. 11. 1868: KGB 1/3, 299.
24
Vgl. Anders, a.a.O. 55 f. — R. Blunck schreibt in seiner Biographie (Fr. Nietzsche.
Kindheit und Jugend, München/Basel 1953, S. 160): „. . . Nietzsche erwarb noch die
242 Jörg Salaquarda
und später mehrfach benutzt hatte, deutet auf weiterhin bestehendes großes
Interesse daran hin. — Sachlich ist nur eine der drejif Notizen interessant,
während in den beiden anderen mehr beiläufige Bemerkungen zu finden sind:
Nietzsche polemisiert mit Hilfe eines Zitats von Lange gegen die „Bay-
reuther"25 und er mokiert sich über den Stil Langes26. In der dritten Notiz
setzt Nietzsche sich mit Lange auseinander, wobei deutlich wird, daß er sich
von dessen Position und somit auch von seiner eigenen früheren Position ent-
fernt hat. Nietzsche zitiert zunächst aus dem Schlußkapitel der Geschichte des
Materialismus, in dem Lange im Sinne seines Kritizismus den „Standpunkt
des Ideals" entwickelt: „Eine Wirklichkeit aber, wie der Mensch sie sich ein-
bildet, und wie er sie ersehnt, wenn diese Einbildung erschüttert wird: ein
absolut festes, von uns unabhängiges und doch von uns erkanntes Dasein —
eine solche Wirklichkeit giebt es nicht . . .".27 Nietzsche setzt kommen-
tierend hinzu, es erfülle Lange nicht mit Stolz, daß der Mensch primär
setzend-schöpferisch und erst sekundär ein erkennendes Wesen sei, und er
folgert daraus, daß Lange eine Position der Schwäche vertrete: „nichts trüge-
risches, wandelndes, abhängiges, unerkennbares also wünscht er sich — das
sind Instinkte geängstigter Wesen und solcher, die noch moralisch beherrscht
sind: sie ersehnen einen absoluten Herrn, etwas Liebevolles Wahrheit-Reden-
des — kurz diese Sehnsucht der Idealisten ist moralisch-religiös vom Sklaven-
gesichtspunkte aus. Umgekehrt könnte unser Künstler-Hoheits-Recht darin
schwelgen, diese Welt geschaffen zu haben »subjektiv nur«, aber ich emp-
finde umgekehrt: wir haben's geschaffen!"28 Von seinem moralkritischen An-
satz her qualifiziert Nietzsche nun auch noch Langes ^Standpunkt des Ideals"
als Idealismus der Schwäche.
Um Langes weitergehenden Einfluß auf Nietzsche zu belegen, kann man
sich also kaum auf direkte Zitate oder auf das Auftauchen des Namens Lange
in Nietzsches Werk stützen, man muß vielmehr einzelnen Themen und
Motiven nachgehen, wobei man meiner Meinung nach über das wenige
Neuauflage des Buchs von 1887 und ging sie erneut durch, um dann freilich den Stil
Langes schlecht und — auf der Höhe seines Immoralismus — sein Denken zu moralisch-
religiös zu finden"; er verweist auf die zuerst in der GA (XIV, 14f.) veröffentlichte Notiz,
die in der KGW als Fragment VII 25 [318] abgedruckt ist. Sein Hinweis führt in die Irre, da
er vermuten läßt, daß das Fragment nicht aus dem Jahre 1884, sondern erst aus dem Jahre 1887
stammt (vgl. Anrri. 20).
25
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 25 [424]: KGW VII/2, 119.
26
Nachlaß April-Juni 1885, VII 34 [99]: KGW VII/3, 173f.: „Schweine-Deutsch! - Ver-
zeihung! Zeitungs-Peutsch! Da lese (ich) Friedrich Albert Lange, ein braves Thier, welches
man sogar, in Ermangelung braverer Thiere, deutschen Jünglingen anempfehlen darf."
Nietzsche relativiert damit seine frühere Hochschätzung Langes, hebt diesen aber immerhin
noch von Hegel, Wagner und Dühring als den „eigentlichen Deutsch-Verderber(n)" ab.
27 2
Gesch. d. Mat., II, 539.
28
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 25 [318]: KGW VII/2, 90.
Nietzsche und Lange 243
hinaus, das bisher in der Literatur auf gewiesen worden ist29, wichtige Zusam-
menhänge finden kann. Die beiden weiteren Schwierigkeiten, die diesem Ver-
fahren entgegen stehen, wurden schon kurz genannt und bedürfen noch einer
Erläuterung. Nietzsche hat nie Gedanken anderer bloß rezipiert, sondern er
hat sich das, was er empfing, immer in charakteristischer Weise zu eigen
gemacht, indem er es mit seinen bisherigen Gedanken verband. Will man bei
historischen Untersuchungen Nietzsche und seinem jeweiligen Gewährsmann
gerecht werden, dann müßte man diesen Assimilierungsprozeß in jedem Fall
Schritt für Schritt aus den Texten und Aufzeichnungen rekonstruieren. Und
im Fall von Langes Geschichte des Materialismus kommt noch eine weitere
Schwierigkeit hinzu. Nietzsche ist durch dieses Buch auf viele andere
Autoren und Bücher, ja auf ganze Forschungsrichtungen hingewiesen wor-
den. In vielen Fällen hat er sich mit den Referaten und Stellungnahmen
Langes begnügt, in einigen anderen Fällen aber hat er sich die betreffenden
Bücher beschafft, sie mehr oder minder ausführlich durchgearbeitet und sich
mit ihren Thesen auseinandergesetzt. Zu dieser zweiten Gruppe gehören z.B.
Arbeiten von Zöllner, Teichmüller, Fechner, DuBois-Reymond — Mittasch
und Anders geben die vollständigen Listen. In einem für Nietzsche besonders
wichtig gewordenen Fall gab Lange sozusagen einen indirekten Anstoß,
nämlich zu Nietzsches Lektüre der Philosophiae naturalis theoria von Roger
Boscovich. Lange erwähnt dieses Buch erst in der zweiten Auflage, aber
durch Lange wurde Nietzsche auf Fechner aufmerksam und durch dessen
Arbeiten dann auf Boscovich. — Geht man nun der Entwicklung bestimmter
Gedanken und Motive im Werk Nietzsches nach, auf die er zuerst durch die
Geschichte des Materialismus aufmerksam geworden ist, dann verhält es sich
in der Regel so, daß andere Autoren für die spezifisch Nietzschesche Fassung
derselben im Positiven oder Negativen schließlich wichtiger geworden sind
als Lange selbst. Deutlich ist dies z. B. hinsichtlich der Problematik des Ent-
wicklungsgedankens und des Darwinismus. Wenn Mittasch schreibt: „Durch
die Beschäftigung mit dem Philosophen Fr. A. Lange hat Nietzsche dann den
Darwinismus genauer kennen(ge)lernt"30, dann stimmt das nur ganz obenhin,
Müller-Lauter hat in seinem Referat demonstriert, daß Nietzsche sich in
diesem Zusammenhang intensiv mit Roux auseinandergesetzt hat, und Roux
ist zwar ein besonders wichtiger, aber doch nur einer der hier in Betracht
kommenden Autoren.31
Ich habe bei der Ausarbeitung des Referats zwar diesen gesamten ver-
wickelten und vielschichtigen Prozeß als Problem vor Augen gehabt, ich konnte
29
Vor allem von Hocks (vgl. Anm. 7).
30
Fr. Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O. 13.
31
Vgl. dazu Müller-Lauter, Der Organismus.als innerer Kampf, in diesem Band S. 193f.,
bes. Anm. 16 und S. 222f., bes. Anm. 180.
244 Jörg Salaquarda
34 2
Gesch. d. Mat. II, 556f.
35
Vgl. bes. Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 15 [19]: KGW VIII/3, 211.
246 Jörg Salaquarda
36 2
Gesch. d. Mat. I, 40f.
37
A.a.O. I, 55ff.
38
A.a.O. , 66f.
39
Vgl. dazu Salaquarda, Erwägungen z/ur Ethik. Schopenhauers kritisches Gespräch mit
Kant und die gegenwärtige Diskussion: 56. Schopenhauer-Jahrbuch für das Jahr 1975,
51 ff., hier bes. 58f.
40 2
Gesch. d. Mat. I, 83 f.
41
Vgl. bes. JGB, Aph.n 12-14.
42 2
Gesch. d. Mat. I, 84.
43 2
Gesch. d. Mat. II, 312 und 408ff.; *Gesch. d. Mat. 411 und 481 ff.
Nietzsche und Lange 247
44
^esch. d. Mat., 405ff.; 2Gesch. d. Mat. II, 248ff.
45
A.a.O. 405 bzw. II, 249.
46
A.a.O. 406 bzw. II, 249.
47
Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, VIII 2 [87]: KGW VIII/1, 102.
48 2
Gesch. d. Mat. I, 60.
49
A.a.O. I, 188.
50
^esch. d. Mat., 531 ff.; 2Gesch. d. Mat. II, 485ff.
51 2
Gesch. d. Mat. 1,271.
248 Jörg Salaquarda
auch nicht durch die Stärke seiner Überzeugung glaubhafter mache52, dann
spricht er auch damit genau das aus, was später Nietzsche zu diesen Themen
gesagt hat. Sogar in der Kritik an E. von Härtmann53 und am „Philistertum"
von D. Fr. Strauß54 konnte Nietzsche sich nach der Lektüre der Geschichte
des Materialismus mit Lange einig wissen.
Ad 3) Besonderes Interesse kommt dem- Einfluß Langes auf Nietzsches
Denken m. E. in den Punkten zu, in denen Nietzsche Anregungen Langes
aufgenommen und für die positiven Konzeptionen seiner Spätphilosophie
fruchtbar gemacht hat. Generell sei zunächst an Folgendes erinnert:
Nietzsche hat schon bei seiner ersten Lektüre der Geschichte des Materialis-
mus den Thesen Langes zugestimmt, daß Erkenntnis per definitionem parti-
kular sei und daß sie nicht das Wesen, sondern die Relationen betreffe; an
diesen Thesen hat er ebenso bis zuletzt festgehalten wie an der Einsicht, daß das
Wichtigste an den Wissenschaften die Methoden sind.55 Wenn man die
Passagen durchgeht, in denen Nietzsche später den „Mechanismus" kritisiert,
dann fällt auf, daß er dabei nie die mit Hilfe des methodischen Materialismus
erzielten einzelwissenschaftlichen Ergebnisse in Frage stellt, sondern sich um
ein besseres Verständnis derselben, um eine andere Ausdeutung bemüht. Er
sucht nach Modellen, die dem „wirklichen Geschehen" besser entsprechen,
ohne dabei je zu vergessen, daß auch das beste Modell — Interpretation
bleibt. Im Aphorismus 22 von Jenseits von Gut und Böse findet sich dafür
eine anschauliches Beispiel: Nietzsche behauptet dasselbe von den Phäno-
menen wie die mechanischen Materialisten, gibt aber eine andere Interpre-
tation, die s. E. schon deswegen der der „Mechanisten" überlegen ist, weil sie
ihren eigenen Interpretationscharakter eingestehen kann.56
In dem zu Beginn des Referats zitierten Brief an Gersdorff begrüßte
Nietzsche die von Lange eingeräumte Möglichkeit einer „Begriffsdichtung",
nicht zuletzt deshalb, weil sie es ihm erlaubte, an seiner Vorliebe für
Schopenhauer festzuhalten. Diese Position hat Nietzsche später nicht auf-
recht erhalten; ich habe oben die Vermutung ausgesprochen, daß ihn Rohdes
vergröberndes Echo dieser seiner Auffassung nicht erfreut haben dürfte, weil
die Schwäche dieser Position und ihre „Unehrlichkeit" ihm in den Worten
des Freundes bestimmt deutlicher gewesen ist als in seinen eigenen Äußerun-
gen. Andererseits hat Nietzsche diese seine frühere Auffassung auch nicht
einfach aufgegeben, er hat sie vielmehr allmählich umgestaltet und radikal!-
52
^esch. d. Mat., 540; 2Gesch. d. Mat. II, 495.
53 2
Gesch. d. Mat. II, 277ff.
54
A.a.O. II, 534.
55
Z. B. KSesch. d. Mat. 32f.; 2Gesch. d. Mat. I, 87f., vgl. 69.
56
Vgl. dazu Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht: Nietzsche-Studien 3,
1974, l ff., bes. 40ff.
Nietzsche und Lange 249
57
Das ist freilich nur ein Aspekt; Nietzsche berücksichtigt z. B. auch die alten „einver-
leibten Irrtümer", wovon hier aber nicht zu handeln ist.
58
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, VIII 5 [71]: KGW VIII/1. 217; diese Aufzeichnung
entspricht dem Fragment 55 des „Willens zur Macht".
59
Dies kann hier nicht näher entfaltet werden; vgl. dazu B. Magnus, Nietzsche's Eternalistic
Counter-Myth: The Review of Metaphysics 26, 1972/73, 604 ff. und Müller-Lauter,
Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin
und New York 1971.
250 Jörg Salaquarda
ihn aber konstitutiv enthält. Ich versuche das Problem in den Grundzügen
anzudeuten: Wenn Nietzsche auf die künftige Menschheit und vor allem auf
die „großen Menschen" der Zukunft zu sprechen kommt, dann entwirft er
Programme und Thesen zu „Zucht und Züchtung". Er ist der Meinung, daß
diese „zoologischen Termini" viel besser ausdrücken, worum es schon in
aller bisherigen Moral gegangen ist, nämlich um eine anhaltende Prägung und
schließliche Veränderung des Menschen als eines Lebewesens.60 Wenn
Nietzsche derartiges ausführt, dann setzt er offenbar voraus, daß solche
Prägungen und Veränderungen festgemacht und an die Nachkommen weiter-
gegeben werden können, d. h. er rechnet mit der Vererbbarkeit erworbener
Eigenschaften. Diese „Lamarckistische" These steht im Gegensatz zur
(Neo-)Darwinistischen Theorie von der genetischen Veränderung allein durch
spontane Mutationen; sie wird von der heutigen biologischen Forschung ein-
mütig verworfen.61 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galt sie dagegen
als recht wahrscheinlich, sogar Darwin selbst hatte sie keineswegs ausge-
schlossen. In der Geschichte des Materialismus hat Nietzsche gelesen: „be-
denken wir . . . das von Darwin so richtig nachgewiesene Prinzip der Ver-
erbung erworbener Eigenschaften"62; die heute herrschende Lehre fand er
dagegen ausdrücklich in Zweifel gezogen: „Dagegen muß die Entwicklung
neuer Arten aus rein zufälliger Entstehung neuer Eigenschaften allerdings in
Zweifel gezogen werden, sofern wenigstens hierin gerade der Häüpthebel der
Veränderung liegen soll. . . . Man bringt doch auch heutzutage mit Recht
Lamarck wieder zu Ehren, der aus unmittelbar wirkenden Ursachen in
Verbindung mit der Vererbung alle Wandlungen der Formen ableitete, also
z. B. die Vergrößerung* Verstärkung und feinere Ausbildung irgendeines
Organs aus dem vermehrten Gebrauch desselben."63 Wenn Nietzsche auch
Die Arbeiterfrage gelesen haben sollte64, dann hätte er bei Lange sogar die
Anwendung dieser allgemeinen Überlegungen auf das ihn primär interessie-
rende Problem gefunden. Denn Lange diskutiert im zweiten Kapitel dieses
Buchs den, wie er sagt, „Kampf um die bevorzugte Stellung" in der Geschichte
der Menschheit; er legt dar, daß die jeweils herrschende Klasse, wenn man der
Natur ihren Lauf lasse, ein immer stärker werdendes Übergewicht über die
unterworfenen und unterdrückten Klasse bekommen müsse. Wörtlich heißt
es dann: „Wo sich . . . gleiche Eigenschaften in mehreren Generationen
60
Vgl. bes. GD, Die „Verbesserer" der Menschheit.
61
Vgl. dazu K. Günther, Zur Geschichte der Abstammungslehre, in: Die Evolution der
Organismen. Ergebnisse und Probleme der Abstammungslehre, Bd. I, Stuttgart 19673,
S. 3ff., insbes. 51-59.
62 2
Gesch, d. Mat. II, 268 f.
63
A.a.O. II, 256f.
64
Es gibt keine Belege dafür und es ist eher unwahrscheinlich.
Nietzsche und Lange 251
gesellen, entsteht ein immer bestimmterer neuer Charakter^ dieser kann sich
zu einer Rasse, Spielart, oder zu einer vollständig neuen Art ausprägen,
indem er im Lauf der Jahrtausende unmerklich mehr und mehr sich den
Verhältnissen anpaßt. . . . Wenn diese Anschauung richtig ist, so können sich
nicht nur unsre jetzigen Menschenrassen aus einer gemeinsamen Urform
allmählig abgezweigt haben, sondern es muß auch die Bildung neuer und
namentlich höherer Rassen noch fön und fort möglich sein. In jeder Ab-
sonderung einer Adels-Genossenschaft, welche sich nur unter sich fortpflanzt,
liegt somit der Kern zur Bildung einer neuen, die Erde beherrschenden Rasse,
welche im Lauf der Jahrtausende die Abkömmlinge der Menschheit in die
Rolle untergeordneter Wesen herabdrücken könnte — eine Rolle, die sich
durch langen Sklavenzustand gewiß zuletzt auch im Aeußeren und in der
ganzen geistigen und leiblichen Befähigung der verschiedenen Rassen aus-
prägen würde."65
Die zuletzt zitierte Äußerung Langes hat Nietzsche wohl nicht gekannt.
Aber auch dir entsprechenden Passagen aus der Geschichte des Materialismus
sind deutlich genug; sie mußten ihn in der Meinung bestärken, daß seine
Überlegungen zur „Züchtung" höherer Menschen durchaus in Einklang mit
den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung stehen.66 Er konnte darüber-
hinaus sogar meinen, daß seine These eine Tendenz der „Natur selbst"
akzentuiere bzw. diese Tendenz zumindest besser interpretiere als ethische
Theorien, die die Unterschiede zwischen den Menschen zu nivellieren
trachten. In diesem Lichte wird noch besser verständlich, warum Nietzsche
auch in Lange den Verfechter einer Theorie der Schwäche erblicken konnte:
Lange referiert nicht nur, daß die natürliche Tendenz nach Differenzierung in
der Geschichte der Menschheit durch das Streben nach Vernunft und Freiheit
immer wieder durchkreuzt worden sei, sondern er begrüßt dies ausdrück-
lich.67
Es sei noch einmal betont, daß sich Nietzsches Überlegungen zum
höheren Menschen und schließlich zum „Übermenschen" m. E. nicht in dem
hier auf seine Voraussetzungen hin untersuchten naturwissenschaftlichen
Aspekt beschränken.68 Insofern Nietzsches Konzeption aber von heutiger
naturwissenschaftlicher Forschung partiell nicht nur nicht bestätigt wird,
sondern ihr geradezu widerspricht, muß sie, gemessen an Nietzsches eigenem
65
Die Arbeiterfrage, ?1870, 55.
66
Vom „Lamarckismus" Nietzsches spricht zurecht auch W. Kaufmann, allerdings ohne in
diesem Zusammenhang auf Lange einzugehen (Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Anti-
christ, Princeton 41974, bes. 287ff.).
67
Die Arbeiterfrage, 21870, 56£L; vgl. auch 2Gesch. d. Mat. II, 560-562.
68
Vgl. dazu Müller-Lauter, Nietzsche (1. Kap.) und ders., Nietzsches Lehre vom Willen
zur Macht, a.a.O. (Anm. 57).
252 Jörg Salaquarda
Anspruch, neu durchdacht und anders gefaßt werden, wenn man ihre eigent-
liche Intention bewahren will. ,,
Zum Abschluß möchte ich noch drei Themenkreise nennen und ein
Stück weit erläutern, die Nietzsche m. E. zuerst durch seine Lektüre der
Geschichte des Materialismus kennengelernt hat und die später in mannig-
fachen Modifikationen zur Ausformung seiner Lehre vom „Willen zur
Macht" beigetragen haben. Zur Erläuterung des ersten Aspekts kann ich an
schon Referiertes anknüpfen. Wenn Nietzsche gegen ein Atommodell pole-
misiert, das die Atome als kleinste stoffliche Substanzen begreift, dann kann
er, wie gesagt, an Argumente Langes anknüpfen. Lange hebt in diesem Zu-
sammenhang wiederholt hervor, daß für die konkrete Forschung der Chemi-
ker und Physiker im Gründe nur die Eigenschaften oder Kräfte, nicht aber
die als deren „Träger" konzipierten stofflichen Substrate entscheidend sind.69
Lange nennt die Theorie von Faraday als Beispiel dafür, daß es genügt, die
Atome als begriffliche fixierte Kraftzentren oder als leere Subjekte der Eigen-
schaften zu fassen. Bei der Überarbeitung des Werks für die zweite Auflage
hat er dann auch Boscovichs Theorie miteinbezogen, die Nietzsche in-
zwischen selbst zur Kenntnis genommen hatte.70 Wenn Nietzsche später sagt,
daß der letzte Baustein alles Wirklichen der „Wille zur Macht" sei, dann
meint er damit jedenfalls auch ein solches Kraftzentrum, „hinter" dem kein
stoffliches Substrat mehr angesetzt werden darf.71 — Der zweite Aspekt
betrifft das Problem der „actio in distans". Nach den Atomtheorien des
Altertums, aber auch nach der Maxwellschen Gastheorie, wirken die stoff-
lich gedachten Elementarteile — Atome oder Moleküle — nur durch direkte
Berührung auf einander ein, durch Druck, Stoß oder Zug. Newton mußte
dagegen für seine umfassende Gravitätionstheorie die Möglichkeit einer
Femwirkung in Rechnung stellen, ohne mit Hilfe des Atommodells deren
Möglichkeit einsichtig machen zu können.72 Lange hat dies ausführlich
referiert und Nietzsche hat sich offensichtlich mit dem Problem beschäftigt.
In seinen nachgelassenen Fragmenten finden sich eine Reihe von dahin-
gehenden Notizen.73 Seine Lösung lautet schließlich, daß die „letzten
Fakten", die wir erfassen können, immer schon aus sich heraus aktiv, also
vom Charakter des „Willen zur Macht" sind. — Der letzte Aspekt betrifft die
Probleme von Empfinden und Denken. Lange diskutiert an mehreren Stellen
seines Werks die Schwierigkeit, von einem materialistischen Ansatz aus die
69
Bes. Oesch. d. Mat. 363ff.; 2Gesch. d. Mat. II, 191ff.
70
A.a.O. II, 192.
71
Vgl. z. B. Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 14 [79]: KGW VIII/3, 49-51.
72
Vgl. Langes Darstellung in 2Gesch. d. Mat. I, 264; kurz erwähnt schon in 1Gesch. d.
Mat., 124.
73
Vgl. z. B. Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 14 [81]: KGW VIII/3, 52f.
Nietzsche und Lange 253
74 2
Gesch. d. Mat. II, 164.
75
^esch. d. Mat. 47-50; 2Gesch. d. Mat. I, 110-113, vgl. II, 149ff.
76
Vgl. z. B. Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 14 [79]: RGW VIII/3, 49-51.
77
Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 38 [12]: KGW VII/3, 338f.
Diskussion
Salaquarda: Sie haben völlig recht, wenn Sie auf Leukipp verweisen.
Auch Lange geht natürlich auf ihn ein, was ich in meinem Vortrag nicht er-
wähnt habe.
Was die Problematik der Empfindung betrifft, so geht es mir um Folgen-
des : Findet sich bei den Materialisten des Altertums eine zureichende Lösung
des Problems, wie aus Atombewegungen Empfindungen entstehen können?
Daran habe ich mit Lange Zweifel. Natürlich stellt die Textlage ein großes
Problem dar, von Demokrit ist aus bekannten Gründen nur sehr wenig
erhalten; man hat seine Philosophie beiseitegeschoben und sogar verketzert.
Wir wissen einfach nicht, wie und in welchem Umfang er das Problem gestellt
und diskutiert hat. Wenn er sagt* daß es nur die Atome und das Leere gibt, so
ist damit das Problem, wo die Empfindung beginnt und was sie ist, durchaus
noch nicht gelöst, eigentlich noch nicht einmal angegangen. Lange diskutiert
diese Problematik noch nicht im Demokrit-Kapitel, aber er diskutiert sie aus-
führlich bei seiner Darstellung des Lehrgedichts von Lukrez, bei dem sich
seiner Meinung nach die Verlegenheit zeigt. Lange sagt etwa: Lukrez macht
viele Worte, um das Problem zu umschiffen, aber er sagt nichts wirklich Sub-
stantielles dazu. Lange kommt dann in der Geschichte des Materialismus
immer wieder auf diese Problematik zu sprechen. Er behauptet, daß sie bis in
seine Zeit nicht gelöst worden sind. Die Sätze, die ich dann zitiert habe,
bringen auf diesem Hintergrund eine Zuspitzung: Länge sagt, daß das Pro-
blem von einem materialistischen Ansatz aius schlechterdings nicht gelöst wer-
den kann. Von daher meine Rückfrage: Meinen Sie, daß Nietzsche dieses
Diskussion 255
Problem schon in den Texten der Antike gefunden hat? Das wäre mir eine
wichtige Ergänzung.
Janz: Die Aussagen, daß es nur die Atome und das Leere gibt, und daß
das Süße und das Bittere und die Farben etc. nicht , sondern nur
, durch menschliche Satzung und Vereinbarung bestehen, die ist so-
gar mehrfach überliefert; außer in den schon genannten Texten z.B. bei
Theophrast und bei den Skeptikern, etwa bei Sextus Empiricus —
Salaquarda: Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche. Nach Lange ist dies
eben nur die Bezeichnung des Problems. Denn die Geltung durch Thesis,
durch Setzung und Vereinbarung, setzt doch voraus, daß es Empfindungen
gibt, die die Atombewegungen verspüren und ausdeuten. Aber wie kommt es
zu den Empfindungen selber? Vermag der Atomismus das zu erklären? Das
ist das Problem, das Lange immer wieder thematisiert und das Nietzsche
offensichtlich fasziniert hat. Aus den Texten von Demokrit und seinen Nach-
folgern ist noch nicht einmal das Problem ganz ersichtlich, geschweige denn
eine plausible Lösung.
Janz: Das sehe ich anders. Von früh an erklären die Materialisten die
Empfindungen daraus, daß Atomströme in uns eindringen und unserem Kör-
per ihre Bewegung mitteilen, ihn in Mitschwingung versetzen. Das ist ein
deutliches und durchdachtes Erklärungsmodell.
Von-innen-her, von dem in meinem Vortrag die Rede war, den gestaltbilden-
den Vorrang gegenüber der ,äußerlichenc Selektion in^ Sinne Darwins zuzu-
sprechen. Er könnte darüber hinaus auch auf manchen für ihn interessanten
Autor in Sachen Darwinismus hingewiesen worden sein. In diesem Fall hätte
auch die erweiterte Ausgabe jene anregende Funktion hinsichtlich der Lektüre
anderer Autoren ausgeübt, von der Herr Salaquarda im Blick auf die erste
Auflage gesprochen hat. — Naegeli gehört freilich zu den Gegnern Darwins,
die Nietzsche schon in seiner Basler Zeit kennen und schätzen gelernt hat.
Auch dessen spätere Arbeit über die Abstammungslehre von 1884 hat
Nietzsche gekauft und offensichtlich recht gründlich gelesen, wie das in
seiner nachgelassenen Bibliothek befindliche Buch zeigt. Naegelis Wirkung
auf Nietzsche wäre noch nachzugehen.
Saß: Lange ist so weitgehend unterschätzt worden, daß man seihe Bedeu-
tung für die nachkantische Philosophie und auch für Nietzsche gar nicht hoch
genug ansetzen kann. Ich möchte deswegen etwas weiter ausholen. Durch
Lange wurde Nietzsche auch mit Kant konfrontiert. Löwiths Perspektive
„Von Hegel zu Nietzsche" ist zu eng, um die volle Bedeutung Nietzsches als
Kritiker seines Jahrhunderts deutlich werden zu lassen. Kant ist der Kritiker
aller dogmatischen Metaphysik, und nach ihm sollte es eigentlich nicht mehr
möglich sein, Moral und gesellschaftliches Engagement ontotheologisch zu
rechtfertigen. Lange hat das gesehen. Sein „Standpunkt des Ideals" bleibt
kritizistisch und insofern ist er, um ein Wort v. Kempskis aufzugreifen, nicht
Kantianer, sondern ,Kantistc im strengsten Sinne des Wortes. Und auch
Nietzsche war wohl Kantist. Das ist deswegen so bedeutsam, weil auch nach
Kant dogmatische Positionen vertreten worden sind, z.B. ontotheologische
Theorien zur Stabilisierung der individuellen und der gesellschaftlichen
Moral, wie die Theorien Hegels und Schopenhauers. Lange widersteht der
Gefahr, Ethik restaurativ in einer dogmatischen Position zu begründen. Der
Schlüssel für das gesamte Langesche Konzept findet sich im Schlußkapitel der
Geschichte des Materialismus, im „Standpunkt des Ideals". Lange läßt den
Materialismus als Methode einzelwissenschaftlicher Forschung gelten, aber er
kritisiert ihn, sofern er zur Metaphysik wird und als Metaphysik zur Hand-
lungsanweisung. Mit dieser Kritik des metaphysischen Materialismus kritisiert
Lange gleichzeitig auch die Metaphysik des Idealismus, sofern diese ebenfalls
Grundlage der Moral sein will. Noch mehr: er kritisiert damit im voraus
schon den Neukantianismus, der die Transzendentalphilosophie zu einem
idealistischen Dogmatismus zurückgebildet hat. Die übliche philosophiege-
schichtliche Einordnung Friedrich Albert Langes ist insofern völlig falsch: er
ist nicht ein Vorläufer oder gar Begründer des Neukantianismus, sondern er
Diskussion 257
Salaquarda: Nietzsche bezieht sich auf eben diese Stelle in seinem Brief an
v. Gersdorff.
Saß: Einige Jahre nach Lange schreibt David Friedrich Strauß sein Buch
Der alte und der neue Glaube, die Rezeptur zu diesem Buch ist die von
Langes Standpunkt des Ideals. — Lange war in seinem Ansatz konservativ,
weil er Furcht vor einer Revolution hatte. Die Geschichte des Materialismus
hat er in der Absicht geschrieben, das Ausbrechen von Revolutionen ver-
meiden zu helfen. Er sieht ganz klar: wenn die soziale Frage nicht gelöst
wird, dann kommt es unausweichlich zu Revolutionen; aber die Konsequenz
von Revolutionen im Abendland wird nicht eine neue Humanität sein, son-
dern sozusagen ein neues „Buch Mormon", mit Orientierungsingenieuren,
die es auslegen und unter das Volk bringen. Das hat später auch die „Kriti-
sche Theorie" gesehen, und das können wir heute alle beobachten.
Die Bedeutung von Langes „Standpunkt des Ideals" und von Nietzsches
„metaphysikfreier Kunst" läßt sich verdeutlichen, wenn man diese Positionen
in Beziehung setzt zu der modernen Diskussion der analytischen Ethik und
Metaethik. Nach R. M. Hare haben die Philosophen nicht die Aufgabe,
Moralapostel zu sein oder auch nur Moral zu begründen, sie haben vielmehr
Begriffe zu analysieren. Wenn Philosophie sich auf diesen engen Raum be-
schränkt, dann bedarf es der Kooperation von Dichtern und Denkern. Hare
spricht ganz deutlich und affirmativ von dieser Arbeitsteilung und er formu-
liert damit sozusagen die modernste Position der analytischen Philosophie:
die Philosophen analysieren die Begriffe, die Journalisten geben die Infor-
mationen über die Fakten, damit die Leute nicht von Begriffen verführt wer-
den, und die Essayisten und Schriftsteller formulieren den Standpunkt des
Ideals, die Utopien, die dann im Sinne von self-^fulfilling prophecies erreicht
werden sollen. Diese Einsicht haben Lange und Nietzsche schon vor hundert
Jahren gehabt, nur war für sie der Philosophiebegriff weiter als der der analy-
tischen Philosophie.
Gründer: Der perspektivenreiche Beitrag von Herrn Saß ist geeignet, die
geläufige Sicht der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts in einer ganzen
Reihe von Punkten zu korrigieren, wenn nicht umzukehren: Trennung von
258 Jörg Salaquarda
Salaquarda: In vielen Punkten bin ich mit Ihnen einig, Herr Saß. Langes
These, daß es einerseits die partiellen Erkenntnisse der exakten Wissenschaf-
ten gibt und andrerseits die „Begriffsdichtung", scheint mir nach wie vor von
großem systematischen Interesse zu sein. Sie hat jedenfalls das Modell abge-
geben für Nietzsches Sicht des Verhältnisses von Philosophie und Natur-
wissenschaften .
In einem Punkt bin ich möglicherweise nicht ganz mit Ihnen einig. Sie
sagten, daß Lange im Grunde auch schon die Kritik an den Neukantianern
vorwegnimmt. Dagegen spricht allerdings, daß Lange in der zweiten Auflage
der Geschichte des Materialismus eher wieder stärker zum transzendental-
philosophischen Denken zurückgekehrt ist. Merkwürdigerweise bietet die
erste Auflage in viel stärkerem Maße eine sozusagen biologistische oder orga-
nistische Deutung des Transzendentalen. Was Kant als die Prinzipien unserer
Erkenntnis, als die transzendentalen Gegebenheiten herausgearbeitet hatte,
das ist für Lange in der ersten Auflage seines Werks j,unsere Organisation",
man muß es biologisch — z.B. mit Hilfe der Sinnesphysiologie -=- unter-
suchen. Nietzsche nimmt diese Tendenz auf und verstärkt sie noch. In der
zweiten Auflage geht Lange offensichtlich nicht weiter in diese Richtung*
sondern er nimmt diese Deutung in gewissem Umfange wieder zurück. Maß-
geblich für diese Rückwendung war der Einfluß von H. Cohen, dessen Buch
Kants Theorie der Erfahrung während Langes Arbeit an der zweiten Auflage
erschienen war. In einigen Anmerkungen sagt Lange ausdrücklich: wie ich
jetzt durch Cohen belehrt worden bin, etc. Man kann also sagen: Nietzsche
ließ $ich durch Lange zur Biologisierung des Transzendentalen anregen und
führte diese Tendenz sogar weiter. Lange selbst geht aber den Weg zurück
und bahnt damit den Weg für den Neukantianismus; allerdings ist Cohen in
viel stärkerem Maße als Begründer des Neukantianismus anzusehen, weil er
auch Lange in diese Richtung gedrängt hat. Dagegen scheint mir Lange der
eigentliche Begründer der Diskussion über Sozialismus und (kantische) Ethik
zu sein, die viele Neukantianer fortgeführt haben.
ob Sie sich zurecht auf ihn berufen. In seinem Aufsatz in der Review of
Metaphysics akzentuiert Magnus doch nicht die ethische Komponente dieser
Lehre. Aber was mir wichtiger ist: wenn es wirklich Ihre Meinung ist, daß
die Wiederkunftslehre primär ethische Bedeutung hat, dann scheint mir darin
eine Herabwürdigung dieser bedeutendsten, größten, dieser eminent philo-
sophischen, die Metaphysik sprengenden Lehre Nietzsches zu liegen. Denn
im Wiederkunftsgedanken kommt — vielleicht kann ich es so formulieren —
Nietzsches Griechentum zum Ausdruck, das sich gegen das Christentum und
alle seine Fortsetzungen und Säkularisierungen empört. Der Wiederkunfts-
gedanke enthält die Gleichsetzung des Seins mit dem Werden, Nietzsche ver-
sucht mit ihm den gesamten ontotheologischen Verstehenshorizont der Tradi-
tion zu überwinden. Nietzsche bezieht ihn auf den Nihilismus, als dessen
Steigerung und Überwindung zumal. Er deutet damit die Welt als eine
ziellose, als eine sinnlose Bewegung, die gleichwohl vom Menschen bejaht
werden-kann und soll. Nicht umsonst gibt Nietzsche die erste öffentliche Er-
wähnung der Lehre im §341 der Fröhlichen Wissenschaft, wo er sagt, daß der
Wiederkunftsgedanke das „größte Schwergewicht" darstelle.
Janz: Eine Ergänzung zu dem Votum von Herrn Djuric: G. Simmel hat
schon 1907 nachgewiesen, daß der Gedanke von der „Ewigen Wiederkunft"
überhaupt keine ethische Relevanz haben kann.
Salaquarda: Da haben Sie sicherlich recht. Trotzdem möchte ich ein paar
Sätze dazu sagen und auf den Einwand von Herrn Djuric eingehen. Ich habe
mich in diesem Zusammenhang sehr knapp ausgedrückt, weil die Wieder-
kunftslehre nicht mein eigentliches Thema gewesen ist. Die Hinweise auf die
Arbeiten von Müller-Lauter und Magnus hatten die Funktion, mich eines
näheren Eingehens auf dieses Problem zu entheben. Meine Berufung auf
Magnus ist insofern mißverständlich, als ich nicht primär seinen Aufsatz in
der Review of Metaphysics im Blick hatte, sondern sein neues Buch zur Wie-
derkunftslehre, das ich im Manuskript gelesen habe; es wird wohl demnächst
in den Vereinigten Staaten erscheinen. Grob gesprochen lautet die These von
Magnus, daß die Wiederkunftslehre primär eine Theorie über den Menschen
ist, über dessen „In-der-Welt-Sein". Diese Wendung hat bekanntlich Hei-
degger geprägt. Müller-Lauter hat sie in etwas veränderter Bedeutung für die
Nietzsche-Interpretation herangezogen und Magnus ist ihm darin gefolgt.
260 Jörg Salaquarda
Magnus führt dann weiter aus, daß die Wiederkunftslehre noch zwei andere
Aspekte aufweist, die in dem anthropologischen fundieirt sind, nämlich einen
ethischen und einen kosmologischen Aspekt. Da ich in meinem Referat nur
auf den dritten, auf den kosmologischen Aspekt eingegangen bin, sollten die
Literaturhinweise verdeutlichen, daß ich diesen Aspekt weder für den ein-
zigen noch für den primären halte.
Zu dem Hinweis von Herrn Janz: Die These von Simmel halte ich für zu
einseitig. Daß mit ihr die ethische Dimension der Wiederkunftslehre erledigt
wäre, ist meiner Meinung nach ein Vorurteil von Simmel.