Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
3
Vgl. Walter Benjamin: Briefe, hrsg. von Gershom Sdiolem und Theodor W.Adorno.
2 Bde. Frankfurt 1966. I, 30 ff.
4
Theodor W.Adorno: Aus Sils Maria, in: Ders.: Ohne Leitbild — Parva Aesthetica.
edition suhrkamp 201. Frankfurt 1967, S. 49.
Vgl. ebd. S. 50 f.
6
Walter Benjamin an Carla Seligson vom 30. 4.1913. a. a. O. I, 47.
7
Walter Benjamin an Gerhard Scholem vom 23. 12. 1917. a. a. O. I, 163.
8
Walter Benjamin an Ernst Schoen vom 29.1.1919. a. a. O. I, 205.
9
Vgl. hierzu Peter Pütz: Nietzsche und Stefan George, in: Stefan George Kolloquium,
hrsg. von Eckhard Heftrich, Paul Gerhard Klussmann, Hans Joachim Schrimpf. Köln
1971, S. 49—58.
10
Vgl. hierzu Peter Pütz: Thomas Mann und Nietzsche, in: Thomas Mann und die
Tradition, hrsg. von Peter Pütz. Frankfurt 1971, S. 225—249.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 177
11
Walter Benjamin an Gerhard Sdiolem vom 1.6.1932. a. a. O. II, 554.
12
Walter Benjamin: Nietzsche und das Archiv seiner Schwester, in: Ders.: Gesammelte
Schriften, hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels. Bd. III Frankfurt 1972, S. 323 ff.
13
Max Horkheimer: Kritische Theorie — Eine Dokumentation, hrsg. von Alfred Schmidt,
2 Bde. Frankfurt 1968.1, 274.
14
Theodor W. Adorno: Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie. Junius Drucke.
Frankfurt o. J. S. 43.
15
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 7, hrsg.
von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt 1970, S. 303.
178 Peter Pütz
Grund für Adornos Wertung blitzt einmal in folgendem Nebensatz auf, der
in den „Prismen" steht: „Nietzsche, dessen herrischen Ton Spengler unab-
lässig nachahmt, ohne auch nur einmal wie Nietzsche vom Einverständnis
mit der Welt sich loszusagen .. .<<16 Daß dieser sich vom „Einverständnis mit
der Welt" gelöst hat, daß er mit der Welt radikal nicht einverstanden war,
ist ein Punkt, an dem er und Adorno sich berühren. Das bedeutet als
Ausgangspunkt für kritische Theorie das Gegenteil von Bestätigung;
Nietzsche und Adorno kämpfen gleichermaßen gegen jede positivistische
Philosophie des Sein-lassens.
Die Nähe zu Nietzsche zeigt sich nicht allein in zustimmenden Äuße-
rungen über ihn, sondern auch in Kategorien und Haltungen, die Adorno,
wenn nicht von Nietzsche übernimmt, so doch mit ihm teilt. Hierfür eines
von vielen Beispielen: In der „Metakritik der Erkenntnistheorie" heißt es
in bezug auf die längst fällige Erkenntnis, daß sich Ontotogie immer nur
idealistisch verstand: „In den Cartesianischen Meditationen hat Husserls
Redlichkeit das eingeräumt".17 „Redlichkeit" als vornehmster Antrieb des
Erkennens ist von niemandem mehr geschätzt worden als von Nietzsche.
Mehrfach bezeichnet er sie als die höchste Tugend, die uns allein übrig ge-
blieben sei.18 Er vermißt sie unter den sokratischen ebenso wie unter den
christlichen Werten und setzt sie gleich mit höchster „Leidenschaft der
Erkenntnis".19
Bei allen kritischen Vorbehalten, von denen noch die Rede sein wird,
verhehlt auch Jürgen Habermas nicht seinen Respekt vor Nietzsche. In „Er-
kenntnis und Interesse" schreibt er: „Nietzsche ist einer der wenigen Zeit-
genossen, die Sinn für die Tragweite methodologischer Untersuchungen mit
der Fähigkeit verbinden, sich in der Dimension der Selbstreflexion leicht-
füßig zu bewegen".20
#
Neben der Tatsache, daß und wie Autoren der kritischen Theorie über
Nietzsche urteilen, ist beachtenswert, an welcher Stelle ihrer Schriften sie
auf ihn zu sprechen kommen. Oft wird er en passant zitiert, als Zeuge oder
16
Theodor W.Adorno: Spengler nach dem Untergang, in: Prismen — Kulturkritik und
Gesellschaft. München 1963, S. 58.
17
Theodor W.Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: Ders.: Gesammelte
Schriften Bd. 5, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt 1970, S. 16.
18
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schledita, München 1956.
Vgl. II, 299; II, 525; II, 690.
19
Ebd. I, 1242. Daß die „Redlichkeit" als „Wahrhaftigkeit" dennoch christlicher Her-
kunft ist, zeigt Manfred Kaempfert: Säkularisation und neue Heiligkeit — Religiöse
und religionsbezogene Sprache bei Friedrich Nietzsche. Berlin 1971, S. 181 ff.
20
Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Theorie Suhrkamp Verlag. Frankfurt
1968, S. 235.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 179
24
Max Horkheimer und Theodor W.Adorno: Dialektik der Aufklärung — Philoso-
phische Fragmente. Frankfurt 1969, S. 93.
25
Ebd. S. 96.
26
Ebd. S. 92.
27
Ebd. S. 93.
28
Ebd. S. 106.
29
Friedrich Nietzsche: a. a. O. II, 863.
30
Horkheimer/Adorno: a. a. O. S. 123.
31
Ebd. S. 127.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 181
theorie zur bloßen Wissenschaftstheorie erstarrt. Als solche richtet sie ihr
Augenmerk nur noch auf das Instrumentarium, nicht aber auf die Bedin-
gungen der Möglichkeit ihres eigenen Verfahrens. Dieser Weg führt von
Kant über Fichte, Hegel, Marx bis zum Positivismus, der nach Habermas
auch unser heutiges Wissenschaftsverständnis beherrscht. Es ist geprägt von
dem Willen zu einer vermeintlich „reinen" Wahrheit, die nur „die Sache
selbst", gleichsam nur „für sich" sprechen lassen will. Dieser Objektivismus
ist nicht imstande, den subjektiven Anteil einer jeden Erkenntnis zu be-
greifen; das erkenntnisleitende „Vernunftinteresse" (ein Begriff bei Kant
und Fichte) bleibt ihm unfaßbar. Nur durch erkenntnistheoretisches Denken
ist es möglich, auf den fundamentalen Zusammenhang von Erkenntnis und
Interesse zu stoßen. „Vernunft erfaßt sich als interessierte im Vollzug der
Selbstreflexion" ?2 Dabei ist das Interesse nicht etwas Beiläufiges und von
außen Kommendes, das etwa der Erkenntnis aufgezwungen würde, son-
dern in der Reflexion zeigt sich ein Doppeltes: Vernunft wird von Interesse
geleitet und das Interesse ist vernünftig. Habermas zeigt, wie bereits bei
Kant, deutlicher aber noch bei Fichte, das „Bedürfnis der Emanzipation und
ein ursprünglich vollzogener Akt der Freiheit" aller Logik vorausgesetzt ist,
„damit sich der Mensch zum idealistischen Standpunkt der Mündigkeit er-
hebt".33 Die praktische Vernunft ist ein Stimulans der reinen Vernunft.
Dieser Zusammenhang — so Habermas — ist in der nachkantischen
Philosophie in Vergessenheit geraten. Den Bankrott der Selbstreflexion
erklärte Comte, wenn er nur empirisch belegte Resultate als wissenschaftlich
strenge gelten ließ und in der Überwindung der Metaphysik den wichtig-
sten Fortschritt erblickte. Am Ende des Wegs in den Positivismus steht der
Autor der „Fröhlichen Wissenschaft". Von ihm sagt Habermas: „Nietzsche
hat die von Hegel ins Werk gesetzte, von Marx fortgeführte Selbstauf-
hebung der Erkenntnistheorie vollendet: als Selbstverleugnung der Refle-
xion"?* Nietzsche habe den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse
zwar gesehen, habe ihn aber psychologisiert. Seine Einsicht, daß Erkenntnis
im Dienste des Willens zur Macht steht, ist zwar kritisch, aber sie befreit
nicht; „sie ist nicht emanzipatorisch, sondern nihilistisch".35 Er steht einer-
seits in der Tradition der Aufklärung, die zur Tatsachenwissenschaft er-
starrte, andererseits kann er diese nicht mehr als Wissenschaft akzeptieren,
da sie positivistisch ihr Erkenntnisinteresse verleugnet und sich dadurch vom
Lebenszusammenhang getrennt hat. Das wird nach Habermas besonders
82
Jürgen Habermas: a. a. O. S. 261.
83
Ebd. S. 253.
84
Ebd. S. 353.
85
Ebd. S. 355.
182 Peter Pütz
deutlich an Nietzsches Invektiven gegen die Historic als nur noch konser-
vierende Wissenschaft in der zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung".
Wie bei Horkheimer/Adorno steht Nietzsche auch bei Habermas am
Ende eines Prozesses, bei dem Aufklärung entgegen ihrer eigenen Intention
zum bloßen Instrument von Natur- und Menschenbeherrschung degene-
rierte. Mit seinem „Gott ist tot" begräbt Nietzsche auch die Metaphysik und
vollendet damit den Positivismus. Zugleich aber erkennt er ihn als schlechtes
Bewußtsein. Die Möglichkeit, ihn durch Selbstreflexion zu widerlegen, ver-
eitelt er seinerseits laut Habermas durch Überlegungen, die die Pluralität
aller Standpunkte gleichermaßen gelten lassen, sofern diese für die Befrie-
digung von Lebensbedürfnissen dienlich sind.
Die These, daß Nietzsche die Selbstaufhebung der Aufklärung er-
kannt hat, wird auch von Alfred Schmidt bestätigt.36 Im Gegensatz zum
Positivismus durchschaute Nietzsche den Irrtum einer scharfen erkenntnis-
theoretischen Trennung von Subjekt und Objekt. Er wandte sich ebenso
gegen die grundsätzliche Identität von Denken und Sein und begriff, daß
sich die Beziehung von Subjekt und Objekt historisch immer wieder neu be-
stimmt, und zwar aufgrund der jeweiligen Daseinsbedingungen, Interessen
und Wertungen.
Lange vor dem Entstehen der kritischen Theorie hat Nietzsche also die
Dialektik der Aufklärung erkannt, ohne an der Hand Rousseaus den Weg
zurück zur Natur zu gehen. Bereits in seiner frühen Schrift „Die Geburt
der Tragödie" hat er die Folgen eines sich verselbständigenden Bewußtseins
beschrieben und am Beispiel eines einseitig fixierten und verkrüppelten
Lebens demonstriert. Den von losgelassener Vernunft Besessenen nennt er
den „theoretischen Menschen", und er kennt auch seinen Ahnherrn: „Unsere
ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Kultur befangen
und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntniskräften ausgerüsteten, im
Dienste der Wissenschaft arbeitenden theoretischen Menschen, dessen
Urbild und Stammvater Sokrates ist".37 Bereits der Lehrer Platons
repräsentiert für Nietzsche alle wichtigen Attribute und Tugenden der Auf-
klärung: Moral, Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit.38 Die Selbst-
bescheidung auf das Beweisbare erweckt die Illusion der totalen Machbar-
keit von Welt und daher der Macht des Menschen über andere und Natur.
Hieraus resultiert der durch Jahrhunderte lebendige Optimismus der Auf-
86
Vgl. Alfred Schmidt: Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, in:
Zeugnisse — Theodor W. Adorno zum sechzigsten Geburtstag, hrsg. von Max Hork-
heimer. Frankfurt 1963, S. 115—132.
37
Friedrich Nietzsche: a. a. O. I, 99.
38
Vgl. ebd. S. 10.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 183
klärung und des theoretischen Menschen, der seine Verkümmerung für Über-
legenheit hält. Nietzsche analysiert aber nicht nur die Konsequenzen für den
einzelnen theoretischen Menschen, sondern für die gesamte theoretische Ge-
sellschaft. Er sagt von der Heiterkeit der Aufklärung, „daß sie den Mythos
aufzulösen trachtet, daß sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine
irdische Konsonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den
Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren
Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, daß sie
an eine Korrektur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissen-
schaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich imstande ist, den ein-
zelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu
bannen.. ,"39 Hier ist die ganze Dialektik der Aufklärung entfaltet: Die
Aufklärung zerstört den alten Mythos, fällt aber in einen neuen zurück. Sie
ist vernünftig, aber ihr Verhältnis zur Vernunft ist gläubig. Durch Anwen-
dung von Vernunft, d.h. durch Wissenschaft, will sie die Welt fort-
schreitend verbessern und die Einzelmenschen veredeln. Und noch etwas
erkennt Nietzsche: den Zusammenhang von Aufklärung und bürgerlich-
industrieller Wirtschaftsform. Der deus ex machina wird zur Maschine, die
Philosophie zur Technik, die Arbeit zur Ausnutzung von Natur und
Menschen zwecks eigennütziger Vermögens- und Machtvermehrung. Hier
braucht die kritische Theorie Nietzsche nicht erst in ihr Licht zu stellen, hier
strahlt von ihm selbst genügend Helligkeit aus.
Bereits ein halbes Jahrhundert vor dem Entstehen der kritischen
Theorie hat Nietzsche die geschichtliche Dialektik der Aufklärung erkannt.
Diese Erkenntnis bleibt aber nicht auf die historische Erscheinung im 18. Jh.
beschränkt, sondern weitet sich aus zu einer Betrachtung der gesamten Ge-
schichte und schließlich zu der entschiedenen Ansicht von der Historizität
aller Gegenstände und Begriffe, zu Nietzsches „Heraklitismus".40 Auch
hierin ist er ein Vorläufer der kritischen Theorie: Sie will z. B. Ansätze von
Marx und Engels, vor allem aus der politischen Ökonomie, weiterführen,
betrachtet aber die hier gefundenen Kategorien nicht als ewig gültige Wahr-
heiten, sondern als Impulse für Denkprozesse, deren Resultate auf die Kate-
gorien zurückwirken und sie gegebenenfalls verändern. Da die kritische
Theorie jeder ahistorischen Doktrin entsagt, läßt sie sich schwer bestimmen.
Sie konstituiert sich vielmehr immer neu in der Auseinandersetzung mit
gegnerischen Positionen. Dabei vertritt sie die Vorrangstellung der Ge-
schichte vor jeder Ontologie und Anthropologie, die von überzeitlichen
Wesenheiten wissen wollen. Sie versteht Geschichte nicht nur als Geistes-
89
Ebd. S. 98 f.
40
Alfred Schmidt: a. a. O. S. 125.
184 Peter Pütz
41
Max Horkheimer: a. a. O. II, 149.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 185
49
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, a. a. O. S. 372.
60
Alfred Schmidt: Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, a. a. O.
S. 121.
51
Ebd. S. 123.
52
Editorisches Nachwort zu Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, a. a. O. S. 541.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 187
Nietzsche her kennen. Die Abschnitte müssen nicht in der Reihenfolge ge-
lesen werden, in der sie gedruckt sind; einer baut nicht mit Notwendigkeit
auf den anderen auf. Die Gedanken bewegen sich oft um einen aper^u-
haften und aphoristischen Kernsatz. Es ist im Verlaufe eines Buches so, als
würden immer neue Steine in einen Teich geworfen und als bildeten sich
gleichzeitig und nacheinander verschieden große Kreise, die teils nebenein-
ander liegen, teils sich berühren oder partiell ineinanderfließen. Aber alle
Steine bewegen ein und dasselbe Wasser.
#
Bei aller Affinität der kritischen Theorie zu Nietzsche sind die Gegen-
sätze unverkennbar. Sie brechen meistens am Ende eines Reflexionsprozesses
auf, der eine Strecke weit parallel zu Nietzsches Gedanken gelaufen ist, sich
jetzt aber von ihnen abwendet. Es sind vor allem zwei Vorwürfe, die
wiederholt gegen ihn erhoben werden: Er habe die Dialektik nicht ent-
faltet und die fundamentale Bedeutung der Gesellschaft nicht erkannt. Ein-
wände gegen Nietzsches unzulängliche Dialektik machen Adorno und im
gleichen Sinne auch Alfred Schmidt.53 In der „Ästhetischen Theorie" wird
Nietzsche das Bewußtsein der Unvereinbarkeit von Kunst und Positivismus
bescheinigt, doch er ließ, wie es heißt, „den Widerspruch unentfaltet
stehen".54 Deutlicher wird der Vorbehalt in der „Metakritik der Erkennt-
nistheorie". Adorno zitiert hier Nietzsche, der sich gegen Platons Dicho-
tomic von dauerhaften Wesen und vergänglichen Erscheinungen richtet. Im
„Symposion" wird die Historizität der , dem Schein, zugerechnet.
Nietzsche sieht den Irrtum dieser Wesensmetaphysik darin, daß das letzte
Wahre, das Vollkommene nicht geworden sein dürfe, sondern causa sui sein
müsse, und er fährt fort: „Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes ge-
setzt, als Ursache an sich, als ens realissimum."55 Adorno stimmt zu, wenn
Nietzsche sich gegen die Enthistorisierung und gegen die totale Herrschaft
des Begriffs vom Bleibenden wendet. Er stimmt aber nicht mehr zu, wenn
Nietzsche das Bleibende als eigenmächtig Gesetztes nur dem Begriff zu-
schreibt und die Natur ein sich fortwälzendes Chaos sein läßt. Darin liegt
nach Adorno eine undialektische Trennung und Fixierung, wobei dem einen,
der Natur, nur das Werden und dem anderen, dem Begriff, nur das Sein zu-
gesprochen wirdl Nietzsche hat im Sinne Adornos die herkömmliche Meta-
physik des Unvergänglichen zerstört, er hat aber durch seine ungleiche
Rollenverteilung einen neuen Zwiespalt aufgerissen zwischen Natur als
53
Vgl. Alfred Schmidt: Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, a. a. O.
S.125.
54
Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, a. a. O. S. 418.
55
Friedrich Nietzsche: a. a. O. II, 958 f.
188 Peter Pütz
Veränderung und dem Begriff als Verfestigung. Adorno will die beiden
Seiten vermittelt sehen und treibt daher die Dialektik weiter: „Das Feste
dem Chaotischen entgegenzusetzen und Natur zu beherrschen, wäre nie ge-
lungen ohne ein Moment des Festen an dem Beherrschten, das sonst ohne
Unterlaß das Subjekt Lügen strafte. Jenes Moment skeptisch ganz abzu-
streiten und es einzig im Subjekt zu lokalisieren, ist nicht minder dessen
Hybris, als wenn es die Schemata begrifflicher Ordnung verabsolutiert.
Beide Male werden Subjekt und Objekt als bereits geronnene zum
gemacht".56
Nietzsches Verhältnis zur Dialektik ist kompliziert. Er selbst ver-
wendet das Wort im Sinn von „formaler Logik" oder „Rhetorik", und er
beurteilt die Dialektik verschieden. In seiner mittleren Phase, in der er der
Philosophie den Vorrang vor der Kunst einräumt, wird Dialektik als
„Fechtkunst des Gesprächs"57 und als „göttliche Kunst"58 gepriesen. In der
Spätphase wird sie zur „Pöbel-Rache"59 und „Advokatenkunst"60 degra-
diert. Wenn Alfred Schmidt meint: „Nietzsches Denkbewegung ist dialek-
tisch"61, so bedarf diese These einer Differenzierung. Der Satz stimmt, wenn
man Hegels Definition zugrunde legt: „Das Verständige bleibt bei den
Begriffen in ihrer festen Bestimmtheit und Unterschiedenheit von anderen
stehen; das Dialektische zeigt sie in ihrem Uebergehen und ihrer Auf-
lösung auf".62 Im so verstandenen Sinne ist auch Nietsche Dialektiker;
er ist es aber nicht in dem, was das Vehikel dieser „Auflösung" bei
Hegel und Marx betrifft: Nietzsches Denkbewegung wird nicht vom Gegen-
satz vorwärtsgetrieben. Hätte er Adorno lesen können, er wäre vermutlich
erstaunt gewesen, wie oft bei diesem etwas in sein Gegenteil umschlägt. Mit
maliziöser Harmlosigkeit hätte er fragen mögen: Warum muß eigentlich
immer alles in sein Gegenteil umschlagen? Warum nicht einmal quer oder
irgendwo daneben? Was legitimiert diese gravitätische Ordnungsliebe für
Antithesen? Gewiß: Sie sind Momente der Bewegung und Vermittlung und
werden als solche stets überwunden und aufgehoben, aber als unaufhörlich
arbeitende motorische Kraft drohen sie die Denkbewegung zu mediani-
56
Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, a. a. O. S. 27.
57
Friedrich Nietzsche: a. a. O. I, 1143.
58
Ebd. I, 1265.
59
Ebd. III, 760.
60
Ebd. II, 570.
61
Alfred Schmidt: Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, a. a. O.
S. 116.
62
Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Philosophische Propädeutik, in: Ders.: Sämtliche
Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hrsg. von Hermann Glockner, Bd. III,
Stuttgart 1927, S. 170.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 189
sieren, eine Konsequenz, vor der sich die kritische Theorie ansonsten wie vor
nichts anderem hütet. Nietzsche hält den Gegensatz für eine Konstruktion
des Verstandes: „Es gibt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her
haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von da aus fälschlich in die
Dinge übertragen".63 Adorno könnte hiergegen einwenden, daß Nietzsche
den Gegensatz als etwas Festes wiederum nur dem Subjekt zuschreibe und
nicht den Objekten und daß er somit selbst einen Gegensatz aufreiße, den
er vorher noch geleugnet hat. Dem wiederum muß folgendes entgegnet
werden: Nietzsche hält diesen Zustand der Trennung nicht für endgültig,
sondern für überwindenswert. Wie die Dinge sich nicht gegenseitig aus-
schließen, sondern ineinander übergehen, so soll audi im Denken nicht die
Antithese sondern das Prinzip des Gleitens herrschen. „Die allgemeine un-
genaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. ,warm
und kaltc), wo keine Gegensätze, sondern nur Grad Verschiedenheiten sind.
Diese schlechte Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere
Natur, die geistig-sittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und
zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaßung, Härte,
Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfindung hineinge-
kommen, dadurch, daß man Gegensätze an Stelle der Übergänge zu sehen
meinte".64 Nietzsche ist Dialektiker in dem Sinne Hegels, daß er die Be-
griffe in ihrem „Uebergehen und ihrer Auflösung" zeigt. Sein Erkenntnis-
verfahren ist dagegen nicht das Denken in Gegensätzen, sondern das des
Perspektivismus. Das Bestreben, ein intendiertes Phänomen in seiner Ge-
samtheit zu begreifen, scheitert und wird zurückgeworfen auf relative Ein-
zelaussagen, die als solche von jeweils anderen her anfechtbar werden.
Durch Wechsel der Perspektive erscheint das Phänomen in immer neuen Ab-
schattungen, die die bisherigen bestätigen oder ihnen widersprechen. Eine
solche perspektivische Betrachtungsweise relativiert zunächst die Einzel-
urteile, bewahrt sie jedoch zugleich vor einseitiger Verfestigung und hält
den Blick frei für die intendierte Totalität. Diese wird faktisch nicht er-
reicht, doch das perspektivische Erkennen tastet sich möglichst nahe an sie
heran. „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches
,Erkennenc; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen
lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache
einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser jBegriif' dieser Sache,
unsere ,Objektivitätc sein".65 Nicht antithetisches Denken, sondern erst der
Perspektivismus erfaßt die Übergänge, Berührungen und partiellen Kon-
gruenzen, die Zwischentöne, das Halb und Halb und die gemischten
Charaktere. Nietzsche hält den Perspektivismus für den mühsameren, aber
intellektuell redlicheren Weg.
Der Perspektivismus Nietzsches, in dem Habermas nur einen „Plura-
lismus von standortbezogenen Fiktionen" und eine „Mannigfaltigkeit prin-
zipiell beliebiger Aspekte"66 sehen kann, führt auch zum zweiten ent-
scheidenden Punkt, an dem die kritische Theorie Nietzsche widerspricht. Die
angeblich beliebige Austauschbarkeit von Perspektiven und Positionen ver-
hindert Nietzsches Einsicht in die umfassende Bedeutung der Gesellschaft.
Er hat sich — so Horkheimer — in seiner Nihilismus-Kritik geirrt, weil er
den Begriff unhistorisch gesehen und weil er verkannt habe, daß Nihilismus
„entweder von der Gesellschaft überhaupt oder gar nicht überwunden
wird".67 Wenn Nietzsche den umfassenden Zusammenhang, in dem alle
Perspektiven begründet liegen, nennen will, so verwendet er den Begriff,
oder besser gesagt, die Metapher „Leben". Sie will nicht biologistisdi miß-
verstanden werden, sondern zielt auf Totalität. Die kritische Theorie wirft
Nietzsche vor, daß er nicht die gesellschaftliche Totalität als den wahren
Grund gesehen habe. Nun ist aber schwerlich eine Erscheinung zu nennen,
die außerhalb dieser Totalität zu denken ist. Die Ursache dafür liegt in der
Allgemeinheit des Begriffs „gesellschaftliche Totalität". Trotz theoretischer
Berücksichtigung diffuser Kräfte, unbegrenzter und daher letztlich undurch-
schaubarer Motivationen und Intentionen suggeriert „gesellschaftliche Tota-
lität" so etwas wie einen universalen Zusammenhang. Daher ist auch oft
vom „gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang" die Rede, ohne daß ausge-
macht wäre, daß hier ein Zusammenhang waltet oder daß keiner besteht.
Ohne konkretere Auskünfte, die die kritische Theorie vorerst nicht gibt, er-
hält der Begriff der „gesellschaftlichen Totalität" — ähnlich wie das
„Leben" bei Nietzsche — eine mythosstiftende Funktion. Er verdankt seine
Wahrheit nur seiner Allgemeinheit. Hier ließe sich einwenden, daß „Gesell-
schaft" konkreter sei als „Leben" und daß für Nietzsche das „Leben" im
Sinne von „Sein" mehr sei als die „Gesellschaft"; das stimmt. Aber für die
kritische Theorie ist die „Gesellschaft" mehr als das „Leben". Ihrer Er-
kenntnistheorie zufolge umfaßt der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang
auch Leben, auch Natur, auch Sprechen von Gott usw.
Solange aber Gesellschaft so universalistisch gedacht wird, steht jeder,
der erkennen und handeln will, vor ihr wie vor einer Sphinx. Obwohl ge-
worden und gemacht, stellt sich die Gesellschaft dem Einzelnen als nicht
66
Jürgen Habermas: a.a.O. S. 151. Eine vertiefte Deutung der „Perspektivenlehre der
Affekte" versucht Habermas in seinem Nachwort zu: Friedrich Nietzsche: Erkenntnis-
theoretische Schriften. Frankfurt 1968, S. 237 flF.
67
Max Horkheimer: a. a. O. II, 68.
Nietzsche im Lichte der kritischen Theorie 191