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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Monographien und Texte


zur Nietzsche-Forschung

Begründet von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter


Heinz Wenzel

Herausgegeben von

Ernst Behler
Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel

Band 20

1988

Walter de Gruyter · Berlin · New York


Metaphysik, Kunst und Sprache
beim frühen Nietzsche

von

Thomas Böning

1988

Walter de Gruyter · Berlin · New York


Gedruckt mit Hilfe der Geschwister-Boehringer-Ingelheim-Stiftung
f ü r Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Anschriften der Herausgeber:

Prof. Dr. Ernst Behler


Comparative Literature G N - 3 2
University of Washington
Seattle, Washington 98195, U.S.A.

Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter


Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37

Prof. Dr. Heinz Wenzel


Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33

Redaktion

Johannes Neininger
Ithweg 5, D-1000 Berlin 37

CIP- Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Böning, T h o m a s :
Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche / von
Thomas Böning. — Berlin: de Gryter, 1988
(Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; Bd. 20)
ISBN 3-11-011463-1
NE: GT

D 25
©

Copyright 1988 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30


Printed in Germany
Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien
Mikrofilmen, vorbehalten.
Satz: Satz-Rechen-Zentrum, Berlin, D r u c k : H . Heenemann, Berlin 42
Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Für meine Eltern
in Liebe und Dankbarkeit
. . . imagine there's no heaven, above us only s k y . . .

Es giebt Gegner der Philosophie: und man thut wohl auf sie
zu hören, sonderlich wenn sie den erkrankten Köpfen der
Deutschen die Metaphysik widerrathen, ihnen aber
Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heiligung
durch die Musik, wie Richard Wagner predigen.
(Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragi-
schen Zeitalter der Griechen, KGW 3/2, S. 298)

Sei eine Platte von Gold — so werden sich die Dinge auf
dir in goldner Schrift einzeichnen.
(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente,
Herbst 1881, KGW 5/2, S. 517)

Ich bin zu voll: so vergesse ich mich selber, und alle Dinge
sind in mir, und nichts giebt es mehr als alle Dinge. W o bin
ich hin ?
(Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente,
November 1882-Februar 1883, KGW 7/1, S. 219)
Vorwort

In dieser Arbeit soll, wie ihr Titel sagt, Nietzsches frühe Auseinandersetzung
mit Metaphysik, Kunst und Sprache thematisiert werden, wobei sich die
zeitliche Bestimmung „ f r ü h " auf jene seit Lou Andreas-Salomes
Nietzsche-Buch 1 übliche Einteilung des Nietzscheschen Denkweges in drei
Phasen bezieht: terminus ante quem ist mithin 1876, das Jahr der Lösung
von Wagner und damit des Endes der sogenannten metaphysischen Periode
Nietzsches. Dabei legt die Arbeit ein besonderes Gewicht auf die
nachgelassenen Fragmente vom Herbst 1869 an, in denen Nietzsche seinen
eigenen philosophischen Ansatz auszubauen sucht, die in der Forschung
jedoch, mit einer einzigen löblichen, aber nicht zureichenden Ausnahme,
nämlich Karl Schlechtas und Anni Anders' Buch „Friedrich Nietzsche, Aus
den verborgenen Anfängen seines Philosophierens" (Stuttgart-Bad
Cannstatt 1962), bisher kaum Beachtung gefunden haben — was seinen
wesentlichen Grund wohl darin hat, daß sie erst in der neuen
Nietzsche-Edition von Giorgio Colli und Mazzino Montinari lückenlos
zugänglich gemacht worden sind.
Aus vier Gründen sind diese Fragmente von größter Bedeutung: Zum
ersten rücken sie, was schon Schlechta/Anders herausgestellt haben,
Nietzsches Entwicklung in ein neues Licht — so wird deutlich, daß zwischen
„ d e r sogenannten ,ersten Periode' Nietzsches — zwischen dem
Kulturkritiker und Wagnerenthusiasten — und dem späteren, dem
e i g e n t l i c h e n ' " , will sagen: dem antimetaphysischen Nietzsche „nur vom
veröffentlichten Werke h e r " ein „ B r u c h " 2 besteht. Zum zweiten werden bei
der Gegenüberstellung von „positivistischen" Fragmenten und „metaphysi-
schen" Werken Bezüge sichtbar, welche die herrschende Auffassung
widerlegen, daß zwischen ihnen ein unüberbrückbarer Gegensatz
vorhanden ist. D a s gilt, wie wir zeigen werden, vor allem für die „ G e b u r t der
T r a g ö d i e " , in der plötzlich Zeichen lesbar werden, die ganz im Sinne der
erkenntniskritischen Fragmente nicht nur verraten, daß diese metaphysische
Schrift nicht mehr als eine „ B e g r i f f s d i c h t u n g " ist, vielmehr auch begründen,
warum sie nur solches sein kann: Die Ausführungen über Dionysos und
Apoll können somit zum ersten Male auch als erkenntniskritischer
Gedankengang verstanden werden. Zum dritten erhält die Frage, warum
Nietzsche seiner antimetaphysischen Grundhaltung zum T r o t z die Idee
χ Vorwort

jenes Gegensatzpaares in das Schopenhauerisch-Wagnerische Begriffsge-


wand gekleidet hat (laut „Ecce homo" 3 ist „Eine ,Idee' — der Gegensatz
dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt" der Inhalt der
Schrift), erst von den Fragmenten her die nötige Schärfe. Und zum vierten
wird erst mit dem Einbezug der nachgelassenen Aufzeichnungen jener
unablässige, sich in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu immer
größerer Klarheit aufsteigernde Denkstrom namens Nietzsche ganz
sichtbar, zeigt sich deutlich, daß Nietzsches Philosophie auch in ihrer
„ F o r m " eine Philosophie des sich unablässig mit sich selbst auseinanderset-
zenden Werdens ist, so daß ihr der abgeschlossene Einheiten voraussetzende
Werkbegriff, der beim späteren Nietzsche ohnehin durch die aphoristische
Form unterhöhlt ist, nicht gerecht wird: In dieser Hinsichtnahme auf die —
von Nietzsche zum zentralen Thema seines Denkens erhobene —
Prozessualität stehen die von ihm nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen
Notizen und Schriften gleichberechtigt neben den publizierten Werken —
die wichtigste Rechtfertigung für unseren Entschluß, sie in die Darstellung
mit einzubeziehen.
Daß nur derjenige, der weiß, woher jemand kommt, auch weiß, wohin er
geht, daß mithin die bisher unterbliebene Auseinandersetzung mit dem
frühen Nietzsche unumgänglich ist, wenn man sein Denken zureichend
verstehen will, das werden wir vor allem an den Arbeiten von Martin
Heidegger und Eugen Fink aufzuzeigen suchen, die nicht zuletzt auch
deshalb zu „Fehl"interpretationen des Nietzscheschen Denkens kommen,
weil sie sich entweder ausschließlich dem Nachlaß der Achtzigerjahre als der
„eigentlichen Philosophie" Nietzsches oder allenfalls noch den frühen
„Werken" widmen, die frühen Fragmente aber gänzlich außer acht lassen.
Weil aber umgekehrt auch nur derjenige, der im Blick hat, wohin jemand
geht, auch einzuschätzen vermag, woher er kommt, darum müssen wir in
unseren Ausführungen immer wieder auch Bezug auf spätere Texte
Nietzsches nehmen, ohne daß wir deswegen doch gleich den Anspruch
erheben könnten, den ganzen Nietzsche unter der leitenden Fragestellung
nach Metaphysik, Kunst und Sprache behandelt zu haben — dafür bleibt die
Behandlung der späteren Abschnitte seines Denkweges zu marginal.
Die Arbeit ist in drei Großkapitel eingeteilt.
Im ersten Kapitel „Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" sollen zum einen die geschichtlichen Vorausset-
zungen der Nietzscheschen Philosophie, zum anderen das Voraussetzen als
die von Nietzsche vornehmlich in der ausführlich interpretierten Schrift
„Ueber Wahrheit und L ü g e " herausgestellte Bedingung der Möglichkeit
jedweder Erkenntnis aufgewiesen werden — indem dabei gezeigt wird, daß
für Nietzsche der menschliche Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat
Vorwort XI

ein Kunstapparat ist, wird zudem die innere Einheit der im Thema der
Arbeit genannten Bereiche Metaphysik, Kunst und Sprache offenbar
gemacht — und damit insgesamt die Voraussetzungen geschaffen werden
für eine extensive Interpretation sowie für eine Er-läuterung von Nietzsches
philosophischer Erstlingsschrift, die im 2. Kapitel erfolgen sollen.
Es wird nämlich gezeigt, daß sich Nietzsche mit seinen Versuchen, die
Welt auf ihre Gründe hin festzustellen, seiner antimetaphysischen
Grundhaltung zum Trotz in den Bahnen der überlieferten Metaphysik
bewegt. „Physisch" im Sinne des Zarathustra-Wortes „Bleibt der Erde
treu!" kann nämlich in unseren Augen nur ein solches Denken genannt
werden, das es unterläßt, die Physis auf einen in oder hinter ihr verborgenen,
eigentlich wahren oder auch nur „wahreren" Grund als den Grund ihres
Erscheinens zurückzuführen und zu reduzieren. Denn diese überkommene
Denkverhaltung tut den Phänomenen in der Weise Gewalt an, daß sie —
gemäß einer vorausgesetzten Identität von Denken und Sein, die auch
Nietzsche nur abwandelt, nämlich zum Schein-Gefüge „umdreht" — als ihr
„Wesen" letzlich doch nur solches zuläßt, wodurch sie im Sein oder im
Erscheinen ermöglicht werden. D. h. nur solches, was für das Denken
feststellbar, was seinen „Berechnungen" zugänglich ist — Grund heißt lat.
ratio, was von reri „rechnen", auch „meinen, glauben, dafürhalten" kommt
—, was die Phänomene dem animal rationale verfügbar macht: allein das
zählt, philosophisch gesehen. Doch die Rechnung geht nicht auf. In die-
ser ausschließlichen Hinsichtnahme auf das Begründbare werden die
Phänomene als das nichtig gesetzt, als was sie zuhöchst viele Dichter
erfahren, als ab-gründiger, weil unausdenkbarer atmosphärischer Bezug, als
den Menschen umstimmender Belang, der reicher ist als jenes Festgestellte
des Gegen-Standes, den der Philosoph allein (aner)kennt. Paradigmatisch
wird dieser Widerstreit zwischen verklärendem Dichten und begründendem
Denken aufgezeigt an einer Gegenüberstellung von einem frühen Gedicht
Goethes und einer Passage der 2. Meditation des Descartes.
Auch Nietzsche geht, wie wir an mehreren Aufzeichnungen aufweisen
werden, von der „dichterischen" Welterfahrung aus, ohne daß er ihr jedoch
denkerisch entsprechen könnte, weil er nämlich in seinen Anfängen
bedenkenlos den neuzeitlich-subjektivistischen Ansatz übernimmt, demzu-
folge der Mensch es ist, der das ihm Entgegenstehende, den Gegenstand,
schafft.
Wenn es aber so mit Nietzsches Denken steht, daß es sich in dieser Weise
am Scheideweg von Metaphysik — das Wort verstanden in dem von uns
entfalteten Sinne des Begriffs — und „Physik" befindet, es bezwungen von
der Übermacht der Tradition der selbstgewiesenen Aufgabe, der Erde treu
zu bleiben, nicht nachzukommen vermag, dann hat eine eingehende
XII Vorwort

Interpretation, sofern sie den Anspruch erheben will, Erläuterung zu sein,


dieses Denken an allen den Stellen, w o es ihr möglich erscheint, zumindest
versuchsweise von jenem Ü b e r k o m m e n e n zu läutern. Eine solche mit
Nietzsches entfalteter Philosophie in ein streithaftes Gespräch, will sagen: in
eine Aus-einander-setzung eintretende Interpretation soll im 2. Großkapitel
„ U b e r s e t z u n g e n : Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik"
versucht werden. Ihr T h e m a ist Nietzsches „ I d e e " vom Gegensatz des
Dionysischen und Apollinischen und sein Grundbegriff des Rausches, die
aus dem Metaphysischen ins Physische übersetzt werden sollen.
Das letzte Kapitel „Absetzungen: Richard W a g n e r in Bayreuth — Ein
Ausblick" wird zunächst noch einmal die Antworten auf die Frage bündeln,
w a r u m sich Nietzsche in der ersten Phase seines Denkens in den Dienst des
metaphysischen (das W o r t in seinem Sinne verstanden) Kunstwerkes der
Z u k u n f t gestellt hat, obwohl er schon im Winter 1867/68 den denkerischen
Ansatz Schopenhauers hinter sich gelassen hatte, um sich dann der Frage
z u z u w e n d e n , w a r u m es z u r Absetzung von W a g n e r und schließlich zum
Bruch mit ihm gekommen ist.
Z u m Schluß möchte ich noch einige W o r t e des Dankes aussprechen:
Meinem Doktorvater, H e r r n Prof. Dr. Gerhard Kaiser, dem ich f ü r sehr viel
mehr als seine immerwährende Gesprächsbereitschaft zu danken habe,
Bettina Schulte f ü r ihr alltägliches G e h ö r und die zahlreichen fruchtbaren
Streitgespräche, der Studien-Stiftung des deutschen Volkes f ü r die
G e w ä h r u n g eines Promotions-Stipendiums, dem Deutschen Klassiker
Verlag, der von seinen eigenen Interessen abgesehen hat, um mir die
Fertigstellung dieser Arbeit zu ermöglichen, sowie dem Rat der Stiftung
„ N i e t z s c h e - H a u s in Sils-Maria", vor allem H e r r n Prof. Dr. Peter Andre
Bloch und Frau Annegreth Hediger, denen ich den Aufenthalt in diesem
H a u s e verdanke: ohne die pollenfreie Luft und den Zuspruch dieser
Landschaft hätte ich die letzten beiden Abschnitte bzw. Kapitel dieser Arbeit
nicht schreiben können.

Sils-Maria, Pfingsten 1986.

D a f ü r , daß diese Arbeit im Rahmen der Nietzsche-Monographien des


Verlages Walter de Gruyter erscheinen darf, möchte ich H e r r n Prof. D r .
H e i n z Wenzel und H e r r n Prof. Dr. W o l f g a n g Müller-Lauter meinen ganz
herzlichen D a n k aussprechen.

St. Peter, R o h r e r h o f , Weihnachten 1987.


Inhalt

Vorwort IX

Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen


Sinne 1

1. Nietzsches Destruktion der Metaphysik: Schopenhauer und das


Ding an sich und die Frage nach der Wahrheit 1
2. Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 . 13
3. Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873: Das Werden als Fluß der
bloßen Empfindung in der Zeit 22
4. Zum ersten Male: Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie
und Kunst — Der Begriff der Intuition 39
5. „Schmerz ist der Grundton der Natur": Das reine Werden aus dem
Geiste der Musik und das Parmenideische Erbe der Sinnenfeind-
schaft 50
6. „Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der
Metaphysik und der Widerstreit zwischen begründendem Denken
und abgründigem Dichten — Zur Notwendigkeit einer Er-läute-
rung des Nietzscheschen Denkens 63
7. Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von
Nietzsches Philosophie der maskenhaften Metamorphosen . . . 70
8. „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni
1873) 101
9. „Nothwendige Widersprüche im Denken um leben zu können":
Das polemische Denken des Werdens 117
10. Der letzte Philosoph 122
11. „Was fruchtbar ist, allein ist wahr" — Erneut: Schopenhauer,
sowie zum zweiten Male: Das Verhältnis von Philosophie,
Wissenschaft und Kunst 130
12. „Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen
metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu fördern.": Der Genius . . . 1 5 2
13. „Wahrheits-Pathos in einer Lügenwelt.": Kultur-Leben als
Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 166
XIV Inhaltsverzeichnis

14. „Schaffen steht höher als Erkennen": Nietzsches Kunst-Philoso-


phie 185

Ubersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik . 208

1. „Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der


sich musikalisch behandeln läßt": Das methodische Gepräge der
„Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" 208
2. Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll . 212
3. „Die Geburt der Tragödie" gelesen am physiologischen Leitfaden
der Fragmente: Wahr-Schein, Kunst, Sprache und Wissenschaft . 223
4. „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und
die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t : — " Noch einmal: Der
Weltstreit von Dionysos und Apoll 242
5. Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 251
6. Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der
„Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" 261

Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 322

Anhang 337

Zur Zitierweise/Siglenverzeichnis 339


Anmerkungen zum Vorwort 342
Anmerkungen zum Abschnitt „Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und
Lüge im aussermoralischen Sinne" 342
Anmerkungen zum Abschnitt „Übersetzungen: Die Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik" 469
Anmerkungen zum Abschnitt „Absetzungen: Richard Wagner in
Bayreuth — Ein Ausblick" 489
Literaturverzeichnis 492
Personenregister 501
Sachregister 505
Voraussetzungen: Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne

1. Nietzsches Destruktion der Metaphysik: Schopenhauer und das Ding an sich


und die Frage nach der Wahrheit

Ende Oktober/Anfang November 1865 liest der damals einundzwanzig-


jährige Student der Altphilologie Friedrich Nietzsche zum ersten Male
Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" 1 . Es wird
für ihn, mit Martin Heidegger zu sprechen 2 , „zur eigentlichen ,Quelle' der
Prägung und Richtung seiner Gedanken". In Schopenhauers Metaphysik,
die sich auf — indes in verflachender Weise gedeutete — Elemente der
Platonischen und Kantischen Philosophie stützt, finden „die Grunderfah-
rungen des erwachenden Denkers [ . . . ] die ersten und unumgänglichen
Stützen" 3 .
Für Schopenhauer bilden die reinen Formen der Sinnlichkeit, Raum und
Zeit, das „principium individuationis", das die Zerteilung des Seienden in
die Vereinzelung hervorruft und im Zusammenwirken mit der seiner
Meinung nach einzig wahren der Kantischen Verstandes-Kategorien, der
Kategorie der Kausalität, die Vorstellungen der objektiven Welt erzeugt. In
der Vielheit dieser Welt, deren ewige Formen die über Zeit und Raum
erhabenen Platonischen Ideen bilden, 4 erscheint verschleiert die absolute
Einheit des Dinges an sich, welches Schopenhauer — über Kant
hinausgehend — als Wille bestimmt. „Die Welt als Wille und Vorstellung"
— dieser Titel faßt formelhaft den Grundansatz der Schopenhauerschen
Philosophie, die sich als Metaphysik im traditionellen Sinne des Begriffes
versteht, nämlich als „Erkenntnis, welche über die Möglichkeit der
Erfahrung, also über die Natur oder die gegebene Erscheinung der Dinge
hinausgeht, um Aufschluß zu erteilen über das, wodurch jene in einem oder
dem andern Sinne bedingt wäre" 5 .
In einer einigermaßen geschlossenen Notizsammlung „Zu Schopenhau-
er" (BAW 3, 352—361)6, die aus der Zeit Herbst 1867—Frühjahr 1868
stammt und uns die ausführlichste kritische Stellungnahme des jungen
Nietzsche zu diesem metaphysischen Ansatz Schopenhauers gibt, formuliert
Nietzsche „als den Inbegriff des Sch. Syst(ems)" (354) darum den Satz:
„Der grundlose erkenntnißlose Wille offenbart sich, unter einen Vorstel-
2 Voraussetzungen

lungsapparat gebracht, als Welt." (353) Von vier Seiten aus meint er
„erfolgreiche Angriffe" gegen diesen Satz vortragen zu können:
1. Bereits bei Kant sei der Begriff „Ding an sich" „um mit Überweg zu
reden ,nur eine versteckte Kategorie'" 7 (354).
2. Gebe man gleichwohl die Berechtigung des Begriffes „Ding an sich"
zu, so sei dasjenige, was Schopenhauer an die Stelle des Kantischen χ setze,
nämlich der Wille, „nur mit Hülfe einer poetischen Intuition erzeugt,
während die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer noch uns
genügen können."
3. Die Prädikate, welche Schopenhauer dem Willen zuspricht —
Nietzsche nennt später u. a. Einheit, Ewigkeit (d. h. Zeitlosigkeit), Freiheit
(d. h. Grundlosigkeit) —, lauteten für etwas schlechthin Undenkbares viel zu
bestimmt und seien durchweg aus dem Gegensatz zur Vorstellungswelt
gewonnen: während zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung nicht
einmal der Begriff des Gegensatzes eine Bedeutung habe. Schopenhauer
scheitere letztlich, so führt Nietzsche an anderer Stelle der Notizsammlung
aus, an den „Grenzen der Individuation" (356), insofern er verlangen
müsse, „daß etwas, was nie Objekt sein kann [das Ding an sich, der Wille],
dennoch objektiv gedacht werden soll" (357).
4. Die dreifach „potenzirte Möglichkeit" (354), daß es ein Ding an sich
gebe, da „auf dem Gebiete der Transscendenz eben alles m ö g l i c h ist"
(354/355), daß dieses mögliche Ding an sich der Wille sein könne und „daß
selbst die Prädikate des Willens, die Schopenhauer annahm ihm zukommen
können: eben weil zwischen Ding an sich und Erscheinung ein Gegensatz
zwar unerweislich ist, aber doch gedacht werden kann", diese Möglichkeit
bedeute für „jedes sittliche Denken" 8 (355) eine Unmöglichkeit. Gebe man
indes auch dann noch zu, „daß der Denker vor dem Räthsel der Welt
stehend eben kein anderes Mittel hat als zu rathen dh. in der H o f f n u n g , daß
ein genialer Moment ihm das W o r t auf die Lippen legt, das den Schlüssel zu
jener vor all(er) Augen liegenden und doch ungelesnen Schrift bietet, die wir
Welt nennen" 9 , so müsse dann jedoch gegen Schopenhauer eingewendet
werden, daß sich die Welt nicht so bequem in sein System einspannen lasse,
als er in der ersten Finderbegeisterung gehofft habe.
Erneut sucht Nietzsche das principium individuationis als die
Achillesferse von Schopenhauers Ansatz zu erweisen, wenn er weiter fragt:
„ D e r Wille erscheint; wie konnte er erscheinen? Oder anders gefragt: woher
der Vorstellungsapparat, in dem der Wille erscheint? Schopenhauer
antwortet mit einer ihm eigenthümlichen Wendung, indem er den Intellekt
als die μ η χ α ν ή des Willens bezeichnet" (358). Dies aber bedeute, setzt
Nietzsche auseinander, daß wir das Gesetz der Kausalität schon vor dem
Erscheinen des Intellekts als wirksam annehmen müssen, was den Prämissen
Nietzsches Destruktion der Metaphysik 3

des Systems widerspricht, denen zufolge das erkennende Subjekt Träger der
Welt der Erscheinungen ist. Anders gesagt:
aus einer nicht existierenden W e l t soll plötzlich und unvermittelt die Blume
der Erkenntniß hervorbrechen. Dies s o l l zugleich in einer Sphaere der
Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit geschehen sein, ohne Vermittlung der
Causalität: was aber aus einer solchen entweltlichten Welt stammt, muß
selbst — nach den Schopenhauerschen Sätzen — Ding an sich sein [ . . . ]
Das Schopenh. Ding an sich w ü r d e also zugleich princ. indiv. sein und
G r u n d der Necessitation sein: mit andern W o r t e n : die v o r h a n d e n e Welt.
Sch. wollte das χ einer Gleichung finden: und es ergiebt sich aus seiner
R e c h n u n g daß es = x ist dh. daß er es nicht g e f u n d e n hat. (360) 10
Wie sich aber diese Kritik mit seiner fortgesetzten Schopenhauer-Vereh-
rung vertragen kann, das geht aus einem Brief an seinen Freund Carl von
Gersdorff von Ende August 186611 hervor, in dem Nietzsche Kunde gibt von
seiner ersten Begegnung mit einem für seine weitere Entwicklung höchst
bedeutsamen Buch von Friedrich Albert Lange 12 :
Schließlich soll auch Schopenhauer noch erwähnt werden, an dem ich noch
mit vollster Sympathie hänge. W a s wir an ihm haben, hat mir kürzlich erst
eine andere Schrift recht deutlich gemacht, die in ihrer Art vortrefflich und
sehr belehrend ist: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner
Bedeutung f ü r die G e g e n w a r t von Fr. A. Lange. 1866. W i r haben hier einen
höchst aufgeklärten Kantianer und N a t u r f o r s c h e r vor uns. Sein Resultat ist
in folgenden drei Sätzen z u s a m m e n g e f a ß t :
1) die Sinnenwelt ist das P r o d u k t unsrer Organisation.
2) unsre sichtbaren (körperlichen) O r g a n e sind gleich allen andern
Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes.
3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt,
wie die wirklichen Außendinge. W i r haben stets nur das P r o d u k t von
beiden vor uns. 13
Also das w a h r e Wesen der Dinge, das D i n g an sich, ist uns nicht nur
unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht
weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten
Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer E r f a h r u n g
irgend eine Bedeutung hat 14 .
Mit diesem letzten Resultat, das, worauf wir bereits oben hingewiesen haben
(siehe Anmerkung 7), in Nietzsches Kritik der Schopenhauerschen
Philosophie eingegangen ist (Punkt 1), weist Lange die Möglichkeit
rationaler metaphysischer Erkenntnis nicht allein im Sinne Kants zurück,
wonach die Grenzen empirischer Erkenntnisfähigkeit auf keine Weise —
auch nicht durch intuitive Selbsterkenntnis des Selbstbewußtseins, wie
Schopenhauer anfangs vermeinte — überstiegen werden können, vielmehr
stellt er darüber hinaus auch noch den Erkenntnisanspruch des Begriffes in
Frage, auf den sich die Metaphysik nach Kant gründen zu können glaubte,
nämlich den Begriff des „wahren Wesens der Dinge", des „Dinges an sich":
Auch er rechnet zu der vom Menschen erzeugten Welt der Erscheinungen,
4 Voraussetzungen

bezeichnet d e m z u f o l g e nicht, wie es den Anschein hat, ein An-Sich, sondern


ein F ü r - U n s , ist d e m z u f o l g e gleichfalls Faktum, Y o r a u s - s e t z u n g des
menschlichen Erkenntnisvermögens, im Hinblick auf welche sich dieses die
W e l t vorstellt. N u r von solchen Vorstellungen oder Erscheinungen wisse, so
Lange, der Mensch. Nietzsche f ä h r t f o r t :
Folglich, meint Lange, lasse man die Philosophen frei, vorausgesetzt, daß
sie uns hinfüro erbauen. Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der
Begriffe. Wer will einen Satz von Beethoven widerlegen, und wer will
Raphaels Madonna eines Irrthums zeihen? —15
Du siehst, selbst bei diesem strengsten kritischen Standpunkte bleibt
uns unser Schopenhauer, ja er wird uns fast noch mehr. Wenn die
Philosophie Kunst ist, dann mag auch Haym 16 sich vor Schopenhauer
verkriechen; wenn die Philosophie erbauen soll, dann kenne ich wenigstens
keinen Philosophen, der mehr erbaut als unser Schopenhauer.
Philosophie, wie Nietzsche sie hier versteht, als Versuch, das „ w a h r e W e s e n
der D i n g e " zu bestimmen, d. h. als Metaphysik, n i m m t somit — „ e r b a u e n "
spricht da eindeutig — den Platz Lebenshalt g e w ä h r e n d e r theologischer
W e l t d e u t u n g ein. Zugleich jedoch ist sie als K u n s t zu betrachten.
Solches reflektiert auch ein Brief an Paul Deussen von E n d e
A p r i l / A n f a n g Mai 1868 17 . Nietzsche f ü h r t d o r t aus: Die Einsicht in die
G r e n z e n des menschlichen Erkenntnisvermögens, welche ihm aus der
Kenntnis „ d e r einschlägigen U n t e r s u c h u n g e n , vornehmlich der physiologi-
schen seit K a n t " 1 8 erwachsen sei, lasse n u r den einen Schluß z u :
Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der „absoluten" Wahrheit ist
unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer
etwas wissen will, begnügt sich jetzt mit einer bewußten Relativität des
Wissens — wie ζ. B. alle namhaften Naturforscher. Metaphysik gehört also
bei einigen Menschen ins Gebiet der Gemüthsbedürfnisse, ist wesentlich
Erbauung: andernseits ist sie Kunst, nämlich die der Begriffsdichtung;
festzuhalten aber ist, daß Metaphysik weder als Religion noch als Kunst
etwas mit dem sogenannten „An sich Wahren oder Seienden" zu thun hat.
Die „ a b s o l u t e " W a h r h e i t , d. h. die W a h r h e i t „ a n sich", ist dem Menschen
unerreichbar, alle W a h r h e i t ist W a h r h e i t „ f ü r i h n " — welche Relativität f ü r
die metaphysischen Bestimmungsversuche des „ A n - S i c h " in Nietzsches (und
in Langes) A u g e n die Möglichkeit schöpferischer Freiheit bedeutet. 1 9 V o n
ihnen ist keine wissenschaftliche „ E r g r ü n d u n g " , vielmehr eine dichterische
D e u t u n g der W e l t zu erwarten, die wie jene nicht „ a n sich", sondern „ f ü r
j e m a n d e n " „ w a h r " ist. Ebenfalls an Deussen schreibt er E n d e
O k t o b e r / A n f a n g N o v e m b e r 1867:
Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins
Ohr: „Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik
geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis,
Du in jenem. Laß mir doch meine eigne Nase, wie ich Dir die Deinige nicht
nehmen werde." 20
Nietzsches Destruktion der Metaphysik 5

Seine eigene logische Widerlegung der Schopenhauerschen Philosophie


hatte, so haben wir nun zu interpretieren, nicht die Aufgabe, dieselbe
vollkommen zu verwerfen, 21 sondern sie als aus dem Bereich erwachsen zu
erweisen, dem Nietzsche die größte Fruchtbarkeit für das Leben (dazu im
folgenden) zuspricht, dem Bereich der Kunst und ihres Wahrheitsbegrif-
fes. 22 Nietzsches Feststellung, daß Schopenhauer die Bestimmung des
Dinges an sich als Wille „nur mit Hülfe einer poetischen Intuition erzeugt"
habe, „während die versuchten logischen Beweise weder Schopenhauer
noch uns genügen können" 2 3 , kann daher nur so lange als Vorwurf
verstanden werden, wie nicht bedacht wird, daß logische Argumentationen
im Bereich der Metaphysik für Nietzsche sinnlos sind; implizieren sie doch
das Kriterium der Gewißheit, das nur im Bereich der Erscheinungen
Gültigkeit besitzt (wenn auch dort, wie wir sehen werden, nur unter
gewissen Voraus-setzungen). Vielmehr sucht Nietzsche mit seiner logischen
Argumentationsweise Schopenhauers Abfall von den eigenen erkenntnis-
theoretischen Voraussetzungen — welche, wie Nietzsche vermeint,
diejenigen Kants sind — gleichsam rückgängig zu machen, um ihn fürderhin
vor solchen Angriffen zu schützen. In der „Geburt der Tragödie" führt er in
diesem Sinne über Kant und Schopenhauer aus: Sie hätten,
mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft
selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des
Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der
Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend
zu leugnen: bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstel-
lung als solche erkannt wurde, welche, an der H a n d der Causalität, sich
anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. 24
Wenn Schopenhauer meint, einen W e g gefunden zu haben, auf dem er der
Wirksamkeit der Kategorie der Kausalität zu entgehen und darum das
innerste Wesen der Dinge zu bestimmen vermag, so erweist Nietzsche diese
Ansicht als illusionär und führt Schopenhauer zu der Erkenntnis seines
Meisters Kant von der Allwirksamkeit der Verstandeskategorien zurück.
Doch geht Nietzsche, sich Lange anschließend, in der erkenntnistheoreti-
schen Resignation auch noch über Kant in der Hinsicht hinaus, daß er den
Erkenntniswert des Begriffes „ D i n g an sich" in Zweifel zieht, von dem doch
auch seine eigene Erkenntniskritik ausgeht.
Dieser Begriff, an dem sich die nachkantische Diskussion immer wieder
entzündet hat, weil er den Quell aller vermeintlichen Widersprüche des
Kantischen Systems bildet, ist für Kant selbst ein problembehafteter
Limes-Begriff 25 . Er soll seiner Annahme einer übersinnlichen und
übererfahrungsmäßigen Welt Rechnung tragen, welche — 1. Problem —
wohl praktisch mit dem sittlichen Bewußtsein begründet werden kann,
theoretisch jedoch nur als Möglichkeit zu deduzieren, nicht aber zu
6 Voraussetzungen

beweisen ist. Diese Argumentation geht davon aus, daß der Mensch, der nur
eine sinnlich-rezeptive Anschauung besitzt, anders als Gott mit seiner
intellektuellen Anschauung auf Gebung von Zu-Erkennendem angewiesen
ist. Und dieses der Erkenntnis gegebene unbekannte X wird nun dadurch
zum Begriff „Ding an sich" — 2. Problem —, daß die synthetische
Funktion, die das gemeinsame Wesen der nur in anschaulicher Vermittlung
f ü r die Welt der Erfahrung geltenden Kategorien ausmacht, selber zu einem
außerhalb der Vorstellung Bestehenden hypostasiert wird.
Aus dem Wissen um diese Genesis des Begriffes „Ding an sich"
erwächst, wie wir gesehen haben, Nietzsches Zweifel an der Berechtigung
desselben, der — was Nietzsche selber jedoch erst Jahre später erkennt,
wenn ihm nämlich die metaphysischen, sprich: die theologischen
Implikationen dieses Begriffes noch deutlicher bewußt werden — um so
größer sein kann, als er sich schon lange von der Vorstellung einer
übersinnlichen Welt gelöst hat. (Daß er sich lösen mußte, daß er in der T a t
ein echtes und tiefes Gotteserlebnis gehabt hat — allein das kann die
Bedeutung erklären, die „ G o t t " für seinen gesamten Denkweg gehabt hat
—, das bezeugt eine kleine Notiz vom Frühling-Sommer 1878: „Als Kind
Gott im Glänze gesehn." 26 )
Beredtes Zeugnis für diese Loslösung ist uns eine seinen Freunden
Gustav Krug und Wilhelm Pinder zugedachte, fragmentarisch überlieferte
Aufzeichnung vom 27. 3. 1862 27 :
Daß Gott Mensch geworden ist, weist nur darauf hin, daß der Mensch
nicht im Unendlichen seine Seligkeit suchen soll, sondern auf der Erde
seinen Himmel gründe; der Wahn einer überirdischen Welt hatte die
Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen Welt gebracht: er
war das Erzeugniß einer Kindheit der Völker. [ . . . ] Unter schweren
Zweifeln und Kämpfen wird die Menschheit männlich: sie erkennt in sich
„den Anfang, die Mitte, das Ende der Religion."
Bereits in dieser frühen, vom Einfluß Feuerbachs kündenden Aufzeichnung
— das Zitat stammt aus Feuerbachs „ D a s Wesen des Christentums" 2 8 —
zeigt sich die diesseitige oder antimetaphysische Grundstellung des
Nietzscheschen Denkens, das schließlich — in der „Götzen-Dämmerung" 2 9
— in der Abschaffung der, Nietzsche zufolge, im Begriff des „Dinges an
sich" implizierten Unterscheidung von „ w a h r e r " und „scheinbarer" Welt
kulminieren wird. Mit der Aufgabe dieser Unterscheidung zieht Nietzsche
nach 22 Jahren die letzte, immer wieder hinausgeschobene Konsequenz aus
seinem frühen, von Lange genährten Zweifel an der Berechtigung jenes
Begriffes, ohne daß er indes noch Gelegenheit gehabt hätte, diesen neuen
Ansatz auszuarbeiten. Jener Zweifel bezieht sich, wie gesehen, eben darauf,
daß auch dieser Begriff eines „Außerhalb" unserer Vorstellung doch noch
Vorstellung ist und damit innerhalb der „durch den Bau des Gehirns
Nietzsches Destruktion der Metaphysik 7

bestimmten Grenzen" 3 0 verbleibt, das „ D i n g an sich" ein „ D i n g für u n s "


und es somit fraglich ist, ob es den Gegensatz von Innen und Außen, von
Wesen und Erscheinung an sich gibt — wiewohl, und das ist das Paradox,
dieser extreme Relativismus — das „ a n sich" in dieser Formulierung belegt
es — gerade aus jenem Gegensatz hervorgeht, dieser Gegensatz sich somit
gleichsam sich selbst entgegensetzt und d. h. relativiert wird. Indem aber das
„ D i n g an sich" sich selber abschafft, kommt zugleich das Bestreben auf, das
Innen der Welt als reines „ I n n e n " — ohne die Entgegensetzung zu einem
Außen — zu denken; ein Bestreben indes, das sich sogleich der
Schwierigkeit gegenübersieht, daß alle Begriffe unserer Sprache Oppositio-
nen voraussetzen und damit den Unterschied zwischen „physischer" und
metaphysischer Welt supponieren.
Am Beginn dieses Denkweges steht eine erkenntnistheoretische
Reflexion, die sich in einem „ N a p o l e o n III als Praesident" betitelten
„Germania"-Vortrag vom Herbst 1867 findet. 31 Nietzsche spricht hier den
„allgemeinen Grundsatz" aus, daß
alles, was dem Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt
seiner geistigen Begabung aufgefaßt werden kann. S o ist alles für den
Menschen eigentlich nur Schein; etwas natürlich muß Wahrheit sein; die
Erkenntniß dessen ist für uns nur Wahrscheinlichkeit. 3 2
Etwas tritt dem Menschen entgegen, ist ihm gegeben, doch er vermag es nur
unter einem vorausgesetzten Gesichtspunkt zu erfassen. Ein Gesichtspunkt
eröffnet ein Gesichtsfeld, indem er zum ersten dem Sehen eine Ansicht,
einen Aspekt des Ganzen vorlegt, zum zweiten ihm durch eine anfängliche
Bestimmung seines Wohin eine perspektivische Leitung auferlegt und zum
dritten das Gesehene auf sich selbst zurücksammelt. Dieses Feld ist
horizonthaft: eine Fülle von möglichen Aspekten des Wahrzunehmenden
bleibt ausgegrenzt, damit unaufgehellt. Und diese Grenze vermag der Blick
nur zu verschieben und zu erweitern, niemals aber zu überschreiten. Immer
bestimmt und sondert das Sehen so, daß es im Hinblicken auf etwas von
allem anderen absieht: indem es zeigt, verhüllt es. In dieser Weise wird seit
der Neuzeit, vollends seit Leibniz, der menschliche Logos als im subjektiven
Gesichtspunkt gegründete perspektivisch-horizonthafte Re-präsentation
gedacht.
Jener Gesichtspunkt nun ist für Nietzsche derjenige der geistigen
Begabung des Menschen. Darunter sind nicht nur überindividuelle, kantisch
gesprochen: gegenstandskonstitutive Funktionen, wie die reinen Formen der
Anschauung und des Verstandes, zu verstehen, sondern auch individuelle
Mitgiften, wie Vorwissen, Empfänglichkeit, Gestimmtheit etc., mithin die in
Kants Augen besonderen und d. h. zufälligen Wahrnehmungsweisen der
sinnlichen Qualitäten. Im Lichte des von dieser geistigen Begabung des
8 Voraussetzungen

Menschen eröffneten Gesichtsfeldes zeigt sich aber das dem Menschen


Entgegentretende nur im Schein der Erscheinung. Doch ist dieser, wie die
Aufzeichnung sagt, kein bloßer Schein, vielmehr Schein der Wahrheit „an
sich" für uns, er ist Wahr-Schein. Das W o r t „wahrscheinlich", das im 17.
Jahrhundert aufkam, geht vermittelt über sein Vorbild, das niederländische
Adjektiv waarschijnlijk, auf das lateinische „verisimilis" zurück, das aus
verus „ w a h r " und similis „ähnlich" zusammengesetzt ist. ,Die Erkenntnis
des Wahren ist für uns Wahrscheinlichkeit' will also sagen: Menschliche
Erkenntnis vermag sich der Wahrheit an sich nicht derart anzugleichen, daß
Ubereinstimmung zwischen Wahrheit an sich und Erkenntnis, d. h.
Wahrheit für uns besteht, vielmehr ist der menschlichen Erkenntnis nur die
Möglichkeit eines in seinem Grad ungewiß bleibenden „Anähnelns"
gegeben. Insofern das in das Gesichtsfeld Hineingestellte nur aspekthaft
erscheint, kann es sich allenfalls ausschnitthaft so zeigen, wie es an sich selbst
ist. Damit wird, so können wir Nietzsche interpretieren, der Schein der
Erscheinung des Objektes so wesentlich vom Gesichtspunkt des Subjektes
bestimmt, daß „Erscheinung" eine anteilmäßig unbestimmbare Gemengela-
ge aus „lucere" und „videtur" ist: weder ist sie bloßer Anschein, noch reiner,
vollkommener Aufschein der Wahrheit, d. h. Wesensschein.
Unsere Erkenntnis (zu der auch der Begriff „Ding an sich" rechnet) ist
nur Wahr-Schein — bei diesem privativen „ n u r " bleibt Nietzsche jedoch,
anders als Lange, 33 nicht stehen, er verkehrt es in sein Gegenteil: Wenn die
Tatsache, daß menschliche Erkenntnis Wahr-Schein und keine Wahrheit
erlangt, Ausdruck davon ist, daß diese kein Passivum, auf dem sich die
Dinge gleichsam durch ihre eigene Tätigkeit abkonterfeien, sondern
schöpferisches Aktivum ist, dann kann der Schein, in den die Wahrheit
getaucht wird, vielleicht nicht nur als Beraubung, sondern im Gegenteil
gerade als künstlerische Bereicherung derselben begriffen werden. Das aber
hieße, daß bereits der Erkenntnisapparat kunstschaffend ist.
Der Schein der Wahrheit wäre dann der Raum, in dem das ,dichtende
Wesen der Erkenntnis' 34 spielt — doch nicht nur darum ist diese vielleicht
bestrebt, den Schein zu wahren, vielmehr auch deswegen, weil die Wahrheit
an sich ihrer, d. h. des menschlichen Geistes unwürdig ist. Davon spricht eine
Aufzeichnung vom Juli 18 6 3 35 :
Die Quellen des N a t u r g e n u s s e s sind theils in uns, theils in der Natur
zu suchen. Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie
und giebt ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an
und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele.
Unsre Seele ist nichts als das vergeistigte Auge O h r usw. Farbe und Klang
ist nicht den Dingen, sondern Auge und O h r eigen. Alle Abstrakta,
Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in unserm Geiste
zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was uns anzieht,
Nietzsches Destruktion der Metaphysik 9

hat vorher Leben in unsrem Geiste empfangen. Alle(s) Todte ist des Geistes
unwürdig.
In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine
Stimmung. Was uns in der Natur anzieht, sind uns eigne edele Gefühle, die
wir wie in einem Bild vor uns verkörpert sehn. 36 Diese sind gewöhnlich
unbestimmt. Am häufigsten das Gefühl der stolzen Seelenunabhängigkeit,
das uns bei dem Anblick einer Weite überkömmt. Dies die E m p f i n d u n g
d e s F r e i e ( n ) im Gegensatz zur Enge.
An einem Kunstwerk nie etwas schön außer die Empfindung von
Seelenweite, die es erregt.
[ . . . ] In der Kunst haben wir die N a t u r nachgeahmt und legen in die
N a t u r die Kunst hinein.
In diesem Denkansatz geht Nietzsche mit Kant überein. Auch für Kant sind
die sinnlichen Qualitäten subjektiv in der Weise, daß sie zwar von einer
Beziehung des Gegenstandes auf die Sinne des Subjekts abhängen — darin,
daß sie Erkenntnis a posteriori sind, differieren sie von den reinen Formen
der Anschauung —, gleichwohl aber „nicht als Beschaffenheiten der Dinge,
sondern bloß als Veränderungen unseres Subjekts, die so gar bei
verschiedenen Menschen verschieden sein können, betrachtet werden"
müssen (Kr. d. r. V., Β 45): Mit gewisser Berechtigung kann man danach
sagen, daß das Subjekt die sinnlichen Qualitäten in die Erscheinung
hineinlegt, wobei sie als nicht objektive Bestimmungen derselben und d. h.
als nicht notwendige Bedingungen ihres Erscheinens in Kants Perspektive
unwesentlich sind. 37
Kant wie auch, in seiner Nachfolge, der Nietzsche der von uns bisher
angeführten Aufzeichnungen setzen das Objekt der Phänomenbeziehung
nichtig: Zwar muß die Sinnlichkeit eines Subjekts von einem Objekt affiziert
werden, damit diesem etwas erscheint, doch ist jede Qualität und damit
jeglicher „ W e r t " dieser Erscheinung „subjektiv", Produkt der Tätigkeit des
Subjekts. So hat das Objekt seinen Adel zu Lehen des Subjekts — gemäß
dem Kantischen Grund-Satz: „die Gegenstände müssen sich nach unserem
Erkenntnis richten" (Kr. d. r. V., Β XVI).
Max Scheler 38 erkennt in dieser philosophischen Lehre den Ausfluß einer
besonderen „Gesamthaltung zur Welt". Insofern Nietzsche mit Kant in
jenem Grund-Satz übereinkommt, gelten die nachfolgenden Ausführungen
auch für ihn:
Diese „ H a l t u n g " kann ich nur mit den Worten einer ganz ursprünglichen
„Feindseligkeit" zu oder auch „Mißtrauen" in alles „Gegebene" als
solches, Angst und Furcht vor ihm als dem „ C h a o s " bezeichnen — „die
Welt da draußen und die Natur da drinnen" —; das ist, auf Worte
gebracht, Kants Haltung gegen die Welt, und die „ N a t u r " ist das, was zu
formen, zu organisieren, was zu „beherrschen" ist, sie ist „das Feindliche",
das „ C h a o s " usw. Also das Gegenteil von Liebe zur Welt, von Vertrauen,
von schauender und liebender Hingabe an sie.
10 Voraussetzungen

Scheler erblickt darin das W a l t e n einer allgemeinen Weltverhaltung:


es ist im Grunde nur der die Denkweise der modernen Welt so stark
durchziehende Welthaßdie Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in
sie, und deren Folge, das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie
„organisiert", „beherrscht" werde.
Historisch aber liegt f ü r Scheler eine christliche Weltverhaltung, „die
puritanisch-protestantische H a l t u n g " 3 9 z u g r u n d e .
Die Berechtigung dieser Ü b e r l e g u n g e n Schelers o f f e n b a r t sich, w e n n
m a n beispielsweise als E i n w a n d gegen Kants erkenntnistheoretischen
Ansatz 4 0 , gegen seine Lehre vom D i n g an sich, die Möglichkeit einer
„ p r ä f o r m i e r t e n H a r m o n i e " 4 1 zwischen den F o r m e n des menschlichen
Geistes u n d der „ w i r k l i c h e n " Welt in E r w ä g u n g zieht: H a t K a n t auch
nachgewiesen, daß die Erscheinungen in den gesetzmäßigen F u n k t i o n e n
unserer Intelligenz g r ü n d e n , so m u ß damit doch noch nicht ausgeschlossen
sein, d a ß diese Funktionen zugleich F o r m e n einer „ a b s o l u t e n " Wirklichkeit
sind. Auch Nietzsche k o m m t im S o m m e r 1872—Anfang 1873 dieser
G e d a n k e : „ G e g e n K a n t ist d a n n immer noch e i n z u w e n d e n , daß, alle seine
Sätze zugegeben, doch noch die volle M ö g l i c h k e i t bestehen bleibt, daß
die W e l t so ist, wie sie uns erscheint." 4 2 K a n t hat jedoch diese Möglichkeit
einer E n t s p r e c h u n g von menschlichem Weltbild u n d „ w i r k l i c h e r " W e l t
nicht n u r deshalb nicht in E r w ä g u n g g e z o g e n , weil ihm die Antinomien der
reinen V e r n u n f t dagegen zu sprechen schienen, sondern auch, weil seiner
Ansicht nach der W e l t der Dinge im Hinblick auf die Erfordernisse der
M o r a l Ubersinnlichkeit z u g e s p r o c h e n w e r d e n m u ß u n d sich derweise die
sinnliche W e l t als i n k o n g r u e n t e Erscheinung eines „ w a h r e n " Wesens
erweist. Nietzsche hat dies im Abschnitt 3 der 1886 geschriebenen V o r r e d e
z u r neuen Auflage der „ M o r g e n r ö t h e " , die Scheler mit Sicherheit g e k a n n t
hat, wie folgt formuliert:
um Raum für s e i n „moralisches Reich" zu schaffen, sah er sich genöthigt,
eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits", — dazu eben
hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: e r
h ä t t e sie n i c h t n ö t h i g g e h a b t , wenn ihm nicht Eins wichtiger als
Alles gewesen wäre, das „moralische Reich" unangreifbar, lieber noch
ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die
Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der
Vernunft zu stark! 43
In Nietzsches A u g e n ist K a n t , den er in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " 4 4 als
„ e i n e n h i n t e r l i s t i g e n Christen z u g u t e r l e t z t " bezeichnet, die A n n a h m e
des Dinges an sich bzw. einer intelligiblen O r d n u n g der D i n g e von der
metaphysisch-christlichen 4 5 T r a d i t i o n einer w a h r e n u n d göttlichen überirdi-
schen Welt aufgenötigt w o r d e n ; im „Antichrist" 4 6 b e m e r k t Nietzsche —
w o r a u f wir noch z u r ü c k k o m m e n w e r d e n — : „ V e r f a l l e i n e s G o t t e s :
G o t t w a r d , D i n g an s i c h ' . . . " . Nietzsche b e k ä m p f t diese T r a d i t i o n , weil sie
Nietzsches Destruktion der Metaphysik 11

im Lichte jener jenseitigen Welt das Hiesige, das Leibhafte und Sinnliche,
zum Vorläufigen und Scheinbaren abwertet.
Anders als Scheler, der den Verursacher für die moderne, will sagen: für
die neuzeitliche Weltfeindschaft, wie sie ihm zufolge in Kants Philosophie
kulminiert, bloß in einer Spielart des Christentums, der puritanisch-prote-
stantischen, erkennt, führt bereits der junge Nietzsche diese auf das
Christentum überhaupt zurück. S o läßt nämlich die schon zitierte
Aufzeichnung vom April 18 6 2 4 7 wissen: „ D a ß Gott Mensch geworden ist,
weist nur darauf hin, daß der Mensch nicht im Unendlichen seine Seligkeit
suchen soll, sondern auf der Erde seinen Himmel gründe; der Wahn einer
überirdischen Welt hatte die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der
irdischen Welt gebracht". Daß jedoch seine eigene erkenntnistheoretische
Ausgangsposition ebenfalls von dieser Weltfeindschaft gezeichnet ist, dies
zu erkennen, bedarf es noch einiger Jahre des Nachdenkens. Erst in
demjenigen, was er als Nihilismus zu denken versucht, ist ihm der
Zusammenhang von Metaphysik, einbegriffen Kants Erkenntniskritik,
Christentum und Moderne (decadence) offenbar. Inwieweit die erkenntnis-
theoretische Konsequenz, die Nietzsche aus seinen Überlegungen zum
Nihilismus in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " zieht, nämlich sowohl „ w a h r e "
als auch „scheinbare" Welt im Hinblick auf den „Willen zur M a c h t "
abzuschaffen, 4 8 die Feindschaft und das Mißtrauen gegen die Welt, sprich:
den Nihilismus im erkenntnistheoretischen Feld wirklich überwindet und
inwieweit sie damit seiner Forderung „Bleibt der Erde treu" 4 9 entspricht —
das wollen wir zunächst noch offenlassen.

Hier können wir nur noch einmal darauf hinweisen, daß dieses
„Fabelwerden der wahren W e l t " mit jener durch Lange vermittelten
Erkenntnis einsetzt, daß das Ding an sich „ u n s nicht nur unbekannt, sondern
[ . . . ] auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte
Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes [ist], von
dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine
Bedeutung hat" 5 0 . Bereits im Sommer 1872/Anfang 1873 scheint sich dieses
„ F a b e l w e r d e n " endgültig vollzogen zu haben, wenn Nietzsche nämlich
aufzeichnet 5 1 : „ S o b a l d man das Ding an sich e r k e n n e n will, so i s t e s
e b e n d i e s e W e l t " , doch deutet der Fortgang des Zitates an, daß sich
Nietzsche aus den Denkbahnen der metaphysischen Uberlieferung noch
nicht herausgedreht hat: „ e r k e n n e n " , so können wir weiter lesen,
ist n u r m ö g l i c h , als ein W i e d e r s p i e g e l n u n d S i c h m e s s e n an e i n e m Maße
(Empfindung).

W i r w i s s e n , w a s die W e l t ist: a b s o l u t e u n d u n b e d i n g t e E r k e n n t n i ß ist


Erkennenwollen ohne Erkenntniß.
12 Voraussetzungen

Noch nahezu 17 Jahre wird Nietzsche an der Idee einer „absoluten


Erkenntnis" als Maßstab für die menschliche Erkenntnis der Welt festhalten
und diese demgemäß als relative „Wahrheit", d. h. in seinem Sprachge-
brauch als „Schein" oder „Illusion" bestimmen. Das „Ding an sich" aber,
das zunächst alles schien — „unsere sichtbaren (körperlichen) Organe sind
gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines
unbekannten Gegenstandes"—, ist, eben weil es, das ein Jenseits des Scheins
der Erscheinung sein sollte, solches auch nur zu sein schien, bereits jetzt
bloßer Schein für Nietzsche und d. h. bedeutungsleer, ein Nichts. Gleiches
gilt indes auch für den Schopenhauerschen „Willen" — zumindest dann,
wenn man Philosophie nicht von vornherein mit Kunst gleichsetzt und sie
damit — als „Begriffsdichtung" 52 — in ihren Begriffen für frei erklärt,
sondern sie den Bedingungen unterwirft, denen wissenschaftliche Er-
kenntnis zu genügen hat. Das aber heißt, wie Nietzsche selber in jenem oben
(S. 4) angeführten Brief an Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868
reflektiert hat, daß man „sich jetzt mit einer bewußten Relativität des
Wissens" begnügt und auf Metaphysik Verzicht leistet, d. h. sein
„metaphysisches Bedürfnis" 53 oder, wie Nietzsche in jenem Brief sagt, sein
„Gemüthsbedürfnis" nach Aufklärung über das innere Wesen oder den
Grund des Seienden unbefriedigt läßt.
Schon hier zeichnet sich somit in Umrissen das ab, was Nietzsche im
Auge hat, wenn er im Sommer 1872—Anfang 1873 als Titel-Entwurf für das
damals geplante Philosophen-Buch — wie wir behaupten werden: auch als
Selbstauslegung seines eigenen Philosophierens — notiert 54 :
Der Philosoph.
B e t r a c h t u n g e n über den Kampf von Kunst und E r k e n n t n i s s .
Auf der einen Seite trägt die Philosophie, so können wir vorläufig
interpretieren, Wesenszüge der Wissenschaft, auf der anderen Seite
Wesenszüge der Kunst. Wenn sie aber Wissenschaft zu sein bestrebt ist, so
hat sie dem Satz vom zureichenden Grunde, d. h. kausaler Ableitung zu
genügen und sich damit von vornherein auf den Bereich der empirischen
Erfahrung zu beschränken, auf den Bereich, den ihr, Nietzsche zufolge,
Kant zugewiesen hat. Versteht sie sich hingegen eher als Kunst, so ist sie
wohl diesen Bedingungen enthoben, kann eine — wie wir sehen werden —
für den Lebensvollzug vielleicht unverzichtbare Gesamtdeutung der
Wirklichkeit unternehmen, 55 begibt sich damit aber zugleich auch in die
Gefahr, sich in ein „Faulbett des Denkens" 5 6 zu legen — denn „wer will",
heißt es in dem oben (S. 4) zitierten Brief an Gersdorff, „einen Satz von
Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums
zeihen?"
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 13

2. Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868

J e n e Gefahr scheint Nietzsche sehr bald deutlich geworden zu sein, 5 7


zumindest findet sich in den Notizen zu einem Dissertationsprojekt vom
April 1868 (BAW 3, 370—394) der Versuch eines philosophischen
Neuansatzes, in dem der Ausgangspunkt der späteren „Lebensphilosophie"
gesehen werden kann. Nietzsche versucht in diesen Aufzeichnungen zu
seinem Promotionsvorhaben, das in Briefen an Deussen, Ende April/Anfang
Mai 18 6 8 58, un d Rohde, 3. oder 4. Mai 1868s 9 , „ Ü b e r den Begriff des
Organischen seit K a n t " , in den Notizen selber „ D i e Teleologie seit K a n t "
(372) betitelt ist, eine Kritik an den Überlegungen Kants zur Teleologie 6 0 ,
eines „praktischen W e r t h f e s ] " (375) wegen: „ E s kommt nur darauf an den
Begriff einer höheren Vernunft [in der Natur, wie ihn Kants
Überlegungen zur Teleologie in der Form einer regulativen Idee
implizieren] abzulehnen: so sind wir schon zufrieden." Anders als Kant, der
„in der Metaphysik stecken [bleibt]" (372) und sich „in eine intellegible
W e l t " flüchtet, „in der der Zweck den Dingen immanent ist" (ebd.), will
Nietzsche „jedes theologische Interesse aus der Frage sondern" (ebd.). Es
geht ihm um den Nachweis, daß es „keine F r a g e " gibt, „die nothwendig nur
durch die Annahme einer intelleg(iblen) Welt gelöst w i r d " (373), d. h. um die
Zerstörung des Fundaments, auf das K a n t die Metaphysik gegründet hat.
D e r „praktische W e r t " , den Nietzsche seiner Arbeit zuspricht, beruht somit
in der Destruktion des besagten ,,Wahn[es] einer überirdischen W e l t " , der
„die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen W e l t " bringt.
Zu diesem Behufe geht er von einem Gedanken des Empedokles aus, der ihm
durch Lange vermittelt worden ist 61 und den er im Hinblick auf die T h e o r i e
Darwins versteht 6 2 , daß nämlich im Grunde für uns ,,[z]weckmäßig gleich
existenzfähig" (381) ist.
Wenn der Mensch etwas verfertigt d. h. existenzfähig machen will, so
überlegt er, unter welchen Bedingungen dies geschehn könne. Er nennt die
Bedingungen zur Existenz am verfertigten Werk nachher z w e c k m ä ß i g .
Deshalb nennt er auch die Existenzbedingungen der Dinge
z w e c k m ä ß i g : dh. nur unter der Annahme, sie seien wie menschliche
Werke entstanden. (376)
Will sagen: der Mensch versteht die Erscheinungen menschenähnlich, er
anthropomorphisiert sie.
Anders als Kant nun, der im Falle der Organismen „eine N ö t h i g u n g "
(371) zu teleologischen Urteilen, denen nur ein heuristischer Charakter
eignet, zu erweisen sucht, sieht Nietzsche für dieselben die Möglichkeit
einer kausalmechanistischen Erklärung als gegeben an, der allein er, darin
K a n t folgend, erkenntniskonstitutive Funktion zuspricht. 6 3 In seinen Augen
— und denen Langes 6 4 — vermag ,,[d]er Mechanismus verbunden mit dem
14 Voraussetzungen

Casualismus" (378) als Ersatz für die Annahme des Waltens höherer
Vernunft die Entstehung zweckmäßiger, d. h. f ü r ihn: lebensfähiger Formen
zu erklären.
D a s Z w e c k m ä ß i g e entstanden als ein Spezialfall des M ö g l i c h e n : eine
U n z a h l Formen entstehn dh. mechanische Zusamm(en)setzungen: unter
diesen zahllosen k ö n n e n auch lebensfähige sein. (379) 6 5

Noch in einer weiteren, f ü r uns bedeutsamen Hinsicht betrachtet Nietzsche


das Problem der Teleologie: Der Begriff des „ G a n z e n " , des „Organismus"
ist, so hebt er, von Kant ausgehend, an
unser Werk. H i e r liegt die Quelle der Vorstellung des Zwecks. D e r Begriff
des G a n z e n liegt nicht in den Dinge(n), sondern in uns.
D i e s e Einheiten, die wir Organismen nennen, sind aber wieder
Vielheiten.
Es giebt in Wirklichkeit kein(e) Individuen, vielmehr sind Individuen
und Organism nichts als Abstraktionen.
In die v o n uns gemachten Einheiten tragen wir nachher die Z w e c k i d e e .
(379f.)

Wohl im Zusammenhang mit diesen Gedanken, daß „ D i n g " und „ Z w e c k "


Facta unseres Erkenntnisvermögens sind, ist das Notat eines Goethe-Zitates
zu sehen, auf das wir hier kurz eingehen wollen, nicht nur aus dem
allgemeinen, methodischen Grund, daß konstrastive Vergleiche eine
schärfere Bestimmung denkerischer Orte ermöglichen, sondern auch aus
dem speziellen, daß Nietzsche sich, was wir an mehreren Stellen zu zeigen
beabsichtigen, in der Einrichtung seines Ortes an demjenigen des
bewunderten Goethe orientiert. Das Goethe-Zitat findet sich in „Die
Absicht eingeleitet" aus: „ Z u r Morphologie", ist zugleich aber auch in
Langes „Geschichte des Materialismus" abgedruckt 6 6 :
„Jedes Lebendige", sagt G o e t h e , „ist kein Einzelnes, sondern ein(e)
Mehrheit: selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es d o c h
eine V e r s a m m l u n g v o n lebendig, selbständigen W e s e n . " (376)

Doch, was Nietzsche in diesem Zusammenhang augenscheinlich übersieht:


Anders als für ihn und Kant sind nach Goethes Verständnis die Einheiten der
Welt kein Erzeugnis des menschlichen Bewußtseins, das in die atomistisch
getrennte Mannigfaltigkeit von Teilen einer „Materie" oder in die ebenso
atomistisch getrennte Mannigfaltigkeit von „Empfindungen" und „An-
schauungen" seine Einheit hineinträgt, vielmehr ebenso „Tatsache" der
Welt wie das in ihnen verbundene Mannigfaltige. N u r die Anschauung
bestimme, so Goethe, ob wir uns synthetisierend oder analysierend zu
betätigen haben, fehlen könne keines der beiden Konstitutionsmomente,
allenfalls überwiege für die Anschauung das eine oder das andere.
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 15

Einen dynamisch-ganzheitlichen Ansatz, der von gestalthaft aufgebrei-


teten Einheiten und einem gleichgewichtigen Entsprechungs-Verhältnis von
Subjekt und Objekt ausgeht, stellt Goethe somit dem atomistischen Ansatz
Kants und Nietzsches gegenüber, in welchem dem Subjekt eine
Vorrangstellung zukommt: „die Gegenstände müssen sich nach unserem
Erkenntnis richten", formuliert Kant, wie gesehen, bündig. Wenn dieser
daher die Frage aufwirft, „wie [ . . . ] s u b j e k t i v e B e d i n g u n g e n d e s
D e n k e n s sollten o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t haben, d. i. Bedingungen der
Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben" (Kr. d. r. V., Β
122) 67 , so beantwortet sich für ihn dieses Problem der Vermittlung von
Subjekt und Objekt dadurch, daß sich alle unsere Erkenntnis auf
Vorstellungen von Gegenständen, auf Erscheinungen bezieht, die deswegen
als „bloße Vorstellungen aber [ . . . ] unter gar keinem Gesetze der
Verknüpfung [stehen können], als demjenigen, welches das verknüpfende
Vermögen vorschreibt" (Kr. d. r. V., Β 164). Frage und Antwort gelten im
wesentlichen auch für den jungen Nietzsche. Für Goethe hingegen kann es
diese, laut Scheler, aus Feindschaft und Mißtrauen gegen die Welt
erwachsende Form des Problems der „Vermittlung" von Subjekt und
Objekt nicht geben. Sein — immer erneut zu erringendes — Weltvertrauen
äußert sich nicht zuletzt darin, daß die Subjekt-Objekt-Beziehung für ihn
ein geschlossenes Ubergreifungsphänomen darstellt, bei dem man nicht
ungestraft die zusammengehörenden Pole voneinander isoliert in Ding an
sich auf der einen und apriorisches Erkenntnisvermögen auf der anderen
Seite, um sich nachher — wie Goethe meint — vergeblich abzumühen, wie
das einmal Getrennte „wieder zu vereinigen sein möchte" 6 8 . Goethe kommt
es auch nicht an auf das Wissen einer spekulativ erdachten Wesenseinheit
von Geist und Natur im Sinne einer theoretischen Weltinterpretation,
welche mit den Phänomenen „rechnen" will (siehe dazu im folgenden),
sondern auf eine anschauende Einstimmung in das schöpferische Leben der
Natur, derart, daß Objekt und Subjekt schließlich ineinander aufgehen: „so
wird dir dieses Ding immer lebendiger, wahrer, runder, es wird endlich du
selbst werden", schreibt Goethe in „ N a c h Falconet und über Falconet" 69 .

V o n diesem schöpferischen Leben schreibt auch Nietzsche in seiner


Notizsammlung — doch wie anders! Für ihn kann der einzelne das Ding
selbst nicht werden, weil er es bereits ist — und dies noch in anderer Weise,
als Kant es mit seiner Aussage meinte: „die Gegenstände müssen sich nach
unserem Erkenntnis richten".
Für Kant ist die Welt der Gegenstände ein Erzeugnis der
überindividuellen Funktion, die als Erfahrung in jedem einzelnen tätig ist,
die jedoch nur dann wirksam wird, wenn sie von „etwas", wie Kant sagt, von
16 Voraussetzungen

einem „Ding an sich" affiziert wird. Doch was heißt „Ding an sich"
überhaupt?
„ D i n g " kommt von althochdeutsch thing, welches W o r t ursprünglich
das Gericht, die Versammlung der freien Männer, bezeichnete und
schließlich auch die Sache, den Gegenstand, der sie versammelte. Auch heute
noch verwendet man im Deutschen „ D i n g " im Sinne von „Sache,
Gegenstand".
Damit nun aber etwas dem Menschen überhaupt entgegenstehen und ihn
dadurch versammeln kann — das nämlich heißt, wie wir eben gesehen
haben, eigentlich „Gegen-stand" —, muß es allererst Äer-gestellt sein, nach
Kant von der Vor-stellung. Außerhalb dieser Vorstellung ist der Gegenstand
Ding an sich oder Gegenstand an sich (das Ding, wie es an sich selbst
beschaffen ist). Das meint somit „einen Gegenstand, der für uns keiner ist,
weil er stehen soll ohne ein mögliches Gegen: f ü r das menschliche
Vorstellen, das ihm entgegnet" 7 0 , doch immer noch etwas, das als solches
steht. (Im Gegensatz zu den Empfindungen, die dieses Etwas im Falle einer
Affizierung beim Menschen hervorruft: Laut Kant stellen sie ein „Gewühle"
dar, das zum Stehen gebracht, ein Chaos, das geordnet werden muß von der
produktiven Einbildungskraft, die derweise die Gegenstände originaliter f ü r
uns erzeugt).
Nietzsche hingegen hat, wie wir wissen, das Ding an sich als ein
bedeutungsleeres Nichts verabschiedet — heißt dies, daß damit für ihn auch
die Frage, was der Gegenstand ohne „Gegen", d. h. was er außerhalb der
menschlichen Vorstellung sei, ebenfalls hinfällig ist? Eine Notiz für sein
Dissertationsprojekt wird uns zeigen, daß er sie in verwandelter Form
aufgreift:
N u n erfassen wir an einem Lebenden überhaupt nichts als F o r m e n . D a s
e w i g W e r d e n d e ist das Leben; durch die N a t u r unsres Intellekts erfassen
wir Formen: unser Intellekt) ist zu stumpf, um die fortwährende
V e r w a n d l u n g w a h r z u n e h m e n : das ihm Erkennbare nennt er Form. In
Wahrheit kann es keine Form geben, weil in jedem Punkte eine
Unendlichkeit sitzt. Jede gedachte Einheit (Punkt) beschreibt eine Linie
Ein ähnlicher Begriff wie die Form ist der Begriff Individuum. Man
nennt Organismen s o als Einheiten, als Zweckcentren. Aber es giebt nur
Einheiten für unsern Intellekt. Jedes Individuum hat eine Unendlichkeit
lebendiger Individ, in sich. Es ist nur eine grobe Anschauung, viell(eicht)
v o n dem Körper des Menschen zuerst e n t n o m m e n . ( B A W 3, 387f.) 7 1
Indes, so haben wir zunächst zu fragen, bedenkt Nietzsche hier nicht
„Lebendes" im Sinne des Biologischen, und bedeutet dies nicht, daß seine
Überlegungen nur organische Gegenstände, d. h. Organismen, und nicht
Gegenstände überhaupt betreffen? Keineswegs. Denn wenn Nietzsche an
anderer Stelle seiner Notizsammlung bemerkt, „daß innerhalb der
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 17

organischen Natur im Verhalten der Organism zu einander kein andres


Princip existirt als in der unorganischen N a t u r " (BAW 3, 385) — wobei
„ N a t u r " hier das nicht vom Menschen geschaffene Seiende meint, das
Nietzsche bisweilen ebenfalls „Leben" nennt —, und wenn er aus diesem
Grunde die Formen der organischen Natur auf die gleiche, nämlich
mechanische Weise wie die anorganischen Formen erklären zu können
meint, dann gelten Nietzsches Reflexionen über „ F o r m e n " gleichermaßen
f ü r organische wie anorganische Gegenstände. Die erkenntnistheoretischen
Überlegungen sind, wie sich zeigen wird, grund-sätzlicher, d. h.
„metaphysischer" Art (— wobei dieses W o r t in einem anderen Sinne zu
verstehen ist, als es Nietzsche verstanden wissen will: Es bezeichnet in
unserem Sprachgebrauch die Frage nach dem Grund des Erscheinens der
Welt, gleichgültig, ob dieser „absolut" oder „relativ" gedacht wird). Die
Vieldeutigkeit, in der der Begriff „Leben" bei Nietzsche zu allen Zeiten
schwebt — zuweilen meint er das Seiende im Ganzen, zuweilen die Natur,
zuweilen nur das Lebendige, nämlich Pflanze, Tier, Mensch, zuweilen
überhaupt nur das menschliche Leben —, zergeht zu einer Eindeutigkeit,
wenn man ihren meist verborgen bleibenden Grund im Gedächtnis behält:
daß Nietzsches „Metaphysik" von Beginn an wissentlich und willentlich
Anthropomorphic, „Begriffsdichtung", ist, daß er nämlich seine Auslegung
der Welt, wie sie für uns, und d. h. nicht, wie sie an sich selbst ist, am
Leitfaden des Leibes vollzieht — der Arbeitsweise des menschlichen
Intellekts entsprechend.
Denn die menschliche Vorstellung hat, so lehrt uns obiger Text, allererst
das ewig Werdende, das niemals diskrete Punkte, vielmehr durchgängige
Linien bildet, zum Stehen zu bringen, damit ihr etwas entgegenzustehen und
sie zu sammeln vermag. Anders als bei Kant ist sie eher V o r -Stellung denn
Vor-stellung: Damit Seiendes sei, hat der „stumpfe", d . h . endliche
menschliche Intellekt in dieses ewig Werdende Formen hineinzutragen.
Denn das nicht augenscheinliche, das „ w a h r e " „Sein" soll Nietzsche
zufolge kein Sein, auch kein Werden an einem bereits Seienden, das sich im
Werden wandelt, sondern reines Werden, reine Lebensflut sein. Zum
Gegen-stand gebracht werde diese durch den „Intellekt", d. h. nicht durch
die „dumpfe, nichtssagende Empfindung" (Schopenhauer) 7 2 , sondern durch
das Denken, 7 3 das mit seinen „Formen", wir interpretieren vorläufig: mit
seinen begrifflichen Kategorien in eben jene subjektive Empfindung
hineinwirkt und aus ihr die objektive Anschauung formt. Der menschliche
Intellekt stellt mithin das Werden zum Seienden vor, um dann dieses als
Seiendes, d. h. als Gegen-stand in die Unverborgenheit her-stellen zu
können: Er ent-deckt seine eigene Voraus-setzung, indem er sich an diese
anmißt. (Wir weisen bereits hier darauf hin, daß in Nietzsches
18 Voraussetzungen

Wahrheitsbegriff die alten metaphysischen Bestimmungen der Wahrheit als


ά λ ή θ ε ι α und adaequatio fortwirken, siehe dazu im folgenden.)
Die Formen, die der Intellekt in das Werden hineinträgt, soll er nun —
vielleicht, wie Nietzsche sagt — von seinem Körper zuerst entnommen
haben. Doch — ist, wenn „alles für den Menschen eigentlich nur Schein
ist" 74 , nicht auch der Mensch für den Menschen nur Schein? Muß nicht der
Intellekt allererst den Körper vorstellend herstellen, um nach seinem Bilde
den Welt-Körper zu formen? W o h e r hat er aber jene Körperformen?
Verirrt sich Nietzsches Denken hier nicht in einem Zirkel? In der T a t —
doch werden wir später sehen, daß Nietzsche in der Zirkelhaftigkeit eine
Wesenseigenschaft des menschlichen Denkens zu erkennen meint. Aber
weiter gefragt: Muß nicht dasjenige, was Form hat, nämlich der Intellekt,
selber bereits Form sein? N u r wenn es sich selbst vorstellt, ist es Form, weil es
selber das Formgebende ist, antwortet Nietzsche. 75 In einer Notiz vom
Herbst 1868 heißt es: „ D e r Intellekt ist keine reale Einheit, sondern nur eine
gedankliche: ein zusammenfassendes W o r t für viele Erscheinungen." 7 6 ,
kann es Einheit doch nur dort geben, wo es Sein „gibt", als welches
Nietzsche ja leugnet. Was aber bewirkt die Formen des Intellekts bzw. des
vorstellend-herstellenden Denkens, oder anders, aber in gleicher Richtung
gefragt, was ist dieses „Etwas", das sich horizonthaft als Mensch und in ihm
als Welt vorstellt, was ist dieses Denken außerhalb der Formen des
Vorstellens? Kann diese Frage überhaupt gestellt werden, ist ein solches
„Außerhalb" überhaupt denkbar? Indes gibt nicht unser Text die Antwort,
daß es „ewig Werdendes", daß es „Leben" sei? Aber, so fragen wir
dringlicher, woher dieses Wissen? Wie soll ein solches „Formloses" unserem
formenden Denken zugänglich sein? Vielleicht in dem seine Akthaftigkeit
bedenkenden Denken: aliquid cogitat se cogitare — wenn das „ E g o " als
Formgegebenes und -gebendes des Denkens aus Descartes' Formel
ausgeschieden wird? W ä r e derweise nicht die Existenz von etwas
zugänglich, gerade nicht in dem, was es denkt, sondern daß es denkt?
Zugänglich und sichergestellt dadurch, daß es im reinen Prozeß des
Denkens eben nicht sich selber denkt — als Verursacher des Denkens etwa 77
—, sondern bloß „etwas" empfindet, das heißt „lebt" („Das,Leben' tritt auf
mit dem Empfinden" [BAW 3, 391], formuliert Nietzsche in den Notizen zu
seinem Dissertationsprojekt), und zwar empfindet als reinen Prozeß des
Werdens? Und könnte dies, so fragen wir, an die abendländische
Metaphysik seit Leibniz anknüpfend, weiter, nicht ein Etwas sein, das sich in
der Vorstellung reflektiert — das Vorgestellte des Vorstellungsfeldes auf
sich zurückbezieht — und in diesen Akten des Vorstellens allererst erwirkt?
Ein Etwas mithin, das an sich „ewig Werdendes", reiner Prozeß, für sich, in
der Re-präsentation jedoch Form (forma, είδος) ist, das sich als dieser
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 19

Prozeß aber überhaupt erst im Fortgehen von der einen zur anderen
Vor-stellung von sich gewinnt — als Vorstellendes? Ein Etwas mithin, das
als ewiges Wirken in der Zeit sich in seinen Vor-stellungen zu Formen
einräumt und damit die Welt und ihren Raum herstellt? (Wir werden unten
den aus dem Frühjahr 1873 stammenden spekulativen Versuch einer
Zeitatomenlehre kennenlernen, in dem Nietzsche — wie später in der Lehre
von der ewigen Wiederkunft des Gleichen — das Weltganze temporal zu
fassen sucht.)
Ein Etwas, das in dieser Weise wohl vorstellbar, doch — die Aus-
führungen unseres Textes besagen das ebenfalls — als Vorgestelltes eben
bestenfalls wahr-schein-lich ist. Denn es vorzustellen heißt, sein „An-Sich"
in Formen für uns zu zwingen: „Die Form ist alles, was vom ,Leben' an der
Oberfläche sichtbar erscheint.", können wir in der Notizsammlung für die
Dissertation lesen (BAW 3, 389). Das gilt auch für die der kategorialen
Verstandeserfassung — laut Schopenhauer (s. u.) — vorausliegende
Sinnesempfindung: Sie ist Empfindung für uns, mit Schopenhauer
gesprochen „etwas wesentlich Subjektives" 78 , oder wie Nietzsche im
Frühjahr—Herbst 1873 in Anknüpfung an seine Überlegungen zu einer
Zeitatomenlehre schreibt:
Empfindung ist die einzige kardinale Thatsache, die wir kennen, die
einzige wahre Qualität. Alle Naturgesetze sind auf Bewegungsgesetze
zurückzuführen: durchaus ohne Stoff. Wenn man am Ende damit ist, wird
man nur die Empfindungsgesetze festgestellt haben. Für das „an sich" ist
dann gar nichts gewonnen. 79
Die Idealität der Welt ist keine Hypothese, sondern die handgreiflich-
ste einzige Thatsache. Es ist unsinnig zu glauben, daß je Empfindung
erklärt werden könne aus Bewegung, oder aus etwas anderem. Man kann
nicht Empfindung aus etwas anderem erklären, da man gar nichts Anderes
hat.80

Der Mensch ist, wie Nietzsche an anderer Stelle schreibt, in sein


„Bewußtsein" „eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg" 8 1 .
Die Kluft zwischen An-Sich und Für-Uns bleibt unüberbrückbar — selbst
der Begriff des „An-Sich", den wir doch zu Hilfe nehmen müssen, um
auszudrücken, daß uns nichts anderes als unsere Vorstellungen gegeben
sind, ist, wie wir bereits erfahren konnten, „nicht mehr und nicht weniger als
die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes,
von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine
Bedeutung hat." Das aber gilt auch f ü r Nietzsches Begriff des „Lebens",
auch er bezeichnet ein allenfalls „wahr-schein-liches" „Für-Uns". Zwar
verlautbart im Zweifel der Frage:
20 Voraussetzungen

Das Geheimniß ist nur „das Leben"


ob auch dies nur eine in der Organisation bedingte Idee
ist? (BAW 3, 380)
das metaphysische Bedürfnis in der Form des Wunsches, „Leben" möge die
Bestimmung eines „An-Sich" der Welt der Erscheinungen sein, doch ist die
Auslegung desselben als „reines W e r d e n " nur vordergründig gesehen der
Versuch einer Erfüllung dieses Wunsches, nur vor dem Hintergrund etwa
des einige Seiten darauf folgenden Satzes: „Was wir vom Leben sehn ist
Form; wie wir sie sehn, Individuum. Was dahinter liegt ist unerkennbar."
(390) Zwar ist das „reine W e r d e n " unerkennbar, d. h. nicht denkbar, weil es
per definitionem der räumlich-kategorialen Formung voraus-, in anderer
Perspektive „dahinter" liegt, derweise diskursiv nicht faßbar ist, aber selbst
dann, wenn es, was Nietzsches Kritik an Kants und Schopenhauers Termini
des „Dinges an sich" und des „Willens zum Leben" erwarten läßt, mehr ist
als ein spekulativer Begriff oder eine regulative Idee und auf, wie er sagen
wird, intuitiv Erfahrbares zurückgeht — vielleicht, so legt zumindest die
obige conclusio der in einer Empfindungslehre gipfelnden Zeitatomenlehre
nahe, auf den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit („Alle Naturgesetze
sind auf Bewegungsgesetze zurückzuführen [ . . . ] . Wenn man am Ende
damit ist, wird man nur die Empfindungsgesetze festgestellt haben.") —, so
daß die Aufforderung an den Leser, den Rückgang in die tiefste Schicht des
Vorbegrifflichen zu vollziehen, der Inhalt des Begriffes „reines W e r d e n "
wäre, selbst dann wäre dieses noch oder schon ein „Für-Uns": „Was
dahinter liegt ist unerkennbar."
Anders als Kant oder Schopenhauer mit ihren Termini „Ding an sich"
oder „Wille zum Leben" kann und will Nietzsche mit seinen Begriffen
„Leben", „reines Werden", „Wille" oder, später, „Wille zur Macht" nichts
anderes geben als eine Bestimmung des „ F ü r - U n s " in seiner tiefsten,
allgemeinsten, d. h. unbestimmtesten Schicht. Das gilt schon für sein
Dissertationsvorhaben. Ausdrücklich bemerkt er hier, daß seine eigenen
„metaphysischen" Überlegungen nichts anderes sein können als Anthropo-
morphic, weil das Maß aller Überlegungen immer nur der Mensch sei: „ D e r
Mensch erkennt einiges Menschenähnliche und Menschenfremde in der
Natur und fragt nach der Erklärung." (BAW 3, 391) Ist diese Frage im Sinne
der Grundfrage der traditionellen Metaphysik gemeint, die in der
Formulierung durch Leibniz so lautet: „ W a r u m ist überhaupt Seiendes und
nicht vielmehr nichts?" 82 — und wir meinen, daß Nietzsche jene Frage so
verstanden wissen will —, dann kann ihre Antwort seiner Auffassung nach
nur „Begriffsdichtung" sein, weil sie in seinen Augen als Antwort eine
absolute Wahrheit erheischt. Doch zeigt Nietzsches frühe Philosophie,
soweit sie Begriffsdichtung ist — das gilt vor allem für die „Geburt der
Nietzsches Neuansatz: Das Dissertationsprojekt vom April 1868 21

Tragödie" —, zugleich, daß und warum sie nur Begriffsdichtung sein kann.
(„Die Frage ,warum ist etwas' gehört in die äußere Teleologie und liegt ganz
aus unserm Bereiche.", heißt es dazu in den Dissertationsnotizen [BAW 3,
388].) Sie begründet „metaphysisch", warum eine Metaphysik im
traditionellen Sinne des Begriffs, die den Anspruch auf Gewißheit, auf
Wahrheit (an sich) erheben kann, nicht möglich ist.83
Doch auch von einer Metaphysik, wie Heidegger sie versteht, d. h. als
„Fragestellung nach dem Sein des Seienden" 84 bzw. nach der „Wahrheit
über das Seiende" 85 darf man im Falle Nietzsches — und das gilt für alle
Stufen seines Denkweges — nur unter Vorbehalten sprechen, nur dann
nämlich, wenn man zum einen im Auge behält, daß sein Denken von einem
eigenen, im Verhältnis zur Uberlieferung als „umgedreht" zu bezeichnen-
den Wahrheitsbegriff ausgeht, insofern es keine Wahrheit (an sich),
vielmehr nur Interpretation (für uns) — in Nietzsches Sprache: Illusion zu
geben beansprucht, und solches, dies zum zweiten, nicht von der Seiendheit
des Seienden — weil Seiendes eine grobe Fiktion ist —, sondern des
Geschehens, des Werdens der Welt. Wobei in Nietzsches Augen diese
beiden Modifikationen einander bedingen: Absolute Wahrheit „gibt" es nur
dort, wo es unbedingtes Sein „gibt", in den Köpfen der Metaphysiker, der
Hinterweltler. Indes bedeutet die Relativierung des Wahrheitsanspruches
seiner Philosophie für Nietzsche nicht, daß sie beliebig ist. Bestenfalls ist sie
etwas „Wahrscheinliches", d. h. etwas notwendig zu Glaubendes, wie wir im
folgenden in Fortsetzung des früheren Gedankenganges aufzeigen wollen.
Daß es „Etwas" „gibt", hat die bloße Empfindung des reinen
Denkprozesses nahegelegt, doch was dieses „Etwas" „an sich" sein möchte,
das bleibt uns verschlossen, über unsere Empfindungen und ihre
Interpretation können wir nicht hinausgelangen: Bereits die Annahme, einer
Wirkung müsse eine Ursache korrelieren, von einer Empfindung könne auf
Empfundenes, vom Denken etwa auf ein Denkendes, zurückgeschlossen
werden, ist nichts als eine den „Sachverhalt" verfälschende kategoriale
Voraussetzung unseres Intellekts: „Man kann nicht Empfindung aus etwas
anderem erklären, da man gar nichts Anderes hat." Oder wie es in „Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" heißt: „Von dem
Nervenreiz [ . . . ] weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits
das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom
Grunde." 86 Auf unser Beispiel bezogen besagt das: Gegeben ist uns „an sich"
— das meint in diesem Zusammenhang: in der tiefsten, den kategorialen
Fest-stellungen soweit als möglich vorausliegenden Schicht — nichts
anderes als das Geschehen des „Denkens" selbst. Verallgemeinert meint das
aber: Daß eine Interpretation aus einem „Text" hervorgehen soll, ist eine
Interpretation vielleicht erst ermöglichende Interpretation 87 , daß bedingtes
22 Voraussetzungen

Seiendes auf Unbedingtes, ein Ding an sich etwa, zurückgehe, vielleicht


Bedingung der Möglichkeit, ein solches „Bedingtes" erfahren zu können.
(„Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur
unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht
weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten
Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung
irgend eine Bedeutung hat." Eine Nietzsche fortwährend umtreibende Frage
wird die sein, warum der Glaube an ein unbedingtes Sein dem Menschen
nötig ist).
Vorgestellt werden kann dieses „Etwas" nur als Negation möglicher
Vorstellungen — es ist unendlich, ungeformt, unbegrifflich. In dieser
Hinsicht kommt Nietzsches „Leben", soweit es „reines Werden" ist, mit
Kants „Ding an sich" überein, von dem es sich indes auch in zwiefacher
Hinsicht unterscheidet. Zum einen darin, daß es kein „Stand", wenn auch
ohne „Gegen", ist, zum anderen darin, daß es empirisch erfahrbar sein soll.
Diesem reinen Werden aber vermag das vorstellende Denken nur insoweit
— näherungsweise zumindest — zu entsprechen, als es, wie wir bereits
angedeutet haben, sein stellendes Wesen in der Weise zu übersteigen
versucht, daß es sich vom kategorial geformten Begriff in Richtung auf das
Unbegriffliche und damit auf das Unbegreifliche löst, will sagen: daß es sich
ent-spricht.
Doch was meint das, wohin führt dieser Weg? — eine Frage, die wir in
der Weise zu beantworten suchen wollen, daß wir sie umkehren und
bestimmter als bisher fragen: Woher überhaupt Nietzsches Annahme eines
reinen Werdens, wo und wie ist es erfahrbar?

3. Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873:


Das Werden als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit

In seiner 1888 entstandenen Selbstdarstellung „Ecco homo", im


Abschnitt über „Die Geburt der Tragödie", weist Nietzsche auf seine
Verwandtschaft mit Heraklit hin, die u. a. in der Deutung der Welt als
„ W e r d e n , mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ,Sein'" 8 8
bestehen soll. Seine in den Märztagen des Jahres 1873 geschriebene, von ihm
selbst nicht veröffentlichte Schrift „Die Philosophie im tragischen Zeitalter
der Griechen" spricht von einer „Intuition" 89 , die Heraklit zu dieser
Deutung geführt habe — und damit wohl auch Nietzsche, legt sich dieser in
seiner Heraklit-Deutung doch auch selber aus, wie dies u. a. der
nachfolgende Satz belegt:
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 23

Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der
intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in
Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die
Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu
empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit
widersprechen kann [ . . . ] .
W i e wir bereits angezeigt haben, kritisiert insgleichen N i e t z s c h e v o m
„reinen W e r d e n " her das begriffliche D e n k e n als die „Wirklichkeit"
verfälschend. 9 0
„ D i e intuitive Vorstellung aber umfaßt", beginnt N i e t z s c h e in dem eben
genannten Text 9 1 eine Schopenhauer-Paraphrase 9 2 ,
zweierlei: einmal die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich
drängende bunte und wechselnde Welt, sodann die Bedingungen, durch
die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird, Zeit und Raum.
Denn diese können, wenn sie auch ohne bestimmten Inhalt sind,
unabhängig von jeder Erfahrung und rein an sich intuitiv percipirt, also
angeschaut werden. Wenn nun Heraklit in dieser Weise die Zeit, losgelöst
von allen Erfahrungen betrachtet, so hatte er an ihr das belehrendste
Monogramm alles dessen, was überhaupt unter das Bereich der intuitiven
Vorstellung fällt. So wie er die Zeit erkannte, erkannte sie zum Beispiel
auch Schopenhauer, als welcher von ihr wiederholt aussagt: daß in ihr
jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen Vater,
vertilgt hat, um selbst ebenso schnell wieder vertilgt zu werden, daß
Vergangenheit und Zukunft so nichtig als irgend ein Traum sind,
Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen
beiden sei, daß aber, wie die Zeit, so der Raum und wie dieser, so auch
alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, nur ein relatives Dasein hat, nur
durch und für ein Anderes, ihm Gleichartiges d. h. wieder nur ebenso
Bestehendes sei. Dies ist eine Wahrheit von der höchsten unmittelbaren,
jedermann zugänglichen Anschaulichkeit und eben darum begrifflich und
vernünftig sehr schwer zu erreichen. Wer sie vor Augen hat, muß aber auch
sofort zu der Heraklitischen Consequenz weitergehen und sagen, daß das
ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist und daß es für sie keine
andre Art Sein giebt; wie dies ebenfalls Schopenhauer dargestellt hat
[-••l· 9 3
In A n k n ü p f u n g an Schopenhauers Begriff der Intuition, der in
Gegenposition zur Kantischen Lehre den Verstand z u m Organ der
unmittelbaren, intuitiven Erkenntnis erklärt, v o n der ausgegangen wird, um
das intuitiv, in unmittelbarer Anschauung Erkannte mit Hilfe der Vernunft
„in sein abstraktes Wissen, in die Reflexion zu bringen" 9 4 , führt Nietzsche
hier die Intuition des reinen Werdens auf die von der empirischen
Anschauung absehende reine Anschauung der Zeit zurück. Sie ist, gleich der
reinen Form des Raumes, durch Korrelativität gekennzeichnet: Jeder
diskrete Zeitpunkt innerhalb des kontinuierlichen Zeitstromes (die Zeit
gedacht als Fluß der Jetzt) ist als solcher b e z o g e n auf die zeitlich
benachbarten Punkte vorher und nachher, wie insgleichen jeder Raumpunkt
24 Voraussetzungen

innerhalb des Raumkontinuums auf die räumlich benachbarten Punkte;


denn der Punkt ist nichts Selbständiges, nur Mitte und Grenze, in dieser
seiner Relativität aber, wie Schopenhauer sagt, eine „Nichtigkeit" 9 5 .
N u n ist aber, wie wir hier einfügen möchten, dieser im einzelnen Punkt
waltende Bezug von Diskretion und Kontinuität in sich gedoppelt zu
denken: Wenn es einerseits nur in bezug auf den einzelnen Punkt ein Vorher
und Nachher bzw. ein Links und Rechts, ein Oben und Unten gibt, so ist
andererseits er selbst wiederum doch nur denkbar unter Voraussetzung eben
dieses Vorher und Nachher, Links und Rechts (so daß wir keinen absoluten
Anfang, weder der Zeit noch des Raumes, denken können). Paradoxal
formuliert: U m den Punkt denken zu können, muß man ihn, zumindest
implizit, bereits gedacht haben, muß man dazu noch die reale Möglichkeit
unendlich vieler Punkte zugegeben haben:
H a t man sich ein einziges Mal in reine A n s c h a u u n g versetzt, s o d a ß man
sich in ihr denkend bewegt, dann liegt mit einem S c h l a g e die g a n z e
unendliche Fülle der Möglichkeiten vor uns und man wird v o m beliebigen
A u s g a n g s p u n k t f o r t g e z o g e n zur B e t r a c h t u n g ihrer Gesamtheit, o h n e dabei
jemals das d u r c h g e h e n d e G e f ü h l und Wissen von der Einigkeit der
R e g i ο η , in der wir denken, zu verlieren. Reine A n s c h a u u n g ist gleichsam
Eine große u m f a s s e n d e Synthesis, die eine unendliche Fülle b e s o n d e r e r
Synthesen aus sich entläßt. 9 6
Genau dies meinte Kant mit seinen Überlegungen, daß verschiedene Zeiten
wie verschiedene Räume nur Teile ein und derselben Zeit (Kr. d. r. V., Β 47),
respektive ein und desselben Raumes (B 39) seien, und genau hier dürfte
einer der Ausgangspunkte für Nietzsches späteren Versuch beschlossen sein,
in der Lehre der ewigen Wiederkunft das G a n z e der Welt als zeitliches
G a n z e s zu denken — unter Hintanstellung des Raumes, ebenweiche sich in
der oben zitierten Textpassage aus „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter
der Griechen" bereits andeutet — die reine Anschauung des Flusses der Zeit
sei „ d a s belehrendste M o n o g r a m m alles dessen, was überhaupt unter das
Bereich der intuitiven Vorstellung fällt", heißt es dort 9 7 —, in einem
ebenfalls im Frühjahr 1873 entstandenen, von Nietzsche selbst im
fortlaufenden Text „Zeitatomenlehre" genannten Entwurf (III 26 [12], 3 / 4 ,
177—181) sich jedoch schon breiter entfaltet sieht.
Wie Anni Anders 9 8 herausgearbeitet hat, stellen diese Ausführungen den
Versuch Nietzsches dar, seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition
mit den Anregungen aus der Lektüre teils erkenntnistheoretischer, teils
naturwissenschaftlicher Schriften von African Spir, „ D e n k e n und
Wirklichkeit" (1873), Johann Carl Friedrich Zöllner, „ Ü b e r die N a t u r der
Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis" (1872), und
R o g e r Josef Boscovich, „Philosophiae naturalis T h e o r i a " (1759), in einer
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 25

einzigen Theorie zusammenzufassen. Die für unsere Fragestellung


wesentlichen Aspekte dieser Theorie wollen wir hier kurz darstellen.
Nietzsche geht aus von der Annahme Boscovichs, daß die ersten
Elemente der Materie einfache, ungeteilte und unausgedehnte Massenpunk-
te seien, die aufeinander eine je nach der Entfernung entweder anziehend
oder abstoßend wirkende Kraft ausüben:
Raumpunkt Α wirkt auf Raumpunkt Β und umgekehrt.
Dazu bedarf es einer Zeit, denn jede Wirkung hat einen
Weg zurückzulegen.
Aufeinanderfolgende Zeitpunkte würden in einander fallen.
Das aber heißt für Nietzsche: „A trifft mit seiner Wirkung nicht mehr auf
das Β des ersten Momentes", ist doch für ihn „das Wirkende in der Z e i t "
dadurch gekennzeichnet, daß es „in jedem kleinsten Zeitmomente [ . . . ] ein
Verschiedenes [ist]" (177) — eingeschlossen die Kraft. Anni Anders bemerkt
dazu richtig: „Nietzsche argumentiert hier mit einem uns ungewohnten
Kraftbegriff", sind nämlich heute „naturwissenschaftliche ,Kräfte' gerade
dadurch ausgezeichnet, daß sie wirken, ohne sich zu verändern." 9 9
Nietzsche versteht hingegen unter „ K r a f t " ungefähr dasjenige, was wir als
„Energie" bezeichnen würden, 1 0 0 wenn er ausführt:
Gewöhnlich nimmt man in der atomistischen Physik i η
d e r Z e i t unveränderliche Atom-Kräfte an, also οντα im parmenidei-
schen Sinne. Diese können aber nicht wirken.
Sondern nur absolut veränderliche Kräfte können wirken,
solche die keinen Augenblick dieselben sind.
Alle Kräfte sind nur F u n k t i o n d e r Z e i t . (180)
Wenn es an anderer Stelle hinwiederum heißt: „die Zeit beweist das
a b s o l u t e N i c h t b e h a r r e n einer K r a f t " (178), Nietzsche sich somit in
einem Zirkel bewegt — weil sich die Naturkräfte in ihrem Wirken
verändern, darum sind sie als Funktionen der Zeit zu denken, ebenweil sie
aber solches sind, müssen sie sich auch verändern —, so erhellt daraus, daß
Nietzsches Voraussetzung, es gebe „im Rahmen der Physik keinen für noch
so kurze Zeit gleichbleibenden Zustand der Elemente" 101 , auch hier sei alles
im Flusse, im Werden — zumindest in diesem Zusammenhang —
unbewiesen bleibt. Es steht mithin zu vermuten, daß es sich bei der Annahme
des fortwährenden Werdens um die Grund-Voraussetzung des Nietzsche-
schen Denkens handelt, in deren Lichte die Erscheinungen der Welt allererst
ihre Deutung, d. h. ihre Ableitung empfangen.
Gehen aber, so fährt Nietzsche in seinen Überlegungen zu einer
Zeitatomenlehre fort, die Raumgesetze davon aus, daß die nach einiger Zeit
in Β wirkende Kraft des Raumpunktes Α „unverändert dasselbe in dem und
jenem Zeitpunkte" (177) ist, dann sind sie
26 Voraussetzungen

z e i t l o s gedacht, das heißt müssen gleichzeitig


und sofort sein.
D i e g a n z e W e l t in einem Schlage. D a n n aber giebt es
keine B e w e g u n g . (178)
Eine Bewegung, die die Raumgesetze doch gerade erfassen sollen:
D i e B e w e g u n g laborirt an dem Widerspruch, daß sie nach
R a u m g e s e t z e n construirt und durch A n n a h m e einer Zeit
wieder diese G e s e t z e unmöglich macht: d. h. zugleich
ist und nicht ist.
H i e r ist durch die A n n a h m e z u helfen, daß entweder Zeit
o d e r Raum = 0 ist. (178)
Nietzsche aber nimmt, ohne daß er dies eigens begründet, letzteres an: „alle
punktuellen Atome fallen zusammen in einen P u n k t " (ebd.) — eine
Argumentation, die zu denken gibt: Anstatt daß Nietzsche, wie man
erwarten dürfte, die Raumgesetze einfach in der Weise korrigiert, daß die
Kraft des Raumpunktes Α in ihrer Größe eben nicht unverändert sein kann,
wenn sie nach einiger Zeit im Raumpunkt Β wirkt, weil dieser Annahme ein
π ρ ώ τ ο ν ψεϋδος, der von Nietzsche kritisierte Kraftbegriff zugrundeliegt,
erkennt er diese ausdrücklich an — obwohl er sich damit als Konsequenz
einhandelt, im Widerspruch zum sinnlichen Eindruck die Realität des
Raumes leugnen, ihn als illusionär behaupten zu müssen. W o h e r diese
Feindschaft gegen den Augenschein, woher dieser jeder einfachen und
strengen Argumentation vorausspringende Wille, die Welt auf ein reines
Zeitphänomen zu reduzieren? Nietzsche setzt seinen Gedankengang fort:
D a aber die Zeit unendlich theilbar ist, so ist die
g a n z e W e l t möglich rein als Z e i t p h ä n o m e n , weil ich
jeden Zeitpunkt mit dem einen Raumpunkt besetzen
kann, somit ihn unendliche Mal setzen kann. (178)
Es wäre derweise eine ganze Körperwelt denkbar, so spekuliert Nietzsche
weiter, die, nur „aus einem Punkte bestritten" (ebd.), durch „die
Regelmäßigkeit der Zeitfiguren", d. h. durch die Weise der zeitlichen
Aufeinanderfolge dieses Raumpunktes, bestimmt wird. Das räumliche
Nebeneinander aber wäre dann das Produkt der Vorstellung der
empfindenden Wesen:
W e s e n , w e l c h e den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten
als nicht identisch a n n e h m e n und jetzt diese Punkte
gleichzeitig nehmen. (179)
Will sagen:
die Vorstellung construirt sie als ein N e b e n e i n a n d e r
und erklärt jetzt diesem N e b e n e i n a n d e r g e m ä ß den
Fortgang der Welt: reine Übertragung in eine andere
Sprache, in die des Werdens. (Ebd.)
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 27

An anderer Stelle spricht Nietzsche von einer „Übersetzung ins Räumliche"


(180)
Die Gesetze des Raumes wären sämmtlich construirt und
verbürgten nicht das Dasein des Raumes. (179)
Gemäß welcher „Übersetzung" eine Rück-„Übersetzung aller Bewegungs-
gesetze in Zeitproportionen" (179) stattzufinden habe. Ist es somit laut
Nietzsche möglich:
1) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik
zurückzuführen,
2) diese wieder auf Zeitatomistik zurückzuführen,
d a n n fällt
3) die Zeitatomistik [ . . . ] endlich zusammen mit einer
Empfindungslehre. (181)
Denn der „ d y n a m i s c h e " , d . h . der wirkende, von ,Zeitstelle' zu
,Zeitstelle' springende eine „ Z e i t p u n k t ist identisch mit dem
E m p f i n d u n g s p u n k t . Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der
Empfindung." (Ebd.) Die für uns primär gegebenen, zeitlich aufeinander-
folgenden Empfindungen werden vielmehr, so ja Nietzsches Voraussetzung,
erst in der Vorstellung zu gleichzeitigen, genauer: in der Vorstellung des
äußeren Sinnes, der, wie Nietzsche bei Schopenhauer lesen konnte, die uns
„unmittelbar bloß in der Form des innern Sinnes, also der Zeit allein, d. h.
sukzessiv" 102 zugänglichen Empfindungen in die räumliche Form fügt und
so erst, mit der Vorstellung des Nebeneinander, die Vorstellung des
Zugleichseins möglich macht. Was aber diese Vereinigung schaffe, sei der —
von der Vernunft zu scheidende — „Verstand, der mittelst seiner ihm
eigentümlichen Funktion", nämlich der Kausalität, „jene heterogenen
Formen der Sinnlichkeit verbindet, so daß aus ihrer wechselseitigen
Durchdringung, wiewohl auch nur für ihn selbst, die empirische Realität
hervorgeht" 1 0 3 . So jedenfalls Schopenhauer, der in diesem Teil seiner Lehre
darum von derjenigen Kants auf das entschiedenste abweicht, weil sie — wie
Schopenhauer sich in seiner ein erschreckendes Unverständnis ihres
Gegenstandes verratenden „Kritik der Kantischen Philosophie" vernehmen
läßt — „über die Art, wie die empirische Anschauung in unser Bewußtsein
kommt" 1 0 4 nur Unzureichendes und Widersprüchliches gelehrt habe .. .105
Kants „ so seltsame, komplizierte [Erkenntnis-JMaschine" von den „vielen
Rädern, als da sind die zwölf Kategorien, die transzendentale Synthesis der
Einbildungskraft, des innern Sinnes, der transzendentalen Einheit der
Apperzeption, ferner der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe
usw." 106 , kurzerhand auf ein einziges stellend, klärt er seinen Leser Friedrich
Nietzsche, der mit Ausnahme der „Kritik der Urteilskraft" die Kantische
Lehre nur aus zweiter H a n d , vor allem aus derjenigen Kuno Fischers,
28 Voraussetzungen

kannte 1 0 7 , über das Z u s t a n d e k o m m e n der empirischen Erkenntnis w i e f o l g t


auf:
Erst wenn der Verstand — eine Funktion nicht einzelner zarter
Nervenenden, sondern des so künstlich und rätselhaft gebauten drei,
ausnahmsweise aber bis fünf Pfund wiegenden Gehirns — in Tätigkeit
gerät und seine einzige und alleinige Form, das Gesetz der Kausalität, in
Anwendung bringt, geht eine mächtige Verwandlung vor, indem aus der
subjektiven Empfindung die objektive Anschauung wird. Er nämlich faßt
vermöge seiner selbst-eigenen Form, also a priori, d. i. vor aller Erfahrung
(denn diese ist bis dahin noch nicht möglich), die gegebene Empfindung des
Leibes als eine Wirkung auf (ein W o r t , welches er allein versteht), die als
solche notwendig eine Ursache haben muß. Zugleich nimmt er die ebenfalls
im Intellekt, d. i. im Gehirn prädisponiert liegende Form des äußern Sinnes
zu Hülfe, den Raum, um jene Ursache außerhalb des Organismus zu
verlegen: denn dadurch erst entsteht ihm das Außerhalb, dessen
Möglichkeit eben der Raum ist; so daß die reine Anschauung a priori die
Grundlage der empirischen abgeben muß. 10 '

D i e V e r e i n i g u n g des Raumes mit der Zeit durch die Kausalität ergibt somit
laut S c h o p e n h a u e r die V o r s t e l l u n g Materie, als w e l c h e derweise nichts als
Wirksamkeit sei:
N u r als wirkend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Einwirkung auf
das unmittelbare Objekt (das selbst Materie ist) bedingt die Anschauung, in
der sie allein existiert: die Folge der Einwirkung jedes andern materiellen
Objekts auf ein anderes wird nur erkannt, sofern das letztere jetzt anders
als zuvor auf das unmittelbare Objekt einwirkt, besteht nur darin. Ursache
und Wirkung ist also das ganze Wesen der Materie: ihr Sein ist ihr Wirken
[ . . . ] . Höchst treffend ist daher im Deutschen der Inbegriff alles
Materiellen Wirklichkeit genannt, welches W o r t viel bezeichnender ist als
Realität. Das, worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein
und Wesen besteht also nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein
Teil derselben im andern hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach
einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die
Zeit, eben wie der Raum 109 .

Ebendiese Stelle aus Schopenhauers H a u p t w e r k aber zitiert N i e t z s c h e im


Anschluß an seine o b e n besprochenen Auslassungen über Heraklits Intuition
des W e r d e n s (s. S. 23). Eine Vielzahl v o n A u f z e i c h n u n g e n 1 1 0 , darunter v o r
allem die n o c h z u besprechende Schrift „ U e b e r Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne", bezeugen indes, daß Nietzsche in seinem
erkenntnistheoretischen A n s a t z vor der S c h o p e n h a u e r s c h e n V e r e i n f a c h u n g
der Kantischen „ E r k e n n t n i s - M a s c h i n e " in einem entscheidenden Punkt
endlich d o c h w i e d e r a b z u w e i c h e n g e n e i g t ist, w e n n er nämlich davon
ausgeht: „ U n s r e A n s c h a u u n g bereits durch Begriffe modificirt." 1 1 1 —
unsere habituelle A n s c h a u u n g zumindest.
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 29

Als Ergebnis unserer Interpretation der „Zeitatomenlehre" können wir


somit dreierlei festhalten: Zum einen, daß die im Heraklit-Abschnitt des
Fragments über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen"
angedeutete Vorrangstellung der Zeit vor dem Räume, die in der
„Zeitatomenlehre" zu einer Reduktion des Ganzen der Welt auf die Zeit,
genauer: e i n e n springenden Zeitpunkt entfaltet wird, wie die entsprechen-
den Ausführungen Schopenhauers in der Darstellung gründet, die Kant von
beider Verhältnis in der „Transzendentalen Ästhetik" gegeben hat: „Die
Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der
Raum, als die reine Form aller äußeren Erscheinung ist als Bedingung a
priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt." (Kr. d. r. V., A 34,
Β 50) — ohne daß damit der Raum für Kant weniger real, weniger wahr
wäre als die Zeit. Denn anders als Nietzsche, dessen Mißtrauen gegen den
Augenschein ihn, wie sich uns bereits angedeutet hat, von der Negation der
räumlichen Formen zur Verwerfung des traditionellen Begriffes der
Wahrheit führt — der Mensch halte „Illusionen für Wahrheiten" 1 1 2 ,
behauptet er —, anders als Nietzsche also hält der Kantische Kritizismus an
jenem Wahrheitsbegriff fest. In der „Kritik der reinen Vernunft", im
Abschnitt Β 82, heißt es ausdrücklich: „Die Namenerklärung der Wahrheit,
daß sie nämlich die Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem
Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt". Das Werk will
nichts anderes, als die Bedingungen der Möglichkeit von solcherweise
wahrer Erkenntnis erhellen. Warum aber kann Nietzsche die Gültigkeit
dieser Wahrheit nicht mehr voraussetzen? Und dies nicht einmal in seiner
Auslegung Kants — denn versteht er diesen nicht dahingehend, als habe er
gerade die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis erwiesen? (Nietzsche
zeichnet im Sommer 1872—Anfang 1873 auf 113 : „Es ist zu b e w e i s e n , daß
alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften,
wenn Kant Recht hat." Woran sich die Bemerkung knüpft: „In dieser
Skepsis kann niemand leben.//Wir müssen über diese Skepsis hinaus, wir
müssen sie v e r g e s s e n ! " ) Und dies, obwohl er die anderslautende
Interpretation Kuno Fischers mehrfach, zuerst wohl Ende 1867, studiert hat
— womit sogleich auch die Antwort, Nietzsche sei diese „Fehlinterpreta-
tion" durch die Schriften Langes und Schopenhauers nahegelegt worden, als
vordergründig zurückgewiesen werden kann. Recht verstanden aber gibt sie
unserer Frage eine umfassendere Hinsicht, die wir wahren müssen, wenn wir
Nietzsche zureichend, nämlich als Gestalt der Geschichte der abendländi-
schen Metaphysik verstehen wollen: Warum können Ding an sich und
Wahrheit in der Weise miteinander verknüpft sein, daß aus der
Unerkennbarkeit des ersteren die Unmöglichkeit der letzteren folgt? Und
warum ist dies bei Kant nicht so?
30 Voraussetzungen

Erinnern wir uns bei dieser Frage daran, daß — von Nietzsche aus
gesehen — f ü r Kant das Ding an sich darum nicht erkennbar sein konnte,
weil seiner Ansicht nach der Welt der Dinge im Hinblick auf die
Erfordernisse der Moral Übersinnlichkeit zugesprochen werden muß, so
daß sich die sinnliche Welt als inkongruente Erscheinung eines wahren
Wesens der Dinge erweist, das im übrigen nur derjenige unverstellt zu
erkennen vermag, der das Ding als solches — und nicht nur, wie der
Mensch, als Erscheinung — im Anschauen schafft, nämlich der intuitus
originarius, d. h. Gott. Gott? Wahrheit? Unerkennbarkeit der Wahrheit?
Ahnen wir denn nichts? H a b e n wir nicht gesehen, daß bereits f ü r den jungen
Nietzsche Gott tot ist? Kann er darum vielleicht keine Wahrheit mehr
annehmen? Und wenn, wie wir gesagt haben, Wahrheit f ü r Nietzsche ein
absolutes Sein voraussetzt, was hat das W e r d e n mit dem T o d Gottes zu tun?
Uns dämmert, daß die Frage nach Nietzsches Voraussetzungen —
woher sein Mißtrauen gegen den Augenschein rührt, das die Intuition des
reinen Werdens impliziert, warum mithin die tiefste uns zugängliche Schicht
auch die „wahrste" und nicht etwa eine vorläufige, unvollkommene, der
sekundären Bearbeitung bedürftige ist114 —, daß diese Frage nach
Nietzsches Voraussetzungen über Kant hinaus nach den anfänglichen
Voraussetzungen des abendländischen Denkens und d. h. der Metaphysik
fragt, die Nietzsche überwinden möchte: Welches Verhältnis von Gott,
Wahrheit, Sein und W e r d e n setzt sie Friedrich Nietzsche voraus — den
N a m e n dabei ganz im Sinne des Philosophen verstanden als ein solcher f ü r
ein Geschick ihrer selbst ( „ W a r u m ich ein Schicksal bin", E H , 6 / 3 , 363)?
Doch zunächst einmal haben wir festzuhalten, daß Nietzsche in bezug
auf die Kantisch-Schopenhauerischen Ausführungen über das Verhältnis
von Raum und Zeit letztere als „das belehrendste M o n o g r a m m alles dessen"
bezeichnet, „was überhaupt unter das Bereich der intuitiven Vorstellung
fällt". U n d dieses M o n o g r a m m zeigt das „ewige und alleinige Werden, die
gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen", seine Relativität und d. h.
seine Nichtigkeit. Zwar lehren diese Nichtigkeit „wie die Zeit, so auch der
Raum, und wie dieser, so auch alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist,
alles also, was aus Ursachen oder Motiven hervorgeht" ( W a W I, 37), der
Wandel der Materie mithin, doch ist, folgt man Schopenhauer, die Lehre des
ewigen Werdens aus den anderen Gestaltungen des Satzes vom Grunde
einerseits überhaupt nicht — der Raum als solcher kennt nur das starre,
unveränderliche Beharren 1 1 5 —, andererseits allein unter großen Schwierig-
keiten zu gewinnen: Insofern die Materie in ihrem Wesen, der den „Zustand
zu dieser Zeiten diesem Ort"116 bestimmenden Kausalität, den Raum mit der
Zeit zu gegenseitiger Beschränkung vereinigt — erst die Verfugnis der
bestandlosen Flucht der Zeit mit dem starren Beharren des Raumes führt die
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 31

Möglichkeit des Zugleichseins und der Veränderung, damit das Widerspiel


von Dauer und Wechsel sowie den gegenwendigen Bezug von beharrender
Substanz und veränderlicher Akzidenz 117 herbei —, insofern „trägt die
Materie durchweg das Gepräge von beiden". Für das Werden, die
bestandlose Flucht der Zeit aber bedeutet dies, daß sie an ihr den Widerstreit
des Seins, des beharrenden Raumes erleidet. Statt von „Widerstreit" aber
könnten wir im Hinblick auf das zweite Ergebnis unserer Interpretation
auch von „Verstellung" sprechen. Verstellt nämlich wird in diesem
Widerstreit die im Rückgang von der intuitiven Anschauung der Welt als
tiefste zu erreichende Schicht des subjektiven Flusses der bloßen
Empfindung, die f ü r Nietzsche „wahrste", weil am wenigsten scheinhafte
Schicht, indem sie in jener „ h ö h e r e n " Schicht der räumlich-kausalen
Perzeption als Materie vorgestellt wird, wird doch so, wie gesagt, jener nur
im Fortriß der Zeit gehaltene und in dieser seiner Haltlosigkeit mit einem
reinen Werden gleichzusetzende Fluß in einen zähen Widerstreit mit dem
Sein gefügt. Endgültig entschwindet das Werden anscheinend aber im
feststellenden Zugriff des per Abstraktion aus der Anschauung zu
gewinnenden Begriffs — weswegen, wie aus Nietzsches Darstellung des
Heraklit in seiner Schrift über die Vorplatoniker zu entnehmen ist, die
Erkenntnis „des ewigen und alleinigen Werdens" nur im Ausgang von der
intuitiven Vorstellung gewonnen werden kann. Hatten wir das aber nicht im
Auge, als wir auf S. 22 formalanzeigend bemerkten, daß das vorstellende
Denken dem Werden nur insoweit — näherungsweise zumindest — zu
entsprechen vermag, als es sein stellendes Wesen in der Weise zu übersteigen
versucht, daß es sich ent-spricht? So daß Nietzsche es, wie Kant, f ü r
notwendig befände, „seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den
Gegenstand in der Anschauung beizufügen)" (Kr. d. r. V., A 51, Β 75) —
weil diese andernfalls leer, d. h. sinnlos wären —, um diese Anschauung
dann, der begrifflichen Fest-stellung entgegen, als Werdendes, schließlich
gar, in der tiefsten uns erreichbaren Schicht, als reines Werden zu erfahren?
Und — bedenkt man zudem daß „Anschauung" ja nicht nur „das
Angeschaute", sondern auch „der Akt der Anschauung" bedeutet, daß
dieser Doppelsinn aber bereits bei Kant insofern einsinnig ist, als der Akt der
Anschauung das Angeschaute konstituiert, daß mithin zwischen Vorstellung
und Gegenstand der Vorstellung nicht geschieden werden kann —
entspräche sich dergestalt das Denken nicht auch in der von der
formalanzeigenden Bestimmung geforderten zwiefältigen Weise, daß das
Denken sich selbst entspricht, indem es sich solcherweise von der
sprachlichen Feststellung frei-, d. h. ent-spricht und so als Werdendes, das es
in seinem Wesen ist, erfährt? In der Tat. Doch muß man, um den letzten
Schritt in der Reihe dieser Überlegungen einsehen zu können, bereits hier im
32 Voraussetzungen

Auge haben, daß für den frühen Nietzsche wie für Schopenhauer gemäß
ihrer beider Theorie von der sekundären Natur des Begriffs — die zudem
zumindest von Nietzsche eindeutig als sprachlich aufgefaßt wird — „alles
Urdenken [ . . . ] in [vorbegrifflichen] Bildern [geschieht]" (WaW II, 488;
dazu im folgenden). Indes werden wir noch sehen, daß diese
formalanzeigende Bestimmung noch in einer ganz anderen Weise
Ausfüllung erhalten kann; nicht zuletzt werden wir in diesem
Zusammenhang Nietzsches Selbstkritik an der „Geburt der Tragödie": „Sie
hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden !"118 zu bedenken
haben. Hier aber muß zunächst als drittes, indes noch nicht vollständig
ausgewiesenes Ergebnis unserer Interpretation festgehalten werden, daß die
Metaphysik in Nietzsches Augen auch — mag sogar sein: vor allem — ein
Problem der Sprache ist, nämlich das des sprachlich verfaßten feststellenden
Begriffs und der mit ihm hantierenden Logik. Dem Philosophen des
Werdens, Heraklit, der „als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft
der intuitiven Vorstellung [hat]; während er gegen die andre Vorstellungs-
art, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also
gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt" 119 , steht als
Philosoph des Seins darum, laut Nietzsches Abhandlung über die
Vorsokratiker, jener Denker gegenüber, der in seinem „Begriffsvermögen
das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das heißt
über die objektive Realität und ihr Gegentheil" 120 zu besitzen wähnt,
Parmenides...
Vorderhand aber haben wir eigens die Kehre der Zeitatomenlehre zur
Empfindungslehre zu bedenken, weil Nietzsche darin erkenntnistheoreti-
sche Voraussetzungen einholt, die er in einer dem Versuch unmittelbar
vorausgehenden Notiz 121 aufgezeichnet hat. Ihre wichtigsten Gedanken
lauten:
Ich habe nichts als E m p f i n d u n g und Vorstellung.
Also kann ich diese nicht aus den Vorstellungs-Inhalten
entstanden denken.

[•·•]
W i r können uns nichts denken, das nicht E m p f i n d u n g
und Vorstellung wäre.
Somit auch nicht rein Zeit, Raum W e l t existirend,
aber o h n e das E m p f i n d e n d e und Vorstellende.
Ich kann mir das Nichtsein nicht vorstellen.
D a s Seiende ist Empfindung und Vorstellung.
D a s N i c h t s e i e n d e w ä r e etwas, was nicht E m p f i n d u n g
und Vorstellung wäre.
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 33

D a s Vorstellende kann sich nicht „ n i c h t vorstellen",


wegvorstellen.
D a s Vorstellende kann sich nicht als g e w o r d e n denken,
noch als vergehend.
U n m ö g l i c h auch die Entwicklung der Materie, bis z u m
Vorstellenden. 1 2 2
D e n n es giebt g a r nicht diesen G e g e n s a t z von Materie
und Vorstellung.
D i e Materie selbst ist nur als E m p f i n d u n g gegeben.
J e d e r Schluß hinter sie ist unerlaubt.
D i e E m p f i n d u n g und die V o r s t e l l u n g ist die U r s a c h e ,
daß wir an G r ü n d e Stöße K ö r p e r glauben.
Wir können sie auf B e w e g u n g und Z a h l e n z u r ü c k f ü h r e n .
M a g eine Einflüssen nachspürende Untersuchung zu dem Ergebnis
kommen, daß „ d e r Ansatz und das Vokabular weitgehend Spir entlehnt
sind" 1 2 3 , so muß gleichwohl festgehalten werden, daß der in jenen Jahren
„völlig u n b e k a n n t e [ . . . ] Spir" 1 2 4 nur darum einen so großen Einfluß auf
Nietzsche gewinnen konnte — noch im Sommer 1885 finden sich in dessen
Aufzeichnungen Spuren der Auseinandersetzung mit Spir 1 2 5 —, weil der
Denker hier in klarer Darstellung und in der Diskussion mit den wichtigsten
zeitgenössischen Erkenntnistheorien seine eigene erkenntnistheoretische
Grundposition — wenngleich sie auch in einem entscheidenden Punkte von
derjenigen Spirs abweicht (s. dazu Anm. 127) —, vor allem aber seine
Intuition der Welt als eines fortwährenden Werdens entfaltet sieht.
In dem von Nietzsche am 13.2. 1873, kurz nach seinem Erscheinen, aus
der Basler Universitätsbibliothek entliehenen 1. Teil seines Hauptwerkes
„ D e n k e n und Wirklichkeit" sucht sich Spir die Grundlagen für ein allein auf
unmittelbar Gegebenes und Gewisses aufbauendes philosophisches System
zu erarbeiten. Unmittelbar gewiß aber sind seinen Ausführungen zufolge
nur unsere Empfindungen, als Einzelempfindungen, und, als unser
„oberstes D e n k g e s e t z " , der Satz der Identität, in dem wir sowohl einen
Begriff vom Wesen der Wirklichkeit als auch das „Prinzip der
erfahrungsmäßigen Erkenntnis" besäßen. 126 Für Nietzsche ist neben dieser
Grundlegung vor allem die erste von vier Hauptfolgerungen wichtig
geworden, die Spir daraus zieht, daß nämlich das Geschehen, die
Veränderung — die indes in seinen Augen, und darin unterscheidet sich
Nietzsche von ihm, nicht zum wahren, ursprünglichen Wesen der Dinge
gehört —, uns wirklich und zwar unmittelbar in der Sukzession der
Empfindungen gegeben ist. 127 Nietzsche, für den in diesem Zusammenhang
die von ihm an anderer Stelle negativ beantwortete (s. Anm. 77 und
Anm. 127) Frage nach unmittelbaren Gewißheiten keine Rolle spielte,
konnte hierin eine Bestätigung und Interpretation seiner Intutition der Welt
34 Voraussetzungen

als eines ständigen Werdens sehen. 128 Wenn wir „nichts als Empfindung und
Vorstellung haben", dann heißt das, daß wir aus der Empfindung, genauer:
aus dem Fluß der Empfindung in der Form der Zeit durch
räumlich-kategoriale Formung die materielle Wirklichkeit vorstellend
herstellen, welcher Fluß aber als tiefste uns zugängliche Schicht für
Nietzsche auch die wahrste ist. Dieser aber deutet, wie bereits erwähnt, auf
dasjenige hin, was Nietzsche reines Werden nennt. Ihn bezeichnet er im
Anschluß an Schopenhauer anfangs auch als „Wille". Empfindung des
eigenen Leibes in der Zeit — so kann man nämlich die empirische Erfahrung
umschreiben, aus der Schopenhauer im Ausgang von „Kants Lehre vom
empirischen und intelligibeln Charakter" 1 2 9 durch eine für Nietzsche
unmögliche „Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung" 1 3 0
sein metaphysisches Prinzip des „Willens" gewinnt. In diesem Sinne schreibt
Schopenhauer in „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde":
W e n n wir in unser Inneres blicken, finden wir uns immer als wollend.
J e d o c h hat das W o l l e n viele Grade v o m leisesten W u n s c h e bis zur
Leidenschaft, und daß nicht nur alle A f f e k t e , sondern auch alle die
B e w e g u n g e n unsers Innern, w e l c h e man d e m weiten Begriffe Gefühl
subsumiert, Zustände des Willens sind, habe ich öfter auseinanderge-
setzt 1 3 1 .
In einer der Vorstufen zur „Geburt der Tragödie", in der im Sommer 1870
abgefaßten Schrift „Die dionysische Weltanschauung", heißt es darum:
„Was wir ,Gefühl' nennen, das lehrt die auf Schopenhauers Bahnen
wandelnde Philosophie als einen Komplex von unbewußten Vorstellungen
und Willenszuständen begreifen." 132 , womit Nietzsche nicht etwa nur die
Philosophie Eduard von Hartmanns — von ihm nach anfänglicher
zurückhaltender Zustimmung 133 wegen der christlichen Verkehrung des
Schopenhauerschen Ansatzes 134 bereits in der 2. Unzeitgemässen Betrach-
tung auf das schärfste bekämpft —, sondern auch seine eigenen tastenden
Ansätze meint. So notiert er beispielsweise im Zeitraum Ende 1870—April
1871: „Die Empfindung als Erscheinung, d . h . der Wille." 135 Und kurz
darauf heißt es: „ D e r Wille ist die allgemeinste Erscheinungsform: d. h. der
Wechsel von Schmerz und Lust" 136 . Dieses Zitat aber weist bereits auf den
grundlegenden Unterschied hin, der zwischen der Willenskonzeption
Nietzsches und derjenigen Schopenhauers besteht. In einem längeren, dem
Umkreis der „Geburt der Tragödie" zugehörigen Fragment aus dem
Frühjahr 1871137 faßt Nietzsche diesen Unterschied wie folgt:
A u c h das gesammte Triebleben, das Spiel der G e f ü h l e E m p f i n d u n g e n
A f f e k t e Willensakte ist uns — w i e ich hier g e g e n Schopenhauer einschalten
muß — bei genauester Selbstprüfung nur als Vorstellung, nicht seinem
W e s e n nach, bekannt: und wir dürfen w o h l sagen, daß selbst der „ W i l l e "
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 35

Schopenhauers nichts als die allgemeinste Erscheinungsform eines uns


übrigens gänzlich Unentzifferbaren ist.

Oder, wie es an anderer Stelle desselben Textes heißt, nichts anderes als die
„allgemeinste Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden
und alles Wollen einzig verstehen" 138 . Mit den Worten anderer Texte
gesprochen: Der Wille ist zeitliche „Form des Werdens" 139 , „ein höchst
complicirtes Letztes in der Natur" 1 4 0 , über das keine Wege der Erkenntnis
hinausführen in ein Reich des Wesens, des ewigen Seins. Auch nicht
diejenigen, die Kant — wie Nietzsche meint: aus der moralischen Nötigung,
als Christ dem Menschen Freiheit, und sei es auch nur in einer intelligiblen
Ordnung der Dinge, zusprechen zu müssen — und, sich auf Kant berufend,
Schopenhauer eingeschlagen haben. Dessen Annahme, daß „ewiges
Werden, endloser Fluß" der erscheinenden Welt „zur Offenbarung" eines
solchen räum- und zeitlosen „Wesens des Willens" gehören 141 , ist als
metaphysische Annahme für Nietzsche bloße Spekulation oder, mit Kant zu
sprechen, blinde Begrifflichkeit — wovon der auf Lange zurückgehende
Terminus „Begriffsdichtung" augenscheinlich abgeleitet ist. „Ihr gebraucht
Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten", läßt Nietzsche in
seiner Schrift über die Vorplatoniker Heraklit ausrufen 142 , ohne daß er sich
dafür auf irgendein Fragment stützen könnte — ein weiterer Hinweis
darauf, daß für ihn das Problem der Metaphysik auch ein sprachliches
Problem ist, daß für ihn der Glaube an ein absolutes Sein Folge der
begrifflichen Feststellungen, Glaube an die Grammatik ist.

Aber — so haben wir hier, unseren Gedankengang unterbrechend, zu


fragen, spricht denn nicht auch Nietzsche von einem solchen Sein, und zwar
nicht nur in den später veröffentlichten Schriften dieser Frühphase seines
Philosophierens, bei denen, wie bereits angedeutet, persönliche Rücksich-
ten, vor allem Hoffnungen auf die Sache Wagners in Anschlag zu bringen
sind, sondern auch in den rücksichtslos von seinem eigenen Ansatz
kündenden privaten Notizen, beispielsweise in der eben interpretierten
Zeitatomenlehre? Heißt es da nicht im Anschluß an die Ableitung des einen
Zeitpunktes: „Die Realität der Welt bestünde dann in einem verharrenden
Punkte" 143 ? Ist dies kein Sein? Und fährt Nietzsche nicht unmittelbar darauf
fort:
D i e Vielheit entstünde dadurch, daß es vorstellende Wesen gäbe, welche
diesen Punkt in den kleinsten Zeitmomenten wiederholt dächten: Wesen,
welche den Punkt auf verschiedenen Zeitpunkten als nicht identisch
annehmen und jetzt diese Punkte gleichzeitig nehmen. 144 ,

um dann das Werden der Welt als Täuschung des Vorstellungsapparates zu


erweisen:
36 Voraussetzungen

die Vorstellung construirt sie [die Zeitfiguren] als ein Nebeneinander und
erklärt jetzt diesem Nebeneinander gemäß den Fortgang der Welt: reine
Übertragung in eine andere Sprache, in die des Werdens. 145 ?
In der T a t — es hat an dieser Stelle den Anschein, als bestünde für Nietzsche
die „ w a h r e " Realität der Welt in einem verharrenden Sein und als sei für ihn
das Werden täuschender Augenschein. Jedoch — wird nicht dementgegen
dieser Zeitpunkt von ihm als „mit einer constanten Kraft wirkend" 1 4 6
gedacht, als „eine punktuelle Kraft, welche zu jedem späteren Zeitmomente
ihrer Existenz eine Relation" 147 hat? Und bemerkt er in Übereinstimmung
damit nicht ausdrücklich:
In jedem kleinsten Moment müßte die Kraft verschieden sein: aber die
Aufeinanderfolge wäre in irgendwelchen Proportionen und die vorhande-
ne Welt bestünde in der S i c h t b a r w e r d u n g d i e s e r K r a f t - P r o -
p o r t i o n e n , d. h. Übersetzung ins Räumliche. 148 ?
So daß mit der oben angesprochenen „Ubersetzung ins W e r d e n " ganz im
Sinne unserer früheren Ausführungen die Übertragung des reinen Werdens
oder Wirkens in der Zeit ins Räumliche gemeint wäre, woraus das
Widerspiel von Verharren und Vergehen, von Beständigkeit und
Veränderung hervorgeht, d. h. das, was wir als Werden vor Augen haben?
So ist es. Anders als in den später zu besprechenden, bewußt ein absolutes
Sein voraussetzenden Texten darf der Aufschein eines solchen in diesem nur
flüchtig ausgeführten Versuch, eben weil er zum Ziele hat, das
augenscheinliche Sein der Welt auf ein reines Werden zurückzuführen,
nicht anders gedeutet werden denn als Ausfluß der von Nietzsche hier nicht
bedachten, hingegen bei Spir thematisierten Tatsache, daß es unserem
vorstellenden Denken unmöglich scheint, Werden rein als solches, d. h. ohne
Bezug auf ein identisches Sein zu denken — ganz abgesehen von dem damit
zusammenhängenden Problem, daß der Begriff „ W e r d e n " selber eine
Feststellung, d. h. ein „Sein" ist — und das Bedingte ohne Bezug auf ein
Unbedingtes (welchen Schwierigkeiten schließlich die Konzeptionen der
ewigen Wiederkunft des Gleichen und des Willens zur Macht Rechnung
tragen werden): Das Werden kann scheinbar von uns nur als gehalten im,
und das meint: bedingt durch, ein sich in diesem haltendes, unbedingtes Sein
begriffen werden. 149 Vermag das vorstellende Denken schon die Bewegung
— den Fluß der bloßen, unbestimmten Empfindungen in der Zeit —, den
reinen Vollzug des „Lebens" nicht anders als durch Fest-stellungen
(räumlicher und kategorialer Art), durch Umsetzung in Bestimmtheiten zu
fassen, so naturgemäß erst recht nicht ihr bzw. sein Währen. Wenn
Nietzsche im Fragment über die vorplatonischen Philosophen als Lehre
Heraklits anführt, „daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken
ist und daß es für sie keine andre Art Sein giebt" 150 , so kommt genau dies
darin zum Ausdruck, ebenso wie in dem bald darauf folgenden Satz: „Das
Die Zeitatomenlehre vom Frühjahr 1873 37

ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles


Wirklichen, Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstel-
lung" 1 5 1 ; ist doch das Ewige und zwar, folgt man den Bestimmungen der
abendländischen Metaphysik, als das höchste Sein. (Mit dieser Denkvoraus-
setzung eines gegenwendigen Bezuges von Sein und Werden aber hängt eine
weitere, von Nietzsche hier ebenfalls nicht gesehene Fragwürdigkeit
zusammen: Wenn denn die „Realität der W e l t " in einem wirkenden, d.h.
springenden Zeitpunkte bestehen, ihre Vielheit aber dadurch entstehen soll,
daß es vorstellende Wesen gibt, „welche diesen Punkt in dem kleinsten
Zeitmomente wiederholt denken", d. h. „den Punkt auf verschiedenen
Zeitpunkten als nicht identisch annehmen und jetzt diese Punkte gleichzeitig
nehmen" 152 , darüber hinaus sich selbst aber, wie Nietzsche in jener der
Zeitatomenlehre unmittelbar vorausgehenden Notiz sagt, 153 „nicht als
geworden [ . . . ] , noch als vergehend" denken können, somit als Vorstellende
außerhalb dieser Folge von Zeitmomenten stehen und dennoch selber nichts
anderes sein können als der sich eben darin setzende eine Zeitpunkt — so
muß die Frage gestellt werden, wie denn die Selbstentgegensetzung dieses
Punktes zu denken sei?)
Zu der Vorstellung der Ewigkeit aber lehrt jene Notiz des weiteren, daß
sie in nichts anderem begründet ist, als daß „[i]ch [ . . . ] mir das Nichtsein
nicht vorstellen [kann]" 1 5 4 : Sie ist ein Glaube, der durch den Bau unseres
Erkentnisvermögens bedingt ist. „Wir können uns nichts denken", heißt es
dort, „das nicht Empfindung und Vorstellung wäre. // Somit auch nicht rein
Zeit, Raum Welt [d.h. nach Schopenhauer: Kausalität] existirend, aber
ohne das Empfindende und Vorstellende." 155 Ebendies aber ist die aus der
Kritik der reinen Vernunft erwachsende Lehre Kants:
daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei;
daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir
sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als
sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die
subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die
Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst
Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich
selbst, sondern nur in uns existieren können.156.
Mit Nietzsches Worten in der Schrift über die Vorplatoniker:
Durch Worte und Begriffe werden wir nie hinter die Wand der Relationen,
etwa in irgend einen fabelhaften Urgrund der Dinge, gelangen und selbst in
den reinen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes, in Raum Zeit und
Kausalität gewinnen wir nichts, was einer Veritas aeterna ähnlich sähe.157
Als von uns für und entworfene Welt ist die Welt der Erscheinungen, wie
Nietzsche in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" sagt, „durch und
durch anthropomorphisch und enthält keinen einzigen Punct, der ,wahr an
sich', wirklich und allgemeingültig, abgesehen von dem Menschen, wäre" 158
38 Voraussetzungen

— die Suche der Metaphysik nach einem solchen archimedischen Punkt ist
darum nicht nur vergebens, sondern von vornherein auch verfehlt: Wenn die
Welt anthropomorphischen Wesens ist, dann hat sie die Welt auch
anthropomorphisch auszulegen: „Ihre Eigenschaften an sich gehen uns
nichts an, aber insofern sie auf uns wirken", bemerkt Nietzsche im Sommer
1872— Anfang 1873159. Und an anderer Stelle heißt es, wie bereits gehört
(s.S. 11):
Sobald man das Ding an sich e r k e n n e n will, so i s t es e b e n d i e s e
W e l t — erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen
an e i n e m Maße (Empfindung). 160
Doch bedeutet dies eben nicht nur, wie es bereits bei Schopenhauer zu
beobachten ist, bei der Bestimmung des „Wesens der Welt" (reductio) vom
Menschen ausgehen, sondern auch einbekanntermaßen bei ihm stehenblei-
ben zu müssen, zu gestehen, daß derartige Aussagen der Philosophie kein
An-Sich der Dinge betreffen, sondern bestenfalls „die allgemeinste
Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen
einzig verstehen". Für Nietzsche aber ist dies, wie gesehen, der Fluß der
Empfindung in der Zeit. Derweise könnte sich die Welt in durchgängig
anthropomorphischer Sicht als eine Ansammlung von Empfindungskomple-
xen erweisen; Nietzsche schreibt Sommer 1872—Anfang 1873 161 :
Wenn alles Empfindung hat, so haben wir ein Durcheinander von kleinsten
größeren und größten Empfindungscentren. Diese Empfindungscomplexe,
größer oder kleiner, wären „Wille" zu benennen.
Womit Nietzsche an Schopenhauer anknüpft, ohne daß er sein
„metaphysisches Prinzip", gleich diesem, f ü r eine Bestimmung des An-Sich
der Dinge hielte, so daß es, streng genommen, diesen Titel nicht mehr
verdient.
Daß nämlich den Philosophen auch in der „Intuition" keine „Art von
Wunder-Augenglas" zur H a n d ist, „mit dem sie direct in's ,Wesen' sehen"
können, dies lehrt nicht erst diese ironische Bemerkung aus dem
162. Aphorismus des ersten Teils von „Menschliches, Allzumenschliches" 162 ,
vielmehr geht dies in wünschenswerter Deutlichkeit bereits aus früheren
Texten hervor, in denen Nietzsche das Wesen dieser Erkenntnisart bedenkt.
Doch mögen jene Texte hier nicht etwa nur darum angeführt sein, weil sie
einen weiteren — wie spätere Auseinandersetzungen mit anderen
Auslegungen zeigen werden — notwendigen Beleg für unsere These liefern,
daß bereits Nietzsches Philosophie der Frühzeit nur relative „Wahrheit"
beansprucht, sondern auch, weil sie das — wie bereits der Versuch der
Zeitatomenlehre erkennen läßt — f ü r Nietzsches Philosophieren wichtige
T h e m a des Verhältnisses von Wissenschaft, Philosophie und Kunst
bedenken.
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 39

4. Zum ersten Male: Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst
— Der Begriff der Intuition

So ist in einem aus der Zeit Sommer 1872—Anfang 1873 stammenden


Fragment 1 6 3 , das in das 3. Kapitel der in den Märztagen des Jahres 1873
geschriebenen Schrift über die Vorplatoniker Eingang gefunden hat 164 ,
nachfolgende Passage zu lesen:
Das philosophische Denken ist mitten in allem wissenschaftlichen Denken
zu spüren: selbst bei der Conjektur.
(Was im unmittelbar folgenden Fragment 1 6 5 so formuliert wird: „ E s giebt
keine aparte Philosophie, getrennt von der W i s s e n s c h a f t :
dort wie hier wird gleich g e d a c h t . " )
E s [das philosophische D e n k e n ] springt voraus auf leichten S t ü t z e n :
schwerfällig keucht der V e r s t a n d hinter drein und sucht bessere S t ü t z e n ,
n a c h d e m ihm das lockende Zauberbild erschienen ist. Ein unendlich
rasches D u r c h f l i e g e n großer R ä u m e ! [ . . . ] Es ist Flügelschlag der
Phantasie, d. h. ein Weiterspringen von Möglichkeit zu Möglichkeit, die
einstweilen als Sicherheiten g e n o m m e n werden. H i e r und da von
Möglichkeit zu einer Sicherheit und wieder zu einer Möglichkeit. —
W a s ist aber eine solche „ M ö g l i c h k e i t " ? Ein Einfall ζ. B. „ e s könnte
vielleicht". Aber wie k o m m t der Einfall? Mitunter zufällig äußerlich: ein
Vergleichen, das E n t d e c k e n irgend einer A n a l o g i e findet stau. N u n tritt
eine E r w e i t e r u n g ein. D i e Phantasie besteht im schnellen
Ä h n l i c h k e i t e n s c h a u e n . D i e R e f l e x i o n mißt nachher Begriff an
Begriff und prüft. D i e Ä h n l i c h k e i t soll ersetzt werden durch
Causalität.
Unter „philosophischem D e n k e n " versteht Nietzsche hier somit das von der
Phantasie — einer ,,unlogische[n] Macht", wie er in der entsprechenden
Passage der Schrift über die Vorplatoniker hervorhebt 166 — geleitete
Denken, d. h., so wird ein im folgenden zitierter Text auch wörtlich belegen,
die Intuition. Doch ist dieses Denken nicht nur in der Philosophie —
gleichgültig, ob man damit die traditionelle Metaphysik meint oder
Nietzsches eigene frühe oder späte denkerische Ansätze im Auge hat 167 —,
vielmehr auch in der Wissenschaft, ja sogar im alltäglichen Denken
anzutreffen, wenngleich es hier weniger stark ausgeprägt erscheint als in der
Wissenschaft, für die hinwiederum das gleiche im Verhältnis zur
Philosophie gilt: Die Differenzierung kommt, wie Nietzsche einigermaßen
unbestimmt sagt, nur durch unterschiedliche „ G r a d e und Q u a n t i t ä -
t e n " zustande: „alle Menschen sind künstlerisch philosophisch wissen-
schaftlich usw." 1 6 8 Zu welcher Notiz anzumerken ist, daß der Kunst insofern
eine Sonderstellung zukommt, als ihr „anschauendes D e n k e n " die höchste
K r a f t der Phantasie erfordert, ohne irgend auf Begriffe bezogen zu sein.
Nächst der Kunst aber verlangt die Philosophie ein Höchstmaß an Intuition,
40 Voraussetzungen

da sie anders als die Wissenschaft, die die Empirie in einzelne Teilbereiche
aufgliedert, ehe sie denn dort jeweils Zusammenfassungen unternimmt, eine
Zusammenschau der Gesamtheit der Phänomene versucht.
Wenn damit für den frühen Nietzsche das Wesen des Denkens darin
besteht, daß die Phantasie Ähnlichkeiten erschaut, d. h. in der Anschauung
voraussetzt, die dann schließlich begrifflich und damit reflexiv eingeholt
werden, so ist dies eine Theorie des Denkens und des hermeneutischen
Zirkels ("Man muß beim Denken schon haben, was man sucht, durch
Phantasie — dann erst kann die Reflexion es beurtheilen." 169 ), die sich mit
Notwendigkeit aus der durch Schopenhauer beeinflußten — von uns erst
später eingehend abgehandelten — Auffassung Nietzsches ergibt, daß
Begriffe sekundärer Natur, nämlich durch Abstraktion aus der Anschauung
gewonnen sind. Heißt es bei Schopenhauer: „Alle Begriffe, alles Gedachte
sind ja nur Abstraktionen, mithin Teilvorstellungen aus jener [der
Anschauung] und bloß durch Wegdenken entstanden. [ . . . ] Alles Urdenken
geschieht in Bildern." 170 , so analog bei Nietzsche: „ D e m Begriff entspricht
zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken" 1 7 1 . Wobei man im Auge behalten
muß, daß derjenigen Kraft der Phantasie, „welche das Ahnliche auswählt
und betont", eine solche vorhergehen muß, „die die Bilderfülle [d. h. die
Welt der Anschauung] erzeugt" 1 7 2 : „Es ist zwiefach eine künstlerische Kraft
da, die bildererzeugende und die auswählende." 173 Wenn derweise die
Phantasie selbst dasjenige erzeugt, was sie entdeckt und das begriffliche
Denken hernach erst einholt, so daß — wie wir bereits auf S. 17 f. ausgeführt
haben — das menschliche Vorstellungsvermögen, der Intellekt, selbst
dasjenige vorstellt, was es dann in die Unverborgenheit herstellt, um es dort
begrifflich erfassen zu können („Es ist ein langer W e g bis zur
Abstraktion." 174 ), dann bestätigt das die schon früher (S. 8) aufgestellte
These, daß laut Nietzsche der Erkenntnisapparat kunstschaffend und der
Intellekt mithin in seinem Wesen als Phantasie zu begreifen ist.

In diesem Geschehnis, daß der menschliche Intellekt seine eigene


Voraus-setzung ent-deckt, indem er sich an diese anmißt, ist aber dessen
Grund- oder Wesensgeschehnis, und das bedeutet zugleich: dasjenige der
Wahrheit, zu erkennen — solches lehrt eine Analyse seiner Grundfunktion,
des im philosophischen Bereich sich als das Streben nach Zusammenschau
des Seienden äußernden Strebens nach Identifikation von Ähnlichkeiten 175 :
In der Abhandlung über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der
Griechen" geht dem Abschnitt, in dem das von der Phantasie geleitete
philosophische Denken am Beispiel des Thaies beschrieben wird, der Satz
voran, daß diesen
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 41

ein metaphysischer Glaubenssatz [getrieben habe], der seinen Ursprung in


einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt
den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der
Satz „Alles ist Eins". ( P H G 3, 3/2, 307)
Ein metaphysischer Glaubenssatz, d. h. ein von uns für wahr gehaltener,
empirisch nicht überprüfbarer, aus dem Seienden nicht ableitbarer (das
meint: „mystisch"), weil unsere Auslegung der Empirie erst ermöglichender,
diese nämlich leitender Satz 176 ist somit die Voraussetzung dieses Strebens
des Intellektes, eine Voraussetzung, die er in seiner Auslegung des Seienden
im Ganzen einzuholen, in „Konkretion" überzuführen sucht 177 ; wir können
auch sagen: an die er sich in seiner Auslegung der Welt ins Unverborgene
anzumessen bestrebt ist. So daß sich — was wir bereits auf S. 5 angedeutet
haben — die Sicherheit sowohl unserer täglichen Verrichtungen als auch die
der wissenschaftlichen Erkenntnisse von etwas Unsicherem, nämlich nur
Geglaubtem gewährleistet sieht.
Des weiteren aber geben obige Ausführungen zumindest einen Anhalt
dafür, warum Nietzsches Philosophie, gleich derjenigen Schopenhauers
(vgl. dazu und zu dieser Fragestellung überhaupt Anm. 100), Berührungen
mit der Fachwissenschaft sucht, und dies nicht etwa nur derweise, daß sie,
von den Ergebnissen der Wissenschaft ausgehend, dieser spekulativ, das
meint: von einer intuitiven Zusammenschau geleitet, vorausspringt — so
ζ. B. auch in der Zeitatomenlehre —, sondern auch dergestalt, daß sie f ü r
das intuitiv Gefundene bei der Wissenschaft Bestätigung sucht (wofür sich
ein Beispiel in einem im folgenden noch zu besprechenden Abschnitt eines
Kollegs über „Vorplatonische Philosophen" findet). Ist letzteres möglich,
weil — wie Nietzsche nicht zuletzt in eben jenem Kolleg belegt, insofern er
hier die vorplatonischen Philosophen als Wissenschaftler zur Darstellung
bringt — „ d o r t w i e h i e r g l e i c h g e d a c h t [wird]", so ist es damit doch
zugleich auch notwendig, da somit die Wissenschaft mit ihren Forschungen
„gewissermaßen die Rechnungsprobe" 1 7 8 für die philosophischen Ergebnis-
se zu liefern hat. Ebendas aber meint der eingangs dieses Kapitels zitierte
Text, wenn er fordert, daß das intuitiv Gefundene, d. h. das von der
Phantasie vorstellend Hergestellte, reflexiv, durch Aneinanderreihung von
streng auf die Erscheinungen bezogenen Begriffen in kausaler Ableitung
eingeholt werden soll („Die Ä h n l i c h k e i t soll ersetzt werden durch
C a u s a l i t ä t . " ) , sind doch kausale Ableitungen das eigentliche Metier der
Wissenschaft — als „systematische Erkenntnis am Leitfaden des Satzes vom
G r u n d e " definiert sie beispielsweise Schopenhauer 179 . Wenngleich sich diese
begrifflichen Ableitungen auch in der traditionellen metaphysischen
Philosophie finden — gerade darin ist sie, das erkennt selbst das mali-
ziö se W o r t von der „Begriffsdichtung" an, von der (scheinbar) frei
42 Voraussetzungen

phantasierenden Kunst geschieden —, so ist dieses philosophische Denken


doch durch ein so hohes Maß an die Folge der Erscheinungen überfliegender
Phantasie oder Intuition gekennzeichnet, daß diesem die Kraft zur kausalen
Ableitung in den philosophischen Grund-Sätzen von der Art „Alles ist
Eins", wie gesehen, wesensmäßig niemals, in den Folge-Sätzen allzu häufig
nicht zu entsprechen vermag; man bedenke etwa Nietzsches Kritik an der
„mit Hülfe einer poetischen Intuition e r z e u g t e n ] " Schopenhauerschen
Willenskonzeption, bei der „die versuchten logischen Beweise weder
Schopenhauer noch uns genügen können" (vgl. S. 5).
Ist Nietzsche in dieser Zeit seiner Schopenhauerkritik (Herbst
1867—Frühjahr 1868), beeinflußt von den Ausführungen Langes in dessen
„Geschichte des Materialismus", dazu geneigt, darob die Philosophie
überhaupt jeglichen wissenschaftlichen Begründungszwanges zu entheben,
mithin an sie die Maßstäbe der Kunst anzulegen, weil ihm nur so sein
Schopenhauer bleiben kann (s. S. 3 ff.), so belegt doch bereits der von dem
,,große[n] Streich" der Baseler Berufung verhinderte Plan des werdenden
Philosophen, gemeinsam mit dem Freund Rohde „Chemie zu studieren"
(Brief an Rohde vom 16.1. 1869 180 ), daß er schon bald zu jener Ansicht
zurückgekehrt ist, die sich in der kleinen, in den Osterferien 1862
entstandenen Studie „Fatum und Geschichte" 181 verzeichnet findet:
Geschichte und Naturwissenschaft, die wundervollen Vermächtnisse
unsrer ganzen Vergangenheit, die Verkünderinnen unsrer Zukunft, sie
allein sind die sichern Grundlagen, auf denen wir den Thurm unsrer
Spekulation bauen können. 1 8 2
Noch einmal, in der Zeit der Freundschaft mit Wagner, erlebt er einen
„Rückfall" (dazu später) auf jene Stufe der Schopenhauer-Kritik: die
„Geburt der Tragödie" muß er selber schließlich als „bilderwüthig [ . . . ]
ohne Willen zur logischen Sauberkeit [ . . . ] misstrauisch selbst gegen die
Schicklichkeit des Beweisens" 183 kritisieren. Doch auch jetzt
überwindet Nietzsche sich schnell, wie — im Widerspruch zur
Wissenschaftskritik der ersten drei „Unzeitgemässen Betrachtungen", aber
in Ubereinstimmung mit der 1886 geschriebenen Vorrede zum 2. Teil von
„Menschliches, Allzumenschliches" 184 — Vorlesungen gleich derjenigen
über die Vorplatoniker, zurückgehaltene Schriften wie diejenige „Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" sowie eine Vielzahl von
Aufzeichnungen und Notizen, darunter ζ. B. die Zeitatomenlehre, belegen:
Insofern das philosophische Denken, wie wir noch sehen werden, der in sich
einige Widerstreit von Kunst und Wissenschaft und dieser als solcher das
Movens des Denkens und damit des Lebens überhaupt ist, haben sich die per
intuitionem gefundenen Ergebnisse der Philosophie vor der wissenschaftli-
chen Forschung auszuweisen, was indes zugleich bedeuten dürfte, daß sich
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 43

das philosophische Denken gleich dem wissenschaftlichen Denken als


Interpretation und damit als relativ wahr, als bestenfalls „wahrscheinlich"
einbekennen muß.
Mit „Menschliches, Allzumenschliches" weicht Nietzsche noch einmal
von jener programmatischen Forderung des Achtzehnjährigen ab, diesmal in
die entgegengesetzte Richtung, in die der Wissenschaft nämlich. Doch
anders als seine Freunde argwöhnten und die meisten Interpreten heute
meinen, hat Nietzsche damit „nicht [ . . . ] einen Bruch mit seinem bisherigen
Denken vollzogen, sondern er hat die andere Seite seiner längst
ausgebildeten Grundanschauung nunmehr in den Vordergrund gerückt." 1 8 5
Skeptisch nicht nur gegenüber der überkommenen Metaphysik, sondern
auch gegen die Visionen der Kunst, sucht Nietzsche mit diesem im Jahre
1878 erschienenen Buch die Philosophie vorläufig auf den Boden der
Naturwissenschaft zu stellen, indem er den metaphysischen Ansatz der
Tradition mit einem historischen Ansatz vertauscht, ehe er denn mit dem
vom „Zarathustra" eingeleiteten Spätwerk und seinen auch vor der
zeitgenössischen Wissenschaft ausgewiesenen Konzeptionen des Willens
zur Macht und der ewigen Wiederkunft des Gleichen, jener Anfang August
1881 in Sils-Maria mit ungeheurer Intensität geschauten Vision eines
Ganzen der Welt, in seiner Philosophie den einigen Widerstreit von
künstlerischer Intuition und wissenschaftlicher Erkenntnis im Sinne jener
Jugendaufzeichnung neu entfacht, ehe, ganz am Ende, doch die Kunst das
letzte W o r t behält. (Vielleicht kann man im Hinblick auf die Gesamtheit des
Nietzscheschen Denkweges auch sagen, daß sich dieser Streit in den ersten
beiden, je der Kunst oder der Wissenschaft stärker zuneigenden Phasen
mehr als ein Nacheinander und erst in der letzten als ein Zugleich der
Streitenden entfaltet, um ganz zum Schluß das Hohelied der Kunst zu
singen.) —

In welcher Weise aber die intuitive Zusammenschau in der Wissenschaft


gebräuchlich ist, das lehrt das aus dem Herbst 1868 stammende Fragment
„Ueber die Methode der philologischen Quellenkritik" 1 8 6 :
Die allgemeinste Form dieser Methode und zugleich ihre Schwäche liegt
[ . . . ] darin, dass eine Hypothese, welche eine Reihe spezifischer
Erscheinungen einheitlich lösen soll, schliesslich nur eine Möglichkeit ist,
deren Ausschliesslichkeit und Verbindlichkeit erst dann erwiesen wäre,
w e n n keine coordinirte Möglichkeit übersehen ist. Wir sehn ein Land in
ewigem Nebel und wir zeichnen seine Karte mit dem Gefühl, vielleicht das
Richtige getroffen zu haben, aber ohne H o f f n u n g uns Gewissheit
verschaffen zu können. Alles was wir zu unserm Tröste sagen können, ist
aber, dass nach dem vorliegenden Material eine andre Antwort unmöglich
ist. [ . . . ]
44 Voraussetzungen

Auf rein diskursivem W e g e ist es gar nicht möglich in diesen Gebieten


z u m Ziele zu k o m m e n , da das vorhandene Material sich nicht in die Form
einer logischen Kette giessen lässt, in der Ring auf Ring in gleich kräftigem
G e f ü g e folgt [ . . . ] Also ist hier das Bereich der H y p o t h e s e , jenes intuitiv
g e f u n d e n e n Bildes, in dem eine längere Reihe spezifischer und bisher
vereinzelter Erscheinungen z u s a m m e n g e s c h a u t und als verschiedene
W i r k u n g e n einer Ursache an verschiednem Material erkannt wird.
Zuvörderst haben wir zu bemerken, daß der Satz: „Wir sehn ein Land in
ewigem Nebel und wir zeichnen seine Karte mit dem Gefühl, vielleicht das
Richtige getroffen zu haben, aber ohne H o f f n u n g uns Gewissheit
verschaffen zu können." auf jenen anderen der Schopenhauer-Kritik
zurückweist, der da lautet (s. S. 2):
daß der D e n k e r vor d e m Räthsel der W e l t stehend eben kein anderes Mittel
hat als z u rathen dh. in der H o f f n u n g , daß ein genialer M o m e n t ihm das
W o r t auf die Lippen legt, das den Schlüssel zu jener vor all(er) A u g e n
liegenden und d o c h ungelesnen Schrift bietet, die wir W e l t nennen. 1 8 7
Diese Textzusammenstellung belegt, so können wir des weiteren
zusammenfassen, daß Nietzsche in der T a t von jenem Satz ,Metaphysik,
d. h. Philosophie, müsse sich wie die Wissenschaft' „mit einer bewußten
Relativität des Wissens begnügen", den er in einem Brief an Deussen Ende
April/Anfang Mai 1868 niedergeschrieben hatte, auch fünf Jahre später in
keiner Weise abgewichen ist: Wenn die „intuitive Vorstellungsart" der
Philosophie diejenige der Wissenschaft ist — „Es giebt k e i n e a p a r t e
P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t von der W i s s e n s c h a f t : d o r t wie hier
w i r d g l e i c h g e d a c h t " —, so unterliegt sie der gleichen relativierenden
Erkenntniskritik. Auch ihre „Wahrheiten" können niemals unumstößlicher
Art, „Gewissheiten", d . h . für Nietzsche: dem Werden entrückte
Wahrheiten an sich, sondern nur „Hypothesen", Wahrscheinlichkeiten,
d. h. notwendig Geglaubtes sein. Und dies, wie wir gesehen haben, zum
einen — vordergründig — darum, weil ihrer Erkenntnis, ihrer Zu-
sammenschau der Phänomene ebensowenig wie derjenigen der Wissenschaft
jemals „Ausschließlichkeit und Verbindlichkeit" zugesprochen werden kann
— wobei zudem zugegeben werden muß, daß die Wissenschaft in dieser
Hinsicht noch exakter, mit größerer Gewißheit als die Philosophie arbeiten
kann, insofern sie nämlich nur Aussagen über Teilbereiche und nicht über
das Ganze der Welt macht —, zum anderen — hintergründig — darum, weil
auch ihre Erkenntnisse „gewiß" nur nach Maßgabe eines unbeweisbaren
Glaubenssatzes sind, mit anderen Worten: weil der Wille zur Zusammen-
schau auf der Erkenntnisvoraus-setzung beruht „Alles ist Eins". (Wie
solches letztlich auch noch, trotz der schon im Dissertationsvorhaben
ausgeführten Kritik an der menschlichen Einheitsvorstellung [siehe S. 14]
für Nietzsches frühe philosophische Gesamtdeutungen der Welt als
D a s Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — D e r Begriff der Intuition 4 5

„Leben" oder „Wille" gilt; erst die spätere Konzeption des „Willens zur
Macht" sucht streng der Erkenntnis zu entsprechen, daß alle Einheit „ n u r
als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit [ist] [ . . . ] somit ein
H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins ist." 1 8 8 )
Bewußt bezeichnet Nietzsche darum in seinen Ausführungen über Heraklit
(siehe S. 32) die „Intuition" als eine „Vorstellungsart", um damit
anzuzeigen, daß den Philosophen auch in ihr kein Weg eröffnet ist, um
„direct in's ,Wesen' sehen" zu können.
Schon in dieser Zeit ist für ihn somit seine Intuition des Werdens
keineswegs, wie Eugen Fink sogar noch für deren letzte Ausformungen
annimmt, „ e i n e [ . . . ] unbezweifelte[...] philosophische^ . . ] Erkenntnis" 189 ,
vielmehr ist sie, gemesssen an der uns unerreichbaren Gewißheit oder
Wahrheit (an sich), Schein, Illusion oder, um in Nietzsches späterem
Sprachgebrauch zu reden, eine „Fiktion", wie die „Dingheit" eine ist —
eine Fiktion indes, die weniger fiktiv oder scheinhaft sein muß, da Nietzsche
doch sonst vom Werden aus nicht die Kategorie der „Dingheit" oder die der
„Einheit" kritisieren könnte. (Später, 1886, wird Nietzsche im Aphoris-
mus 34 aus „Jenseits von Gut und Böse" den Gegensatz von „ w a h r " und
„falsch" durch „Stufen der Scheinbarkeit" ersetzen. 190 ) Sie ist notwendig —
weil, zumindest vorläufig, nicht widerlegbar — Geglaubtes. 191 Über diese
Intuition aber „trägt kein Pfeil hinaus" 192 , sie ist das letzte Faktum, zu dem
wir von den empirischen Erscheinungen aus hinunterkommen, 1 9 3 aber als
solches immer noch factum, Gemächte unseres Erkenntnisapparates.
Wenn also Nietzsches frühe „Begriffsdichtungen" in ihrem Schopen-
hauerisch-Wagnerschen Kleid auf den ersten Blick auch den Eindruck
Wahrheit an sich erheischender transzendenter Spekulation erwecken, so
erweisen sie sich, wie wir zeigen werden, bei genauerem Hinsehen doch als
immanente Bestimmungen, die den Ubergang vom derweise begrifflich
erfaßten — in die Sphäre des Begriffes übersetzten —, uns auch nicht anders
denn als „Wirkung", nämlich als Fluß der Empfindung in der Zeit
zugänglichen „Etwas" der Welt zu den empirischen Erscheinungen
vorstellen sollen.
Vornehmste Aufgabe aller dieser „Spekulationen", der künstlerisch-me-
taphysischen „Begriffsdichtungen" wie der wissenschaftlich fundierten
geistigen Experimente, ist es aber, durch den Aufweis der Möglichkeit, bei
der Weltauslegung von anderen als den traditionellen Voraussetzungen
ausgehen zu können, ihre eigene Grund-Voraussetzung (die Voraussetzung
aller ihrer Voraussetzungen) zu bewähren und d. h. — in Entsprechung zu
sich selbst — als notwendig zu Glaubendes zu erweisen, Nietzsches
Voraussetzung nämlich, daß die Welt, wie sie uns erscheint, nichts anderes
ist als unsere eigene Voraussetzung. So daß diese „Spekulationen", falls sie
46 Voraussetzungen

sich denn als „coordinirte Möglichkeiten" ausweisen lassen, den


konkurrierenden Auslegungen gemäß dieser Voraussetzung zugleich darin
überlegen sind, daß sie sich als bloße Interpretation wissen, 194 wenn sie nicht
gar zugleich auch explizit die Bedingungen der Möglichkeit solcher
„coordinirten Möglichkeiten" und damit des geistigen Werdens mit
anführen — wie etwa in der entfalteten Theorie des Willens zur Macht —,
so daß sie die menschliche Schöpferkraft nicht nur, wie bisher, im
Aufbrechen alter und im Schaffen neuer Voraussetzungen praktisch
bewähren, sondern als solche eigens oder theoretisch gewinnen.
Als „coordinirte Möglichkeiten" können sich Nietzsches philosophische
Interpretationen, entsprechend seinen Überlegungen zum Wesen des
Denkens, in bestimmter Hinsicht jedoch nur dann erweisen, wenn sie sich
vor der wissenschaftlichen Forschung auszuweisen vermögen.
An einem Beispiel wollen wir nun zeigen, wie Nietzsche seine Intuition
des reinen Werdens auf die ,sichere Grundlage der Naturwissenschaft' zu
stellen, für sie fachwissenschaftliche Bestätigung zu finden versucht — und
dies, indem er — bis in seine Spätzeit hinein geübtes Verfahren — die
Kantische Kritik der apriorischen Bedingungen des Erkennens biologisiert.
In einem Exkurs seines Kollegs über die Vorplatoniker 1 9 5 bemerkt
Nietzsche über die Heraklitischen Intuitionen, u. a. diejenige des „Alles
fließt": „der naturwissenschaftliche Weg war damals wohl sehr kurz und
unsicher", aber „es sind Wahrheiten, zu denen [ . . . ] der νοϋς sich
gezwungen fühlt" — womit ihnen der Charakter des notwendig Geglaubten
zugesprochen ist. Dies bestätige, so Nietzsche weiter, der Blick auf die
moderne Naturwissenschaft.
Für sie ist das π ά ν τ α £>ει ein Hauptsatz. Ein starres Beharren ist nirgends,
schon weil man zuletzt immer auf Kräfte k o m m t , deren W i r k e n zugleich
einen Kraftverlust in sich schliesst." 6
Hier taucht zum ersten Male jene uns ungewohnt anmutende Definition von
„ K r a f t " auf, die wir als eine solche der „Energie" auffassen müssen, soll
auch uns die Nietzschesche Beweisführung schlüssig erscheinen, „daß es im
Rahmen der Physik keinen für noch so kurze Zeit gleichbleibenden Zustand
der Elemente gibt." 197
Es liegt nur, so setzt Nietzsche seinen Gedankengang fort, an unserem
„kleinlichen Maassstabe", wenn wir in der Natur irgendein Verharren zu
erkennen vermeinen 198 — und er stützt diese von ihm lebenslang vertretene
Auffassung durch das Referat einer Rede des Naturforschers Karl Ernst von
Baer (1792—1876) „Welche Auffassung der lebenden Natur ist die
richtige?", die dieser im Mai 1860 zur Eröffnung der russischen
entomologischen Gesellschaft gehalten hat (erschienen Berlin 1862). (Ihre
Gedanken hat Nietzsche im übrigen in der „Morgenröthe", im 117. — „Im
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — D e r Begriff der Intuition 4 7

Gefängnis" betitelten — Aphorismus, erneut aufgegriffen, ohne die Rede


dabei aber eigens zu erwähnen.)
Bei seinen Überlegungen geht von Baer von der Hypothese aus —
Nietzsche nennt sie eine „Fiktion" —, daß die Schnelligkeit des Empfindens
und der willkürlichen Bewegung beim Tier in etwa der Schnelligkeit seines
Pulsschlages proportional ist. So wird ein Kaninchen, dessen Pulsschlag
ungefähr viermal schneller als derjenige eines Rindes ist, in der gleichen Zeit
viermal soviel wie dieses wahrnehmen und erleben. Danach hätte jedes
Lebewesen ein subjektives Grundmaß der Zeit. Der Mensch, mit einem
relativ kleinen derartigen Grundmaß, erlebt somit innerhalb einer
physikalischen Minute verhältnismäßig viel, nur darum erscheinen ihm die
organischen Individuen nach Gestalt und Größe als etwas Bleibendes: er
kann sie „in einer Minute hundertmal und öfter sehen, ohne äusserlich eine
Veränderung zu bemerken." 1 9 9 Wäre aber das menschliche Grundmaß der
Zeit lOOOmal kleiner, würde der Mensch also in einer physikalischen Minute
lOOOmal so viele Sinneseindrücke empfangen können — dies jedoch bei
einer Gesamtlebensdauer von nur 29 Tagen, da der physiologische Ablauf
natürlich ebenfalls lOOOmal so schnell erfolgte —, dann erschiene uns die
Welt ganz anders als jetzt, beispielsweise könnten wir „gemächlich mit dem
Blick" einer Gewehrkugel folgen. Dieses Grundmaß noch einmal auf ein
Tausendstel reduziert, erschiene uns das Gras wie jetzt die Gebirge, und die
Bewegungen der Tiere vermöchten wir in der Weise zu erschließen, wie wir
jetzt den Umlauf der Sterne berechnen: Unser Leben währte nur noch
40 Minuten. Wäre aber das menschliche Grundmaß der Zeit lOOOmal größer
als jetzt, lebten wir 80 000 Jahre, so würden wir in 4 physikalischen Minuten
den ganzen Jahresablauf erleben. „Wie eine helle und eine dunkle Minute
wechselten T a g und Nacht, und die Sonne würde mit der grössten Eile über
den Himmelsbogen hinrennen." Das Grundmaß noch einmal um das
Tausendfache vergrößert, und wir könnten nur noch 189 Wahrnehmungen
in einem physikalischen Jahr machen:

dann fiele der Unterschied von Tag und Nacht ganz hinweg, der
Sonnenlauf erschiene als ein leuchtender Bogen am Himmel, wie eine rasch
im Kreis geschwungene glühende Kohle als feuriger Kreis erscheint: die
Vegetation würde in rasender Hast fortwährend emporschiessen und
wieder verschwinden.
Aus diesen Gedanken von Baers zieht Nietzsche aber den Schluß:
Genug, alle uns bleibend scheinenden Gestalten würden in der Uebereile
des Geschehens zerfliessen und vom wilden Sturm des Werdens
verschlungen sein. Das Bleiben, das μή f)Etv ergiebt sich als eine
vollkommene Täuschung, als Resultat unserer menschlichen Intelligenz:
könnten wir noch viel schneller percipiren, so würden wir die Täuschung
des Bleibens noch viel stärker haben: dächte man sich die unendlich
48 Voraussetzungen

schnellste, aber durchaus menschliche Perception, so hört jede Bewegung


auf, alles wäre ewig fest. 200

Aber — so muß man hier erstaunt fragen — warum ist für Nietzsche dann
nicht wie für den von ihm interpretierten Parmenides das Werden eine
Täuschung, sondern das Sein? („Alle Sinneswahrnehmungen, urtheilt
Parmenides, geben nur Täuschungen; und ihre Haupttäuschung ist eben,
daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende sei, auch das Werden habe ein
Sein." 201 ) Es erhellt, daß das Mißtrauen gegen den Augenschein und mit ihm
zugleich die Intuition des Werdens das Primäre, die Voraussetzung seiner
entfalteten Erkenntniskritik ist, ebenwas, darin ist Fink recht zu geben, „die
biologistische und pragmatistische Ausdruckweise [ . . . ] weithin verdun-
kelt" 202 . Biologistisch aber ist auch unsere Antwort auf die Frage gewesen,
woher Nietzsches Annahme eines reinen Werdens rührt, aus dem Rückgang
von den empirischen Erscheinungen auf den Fluß der bloßen Empfindung in
der Zeit nämlich — wir müssen erkennen, daß diese Antwort noch nicht
zureicht, weil wir bisher nur Nietzsches empirischem Aufweis des reinen
Werdens nachgedacht haben, nicht aber die Voraussetzung dieser
Auslegung, die Voraussetzung für das Mißtrauen gegen den Augenschein
aufgewiesen haben. Mag Nietzsches Theorie des Denkens zufolge die
intuitive Bestimmung des „Wesens" der Welt auch von einer Deutung der
empirischen Erscheinungen ausgehen, indem sie gleichsam über diese
hinausspringt, so kann doch, wie wir gegen Nietzsche einwenden müssen,
bereits diese Deutung der einzelnen Erscheinungen nur nach Maßgabe eines
Vor-Urteils, einer Vor-Bestimmung erfolgen, welche die intuitive
Bestimmung dann eigens entfaltet: Es ist dies jener Zirkel des Verstehens,
der, wie Martin Heidegger in „Sein und Zeit" aufgewiesen hat, in des
Daseins Grundstruktur der Sorge als des Je-schon-sich-selbst-vorweg-Seins
beschlossen liegt. 203 Wenn somit die Erscheinungen der Welt bereits im
Lichte des „Wesens" der Welt erfahren werden — anders ist Nietzsches
Entscheid gegen das doch in gleicher Weise wie das „ W e r d e n " empirisch
erfahrene „Sein" nicht zu erklären —, dann ist hinwiederum dieses
„ W e s e n " nur in den Erscheinungen der Welt erfahrbar, so daß diese
Erfahrung auf jenes Vor-Verständnis einwirken kann. Terminologisch kann
man hier von einer Grund-Erfahrung der Welt sprechen; wobei dieselbe —
zumindest scheint dies, wie sich auf S. 30 schon andeutete, für das Geschick
des Friedrich Nietzsche zu gelten — wesentlich von den Voraussetzungen
der Geschichte der Metaphysik bezüglich des Verhältnisses von Gott,
Wahrheit, Sein und Werden bestimmt wird: in sie geworfen, hat sich der
Mensch mit ihnen auseinanderzusetzen. —
Das Verhältnis von Wissenschaft, Philosophie und Kunst — Der Begriff der Intuition 49

Im Fortgang seines Exkurses löst sich Nietzsche nun von den Gedanken,
die von Baer in seiner Rede vorgetragen hat. Setzte dieser bei seinen
hypothetischen Veränderungen der menschlichen Perzeption als einzige
Variable das subjektive Zeitmaß an, so steigert Nietzsche „fiktiv" bei sonst
normalen physiologischen Abläufen die Wahrnehmungsfähigkeit „nach
S t ä r k e und Kraft der Organe" 2 0 4 — die räumliche Form wird in Frage
gestellt. Derweise wäre es dem Menschen nämlich möglich, die Vorgänge in
einer Zelle unmittelbar „zu sehen". Die Naturerscheinungen lösten sich bis
in den „unendlich kleinsten Zeittheil" hinein in ein Werden auf. So sei
unsere Möglichkeit, Formen zu erkennen und ihr Gleichbleiben oder
Verändern zu beobachten, auch an unsere spezifisch menschliche Art der
Wahrnehmung gebunden:
Die Natur ist nach innen ebenso unendlich als nach aussen: wir gelangen
jetzt bis zur Zelle und zu den Theilen der Zelle: aber es giebt gar keine
Grenze, wo man sagen könnte, hier ist der letzte Punkt nach innen, das
Werden hört bis ins unendlich Kleine nie auf. 205
(Ein Gedanke, der uns bereits in den Aufzeichnungen zum Dissertationspro-
jekt begegnet ist.206) Indem aber, so dürfen wir schließen, unsere Perzeption
dieses Werden in räumliche Formen fügt, treibt es dasselbe zugleich in den
Widerstreit mit dem Sein und eröffnet so das Widerspiel von Dauer und
Wechsel: denn jetzt erst ist die Möglichkeit gegeben, den Wandel eines
Beharrenden zu beobachten (wie solches auch Schopenhauer lehrt). Damit
aber muß theoretisch zwischen einem sich am Seienden oder Sein
vollziehenden und einem „reinen" Werden, bzw. zwischen einem
gebändigten, weil räumlich gefügten, und einem „chaotischen", nur vom
Fortriß der Zeit gehaltenen Werden unterschieden werden, das als solches
vom vorstellenden Denken nicht faßbar, das nur erfahrbar ist — als Fluß der
bloßen Empfindung in der Zeit. Uber diese anthropomorphe Empfindung
aber trägt „kein Pfeil hinaus": das Vorstellende kann sich, so Nietzsche, wie
erinnerlich, in den Vorüberlegungen zur Zeitatomenlehre, „nicht ,nicht
vorstellen', wegvorstellen." Was dieses reine Werden an sich sein mag, ob es
vielleicht ein „Sein" ist — so daß diesem der Charakter des Werdens erst
durch unsere Anschauungsform der Zeit verliehen wäre —, das bleibt uns
verschlossen.

Im Verlauf seiner Rede versucht Nietzsche dann noch zu zeigen, daß es


nicht nur im Kleinen, sondern auch im Größten, im astronomischen Bereich,
„nichts absolut Unveränderliches" gibt, was er u. a. durch das folgende Zitat
aus einer Abhandlung von Hermann von Helmholtz, betitelt „Uber die
Wechselwirkungen der N a t u r k r ä f t e " (Königsberg 18 5 4) 207 , zu belegen
versucht:
50 Voraussetzungen

„Wir kommen zu dem unvermeidlichen Schlüsse, dass jede Ebbe und Fluth
fortdauernd und, wenn auch unendlich langsam, doch sicher, den Vorrath
mechanischer Kraft des Systems verringert, wobei sich die Achsendrehung
der Planeten verlangsamen muss und sie sich der Sonne oder ihre
Trabanten ihnen nähern müssen. Also kann auch von einer absoluten
Strenge unserer astronomischen Zeitskala nicht die Rede sein."
Bemerkenswert an diesem Zitat ist vor allem der die Conclusio ziehende
letzte Satz: denn er ist gar kein Zitat, sondern Nietzsches eigene
Formulierung. Mit ihr hebt er hervor, daß auch unsere an den Wegstrecken
der Himmelskörper orientierte Zeiteinteilung, daß auch die allgemeinen
Maße des Flusses der Jetzt, der die Form des reinen Werdens ausmacht,
nichts Konstantes, sondern dem Werden unterworfen sind. —
W o h e r aber dieser Gedanke des reinen Werdens? — mit welcher Frage
wir nun nicht mehr Nietzsches empirischer Begründung seiner „Intuition"
nachfragen wollen — als diese haben wir den Fluß der bloßen Empfindung
in der Zeit aufgewiesen —, sondern deren Voraussetzungen: W o h e r
Nietzsches Feindschaft gegen den Augenschein, die ihn bewegt, den
Reichtum der empirischen Welt auf ein bloßes Zeitphänomen zu reduzieren
und mit der „Materie" auch den Raum und mit diesem das Sein als „höhere
Täuschung" abzutun? W o h e r sein Mißtrauen, auch diese äußerste
Reduktion der sinnlichen Erfahrung, diese tiefste uns zugängliche Schicht
noch f ü r eine Täuschung, für Schein zu halten? Gehen Mißtrauen gegen den
Augenschein, Leugnung des Seins und Unzugänglichkeit der Wahrheit
irgendwo zusammen — vielleicht in jenem leeren Ort, der sich mit dem
T o d e Gottes im Gefüge der Metaphysik aufgetan hat?

5. „ Schmerz ist der Grundton der Natur": Das reine Werden aus dem Geiste der
Musik und das Parmenideische Erbe der Sinnenfeindschaft

Wir fragen der Intuition des fortwährenden Werdens als Nietzsches


Grunderfahrung der Welt nach, d. h. einer Erfahrung, die das Verhalten des
Menschen zur Welt bestimmt — zum Seienden, zum Mitmenschen, zu sich
selbst — und dies zunächst und zumeist, ohne begriffen zu sein. Zunächst
und zumeist äußert sich diese Erfahrung als eine Weise der den Mensch
beständig umfangenden Gestimmtheit, deren Erschließungsmöglichkeiten
gegenüber diejenigen des Erkennens, laut Heideggers phänomenologischer
Analyse in „Sein und Zeit" 208 , „viel zu kurz tragen. [ . . . ] Die Stimmung
macht offenbar, ,wie einem ist und wird'." In die Erkenntnis gehoben, kann
darum eine solche Grunderfahrung niemals — wie, Nietzsche zufolge,
zumeist die wissenschaftliche Erkenntnis, — „eine kalte folgenlose
Erkenntniss" 209 sein; weder hört sie als begriffene Erfahrung auf, in
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 51

grundlegender Weise das Handeln zu bestimmen, noch verliert sie ihren


Stimmungscharakter. (Wenngleich mit der Begrifflichkeit die Gefahr
wächst, daß sie zur abstrakten, vom Lebensvollzug abgelösten Erkenntnis
absinkt). Die Erkenntnis einer Grunderfahrung ist somit eine gestimmte —
und sie wird von einem anderen erst dann recht verstanden, so besagt
Nietzsches, hier nur formal anzuzeigender Verstehensbegriff („Histori-
sches Erkennen ist nur N e u e r l e b e n . Aus dem Begriff führt kein W e g in
das Wesen der Dinge. Es giebt keinen Weg, die griechische Tragödie zu
begreifen, als Sophokles zu sein." 210 ), wenn sie diesen nicht „kalt" läßt,
wenn sie nach„erlebt" und nicht nur „begriffen" wird:
Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles
Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies
Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem
Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei
einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es
gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegenge-
setzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies
erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang
jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität
begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ
verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende
Thätigkeiten. 211
Nach Maßgabe seines existentiellen Verstehensbegriffes verstand Nietzsche,
wie er selber meinte, Heraklit nur zu gut, weil er dessen Grunderfahrung
teilte und er auch darin Heraklit war, daß er ihr Entsetzliches bändigte,
indem er sie in die Gestalt des Tragischen oder, wie Nietzsche hier
gleichbedeutend sagt 212 , in die Gestalt des Erhabenen kleidete. Wie Heraklit
begreift auch er schließlich — in der „Geburt der Tragödie" — das Werden
als Krieg (πόλεμος) des Entgegengesetzten: als in sich einigen Streit von
Dionysos und Apoll. Die Bändigung aber besteht für ihn, wie wir später
zeigen werden, zum einen inhaltlich in der in diesem Gedanken
beschlossenen tragischen Anschauung, „daß Untergang des endlich = Seien-
den nicht die schlechthinnige Vernichtung, sondern die Heimkehr in den
Lebensgrund ist, aus dem alles Vereinzelte aufgestiegen" 213 , in dem, wie
Nietzsche sagt, ,,metaphysische[n] Trost, dass unter dem Wirbel der
Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst" 214 — ein auf
dem metaphysischen Glaubenssatz „Alles ist Eins" beruhender Trost, der
von Nietzsche selbst konsequenterweise als „Illusion" bezeichnet wird. 215
Zum anderen aber besteht die Bändigung formal in der einfachen Tatsache,
daß Nietzsche den Fortriß gedanklich oder, wie er selbst sagt, 216 künstlerisch
bewältigt: Er gewinnt seinen Gegen-Stand wieder — seinen eigenen, f ü r den
Lebensvollzug unabdingbaren, einigermaßen festen Standpunkt und mit ihm
die Welt des ihm auf diesem Entgegenstehenden, die Welt der Gegenstände
52 Voraussetzungen

—, indem er das ihn seines Standpunktes Ent-setzende in das künstlerische


Bild des Streites von Dionysos und Apoll fügt, welcher der „Geburt der
Tragödie" zufolge das Wesen des Tragischen ausmacht. Das Tragische aber
ist, daß alles von der Flut des Lebens aus sich gestalthaft Herausgeworfene
von dieser wieder in sich zurückgeschlungen wird: Das Leben ein ewiger
Widerstreit von πέρας und άπειρον, eine ewige Flut des Werdens.
Als tragisch aber hat bereits der jugendliche Nietzsche die Welt
erfahren: „Schmerz ist der Grundton der Natur" hat der Siebzehnjährige
eine Komposition für Klavier zu vier Händen überschrieben 217 , welcher
Titel an unsere Ausführungen über das Flutende der bloßen Empfindung als
Grund der empirischen Welt zu gemahnen scheint. Doch — werden wir
nicht plötzlich hellhörig? Könnte dieser Titel einer Komposition nicht ein
Fingerzeig sein, woraus Nietzsches „Ur = Intention seiner heraklitisieren-
den Philosophie" 218 hervorgegangen ist? — muß uns nicht der „Grundton"
in den Ohren dröhnen? — und werden wir nicht plötzlich hellsichtig? — aus
einem anderen Sinn als demjenigen, an dem sich die Philosophen, weil ihm
beim Menschen eine biologische Prävalenz vor den anderen Sinnen
zukommt, in ihren Bestimmungen orientieren, dem optischen nämlich?219
Bereits Parmenides ist mit seiner Bestimmung το γαρ αύτο νοεΐν έστίν
τε και είναι — „Sein ist, was im reinen anschauenden Vernehmen sich
zeigt" 220 — den Weg gegangen, auf dem ihm die gesamte abendländische
Philosophie bis hin zu Hegel gefolgt ist: Ursprüngliche Wahrheit liegt in der
reinen Anschauung des Anwesenden. Maßgebend für die Folgezeit hat dann
Piaton diesen Anfang dahingehend entfaltet, daß die Anwesenheit des
Anwesenden vom Aussehen (dem είδος, der ίδέα) her vorzustellen ist,
womit die Schau (die θεωρία), endgültig als „theoretische" Grundhaltung
befestigt wurde. Nietzsche bedenkt dies im Zeitraum Winter
1869/70—Frühjahr 1870 wie folgt:
Der „Schein der Wahrheit", „die Kunst der Begriffe"
als der „Bilder der Dinge".
In Plato höchste Verherrlichung der Dinge als der Urbilder,
d. h. die Welt ganz vom Standpunkt des Auges
(Apollos) angesehn. 221
Wenn Aristoteles darum seine erste Abhandlung zur Ontologie mit dem Satz
eröffnet: πάντες άνθρωποι τοΟ είδέναι όρέγονται φύσει (Metaphy-
sik ΑΙ,980 a 21), dann ist dies wie folgt interpretierend zu übersetzen: „Im
Sein des Menschen liegt wesenhaft die Sorge des Sehens." 222 Des weiteren
führt Aristoteles dort aus, warum der Mensch vor allen anderen
Wahrnehmungen diejenige des Auges schätzt: αίτιον δ' δτι μάλιστα ποιεί
γνωρίζειν ημάς αΰτη των αισθήσεων και πολλάς δηλοΐ διαφοράς —
„Ursache davon ist, daß dieser Sinn uns am meisten Erkenntnis gibt und
viele Unterschiede aufdeckt."
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 53

Was will es dagegen besagen, daß Nietzsche im Entwurf eines Briefes an


H e r m a n n Levi am 20.10. 1887 schreibt: „Vielleicht hat es nie einen
Philosophen gegeben, der in dem Grade im Grund so sehr Musiker war, wie
ich es bin." 223 ? Was will es besagen, daß Nietzsche in der „Geburt der
Tragödie" als Adressaten dieser Schrift diejenigen bezeichnet, „die,
unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss
haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in
Verbindung stehen." 224 ? Etwa nur, daß er sich mit dieser Schrift
ausschließlich an Wagnerianer wendet? Oder nicht doch auch, daß die
Schrift selber — wie der „Gegenstand", von dem sie handelt — aus dem
Geiste der Musik geboren ist? Damit aber überhaupt die Tragödie
Nietzsche—Zarathustra? Deutet nicht nachfolgende Überlegung Nietz-
sches darauf hin?
Daß M u s i k G e d a n k e n erzeugen kann? Zunächst Bilder, Charaktere,
dann Gedanken.225
Nicht erst recht, wenn man die nachfolgende mit hinzunimmt?
Dem Begriff entspricht zuerst das Bild, Bilder sind Urdenken d. h. die
Oberflächen der Dinge im Spiegel des Auges zusammengefaßt.
[··•]
Bilder in menschlichen Augen! Das beherrscht alles menschliche
Wesen: vom A u g e aus! Subjekt! das O h r hört den Klang! Eine ganz
andere wunderbare Conception derselben Welt.226
Eine ganz andere als die überkommene Konzeption ist Nietzsches
Auslegung der Welt aber ganz gewiß (im Gegensatz zu Nietzsche denkt die
gesamte Metaphysik seit den Frühgriechen, einschließlich Heraklit, aus der
Beständigkeit heraus, siehe dazu Anm. 819) — und gemahnt nicht bereits
das gewöhnliche Sprechen von „Klangflut" oder „Klangmeer" an das reine
Werden? „ H ö r t " darum Nietzsche nicht vielleicht die Welt, wenn er sie
solcherweise, die räumlichen Formen negierend, bestimmt?
Die objektiven Anschauungen gehen, so erläutert Schopenhauer in
seiner Dissertation „Uber die vierfache Wurzel des Satzes vom
zureichenden Grunde" (SG 70 f.), letztendlich nur aus zwei Arten von
Sinnesempfindungen hervor, aus denjenigen des Getasts und des Gesichts:
Sie allein liefern die Data, auf deren Grundlage der Verstand durch den
angegebenen Prozeß [ihnen eine Ursache im Räume zu unterstellen] die
objektive Welt entstehn läßt.
(So daß dasjenige, „was Getast und Gesicht liefern, noch keineswegs die
Anschauung, sondern bloß der rohe Stoff dazu [ist]": Unsere
vorangegangenen Ausführungen über eine empirische Begründung von
Nietzsches Intuition des reinen Werdens werden somit in keiner Weise
durch die nachfolgenden Überlegungen gegenstandslos. 227 ) „Die andern
drei Sinne", so fährt Schopenhauer fort,
54 Voraussetzungen

bleiben in der Hauptsache subjektiv: denn ihre Empfindungen deuten zwar


auf eine äußere Ursache, aber enthalten keine Data zur Bestimmung
räumlicher Verhältnisse derselben. Nun ist aber der Raum die Form aller
Anschauung, d. i. der Apprehension, in welcher allein Objekte sich
eigentlich darstellen können. Daher können jene drei Sinne zwar dienen,
uns die Gegenwart der uns schon anderweitig bekannten Objekte
anzukündigen: aber auf Grundlage ihrer Data kommt keine räumliche
Konstruktion, also keine objektive Anschauung zustande. Aus dem Geruch
können wir nie die Rose konstruieren; und ein Blinder kann sein Leben
lang Musik hören, ohne von den Musikern oder den Instrumenten oder den
Luftvibrationen die mindeste objektive Vorstellung zu erhalten. [ . . . ] daher
würde ein Blinder ohne Hände und Füße zwar den Raum in seiner ganzen
Gesetzmäßigkeit a priori sich konstruieren können, aber von der
objektiven Welt nur eine sehr unklare Vorstellung erhalten.

Allein die optischen und die — wie man mit Nietzsche gegen Schopenhauer
einwenden muß — auf die optischen Empfindungen bezogenen haptischen
Empfindungen 2 2 8 eignen sich dazu, räumlich oder objektiv vorgestellt zu
werden, die anderen bleiben subjektiv, d. h. innerlich, und, abgesehen von
der Zeit, formlos 2 2 9 : Ist das nicht eine erkenntnistheoretische Begründung
des abendländischen Ophthalmozentrismus? Von dem sich Nietzsches
„ g a n z andere wunderbare Conception derselben W e l t " augenscheinlich
löst? Schopenhauers Ausführungen modifizierend zeichnet Nietzsche in der
Zeit S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1873 auf:
Das Bild im Auge ist für unser Erkennen maßgebend, dann der Rhythmus
unseres Gehörs. Vom Auge aus würden wir n i e zur Zeitvorstellung
kommen, vom Ohre aus nie zur Raumvorstellung. Dem Tastgefühl
entspricht die Kausalitätsempfindung.
Von vorn herein sehen wir ja die Bilder im Auge nur in u n s , wir
hören den Ton nur in u n s — von da zur Annahme einer Außenwelt ist ein
weiter Schritt. Die Pflanze ζ. B. empfindet keine Außenwelt. Das
Tastgefühl, und zugleich das Gesichtsbild geben zwei Empfindungen
nebeneinander empirisch, diese, weil sie immer mit einander erscheinen,
erwecken die Vorstellung eines Zusammenhangs [ . . .]. 230
Muß darum nicht Nietzsches Denken im Hinblick auf seine Grunderfah-
rung der Welt als ein musikalisches bezeichnet werden? Als ein
musikalisches Denken, das anders als dasjenige des unglücklichen, in sich
entzweiten Bewußtsein Hegels 2 3 1 wohl zum Begriffe kommt, nicht aber zu
diesem uneingeschränkt will, weil der Begriff als solcher Diskontinuitäten,
räumliche F o r m e n voraussetzt und feststellt und sich damit dem Fluß des
reinen Werdens in der Zeit entgegenstellt: Nietzsches Grunderfahrung der
W e l t , die allein die Musik wiederzugeben vermag, weil das musikalische
W e r k , wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik ausführt, 2 3 2 kein
dauerndes äußerliches Bestehen im R ä u m e hat, vielmehr „umgekehrt seine
reale Existenz zu einem unmittelbaren zeitlichen Vergehen derselben
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 55

[verflüchtigt]", es des weiteren auch nicht wie die Poesie, eine vom
äußerlichen, in der Zeit entschwindenden Material abgehobene, bleibende
somit begrifflich faßbare, weil bildliche Vorstellung ausbildet. „Gleichniß
der Musik. Wie kann man von ihr reden?", fragt Nietzsche in einer Vorstufe
seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 233 .
V o n ihr selber gar nicht, ist doch ihre Sphäre ganz anderen Wesens als der
auf objektiven Anschauungen basierende Begriff. Wie Hegel sagt:
Kaum hat das Ohr sie gefaßt, so ist sie verstummt; der Eindruck, der hier
stattfinden soll, verinnerlicht sich sogleich; die T ö n e klingen nur in der
tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in
Bewegung gebracht wird. 234
Reden kann man allein von dieser ihrer Wirkung auf die Innerlichkeit,
sofern sich diese zur Vorstellung verdichtet und gefügt hat, d. h. auf die
Weise des Lyrikers, wie Nietzsche sie in der „Geburt der Tragödie"
beschrieben hat. Der Lyriker ist diesen Ausführungen zufolge derjenige,
„der jenes begrifflich unnahbare Bereich des ,Willens', den eigentlichen
Inhalt und Gegenstand der Musik, sich in die Gleichnißwelt der" —
bestimmten — „Gefühle übersetzt." 235 , dem die Musik „wie in einem
g l e i c h n i s s a r t i g e n T r a u m b i l d e [ . . . ] sichtbar [wird]" 236 , so zwar,
daß er von jener Sphäre des Willens absteht, der unmittelbaren Wirkung der
unbestimmten Affekte entrückt ist. Denn während die Sprache die
Anschauung zu begreifen sucht, derweise dem Bereich des principium
individuationis zurechnet — sie setzt zum einen die Formen von „Zeit Raum
und Kausalität" voraus, „sodann die Urphantasie der Übertragungen in
Bilder: das erste giebt die Materie,, das zweite die Qualitäten, an die wir
glauben" 237 —, ist der „Gegenstand" der Zeitkunst Musik, wie es in einem
umfangreichen, bereits in anderem Zusammenhang angeführten (s. S. 34 f.)
Fragment zur „Geburt der Tragödie" heißt, „der Wille in seiner
allergrößten Allgemeinheit, als die ursprünglichste Erscheinungsform, unter
der alles Werden zu verstehn ist" 238 . Empirisch oder physiologisch gesehen,
jener fortwährende Fluß purer „Lust- und Unlustempfindungen", der „als
nie fehlender Grundbaß alle übrigen Vorstellungen [begleitet]" 239 . Alle
Reden über Musik aus ihrer Wirkung auf die Innerlichkeit heraus sind
zudem trotz ihrer objektiven Form in der Hinsicht subjektiv zu nennen, daß
sie, mit Hegel zu sprechen 240 ,
u n s e r e Vorstellung und Anschauung [sind], zu der wohl das Musikwerk
den Anstoß gegeben, die es jedoch nicht selber durch seine musikalische
Behandlung der T ö n e unmittelbar hervorgebracht hat.
Ihnen eignet darum ein erheblicher Grad an Beliebigkeit, wie sogleich der
Vergleich mit den Empfindungen, Anschauungen und Vorstellungen erhellt,
die die Poesie hervorruft: Sie spricht diese
56 Voraussetzungen

selber aus, und vermag uns auch ein Bild äußerer Gegenstände zu
entwerfen, obgleich sie ihrer Seits weder die deutliche Plastik der Skulptur
und Malerei, noch die Seeleninnigkeit der Musik erreichen kann, und
deshalb unsere sonstige sinnliche Anschauung und sprachlose Gemüthsauf-
fassung zur Ergänzung heranrufen muß. —
Ein anderes Fragment aus dem Umkreis der „Geburt der Tragödie" hebt
jene physiologischen Überlegungen Nietzsches auf das Reflexionsniveau der
„Artisten-Metaphysik":
Das Scheinende, das Leuchtende, das Licht, die Farbe.
[...]
Der Ton stammt aus der Nacht:
Die Welt des S c h e i n s hält die Individuation fest.
Die Welt des Tons knüpft aneinander: sie muß dem Willen verwandter
sein.
Der Ton: ist die S p r a c h e d e s G e n i u s d e r G a t t u n g . 2 4 1
Befreit von allen „nachtischen" Gedanken Wagners ( „ O h sink hernieder,
Nacht der Liebe") — siehe dazu die Ausführungen des 2. Abschnitts — und
fern den Vordergründen einer biologischen Ausdrucksweise könnte das
heißen: Die Musik offenbart in ihrer Artikulation, dem Spiel der diskreten
Töne, die Scheinhaftigkeit des Seienden, der Artikulationen der lichten Welt,
indem sie diese ihre flüchtigen Individualitäten oder Diskontinuitäten zu
einer immerfort werdenden, in sich bewegten Kontinuität fügt, damit aber
gleichnishaft („Gleichniß der Musik") — d. h. als ihren „Geist" — jene
Kontinuität des Werdens zum Vorschein bringt und ausspricht, die
ansonsten nur dunkel, an der Grenze aller in der Helle des Tages
aufleuchtenden Diskontinuitäten aufscheint·, diese sind für uns (vgl.
Anm. 819), was sie sind, nur im Gegenhalt der an sie gefügten Kontinuität —
wie der Schein des Tages er selbst nur in der Ausgrenzung des Dunkels der
Nacht ist: er ist T a g nur von der Nacht her. Zunächst und zumeist aber
erwecken die Diskontinuitäten bei uns den Anschein, als bestünden sie in sich
selbst, als seien sie je f ü r sich, wenn wir nämlich in den kleinlichen
Differenzen, den Vereinzelungen unserer täglichen Welt befangen sind,
ohne den Blick für die an ihnen aufscheinende eine Differenz von Einheit
und Vielheit, von „kontinuierlichem" Werden und „diskontinuierlichem"
Sein der Welt oder des Lebens zu haben. (In der „Geburt der Tragödie" und
den Aufzeichnungen aus ihrem Umkreis spricht Nietzsche dem „Leben"
oder „Willen" in Fortführung des f ü r ihn in Schopenhauer inkarnierten
traditionellen metaphysischen Ansatzes „Einheit" zu — so redet er dort
etwa vom „Ureinen" —, obwohl er, wie wir gesehen haben, bereits in den
Notizen für das Dissertationsprojekt die Vorstellung der „Einheit" als
höheren Schein, als Täuschung ausgewiesen hat. Die spätere Konzeption
des „Willens zur Macht" nimmt diesen Gedanken, darauf haben wir
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 57

ebenfalls schon aufmerksam gemacht (siehe Anm. 71), in sich auf. Dagegen
bemerkt er beispielsweise im September 1870—Januar 1871: „Vom
Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine Unsumme
ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der Begriff des
Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich selbst gebärender
und erhaltender Organismus: die Vielheit liegt in den Dingen, weil der
Intellekt in ihnen ist [gemeint ist der eine „Urintellekt", der sich als und in
der Vielheit der Welt vorstellt]. Vielheit und Einheit dasselbe — ein
undenkbarer Gedanke." 242 )
Die Musik eröffnet uns aber laut Nietzsche den Blick für diese Differenz
von Einheit und Vielheit, von kontinuierlichem Werden und diskontinuierli-
chem Sein — und mit ihm zugleich auch den Blick für ihre eigene
Gleichnishaftigkeit —, indem sie uns mit ihrer „elementarischen Macht"
(wie Hegel weiß 243 , „zieht uns das musikalische Kunstwerk ganz in sich
hinein und trägt uns mit sich fort") vorübergehend, für die Zeit ihrer
Wirkung, unserer zerstückelten Tageswirklichkeit und damit unserer
Individualität, der Ständigkeit unseres subjektiven Standpunktes entsetzt:
Und wie ich vom Mannheimer Concert zurückkam, hatte ich wirklich das
sonderbar gesteigerte übernächtige Grauen vor der Tageswirklichkeit: weil
sie mir gar nicht mehr wirklich erschien, sondern gespenstisch. 244 ,
schreibt Nietzsche an seinen Freund Erwin Rohde am 21.12. 1871 über ein
Wagner-Konzert, das tags zuvor in Mannheim stattgefunden hat. Erfährt so
der H ö r e r in der Ek-stasis des Hörens unmittelbar die Aufhebung der
Diskontinuitäten des lichten Tages in der nächtlichen Kontinuität, den
Untergang der Vielheit in einer verschwimmenden „Einheit", der „Einheit"
des Lebens — so erschließt sich ihm diese Aufhebung als solche doch erst
nach ihrer Aufhebung, nach der Rückkehr in die Diskontinuität; denn
unsere anschauende Vernunft, das lumen naturale, setzt einen festen
Blickpunkt voraus, so daß wir die Kontinuität oder „Einheit" der Welt gar
nicht anders denn taghaft, d. h. im Ausgang vom T a g und seinen
Diskontinuitäten als deren Entgegensetzung oder Aufhebung, nämlich als
ununterbrochene Folge von Diskontinuitäten denken können. Was die
Kontinuität oder „Einheit" des Lebens als solche oder an sich ist, wissen wir
nicht.
Im Lichte dieses erschlossenen Unterschiedes erscheint aber die
Diskontinuität anders als früher, sie erscheint gar nicht mehr wirklich,
vielmehr gespenstisch und d. h. scheinhaft. Wie Nietzsche in jenem bereits
zitierten Fragment bemerkt:
Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine
Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der
Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich
selbst gebärender und erhaltender Organismus.
58 Voraussetzungen

Wirklich erscheint so allein die Kontinuität, die „Einheit". D o c h kommt


alles darauf an zu sehen, daß umgekehrt diese selbst für uns nur ist, was sie
ist, im Gegenhalt der Diskontinuität, der Vielheit der Individuen. Denn die
„ E i n h e i t " des Lebens bringt sich selbst nur als Vielheit hervor:
Vielheit und Einheit dasselbe — ein undenkbarer Gedanke. 245
Sofern das Leben ist — und das meint: für uns ist — , zeitigt es sich; die Zeit
als die Form aller uns möglicher Erfahrungen aber ist, wie nicht zuletzt die
Musik, die Zeitkunst, lehrt, eine Folge diskreter Jetzt. S o waltet und d. h.
wird das „ L e b e n " oder der „ W i l l e " als dieser fortwährende eine
Unterschied von Kontinuität und Diskontinuität, von Einheit und Vielheit,
der in die Vielheit von Differenzen zwischen den Diskontinuitäten
gebrochen ist. Für den Menschen ist jedoch das Walten dieser Macht zumeist
verstellt, weil er im Augenschein der Ständigkeit der Individuen befangen ist,
die im Setzen und Aufheben der Vielheit beständig werdende „ E i n h e i t "
nicht erkennt.
Fixiert wird dieser Augenschein Nietzsche zufolge aber durch „ d a s
Grobmaterielle des B e g r i f f s " 2 4 6 , der als solcher zwar, so werden wir
aufzuzeigen wissen, wie jedes Seiende den einen Unterschied an sich trägt,
derweise wohl in sich bewegt ist; in seinem Streben, die Wirk-lichkeit
jederzeit verfügbar zu machen, diese aber petrifiziert: Die begriffliche
Abstraktion
ist ein d a u e r n d e r im Gedächtniß festgehaltener und h a r t g e w o r d e n e r
E i n d r u c k , der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, j e d e m
Einzelnen g e g e n ü b e r , sehr g r o b und unzureichend ist. 247
S o ist das Sein des Parmenides, das Nietzsche als die Entgegensetzung des
von Heraklit gedachten Werdens auslegt, in seinen Augen das Sein der
begrifflichen Abstraktionen 2 4 8 : In noch weitaus geringerem Maße als das
lyrisch-metaphorische Sprechen vermag der Begriff dasjenige wiederzuge-
ben, was wirk-lich ist, den werdenden Willen oder das werdende Leben, geht
er doch aus jenem Sprechen, wie wir sehen werden, durch Habitualisierung
hervor.
Unmittelbar vom Wirklichen zu reden vermag allein die Musik, die
Nietzsche darum als „ S p r a c h e des Genius der G a t t u n g " bezeichnet — wir
interpretieren: als Sprache des Geistes, der die Menschheit „beseelt" 2 4 9 , d. h.
des Willens. Darin aber, daß er die Musik, genauer: daß er die gegenstands-
und begriffslose Instrumentalmusik, die sogenannte „absolute M u s i k " , als
„eine Sprache ,über' der Sprache" 2 5 0 etabliert, folgt Nietzsche — von
Schopenhauer und Wagner geführt — 2 5 1 der romantischen Musikästhetik.
Sie räumt der absoluten Musik nämlich den Platz ein, den der dichterische
Unsagbarkeits-Topos frei gemacht hat und der eigentlich der religiösen
Erhebung vorbehalten w a r : „ M u s i k drückt aus, was Worte nicht einmal zu
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 59

stammeln vemögen" 252 , weil diese, anders als jene, die sich vom
Anschaulichen und schließlich auch — wie Nietzsche gegen Schopenhauer
hervorheben wird — vom Affektiven löst, in den Kategorien der
Erscheinungswelt befangen bleiben. Die Musik hingegen macht sich fort und
fort vom Sinnlichen frei; 253 als derweise metaphysischste aller Künste ist sie
die reinste und geistigste Offenbarung des „Absoluten" — f ü r
Wackenroder, Tieck, Ε. T. A. H o f f m a n n und Schleiermacher ist dies ein
christlich ausgelegtes Unendliches, für Schelling das Absolute, für
Schopenhauer der Wille, für den Nietzsche der vordergründigen Schicht
der „Geburt der Tragödie" das in allem Endlichen anwesende, sich in
diesem hervorbringende Leben. Auch bei ihm ist somit die Musik nichts als
ein Organon der Metaphysik — „Metaphysik" dabei verstanden als der
Versuch, die Phänomene auf einen hinter oder in ihnen verborgenen Grund
zurückzuführen. Nietzsche unterläßt es darum, die Macht des Anganges der
Musik rein als solche, d. h. das Phänomen in seiner Phänomenhaftigkeit zu
bedenken — das meint, den Menschen entsprechend seiner Empfänglichkeit
be-stimmend zu beziehen (siehe dazu im folgenden). Statt dessen degradiert
er sie zum Zeichen eines ihr anderen Metaphysischen („Gleichniß der
Musik"). Das aber heißt, daß er ihr als Phänomen der Physis untreu wird.

Und noch eines verdient hervorgehoben zu werden, auch wenn es auf


den ersten Blick trivial erscheinen mag: Damit Musik überhaupt als
übersprachliche Sprache des Genius der Gattung erlebt werden kann, muß
paradoxerweise ausgesprochen werden, daß es so sei. Daß das
Außersprachliche ein Übersprachliches und was dieses als solches sei, muß
besprochen werden, weil der Mensch als denkendes Wesen ein sprechendes
Wesen ist. Damit aber erweist sich das Außersprachliche als sprachlich
bestimmt. Das wiederum erklärt mit, warum, wie wir oben gesagt haben,
sich dem H ö r e r die Aufhebung der Diskontinuitäten in der Ek-stasis des
Hörens erst nach deren Aufhebung, nach der Rückkehr in die
Diskontinuität — und das meint: in die sprachlich verfaßte Diskontinuität —
erschließt. Sprache setzt, wie man nicht erst seit Saussure weiß,
Unterschiede voraus.
Im Gegensatz zu Nietzsche und seinem Mißtrauen gegen das
Begriffliche geht nun Parmenides in seinem Glauben an sie so weit, daß er,
wie Nietzsche wähnt, in den Begriffen und dem Begriffsvermögen — der
Vernunft, wie Nietzsche auch sagt — 254 „das entscheidende Kriterium über
Sein und Nichtsein, das heißt über die objektive Realität und ihr Gegentheil"
zu besitzen glaubt:
jene Begriffe sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und
corrigiren, wie sie doch aus ihr thatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen
60 Voraussetzungen

im Gegentheil die Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines


Widerspruchs mit dem Logischen, sogar verdammen.

So Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker ( P H G 12, 3 / 2 , 3 4 3 ) .


Im Lichte des Logischen aber, so legt Nietzsche dort weiter dar, erweisen
sich für Parmenides die „vielen wahrnehmbaren Qualitäten" und damit das
Werden als „Phantasmata unsrer Sinne" (PHG 6, 3 / 2 , 3 2 1 ) . „Damit
vollzog e r " , führt Nietzsche weiter aus ( P H G 10, 3 / 2 337f.),

die überaus wichtige, wenn auch noch so unzulängliche und in ihren


Folgen verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats: dadurch daß
er die Sinne und die Befähigung Abstraktionen zu denken, also die
Vernunft jäh auseinander riß, als ob es zwei durchaus getrennte Vermögen
seien, hat er den Intellekt selbst zertrümmert und zu jener gänzlich
irrthümlichen Scheidung von „Geist" und „Körper" aufgemuntert, die,
besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt. Alle
Sinneswahrnehmungen, urtheilt Parmenides, geben nur Täuschungen; und
ihre Haupttäuschung ist eben, daß sie vorspiegeln, auch das Nichtseiende
sei, auch das Werden habe ein Sein. Alle jene Vielheit und Buntheit der
erfahrungsmäßig bekannten Welt, der Wechsel ihrer Qualitäten, die
Ordnung in ihrem Auf und Nieder wird erbarmungslos als ein bloßer
Schein und Wahn bei Seite geworfen; von dorther ist nichts zu lernen, also
ist jede Mühe verschwendet, die man sich mit dieser erlogenen, durch und
durch nichtigen und durch die Sinne gleichsam erschwindelten Welt giebt.
Wer so im Ganzen urtheilt, wie dies Parmenides that, hört damit auf, ein
Naturforscher im Einzelnen zu sein; seine Theilnahme für die Phänomene
dorrt ab, es bildet sich selbst ein Haß, diesen ewigen Trug der Sinne nicht
loswerden zu können.

Zwar sucht Nietzsche jene irrtümliche Scheidung von „Geist" und


„ K ö r p e r " zu überwinden, und dies, indem er die W e l t am Leitfaden des
Leibes als leibendes Leben auslegt, so daß der Geist nur noch ein Mittel
desselben darstellt, seinen Vollzug zu erwirken; z w a r verwirft er keineswegs
die Vielheit und Buntheit der empirischen Welt, den Wechsel ihrer
Qualitäten als bloßen Schein und als W a h n , sondern sucht sie vielmehr zu
verklären, indem er die scheinbare W e l t zur einzigen erklärt und die wahre
Welt als hinzugelogen behauptet — doch besteht beide Male die
Überwindung der Voraussetzungen der abendländischen Philosophie seit
Parmenides in einer bloßen Umdrehung derselben und nicht in einer
„ H e r a u s d r e h u n g " 2 5 5 aus ihr. Das aber bedeutet nichts anderes, als daß diese
Voraussetzungen bei Nietzsche fortleben. Für sein Verständnis des Geistes
werden wir das noch zu belegen haben, von Nietzsches V o r w u r f , unsere
Sinneseindrücke seien trügerisch, haben wir indes schon eingehend
gesprochen.
„Schmerz ist der Grundton der Natur" 61

Die Natur hat den Menschen in lauter Illusionen gebettet.


— Das ist sein eigentliches Element. Formen sieht er, Reize empfindet er
statt der Wahrheiten.256,

faßt unsere Ausführungen eine Notiz aus dem Sommer 1872—Anfang 1873
bündig zusammen, die in unmittelbarem Zusammenhang steht mit jener
später zu besprechenden Bemerkung der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne": „die Wahrheiten sind Illusionen, von denen
man vergessen hat, dass sie welche sind" 257 .
Daß ein ausdrücklicher Wille zur Umdrehung oder, wie Nietzsche
schließlich auch sagen wird, zur „ U m w e r t u n g " der abendländischen
Philosophie nicht erst Nietzsches spätere Philosophie bestimmt — Nietzsche
sich somit erst später diesen seinen Grundansatz zu-gedacht hätte —, belegt
folgende, aus der Frühzeit Ende 1870—April 1871 stammende Aufzeich-
nung:
Meine Philosophie u m g e d r e h t e r P i a t o n i s m u s : je weiter ab vom
wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein
als Ziel.258
Wir haben diese Aufzeichnung zunächst einmal so zu interpretieren, daß
Nietzsche an die Stelle des Seins, der ιδέα, das reine Werden setzt, welches
eingedenk dessen, daß das Sein von Piaton als immer Seiendes (άεί öv)
begriffen wird, „das weder entsteht noch vergeht (οΰτε γ ι γ ν ό μ ε ν ο ν οΰτε
ά π ο λ λ ύ μ ε ν ο ν ) " (Symp. 211 a), auch als Nicht-Sein, als μή öv, bezeichnet
werden kann. Damit vertauscht Nietzsche aber, folgt man seinen eigenen
Notaten, den Standpunkt der bisherigen Weltauslegung, den Standpunkt
des kurz-sichtigen, weil beharrende Formen sehenden Auges, den er in dem
obigen Zitat in Übereinstimmung mit seinen Überlegungen in der „Geburt
der Tragödie" der Kunst- und Traumgottheit Apollo zuspricht, mit dem
„Standpunkt" des Ohres, für den die Gottheit der Musik einzustehen hat,
Dionysos, der auch die Gottheit des Rausches, der Ek-stasis, ist.
Indes haben wir auch damit noch keine befriedigende Antwort auf die
Frage erhalten, worauf Nietzsches Annahme eines reinen Werdens
zurückgeht: Daß diese seine Grunderfahrung der Welt musikalisch genannt
werden kann, weil sie aus der Hörerfahrung erwächst, ist noch immer eine
— zumindest im weitesten Sinne — erkenntnistheoretische und damit
unzureichende Aussage; muß doch gefragt werden, wie es dazu kommen
kann, daß die musikalische Welterfahrung philosophisch bestimmend
wird. 259 —
Indem Nietzsche den Standpunkt der bisherigen Weltauslegung, den
Standpunkt Apollos, mit demjenigen des Dionysos vertauscht, will er jedoch
nicht nur das Ohr, sondern auch die anderen „subjektiven" Sinne von den
62 Voraussetzungen

Vor-stellungen des bisherigen Denkens befreien, in der H o f f n u n g , daß


dieses sinnlicher werde:
Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an
Sommer-Abenden. 2 6 0 ,
schreibt Nietzsche unvergeßlich im Sommer 1878, woran sich auch
beispielsweise die nachfolgende Bemerkung aus einem Abschnitt der
„ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , betitelt „ D i e ,Vernunft' in der Philosophie",
anschließen läßt:
— U n d was für feine W e r k z e u g e der Beobachtung haben wir an unsren
Sinnen! Diese N a s e zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit
Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das
delikateste Instrument, das nun zu Gebote steht: es vermag noch
Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das
Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit
Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne
a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken
lernten. 261
Alles dies ist aber in Zarathustras Forderung enthalten: „Bleibt der Erde
treu!" 2 6 2
Doch — bewahrt dieses Denken wirklich Treue zur Erde, wenn sich ihm
letztgültig das „ L e b e n " , d. h. die Welt, verflüchtigt zu einer ,,dauernde[n]
Form von Ρ r ο ζ e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n , w o die verschiedenen
Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen." 2 6 3 ? In welcher Definition nur
zum Austrag kommt, was Nietzsche schon früh, beispielsweise im Sommer
1872—Anfang 1873 erkenntnistheoretisch entworfen hat 2 6 4 : „die letzte
Grenze alles Erkennbaren sind Q u a n t i t ä t e n , er [der Mensch] v e r s t e h t
keine Qualität, sondern nur eine Q u a n t i t ä t . "
Die Materie selbst ist nur als Empfindung gegeben. [ . . . ]
Wir können sie [die Empfindung und damit auch die Materie] auf
Bewegung und Zahlen zurückführen. 2 6 5 ,
so haben wir oben bereits gelesen (siehe Seite 33). Wir fragen hierbei mit
dem skeptischen Hinweis darauf, daß „ t r e u " , was eigentlich „stark, fest wie
ein B a u m " bedeutet, nicht nur über seine indogermanische Wurzel *deru-,
„Eiche, B a u m " , mit „ t r a u e n " verwandt ist, sondern daß man phänomenal
gesehen T r e u e auch nur dort beweist, wo man etwas „betreut", d. h. in die
S o r g e nimmt. Bewahrt aber Nietzsches Denken in diesem Sinne T r e u e zur
Erde? Sucht es ihrem physischen, ihrem sinnlichen Reichtum in
bewahrender Weise zu entsprechen? O d e r folgt es den, wenn auch erst von
Descartes erschlossenen, so doch — wie Heidegger sehr viel tiefgründiger
als Nietzsche ( „ E s giebt keine aparte Philosophie, getrennt von der
Wissenschaft: dort wie hier wird gleich gedacht.") aufgewiesen hat —
bereits mit den Anfängen der abendländischen Metaphysik vorausgesetz-
ten 266 Bahnen des neuzeitlich-technischen Denkens, daß die Erde als
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik 63

Potential herausherstellbarer Kräfte entwirft und dabei ihre „Qualitäten" zu


„Quantitäten" reduziert? 267 Läßt es sich nicht vielmehr ebenso wie das seit
seinen Anfängen nach der ά ρ χ ή fragende philosophische und das aus diesem
hervorgehende herstellend-rechnende naturwissenschaftliche Denken 268 von
dem Willen leiten, die Phänomene auf einen in oder hinter ihnen
verborgenen, wahren — in Nietzsches Perspektive: weniger scheinbaren —
„ G r u n d " zurückzuführen, will es nicht in dieser Weise über den
Augenschein der Physis hinaus, weil es ihm als einer groben Täuschung
mißtraut? 269 Wir aber meinen, diesen Willen, ausdrücklich und eigens das zu
vollziehen, was die menschliche Vernunft mit ihrem Anspruch der ratio
reddenda immer schon tut, nicht anders denn als metaphysischen Willen
bezeichnen zu können. 270 Wenn Nietzsche hingegen glaubt, sich darum als
Überwinder der Metaphysik ausgeben zu dürfen, weil er, die Feststellung
eines transzendenten Seins als höchsten Schein entlarvend, diesem ein reines
Werden als „ G r u n d " entgegensetzt, dann geht er bei dieser Annahme
unseres Erachtens von einer unzureichenden Bestimmung dessen aus, was
„Metaphysik" ist. Ein zureichender Begriff der metaphysischen Weltverhal-
tung ist indes allein in Auseinandersetzung mit demjenigen zu gewinnen,
was wir als „dichterische Weltverhaltung" bezeichnen wollen, weil diese in
unserer Überlieferung sprachlich allein in dichterischen Texten bewahrt
wird. (Ausdrücklich sei angemerkt, daß wir mit dieser Benennung somit
keineswegs die Behauptung aufstellen, als erwachse alles gemeinhin als
„Dichtung" bezeichnete künstlerische Schaffen aus der von uns im
folgenden bedachten Weltverhaltung: Von den reflektierenden Texten
künden — was angesichts der Übermacht unserer metaphysischen Tradition
auch nicht verwundern kann — nur wenige von einer solchen Erfahrung; in
ihrem Lichte können dann jene — zahlreicheren — Texte gedeutet werden,
in denen diese Welterfahrung vollkommen in der Form aufgegangen ist.
Insgleichen ist von uns auch nicht der Schluß intendiert, jene Dichtungen,
die sich auf die von uns „dichterisch" genannte Weltverhaltung beziehen,
seien als „eigentliche" oder „wesentliche" Dichtungen zu bezeichnen: Das
Erkenntnisziel des folgenden Abschnittes ist viel bescheidener, als es der
Versuch einer Bestimmung des Wesens des allgemein Dichterischen wäre.)

6. „Bleibt der Erde treu!":


Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik und der Widerstreit
zwischen begründendem Denken und abgründigem Dichten
— Zur Notwendigkeit einer Er-läuterung des Nietzscheschen Denkens

In seinem 1770 erschienenen Gedicht „Die Freuden" 271 zeichnet der


junge Goethe auf:
64 Voraussetzungen

D a flattert um die Quelle


Die wechselnde Libelle,
Der Wasserpapillon,
Bald dunkel und bald helle
Wie ein Chamäleon;
Bald rot und blau, bald blau und grün,
Ο daß ich in der N ä h e
D o c h seine Farben sähe!

D a fliegt der Kleine vor mir hin


U n d setzt sich auf die stillen Weiden.
D a hab' ich ihn, da hab' ich ihn!
U n d nun betracht' ich ihn genau
U n d seh' ein traurig dunkles Blau.
S o geht es dir, Zergliedrer deiner Freuden!

Getrieben von dem Wunsch, dasjenige, was es freudig stimmt, das


irisierende Farbenspiel der umherschwirrenden Libelle, genauer in
Augenschein nehmen zu können, um ihm auf den Grund zu kommen, fängt
das Ich des Gedichts das Tier ein, muß aber zu seiner Trauer erkennen, daß
ihm — entgegen seiner fiebernden Erwartung: „ D a hab' ich ihn, da hab' ich
ihn!" — in diesem Geschehnis der Zergliederung der Gegenstand seiner
Freude und damit auch seine Freude selbst unter den Händen zergangen ist:
Das Ich sieht nichts als einen Farbfleck, ein „traurig dunkles Blau". Was ist
geschehen?
Das Ich hat es nicht bei der freudigen Stimmung als seiner und des
Phänomens Bestimmung bewenden lassen, sondern, der metaphysischen
Bestimmung des Menschen als eines unter dem Anspruch der ratio reddenda
stehenden Wesens (animal rationale) eingedenk, diesen atmosphärischen
Bezug des Phänomens zerstört, um es — gemäß der metaphysischen
Weltverhaltung — auf seinen Grund (ratio) zurückzuführen: Dieser
Weltverhaltung bedeutet „ P h ä n o m e n " nicht mehr unausdenkbares,
bezugsmäßig Angehendes, sondern Erscheinendes oder Aufgehendes, das
auf sein Konstitutives, auf die Gründe seines Erscheinens, hin befragt
werden kann. Doch nicht erst mit der — vom Ich des Gedichts allzu
handgreiflich vollführten — Feststellung eines solchen Grundes, vielmehr
bereits mit der bloßen Annahme, daß es überhaupt möglich, wenn nicht gar
notwendig sei, das Phänomen auf einen Grund zu reduzieren, bereits hier,
wo man ein anderes als das uns unmittelbar angehende Phänomen nur in der
Vorhabe hat, wird der atmosphärische Bezug 272 zerstört, mit dem das
Phänomen — nicht die Libelle, sondern das Ganze, das dem lyrischen Ich als
Freude aufgeht — den begegnenden Menschen, seiner Empfänglichkeit
entsprechend, bezieht. Und dies nicht etwa unwillkürlich, sondern
absichtsvoll — die Rückführung des Phänomens auf die Bedingungen seines
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik 65

Erscheinens ist nämlich getragen von der Absicht, dieses beherrschbar, der
rechnenden Vernunft verfügbar zu machen: Wenn erst die Gründe des
Sichzeigenden festgestellt sind, ist dieses selbst sichergestellt und d. h.
berechenbar: Müssen wir daran erinnern, daß ratio, „die Vernunft, der
G r u n d " , von reri kommt, was ursprünglich „rechnen", übertragen dann
„meinen, glauben, dafürhalten" bedeutet? Dieser Absicht aber steht der
atmosphärische Bezug im Wege, als welcher die Macht des Phänomens ist,
den Menschen zu umfangen und in dieser Umfängnis gemäß dem Grad
seiner Empfänglichkeit zu be-stimmen. (Im Gedicht ist der Einklang dieses
waltenden Bezuges darin ausgesprochen, daß in dem Vorwurf „So geht es
dir, Zergliedrer deiner Freuden!" zwischen dem Gegenstand der Freude und
dem Gefühl selbst nicht geschieden wird: Mit dem Gegenstand zergeht auch
der atmosphärische Bezug, den das Ich als Freude empfindet. Beides ist
eines. Leider hat Goethe später die hier aufscheinende ursprüngliche, und
d. h. der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausliegende Zugehörigkeit des
Menschen zur Welt im Sinne der Überlieferung höchst unzureichend,
nämlich „platonisch" als Entsprechungsverhältnis von Subjekt und Objekt
gedeutet. 273 ) Als ein solcherweise Umfangendes ist das atmosphärische
Phänomen nämlich umfänglicher als die menschliche Vernunft, so daß es als
dieses niemals auf die Bedingungen seines Erscheinens hin befragt werden
kann, setzte dieses doch die Möglichkeit voraus, hinter es zurückgehen zu
können. So aber ist das Ganze, das dem Ich des Gedichts als Freude aufgeht,
für es das Unumgängliche in der zwiefachen Bedeutung, daß es sich, von
ihm umfangen und be-stimmt, auf es verwiesen sieht, ohne ihm doch je
faßbar werden zu können. Denn weil dieses atmosphärische Ganze mehr ist
als die Summe seiner begrifflich fixierbaren Teile — die Libelle, das auf
ihren Flügeln tanzende Licht, ihr Widerschein im glänzenden Quell —,
darum ist es, wie das Ich schließlich erkennt, nicht zergliederbar und d. h.
nicht begründbar. Am Ende jenes Versuches steht darum der Katzenjam-
mer, die Trauer über den Verlust des atmosphärischen Bezuges, der das Ich
derweise nur noch als abwesend anwesender bestimmt. Das aber setzt
voraus, daß das Ich den atmosphärischen Bezug überhaupt als Reichtum,
wenn nicht gar als Bestimmung und als Wesen des Phänomens erfährt,
worauf es bei unserem Ich, einem dichterischen Ich hinauszulaufen scheint.
(Mag auch das Gedicht literarisch gesehen wenig bedeutsam und in den
meisten Zügen — vielleicht mit Ausnahme jener Passage, aus der die Einheit
von Empfindung und empfundenem „Gegenstand" spricht — als
konventionelle Anakreontik-Dichtung erscheinen: Daß ihr gleichwohl eine
echte und Goethes Weltverhaltung bis ins Tiefste hinein bestimmende
Erfahrung zugrundeliegt, könnte eine Auseinandersetzung mit seinen
naturwissenschaftlichen Versuchen zeigen, die hier leider unterbleiben muß.
66 Voraussetzungen

In ihnen ringt Goethe darum, eine solche Form der Analyse zu finden, die
die „Objekte" nicht um ihren physischen Reichtum bringt. Bei einer solchen
Auseinandersetzung käme daher alles darauf an, in dem von Goethe
gebrauchten metaphysischen Vokabular seine „vormetaphysische" Welter-
fahrung aufzuspüren.)
Ganz anders als der Dichter Johann Wolfgang Goethe denkt indes der
Metaphysiker, Rene Descartes zum Beispiel. In der zweiten seiner sechs
„Meditationes de prima philosophia" 274 betrachtet dieser ein Stück Wachs:
V o r kurzem erst hat man es aus der Wachsscheibe gewonnen, noch verlor
es nicht ganz den Geschmack des H o n i g s , noch blieb ein wenig zurück von
dem D u f t e der Blumen, aus denen es gesammelt worden; seine Farbe,
Gestalt, Größe liegen offen zutage, es ist hart, auch kalt, man kann es leicht
anfassen, und schlägt man mit dem Knöchel darauf, so gibt es einen T o n
von sich, kurz — es besitzt alles, was erforderlich scheint, um irgendeinen
K ö r p e r g a n z deutlich erkennbar zu machen. D o c h sieh! Während ich noch
so rede, nähert man es dem Feuer, — was an Geschmack da war, geht
verloren, der Geruch entschwindet, die Farbe ändert sich, es wird
unförmig, wird größer, wird flüssig, wird warm, kaum mehr läßt es sich
anfassen, und wenn man darauf klopft, so wird es keinen T o n mehr von
sich geben. Bleibt es denn noch dasselbe Wachs? Man muß zugeben — es
bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer Meinung. Was an
ihm also war es, das man so deutlich erkannte? Sicherlich nichts von dem,
was im Bereich der Sinne lag; denn alles, was unter den Geschmack, den
Geruch, das Gesicht, das Gefühl oder das Gehör fiel, ist ja jetzt verändert,
und doch es bleibt — das Wachs.

Unter dem Zugriff der reductio hat sich das Wachsstück in einen bloßen
Fleck verwandelt, vergleichbar dem blauen Fleck, von dem das Gedicht
spricht. Doch während dort das lyrische Ich betrauert, daß dieser Fleck nur
ein nichtiger Rest des Lichtphänomens ist, das es vorher zur Freude
bestimmt hat, antwortet Descartes auf seine eigene Frage „Bleibt es denn
noch dasselbe Wachs?" in unglaublich selbstsicherer Weise: „Man muß
zugeben — es bleibt, keiner leugnet es, niemand ist darüber anderer
Meinung." D. h. er setzt das, was das Ich des Gedichts als die Bestimmung
des Phänomens erfährt, den atmosphärischen Bezug der Freude, nichtig;
was indes — der Satz: „noch blieb ein wenig zurück von dem Dufte der
Blumen, aus denen es gesammelt worden" sagt es — nicht bedeutet, daß
Descartes für das Atmosphärische von vornherein überhaupt unempfänglich
wäre. Doch entzieht es sich ob seiner Flüchtigkeit, seiner Zu-fälligkeit und
Beliebigkeit — ein und dasselbe Phänomen bezieht jeden, ja sogar ein und
denselben Menschen zu verschiedenen Zeiten anders — allen Begründungs-
versuchen, allen Berechnungen und „juridischen" Rechtfertigungsforderun-
gen (Grund heißt lat. causa) der rechnenden Vernunft, die, wie auch
Nietzsche erkennt 275 , Währendes festzustellen sucht. Seit Descartes, der der
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik 67

Philosophie und der Wissenschaft auch darin eine Richtung gewiesen hat,
daß er als erster die Mathematik zum Ideal der Wissenschaft erhob, meint
dies aber, daß es sich allen mathematischen Berechnungen entzieht.
Ausschließlich qualitativ bestimmt, läßt es sich nicht auf quantitative
Bestimmungen reduzieren. Allein diese aber sind für Descartes wahr, d. h.
real. Denn nur dort, so seine den Fluch der Metaphysik über die Sinnlichkeit
prolongierende Voraussetzung, wo die Denktätigkeit des Verstandes rein in
sich selbst verweile, da entwickle diese klare und deutliche Vorstellungen,
wohingegen die sinnliche Wahrnehmung als solche nur eine getrübte
Erkenntnis hervorbringe. Rein in sich selbst verweile der Verstand aber in
der Geometrie, so nimmt Descartes an (— fälschlicherweise, wie Kant mit
dem Aufweis der anschaulichen Grundlagen der mathematischen Erkenntnis
gezeigt hat). Das erklärt, warum sich schließlich als das wahre Attribut der
Körper — das meint: dasjenige ihrer Attribute, welches nach Abzug der
sinnlichen Qualitäten vor dem Urteil des Verstandes zu bestehen vermag —
die räumliche Ausdehnung erweist: sie ist berechenbar. Wenn uns somit die
sinnliche Wahrnehmungsvorstellung (imaginatio) die Dinge als qualitativ
bestimmt zeigt, dann hat das Denken (intellectio) Descartes zufolge die
Aufgabe, die quantitativen Verhältnisse herauszustellen, in denen das reale
Wesen dieser Phänomene beschlossen liegt. Ganz im Sinne Galileis, und
damit in jenem Sinne, den Goethe später in Newton bekämpfen sollte, weist
Descartes darum der Physik die Aufgabe zu, die Reduktion der qualitativen
auf quantitative Bestimmungen zu vollziehen. 276 Insofern sie aber dabei die
den Menschen angehende, ihn be-stimmende atmosphärische Erscheinung
verläßt und sie auf ein ihr Fremdes hin übersteigt, wobei sich ihr „ W e s e n " in
einer Weise verändert, die nur als Verfolgung und Vernichtung desselben
bezeichnet werden kann, insofern ist die Physik in ihrem Wesen
„Meta"physik, sind doch dies die drei Bedeutungen des griechischen μέτα
(von etwas weg zu etwas anderem hin, hinüber; hinter etwas her; ver . . . im
Sinne der Veränderung, des Wandels), die dann sprechend werden, wenn
φύσις nicht mehr nur Aufgehen in die Unverborgenheit bedeutet
(intransitive Bedeutung von griech. φ ύ ω „aufgehen, zum Vorschein
kommen"), sondern als wachsenlassende Umfängnis (transitive Bedeutung
von griech. φ ύ ω „wachsenlassen, schaffen") verstanden wird.
Ganz in jenem Sinne und damit im eklatanten Widerspruch zu seiner
eigenen Kritik am Sokratismus wegen der ihm wesenseigentümlichen
„Uebersetzung des D i o n y s i s c h e n in den naturalistischen Affekt" ( G T
14, 3/1, 90) reduziert aber auch Nietzsche in jenem Fragment VII [38] 12
(7/3, 338 f.) vom Juni—Juli 1885, das, wie Eugen Fink bemerkt 277 , „auf eine
erstaunliche Weise aller Gedankenelemente" von dessen später „Weltvision
versammelt", die Welt auf „ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne
68 Voraussetzungen

Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner
wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt". 278
Und doch: In der Forderung „Unser Denken soll kräftig duften wie ein
Kornfeld an Sommer-Abenden" scheint die Erkenntnis aufzublitzen, daß
das Denken, um die Metaphysik zu überwinden, dichterisch in dem Sinne zu
werden hat, daß es demjenigen nachzudenken sucht, was bisher erst manche
Dichter als höchste „Bestimmung" der Phänomene erfahren haben, und
d. h. denkend dem zu entsprechen bestrebt ist, was die Worte jener Dichter
bewahren wollen, das ab-gründige Atmosphärische. Erst ein solches
Denken, das das Sinnliche nicht mehr nichtig setzt durch Reduzierung
desselben auf einen sei es dahinter, darin oder daran aufscheinenden Grund,
es vielmehr als Grundloses denkend in die Obhut nimmt — und ihm mithin
auch keine teleologische Bestimmung zuweist —, erst ein solches Denken
wird wahrhaft Treue zur Erde wahren, weil erst dieses Denken deren
Flüchtigstem und damit Endlichstem, dem atmosphärischen Bezug, traut
und es betreut. So meinen wir zumindest jene Forderung im Hinblick auf
Zarathustras Ausruf auslegen zu müssen, wenngleich dies hier nur in
vorläufiger und skizzenhafter Weise geschehen konnte.
Ebendieser Forderung aber kann Nietzsche zunächst schon darum nicht
entsprechen, weil sein Denken, wie gesehen, von der Position der
neuzeitlichen Subjektivität ausgeht, wonach der Mensch es ist, der das ihm
Entgegenstehende, den Gegenstand, schafft:
Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und O h r eigen. Alle
Abstrakta, Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in
unserm Geiste zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was
uns anzieht, hat vorher Leben in unserem Geiste empfangen. Alle(s) Todte
ist des Geistes unwürdig.
In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine
Stimmung. Was uns in der N a t u r anzieht, sind uns eigne edele Gefühle, die
wir wie in einem Bild vor uns verkörpert sehn.,
haben wir beim jungen Nietzsche lesen können (siehe Seite 8 f.). Erst im
Gefolge jener späteren Denkversuche, in denen der neuzeitliche
Subjektivismus in seine Krisis geführt wird, tauchen bisweilen deutliche
Formulierungen auf, in denen Nietzsche — was von nahezu allen seinen
Interpreten, auch von den großen, übersehen wird — seine Spät-Philosophie
des Willens zur Macht als in gewisser Hinsicht vordergründig und vor allem
als unangemessen bezeichnet gegenüber dem Bedachten, dem „Leben", dem
nur die Kunst und die ihr nachdenkende sogenannte „Artisten-Metaphysik"
im tiefsten gerecht werden könne. 279
Wenn es aber so mit Nietzsches Denken steht, daß es sich in dieser Weise
am Scheideweg von Metaphysik und „Physik" befindet — bezwungen von
der Übermacht der metaphysischen Tradition, es der selbstgewiesenen
„Bleibt der Erde treu!": Die Frage nach der Überwindung der Metaphysik 69

Aufgabe nicht nachzukommen vermag 280 —, dann hat eine eingehende


Deutung, sofern sie den Anspruch erheben will, Er-läuterung zu sein, dieses
Denken an allen den Stellen, wo es ihr möglich erscheint, zumindest
versuchsweise und ganz behutsam von jenem Überkommenen zu läutern,
anders gesagt: es im Sinne seiner ureigensten Sache, der Forderung, der
Physis Treue zu halten, zu übersetzen und damit zukünftig, d h. fruchtbar
zu machen; ist doch, wie Goethe uns lehrt, nur das Fruchtbare im tieferen
Sinne wahr. N u r dann aber ist die Deutung auch wahrhaft Er-örterung,
insofern sie nämlich auf diese Weise das Denken in seinen sich selbst
zugedachten, aber verfehlten O r t weist, es somit zu ihm übersetzt. In diesem
doppelten Sinne will unsere Deutung von Nietzsches frühem, seinen
gesamten Denkweg bestimmenden Denkansatz schließlich auch „Überset-
z u n g " desselben sein.
Nietzsches Verstrickung in die Metaphysik aber offenbart nicht zuletzt
jenes Argument, mit dem der späte Nietzsche in jenem bereits mehrfach
zitierten Abschnitt der „Götzen-Dämmerung", „Die ,Vernunft' in der
Philosophie" 281 , den Titel der Sinnlichkeit für sein Denken beansprucht: daß
nämlich der von ihm negierte Augenschein der Physis eine Verfälschung des
Zeugnisses der Sinne durch die Vernunft und ihre metaphysischen
Vorurteile (Kategorien) sei. So lege sie in dieses (physische) Zeugnis „zum
Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der
D a u e r " hinein:
Die „Vernunft" ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen.
Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie
nicht...
Ebendieses Argument, mit dem Nietzsche f ü r sich die Überwindung der
Metaphysik reklamiert, hat aber die, wie Nietzsche meint, Grundvorausset-
zung der Metaphysik zu seiner Voraussetzung, nämlich die Kritik des
Parmenides am Erkenntnisapparat mit der daraus erwachsenden Konse-
quenz, Vernunft und Sinne auseinanderzureißen, jene von Nietzsche selbst
als ,gänzlich irrthümlich' beurteilte „Scheidung von ,Geist' und ,Körper'
[ . . . ] die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt" 282 .
N u r daß Nietzsche die Stoßrichtung dieser Kritik und damit die Metaphysik
insgesamt — nach seinen eigenen Worten, wie wir gesehen haben —
„ u m d r e h t " und das Zeugnis der Sinne für „ w a h r " , d. h. f ü r weniger
„scheinbar" hält als das der Vernunft. 2 8 3 Zumindest dort, so schränkt
Nietzsche ein, wo die Sinne „das Werden, das Vergehn, den Wechsel
zeigen" — zeigen sie doch, wie bereits Heraklit zu seinem Leidwesen
erkennen mußte, augenscheinlich ebenfalls Dauer und Einheit. Dieses
Zeugnis aber spricht Nietzsche unbeirrt der lügnerischen Vernunft zu. Was
erneut erhellt, daß die Intuition des Werdens die Voraussetzung von
70 Voraussetzungen

Nietzsches Erkenntniskritik — die ihrem Anspruch nach ja Metaphysik-Kri-


tik sein will — ist, daß aus dieser Intuition das Mißtrauen gegen den
Augenschein erwächst. Letzteres aber heißt jetzt auch, daß sich Nietzsche
bei seiner Auslegung der Welt weniger an den „objektiven" Sinnen
orientiert, an Auge und Getast, die, grob gesprochen, ob ihrer Stumpfheit
ohnehin zur Verdinglichung des flutenden Werdens neigen, als an den
„subjektiven", den ätherischen, Flüchtiges ausweisenden Sinnen, an Geruch
und Gehör, d. h. an den Sinnen, deren Wahrnehmungen bisher als
beiherspielend und damit unwesentlich abgetan wurden (vgl. S. 61 f.).
Woher dieses die Auslegung der empirischen Erscheinungen leitende
Vorurteil?, so haben wir gefragt und vorläufig mit der Mutmaßung
geantwortet, ob nicht sowohl Nietzsches Leugnung des augenscheinlichen
Seins als auch seine Negierung der Möglichkeit von Wahrheit vielleicht
einen gemeinsamen Ursprung in jenem leeren O r t haben könnten, den der
T o d Gottes im Gefüge der Metaphysik hinterlassen hat, so daß mit diesem
Geschehnis sowohl das Ereignis der Auflösung des Seins in ein haltloses
Werden als auch das der Verkehrung der Wahrheit zum Schein bezeichnet
wäre?

7. Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches


Philosophie der maskenhaften Metamorphosen

Eine erste Bestätigung f ü r diese Vermutung liefert der Blick auf den im
April 1862 entstandenen Aufsatz „Fatum und Geschichte" 284 . Keime für die
meisten Gedanken der entfalteten Philosophie in sich bergend, 285 offenbart
er, daß schon der ganz junge Nietzsche 286 in der Historie nichts als eine
ewige Flut des Werdens, den ewigen Widerstreit von πέρας und ά π ε ι ρ ω ν zu
erblicken vermochte. Nietzsche fragt dort:
Hat dies ewige Werden nie ein Ende? [ . . . ]
Für uns Zweck, für uns ist Veränderung da, für uns giebt es Epochen
und Perioden. Wie könnten auch wir höhre Pläne sehen. Wir sehen nur,
wie aus derselben Quelle, aus der Humanität sich unter den äußern
Eindrücken Ideen bilden; wie diese Leben und Gestalt gewinnen;
Gemeingut aller, Gewissen, Pflichtgefühl werden; wie der ewige
Produktionstrieb sie als Stoff zu neuen verarbeitet, wie sie das Leben
gestalten, die Geschichte regieren; wie sie im Kampf von einander
annehmen und wie aus dieser Mischung neue Gestaltungen hervorgehn.
Ein Kämpfen und Wogen verschiedenster Strömungen mit Ebbe und Fluth,
alle dem ewigen Ozeane zu.287
Ein Werden, in dem keine Vernunft waltet — in deutlicher Absetzung von
Hegel 288 zeichnet Nietzsche 6 Jahre später in seinen Notizen „Zu einer
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 71

Geschichte der litterarischen Studien im Altherthum und in der Neuzeit" 2 8 9


auf:
Die Ereignisse, weder die des Einzeln(en) noch die der Geschichte
haben einen nothwendigen Gang dh. den Gang einer vernünftigen
Nothwendigkeit.
Es versteht sich, daß alles was ist aus Gründen ist und daß diese Kette
nicht abbricht. Diese Nothwendigkeit ist nichts Erhabnes, nichts Schönes,
nichts Vernünftiges.
ZB. ein Mann, der ein V o l k oder eine Familie beglücken kann, fällt
unter dem Sturz des Baumes. Hier ist Ursache und Wirkung, aber keine
Vernünftigkeit.
Den „ G a n g einer vernünftigen Nothwendigkeit", den die „Hegelisch
verstandene Geschichte" nimmt, habe man, so führt Nietzsche in seiner 2.
Unzeitgemäßen Betrachtung zustimmend aus, „mit H o h n das Wandeln
Gottes auf der Erde genannt, welcher Gott aber seinerseits erst durch die
Geschichte gemacht wird." 290 Hegels absoluter Geist, der sich aus seinem
Ansichsein zur Schöpfung der Natur und des leiblich-seelischen Daseins des
Menschen entäußert und damit verendlicht, dann im menschlichen Geiste
und seiner Geschichte zu sich selbst zurückkehrt und so f ü r sich selbst wird,
um schließlich im zum Unendlichen aufsteigenden Gang durch Kunst,
Religion und Philosophie sich mit sich selber zu versöhnen und so erst
wirklich absoluter Geist zu werden —: dieser absolute Geist, „als welcher
allein die wahrhafte Natur Gottes ist" 291 , entläßt in diesem Prozeß des
Werdens in der Zeit stufenweise das aus sich, was in ihm selbst in
schöpferischer Spannung ewig und zeitlos und d. h. in keiner Weise getrennt
und unterschieden angelegt ist; mithin das, was von Hegel in der „Logik" als
Prozeß der Begriffe entfaltet wird. 292 Auch f ü r Hegel ist somit die Zeit wie
f ü r alle anderen von Nietzsche als metaphysisch bezeichneten Ansätze ein
„bewegliches Abbild der Unvergänglichkeit", wie Piaton im „Timaios"
(37d) formuliert — bei ihm nun aber in der Weise, daß ein ewiger Prozeß,
als welcher der absolute Geist ist, sich in Endlichkeit und Zeit vollzieht, die
Zeit mithin in der Ewigkeit, das Endliche im Unendlichen „aufgehoben"
ist, 293 so daß hier antik-zyklische und christlich-lineare Geschichtsauffas-
sung eine Synthese eingegangen sind.
Obwohl sich somit Hegels Gott vom christlichen Gott, mit Nietzsche zu
sprechen, darin unterscheidet, daß er auf der Erde wandelt, nämlich nicht
wie jener vom Werden der endlichen Welt in der Weise losgelöst ist, daß er,
wie die Geschichtstheologie des Augustinus lehrt, als dessen Lenker über ihm
schwebt, er aber auch nicht, pantheistisch, im, sondern als dieses Werden ist,
so nimmt dieser Gott dennoch in Hegels philosophischer Theologie jene
Position des überkommenen metaphysischen Gefüges ein, die vordem u. a.
auch der christliche Gott innegehabt hat: die Position des allem Werden
72 Voraussetzungen

Sinn und Wirklichkeit verleihenden Seins. 294 „Dieser Gott a b e r " , so fährt
Nietzsche in seiner 2. Unzeitgemäßen Betrachtung fort,
w u r d e sich selbst innerhalb der Hegelischen Hirnschalen durchsichtig und
verständlich und ist bereits alle dialektisch möglichen Stufen seines
W e r d e n s , bis zu jener Selbstoffenbarung, emporgestiegen: so dass für
H e g e l der H ö h e p u n k t und der E n d p u n k t des Weltprozesses in seiner
eigenen Berliner Existenz zusammenfielen. J a er hätte sagen müssen, dass
alle nach ihm k o m m e n d e n Dinge eigentlich nur als eine musikalische C o d a
des weltgeschichtlichen R o n d o s , noch eigentlicher, als überflüsssig zu
schätzen seien. 295
Einmal abgesehen davon, daß in Nietzsches Augen allein schon der
empirische Befund gegen eine solche teleologische Auslegung der
Geschichte spricht — in seinen Entwürfen zur 2. Unzeitgemäßen
Betrachtung bemerkt er sarkastisch: „ D e r Hegeische ,Weltprozess'
verlief sich in einen fetten preussischen Staat mit guter Polizei." 2 9 6 — , so hält
er sie auch in denkerischer Hinsicht für unmöglich, setzt sie doch voraus,
daß die wesentliche Geschichte an ihr Ende gekommen ist. D o c h ruft diese
Behauptung bei Nietzsche nicht nur Empörung darüber heraus, daß mit ihr
die auf Hegel folgenden Zeitläufte zum bloßen Appendix der eigentlichen
Geschichte erniedrigt werden, wodurch der Fort-schritt des Lebens eine
massive Behinderung erfährt, vielmehr bringt Nietzsche gegen sie in jener
Aufzeichnung auch den — bereits von K a n t thematisierten — Einwand vor,
daß wir „Anfang und Ende nicht zu denken vermögen". V o r allem aber sieht
er Hegels Versuch, den ganzen U m f a n g des Wirklichen als Erscheinung des
absoluten Geistes zu deuten ( „ W a s vernünftig ist, das ist wirklich; und was
wirklich ist, das ist vernünftig" 2 9 7 ), daran scheitern, daß der vernunftwidrige
Zufall ( „ Z B . ein Mann, der ein V o l k oder eine Familie beglücken kann, fällt
unter dem Sturz des Baumes. Hier ist Ursache und Wirkung, aber keine
Vernünftigkeit.") außer acht bleiben muß. 298 Angesichts solcher Erlebnisse
— und wer dächte bei jenem Beispiel nicht an Nietzsches eigenes Schicksal
der frühen Vaterlosigkeit? — , denen niemand auch nur einen Hauch von
Vernünftigkeit abgewinnen kann, es sei denn, daß er sich zu jenem
Gedanken eines vernünftigen Willens flüchtet, der höher ist als alle
menschliche Vernunft, angesichts solcher Erlebnisse muß sich Nietzsche der
Gedanke aufdrängen, daß jeglicher Sinn, den der Mensch in der Geschichte
findet, nichts als eine Setzung des Menschen ist, nach deren Maßgabe er das
einzelne Geschehnis auszulegen sucht. Eine solche Voraussetzung ist für
Nietzsche aber auch jener höhere Wille, insofern dieser nämlich, falls er
wirklich über alle Vernunft hinaus sein soll, geistigem Vernehmen
unerreichbar und unbekannt, folglich aber auch nicht tröstend, erlösend,
verpflichtend sein dürfte 2 9 9 : „ F ü r uns Zweck, für uns ist Veränderung da,
für uns giebt es Epochen und Perioden. W i e könnten auch wir höhre Pläne
Der T o d Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 73

sehen.", haben wir oben gelesen und damit erfahren, daß die Möglichkeit
der Offenbarung für Nietzsche eine denkerische Unmöglichkeit ist. So
bemerkt er auch zum Hegeischen Geschichtsentwurf: „lassen wir doch diese
Entwicklung' auf sich beruhen! Es ist sofort lächerlich!" Es ist lächerlich vor
allem deswegen, weil in Hegel der kleine Mensch sich anmaßt, den —
angenommenen — großen, an sich seienden Gott — kantisch gesprochen:
das Ding an sich300 — erkennen zu können: „ D e r Mensch und der
,Weltprozeß'! Der Erdfloh und der Weltgeist!" höhnt Nietzsche in jener
bereits mehrfach zitierten Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1873.

Diese Bemerkung ist nicht zuletzt darum höchst bedenkenswert, weil die
darin bezeichnete Spannung auf Nietzsches spätere, Wesentliches seiner
Philosophie formelhaft fassende Selbstcharakteristik als „göttlicher
Hanswurst" 3 0 ' vorausdeutet: Weist Nietzsche mit dieser Bemerkung den
Anspruch des Menschen, erkennen zu können, was die unendliche Welt im
Innersten zusammenhält, angesichts seiner Endlichkeit als absurd zurück —
solches setzte voraus, daß es ihm möglich wäre, zum „Ubermenschen" 3 0 2
oder, man vergleiche Nietzsches Kritik an Hegel, im Ausgang von der
Berufung auf die Ebenbildlichkeit zum Gott „aufzuschwellen" —, so ist
Heinrich Fausts „ D e n Göttern gleich' ich nicht! Zu tief ist es gefühlt;/ Dem
W u r m e gleich' ich, der den Staub durchwühlt" Nietzsches letztes W o r t
doch auch nicht. In seiner von Nietzsche tief gefühlten Nichtigkeit — mit
den Worten des Erdgeists: „ D u gleichst dem Geist, den du begreifst" — ist
der Mensch absurder- oder vielleicht besser: paradoxerweise doch insofern
ein dem Gott der Tradition vergleichbarer Schöpfer, als er selbst es ist, der
die von ihm begriffene Welt, sich selbst und die Götter eingeschlossen, im
Akt des Begreifens schafft — und er wird, Nietzsche zufolge, zum
„Übermenschen", zum Gott, indem er dieses Wissen handelnd ergreift;
wohlgemerkt: zum Gott als Hanswurst.

W a r es nicht die Einsicht in diese absurd-paradoxe Grundspannung des


menschlichen Daseins, die Nietzsche schließlich in den T a n z auf den
Straßen Turins riß, ihn ver-rückt machte? Die niederschmetternde
Erkenntnis, daß jedwede Erkenntnis anthropomorphisch, der erkennende
Mensch darum ein unwissender und ohnmächtiger Hanswurst ist, stellt die
Bedingung der Möglichkeit dafür dar, daß der Philosoph in der Auslegung
des weltschaffenden Auslegungsgeschehens sich als göttlich erkennen
konnte. Wohingegen ihm der Hegeische Mensch und sein Philosoph in ihrer
göttlichen Erhebung darum als Hanswürste erscheinen mußten, weil sie
nicht erkannten, daß der vorgeblich an sich seiende Gott, zu dem sie
aufschauten, nun für sie, d. h. ihre eigene Schöpfung, mithin sie selbst war.
74 Voraussetzungen

Wie Nietzsche in seiner Schrift über die Vorsokratiker meint — und


damit wenden wir uns zu dem hier eigentlich in Rede stehenden Zeitraum
zurück —, ist es nämlich „nach K a n t " nicht anders denn als „kecke
Ignoranz" zu bezeichnen,
wenn es hier und da, besonders auch unter schlecht unterrichteten
Theologen, die den Philosophen spielen wollen, als Aufgabe der
Philosophie hingestellt wird, das „Absolute mit dem Bewußtsein zu
erfassen", etwa gar in der Form „das Absolute ist schon vorhanden, wie
könnte es sonst gesucht werden?", wie Hegel sich ausgedrückt hat,303 oder
mit der Wendung des Beneke 304 , „daß das Sein irgendwie gegeben,
irgendwie für uns erreichbar sein müsse, da wir sonst nicht einmal den
Begriff des Seins haben könnten". 305
Damit vermeint man nämlich, so führt Nietzsche weiter aus, daß man „aus
dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein" kommen könne. Er
höhnt deswegen über den Begriff des Seins:
Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der
Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur
„athmen": wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so
überträgt er die Überzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine
Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches [— eine Passage, die wir hier
noch uninterpretiert lassen müssen —], auf die anderen Dinge und begreift
ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie. Nun verwischt
sich bald die originale Bedeutung des Wortes: es bleibt aber immer so viel
übrig, daß der Mensch sich das Dasein andrer Dinge nach Analogie des
eignen Daseins, also anthropomorphisch, und jedenfalls durch eine
unlogische Übertragung, vorstellt.306
Dasjenige, was in den Augen der Philosophen das Seiende zum Seienden
macht, das Sein — in der Tradition auch als ο ύ σ ί α oder essentia bezeich-
net — ist, wir kennen diese hier etymologisch begründete Voraussetzung
des Nietzscheschen Philosophierens bereits, nichts als eine Voraussetzung
des Menschen, in deren Lichte ihm die Welt als Welt des Seienden erscheint:
Sein ist eine Fiktion, wie Gott eine Fiktion ist — weil Gott eine Fiktion ist:
Wie Nietzsche nämlich aus der Geschichte des abendländischen Denkens
ersehen konnte, wurde seit deren Beginn das — von seinem Standpunkt aus
gesehen — immer nur über dem Werden der Welt aufscheinende, ihm
Bestand verleihende, wahrhafte Sein zunächst, bei den Griechen,
unpersönlich als das Göttliche, τ ο θείον 3 0 7 , später, in der nunmehr vom
Christentum bestimmten Philosophie, als Gott bezeichnet. Weil Nietzsche
aber dieser Gott als Grund oder Ur-sache alles Seienden gestorben, d. h. als
Setzung des Menschen entlarvt ist, darum kann seine Philosophie nichts
anderes als das reine grundlose Werden für wahr halten, das als solches f ü r
den Menschen unbegreiflich bleibt, darum muß sie, insofern auch für sie
Wahrheit immer 308 nur veritas aeterna heißen kann, zugleich leugnen, daß es
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 75

für den M e n s c h e n anderes denn Schein gebe. S o bemerkt N i e t z s c h e im


Frühjahr—Herbst 1881:
In Hinsicht auf alle u n s e r e Erfahrung müssen wir immer s k e p t i s c h
bleiben und ζ. B. sagen: wir können von keinem „Naturgesetz" eine ewige
Gültigkeit behaupten, wir können von keiner chemischen Qualität ihr
ewiges Verharren behaupten, wir sind nicht f e i n genug, um den
muthmaaßlichen a b s o l u t e n F l u ß d e s G e s c h e h e n s zu sehen: das
B l e i b e n d e ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche uns
behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen
können: wir legen eine m a t h e m a t i s c h e Durchschnittslinie
hinein in die absolute Bewegung, überhaupt Linien und Flächen b r i n g e n
w i r h i n z u , auf der Grundlage des Intellekts, welches der I r r t h u m ist:
die Annahme des Gleichen und des Beharrens, weil wir nur Beharrendes
s e h e n können und nur bei Ähnlichem (Gleichem) uns e r i n n e r n . Aber
an sich ist es anders: wir dürfen unsere Skepsis nicht in die Essenz
übertragen. 309
D a ß diese W e l t d e u t u n g die n o t w e n d i g e Folge seiner besonderen, durch
S c h o p e n h a u e r vorgeprägten K a n t - R e z e p t i o n darstellt — als w e l c h e den
Begriff des D i n g e s an sich einerseits v o m Limes- z u m Zentral-Begriff erhebt,
andererseits aber ihn nachher als undenkbar verwirft — , das g e h t aus jenem
Abschnitt v o n Schopenhauers „Kritik der Kantischen P h i l o s o p h i e " hervor,
d e n N i e t z s c h e s M e n t o r „Kants größte[m] Verdienst", der „ Unterscheidung
der Erscheinung vom Dinge an sich", g e w i d m e t hat. Darin heißt es u. a. 310 :
Wie nun also Kants [ . . . ] Sonderung der Erscheinung vom Dinge an sich in
ihrer Begründung an Tiefsinn und Besonnenheit alles, was je dagewesen,
weit übertraf; so war sie auch in ihren Ergebnissen unendlich folgenreich.
Denn ganz aus sich selbst, auf eine völlig neue Weise, von einer neuen Seite
und auf einem neuen Wege gefunden, stellte er hierin dieselbe Wahrheit
dar, die schon Piaton unermüdlich wiederholt und in seiner Sprache
meistens so ausdrückt: diese den Sinnen erscheinende Welt habe kein
wahres Sein, sondern nur ein unaufhörliches Werden, sie sei und sei auch
nicht, und ihre Auffassung sei nicht sowohl eine Erkenntnis als ein Wahn.
Dies ist es auch, was er in der [ . . . ] wichtigsten Stelle aller seiner Werke,
dem Anfange des siebenten Buches der ,Republik', mythisch ausspricht,
indem er sagt, die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sähen
weder das echte ursprüngliche Licht noch die wirklichen Dinge, sondern
nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher
Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehn: sie meinten
jedoch, die Schatten seien die Realität und die Bestimmung der Sukzession
dieser Schatten sei die wahre Weisheit. —
S o m i t scheint sich der T o d Gottes als die gesuchte V o r a u s s e t z u n g des
N i e t z s c h e s c h e n Philosophierens z u erweisen. Eine V o r a u s s e t z u n g , die die
V o r a u s s e t z u n g der Geschichte des abendländischen D e n k e n s mithin in jener
z w i e f a c h e n W e i s e abträgt, daß trotz des Verlustes des höchsten Seienden
das in ihm gegründete metaphysische G e f ü g e bei N i e t z s c h e fortwirkt:
Indem er nämlich im Z u g e der Entgöttlichung der W e l t das ständige W e r d e n
76 Voraussetzungen

als deren am wenigsten scheinbare, als deren wahrste Schicht anerkennt,


wendet er sich wohl jenen von der Philosophie seit ihren Anfängen als χάος,
als μή öv oder auch als „Gewühle" abgetanen Bereichen zu, er übernimmt
dabei die bisherige — von ihm nur umgewertete — Auslegung derselben, so
etwa, wenn er im 109. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" bemerkt:
Der Gesammt-Charakter der Welt ist [ . . . ] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im
Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung,
Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen
Menschlichkeiten heissen. 311
Vor allem aber wirkt so — und deshalb bezeichnen wir, wie erinnerlich, den
Grundansatz von Nietzsches entfaltetem philosophischen Fragen als
metaphysisch — bei Nietzsche der überkommene Begründungswille fort.
Das Fortbestehen dieses metaphysischen Gefüges wollen wir im
folgenden anhand des Wahrheitsbegriffes zu erweisen suchen, indem wir
den Weg skizzieren, den das Denken von seinen Anfängen bis zu Nietzsche
hin in der Ausarbeitung dieser Frage genommen hat. Mit der sich daran
anschließenden Erörterung der Nietzscheschen Antwort beabsichtigen wir
darüber hinaus einerseits unsere Behauptung zu belegen, daß die Position
der neuzeitlichen Subjektivität, wonach der Mensch als sub-iectum dasjenige
„Seiende" ist, in dem das übrige Seiende gegründet ist, bei Nietzsche in die
Krisis geführt wird — und zwar, wie wir meinen, ebenfalls durch den Tod
Gottes, durch die Erkenntnis der Menschheit, daß sie „ ,den Anfang, die
Mitte, das Ende der Religion'" bildet —, und zum anderen den Boden zu
bereiten für eine Auslegung der Gedanken des frühen Nietzsche zur
Sprache und zur Kunst, als welche wesentlich von jener Antwort bestimmt
sind.
Wahrheit wird seit Aristoteles (De interpretatione 1,16 A 6 ff.) als
Ubereinstimmung (όμοίωσίς) einer Aussage (λόγος) mit einer Sache
(πραγμα) aufgefaßt. Aristoteles führt aus, daß die „Erlebnisse" der Seele,
die νοήματα („Vorstellungen"), Angleichungen an die Dinge sind:
παθήματα της ψυχής των πραγμάτων όμοιώματα. Dieser Bestimmung
liegt, wie Martin Heidegger in „Piatons Lehre von der Wahrheit" 312
aufgewiesen hat, ein Wandel der Wahrheit bei Piaton voraus. Er vollzieht
sich in der Bestimmung des Seins des Seienden, der ούσία, als ίδέα. Nicht
mehr wird wie im Anfang des abendländischen Denkens bei den
Vorsokratikern die ούσία, die Anwesung des Anwesenden, als Aufgang des
Verborgenen in die Unverborgenheit, in die άλήθεια gedacht, so daß
Wahrheit als das einer Verborgenheit Abgerungene „der Grundzug des
Seins selbst"313 ist, vielmehr meint Unverborgenheit „jetzt das Unverborge-
ne stets als das durch die Scheinsamkeit der Idee Zugängliche" 314 : „Die
άλήθεια kommt unter das Joch der ίδέα." 315 Es ist nunmehr die ίδέα, welche
Der T o d Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 77

die Anwesung des Anwesenden vollbringt, indem sie etwas in dem, was es ist,
erscheinen läßt. Um das Seiende recht vernehmen zu können, hat sich darum
das Vernehmen als ein ίδεΐν nach der jeweiligen ίδέα auszurichten;
vereinfacht gesagt: es gleicht sich an die Idee derweise an, daß eine
όμοίωσις, eine Ubereinstimmung des Erkennens mit der Sache besteht.
Zusammengespannt wird das Gesehene und das Sehen von der höchsten
Idee, τό αγαθόν, welche als Ermöglichung und d. h. als Idee aller Ideen der
Ursprung, die Ur-sache aller Sachen und ihrer Sachheit ist. Im VI. Buch der
Politeia (508 e) führt Piaton aus: ,,Τοϋτο τοίνυν το την άλήθειαν παρέχον
τοις γιγνωσκομένοις και τω γιγνώσκοντι την δόναμιν άποδιδόν
την τοϋ άγαθοϋ ίδέαν φάθι είναι — Dieses also, was dem Erkenn-
baren Unverborgenheit mitteilt und dem Erkennenden das Vermögen
hergibt [zu erkennen], sage, sei die Idee des Guten." Piaton veran-
schaulicht dies in seinem Höhlengleichnis (Politeia VII, 514 a,
2—517 a, 7) dadurch, daß die Sonne, das Bild für die Idee des Guten, als
Quelle des Lichtes nicht nur dem Sichtbaren seine Sichtbarkeit verleiht,
sondern daß dieses dem Sehen nur insofern zugänglich ist, als das Auge
selber ήλιοειδές, „sonnenhaft" und d. h. der Wesensart der Sonne, ihrem
Scheinen zugehörig ist: In einem Dasein vor der Geburt ist die menschliche
Seele der Idee des Guten und mit ihr auch aller anderen Ideen teilhaftig
geworden, wie die Dialoge Menon und Phaidon erläutern. Wenn die
Menschen daher das Wissen (είδέναι) und den richtigen Begriff (όρθός
λόγος) „in ihrem Innern" (αύτοΐς επιστήμη ένοϋσα, Phaidon 73a)
besitzen, dann vollzieht sich die oben angesprochene richtige Erkenntnis in
der Weise, daß der Mensch, angestoßen durch die sinnlich wahrgenomme-
nen Dinge, zu sich selbst zurückkehrt, um selbst Wahrheit zu „werden":
Indem er das Wahrgenommene auf die Ideen überträgt (άναφέρειν) — die
zwei Tätigkeiten der Seele, Wahrnehmung und Noesis, d. h. reines Denken,
werden von Piaton in dieser Hinsicht als Einheit betrachtet —, wird der
Mensch an das erinnert, was er vor der Geburt schon gewußt hat.
Die ίδέα τοϋ άγαθοϋ als die höchste und erste Ursache aber wird von
Piaton — und entsprechend von Aristoteles — το θείον, das Göttliche
genannt. Aufgabe des Denkens ist es, μετ' έκεΐνα (Politeia VII, 516 c, 3),
über das Schatten- und Abbildhafte des Sinnlichen hinaus zu den
übersinnlichen Ideen, dem wahren Sein (όντως öv), ja wenn es sich schickt,
bis zur höchsten Idee und damit zum Göttlichen zu gelangen. Martin
Heidegger folgert: „Seit der Auslegung des Seins als ίδέα ist das Denken auf
das Sein des Seienden metaphysisch, und die Metaphysik ist theologisch.
Theologie bedeutet hier die Auslegung der ,Ursache' des Seienden als Gott
und die Verlegung des Seins in diese Ursache, die das Sein in sich enthält
und aus sich entläßt, weil sie das Seiendste des Seienden ist."316
78 Voraussetzungen

Daß „der Glaube Plato's [ . . . ] , dass Gott die Wahrheit ist, dass die
"Wahrheit göttlich ist", wie Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft"
ausführt 3 1 7 , auch „Christen-Glaube" war, wollen wir jetzt an der
mittelalterlichen (scholastischen) Definition von Wahrheit zeigen, wie sie
Thomas von Aquin in „ D e veritate" (qu. I, art. 1) gegeben hat. Auch er geht
von der Auffassung der Wahrheit als Übereinstimmung aus, wenn er
formuliert: Veritas est adaequatio rei et intellectus. Dies bedeutet zweierlei:
zum einen „veritas est adaequatio intellectus ad rem", Wahrheit ist die
Angleichung der Erkenntnis an die Sache, zum anderen „veritas est
adaequatio rei ad intellectum", Wahrheit ist die Angleichung der Sache an
die Erkenntnis. Letztere Wahrheit, die sogenannte Sachwahrheit, gibt den
Grund für die Möglichkeit ersterer Wahrheit, die als Satzwahrheit
bezeichnet wird. Zunächst ist zu beachten, daß beide Formeln intellectus
und res jeweils verschieden denken. Die Bestimmung der Sachwahrheit
erfolgt nämlich aus dem christlichen Glauben, „daß die Sachen in dem, was
sie sind [essentia] und ob sie sind [existentia], nur sind, sofern sie als je
erschaffene (ens creatum) der im intellectus divinus, d. h. in dem Geiste
Gottes, vorgedachten idea entsprechen und somit idee-gerecht (richtig) und
in diesem Sinne ,wahr' sind." 318 Auch der intellectus humanus creatus, der
menschliche Geist, erhält in diesem Sinn sein Maß vom göttlichen Geist.
Diese seine Ideegerechtheit oder Sachwahrheit bezeugt er indes erst dann,
wenn er die Satzwahrheit vollzieht: wenn er seine Urteilserkenntnis an die
ihrerseits einer idea entsprechende Sache angleicht, so daß er von ihr das
Maß ihres Seins empfängt. Die Möglichkeit der Wahrheit menschlicher
Erkenntnis gründet somit darin, daß Sache und Satz je ideegerecht und in
dieser Bezogenheit auf den Schöpfer aufeinander bezogen sind. Veritas ist
mithin convenientia, „das Ubereinkommen des Seienden unter sich als eines
geschaffenen mit dem Schöpfer, ein ,Stimmen' nach der Bestimmung der
Schöpfungsordnung." 3 1 9 Gott ist der Garant der Möglichkeit einer
Ubereinstimmung von Aussage und Sache — und in dieser Hinsicht kommt
er mit der göttlichen Idee des Guten bei Piaton überein.
Wenn im Mittelalter der Mensch wie alles Seiende ens creatum, vom
Schöpfergott als oberster Ursache Geschaffenes ist, als solches zu einer
bestimmten Stufe der Schöpfungsordnung rechnet und der Schöpfungsursa-
che zu entsprechen hat (analogia entis), so hebt die Neuzeit damit an, daß
der Mensch sich von den mittelalterlichen Bindungen zu sich selbst befreit,
daß er zur — im doppelten Sinn des Wortes — selbstbezogenen Bezugsmitte
des Seienden als solchen und damit zum Subjekt wird. Denn die Befreiung
aus der Bindung an die offenbarungsmäßige Heilsgewißheit befreit den
Menschen zu einer Gewißheit, in welcher er sich selbst — und nicht mehr
der Schöpfergott — das Wahre als das Gewußte seines eigenen Wissens zu
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 79

sichern hat. 320 Gesichert wird es aber den „Meditationes de prima


philosophia" des Descartes zufolge im fundamentum absolutum inconsus-
sum des me cogitare = me esse, welches als Grundgewißheit jederzeit
unbezweifelbar vorstellbar sein soll. Denn in jedem vorsellenden Denken
(repraesentatio), in jedem vorstellenden Bezug zu einem Vorgestellten, stellt
der Mensch von sich her etwas vor sich auf sich selbst zurück und sichert so
das derweise Gestellte. Erst und nur dann aber, wenn etwas durch den
Menschen in dieser Weise vor- und her-gestellt worden ist, kommt ihm der
Charakter der Seiendheit zu. Dies begründet, warum der Mensch
sub-iectum, allem Seienden als Grund Zugrundeliegendes, wird, warum die
menschliche Selbstgewißheit an die Stelle tritt, die vordem Gott vorbehalten
war. Und weil das Sicherstellen zugleich ein Berechnen sein muß, da nur
durch die Berechenbarkeit auch im voraus Gewißheit für das Vorzustellende
gewährleistet ist, wird die Mathematik zur Richtschnur alles wissenschaftli-
chen und vor allem alles philosophischen Denkens: Die ratio entfaltet ihr
Wesen als rechnende Vernunft. In dieser Auslegung des Seienden und der
Wahrheit folgt Descartes die gesamte neuzeitliche Metaphysik, zum Teil
auch Nietzsche.
Gleichwohl muß gesehen werden, daß dieser neuzeitliche Begriff der
Wahrheit als im Subjekt gegründeter Gewißheit (certitudo) nur eine
Modifikation der Bestimmung der Wahrheit als Richtigkeit (adaequatio) ist.
Dies lehrt der Satz aus Descartes' Schrift „Regulae ad directionem
ingenii" 321 , daß „veritatem proprie vel falsitatem non nisi in solo intellectu
esse posse — Wahrheit oder Falschheit im eigentlichen Sinne nur im
Verstände allein sein können". Und liegt auch der Wandel der Wahrheit zur
certitudo darin beschlossen, daß der Mensch sich nicht mehr als „ens
creatum" im mittelalterlichen Sinne begreift, so heißt das gleichwohl nicht,
daß sich Descartes und die Philosophen der Folgezeit auch des tradierten
metaphysischen Begründungsversuches f ü r die Wahrheit entschlagen. Denn
wenn es in den „Meditationes de prima philosophia" auf der dritten und
höchsten Stufe des radikalen Zweifels an der Realität den Anschein haben
kann, Gott sei „genium aliquem malignum eundemque summe potentem et
callidum — irgendein böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen
ist" 322 , und wenn damit zu Beginn der Neuzeit fraglich wird, was für das
Mittelalter noch unerschütterlich festgestanden hat, daß nämlich Gott den
Menschen in die Sach- und Satz-Wahrheit gesetzt hat — sich darum das
Subjekt als fundamentum absolutum inconcussum veritatis konstituiert —,
dann ist es für Descartes gleichwohl nötig, im Ausgang von der
Selbstgewißheit des Subjekts Dasein und Wahrhaftigkeit Gottes zu
beweisen, nicht um Gottes willen, sondern um das Ich aus seiner
Weltlosigkeit befreien und die Wahrheit seiner Weltdeutung sichern zu
80 Voraussetzungen

können. 3 2 3 D a ß Gott dennoch der Garant der Wahrheit nur „von G n a d e n "
des Subjekts ist, dieses somit im Grunde bereits in der Wahrheit sein muß,
bevor es sie von ihm erhalten kann, zeigt sich nicht zuletzt in den
Gottesbeweisen des Descartes, welche eben diesen Zirkel aufweisen. 324
D a ß auch die folgende Zeit vor der Tatsache zurückschreckt, daß allein
der Mensch die W e l t im Ganzen trägt und bestimmt, weswegen sie versucht,
G o t t weiterhin als das eigentliche Maß alle Dinge erscheinen zu lassen, das
wollen wir im folgenden an Leibniz, Goethe und K a n t aufzeigen, um damit
zugleich für Nietzsches Position bedeutsame Entwicklungsstufen in der
Frage nach der Wahrheit abzuhandeln.
D e r Wandel der Wahrheit zur Gewißheit bestimmt die Weise, wie
Leibniz die überlieferte Antwort auf die Anfangsfrage der Metaphysik „ W a s
ist das in Wahrheit Seiende?", nämlich: „Sein bedeutet Einessein" 3 2 5 , zur
Entfaltung bringt. Die Monadologie sucht ein wahrhaft Eines sicherzustel-
len: N u r das, was im Ubergang von einer Vorstellung zur anderen mit sich
einig bleibt, ist Substanz und ständiger als ein Phänomen 3 2 6 . Das Streben der
Monade (appetitus) von Vorstellung zu Vorstellung (perceptio) ist somit ein
Sich-Erstreben, ihr inneres Wirken ein willenhaftes Sich-Erwirken.
Zugleich ist dieses aber auch ein Erwirken von Welt, ist es doch deren
W e s e n , Vorgestelltes der Monade zu sein. S o entfaltet diese im Vollzug der
in ihr angelegten Entwicklung die in ihr eingefaltete Welt, ent-wickelt sie als
sub-iectum die Welt ihrer Objekte. In der Bestimmung des Seins des
Seienden von der Monade aus als Einheit von perceptio und appetitus, d. h.
als Entelechie oder vis primitiva activa bedeutet Sein darum nicht mehr, wie
noch in der aristotelisch-mittelalterlichen Philosophie Anwesen im Sinne
eines Währens im Telos oder eines Bestehens im Gepräge des Aussehens,
will sagen: des Anblicks des είδος, sondern Wirk-samkeit: beständiger
Ausgriff der Entelechie im ständigen Wandel der Vorstellungen. „Die
Monadologie löst endgültig die Teleologie des είδος durch eine Teleologie
des Willens a b " , bemerkt Wolfgang J a n k e zutreffend. 3 2 7
D a für Leibniz die Vorstellungen der Monade nicht mehr das Ende eines
Umwandlungsprozesses bilden, an dessen Anfang ein Körper und seine
Affektation stehen, sie vielmehr reines Produkt der Selbsttätigkeit sind —
von der Monade wird gesagt, sie sei fensterlos 328 — , muß er den Begriff der
Wahrheit als adaequatio von intellectus und res umdenken. Wahrheit als
Ubereinstimmung zeigt sich monadologisch als Ubereinstimmung der
Repräsentationen, als Entsprechung und Zuordnung unendlicher Vorstel-
lungsmomente in unendlichen Monaden, 3 2 9 in eine Formel gefaßt: „relatio
est fundamentum veritatis — Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit" 3 3 0 .
D o c h nur die von Leibniz supponierte prästabilierte Harmonie der Monaden
garantiert, daß die jeweiligen Vorstellungen trotz ihrer Herkunft aus der
Der T o d Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 81

subjektiven Innensphäre nicht in der Willkür und Beliebigkeit eines


Einzelgültigen befangen bleiben, sondern Ausdruck eines gleichsam
„Außer-ihnen-Seienden" und damit Objektiv-Allgemeingültigen sind. Sie
selbst aber hat ihren Ermöglichungsgrund in der göttlichen Urmonade,
welche alle Monaden von Beginn an mit einem solchen Inhalt ausgestattet
hat, daß eine jede in der Notwendigkeit ihrer Entwicklung stets mit allen
übrigen in Ubereinstimmung bleibt. Man erinnere sich an die mittelalterliche
convenientia: auch bei Leibniz ist Gott der Garant sowohl von Sachwahrheit
— "grundsätzlich und allgemein" handelt „es sich in den Perzeptionen der
[von ihm geschaffenen] Monade [ . . . ] nicht um Vorspiegelungen, sondern
um vertretende Darstellung eines unabhängigen Seins 331 — als auch der
Garant der in der Sachwahrheit fundierten Satzwahrheit, nämlich der
Entsprechung der Vorstellung mit dem „Gegenstand", welche so exakt sein
kann, daß der Gegenstand völlig adäquat wiedergegeben wird, nämlich wie
er an sich selbst bestimmt ist.332
Zugleich spricht sich in der Deutung des Seins des Seienden als Monade,
welche Offenbarmachen von Welt und sich in diesem Offenbarmachen
äußernde Kraft des Bewußtseins in einem zumal ist, ein neuer Sinn von
Wahrheit aus. Denn wenn die Metaphysik vor Leibniz Wahrheit als
Offenbarkeit des wahrhaft Einen in seiner Einheit auffaßte, dann hebt mit
ihm, für den das wahrhaft Eine aus dem Genus des Geistes ist, eine
dynamische Deutung derselben an, in welcher „Wahrheit (άλήθεια) und
Wirklichkeit (ενέργεια) [zusammen]gehen 3 3 3 : Wahrheit ist nunmehr
Selbstoffenbarung des Geistes — eine Deutung, die in der Philosophie
Hegels zu ihrer höchsten Entfaltung gelangen sollte.
Eine mit Leibniz vergleichbare metaphysische Grundstellung scheint
Goethe einzunehmen, 334 wenn er wie dieser nicht nur das Wesen des
Menschen 335 , sondern das des Seienden überhaupt als sich im Tätigsein
erwirkende unteilbare Lebenseinheit bestimmt und diese ebenfalls als
Entelechie („Die Griechen nannten Entelecheia ein Wesen, das immer in
Funktion ist." — „Die Funktion ist das Dasein, in Tätigkeit gedacht." 336 )
oder als Monade bezeichnet. 337 Ein wesentlicher Unterschied zu Leibniz
besteht indes darin, daß der Mensch, wenn er auch „die Welt durch
Antizipation" bereits in sich trägt, 338 er gleichwohl „in der äußeren Welt die
antwortenden Gegenbilder zu suchen" hat, um „dadurch das Innere völlig
zum Ganzen und Gewissen zu steigern" 339 : In der Annahme einer Autarkie
(Fensterlosigkeit) der Monade konnte Goethe Leibniz nicht zustimmen, das
Moment der Erfahrung, der Einwirkung von außen bedeutete ihm eine
unerläßliche Bedingung für die Entwicklung der Entelechie: „Jeder neue
Gegenstand wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf." 340
Ebendann aber kommt der Goethesche Gedanke der Antizipation mit der
82 Voraussetzungen

Platonischen Anamnesis überein, die zu ihrer Auslösung ebenfalls der


sinnlichen Wahrnehmung bedarf (Phaidon 75 a; Phaidros 249 b c).341 Die
Strukturparallele reicht gar bis zur Annahme einer Metempsychose: Im
Gespräch mit Falk an Wielands Begräbnistag 342 offenbart Goethe seine
Vorstellung von einer Seelen- oder Monadenwanderung, die die
Antizipation als eine Form der Anamnesis erscheinen läßt. 343 Indem er aber
im Unterschied zu Piaton, in dessen Augen das menschliche Denken das
Wesen der Dinge und das Wesen des Kosmos als Einheit anschauen und im
Wissen reproduzieren kann, das Wesen der geistigen Akte gleichwohl nicht
eher passiv, sondern in der Weise begreift, daß er sie als Element des
fortwirkenden Lebens ansieht, nähert er sich augenscheinlich wieder Leibniz
und seiner Monadologie, die, wie wir sagten, die Teleologie des είδος durch
eine Teleologie des Willens ablöst. Eine Nähe, die sich nicht zuletzt darin zu
bekunden scheint, daß den Inhalten des Lebens Idealität nicht von einem
Äußeren, sondern vom reinen Lebensprozeß her zugesprochen wird: die
tätige Entwicklung erscheint als Selbstzweck. Anders gesagt: Goethe ist das
Leben ein Wert, der jenseits aller Inhalte steht, ein Wert, der selber alle
anderen Werte bestimmt: „Es kommt offenbar im Leben aufs Leben und
nicht auf ein Resultat desselben an.", formuliert er bündig. 344
Daß das Leben in erster Linie sich selber will, diese Ansicht spricht sich
augenscheinlich auch in Goethes Bestimmung der Wahrheit aus: „Was
fruchtbar ist, allein ist wahr." 3 4 5 Eine Bestimmung, die die Frage nach der
Wahrheit in eine Frage nach ihrem Wert für das Leben transformiert:
Diesem Ansatz werden wir — in charakteristischer Umbildung indes — bei
Nietzsche wiederbegegnen. (Als erster Hinweis möge hier genügen, daß
Nietzsche seine 2. Unzeitgemäße Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachtheil
der Historie f ü r das Leben" programmatisch mit einem Goethe-Zitat
eröffnet, das sich auf ebendiesen Wahrheitsbegriff gründet: „Übrigens ist
mir alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren
oder unmittelbar zu beleben." 346 ) In der T a t hat Georg Simmel
herausarbeiten können, daß Goethes Wahrheitsbegriff „ein übergreifender
Wahrheitsbegriff [ist], der zunächst gar nicht an einem Gegensatz zu
theoretischem Irrtum orientiert ist, sondern seinen Sinn in seiner Seins- und
Funktionsbedeutung hat" 347 , nämlich darin, daß das jeweilig daseiende
Leben durch eine Vorstellung gefördert wird. „Förderung" darf dabei, dies
dürfte nach den bisherigen Ausführungen deutlich sein, auf keinen Fall im
utilitarischen Sinne verstanden werden. Nicht durch dasjenige wird eine
Vorstellung förderlich, was sie dem Menschen von außen vermittelt, indem
das von ihr geleitete Handeln die erwünschte Reaktion in der Außenwelt
zeitigt, sondern durch das, was sie bewirkt, indem der Mensch sie denkt,
d. h. durch das, was sie als Element des inneren Lebensvollzuges für diesen
D e r T o d Gottes als die geschichtliche V o r a u s s e t z u n g von Nietzsches Philosophie 83

selbst bedeutet. Um für den Menschen in dieser Weise fruchtbar sein zu


können, muß sich die einzelne Vorstellung „dem einheitlichen Totalsinne
seiner innern Existenz anschließen, und die Energie, die sie innerhalb dieser
einsetzt, muß ein Moment dieser fortschreitenden Existenz selber
werden" 3 4 8 .
Diese „vitale Wahrheit" kann für Goethe nun aber zugleich auch die
„theoretische Wahrheit" (Wahrheit im Sinne der Richtigkeit des
vorstellenden Denkens in bezug auf das vorgestellte Objekt) insofern sein,
als die Pole von Subjekt und Objekt von einem Gemeinsamen, das Goethe
„ I d e e " , „Leben", „ N a t u r " oder auch „ G o t t " nennt, durchwest und damit
zu einer Einheit zusammengeschlossen sind. Indem der Mensch und die
Dinge je ihrer Idee entsprechen, stehen sie auch vermittelt durch die eine
Idee, die sich in die vielen Ideen als ihre Modi aufgebreitet hat, 349 in einem
Entsprechungsverhältnis zueinander: „ D a s Prinzip der Ordnung allen
Lebens ist zugleich der Inbegriff der geistigen Struktur, in der sich diese
Ordnung spiegelt" 350 . Auch bei Goethe währt somit das überkommene
metaphysische Wahrheitsgefüge fort, jedoch nicht in seiner neuzeitlichen
Ausformung — das Goethesche „Subjekt" ist kein allem Seienden als Grund
zugrundeliegendes sub-iectum 351 , dem die Objekte von einem Gott her
zugedacht sind, was auch bedeuten würde, daß er sie seinem Gemächte
überantwortet hat —, indes auch nicht in seiner mittelalterlichen Gestalt —
ist doch Goethes göttlicher Grund keineswegs mit dem christlichen
Schöpfergeist ineinszusetzen —, sondern, so hat es den Anschein, in einer an
Piaton gemahnenden Ausformung.
Zeugnis dafür gibt das Wasserfall-Gleichnis vom Prolog-Schluß des
zweiten Faust, das Wolfgang Schadewaldt 352 zu Recht als eine Weiter- und
Umbildung des Platonischen Höhlengleichnisses gedeutet hat. Übereinstim-
mend findet sich bei beiden die Sonne als Quell des Lebens, d. h. als Bild für
die Ur-sache aller Sachen und ihrer Sachheit — bei Piaton ist dies die Idee
des Guten, welche als Idee der Ideen die Möglichkeit aller andern Ideen in
sich birgt und somit das Tauglichmachende für alles bildet, 353 wohingegen es
bei Goethe die ewige und einzige Idee ist. Doch während Piaton die
Möglichkeit kennt, daß im — indes seltenen — Einzelfall durch
philosophische Gewöhnung und göttliche Fügung die Sonne selbst geschaut
werden kann, hat sich für Goethe der Mensch grundsätzlich mit dem
„farbigen Abglanz" der irdischen Phänomene zu begnügen. Für Goethe
trägt diese Resignation aber positive Züge. Denn nicht allein ist ihm zufolge
das Wesen nur, indem es erscheint:
D e r Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt?
D a s Wesen, wär' es, wenn es nicht erschiene?
84 Voraussetzungen

— so fragt er in „ D i e natürliche Tochter" 3 5 4 —, vielmehr ist endlich auch zu


bedenken, was er in einer gegen Plotin gerichteten Maxime bemerkt:
Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt, wenn sie in der
Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt, daß ihr Hervortreten eine wahre
Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als
das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte
vortrefflicher sein kann als das Zeugende.355
H a t man denn noch nicht bemerkt, daß dies eine „ U m d r e h u n g " des
Piatonismus, d. h. der Metaphysik, lange vor Nietzsche ist? Weil Goethe
nämlich in der Physis alles findet — auch das Allgemeine, das Göttliche —,
d a r u m fühlt er sich in seiner Schau auch nicht gedrängt, über ihren Bereich
hinauszustreben. 3 5 6 N a t u r wie Naturbetrachtung versteht Goethe somit im
G r u n d e nicht Platonisch, sondern frühgriechisch, nämlich als φ ύ σ ι ς — „das
ebenso lautlose wie mächtige Wesen und Walten, das in allem Seienden um
uns her wie auch in uns selber unerschöpflich produktiv am W e r k e ist" 357 —
und als θ ε ω ρ ί α , „die ursprünglich das Beiwohnen und Schauen sakraler
Festgesandter bei einer religiösen Schau und Feier ist." 358 Denn die N a t u r ist
f ü r Goethe, wie eben die Physis f ü r die Frühgriechen, ein an sich selber
Heiliges, Göttliches, das man mit Staunen und Scheu auf das hin betrachtet,
was sich in ihr als Wesendes offenbart, und keine N a t u r , die göttlich nur von
einem unsichtbaren, jenseitigen Gott her ist 359 und schließlich, in der
Neuzeit, als ein dem Menschen Uberlassenes dessen Berechnungen
unterworfen werden kann, weil G o t t selber sie errechnet hat:
Cum DEUS calculat et cogitationem exercet, fit mundus
— weiß Leibniz zu bemerken 3 6 0 : Auch die neuzeitliche Naturwissenschaft ist
„ t h e o r i a " , aber eine solche, die der Unsichtbarkeit des christlichen Gottes
und dem neuzeitlichen Wahrheitsbegriff der certitudo entsprechend keine
Schau, sondern Berechnung ist. Rechnend k o m m t der Mensch G o t t auf die
Spur.
G a n z anders Goethe, dessen Lebensbegriff sich damit in seiner tiefsten
Schicht von demjenigen Leibnizens als in höchstem Maße verschieden
erweist: Er erfährt die N a t u r wie die Frühgriechen als ein Ursprüngliches,
das sich erscheinend verschenkt, ohne sich je zu erschöpfen (siehe das
Gespräch mit Riemer am 2.[6./7.?] August 1807, in dem Goethe bemerkt:
„ m a n entdeckt täglich mehr Relationen der Dinge zu uns, empfindet ihnen
noch immer etwas ab. Das heißt, die Dinge sind unendlich." 3 6 1 ) — und dieser
ihrer Fruchtbarkeit, das meint: Wahrheit, sucht Goethe in seiner
Betrachtung zu entsprechen: Sie ist f ü r ihn nur dann wahr, nämlich
fruchtbar, wenn sie vorab die Physis als das Unausdenkbare und
Unergründliche in die Sorge nimmt, ehe sie sich vorstellend an ihre
Gegenstände anzumessen sucht und damit die tradierte adaequatio vollzieht.
(So daß der Goethe eigentümliche Wahrheitsbegriff den Gültigkeitsbereich
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 85

besagter adaequatio bestimmt — der adaequatio und nicht der certitudo, die
es bei Goethe darum nicht geben kann, weil sein „Subjekt" nicht das
neuzeitliche sub-iectum ist: Keineswegs kommt für ihn dem Seienden der
Charakter der Seiendheit erst dann zu, wenn es durch das seiner selbst
gewisse Subjekt vor- und her-gestellt ist.) Erst hier ist die tiefste Schicht des
Goetheschen Wahrheitsbegriffes erreicht. Da ,,[a]lles Lebendige [ . . . ] eine
Atmosphäre um sich her [bildet]" 362 , hat die Wissenschaft, hat das Denken in
ihrem Umgang mit jenem Lebendigen diese Atmosphäre zu bewahren, wenn
sie das Phänomen nicht zerstören und derweise um seine Fruchtbarkeit
bringen will (vgl. dazu unsere Ausführungen auf S. 63 ff.). „Atmosphäre",
eine gelehrte Neubildung des 17. Jahrhunderts zu ά τ μ ο ς „ D u n s t " und
σ φ α ί ρ α „Scheibe, Kugel; Erdkugel" — von letzterem Ausdruck ist das
W o r t „Sphäre" abkünftig (siehe zur Etymologie von „Atmosphäre"
Anmerkung 272) — meint hier ein „Fluidum", das auf den Menschen vom
„ P h ä n o m e n " überfließt, sobald er in dessen Sphäre, in dessen Machtbereich,
eintritt, eine Stimmung, die ihn dort überfällt und umfängt, so daß ihn jenes
Phänomen zu sich um- und einstimmt. (Weswegen, wie Goethe Eckermann
gegenüber ausspricht, 363 „wer sein Lebenlang von hohen ernsten Eichen
umgeben wäre, [ . . . ] ein anderer Mensch werden [müßte], als wer täglich
unter luftigen Birken sich erginge.") Goethe spricht dieses Geschehnis der
Be-stimmung im 6. Buch von „Dichtung und Wahrheit" 3 6 4 in bezug auf
jenes an, was er das „Erhabene" nennt, welches,
wenn es durch äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu
unfaßlichen Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir
nicht gewachsen sind.
In der Jugend vielfältig gegenwärtig, werde es durch „wachsende Bildung
vernichtet [ . . . ] , wenn es nicht glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu
flüchten". Die Kunst bewahrt mithin das Atmosphärische der Phänomene:
nicht nur in der Weise, daß sie es in ihren „Inhalten" darstellt, sondern vor
allem in der Weise, daß sie in der „ F o r m " selber atmosphärisch ist — in
ungleich höherem Maße als das Denken, das jenem Fluidum „ n u r "
nachzudenken vermag, an sich selbst es aber kaum aufweisen kann. In dieser
Hinsicht muß das Denken hinter der Kunst zurückbleiben — falls es sich
überhaupt jemals rückhaltlos jenem höchsten Wissen zu öffnen vermag,
dessen bisher nur einige wenige Dichtungen eingedenk geblieben sind: daß
wir in unseren höchsten Momenten unfaßliche, nämlich unbegreifliche,
maßlose, d. h. unberechenbare, damit nicht fest-stellbare Wirkungen gewahr
werden, die zerstört werden — und mit ihnen das in ihnen wesende
Phänomen als solches —, wenn sie der rechnenden Vernunft unterworfen
— das meint Goethe mit „Bildung" — und auf ein „Wesen" oder auf
„Wesensstrukturen" reduziert und d. h. überstiegen werden. Der Vollzug
86 Voraussetzungen

dieses Überstiegs ist aber das (Un-)Wesen der Meta-physik und damit auch
das (Un-)Wesen der auf deren Ansatz fußenden Wissenschaft. Beide
übersehen, daß im Be-stimmungsgeschehen des Atmosphärischen das
„ W e s e n " des Phänomens beruht, andernfalls sie „ P h ä n o m e n " nicht
vorzüglich als „Erscheinendes" oder „ A u f g e h e n d e s " , sondern als
„bezugsmäßig Angehendes" verstehen müßten. Durch dieses Verständnis,
das es ihnen ermöglicht, das Begegnende auf Gründe hin zu befragen — als
welche nämlich Gründe seines Erscheinens sind —, bringen Metaphysik wie
Wissenschaft das Phänomen um seine K r a f t des Belangs, indem sie diesen in
jenem Verständnis nichtig setzen, als unwesentlich bezeichnen. V o n der
Erfahrung her gesehen, die Goethe in seinem Gedicht „ D i e F r e u d e n "
anspricht, erfassen sie solcherweise aber gerade umgekehrt nur ein Unwesen
vom Phänomen.

Inzwischen haben wir darlegen können, daß dieser von Piaton mit
seinem Streben nach übersinnlichen Ideen gesetzte Ansatz dort, w o er in
seine Krisis geführt wird, in der neuzeitlichen Metaphysik nämlich, aber
wesentlich vom Wesensentwurf der Wahrheit als certitudo bestimmt ist.
Mithin bekämpft Goethe eigentlich ihn, wenn er die neuzeitliche
Wissenschaft angreift, weil sie seiner Ansicht nach die N a t u r in ihren
Versuchen auf die „ F o l t e r " spannt, 3 6 5 um ihr als Wesensgeständnis
mathematische Formeln abzupressen. S o in seinen Augen ζ. B. Newton, weil
er in seinen Versuchen zur Farbenlehre „ d a s Licht durch kleine Öffnungen,
durch winzige Spalten [beschränkt]" und „ a u f hunderterlei Art in die Enge
gebracht" habe. 3 6 6
U m solchen Fest-stellungen entgehen zu können, bestimmt Goethe den
Begriff „ W e s e n " im Sinne seiner Erfahrung der Natur als Physis — wobei er
noch insofern über die Frühgriechen hinausgeht, als er diese als den
Menschen Angehendes, ihn Wachsenlassendes versteht, als ob er aus dem
griechischen φύω die transitive Bedeutung heraushörte:
W i r k u n g e n w e r d e n wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser
W i r k u n g e n umfaßte wohl allenfalls das W e s e n jenes D i n g e s . V e r g e b e n s
bemühen wir uns, den C h a r a k t e r eines Menschen zu schildern; m a n stelle
d a g e g e n seine H a n d l u n g e n , seine T a t e n z u s a m m e n , und ein Bild des
C h a r a k t e r s wird uns entgegentreten. 3 6 7

In diesem Wissen stellt er die Farben als Taten und Leiden des Lichts dar,
systematisch und doch sie freilassend in ihrem Ereignischarakter:
D i e N a t u r hat sich so viel Freiheit vorbehalten, daß wir mit Wissen und
W i s s e n s c h a f t ihr nicht d u r c h g ä n g i g b e i k o m m e n o d e r sie in die E n g e treiben
können. 3 6 8 ,

bemerkt er.
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 87

Soweit Goethe wissenschaftlich systematisiert, nämlich die Phänomene


auf die Gründe ihres Erscheinens hin befragt, bewegt er sich in den Bahnen
der Metaphysik, die, wie wir sagten, ausdrücklich und eigens das vollzieht,
was die menschliche Vernunft mit ihrem Anspruch der ratio reddenda immer
schon tut, nämlich das Seiende hinsichtlich seines Seins vorzustellen, soweit
bleibt er auch der Gegen-ständigkeit eines, indes nicht neuzeitlich zu
denkenden, „Subjekt-Objekt-Verhältnisses" verhaftet. Soweit er indes den
Farben ihren Ereignischarakter beläßt, ihnen die Macht des phänomenalen
Anganges gewährt — w o f ü r Bedingung ist, daß sie so betrachtet werden,
wie sie den Menschen immer schon angehen, und eben nicht mathematisch
reduziert, d. h. quantifiziert, und objektiviert werden —, soweit er mithin als
Wissenschaftler in der Weise Dichter bleibt, daß er sowohl um das
Defizitäre des für den alltäglichen Lebensvollzug notwendigen Systematisie-
rens und Begründens als auch um das „Wesen" dieses Defizits weiß — von
beidem ahnt die Metaphysik nichts —, soweit führt ihn auch sein Weg aus
jenen überkommenen Bahnen hinaus, beginnt er das Phänomen als
abgründiges, als nur im Ab-gründigen wesendes, denkend in die Obhut zu
nehmen: in der Bestimmung, wonach das Wahre das für den Menschen
Fruchtbare sei.
Das ist es, was eine Erläuterung bei Goethe zu läutern hat — von den
Verdeckungen Platonischer und Leibnizscher Begrifflichkeit. 369
(Vorgreifend und in Parenthese wollen wir bemerken, daß auch
Nietzsche, dessen Nähe zu Goethe in der Ferne — das nämlich ist die
Sehnsucht — kaum überschätzt werden kann, von den zuletzt
angesprochenen Problemen angegangen worden ist. So heißt es etwa in der
2. Unzeitgemäßen Betrachtung, in welcher die Historie paradigmatisch für
die moderne wissenschaftliche Weltverhaltung behandelt wird:
Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein
Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt. 370
Und einer der von Nietzsche immer wieder scharf kritisierten Irrtümer der
Metaphysik ist jener der Trennung von „Thäter und Thun" 3 7 1 , das meint die
Zurückführung einer Wirkung auf eine Ursache. Zum ersten Male findet sie
sich in einem Fragment vom Sommer 1872/Anfang 1873:
Aus Q u a l i t ä t u n d T h a t : eine E i g e n s c h a f t von uns führt zum
Handeln: während im Grunde es so ist, daß aus Handlungen wir auf
Eigenschaften schließen: wir nehmen Eigenschaften an, weil wir
Handlungen bestimmter Art sehn.
Also: das Erste ist die H a n d l u n g , diese verknüpfen wir mit einer
Eigenschaft.
Zuerst entsteht das Wort für die Handlung, von da das Wort für die
Qualität. Dies Verhältniß übertragen auf alle Dinge ist C a u s a l i t ä t .
88 Voraussetzungen

Zuerst „sehen", dann „Gesicht". Das „Sehende" gilt als Ursache des
„Sehens".372) —
Auch Kant hält am traditionellen Begriff der Wahrheit fest: sie sei
„Ubereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande", heißt es in der
„Kritik der reinen Vernunft" 373 . In seiner Lehre des transzendentalen
Phänomenalismus, nach welcher die Gegenstände von einer überindividuel-
len Funktion im individuellen Geist für diesen aus den Empfindungen eines
„Ding an sich" originaliter erzeugt werden, bedeutet dies: Ubereinstim-
mung der individuellen mit der überindividuellen Vorstellung. Dasjenige,
was an der subjektiven Vorstellung notwendig und allgemeingültig, nämlich
gegenstandskonstitutiv ist, heißt objektiv und wahr. Daß auch diese
Bestimmung der Wahrheit aus dem Verständnis der Wahrheit als Gewißheit
erwächst, zeigt sich darin, daß der tiefste Grund jener überindividuellen
Organisation von der transzendentalen Apperzeption, dem reinen
Selbstbewußtsein, gebildet wird, welches als der in allem gleichbleibende Akt
„ich denke" nicht nur alle Vorstellungen begleitet, sondern überhaupt erst
ermöglicht.
Den alten metaphysischen Begründungsversuch für die Wahrheit hat die
„Kritik der reinen Vernunft" indes aufgegeben. Gleichwohl ist das
Wahrheitsgefüge, wie Thomas von Aquin es gelehrt hat, auf den ersten Blick
noch erkennbar. Denn wenn Kant in seiner Kritik der reinen theoretischen,
endlichen Vernunft bewußt alle jene Bezüge zu solchem ausklammert, was
diese Vernunft transzendiert, dann unternimmt er dennoch, um diese
Endlichkeit positiv auszulegen, eine Abgrenzung gegen den unendlichen
göttlichen Verstand. Und dieser Kantische intuitus originarius, welcher als
Limes-Begriff fungiert, ist dem intellectus divinus des Thomas von Aquin
vergleichbar: Seine Anschauung, welche nicht mehr wie die des Menschen
bloß als sinnlich-rezeptiv, sondern als spontan zu denken ist, soll nicht nur
Erscheinungen, sondern Dinge an sich erzeugen.
Des weiteren wird der Begriff Gottes in der „Kritik der reinen
Vernunft" als „Idee" gefaßt, als notwendiger Vernunftbegriff, „dem kein
kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann" (B 384);
d. h. als regulatives Prinzip der Vernunft, welches Einheit in die Betrachtung
der Natur bringt, insofern es lehrt, „alle Verbindung in der Welt so
anzusehen, a l s o b sie aus einer allgenugsamen notwendigen Ursache
entspränge" (B 647). Gott erscheint hier als ein reiner Leitbegriff der
innerweltlichen Forschung. Daß er für Kant dennoch mehr ist, deutet bereits
das Vorwort der „Kritik der reinen Vernunft" an, das die Verbindung zur
„Kritik der praktischen Vernunft" aufzeigt:
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 89

Ich kann also G o t t , F r e i h e i t und U n s t e r b l i c h k e i t [laut Kant die


drei Ideen der Metaphysik] zum Behuf des notwendigen praktischen
Gebrauchs meiner Vernunft nicht einmal a n n e h m e n , wenn ich nicht der
spekulativen Vernunft zugleich ihre Anmaßung überschwenglicher
Einsichten b e n e h m e .
Und rückblickend bestimmt er ebendort (B XXIXf.) als eine der Aufgaben,
die er sich mit „Kritik der reinen V e r n u n f t " gesetzt hatte:
Ich mußte also das W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu
bekommen
— ein Satz, den Nietzsche vielerorts bedacht hat 374 und auf den sich seine
Einschätzung Kants als „eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt" 3 7 5
gründet. Denn wenn laut Kant „ f ü r das Dasein des Urwesens, als einer
Gottheit, [ . . . ] schlechterdings kein Beweis in theoretischer Absicht [ . . . ] für
die menschliche Vernunft möglich" (Kr. d.U., Β 453), es bloß denkbar ist,
kommt ihm „objektive Realität" (Kr. d. pr. V., A 242) im Sinne eines jener
Postulate der reinen praktischen Vernunft zu, welches diese „zur
Möglichkeit ihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen, Objekts
des höchsten Guts [der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit] 376
unvermeidlich bedarf" — weswegen „die theoretische dadurch berechtigt
wird, sie vorauszusetzen" (Kr. d. pr. V., A 242). Wohl kommt Gott als
, , r e i n e [ m ] p r a k t i s c h e [ n ] V e r n u n f t g l a u b e [ n ] " (Kr.d.pr.V.,
A 263) der Charakter eines „theoretisch unzureichende[n]" (Kr. d. r. V.,
Β 851) „Fürwahrhaltens in moralischer Absicht" ( K r . d . p r . V . , A 263) zu,
doch ist dabei ausdrücklich hervorzuheben, daß „dieses Fürwahrhalten [ . . . ]
dem Grade nach keinem Wissen nachsteht, ob es gleich der Art nach davon
völlig unterschieden ist" 377 , ist doch „jener Glaube in einer praktisch-wohl-
gegründeten, theoretisch aber unwiderleglichen Voraussetzung völlig
gesichert" 378 . Und so kann man mit gewisser Berechtigung sagen, daß dieser
„moralische [ . . . ] Glaube" (Kr. d . U . , Β 459) an einen Gott als den
„Schöpfer der Naturdinge" und „Urheber aller Naturgesetze"
( K r . d . p r . V . , A 203), an diesen — im Hinblick auf das moralische Gesetz
gesprochen — „Gott in uns" 379 , auch die Grundlage der „Kritik der reinen
V e r n u n f t " prägt: Die theoretische Lehre vom Ding an sich ist getragen von
diesem aus dem praktischen Leben erwachsenden Glauben an einen Gott,
welcher die Gegenstände an sich erschafft, indem er sie erschaut. N u r so
scheint es, folgt man Nietzsche (siehe unsere Ausführungen auf S. 10),
erklärlich zu sein, daß Kant von der theoretischen Konsequenz, wonach es
f ü r unser Wissen nur Vorstellungen mit ihren immanenten begrifflichen
Beziehungen gibt, abweicht und ein Stück weit jenem naiven Realismus
folgt, f ü r den nichts gewisser ist als die Existenz von Dingen an sich
außerhalb der Vorstellung. Dieser Glaube an den alten Garanten der Sach-
und Satzwahrheit verhindert so den Sturz ins Nichts: daß es nämlich
90 Voraussetzungen

überhaupt und an sich nichts weiter gibt als unsere Vorstellungen — und
damit die Gefahr skeptischer Hoffnungslosigkeit, welche Kant, ebenso wie
den dogmatischen Trotz, für den „ T o d einer gesunden Philosophie"
(Kr. d. r. V., Β 434) hält. 380 Es ist dies indes eine Gefahr, die, wiederum
Nietzsches Ausführungen in der „Morgenröthe" zufolge, dieser Glaube
selber allererst heraufbeschworen hat: Nietzsches Ansicht nach mußte Kant
darum eine Kluft zwischen den Formen des menschlichen Geistes und der
„wirklichen" Welt voraussetzen, weil er davon überzeugt war, daß der
Mensch Bürger zweier Welten und die gesamte sinnliche Welt eine
inkongruente Erscheinungsform der übersinnlichen Welt der Zwecke ist:
um Raum für s e i n „moralisches Reich" zu schaffen, sah er sich genöthigt,
eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits", — dazu eben
hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: e r
h ä t t e s i e n i c h t n ö t h i g g e h a b t , w e n n ihm nicht Eins wichtiger als
Alles gewesen wäre, das „moralische Reich" unangreifbar, lieber noch
ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die
Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der
Vernunft zu stark!
Und im „Antichrist" bemerkt er, wie wir ebenfalls bereits gehört haben:
V e r f a l l e i n e s G o t t e s : Gott ward „Ding an sich"...
„Verfall" — das besagt aber auch, daß die „Kritik der reinen V e r n u n f t " in
entgegengesetzter Sichtweise — vor allem dann nämlich, wenn sie für sich
betrachtet wird — einen bedeutenden Schritt der Philosophie auf dem Wege
ihrer Ablösung von der Theologie, will sagen: von der Metaphysik 381
darstellt — nicht zuletzt beruft sich Nietzsche selbst in seiner Kritik an der
Möglichkeit von Metaphysik auf Kant 382 . Gleichwohl ist Gott für Kant noch
„notwendig" — als Begriff sowohl der theoretischen wie der praktischen
Vernunft, deren „Funktionieren" er ermöglicht. Erst Nietzsches W o r t des
„ G o t t ist tot" 3 8 3 gibt dem göttlichen „Ding an sich" den Todesstoß. 384
Was aber geschieht mit dem Gefüge der Wahrheit, wenn Gott als Garant
desselben verabschiedet wird, wie dies — wir erinnern uns — bereits beim
jungen Nietzsche zu beobachten ist?
In einer im Zeitraum von Ende 1870—April 1871 entstandenen
Fragmentpassage 385 , in der Nietzsche das Wesen wissenschaftlicher
Weltverhaltung und Welterkenntnis im Hinblick auf die Anfänge
griechischer Wissenschaft bei den Vorplatonikern bedenkt, finden sich
folgende Ausführungen:
Wir haben uns hier zu erinnern, daß der Intellekt nur ein Organ des
Willens ist und somit in allem seinem Wirken auf das Dasein, mit
nothwendiger Gier, hindrängt und daß es sich bei seinem Ziele nur um
verschiedene Formen des Daseins, nie aber um die Frage nach Sein oder
Nichtsein handeln kann. Für den Intellekt giebt es kein Nichts als Ziel,
somit auch keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 91

Nichtsein wäre. Das Leben unterstützen — zum Leben verführen, ist


demnach die jeder Erkenntniß zu Grunde liegende Absicht, das unlogische
Element, welches als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen
derselben bestimmt.
Der Intellekt, jenes, was dem Menschen „Erkenntniß" vermittelt, ist ein
ο ρ γ α ν ο ν — an anderer Stelle 386 spricht Nietzsche von μ η χ α ν ή —, ein
Werkzeug des „Willens", der sich mit seiner Hilfe als „Wille zum Leben"
ins Werk setzt. (Nietzsche knüpft hier — wie in seiner Frühzeit über-
haupt — an Schopenhauers Willenskonzeption an. 387 ) Als solcherweise
Gehandhabtes aber kann der Intellekt nur das Leben wollen: „mit
nothwendiger Gier" drängt er zu ihm hin, d. h. die Möglichkeit einer Wahl
seines Zieles besteht für den Intellekt — und damit für den Menschen — in
der Weise nicht, daß er das „Nichts" nicht wählen kann. 388 Dieses „Nichts"
soll nun das Alles der „absoluten Erkenntnis" sein, und zwar darum, „weil
diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein wäre". Wie kann aber die größte
Fülle die größte Leere sein? Und was heißt hier überhaupt „Nichtsein"?
Unter „Sein" versteht Nietzsche „Leben" oder „Dasein" im Sinne des
endlichen menschlichen Seins, zu dessen Charakter das Möglichsein gehört.
Endliches menschliches Sein ist Sein bestimmter Möglichkeiten unter
Ausschluß aller anderen; doch ist es solches nur so lange, wie die
Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit nicht ist bzw. noch
aussteht. Diese Möglichkeit der schlechthinnigen Unmöglichkeit kann T o d ,
aber auch „absolute Erkenntniß" genannt werden — beides ist die Grenze
der Endlichkeit. Die „absolute Erkenntniß", weil sie keine Perspektive und
keinen Horizont, nämlich keinen Gesichtspunkt mehr kennt, von dem her
und auf den hin das Endliche seit Descartes und Leibniz gedacht wird.
Menschliches Leben ist Fortschreiten von Möglichkeit zu Möglichkeit,
weswegen der Intellekt das Ziel, auf das hin er angelegt sein mag, das Ziel
absoluter Erkenntnis, notwendigerweise zu verfehlen hat, um sein zu
können, d. h. Leben zu haben. Diese Tatsache sei, so fährt Nietzsche fort,
das „jeder Erkenntniß zu Grunde liegende [ . . . ] unlogische Element".
Zwischen Logik und Leben besteht somit ein Widerspruch. Es gibt, so
notiert Nietzsche an anderer Stelle 389 , ,,[n]othwendige Widersprüche im
Denken, um leben zu können." Kurze Zeit später äußert er diesen
Gedanken in der Form des Verdachts, „daß die Dinge und das Denken mit
einander nicht adäquat sind. In der Logik nämlich herrscht der Satz des
Widerspruches, der v i e l l e i c h t nicht bei den Dingen gilt, die
Verschiedenes, Entgegengesetztes s i n d . " 3 9 0 Nietzsche sagt „vielleicht"
und geht doch davon aus, daß es Wahrheit im Sinne der adaequatio von
Sache und Intellekt nicht gibt, daß Übereinstimmung, όμοίωσις, einer
Aussage, λόγος, mit einer Sache, π ρ α γ μ α , nicht möglich ist, weil er, im
92 Voraussetzungen

Unterschied zu Goethe beispielsweise, die Meinung hegt, daß die Gesetze


des Denkens, des Logos, andere als die der „Sachen", der Sache(n) des
„Lebens", sind. Martin Heidegger hat in „Sein und Zeit", § 7Β „ D e r Begriff
des Logos" 391 , als Grundbedeutung des λόγος, die Rede im Sinne der
άπόφανσις 392 herausgearbeitet:
In der Rede (άπόφανσις) soll, wofern sie echt ist, das, was geredet ist, aus
dem, worüber geredet wird, geschöpft sein, so daß die redende Mitteilung
in ihrem Gesagten das, worüber sie redet, offenbar und so dem anderen
zugänglich macht.
(Wobei Heidegger zu bedenken gibt, daß, wenn „der λόγος ein bestimmter
Modus des Sehenlassens ist", er „gerade nicht als der primäre ,Ort' der
Wahrheit angesprochen werden [darf]": „Im reinsten und ursprünglichsten
Sinne ,wahr' — d. h. nur entdeckend, so daß es nie verdecken kann, ist das
reine ν ο ε ΐ ν , das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten
Seinsbestimmungen des Seienden als solchen." 393 ) Und weil „die Funktion
des λόγος im schlichten Sehenlassen von etwas liegt, im Vernehmenlassen des
Seienden" 394 , darum könne er als Vernunft aufgefaßt werden. Für Nietzsche
jedoch ist der Logos, die Vernunft, die Rede, nicht entdeckend, sondern
verdeckend: Indem er sie sehen lassen, sie in die Unverborgenheit tw-stellen
will, verhüllt er die „Dinge", genauer: verhüllt er das, was eigentlich „ist" —
vermutlich zumindest 395 —, das Werden, weil er es vor -stellt in seinem
Be-griff des Seins. Nietzsches H o h n über diesen Begriff haben wir bereits
vernommen:
Als ob der nicht den ärmlichsten empirischen Ursprung bereits in der
Etymologie des Wortes aufzeigte! Denn esse heißt ja im Grunde nur
„athmen": wenn es der Mensch von allen anderen Dingen gebraucht, so
überträgt er die Uberzeugung, daß er selbst athmet und lebt, durch eine
Metapher, das heißt durch etwas Unlogisches, auf die anderen Dinge und
begreift ihre Existenz als ein Athmen nach menschlicher Analogie.
Unlogisch ist diese Übertragung — das griechische W o r t dafür ist
μεταφορά, das lateinische translatio — deshalb, weil sie, laut Nietzsche,
gerade nicht aus dem geschöpft ist, worüber der Redende zu reden, der
Vernehmenlassende vernehmen zu lassen vorgibt, sondern aus dem
Redenden, dem Vernehmenlassenden selbst. Solches aber ereignet sich nicht
zufällig und ausnahmsweise mit diesem einen Begriff, vielmehr geschieht es,
da der Begriff „Sein" insofern der Grundbegriff schlechthin ist, als ein jeder
Begriff sagt: „etwas ist etwas" — d. h. ein „Sein" dessen voraussetzt, was er
begreift — im Falle aller Begriffe. So ist denn jene Passage auch Bestandteil
jenes Widerlegungsversuches, den Nietzsche gegen die oberste Denkvoraus-
setzung der Ontologie unternimmt, gegen den Satz des Parmenides nämlich,
daß Denken und Sein ein und dasselbe sind. 396 . In Nietzsches Perspektive
kann der Begriff „Sein" bestenfalls als „Hilfsbegriff" aufgefaßt werden, der
D e r T o d Gottes als die geschichtliche V o r a u s s e t z u n g von Nietzsches Philosophie 93

— vergleichbar etwa dem Kantischen „ D i n g an sich" — bezeichnen soll,


was „ a n sich", d. h. außerhalb des vorstellenden Denkens „ i s t " . In einer
N o t i z vom September 1870—Januar 1871 heißt es:
D e n k e n und Sein sind keinesfalls dasselbe. D a s D e n k e n muß u n f ä h i g sein,
d e m Sein zu nahen und es zu packen. 3 9 7
Ebenwas Nietzsche, wie wir teilweise schon gehört haben, in der Schrift
über die Vorplatoniker wie folgt erläutert:
D i e W o r t e sind nur S y m b o l e f ü r die Relationen der D i n g e unter einander
und zu uns und berühren nirgends die absolute Wahrheit: und g a r das
W o r t „ S e i n " bezeichnet nur die allgemeinste Relation, die alle D i n g e
v e r k n ü p f t , ebenso wie das W o r t „ N i c h t s e i n " . Ist aber die Existenz der
D i n g e selbst nicht nachzuweisen, so wird die Relation der D i n g e unter
einander, das s o g e n a n n t e „ S e i n " und „ N i c h t s e i n " uns auch keinen Schritt
d e m L a n d e der Wahrheit näher bringen können. D u r c h W o r t e und
B e g r i f f e werden wir nie hinter die W a n d der Relationen, etwa in irgend
einen fabelhaften U r g r u n d der D i n g e , g e l a n g e n und selbst in den reinen
F o r m e n der Sinnlichkeit und des V e r s t a n d e s , in R a u m Zeit und K a u s a l i t ä t
gewinnen wir nichts, w a s einer Veritas aeterna ähnlich sähe. Es ist
unbedingt f ü r das S u b j e k t unmöglich, über sich selbst hinaus etwas sehen
und erkennen zu wollen, so unmöglich daß E r k e n n e n und Sein die sich
widersprechendsten aller S p h ä r e n sind. U n d wenn P a r m e n i d e s , in der
unbelehrten N a i v e t ä t der d a m a l i g e n Kritik des Intellekts, wähnen durfte,
aus dem ewig subjektiven Begriff zu einem An-sich-sein zu k o m m e n , so ist
es heute, nach K a n t , eine kecke I g n o r a n z 3 9 8 .

Nietzsches Kritik an Parmenides und damit an Ontologie und Metaphysik


überhaupt ist mithin in seinem Verständnis der Kantischen Philosophie
begründet, die er nicht „ K a n t i s c h " dahingehend auslegt, daß sie die
Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis herausgearbeitet hat, sondern
sie vielmehr so interpretiert, als wäre von ihr, die sie doch am traditionellen
Begriff der Wahrheit festhält, die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis
im Sinne der adaequatio erwiesen worden: Eine solche von ihm von
vornherein — und ebendann findet sich die Differenz zu Kant beschlos-
sen — als „absolute Wahrheit" ausgelegte Übereinstimmung läge für ihn
nur dann vor, wenn der Mensch das „ D i n g an sich" erkennen könnte, will
sagen: wenn er sich an einen die Relativität seines Standpunktes
übersteigenden absoluten Bereich anmessen könnte — nach Kant ein
absurder Gedanke:
V e r z w e i f l u n g an der Wahrheit. D i e s e G e f a h r begleitet jeden D e n k e r ,
welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen W e g nimmt,
heißt es in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als
Erzieher" 3 9 9 , in die laut „ E c c o h o m o " 4 0 0 Nietzsches „innerste Geschichte,
[s]ein W e r d e n eingeschrieben" ist. (Somit gilt für Nietzsche selbst, was er
in seinem Dissertationsprojekt Kant zuspricht: „ E s fällt Kant sehr schwer
94 Voraussetzungen

sich in fremde Philosophem(e) zu versetzen: was für einen originellen


Denker sehr charakteristisch ist." 401 )
Mithin sieht Nietzsche durch Kants Kritizismus seine anfängliche
Überzeugung, die metaphysische Voraussetzung, bestätigt, „daß zwischen
der Unendlichkeit des Lebens und seiner konkreten Wirklichkeit einerseits
und der Begrenztheit des Verstandes andererseits eine unüberbrückbare
Diskrepanz besteht" 402 , eine Überzeugung, die wir in jenem „allgemeinen
Grundsatz" ausgesprochen fanden, daß „alles, was dem Menschen
entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen Begabung
aufgefaßt werden kann." 4 0 3 Im Vorwort seiner im Sommer 1871 gehaltenen
Vorlesung „Einleitung in das Studium der classischen Philosophie" 404
bedenkt Nietzsche dies am Beispiel des historischen Verstehens wie folgt:
Das historische Verständniss ist nichts anderes als das Begreifen
bestimmter Thatsachen unter philosophischen Voraussetzungen. Die
Höhe der Voraussetzungen bestimmt den Werth des historischen
Verständnisses. Denn eine Thatsache ist etwas Unendliches, nie völlig
Reproducirbares. Es giebt nur Grade des historischen Verständnisses.
Eine historische Tatsache ist etwas Unendliches — das meint, sie hat — wie
ein Individuum oder ein Organismus (siehe S. 14) — an sich selbst keine
„Einheit", will sagen: sie hat potentiell unendlich viele Aspekte, die von
jeweils unterschiedlichen Gesichtspunkten hervorgebracht werden, so daß
die vom Historiker interpretierte Tatsache in Nietzsches Sicht Tat-sache,
factum, seines endlichen Gesichtsfeldes ist. Mit diesem Ansatz aber steht
Nietzsche in der neuzeitlichen Überlieferung, die den menschlichen Logos
— im Unterschied zu den Griechen — als im Subjekt gegründete
perspektivisch-horizonthafte, d. h. ineins enthüllende und verhüllende
(darin klingt die griechische άλήθεια nach), Re-präsentation denkt, die das
Vor-gestellte allererst her-stellt. Wenn die neuzeitliche Überlieferung
gleichwohl daran festhalten konnte, daß dem Menschen Wahrheit im Sinne
der adaequatio zugänglich ist, Nietzsches Mensch hingegen überall nur
Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden405
zu erblicken vermag, dann erreicht darin jene N o t ihren Gipfelpunkt, die
zum erstenmal bei Descartes aufblitzte, nämlich die N o t des zur
selbst-bezogenen Bezugsmitte der Welt gewordenen Menschen der Neuzeit,
des Subjekts, eines selbständigen Bürgen für die Richtigkeit (rectitudo gleich
adaequatio), d. h. für die Angemessenheit und f ü r die Gültigkeit seiner
Vorstellungen entbehren zu müssen — eine Not, die indes für lange Zeit mit
Hilfe jenes von Descartes heraufbeschworenen deus ex machina unterdrückt
werden konnte. Noch bei Kant steht er — verdeckt — dafür ein, daß dem
menschlichen Erkenntnisvermögen Wahrheit zugänglich ist: als gottge-
schaffenes ist es in die Wahrheit gesetzt. So faßt Kant den menschlichen
Intellekt als ewig auf: In ihrer „Relativität" sind die apriorischen Strukturen
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 95

absolut, für die Menschen aller Zeiten und Örter gültig. Liest man jedoch
seine Philosophie, wie Nietzsche das tut, im Hinblick auf die Darwinsche
„ L e h r e [ . . . ] vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller [ . . . ] Arten,
von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und
Thier" 4 0 6 , dann geht daraus der Gedanke hervor, daß unsere „Wahrheiten"
nichts anderes als Behauptungen sind, die in der Weise „funktionieren", daß
sie uns das Uberleben ermöglichen. Zunächst und vor allem aber die höchste
Wahrheit, als welche alle übrigen Wahrheiten garantiert: Gott, den ja bereits
Kant als bloßes, doch notwendiges Postulat der praktischen Vernunft
erwiesen hatte, ohne daß sich ihm der Schluß aufdrängte — und ebendies
belegt, daß er gläubig Gott voraussetzte —, der Gedanke Gottes sei nur in
einer Eigentümlichkeit unserer Natur begründet.
Nietzsche hingegen kennt ein solches übersinnliches „ A u ß e n " der Welt,
eine über die menschliche Sphäre hinausreichende und diese in irgendeiner
Weise mit den Objekten vermittelnde Transzendenz nur noch in Form einer
Leerstelle. Sowohl jenes „Prinzip" des „Willens zum Leben", um das sein
frühes Denken kreist, als auch jenes Quale 407 des „Willens zur Macht", das
im Mittelpunkt seines späteren Denkens steht, beide sind ein reines „ I n n e n "
dieser Sphäre 408 , das alles, eingeschlossen sich selbst, f ü r sich selbst
hervorbringt. Es ist relativ zu sich selbst, reine Bewegung in sich ohne
jeglichen Bezug zu einem Ansich, d. h. zu einem Absoluten als Garanten
einer (absoluten) Wahrheit. Derweise aber ist es selber ebenfalls nicht wahr.
Auch für Nietzsche und sein Denken gilt, was er von den Menschen
allgemein sagt:
Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr A u g e gleitet nur
auf der Oberfläche der D i n g e herum und sieht „ F o r m e n " , ihre
E m p f i n d u n g führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich R e i z e
z u e m p f a n g e n und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem R ü c k e n der
D i n g e z u spielen.

So heißt es in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen


Sinne 409 , die — wie wir anläßlich einer eingehenden Interpretation zeigen
werden —, wie alle Texte Nietzsches das ist, wovon sie spricht: Illusion.
Aber weil Nietzsches Texte das auch wissen und einbekennen, darum sind
sie weniger Illusion als andere: Solange seine Philosophie einer bloßen
Umdrehung des Piatonismus verhaftet bleibt, treten in ihr an die Stelle der
Wahrheit — wie es im 34. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse"
lautet — „Stufen der Scheinbarkeit" 410 . (Die „ H e r a u s d r e h u n g " aus dem
Piatonismus liegt dann darin beschlossen, daß Nietzsche schließlich, in dem
Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " aus der
„Götzen-Dämmerung", die Scheinbarkeit nicht mehr im Gegensatz zur
96 Voraussetzungen

überkommenen Wahrheit denkt, diese Opposition vielmehr zu überwinden


sucht.)
Daß die Annahme von „Stufen der Scheinbarkeit" einer Zeit angehört,
„ w o wir dafür b e z a h l e n müssen, zwei Jahrtausende lang C h r i s t e n
gewesen zu sein", weil wir mit dem Tode Gottes, d . h . für Nietzsche: mit
dem Ende der Metaphysik, „das S c h w e r g e w i c h t [verlieren], das uns
leben ließ" 411 , das geht mit jener höchsten Luzidität, die Nietzsche erst in
den Achtzigerjahren zu Gebote stand, aus einem Nachlaßfragment vom
Herbst 1885—Herbst 1886 hervor»?:
Inwiefern die Dialektik und der Glaube an die V e r n u n f t n o c h auf
moralischen Vorurtheilen ruht. Bei Plato sind wir als einstmalige B e w o h n e r
einer intelligibelen W e l t des G u t e n n o c h im Besitz eines Vermächtnisses
jener Zeit: die göttliche Dialektik, als aus d e m Guten stammend, führt z u
allem Guten (— also gleichsam „ z u r ü c k " — ) A u c h Descartes hatte einen
Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise,
w e l c h e an einen g u t e n G o t t als Schöpfer der D i n g e glaubt, die
Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre Sinnesurtheile v e r b ü r g t . Abseits
v o n einer religiösen Sanktion und V e r b ü r g u n g unsrer Sinne und
Vernünftigkeit — w o h e r sollten wir ein Recht auf Vertrauen g e g e n das
D a s e i n haben! D a ß das D e n k e n gar ein Maaß des Wirklichen sei, — daß
w a s nicht gedacht w e r d e n kann, nicht i s t , — ist ein plumpes n o n plus ultra
einer moralistischen Vertrauens-seligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-
Princip im Grund der D i n g e ) , an sich eine tolle Behauptung, der unsre
Erfahrung in jedem Augenblicke widerspricht. W i r k ö n n e n gerade gar
nichts denken, in w i e f e r n es i s t . . .

Wie wir bereits ausgeführt haben, ist das Denken auf das Sein des Seienden
metaphysisch und die Metaphysik gleichzeitig theologisch in jenem Sinne,
daß die „Ur-sache" des Seienden, das Seiendste des Seienden, als Gott
ausgelegt wird. Für Piaton ist diese Ursache die ίδέα τοΟ ά γ α θ ο ϋ , die „Idee
des Guten", welche indes nicht nur als Idee aller das Sein des Seienden
ausmachenden Ideen der Ursprung aller Sachen und ihrer Sachheit ist — sie
im Gepräge ihres Aussehens hält —, sondern darüber hinaus auch den Bezug
zwischen dem erkennenden Menschen und seinem Erkannten in der Weise
ermöglicht, daß der Mensch ihrer als „einstmaliger Bewohner" des
übersinnlichen Reiches dieser Ideen teilhaftig geworden ist und sich ihm
darum in ihrem Licht jedes einzelne Seiende als dieses und jenes zu zeigen
vermag.
Nietzsche deutet indes die Bezeichnung τ ο ά γ α θ ο ν , darauf haben schon
Heidegger und Fink hingewiesen, 413 ungriechisch, nämlich neuzeitlich-mo-
ralisch: danach projiziert der Mensch seinen moralischen Trieb zur
Wahrheit außer sich als metaphysische Welt, weil er derweise das Leben eher
zu bewältigen glaubt. Der Mensch hegt nämlich Nietzsche zufolge die
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 97

„moralische Überzeugung von der N o t w e n d i g k e i t einer festen Conven-


tion, wenn eine menschliche Gesellschaft existiren soll." 414
Der gute Mensch will nun auch wahr sein und glaubt an die Wahrheit aller
Dinge. Nicht nur der Societät, sondern der Welt. Somit auch an die
Ergründbarkeit. Denn weshalb sollte die Welt ihn täuschen?
Also er überträgt seinen Hang auf die Welt und glaubt, daß auch die
Welt wahr gegen ihn sein muß. 4 1 5
„ D e r Philosoph sucht" darum „Wahrheit, die b l e i b t ," 416 Indem er nun ein
Wahrheit verbürgendes Prinzip μετά τ ά φ υ σ ι κ ά glaubt, befestigt er des
sichernden Vor-stellens Gegen-stand gegen das reine Werden, d. h. gegen
das, als was sich Nietzsche die Welt in ihrer tiefsten Schicht erweist. Nun, da
das wahrheitsverbürgende Prinzip aus Liebe zur Wahrheit als Machwerk
entlarvt ist — die Wahrheit schafft sich selbst ab —, 417 steht nichts mehr auf
festen Füßen: Es gibt keinen der Zeit und damit der Vergänglichkeit
entrückten O r t mehr, durch den die adaequatio von Denken und Sein
garantiert wird, so zwar, daß er diese adaequatio ist. Darum vermag
Nietzsches Mensch überall nur „Metamorphosen Verkleidungen Maskera-
den", d. h. beständiges Werden sowie Schein und Illusion zu erkennen: Mit
Gott ist für Nietzsche jene metaphysische Instanz entschwunden, die die
Dinge bei allem — monadologischen oder willensmäßigen — Wandel doch
in der Weise im Gepräge ihres Aussehens zu halten vermochte, daß es dieses
und damit den von Sein und Seiendem kündenden Augenschein verbürgte.
Jetzt aber erweist sich dieser gegenüber dem Werden, welches uns empirisch
gesehen in der — nun nicht mehr als vorläufig und unvollkommen
begriffenen (siehe Seite 30) — Schicht des Flusses der bloßen Empfindung in
der Zeit zugänglich ist, als höherer Schein. Denn auch das Werden ist keine
Wahrheit, sondern nur eine — obzwar tiefere — Scheinbarkeit: Wie das
Adjektiv „ w a h r " selber sagt, gibt es Wahrheit nur dort, wo man vertrauen
kann, wo etwas vertrauenswert ist: „wahr", mittel- wie auch althochdeutsch
war, gehört zusammen mit den urverwandten Worten lateinisch verus
„ w a h r " und altirisch flr „ w a h r " im Sinne von „vertrauenswert" zu der
indogermanischen Wurzel *uer- „Gunst, Freundlichkeit [erweisen]". Jetzt,
da sich zeigt: μετά τ ά φ υ σ ι κ ά ist nichts, offenbart sich, was die Metaphysik
und die von ihr bestimmte Geschichte des Abendlandes in ihrem Wesen
gewesen ist: Mißtrauen zur Welt, zur φύσις. N u r unter Bezugnahme auf
einen die Welt begründenden transzendenten, übersinnlichen Grund, der
dieser ihre Un-heimlichkeit nehmen sollte, vermochten die Menschen ihr
In-der-Welt-Sein zu ertragen. Da sich dieser Grund nunmehr als Nichts
erweist, verdrängt eben nichts mehr diese in der langen Verborgenheit
vielleicht noch gewachsene Unheimlichkeit.
98 Voraussetzungen

W o h e r sollten wir jetzt noch ein Recht auf Vertrauen gegen das Dasein
haben?, fragt deshalb Nietzsche, der seine Forderung nach Uberwindung
der Metaphysik im Zarathustra in die Formel faßt: „Bleibt der Erde treu!"
Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß auch „ t r e u " mit „trauen"
verwandt ist — und melden nach den obigen Ausführungen verstärkten
Zweifel daran an, ob Nietzsches Denken und Dichten in dieser, seiner
eigenen Hinsicht die Metaphysik wirklich überwindet. Daß seine
Philosophie auch und gerade hier eben nur ein umgedrehter Piatonismus
und damit immer noch ein Piatonismus ist, äußert sich darin, daß in ihr
Denken und Dichten immer noch gewohnt bleiben, einen transzendenten
Zeugen für die Wahrheit anzurufen, so daß sie nun, da sie selber für ihre
Wahrheit einstehen müssen — selber O r t nicht mehr einer Repräsentation,
sondern unmittelbare Präsentation der Wahrheit zu sein haben —, überall
nur Schein zu erblicken vermögen.
Rückschlag v o n „ G o t t ist die Wahrheit" in den fanatischen Glauben „Alles
ist falsch".,
bemerkt Nietzsche selber in einer Aufzeichnung vom Herbst 1885— Herbst
1886 418 : Bei ihm bleibt der Mensch, um in dem von Schopenhauer erwähnten
Bilde des Platonischen Höhlengleichnisses zu sprechen, mit dem Kopf zur
W a n d gefesselt. Keine göttliche „ F ü g u n g " (θεία μοίρα) 4 1 9 gewährt ihm den
W e g der Befreiung hinaus und hinauf bis hin zur Sichtsamkeit der Sonne
selber — denn Gott ist tot, will sagen: es „gibt" keine Sonne mehr für den
Menschen. Zwar glaubt er eine Lichtquelle in seinem Rücken zu erahnen,
doch nur von den wechselnden Erscheinungen an der Höhlenwand, den
Schatten, her — die als Schatten zu deuten, ihn indes allein, so Nietzsche,
die Überlieferung anhält.
Konnte nach Goethes Ansicht der Mensch noch ungefähr an die Stelle
gelangen, wo bei Piaton der Entfesselte die Abbilder und Spiegelungen der
Dinge und Menschen im Wasser sieht, so bleibt der Mensch Nietzsches
einzig auf die Erscheinungen an der Höhlenwand verwiesen. Und wenn
Goethe die Resignation beim Abglanz darum nicht schwerfiel, weil — wie
der Titel „Abglanz" schon sagt — dessen Farben als Schattiges in sich das
ewige Licht bewahren und es ahnen lassen 420 , so fällt Nietzsche eine solche
Bejahung — seine Formel des „amor fati" verrät es — sehr viel schwerer: Er
sucht das „Licht", von dem die Uberlieferung kündet, und kann es doch
nicht mehr finden. N u r von „innen", nur vom Reflex an der Innenseite der
Höhle her vermag er das Leben auszulegen — ebendeshalb bezeichnet
Nietzsche seine Weltdeutungen als „Illusion", damit zum Ausdruck
bringend, daß er immer noch in Bezug auf ein „ A u ß e n " denkt, obwohl er es,
wie gesehen, für undenkbar hält.
Der Tod Gottes als die geschichtliche Voraussetzung von Nietzsches Philosophie 99

Das gilt schon, wie wir noch zeigen werden, für die „Artisten-Metaphy-
sik" der „Geburt der Tragödie". Auch sie gibt sich, indes nur bei genauer
Lektüre, als eine Auslegung der Welt „von innen her" zu erkennen.
Nietzsche selber hat darauf in seiner Interpretation des Grundansatzes der
Schrift vom Herbst 1885—Herbst 18 8 6 4 2 1 hingewiesen:
Das Werden, von innen her empfunden und ausgelegt, wäre das
fortwährende Schaffen eines Unbefriedigten, Überreichen, Unendlich-Ge-
spannten und -Gedrängten, eines Gottes, der die Qual des Seins nur durch
beständiges Verwandeln und Wechseln überwindet: — der Schein als seine
zeitweilige, in jedem Augenblick erreichte Erlösung; die Welt als die
Abfolge göttlicher Visionen und Erlösungen im Scheine.
Gleiches gilt, wie aus einem zeitlich benachbarten Fragment vom
August—September 18 8 5 4 2 2 hervorgeht, auch für den „Willen zur Macht".
Nietzsche erklärt sich in dieser Aufzeichnung wie schon in der
vorangehenden 423 gegen „gegen das Wort , E r s c h e i n u n g e n ' . " :
N B . S c h e i n wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der
Dinge [ . . . ] Ich setze also nicht „ S c h e i n " in Gegensatz zur „Realität"
sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der
Verwandlung in eine imaginative „ W a h r h e i t s - W e l t " widersetzt. Ein
bestimmter N a m e für diese Realität wäre „der Wille zur M a c h t " , nämlich
von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen
Proteus-Natur aus.
Doch erst in der „Götzen-Dämmerung" 4 2 9 zieht Nietzsche die Konsequenz
aus seiner Erkenntnis, daß der Schein „die wirkliche und einzige Realität der
Dinge" darstellt, erst dort beginnt er, sich aus dem Gefüge der Metaphysik
herauszudrehen, erst dort schafft er mit der wahren auch die scheinbare
Welt ab: Aus dem Jenseits von Gut und Böse wird — Nietzsches höchste und
kaum noch denkbare Formel der Bejahung — ein Jenseits aller
Oppositionssysteme: Es gibt kein Außen und kein Innen, kein Oben und
Unten mehr, sondern nur noch die eine schattenlose Welt, die jetzt selber
Quelle und Hort des Lichts darstellt. Nietzsches Bild für diese
Herausdrehung aus dem Platonischen Höhlengleichnis ist der große Mittag
des großen Pan:
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums;
Höhepunkt der Menschheit; I N C I P I T Z A R A T H U S T R A . ) ,
mit diesen Worten endet Nietzsches Aphorismus „Wie die ,wahre Welt'
endlich zur Fabel wurde." —
Weil aber der nunmehr entschwundene Wahrheits-Zeuge bisher auch
den Sinn des Seins überhaupt, nämlich den Sinn des Daseins wie auch des
übrigen Seienden, verbürgt hat, darum ist mit seinem Verschwinden
nunmehr alles „an sich" sinnlos geworden. Der Mensch hat derweise seinem
Lebensvollzug selber einen Sinn zu geben, der gemessen an dem Sinn an sich
100 Voraussetzungen

der Überlieferung als ein bloßer Sinn für ihn nur ein scheinhafter Sinn sein
kann:
D a s s mein Leben keinen Z w e c k hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines
Entstehens klar; dass ich einen Z w e c k mir setzen kann, ist etwas anderes.,
bemerkt Nietzsche im Zeitraum Sommer/Herbst 18 7 3.425
„So ist alles für den Menschen eigentlich nur Schein; etwas natürlich
muß Wahrheit sein; die Erkenntniß dessen ist für uns nur Wahrscheinlich-
keit.", hatte der 19jährige Nietzsche aus seinem an Kant orientierten
erkenntnistheoretischen Grundsatz gefolgert, daß „alles, was dem
Menschen entgegentritt, nur unter dem Gesichtspunkt seiner geistigen
Begabung aufgefaßt werden kann." (Siehe Seite 7) Diese Folgerung meint
jetzt: Insofern das den erkennenden „Menschen" umgreifende, über
jedwede Möglichkeit endlicher Erkenntnis seiner selbst immer schon
hinausgehende, weil potentiell unendliche „Leben", als welches in endlicher
Perspektive fortwährendes Werden ist, in der vorstellenden Voraus-setzung
durch den intellectus humanus eine mögliche Sinn-Gestalt seiner selbst in die
Unverborgenheit (griechisch: ά-λήθεια) vorstellt und derweise sich sich
selbst aufsteigernd vollzieht — wobei gesehen werden muß, daß es allein in
solchen Gestalten wirklich ist — 426 , insofern scheint darin gleichwohl nicht,
wie Heidegger vermeint, 427 die Wahrheit, vielmehr die tiefste für uns
erreichbare Scheinbarkeit auf: das reine Werden, das reine Vollzugsgesche-
hen des Lebens. Blitzhaft — weil sich dieser leuchtende Aufschein der
tiefsten Scheinbarkeit augenblicklich zum bloßen Anschein, damit zu einer
höheren Scheinbarkeit verdüstert, wenn diese Möglichkeit selber — was
unvermeidlich ist, soll sich das Leben vollziehen können 428 — als Wahrheit
ergriffen wird, so zwar, daß der intellectus humanus, indem er sich an diese
„seine" Voraussetzung anmißt, d. h. die adaequatio vollzieht, das Werden in
einer bestimmten Möglichkeit festmacht und beständigt. (Bereits auf S. 8
haben wir darauf hingewiesen, daß schon für den ganz jungen Nietzsche
„Erscheinung" eine Gemengelage von „Aufschein" und „Anschein"
bedeutet). In dieser Weise leben die alten metaphysischen Bestimmungen des
Wesens der Wahrheit, leben άλήθεια und adaequatio bei Nietzsche fort —
nun allerdings, in konsequenter Umkehrung des Platonischen Denk-Gebäu-
des, im Rahmen eines in sich gestaffelten Schein-Gefüges. 429
„Wahrheiten sind Illusionen", bemerkt Nietzsche in seiner im folgenden
zu besprechenden Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen
Sinne" 430 , weil Denken und Sein für ihn dasselbe sind — aber dies in ganz
anderer Weise als Parmenides meinte: N u r dort nämlich, wo es dem Werden
entzogenes, gleichwohl begreifbares Sein an sich gibt, kann es für Nietzsche
Wahrheit, das meint für ihn nämlich: absolute Wahrheit geben — aber das
uns zugängliche Sein ist nicht dem Werden entzogen, im Gegenteil: in ihm
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 101

allein vollzieht sich untergründig das — niemals an sich vorhandene —


W e r d e n . Das von uns als W a h r h e i t denkend vorgestellte Sein ist bloßer
Anschein, in dem und an dem m o m e n t h a f t der tiefste Schein, das W e r d e n ,
aufscheint, als welches auch, im Abstoß von den gestalthaften Vorstellungen
der Welt in jenem bloßen Fluß der dumpfen E m p f i n d u n g in der Zeit
zugänglich ist, der indes zu solchen festen Gestalten gefügt werden muß,
weil das „ L e b e n " zu seinem Vollzug auf Begreifbares, auf die Illusion des
Seins mithin, angewiesen ist. U m fortschreiten zu können, muß es im
eigenen Fortriß Halt gewinnen, muß es sich allererst selbst beständigen.
So kann eine vorläufige Antwort auf die Frage lauten, w a r u m das reine
W e r d e n der Illusion gefügter Einheiten bedarf, w a r u m der Glaube an
Identitäten und damit an Logik f ü r uns nötig ist, w a r u m somit das
„ , u n l o g i s c h e [ . . . ] C e n t r u m [ . . . ] ' der W e l t " , dessen Erkenntnis paradoxer-
weise das Logische „als Ziel" 4 3 1 hat, die Logik hervorbringt — denn Logik
wie Wissenschaft sind als P r o d u k t e des Intellekts ebenfalls „eine μ η χ α ν ή des
Willens" 4 3 2 . U n d weil die Frage nach der Logik die Frage nach der Sprache
ist — „ D i e Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Sprache", bemerkt
Nietzsche im S o m m e r / H e r b s t 18 7 3 433 —, da die E r z e u g u n g der Identität,
das „Gleichsetzen des Nichtgleichen" 4 3 4 , seiner Ansicht nach im Begriff
statthat — auch ist die G r u n d b e d e u t u n g von λ ό γ ο ς , wie erwähnt, „ R e d e "
—, so hat dieses D e n k e n im Hinblick auf die Möglichkeit bzw., wie f ü r
Nietzsche feststeht, auf die Unmöglichkeit der Ubereinstimmung von Sache
und Erkenntnis und den gerade dadurch ermöglichten Vollzug des Werdens
die Sprache und ihr Verhältnis zum Denken in die Frage zu stellen.

8. „ Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873)

45 Jahre vor Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus", im


S o m m e r 1872/Anfang 1873, notiert Nietzsche: „ D e r Philosoph in den
N e t z e n der S p r a c h e eingefangen." 4 3 5 D u r c h d a c h t hat er diese Kritik an
der Metaphysik in seiner zurückgehaltenen Schrift „ U e b e r W a h r h e i t und
Lüge im aussermoralischen Sinne" vom Juni 1873, deren „sprachphilosophi-
sche [ . . ·] V o r a u s s e t z u n g e n " Karl Schlechta zufolge „im ganzen späteren
W e r k e [ . . . ] gültig geblieben sind." 436
Ebenso wie die u n g e f ä h r ein halbes Jahr f r ü h e r verfaßten Notizen f ü r
Vorlesungen über Rhetorik 4 3 7 ist die Schrift „ U e b e r W a h r h e i t und Lüge im
aussermoralischen Sinne" wesentlich von einem Buch eines mehr oder
minder unbekannten zeitgenössischen Sprachwissenschaftlers beeinflußt
w o r d e n , von dem 1. Band des schließlich zweibändigen Werkes „ D i e
Sprache als Kunst", das von Gustav Gerber 4 3 8 verfaßt worden ist. (Der erste
102 Voraussetzungen

Band ist 1871 veröffentlicht worden, der zweite, von Nietzsche nicht mehr
zur Kenntnis genommene Teil im Jahre 1874, gleich dem vorhergehenden in
Bromberg.) So ergeben sich die teilweise bis in die wörtlichen
Formulierungen hineinreichenden Ubereinstimmungen zwischen den
Überlegungen von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne"
und vor allem dem 3. Abschnitt („Verhältniss des Rhetorischen zur
Sprache" 439 ) der Rhetorik-Aufzeichnungen, an dessen Ende im übrigen auf
Gerbers Werk verwiesen wird 440 , im wesentlichen aus beiden Texten
gemeinsamen Ubernahmen der Hauptpunkte von Gerbers Sprachphiloso-
phie — das haben erst jüngst unabhängig voneinander Anthonie Meijers und
Martin Stingelin herausgearbeitet 441 . Doch gilt in diesem Falle Ähnliches wie
f ü r Nietzsches Verhältnis zu dem seinerzeit gleichfalls weitgehend
unbekannten African Spir (siehe Seite 33) — wie im übrigen auch für die
Beziehung zu Johann Carl Friedrich Zöllner, dessen Buch „Uber die Natur
der Kometen, Beiträge zur Geschichte und Theorie der Erkenntnis" (vgl.
S. 24) ebenfalls nicht ohne Einfluß auf den hier in Rede stehenden Aufsatz
geblieben ist: Gerber konnte nur darum auf Nietzsche einen so großen
Einfluß gewinnen, weil der Denker hier auf spachphilosophischem Felde
seine eigene erkenntnistheoretische Grundposition entfaltet sah. Wie bei
Lange steht nämlich auch bei Gerber die Auffassung im Mittelpunkt, daß die
Welt immer eine Welt für uns ist: „des Menschen Geist und des Menschen
Welt sind nicht der Geist und die Welt, sondern sein Geist und seine Welt; —
aus dieser Welt kann er nicht heraus", lautet die erkenntnistheoretische
Grundthese von „Die Sprache als Kunst" 4 4 2 , aus der sich dann die von
Nietzsche aufgenommenen sprachphilosophischen Haupt-Thesen Gerbers
über das am Nervenreiz-Modell aufgewiesene metaphorische Wesen der
Sprache und deren ursprünglichen Kunstwerk-Charakter ergeben. Bildet
aber jene erkenntnistheoretische Ubereinstimmung die Basis, den „ G r u n d "
f ü r Nietzsches Übernahmen der Gerberschen Gedankengänge, so wird
damit auch die Grenze einer Abhängigkeiten nachspürenden positivistischen
Fragestellung deutlich: N u r die spezifische Ausgestaltung eines denkeri-
schen Ortes gerät einer solchen Fragehinsicht in den Blick; die Ortschaft
selbst dieses Ortes, die Grundposition eines Denkers, die Tatsache, daß er
von ganz bestimmten Grundannahmen ausgeht, vermag eine solche
Fragestellung — entgegen ihrem Vermeinen — nicht zu befragen, stellen
diese doch umgekehrt die Voraussetzung der Übernahmen dar. Sie ergeben
sich aus den geschichtlich bedingten Denk-Möglichkeiten des Denkers
selbst, in die er sich geworfen sieht. Die Beobachtung, daßein Denker etwas
in sein Werk übernommen hat, ist mithin letztlich weitaus weniger
bedeutsam, als jene, wie etwas übernommen, welche Ausformung es in
seinem W e r k gefunden hat.
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 103

„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne": Der Titel


besagt, daß in dieser Schrift Wahrheit und Lüge nicht als moralische
Phänomene thematisiert werden sollen. Insofern sie nämlich als solche ihren
O r t innerhalb der Weltauslegung des menschlichen Intellekts haben, ist die
Frage nach der moralischen Wahrheit oder Unwahrheit jener nach der
Wahrheit des menschlichen Intellektes, nach der Wahrheit unserer
Erkenntnis überhaupt nachgeordnet. „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" — das meint so, zumindest vorläufig, „Wahrheit
und Lüge physiologisch", wie es in einem Notat aus der Entstehungszeit
dieser Schrift heißt. 443 (Die Kontinuität seiner erkenntnistheoretischen
Überlegungen wird deutlich: In jenem auf S. 4 f. interpretierten Brief an
Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868 hatte Nietzsche seine
diesbezüglichen Schlüsse aus den „einschlägigen Untersuchungen, vor-
nehmlich der physiologischen seit K a n t " mitgeteilt. Auch hier sucht er f ü r
seine metaphysischen Gedankengänge — in vorliegendem Fall über die
begriffliche Unfaßbarkeit des metaphysisch verstandenen „Lebens" —
wieder Stützen in biologischen Forschungen.)
Wir kennen bereits Nietzsches pragmatische Auslegung des menschli-
chen Intellekts als ό ρ γ α ν ο ν oder μ η χ α ν ή des Willens zum Leben (siehe
Seite 90 f.) — in Übereinstimmung damit spricht er in diesem Text, der
unausgesprochenerweise Schopenhauer mit Darwin, jenen Willen zum
Leben mit dem struggle for life, zusammenliest, davon, daß der menschliche
Intellekt „ n u r als Hülfsmittel den unglücklichsten delikatesten vergänglich-
sten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten" (1,
370): Sein Zweck ist das Zum-Leben-Verführen, seine „allgemeinste
W i r k u n g " darum „Täuschung". Dies aber in vierfacher Hinsicht:
Zunächst nämlich ist der Intellekt im „Kampf um die Existenz" ein
Mittel zur Erhaltung des Individuums, das seine Hauptkräfte in der
Verstellung entfaltet. Es erreicht im Menschentier notgedrungen seine
größte Stärke: wegen seiner Körperschwäche — es besitzt weder Hörner
noch ein scharfes Raubtiergebiß — muß es mit Geisteskraft sein Überleben
zu sichern versuchen. 444 Nietzsche deutet somit bereits jetzt 445 den Geist als
Mittel der Kompensation f ü r einen körperlichen Mangel und den Menschen
als „das n o c h n i c h t f e s t g e s t e l l t e T h i e r " 4 4 6 , als das Tier, das nur in
geringem Maße instinktgebunden, nämlich auf bestimmte Möglichkeiten der
Daseinsverhaltung festgelegt ist.
Täuschung aber ist der Intellekt auch in einem zweiten uns bekannten
Sinne: Die Menschen sind für Nietzsche
tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr A u g e gleitet nur auf der
Oberfläche der D i n g e herum und sieht „ F o r m e n " , ihre E m p f i n d u n g führt
nirgends in die Wahrheit, sondern b e g n ü g t sich Reize zu e m p f a n g e n und
104 Voraussetzungen

gleichsam ein tastendes Spiel auf dem R ü c k e n der D i n g e zu spielen.


(1,370)
Das Ding, wie es an sich selbst ist, bleibt dem Menschen unzugänglich, was
er wahrnimmt, ist nur ein Ding für ihn, d. h. Nervenreize, die, wie Nietzsche
zunächst bemerkt, einer Relation jenes „Dinges an sich" zum Körper
entsprechen, um dann später einzuschränken:
V o n d e m Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns,
ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten A n w e n d u n g des
Satzes v o m Grunde. (1, 372)
(Diese Einschränkung geschieht ganz im Sinne Kants, dessen Begriff des
„Dinges an sich", wie erinnerlich, die Crux in sich beschließt, gedacht
werden zu müssen — will man nicht wie der englische Sensualismus davon
ausgehen, als gebe es nicht nur in Rücksicht auf unsere Erkenntnis, sondern
überhaupt und an sich gar nichts weiter als unsere Vorstellungen —, auf der
anderen Seite aber als solcher gar nicht gedacht werden zu können.)
Doch eben dies, daß ihm die „Dinge", wie sie „wirklich" „sind",
verschlossen bleiben, verhehlt sich der Mensch — dritte Täuschung, welche
einen „mit dem Erkennen und Empfinden verbundene[n] H o c h m u t h "
(1, 370) hervorbringt, der seinerseits wiederum, vierte Täuschung, die
Menschen über den „Werth des Daseins" (ebd.) in Illusionen wiegt:
so meint gar der stolzeste Mensch, der Philosoph, v o n allen Seiten die
A u g e n des Weltalls teleskopisch auf sein H a n d e l n und D e n k e n gerichtet z u
sehen (1, 369 f.),
während Nietzsche über den menschlichen Intellekt nur zu bemerken weiß:
es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; w e n n es wieder mit ihm vorbei ist,
wird sich nichts begeben haben. D e n n es giebt für jenen Intellekt keine
weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern
menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger [der ihn in seinem
Leben für sein Leben hervorgebracht hat] nimmt ihn so pathetisch, als ob
die A n g e l n der W e l t sich in ihm drehten. (1, 369)
Im Rückblick bestätigt sich unsere Behauptung — die Rede vom „Kampf um
die Existenz", vom Menschen als „klugen T h i e r " spricht da gerade auch in
ihrem Bezug zur philosophischen Tradition (animal rationale!) eindeutig —,
daß Darwin es war, der bei Nietzsche nach Kant, nach Feuerbach den
Menschen endgültig, wie er im Herbst 1885—Herbst 1886 bemerkt 447 , „aus
dem Centrum ins x " rollen ließ, ihm die Würde genommen hat, die ihm die
metaphysische Tradition zugesprochen hat.
Wie wir gesehen haben, konnte nämlich Kant darum am traditionellen
Begriff der Wahrheit festhalten, weil er den menschlichen Intellekt als ewig,
d. h. im Grunde als von Gott geschaffen auffaßte: In ihrer „Relativität" sind,
so sagten wir, bei Kant die apriorischen Strukturen absolut, für die
Menschen aller Zeiten und Örter gültig.
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 105

Anders Nietzsche, für den aus dem Darwinschen Ansatz hervorgeht, daß
sich im „ K a m p f um die E x i s t e n z " gemeinsam mit dem menschlichen
Intellekt auch die „ W a h r h e i t e n " verändern:
Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr
halte. 448 Alle unsre Verehrung bezieht sich auf Qualitäten, die wir für ewig
halten: moralisch, künstlerisch, religiös usw. 449 ,
notiert sich Nietzsche im Zeitraum S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1873. W i r d
damit in bestimmter Hinsicht die Überlegung Kants, daß die W e l t unserer
Erfahrung nicht dieselbe sein kann wie die „wirkliche" Welt, nicht nur
untermauert, sondern gar noch verschärft — in „Jenseits von Gut und B ö s e "
wird Nietzsche schließlich ausführen:
es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische
Urtheile a priori möglich?" durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist
der Glaube an solche Urtheile n ö t h i g ? " — nämlich zu begreifen, dass
zum Zweck der Erhaltung von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr
g e g l a u b t werden müssen; weshalb sie natürlich noch f a l s c h e Urtheile
sein könnten! 450 —,
so scheint sich doch in anderer Hinsicht hinwiederum mit einer solchen
„ H i s t o r i s i e r u n g " des Kantischen Ansatzes die Möglichkeit zu eröffnen, daß
inzwischen die aus der Materie „sehr allmählich" entstandenen „ F o r m e n
des Intellekts [ . . . ] streng der W a h r h e i t adäquat sind." 4 5 1 Auch andere
N o t i z e n belegen, daß Nietzsche in der Zeit S o m m e r 1 8 7 2 — A n f a n g 1 8 7 3
einen solchen Ausweg aus der ihm durch Kant vermittelten Skepsis — „In
dieser Skepsis kann niemand leben." 4 5 2 , bemerkt er — gesucht hat:
Unsre Sinne aber sind das P r o d u k t d e r M a t e r i e u n d d e r D i n g e ,
ebenso u n s e r G e i s t . Ich meine: man muß von den N a t u r w i s s e n -
s c h a f t e n aus zu einem D i n g an s i c h kommen. 453
K u r z e Zeit vorher hat er in dieser Richtung schon ähnliche Überlegungen
angestellt, die auf jenem bereits einläßlich behandelten Grundgedanken
basieren, daß „Empfindung die einzige kardinale Thatsache [ist], die wir
kennen":
Die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze heißt doch: Empfindung und
Gedächtniß ist im Wesen der Dinge. Daß sich ein Stoff, bei der Berührung
mit einem anderen, gerade so entscheidet, ist Gedächtniß und
Empfindungssache. Irgendwann hat er es g e l e r n t , d. h. die Thätigkeiten
der Stoffe sind g e w o r d e n e G e s e t z e . Dann aber muß die
Entscheidung gegeben sein durch Lust und Unlust.
Wenn aber Lust Unlust Empfindung Gedächtniß Reflexbewegung zum
Wesen der Materie gehört, dann r e i c h t d i e E r k e n n t n i ß d e s
M e n s c h e n viel t i e f e r in's W e s e n der Dinge.454
„ W e n n Gedächtniß und Empfindung das M a t e r i a l der Dinge w ä r e n ! " 4 5 5 ,
ruft Nietzsche beschwörend aus — dann wäre ein res und intellectus
Gemeinsames, ein ihre adaequatio Gewährleistendes gefunden: An die Stelle
106 Voraussetzungen

der Platonischen Idee des Guten, die dann vom christlichen Schöpfergott
abgelöst wurde, könnte das „Naturgesetz" treten:
D i e g a n z e L o g i k in der N a t u r löst sich dann auf in ein L u s t - und
U n l u s t system. J e d e s greift nach der Lust und flieht die Unlust, das sind
die ewigen N a t u r g e s e t z e . 4 5 6
Das Naturgesetz das von der Naturwissenschaft gefundene „Ding an sich"
— das erinnert an die gleichfalls im Piatonismus gründende Position
Goethes 457 , der in seinen Naturgesetzen ahnend die Gottheit, das „Eine an
sich" 4 5 8 , erschaut.
D a ß die N a t u r in allen Reichen g l e i c h v e r f ä h r t : ein G e s e t z , das f ü r
den Menschen gilt, gilt f ü r alle N a t u r . D e r Mensch wirklich ein
Mikrokosmos.459,
diese Ausführung könnte auch von Goethe stammen. Doch in dieser
versuchten Nähe muß Nietzsche seine Ferne von Goethes denkerischem Ort
erkennen. Jene Stunde ontotheologisch gefügter Entsprechung von
menschlichem Geist und Welt ist vorbei: „was ist für uns überhaupt ein
Naturgesetz", fragt Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" (2, 379 f.) und gibt als Antwort:
es ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen W i r k u n g e n d. h. in
seinen Relationen zu anderen N a t u r g e s e t z e n , die uns wieder nur als
Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen immer nur
wieder auf einander und sind uns ihrem W e s e n nach unverständlich durch
und d u r c h ; nur das, w a s wir hinzubringen, die Zeit, der R a u m , also
Successionsverhältnisse und Zahlen sind uns wirklich d a r a n bekannt. [ . . . ]
Alle G e s e t z m ä s s i g k e i t , die uns im Sternenlauf und im chemischen Process
so imponirt, fällt im G r u n d mit jenen E i g e n s c h a f t e n z u s a m m e n , die wir
selbst an die D i n g e heranbringen, so dass wir damit uns selber imponiren.

Nietzsches Entwurf einer Entsprechung von Geist und Welt zergeht somit
an der neuzeitlichen Voraussetzung der bei ihm nunmehr fessellos
gewordenen und damit erst zu sich selbst gekommenen Anthropomorphic
aller Erkenntnis, die sich derweise (noch einmal) als eine Nietzsches Willkür
entzogene, von ihm abzutragende Voraussetzung der abendländischen
Geschichte erweist. Allein deswegen kann Nietzsche später zu behaupten
wagen, „die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte" 4 6 0 vorauszusehen,
die Geschichte des Nihilismus nämlich: Nun da Gott tot ist, muß Nietzsche,
müssen wir, die wir seine Mörder sind, ohne es zu wissen, die Strafe für den
Sündenfall Piatons übernehmen, einen transzendenten Gott für die
Wahrheit einstehen zu lassen:
„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt"46·.
Das dieses „Nichts ist wahr" die Grundvoraussetzung der Nietzscheschen
Philosophie ist, bezeugt auch unser Text, wenn er folgendes bemerkt:
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 107

Das Uebersehen des Individuellen und Wirklichen giebt uns den Begriff,
wie es uns auch die Form giebt, wohingegen die Natur keine Formen und
Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns
unzugängliches und undefinirbares X. Denn auch unser Gegensatz von
Individuum und Gattung ist anthropomorphisch und entstammt nicht dem
Wesen der Dinge, wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht
entspricht: das wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche
ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil. (1, 374) 462
Wenn Nietzsche es auch nicht zu sagen wagt, auch gar nicht sagen darf
gemäß seiner Voraussetzung, daß alle Erkenntnis anthropomorphisch ist, so
beruht doch seine gesamte folgende Argumentation auf eben jener
geschichtlich begründeten Erkenntnis „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt"
(vgl. auch schon S. 96) 463 . Denn bei Nietzsche, e r s t bei Nietzsche wagt sich
das Denken jene bei Descartes gesetzte Voraussetzung — Nietzsche
gemäßer wäre es zu sagen: jene bei Descartes zum ersten Male
aufscheinende, indes immer schon geübte Grundvoraussetzung des
menschlichen Handelns —, daß der Mensch als Subjekt „das Maß aller
Dinge sei" 464 , in seiner ganzen Radikalität zuzudenken, einschließlich der
Erkenntnis, daß jedwede Maßvorgaben und d. h. Bindungen gewährende
„ T r a n s z e n d e n z " nichts als eine menschliche Setzung ist. Dies mit der
Konsequenz, daß der Mensch zunächst — jener Satz ist dem heimatlosen
Schatten des Zarathustra, nicht diesem selbst in den Mund gelegt —,
bindungslos im Bodenlosen schwebt — die Subjektivität ist, wie wir gesehen
haben (Seite 16 ff.), derart umfassend, daß sich mit dem Objekt auch das
Subjekt in ein unendliches Chaos lebendiger „Individuen" auflöst 465 —, ehe
er sich denn jener Voraussetzung endlich in der Weise übereignet, daß er
sich nunmehr entschlossen an selbstgesetzte Bindungen bindet, er somit die
bloße „Freiheit wovon" des „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" in eine
„Freiheit w o z u " kehrt. Und zwar an Bindungen bindet, die gebunden, d. h.
gesetzt sind im Hinblick auf den vielleicht ungebundenen, für uns aber
immer schon gebundenen Willen zur Macht. In ihm nämlich sucht sich
Nietzsche schließlich das Wesen dieser Voraussetzung zuzudenken,
gleichsam die Voraussetzung dieser Voraussetzung, in der für uns, die wir
ihn nur von innen her und nicht in seiner ungefähren Proteus-Natur
erkennen können, sich der Wille zur Macht nunmehr unverhüllt als
verhüllter, weil sich in seinem An-Sich selbst verhüllender Verhüller dieses
Auslegungsgeschehens, das wir die Welt nennen, 466 zu erkennen gibt. Denn
das muß — späteren Ausführungen vorgreifend — deutlich gesagt werden:
Keineswegs ist es so, daß nach der Formulierung dieses Satzes „Nichts ist
wahr, Alles ist erlaubt" nunmehr alles „ w a h r " ist, kann doch richtig in der
Folge nur ein solches Denken genannt werden, daß sich nach diesem
Grund-Satz richtet, als welcher die Grundlage jedweder per se Wahrheit
108 Voraussetzungen

erheischender Aussage voraussetzt. „Wahr" ist demnach nur ein solches


Denken, das einbekennt, daß nichts, eingeschlossen es selbst, wahr ist, daß
vielmehr alles scheinbar oder begriffsdichterisch ist — wie dies, nach
Nietzsche, etwa die Kunst tut.467 Zudem hat sich das Denken, wenn es
wissenschaftlichen Ansprüchen genügen will, zu bemühen, so weit
hinabzudenken, daß es auf, wie wir formelhaft fassen wollen, (zumindest
vorläufig) notwendig zu Glaubendes stößt. Notwendig zu Glaubendes —
dies Nietzsches neue Definition der Wahrheit, 468 mit der, wie gesagt, die
Ausweisbarkeit der Philosophie vor der Wissenschaft angesprochen ist.
Voraussetzung ist jedoch, daß — wir kennen dieses Notat Nietzsches aus
dem Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 bereits (siehe Seite 39 ff.) — in
Philosophie wie Wissenschaft „ d o r t w i e h i e r [ . . . ] g l e i c h g e d a c h t
w i r d " , gleich gedacht wird nämlich in der Art des Denkens, das für ihn in
der Tat bei beiden künstlerisch, d. h. schöpferisch, weil in beiden Fällen ein
Bilderdenken ist. Indes unterscheiden sich beide im Grad der Schöpferkraft.
Die Philosophie hat infolge der Größe, der Schönheit und Erhabenheit ihrer
Bilder — die Wissenschaften zerfallen in festgestellte Einzelerkenntnisse —
einen höheren ästhetischen Wert und d. h. einen höheren Lebenswert, 469 da
das Leben zu seinem Vollzug vorausgesetzter scheinhafter Ganzheiten,
Werte, wie Nietzsche schließlich sagen wird, bedarf. 470 Und die
Fruchtbarkeit für das Leben entscheidet zuletzt: dies das letzte und
wichtigste Kriterium der neuen Bestimmung der Wahrheit, so daß man
formelhaft fassen kann: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr". Es ist das
bekanntlich — nicht zuletzt kündet der Beginn des Vorwortes zur
2. Unzeitgemässen Betrachtung davon — auch der Wahrheitsbegriff des
von Nietzsche zeitlebens — selbst und gerade dann, wenn er ihn ironisiert —
bewunderten Goethe. Die Verwandtschaft rührt daher, daß beide — obzwar
Goethe, wie wir gezeigt haben, nur in höchst vordergründiger Sichtweise —
auf dem Boden der Leibnizschen Metaphysik stehen, die das Leben
monadologisch als sich vorstellend-herstellenden Willensprozeß denkt.
Anders als sie kennt Nietzsche jedoch keine prästabilierte göttliche
Harmonie mehr, der Mensch muß sich bei ihm die Bindungen, an die er sich
bindet, selber schaffen. (Und erst nach der endgültigen Abtragung auch des
letzten Restes eines transzendenten Bezuges mag sich für Nietzsche in der
Ferne zu Goethe wieder eine Nähe ergeben: Das Fabelwerden von wahrer
und scheinbarer Welt ist der — von Nietzsche selbst immer wieder in Frage
gestellte — Versuch, ein neues Weltvertrauen im Durchgang durch die
Kantische Irritation und nicht, wie Nietzsche zeitweilig, in jenen oben
diskutierten Aufzeichnungen, versucht war, im Gang hinter sie zurück zu
gewinnen.) —
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 109

W o h e r aber rührt, fragt Nietzsche in jener Schrift weiter, der Trieb zur
Wahrheit, wenn doch der Mensch diesen ihn täuschenden Intellekt zunächst
vor allem zur Verstellung benutzt, um als Antwort „eine Genealogie des
Wahrheitstriebes aus dem Verstellungstriebe und Fälschungstrieb selbst zu
erweisen." 471 Nietzsches augenscheinlich in Anknüpfung an Hobbes,
Rousseau und Schopenhauer 4 7 2 gegebene Antwort lautet nämlich: Weil der
Mensch „aus Noth und Langeweile gesellschaftlich und heerdenweise
existiren will" — bezeichnend, daß auch für Nietzsche der ursprüngliche
Mensch der Einsame ist—, „braucht er einen Friedensschluss und trachtet
darnach dass wenigstens das allergröbste bellum omnium contra omnes aus
seiner Welt verschwinde." (1, 371) Der Abschluß eines „Gesellschaftsvertra-
ges" 473 erweist sich so als Voraussetzung für das Entstehen von Kultur —
und nur als ein solches Mittel zur Kultur ist der Staat f ü r Nietzsche
überhaupt gerechtfertigt. 474 Zu den Bestimmungen des Vertrages rechnet
darum nicht zuletzt „eine gleichmässig gültige und verbindliche
Bezeichnung der Dinge" — das Problem des Sprachursprungs behandelt
diese Schrift nicht 475 — und diese „Gesetzgebung der Sprache giebt auch die
ersten Gesetze der Wahrheit." Jetzt erst ist die Möglichkeit der
„eigentlichen", der moralischen Lüge gegeben, insofern nämlich die
Verpflichtung besteht, einen roten Stein auch rot zu nennen: Die
sprachliche Gesetzgebung legt das Fundament der Moral. Sprachliche
„Conventionen" (1, 371) sind derweise moralische Konventionen. Zugleich
aber wird mit der Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen, der Glaube erzeugt,
„daß auch die Natur gegen uns wahr sein muß. Erkenntnißtrieb beruht auf
dieser Übertragung.", ist in den Notizen vom Sommer 1872—Anfang 1873
zu lesen. 476 Jene bereits angesprochene (S. 96) „moralistische Vertrauens-
seligkeit (auf ein essentielles Wahrheits-Princip im Grund der Dinge)" wird
erzeugt.

So lehrt diese genealogische Besinnung — von Nietzsche später mit


Meisterschaft gehandhabtes Instrument zur Entlarvung überkommener
Wahrheiten als Illusionen —, daß die Menschen nicht etwa darum einander
auf die Wahrheit verpflichten, weil sie, wie Stiftungsmythen der Moral gerne
glauben machen möchten, aus Wahrheitsliebe das „Betrogenwerden"
fliehen, sondern weil sie „das Beschädigtwerden durch Betrug" (1, 372)
fürchten. Der Durchschnittsmensch nämlich begehrt allein „die angeneh-
men, Leben erhaltenden Folgen der Wahrheit; gegen die reine folgenlose
Erkenntniss ist er gleichgültig, gegen die vielleicht schädlichen und
zerstörenden Wahrheiten sogar feindlich gestimmt." (Ebd.) Ganz anders
Nietzsche, der zum Immoralisten aus Moralismus wird, die „Wahrheit" aus
Wahrheitsstrenge abschafft, um endlich — so indes erst uneingeschränkt der
110 Voraussetzungen

späte Nietzsche — dem in seinen Augen erkrankten Leben der Gegenwart


zur Gesundung zu verhelfen. 477
Die Frage nach dem Charakter der außermoralischen Wahrheit hat sich
so mittlerweile in eine Frage nach dem Wesen der Sprache gewandelt:
„decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der
adäquate Ausdruck aller Realitäten?", fragt Nietzsche (1, 372) und stellt
damit die längt obsolet gewordene sprachphilosophische Grundfrage des
siebzehnten Jahrhunderts 4 7 8 : Seit dem jungen Herder kreist das Denken
zumindest der deutschen Sprachphilosophie um die Ausdrucksfunktion der
Sprache, um die Frage, ob und wie sich das Individuum im Allgemeinen der
Sprache sagen kann. Doch noch deren pessimistische Teilantwort —
„Individuum est ineffabile" — radikalisiert Nietzsche, wenn er im Ausgang
von jener alten Frage zu der weite Kreise der Moderne beherrschenden
Erkenntnis vorstößt, daß die Wörter letztlich nichts als sich selbst
bezeichnen, da sie in Wahrheit tautologisch sind, insofern sie das, was sie
bezeichnen, selber allererst schaffen (1,372): „die Tautologie, [ . . . ] die
einzig zugängliche Form der Wahrheit", zeichnet sich Nietzsche auf. 479
Denn: „Was ist ein W o r t ? " , fragt er in der Schrift „Ueber Wahrheit und
Lüge" und gibt als Antwort: „Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten.
Von dem Nervenreiz" — Beispiel: „ h a r t " — „aber weiterzuschliessen auf
eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und
unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde", ist doch „ h a r t " „eine
ganz subjektive Reizung". Und dieser Nervenreiz wird dann übertragen in
ein Bild, ζ. B. das des „harten Steines". Übertragung aber heißt lateinisch
translatio, griechisch μ ε τ α φ ο ρ ά , weswegen Nietzsche im Falle dieses Bildes,
in Ausweitung des Sprachgebrauches der Rhetorik von einer Metapher
spricht. Und er nennt diesen Vorgang der Übertragung willkürlich (1, 372)
oder schöpferisch — dies die beiden gegensätzlichen Möglichkeiten, die
Erkenntnis zu bewerten, daß „das Verhältniss eines Nervenreizes zu dem
hervorgebrachten Bilde [ . . . ] an sich kein nothwendiges [ist]" (1, 378),
ebensowenig wie die Nachformung des Bildes in der Sphäre des Lautes, mit
der die zweite Metapher vorliegt. Streng genommen muß man sie sogar als
die dritte bezeichnen, liegt doch die erste Übertragung bereits im Falle
derjenigen des „räthselhaften X des Dings an sich" (1, 373) — wenn man es
denn annimmt — in einen Nervenreiz vor.
Wenn Wahrheit der Sprache aber heißen soll, daß sich Bezeichnungen
und Dinge decken, daß sie adäquat sind, so zwar, daß bei „der Genesis der
Sprache [ . . . ] der Gesichtspunkt der Gewissheit bei den Bezeichnungen
allein entscheidend gewesen wäre" (1, 372), dann haben diese Überlegungen
zum Ergebnis, daß Sprache unwahr ist, weil sie sich im Wesen als
metaphorisch erweist 480 :
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 111

Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von
Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als
Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar
nicht entsprechen. (1, 373)
U n d wenn man weiter bedenkt, daß, wie Nietzsche in dieser Schrift zeigt,
die mit dem Abschluß eines „Gesellschaftsvertrages" einhergehende
Gesetzgebung der Sprache auch die moralischen Gesetze der Wahrheit gibt,
dann heißt das, daß diese in ihrem Wesen nur Unwahrheit sein können, weil
bereits die außermoralische Wahrheit nichts als Illusion oder Lüge ist. Denn
jetzt gibt es keinen Garanten mehr f ü r jene Gewißheit, die Nietzsche
erheischt: Die Zeit ist gekommen, „ w o wir", lautet es in einer Aufzeichnung
v o m N o v e m b e r 1887—März 1888,
dafür b e z a h l e n müssen, zwei Jahrtausende lang C h r i s t e n gewesen zu
sein: wir verlieren das S c h w e r g e w i c h t , das uns leben ließ, — wir
wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die
e n t g e g e n g e s e t z t e n Werthungen, mit dem gleichen Maaße von
Energie, mit dem wir Christen gewesen sind [ . . . ] Jetzt ist Alles durch und
durch falsch, „ W o r t " [ . . . ] «i
„ W a s also ist Wahrheit?", fragt Nietzsche und in „Ueber Wahrheit und
L ü g e " in diesem außermoralischen Sinne und antwortet:
Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien 482 , Anthropomorphis-
men kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und
rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach
langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken:
die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie
welche sind, [ . . . ] . (1, 374f.)
D e n n der Standpunkt des neuzeitlichen Subjekts hat seinen Verankerungs-
punkt verloren, als welcher bei aller Verschiedenheit der jeweiligen
Perspektiven in „prästabilierter H a r m o n i e " die Übereinstimmung aller und
damit die Richtigkeit einer jeden garantierte. Ein jeder Standpunkt ist
nunmehr relativ zu sich selbst und darum — wahrscheinlich zumindest —
falsch:
Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine
Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die
Chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern
der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was
die Menschen den Ton nennen, so geht es uns allen mit der Sprache.
(1,373)
G a n z anders als der ebenfalls unter den Voraussetzungen der Philosophien
von Leibniz und Kant denkende Wilhelm von Humboldt 4 8 3 , der noch eine
„ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen der Welt und dem Menschen"
annehmen konnte, „auf welcher die Möglichkeit aller Erkenntniss der
W a h r h e i t beruht" 4 8 4 , und dies, weil er, wie Ernst Cassirer ausführt 4 8 5 , in
A n k n ü p f u n g an Spinoza und H e r d e r „den menschlichen Geist und seine
112 Voraussetzungen

Entwicklung überall hineingestellt [sieht] in ein dynamisches All-Leben der


N a t u r " , eine Anschauung, die „ihn häufig bis an die Schwelle der
Alleinheitslehre, bis zu Schellings metaphysischer Fassung der Identitätsphi-
losophie" weitergeführt habe, — ganz anders als Humboldt muß Nietzsche
darum aus der Erkenntnis, daß die Verschiedenheit der Sprachen „eine
Verschiedenheit der Weltansichten selbst" 486 ist, den Schluß ziehen,
dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten
Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen. (1, 373)
Uberhaupt scheint Nietzsche, wie er an späterer Stelle des Textes deutlich
herausteilt,
die richtige Perception — das würde heissen der adäquate Ausdruck eines
Objekts im Subjekt — ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei
absolut verschiedenen [das meint: unvermittelten] Sphären wie zwischen
Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen
Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e t i s c h e s Verhalten, ich meine
eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in
eine ganz fremde Sprache (1, 378)
— zunächst in einen Nervenreiz, dann in ein Bild und schließlich in einen
Laut:
wie f ü r den Dramatiker W o r t und Vers nur das Stammeln in einer fremden
Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute, so ist der
Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und
wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das
Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine
metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene
Sphäre und Sprache. So schaute Thaies die Einheit des Seienden: und wie
er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser! 487 ,
führt Nietzsche in diesem Sinne in seiner Schrift über die Vorsokratiker aus.
Für welche Übertragung es, wie in „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" zu lesen ist (1, 378),
jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und
Mittelkraft bedarf
denn
[v]on dem Nervenreiz [ . . . ] weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser
uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung
des Satzes vom Grunde.
D a ß nämlich „das Eine die Ursache des Andern ist", bedeutet — wie die
Formen von Raum und Zeit 488 — schon eine Übertragung, „ e i n e
M e t a p h e r , e n t l e h n t a u s W i l l e u n d T h a t " , als der, wie es im
Sommer 1872—Anfang 1873 heißt 489 , ,,einzige[n] Kausalität, die uns
bewußt ist." So bezeichnet es Nietzsche als ein „Urphänomen",
den im Auge empfundenen Reiz auf das Auge zu beziehn, das heißt eine
Sinneserregung auf den Sinn zu beziehn. An sich gegeben ist ja nur ein
Reiz: diesen als Aktion des Auges zu empfinden und ihn sehen zu nennen
ist ein Kausalitätsschluß. E i n e n R e i z a l s e i n e T h ä t i g k e i t z u
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 1 13

empfinden, etwas Passives aktiv zu empfinden ist die erste


Kausalitätsempfindung, d. h. die erste E m p f i n d u n g bringt bereits diese
Kausalitätsempfindung hervor. 4 9 0
Unsre von der Kausalität geprägte Empfindung unterstellt so dem Reiz-
oder Geschehenskomplex des „Sehens" ein Subjekt, mit der Konsequenz,
daß dieser Komplex in Täter und Tun, in Wille und T a t gespalten wird,
obwohl — dies die von Nietzsche im Ausgang von Schopenhauer immer
erneut vorgebrachte Kritik 491 — der Wille selber bereits die T a t ist.
Diese Spaltung aber erfolgt aus der Voraussetzung, daß der Mensch frei
ist und damit für sein T u n verantwortlich zeichnet. Gerade diese
moralisch-metaphysische Voraussetzung aber leugnet Nietzsche bereits in
seinem „pseudometaphysischen" Ansatz der Frühzeit, wonach alles, was ist,
ein Organ des allumfassenden Willens zur Beförderung seines Erkenntnis-
vollzuges darstellt: „Wie wir handeln, wie wir denken — alles nur Prozeß
und nothwendiger." 4 9 2 Doch damit wir diese Notwendigkeit vollziehen,
erzeugt der Wille, der mit unserem T u n anderes als das von uns Intendierte
bezweckt, 493 den T r u g der Freiheit:
D e r g a n z e P r o z e ß der Weltgeschichte b e w e g t sich so, als ob
W i l l e n s f r e i h e i t und Verantwortlichkeit existire. Es ist dies eine
n o t h w e n d i g e moralische V o r a u s s e t z u n g , eine Kategorie unseres H a n -
delns. 4 9 4
Tatsächlich aber tut der „Mensch" in jedem Augenblick nur das, was „ e r "
nicht lassen kann. Der menschliche Wille ist kein Vermögen, 4 9 5 denn die
Willensfreiheit des Menschen ist Notwendigkeit des Willens zum Leben und
die Notwendigkeit des Menschen ist die Freiheit des Lebens. Freiheit und
Notwendigkeit sind somit — siehe auch die spätere Lehre von der ewigen
Wiederkunft — für Nietzsche eines. Das aber lehrt ihn nicht zuletzt die
Erfahrung des schöpferischen Aktes. 496
So haben auch die tyrannischen Eroberer — von Nietzsche später, in
„ Z u r Genealogie der Moral", bezeichnet als „die unfreiwilligsten,
unbewusstesten Künstler, die es giebt": sie formen den „ R o h s t o f f "
Mensch 497 — keine Freiheit, anderes als Eroberer zu sein, weil sie nichts als
die Vollstrecker des Willens (der Natur — wie Nietzsche in der Frühzeit
auch sagt —) sind, zum Staate als dem Ermöglichungsgrund der Kultur zu
gelangen. Sie tragen den Staat als ihr Schicksal in sich, sie sind ihr Tun,
insofern die Freiheit die Notwendigkeit des unschuldigen Werdens ist.498
Ebendies aber leugnen der „Genealogie der Moral" zufolge die von ihnen
Unterworfenen, indem diese, die von jenen als Ausdruck des Pathos der
Distanz schlichtweg „Schlichte", d. h. „Gemeine, Niedrige", genannt
werden, die Eroberer umgekehrt als die „Bösen" verurteilen. Und sie
gründen dieses Verdikt ihrer Ressentiment-Moral, die die aristokratischen
Wertgleichungen umkehrt, auf die in der Sprache „versteinerten
114 Voraussetzungen

Grundirrthümer der Vernunft" 499 : Die Sprache nämlich sieht „alles Wirken
als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein ,Subjekt'" 500 , dem es als solchem
freisteht, dieses oder jenes zu wirken. Das aber leugnet Nietzsche schon mit
seinem Grundansatz der Frühzeit, daß Seiendes „von uns" festgestelltes
Werden ist, dem kein Subjekt-Sein zukommt, neben dem es noch etwas tut,
sondern reines Vollzugsgeschehen ist. Demzufolge muß das von uns
erdichtete Subjekt als ein zum Substrat festgestelltes Ensemble verschiedener
Kräfte, als ein „Geschehenscomplex" 501 begriffen werden.
So nennen wir, wie Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" als Beispiel anführt, „einen Menschen ehrlich;
warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt
zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen." Dagegen wendet Nietzsche ein:
Wir wissen ja gar nichts v o n einer w e s e n h a f t e n Qualität, die die Ehrlichkeit
hiesse, w o h l aber v o n zahlreichen individualisirten, somit ungleichen
H a n d l u n g e n , die wir durch W e g l a s s e n des U n g l e i c h e n gleichsetzen und
jetzt als ehrliche H a n d l u n g e n b e z e i c h n e n ; zuletzt formuliren wir aus ihnen
eine qualitas occulta mit dem N a m e n : die Ehrlichkeit. (1, 374)
Mit Goethe gesprochen, der indes die Existenz einer solchen „qualitas
occulta", eines „Wesens" annimmt: nichts als „Wirkungen werden wir
gewahr" (siehe Seite 86), Wirkungen, denen wir jedoch qua Wirkung eine
Ursache unterstellen. Aber „ ,der Thäter' ist", so haben wir gesehen, nach
Nietzsche „zum Thun bloss hinzugedichtet, — das Thun ist Alles."502 Und
mit dem Täter als Subjekt der Handlung — konsequenterweise — auch
deren Objekt, das in Nietzsches Augen selbst nichts anderes als „ein
m o d u s d e s S u b j e k t s " ist503. D . h . letztlich überhaupt die Dinglichkeit,
die wir „nur nach dem Vorbilde des Subjektes [ . . . ] erfunden und in den
Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt [haben]." 504 Das Überwindende als
Subjekt und das Überwundene als Objekt der Handlung des Überwin-
dens — „das ist nur der Schein des Überwindungsvollzuges im Lichte des
begrifflichen Denkens." 505 Wir verdoppeln, wie Nietzsche meint, das Tun,
wenn wir den Ehrlichen ehrlich sein lassen oder „sehen" auf ein „Sehendes"
zurückführen, sei doch solches „ein Thun-Thun": Wir setzen „dasselbe
Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung." 506
Dieser sprachlich in der Spaltung von Nomina = Absicht, Wille und Verba
= Tun 507 versteinerte Irrtum gibt nun aber Gelegenheit, den Täter für sein
Tun moralisch und strafrechtlich verantwortlich zu machen: dem
Verbrecher das Verbrechen anzulasten 508 sowie dem Starken die Stärke —
dem Raubvogel das Raubvogelsein — als Schuld, dem Schwachen die
Schwäche hingegen als Verdienst zuzumessen: als könnte das Lamm, wenn
es nur wollte, auch Raubvogel sein.509 So daß der in der Sprache
festgehaltene Grundirrtum der Vernunft, den Täter vom Tun zu scheiden,
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (Juni 1873) 1 15

von der Sklavenmoral für ihre Absicht der Unterdrückung der Machtvollen
benutzt wird. Zugleich aber ist er, der Gedanke der Freiheit, ein
Grundgedanke der Metaphysik — ebenso wie der genetisch damit
zusammenhängende, daß alles, was ist, sei es die ehrliche Handlung, sei es
das Blatt, — man denke an Piaton — Abbild einer unvergänglichen Idee als
seiner U r f o r m ist. Was Nietzsche insofern nicht verwundern kann, als die
Metaphysik in seinen Augen ohnehin nur der Sprache nachdenkt („wir
werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben", bemerkt
er in der „Götzen-Dämmerung" 5 1 0 ). Damit aber erweist sich die Metaphysik
in ihrem Wesen als moralisch, genauer als sklavenmoralisch, nämlich als
Moral des sinkenden, das Leben ob des Leidens an ihm zugunsten eines μετά
τ ά φ υ σ ι κ ά gelegenen Ortes moralisch verurteilenden und negierenden
Lebens (— denn auch die Immoral Nietzsches, mit der er Metaphysik und
bisherige Moral überwinden will, gibt schließlich eine Antwort auf die Frage
nach dem Wert des Lebens, als welche die Leitfrage der Moral und
Nietzsches Grundfrage ist). In diesem Sinne kann Nietzsche am 5. 10. 1887
in einem seinem Verleger nachgereichten und endlich doch noch
zurückgehaltenen Abschnitt seiner Vorrede zur „Genealogie der Moral"
sagen:

Zuletzt, daß ich wenigstens mit Einem Worte auf einen ungeheuren und
noch gänzlich unentdeckten Thatbestand hinweise, der sich mir langsam,
langsam festgestellt hat: es gab bisher keine g r u n d s ä t z l i c h e r e n
Probleme als die moralischen, ihre treibende Kraft war es, aus der alle
großen Conceptionen im Reiche der bisherigen Werthe ihren Ursprung
genommen haben (— Alles somit, was gemeinhin „Philosophie" genannt
wird; und dies bis hinab in deren letzte erkenntnißtheoretische
Voraussetzungen)511.
Wenn aber Moral und Metaphysik Nietzsches Grundprobleme, diese
hinwiederum Probleme der Sprache sind, dann bedeutet das nicht nur, daß
Nietzsche an erster Stelle die Sprache zu bedenken hat, sondern auch, daß
der Versuch einer Überwindung von lebensschwächender Moral und
Metaphysik umwillen des beständig werdenden und fortwährend sich selbst
übersteigenden Lebens die sprachlich vorgegebenen Setzungen zu
überwinden hat — ein Ansatz, bei dem Nietzsche von der nicht
unproblematischen Annahme eines vorsprachlichen, erst nachträglich in die
sprachliche Sphäre übersetzten Denkens ausgeht. In der Frühzeit seines
Philosophierens nimmt Nietzsche dabei, wie wir gesehen haben, in
Anknüpfung an Schopenhauer und dessen Begriff der Intuition ein rein
bildliches Denken an. So spricht er in der hier in Rede stehenden Schrift
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" beispielsweise von
der Gleichsetzung des Nicht-Gleichen, die der Begriff unter den
unmittelbaren Anschauungen bewirken soll (1, 374). Aber ist nicht, so fragen
116 Voraussetzungen

wir, das Nicht-Gleiche, das Besondere nur im Widerhalt des Gleichen, des
Allgemeinen? Sehen wir somit nicht bereits mit Hilfe der laut Nietzsche in
der Sprache „versteinerten Grundirrthümer der Vernunft"? Sind nicht —
wie man mit Hamann, Herder und Humboldt einwenden muß, deren
grundsätzliche Formulierungen' „gar nichts anderes besagen als die
sprachphilosophische Fassung der transzendentalphilosophischen Fundamentpro-
blematik"5n — die von Kant aufgewiesenen Verstandeskategorien
tatsächlich sprachliche Kategorien? 513 Darauf scheint Nietzsche selber zu
deuten, wenn er in der 1869/70 entstandenen Skizze „Vom Ursprung der
Sprache" 5 1 4 bemerkt: „Jedes bewusste Denken erst mit Hülfe der Sprache
möglich." 515 — es ist dies die positive Fassung der Erkenntnis: „Die
Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der
Sprache" 5 1 6 —, woraufhin er fortfährt:
Die tiefsten philosophischen Erkenntnisse liegen schon vorbereitet in der
Sprache. Kant sagt: „Ein grosser Theil, vielleicht der grösste Theil von dem
Geschäfte der Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die er [der
Mensch] schon in sich vorfindet." Man denke an Subjekt und Objekt; der
Begriff des Unheils ist vom grammatischen Satze abstrahirt. Aus Subjekt
und Prädikat wurden die Kategorien von Substanz und Accidenz.517
Dem sich hier eröffnenden Widerspruch kann Nietzsche nur dadurch
entgehen, daß er dem vorsprachlichen Bilderdenken Unbewußtheit
zuspricht. So notiert er im Sommer 1872—Anfang 1873:
Die unbewußten S c h l ü s s e erregen mein Bedenken: es wird wohl jenes
Übergehn von Bild zu Bild sein: das letzterreichte Bild wirkt dann als
Reiz und Motiv.
Das unbewußte Denken muß sich ohne Begriffe vollziehn: also in
A n s c h a u u n g e n . [...]
Dieses Bilderdenken ist nicht von vorn herein streng l o g i s c h e r
Natur, aber doch mehr oder weniger logisch. Der Philosoph bemüht sich
dann, an Stelle des Bilderdenkens ein Begriffsdenken zu setzen.518
Keineswegs ist damit aber unser Einwand entkräftet, daß wir das Besondere
nur im Widerhalt des Allgemeinen wahrnehmen können — wie
entsprechend das Werden nur im Widerstreit zum Sein: Wir werden sehen,
daß Nietzsche in seiner Artisten-Metaphysik im Ausgang von dieser letzten
Einsicht zu einer Sprach- und Erkenntniskonzeption gelangt, die den eben
dargelegten Ausführungen widerspricht.
Mit den sprachlich vorgegebenen Setzungen, die Nietzsche umwillen des
beständig werdenden Lebens zu überwinden hat, sind indes nicht nur die in
der Sprache versteinerten Irrtümer der Vernunft gemeint, die Kant als
Verstandeskategorien deduziert hat, ohne zu sehen, daß es sich um
sprachliche Kategorien handelt, sondern ihr begrifflicher Charakter als
solcher, insofern dieser — „Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine
starre Dauer hätten", läßt Nietzsche Heraklit ausrufen 519 — den Vollzug
Das polemische Denken des Werdens 117

des Werdens so feststellt, daß er ihn verhindert. Denn ein gewisses Maß an
begrifflicher Fixierung ist hinwiederum für diesen Vollzug vonnöten, hat
sich doch das Leben allererst zu beständigen, ehe es sich selbst zu
überwinden und aufzusteigern vermag: Bestandsicherung und Steigerung
sieht Nietzsche später als gleich wesentlich für den Willen zur Macht an.
Ebendieser Aspekt ist in der Bemerkung unserer Schrift beschlossen,
wonach
der handelnde Mensch sein Leben an die V e r n u n f t und ihre Begriffe bindet,
um nicht f o r t g e s c h w e m m t zu w e r d e n und sich nicht selbst z u verlieren
(2,380).
Und noch an einer anderen Stelle verrät der Text, daß Nietzsche das Leben
als fortwährendes Werden ansetzt, wenn er nämlich von dem Begriffe
bildenden Menschen sagt, man dürfe ihn
w o h l bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen
Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das A u f t h ü r m e n eines
unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt (1, 376).
Im Versuch, das reine Werden zu denken, hat Nietzsche somit gegen die
sprachlich vorausgesetzten Fest-stellungen anzudenken, gleichwie er
nachher, im Versuch, das Gedachte auszusprechen, gegen die Strukturen
und Setzungen der Sprache „polemisch" zu sein hat. Aber wie?
Gleichniß der Musik. W i e kann man v o n ihr reden?,
faßt Nietzsche in der Vorstufe zu „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" am Ende des 1. Abschnittes 520 gleichnishaft diese
Schwierigkeit der „Uebersetzung in eine ganz fremde", will sagen: dem zu
Übersetzenden völlig unangemessene Sprache, wobei die Musik, die reine
Zeitkunst, selber als Gleichnis oder Symbol des Werdens, 521 als Übertragung
desselben in eine ganz verschiedene Sphäre, 522 d. h. als Metapher verstanden
werden muß. Eine Metapher indes, die weniger metaphorisch als die
Sprache ist: Wir erinnern an unsere Ausführungen, wonach Nietzsches
Denken des reinen Werdens als ein Denken aus dem Geiste der Musik
aufzufassen ist.
„Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr reden?", das meint
zunächst: Wie kann man als Philosoph den begrifflichen Fest-stellungen
entgehen?

9. „Nothwendige Widersprüche im Denken, um leben zu können": Das


polemische Denken des Werdens

„Wahrheiten sind Illusionen": einen ersten Hinweis, in welcher Weise


sich Nietzsche aus den Netzen der Begriffe zu befreien versucht, sich der
Sprache ent-spricht, um dem Werden entsprechen zu können, gibt dieser
118 Voraussetzungen

Satz. Denn er hat den traditionellen Wahrheitsbegriff nicht etwa nur, wie
bisher aufgezeigt, in der negativen Weise zu seinem Fundament, daß der
intellectus humanus in der Anmessung an die von ihm vorausgesetzten res
die Übereinstimmung (adaequatio) mit der tiefsten Scheinbarkeit des
Werdens immer schon verfehlt, seine Offenbarkeit (άλήθεια) verhüllt hat,
so daß wahre Fest-stellungen als solche gerade das verfehlen, was laut
Nietzsche wahrer, weniger scheinbar ist, und sich derweise, gemessen am
eigenen Anspruch, paradoxerweise als unwahr erweisen, — vielmehr hat
dieser Satz jenen Wahrheitsbegriff auch in der positiven Weise zu seinem
Fundament, daß er sich gerade als paradoxal formulierter, nämlich sowohl
in sich widersprüchlicher — Wahrheiten sind Illusionen — wie auch sich
selbst widersprechender — er verkündet als Wahrheit, daß Wahrheiten
Illusionen sind—, daß er gerade als derart in sich bewegter Satz, der jedem
per se Wahrheit erheischenden Begriff als Grund-Satz zugrundeliegt, sich
nach dem richtet, mit dem übereinzustimmen versucht, was man Nietzsches
Intuition des Werdens nennen kann. Anders gesagt: Indem dieser
G r u n d - S a t z seine eigene Fest-stellung dementiert, scheint in ihm vielleicht
das Werden auf, vermag Nietzsche vielleicht dem begrifflichen Zugriff zu
entrinnen. 523 Genau so deutet er selber jedenfalls das paradoxale Denken in
mehreren Passagen seiner Schrift über die Vorsokratiker, deren Auslegung
des Heraklit, wie gesagt, auch als Selbstauslegung aufgefaßt werden kann:
Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der
intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in
Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die
Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu
empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit
widersprechen kann: und dies thut er in Sätzen, wie „Alles hat jederzeit das
Entgegengesetzte an sich" so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten
Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom
Widerspruch gesündigt zu haben.524
U n d wenig später weiß er über den Seins-Denker Parmenides, „ d e m an der
strengsten Scheidung von Sein und Nichtsein alles gelegen w a r " , und seine
Reaktion auf das „Antinomien-Spiel Heraklits" zu berichten, daß es ihm
tief verhaßt sein [mußte]; ein Satz wie der „wir sind und sind zugleich
nicht" „Sein und Nichtsein ist zugleich dasselbe und wieder nicht
dasselbe" 525 , ein Satz, durch den alles das wieder trübe und unentwirrbar
wurde, was er eben aufgehellt und entwirrt hatte, reizte ihn zur Wuth: weg
mit den Menschen, schrie er, die zwei Köpfe zu haben scheinen, und doch
nichts wissen! Ist doch bei ihnen alles im Fluß, auch ihr Denken! 526
U n d vielleicht sucht Nietzsches Denken ebendies zu sein, Denken im Fluß,
um sich derweise dem anzumessen, von dem es eine „Intuition" hat, dem
„reinen W e r d e n " . Dies bedeutet aber, wie gesehen, daß das Denken,
insofern es mit Kategorien, mit Zuständen und isolierten Einheiten arbeitet,
Das polemische Denken des Werdens 119

seine eigenen Gesetze, d. h. die Gesetze der Logik, in Frage zu stellen hat —
in der Antinomie oder der Paradoxie 527 — und so das Denken eigens
vollzieht, was das Leben immer schon tut — „Nothwendige Widersprüche
im Denken, um leben zu können.", lautet eine Aufzeichnung 5 2 8 von Ende
1870—April 1871 —, es dergestalt ist, wovon es spricht: Werden oder
Prozeß.
Denn dieses Werden ist seinem Wesen nach schlechthin alogisch — eine
Erkenntnis, die Nietzsche „schon bei Schopenhauer wie eine Offenbarung
getroffen [hatte]", die er dann bei Lange bestätigt fand 529 und die ihn fortan
in entschiedenen Gegensatz zu allen Versuchen bringen sollte, die Welt
begrifflich in der Weise auf ihre Gründe hin festzustellen, wie dies in seinen
Augen als erste die Eleaten getan haben:
Alle unsre Vorstellungen, sobald ihr empirisch gegebner, aus dieser
anschaulichen Welt geschöpfter Inhalt als veritas aeterna genommen wird,
führen auf Widersprüche. Giebt es absolute Bewegung, so giebt es keinen
Raum: giebt es absoluten Raum, so giebt es keine Bewegung; giebt es ein
absolutes Sein, so giebt es keine Vielheit. Giebt es eine absolute Vielheit, so
giebt es keine Einheit. 530 Da sollte Einem doch klar werden, wie wenig wir
mit solchen Begriffen das H e r z der Dinge berühren oder den Knoten der
Realität aufknüpfen: während Parmenides und Zeno umgekehrt an der
Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die anschauliche
Welt als das Gegenstück der wahren und allgültigen Begriffe, als eine
Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen verwerfen. Sie
gehen bei allen ihren Beweisen von der gänzlich unbeweisbaren, ja
unwahrscheinlichen Voraussetzung aus, daß wir, in jenem Begriffsvermö-
gen das entscheidende höchste Kriterium über Sein und Nichtsein, das
heißt über die objektive Realität und ihr Gegentheil, besitzen: jene Begriffe
sollen sich nicht an der Wirklichkeit bewähren und corrigiren, wie sie doch
aus ihr thatsächlich abgeleitet sind, sondern sollen im Gegentheil die
Wirklichkeit messen und richten und, im Falle eines Widerspruchs mit dem
Logischen, sogar verdammen. 531

Bereits die Metaphysik des deutschen Idealismus hat, nachdem von Kant in
den Antinomien der reinen Vernunft die Bedeutung des Widerspruchs
sichtbar gemacht worden war, 532 nachdem Goethe die Polarität, „die
Erscheinungen des Zwiefachen, ja Mehrfachen in einer entschiedenen
Einheit" 533 , neben der Steigerung als eines „der zwei großen Triebräder
aller Natur" 5 3 4 herausgestellt hatte, den Widerspruch nicht als das vom
Denken zu Vermeidende, vielmehr als das eigens zu Ergreifende angesehen,
weil es Durchgang zu einer höheren Einheit sein soll. In deutlicher
Vorläuferschaft Nietzsches führt Hegel etwa in seinen Vorlesungen über
Ästhetik aus — wobei er zum Austrag bringt, was von Novalis und Friedrich
Schlegel gegen den Satz vom Widerspruch eingewendet worden war—:
120 Voraussetzungen

W e r aber verlangt, daß nichts existire, w a s in sich einen W i d e r s p r u c h als


Identität E n t g e g e n g e s e t z t e r trägt, der f o r d e r t zugleich, daß nichts
Lebendiges existire. D e n n die K r a f t des Lebens und mehr noch die M a c h t
des Geistes besteht eben darin, den W i d e r s p r u c h in sich zu setzen, zu
ertragen und zu überwinden. Dieses S e t z e n und A u f l ö s e n des
W i d e r s p r u c h s von ideeller Einheit und realem Außereinander der Glieder
macht den steten P r o c e ß des Lebens aus, und das Leben ist nur als
Prozeß.535
Der wesentliche Unterschied dieser Ausführung Hegels zum Denken
Nietzsches besteht aber darin, daß für letzteren der Widerspruch im tiefsten
Grunde in keiner höheren Einheit, in keiner Identität vermittelt und
aufgehoben ist. Seine Philosophie des reinen Werdens kennt den Begriff der
Identität nur als illusionäre Fest-stellung des Erkenntnisvermögens, das
seiner bedarf, um sich und damit den fortschreitenden Vollzug des Werdens
zu ermöglichen. 536 Denn indem das Erkenntnisvermögen, genauer: ein
„ E t w a s " — denn auch das Erkenntnisvermögen ist, insoweit es Identität
voraussetzt, Illusion 537 —, indem dieses „ E t w a s " das reine Werden (der
bloßen Empfindung in der Zeit räumlich) 538 bestreitet, erstreitet es die uns
erscheinende Welt des Seienden. Als zur Welt gehörig aber kann das diesen
Weltstreit bedenkende Denken indes nicht nur nicht umhin, dieser Streit zu
sein, vielmehr hat es, sofern es ihm entsprechen will, ihn eigens zu ergreifen.
Die Deutung der Welt gibt somit die Weise des Denkens vor, ist ihre
Voraussetzung, bedenkt doch, wie bereits angedeutet, Nietzsche zufolge
das Denken nichts als seine eigenen Voraussetzungen: sein Denken kann
daher nur dort, wo es sich den zu Einheiten gefügten Erscheinungen
zuwendet, d. h. in einer Schicht höherer, dem Augenschein verpflichteter
Scheinbarkeit, dialektisch sein, 539 wo es sich hingegen der Tiefe der Welt
und damit seiner Grunderfahrung des reinen Werdens zukehrt, da vermag es
nur streithaft, „polemisch" — im ursprünglichen, nämlich Heraklitischen
Sinne des Wortes 540 — zu sein. Fortwährend bestreitet es sich selbst, um
fortschreiten, um leben zu können, bestreitet es, um in sich das reine Werden
aufscheinen zu lassen, seine Einheit 541 — ohne letztlich doch verhindern zu
können und im Grunde auch verhindern zu dürfen 542 — das Werden muß
sich wie gesagt immer erst beständigen, damit es im Ausgang von der
Uberwindung dieser Beständigung fortzuschreiten vermag —, daß es in
unseren, wie Nietzsche dargelegt hat, notwendig Einheit voraussetzenden
Augen gerade so seine Einheit gewinnt: die Zuschreibung dieses Denkens zu
einem Denker namens Nietzsche, nicht zuletzt aber diese ein Grundgefüge
des Nietzscheschen Denkens feststellende Arbeit belegen das. Doch
allzuschnell neigen wir dabei dazu, uns auf jenen vom geistigen T o d
gesetzten Standpunkt zu stellen, der diesen Denkprozeß als abgeschlossenes
Textcorpus erscheinen läßt. Dementgegen gilt es sich aber vor Augen zu
Das polemische Denken des Werdens 121

führen, daß dieser Punkt dem Denken Nietzsches insofern äußerlich ist, als
es dem Anspruch nach über jeden abschließenden Punkt hinauszielt: Es
konnte sich darum bei keiner Wahrheit abschließend beruhigen, weil ihm die
Prozeßhaftigkeit selber die „Wahrheit" als tiefste Scheinbarkeit war.
Aus dieser Erkenntnis erwachsen zwei Folgerungen: Zum einen jene
bereits in der Einleitung dargelegte methodische Voraussetzung unserer
Arbeit, in die Darstellung auch die von Nietzsche nicht zur Veröffentlichung
vorgesehenen Notizen einzubeziehen, weil sie als Bestandteil jenes
unablässigen Denkstromes namens „Nietzsche" gleichberechtigt gegenüber
den veröffentlichten „ W e r k e n " erscheinen, denen nur in der — Nietzsches
Denken allein in einer Schicht höherer Scheinbarkeit gerecht werdenden —
Perspektive des abgeschlossene Einheiten voraussetzenden Werkbegriffes
— der bei ihm ohnehin durch die aphoristische Form unterhöhlt ist — ein
Vorrang zukommt. Zum anderen, daß die gewöhnliche Erklärung des
Nietzscheschen Polyperspektivismus, 543 wonach er aus dem Willen
hervorgeht, möglichst viele Aspekte eines Gegenstandes aufweisen und ihn
derweise zumindest näherungsweise umfassen, die perspektivische Be-
schränktheit in Richtung auf absolute Erkenntnis hin überschreiten zu
können — daß diese Erklärung, obwohl sie sich auf gewisse Äußerungen
Nietzsches berufen kann, 544 einseitig und vor allem vordergründig, nämlich
einer Stufe höherer Scheinbarkeit verpflichtet bleibt. (Wenn sie nicht
überhaupt verkennt, daß die Perspektive den Aspekt allererst schafft und
nicht bloß entdeckt. 545 Denn einen selbständig anwesenden Gegenstand, den
das Bewußtsein nur abzuspiegeln hätte, um ihn zu entdecken, gibt es auf
dem Boden der in Grundzügen noch bei Nietzsche fortwährenden
Leibnizschen Metaphysik nicht mehr, für die er vielmehr in lebendiger
perspektivischer Re-präsentation der Monade entsteht und währt. 546 ) Diese
Auslegung ist aber darum einseitig und vordergründig, weil sie übersieht,
daß dem konstruktiven Moment des Schaffens gleichursprünglich ein
destruktives Moment zugehört 5 4 7 und daß es letztlich weniger um die
ohnehin bald wieder zu destruierenden Erkenntnisse selbst, als vielmehr um
die von ihnen ermöglichte Erkenntnisbewegung geht, als welche nämlich die
Bewegung des sich vorstellend-herstellenden Lebens selber ist.548 Anders und
im Vorblick auf kommende Ausführungen gesagt: Die größere Wahrheit als
tiefere Scheinbarkeit kommt der kontinuierlichen Erkenntnisbewegung als
solcher zu, die das Denken vorstellend herzustellen sucht, dergestalt, daß es
sich in seinen diskontinuierlichen Inhalten an sie anzumessen, nach ihr zu
richten sucht, wobei sich die „Richtigkeit" letztendlich aus dem Maß an
Fruchtbarkeit ergibt, mit der ihm die Beförderung dieses Lebensvollzuges
gelingt. Formelhaft gesprochen: Die „ F o r m " dieses Denkens ist die
Maßgabe der Richtigkeit für seinen Inhalt. Noch kürzer gefaßt — und das
122 Voraussetzungen

stimmt mit Nietzsches kunsttheoretischen Aussagen überein — : Die „ F o r m "


ist der Inhalt dieses Denkens. 5 4 9 D a r u m aber ist Nietzsches Philosophie
weniger scheinbar, d. h. w a h r e r als jedes andere Denken — vorläufig
zumindest.
D e m bauend-zerstörenden Vorstellungsvollzug des Lebens hörig,
verspürt Nietzsche selber nämlich:
Tiefe Abneigung, in irgend einer Gesammt-Betrachtung der Welt ein für
alle Mal auszuruhen; Zauber der entgegengesetzten Denkweise; sich den
Anreiz des änigmatischen Charakters nicht nehmen lassen.550,
wie er im Herbst 1885—Herbst 1886 bemerkt. Darin k o m m t er mit dem
theoretischen Menschen der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " überein, dessen
„Grundgeheimniss" Lessing, der nach Nietzsche „ehrlichste theoretische
Mensch", dahingehend ausgesprochen habe, „dass ihm mehr am Suchen der
W a h r h e i t als an ihr selbst gelegen sei" 551 : Mit seinem T o d hat Gott
Nietzsche Lessings Bitte, ihm die W a h r h e i t vorzuenthalten, in der Weise
erfüllt, daß nunmehr der Prozeß, die Suche nach der W a h r h e i t als tiefster
Scheinbarkeit an die Stelle der absoluten W a h r h e i t getreten ist. D a r u m
f o r d e r t Nietzsche-Zarathustra seine J ü n g e r auf, ihn zu verlassen, befolgt
man seine Lehre doch erst dann, wenn man über sie hinausgeht. U n d darum
auch schließt Nietzsche den letzten Aphorismus der „ M o r g e n r ö t h e " mit
einem das gesamte W e r k frag-würdig und vorläufig erscheinen lassenden
„ O d e r meine Brüder? O d e r ? —" 5 5 2 :
Nietzsches Denken ist mithin auch in der Hinsicht „polemisches Denken
des reinen W e r d e n s " , daß es von diesem zu seinem eigenen Vollzug
hervorgebracht wird: grammatisch gesehen muß darum das Attribut sowohl
als Genitivus subjectivus wie auch als Gentivus objectivus aufgefaßt werden.

10. Der letzte Philosoph

D a ß der f r ü h e Nietzsche alle Weltansichten f ü r Perspektiven der


Erhaltung und Steigerung des Lebens erklärt, in dem sich der Wille ins W e r k
setzt — den er darum in A n k n ü p f u n g an Schopenhauer als „Willen zum
Leben" bezeichnet —, das verweist, wie gesagt, auf die metaphysische
Grundstellung Leibnizens, f ü r den das w a h r e Leben in der Lebendigkeit des
Geistes, des Bewußtseins beruht: Die durch appetitus und repraesentatio
geprägte M o n a d e strebt von sich her danach, in endlosem Ausgreifen Welt
vorzustellen und diese perspektivischen Präsentationen auf sich z u r ü c k z u -
beziehen (re-praesentare), um derweise sich selbst als die Einheit
welterfüllten Bewußtseins zu erwirken und zu sichern (Wahrheit als
Gewißheit). So will die M o n a d e als vis primitiva activa, als Wille sich selbst:
Der letzte Philosoph 123

sie ist in ihrem Wesen "Wille zum Willen. Insgleichen der sich als Welt
repräsentierende, begriffsdichterische „Wille zum Leben" Nietzsches 553 —
mit der Zuspitzung, daß Nietzsche keinen Wahrheit, keinen Teleologie und
ineins damit Sinn gewährenden und verbürgenden Gott mehr kennt, der
herrscht, indem er Welt zueignet. Und infolge dieses Fehlens eines
„absoluten Geistes" als Ur-Sache des Seienden kann er das Wesen des
Lebens auch nicht mehr als Geist begreifen, der sich im Lebendigen
verwirklicht, vielmehr verwirklicht sich in seiner Sicht ein leiblicher oder,
mit einem Ausdruck Heideggers 554 gesprochen, ein „leibender" Wille unter
Zuhilfenahme des ihm eigenen Mittels des Geistes. 555 Nicht am Leitfaden des
Geistes, sondern „am Leitfaden des Leibes", wie er im Sommer—Herbst
1884 bemerkt 556 , legt Nietzsche mithin die Welt als Wille aus, dabei bewußt
anthropomorphisch verfahrend, weil, so meint er zu wissen, alle Erkenntnis
anthropomorphisch ist und bleibt. In diesem Sinne gibt er Ende
1876—Sommer 1877 zu bedenken — wohl auch selbstkritisch im Hinblick
auf seine eigenen Überlegungen in der „Geburt der Tragödie":
Schopenhauer concipirt die Welt als einen ungeheuren Menschen, dessen
Handlungen wir sehen und dessen Charakter völlig unveränderlich ist:
diesen können wir eben aus jenen Handlungen erschließen. Insofern ist es
Pantheismus oder vielleicht Pandiabolismus, denn er hat kein Interesse,
alles was er wahrnimmt in's Gute und Vollkommene umzudeuten. Aber
diese ganze Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und
einem an sich seienden Charakter als Ursache ist schon am Menschen
falsch, erst recht in Hinsicht auf die Welt. So etwas wie der Charakter hat
an sich keine Existenz, sondern ist eine erleichternde Abstraktion. Und dies
ist der Werth solcher Metaphysiker wie Schopenhauer: sie versuchen ein
Weltbild: nur ist Schade, daß es die Welt in einen Menschen verwandelt:
man möchte sagen, die Welt ist Schopenhauer im Großen. Das ist eben
nicht wahr. 557
Auch Nietzsches Weltdeutungen, die frühe des „Willens zum Leben" wie
die späte des „Willens zur Macht", die sich von der ersteren nicht zuletzt
dadurch unterscheidet, daß in sie Nietzsches frühzeitige und, wie er meint,
die Grundfesten der Metaphysik einreißende Zurückweisung einer
„Unterscheidung zwischen Handlungen als Wirkungen und einem an sich
seienden Charakter als Ursache" eingegangen ist, wie sie auch, darin sich
ebenfalls vom Leibnizschen Ansatz unterscheidend, seiner frühen
Verwerfung aller Einheitsvorstellungen Rechnung zu tragen sucht (der
„Wille zur Macht" ist nur als Quale „vieler" Willen zur Macht) — auch die
beiden Weltdeutungen Nietzsches verwandeln die Welt in einen Menschen,
nur ziehen sie daraus die Konsequenz, keine Wahrheit im traditionellen
metaphysischen Sinne mehr zu beanspruchen. Und sie erklären auch das
Warum für diesen Verzicht; mit Nietzsches Worten aus dem Aphorismus 22
von „Jenseits von Gut und Böse" gesprochen: Alles „ist Interpretation, nicht
124 Voraussetzungen

T e x t " — so auch „ d e r " „Mensch", der immer schon von der Interpretation,
die das „Leben" für „ u n s " ist, umgriffen wird. Auch er ist eine Perspektive
zur Erhaltung und Steigerung des Lebens, wie das „Leben" selbst: denn
„ e s " selbst ist „sich" in „uns", in denen es sich auslegt, nur perspektivisch,
keineswegs absolut gegeben. Alles ist „subjektiv" und damit illusionär, auch
das Subjekt — erst bei Nietzsche wird Descartes' Zweifel radikal, dergestalt,
daß auch das fundamentum absolutum inconcussum des Zweifels, von dem
man, wie wir gesehen haben, sagen kann, daß es nur im Gegenhalt zu Gott
war, bezweifelt wird. Zwar hat bereits Kant in seiner Kritik des Cartesischen
cogito in den Paralogismen der „Kritik der reinen V e r n u n f t " (B 422 Anm.)
die Möglichkeit zurückgewiesen, daß mit seiner Hilfe die Gegebenheit von
Substanz, Singularität, Personalität, Unsterblichkeit einer Seele bewiesen
werden könne. Gleichwohl ist für ihn zumindest im Akt des Denkens das
Daß eines Daseins mitgegeben:
Das Ich denke ist, wie schon gesagt, ein empirischer Satz, und hält den
Satz, Ich existiere, in sich.558
Doch eine solche „unmittelbare Gewißheit" eines Seins gibt es f ü r Nietzsche
nicht — auch sie ist nichts als eine Vorstellung und kein Ursprüngliches, wie
es in seinen Augen nur das „Ding an sich" sein könnte. 559 Es gibt keinen
festen Punkt, von dem her und auf den hin etwas vor- und zurückgestellt
werden kann, auch er ist bloß vor-gestellt in der Flut des Werdens. 560 Das
Subjekt ist total, es ist alles — und darum nichts, denn jedes Subjekt ist
immer schon Objekt, so daß Nietzsche diese grammatikalische Unterschei-
dung später ausdrücklich f ü r unsinnig erklärt. 561
Nichts i s t , alles w i r d . Und doch muß, so Nietzsche, das Ist geglaubt
werden, weil nur so das Leben in seinem Werden sich erhalten, d. h. sichern,
und — in der Uberwindung des Ist — sich steigern kann: allein in dieser
Weise kann das Werden sein. Bisher konnte die Welt nur darum eine
gewußte sein, weil ein geglaubtes metaphysisches „Prinzip" für ihr Sein
gebürgt hat, jetzt zeigt sie sich unverhüllt als das, was sie immer war: eine
Welt des Glaubens. In dieser Glaubens-Hinsicht wird nunmehr das
physische „Leben", das der frühe Nietzsche bisweilen noch metaphysisch
(nach seinem Wortverständnis) drapiert, zum „Gott" 5 6 2 : Es ist f ü r Nietzsche
die Illusionen produzierende Illusion, die „es" im Menschen als Wahrheiten
aufgehen läßt. 563 (Doch anders als einem metaphysischen „Prinzip" kommt
ihm „an sich selbst", d. h. in der tiefsten uns erreichbaren Schicht, keine
„Einheit" zu.)
Das Leben aber bringt diese Wahrheit wie gesagt hervor, um seinen
eigenen selbststeigernden Vollzug ins W e r k setzen zu können. Daraus ergibt
sich für Nietzsche, daß f ü r es dasjenige wahr ist, was diesen Vollzug
befördert — mit den Worten Goethes, aber nicht mit dem Goetheschen,
Der letzte Philosoph 125

sondern einem leibnizschen Sinne gesprochen: Was für es fruchtbar ist, ist
f ü r es „ w a h r " — solange es fruchtbar ist, nämlich den Vollzug des Lebens
befördert.
Bereits in jenem eingangs dieser Arbeit (S. 4) zitierten Brief an Paul
Deussen vom Oktober/November 1867 unterlegt Nietzsche seinen
Ausführungen diesen Wahrheitsbegriff:
Wer mir Schopenhauer durch Gründe widerlegen will, dem raune ich ins
Ohr: „Aber, lieber Mann, Weltanschauungen werden weder durch Logik
geschaffen, noch vernichtet. Ich fühle mich heimisch in jenem Dunstkreis,
Du in jenem. Laß mir doch meine eigene Nase, wie ich Dir die Deinige
nicht nehmen werde."
Mitunter zwar werde ich ärgerlich, wenn ich zeitgenössische
Philosophen höre oder lese und ihren Ruf bemerke und frage eindringlich
wie jener bekannte Hamlet seine Mutter fragte „Habt ihr Augen? Habt ihr
Augen?" Ich meine, sie haben keine, aber ich kann mich irren und die
meinigen sind vielleicht zu kurzsichtig, daß ich einen Esel und ein Pferd
verwechsle.[...] ,
Das Beste, was wir haben, sich eins zu fühlen mit einem großen Geiste,
sympathisch auf seine Ideengänge eingehen zu können, eine Heimat des
Gedankens, eine Zufluchtsstätte für trübe Stunden gefunden zu haben —
wir werden dies anderen nicht rauben wollen, wir werden es uns selbst
564
nicht rauben lassen. Sei es ein Irrthum, sei es eine Lüge ,
(Um dieses letztgültig entscheiden zu können, fehlt es indes an jedwedem
Kriterium — wessen Augen könnten so weit- und umsichtig sein, daß sie die
Wahrheit an sich zu erkennen vermöchten?: Woraus Nietzsche die
Konsequenz zieht, die Frage nach ihr, die die fatale Folge hat, den
Menschen in eine schiefe Stellung zur Physis zu bringen, auf sich beruhen zu
lassen.)
Die „Wahrheit" einer Philosophie kann demnach nur noch der
Lebensvollzug selber sein:
Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel als er im Stande ist ein
Beispiel zu geben. [ . . . ] Aber das Beispiel muss durch das sichtbare Leben
und nicht bloss durch Bücher gegeben werden,565
schreibt Nietzsche in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer
als Erzieher". Denn „an Systemen, die widerlegt sind" — und
„philosophische Systeme [sind] nur f ü r ihre Gründer ganz w a h r " —, „kann
uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig
Unwiderlegbare" 5 6 6 :
D i e Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls
einmal dagewesen und also möglich: das „System" ist das Gewächs dieses
567
Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems,
— so lehrt beispielsweise die Geschichte der „Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen". 568
126 Voraussetzungen

Aber sie lehrt eben auch die Relativität und damit die Vergänglichkeit
der Wahrheit — Nietzsche notiert: „Sonderbares Problem: das sich
Verzehren der philosophischen Systeme!"569 —, wiewohl ein jeder
Philosoph glaubte:
Er hat die Wahrheit; mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es
der Wahrheit entfliehen können. 5 7 0
Die Geschichte der Philosophie zeigt, daß es keine ewigen Wahrheiten gibt
— außer den beiden vielleicht, daß es keine gibt, daß der Mensch aber nur
schaffen, d. h. temporäre Wahrheiten hervorbringen kann in dem Glauben,
daß es sich in ihrem Falle um bleibende Wahrheiten handelt. Damit aber
scheint sich diese Illusion als fruchtbarer und damit als wahrer für das Leben
zu erweisen als jene weniger scheinbare „Wahrheit", die doch eigentlich,
und das erscheint paradox, den Lebensvollzug in seiner Vollzugshaftigkeit
freizugeben versucht. Aber sie unterläuft dabei die „Erkenntnis", die sich als
lebenserhaltend erwiesen hat, den Glauben, daß ein Sein sei... Und der
Erweis ihrer eigenen Fruchtbarkeit steht noch aus, der Erweis mithin, daß
die Lehre: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr", wirklich fruchtbar ist.571
„Der letzte Philosoph — es können ganze Generationen sein."572, der
um die Anthropomorphic aller Erkenntnis und damit auch um die
Anthropomorphic jeglichen Sinnes weiß und darob keine andere Aufgabe
mehr sieht, als „nur zum L e b e n zu helfen" 573 , er muß im Unterschied zu
allen Philosophen vor ihm die Illusion als „ I l l u s i o n w o l l e n " 5 7 4 — was
nicht nur bedeutet, daß er um die Illusionshaftigkeit aller „Wahrheiten"
weiß, sondern auch, daß er, darin einen Willen des Lebens zum Schein, zur
Illusion, zur Täuschung erkennend, seiner einen Aufgabe nur durch die
Bejahung dieses Willens zu obliegen vermag:
Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben
beherrschenden Kunst. 575
Denn die Erkenntnis der Illusionshaftigkeit aller menschlichen Erkenntnis
ruft im Philosophen „einen qualvollen Zustand hervor: dagegen nur
Heilung in dem Schein der Kunst", wie Nietzsche im September
1870—Januar 187 1 576 festhält. Sie nämlich tritt der nicht nur für den
Philosophen furchbaren Relativierung alles Wissens und alles Seins insofern
entgegen, als sie die Form ist, „in der die Welt unter der Wahnvorstellung
ihrer Nothwendigkeit erscheint." 577
So sieht sich der letzte Philosoph beinahe aussichtslos verstrickt: Er will
die Erkenntnis, aber er darf sie eigentlich nicht wollen, weil sie das blinde
Zutrauen zum Leben vernichtet, indem sie alles „Sein" als Schein entlarvt —
eingeschlossen sich selbst; woraus Nietzsche wiederum, wie gezeigt (siehe
Seite 90 f.), schließt, daß dem Philosophen die Erkenntnis, so wie er sie will,
Der letzte Philosoph 127

als absolute nämlich, darum verwehrt ist, weil dies den Stillstand des Lebens
bedeuten würde, wovor sich dieses selbst zu schützen sucht.
Warum nimmt also der letzte Philosoph den Illusionen ihre
lebenserhaltende Kraft, indem er sie als Illusion erweist?
Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es
allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist:
Steigerung der Weltbejahung,
zeichnet Nietzsche im Zeitraum Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0578 auf.
Betreibt nicht auch der letzte Philosoph Friedrich Nietzsche mit seiner
wissenschaftlich gestützten Erkenntnistheorie jenes weltzerstörerische
Geschäft? Und wie kann er dieses nihilistische T u n rechtfertigen?: Fragen,
die Nietzsche vom Beginn seines Denkens an umtreiben und die er erst in
dem Maße einer seiner geistigen Redlichkeit genügenden Antwort
zuzuführen weiß, als er sich seinen einen Gedanken des Nihilismus und
dessen Uberwindung zudenkt, den Gedanken, Vollstrecker und Zerstörer
der metaphysischen Voraussetzungen von Parmenides und Piaton zu sein.
Erst dann gelingt es ihm auch, die von Anfang an gültige Antwort auf diese
Fragen von der obengenannten Opium-Verdächtigung zu befreien und die
diese Antwort tragende Erfahrung einer Steigerung der eigenen
Weltbejahung zu verallgemeinern und auf die zukünftige Geschichte als
ganze auszudehnen, die Antwort nämlich, daß er nicht anders könne, weil
das Leben ihn so wolle. Denn bei aller Betonung der schöpferischen Freiheit
menschlichen Tuns erblickt Nietzsche doch in ihrer Bewährung das Wirken
höchster Notwendigkeit, die er in seiner Artisten-Metaphysik als
Vollstreckung des Wollens des Weltwillens deutet. 579 Nietzsche begründet
somit sein T u n durch das als Zwang des eigenen Lebens erfahrene Wollen
jenes Willens, der, „an sich" sinnlos, ihm damit paradoxerweise Sinn gibt.
(Eine Paradoxie, von der Nietzsches gesamtes Denken gezeichnet ist und
aus der sich als grundlegender Einwand gegen dessen philosophischen
Ansatz die — hier nicht beantwortbare — Frage gewinnen läßt: Wie etwas
an sich selber sinnlos sein kann, wenn es unentwegt Sinn produziert, weil es
zu seinem Vollzug auf Sinnfindung angewiesen ist?)580 Für Nietzsche kann
indes dieser Sinn immer nur illusionär, weil bloß vorgestellt, sein. In seinem
Falle bedeutet dies aber, daß nicht mehr nur die bloße Ersetzung einer als
Illusion erkannten Wahrheit durch eine neue, letztlich doch auch wieder nur
vermeintliche Wahrheit, sondern die Aufdeckung des illusionären
Charakters der Wahrheit als solcher die sein Leben vorantreibende Illusion
ist. Er selber bedenkt dies am Ende der ersten seiner „Fünf Vorreden zu fünf
ungeschriebenen Büchern", betitelt „Ueber das Pathos der Wahrheit".
Ausgehend von dem Gedanken, daß den Menschen die einzige ihm
zugängliche Wahrheit, nämlich „die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit
128 Voraussetzungen

verdammt zu sein" 581 , eigentlich „zur Verzweiflung und Vernichtung


treiben" müßte, bemerkt er dort:
Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare
Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht
eigentlich d u r c h ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm
die Natur nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste ζ. B. seinen
eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches „Bewußtsein" hat? In dieses
Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. Ο
der verhängnißvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte
einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt:
vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem
Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in
der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken
eines Tigers in Träumen hängend.
[ . . . ] „Weckt ihn auf" ruft der Philosoph, im Pathos der Wahrheit.
Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in
einen noch tieferen magischen Schlummer — vielleicht träumt er dann von
den „Ideen" oder von der Unsterblichkeit. 582
Es gibt kein Entrinnen aus dem Netz der Illusionen, in das sich der Mensch
verstrickt sieht:
Selbst die Erkenntniß über ihr Wesen vernichtet nicht ihre Wirksamkeit.
Wohl aber bringt die Erkenntniß einen qualvollen Zustand hervor 583 ,
kann man in einer aus dem Zeitraum September 1 8 7 0 — J a n u a r 1 8 7 1
stammenden Aufzeichnung lesen. Doch wenn es dem Philosophen gelingen
mag, diese Erkenntnisqual in K r a f t f ü r den eigenen Erkenntnisfort-schritt
umzumünzen, sie somit f ü r das eigene Leben fruchtbar zu machen — kann
er gleiches auch von der Menge erwarten?:
Die Wahnvorstellungen: wer sie durchschaut, hat nur die Kunst zum Trost.
Das Durchdringen ist jetzt für die Freigeister Nothwendigkeit: wie sich
dazu die Menge verhält, ist nicht zu errathen.,
gibt Nietzsche im gleichen Zeitraum zu bedenken. 584 Eine Frage, die f ü r ihn
darum so bedeutsam ist, weil eben der letzte Philosoph einer, wie sich nun
zeigt, „ f ü r uns an sich" sinnlosen W e l t „nur zum L e b e n zu helfen" 5 8 5 hat
— und dies, gemäß Nietzsches „existenziellem" Wahrheitsbegriff, v o r allem
durch sein Vorbild:
Das Product des Philosophen ist sein L e b e n (zuerst, vor seinen
W e r k e n ) . Das ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk ist einmal dem
Künstler, sodann den andern Menschen zugekehrt. 586
Darin, in dieser Beziehung zu den anderen Menschen, liegt seine Aufgabe
und seine Verantwortung:
selbst wenn er sich streng von ihnen absondert, als Einsiedler, so giebt er
damit eine Lehre, ein Beispiel und ist Philosoph auch für die Andern. 587
Der letzte Philosoph 129

Brücke zur Zukunft, zur eigenen wie zu der der Nachkommenden, zu sein
und damit den Lebensvollzug als solchen zu befördern — „Die Individuen
sind die Brücken, auf denen das Werden beruht.", lautet eine Aufzeichnung
vom Sommer 1872—Anfang 18 7 3 588 —, das ist nach Nietzsches Ansicht die
— selbstgestellte — Aufgabe des Philosophen. Solches bedenkt auch eine
späte Aufzeichnung vom Sommer 1883:
Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der es uns am freiesten
zu Muthe wird; d. h. bei der unser mächtigster Trieb sich frei fühlt zu seiner
Thätigkeit. So wird es auch bei mir stehn! 589
„Man sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der uns am freiesten zu
Muthe wird": auf das Zerstören von Illusionen hat das Bauen neuer zu
folgen: Kunst, nämlich ein selbstgeschaffenes und als solches einbekanntes,
als notwendig zu glaubende Illusion und keineswegs als Wahrheit
ausgegebenes Weltbild steht nunmehr am Ende des philosophischen
Erkenntnisweges, dessen Destruktionsabschnitt es dadurch rechtfertigen
kann, daß es einen freieren Lebensvollzug als die zerstörten Illusionen
ermöglicht, somit fruchtbarer, was jetzt heißt: wahrer als jene i s t . . .
„Die Philosophie hat die tragische Bedürftigkeit zu erzeugen.", notiert
sich Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3590 und meint damit den die
Erkenntnisqual, nichts in seinem „An-Sich" erkennen zu können,
überwindenden Willen zum „frei gesetzten" und in dieser seiner
Illusionshaftigkeit bejahten, künstlerisch zu nennenden Weltbild. Aber in
seiner Frühzeit setzt Nietzsche in seinen veröffentlichten Werken dieses
Bild, ohne seinen illusionären Charakter unverblümt auszusprechen, er wagt
sich noch nicht einzugestehen, daß er die auflösenden Tendenzen unseres
Zeitalters allererst in ihre Krisis treiben muß, bevor ein Neubau möglich ist.
Er glaubt dasjenige, was er später den „Nihilismus" nennt, noch aufhalten
zu können und vor allem aufhalten zu müssen — und zwar mit Hilfe
desjenigen, worin er später die Ursache des Nihilismus erkennt, der
Metaphysik nämlich. Erst in dem frühesten der „nachwagnerschen" Werke,
in „Menschliches, Allzumenschliches", sucht er jener Aufgabe der
Philosophie in der Weise zu entsprechen, daß er den Menschen zu zeigen
beginnt: „,Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt'". 591 Jetzt wagt er es, sie die
furchtbare Wahrheit, „ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein", zu lehren,
weil er glaubt, diese zum Auslese- und Züchtungskriterium für den
Übermenschen machen zu können 592 : Während jene „ M i ß r a t h e n e n und
Unglücklichen" 593 , die nur als potentielle Himmelsbewohner das Leben zu
ertragen vermögen, wie er wünscht, an dieser „Wahrheit" des Fehlens
jeglicher Wahrheit zugrundegehen werden, wird dieser seiner Ansicht nach
jene Wahrheit als Freisetzung zur eigenen Schöpferkraft auffassen und
damit endlich die Erde als Heimat und Herrschaft übernehmen. Tragende
130 Voraussetzungen

Voraussetzung dieses Züchtungsgedankens ist aber die — inzwischen


widerlegte — Lamarckistische These von der Vererbbarkeit geistiger
Prägungen. 594 An sie glaubend, kann Nietzsche schließlich hoffen, mit der
radikalsten Destruktion zu bauen:
Die F o l g e n meiner Lehre müssen fürchterlich wüthen: aber es s o l l e n
a n i h r U n z ä h l i g e zu Grunde g e h e n .
— wir m a c h e n einen V e r s u c h mit der Wahrheit!
Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde! Wohlan! 595 ,
notiert sich Nietzsche im Frühjahr 1884 unmittelbar im Anschluß an die
erste Aufzeichnung des Assassinen-Spruches: „ ,Nichts ist wahr, alles ist
erlaubt'." 596
Indem Nietzsche ineins mit diesem Satz dem Menschen jenes
Schöpfertum in allen seinen Handlungen und Taten aufweist, hält er ihn
dazu an, dieses als sein Wesen nunmehr eigens zu ergreifen. Weswegen seine
Philosophie gemäß ihrer eigenen Voraussetzung, daß das Leben sich als
einen schöpferischen Prozeß will, in seinen Augen fruchtbarer und d. h.
wahrer als andere erweist.
Willens, dieser Voraussetzung zu entsprechen, darf sich indes nicht nur
Nietzsche selber bei keiner „Gesammt-Betrachtung der Welt ein für alle
Mal" beruhigen, vielmehr muß er auch seine „Jünger" dazu aufrufen, ihn
und sein W e r k hinter sich zu lassen, so daß sich das Paradoxon ergibt, daß
man seine Lehre erst dann befolgt, wenn man über sie hinausgeht. 597 So daß
seine Philosophie ihrem eigenen Vergehen voraus ist... Der „Hanswurst"
trotz gegenteiliger Bekundung — „Ich w i l l keine ,Gläubigen' [ . . . ] Ich will
kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst" 5 9 8 — sich heilig spricht: als
närrischer Hanswurst. —

11.,, Was fruchtbar ist, allein ist wahr." — Erneut: Schopenhauer, sowie zum
zweiten Male: das Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Kunst

Zunächst jedoch hängt er „Schopenhauer als Erzieher" an, nicht weil er


dessen willensverneinende Philosophie in dem von ihr beanspruchten Sinne
f ü r wahr hielte — diesen Anspruch hat er, wie wir gesehen haben, bereits
Ende 1867/Anfang 1868 zurückgewiesen —, sondern weil er sich vorläufig
noch in ihrem „Dunstkreis" „heimisch" fühlt, weil mithin diese Philosophie
f ü r ihn fruchtbar und damit im Sinne seines eigenen Wahrheitsbegriffes
„ w a h r " ist.
Im „Rückblick auf seine zwei Leipziger J a h r e " weiß er über die
Gestimmtheit, in der ihm Schopenhauers Hauptwerk Ende O k t o b e r / A n -
fang November 1865 begegnete, zu berichten: „Ich lernte damals mit
Behagen schwarz sehen, nachdem es mir selber, wider meine Schuld wie mir
schien, schwarz gegangen war." 599 — in seinem Bonner Studienjahr nämlich.
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 131

Nun vergegenwärtige man sich, wie in solchem Zustande die Lektüre von
Schopenhauers Hauptwerk wirken mußte. [ . . . ] Hier war jede Zeile, die
Entsagung, Verneinung, Resignation schrie, hier sah ich einen Spiegel, in
dem ich Welt Leben und eigen Gemüth in entsetzlicher Großartigkeit
erblickte. Hier sah mich das volle interesselose Sonnenauge der Kunst an,
hier sah ich Krankheit und Heilung, Verbannung und Zufluchtsort, Hölle
und Himmel. 600

Und am 8.10. 1868 schreibt er an Rohde 6 0 ':


Mir behagt an Wagner, was mir an Schopenhauer behagt, die ethische
Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft etc.
Nietzsche und Schopenhauer berührte die Welt auf die gleiche Weise, das
Leiden war für Schopenhauer wie Nietzsche („Schmerz ist der Grundton
der Natur") das factum brutum derselben. 602 Indes war ihnen nur kurze Zeit
die Hinsichtnahme auf dieses Faktum gemeinsam. Bald schied Nietzsche
zwischen einem lebensverneinenden Pessimismus, den er Schopenhauer
zusprach, und einem lebensbejahenden, den er für sich in Anspruch nahm,
zwischen einem, wie er später sagte, Pessimismus der Schwäche als
„Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten
und geschwächten Instinkte [ . . . ] — wie er es bei den Indern war, wie er es,
allem Anschein nach, bei uns, den ,modernen' Menschen und Europäern
ist", und einem Pessimismus der Stärke, einer „intellektueile[n] Vorneigung
f ü r das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus
Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l l e des Daseins". 603
(Daß er im „Versuch einer Selbstkritik" seiner „Geburt der Tragödie"
Anlaß haben sollte, darüber Klage zu führen, sich diese seine
„dionysischefn] Ahnungen" „mit Schopenhauerischen Formeln [ . . . ]
verdunkelt und verdorben zu haben" 604 , das hat seinen Grund nicht zuletzt
darin, daß er an demjenigen, dem seine philosophische Erstlingsschrift
gewidmet war, an Richard Wagner nämlich, doch auch anderes fand als
bloßes Behagen über die ,ethische Luft' etc.: Er sah in ihm, wie er am
9. Dezember 1868 an Rohde schrieb, „die leibhaftigste Illustration dessen,
was Schopenhauer ein Genie nennt" 6 0 5 , dazu im folgenden.)
Jene Umdrehung der Sichtweise auf das Leben oder den „Willen" hebt
mit der Einsicht an, daß der lebensverneinende Pessimismus Schopenhauers
als „Folge der [logischen] Erkenntniß vom absolut Unlogischen der
Weltordnung" 6 0 6 selber „praktisch und theoretisch unlogisch [ist]. Weil die
Logik nur die μ η χ α ν ή des Willens ist." 607 In allem, was ist, will der Wille
sich, d. h.:
Man kommt nicht über den Willen hinweg: die Moral, die Kunst stehen nur
in s e i n e m Dienste und arbeiten nur für ihn. Vielleicht ist die Illusion, daß
es gegen ihn geschehe, nothwendig. 608
132 Voraussetzungen

Für die „asketischen Richtungen", zu denen Nietzsche neben dem


Christentum auch Schopenhauer zählt, gilt nämlich, daß sie „die Folge der
verkümmerten Natur" 6 0 9 sind, was meint, daß das Leben so entartet ist, daß
der Wille sich nur wollen kann, indem er sich — scheinbar — negiert:
Dies ist die große Illusion: der Wille hält uns am Dasein fest und wendet
jede Überzeugung hin zu einer Ansicht, die das Dasein ermöglicht.610
„Dies ist die große Illusion" — der Satz sagt es: auch er selbst — als
Gewollter des Willens, der er ist. Denn der „Wille" Nietzsches ist seinem
eigenen Anspruch nach „Illusion" — auch der „Wille" der „Geburt der
Tragödie", welcher demjenigen Schopenhauers eben doch nur in
vordergründiger Sichtweise ähnelt. Einer Interpretation, die das am
veröffentlichten Text nachweisen wird, vorgreifend, läßt sich solches
aufzeigen an der Vorstufe des ,,Fragment[s] einer erweiterten Form der
,Geburt der Tragödie', geschrieben in den ersten Wochen des Jahres
1871 ".en In diesem Text denkt Nietzsche wie in seiner philosophischen
Erstlingsschrift die Welt vom Ur-Einen oder „Weltauge" aus als Schein
desselben, darin sich dieses wiederspiegelt und anschaut, in noch höherer
Weise aber im Schein des Kunstwerkes, welches der Genius für es schafft:
als Schein des Scheins der Welt stellt es einen potenzierten Schein dar. Die
Vorstufe bemerkt zu dieser Konzeption aber:
[Dabei vergessen] wir nicht, daß jener ganze Prozeß [des Werdens der
Welt und der Entstehung des Genius, Th. B.] nur unsere nothwendige
Erscheinungsform [ist], soweit ohne alle metaphysische Realität ist: daß
wir aber mit all unseren Beweisen aus dieser Schranke nicht heraus können
und sie höchstens als solche zu erkennen befähigt sind. Wenn ich im
Vorhergehenden von dem Genius und dem Schein zu reden wagte, als ob
mir eine über jene Schranke herausgehende Erkenntniß zu Gebote stünde
und als ob ich aus dem r e i n e n großen Weltauge zu blicken vermöchte: so
sei nachträglich erklärt, wie ich mit jener Bildersprache nicht glaube, aus
dem anthrophomorphischen Kreise herausgetreten zu sein. Aber wer hielte
das Dasein aus, ohne solche mystische Möglichkeiten? Und noch erwarte
ich Wir, die wir genöthigt sind, alles unter der Form des Werdens
612
d. h. als Willen zu verstehen
Wenn der „Wille" Schopenhauers, welcher gleichfalls in der Welt zu seiner
Selbsterkenntnis zu gelangen sucht, beansprucht, Bestimmung des
Kantischen „Dinges an sich" und damit Wahrheit an sich, metaphysische
Realität, zu sein, so weiß Nietzsche, wie wir schon früher ausgeführt haben
(siehe Seite 34 f.), daß dieser „Wille" bestenfalls „die allgemeinste
Erscheinungsform" 6 1 3 sein kann. Das wird auch an einigen Stellen der
„Geburt der Tragödie" deutlich, obgleich sich ihre Bestimmungen
vordergründig als metaphysische Realitäten auszugeben bestrebt sind. Den
Grund dafür nennt die obige Textpassage: „wer hielte das Dasein aus, ohne
solche mystische Möglichkeiten?", d . h . ohne metaphysischen Glauben.
„ W a s f r u c h t b a r ist, allein ist w a h r . " 133

Das Bedürfnis des Menschen nach Metaphysik hat bereits Kant in der
transzendentalen Dialektik der „Kritik der reinen V e r n u n f t " zu begründen
versucht, indem er die Notwendigkeit von Vorstellungen des Unbedingten
als Regulationen der Erkenntnis erwiesen hat: das Bestreben menschlicher
Erkenntnis geht immer darauf hinaus, den Zusammenhang des von der
Erfahrung dargebotenen Bedingten auf ein „Unbedingtes" zu beziehen, das
indes infolge der Endlichkeit der Erfahrung niemals ein Gegenstand
derselben sein kann. In Bezugnahme auf diese Ausführungen hat dann
Schopenhauer ausdrücklich von einem „metaphysischen Bedürfnis" des
Menschen gesprochen 614 und als weitere Erklärung für dasselbe
hinzugefügt:
ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod und neben diesem die
Betrachtung des Leidens und der Not des Lebens, was den stärksten Anstoß
zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der
Welt gibt. (WaWII, 207 f.)
Es sei dies letztlich die Frage danach, „warum die Welt dasei und gerade
diese Beschaffenheit habe" (ebd., S. 208), welche er, wenn auch nicht in
Hinblick auf ein „Absolutum", das, so seine Selbstkorrektur im 2. Teil seines
Hauptwerkes, „der menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig
unfähig ist" (edb., S. 240), so doch zumindest in Hinblick auf die Welt der
Erscheinungen schlüssig, d. h. richtig 615 , und damit letztgültig beantwortet
habe.
Dementgegen geht Nietzsche davon aus, daß „die reine Wahrheit
unerkennbar" 6 1 6 ist, woraus zwar auf die „Unmöglichkeit der Metaphy-
sik" 617 , nicht aber zugleich auf den Verlust ihrer Existenzberechtigung
geschlossen werden kann.
W a s soll j e t z t die P h i l o s o p h i e ? ,
fragt Nietzsche im Winter 1872/73 618 , und er findet als eine Antwort: „einen
Menschen concentriren". 619 Sie soll mithin den Horizont setzen, von dem
her sich der einzelne zu sich und seinem Lebensvollzug sammeln kann. Sie
soll das Leben zu einer Einheit zusammenschließen und damit das leisten,
was einst der Mythos als ,,zusammengezogene[s] Weltbild", als
„Abbreviatur der Erscheinung" 6 2 0 vollbracht hat. Zerstört wurde der
Mythos zufolge der „Geburt der Tragödie" durch die Wissenschaft 621 ,
welche den Menschen in eine „Unendlichkeit des Horizontes" 6 2 2 hineinstellt
„durch fortwährendes Verschieben der Horizont-Perspektiven". 6 2 3 Aber es
ist ein allgemeines Gesetz: jedes Lebendige kann nur innerhalb eines
Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen
Horizont um sich zu ziehen und zu selbstisch wiederum, innerhalb eines
fremden den eigenen Blick einzuschliessen, so siecht es matt oder
überhastig zu zeitigem Untergange dahin.624
134 Voraussetzungen

Die Aspekte von „ W e l t " mögen potentiell unendlich sein, aber die
Lebens-,,Welt" kann, weil Leben sich im Fortschreiten von Gesichtspunkt
zu Gesichtspunkt vollzieht, nur endlich und d. h. perspektivisch und
horizonthaft sein: Bereits der Eröffner dieser metaphysischen Grundstel-
lung, Leibniz, hat darauf hingewiesen, daß Welt (werelt) „Umkreis der
Erde, orbis terrarum" besagt:
Wirren, Werre ( W i r e bey den Engländern, G y r u s bei den Griechen)
bedeutet, was in die Runde sich herum ziehet. 625
Das, was ist, zur „ W e l t " und d . h . für ihn: zur Vorstellung eines
unbedingten Zusammenhangs aller äußeren Erscheinungen zu ründen, das
hat Kant schließlich als ein Bedürfnis unserer Verstandeserkenntnis zu
erweisen gesucht: „ W e l t " rechne zu den notwendigen Vorstellungen, die
dem menschlichen Verstand aufgegeben sind.
Mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Weltverhaltung bei den
Vorsokratikern — Nietzsche sieht in Thaies den ersten Zerstörer des
Mythos 626 — befindet sich ihm zufolge das Leben oder der „Wille" indes in
der Gefahr, seinen jeweiligen sich selbst gesetzten Horizont und damit die
Menge der Aspekte von Welt, welche Aspekte seiner selbst sind, über das
ihm für seinen Vollzug eben noch zuträgliche Maß hinaus zu erweitern und
damit seine eigene Zerstörung zu betreiben.
Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es
allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist:
Steigerung der Weltbejahung. [ . . . ] .
Es ist nachzuweisen, daß in Griechenland der Prozeß im Kleinen schon
vollzogen ist: obwohl diese griechische Wissenschaft nur wenig bedeutet. 627
Bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 ist Nietzsche dieser nihilistische
Charakter der Wissenschaft, ihre Vernichtung der „Welt", aufgegangen.
Welcher Prozeß, wie wir sehen werden, in Nietzsches Augen seinen
H ö h e p u n k t erreicht mit Kants Nachweis, daß „Welt", sofern man sie für die
Vorstellung eines Gegenstandes hält, nichts als transzendentaler Schein ist.
Wie indes eine solche Selbstgefährdung des „Willens" möglich sein, wie
das Leben entarten kann, wenn doch alles, was ist, ihm zu dienen hat — auch
die Wissenschaft (um dies zum Ausdruck zu bringen, spricht Nietzsche von
„Erkenntnißtrieb", und so geht von ihr zunächst ja auch eine „Steigerung
der Weltbejahung" aus:
Die Wissenschaft steht auch unter der Herrschaft des Triebes zum Leben:
die Welt ist werth erkannt zu werden: der Triumph der Erkenntniß hält am
Leben fest.,

notiert sich Nietzsche im Zeitraum Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0628) —


ob es f ü r jene Selbstzerstörung des Willens überhaupt eine stichhaltige
„ W a s fruchtbar ist, allein ist wahr." 135

Erklärung geben kann, das müssen wir zunächst offenlassen. Vorderhand


haben wir vielmehr daran zu erinnern:
D a s Leben unterstützen — zum Leben verführen, ist [ . . . ] die jeder
Erkenntniß zu G r u n d e liegende Absicht, das unlogische Element, welches
als der Vater jeder Erkenntniß auch die Grenzen derselben bestimmt. 6 2 9
D a s äußert sich nicht zuletzt in der Weise eines beständigen ,,Umschlagen[s]
der Wissenschaft in K u n s t " , d. h. in ein ,,mythische[s], mit Phantasmen
geschmückte[s] Weltbild" 6 3 0 , und dies — „ g e m ä ß einer Art von Alloeopathie
der N a t u r " —
bei dem jedesmaligen Erreichen ihrer Grenzen. D e n Beginn des letzteren
Prozesses haben wir uns etwa so vorzustellen, daß der theoretische Mensch
an irgend einem Punkt der anschaulichen Welt die Existenz einer Illusion
wahrnimmt, die allgemeine Existenz einer naiven T ä u s c h u n g der
Sinnlichkeit und des Verstandes, von der er unter behutsamem Gebauch
der Kausalität und an der H a n d des logischen Mechanismus sich selbst
befreit: dabei entdeckt er zugleich, daß die gewöhnliche mythische
Vorstellung jenes H e r g a n g s im Vergleich mit seiner Erkenntniß einen
Irrthum enthalte, daß somit das als glaubwürdig verehrte Weltbild des
V o l k s mit nachweisbaren Irrthümern behaftet sei. S o beginnt die
griechische Wissenschaft 6 3 1 ,

die sich somit in ihrem Wesen als nihilistisch erweist, insofern sie Illusionen
zerstört, die sich als lebenserhaltend gezeigt haben: die das Denken und T u n
des Volkes bestimmenden Weltbilder. 6 3 2 Doch pendelt die griechische
Wissenschaft diese nihilistische T e n d e n z sogleich wieder aus, indem sie, wie
Nietzsche fortfährt,
sofort in ihren ersten Stadien, im G r u n d e nur als Embryo der Wissenschaft,
schon in Kunst umschlägt und von dem fußbreiten soeben errungenen
Standpunkte aus durch eine phantastische Analogie ein neues Weltbild ins
Blaue zeichnet, die Welt als Wasser oder als Luft oder als Feuer. Hier ist
ein einfaches chemisches Experiment durch eine Hohlspiegelvergrößerung
zum Ursprung des Seins gemacht w o r d e n : als welchen K o s m o g o n i e n zu
Liebe jetzt die Vielheit und Unendlichkeit des Vorhandenen nur durch eine
U n z a h l physikalischer Phantasmen, j a wenn diese nicht zureichen, selbst
durch die alten Volksgötter, erklärt werden müssen. 6 3 3
Nachdem das „griechische" Leben den Mythos zerstört hat, weil es sich
angesichts ,,[d]essen grenzenlose[r] Unsicherheit und W o g e n " „nach
Sicherem" sehnte 634 , treibt es umgekehrt hinwiederum, im unvergänglichen
Bedürfnis nach einem horizonthaft geschlossenen Weltbild, über die
Erkenntnis des einzelnen Seienden hinaus, wobei es sich über die — von der
Erkenntnis selber hervorgebrachten — logischen Gesetze hinwegsetzt. Was
fruchtbar ist, ist dem Leben wahr — und fruchtbar sind die
wissenschaftlichen Feststellungen für es allein dort, wo sie in einem ihnen
vorausgesetzten Weltbild aufgehoben sind, „denn ohne ein solches
136 Voraussetzungen

regulatives Gesammtbild sind sie Stricke, die nirgends an's Ende führen und
unsern Lebenslauf nur noch verwirrter und labyrinthischer machen." 635
So mag immerhin jenes mythische, mit Phantasmen geschmückte Weltbild
nur als Übertreibung einer kleinen wissenschaftlichen Einzelerkenntniß
erscheinen: in Wahrheit ist es der treibende Grund dieser Erkenntniß 636 .

Und dies darum, weil in jenem Weltbild, das die künstlerische Phantasie, der
Erkenntnis vorausspringend, dieser voraussetzt, dem Leben neue
Möglichkeiten seiner Aufsteigerung eröffnet werden — in dieser ihrer
Fruchtbarkeit sind sie wahr. Im Geschehnis der Voraussetzung dieses
Weltbildes scheint somit die tiefste Scheinbarkeit des Werdens auf — indes
nur momenthaft, weil sie in ihm zugleich auf bestimmte Möglichkeiten
festgemacht wird, die die nachhinkende Erkenntnis zu ergreifen sucht.
Solcherweise ergriffen, hat sich der Aufschein unter der H a n d immer schon
zum Anschein verdüstert.
In diesem „Kampf von Kunst und Erkenntniss" 637 vollzieht sich mithin
das Werden des Lebens, es ist nichts anderes als dieser Widerstreit von
Setzung eines phantasieerzeugten Bildes vom „ G a n z e n " der Welt und
Aufhebung desselben durch feststellende Erforschung des einzelnen, ein
Widerstreit, der Nietzsche zufolge vorzüglich im Philosophen statthat; denn
in den Vorsokratikern sieht Nietzsche auch die ersten Philosophen. Woraus
sich ergibt, daß Philosophie Wissenschaft ist, soweit sie Erkenntnis am
Leitfaden der Kausalität anstrebt, und daß sie zur Kunst wird, soweit sie
über eine solche Erkenntnis hinausgehend ein horizonthaft geschlossenes
Weltbild anstrebt. Wenn Thaies ausgehend von dem Satz „Alles ist Eins" —
der, wie wir wissen, „seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und
dem wir bei allen Philosophien [ . . . ] begegnen" 638 —, wenn Thaies
sagt „Alles ist Wasser", so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen
Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die
letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine
Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade. 639 ,
bändigt derweise den Erkenntnistrieb durch ein künstlerisches Bild, so lange,
bis dieser erneut seine Fesseln zerreißt — und so fort: „In Thaies siegt zum
ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder
der weise Mensch über den wissenschaftlichen.", notiert sich Nietzsche im
Sommer 18 75.640 Es liegen somit fortwährend, wie Nietzsche auch sagt,
„Wissenschaft und Weisheit im Kampfe" 6 4 1 — was man zureichend erst
dann verstehen kann, wenn man, wie wir dies erst anläßlich unserer
Interpretation der „Geburt der Tragödie" tun können, bedenkt, was
„ K a m p f " für Nietzsche heißt. Hier wollen wir zu jenem besonderen Kampf
mit Nietzsche nur noch soviel bemerken:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 137

Das griechische W o r t , welches den „Weisen" bezeichnet, gehört


etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos
der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausmerken und
-erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem
Bewußtsein des Volkes, die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus.
[ . . . ] Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen
Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden
Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer
auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen
Erkenntnisse. N u n ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im
moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer
Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. „Das ist
g r o ß " sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde
ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der
Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte
Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als
erreicht betrachtet. 642
Sofern die Philosophie ihrem Namen und d. h. ihrer Wesensbestimmung
entsprechend „Liebe zur Weisheit" ist, ist sie Kunst, weil sie einen Begriff
von Größe schafft, der den Erkenntnistrieb und damit die Wissenschaft
bändigt. Insofern die Philosophie auch Wissenschaft oder, wie in der Antike,
die nur vereinzelt, mit Aristoteles und seiner Schule, den großen Ärzten und
den Atomistikern etwa, Ansätze zu einzelwissenschaftlichem Denken
ausbildete, die Wissenschaft ist, vollzieht sich diese Bändigung einerseits
innerhalb ihrer selbst, seit dem Ausgang der Antike, mit dem sich die
Philosophie in das Gewand der christlichen Theologie kleidet 643 ,
andererseits auch im Widerstreit gegen die einzelwissenschaftlichen
Disziplinen. In welchem Kampf es jedoch keineswegs „um eine Vernichtung
der Wissenschaft, sondern um eine B e h e r r s c h u n g " 6 4 4 derselben durch
die Kunst-Philosophie geht, die diese bisher vor allem dadurch erlangt hat,
„daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als
erreichbar und als erreicht betrachtet [hat]."
Doch ausgerechnet jetzt, da das Leben mehr denn je einer solchen
Bändigung des Erkenntnistriebes bedarf, ist dieser „ u r s p r ü n g l i c h e
Z w e c k d e r P h i l o s o p h i e [ . . . ] v e r e i t e l t " 6 4 5 worden.
Im Zuge der Kulturentwicklung hat der Mensch nämlich inzwischen den
Instinkt verloren für das ihm zuträgliche Maß an Erkenntnis — der
Erkenntnistrieb wird nicht mehr „hervorgerufen durch Hunger, regulirt
durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die
innewohnende plastische Kraft" 6 4 6 , d. h. die Fähigkeit, das erkannte Fremde
sich anzuverwandeln. 647 Dies aber nur vordergründig darum, weil die
Erkenntnis nicht mehr im Dienste des Lebensvollzuges steht, sondern
Selbstzweck geworden ist 648 ; denn die Erkenntnis ist als Trieb, wie gesagt,
138 Voraussetzungen

nicht nur Treiber, sondern auch Getriebener des Lebens, das sich in ihm
selber treibt. „Der maaßlose unwählerische Erkenntnißtrieb" ist darum für
Nietzsche
ein Zeichen, daß das Leben alt geworden ist: die Gefahr ist groß, daß die
Individuen s c h 1 e c h t werden, deshalb werden ihre Interessen gewaltsam
an Erkenntnißobjekte gefesselt, gleichviel welche. Die allgemeinen Triebe
sind so matt geworden und halten das Individuum nicht mehr im Zaume.649
Wird damit zum einen deutlich, daß Nietzsche seinen Grundbegriff des
Lebens, den er indes erst in seiner Spätphilosophie einer zureichenden
Klärung zuzuführen weiß650, biologisch zu verstehen geneigt ist, so zeigt
sich gleichzeitig, daß ihm dieses Verständnis als Erklärung für die
beobachteten Gefährdungen des Lebensvollzuges zu dienen hat. Er sucht
damit dem Grundproblem einer jeden monistischen Philosophie oder
Weltanschauung zu entgehen, wie sie nämlich die Dualismen der Welt
erklären soll. Uns erscheint jedoch die Annahme eines biologischen
Alterungsvorganges als Antwort auf die Frage nach dem Woher der
Selbstgefährdung des Lebens nicht stichhaltig — woraus sollte ihm dann die
Fähigkeit zu einer erneuten Blüte erwachsen? Ein besseres Erklärungsmu-
ster bietet das ebenfalls gebrauchte Bild der Erkrankung, das Nietzsche vor
allem in seiner Spätphilosophie — in Anknüpfung an Goethes
Unterscheidung: „Das Klassische nenne ich das Gesunde und das
Romantische das Kranke" 651 — auf sämtliche decadence-Erscheinungen
bezieht.
„Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es
allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist:
Steigerung der Weltbejahung." —: Um die gefährlichen Spätfolgen des
Konsums dieser Droge verhüten zu können,
bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Ueberwachung; eine
Gesundheitslehre d e s L e b e n s stellt sich dicht neben die
Wissenschaft. 652
Und diese hätte nunmehr bewußt zu sein: die Philosophie. So lautet ein
Titelentwurf Nietzsches zu einem geplanten Philosophenbuch:
D e r P h i l o s o p h als A r z t der Cultur.653
Indes ist es fraglich, wie sie, die sie dieses Wächteramt bisher mehr oder
minder unbewußt ausgeübt hat — von dem Kampf zwischen Weisheit und
Erkenntnis weiß sie, so Nietzsche, erst seit Kant —, sich für dieses nunmehr
legitimieren soll, insofern zu dem hemmungslosen „ l a i s s e r a l l e r
u n s e r e r W i s s e n s c h a f t " 654 „in gewissem Sinne" eben Kant beigetragen
hat, indem in Konsequenz seiner Erkenntnis jenes Gegensatzes der „Glaube
an die Metaphysik [ . . . ] verloren gegangen [ist]"655, welche den
Erkenntnistrieb in der Weise bändigte, daß sie die von ihr gesetzten Werte
als Werte an sich ausgab. Wie aber sollen jetzt Werte legitimiert und d. h.
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . " 139

allgemein verbindlich gemacht werden können, wenn seit der „Kritik der
reinen Vernunft" die Erkenntnis von Wahrheiten an sich, und d. h. im
Hinblick auf den Vollzug des Lebens eben: von Werten an sich, als
unmöglich erwiesen ist und damit „das Ende der Philosophie" — worunter
Nietzsche in seiner Frühzeit immer „Metaphysik" versteht — durch
„Selbstcastration" 6 5 6 gekommen scheint. So ist auch der Satz „Alles ist
Eins", dem wir „bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten
Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen" 6 5 7 , nunmehr als „ein
metaphysischer Glaubenssatz" erwiesen worden, „der seinen Ursprung in
einer mystischen Intuition hat" 6 5 8 , stellt er doch ein Derivat desjenigen dar,
was Kant mit „Welt" faßt 659 und als regulative Vernunftidee ausgewiesen
hat, als eine Idee mithin, der kein Gegenstand möglicher Erkenntnis
zukommt und damit jede Vergewisserungsmöglichkeit abgeht. In unserer
von den Wissenschaften und ihrem Wahrheitsbegriff der certitudo
beherrschten Zeit gilt aber „das Geringste, was hier wirklich a u s g e m a c h t
werden kann, [ . . . ] höher als alle metaphysischen Ideen." 660 Wenn Kant im
Namen dieses Wahrheitsbegriffes die bisherige Metaphysik kritisiert hat —
nicht um die „Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt" (Kr.d.r.V.,
A XII) zu erweisen, sondern um „eine völlige Reform, oder vielmehr eine
neue Geburt derselben" (Prolegomena, A 7) einzuleiten, und dies, erfüllt
von Lutherischem Geiste, auf dem Felde des Glaubens, des ,,reine[n]
praktische[n] Vernunftglaube[ns]" (Kr.d.pr.V., A 236) nämlich, der „dem
Grade nach keinem Wissen nachsteht" 661 ; erinnert sei an einen Kernsatz der
Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft" (Β X X X ) : „Ich mußte [ . . . ] das
W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen" —, so ist
dieser Versuch, „ein Gebiet vor d e m W i s s e n [zu] r e t t e n " 6 6 2 , nach
Nietzsches Beobachtungen gescheitert. Solches in unserer wissenschafts-
gläubigen Zeit zu unternehmen, heißt, wie er erkennt, das betreffende
Gebiet dem Absterben preiszugeben, denn:
D e r Grad der S i c h e r h e i t bestimmt hier den Werth, nicht den Grad der
U n e n t b e h r l i c h k e i t für den Menschen. [ . . . ] Während jeder Mensch
zufrieden ist, wenn ein T a g vorbei ist, wühlt gräbt und combinirt später der
Historiker nach diesem T a g , um ihn der Vergessenheit zu entreißen 663 .
Jetzt, da die Wissenschaft im Kampf gegen die Weisheit endgültig obsiegt zu
haben scheint — auf Kants „ ,Ding an sich' wird niemand rechnen können,
als ob es ein bändigendes Princip sei" 6 6 4 — gefährdet sie nach Nietzsches
Ansicht den Vollzug des Lebens, zu dessen Beförderung sie doch eigentlich
von diesem hervorgebracht worden ist: zum einen durch ihr nunmehr
ungebändigtes Streben nach sicheren und sichernden Fest-stellungen und
zum andern durch die damit einhergehende, beständig wachsende
Aufsplitterung der Erkenntnisse — Wissenschaft gründet und vereinzelt sich
140 Voraussetzungen

in b e s t i m m t e G e g e n s t a n d s b e r e i c h e , die d a r ü b e r h i n a u s selber w i e d e r z e r l e g t
werden665—, deren Z u s a m m e n f a s s u n g zu einem geschlossenen philosophi-
s c h e n u n d d. h. f ü r N i e t z s c h e j e t z t n o c h : m e t a p h y s i s c h e n W e l t b i l d , in d e m
„ a l l e s E i n z e l n e u n d V e r e i n z e l t e als e t w a s V e r w e r f l i c h e s v e r d a m p f t u n d n u r
d a s G a n z e u n d E i n h e i t l i c h e b e s t e h e n bleibt" 6 6 6 , als b l o ß s p e k u l a t i v u n d d a m i t
illusionär v e r w o r f e n wird.
Mit diesem Weltbild aber geht dem menschlichen H a n d e l n M a ß und
R i c h t u n g v e r l o r e n — d a s W i s s e n u m das W e s e n t l i c h e e n t s c h w i n d e t . In
s e i n e r 2. U n z e i t g e m ä s s e n B e t r a c h t u n g , in d e r N i e t z s c h e a m Beispiel d e r
H i s t o r i e die F o l g e n u n t e r s u c h t , die diese E n t f e s s e l u n g d e r W i s s e n s c h a f t e n
f ü r das Leben hat, bemerkt er d a z u :
Machen wir uns jetzt ein Bild von dem geistigen Vorgange, der hierdurch
in der Seele des modernen Menschen herbeigeführt wird. Das historische
Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und
hinein, das Fremde und Zusammenhangslose drängt sich, das Gedächtniss
öffnet alle seine T h o r e und ist doch nicht weit genug geöffnet, die N a t u r
bemüht sich a u f s Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen
und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint
nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem
Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches
unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich
zu einer zweiten Natur, ob es gleich ausser Frage steht, dass diese zweite
N a t u r viel schwächer, viel ruheloser und durch und durch ungesünder ist,
als die erste. Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge
von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei
Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.
Durch dieses Rumpeln verräth sich die eigenste Eigenschaft dieses
modernen Menschen: der merkwürdige Gegensatz eines Inneren, dem kein
Aeusseres, eines Aeusseren, dem kein Inneres entspricht, ein Gegensatz,
den die alten Völker nicht kennen. Das Wissen, das im Uebermaasse ohne
Hunger, ja wider das Bedürfniss aufgenommen wird, wirkt jetzt nicht
mehr als umgestaltendes, nach aussen treibendes Motiv und bleibt in einer
gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit
seltsamem Stolze als die ihm eigenthümliche „Innerlichkeit" bezeichnet.
Man sagt dann wohl, dass man den Inhalt habe und dass es nur an der Form
fehle; aber bei allem Lebendigen ist dies ein ganz ungehöriger Gegensatz.
Unsere moderne Bildung ist eben deshalb nichts Lebendiges, weil sie ohne
jenen Gegensatz sich gar nicht begreifen lässt, das heisst: sie ist gar keine
wirkliche Bildung, sondern nur eine Art Wissen um die Bildung, es bleibt in
ihr bei dem Bildungs-Gedanken, bei dem Bildungs-Gefühl, es wird kein
Bildungs-Entschluss daraus. 667
D a ß das L e b e n n u r n o c h d u r c h die w i s s e n s c h a f t l i c h e W e l t v e r h a l t u n g seinen
V o l l z u g z u e r m ö g l i c h e n w e i ß , z e u g t in N i e t z s c h e s A u g e n , w i e g e h ö r t ,
davon, „ d a ß das Leben alt", „die allgemeinen Triebe [ . . . ] matt g e w o r d e n
s i n d " (siehe Seite 138). Es sichert n u r n o c h s e i n e n B e s t a n d — dies die A u f g a b e
der feststellenden Erkenntnis, der Wissenschaft —, aber treibt nicht m e h r
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 141

über den jeweils gesicherten Stand hinaus, eröffnet sich mithin kaum noch
neue Möglichkeiten des Werdens, die aufscheinen zu lassen, dem Schein der
Kunst obliegt, zu der Nietzsche, gestuft nach dem Grad der Schöpferkraft,
jede die Physis umschaffend aufsteigernde, d. h. verbessernde Tätigkeit
zählt: „Verbesserte Physis" ist, so werden wir noch sehen, sein, an der
Antike orientierter, Begriff der Kultur, einer Kultur „ohne Innen und
Aussen, ohne Verstellung und Convention, [ . . . ] als einer Einhelligkeit
zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" 6 6 8 . Die wissenschaftliche
oder, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt, die sokratische
Kultur verbessert hingegen, so lehrt uns der oben zitierte Text, die Physis
nicht, sondern verschlechtert sie — und dies vor allem deswegen, weil ihr in
allem T u n „die praktische Wendung" 6 6 9 fehlt:
Alles A l l g e m e i n - W i c h t i g e einer Wissenschaft ist zufällig
geworden oder f e h l t g a n z .
Das Sprachstudium, ohne die Stillehre und die Rhetorik.
Die indischen Studien, ohne die Philosophie.
Das klassische Alterthum, ohne Zusammenhang mit den praktischen
Bestrebungen, von ihm zu lernen.
Die Naturwissenschaft, ohne jene Heilung und Ruhe, die Goethe fand.
Die Geschichte, ohne den Enthusiasmus. 670
Erkenntnis wird zum reinen Selbstzweck, die Frage nach ihrem Nutzen für
den Lebensvollzug wird nicht gestellt, der Handlungswille, und d. h. für
Nietzsche: der Wille zur kulturschaffenden Tat, ist gelähmt. Der
„Weltinnenraum" ist auf Kosten des Außenraumes hypertrophiert.
Eine „ G e s u n d h e i t s l e h r e d e s L e b e n s " hat darob zunächst den
zerstörerischen Einfluß des Wahrheitsbegriffes der certitudo zurückzudäm-
men, welcher, so Nietzsche, gegebene Wahrheiten an sich festzustellen
sucht. Nietzsche tut dies, indem er ihn im Namen eines, seines
umfassenderen, dem Leben gemäßeren Wahrheitsbegriffes kritisiert. Oder
besser: destruiert — wenn „Destruktion" dabei in jenem Sinne verstanden
wird, in dem Heidegger diesen Begriff in „Sein und Zeit", §6, verwendet:
Er faßt in ihm die „positive Absicht", philosophische Bestimmungen auf ihre
vergessenen oder überhaupt niemals in den Blick geratenen Fundamente,
ihre „Voraussetzungen", zurückzuführen und durchsichtig zu machen,
ohne daß diese „in Nichtigkeit begraben" 6 7 1 werden sollen. Geht es
Nietzsche, wie gesagt, doch keineswegs um eine Zerstörung der
Wissenschaft — der vor allem ja die den Vollzug des Werdens gründende
Bestandsicherung des Lebens obliegt —, sondern nur um eine Bändigung
derselben. Demgemäß entwickelt er zunächst, daß alles, was ist, vom reinen
Werden des Lebens zur Beförderung seines Vollzuges hervorgebracht wird,
auch der Wahrheitsbegriff:
142 Voraussetzungen

W e n n es auf den W e r t h der Erkenntniß a n k o m m t , anderseits ein schöner


W a h n , wenn nur an ihn g e g l a u b t wird, g a n z den gleichen W e r t h wie eine
Erkenntniß hat, s o sieht man, daß das Leben Illusionen braucht, d. h. f ü r
Wahrheiten gehaltene Unwahrheiten. Es braucht den G l a u b e n an die
Wahrheit, aber es g e n ü g t dann die Illusion, d. h. die „Wahrheiten"
beweisen sich durch ihre W i r k u n g e n , nicht durch logische Beweise,
Beweise der K r a f t . D a s W a h r e und das W i r k e n d e gilt f ü r identisch, m a n
beugt sich der G e w a l t auch hier. 6 7 2
In der tiefsten Schicht zeigt sich mithin, daß vom Leben „wahr" derjenige
Schein, alle die „Illusionen" genannt werden, die für seinen Vollzug von
Wert und d. h. fruchtbar sind. Sämtliche möglichen „ontischen"
Wahrheitsbegriffe sind derweise „ontologisch" fundiert in der Wahrheit als
Fruchtbarkeit oder Wert für das Leben, bzw. für den sich selbst wollenden
Willen. (Wobei die aus der Tradition überkommenen Begriffe „ontisch"
und „ontologisch", die im Falle Nietzsches, für den das öv höherer Schein
ist, an sich nur negativ gebraucht werden können — so spricht Fink etwa von
„negativer Ontologie des Dinges" bei Nietzsche 673 —, hier nur zur
Bezeichnung eines Stufungs- bzw. Fundierungsverhältnisses verwendet
werden.)
Fruchtbar ist die certitudo der Wissenschaft, wie Nietzsche sie versteht,
nun aber in der Weise, daß sie mit ihrem Willen, Wahres festzustellen, dem
Leben im Strome seines eigenen Werdens den für den Vollzug desselben
notwendigen Halt und Bestand verschafft, wenngleich solches auch nur dem
Scheine nach. Doch zeigt sich mehr und mehr, daß ihr feststellender Begriff,
weil er vermeint, Wahres an sich zu halten, diesen Bestand nicht mehr ins
Werden freigibt — was in Nietzsches Augen von einer Schwäche des Lebens
kündet, seinen Vollzug zu wollen.
Fruchtbarer und wahrer, weil das Werden bejahend und fördernd,
schein es Nietzsche dementgegen zu verkünden: „Was fruchtbar ist, allein
ist wahr" — wie dies beispielsweise die 2. Unzeitgemässe Betrachtung in
bezug auf die Geschichte ausführt 674 , indes in mehr oder minder verhüllter
Weise. Die aus dem Wissen um die Relativität jedweder Erkenntnis
hervorgehenden Gedanken über den „letzten Philosophen" hält Nietzsche
nämlich zurück. Ihre Mitteilung weiß er noch nicht zu rechtfertigen,
scheinen sie ihm doch für die Mehrheit seiner Leser kaum fruchtbar zu
sein...
Dabei bedeutete doch eine solche Verkündigung nichts anderes, als daß
man dazu angehalten wird, auf der „ontischen" Ebene ausdrücklich und
damit „eigentlich" zu sagen und zu tun, was das Leben, wie die
„ontologische" Bestimmung erweist, „uneigentlich" immer schon getan hat.
Wie solches für ein starkes, gesundes Leben sprechen würde, das in der
Zurückweisung von unaufhebbaren Fest-stellungen das Werden und damit
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 143

sein eigenes „ W e s e n " bejaht und sich somit selbst ergreift — im Gegensatz
zum selbstentfremdeten, schwachen Leben. Schon in diesem f r ü h e n Ansatz
ist somit zu erkennen, was nach Fink erst „die Schriften der Folgezeit nach
dem ,Zarathustra'" 6 7 5 beherrscht. Nietzsche bleibt nämlich nicht „bei der
philosophischen Besinnung auf den transcendentalen Wertentwurf des
Daseins stehen, w o das Leben als das Letzlich = W a g e n d e und Spielende
erscheint in allen W e r t u n g e n , sondern er geht über zu einer ,inhaltlichen',
,materiellen' D e u t u n g des Lebens." 6 7 6 Keineswegs nämlich sind f ü r
Nietzsche alle Formen und W e r t e des Lebens, weil von diesem
hervorgebracht, gleichwertig, vielmehr bewertet er sie als Formen
steigenden oder sinkenden Lebens, und dies entsprechend ihrer Gemäßheit
in bezug auf den Willen des Lebens zum selbstüberwindenden Vollzug,
w o z u , wie man an den drei Arten von Geschichte aufzeigen kann, die die
2. Unzeitgemässe Betrachtung kennt, Bauen, Bewahren und Zerstören
gleichermaßen vonnöten sind. 677 „ G e m ä ß h e i t " aber kann man übersetzen
mit „ a d a e q u a t i o " — so daß man sagen kann, die Frage der Bewertung ist f ü r
Nietzsche eine Frage nach der W a h r h e i t im überkommenen Sinne der
adaequatio in jener Weise, ob die von uns als „ o n t i s c h " bzw. „ontologisch"
bezeichneten Ebenen übereinstimmen. Für die Frage nach der W a h r h e i t
heißt dies aber, daß ein Wahrheitsbegriff in Nietzsches Augen um so wahrer,
d. h. um so weniger scheinhaft ist, je mehr er mit der Bestimmung „ W a s
f r u c h t b a r ist f ü r das Leben, ist f ü r es w a h r " übereinkommt. H ö c h s t e r
erreichbarer Grad der W a h r h e i t in diesem Sinne ist darob die Tautologie:
„ W a s f r u c h t b a r ist f ü r das Leben, ist f ü r es w a h r : W a s fruchtbar ist f ü r das
Leben, ist f ü r es w a h r . " W a s insofern nicht verwunderlich sein kann, weil die
Tautologie, wie bereits gehört, Nietzsche zufolge „die einzig [uns]
zugängliche Form der Wahrheit" 6 7 8 darstellt.
W e n n Aristoteles in seiner traditionsgründenden, unausdrücklichen
Wesensdefinition der W a h r h e i t sagt, die „Erlebnisse" der Seele, die
ν ο ή μ α τ α , d. h. die Vorstellungen, seien Angleichungen an die Dinge, so
heißt das f ü r Nietzsche nichts anderes, als daß der Intellekt seine eigenen
V o r -Stellungen vor-s teilt, nämlich seine eigenen Voraus-setzungen ent-
deckt, daß er aber voraussetzt, was dem „ L e b e n " „in i h m " fruchtbar
erscheint, was es, um sich vollziehen zu können, notwendig glauben muß.
W o r a u s sich ergibt, daß der überkommene Wahrheitsbegriff der ό μ ο ί ω σ ι ς
o d e r adaequatio jenem der Fruchtbarkeit untergeordnet ist. Die W a h r h e i t
suchen heißt f ü r Nietzsche demnach:
richtig rubriziren, d. h. einem vorhandenen Begriff richtig die einzelnen
Fälle unterordnen. Hier ist aber der Begriff unsere That, wie auch die
vergangenen Zeiten. Die ganze Welt unter die richtigen Begriffe
subsumiren heißt doch nichts als unter die ursprünglich menschlichen
144 Voraussetzungen

allgemeinsten Formen der Relation die einzelnen Dinge einreihen: also die
Begriffe nur b e w ä h r e n , das was wir unter sie steckten, wieder auch
unter ihnen zu suchen — also im Grunde auch Tautologie. 679
Alle wahre Erkenntnis ist für Nietzsche demnach darum tautologisch, weil
sie nichts als Auffindung, d. h. Anmessung an die „eigenen" Voraus-setzun-
gen, weil sie mithin anthropomorphisch und nicht „wahr an sich" ist.
Solches gilt auch für die vom „Leben" in „Nietzsche" „erkannte"
Voraussetzung dieser Voraus-setzungen, daß f ü r es dasjenige wahr ist, was
f ü r es fruchtbar ist. Auch sie ist nichts als eine Voraussetzung, die sich in der
Auslegung bisheriger Auslegungen und Erkenntnisse in der Weise bewährt,
daß sie sich als fruchtbar erweist, womit sie sich gemäß ihrer eigenen
Aussage als Wahrheit im Sinne tiefster Scheinbarkeit bezeugt. Die
tautologische Struktur wird erneut deutlich: „Was fruchtbar ist, allein ist
w a h r " und dies ist eben: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr". Tautologie —
das heißt demnach: der Satz hat für sich selbst einzustehen, er selbst ist der
Bürge seiner Wahrheit, als unmittelbare Präsentation der „Wahrheit" muß
und kann er nur auf sich selbst bezogen werden, er ist derweise relativ zu
sich selbst.
Dieses unumgängliche Voraussetzen dessen, was erkannt werden soll,
bedenkt Nietzsche später als „Wille zur Macht". Im Aphorismus 9 aus
„Jenseits von Gut und Böse" führt er aus:
Aber dies ist eine alte ewige Geschichte: was sich damals mit den Stoikern
begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an
sich selbst zu glauben. Sie schafft immer die Welt nach ihrem Bilde, sie
kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der
geistigste Wille zur Macht, zur „Schaffung der Welt", zur causa prima. 680
Zwar verzichtet Nietzsche schließlich auf die Fest-stellung eines Seins als
einer „causa prima", doch insofern seine Philosophie die Gegebenheit eines
Daseins ablehnt und die Frage nach dem „ G r u n d " des weltschaffenden
Geschehens stellt, ist auch sie nichts anderes als „dieser tyrannische Trieb
selbst, der geistigste Wille zur Macht" — so daß der Satz sich selbst aussagt,
der „Wille zur Macht" sich mithin als die Voraussetzung seiner selbst
erweist. Von den Sätzen aus führt keine Brücke zu irgendwelchen
„Gegenständen", sie selbst erschaffen solche „Gegenstände" erst für sich
und bleiben darob in sich: der Appell an ein ganz anderes ist längst „Im
grossen Schweigen" verhallt (siehe Anmerkung 418). Der „Wille zur
Macht" ist die Philosophie dieser Erkenntnis, die sich selbst entsprechend,
nichts als Voraus-setzung, autoritative Behauptung, Machtsetzung darstellt
— dies die Erklärung für das allen Selbstrelativierungen scheinbar
widersprechende Pathos des Nietzscheschen Sagens. Selbstrelativierung und
Machtgestus erwachsen somit aus einer gemeinsamen Wurzel, wie die
nachfolgende Aufzeichnung vom August—September 1885 belegt:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 145

Unter dem nicht ungefährlichen Titel „der Wille zur Macht" soll hiermit
eine neue Philosophie, oder, deutlicher geredet, d e r V e r s u c h e i n e r
n e u e n A u s l e g u n g a l l e s G e s c h e h e n s zu Worte kommen:
billigerweise nur vorläufig und versucherisch, nur vorbereitend und
vorfragend, nur „vorspielend" zu einem Ernste, zu dem es eingeweihter
und auserlesener Ohren bedarf [ . . . ] Denn jeder Philosoph soll insoweit
die Tugend des Erziehers haben, daß er, bevor er zu überzeugen
unternimmt, erst verstehen muß zu überreden. Ja der Verführer hat vor
allem Beweisen zu untergraben und zu erschüttern, vor allem Befehlen und
Vorangehn erst zu versuchen, in wie weit er versteht, auch zu verführen. 6 8 1
Halten wir fest: Nicht nur „erkennt" das „Leben" mit „Nietzsche" zum
ersten Mal, daß es selbst wertsetzend und nicht nur wertfindend ist,682
vielmehr bewertet es zugleich auch seine bisherigen Wertsetzungen in bezug
auf diese Erkenntnis, die, insofern sich durch die Frage nach der Wahrheit
zu einer Frage nach deren Wert für den Lebensvollzug wandelt, ihre eigene
„Wahrheit" nur durch ihren Vollzug im Leben erweisen kann. 683
Möglich geworden ist diese Destruktion des Wahrheitsbegriffes der
certitudo aber, wie Nietzsche meint, durch Kant:
Es ist zu b e w e i s e n , daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen
sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. 684
So daß sich Nietzsches eigene Voraussetzung zu bewahrheiten scheint, daß
in des Lebens Hervorbringungen nicht nur Nachteile f ü r dasselbe
beschlossen sein können, andernfalls es diese nicht erzeugt hätte. Indes kann
der Nutzen jener Erkenntnis nicht allein in der Destruktion liegen — die
positive „Strukturbestimmung" der Wahrheit „Was fruchtbar ist für das
Leben, ist für es w a h r " harrt noch der inhaltlichen Füllung und d. h. der
Aneignung. Will sagen: Auf die selbstergreifende Erkenntnis des Lebens,
daß es selber wertsetzend ist, hat nunmehr die Setzung neuer Werte zu
erfolgen — und zwar gemäß dieser Erkenntnis.
Unfruchtbar ist, so hat Nietzsche erkannt, vor allem ein ungebändigter
Erkenntnistrieb. In seinen Gedanken über die Möglichkeit einer denselben
zügelnden Wertsetzung geht er wiederum von erkenntniskritischen
Überlegungen im Gefolge Kants aus, wobei er aufweist, daß jener in der T a t
die Metaphysik, der ja bisher die Bändigung der Wissenschaft oblag, auf
einen neuen Boden gestellt hat, einen anderen jedoch, als er selber meinte,
nämlich den der Kunst.
Im Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 zeichnet Nietzsche auf:
Wir leben allerdings durch die Oberflächlichkeit unseres Intellekts in einer
fortwährenden Illusion: d . h . wir brauchen, um zu leben, in jedem
Augenblicke die Kunst. Unser Auge hält uns an den F o r m e n fest. Wenn
wir es aber selbst sind, die allmählich uns dies Auge anerzogen haben, so
sehen wir in uns selbst eine K u n s t k r a f t walten. 685
146 Voraussetzungen

Und an anderer Stelle bemerkt er über diese:


sie s c h a f f t . Ihr Hauptmittel ist w e g l a s s e n und ü b e r s e h e n und
ü b e r h ö r e n . 686 ,
um von den Kontinuitäten des Werdeflusses der „Welt" zu Diskontinuitä-
ten, nämlich zu differenzierten Formen und damit zu einer dem
Lebensvollzug Halt gewährenden Ordnung gelangen zu können. Insofern
wir mit Hilfe dieser künstlerischen Kraft gleichsam „die Hauptzüge [der
Welt] verstärken, die Nebenzüge vergessen", könne diese „antiwissen-
schaftlich" genannt werden: „denn sie hat nicht für alles Wahrgenommene
ein gleiches Interesse".687
Wir sehen also in der Natur selbst Mechanismen gegen das absolute
W i s s e n : der P h i l o s o p h e r k e n n t d i e S p r a c h e d e r N a t u r und
s a g t : „wir brauchen die Kunst" und „wir bedürfen nur eines Theils des
Wissens". 688
Er hält somit die Menschen an zu einer Entsprechung von willkürlichem und
unwillkürlichem Tun — oder anders gesagt: Er entnimmt die Gesetze der
Kultur der „Physis", er gewinnt sie aus der Physiologie. Physiologie und
Biologie legitimieren mithin die Wertsetzung des letzten Philosophen.689
Den Kampf von Weisheit und Wissenschaft, in dem sich das Leben,
solange er währte, in Gesundheit vollzog, sucht Nietzsche somit dadurch
erneut zu entfachen, daß er jenen Akt, welcher die Wissenschaft zum
endgültig Obsiegenden zu machen schien, die „Selbstcastration" der
Philosophie durch Kant, dahingehend umdeutet, daß Kant
das R e l a t i v e aller Erkenntniß [ . . . ] und das A n t h r o p o m o r p h i -
s e h e , so wie die überall herrschende Kraft der I l l u s i o n 6 9 0
erwiesen habe. Alle Erkenntnis ist demnach illusionäre Fest-stellung dessen,
was „ist" — auch die der Wissenschaften:
Es giebt k e i n e a p a r t e P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t v o n der
W i s s e n s c h a f t : d o r t wie hier wird gleich gedacht.691
Hatten wir diesen Satz bisher angeführt, um den Gedanken als irrig zu
erweisen, den Philosophen stehe mit der „Intuition" ein besonderes
„Wunder-Augenglas" zur Verfügung, welches ihnen erlaubte, über die
kurzsichtige Sphäre gewöhnlicher oder wissenschaftlicher Erkenntnis
hinaus „direct in's ,Wesen'" zu springen, so soll er hier in umgekehrter
Hinsicht belegen, daß das wissenschaftliche Denken in seiner qualitas von
derjenigen des philosophischen Denkens zunächst einmal in keiner Weise
differiert:
Das philosophische Denken ist spezifisch gleichartig mit dem wissenschaft-
lichen, aber bezieht sich auf g r o ß e Dinge und Angelegenheiten. 692
Der Unterschied liegt somit zunächst allein in der quantitas — was letztlich
denn doch in einen Qualitätsunterschied umschlägt. Denn, so haben wir
bereits vernommen:
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . " 147

Die Wissenschaft stürzt sich, ohne [ . . . ] Auswählen, ohne [ . . . ]


Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, alles um jeden
Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer
auf der Fährte der wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigen
Erkenntnisse. Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im
moralischen als auch ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit
einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden.
Schien mit K a n t die Philosophie dieses Recht der Gesetzgebung f ü r die
wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. das Recht z u r V o r g a b e an „Zielen u n d
M e t h o d e n " 6 9 3 , endgültig verloren zu haben, so glaubt Nietzsche die
V e r k e h r u n g , d a ß die Philosophie n u n m e h r der Wissenschaft n u r n o c h
n a c h - , aber nicht mehr vorausdenkt, 6 9 4 wieder u m k e h r e n zu k ö n n e n : Die
Analyse des menschlichen Erkenntnisapparates zeigt dem Philosophen, d a ß
dieser als solcher bereits wertsetzend ist, er
e r k e n n t d i e S p r a c h e d e r N a t u r und s a g t : „wir brauchen die
Kunst" und „wir bedürfen nur eines Theils des Wissens".
Legitimiert durch die Physiologie setzt der Philosoph somit die Kunst als
Gesetzgeber der Kultur ein. Er b e g r ü n d e t wissenschaftlich die V o r h e r r -
schaft der Kunst über die Wissenschaft, indem er zeigt, daß diese in ihrem
W e s e n eine niedere, weil „ u n e i g e n t l i c h e " Kunst darstellt. So d a ß sich jener
P u n k t , in dem die d e m wissenschaftlichen Erkenntiswillen wesenseigene
nihilistische T e n d e n z kulminiert, als P u n k t ihrer U b e r w i n d u n g erweisen
k ö n n t e : Die zunächst jedwedes H a n d e l n lähmende tragische Erkenntnis,
ewig z u r U n w a h r h e i t v e r d a m m t zu sein, wird damit f r u c h t b a r gemacht f ü r
das Leben u n d erst damit g e m ä ß Nietzsches eigenen V o r a u s s e t z u n g e n im
eigentlichen Sinne „ w a h r " .
Im Z e i t r a u m S o m m e r 1872—Anfang 1873 zeichnet er auf:
Die Konsequenzen der Kantischen Lehre: Ende der Metaphysik
als Wissenschaft.
Die barbarisirende Einwirkung des Wissens.
Die Bändigung des Wissens als Trieb der Kunst.
Wir l e b e n nur durch diese Illusionen der Kunst.
Jede höhere Kultur ist es durch diese Bändigung.
Die philosophischen Systeme der älteren Griechen.
Es offenbart sich dieselbe Welt, die die Tragödie schuf.
Hier begreifen wir die Einheit der Philosophie und der
Kunst zum Zweck der Kultur.
Der ästhetische Begriff des Großen und Erhabenen: dazu zu erziehn die
Aufgabe. Die Kultur abhängig von der Art, wie man „das Große"
definirt.695
N i c h t n u r haben seine Studien über die „Philosophie im tragischen Zeitalter
d e r G r i e c h e n " Nietzsche gelehrt, daß die g r o ß e n D e n k e r dieses Zeitalters,
die er zugleich als die ersten g r o ß e n Wissenschaftler ansieht, 6 9 6 „ ü b e r keine
a n d e r n P r o b l e m e n a c h [ d e n k e n ] als die, welche ebenfalls die Kunst
148 Voraussetzungen

erfaßt" 6 9 7 , vielmehr lassen sie auch beispielhaft das lebensnotwendige


beständige „Umschlagen der Wissenschaft in Kunst" 698 erkennen, das
Umschlagen in ein von der Phantasie, d. h. einer „unlogischen", sich
nämlich über Regeln der Logik hinwegsetzenden „Macht" 6 9 9 , erzeugtes
philosophisches Gesamtbild der Welt:
Der künstlerische Trieb in der Verpuppung als P h i l o s o p h i e . ,
notiert sich Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3.700 Er bringt damit
zum Ausdruck, daß die Philosophie, sobald sie Werte setzt, von dem Bereich
der Wissenschaft in den Bereich der Kunst übergeht, sind doch Werte in den
Augen der Wissenschaft willkürliche Voraussetzungen, die diese erst
allmählich auf logischem Wege einzuholen vermag, wobei sie zumeist deren
„Fehlerhaftigkeit" erweisen kann (siehe Seite 135). Schon früher, auf
Seite 39, im Zusammenhang einer ersten Interpretation des Begriffes der
Intuition, haben wir ein Fragment vom Sommer 1872—Anfang 1873 zitiert,
in dem Nietzsche diesen Aspekt des Verhältnisses von Philosophie und
Wissenschaft bedenkt. Das Ergebnis seiner Überlegungen hält er in dem
folgenden Notat fest:
Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur
eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten W a h r h e i t s p a t h o s
erfüllt: der W e r t h [d.h. die Fruchtbarkeit] seiner Erkenntniß verbürgt
ihm ihre W a h r h e i t . 7 0 1
Auch wenn das vom Philosophen entworfene Bild der Welt letztlich
„wissenschaftlich betrachtet, [ . . . ] eine Illusion [ist], eine Unwahrheit, die
den Trieb nach Erkenntniß täuscht und nur vorläufig befriedigt", so
liegt doch der „Werth der Philosophie", beispielsweise derjenige der
Schopenhauerschen für Nietzsche, in jener „Lebenssphäre", in die auch die
von der Wissenschaft ausgefüllte „Erkenntnißsphäre" 7 0 2 eingebettet ist.
Denn die certitudo der Wissenschaft ist unter der Optik des Lebens
betrachtet 703 nur so lange wahr, nämlich fruchtbar, als ihre Erkenntnisse
vom Horizont eines philosophischen Weltbildes umschlossen sind — das
hinwiederum mit Rücksicht auf die Werdebewegung des Lebens nicht zu
geschlossen, nicht zu starr sein darf —, als, mit Nietzsches Formulierung,
der Kampf, d. h. der Streit, mit der Weisheit währt — was indes auch in der
umgekehrten Hinsicht gilt:
Jede Kraft (Religion, Mythus, Wissenstrieb) hat, in einem Übermaße,
barbarisirende, unsittliche und verdummende Wirkungen, als starre
Herrschaft. (Sokrates.),
lautet eine Aufzeichnung Nietzsches aus dem Winter 1872/73 704 , in der der
Ausdruck „Sokrates" als Chiffre gedeutet werden muß für das
zerstörerische „ l a i s s e r a l l e r u n s e r e r W i s s e n s c h a f t " 7 0 5 , welches
Nietzsche, wie wir noch darstellen werden, in der „Geburt der Tragödie"
auf Sokrates zurückführt und darob „Sokratismus" nennt.
„ W a s fruchtbar ist, allein ist w a h r . " 149

D a s Leben bedarf zu seinem Vollzug Horizonte setzender Weltbilder,


über die es im Willen zum Fort-schritt hinausgehen muß. D a s Geschäft,
diese zu zersetzen, übernimmt dabei die Wissenschaft, welche ihr
nihilistisches T u n legitimiert durch die Illusion, einem Telos näher zu
rücken, dem „Fortschritt" zu dienen. „ D e s Menschen Tätigkeit kann
allzuleicht erschlaffen,/Er liebt sich bald die unbedingte R u h " : die
Wissenschaft als Provokateur sorgt dafür, daß sich der Mensch in einem
Weltbild nicht ein für allemal beruhigt und so den Erkenntnistrieb, welcher
am Leben festhält, indem er sagt: „ d i e Welt ist werth erkannt zu werden" 7 0 6 ,
absterben läßt und sich in ein „Faulbett des Denkens" 7 0 7 legt. In welcher
Gefahr beispielsweise die Griechen in bezug auf ihren Mythos fortwährend
geschwebt hätten, so daß etwa Demokrit „ d a g e g e n die kalte Abstraktion
und die strenge Wissenschaft" 7 0 8 gestellt habe — neben dem Streben „ n a c h
S i c h e r e m " ein weiterer Grund für die Auflösung des Mythos durch die
Vorsokratiker.
N u r dort, wo der Mythos als geschlossenes Weltbild dem Erkenntnis-
trieb noch Spielraum läßt, kann er fruchtbar sein: Dieser Einsicht sucht
Nietzsche selber nicht nur mit seiner frühen Konzeption einer dem Mythos
verwandten monumentalischen Historie 7 0 9 zu entsprechen, sondern auch
mit den großen philosophischen Entwürfen der Spätzeit, zum Beispiel der
ewigen Wiederkunft des Gleichen, in der sich seinerseits neueste
wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem künstlerischen oder mythischen
Bild vom Ganzen der Welt erweitert finden. S o daß diesem Gedanken in
Nietzsches Sicht der Charakter eines notwendig zu Glaubenden
zugesprochen werden muß: D a s Epitheton erwächst ihm zum einen aus der
darin erfüllten Notwendigkeit des Lebensvollzuges, das Werden in der
Weise zu fixieren, daß es in ihm Halt, nämlich Horizont und Perspektive,
gewinnen kann, zum anderen aber auch daraus, daß Wissenschaft, mag sie
auf der einen Seite auch am meisten im Schein befangen sein — insofern sie
nämlich, anders als Nietzsche zufolge die Kunst (siehe dazu im folgenden),
um ihre eigene Scheinhaftigkeit nicht weiß — , auf der anderen Seite
hinwiederum am wenigsten im Schein befangen ist: vorläufig kämen wir, so
Nietzsche, über die in jenem Gedanken aufgehobenen wissenschaftlichen
Erkenntnisse nicht hinaus, welche darum vorderhand unumgänglich seien
— trotz des Wissens um ihre Scheinhaftigkeit. K u r z gesagt: Sie seien
vorübergehend notwendig Fürwahrzuhaltendes, wie demzufolge auch der
sie zusammenschließende Gedanke der ewigen Wiederkunft.
Philosophie hat dieser Widerstreit von Wissenschaft und Weisheit, von
Erkenntnis des einzelnen und Uberschau des Ganzen zu sein, will sagen: Sie
hat die wissenschaftlichen Erkenntnisse als Vorgaben für ein geschlossenes,
dabei aber nicht in sich verschlossenes Weltbild zu benutzen, kann es doch
150 Voraussetzungen

seine Aufgabe, den Fort-schritt des Lebens zu befördern, um so besser


erfüllen, je weniger abgeschlossen es ist.710 Sie hat, mit Nietzsches Worten
gesprochen,
das W i s s e n in eine künstlerische Weltconception h i n e i n f z u z i e -
h e n j u n d dadurch [zu veredeln]711,
so daß sich der Philosoph, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie"
formelhaft sagt 712 , als ein „ m u s i k t r e i b e n d e r S o k r a t e s " erweisen
würde.
O b dieses Widerstreites von Wissenschaft und Kunst bei jenen,
welche Nietzsche die Frage beantworten sollten: „ W a s i s t d e r
P h i l o s o p h ? " 7 1 3 — wohlgemerkt, der weltbildschaffende, gesetzgebende
— war Nietzsche zunächst in ,,[g]roße Verlegenheit" geraten,
ob die Philosophie eine Kunst oder eine Wissenschaft ist.
Es ist eine Kunst in ihren Zwecken und in ihrer Produktion. Aber das
Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit der Wissenschaft gemein. 714
Von ebenjenem Zwiespalt auch seiner eigenen Philosophie kündet
insgleichen dieses Notat:
Die Philosophie hat nichts Gemeinsames, sie hat bald Wissenschaft, bald
Kunst.,
was Nietzsche ebenfalls am Beispiel der Vorsokratiker belegt:
Der einzig ruhende ist Heraclit.
Thaies will zur Wissenschaft, Anaxim(ander) wie-
Ebenso Anaxagoras Democrit der von ihr weg.
Parmenides Organon Empedocles
Socrates. 715 Pythagoras.
„An sich", so erkennt er, ist die Philosophie „ganz und gar nicht
vorhanden", vielmehr ist sie „gefärbt und gefüllt nach der Zeit", als ein
„Präservativ[.. ,]" 716 der Kultur stärkt sie im Kampf von Wissenschaft und
Weisheit die jeweils bedrohte Seite. 717 Nietzsche nun scheint die
„Symptomenlehre der Zeit" 718 — was er später korrigieren wird — eine
Unterstützungsbedürftigkeit der Kunst auszuweisen, ohne daß seine
Philosophie dabei, sofern sie „große", d. h. den Streit von Wissenschaft und
Kunst in einem Weltbild austragende Philosophie sein will, „reine" Kunst —
oder später: „reine" Wissenschaft — sein könnte. Wie dieses, so haben wir
hören können, ebenfalls an den Vorsokratikern abgelesen werden kann:
Thaies will zur Wissenschaft, aber sein Denken schlägt in Kunst um —
Pythagoras sucht ein mythisches Weltbild zu errichten, aber die in seinem
Ansatz zur Allherrschaft gelangende Zahl bildet ein Fundament der
Naturwissenschaft. Wobei die Größe einer Philosophie letztendlich doch —
gerade die Unvergänglichkeit der Fragmente der Vorsokratiker, die
wissenschaftlich inzwischen „als curioser I r r g a r t e n - G a n g der Ver-
nunft" 7 1 9 betrachtet werden, beweist es — in ihrem Kunstcharakter beruht:
„Was fruchtbar ist, allein ist wahr." 151

Daß ein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als


meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem
aesthetischen W e r t he eines solchen Philosophirens, d.h. durch
Schönheit und Erhabenheit. Es ist als K u n s t w e r k noch vorhanden,
wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann.720
Weswegen Nietzsche jenen Bestimmungsversuch großer, d. h. wertvoller
Philosophie, der da begann: „Es ist eine Kunst, in ihren Zwecken und in
ihrer Produktion. Aber das Mittel, die Darstellung in Begriffen, hat sie mit
der Wissenschaft gemein.", mit den Worten schließt: „Es ist eine Form der
Dichtkunst.", um daran als „ N a t u r b e s c h r e i b u n g d e s P h i l o s o -
p h e n " die Überlegung anzuknüpfen:
Er erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt. 721
Wie dies, insofern die Vernunft „dichtenden Wesens" ist, im kleineren
Maßstab für jeden Menschen gilt, auch für den wissenschaftlichen
beispielsweise. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und weltbildschaf-
fender Philosophie liegt somit in der Größe der schöpferischen Potenz
beschlossen, ist doch eine solche Philosophie
die Dichtung außer den Grenzen der Erfahrung, Fortsetzung des
m y t h i s c h e n T r i e b e s ; auch wesentlich in Bildern. 722
W a r es einst eine trotz ihrer antimythischen Tendenz im Grunde doch
mythische Philosophie, mit welcher die Vorsokratiker „die Zügel der
Wissenschaft" 7 2 3 in den Händen hielten, übernahm dann die Theologie,
bzw. die auf dem christlichen Mythos fußende Philosophie der Scholastik
diese Lenkungsaufgabe, so zeigt nunmehr das Scheitern der Versuche
Kants, der ein Gebiet vor dem Wissen f ü r den Glauben retten wollte, und
Schopenhauers, der eben „dorthin [ . . . ] die Wurzeln alles Höchsten und
Tiefsten, Kunst und Ethik [legte]" 724 — Versuche, welche in den Augen
Nietzsches noch einmal die ,,[i]nnerste Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n
und der R e l i g i o n s S t i f t e r " 7 2 5 beweisen —, daß „seit der Kritik der
reinen V e r n u n f t " die „Schöpfung einer Religion" „ u n w a h r s c h e i n -
l i c h " geworden ist. (Was er später hinsichtlich seiner Lehre von der ewigen
Wiederkunft des Gleichen zurücknehmen wird, siehe Anm. 819.) Sie eben
„würde darin liegen, daß einer für sein in das Vacuum [des Wissens]
hineingestelltes mythisches Gebäude G l a u b e n e r w e c k t " . 7 2 6
Wenn sich somit die Metaphysik auf der einbn Seite mit der Religion
berührt, so auf der anderen, wie wir schon aus dem Brief an Deussen von
Ende April/Anfang Mai 1868 wissen (siehe Seite 4), mit der Kunst — dort
könnte nunmehr die Möglichkeit einer Bändigung des Erkenntnistriebes
seitens der Philosophie gefunden werden. Nietzsche fährt fort:
D a g e g e n kann ich mir eine ganz neue Art des P h i l o s o p h e n - K ü n s t -
l e r s imaginiren, der ein K u n s t w e r k hinein in die Lücke stellt, mit
ästhetischem Werthe. 7 2 7
152 Voraussetzungen

So weiß die „Geburt der Tragödie", die jenes Kunstwerk ist, von dem
Nietzsche spricht, von einem ,,metaphysische[n] Trost, — mit welchem
[ . . . ] , uns jede wahre Tragödie entläßt" 7 2 8 ; und noch das vierte Stück der
Unzeitgemässen Betrachtungen, in dem sich für den, der zu lesen versteht,
auch ohne Kenntnis der Fragmente vom Frühjahr 18 7 4729, der Abschied von
„Richard Wagner in Bayreuth" bereits ankündigt, spricht von jenem O r t als
einer „Morgen-Weihe am Tage des Kampfes" 7 3 0 — scheinbar unverändert
in jenem Tonfall, mit dem Nietzsche im Januar 1873, also zu einer Zeit, da
er an Bayreuth noch seine größten H o f f n u n g e n knüpfte, und somit nur
vordergründig ironisch sich brieflich mit seinem Freund Rohde f ü r einen
Besuch bei Wagners verabredete: „Also im Sommer Bayreuther Concil! Wir
als die Bischöfe und Würdenträger der neuen Kirche!" 731

12. „Metaphysik der Cultur. Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn
unterlegt, ist zu fördern.": Der Genius

„Kunstreligion" — das ist eine seit dem Jahre 1799, seit den Reden
„Über die Religion" und den „Phantasien über die Kunst" bekannte
geistesgeschichtliche Erscheinung: „es war Wackenroder, bei dem die
Kunstreligion, der Schleiermacher den Namen und Tieck das Dogma gab,
originäre Erfahrung war." 7 3 2 Anschauung des Unendlichen in ästhetischer
Kontemplation — durch dieses T u n und Denken der Frühromantiker,
dessen Ursprung, „mindestens partiell, in der Schicht aus Pietismus und
Empfindsamkeit zu liegen [scheint], die für die Vorgeschichte der Romantik
insgesamt von tragender Bedeutung gewesen ist" 733 , und in dem „eine
Kunstidee, die zur Religion, mit einer Religionsidee, die zur Kunst drängte,
zusammentraf" 7 3 4 , war die Kunst in den Rang eines Metaphysikums erhoben
worden. Als deutlichster Ausdruck des Absoluten wurde dabei vor allen
anderen Künsten die „absolute" Musik ausgezeichnet, die, wie man meinte,
begriffs-, objekt- und zwecklose Sprache über der an den Erscheinungen
haftenden (Wort-)Sprache. Und dies bereits bei Wackenroder/Tieck 7 3 5 und
nicht erst bei Schopenhauer, dessen These, „daß ein musikalisch
ausgedrückter Affekt sich durch Abstraktheit — durch Loslösung von
Gegenständen und Motivationen — zu metaphysischer W ü r d e erhebe, [ . . . ]
von Wackenroder inspiriert worden zu sein [scheint]." 736 (Wobei der
wesentliche Unterschied darin beschlossen liegt, daß dies bei dem einen im
Rahmen einer resignierten „buddhaistischen" Metaphysik des Willens, bei
dem anderen im Zeichen der ästhetischen Andacht einer christlichen
Kunstreligion geschieht.)
Metaphysik der Cultur: Der Genius 153

Nietzsche, bei dem die geglaubte Metaphysik des Jahrhundertanfangs


zur Fiktion verblaßt ist, bemüht sich angesichts der drohenden Sinnlosigkeit
eine Zeitlang verzweifelt, an metaphysische Sinnsetzungen glauben zu
können. Ein Schlüsseldokument ist dabei jener bedeutsame Brief vom
21.6.1871 7 3 7 , in dem Nietzsche darüber Bericht erstattet, wie er auf die
Nachricht von der vermeintlichen Zerstörung des Louvre beim Brand der
Tuilerien am 24. Mai 1871 während des Aufstandes der Pariser Commune
reagiert hat:
Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig
vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze
wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir
als eine Absurdität, wenn ein einzelner T a g die herrlichsten Kunstwerke, ja
ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; ich klammerte mich mit
ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth der Kunst, die der
armen Menschen w e g e n nicht da sein kann, sondern höhere Missionen zu
erfüllen hat.
Nicht zuletzt darum bindet sich Nietzsche an Wagner — für ihn, wie wir
bereits vernommen haben, „die leibhafte Illustration, dessen, was
Schopenhauer ein ,Genie' nennt" — und an dessen Kunst, scheinen ihm
doch beide einen Anhalt für einen solchen Glauben geben zu können:
Meine Religion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der
Arbeit für die Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu H o f f e n d e , alles
Tröstende heisst Kunst. 738 ,
zeichnet sich Nietzsche im Frühling—Sommer 1875 auf. Ubereinstimmend
damit hat er bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 festgehalten:
Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst. Sonst Abwendung vom
Leben. Völlige Vernichtung der Illusion ist der Trieb der Wissenschaften:
es würde Quietismus folgen — wäre nicht die Kunst.
Deutschland als eigentlicher Orakelsitz der Kunst. — Ziel: eine
staatliche Kunstorganisation — Kunst als Erziehungsmittel — Beseitigung
der s p e z i f i s c h wissenschaftlichen Ausbildungen.
D i e Auflösung der noch lebenden religiösen Empfindungen in's
Bereich der Kunst — dies das praktische Ziel. Bewußte Vernichtung des
Kriticismus der Kunst durch vermehrte W e i h e der Kunst.
Dies als Trieb des deutschen Idealismus nachzuweisen. Also: Befreiung
von dem Überherrschen des άνθρωπος θεωρητικός.739
N u r noch in der Scheinwelt der Kunst scheint ihm ein Leben möglich zu sein
angesichts der, wie er später sagt, „ t r a g i s c h e n E r k e n n t n i ß " 7 4 0 , daß
wir nichts wissen können und darum alles glauben müssen, angesichts auch
der lebensbedrohenden Zerstörung geschlossener wertesetzender metaphy-
sisch-mythischer Weltbilder durch die Wissenschaften. Auf solche nunmehr
„künstlich"-künstlerisch zu erschaffenden „Abbreviaturen] der Erschei-
nung" 7 4 1 wünscht er die verbliebenen religiösen Gefühle übertragen, um ihre
Bändigungskraft verstärken und sie dem Zugriff der haltlosen Gelehrtenkul-
154 Voraussetzungen

tur entziehen zu können, die in ihrem journalistischen Abschaum den Ruf


des Kunstwerkes: „ D u mußt dein Leben ändern" erstickt, weil sie sich von
diesem nicht zu sich umstimmen, nicht zu sich ent-setzen lassen will aus
ihren gewohnten, sicheren Verrichtungen. 742
Als Arzt der Kultur weiß Nietzsche mithin noch nicht zwischen
Allopathie (siehe Seite 135) und Homöopathie zu unterscheiden: Er
vermeint noch, den „Nihilismus", den er vor allem an den Wissenschaften
diagnostiziert, durch Gaben von Metaphysik heilen zu können, weil er auf
einen Verlust der Möglichkeit, an metaphysische Werte zu glauben,
zurückführt, was — wie er später erkennt — bereits in diesem Glauben an
ein Jenseitiges selber statthat: Die Nichtigsetzung der Welt. (Welche
Erkenntnis sich im übrigen ankündigt in Nietzsches Behauptung aus der
2. Unzeitgemässen Betrachtung, daß die Historie seiner Zeit nichts anderes
sei als „eine verkappte Theologie" 7 4 3 ; mag dies auch zunächst nicht mehr als
ein abgewandeltes Feuerbach-Zitat sein, das er vielleicht aus Wagners
Einleitung zum dritten und vierten Band seiner Schriften kannte, wo die
Philosophie eine verkappte Theologie genannt wird. 744 ) Und da jetzt ,,[n]ur
als K u n s t [ . . . ] noch so ein System möglich [ist]" 745 , wie es beispielsweise
ein jeder der vorsokratischen Philosophen erbaut hat, legt er selbst in seinen
veröffentlichten Schriften die Kunst als Metaphysik aus und erklärt sich den
Bestrebungen all jener für aufgeschlossen, die „von der Kunst als der
höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses
Lebens im Sinne des Mannes überzeugt" sind, dem Nietzsche als seinem
„erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn" seine „Geburt der Tragödie" 7 4 6
widmet — Richard Wagner, mit dem zu brechen für Nietzsche dann in dem
Maße unvermeidlich wird, als er zu seinem Wesensgesetz zurückfindet, sich
bei keiner Anschauung nur darum zu befestigen, weil man, so der
Zwanzigjährige in einem Brief an die Schwester, sich bei ihr „am
bequemsten befindet" 7 4 7 , und d. h. in dem Maße, als er sich, seinem
„Genius" folgend, seinen einen Gedanken des Nihilismus zudenkt und
damit ablehnen muß, was ihn bei Wagner Anlehnung suchen ließ, weil er
sich von ihm die Rettung der Gegenwartskultur erhoffte: das metaphysisch-
religiöse Wesen seiner Kunst und der Genie-Kult um seine Person:
Metaphysik der Cultur.
Alles, was diesem Leben einen metaphysischen Sinn unterlegt, ist zu
fördern.
Das Religiöse nicht mehr rein, sondern versetzt möglich.
Woher der Drang nach Erziehung, Kenntnissen usw.? Die Vortheile
für den Kampf des Daseins?
Metaphysik der Cultur: Der Genius 155

U n s t e r b l i c h k e i t des Genius, des Dranges nach dem Genius.748,


hält Nietzsche Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinem Notizheft fest.
Wir haben bereits dargelegt, daß für ihn Kultur und Natur einander
nicht entgegengesetzt sind, daß vielmehr die Kultur und die sie
bestimmenden Gesetze in der Natur angelegt sein sollen: Die Natur ist in
seinen Augen bereits insofern Kultur, als sie vom dichtenden Wesen des
Erkenntnisvermögens erzeugt wird — Konsequenz dessen, daß Nietzsche,
wie wir anläßlich der Interpretation der „Geburt der Tragödie" noch
genauer ausführen werden, aus der Erfahrung des kunstschaffenden
Zustandes heraus die Welt denkt: diesen selber jedoch legt er am Leitfaden
des leibenden Lebens aus und mit ihm das „Seiende" im „ G a n z e n "
überhaupt.
Darin aber liegt, wie Hans Martin Klinkenberg richtig gesehen hat,
beschlossen, daß der Begriff „Kultur" ontologisch „keine eigene Basis mehr
[hat], da der ,Geist', mit dessen Abgesondertheit vom ,Stoff' Kultur als
Weise des Geistes in einem spezifischen Bereich eingegrenzt war, bei
Nietzsche nur noch Funktion und Mittel des allumfassenden Lebens
bleibt." 749 Was zugleich erklärt, warum dieser Begriff — der ohnehin in der
Mitte der 70er Jahre verschwindet: der reife Philosoph sucht den Zugang zu
dem dabei in Rede stehenden „Vorzugs-Interesse" 7 5 0 seines Denkens an
anderer Stelle — merkwürdig verschwommen bleibt. Wie Klinkenberg
bemerkt, ist er „immer nur von anderen Begriffen aus ahnbar" 7 5 1 . Enger als
der Terminus „Leben", umfaßt er als Horizontbegriff die Trias
(Geistes-)Wissenschaft, Philosophie (wozu Nietzsche auch die Religion
— Metaphysik! — rechnet) und Kunst, in welchem Zusammenschluß sich
der Einfluß der philosophischen Tradition bemerkbar macht, hat diese doch
seit Aristoteles Wissenschaft, Philosophie und Kunst zusammengebracht als
Gebiete und Weisen des Erkennens. Auch wenn, wie sich uns bereits
angedeutet hat, bei Nietzsche anstelle des Erkennens das Schaffen von
Schein diese Trias verbindet und in seiner Perspektive nicht mehr der Geist
sich im Lebendigen und Stofflichen, vielmehr umgekehrt das „Leben" selbst
sich verwirklicht unter Heranziehung des ihm eigenen Mittels des Geistes —
in welchem Ansatz er die Abspaltung des Geistes vom „Stoff", vom Leib, als
einen furchtbaren Irrtum bekämpft —, so bezeugt sich doch in dem darin
erkennbaren Ausschluß von Technik und im Grunde auch von
Naturwissenschaft — im Ausschluß der, wenn man so will, „Stoffmanipulie-
r e r " — das Fortwirken der von Nietzsche abgelehnten „Geistesmetaphy-
sik"; ein weiteres Indiz dafür, daß seine Philosophie dem „Piatonismus"
verhaftet bleibt. (Daß Kultur von ihm rein ästhetisch aufgefaßt wird,
nämlich nur von der Kunst getragen scheint, ist auch biographisch dadurch
zu erklären, daß ihm die Bereiche von Technik und Naturwissenschaft in
156 Voraussetzungen

seiner einseitig humanistischen Ausbildung nicht eröffnet wurden, wie er im


195. Aphorismus der „Morgenröthe" Schulpforta vorwirft. 752 )
Kultur wird vom Leben zur Verbesserung seiner Erscheinung als Natur,
als Physis, als erster Physis, hervorgebracht. Nietzsche spricht darum von
„der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis" 753 , dabei die
Etymologie des Wortes interpretierend: „Kultur" stammt von lateinisch
colere „hegen und pflegen, bebauen, ausbilden, tätig verehren" und
bedeutete ursprünglich: Bearbeitung des Bodens — „agricultura" —, um
ihn den Bedürfnissen des Menschen gemäß aufzubereiten. Derweise bleibt
die Kultur, die neue oder zweite Physis, auf die alte, erste Physis, die Natur,
bezogen, 754 aus der sie ohne Sprung, nämlich „organisch" hervorgeht, weil
sie eben nichts anderes ist als ein όργανον der allumfassenden, sowohl erste
wie zweite Physis umschließenden, einen Physis des beständig sich selbst
vollziehenden Lebens:
W e n n man von H u m a n i t ä t redet, so liegt die Vorstellung zu G r u n d e , es
m ö g e das sein, w a s den Menschen von der N a t u r abscheidet und
auszeichnet. Aber eine solche A b s c h e i d u n g giebt es in Wirklichkeit nicht:
die „natürlichen" Eigenschaften und die eigentlich „menschlich"
genannten sind untrennbar verwachsen. D e r Mensch, in seinen höchsten
und edelsten K r ä f t e n , ist g a n z N a t u r und trägt ihren unheimlichen
Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich
geltenden B e f ä h i g u n g e n sind vielleicht s o g a r der fruchtbare B o d e n , aus
dem allein alle Humanität, in Regungen Thaten und Werken
hervorwachsen kann. 7 5 5
Nietzsche zeigt dies am Beispiel der Griechen, die den „Kampf um's
Dasein" — vor allem unter dem Einfluß ihrer Dichter — „ z u einem freien
Wettkampfe idealisirt" 756 und ihn damit auf höhere Kulturziele ausgerichtet
haben sollen: der άγών wurde wie die gute ερίς des Hesiod zum movens der
griechischen Kultur. Umgekehrt sind Miltiades, Athen und Sparta, welche
durch Taten der Hybris ihren Untergang selbst herbeigeführt haben, für
Nietzsche, wie er in der nachgelassenen Vorrede „Homers Wettkampf"
bemerkt 757 , „Beweise dafür, daß ohne Neid Eifersucht und wettkämpfenden
Ehrgeiz der hellenische Staat wie der hellenische Mensch entartet. Er wird
böse und grausam, er wird rachsüchtig und gottlos".
Kultur ist somit modern, gleichwohl aber mit Nietzsche gesprochen, der
jenes Wort als erster im heute üblichen Sinne gebraucht hat 758 : „sublimierte"
Physis; was man jedoch erst dann zureichend verstehen kann, wenn man
auch in dieser Formel die Grundfigur des Nietzscheschen Denkens, den —
erst später darzustellenden — „Streit" erkennt. 759
Wenn Kultur aber Setzung und Verwirklichung oberster Werte durch
die Pflege der höchsten Güter des Menschen ist, Nietzsche jedoch nunmehr
„aufgedeckt" hat, daß durch den Menschen hindurch das Leben in Sorge für
Metaphysik der Cultur: Der Genius 157

seinen aufsteigernden Selbstvollzug diese Werte setzt, so hat jetzt der


Mensch ausdrücklich dessen stummem Willen hörig zu sein. In den
Vorträgen „ U e b e r die Zukunft unserer Bildungsanstalten" verdeutlicht dies
Nietzsche dadurch, daß die Stimme des Philosophen „ f a s t zu einer
Naturmusik" 7 6 0 wird, wenn sie, wie es in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung
heißt:
eine B e l e h r u n g auf die G e s e l l s c h a f t u n d ihre Z w e c k e a n w e n d e [ t ] , w e l c h e
m a n aus der B e t r a c h t u n g einer j e d e n A r t des T h i e r - u n d P f l a n z e n r e i c h s
g e w i n n e n k a n n , dass es bei ihr allein a u f d a s einzelne h ö h e r e E x e m p l a r
a n k o m m t , auf d a s u n g e w ö h n l i c h e r e , m ä c h t i g e r e , complicirtere, f r u c h t b a -
rere 7 6 1 ,
und darob verkündet:
d a s Ziel d e r M e n s c h h e i t k a n n [ . . . ] nur in ihren höchsten Exemplaren
[liegen] 7 6 2 .

Als verbesserte Physis hat Kultur darum für Nietzsche allein die Aufgabe,
den Genius zu erzeugen, um „ d a d u r c h a n d e r V o l l e n d u n g d e r
N a t u r zu arbeiten."763
Indes, so müssen wir fragen, hat Nietzsche nicht gerade in seinem
Dissertationsprojekt „ D i e Teleologie seit K a n t " jede teleologische Deutung
der N a t u r als der menschlichen Vorstellung „enthörig" 7 6 4 erwiesen? In der
T a t . Doch hat er dabei in keiner Weise das Phänomen als solches bestritten,
das Anlaß zu einer teleologischen Deutung gibt. Wie erinnerlich ist für ihn
im Anschluß an Darwin, dessen Kenntnis ihm durch Lange vermittelt wurde,
die Zweckmäßigkeit organischer Formen nichts anderes als „Lebensfähig-
keit", welche einigen unter den zahllosen Entwürfen der Natur zukommt —
zufällig, wie man angesichts der ungeheuren Zahl an Versuchen sagen muß.
Nietzsche notiert:

Teleologie:
innre Z w e c k m ä ß i g k e i t . W i r sehen eine complicirte M a s c h i n e , die sich
erhält u n d k ö n n e n nicht einen a n d e r n B a u aussinnen wie sie e i n f a c h e r zu
c o n s t r u i r e n sei. dh. a b e r n u r :
die M a s c h i n e erhält sich, also ist sie z w e c k m ä ß i g . [ . . . ]
eine äußere Z w e c k m ä ß i g k e i t ist eine T ä u s c h u n g .
Dagegen ist uns die M e t h o d e der N a t u r b e k a n n t , w i e ein solch
„ z w e c k m ä ß . " K ö r p e r entsteht, eine sinnlose M e t h o d e . D e m n a c h erweist
sich die Z w e c k m ä ß i g k e i t nur als L e b e n s f ä h i g k e i t dh. als cond. sine qua non.
D e r Z u f a l l k a n n die s c h ö n s t e M e l o d i e f i n d e n .
Z w e i t e n s k e n n e n wir die M e t h o d e d e r N a t u r , wie solch ein z w e c k m ä ß .
K ( ö r p e r ) erhalten wird. Mit s i n n l o s e m Leicht(t)sinn. 7 6 5

Ahnliches gelte für die — bei Nietzsche von der übrigen N a t u r ja nicht mehr
abzutrennende — Welt des Geistes. Fast immer bringe die Natur nur eine
Halbheit hervor, den gewöhnlichen Menschen, selten, g a n z selten nur
158 Voraussetzungen

glücke hingegen der große Wurf, und ein vollkommener Mensch, das Genie
— gemäß Nietzsches Kulturtrias: der Heilige, der Künstler, der Philosoph,
der hier f ü r die Wissenschaften mit einzustehen hat — entstehe, ohne daß
die „ N a t u r " in der Lage wäre, dieses „Nicht-mehr-Thier" 7 6 6 seiner
Seltenheit entsprechend zu behandeln. (Somit hält Nietzsche Darwins Lehre
„von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und
Thier" 7 6 7 im Grunde nur in bezug auf den gemeinen Menschen, dessen
Fertigkeiten und Strebungen, für wahr. Erst mit den Schöpfungen von
Religion, Kunst und Philosophie erreicht die Natur in Nietzsches Augen
eine neue, eine genuin menschliche Stufe — und nicht in der Technik, die, so
dürfte er meinen, bereits im Tierreich vorkommt. 768 Darum sind f ü r ihn der
Künstler, der Heilige und der Philosoph Repräsentanten wahrer
Menschlichkeit und Kultur. Nicht zwischen Mensch und Tier, sondern
zwischen Mensch und Genius setzt er mithin eine Kluft, einen Sprung der
N a t u r an.)
Fast immer ist nämlich Mißachtung in der Gestalt der „Mitmenschen"
die Reaktion der Natur auf ihr eigenes Gelingen, allzuoft sogar
gleichgültige Zerstörung. 769 Von einer liebenden „Mutter N a t u r " weiß
Nietzsche — anders als Goethe etwa — nichts: Grausamkeit und
Indifferenz, dies die Charakterzüge, von denen er künden kann. Denn sie ist
auch dort,
w o sie das Schönste z u erschaffen angestrengt ist, etwas Entsetzliches.
D i e s e m ihren W e s e n ist es gemäß, daß die T r i u m p h z ü g e der K u l t u r nur
einer unglaublich geringen Minderheit v o n bevorzugten Sterblichen zu
Gute k o m m e n , daß d a g e g e n der S k l a v e n d i e n s t der großen Masse eine
N o t h w e n d i g k e i t ist, w e n n es wirklich z u einer rechten Werdelust der Kunst
k o m m e n soll. 770
In dem unsere Zeit prägenden „Glauben an die Güte der N a t u r " , der seiner
Ansicht nach die französische Revolution hervorgerufen hat, 771 erkennt er
— in Vorwegnahme dessen, was er später als Herrschaft des Ressentiments
bedenken wird — die „Kultur"herrschaft des Sklaven,
als welcher seiner N a t u r nach alle seine Verhältnisse mit trügerischen
N a m e n bezeichnen muß, um leben zu können. Solche P h a n t o m e , wie die
W ü r d e des Menschen, die W ü r d e der Arbeit, sind die dürftigen
Erzeugnisse des sich vor sich selbst versteckenden Sklaventhums. 7 7 2
Doch nur, wo der Mut aufgebracht wird, das Entsetzliche der Natur zu
erschauen und zu ertragen, kann nach Nietzsche als Veredelung desselben
wahrhafte Kunst und damit wahre Kultur entstehen. Denn produktiv macht
allein der Schmerz, „der als verwandte Gegenfarbe das Schöne erzeugt" 7 7 3 ,
er allein macht, wie wir schon gesehen haben, kunstbedürftig. Schmerz ist
der Grundton der Natur...
Metaphysik der Cultur: Der Genius 159

Mag auch das T u n der Natur „an sich" sinnlos sein, der Mensch, mit
dem der Sinn überhaupt erst möglich, zugleich aber auch nötig wird, ist
bestrebt, dieses Tun, aus dem er selber hervorgeht, in einen Sinn zu
überführen:
Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines
Entstehens klar; dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas anderes.,
haben wir bereits auf S. 100 vernommen. Eine „neue und verbesserte Physis",
kein Gegensatz zur Physis hat Kultur für Nietzsche zu sein, ihre
Sinnsetzungen haben sich an „Vorgaben" der Natur anzuschließen, so daß
der vom Menschen gesetzte Sinn gleichsam aus der Natur hervorgeht: Mit
diesem von der Kunst geprägten Begriff der Kultur knüpft Nietzsche
entfernt an die Bestimmung der τ έ χ ν η an, wie sie Aristoteles in seiner
„Physik" (II, 8; 199 a 15—17) gegeben hat: „ ό λ ω ς τε ή τ έ χ ν η τ ά μεν
έπιτελεΐ ά ή φύσις ά δ υ ν α τ ε ΐ ά π ε ρ γ ά σ α σ θ α ι , τ ά δε μιμείται — , Kunst' hat
einerseits zu vollenden, andererseits das Naturgegebene nachzuahmen".
Wobei „ K u n s t " als Übersetzung von τ έ χ ν η umfänglicher als heute üblich zu
verstehen ist, nämlich als „Inbegriff f ü r alle Fertigkeiten des Menschen,
werksetzend und gestaltend wirksam zu werden" 7 7 4 , so daß darin
Künstliches und Künstlerisches zusammengeschlossen sind. Die Kunst wird
in jener Bestimmung des Aristoteles mithin als Vollstreckerin der Entelechie
des Gegebenen aufgefaßt, fügt sie sich doch im Aufnehmen des von der
Natur Liegengelassenen deren Vorzeichnung. Solches fordert auch
Nietzsche von der wahren Kultur, die er nicht umsonst als „griechische
Cultur" bezeichnet. Der fundamentale Unterschied zwischen Aristoteles
und Nietzsche besteht aber darin, daß ersterer die τ έ χ ν η von der φύσις her
deutet — so daß, wer ein Haus baut, nur genau das tut, was die Natur täte,
ließe sie Häuser „wachsen" (Physik II, 8; 199 a 12—15): „ars imitatur
naturam" lautet die Formel für diese Sichtweise (Aristoteles, Physik II, 2;
194 a 21f.; Meteorologie IV, 3; 381 b 3—7) —, während der letztere die
Natur umgekehrt von der Kunst her deutet. Abgesehen davon, daß in seinen
Augen die Natur ein Kunstprodukt des dichtenden Wesens unserer
Erkenntnis ist, meint das in diesem Zusammenhang, daß Nietzsche die
Kunst, obwohl sie als Vollstreckerin des Willens der Natur in deren Dienst
steht, dennoch als das Vollkommenere über die Natur stellt. So zeichnet er
sich im Frühjahr—Sommer 1874 in den Notizen zu seiner 3. Un-
zeitgemässen Betrachtung auf:
Erzwingt sich nicht jedes wahre Kunstwerk ein Bekenntniss, mit dem der
Satz des Aristoteles Lügen gestraft wird? Ist es nicht die Natur, welche die
Kunst nachahmt? Stottert sie nicht mit der Unruhe ihres Werdens etwas
nach, in unzureichender Sprache und in immer neuen Versuchen, was der
Künstler rein ausspricht? Sehnt sie sich nicht nach dem Künstler, dass er sie
von ihrer Unvollkommenheit erlöse? 775
160 Voraussetzungen

Sie sehnt sich mithin nach dem Genius, er ist in Nietzsches Augen die
Sinnsetzung, die die Natur dem Menschen „anbietet". Allein er und keine
Massenbildung hat darob das Ziel der Kultur zu sein. Die „ w a h r e " Kultur ist
„eine aristokratische" 776 , denn
darüber müssen wir einmüthig sein, daß von der Natur selbst nur unendlich
seltne Menschen zu einem wahren Bildungsgange ausgeschickt werden,
und daß zu deren glücklicher Entfaltung auch eine weit geringere Anzahl
von höheren Bildungsanstalten ausreicht, daß aber in den gegenwärtigen
auf breite Massen angelegten Bildungsanstaken gerade diejenigen am
wenigsten sich gefördert fühlen müssen, für die etwas Derartiges zu
gründen überhaupt erst einen Sinn hat.777
Kultur wird, wie wir wissen, vom Leben zur Verbesserung seiner selbst
hervorgebracht. Das meint in metaphysischer Deutung (das W o r t im
Heideggerschen Sinne verstanden): Es bedarf zu seinem Vollzug notwendig
perspektivischer und damit horizonthafter Einheit, welche es in der Kultur
f ü r sich setzt:
Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen
Lebensäusserungen eines Volkes. 778
Kultur ist Konsequenz von Kunst, insofern diese durch Stilbildung die
Lebensäußerungen vereinheitlicht. Die Kunst hinwiederum wird vom
Genius erzeugt, so daß dieser als Gesetzgeber der Kultur auftritt. Aus dem
Strome der Zeit heraustretend, weist er als Unzeitgemäßer seiner Zeit
Richtung und Maß:
wie die großen Führer der Geführten bedürfen, so bedürfen die zu
Führenden der Führer: hier herrscht in der Ordnung der Geister eine
gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von prästabilirter Harmonie.779
Nietzsche verrät in einer der „Fünf Vorreden", in „ D e r griechische Staat",
daß er das Urbild des Staates im Soldatenstande und seiner Kastenordnung
erkennt:
Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre ein M i t t e l des militärischen
Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius; und
nicht ihm, als absolutem Menschen und Nichtgenius, sondern ihm als
Mittel des Genius — der auch seine Vernichtung als Mittel des
kriegerischen Kunstwerks belieben kann, — komme ein Grad von W ü r d e
zu, jener Würde nämlich, z u m M i t t e l d e s G e n i u s g e w ü r d i g t z u
sein.780
Darum fängt in Nietzsches Augen „alle Bildung [ . . . ] mit dem Gegentheile
alles dessen an, was man jetzt" — wie er meint: naturwidrig, weil gegen die
Instinkte gerichtet — „als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam,
mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit." 781 So bemerkt
er in einem Brief an Deussen vom September 1868 lapidar: „Es giebt eben
Arbeitsgeber und Fabrikarbeiter", wie etwa die Philologen und den
philosophischen Halbgott 7 8 2 , der, so heißt es in einer Aufzeichnung vom
März 1875 gleichsinnig, „ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über
Metaphysik der Cultur: Der Genius 161

den W e r t h d e s L e b e n s eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es


keine L e i t u n g giebt, der g r ö s s t e T h e i l jener Ameisenarbeit einfach
U n s i n n und überflüssig." 783 Vorarbeiten zu einer „Geschichte der
litterarischen Studien im Alterthum und in der Neuzeit" hätten ihn, wie er
Rohde im Februar 1868 brieflich 784 zu berichten weiß, nämlich gelehrt:
D a ß wir alle aufklärenden Gedanken in der Litteraturgeschichte von jenen
wenigen großen Genien empfangen haben, die im Munde der Gebildeten
leben und daß alle guten und fördernden Leistungen auf dem besagten
Gebiete nichts als praktische Anwendungen jener typischen Ideen waren,
daß mithin das Schöpferische in der litterarischen Forschung von solchen
stammt, die selbst derartige Studien nicht oder wenig trieben, daß dagegen
die gerühmten Werke des Gebietes von solchen verfaßt wurden, die des
schöpferischen Funkens bar waren — diese stark pessimistischen
Anschauungen, in sich einen neuen Kultus des Genius bergend,
beschäftigen mich anhaltend und machen mich geneigt, einmal die
Geschichte darauf hin zu prüfen. An mir selbst stimmt die Probe; denn mir
ist es so, als ob D u bei den niedergeschrieben(en) Zeilen den D u f t von
Schopenhauerscher Küche riechen müßtest.
„Gleiches durch Gleiches", dieser zuerst von Parmenides, Empedokles und
Piaton geäußerte Gedanke bedeutet somit in dem hier in Rede stehenden
Zusammenhang, daß allein der Genius den anderen Genius und sein Werk
verstehen kann: „Es giebt keinen Weg, die griechische Tragödie zu
begreifen, als Sophokles zu sein.", konnten wir bereits unter Nietzsches
Aufzeichnungen von Ende 1870—April 1871 lesen. Das Bemühen der
„Alltagsfliegen" 785 um ein Verständnis der Kunstwerke kann darum allein
den Sinn haben, diese f ü r das nächste Genie zu bewahren, tritt es erst hier
doch wieder in seine eigentliche Wirk-lichkeit ein. Kein Mensch würde,
führt Nietzsche in den Reden „Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstal-
t e n " aus,
nach Bildung streben, wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der
wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. U n d trotzdem sei
auch diese kleine Anzahl von wahrhaft Gebildeten nicht einmal möglich,
wenn nicht eine große Masse, im Grunde gegen ihre Natur, und nur durch
eine verlockende Täuschung bestimmt, sich mit der Bildung einließe. Man
dürfe deshalb von jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl
der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat
nichts öffentlich verrathen 786 .
(Daß Nietzsche dies dennoch gerade mit diesem Satz tut, geschieht wohl aus
der verzweifelten Erkenntnis heraus, daß die Kultur der „Jetztzeit" die
„Bedingungen für die Entstehung des Genius [ . . . ] nicht v e r b e s s e r t ,
sondern v e r s c h l i m m e r t " hat 787 und allein Aufklärung vielleicht noch
auf Umkehr der Tendenz hoffen läßt. 788 ) Das Kleine ist somit nötig, damit
das Große entstehen kann, doch auch nur dazu ist es nötig. Auch hier, im
Bereich der Bildung, geht Nietzsche somit davon aus, daß sich das Leben nur
162 Voraussetzungen

in Illusionen vollziehen kann: „Die Illusion nöthig, um in der Kultur


fortzuschreiten.", zeichnet er sich im Sommer 1872—Anfang 1873 auf. 789
Aufgabe der Bildung ist somit: ,,[d]ie höchsten Geister zu
perpetuiren" 7 9 0 , ihr Mittel für diesen Zweck — die Historie, die
monumentalische wohlgemerkt, die in ihrem Weltbildcharakter ähnliche
Aufgaben zu übernehmen hat, wie seinerzeit der Mythos bei den Griechen.
Diese nämlich waren, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt,
unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen a n z u k n ü p f e n ,
ja es nur durch die A n k n ü p f u n g zu begreifen: w o d u r c h auch die nächste
G e g e n w a r t ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos
erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen 7 " aber tauchte sich eben
so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und Gier des
Augenblicks Ruhe z u finden. U n d gerade nur so viel ist ein V o l k — w i e
übrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel
des E w i g e n zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht
und zeigt seine unbewusste innerliche U e b e r z e u g u n g v o n der Relativität
der Zeit und v o n der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des
Lebens. 7 9 2
In diesem Sinne soll die monumentalische Historie ein „zeitlos-gleichzei-
tig[es]" Fortleben der großen Schöpferischen in der „Genialen-Republik"
ermöglichen,
v o n der einmal S c h o p e n h a u e r erzählt; ein Riese ruft dem anderen durch
die ö d e n Zwischenräume der Zeiten z u , und ungestört durch muthwilliges
lärmendes G e z w e r g e , welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das h o h e
Geistergespräch fort. 7 9 3
Obwohl sie letztlich nicht für es selbst, sondern für das aus ihm
hervorgehende Genie bestimmt sind, 794 soll das Volk in diesen von der
monumentalischen Historie überlieferten Geschichtsbildern sich selber, zur
Idealgestalt verklärt, wiedererkennen. Denn dieses „ist die wahrhaft reale
,Geschichte' eines Volkes, alles andere ist schattenhafte unzählige Variation
in schlechterem Stoffe, Kopien ungeübter H ä n d e " , wie Nietzsche im
Sommer 1872—Anfang 1873 aufzeichnet, spiegelt doch „das ganze Leben
eines Volkes unrein und verworren das Bild w i d e r [ . . . ] , das seine höchsten
Genien bieten." 795 Umgekehrt gibt das Genie oder der Genius
die höchste Bestimmung eines V o l k e s in dem gleichnißartigen W e s e n eines
Individuums und in einem e w i g e n W e r k e zu erkennen [ . . . ] , sein V o l k
selbst damit an das E w i g e anknüpfend und aus der w e c h s e l n d e n Sphäre des
M o m e n t a n e n erlösend,
was alles der Genius indes nur vermag, „wenn er im Mutterschooße der
Bildung eines Volkes gereift und genährt ist" 796 : der Belege für die
Abkünftigkeit des Nietzscheschen Genie-Begriffs von demjenigen Diderots
und dessen Fortbildung durch die Stürmer-und-Dränger sind übergenug.
Die Verwandtschaft reicht bis zur Kritik am neuen, von Hegel als „das
höchste Ziel der Menschheit" 797 verklärten Götzen Staat 798 , der entgegen
Metaphysik der Cultur: Der Genius 163

seiner ursprünglichen Aufgabe, den Boden für die Bildung des Genies zu
bereiten — in erster Linie durch die Verhinderung des „natürlichen bellum
omnium contra omnes" 7 9 9 —, um so „Noth- und Schutzanstalt" 800 für die
Kultur sein zu können, sich selbst „als Leitstern der Bildung" 8 0 1 und damit
eine „uniformirte Staatskultur" 802 erzwingt; vor allem aber schließt die
Verwandtschaft die folgende Vorstellung mit ein:
J e d e r ist im G r u n d e Genius, insofern er e i n m a l da ist und einen g a n z
neuen Blick auf die D i n g e wirft. Er v e r m e h r t die N a t u r , er z e u g t mit
diesem neuen Blick. 8 0 3
Eine Vorstellung, die einerseits Leibnizens Gedanken verschärft, jede
Monade sei aufgrund ihres Gesichtspunktes auf die Welt, d. h. aufgrund
ihres situs, einzig — nicht mehr ist Nietzsches „ M o n a d e " schaffend nur im
Sinne des ent-deckenden Ausfaltens der in sie durch Gott bereits vollständig
eingefalteten Welt, vielmehr stellt sie selber vorstellend Welt ursprünglich
her —, zum anderen aber auf das δαιμόνιον des Sokrates zurückgeht. 804
War dieses, wie aus der gegen Sokrates erhobenen Anklage, neue Götter
eingeführt zu haben, hervorgeht, Sondermitgift eines ausgezeichneten
einzelnen, eben des Philosophen, 805 so spricht der frühe Nietzsche eine
solche vor Gefährdungen des Selbst warnende innere Stimme einem jeden
zu.
D e r Mensch, welcher nicht nur M a s s e g e h ö r e n will, braucht nur
a u f z u h ö r e n , g e g e n sich b e q u e m zu sein; er f o l g e seinem G e w i s s e n , welches
ihm z u r u f t : „ s e i du selbst! D a s bist du alles nicht, w a s du jetzt thust, meinst,
begehrst."806
Genius, d. h. Genie, ist danach der, welcher seinem Genius folgt und wahres
Selbst, „Unicum" wird, das er ist. Er ist der wahre Mensch, nämlich nicht
festgestelltes Tier 807 , weil er sich durch die Konventionen seiner Umwelt
in seiner Entwicklung nicht festlegen oder feststellen läßt. ,Öffentlich
meinender Scheinmensch' — Vorwegnahme des Heideggerschen
„ M a n " —, d. h. im Grunde Tier, hingegen der, welcher aus Faulheit und aus
Furcht vor gesellschaftlichen Sanktionen den Ruf des Gewissens überhört,
verbesserte Physis, „ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und
Convention", zu werden, d. h. sein vorgefundenes Selbst zu kultivieren, und
in „einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" 808
zu leben.
Ein J e d e r trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den K e r n seines
W e s e n s ; und wenn er sich dieser Einzigkeit bewusst wird, erscheint um ihn
ein f r e m d a r t i g e r G l a n z , der des U n g e w ö h n l i c h e n . Dies ist den Meisten
etwas U n e r t r ä g l i c h e s : weil sie, wie g e s a g t , faul sind und weil an jener
Einzigkeit eine K e t t e von M ü h e n und Lasten hängt. E s ist kein Zweifel,
dass f ü r den U n g e w ö h n l i c h e n , der sich mit dieser K e t t e beschwert, das
Leben fast Alles, w a s man von ihm in der J u g e n d ersehnt, Heiterkeit,
Sicherheit, Leichtigkeit, Ehre, einbüsst; das L o o s der V e r e i n s a m u n g ist das
164 Voraussetzungen

Geschenk, welches ihm die Mitmenschen machen; die Wüste und die
Höhle ist sofort da, er mag leben, wo er will.809
Im „Kampf eines solchen Grossen g e g e n seine Zeit" bekämpft dieser aber
das,
was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er
selbst zu sein. Daraus folgt, dass seine Feindschaft im Grunde gerade gegen
das gerichtet ist, was zwar an ihm selbst, was aber nicht eigentlich er selbst
ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von
Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlöthung des
Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes 810 .
Unzeitgemäß ist, so behauptet der frühe Nietzsche, der menschliche Kern,
weil er zeitlos ist: die Verwandtschaft der Großen aller Zeiten — eine in
Ansätzen bereits in der Renaissance nachweisbare Vorstellung 811 —
gemahne
fast handgreiflich an das sehr relative Wesen aller Zeitbegriffe [ . . . ] :
beinahe scheint es, als ob manche Dinge zusammen gehören und die Zeit
nur eine Wolke sei, welche es unseren Augen schwer macht, diese
Zusammengehörigkeit zu sehen. 812
Das Gedächtnis an die großen, zeitlosen „Kämpfer g e g e n die
G e s c h i c h t e , das heisst gegen die blinde Macht des Wirklichen" 8 1 3 , gegen
den Fluß von Werden und Vergehen bewahrt jedoch, wie gesehen, die
überhistorische monumentalische Historie. In ihrer mythologisierenden
Tendenz, das historische Geschehen von allem Zeitgeschichtlichen,
Zeitgemäßen zu befreien und ins Unzeitgemäße, Uberhistorische zu heben,
es derweise nicht, wie die beiden anderen Arten von Historie, als geschehen
in die Vergangenheit abzuschieben, sondern es vielmehr einer jeden Zeit in
der Weise zugänglich zu machen, daß sie sich, wie dies die Griechen mit
ihren Mythen konnten, ihr jeweiliges Erleben an diesen Geschichtsbildern zu
deuten vermag: in dieser ihrer Tendenz entspricht sie dem Glauben der
Kämpfenden an die ewige Notwendigkeit ihrer Schöpfungen für alle
Kommenden, ohne den sie zu ihrem T u n niemals befähigt wären. 814 Die
monumentalische Historie verbessert damit die Vergänglichkeit des
Physischen zur Unvergänglichkeit des kulturellen Erbes — der scheinbaren
Unvergänglichkeit indes, denn als verbesserte Physis, die sie ist, bleibt die
Kultur den Gesetzen der Physis unterworfen und hat darum auch die
Vergängnis nicht nur zu bejahen, sondern auch zu wollen, wenn sie
„gesund" bleiben will: „Im Ganzen ist es", so mahnt Nietzsche die
historismuskranken Deutschen,
ein gefährliches Anzeichen, wenn das geistige Ringen eines Volkes
vornehmlich der Vergangenheit gilt, ein Merkmal von Erschlaffung, von
Rück- und Hinfälligkeit 815 ,
Metaphysik der Cultur: Der Genius 165

ein solches Volk hat buchstäblich keine Zukunft, denn es dient „der
Historie, aber nicht dem Leben" 816 , welches, um bauen zu können, zerstören
muß. Aber die Erinnerung der monumentalischen Historie geschieht gerade
im Zeichen und umwillen der Zukunft, sie ist der zum Vollzug des Werdens
notwendige Versuch, das Werden zu überwinden, wie dies, Nietzsche
zufolge, auch Kunst und Religion, d . h . Metaphysik unternehmen: die
monumentalische Historie ist, wie wir sehen werden, künstlerischen und
metaphysischen Wesens. Ja, es reicht zu sagen, daß sie metaphysischen
Wesens ist, spricht doch, wie schon erwähnt, Nietzsche in der „Geburt der
Tragödie" von der Kunst als „der eigentlich metaphysischen Thätigkeit
dieses Lebens".
Kunst und Religion bezeichnet Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen
Betrachtung eben darum als „überhistorische" Mächte, weil sie „den Blick
von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des
Ewigen und Gleichbedeutenden giebt" 817 , d . h . für Nietzsche: hin zum
Metaphysischen. In diesem Sinne lehre auch die monumentalische Historie
im ,,Glaube[n] an die Zusammengehörigkeit und Continuität des Grossen
aller Zeiten", „dass das Grosse, das einmal da war, jedenfalls einmal
m ö g l i c h war und deshalb auch wohl wieder einmal möglich sein wird": Im
„Protest gegen den Wechsel der Geschlechter und die Vergänglichkeit" 818
tendiert sie dazu, eine ewige Wiederkunft des Gleichen zu lehren, welche
indes von Nietzsche hier noch ausdrücklich als Illusion bezeichnet wird:
N u r wenn die Erde ihr Theaterstück jedesmal nach dem fünften Akt von
N e u e m anfienge, wenn es feststünde, dass dieselbe Verknotung von
Motiven, derselbe deus ex machina, dieselbe Katastrophe in bestimmten
Zwischenräumen wiederkehrten, dürfte der Mächtige die monumentale
Historie in voller ikonischer W a h r h a f t i g k e i t , das heisst jedes Factum
in seiner genau gebildeten Eigenthümlichkeit und Einzigkeit begehren:
wahrscheinlich also nicht eher, als bis die Astronomen wieder zu
Astrologen geworden sind. Bis dahin wird die monumentale Historie jene
volle Wahrhaftigkeit nicht brauchen können: immer wird sie das Ungleiche
annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen, immer wird sie die
Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der
c a u s a e die e f f e c t u s monumental, nämlich vorbildlich und nachah-
mungswürdig, hinzustellen: so dass man sie, weil sie möglichst von den
Ursachen absieht, mit geringer Uebertreibung eine Sammlung d e r „ E f f e c t e
an sich" nennen könnte, als von Ereignissen, die zu allen Zeiten Effect
machen werden. 819

O b dieses Absehens von den causae muß die monumentalische Historie —


wir erinnern an unsere diesbezüglichen, im folgenden noch zu vertiefenden
Ausführungen im Abschnitt 6 (S. 63 ff.) sowie in Anmerkung 279 — der Kunst
zugerechnet werden. Bejaht und ergreift sie doch damit das, was nach Nietz-
sche das verdeckte Wesen aller Erkenntnis ausmacht, den Kunsttrieb
166 Voraussetzungen

nämlich, der sich in den anderen Arten von Historie darum schwächer
äußert, weil er hier nicht eigens ergriffen wird:
[ . . . ] Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben:
überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge
gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei. So überspinnt der
Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb
— nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb.820
Schreibbar allein von einem Genie 821 , sollen die mythisch-metaphysischen
Bilder der monumentalischen Historie allein der einen Aufgabe von Kultur
dienen, das Genie zu ermöglichen, kann doch Nietzsche zufolge die Kultur,
als Konsequenz der Kunst, und mit der Kultur das Leben, die „Physis", nur
durch das Genie den eigenen Vollzug sichern: das Genie zeugt darum das
Genie. Dies die — im Heideggerschen Sinne des Wortes — metaphysische
Begründung Nietzsches für den Rang und die Notwendigkeit des Genies.
Doch weil er die Befürchtung hegt, daß die „Massenmenschen" nur dann
von der Verfolgung ihrer egoistischen Ziele absehen und sich der
gemeinschaftlichen Aufgabe, den Genius hervorzubringen, zuwenden
können, wenn diesem ein transzendenter Sinn, ein Wert an sich, zukommt,
spricht Nietzsche dem Genius die kosmologische Bedeutung zu, Stätte der
Selbsterkenntnis des Ur-Einen zu sein — wider die eigene Erkenntnis: „Zu
e r w e i s e n ist weder die metaphysische, noch die ethische, noch die
aesthetische Bedeutung des Daseins." 822 , wohingegen zu „ b e w e i s e n " ist,
„daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind" 823 , eine Erkennt-
nis, vor der er sich ob der daraus hervorgehenden Sinnlosigkeit zudem selber
fürchtet und vor der er sich in den Wagner-Kreis zu flüchten sucht: dies die
Gründe für die — das Wort nun im Nietzscheschen Sinne verstanden —
metaphysische Gründung des Genies, für den Genie-„Kult" in den
veröffentlichten Schriften des frühen Nietzsche.

13. „ Wahrheits-Pathos in einer Lügenwelt.": Kultur-Leben als Widerstreit von


Wissenschafts- und Kunst-Sprache

Kultur ist, so haben wir ausgeführt, Konsequenz von Kunst, weil diese
durch Stilbildung die Lebensäußerungen vereinheitlicht — wie das Leben,
das die Kultur zur Verbesserung seiner selbst hervorbringt, auf seiner
„biologischen Stufe" als Konsequenz jener im Erkenntnisapparat waltenden
Kunstkraft angesehen werden muß, weil sie den amorphen Fluß des
Werdens zu Formeinheiten feststellt. Neue und alte Physis kommen somit
darin überein, daß sie zu ihrem jeweiligen Vollzug des Scheines der Kunst
bedürfen. Die bereits zitierte Aufzeichnung Nietzsches vom Juli 1863 (siehe
Seite 8 f.):
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 167

Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie und giebt
ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an und für
sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele. [ . . . ] In der
Kunst haben wir die Natur nachgeahmt und legen in die Natur die Kunst
hinein.

— diese Aufzeichnung bedeutete bei dem jetzigen Stand der Dinge: Kunst
ahmt dasjenige nach, was die Kunst des Erkenntnisapparates allererst als
N a t u r erzeugt hat. Indes ist sie dahingehend zu korrigieren, daß Kunst für
Nietzsche nun nicht mehr „nur Nachahmung der Naturwirklichkeit,
sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu
deren Ueberwindung neben sie gestellt." 824 Kunst geht über das Physische
hinaus, μετά τ ά φ υ σ ι κ ά , schafft einen höheren, „korrigierten" Schein, sie
ist, wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt, die „eigentlich
metaphysischef...] Thätigkeit" 8 2 5 . (Doch schon der niedere Schein der alten
Physis kann — was hier außer acht bleiben soll — insofern metaphysisch
genannt werden, als er das Ergebnis eines Hinausgehens des Erkenntnisap-
parates vom bestandlosen Werden zu einem beständigen Sein darstellt; siehe
dazu Anmerkung 819 sowie unsere Interpretation von Nietzsches
philosophischer Erstlingsschrift.)

„Eine Weltcorrektion — das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt
erscheinen, um lebenswerth zu sein?" 826 , lautet die Frage, die Nietzsche
zufolge die Kunst mehr oder minder unbewußt bewegt. Illusionäre
Verschleierung d. h. Verklärung der Illusionen der Welt ist darum ihr T u n
— in der Absicht, die Physis zu steigern, nämlich Kultur zu schaffen:
Jede Art von K u l t u r beginnt damit, daß eine Menge von Dingen
v e r s c h l e i e r t werden. Der Fortschritt des Menschen hängt an diesem
Verschleiern — das Leben in einer reinen und edlen Sphäre und das
Abschließen der gemeineren Reizungen. D e r Kampf gegen die
„Sinnlichkeit" durch die Tugend ist wesentlich ästhetischer Art. W e n n wir
die g r o ß e n Individuen als unsere Leitsterne gebrauchen, so verschleiern
wir viel an ihnen, ja wir verhüllen alle die Umstände und Zufälle, die ihr
Entstehen möglich machen, wir i s o l i r e n sie uns, um sie zu verehren.
Jede Religion enthält so ein Element: die Menschen unter göttlicher Obhut,
als etwas unendlich Wichtiges. Ja, alle Ethik beginnt damit, daß wir das
einzelne Individuum u n e n d l i c h w i c h t i g nehmen — anders als die
Natur, die grausam und spielend verfährt. W e n n wir besser und edler sind,
so haben es die isolirenden Illusionen gemacht! 827

,,[N]ur als a e s t h e t i s c h e s " — d . h . als ein wie ein Kunstwerk


betrachtetes — „ P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig
g e r e c h t f e r t i g t " lautet ein noch zu bedenkender Zentralsatz der
„Geburt der Tragödie" 8 2 8 .
168 Voraussetzungen

Feindin dieser fruchtbaren, weil lebensfördernden, vom Genius


geschaffenen 829 Illusionen ist die Wissenschaft — das große Thema der
2. Unzeitgemässen Betrachtung, die vom „ N u t z e n und Nachtheil der
Historie für das Leben" handelt:
Eine Religion zum Beispiel, die in historisches Wissen, unter dem Walten
der reinen Gerechtigkeit, umgesetzt werden soll, eine Religion, die durch
und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges
zugleich vernichtet. Der Grund liegt darin, dass bei der historischen
Nachrechnung jedesmal so viel Falsches, Rohes, Unmenschliches,
Absurdes, Gewaltsames zu Tage tritt, dass die pietätvolle Illusions-Stim-
mung, in der Alles, was leben will, allein leben kann, nothwendig zerstiebt:
nur in Liebe aber, nur umschattet von der Illusion der Liebe schafft der
Mensch, nämlich nur im unbedingten Glauben an das Vollkommene und
Rechte. 830

Und diese Zerstörung der Illusionen hat statt: — im Zeichen einer Illusion,
der Illusion der Objektivität. (Hier ist das bereits zitierte W o r t Nietzsches:
„Es ist naiv zu glauben, daß wir je aus diesem Meer der Illusion
herauskommen könnten." 8 3 1 zu ergänzen durch jenes: „ W e n n man die
Wahnvorstellung sich als solche auflöst, so muß der Wille — w e n n
a n d e r s er unser Fortbestehen will — eine n e u e schaffen." 832 , braucht er
doch zu seinem Vollzug den Schein.) „Objektivität", d. h. die Wiedergabe
,des empirischen Wesens der Dinge' 833 zu fordern, heißt nämlich für
Nietzsche, das dichtende Wesen der Vernunft zu verkennen, sich in der
Illusion zu wiegen, als würden sich „die Dinge gleichsam durch ihre eigene
Thätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien,
abphotographiren" 8 3 4 . Indes äußert sich, wie bereits gehört, schon in dem
Bestreben des Menschen, im Vergangenen Zusammenhänge zu erkennen,
„überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des Planes in die Dinge
gelegt werden müsse, wann sie nicht darinnen sei [ . . . ] sein Kunsttrieb —
nicht aber sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb" 835 . Auch hier zeigt sich
somit das Bemühen des Erkenntnisapparates, die unendliche Zahl von
Erscheinungen zu überschaubaren Einheiten zusammenzufassen. Wenn
beispielsweise der Historiker Bilder der „griechischen Kultur" entwirft, sind
dies mithin, wie Hans Martin Klinkenberg richtig bemerkt, „zustandhafte,
isolierende Metaphern für kontinuierliche Bewegung in und durch große
Einzelne" 836 , für als solche nicht denkbare Vollzüge des Werdens, die indes
selber bereits von illusionären Einheitsvorstellungen geleitet werden. „Von
Illusionen sich nicht beherrschen lassen, ist ein unendlich naiver Glaube,
aber es ist der intellektuelle Imperativ, das Gebot der Wissenschaft." 837 ,
merkt sich Nietzsche im September—Januar 1871 an.
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 169

Wenn die philosophische Tradition seit Aristoteles Wissenschaft,


Philosophie und Kunst als Weisen und Gebiete des Erkennens
zusammengebracht hat, so verbindet sie nunmehr in Nietzsches Philosophie
des umgedrehten Piatonismus, welche alles unter der Optik des auf den
Schein zielenden Lebens betrachtet, das Schaffen solchen Scheins, das
Voraussetzen von Werten, die dem Leben Richtung geben.
Piaton ist der erste Denker gewesen, welcher die Kunst in
grundsätzlicher, in ontologischer Weise bedacht hat — im 10. Buch der
Politeia (595 ff.). Dort bestimmt er das Wesen der Kunst am Beispiel zweier
elementarer Gebrauchsgegenstände (σκεύη), Bett und Tisch, als ,,τριττά
ά π έ χ ο ν τ α τ ο ϋ ο ν τ ο ς " (599 a), als an dritter Stelle vom eigentlich Seienden
entfernt stehend, nämlich nach den vom göttlichen Wesensbildner
(φυτουργός) geschaffenen Ideen und den vom Werkbildner oder
Handwerker (δημιουργός) im geistigen Hinblick auf die Ideen
geschaffenen und damit durch Ideenteilhabe (μέθεξις) gezeichneten
Zeugdinge: Der Maler (ζωγράφος) hat, wenn er Tisch und Bett darstellt,
nicht die Idee selbst, sondern das ihr schon Nachgebildete im Blick. Als
bloße μίμησις 8 3 8 desselben aber ist sein Geschaffenes, bezogen auf die Idee,
nicht mehr als ein Schattenbild (ειδωλον). Dieser potenzierte Schein
( φ α ι ν ό μ ε ν ο ν ) — hinsichtlich der Ideen ist auch das Zeugding Schein ( „ κ α ι
τ ο ϋ τ ο ά μ υ δ ρ ό ν τι τ υ γ χ ά ν ε ι öv πρός ά λ ή θ ε ι α ν — etwas Trübes ist gegen
die Wahrheit", 597 a) — stellt in Piatons Augen insofern eine große Gefahr
dar, als er selbstgenügsam zu sich selbst verführend die Frage nach dem
Unterschied von Wahrheit und Schein verschließt. Damit aber verweigert
die Kunst dem Menschen die Wesensprägung, die π α ι δ ε ί α , die in dieser
Frage eröffnet wird, und muß daher — mit Ausnahme etwa der „Gesänge an
die Götter und Loblieder auf treffliche Männer" (607 a) — aus der
menschlichen Gemeinschaft, der πόλις, ausgeschlossen werden, wenn diese
gelingen soll.
Aristoteles rettet in seiner „Poetik" die Kunst aus dieser Verwerfung,
indem er, ihre Eigenart anerkennend, ihr einen Platz anweist zwischen der
Historie, dem niederen Wissen des tatsächlich Geschehenden, d. h. des
Besonderen (καθ' έκαστον), und dem höchsten Wissen der Philosophie um
das Intelligible, das Allgemeine (καθόλου): „ D e r Unterschied ist, daß der
Historiker berichtet, was geschehen ist, der Dichter aber Dinge, die
gegebenenfalls hätten geschehen können. Darum ist die Poesie philosophi-
scher und gehaltvoller als die Geschichtsschreibung. Die Poesie stellt mehr
das Allgemeine dar; der geschichtliche Begriff aber das Einzelne." 839 Indem
die μίμησίς der Poesie das Allgemeine darstellt, das als solches obzwar nicht
real, gleichwohl in verschiedenen Realisierungen immer wieder aufscheint,
170 Voraussetzungen

ist sie wissender als die Historie, indes nicht so wissend wie die Philosophie,
welche u. a. auch das höchste Allgemeine begrifflich zu erfassen sucht.
Wie Piaton bestimmt auch Aristoteles das Wesen der Kunst im Hinblick
auf Erkenntnis und Wissen — und darin ist beiden Denkern die gesamte
Metaphysik gefolgt. Zwar erkennt die folgende Metaphysikgeschichte wie
Aristoteles die Kunst als eine eigene Art der Erkenntnis, des Fassens und
Bewahrens des Wahren an — die Kunst lasse das Wahre, die Idee, im
Sinnlichen scheinen — , doch steht auch für sie „ d i e Entbergungsleistung der
Kunst wesentlich hinter derjenigen der Erkenntnis, dem direkten Fassen der
Idee, zurück. Alle Metaphysik hat der Kunst eine dienende Stellung
gegenüber der Erkenntnis angewiesen, — in der Sprache Nietzsches: die
Erkenntnis ist unbedingt mehr wert als die Kunst." 8 4 0
Dieses Wertverhältnis kehrt sich bei Nietzsche um. Wenn Piaton aus
dem „ G l a u b e n " an die Wahrheit und das An-sich-Sein der Ideen heraus die
Kunst als den zu sich selbst verführenden potenzierten Schein meinte
verwerfen zu müssen, so sieht Nietzsche, Piatons Wesensbestimmung der
Kunst übernehmend, in der Kunst die gegenüber der Wahrheit, d. h. in
seinem Falle: der certitudo, wesentlichere Bedingung des Lebens. Denn
Nietzsche hat sich auch die Wahrheit als für das Leben notwendige, weil
dessen Bestand sichernde Illusion, d. h. als Schein erwiesen. Als Schein aber
steht sie niedriger und ist sie weniger wert für das Leben denn der
„ p o t e n z i e r t e " Schein der Kunst.
Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche
sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos g e w o r d e n sind,
M ü n z e n , die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als
M ü n z e n in Betracht k o m m e n . ,

heißt es in „ U e b e r Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" 8 4 1 .


Dieser S a t z mahnt uns, das angesprochene Verhältnis von Wissenschaft und
Kunst im Wesensbereich der Sprache zu bedenken, in dem es ihm zufolge
gegründet ist.
Mit Nietzsche haben wir bereits gesehen, „ d a ß Wort und Ding sich nicht
vollständig und nothwendig decken, sondern daß das Wort ein S y m b o l " —
in der Schrift „ U e b e r Wahrheit und L ü g e " sagt Nietzsche gleichsinnig: eine
Metapher — ist, dies aber darum, weil es nur unsere Vorstellungen von der
Welt symbolisiert, „seien dies nun bewußte oder, der Mehrzahl nach
unbewußte": so Nietzsche in einem umfänglichen Fragment zur „ G e b u r t
der T r a g ö d i e " 8 4 2 , in dem er im folgenden an Schopenhauers, mehr aber
noch an Wagners vor allem in „ O p e r und D r a m a " ausgesprochene
Gedanken zur Sprache anknüpft, die in der mit Herder anhebenden
sprachtheoretischen Tradition stehen.
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 171

Im Bereich jener Vorstellungen lassen sich, so heißt es dort weiter, „zwei


Hauptgattungen unterscheiden." 843 Zum einen die als „Wille" zu
bezeichnenden Lust- und Unlustempfindungen, zum anderen alle übrigen,
von jenen „als nie fehlender Grundbaß" begleiteten Vorstellungen.
Abgesehen von der Möglichkeit, diese ,,[t]heilweise, aber sehr theilweise
[ . . . ] in Gedanken, also in bewußte Vorstellungen" 8 4 4 umzusetzen, können
letztere nur durch „ G e b e r d e n s y m b o l i k " 8 4 5 oder „ G e b e r d e n s p r a -
c h e " 846 mitgeteilt werden. Darunter versteht Nietzsche zunächst jene durch
Reflexbewegungen erzeugten körperlichen Bewegungen, die das Auge
instinktiv, wie er, Wagners an Feuerbach anknüpfender Ideologie des
Reinmenschlichen hörig, jetzt noch vermeint, 847 auf den Zustand hin zu
deuten weiß, „der die Geberde hervorbrachte und den sie symbolisirt:
zumeist fühlt der Sehende eine sympathische Innervation derselben
Gesichtstheile oder Glieder, deren Bewegung er wahrnimmt." 8 4 8 Indes ist
„im Allgemeinen [ . . . ] jeder Geberde ein T o n parallel" 849 , jener Schrei der
Empfindung, auf den in der vorherderschen Tradition der Ursprung der
Sprache verengt wurde. Doch distanziert sich Nietzsche breits im Herbst des
Jahres 18 6 7 850 desgleichen von dem auch von Wagner 8 5 1 geteilten, jene
Anschauung reformierenden Gedanken Herders, daß „die Interjektion die
Mutter der Sprache sei" — so Nietzsches Formulierung in der besagten
Aufzeichnung „Vom Ursprung der Sprache", wo verschiedene Sprachur-
sprungstheorien von den Griechen bis zu Herder abgehandelt werden. Er
bezeichnet sie dort dementgegen als deren „Negation" 8 5 2 , markiert sie doch,
wie er in „Die dionysische Weltanschauung" 8 5 3 ausführt, den Übergang
„ z u m reinen Klange", zur Musik, bis zu der den T o n zu steigern nur dem
Rausche des Gefühls gelinge:
Vor allem in den höchsten Lust- und Unlustzuständen des Willens, als
jubelnder Wille oder zum Tode geängsteter, kurz im R a u s c h e d e s
Gefühls:im Schrei.
Gleichwohl hätten auch „die milderen Erregungen des Willens [ . . . ] ihre
Tonsymbolik": weiterhin hält auch Nietzsche die menschliche Sprache
weniger f ü r eine Reflexions-, denn eine Gefühlssprache, 854 ist sie doch „die
innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und
dem T o n . " So nämlich, daß dieser „ f ü r die Sprache eben so fundamental
[ist]", wie jene von ihm symbolisierte allgemeinste „Erscheinungsform [des
Willens] f ü r alle übrigen Vorstellungen. Alle Lust- und Unlustgrade [ . . . ]
symbolisiren sich [nämlich] im T o n e d e s S p r e c h e n d e n " 8 5 5 , in seinem
Fall, seiner Stärke und seinem Rhythmus, 856 wohingegen „durch die
Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung" 857
bezeichnet wird. Denn das „ganze Bereich des Consonantischen und
Vokalischen" glaubt Nietzsche
172 Voraussetzungen

nur unter die Geberdensymbolik rechnen zu dürfen — Consonanten


u n d 858 Vokale sind ohne den vor allem nöthigen fundamentalen T o n
nichts als S t e l l u n g e n der Sprachorgane, kurz Geberden —; sobald wir
uns das W o r t aus dem Munde des Menschen hervorquellen denken, so
erzeugt sich zu allererst die Wurzel des Wortes und das Fundament jener
Geberdensymbolik, der T o n u n t e r g r u n d , der Wiederklang der Lust-
und Unlustempfindungen. Wie sich unsre ganze Leiblichkeit zu jener
ursprünglichsten Erscheinungsform, dem Willen verhält, so verhält sich das
consonantisch-vokalische W o r t zu seinem Tonfundamente. 8 5 9
Anders als für Herder, der zufolge Nietzsches im Jahre 1869/70
entstandenem Fragment „ V o m Ursprung der Sprache" die Anschauung
hegte, daß der zur Sprache geborene Mensch, gemäß einer ,inneren
Drängniss' „die Sprache aus sich äussernden Lauten sich verinnerlicht" 860 ,
ihr somit erst allmählich die Fähigkeit der Gedankensymbolisierung
gewonnen habe, ist für Nietzsche der Sprache diese Fähigkeit von Beginn an
eigentümlich: „instinktiv und mit großer und weiser Gesetzmäßigkeit" 861
sollen diese Symbole wachsen. „Instinktiv" — mit diesem Terminus weist
Nietzsche Herders Annahme einer über der Sprachentwicklung waltenden
Gottheit zurück, glaubt er damit doch — wir erinnern an Nietzsches
Notizen für sein Dissertationsprojekt (siehe Seite 13) — Kants Erklärung
der Teleologie in der Natur fassen zu können, wonach „etwas zweckmäßig
sei ohne ein Bewußtsein". Ebendas aber ist für Nietzsche „das Wesen des
Instinktes" 862 . Der Mensch — nicht der einzelne, auch nicht eine Gruppe
von Menschen, sondern der menschliche Geist schlechthin — ist somit
instinktiver und d. h. weder göttlich inspirierter noch bewußter Schöpfer der
Sprache. So Nietzsche in dem schon erwähnten Fragment „Vom Ursprung
der Sprache" und der im Juni—Juli 1870 verfaßten Schrift „Die dionysische
Weltanschauung", deren Gedanken zur Sprache sich mithin einerseits noch
ganz im Rahmen der Auffassungen seines Dissertationsprojektes vom Jahre
1868 bewegen, andererseits aber auch in Übereinstimmung mit den damals
herrschenden Ansichten stehen, wie sie etwa von Carl Wilhelm Ludwig
Heyse (1797—1855) vertreten wurden. In seinem im Jahre 1856
erschienenen Buch „System der Sprachwissenschaft" äußert dieser die
Meinung, daß „nicht der physische Organismus des Menschen, noch auch
der subjektive Geist das schaffende Prinzip der Sprache [ist]; sondern die
Erzeugung der Sprache geschieht mit Notwendigkeit, ohne besonnene
Absicht und klares Bewusstsein, aus innerem Instinkt des Geistes"*6*. Allererst
in der unter dem Einfluß Gustav Gerbers im Sommer 1873 abgefaßten
Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" behandelt
Nietzsche die sozialen Aspekte der Sprachentstehung, wie auch hier zum
erstenmal von ihm der Kunstwerk-Charakter der Sprache herausgestellt
wird.
Kultur-Leben als .Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 173

Mit Hilfe der von ihm geschaffenen Sprache vermenschlicht der Mensch
die Welt, verbessert er die Physis zur Kultur, als welche, so wissen wir, „vor
allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines
Volkes" ist.
Nietzsche exemplifiziert dies in einem Fragment vom Sommer
1872—Anfang 1873 an den Griechen, deren Kultur er als die bisher höchste
des Abendlandes bewertet:
Erste Stufe der Kultur: der Glaube an die Sprache, als durchgehende
Metapherbezeichnung.
Zweite Stufe der Kultur: Einheit und Zusammenhang der Metapherwelt
durch Anlehnung an Homer.864
Die Sprache schließt ein Volk zu einer kulturellen Einheit zusammen. Sie
gibt die Voraussetzung dafür ab, daß die großen einzelnen ihre Werke
schaffen können, die dann jene kulturelle Einheit bis ins letzte prägen,
derart, daß die Kulturgemeinschaft sich in den Werken und ihren Schöpfern
wiederzuerkennen meint. Sprache wie Werke — „beidemal sind es
Kunstwerke" 8 6 5 , aus denen die Kultur f ü r Nietzsche hervorgeht. Das kann
darum nicht verwundern, weil, wie erinnerlich, für ihn Kultur „Herrschaft
der K u n s t über das L e b e n " 8 6 6 ist:
Die Kultur kann immer nur von der centralisirenden Bedeutung einer
Kunst oder eines Kunstwerks ausgehen. Unwillkürlich wird die
Philosophie dessen Weltbetrachtung vorarbeiten. 867 ,
bemerkt Nietzsche im Winter 1872/73 und bringt damit zum Ausdruck, daß
zu den Obliegenheiten des Philosophen als Arzt der Kultur auch das —
gemeinsam mit den Dichtern wahrzunehmende — Wächteramt über die
Sprache rechnet. 868 Dabei verhält es sich mit dem Kunstwerk Sprache
ähnlich wie mit den anderen Kunstwerken:
sie ist die Geburt der genialsten Wesen, zum Gebrauch f ü r die genialsten
Wesen, während das Volk sie zum geringsten Theile braucht und
gleichsam nur die Abfälle benutzt. 869
Die Sprachschöpfung ist nach Nietzsche die erste Äußerung des
Kunsttriebes eines Volkes;
in einer späteren Zeit werfen sich die gleichen Kräfte in die Form von
Dichtern und Musikern und Schauspielern Rednern und Propheten; aber
als diese Kräfte noch in der strotzenden Fülle der ersten Jugend waren,
erzeugten sie Sprachenbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller
Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen
Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grösser, liebevoller, gemeinsamer und
beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In
ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich.870
Der romantische Gedanke von der Volksseele in der Vereinigung mit dem
Schopenhauerschen Willensbegriff liefert die Basis für diese Theorie vom
Ursprung der Sprache, die einzig darin originell ist, daß sie die Annahme,
eine Mangel- oder Notsituation habe die Menschen zum Sprechen bewegt,
174 Voraussetzungen

als irrig abweist. Bemerkt Nietzsche in seiner Aufzeichnung vom Ende des
Jahres 1874 zunächst noch:
es ist nicht wahr, dass die Noth die Sprache erzeuge, die Noth des
Individuums; sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde871,
so geht er gleich anschließend noch einen Schritt weiter und führt — u. a. in
entschiedenem Widerspruch zu seiner Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge",
wo er die Sprache als Teil des Friedensschlusses interpretiert, den der
Mensch eingeht, weil er „zugleich aus N o t h und Langeweile gesellschaftlich
und heerdenweise existiren will" 872 — die erste kulturelle T a t der
Sprachschöpfung auf eine Situation der Überfülle zurück:
Und klingt denn wirklich das herrliche Tonwesen einer Sprache nach
Noth, als der Mutter der Sprache? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit
geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? Was hat der
affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs
Casus hat und seine Verben mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle
gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche
Sprach sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen;
t···]· 873
Ebendieser Gedanke aber weist auf den späten Nietzsche voraus, der in der
Frage, ob etwas aus der Uberfülle oder der Verarmung des Lebens
entstanden, ob „hier der H u n g e r oder der Ueberfluss schöpferisch
geworden" 8 7 4 ist, die Grundfrage seiner Ästhetik sieht — in dem einen Falle
weist er das Hervorgebrachte dem Romantischen, in dem andern Falle
hingegen dem Dionysischen zu. Später läßt Nietzsche auch diese
Unterscheidung noch hinter sich, indem er die Meinung äußert, daß Kunst
als „ B e j a h u n g , S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g d e s D a s e i n s " 8 7 5 nur
aus der Uberfülle heraus geschaffen werden könne (siehe Anmerkung 279).
Sprache entsteht, so fährt Nietzsche in jener Aufzeichnung vom Ende
des Jahres 1874 fort, nur dann, wenn „die Seele weiter als das Individuum
[ . . . ] geworden [ist]", denn „sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden
w o l l e n , sie muss erst sprechen w o l l e n , bevor sie spricht; und dieser
Wille ist nichts Individuelles." 876 Metaphysisch betrachtet kann er darum
nichts Individuelles sein, weil er Äußerung des einen Willens ist, dessen
Einheit, wie Nietzsche sagt, nicht im Räume liegt wie die Vielheit der
Menschen. 877
Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des
andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck
einer gemeinsamen Seele.878
Sprache ist Ausdruck: für Nietzsche, der das „sibi scribere" zu seinem
Wahlspruch erkoren 879 und bereits im Sommer 1872—Anfang 1873
„ O e d i p u s " betitelte „Reden des letzten Philosophen mit sich selbst" 880
entworfen hat — ein Motiv, das nicht nur in seinen Gedanken und Versen,
vor allem in jenem schmerzhaft-schönen Venedig-Lied des „Ecce homo" 8 8 1 ,
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 175

wiederkehren, sondern das schließlich auch auf entsetzliche Weise sein


Leben zeichnen sollte —: für Nietzsche heißt das, daß die Sprache in ihrem
Wesen nur vordergründig dialogisch ist, daß sie sich keineswegs an einen
anderen als anderen richtet, diesen als anderen anerkennt:
Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die
gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent
vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst,
aber in einem andern Gehäuse. Erkennst du dich wieder? — dies Gefühl
begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines
Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder
erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen
wird seine Seele ärmer und kleiner.882
Wir können in diesem Zusammenhang nicht auf die Frage eingehen, in
welcher Weise dieser — in Nietzsches Tendenz zum Solipsismus gegründete
— sprachphilosphische Ansatz, demzufolge der Sprecher im H ö r e r nur sich
selbst wiederzufinden sucht, Nietzsches spätere, auf dem Gedanken des
Willens zur Macht basierende Theorie des Mitteilens und Verstehens als des
Einprägens und Einverleibens „ e i n e s W i l l e n s a u f e i n e n a n d e r e n
W i l l e n " 8 8 3 bestimmt hat. Hier wollen wir uns vielmehr Nietzsches
Behauptung zuwenden, daß in der Gegenwart wie das Leben und die
Kulturen so auch die Sprachen der Zivilisationen erkrankt sind: „überall ist
hier die S p r a c h e erkrankt, und auf der ganzen menschlichen
Entwickelung lastet der Druck dieser ungeheuerlichen Krankheit", mahnt
Nietzsche in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung 884 .
Wir haben bereits gesehen, daß nach Nietzsches Ansicht die Sprache
bereits in ihrem hypothetischen geschichtlichen Ursprung in ihr volles
Wesen getreten ist, als welches die Verschmelzung von T o n , als Symbol der
Erscheinungsform des Werdens, d. h. des Willens, und Gebärde, als Symbol
der begleitenden Vorstellung, darstellt. Der Charakter dieser Verschmel-
zung aber ist, wie wir im Gefolge unserer Interpretation der „Geburt der
Tragödie" zeigen werden, der des Streites, was bedeutet, daß Bild und
bedeutungsvoller Sprachlaut für Nietzsche wie bereits für Humboldt und
später auch f ü r Saussure nur durch einander sind. Damit aber scheint ein
Widerspruch zu jenen Äußerungen auf, die von einem zunächst rein
bildlichen, erst nachträglich versprachlichten Denken ausgehen. Nietzsche
hat diesen Widerspruch nicht gesehen.
Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut sind durch einander — das meint,
daß die Sprache nur dort wesensgemäß spricht, wo dieser Streit
aufrechterhalten wird.
Räumt Nietzsche auch im Sprachzeichen dem Laut darum eine
Prävalenz ein, zum ersten weil er Ausdruck der Erscheinungsform des
Werdens ist, zum zweiten weil er ein unmittelbares, der Auffassung des
176 Voraussetzungen

Gedankens vorgängiges affektives Verständnis ermöglicht — „ das Bild wird


erst begriffen, nachdem durch den T o n bereits Einverständniß erzeugt ist",
meint Nietzsche im Winter 1870/71—Herbst 1872885 s o heißt das
gleichwohl nicht, daß er Texten aus „Musikdunst" — so bereits 1871 über
Wagners Texte 886 — oder gar dadaistischen Signifikantendelirien das W o r t
redete, um das weiße Rauschen zu erfassen; 887 vielmehr heißt dies, daß sich
der sprechende Mensch um bildliche, die Erscheinungen der Welt
vorstellend-herstellende Sprachdarstellungen bemühen soll, im Bewußtsein
indes, daß sie Erscheinungen, vergängliche Gleichnisse 888 , Metaphern des im
Lautkontinuum symbolisierten Willens sind, der als tiefste uns zugängliche
Schicht der Welt sich für uns nur in solchen Erscheinungen fortzeugt. Und
nur wenn der Mensch in dieser Weise, dem Wesen der Sprache
entsprechend, spricht, entspricht er, das sprechende Wesen, dem Wesen der
Welt, dem Werden, das f ü r uns als Widerstreit von Werden und Sein — in
der Sprache der Artisten-Metaphysik: von Dionysos und Apoll — west, nur
dann zeugt er aber auch sprechend den Weltstreit fort, als welcher sich das
Leben vollzieht 889 : Die Notiz „eigentlich germanisch: Gedanken aus Musik
zu gebären" 8 9 0 ist eben auch als Imperativ zu verstehen.
Doch nur im Hinblick auf den Nietzscheschen Grundgedanken des
dionysischen Widerstreites zwischen Dionysos und Apoll kann der Sprache
die Bedeutung zugesprochen werden, daß sie das — an sich nicht
vorhandene — Werden allererst dadurch herstellt, daß sie es im
Zusammentreffen mit einem Laut zu Erscheinungen fügt: Nietzsches
Charakterisierung der Sprache als „Ausdruck" zeigt an, daß er ihr
ansonsten nur die sekundäre Rolle zuspricht, nachträgliche Verlautbarung
eines bereits Konstituierten zu sein, sei dies — was, wie das nachfolgende
Zitat deutlich macht, nicht immer auf das Fortleben des Schopenhauerschen
Ansatzes mit seiner Annahme eines an sich vorhandenen Willens hindeuten
muß — auf der tiefsten Ebene der Wille bzw. das Werden, sei dies auf
höherer Ebene das Seiende in Form der vom Menschen vorstellend
hergestellten Metapher, mit der, wie es in „Ueber Wahrheit und Lüge"
heißt, „in uns jede Empfindung" — d. h. der Fluß des Werdens —
„beginnt" 8 9 1 .
Die beiden verschiedenen Sichtweisen kommen aber darin überein, daß
sich Sprache wie Leben nur dann gesund, nämlich im Rahmen ihrer
höchsten Möglichkeiten vollziehen können, wenn der Werdecharakter des
Lebens zur Sprache kommt. Ebendies ist aber Nietzsche zufolge in der
Gegenwart nicht mehr der Fall, weil die Sprache — nicht zuletzt unter dem
Einfluß der zunehmenden Verschriftlichung unserer Kultur — zur reinen
Begriffssprache entartet ist: das Wesensmerkmal des Sokratismus.
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 177

Welche Bedeutung Nietzsche der Sprache des Begriffs für die Entartung
des Lebens zuzumessen geneigt ist, das geht aus einer Aufzeichnung vom
Winter 1869/70—Frühjahr 1870«« hervor. Danach ist der Begriff das
einzige δ ρ γ ά ν ο ν des Willens, das sich von diesem unabhängig zu machen
vermag. (So daß hier eine neue Antwort auf die früher angesprochene Frage
gefunden wäre, wie denn das Leben entarten kann, wenn doch alles, was ist,
nur seiner Beförderung dient — sähe sich Nietzsche nicht genötigt, auf die
nächste Frage, warum sich der Mensch dieser Begriffssprache in einem
lebensschädlichen Ubermaße bedient, wieder mit dem Hinweis auf die
Erkrankung des Lebens zu antworten: der Mensch ist als ganzer ein
Gewollter des Willens. Über das Erklärungsmodell der Krankheit gelangt
Nietzsche mithin auch hier nicht hinaus.) Die Aufzeichnung lautet:
Das Einzige ihm [dem Willen] nicht unbedingt Unterlegene ist die
Abstraktion, ursprünglich ein Mittel, allmählich emancipirt.
Ein Begriff ist für Nietzsche nämlich ein „gemerktes Symbol [ . . . ] : da bei
dem Festhalten im Gedächtniß der T o n ganz verklingt, ist im Begriff nur das
Symbol der begleitenden Vorstellung gewahrt." 893 Im sprachlichen Begriff
ist somit der Lebensvollzug zum Stillstand gekommen. Der Mensch
klammert sich an die vorgestellten Erscheinungen und stellt sie begrifflich
fest, indem er von ihren sichtbaren Eigenheiten abstrahiert. „Denken wir
besonders noch an die Bildung der Begriffe", fordert Nietzsche in seiner
Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" seine Leser auf:
jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das
einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen
verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose,
mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also
auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch
Gleichsetzen des Nicht-Gleichen.894
V o r allem aber abstrahiert der Begriff von der zeitlichen Bestimmtheit der
jeweiligen Anschauung: Der Begriff ist der Zeitreihe enthoben, so zwar, daß
er, wie Hegel sagt, die Zeit der Sache ist, läßt er doch die Sache da sein,
während sie nicht da ist.895 So vergißt der Mensch beim Gebrauch des
Wortes als Begriff, daß es sich nur auf die eine Anschauung, das eine
Sinnending des einen bestimmten schöpferischen Augenblicks bezieht, er
fixiert mithin das im schöpferischen Augenblick des Entstehens der
Metapher aufscheinende Werden — und dies umwillen der f ü r den Vollzug
jenes Werdens notwendigen Bestandsicherung, umwillen des alltäglichen
Lebensvollzugs, in dem der Mensch es nicht leidet, „durch die plötzlichen
Eindrücke, durch die Anschauungen fortgerissen zu werden". In seinen
alltäglichen Verrichtungen muß der Mensch seine Erkenntnisse vergleichen
und handhaben, er muß als animal rationale mit den Erscheinungen rechnen
können:
178 Voraussetzungen

Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser
Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu
verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener
Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen
ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale O r d n u n g nach
Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien,
Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen
anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere,
Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende
und Imperativische. 896
Ist damit die begriffliche Feststellung auch als lebensnotwendig erkannt, so
darf doch nicht übersehen werden, daß in ihr zwei große, miteinander
verknüpfte Gefahren beschlossen liegen. Zum einen, daß vergessen wird,
daß diese Begriffe nur dann sinnvoll sind, wenn sie mit einer Anschauung
verknüpft werden, somit nicht als pure Begriffe begriffen, als bloße
Gedanken verstanden werden. 897 Dieser Gefahr erliegen in seinen Augen
einerseits die Metaphysiker, wenn sie, wie Parmenides und Zeno,
an der Wahrheit und Allgültigkeit der Begriffe festhalten und die
anschauliche Welt als das Gegenstück der wahren und allgültigen Begriffe,
als eine Objektivation des Unlogischen und Widerspruchsvollen
verwerfen. 898
oder, wie Plato, die Begriffe zu einer metaphysischen Ideenwelt
hypostasieren. Andererseits erliegen ihr die Wissenschaftler, die „unaufhalt-
sam an jenem grossen Columbarium der Begriffe, der Begräbnissstätte der
Anschauung" 899 fortbauen. Sie alle vergessen dabei wie der Alltagsmensch
„die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und [nehmen] sie als
die Dinge selbst"900, sie vergessen, daß die Worte „nur Symbole für die
Relationen der Dinge unter einander und zu uns [sind] und [ . . . ] nirgends
die absolute Wahrheit [berühren]."901 Das aber ist die Zeugungsstunde für
eine tiefsinnige W a h n v o r s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des
Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken,
an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins
reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar
zu c o r r i g i r e n im Stande sei.902
Es ist dies der flache Optimismus des Sokratismus, der Optimismus unserer
Gegenwartskultur des passiven Nihilismus, der „nichts mehr ganz haben
[will], ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge." 903 Eine
Kultur, die sich vor der Unergründlichkeit der Welt, vor dem Rätsel von
Werden und Vergehen fürchtet und sich darum an die begrifflich
festgestellten und damit von ihrer Lebenswurzel abgeschnittenen histori-
schen Erscheinungen klammert, ohne zu bemerken, daß ihr dabei das Leben
zu bloßen Worthülsen verkommt. Diese Tendenz wird zudem noch dadurch
verstärkt, daß in den Zivilisationen die Schriftsprache gegenüber der
gesprochenen Sprache, als der ursprünglichen und eigentlichen Sprache, in
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 179

solcher Weise dominiert 904 , daß die Sprache ihren Charakter verliert, nur
kurzfristig Bleibendes in der Flucht der Zeit zu sein. Allein dann aber, wenn
das Bewußtsein um die Vergänglichkeit des Sprechens wachgehalten würde,
könnte die ihr widerstreitende Verschriftlichung ihre f ü r die Tradierung der
Kultur so segensreichen Wirkungen voll entfalten. Stattdessen gilt, was
Nietzsche Ende 1874 ,,[z]um Lesen" bemerkt:
wir sind eine Zeit, deren Cultur an den Mitteln der Cultur zu Grunde
geht. 905
Wir sehen, daß auch hier, im Bereich des Sprechens, Nietzsches
Grundgedanke wiederkehrt, wonach sich das Leben nur dann gesund
vollziehen kann, wenn der Widerstreit zwischen Sein und Werden nicht
durch die Dominanz eines der beiden Streitpartner aufgehoben wird.
Das würde aber zum anderen verlangen, daß der Mensch nicht über dem
begrifflichen Festhalten der Vorstellungen „als k ü n s t l e r i s c h s c h a f -
f e n d e s Subjekt" 906 vergessen würde. Denn schon „das Verhältniss eines
Nervenreizes zu dem hervorgebrachten Bilde", das dann in einem Laut
nachgeformt wird, ist in Nietzsches Augen „an sich kein nothwendiges" 9 0 7 ,
sondern ein rein konventionelles, das den Anschein der Notwendigkeit nur
darum erweckt, weil „dasselbe Bild Millionen Mal hervorgebracht und
durch viele Menschengeschlechter hindurch vererbt ist" 908 . Indem der
Mensch sein W o r t für das Ding selber nimmt, vergißt er, daß er es war, der
in Gestalt der Metapher das Ding allererst erschaffen hat, es nämlich aus
dem Fluß des Werdens vorstellend hergestellt hat:
Daß eine Einheit, ein Baum ζ. B., uns als Vielheit von Eigenschaften, von
Relationen erscheint, ist in doppelter Weise anthropomorphisch: erstens
existirt diese abgegrenzte Einheit „ B a u m " nicht, es ist willkürlich ein Ding
so herauszuschneiden (nach dem Auge, nach der Form), es ist jede Relation
nicht die wahre absolute Relation, sondern wieder anthropomorphisch
gefärbt. 909
Mag auch dieses Vergessen wiederum lebensnotwendig sein:
Denkt euch das äusserste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu
vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu
sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht
mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert
sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler
Heraklits kaum mehr wagen den Finger zu heben. Zu allem Handeln
gehört Vergessen 910 ,
so führt das Vergessen dieses Vergessens dazu, daß das Leben erkrankt.
Denn in dem Maße, in dem vergessen bleibt, daß der Mensch in seinem
Wesen nicht animal rationale, das tatsächlich gar zum bloßen „cogital"
hinabgesunken ist, sondern animal creans ist — so, wie wir im nächsten
Kapitel zeigen werden, die seiner Lebenshaltung eines Pessimismus der
Stärke entsprechende Neubestimmung des Wesens des Menschen, die
180 Voraussetzungen

Nietzsche seinem Schmerz „dass ich verbannt sei von aller Wahrheit" 9 1 1
immer aufs neue abringen muß —, in dem Maße also, als vergessen bleibt,
daß der ursprüngliche und eigentliche Mensch Künstler und nicht
Erkennender ist, in dem Maße bleibt auch vergessen, daß die ursprüngliche
und eigentliche Sprache die dichterische, daß die Sprache in ihrem Wesen
Dichtung, nämlich ursprüngliche Auseinandersetzung 912 des Menschen mit
dem Leben und damit des Lebens mit sich selbst ist. Weil dies aber vergessen
bleibt, muß Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung bemerken:
wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigen und
einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Nächsten und
Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmal das
Fundament einer Cultur, weil wir selbst davon nicht überzeugt sind, ein
wahrhaftiges Leben in uns zu haben. Zerbröckelt und auseinandergefallen,
im Ganzen in ein Inneres und Aeusseres halb mechanisch zerlegt, mit
Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet, Begriffs-Drachen erzeugend,
dazu an der Krankheit der Worte leidend und ohne Vertrauen zu jeder
eigenen Empfindung, die noch nicht mit Worten abgestempelt ist: als eine
solche unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und
Wort-Fabrik habe ich vielleicht noch das Recht von mir zu sagen cogito
ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito. Das leere „Sein", nicht das volle
und grüne „Leben" ist mir gewährleistet; meine ursprüngliche Empfindung
verbürgt mir nur, dass ich ein denkendes, nicht dass ich ein lebendiges
Wesen, dass ich kein animal, sondern höchstens ein cogital bin. Schenkt
mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur daraus schaffen! 913
Ist es für den Menschen schon bei „normalen" Verhältnissen „schwer [ . . . ] ,
sich wirklich a u s zudrücken", um so freizuwerden 9 1 4 , so ist es jetzt für die
Menschen nahezu unmöglich. Weil die Sprache zu einer reinen
Begriffssprache verkommen ist, darum können sie ihren Empfindungen, als
welche die tiefste uns zugängliche Schicht der Welt und somit die
unmittelbarste Äußerung des Werdens darstellen, keinen Ausdruck mehr
verleihen. Ihr Inneres kann nicht mehr nach außen gelangen und bleibt ihnen
selbst damit unzugänglich, Innen und Außen fallen beziehungslos
auseinander — ein Riß, von dem die gesamte Kultur der Gegenwart
gezeichnet ist, die sich damit — wir erinnern uns an Nietzsches Begriff von
Kultur als einer „neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen,
ohne Verstellung und Convention, [ . . . ] als einer Einhelligkeit zwischen
Leben, Denken, Scheinen und Wollen" — als Unkultur erweist.
In der 4. Unzeitgemässen Betrachtung bedenkt Nietzsche dies in der
persona Richard Wagners 9 1 5 , der in seiner Schrift „ O p e r und D r a m a "
Ahnliches geäußert hatte 916 :
Indem die Sprache fortwährend auf die letzten Sprossen des ihr
Erreichbaren steigen musste, um, möglichst ferne von der starken
Gefühlsregung, der sie ursprünglich in aller Schlichtheit zu entsprechen
vermochte, das dem Gefühl Entgegengesetzte, das Reich des Gedankens
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 181

zu erfassen, ist ihre Kraft durch dieses übermässige Sich-Ausrecken in dem


kurzen Zeiträume der neueren Civilisation erschöpft worden: so dass sie
nun gerade Das nicht mehr zu leisten vermag, wessentwegen sie allein da
ist: um über die einfachsten Lebensnöthe die Leidenden miteinander zu
verständigen. Der Mensch kann sich in seiner N o t h vermöge der Sprache
nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei
diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt f ü r
sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst
und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich
zu verständigen und zu einem Werke zu vereinigen suchen, erfasst sie der
Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in
Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die
Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens,
insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur
der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe: so nimmt die
Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der C o n v e n t i o n
hinzu, dass heisst des Uebereinkommens in Worten und Handlungen ohne
ein Uebereinkommen des Gefühls. [ . . . ] unter diesem Zwange vermag
Niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und Wenige
überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit
einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie
deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme,
sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der „deutlichen
Begriffe" einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgend einen Werth
hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu
machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig
empfindenden zu machen. 917
In dieser S i t u a t i o n h o f f t N i e t z s c h e v o r allem auf „ d i e M u s i k unserer
d e u t s c h e n M e i s t e r " 9 1 8 , d a s m e i n t in e r s t e r Linie die M u s i k R i c h a r d W a g n e r s ,
weil sie „ d i e r i c h t i g e E m p f i n d u n g , die F e i n d i n aller C o n v e n t i o n , aller
künstlichen E n t f r e m d u n g und Unverständlichkeit zwischen Mensch und
M e n s c h " z u m E r k l i n g e n b r i n g e : „ d i e s e M u s i k ist R ü c k k e h r z u r N a t u r "
b e h a u p t e t N i e t z s c h e — u n d z i t i e r t d a m i t in v e r s t e c k t e r W e i s e die „ G e b u r t
der Tragödie":
Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,
feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit
ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. 919
D i e „ r i c h t i g e E m p f i n d u n g " ist m i t h i n die d i o n y s i s c h e E m p f i n d u n g , die
E m p f i n d u n g des, w i e w i r v o r l ä u f i g s a g e n w o l l e n , w i l l e n h a f t e n W e r d e n s als
d e r t i e f s t e n u n s z u g ä n g l i c h e n S c h i c h t d e r W e l t , die als G r u n d aller a n d e r e n
E m p f i n d u n g e n d e n Z u g a n g z u diesen e r ö f f n e t u n d d a m i t das L e b e n aus d e r
b e g r i f f l i c h e n V e r m e s s e n h e i t des S o k r a t i s m u s in die W e i t r ä u m i g k e i t seines
ursprünglichen, potentiell unendlichen Möglichseins befreit, ihm derweise
die v e r l o r e n e D i m e n s i o n seines F o r t - s c h r i t t s z u r ü c k g e w i n n t .
182 Voraussetzungen

Wie soll aber ein Philosoph „ A r z t d e r C u l t u r " 920 sein können, wenn
er seinem Patienten doch nur schreibend zu helfen vermag — das Medium
der Schriftsprache aber schon gegenüber der gesprochenen Sprache und erst
recht im Verhältnis zur Musik nicht anders denn als minderwertig
bezeichnet werden kann? Daß dem so ist, das macht noch einmal die
folgende Aufzeichnung Nietzsches vom Winter 1869/70—Frühjahr 1870
deutlich, die ihn allerdings erst auf dem Wege zu seiner Metaphernkonzep-
tion zeigt — am Ende des Fragments vollzieht er den ersten Schritt in ihre
Richtung:
D i e Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist.
D i e Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium des
Gedankens entsteht die Mitempfindung. D i e s setzt ihr eine Grenze.
D i e s gilt nur v o n der objektiven Schriftsprache, die Wortsprache ist
tönend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi's, die Stärke und
B e t o n u n g sind alle symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt. D i e s
ist zugleich alles der Musik z u eigen. D i e größte Masse des Gefühls aber
äußert sich nicht durch Worte. U n d auch das W o r t deutet eben nur hin: es
ist die Oberfläche der b e w e g t e n See, während sie in der T i e f e stürmt.
[...]
D i e D i c h t u n g ist häufig auf einem W e g e zur Musik: entweder indem
sie die allerzartesten Begriffe aufsucht, in deren Bereich das Grobmateriel-
921
le des B e g r i f f s fast entschwindet
Abgesehen von dem Was, dem Inhalt dieses Schreibens, den wir ζ. T. schon
dargestellt haben — wie, in welcher Weise muß der Philosoph vom Leben
schreiben, um es gesunden zu lassen, damit es sich nunmehr auf das
kräftigste vollziehen kann? Wie kann man als Philosoph den oben
beschriebenen begrifflichen Feststellungen entgehen, sofern man ihnen
entgehen will — denn auch besagte Feststellungen können dem Leben
dienlich sein, und dies noch in anderer als der zuletzt besprochenen Art.
Nietzsches erste Antwort lautet nämlich: Indem man des durch
begriffliche Destruktion der herrschenden metaphysischen Begriffe, d. h.
durch genealogische Besinnung wieder erinnerten dichterischen Wesens des
Denkens und Sprechens eingedenk bleibt und dem für den alltäglichen
Lebensvollzug nötigen Trieb zur Begriffsbildung den anderen „Fundamen-
taltrieb des Menschen" 922 , jenen schöpferischen „Trieb zur Metapherbil-
dung" 9 2 3 widerstreiten läßt, mit der der sprechende Mensch „der mächtigen
gegenwärtigen Intuition", d. h. der unmittelbaren sinnlichen Empfindung,
„schöpferisch zu entsprechen" 9 2 4 sucht. Denn: „Die Metapher ist", so
belehrt uns Nietzsche in der „Geburt der Tragödie",
für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein
stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes,
vorschwebt. 9 2 5
Kultur-Leben als Widerstreit von Wissenschafts- und Kunst-Sprache 183

Für Nietzsche aber ist der eigentliche Dichter der eigentliche Philosoph,
insofern der eigentliche „ P o e t " jener ist, dessen π ο ί η σ ι ς die Wahrheit
schafft, ein neues Weltbild und damit Weltverständnis setzt 9 2 6 : Dichten und
Denken, Kunst und Philosophie werden bei Nietzsche eines, weil, wie
erinnerlich, in seinen an Kants Lehre von der transzendentalen
Einbildungskraft geschulten Augen der Erkenntnisapparat als Vorstellungs-
apparat ein Kunstapparat ist. D a r u m irren alle jene, die Nietzsches
gedichtete, von Metaphern — indes nicht immer solchen ursprünglicher Art
— überquellende Philosophie auf den Begriff zu bringen suchen: D a s
Denken vollzieht sich ihr zufolge — und das ist eine Selbstauslegung —
ursprünglich in Bildern (wobei es gleichgültig ist, ob in solchen vorlautlicher
oder lautlich gefaßter Art). D a r u m betrachtet Nietzsche den „ Z a r a t h u s t r a "
auch nicht als überholungsbedürftig durch eine theoretische Darstellung, 9 2 7
wie er darum auch etwa am Anfang der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " ausdrücklich
darauf hinweist, daß seine Ausführungen „nicht nur zur logischen Einsicht,
sondern zur unmittelbaren Sicherheit der A n s c h a u u n g " gelangen wollen. 9 2 8
In diesen Werken nutzt seine Philosophie den dichterischen
„ S p i e l r a u m " , den sie sich in ihren begrifflichen Texten dadurch eröffnet hat,
daß sie die in die Sphäre des Metaphysischen gerückten Fest-stellungen
unserer Tradition destruiert. S o bemerkt Nietzsche in „ U e b e r Wahrheit und
L ü g e im aussermoralischen S i n n e " :
Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen,
den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den
Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen
verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue
Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen
und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und
ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.
Forwährend verwirrt er die Rubriken und Zellen der Begriffe dadurch dass
er neue Uebertragungen, Metaphern, Metonymien hinstellt, fortwährend
zeigt er die Begierde, die vorhandene Welt des wachen Menschen so bunt
unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu
gestalten, wie es die Welt des T r a u m e s ist. An sich ist ja der wache Mensch
nur durch das starre und regelmässige Begriffsgespinnst darüber im
Klaren, dass er wache, und kommt eben deshalb mitunter in den Glauben,
er träume, wenn jenes Begriffsgespinnst einmal durch die Kunst zerrissen
wird. 9 2 9

Wir werden zu zeigen haben, daß die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " in genau


diesem Sinne der tragische Mythos oder das tragische Kunstwerk ist, von
dem sie spricht, ein Kunstwerk, das im Wettstreit mit den Wagnerschen
Schöpfungen die tragische Gesinnung wiederbeleben will, das bejahende
Innestehen in der Unergründlichkeit und Ungegründetheit der Welt. Ein
Kunstwerk, das die ihm vorausliegenden begrifflichen Texte mithin darin
184 Voraussetzungen

überbietet, daß es ihre theoretischen Leistungen auf die Ebene der


„Begriffsdichtung" hebt, nämlich für das Zu-Denkende und — denken und
danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs —
denkend Zu-Bewahrende, nämlich die Rätselhaftigkeit der Welt, originäre
Metaphern findet, so daß es anders als die theoretischen Texte die
Illusionshaftigkeit der menschlichen Erkenntnis nicht nur ausspricht,
sondern zugleich ergreift und sie so bejaht: Die „Geburt der Tragödie" ist
die Illusion, von der sie spricht, die lebenserhaltende Illusion, die sagt,
warum sie nur Illusion sein kann und warum sie Illusion sein muß. „Incipit
tragoedia ultimi philosophi" könnte darum ihr Motto lauten...
Doch auch die begrifflich argumentierenden Texte Nietzsches, in denen
er darlegt, daß die menschliche Erkenntnis dichterischen Wesens ist, sind
bisweilen schon auf dem Weg, dieses Wissen auch „formal" zum Ausdruck
zu bringen: bisweilen weisen auch sie dichterische Elemente auf. So eröffnet
Nietzsche seine Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge" mit folgender
Fabel, die ihre zentrale These illustrieren soll, daß es für den menschlichen
„Intellekt keine weitere Mission [gibt], die über das Menschenleben
hinausführte":
In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen
flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem
kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und
verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute.
Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die
klugen Thiere mussten sterben. —930
Wie im Falle der auf S. 46 interpretierten Ausführungen über das
Heraklitische — besser: das heraklitisierende — π ά ν τ α ^εϊ, die Nietzsche
im Rahmen seines Kollegs über die Vorplatoniker gemacht hat, handelt es
sich hier um eine „Spekulation". Gleich der früheren hat auch sie die
Relativität des menschlichen Erkenntnisvermögens zum Inhalt. Diese
Relativität ist aber beider eigene Voraussetzung: Vornehmste Aufgabe
solcher Spekulationen sei es, so sagten wir schon damals, durch den Aufweis
der Möglichkeit, bei der Weltauslegung von anderen als den traditionellen
Voraussetzungen ausgehen zu können, Nietzsches eigene Grundvorausset-
zung zu bewähren, daß die Welt, wie sie uns erscheint, nichts anderes ist als
unsere eigene Voraussetzung, daß der Mensch selber mithin Schöpfer der
ihm erscheinenden Welt ist. Wenn derweise die beiden hier verglichenen
Ausführungen „inhaltlich" gesehen darin übereinstimmen, daß sie ihre
eigene Voraussetzung „theoretisch" ergreifen, so unterscheiden sie sich
doch in „formaler" Hinsicht in der Art, wie sie an sich selbst das dichtende
Wesen der menschlichen Vernunft zum Ausdruck bringen: die Eingangspas-
sage von „Ueber Wahrheit und Lüge" erscheint dichterischer als der Exkurs
des Heraklit-Abschnittes. Doch bleibt sie in dieser Beziehung hinter der
Nietzsches Kunst-Philosophie 185

„ G e b u r t der T r a g ö d i e " oder dem „ Z a r a t h u s t r a " zurück, die beide mit dem
„theoretischen" W o r t von der „Begriffsdichtung" auch „praktisch" ernst
machen und dem Verstellungstrieb als der H a u p t k r a f t des menschlichen
Intellekts „ein Spielen mit dem Ernste" 9 3 1 gestatten — und dies im Dienste
des Lebens und seiner Kultur, die mit ihren festen Konventionen die
Menschen bisher dazu anhielt, unbewußt „schaarenweise in einem f ü r alle
verbindlichen Stile zu lügen" 9 3 2 : Zumindest f ü r den letzten Philosophen, der
sich vorderhand noch nicht öffentlich als solcher zu bekennen wagt, sind
diese Konventionen jetzt weniger fest und das Lügen geschieht bewußt:
Wahrheitsphatos in einer Lügenwelt.
Lügenwelt wieder in den höchsten Spitzen der Philosophie.
Zweck dieser höchsten Lügen Bändigung des unumschränkten
Erkenntnißtriebes.933
Die zweite Antwort, die Nietzsche zu der Frage nach der Art des Schreibens
findet, mit der man dem Leben zur Gesundung verhelfen kann, besteht
darin, daß er schließlich — angefangen mit dem ersten Aphorismusbuch —
in seinen Schriften die Unmittelbarkeit des Sprechklanges zu erhalten sucht.
Geboren aus dem Geiste der Musik, sind sie, wie Karl Pestalozzi bemerkt
hat, „in ihrem Druckbild [ . . . ] eine Art Partitur, die auf akustische
Realisierung angewiesen ist. Die logische wird so von einer melodisch-em-
phatischen Argumentation begleitet." 934 In äußerster Anstrengung sucht
Nietzsche in den W o r t l a u t seiner Schriften das Tiefste seiner Philosophie
einzusenken, die Empfindung oder, wie er später sagt: den Affekt, d. h. den
Willen zur Macht, um ihn so möglichst unmittelbar übertragen und den
Leser übermächtigen zu können. 9 3 5 Weil aber die W o r t e im Hinblick auf die
Affektübertragung doch die „mangelhaftesten Zeichen" 9 3 6 genannt werden
müssen, d a r u m wünscht er schließlich im O k t o b e r 1887 in einem Brief an
den Dirigenten Felix Mottl, daß der von ihm komponierte „ H y m n u s an das
Leben"
ergänzend eintreten möge, wo das W o r t des Philosophen nach der Art
des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der A f f e k t meiner
Philosophie drückt sich in diesem Hymnus aus.937

14. „Schaffen steht höher als Erkennen": Nietzsches Kunst-Philosophie

Metaphysik als Kunst und Kunst als Metaphysik sollen jenes „regulative
[ . . . ] Gesammtbild" 9 3 8 der Welt entwerfen, in dem sich das Dasein seine
Lebensmöglichkeiten aufschließt und vorhält, indem es andere verschließt:
mit der Perspektive des Bildes wird dem menschlichen Streben Maß und
Richtung gewiesen innerhalb des endlichen Möglichkeitsraumes, der durch
seinen H o r i z o n t umgrenzt wird. Dieses wertsetzende Bild leistet somit, was
186 Voraussetzungen

einst der Mythos, „das zusammengezogene Weltbild" 939 , „als Abbreviatur


der Erscheinung" 940 geleistet hat: es schließt „eine ganze Culturbewegung
zur Einheit ab" 941 . Es macht so Kultur im strengen Sinne überhaupt erst
möglich, ist diese doch „Einheit des künstlerischen Stiles in allen
Lebensäußerungen eines Volkes" 942 .
Ohne Mythos, in den umzuschlagen die "Wissenschaft Nietzsche zufolge
zu allen Zeiten ja geneigt sein soll, „geht jede Cultur ihrer gesunden
schöpferischen Naturkraft verlustig." 943 Denn:
W o r a u f weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten
m o d e r n e n Cultur, das U m s i c h s a m m e l n zahlloser anderer Culturen [mit der
K o n s e q u e n z der Stillosigkeit], das verzehrende Erkennenwollen, wenn
nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen H e i m a t ,
des mythischen Mutterschoosses? 9 4 4
Historisch abstrakt 945 , durch fortwährend hastiger und wahlloser werdende
Ent-fernung und Ent-fremdung immer weiterer Zeiträume und immer
fernerer Kulturen ohne Rücksicht auf seine „plastische Kraft", sein
Vermögen zur Aneignung, sucht der Mensch der Moderne seine „Kultur"
zu gründen, weil ihm das einst Nächste zum Fernsten geworden ist, die Sage
vom Woher und Wohin, vom Was der Welt, worin sich ihm ursprünglich das
zusprach, was ihm begegnete — auch er selbst —, so daß sie es war, die ihn
in der Welt verwurzelte. Denn sie war die Sage eines Ortes, der die
Menschen zu sich versammelte, in dessen Nähe ihnen heimisch, fernab von
ihm aber unheimisch, befremdlich zumute war;
dies Gefühl der Befremdung immer m e h r zu verlieren, über nichts m e h r
übermässig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen lassen — das nennt
man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung. 9 4 6
In ihr fällt alles in einer indifferenten Nähe zusammen:
D e r junge Mensch ist so heimatlos g e w o r d e n und zweifelt an allen Sitten
und Begriffen. J e t z t weiss er es: in allen Zeiten w a r es anders, es k o m m t
nicht darauf an, wie du bist. 947
A n d e r s d i e G r i e c h e n . S i e w a r e n bis z u m A u f k o m m e n d e s S o k r a t i s m u s , d e r
rein wissenschaftlichen Weltverhaltung,
unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen,
ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: w o d u r c h auch die nächste
G e g e n w a r t ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos
erscheinen musste. 9 4 8
Von ihnen — die, so meinen wir, in bestimmter Hinsicht selber ein Mythos
sind — ist Nietzsche zufolge zu lernen, daß sich des Daseins Möglichkeit, im
historischen Augenblick der Gegenwart entschlossen „da" zu sein, neben
der Kraft und dem Willen zu vergessen allein einem mit überhistorischen, im
Falle der Griechen heißt das: einem mit mythischen Bildern umstellten
Horizont verdankt 949 : das Hauptthema der 2. Unzeitgemässen Betrachtung,
die mit der monumentalischen Historie und ihrem Willen zur
Nietzsches Kunst-Philosophie 187

Wieder-holung von Geschichte 950 eine Geschichtsschreibung entwirft,


welche sich dem Mythos annähert und derweise wie die Philosophie „das
W i s s e n in eine künstlerische Weltconception h i n e i n z i e h t und dadurch
veredelt" 9 5 1 :
Die Geschichte soll Exemplifikationen der philosophischen Wahrheiten
geben, aber nicht Allegorien, sondern Mythen.,
zeichnet Nietzsche im Winter 1870/71—Herbst 1872 auf 952 . N u r wenn die
Geschichtsschreibung von historischen Ereignissen künstlerische Bilder mit
metaphysischen Vorstellungsinhalten zu entwerfen weiß, vermag sie danach
den Blick des Menschen von Werden und Vergehen überhistorisch
abzulenken, „hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und
Gleichbedeutenden giebt" 953 , um so das Grundproblem der Gegenwart, die
zunehmende Zersplitterung der Zeit, zu lösen. Denn wie die Hast unseres
wissenschaftlichen Zeitalters mit seiner Tendenz zum Riesigen, zum riesig
Großen und zum riesig Kleinen, 954 Nietzsche zufolge lehrt, schenkt allein
der metaphysische Glaube an ein „monumentum aere perennius" dem
Menschen ein über seine eigene kurze Lebenszeit hinaus ausgespanntes
Zeitgefühl: ruhig arbeitet er dann sein Leben lang an dauerhaften, für
Jahrhunderte angelegte Institutionen, ohne daß er selbst eine Frucht von
jenem Baume, den er pflanzt, zu pflücken wünschen muß:
Der ruhige Blick in die Zukunft erst möglich, wenn wir uns nicht mehr so
ephemer fühlen, so wie eine Welle.955,
gibt es Sinn für den Menschen doch nur dort, wo es aus dem Werden
herausgehobenes Sein gibt:
Dieses ewige Werden ist ein lügnerisches Puppenspiel, über welchem der
Mensch sich selbst vergisst, die eigentliche Zerstreuung, die das Individuum
nach allen Winden auseinanderstreut, das endlose Spiel der Albernheit,
welches das grosse Kind Zeit vor uns und mit uns spielt. Jener Heroismus
der Wahrhaftigkeit besteht darin, eines Tages aufzuhören, sein Spielzeug
zu sein. Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer
Verachtung würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er
nur aus dem Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im
Unvergänglichen ,956,
schreibt Nietzsche in „Schopenhauer als Erzieher". Und in der
2. Unzeitgemässen Betrachtung heißt es in dem gleichen, nämlich nur in
vordergründiger Sichtweise entgegengesetzten Sinne:
Wenn dagegen die Lehren vom souverainen Werden, von der Flüssigkeit
aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen
Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier — Lehren, die ich für wahr,
aber f ü r tödtlich halte — in der jetzt üblichen Belehrungs-Wuth noch ein
Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert werden, so soll es
Niemanden W u n d e r nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und
Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht zu Grunde geht, zuerst
nämlich auseinanderfällt und aufhört Volk zu sein 957 .
188 Voraussetzungen

„Lehren, die ich für wahr, aber für tödtlich halte": Im Vorwort einer
Vorstufe der „Geburt der Tragödie" 9 5 8 bezeichnet Nietzsche es als sein
„Glaubensbekenntniß", „daß jede tiefere Erkenntniß schrecklich ist"; d. h.
daß jene Lehren rein erkenntnismäßig gesehen für wahr gehalten werden
müssen, im Hinblick auf den Lebensvollzug jedoch unwahr, weil
unfruchtbar sein können. In bezug auf die oben angeführten Lehren klaffen
in diesem Sinne „wissenschaftliche" und lebensmäßige Wahrheit auseinan-
der — zumindest, was die Masse der Menschen angeht. Es muß dabei
gesehen werden, daß Nietzsche unter „Tödlichkeit" erst in zweiter Linie
eine leibliche Bedrohung und dann auch nicht einzelner, sondern des
leibenden Lebens überhaupt versteht: Die leibliche Bedrohung ist nämlich
eine Folge der geistigen Lähmung, die aus diesen Lehren erwachsen kann —
und bei der Masse der Menschen nach Nietzsches Diagnose auch eintritt,
dabei aber das Leben als solches betrifft. Denn die Masse der „letzten
Menschen" weiß ihr Leben nur noch in der Verfolgung ihrer egoistischen
Triebe zu fristen:

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber
man ehrt die Gesundheit.

sagt Zarathustra über sie.959 Indem die Masse so nichts Größeres mehr als
sich selbst weiß, wird sie ihrer einzigen Lebensaufgabe untreu, als einiges
Volk 960 den „Mutterschooß[.. .]" 961 für die Kulturschaffenden, für die
Genies, abzugeben. Damit ist aber nicht nur der Fort-schritt der Kultur,
sondern auch der Vollzug des immer weiter und höher hinaus wollenden
Lebens überhaupt bedroht. Sich verzettelnd in der Verfolgung kleinlicher
Ziele, sieht es sich nämlich um die Möglichkeit der Aufsteigerung gebracht,
es stagniert und degeneriert. In dieser Weise erweisen sich jene — vom
Leben selbst hervorgebrachten — Lehren für die Massenmenschen und das
in ihnen leibende Leben als tödlich, unbeschadet des leiblichen —
vorderhand vielleicht nicht einmal so schlechten — Fortlebens der letzten
Menschen. Aber ein allein den leiblichen Genüssen frönendes Leben ist für
den immer noch der Geistmetaphysik verpflichteten Nietzsche nicht mehr
als ein Vegetieren, als welchem der T o d vorzuziehen wäre: Den geistigen
T o d betrachtet er als furchtbarer denn den leiblichen, weil das leibliche
Leben letztlich nur durch das geistige Leben zu rechtfertigen sei — „denn
nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig
g e r e c h t f e r t i g t " , heißt es in der „Geburt der Tragödie" 9 6 2 . Das leibliche
Leben hat sich somit in den Dienst des geistigen Lebens zu stellen, das mit
jenem wohl untrennbar verbunden ist — denn der Geist ist leiblich —, dabei
aber dessen Spitze darstellt.
Nietzsches Kunst-Philosophie 189

Darum erweisen sich jene Lehren in Nietzsches Augen für denjenigen


nicht als tödlich, welcher, sein leibliches Leben nicht achtend „in allen
Dingen bis auf diesen hoffnungslosen Grund sehen [will]" 963 , und sich darob
zu ent-setzen vermag, nämlich die dabei freiwerdende Kraft der
Verzweiflung umzuprägen und in ein währendes Werk zu setzen weiß, sei
dies ein Menschenwerk — die neue Form, die der sich Ent-setzende für sich
oder, durch eine politische Tat, für andere erringt —, sei dies ein
Kunstwerk:
Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der
höchste W i l l e z u r M a c h t . 9 6 4 ,
wird Nietzsche später in bezug auf die erste der oben angesprochenen
Lehren ausführen, welche die anderen beiden in sich birgt. Im Falle eines
solchen Menschen erwiese sich die Fruchtbarkeit, und das meint: die
lebensmäßige Wahrheit jener wissenschaftlichen Wahrheiten selbst dann,
wenn er, wie dies etwa Heinrich von Kleist mit der Kantischen Lehre
gegangen ist965, an ihnen zugrundegehen sollte, denn sie hätten ihn
schöpferisch gemacht: N u r im Schaffen aber kann sich das Leben über sich
selbst hinaussteigern. Wenn somit allein die Schöpferischen dem Leben
einen starken Stimulus geben können, dann heißt das nicht nur, daß die
Kunst über die Wissenschaft dominiert, sondern auch, daß allein die Kunst
mit ihrer größeren Lebensfruchtbarkeit die wissenschaftlichen Erkenntnisse
rechtfertigen kann:
Nicht im E r k e n n e n , im S c h a f f e n liegt unser Heil! 966 ,
zeichnet Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873 auf, und im Sommer
1875 gibt er zu bedenken:
S c h a f f e n s t e h t h ö h e r als E r k e n n e n . 9 6 7
Und das erkennende Leben steht höher als das allein um seine Leibhaftigkeit
besorgte Leben: Ebendann ist einer der Ausgangspunkte für die spätere
Verwerfung des Schopenhauerschen „Willens zum Leben" zu sehen, über
den Nietzsche in der hier behandelten Hinsicht implizit schon hinausgeht:
sein Wille will nicht das Leben, sondern das Mehr-Leben, die Steigerung —
und sei es auch um den Preis des Lebens 968 . In diesem Sinne hinterlassen
nämlich alle Großen für ihn die
e i n e Lehre [ . . . ] , daß der das Dasein am schönsten lebt, der es nicht
achtet.969
Und zwar nicht achtet um eines großen schöpferischen Zieles willen: denn
mag er sich in der Verfolgung desselben schließlich auch aufreiben, so wisse
er, Nietzsche, doch
keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmöglichen, animae
magnae prodigus, zu Grunde zu gehen. 970
190 Voraussetzungen

Solange Nietzsche jene Revision seines Willens-Begriffes aber noch nicht


vollzogen hat, solange bleiben Fälle wie der Kleistische für ihn zuhöchst
fragwürdig. Insofern er nämlich von ihm zugrunde gerichtet wird, legt
Kleist deutlicher noch als andere große Lebensläufe von einem Kampf
zweier, nach verschiedenen Richtungen drängender Triebe ab:
der welcher das Erkennen will, muss den B o d e n , auf dem der Mensch lebt,
immer wieder verlassen und sich ins U n g e w i s s e w a g e n , und der Trieb, der
das Leben will, muss immer wieder sich z u einer ungefähr sicheren Stelle
hintasten, auf der sich stehen lässt 971 .

Zwei Triebe, welche doch das beide beugende und nach Maßgabe ihrer
jeweiligen Kräfte an Stärke zunehmende Joch gleichwohl niemals
auseinanderreißen dürften, wenn denn dieses wirklich nichts anderes als
Wille zum Leben und derweise der den Illusionstrieb bestreitende
Erkenntnistrieb als ein Beförderungsmittel dieses Vollzuges letztlich
ebenfalls nur lebenserhaltend sein kann.
An dieses Joch klammert sich Nietzsche aber um so fester, 972 je stärker
ihn die Erkenntnis angreift, daß das Denken, nicht nur das wissenschaftli-
che, sondern auch das philosophische — weil ja „ d o r t w i e h i e r [ . . . ]
g l e i c h g e d a c h t " wird 973 — im Klartext: daß auch sein Denken
„überhaupt nicht fruchtbar" 9 7 4 , weil weltvernichtend 975 , d. h. nihilistisch ist,
soweit es eben wie die Wissenschaft illusionszerstörend wirkt.
Kein Text spricht von diesem Anklammern beredter als der schon
häufiger angesprochene (siehe vor allem Seite 128) Schluß der ersten von
„Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern" mit dem Titel „Das
Pathos der Wahrheit". Nachdem Nietzsche dort ausgeführt hat, daß die
Wahrheit des Menschen darin besteht, „ewig zur Unwahrheit verdammt zu
sein", und daß diese Wahrheit ihn „ z u r Verzweiflung und Vernichtung
treiben" müßte, „wenn er eben nur ein erkennendes Thier wäre", fährt er
fort:
D e m Menschen g e z i e m t aber allein der Glaube an die erreichbare
Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht
eigentlich d u r c h ein fortwährendes Getäuschtwerden? V e r s c h w e i g t ihm
die N a t u r nicht das Allermeiste, ja gerade das Allernächste ζ. B. seinen
eignen Leib, v o n d e m er nur ein gauklerisches „ B e w u ß t s e i n " hat? In dieses
Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die N a t u r warf den Schlüssel w e g . Ο
der verhängnißvollen N e u b e g i e r des Philosophen, der durch eine Spalte
einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus und hinab zu sehen verlangt:
vielleicht ahnt er dann, wie auf d e m Gierigen, dem Unersättlichen, dem
Ekelhaften, d e m Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in
der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens und gleichsam auf dem R ü c k e n
eines Tigers in T r ä u m e n hängend.
Nietzsches Kunst-Philosophie 191

„Laßt ihn hängen", ruft die K u n s t . „Weckt ihn auf" ruft der
Philosoph, im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er
den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen
Schlummer — vielleicht träumt er dann von den „Ideen" oder von der
Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denn s i e will
das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur — die Vernichtung.—976
Mehr als eine Ahnung vom Entsetzlichen des Lebens, von der Wahrheit wird
dem Philosophen nicht zuteil, dann versinkt auch er in lebenserhaltenden
Illusionen, schlägt die Erkenntnis in Kunst um, weil diese mächtiger, d. h.
fruchtbarer und wertvoller f ü r das Leben ist als jene: Das Leben schützt sich
selber und taucht sich in den schönen Schein der Kunst (vgl. dazu bereits
unsere Ausführungen auf S. 8). Die dem Menschen zugängliche
„Wahrheit" ist nicht mehr als bestenfalls ahnungsvoller Wahr-Schein, eine
untrennbare Gemengelage von „ein wenig" Aufschein und „ungeheuer viel
m e h r " Anschein der Wahrheit. So reicht der Aufschein der Wahrheit
allenfalls dazu, die Erkenntnis zu eröffnen, ewig zur Unwahrheit verdammt
zu sein. Und doch ist bereits diese Erkenntnis, als welche unsere
Grunderkenntnis darstellt, wie der Fall Kleist lehrt, so furchtbar, daß das
Leben sie künstlerisch umschleiern und so fruchtbar machen muß, wenn es
an ihr nicht zugrundegehen will: „Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum
Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion" 977 , sagt laut
Nietzsche die „Hamletlehre" aus.
Daß das Leben diese Umschleierung von sich aus leistet, ist die
wesentliche Behauptung des angeführten Textes. Doch — so müssen wir aus
unserer Kenntnis der Struktur Nietzschescher Aussagen fragen — kann
diese Deutung nicht auf sich selbst bezogen werden, so daß sie selbst der
T r a u m wäre, von dem sie spricht? Eine Illusion, welche den nihilistischen
Charakter der Erkenntnis abzuschwächen sucht, um Nietzsche das
Fortschreiten auf seinem Illusionen zerstörenden Lebensweg zu ermögli-
chen? 978 Und in dieser Selbstfürsprache Einholung der eigenen Vorausset-
zung, daß das Leben, als der Grundwert, der es ist, in allem Seienden sich
selbst will? Ist dieser Gedanke nicht vergleichbar jenem, wie in unseren
Tagen immer deutlicher wird: Aberglauben an die Güte eines Gottes, der
seine eigene Schöpfung niemals in die Vernichtung treiben kann? Dieser
Gedanke wäre somit eine Glaubensvoraussetzung, zu der sich Nietzsche
angesichts der lähmenden nihilistischen oder, wie er jetzt noch sagt,
tragischen Entdeckung Kants und Schopenhauers ent-setzt, indem er sie auf
sich selbst bezöge: Auch sie muß danach lebenserhaltende Illusion sein
können, wenn sie wahrer als andere, nämlich fruchtbarer sein will. Denn
dem „Menschen geziemt [ . . . ] allein der Glaube an die erreichbare
Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion" und nicht die
Verzweiflung über „die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein"
192 Voraussetzungen

— zumindest soweit er mehr als „nur erkennendes Thier" 9 7 9 ist. Ebendiese


Abwendung von der traditionellen Bestimmung des Wesens des Menschen
als animal rationale aber macht Nietzsches Versuch aus, jene furchtbare
Wahrheit, daß seine Wahrheiten bestenfalls Wahrscheinlichkeiten sein
können, in die fruchtbare Wahrheit umzuwerten, daß sich in besagtem
Wahr-Schein das dichterische Vermögen eines animal creans ausspricht,
dessen Erkenntnisapparat genuine Seinsmächtigkeit zuzusprechen ist.
Indes erscheint es Nietzsche selber als fraglich, ob auch die anderen
Menschen, auf die er seine H o f f n u n g e n für die Neubegründung der Kultur
setzt, in dieser Weise die lähmende Wirkung jener Wahrheit zu überwinden
vermögen. Ob nicht in ihrem Falle der Traum vom Selbstschutz des Lebens
bloßer Traum bleibt? Erweisen sich nicht für sie „die Lehren vom
souverainen Werden, von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten,
von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und
T h i e r " als, wenn man so sagen dürfte, tödlicher denn die Lehre Kants für
Kleist — weil den geistigen T o d bringend? Infolge ihrer Unfähigkeit zur
geistigen Erschütterung mit dem daraus erwachsenden Zwang zur
gestaltenden Uberwindung — nach Nietzsches Ansicht macht ja nur der
Schmerz, das Leid produktiv 980 — legen sich nämlich diese Lehren auf sie als
Mehltau „eines zernagenden und zerbröckelnden Relativismus" 981 . Jene
Menschen, das sind wir, diejenigen, welche Nietzsche als „letzte Menschen"
bezeichnet, weil sie alle Kraft zur Selbstüberwindung verloren haben und in
einem passiven Nihilismus vegetieren, den der über sie hinausgehende
Mensch, der Übermensch, hinwegfegen wird. Als Menschen des
Marktplatzes leben sie im Ereignis des Todes Gottes, ohne daß sie um es
wissen — obwohl sie selbst es herbeigeführt haben.
Doch während der „tolle Mensch" Nietzsche 982 , der die Ver-rückung
durch Gottes Tod 9 8 3 übernehmende Nietzsche, seine Aufgabe darin sieht,
den Nihilismus durch die Offenbarung dieses Ereignisses allererst in seine
Krisis und dadurch in die Möglichkeit seiner Überwindung hineinzuführen,
meint der „höhere Mensch" 984 Nietzsche noch, den Nihilismus aufhalten zu
müssen, nicht etwa nur durch Verschweigen von Gottes T o d , sondern gar
durch Reden an die Menschen, daß ein „ G o t t " sei: daß nämlich der Genius
metaphysische Bedeutung für ein Ur-Eines habe, seine Hervorbringung
somit metaphysische Pflicht aller sei. N u r so glaubt er der zunehmenden
Atomisierung des gegenwärtigen Lebens — der Aufsplitterung der
Lebensinteressen in Gruppen- und Einzelegoismen, womit eine Zersplitte-
rung des Zeitempfindens einhergeht, weil jeder nur noch von seiner eigenen
kurzen Lebensspanne her denkt, sowie der Zerfällung der Welt in
unzusammenhängende Gegenstandsbereiche — vielleicht entgegentreten
und dem Leben die für seinen Vollzug unabdingbaren „Einheiten" sichern
Nietzsches Kunst-Philosophie 193

zu können. N u r durch die Ersetzung von „Egoismus" durch „Genius" in


jenem Dekret unserer Zeit: „der Egoismus soll unser Gott sein" 985 glaubt er
jenes in existentieller Hinsicht für ihn dringlichste Anliegen verwirklichen zu
können, um dessentwillen er nach eigenem Bekunden die Unzeitgemässen
Betrachtungen geschrieben hat:
Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Cultur
werden und bestehen kann. Ebenso die S c h l i c h t h e i t . 9 8 6
Er will sie nach dem Vorbild der Griechen 987 Besinnung auf die echten und
wesentlichen Lebensbedürfnisse lehren. Und dies vor allem mit Hilfe der
Kunst. So schreibt er in „Richard Wagner in Bayreuth."
Der Einzelne soll zu etwas Ueberpersönlichem geweiht werden — das will
die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der T o d und
die Zeit dem Individuum macht, verlernen: denn schon im kleinsten
Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas
Heiliges begegnen, das allen Kampf und alle N o t h überschwänglich
aufwiegt — das heisst t r a g i s c h g e s i n n t s e i n . U n d wenn die ganze
Menschheit einmal sterben muss — wer dürfte daran zweifeln! — so ist ihr
als höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so in's
Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, dass sie als e i n G a n z e s
ihrem bevorstehenden Untergange mit einer t r a g i s c h e n G e s i n n u n g
entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der
Menschen eingeschlossen; aus dem endgültigen Abweisen derselben ergäbe
sich das trübste Bild, welches sich ein Menschenfreund vor die Seele stellen
könnte. So empfinde ich es! Es giebt nur Eine H o f f n u n g und Eine Gewähr
für die Zukunft des Menschlichen: sie liegt darin, d a s s d i e t r a g i s c h e
G e s i n n u n g nicht absterbe.988
Denn die tragische Gesinnung, welche die Tragödie lehrt, hält das
Entsetzliche und Sinnlose des Daseins nicht nur aus, sondern bejaht es auch
— im Hinblick auf die schönen, scheinbar sinnerfüllten Augenblicke, die das
Leben schenkt: Augenblicke höchster Illusion, zu denen nicht zuletzt auch
die Tragödie selber rechnet:
Die Tragödie ist schön, insofern der Trieb, der das Schreckliche im Leben
schafft, hier als Kunsttrieb, mit seinem Lächeln, als spielendes Kind
erscheint.' 89 ,
skizziert Nietzsche Ende 1870—April 1871 einen zentralen Gedanken
seiner „Geburt der Tragödie", in der er die Erkenntnis, daß alle Erkenntnis
Illusion ist, glaubt verheimlichen und statt dessen Illusionen als Erkenntnisse
meint ausgeben zu müssen.
„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt" — diese Maxime seines Handelns
bleibt hier verborgen — wie dies in noch höherem Maße auch für die
anderen Veröffentlichungen seiner Frühzeit gilt, die nach Nietzsches
eigener Aussage zum Teil zumindest — so im Falle der ersten drei
Unzeitgemässen Betrachtungen — gedanklich „hinter die Entstehungs- und
Erlebnisszeit" 990 der „Geburt der Tragödie" zurückgehen.
194 Voraussetzungen

Denn er vermeint bauen zu müssen, wo noch nicht genügend zerstört


worden ist — und stellt sich damit in Gegensatz zu der folgenden Reflexion
über die Aufgabe eines Philosophen:
Zu allen positivis einer Kultur, einer Religion ist er auflösend,
z e r s t ö r e n d (selbst wenn er zu b e g r ü n d e n sucht).
Er ist am nützlichsten, wenn es v i e l z u z e r s t ö r e n g i e b t , in Zeiten des
Chaotischen oder der Entartung. 991
D a ß das gegenwärtige Zeitalter aber eine solche Epoche des Zerfalls ist und
somit zunächst das destruktive Tun des Philosophen an der Zeit wäre, das
bedenkt Nietzsche im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 in einer
kosmologisch verkleideten Reflexion, nämlich bezugnehmend auf das Bild
des zerrissenen Dionysos:
D e r absterbende Wille (der s t e r b e n d e G o t t ) zerbröckelt in die
Individualitäten. Sein Bestreben ist immer die verlorene Einheit, sein τέλος
immer weiteres Zerfallen. Jede errungene Einheit sein Triumph,
vornehmlich die Kunst, die Religion.
In jeder Erscheinung höchster Trieb sich zu bejahen, bis sie endlich
dem τέλος verfällt. 992
Diese Zersetzung sucht Nietzsche aufzuhalten, um so die Ankunft des
,,unheimlichste[n] aller Gäste" 993 , die Ankunft des Nihilismus, von der er
doch zumindest schon ahnt, daß sie als eine Voraussetzung unserer
Geschichte unabwendbar ist994, verhindern zu können. Seine eschatologisch
gestimmte Erkenntnis, am Ende einer langen Tradition zu stehen, meint er
verschweigen zu müssen — aus Verantwortungsbewußtsein, weiß er doch
noch nicht, wohin er gehen soll. (Den Gelehrten, die dem Volk ihr
„historisches Scheidewasser [ . . . ] als Lebens- und Labetrank" anbieten,
wirft er dagegen vor:
ihr handelt als praktische Pessimisten, ich meine als Menschen, welche
die Ahnung eines Unterganges leitet und die dadurch gegen das fremde,
ja gegen das eigene Wohl gleichgültig und lässlich werden. W e n n u n s
nur die Scholle noch trägt! U n d wenn sie uns nicht mehr trägt, dann
soll es auch recht sein — so empfinden sie und leben eine i r o n i s c h e
Existenz. 995 )
Er wagt noch nicht, jener kritische Historiker seiner 2. Unzeitgemässen
Betrachtung zu sein, der im Willen, dem Leben eine bessere Zukunft zu
bereiten, die Vergangenheit, deren Resultat die Gegenwart ist, „vor Gericht
zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt", ist dies doch Nietzsche
zufolge immer, und d. h. erst recht in schwankenden Zeiten
ein gefährlicher, nämlich für das Leben selbst gefährlicher Prozess: und
Menschen oder Zeiten, die auf diese Weise dem Leben dienen, dass sie eine
Vergangenheit richten und vernichten, sind immer gefährliche und
gefährdete Menschen und Zeiten [ . . . ] , weil es so schwer ist eine Grenze im
Verneinen des Vergangenen zu finden 996 ,
Nietzsches Kunst-Philosophie 195

erkennt Nietzsche seine eigene Gefährdung, die um so größer ist, als er, erst
langsam von der historischen Krankheit genesend, 997 das historische
Schwert noch nicht mit Sicherheit zu führen versteht und die Zukunft, die er
ist, nur dunkel erahnt. Nach fehlt der Plan für einen dichterischen Bau, dem
er mit dem wissenschaftlichen Seziermesser Platz bereiten könnte. Erst dann
aber vermöchten zunächst weltvernichtende „Wahrheiten" letztlich doch
weltbegründend und damit fruchtbar für das Leben zu sein — wie dies in
seinen Augen schließlich für seine Lehren des Willens zur Macht, der ewigen
Wiederkunft und des Übermenschen gilt. Mit diesen Gedanken meint er das
leibliche Zugrundegehen der Mehrzahl der letzten Menschen um der
geistigen Gesundung willen befördern zu dürfen.
Vorderhand aber muß er verschweigen, daß er sich als jenen Typus des
letzten Philosophen sieht, über den er in sein Notizbuch im Sommer
1872—Anfang 1873 aufzeichnet: „Er hat nur zum L e b e n zu helfen. [ . . . ]
Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben
beherrschenden Kunst." 998 Er hat „noch nicht den Muth (oder die
Unbescheidenheit?)" 999 , wie er in seinem Versuch einer Selbstkritik der
„Geburt der Tragödie" es nennt, als dieser letzte Philosoph, der an gar
nichts mehr glaubt1000, auf das Forum zu treten. Wagner und den anderen
höheren oder niederen Menschen seiner Umgebung mutet er seine „tiefste"
Erkenntnis vom Fehlen jeglichen Sinnes, die doch unbewußt die Menschen
schon längst beherrscht, noch nicht zu (einzig Cosima Wagner deutet er sie
in der ihr zugedachten Vorrede „Ueber das Pathos der Wahrheit" an).
Denn, wie er am Ende der „Geburt der Tragödie" ausführt, darf von dem
„Fundamente aller Existenz [ . . . ] genau nur soviel dem menschlichen
Individuum in's Bewusstsein treten", als von seinen plastischen Kräften, von
dem Willen zum Schaffen des Scheins „wieder überwunden werden
kann" 1001 . Zwar beweist die „Geburt der Tragödie" „die Nothwendigkeit
der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst", aber sie
macht es zu einem Geheimnis, einem offenbaren indes, daß diese ihre
Aussagen auf sich selbst hin gelesen werden sollen, daß sie selbst Illusion
sind, daß die „Geburt der Tragödie" mithin selbst bereits das Kunstwerk ist,
von dem sie spricht, daß sie eine Philosophie der Kunst in der Form eines
philosophischen Kunstwerkes entwirft.
„Wir erlauben die Begriffsdichtung nicht mehr. Nur im Kunstwerk." 1002 ,
zeichnet Nietzsche kurze Zeit nach dem Erscheinen der „Geburt der
Tragödie" auf. So will sie nicht nur mit philosophischen, sondern vor allem
mit künstlerischen Wertmaßstäben beurteilt werden:
D i e Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias
Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth — d. h. sie wird als K u n s t
beurtheilt. 1003
196 Voraussetzungen

Als K u n s t w e r k ist sie aber, wie wir wissen, der Vergänglichkeit


wissenschaftlicher Erkenntnis e n t h o b e n :
Daßein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als
meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem
aesthetischen W e r t h e eines solchen Philosophirens, d.h. durch
Schönheit und Erhabenheit. Es ist als K u n s t w e r k noch vorhanden,
wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen kann. 1004 ,
d e n n ein K u n s t w e r k ist unwiderlegbar. D e r Kreis schließt sich: solches hat
Nietzsche bereits 6 J a h r e f r ü h e r in einem Brief an Carl von Gersdorff
mitgeteilt, den wir schon eingangs unserer Arbeit zitiert haben (S. 3 f.):
Die Kunst ist frei, auch auf dem Gebiet der Begriffe. Wer will einen Satz
von Beethoven widerlegen, und wer will Raphaels Madonna eines Irrthums
zeihen?,
f r a g t Nietzsche dort. W i r haben aber schon damals auf die G e f a h r
hingewiesen, die der Philosophie d r o h t , w e n n sie sich eindeutig auf den
Boden der Kunst stellt, die G e f a h r nämlich, daß sie sich auf diese Weise in
ein „Faulbett des D e n k e n s " legt und so den Fort-schritt des sich vorstellend
herstellenden Lebens verhindert. U m dem entgegenwirken zu k ö n n e n , m u ß
sie sich auf den Boden der Wissenschaft stellen. Sie hat mithin in sich den
K a m p f , den Widerstreit von Kunst und Erkenntnis auszutragen, der ja
insofern in sich einig ist, als „ d o r t w i e h i e r [ . . . ] g l e i c h g e d a c h t
[ w i r d ] " . Die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " sucht dieser A u f g a b e nun in der
Weise zu genügen, daß sie als K u n s t - W e r k befriedigen soll, was sie als
D e n k - W e r k zu wecken h a t : „die tragische Bedürftigkeit" 1 0 0 5 , welche nach
Nietzsches H o f f n u n g aus dem Aufweis des , , U n g e n ü g e n d e [ n ] der
Wissenschaft" 1 0 0 6 hervorgehen wird. N u r so meint er die S c h a f f u n g einer
K u l t u r — „ d e n n wir haben keine" 1 0 0 7 — einleiten zu k ö n n e n , die nach seiner
E r f a h r u n g niemals von einer reine Begriffsarbeit leistenden D e n k - P h i l o s o -
phie ausgehen k a n n :
Es ist nicht möglich, eine Volkskultur auf Philosophie zu gründen. Also
kann die Philosophie im Verhältniß zu einer Kultur nie fundamentale und
immer nur eine Nebenbedeutung haben.1008,
schreibt Nietzsche im W i n t e r 1872/73. D e n G r u n d d a f ü r nennt er einige
Zeit später:
N i e hat ein Philosoph in seinen positivis das Volk hinter sich drein
gezogen. Denn er lebt im Kultus des Intellekts.1009
D a r a u s folgt f ü r Nietzsche:
Die Kultur kann immer nur von der centralisirenden Bedeutung einer
Kunst oder eines Kunstwerks ausgehen. Unwillkürlich wird die
Philosophie dessen Weltbetrachtung vorarbeiten. 1010
Gelesen im Hinblick auf die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " heißt das, d a ß sie als
D e n k - W e r k demjenigen vorzuarbeiten sucht, was sie als K u n s t - W e r k ist. Sie
bereitet somit nicht etwa die G e b u r t der Kultur durch ein anderes
Nietzsches Kunst-Philosophie 197

Kunstwerk nur vor, sondern hofft selbst diese Geburt zu sein. Sie stellt sich
nicht etwa nur in den Dienst des Wagnerschen Kunstwerkes der Zukunft,
sondern tritt auch in einen Wettstreit 1011 mit ihm ein. (Einmal träumt
Nietzsche gar von einem Diktat:
Der Philosoph soll e r k e n n e n , w a s n o t h t h u t , und der Künstler soll
es s c h a f f e n . 1 0 1 2 )
Wie Wagner will Nietzsche „eine gesetzgeberische Natur" 1 0 1 3 sein, ein
„ V e r e i n f a c h e r d e r W e l t " 1 0 1 4 , „ein Zusammenbildner und Beseeler
des Zusammengebrachten" 1 0 1 5 . Was nicht nur bedeutet, daß sie — wie alle
Philosophen und Künstler — als „ H e m m s c h u h i m R a d e d e r
Z e i t " 1 0 1 6 ,,[i]nmitten der ameisenhaften Wimmelei das Problem des
Daseins, überhaupt die ewigen Probleme zu betonen" 1 0 1 7 haben, derweise
als „Unzeitgemässe" „alle die verzeitlichenden Elemente mit Bewußtsein
[ . . . ] bekämpfen" 1 0 1 8 müssen, sondern auch, daß sie mit ihren Schöpfungen
zum ,,ästhetische[n] Begriff des Großen und Erhabenen" 1 0 1 9 als
,,künstlerische[r] Bändigung des Entsetzlichen" 1020 und zur Schönheit als
„Verbergen der Noth" 1 0 2 1 , zu erziehen suchen, d. h. zu einer Bändigung des
Erkenntnistriebes. Denn das Schöne ist oberflächlich; wie eine Analyse
unseres Erkenntnisapparates zeigt, verbirgt er die immer häßliche Wahrheit
vor uns — daß wir nämlich „auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem
Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen [ruhen]" 1022 —, um
uns so im Leben festzuhalten:
Die menschliche S i n n e n e r k e n n t n i ß ist sicherlich auf S c h ö n h e i t
aus, sie verklärt die Welt. Was haschen wir nach einer anderen? Was wollen
wir über unsere Sinne hinaus? Die rastlose Erkenntniß geht in's Oede und
Häßliche. — Z u f r i e d e n s e i n mit der künstlerisch angeschauten
Welt! 1023
Weswegen behauptet werden kann, daß die
S c h ö n h e i t [ . . . ] bei dem wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht
hervor[tritt]. 1024
Was deshalb von Bedeutung ist, weil das Schöne aufgrund seiner
Illusionskraft, seinem hohen Grad an Lüge und Täuschung, das stärkste
Stimulans des Willens zum Leben darstellt 1025 :
das S c h ö n e ist ein Lächeln der Natur, ein Uberschuß von Kraft und
Lustgefühl des Daseins: man denke an die Pflanze. Es ist der
Jungfrauenleib der Sphinx. Der Zweck des Schönen ist das zum Dasein
Verführen. 1 0 2 6
Es wird mithin deutlich, daß Nietzsche schon jetzt in Gegensatz zur
Kantischen Fassung des ästhetischen Problems gerät, wie sie ihm von
Schopenhauer überliefert worden ist. Ansatzpunkt ist Kants Bestimmung
des Schönen, die er in den §§ 2—5 der „Kritik der Urteilskraft" entwickelt.
Danach ist „schön" dasjenige, was „rein" gefällt, was einen Gegenstand
198 Voraussetzungen

„bloßen" Wohlgefallens darstellt, was „ohne alles Interesse" betrachtet


wird. In Kants Zusammenfassung (Kr. d.U., § 5, A 16, Β 16):
G e s c h m a c k ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder
einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, o h n e
a l l e s I n t e r e s s e . Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt
schön.
Was nichts anderes besagt, als daß der Gegenstand nur als reiner, nämlich
von allem mit ihm möglichen Absehen freier Gegenstand seine höchste
W ü r d e besitzt und daß darum diese seine Schönheit nur nach höchster
Anstrengung des Menschen, nach Ausschaltung allen gewöhnlichen
Interesses zum Vorschein kommt.
Schopenhauers Philosophie mißdeutet nun diese Bestimmung, ästheti-
sches Verhalten sei „Wohlgefallen ohne alles Interesse", als Gleichgültig-
keit, als Befreiung von der taumelnden Unrast des Willens zum Leben. 1027 In
der reinen Anschauung der Natur oder derjenigen der aus dieser
Anschauung hervorgehenden Kunst — sie befestigt das in der reinen
Anschauung der Natur Angeschaute — werde die Welt als bloßes Objekt des
Vorstellens erfahren. Wenn im ästhetischen Zustand der Musik — Gipfel
der Betrachtung — der Wille selbst angeschaut werde, so in demjenigen der
anderen, der bildenden und dichtenden Künste die in der Welt der
Erscheinung verwirklichten platonischen Ideen, als welche die adäquate
Objektität des Willens ausmachen sollen. 1028 In diesem Akt reiner
Anschauung wird Schopenhauer zufolge somit das angeschaute Objekt von
den Formen des Satzes vom Grunde und ineins damit als Subjekt sowohl von
der Individualität als auch von der Dienstbarkeit des Willens freigesetzt,
„indem es im angeschauten Gegenstand ganz aufgeht, dieser Gegenstand
selbst" 1029 wird. Mag dies zunächst auch nur eine vorübergehende
Freisetzung sein, so wird doch durch sie eine anhaltende dadurch
vorbereitet, daß der Mensch sich in ihr
unmittelbar inne [wird], daß er als solches die Bedingung, also der Träger
der Welt und alles objektiven Daseins ist, da dieses nunmehr als von dem
seinigen abhängig sich darstellt. Er zieht also die Natur in sich hinein, so
daß er sie nur noch als ein Akzidenz seines Wesens empfindet.1030
Mag auch die Behauptung einer Unmittelbarkeit solchen Erkennens nicht
einleuchten — nachdem es im angeschauten Gegenstand aufgegangen ist,
muß sich das Subjekt wohl allererst selbst wieder „fassen", zu sich in einer
höheren denn der gewöhnlichen Weise zurückkehren, ehe es denn die
beschriebene Erkenntnis zu fassen vermag 1031 — so haben wir doch
festzuhalten, daß in Schopenhauers Augen die reine Kontemplation der
N a t u r und des schönen Scheins der Kunst den Schein der Welt als Schein
und das Subjekt als dessen Bedingung entdeckt und daß in dieser
zeitweiligen Erlösung vom Streben des Willens das Subjekt den Weg zu
Nietzsches Kunst-Philosophie 199

einer endgültigen Befreiung gewiesen sieht, die in Askese und Q u i e s z i e r u n g


des Willens und schließlich auch im Mitleid statthaben kann.
Nietzsche kritisiert n u n an diesen, wie S c h o p e n h a u e r vermeint, Kants
Ansichten wiedergebenden Bestimmungen der Kunst, daß beide Philoso-
phen
gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des
Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom
„Zuschauer" aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht
hätten. U n d diese Kritik findet sich nicht erst in der „ G e n e a l o g i e der
M o r a l " , der dieses Zitat e n t n o m m e n ist 1032 , sondern bereits im ästhetischen
Ansatz der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " 1 0 3 3 u n d , n o c h deutlicher, in den
A u s f ü h r u n g e n einer ihrer V o r s t u f e n , mit dem Titel „ D i e dionysische
Weltanschauung".
Nietzsche zeigt hier, d a ß allein im Ausgang vom künstlerischen
S c h ö p f u n g s a k t sowohl die Wirk-lichkeit des Kunstwerkes als auch das
W e s e n des „ R e z i p i e n t e n " zureichend e r f a ß t w e r d e n k a n n :
während der Bildner uns durch den behauenen Marmor zu dem von ihm
traumhaft geschauten l e b e n d i g e n Gotte führt, so daß die eigentlich als
τέλος vorschwebende Gestalt sowohl dem Bildner als dem Zuschauer
deutlich wird und der Erstere den Letzteren durch die M i t t e l g e s t a l t
der Statue zum Nachschauen veranlaßt: so sieht der epische Dichter die
gleiche lebendige Gestalt und will sie auch Anderen zum Anschauen
vorführen. Aber er stellt keine Statue mehr zwischen sich und den
Menschen: er erzählt vielmehr, wie jene Gestalt ihr Leben beweist, in
Bewegung, Ton, Wort, Handlung, er zwingt uns eine Menge Wirkungen
zur Ursache zurückzuführen, er nöthigt uns zu einer künstlerischen
Komposition. Er hat sein Ziel erreicht, wenn wir die Gestalt oder die
Gruppe oder das Bild deutlich vor uns sehen, wenn er uns jenen
traumhaften Zustand mittheilt, in dem er selbst zuerst jene Vorstellungen
erzeugte. Die Aufforderung des Epos zum p l a s t i s c h e n Schaffen
beweist, wie absolut verschieden die Lyrik vom Epos ist, da jene niemals das
Formen von Bildern als Ziel hat.1034
G e h t es Nietzsche zufolge in der Lyrik doch d a r u m , mit Hilfe der
W o r t k l ä n g e einer musikalischen Gestimmtheit A u s d r u c k zu verleihen, d e m
dionysischen Rauschzustand, wie er in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " sagt, 1035
w ä h r e n d in den plastischen Künsten der apollinische T r a u m z u s t a n d
A u s g a n g u n d Ziel der Kunstbetätigung darstellt.
Das Gemeinsame zwischen beiden [Epos und Lyrik] ist nur etwas
Stoffliches, das Wort, noch allgemeiner der Begriff: wenn wir von Poesie
reden, so haben wir damit keine Kategorie, die mit der bildenden Kunst
und der Musik coordinirt wäre, sondern eine Conglutination von zwei in
sich total verschiedenen Kunstmitteln, von denen das Eine einen Weg zur
bildenden Kunst, das Andere einen Weg zur Musik bedeutet: beide aber
sind nur W e g e zum Kunstschaffen, nicht Künste selbst. In diesem Sinne
sind natürlich auch Malerei und Skulptur nur Kunstmittel: die eigentliche
200 Voraussetzungen

K u n s t ist das E r s c h a f f e n k ö n n e n von Bildern, gleichgültig ob dies d a s


V o r - s c h a f f e n o d e r N a c h - s c h a f f e n ist. 1 0 3 6
D a s K u n s t w e r k wird im Rezeptionsakt mithin in der Weise wirk-lich, daß es
den „ W i l l e n " des Rezipienten z u m N a c h s c h a f f e n des V o r g e s c h a f f e n e n ,
z u m N a c h s c h a f f e n des dem Künstler bei seinem S c h a f f e n vorschwebenden
τ έ λ ο ς stimuliert. Diese Wirk-lichkeit macht sein Wesen aus (so daß
„ W e s e n " hier im verbalen Sinne verstanden werden kann). D e n n die
Kunstwerke sind f ü r Nietzsche nur Kunstmittel, um den Rezipienten in den
schöpferischen Zustand, als welcher eigentlich die K u n s t ist, versetzen zu
können. Sie sind nichts als Zeichen, die diesen Zustand übermitteln. S o daß
sie keine Wirklichkeit nachahmen, sondern eine Wirklichkeit bewirken: den
schöpferischen Z u s t a n d :
A u f dieser E i g e n s c h a f t — einer allgemein menschlichen — beruht die
Kulturbedeutung der Kunst. Der Künstler — als der durch
Kunstmittel z u r K u n s t nöthigende — kann nicht zugleich das a u f s a u g e n d e
O r g a n der K u n s t b e t h ä t i g u n g sein. 1 0 3 7
D e n schöpferischen Zustand versteht Nietzsche aber als Zustand höchster
Gegenwärtigkeit des Lebens, als Rausch- oder T r a u m z u s t a n d . Wir meinen,
daß auch ohne einen V o r g r i f f auf die im nächsten Kapitel anstehende
A u s l e g u n g dieser B e g r i f f e klar sein dürfte, w a r u m Nietzsche die „ K u n s t als
das Jubelfest des Willens" 1 0 3 8 und keineswegs als Zustand bloßer
Kontemplation und d. h. „Willenslosigkeit" auffaßt — w o v o n , was
Nietzsche j e d o c h nicht weiß, auch K a n t nichts weiß. Es ist dies eine
V e r k e h r u n g der Schopenhauerischen Kunstauslegung, welche mit N o t w e n -
digkeit aus Nietzsches grundsätzlicher V e r k e h r u n g der Schopenhauerischen
Verkehrtheit eines Pessimismus der Schwäche in einen solchen der Stärke
f o l g t : Wenn in allem, was ist, sich der Wille z u m Leben will, dann ist es, so
schließt Nietzsche, gemäß dieser V o r a u s s e t z u n g „ u n l o g i s c h " , daß eine
Befreiung von solchem Wollen möglich sein soll 1 0 3 9 — aber wenn sie schon
möglich sein soll, dann gewiß nicht in jenem Akt, in dem sich der Mensch
schöpferisch, d. h. in höchstem Maße lebensbejahend betätigt.
N u r gelegentlich finden sich in Nietzsches N o t i z h e f t e n auch
Auslegungen der K u n s t v o m Schopenhauerischen Ansatz her — als bald
wieder verworfene Gedankenexperimente. Die nachfolgende A u f z e i c h n u n g
v o m S o m m e r — H e r b s t 1873 ist aber deshalb von großer Bedeutung, weil sie
erneut deutlich macht, daß in Nietzsches Philosophie, soweit sie
D e n k - W e r k zu sein beansprucht, der moralische Anspruch der von ihm
b e k ä m p f t e n Metaphysik fortwirkt. Meint das zunächst auch seinen Begriff
von „ M e t a p h y s i k " , so muß doch, wie der spätere Versuch einer
Er-läuterung der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " zeigen wird, ebenso nach unserem
Verständnis von Metaphysik das Verdienst einer U b e r w i n d u n g derselben
jenen Bereichen der Nietzscheschen Philosophie zugesprochen werden, in
Nietzsches Kunst-Philosophie 201

denen sie der Erfahrung des Künstlers nachdenkt und die Welt nicht mehr
als begründbaren Schein betrachtet:
Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich!
Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder —
diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht
entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten.
Oberflächen Formen.
Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken:
aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf!
Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab — aber wir werden nicht
getäuscht?
W o h e r die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der
immer als Schein erkannt wird?
Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade
n i c h t täuschen, i s t w a h r .
Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich,
der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und
insofern unsern Willen gar nicht anregt.
N u r der, der die ganze Welt a l s S c h e i n betrachten könnte, wäre im
Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen — Künstler und Philosoph.
Hier hört der Trieb auf.
So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der
Herrschaft des Triebes: der aber will L u s t und nicht Wahrheit, er will den
Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.
D i e W e l t als S c h e i n — Heiliger Künstler Philosoph.1040
Ausgehend vom — wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt —
„Kunsttrieb" des Tagträumens, dessen Bildprodukte — im Hinblick auf das
gesellschaftlich sanktionierte „starre und regelmässige Begriffsge-
spinnst" 1041 — als scheinhaft erkannt werden, glaubt Nietzsche in dieser
Aufzeichnung der Kunst nur insofern Wahrheit zusprechen zu können, als
sie den Schein als Schein behandelt, als sie sagt: „ich lüge". Und nur, wenn
sie solches sagt, vermöchte sie danach den Intellekt von der Herrschaft des
Willens zu erlösen, wie es das Ziel des Heiligen oder des christlich-metaphy-
sischen Philosophen ist. Doch begreift sich denn, wie Nietzsche hier
behauptet, die Kunst tatsächlich als lügnerisch? Erfährt sie selber sich nicht
gerade — man denke an die von Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge"
geschilderten Griechen, die ihre Götter tatsächlich gesehen haben sollen 1042
— als zuhöchst wirklich? Wurde nicht gerade deswegen in der ersten
grundsätzlichen Besinnung auf die Kunst, die das Abendland kennt, im
10. Buch von Piatons „Politeia" (595 ff.), vorgeschlagen, sie aus der πόλις,
dem Wesensbereich der menschlichen Gemeinschaft, auszuschließen? Mit
der Begründung nämlich, daß ihr selbstgenügsamer Schein so sehr zu sich
selbst verführt, daß sie den Blick des Menschen für den Unterschied von
Wahrheit und Schein verschließt und damit die παιδεία, die bildende
202 Voraussetzungen

W e s e n s p r ä g u n g , v e r h i n d e r t ? U n d b e r u h t d e n n nicht ihre F ä h i g k e i t , das


L e b e n z u s t i m u l i e r e n , g e r a d e d a r a u f , d a ß sie e b e n nicht s a g t : „ i c h l ü g e " ?
Liegt denn nicht gerade in der Behauptung ihrer Wirklichkeit ihre
e i g e n t l i c h e W i r k - l i c h k e i t , ihre F r u c h t b a r k e i t u n d d a m i t , g e m ä ß N i e t z s c h e s
U m d r e h u n g des Piatonismus ( „ j e weiter ab v o m w a h r h a f t Seienden, u m so
r e i n e r s c h ö n e r b e s s e r ist es. D a s L e b e n im S c h e i n als Z i e l " ) , ihre e i g e n t l i c h e
Wahrheit?
N i e t z s c h e w e i ß d a s u n d er b e j a h t es — i n d e s n i c h t u n e i n g e s c h r ä n k t .
Auch der Schluß seiner Abhandlung „Ueber Wahrheit und Lüge im
a u s s e r m o r a l i s c h e n S i n n e " k ü n d e t v o n d e n z w e i S e e l e n in s e i n e r B r u s t , d e r
e r k e n n e n d e n , d i e sich d e r m o r a l i s c h - m e t a p h y s i s c h e n T r a d i t i o n v e r p f l i c h t e t
w e i ß , u n d d e r k ü n s t l e r i s c h e n 1 0 4 3 — d e r „ i n t u i t i v e n " , w i e N i e t z s c h e hier
sagt — , welche jenen beiden, erkennender Seele und moralisch-metaphysi-
scher Tradition, widerstreitet:
Es giebt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive
Mensch neben einander stehen, der eine in Angst vor der Intuition, der
andere mit H o h n über die Abstraction; der letztere eben so unvernünftig,
als der erstere unkünstlerisch ist. Beide begehren über das Leben zu
herrschen: dieser, indem er durch V o r s o r g e , Klugheit, Regelmässigkeit
den hauptsächlichsten Nöthen zu begegnen weiss, jener indem er als ein
„überfroher H e l d " jene N ö t h e nicht sieht und nur das zum Schein und zur
Schönheit verstellte Leben als real nimmt. W o einmal der intuitive Mensch,
etwa wie im älteren Griechenland seine W a f f e n gewaltiger und siegreicher
führt, als sein Widerspiel, kann sich günstigen Falls eine Kultur gestalten,
und die Herrschaft der Kunst über das Leben sich gründen; jene
Verstellung, jenes Verläugnen der Bedürftigkeit, jener G l a n z der
metaphorischen Anschauungen und überhaupt jene Unmittelbarkeit der
T ä u s c h u n g begleitet alle Aeusserungen eines solchen Lebens. Weder das
H a u s , noch der Schritt, noch die Kleidung, noch der thönerne K r u g
verrathen, dass die N o t h d u r f t sie erfand; es scheint so als ob in ihnen allen
ein erhabenes G l ü c k und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam
ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden sollte. 1044

K u l t u r als v e r b e s s e r t e P h y s i s läßt sich allein a u f d i e K u n s t d e s K ü n s t l e r s


g r ü n d e n — d o c h nicht allein d a r u m e r s c h e i n t er N i e t z s c h e als d e r h ö h e r e
T y p u s g e g e n ü b e r d e m W i s s e n s c h a f t l e r : E r ist a u c h d e r l e b e n s k r ä f t i g e r e v o n
beiden.
Während der von Begriffen und Abstractionen geleitete Mensch durch
diese das U n g l ü c k nur abwehrt, ohne selbst aus den Abstraktionen sich
Glück zu erzwingen, während er nach möglichster Freiheit von Schmerzen
trachtet, erntet der intuitive Mensch, inmitten einer Kultur stehend, bereits
von seinen Intuitionen, ausser der Abwehr des Uebels eine fortwährend
einströmende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung. Freilich leidet er
heftiger, w e n n er leidet; ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung
nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er
Nietzsches Kunst-Philosophie 203

einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er


schreit laut und hat keinen Trost.
Denn er will nicht sehen, daß der Welt-Schein seiner Kunst nichts als eine
Schein-Welt ist. Anders der Wissenschaftler und Logiker,
der stoische, an der Erfahrung belehrte, durch Begriffe sich beherrschende
Mensch [ . . . ] Er, der sonst nur Aufrichtigkeit, Wahrheit, Freiheit von
Täuschungen und Schutz vor berückenden Ueberfällen sucht, legt jetzt, im
Unglück, das Meisterstück der Verstellung ab, wie jener im Glück; er trägt
kein zuckendes und bewegliches Menschengesicht, sondern gleichsam eine
Maske mit würdigem Gleichmaasse der Züge, er schreit nicht und
verändert nicht einmal seine Stimme.1045
Der erkennende Mensch ist der eigentlich moralische Mensch — und dies
nicht allein deswegen, weil er sich auf das von Demokrit aufgebrachte, von
den Epikuräern, den Skeptikern und der späteren Stoa gleichermaßen
gepflegte Ideal der ά τ α ρ α ξ ί α verpflichtet hat, sondern vor allem aus dem
Grund, daß er die gesellschaftlichen Konventionen und Tugenden zu
wahren bestrebt ist, zu denen nicht zuletzt, so wissen wir, „eine moralische
auf Wahrheit sich beziehende Regung" 1 0 4 6 zählt. Mag sein daraus
erwachsendes Streben nach Wahrheit auch nicht so weit gehen, daß er den
Begriff der Wahrheit selber und mit ihm das ganze gesellschaftliche
Begriffssystem als Lüge durchschaut, so reicht es doch aus, um jenes gute
Gewissen für sich beanspruchen zu können, das den Künstlern Nietzsche
zufolge abgeht:
sie können über den Charakter des Daseins nur auf kurze Zeit sich und
andre täuschen — diese Täuschung ist ja das Wesen der Kunst —, aber
dafür rächt sich an ihnen auch fortwährend das böse Gewissen und Wissen
aller Künstler, wie sie den Dingen eine Larve mit reineren, freieren Zügen
aufsetzen wollen, die immer wieder herabfallen muss. 1047
Indes — woher soll dieses schlechte Gewissen der Künstler rühren, wenn sie,
wie Nietzsche doch selber ausführt, den Schein der von ihnen geschaffenen
Kunstwerke für wahr halten, nämlich als Wahr-Schein ansehen und
ausgeben? Mehr noch, so fragen wir weiter, widerspricht Nietzsche hier
nicht seinem eigenen kunstphilosophischen Ansatz, der das Leben im Schein
als Ziel erklärt und das von der metaphysischen Tradition oktroyierte
schlechte Kunst-Gewissen zu überwinden sucht? In der Tat: Nietzsche fällt
hier auf die Position der moralisch-metaphysischen Weltverhaltung zurück.
So ist das schlechte Gewissen, von dem er oben spricht, nicht dasjenige der
Künstler, sondern sein eigenes, das ihn, der er Künstler und Erkennender
zugleich ist, immer dann überkommt, wenn er dem amoralischen
Künstlerwillen zum Aufgehen im Schein nachgibt und das moralische
Streben nach Unterscheidung von Wahrheit und Schein hinter sich läßt; wie
dies vor allem gegen Ende der frühen Epoche der Artisten-Metaphysik der
Fall gewesen ist: die oben zitierte Passage stammt aus einer im Frühjahr oder
204 Voraussetzungen

S o m m e r 1875, k u r z n a c h d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g v o n „ S c h o p e n h a u e r als
E r z i e h e r " , e n t s t a n d e n e n A u f z e i c h n u n g , in d e r N i e t z s c h e , wie w i r s p ä t e r
z e i g e n w e r d e n , die G ü l t i g k e i t v o n z e n t r a l e n G e d a n k e n d e r „ G e b u r t d e r
T r a g ö d i e " e i n s c h r ä n k t (wobei sich diese E i n s c h r ä n k u n g e n v o n e i n e m
g e n a u e n Leser aber s c h o n in d e r „ G e b u r t d e r T r a g ö d i e " selber f i n d e n
lassen). N i e t z s c h e s G r u n d e i n s i c h t , d a ß sich P h i l o s o p h i e u n d L e b e n n u r im
einigen W i d e r s t r e i t v o n K u n s t u n d E r k e n n t n i s vollziehen, ist mithin a u c h als
Selbstauslegung zu v e r s t e h e n .
W e n n es a u c h richtig ist, d a ß es — w a s so ebenfalls schon in N i e t z s c h e s
p h i l o s o p h i s c h e r Erstlingsschrift z u f i n d e n ist — K u n s t n u r gibt, weil „alles
D a s e i n ein unästhetisches böses u n d ernstes P h ä n o m e n ist" 1 0 4 8 — w o r a n d e r
K ü n s t l e r so tief leidet, d a ß er als G e g e n f a r b e das S c h ö n e zu s c h a f f e n
g e n ö t i g t ist — , so f o l g t d a r a u s d o c h keineswegs — was N i e t z s c h e im
W i d e r s p r u c h zu a n d e r e n A u s f ü h r u n g e n ebenfalls i m m e r w i e d e r b e h a u p t e t
— , d a ß er d e s w e g e n a u c h schon den Schein d e r K u n s t als Schein w e i ß :
Dieses W i s s e n k o m m t u n t e r den K ü n s t l e r n allein d e m j e n i g e n z u , d e r
zugleich a u c h E r k e n n e n d e r ist, beispielsweise d e m K u n s t - u n d K ü n s t l e r -
P h i l o s o p h e n Friedrich N i e t z s c h e . Allein ein w i s s e n d e r P o e t wie er k a n n das
verzweifelnde und zugleich triumphierende W o r t ausrufen: „ N u r N a r r !
N u r Dichter
T r i u m p h i e r e n d ist dieses W o r t nicht z u l e t z t d e s w e g e n , weil die K u n s t ,
wie N i e t z s c h e s c h o n im W i n t e r 1 8 6 9 / 7 0 — F r ü h j a h r 1870 schreibt 1 0 5 0 , als
„ d i e stärkste V e r f ü h r e r i n z u m L e b e n " a n g e s e h e n w e r d e n m u ß — i h r e r
S c h ö n h e i t w e g e n , als w e l c h e die F o r m ist,
in der ein Ding unter einer Wahnvorstellung erscheint ζ. B. die Geliebte
etc.1051
D a r a u s f o l g t aber, d a ß die K u n s t die F o r m ist,
in der die Welt unter der Wahnvorstellung ihrer Nothwendigkeit
erscheint. 1052
E b e n d e s w e g e n erscheint sie N i e t z s c h e in h ö c h s t e m M a ß e als v e r d ä c h t i g ,
o b w o h l er andererseits a u c h weiß, d a ß das Leben e b e n s o s e h r wie v o n d e m
Willen zur Erkenntnis vom W u n s c h nach Unbewußtheit und Vergessen
g e t r i e b e n w i r d — p o l a r g e s p a n n t , m a n k a n n a u c h s a g e n : in sich zerissen, wie
es seiner Ansicht n a c h ist, liegen f ü r das Leben in allen D i n g e n u n d
H a n d l u n g e n g l e i c h e r m a ß e n N u t z e n wie N a c h t e i l beschlossen.
Die Wahnvorstellungen: wer sie durchschaut, hat nur die Kunst zum Trost.
Das Durchdringen ist jetzt für die Freigeister Nothwendigkeit: wie sich
dazu die Menge verhält, ist nicht zu errathen. Genug, daß w i r die Kunst
brauchen: wir wollen sie durch alle Mittel, nöthigenfalls im Kampfe. 1053
N i e t z s c h e b r a u c h t die K u n s t , g e n a u e r : die tragische K u n s t , z u d e r er j e t z t
n o c h v o r allem die W a g n e r s c h e n W e r k e z ä h l t , z u m einen als „ H e i l m i t t e l d e r
E r k e n n t n i ß " 1 0 5 4 , z u m a n d e r e n aber als Hilfsmittel f ü r eine kulturelle
Nietzsches Kunst-Philosophie 205

Erneuerung. In dem Maße aber, als er erkennt, daß er die Parole seiner
Philosophie des umgedrehten Piatonismus: „ D a s Leben im Schein als Ziel"
zu früh, nämlich vor dem Zerstören der überkommenen Strukturen, zu
verwirklichen gesucht hat, in dem Maße also, als er sich entschließt,
nunmehr kompromißlos g e g e n sich und andere die Frage zu stellen,
wie weit die Dinge eine unabänderliche Artung und Gestaltung haben: um
dann, wenn diese Frage beantwortet ist, mit der rücksichtslosesten
Tapferkeit auf die V e r b e s s e r u n g der als veränderlich
e r k a n n t e n S e i t e d e r W e l t loszugehen. 1055 ,
in dem Maße mahnt er schließlich nicht nur „Richard W a g n e r in Bayreuth":
die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepausen
vorher und inmitten desselben 1056 .
Denn:
Die Kämpfe, welche sie zeigt, sind Vereinfachungen der wirklichen
Kämpfe des Lebens; ihre Probleme sind Abkürzungen der unendlich
verwickelten Rechnung des menschlichen Handelns und Wollens. Aber
gerade darin liegt die Grösse und Unentbehrlichkeit der Kunst, dass sie den
S c h e i n einer einfacheren Welt, einer kürzeren Lösung der Lebens-Räth-
sel erregt. Niemand, der am Leben leidet, kann diesen Schein entbehren,
wie Niemand des Schlafes entbehren kann. Je schwieriger die Erkenntniss
von den Gesetzen des Lebens wird, um so inbrünstiger begehren wir nach
dem Scheine jener Vereinfachung, wenn auch nur für Augenblicke, um so
grösser wird die Spannung zwischen der allgemeinen Erkenntniss der
Dinge und dem geistig-sittlichen Vermögen des Einzelnen. D a m i t d e r
B o g e n n i c h t b r e c h e , ist die Kunst da.1057
Auf deutsch: zur Entspannung . . . —
Mit der Prägnanz späterer Zeiten — die nachfolgende A u f z e i c h n u n g
stammt aus dem Frühjahr 1884 — nicht nur dieses Kapitel, sondern unsere
gesamten bisherigen Ausführungen zusammengefaßt, die man umgekehrt
auch ihre Auslegung nennen könnte:
Diese perspektivische Welt, diese Welt für das Auge, Getast und Ohr ist
sehr falsch, verglichen schon für einen sehr viel feineren Sinnen-Apparat.
Aber ihre Verständlichkeit Übersichtlichkeit, ihre Praktikabilität, ihre
Schönheit beginnt a u f z u h ö r e n , wenn wir unsere Sinne v e r f e i n e r n :
ebenso hört die Schönheit auf, beim Durchdenken von Vorgängen der
Geschichte; die Ordnung des Z w e c k s ist schon eine Illusion. Genug, je
oberflächlicher und gröber zusammenfassend, um so w e r t h v o l l e r ,
bestimmter, schöner, bedeutungsvoller e r s c h e i n t die Welt. Je tiefer man
hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Werthschätzung — die
B e d e u t u n g s l o s i g k e i t n a h t s i c h ! W i r haben die Welt, welche
Werth hat, geschaffen! Dies erkennend erkennen wir auch, daß die
Verehrung der Wahrheit schon die F o l g e einer Illusion ist — und daß
man mehr als sie die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende
Kraft zu schätzen hat — was Gott war
206 Voraussetzungen

„AHes ist f a l s c h ! Alles ist e r l a u b t ! "


E r s t bei einer gewissen S t u m p f h e i t des Blicks, einem Willen z u r
Einfachheit stellt sich das „ S c h ö n e " , das „ W e r t h v o l l e " ein: an sich ist es,
ich weiß nicht was.1058
V o n dieser Erkenntnis bereits bewegt, zeichnet Nietzsche im Sommer
1872—Anfang 1873 die verzweiflungsvollen Sätze auf:
Gegenmittel gegen die Wissenschaft? Wo?
D i e Kultur als Gegenmittel. U m f ü r sie empfänglich zu sein, muß m a n
das U n g e n ü g e n d e der W i s s e n s c h a f t erkannt haben. T r a g i s c h e R e s i g n a t i o n .
G o t t weiß, w a s d a s f ü r eine K u l t u r wird! Sie f ä n g t von hinten an! 1 0 5 9
V o n hinten — das heißt von dort aus, wohin die am Beginn der
abendländischen Tradition stehende griechische Kultur entartet ist, vom
Sokratismus, der rein wissenschaftlichen „ K u l t u r " , aus. Diese geschichtliche
Verfallsbewegung umzukehren, das abendländische Denken in eine
Richtung „ u m z u d r e h e n " , in die es allenfalls in jenen Anfängen — und
wenn, dann auch da nur kurzfristig, bei Heraklit nämlich 1 0 6 0 — geblickt hat,
das ist die Aufgabe, vor die sich der Philosoph unserer Epoche gestellt sieht.
Auch für ihn gilt aber:
E s sind die Zeiten g r o ß e r G e f a h r , in denen die Philosophen erscheinen —
dann wenn das R a d immer schneller rollt — sie und die K u n s t treten an
Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit v o r a u s g e w o r f e n ,
weil die A u f m e r k s a m k e i t der Z e i t g e n o s s e n erst l a n g s a m ihnen sich
zuwendet.
Ein Volk, das sich seiner Gefahr bewußt wird, erzeugt den Genius.1061
S o schreibt Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 1873, zu einer Zeit also, da
er sich seine Lebensaufgabe, jener letzte Philosoph zu sein, unter Schmerzen
zugedacht hat. Daß dieser Prozeß für ihn gleichzeitig aber auch höchstes
Glück in sich birgt, weil er in ihm wird, was er ist, davon kündet ein Brief,
den er am 29.3. 1871 an seinen Freund Erwin Rohde schreibt. Unter
Anspielung auf jene Studien, Aufzeichnungen und Aufsätze, die schließlich
zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " und den Vorträgen „ U e b e r die Zukunft unserer
Bildungsanstalten" führen werden, bemerkt Nietzsche:
V o n der Philologie lebe ich in einer übermüthigen E n t f r e m d u n g , die sich
schlimmer g a r nicht denken läßt. [ . . . ] S o lebe ich mich allmählich in mein
Philosophenthum hinein und g l a u b e bereits an mich; ja wenn ich noch z u m
Dichter werden sollte, so bin ich selbst hierauf gefaßt. Einen K o m p a ß der
Erkenntniß, w o z u ich bestimmt sei, besitze ich g a n z und g a r nicht [ . . . ]
W e l c h e E m p f i n d u n g , seine eigne Welt, einen hübschen Ball, v o r sich rund
und voll werden z u sehn! Bald sehe ich ein S t ü c k neuer M e t a p h y s i k , bald
eine neue Aesthetik w a c h s e n : d a n n wieder beschäftigt mich ein neues
Erziehungsprincip mit völliger V e r w e r f u n g unserer G y m n a s i e n und
Universitäten. Ich lerne bereits nichts mehr, w a s nicht s o f o r t in irgend
einem Winkel des V o r h a n d e n e n einen guten P l a t z vorfindet. 1 0 6 2
Nietzsches Kunst-Philosophie 207

Nietzsche ist somit im Begriff einzulösen, was er in seiner Baseler


Antrittsvorlesung „ H o m e r und die klassische Philologie" 1063 am 28. 5. 1869
als sein ,Glaubensbekenntniss' bezeichnet hat:
„ p h i l o s o p h i a f a c t a est q u a e philologia f u i t . "
Die Not unserer Zeit ist groß — doch sollte sich das Volk seiner Gefahren
tatsächlich bewußt geworden sein?
Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der
Musik

1. „ Vielleicht finde ich aber einmal einen philologischen Stoff, der sich
musikalisch behandeln läßt": Das methodische Gepräge der „Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik"

Nietzsches philosophische Erstlingsschrift zeigt, wie Eugen Fink


bemerkt, „ein seltsames und schwer durchschaubares methodisches
Gepräge" 1 : Im Gewände psychologisierender Ästhetik bietet sie einen
philosophischen Grundgedanken dar — und will doch auch als eine die
Grenze zur Dichtung überschreitende philologische Schrift verstanden
werden, so daß dieses W e r k dem entspricht, was Nietzsche als das Wesen
der Philosophie bestimmt hat, nämlich in sich den Kampf zwischen Kunst
und Erkenntnis auszutragen. Gesprochen mit einem Bild dieser Schrift: Sie
ist das Werk eines musiktreibenden Sokrates.
So schreibt Nietzsche in einem Brief an seinen Lehrer Friedrich Ritsehl
am 12. 8. 1872 über das Pamphlet „Zukunftsphilologie", in dem Ulrich von
Wilamowitz-Moellendorf den „Tragödiengeburtsphilologen" und Wagner-
Freund scharf angegriffen hat, sowie über die geplante Zurückweisung
desselben durch seinen Freund, den außerordentlichen Professor der
Philologie, Erwin Rohde:
ich, als Philologe, wehre mich meiner Haut: m i c h will man nicht als
P h i l o l o g e n gelten lassen; und deshalb vertritt Rohde mich, den
Philologen.— 2
Rohde sollte geben, was die Schrift selber nicht lieferte, Angaben der
Quellen und der Sekundärliteratur. Doch schon dieses Fehlen des
philologischen Apparates, ein grober Verstoß gegen die Diskursregeln der
Disziplin, offenbart, daß sie keineswegs in der Philologie ihren tiefsten
Ursprung hat: „philosophia facta est quae philologia fuit" — von der Ebene
der philologischen Fabrikarbeiter, welche „Staub [ . . . ] berufsmäßig also mit
Würde schlucken" 3 ist er auf jene der „Gesetzgeber für Maass, Münze und
Gewicht der Dinge" 4 gewechselt. Doch obwohl er sich bereits im Frühjahr
1871 mit einer Vorstufe dieser Schrift um den an seiner Universität frei
gewordenen Lehrstuhl für Philosophie bewerben wollte 5 , gesteht er sich
Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie" 209

jenen Schritt erst im November 1872 ein. (Dieser Widerstreit zwischen


zurückhaltendem Zaudern und lautem Bekennen sollte sich sein lebelang
wiederholen.) Unter dem deprimierenden Eindruck, „der anstößigste
Philologe des Tages zu sein", schreibt er am Siebten jenes Monats an
Malwida von Meysenbug:
Im Grunde ist es ja eine Verwechslung; ich habe nicht für Philologen
geschrieben, obwohl diese — wenn sie nur k ö n n t e n — mancherlei selbst
Rein-Philologisches aus meiner Schrift zu lernen vermöchten.6
Vierzehn Jahre nach dem Erscheinen der Schrift bedauert er gar, daß er das,
was er zu sagen wußte, nicht als Philologe gesagt hat:
bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe
Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, d a s s hier
ein Problem vorliegt, — und dass die Griechen, solange wir keine Antwort
auf die Frage „was ist dionysisch?" haben, nach wie vor gänzlich
unerkannt und unvorstellbar sind . . .
Aber er bedauert dabei nur, daß er nicht „mindestens als Philologe"
problematisierte, was er nicht als Dichter zu singen wagte — ebenweil er
damals doch noch zu sehr Philologe war:
Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele" — und nicht reden!7
V o n ihrem neuen Gott Dionysos nämlich, wie im „Versuch einer
Selbstkritik" der „Geburt der Tragödie" der inzwischen zum Dichter-Phi-
losophen Gereifte beklagt. Als solchen hatte sich Nietzsche bereits ein halbes
Jahr nach der Veröffentlichung der Schrift entworfen, wenn er als
„ N a t u r b e s c h r e i b u n g d e s P h i l o s o p h e n " , wie erinnerlich, auf-
zeichnete: „ E r erkennt, indem er dichtet, und dichtet, indem er erkennt." 8
„Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden!": das
meint, wie Nietzsche selber sagt, daß sie „mit Mühsal und willkürlich, fast
unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam
in einer fremden Zunge stammelt[e]". 9 Stammelte, weil sie in die Zunge des
Gelehrten, des Wagnerianers und Schopenhauerianers verfälschend
übersetzte, was sie zunächst als „eine m u s i k a l i s c h e S t i m m u n g " 1 0
empfand. Denn die „Geburt der Tragödie" ist, was sie beschreibt: eine
Geburt aus dem Geiste der Musik.
Das behauptet auch der Verfasser, wenn er sich in der rückblickenden
Selbstkritik des Jahres 1886 der Entstehung des Buches erinnert: Wohl habe
er den Kern desselben in den Alpen unter dem „ D o n n e r der Schlacht von
Wörth" 1 1 niedergeschrieben — weiland war bereits ein anderer Philosoph
unter dem Donner von Kanonen, denen von Jena, zum absoluten Wissen
gekommen —, doch erst „in jenem Monat tiefster Spannung, als man in
Versailles über den Frieden berieth", da er, nach kurzem Sanitätsdienst,
„unter den Mauern von Metz", „auch mit sich zum Frieden k a m " und „von
einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit" genas, erst da habe er „die
210 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

,Geburt der Tragödie aus dem Geiste der M u s i k ' letztgültig bei sich
festgestellt.. ,]" 12 . Das Buch habe so „ ,Musik' f ü r Solche [sein wollen], die
auf Musik getauft [sind]" 13 — der Text selbst nennt entsprechend als seine
Adressaten
diejenigen [...], die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam
ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste
Musikrelationen in Verbindung stehen14 —:
so daß es seine H e r k u n f t nicht nur bedacht, sondern auch übertragen und
somit den eigenen Gedanken von der Prävalenz des Klanges der Sprache vor
deren Bedeutung entsprochen hätte. Wie dieses schließlich in höchster
Vollendung die in ihrer Mehrzahl zwei Jahre nach jenem Vorwort
entstandenen „Dionysos-Dithyramben" tun sollten, in denen das Druckbild
— wie in allen nachwagnerschen Schriften fällt bereits „dem ersten Blick die
Häufigkeit und Vielfalt der phrasierenden Interpunktionen, Frage- und
Ausrufezeichen, Gedankenstriche, Doppelpunkte und auslaufenden Punk-
te, Sperrungen" ins Auge — als „eine Art Partitur" angesehen werden muß,
„die auf akustische Realisierung angewiesen ist" 15 .
Aber entgegen jenem Vorhaben hat die Schrift nicht gesungen, sondern
geredet — „schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig,
gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im
Tempo" 1 6 —, nämlich geredet nach dem Vorbild der „poetisierenden"
Musikhermeneutik der Romantik, wie der Vergleich mit Ε. T. A. H o f f m a n n s
berühmter Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie und mit den
„Phantasien über die Kunst" von Wackenroder und Tieck lehren könnte.
Daß aber diese Art des musikalischen Sprechens, eines Sprechens mehr über
als mit Musik, seinem damaligen Stil-Ideal nicht fern gelegen hat, kann die
nachfolgende Passage eines Briefes lehren, den Nietzsche am 2. 7. 1868 an
Sophie Ritsehl, die Frau seines Lehrers, aus Anlaß seiner Lektüre von Louis
Ehlerts „Briefen über Musik an eine Freundin" 1 7 geschrieben hat. Er kann
als weiteres Zeugnis dafür dienen, mit welcher Klarheit Nietzsche seine
Zukunft immer wieder voraussehen konnte, weil er — gemäß seinem
Leitspruch γένοι' οίος έσσί — der Stimme seines Selbst, seiner denkerischen
Bestimmung hörig war:
Böse Menschen könnten sagen, daß das Buch aufgeregt und schlecht
geschrieben sei. Aber das Buch eines Musikers ist eben nicht das Buch eines
Augenmenschen; im Grunde ist es Musik, die zufällig nicht mit N o t e n ,
sondern mit Worten geschrieben ist. Ein Maler muß die peinlichste
Empfindung bei diesem Bildertrödel haben, der ohne jede Methode
zusammengeschleppt ist. Aber ich habe leider N e i g u n g für das pariser
Feuilleton, für Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen
Rinderbraten. Was hat es mich für Mühe gekostet, ein wissenschaftliches
Gesicht zu machen um nüchterne Gedankenfolgen mit der nöthigen
D e z e n z und alia breve niederzuschreiben. [ . . . ] Vielleicht finde ich aber
Das methodische Gepräge der „Geburt der Tragödie" 211

einmal einen philologischen S t o f f , der sich musikalisch behänden [sie] läßt,


und dann werde ich stammeln w i e ein Säugling und Bilder häufen, w i e ein
Barbar, der v o r einem antiken V e n u s k o p f e einschläft, und trotz der
„blühenden Eile" der Darstellung — Recht haben. 1 8

Es wäre fatal, wollte man diese stilistische Nähe zur Romantik als
beiherspielend abtun, ist sie doch Ausfluß der — von Nietzsche selber später
erkannten und beklagten — Übersetzung seines Denkens ins Romantische, 19
der Uberführung seines denkerischen Ortes in den von der traditionellen
Metaphysik aufbereiteten Bereich, für den „Romantik" als Bezeichnung
einer im Wesen christlichen Lebensverhaltung 20 nur ein anderes W o r t ist.
Eine „ I d e e " — der G e g e n s a t z dionysisch und apollinisch — ins
Metaphysische übersetzt 2 1 ,
das ist laut „Ecce h o m o " der Inhalt der Schrift. Woraus erhellt, daß die
Gewinnung des stilistischen Selbst mit der Erstreitung des denkerischen
Selbst einherzugehen hatte: Nicht nur gab die sprachliche Fassung des
„Geistes der Musik", des Dionysischen, keine Übertragung 2 2 desselben,
auch ihre Übersetzung war diesem nicht adäquat — und dies vor allem
darum, weil er jenen Geist fälschlicherweise mit dem Geist der Wagnerschen
Musik gleichsetzte. So schreibt Nietzsche am 21. 12. 1871 — er korrigiert
noch an den Fahnen der „Geburt der Tragödie" — an Rohde über ein
Konzert vom Vortage in Mannheim, in dem Wagner vor allem
Eigenkompositionen dirigiert hat:
Mir g i e n g (es) w i e einem, d e m eine A h n u n g sich endlich erfüllt. D e n n genau
das ist Musik und nichts sonst! U n d genau das meine ich mit dem W o r t
„Musik", w e n n ich das D i o n y s i s c h e schildere, und nichts sonst! 2 3

In „Ecce h o m o " erläutert Nietzsche diese Gleichsetzung „psychologisch"


dann dahingehend,
dass was ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, N i c h t s
überhaupt mit W a g n e r zu thun hat; dass w e n n ich die dionysische Musik
beschrieb, ich das beschrieb, w a s i c h gehört hatte, — dass ich instinktiv
Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren musste, den ich in
mir trug. 24
Formelhaft gesprochen: Nietzsche konnte das Dionysische in das
Romantische übersetzen — den Geist der Musik romantisch poetisierend
zur Sprache bringen —, weil er vorab das Romantische in das Dionysische,
den Pessimismus der Schwäche in den Pessimismus der Stärke übersetzte.
D a ß letzteres mehr oder minder unbewußt geschah, zeigt, daß Nietzsche
sich selbst noch nicht begriffen hatte, zum Teil auch nicht begreifen wollte
— um der Freundschaft mit Wagner willen, die nur noch einseitige
Sternenfreundschaft sein konnte, als Nietzsche das in der „Geburt der
Tragödie" Geborene ergriff: ineipit tragoedia . . .
212 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Indes — wenn „Ecce homo" den Lesern der dritten und vierten
Unzeitgemässen Betrachtung als Regel für die richtige Übersetzung der
Texte die einfache Formel an die Hand geben konnte: „lisez: Nietzsche",
wo von Wagner und Schopenhauer die Rede ist25, so stellt der Versuch, jenes
Neugeborene bereits aus dem Wortlaut der „Geburt der Tragödie"
herauszulesen und das heißt, die ins Metaphysische übersetzten
philosophischen Grundgedanken gemäß ihrer Herkunft aus dem schon
früher angesprochenen „Geist der Musik", dem Geist des — nach
Nietzsches Verständnis — unmetaphysischen reinen Werdens, auszulegen,
sie gewissermaßen in diesen zurückzuübersetzen, schon eine schwierigere
Aufgabe dar. Es muß dabei bedacht werden, daß dieser „Geist" Nietzsche
zufolge an sich vorbegrifflich ist, weswegen es hier, wo nicht gedichtet und
somit dieser Geist nicht unmittelbar übertragen werden kann, nur darum
gehen wird, eine Begriffssprache zu finden, die sich dieser Sphäre als
angemessener erweist, was meint, daß die Begriffe von ihrer ganz anderen
Sphäre her deutlicher auf die Sphäre dieses „Geistes" verweisen. Erst recht
betrifft dieses Problem den sich anschließenden Versuch einer Er-läuterung
der Schrift, in dem wir die „Geburt der Tragödie" auch noch von jenen
metaphysischen Begriffsverstellungen ihrer rein physischen Herkunft
befreien wollen, die in der durch Nietzsche angeleiteten „dionysischen"
Ubersetzung stehen geblieben sind. Indem wir so die „Geburt der Tragödie"
im Sinne unseres Begriffes von Metaphysik zu läutern versuchen, vollziehen
wir einen noch weiter zurückführenden Ubersetzungsschritt hin zu dem,
was wir die „dichterische" Welterfahrung genannt haben. Für sie gibt es bei
Nietzsche, wie wir sehen werden, nur einige wenige, jedoch höchst
bedeutsame denkerische Ansätze.

2. Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll

Der 1886 erstellte „Versuch einer Selbstkritik" der „Geburt der


Tragödie" bezeichnet den Grundgedanken der Schrift als „Artisten-Meta-
physik" 26 : Das Seiende im Ganzen wird im Hinblick auf das Phänomen der
tragischen Kunst bestimmt. Dies ist möglich zum einen, weil der „Urgrund"
des Seienden verstanden wird als Urkünstler, der im Spiel Welt
hervorbringt, zum anderen, weil Nietzsches Grunderfahrung der Welt, wie
erinnerlich, das Tragische ist, so daß er auf es auch das Wesen der Kunst
zurückführt. Die tragische Kunst „erkennt" das tragische Wesen der Welt.
Sie gestaltet das Wissen, daß alles aus dem Urgrund Herausgetretene
dereinst wieder in diesen einzugehen hat.
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 213

Wirklichkeit ist für Nietzsche dieses Widerspiel von Gestalt und


Lebensflut, das er in den Metaphern von „Apoll" und „Dionysos" zu fassen
sucht.
Eingeführt werden Apoll und Dionysos als von den Griechen entlehnte
„Namen", will eben sagen: als mit der „unmittelbaren Sicherheit der
Anschauung" (1, 21) zu verbindende Metaphern, für die einander in ihrem
Wesen, nämlich „nach Ursprung und Zielen" entgegengesetzten Kunsttrie-
be des Bildners und des Musikers.
Nietzsche liest an den Griechen ab, „dass die Fortentwickelung der
Kunst an die Duplicität" dieser beiden Kunsttriebe „des A p o l l i n i s c h e n
und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist" (1, 21). Bei ihnen, so führt er aus,
gehen
beide so verschiedne Triebe [ . . . ] neben einander her, zumeist im offnen
Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren
Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu
perpetuiren, den das gemeinsame Wort „Kunst" nur scheinbar überbrückt
(1,21).

Das Verhältnis von Apollo und Dionysos wird von Nietzsche somit im Sinne
des Heraklitischen πόλεμος in Fragment 53 (Diels/Kranz) gedacht:
„πόλεμος πάντων μέν πατήρ έστι, πάντων δε βασιλεύς, και τούς μέν
θεούς εδειξε τούς δέ άνθρώπους, τούς μέν δούλους έποίησε τούς δέ
έλευθέρους." In der Übersetzung Martin Heideggers: „Die Auseinander-
setzung ist zwar von allem die Aussaat, von allem aber auch (und vor allem)
das Höchste — Wahrende —, und zwar deshalb, weil sie die einen sich
zeigen läßt als Götter, die anderen aber als Menschen, weil sie die einen
hervorgehen läßt ins Offene als Knechte, die anderen aber als Freie." 27
Gleich Nietzsche 28 versteht Heidegger πόλεμος im Sinne des von Heraklit
ebenfalls gebrauchten Wortes έρις. Dieses bedeutet „Streit" — „aber Streit
nicht als Hader und Gezänk und bloßer Zwist, erst recht nicht
Gewaltanwendung und Niederschlagen des Gegners — sondern Aus-einan-
der-setzung dergestalt, daß in dieser das Wesen derer, die sich
aus-einander-setzen, sich aussetzt dem anderen und so sich zeigt und zum
Vorschein kommt und d.h. griechisch: ins Unverborgene und Wahre
[άλήθεια]." 29 Bezogen auf die Streitpartner Apollo und Dionysos können
wir darum vorläufig sagen: Sie stehen im gegenwendigen Bezug des
eigentlichen Streites, in welchem die Streitenden „im wechselweise sich
anerkennenden Sichaussetzen" 30 einander in ihre jeweils höchste Möglich-
keit steigern — die sie mithin nur dort erreichen können, wo sie gleichwertig
bleiben: Sie sind, was sie sind, nur durch einander. Die Zwietracht ist ihre
Eintracht, oder, wie Nietzsche sagt31, der Widerstreit ist ihre Harmonie.
214 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Derweise setzt dieser Streit eine „Grenze des Maaßes" 3 2 voraus, als
welche überschritten ist, wo einer der Streitenden endgültig obsiegt hat.
Nicht mehr bestritten, entartet nämlich schließlich auch der Sieger, wie
Nietzsche zum einen an der tragischen Kultur, in der Dionysos einen
solchen furchtbaren Pyrrhus-Sieg errungen hat, 33 zum anderen an unserer
sokratischen Kultur aufzeigt, in der Apollo im Gefolge seines Sieges über
Dionysos derart von seinen eigensten Wesensmöglichkeiten abgefallen ist,
daß man letztlich von seinem Verschwinden sprechen muß:
U n d weil du D i o n y s u s verlassen, so verliess dich auch A p o l l o ( 1 2 , 7 1 ) ,
bemerkt Nietzsche über die sokratische Kultur. Der eigentliche Streit ist
unaufhebbar — zu seinem Wesen gehört es, „jeder Aufhebung und jedem
Versuch zu einer solchen zu widerstreiten" 3 4 :
es giebt keinen dionysischen Schein o h n e einen apollinischen Wiederschein
[sie],
schreibt Nietzsche in diesem Sinne im „Fragment einer erweiterten Form
der ,Geburt der Tragödie'" 3 5 .
Nietzsche zufolge weste dieser Streit in seiner höchsten Form allein bei
den Griechen, im „ebenso dionysische[n] als apollinische[n] Kunstwerk der
attischen Tragödie" (1, 22): In ihm erscheinen jene beiden Kunsttriebe
„endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen
,Willens', mit einander gepaart" (1, 21), d. h. gleichwertig — die früheren
griechischen Kulturstufen sind jeweils durch ein relatives Ubergewicht eines
der beiden Streitenden gezeichnet. Ohne daß indes der Überhang jemals so
groß gewesen wäre, daß man ein Entschwinden des anderen hätte
konstatieren müssen. 36
Die H o f f n u n g auf eine „Fortentwickelung der Kunst" in unseren Tagen,
und dies meint die „Wiedergeburt" einer „ w a h r e n " Kunst und Kultur, ist
somit H o f f n u n g auf erneute Entfachung der Art des Streites, wie er die
griechische Kultur zur Zeit der attischen Tragödie bestimmte. Was in den
Augen Nietzsches nur so geschehen kann, daß in den herrschenden
Sokratismus als Entartungsform einer mehr apollinischen Kultur der
dionysische Geist der Musik eindringt.
Zur Verdeutlichung dieser beiden Kunsttriebe zieht Nietzsche das
physiologische Gegensatzpaar von Traum und Rausch heran — doch nicht
erst in dem Terminus „Kunstine^e", sondern bereits im Titel „Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der Musik" hat eine Koppelung von Ästhetik und
Physiologie statt: „Eine Literaturgattung heißt entstanden wie ein Körper",
bemerkt Friedrich A. Kittler zu Recht. 37 Dieser physiologische Ansatz von
Nietzsches Ästhetik ist von uns schon angesprochen worden, als wir nämlich
darauf hingewiesen haben, daß nach Nietzsches Ansicht die Aufgabe der
Kunst darin besteht, den kunstschaffenden Zustand des Leibes zu vermitteln.
Die Artisten-Metaphysik: D e r Weltstreit von Dionysos und Apoll 215

„Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie.", wird Nietzsche


diesen Ansatz in „Nietzsche contra Wagner" 3 8 formelhaft fassen. Was indes
zureichend nur im Hinblick darauf verstanden werden kann, daß Nietzsche
überhaupt in Anknüpfung an Schopenhauer die Welt am Leitfaden des
Leibes auslegt, in jener späten Phase als Wille zur Macht, vorher als Wille
zum Leben.
Der Traum nun ist Äußerung der bildschöpferischen Kraft des
Menschen, welcher die Griechen, wie Nietzsche meint, als Gott Apollo
zugeordnet hätten:
Er, der seiner Wurzel nach der „Scheinende", die Lichtgottheit ist,
beherrscht auch den schönen Schein der inneren Phantasie-Welt. (1, 23)
Nietzsche spielt hier mit der Polysemie von „scheinen" — was
Wilamowitz-Moellendorf in seinem Pamphlet „Zukunftsphilologie" 3 9 zu
der Bemerkung hinreißt, daß Nietzsche „auf dem Wege des Kalauers" aus
dem Lichtgott Phoibus Apollon den Gott des Scheins zu machen suche. Aber
diese philologische Wertung ist für uns, die wir um eine Auslegung der
philosophischen Gedanken bemüht sind, ohne Belang; anders als die
Tatsache, daß das „symbolische Analogon" dieser inneren Phantasie-Tätig-
keit, die Kunst, deren Gottheit Apollon war, von Nietzsche als schöner, aber
auch täuschender Schein interpretiert wird, dem Wahrheit in einem
anderen, „höheren" Sinne als dem rein mimetischen zuzusprechen ist:
Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz
zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe
Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur
ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und
überhaupt der Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth
gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht
überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der
Schein als plumpe Wirklichkeit uns betrügen würde — darf nicht im Bilde
des Apollo fehlen: jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den
wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. (1, 23 f.)
Kunst, die nichts als ein Mittel sein soll, den Rezipienten zum Nach-schaffen
des Vor-schaffens und d. h. im Falle der bildenden Kunst ihn zur
Phantasie-Tätigkeit anzuregen, ist f ü r Nietzsche hier in dem Maße wahr, in
dem sie die Wirklichkeit in der Weise überhöht, daß sie ihre aufgesplitterten
Aspekte zusammenfaßt und deutet — und dabei doch zugleich ihre
Scheinhaftigkeit durchscheinen, ihre Unterschiedenheit vom Leben
aufscheinen läßt: Sie macht das Leben möglich und lebenswert, indem sich
der Betrachter an ihren Bildern das Leben deuten, an ihren Vorgängen sich
f ü r das Leben üben (1, 23) und sich ineins damit — Nietzsche spricht von der
„heilenden und helfenden N a t u r " — von dessen Anspannungen entspannen
kann, was indes seitens der Kunst die Wahrung einer ,,maassvolle[n]
Begrenzung" verlangt. In Nietzsches Philosophie des umgedrehten
216 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Platonismus, welche den Willen des Lebens zum Schein anerkennt, ist Kunst
wahr nach Maßgabe solcher Fruchtbarkeit für das Leben.
Doch laut Nietzsche haben die Griechen nicht allein diejenige Kraft,
welche die Bilderwelt des menschlichen Traumes schafft, in Apollo
versinnbildlicht, vielmehr auch diejenige, welche die „Bilderwelt" dessen
gestaltet, was der Mensch als das Wirkliche auffaßt. Jäh eröffnet Nietzsche
damit einen neuen Horizont der Problemstellung — nicht mehr ist nämlich
von einer „Kunstanschauung" die Rede, welche von den Griechen in Apollo
gefaßt wurde, sondern von einer „Weltanschauung" 4 0 , wenn er ausführt,
man möchte selbst A p o l l o als das herrliche Götterbild des principii
individuationis bezeichnen, aus dessen G e b ä r d e n und Blicken die g a n z e
Lust und Weisheit des „ S c h e i n e s " , s a m m t seiner Schönheit, zu uns spräche.
(1, 24)
Vorbereitet ist dieser gedankliche Sprung, mit dem die Ästhetik zum
Organon der Metaphysik, zur „Artisten-Metaphysik" wird, in der
Überlegung,
dass unser innerstes W e s e n , der g e m e i n s a m e U n t e r g r u n d von uns allen, mit
tiefer Lust und f r e u d i g e r N o t w e n d i g k e i t den T r a u m an sich erfährt.
(1,23)
In der Überlegung mithin, daß durch den Menschen ein anderes, sein
„Untergrund" nämlich, träumt.
Wie Nietzsche selber anzeigt (1, 24), gibt zu diesen Gedanken
Schopenhauers ontologische Unterscheidung von „Wille" und „Vorstel-
lung", bzw. „Ding an sich" und „Erscheinung" den Flucht-Punkt ab.
Für Schopenhauer bewirken die reinen Formen der Anschauung, Raum
und Zeit, als das „principium individuationis" die Zerteilung alles für uns
Seienden in die Vereinzelung: die Dinge sind in Raum und Zeit beisammen,
aber gerade insofern sie voneinander getrennt sind. Doch diese Getrenntheit
des Seienden ist bloßer, von unserem Erkenntnisvermögen erzeugter Schein.
An sich ist die Welt ungeteilter Wille.
Auch für Nietzsche ist hier die Welt, wie sie eigentlich ist, keineswegs in
eine Vielfalt zerstückelt, auch für ihn ist sie hier eine einzige
ununterschiedene Flut — Flut des „Ur-Einen" (z.B. 1, 26; 4, 34), des
„Willens" (z.B. 16, 100; 16, 102), des „Lebens" (z.B. 7, 52; 16, 104), um
nur die wichtigsten der „Metaphern" anzuführen, mit denen Nietzsche den
Urgrund der Erscheinungen zu bezeichnen pflegt. Aber in Nietzsches Sicht
ruft der Urgrund selbst den Schein der Erscheinung hervor — dies
augenscheinlich die Konsequenz seines Einwandes gegen Schopenhauer,
daß der Wille, wenn denn der ihn als Welt vorstellende Intellekt seine
μηχανή sein soll, selber bereits in das principium individuationis und die
Gesetze der Kausalität verwickelt sein muß. So schreibt Nietzsche in einer
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 217

A u f z e i c h n u n g zur „ G e b u r t der T r a g ö d i e " im September 1870—Januar


1871:
Die Vorstellung ist von allen Mächten die geringste: sie ist a l s A g e n s nur
T r u g , denn es h a n d e l t nur der Wille. N u n aber beruht die individuatio
auf der Vorstellung: wenn diese nun T r u g ist, wenn sie nur scheinbar ist,
um dem Willen zum T h u n zu verhelfen — der Wille handelt — in
unerhörter Vielheit für die Einheit. Sein Erkenntnißorgan und
das menschliche fallen keineswegs zusammen: dieser Glaube ist ein
naiver Anthropomorphismus. Erkenntnißorgane bei Thieren Pflanzen und
Menschen sind nur die Organe des b e w u ß t e n Erkennens. Die
ungeheure Weisheit seiner Bildung ist bereits die Thätigkeit eines
Intellekts. Die individuatio ist nun jedenfalls nicht das W e r k des bewußten
Erkennens, sondern jenes Urintellekts. Dies haben die kantisch-schopen-
hauerischen Idealisten nicht erkannt. Unser Intellekt führt uns η i e weiter
als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch intellektueller
Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen.
Uber diesen trägt kein Pfeil hinaus.

[...]
Vom Standpunkte des bewußten Denkens erscheint die Welt wie eine
Unsumme ineinander geschachtelter Individuen: womit eigentlich der
Begriff des Individuums aufgehoben ist. Die Welt ein ungeheurer sich
selbst gebärender Organismus: die Vielheit liegt in den Dingen, weil der
Intellekt in ihnen ist. Vielheit und Einheit dasselbe — ein undenkbarer
Gedanke. 41
Ein paradoxer G e d a n k e . . .
S o e r z e u g t nach N i e t z s c h e der „ W i l l e " selbst die Gestalten der W e l t —
und dies, w i e er sagt, in seiner apollinischen „Erscheinungsform" 4 2 . In seiner
dionysischen Erscheinungsform h i n g e g e n zerstört er diese Gestalten wieder,
n i m m t sie in sich zurück.
A u c h diese Seinsmacht g e w i n n t N i e t z s c h e im aufsteigernden A u s g a n g
v o n der P s y c h o l o g i e des natürlichen menschlichen Kunsttriebs: w i e d e m
bildschaffenden Traum des Menschen das Gestalten und Bilder
hervorbringende Weltprinzip, d e m N i e t z s c h e den N a m e n Apolls gibt,
analog ist, so entspricht d e m Rausch des M e n s c h e n als jenem ekstatischen
Zustand, in d e m wir das G e f ü h l des Einswerdens mit allem haben —
schopenhauerisch g e s p r o c h e n : das principium individuationis nichtig g e s e t z t
wird — , ein gleichsam kosmischer „ R a u s c h " : die Zurücknahme alles
S e i e n d e n in die e w i g e Flut des Lebens.
Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle
ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem
gewaltigen, die ganze N a t u r lustvoll durchdringenden Nahen des
Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das
Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. (1, 24 f.)
218 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Und mit dem Subjektiven auch sein Widerspiel, das Objektive:


Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete,
feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit
ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. (1, 25)
Die Grenzen von Raum und Zeit zergehen, aus der Gemessenheit und
Vermessenheit der gewöhnlichen Existenz steht der Mensch hinaus in das
Übermaß des Offenen des ewig werdenden, von Nietzsche als „Wille"
bezeichneten Weltgrundes.
Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als
ein künstlicher Schein: das „Ubermaß" enthüllte sich als Wahrheit.43,
schreibt Nietzsche über den ek-statischen T o n der Dionysosfeier, den T o n
„des ,Außer sich seins'" 44 . Der solchermaßen Ausgesetzte ist aus dem
apollinischen Maß in das dionysische Übermaß entsetzt:
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren
Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf
dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. (1, 26)
Er ist nicht mehr H e r r seiner selbst, die Natur — der „Wille" — spielt mit
ihm«:
Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die
Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des
Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. (1, 26)
Der Berauschte schwebt in der Gefahr, sich in den Flutungen des
ekstatischen Offenstehens im Offenen des Weltgrundes zu verströmen.
Aber:
Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich.46
Die Natur — der „Wille" — selbst reißt ihn in die Abständigkeit und
Festigkeit des apollinischen, des sichtigen Vernunft-Maßes 4 7 der gewöhnli-
chen Daseinsverhaltung zurück, um ihn schließlich erneut in die ungefügte,
als solche unbegreifbare Unmittelbarkeit des Offenen der Welt hinauszu-
treiben. Der Wille west im Menschen als dieser fortwährende zwiefältige
Um-riß in Aussetzung und Einsetzung in Unmaß 4 8 und Maß, als Streit von
Dionysos und Apoll.
Und solches auch auf kosmologischer Ebene. Als Seinsmacht betrachtet,
ist das Apollinische diejenige Kraft, die das Chaotische, Flutende, nämlich
die andere „Seins"macht das Dionysischen zum Stehen bringt und ihr so
lange Maß und Form gibt, bis daß das Un-maß des Werdens übermächtig
wird, um endlich erneut in das Maß des Apollinischen gestellt zu werden.
Das Dionysische selber sucht dabei dieses Maß, weil es nur von ihm her sein
kann, was es ist: Un-maß — wie umgekehrt das Apollinische zu diesem
strebt, um sich gegen dasselbe als Maß zu setzen. Apollo und Dionysus
stehen derweise in einem gegenwendigen Bezug, sie sind, wie wir schon
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 219

sagten, durch einander („Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo
aber schliesslich die Sprache des Dionysus", heißt es über den Bruderbund
beider Gottheiten in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " [21, 136]). Sie stehen in der
Innigkeit der Aus-einander-setzung des eigentlichen Streites, der sich zeigt
in der Fuge des in sich zwiefachen Um-risses der Gestalten: Diese haben ihre
Umgrenztheit nur im Gegenhalt, im U m - r i ß des Unmaßes („Jede
griechische Statue kann belehren, daß das Schöne nur Negation ist.",
zeichnet Nietzsche in diesem Sinne Ende 1870—April 1871 auf 4 9 ). Aber
auch das U n m a ß ist nur im U m - r i ß des Maßes — ohne dieses wäre es bloßes
„ U n " , d. h. weniger als nichts, denn als Nichtung von Sein ist dieses immer
ein „ U n - " : „ d e r reine Dionysismus [ist] unmöglich".
D e r Streit von Dionysos und Apoll west als dieser in sich zwiefältige
U m r i ß , welcher in der Grenze der Gestalt, ihrer Fuge, M a ß und U n m a ß so
innig fügt, daß sie in ihr einander in die jeweils höchste Möglichkeit
hinaustreiben und so zu sich selbst bringen. Allein in der Fuge ist das Maß als
M a ß und das U n m a ß als U n m a ß erfahrbar. Sie selbst ist aus der höchsten
Bewegtheit des zwiefältigen Um-risses hervorgehende höchste Ruhe, in ihr
erstreitet sich dieser seine Einheit. D a ß er dennoch in sich zwiefältig ist, zeigt
sich vor allem darin, daß er in der apollinischen Setzung, dem U m - r i ß der
dionysischen Maßlosigkeit, h e r a u f k o m m t und mit dem U m - r i ß ebendieser
Setzung, deren dionysischer Z u r ü c k n a h m e , entschwindet, um schließlich
durch Apoll erneut zu entstehen. Derweise ist der beständige Um-riß der
Fuge, das Gegeneinander von Dionysos und Apoll in ein zeitliches
Nacheinander, ein W e r d e n aufgefaltet: Das Leben wird als dieser
f o r t w ä h r e n d e Streit von Dionysos und Apoll, die Welt ist durch diesen an
jedem Seienden aufscheinenden in sich zwiefältigen Um-riß, der als solcher
f ü r Nietzsche mithin deren G r u n d d i f f e r e n z ausmacht.
Im Gegeneinander seiner apollinischen und seiner dionysischen
Erscheinungsweise, im Nacheinander von Setzung und Z u r ü c k n a h m e der
Gestalten erspielt sich der U r g r u n d die Welt. U n d weil dieser U r g r u n d , der
Wille, als ewig bewegt, als flutend und als formlos gedacht wird, ihm somit
die Charaktere des Dionysischen zugesprochen werden — wie könnte er
sich sonst im Rausch, der dionysischen Ek-stasis, offenbaren? 5 0 —, muß die
häufig, so auch von Eugen Fink, vorgetragene These, daß in der „ G e b u r t
der T r a g ö d i e " , anders als in den Spätschriften Nietzsches, das Verhältnis
von Apoll und Dionysos als ein solcher Gegensatz angesehen wird, daß „das
Apollinische auf der einen, das Dionysische auf der anderen Seite" 51 steht,
als vordergründige Auslegung zurückgewiesen werden. Am Ende der
Schrift wird deutlich ausgesprochen, daß das Apollinische aus dem
Dionysischen hervorgeht: In den dionysischen P h ä n o m e n e n von Musik und
tragischem Mythus „zeigt sich", heißt es da,
220 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die e w i g e und


ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die g a n z e W e l t der Erscheinung
in's Dasein ruft (25, 150 f.).
Der dionysische Wille braucht Apoll, seinen Schein und sein Maß, um als
flutendes Un-maß, als un-endliches Leben erscheinen zu können —
„Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die
Sprache des Dionysus" (21, 136) —, nur im Streit von Dionysos und Apoll
vermag sich das dionysisch flutende Leben, kurz: vermag sich Dionysos uns
zu zeigen, nur im Widerspiel von Dionysos und Apoll, im in sich
zwiefältigen Um-riß der endlichen Erscheinungen, ist das Unendliche,
ist Dionysos für uns endliche Wesen faßbar. Auf eine Formel gebracht:
D = D χ A — Dionysos als das unendliche Werden west für uns als Streit
von Dionysos und Apoll, von Werden und Sein.
Und diesen Streit, in dem die Vielheit des vereinzelten Seienden
hervorgebracht, d. h. die Welt erstritten wird, versteht Nietzsche als
ein künstlerisches Spiel [ . . . ] , w e l c h e s der Wille, in der e w i g e n Fülle seiner
Lust, mit sich selbst spielt. (1, 148)
Er weist darauf hin, daß diese Deutung seine Parallele hat bei „Heraklit dem
Dunklen", von dem
die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine
hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft. (24, 149)
Er bezieht sich dabei auf das Fragment 52 (Diels/Kranz): ,,αίών παις 6στι
παίζων, πεσσεόων. παιδός ή βασιληίη." In der Übersetzung Eugen
Finks52:
die W e l t z e i t ist ein spielendes Kind, die Brettsteine hin und her setzend, —
das Königreich des Kindes.
Dieses Fragment steht auch im Mittelpunkt der Heraklit-Interpretation, die
sich in Nietzsches Abhandlung „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der
Griechen" aus dem Frühjahr 1873 findet.
Nietzsche führt hier aus, Heraklit habe nicht nur „nicht mehr eine
physische Welt von einer metaphysischen" 53 geschieden, sondern darüber
hinaus auch das Sein geleugnet:
D e n n diese eine Welt, die er übrig behielt — umschirmt v o n e w i g e n
ungeschriebenen G e s e t z e n , auf- und niederfluthend im ehernen Schlage
des Rhythmus — zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein
Bollwerk im Strome. 5 4
Und an anderer Stelle heißt es, daß Heraklit dieses „ewige und alleinige
Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend
nur wirkt und wird und nicht ist"55, „unter der Form der Polarität begriffen"
habe,
Die Artisten-Metaphysik: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 221

als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne,


entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten.
Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und scheidet sich in
ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze wieder zu
einander hin.56
Es ist wohl kaum zu übersehen, daß Nietzsche den von ihm ausdrücklich als
nicht-metaphysisch bezeichneten Gegensatz, aus dem das Heraklitische
Werden hervorgeht, im Sinne des Streites von Dionysos und Apoll deutet.
So daß wir hier einen ersten Wink erhalten, die Frage aufzuwerfen, ob
Nietzsches aus dem Jahre 1886 stammende Selbstinterpretation der „Geburt
der Tragödie" als „Artisten-Metaphysik", welche einen „Künstler-Sinn und
-Hintersinn hinter allem Geschehen, — einen ,Gott', wenn man will"57,
angenommen haben soll, der Schrift aufs Ganze gesehen gerecht wird. Eine
Interpretation, die er, wie wir wissen, zwei Jahre später in „Ecce homo"
wiederaufnimmt, wenn er als Inhalt des Buches angibt: „Eine ,Idee' — der
Gegensatz dionysisch und apollinisch — ins Metaphysische übersetzt".
Quer zu diesen beiden Selbstinterpretationen steht indes eine andere, die
hinwiederum mit der Heraklit-Interpretation übereinstimmt. Nietzsche hat
sie im Zeitraum November 1887—März 1888 aufgezeichnet:
Die Conception der Welt, auf welche man in dem Hintergrunde dieses
Buches stößt, ist absonderlich düster und unangenehm: unter den bisher
bekannt gewordenen Typen des Pessimismus scheint keiner diesen Grad
von Bösartigkeit erreicht zu haben. Hier fehlt der Gegensatz einer wahren
und scheinbaren Welt: es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch,
grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn . . . Eine so beschaffe-
ne Welt ist die wahre W e l t . . ,58 —
Auch in der nachfolgenden Passage aus seiner Schrift über die
Vorplatoniker versteht Nietzsche den Heraklitischen Streit im Sinne des
Widerspiels von Dionysos und Apoll. Er kompiliert hier Übersetzungen der
Fragmente 53 und 80 (Diels/Kranz) 59 :
Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die
bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das
momentane Ubergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit
nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort. Alles geschieht gemäß
diesem Streite, und gerade dieser Streit offenbart die ewige Gerechtig-
keit.60
In der Perspektive Nietzsches heißt das: Aus dem Krieg, dem πόλεμος von
Dionysos und Apoll geht alles Werden hervor. Stellt die Erscheinung als
Erscheinung betrachtet ein Ubergewicht Apolls dar, so gewinnt Dionysos in
dessen Vergehen, das — von uns meist unbemerkt — bereits mit dem
Aufgehen der Erscheinung anhebt, mehr und mehr die Oberhand, um selber
erst wieder im Moment des Ubermachtetwerdens durch Apollo in der Fuge
der Gestalten zur Erscheinung zu kommen: das Emporringen Apolls aus der
222 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Unterlegenheit vermögen wir, die wir als apollinische Erscheinungen auf


den Bereich ebensolcher Erscheinungen angewiesen sind, nicht zu fassen.
Der Kampf selbst setzt eine „Grenze des Maaßes", so haben wir schon
vernommen — und wir erkennen jetzt, was das heißt: Er ist als dionysischer
in seinem Wesen — paradoxerweise — apollinisch. (Es zeigt sich erneut, daß
„apollinisch" und „dionysisch" relationale Begriffe sind, derweise, daß man
in jedem Seienden, welches ihren Streit austrägt, aber auch in diesem Streit
selber, gemäß dem in ihm waltenden Kräfteverhältnis, gemäß der
Hinblicknahme, die das „ P h ä n o m e n " vorwiegend oder auch nur
momenthaft gewährt, dieses entweder als [mehr] apollinisch oder [mehr]
dionysisch ansprechen kann.) Der Streit selber ist aber in der Hinsicht als
apollinisch zu bezeichnen, daß er den Streitenden das Maß der Fuge setzt,
welche mit der vollkommenen Ubermacht eines der beiden Streitpartner
entschwindet. Im Falle des Apollo bedeutete das, daß alles starr, in einem
unvergänglichen Sein fixiert wäre — wie dies Nietzsche zufolge das
Weltbild der Metaphysik zeigt —, im Falle des Dionysos hingegegen, daß
alle Gestalten im flutenden Werden untergingen 61 — aus dem heraus
Nietzsche wohl zu denken sucht, das als solches aber unsichtbar, f ü r das
Auge und mit ihm für die sichtige Vernunft unfaßbar ist: Mit „Apoll"
bezeichnet Nietzsche, wie erinnerlich (siehe Seite 52) den Standpunkt des
Auges. In ein Bild gebracht: Vom Ring des Ringens zwischen Dionysos und
Apoll, von der „heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins" — mit Rilke,
der Nietzsches Metaphysik in hohem Maße verpflichtet ist, zu sprechen —, 62
ist uns nur die eine Hälfte, das Sichtsame, begreiflich. Daß es eine andere
Hälfte, ein unfaßbares „Außen" des „ I n n e n " gibt, das könnte man danach
auch als einen Analogieschluß bezeichnen „im Hinblick auf das Seiende im
Sinne der Vollzähligkeit aller seiner Seiten" 63 , ein Analogieschluß, der sich
indes darauf stützen kann, daß die tiefste uns zugängliche Schicht der Welt
der Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit ist, eine Schicht, die wir indes
nur im Gegenhalt zu uns als in sich gefügten Gestalten zu erreichen
vermögen.
„Bild", „ N a m e " — als welcher ja auch „Dionysos" ist —, „Gestalt",
„ G r e n z e " : Es ist dem Menschen nicht gegeben, über den Bereich des
Apollinischen hinauszugelangen, auch in dessen Bestreitung bzw. Negation
bleibt er an ihn gebunden. Der mit „Dionysos" bezeichnete Bereich ist für
uns nur als ein Bereich des „ U n - " des Maßes oder, wie wir früher sagten, das
Werden ist für uns nur im Widerstreit zum Sein, denn auch das Paradoxon,
in dem das Denken seine eigenen, die Erscheinungen feststellenden Gesetze
bestreitet, gelangt über die Abbildung jenes in seinem maßsetzenden Wesen
apollinischen Streites nicht hinaus, es bleibt eine Figur des Denkens.
Dionysos als das reine Werden ist für uns gedanklich nur als Widerstreit von
Die Geburt der Tragödie 223

Dionysos und Apoll faßbar — D = D χ Α: das meint demnach, daß wir von
Dionysos gedanklich immer nur ein apollinisches Scheinbild gewinnen
können.
Ein noch höherer Scheinbildcharakter muß Nietzsche zufolge dann den
— das W o r t in seinem Sinne verstanden — metaphysischen Bestimmungen
zugesprochen werden: genau in diesem Sinne führt die „Geburt der
Tragödie" zu Beginn des Abschnittes 18 folgendes aus — was man
augenscheinlich bis heute überlesen hat:
Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel,
durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben
festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen.
Und dazu rechnet neben der ,,sokratische[n] Lust des Erkennens", neben
dem „Schönheitsschleier der Kunst" auch
der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das
ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst (18, 111).
Damit aber wird der metaphysische Entwurf dieser Schrift von ihr selber als
Illusion bezeichnet, denn das unter dem Wirbel der Erscheinungen fließende
Leben ist eben jener „Wille", von dem Nietzsche eingangs spricht. So sagt
die Schrift versteckt, was jene auf S. 132 wiedergegebene verworfene
Aufzeichnung offen sagen sollte: daß die metaphysischen Grundbegriffe,
mit denen Nietzsches philosophische Erstlingsschrift operiert, gemessen an
ihrem Anspruch, „metaphysische Realität" und das heißt Wahrheit zu sein,
Illusion sind. In der Nachfolge Schopenhauers geben sie sich als
Bestimmungen des Dinges an sich, des absoluten Ur-Einen — und sind doch
nur menschliche Vorstellungen: nach dem Maß des überkommenen
metaphysischen Wahrheitsbegriffes — an dem Nietzsche auch dort festhält,
wo er eingestandenermaßen keine metaphysischen Bestimmungsversuche
unternimmt — heißt das, daß sie Illusionen sind.

3. „Die Geburt der Tragödie"gelesen am physiologischen Leitfaden der


Fragmente: Wahr-Schein, Kunst, Sprache und Wissenschaft

So zeigt die „Geburt der Tragödie", obzwar versteckt, daß solche


metaphysischen Bestimmungen nicht möglich sind. Sie zeigt, daß die an
Leibniz anknüpfende metaphysische Auslegung der Welt als scheinhafte
Vorstellungsbewegung eines allein seienden und somit allein wahren
Ur-Einen, das sich in „prästabilierter H a r m o n i e " seine Anschauungen als
anschauend denkt, 64 nichts anderes als „Begriffsdichtung" ist. Damit aber
steht die tiefere Schicht der Schrift in Ubereinstimmung mit jenen sie
begleitenden Aufzeichnungen, die den Willen, das Ur-Eine der „Geburt der
Tragödie", bestimmen als die „ursprünglichste" 6 5 , als die „allgemeinste
224 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Erscheinungsform, aus der und unter der wir alles Werden und alles Wollen
einzig verstehen" 66 .
Alle diese Ansätze und Überlegungen wurden unterdrückt aus Gründen,
die wir schon früher angesprochen und von denen wir gezeigt haben, daß sie
in Wagner ihren Verbindungspunkt haben. Doch niemals konnte sich
Nietzsche an der geistigen Redlichkeit vergehen, darum der versteckte
Hinweis, daß hier eine Ubersetzung der eigenen Gedanken in die Sprache
und das Denken der Metaphysik stattgehabt hat, ein Hinweis, der die
Richtung der Rückübersetzung weist, den Weg, der in den Hintergrund des
Buches führt, wo sich das scheinbare Absolutum des Willens als „Relativum"
erweist, als anthropomorphische Bestimmung der einen Welt der
Erscheinung, die von der tiefsten uns zugänglichen Schicht des reinen
Werdens ausgeht. Und diese eine Welt ist von ihr her gesehen „falsch,
grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn". Was Nietzsche im
metaphysischen Entwurf dadurch zum Ausdruck bringt, daß er — worauf
wir noch einläßlich eingehen werden — die Hervorbringung der Welt als
Versuch des Ur-Einen deutet, den von einem ihm innewohnenden
Gegensatz bewirkten Schmerz durch Projektion, d. h. durch Selbstanschau-
ung zu mindern:
Was in dieser entsetzlichen Constellation der Dinge leben will das heißt
leben muß, ist im Grunde seines Wesens Abbild des Urschmerzes und
Urwiderspruches, muß also in unsrer Augen „weit- und erdgemäß Organ"
fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in
der Form der Zeit, also als W e r d e n . Jeder Augenblick frißt den
vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben
und Morden ist eins.67
Was übereinstimmt mit der schon früher zitierten Aufzeichnung von Ende
1870—April 1871:
Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne
erzeugt [...].
Die damit angesprochene Ubereinstimmung zwischen den Fragmenten und
den zurückgehaltenen Schriften auf der einen und der „Geburt der
Tragödie" auf der anderen Seite reicht aber noch sehr viel weiter.
Wenn Dionysos, wie gehört, im Sprachgebrauch der „Artisten-Meta-
physik" den Bereich der Wahrheit (als tiefster Scheinbarkeit) bedeutet, wir
aber Nietzsche zufolge in der Weise leben, daß wir im Schein „völlig [ . . . ]
befangen und aus ihm bestehend" (4, 34 f.) sind — wie alles Seiende tragen
wird in und an uns den Weltstreit von Dionysos und Apoll aus und sind
darum gleich jenem in seinem maßsetzenden Wesen in unserer
Gestalthaftigkeit als apollinisch zu bezeichnen —, dann heißt das, daß uns
mehr als ein Aufschein der Wahrheit (als tiefster Scheinbarkeit) nicht
zugänglich ist. „Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus
Die Geburt der Tragödie 225

unmöglich" — das meint in bezug auf das Wahrheitsproblem: der reine


Dionysismus des reinen Werdens wäre wie die absolute Wahrheit das Ende
jedweden Lebens-Fort-schrittes, kennt er doch wie sie keine Perspektive und
keinen Horizont, nämlich keinen Gesichtspunkt mehr, von dem her und auf
den hin das Endliche seit Descartes und Leibniz zu denken ist — eben darum
kann uns von Dionysos nicht mehr als ein apollinisch gefügtes Bild, ein
Schein-Bild mithin, gegeben sein: daß unsere Wahrheit nicht mehr als
Wahr-Schein sein kann, haben wir schon früher zu bedenken gegeben. 68

Dieser Wahr-Schein kann allenfalls momenthaft Aufschein der tiefsten


uns zugänglichen Schicht, der Schicht des Werdens, sein, weil er sich,
festgehalten und ergriffen, sofort zum Anschein verdüstert. Der
Wahr-Schein ist somit Aufschein der Wahrheit als tiefster Scheinbarkeit nur
im Moment des Schaffens des Scheins. Genau das aber hat die „Geburt der
Tragödie" im Auge, wenn sie die Erkenntnis des Scheins — der Welt, der
Kunst — als Schein dem schöpferischen Genius zuspricht, der —
Vorbedingung wahrhafter Kunst (5, 39) — im Schaffensprozeß seiner
Subjektivität verlustig gegangen und in „die einzige überhaupt wahrhaft
seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit" (5, 41)
eingerückt ist, als welche der Urgrund darstellt:
Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem
Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der
Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem
unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich
selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich
Dichter, Schauspieler und Zuschauer. (5, 43 f.)

Der Urkünstler ist der „Wille", der in der Sprache der Fragmente auch als
„ W e r d e n " oder „Leben" bezeichnet wird. In dieses Werden eingehen zu
können — was ja auch dem Rezipienten der Kunst abverlangt wird, dessen
Kunsterlebnis bekanntlich darin besteht, in den Zustand versetzt zu werden,
in dem das Kunstwerk geschaffen worden ist —, dieses Eingehen in das
Werden setzt die Aufgabe des für unsere alltäglichen Verrichtungen
unabdingbaren Standpunktes, des Standpunktes der Vernunft, voraus, als
welches — es soll sich leben lassen — nur kurzfristig geschehen kann. So
vermögen wir das dabei Erfahrene immer nur gleichnis-, will sagen:
scheinhaft, nämlich in ein metaphorisches, d. h. apollinisches Bild gefügt, zu
verstehen, muß doch, wie wir schon auf Seite 57 gezeigt haben, unser lumen
naturale zum Begreifen einen festen Blickpunkt voraussetzen — unser
Vorstellungsapparat ist als ÄiWiiapparat ein ScÄemapparat und als solcher
— als lumen naturale — apollinischen Wesens.
226 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess


aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem H e r z e n der Welt
zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz,
sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das „Ich" des Lyrikers tönt
also aus dem Abgrunde des Seins: seine „Subjectivität" im Sinne der
neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. (5, 40)

Warum aber spricht Nietzsche dann im Abschnitt 3 der „Geburt der


Tragödie" die Kunst zur Gänze Apollo zu, 69 wenn doch der dionysische
Rausch als Einrücken in das Werden die Vorbedingung f ü r jede wahre
Kunst abgeben soll? Und steht darüber hinaus letzteres nicht in Widerspruch
zu Nietzsches Annahme zweier Kunsttriebe, dem bildnerischen und dem
musikalisch-rauschhaften, die sich in Apollo und Dionysos versinnlichen
lassen sollen? Ist die bildnerische Kunst demnach für Nietzsche keine wahre
Kunst? Und wie verhält sich wiederum die Unterscheidung zweier
Kunsttriebe zur Inanspruchnahme Apollos für den ganzen Bereich der
Kunst?
Die erste und die letzte Frage lassen sich durch den Hinweis
beantworten, daß „dionysisch" und „apollinisch" ja relationale Begriffe
sind und man an jedem Phänomen je nachdem die eine oder die andere
Sphäre hervorheben kann. Kunst aber besitzt wie alles Seiende eine Gestalt,
eine Form, im Hinblick auf welche es Apollo zugerechnet werden kann.
(Auch der Umkehrschluß ist möglich: Alles, was im Hinblick auf seine
Formhaftigkeit, seine „Gesetztheit", Apollo zugesprochen werden muß,
kann im weitesten Sinne als Kunst bezeichnet werden, so beispielsweise der
Staat. 70 ) Als Gestalt trägt das Kunstwerk aber auch das Wogegen derselben
an sich, das „ U n - " der Gestalt, das Ungestaltete, Ungesetzte, das
Chaotische, mithin das Dionysische. Unterschieden werden die Künste dann
danach, welchen Bereich von beiden sie jeweils thematisieren und das heißt:
welchen schöpferischen Zustand sie stimulieren, den apollinischen, in dem
man in das reine Anschauen von Bildern versunken ist (ζ. B. 22, 136), oder
den dionysischen, in dem man „ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz
und Urwiederklang desselben" wird (3/1, 40). Beide Male aber handelt es
sich, gemessen am alltäglichen Lebensvollzug, um rauschhafte Zustände 7 1 :
Wenn Nietzsche in einer Aufzeichnung vom Frühjahr 188872 einen
dionysischen von einem apollinischen Rausch unterscheidet, dann beseitigt
er damit jene Unsauberkeit im Gedankengang der „Geburt der Tragödie",
welche die zweite und die dritte der oben angesprochenen Fragen veranlaßt
hat. Die Unsauberkeit nämlich, daß auf der einen Seite
der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch
Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des
Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das
Die Geburt der Tragödie 227

wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als


Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. (5, 43)
(Ein Gedanke, der mindestens so sehr aus seiner eigenen Inspirationserfah-
rung — „ich habe nie eine Wahl gehabt" 73 — gespeist ist, wie er, so
Nietzsches eigenes Bekunden, an Richard Wagner abgelesen ist.74
Uberhaupt soll ja die neue Ästhetik der „Geburt der Tragödie" der
Erkenntnis Rechnung tragen: „An Wagner ist unsre Aesthetik zu Schanden
geworden." 74 ) Auf der anderen Seite aber spricht er jenes Ereignis, in dem
die Befreiung von der Subjektivität statthat, den Rausch, allein den
dionysischen Künsten zu, was zur Folge hätte, daß die apollinischen Künste
nicht als vollwertig anzusehen wären. Das späte Fragment sucht diese
gedankliche Unsauberkeit wie gesagt dadurch zu lösen, daß es zwei Arten
von Rausch unterscheidet. Das Differenzierungsmerkmal soll dabei in einer
„tempo-Verschiedenheit" beschlossen liegen. Nietzsche führt dies jedoch
nur in bezug auf den apollinischen Rausch aus:
D i e e x t r e m e R u h e g e w i s s e r R a u s c h e m p f i n d u n g e n (strenger:
die Verlangsamung des Zeit- und Raumgefühls) spiegelt sich gern in der
Vision der ruhigsten Gebärden und Seelen-Arten. 76
Ebendieses Unterscheidungsmerkmal nennt Nietzsche aber schon in der
„Geburt der Tragödie":
Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und
Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine
ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des
Plastikers und Epikers. (5, 40)
Wenn somit auch die begriffliche Klärung fehlt, so werden doch der Sache
nach schon in dieser Schrift die Künste nach der Art des Rausches
unterschieden, den sie erzeugen. Denn die Erregung des kunstschaffenden
Zustandes ist, wie erinnerlich, das τέλος des Kunstwerkes:
Der Dichter nur möglich unter einem Publikum von Dichtern. [ . . . ] Ein
phantasiereiches Publikum. Dies ist gleichsam sein Stoff, den er formt. Das
Dichten selbst nur eine Reizung und Leitung der Phantasie. Der eigentliche
Genuß das Produziren von Bildern, an der Hand des Dichters. Also
Dichter und Kritiker ein unsinniger Gegensatz — sondern Bildhauer und
Marmor, D i c h t e r und S t o f f .
Die Entscheidung im ά γ ώ ν ist nur das Geständniß: der und der macht
uns mehr zum Dichter: dem folgen wir, da schaffen wir die Bilder
schneller. Also ein künstlerisches Urtheil, aus einer Erregung der
künstlerischen Fähigkeit gewonnen. Nicht aus B e g r i f f e n .
[ . . . ] . Alle Kunstgesetze beziehn sich auf das Ubertragen.
Aesthetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und
das Dionysische. 77
Zufolge dieser Aufzeichnung vom Sommer 1871—Frühjahr 1872 ahmt das
Kunstwerk nur vordergründig eine Handlung nach; genauer, nämlich auf
sein Wesen hin betrachtet, ist es selber eine: es ist Suggestion von Muskeln
228 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

und Sinnen. Kunst verstehen heißt dann nicht, sie bewußtseinsmäßig zu


begreifen — für Nietzsche eine mit Sokrates zur Herrschaft gelangende
Entartungsform nicht nur des Kunst-Verstehens —, sondern „eine
sympathische Innervation" 7 8 zu fühlen, d. h. letztlich selber zum Kunstwerk
zu werden. Genau in diesem Sinne bemerkt die „Geburt der T r a g ö d i e " —
indes wieder allein im Hinblick auf den dionysischen Zustand: „ D e r Mensch
ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk g e w o r d e n " (1, 25).
In dieser Hinsicht ergibt sich die Rangfolge der Künste daraus, wie stark
sie den Leib, das Affekt-System, zu stimulieren vermögen. Den
optisch-gestischen Künsten, bei denen der Rezipient nach dem Schwinden
der Subjekt-Objekt-Spaltung diese aus sich selbst heraus neu zu erzeugen
hat — er wird dazu angehalten, sich eine Bilderflucht vorzustellen, die er
dann, wie alles Sichtige, mit H e i d e g g e r zu sprechen, „in einem betonten
Sinne ,gegenüber'" 7 9 hat —, diesen apollinischen Künsten gelingt das nicht
so stark wie der dionysischen Kunst der Musik, als welche den Menschen in
einem Zustand der Auflösung seines Standpunktes, d. h. der Entrückung
hält, weswegen der junge Nietzsche ihre „ W i r k u n g ,eine dämonische'" 8 0
nennt. Im September—Oktober 1862 zeichnet er „Ueber das Wesen der
M u s i k " auf:
Der ursprüngl(iche) Eindruck dämonischer Natur, weder Gefühl noch
Intellekt. Unbewußtes Fortgerissenwerden81.
U n d im Frühjahr 1863 findet sich folgende Aufzeichnung über das
Verhältnis von optischen und akustischen Reizen (— im übrigen ein weiterer
Beleg dafür, daß Nietzsche auch die optische Sphäre von der Musik her,
nämlich als unsichtbare Schwingung denkt):
Die den optischen Reizen zu Grunde liegende Bewegung eine aus
überirdisch(en) Sphaer(en) stammende, unendlich viel raschere und
subtilere kaum wahrgenommen, sondern als ruhiger bewegungsloser
Körper erscheinend; die optische uns fernerliegend äußerlicher objektiver
die akust(ische) mehr innerlicher näherliegender. 82
Im Rahmen seiner philologischen Studien über antike Rhythmik, aus denen
im Jahre 1871 eine „Theorie der quantitirenden R h y t h m i k " , sein einziges
einigermaßen bedeutsames Philologicum, hervorgegangen ist, bedenkt
Nietzsche im Zeitraum Sommer 1872—Anfang 1873 jene Fähigkeit der
Musik, den Leib zu stimulieren, im Hinblick auf die „Kraft des R h y t h m u s " :
Ich vermuthe, dass die sinnliche Kraft des Rhythmus darin liegt, dass zwei
aufeinander wirkende Rhythmen sich in der Weise bestimmen, dass der
umfassende den engeren eintheilt. Die rhythmischen Bewegungen des
Pulses usw. (des Ganges) werden durch eine M a r s c h m u s i k wahrschein-
lich neu gegliedert, wie dem Schritt sich der Pulsschlag akkommodirt.
Wenn ζ. B. der Pulsschlag dieser ist: 1 _ 2 3 4 5 6 7 8, so mag bei 1 4 7 ein
Schlag gehört werden: und dies immer so fort. Ich glaube, dass die
Blutwelle von 14 7 allmählich höher geworden ist als 2 3 5 6 8. Und da der
Die Geburt der Tragödie 229

ganze Leib eine Unzahl von Rhythmen enthält, so wird durch jeden
Rhythmus wirklich ein direkter Angriff auf den Leib gemacht. Alles bewegt
sich plötzlich nach einem neuen Gesetz: nicht zwar so, dass die alten nicht
mehr herrschen, sondern dass sie bestimmt werden. Die physiologische
Begründung und Erklärung des Rhythmus (und seiner Macht). 83
Den Rhythmus selber aber rechnet er wie den Takt 8 4 und die Dynamik (vgl.
Seite 230) zur apollinischen Sphäre der am meisten dionysischen Kunst, als
welche die Zeitkunst der Musik darstellt. Harmonie und Melodie zählt er
hingegen zur dionysischen Seite der Musik. Die „erschütternde Gewalt des
Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche
Welt der Harmonie", die allesamt in der homerisch-griechischen Welt
ferngehalten wurden (2, 29), sie machen mithin das Wesen der Musik aus,
will sagen: sie tonisieren den Leib nach Nietzsches Erfahrung am
gewaltigsten.
In der „Geburt der Tragödie" und ihren Vorstufen verunklärt Nietzsche
diesen physiologischen Ansatz dadurch, daß er die neue Sichtweise, wie er
selber im „Versuch einer Selbstkritik" beklagt, „in Schopenhauerischen und
Kantischen Formeln" 8 5 zur Sprache bringt; womit Nietzsche meint, daß die
physiologische Ästhetik zur Metaphysik hin — das W o r t in seinem Sinne
verstanden — überstiegen wird. So bemerkt er im Rahmen seiner
rhythmischen Untersuchungen:
Der Rhythmus ist ein V e r s u c h z u r I n d i v i d u a t i o n . Damit
Rhythmus da sein könne, muss Vielheit und Werden da sein. Hier zeigt
sich die Sucht zum Schönen als Motiv der Individuation. Rhythmus ist die
Form des Werdens, überhaupt die F o r m d e r E r s c h e i n u n g s w e l t . 8 6
Es ist dies die kosmologische Fassung einer kurze Zeit früher entstandenen
Aufzeichnung, in der Nietzsche seine Überlegungen zur „ K r a f t des
Rhythmus" resümiert:
Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung
der Zellen. Der Einfluss des Rhythmus scheint mit eine unendlich kleine
Modification jener rhythmischen Bewegung zu sein. 87
Am deutlichsten zeigt sich jener — schon bei Schopenhauer statthabende —
Überstieg von der Physiologie zur Metaphysik in der nachfolgenden Passage
aus „Die dionysische Weltanschauung". Nietzsche geht dort, wie auch in
einem bereits angesprochenen, etwas später entstandenen nachgelassenen
Fragment (siehe Seite 171 ff.) von dem Gedanken aus, daß der T o n „die
verschiedenen Weisen der Lust und der Unlust — ohne jede begleitende
Vorstellung" — d. h. ohne jede bewußte oder gedankliche Vorstellung, die
begrifflich erfaßbar wäre — „symbolisirt" 88 . Neben der T o n - und der
Gedankensprache nimmt Nietzsche noch eine „Geberdensprache" als
gegeben an:
230 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Alles, was wir zur Charakteristik der verschiedenen Unlustempfindungen


aussagen können, sind Bilder von den durch die Symbolik der Geberde
deutlich gewordenen Vorstellungen: z.B. wenn wir vom plötzlichen
Schreck, vom „Klopfen, Ziehen, Zucken, Stechen Schneiden Beißen
Kitzeln" des Schmerzes reden. Damit scheinen gewisse „Intermittenzfor-
m e n " des Willens ausgedrückt zu sein, kurz — in der Symbolik der
Tonsprache — die R h y t h m i k . Die Fülle der Steigerungen des Willens,
die wechselnde Quantität von Lust und Unlust erkennen wir wieder in der
D y n a m i k des Tons. Aber das eigentliche Wesen desselben birgt sich,
ohne sich gleichnißweise ausdrücken zu lassen, in der H a r m o n i e . Der
Wille und sein Symbol — die Harmonie — beide im letzten Grunde die
r e i n e L o g i k ! Während die Rhythmik und die Dynamik gewissermaßen
noch Außenseiten des in Symbolen kundgegebenen Willens sind, fast noch
den Typus der Erscheinung an sich tragen, ist die Harmonie Symbol der
reinen Essenz des Willens. In Rhythmik und Dynamik ist demnach die
Einzelerscheinung als Erscheinung noch zu charakterisiren, v o n d i e s e r
Seite kann die Musik zur K u n s t des Scheins a u s g e b i l d e t
w e r d e n . Der unauflösliche Rest, die Harmonie spricht vom Willen
außerhalb und innerhalb aller Erscheinungsformen, ist also nicht bloß
Gefühls- sondern W e l t s y m b o l i k . Der Begriff ist in s e i n e r Sphäre
ganz unmächtig. 89

„Ohne sich gleichnißweise ausdrücken zu lassen": das erinnert uns an jene


gleichnishafte Frage, die Nietzsche am Ende der Vorstufe von „Ueber
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" als Ausdruck der
Erkenntnis formuliert hatte, daß man über jene tiefste Schicht der
Erscheinungswelt, den Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit, sprachlich
nur in hohem Maße gleichnishaft reden kann, weitaus weniger gleichnishaft,
am wenigsten scheinhaft, mit der Musik. Von ihr hat sich jedoch jetzt
gezeigt, daß sie in manchen Aspekten scheinhafter, will sagen: der
Individuation, der Gestalthaftigkeit zugekehrter ist als in anderen. Es sind
dies ihre zähl- und meßbaren Parameter: Takt, Rhythmik und Dynamik.
Bezogen auf Schopenhauer und seine „Hypothese", wonach „die Welt der
Zahl [ . . . ] die Erscheinungsform des Willens [ist]"90, heißt das aber, daß in
der Musik nicht nur das Abbild — in Nietzsches Sprache: das Gleichnis —
des Willens als der metaphysischen Seite der Welt gesehen werden muß,
sondern daß sie, wie Nietzsche im Winter 1869/70—Frühjahr 187091
bemerkt, die
[s]trenge Scheidung beider Welten

— der physischen und der metaphysischen Welt — gleichnishaft zur


Erscheinung bringt:
Gleichniß an der Musik: auf der einen Seite reine Z a h l
auf der andern reiner W i l l e .
Die Geburt der Tragödie 231

Bedenkt man zudem, daß in Nietzsches eigentlicher Sichtweise die von


Schopenhauer als metaphysisch bezeichnete Seite der Welt „physisch" bleibt
— im oben zitierten Text kündet die Formulierung: „die Harmonie spricht
vom Willen außerhalb und innerhalb aller Erscheinungsformen" 9 2 von dem in
der „Geburt der Tragödie" vollzogenen Ubergang von der einen zur
anderen Sichtweise —, dann wird deutlich, daß Nietzsche in diesen
Aufzeichnungen kurz davor steht, den Gedanken des Weltstreites von
Dionysos und Apoll zu denken: Dieses Gegensatzpaar wurde dann im
Sommer 1870 in der Abhandlung „Die dionysische Weltanschauung" als
Schlüssel zur Deutung der griechischen Tragödie eingeführt.
Daß sich in der „Geburt der Tragödie" beide Ansätze, derjenige der
Schopenhauerschen Willensmetaphysik und der eigene des Weltstreites,
überlagern, verursacht im Text zahlreiche Brüche. Der vielleicht
bedeutsamste findet sich in dem Entwurf einer Hierarchie der Künste, auf
den wir im folgenden kurz eingehen wollen.
Die Rangfolge akustische-gestische-optische Künste wird entgegen
Nietzsches eigener Grunderfahrung nicht „physiologisch" — will sagen:
mit der Art des Rausches, den sie jeweils erzeugen —, sondern metaphysisch
mit Schopenhauerschen Termini begründet: Die Musik stehe deshalb am
höchsten, weil sie nicht, wie alle anderen Künste
Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei
und also z u a l l e m P h y s i s c h e n d e r W e l t d a s M e t a p h y s i s c h e ,
zu aller Erscheinung das D i n g an sich darstelle. (16, 100)
Und er zitiert Schopenhauer 9 3 :
Man könnte demnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als
verkörperten Willen nennen (16, 102).
Daraus soll nun aber erklärlich sein zum einen,
warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der
Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt (16, 102)94,
zum anderen aber, warum unsere Phantasie sich angeregt fühlt, die Musik
„in einem analogen Beispiel uns zu verkörpern" (16, 103): Wie
Schopenhauer in der Sprache der Scholastik sagt 95 , gibt die Musik
gegenüber der Wirklichkeit als den „universalia in r e " die „universalia ante
rem".
Muß somit im Hinblick auf die Schopenhauersche Willensmetaphysik
der Tonkunst — will sagen: der „absoluten", „von Funktionen, Worten,
Handlungen und schließlich sogar von irdisch greifbaren Gefühlen und
Affekten" 9 6 losgelösten Musik — der höchste Rang zugesprochen werden,
so scheint im Hinblick auf den Weltstreit von Dionysos und Apoll die
Tragödie bzw., als deren Wiedergeburt in neuerer Zeit, das Musikdrama —
konkret: Wagners „Tristan und Isolde" — den ersten Platz für sich zu
beanspruchen. Doch hat die Tatsache, daß die „Geburt der Tragödie" das
232 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Musikdrama an die Spitze der neuzeitlichen Kunsthierarchie stellt, nur


mittelbar etwas mit ihrem Grundgedanken des Weltstreits zu tun.
Unmittelbar ist dies vielmehr in der von Carl Dahlhaus als „verwirrend
paradox" bezeichneten 97 ideengeschichtlichen Situation der Schrift
begründet.
In Wagners „Tristan" stellt ihren Ausführungen zufolge die sichtbare
Handlung in Ausprägung vor allem der mehr scheinhaften Seiten der Musik
gleichnishaft dar, was diese in höchster Allgemeinheit zum Ausdruck bringt,
das Urleiden der Welt, das rastlose Streben des Willens zum Leben und
damit auch zur Vernichtung, kurz: das fortwährende Werden der Welt —
den „Geist" der Musik, den auch die Tragödie gleichnishaft zur
Erscheinung bringt:
Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der
instinctiv unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes: der
Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil
er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine
Vernichtung nicht berührt wird. (16, 104)
Im Ausgang von der Schopenhauerschen Musikmetaphysik kehrt Nietzsche
mithin den ästhetischen Fundamentalsatz, von dem Wagner in „ O p e r und
D r a m a " in polemischer Absetzung von der Operntradition ausgegangen
war, um und erklärt das Drama zur Funktion der Musik, ohne daß er dabei
jedoch — wie er später meinte behaupten zu dürfen 9 8 — den geltenden
Ansichten seines Freundes widerspricht. Denn dieser selbst hat bei seiner
Bekehrung vom Feuerbach-Adepten, „der die leibhafte Existenz des
Menschen — also im Drama die sichtbare Aktion — akzentuierte" 9 9 , zum
Schopenhauer-Jünger die tragenden Thesen seiner Reformschriften
zwangsläufig revidiert. Auch er hört jetzt aus der „Orchestermelodie" des
musikalischen Dramas das „innerste Wesen" der Vorgänge heraus. Belegt
ist dies durch die 1870 entstandene, von Nietzsche emphatisch
aufgenommene 1 0 0 Beethoven-Abhandlung, in der es in Bezugnahme auf die
szenisch-mimische Aktion von der Musik heißt: Sie spricht
das innerste Wesen der Gebärde mit solch unmittelbarer Verständlichkeit
aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser
Gesicht f ü r die intensive Wahrnehmung der Gebärde depotenziert, so daß
wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen. 101
Wenngleich er sich damit, wie auch Carl Dahlhaus bemerkt, 102 die mit dem
Terminus absolute Musik bezeichnete Idee zu eigen gemacht hat, mithin
auch für ihn als „Opern"komponisten die Instrumentalmusik — in seinem
Falle: die symphonische Orchestermelodie — nunmehr das Wesen der Welt
ausspricht, so konnte er doch den Terminus selber nicht verwenden: die
Erinnerung an den polemischen Sinn des von ihm aufgebrachten, einen
Die Geburt der Tragödie 233

defizienten Modus der Musik bezeichnenden Wortes 103 vermochte er nicht


auszulöschen.
Anders Nietzsche, der in einem nicht veröffentlichten Fragment aus dem
Umkreis der „Geburt der Tragödie" 1 0 4 explizit nur in Widerspruch zu Franz
Brendels Theorie der Programmusik, implizit aber auch in Entgegensetzung
zu Wagners früherer und in Ubereinstimmung mit dessen gegenwärtiger
Ästhetik des musikalischen Dramas folgendes bemerkt:
Was sollen wir also von jenem ungeheuerlichen aesthetischen Aberglauben
halten, daß Beethoven, mit jenem vierten Satz der Neunten selbst ein
feierliches Bekenntniß über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben,
ja mit ihm die Pforten einer neuen Kunst gewissermaßen entriegelt habe, in
der die Musik sogar das Bild und den Begriff darzustellen befähigt und
damit dem „bewußten Geiste" erschlossen worden sei?105
Auch die Oper — wie schließlich, das belegt die „Geburt der Tragödie", das
Wagnersche Musikdrama — kann er nur als absolute Musik wahrnehmen:
so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter,
dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten
dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinn ist dann
freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die abgespielte
Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters,
vor allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der
Einsichtige sich lachend abwendet.106
Doch geht er in dieser Ablehnung der Oper nur vordergründig gesehen mit
den Thesen der Wagnerschen Ästhetik konform, hintergründig betrachtet,
spricht sich darin seine in der Zeit der Freundschaft mit Wagner
zurückgedrängte Abneigung gegen das Theaterwesen überhaupt 107 aus —
eine Abneigung, die nicht bloß in manchem frühen Brief 108 nur anklingt,
sondern auch den zum ersten Male Anfang 1874—Frühjahr 1874 in privaten
Aufzeichnungen erhobenen, im Zentrum der späteren Wagner-Kritik
stehenden Vorwurf trägt, daß dieser „ein versetzter Schauspieler" 109 sei.
Daß Nietzsche trotz dieser Abneigung gegen das Theater in seiner
philosophischen Erstlingsschrift die Tragödie bzw. das Musikdrama
Wagners zur höchsten Kunstgattung erhebt, hat — einmal abgesehen von
den apologetischen Absichten — seinen ersten wichtigen Grund in den via
Wagner durch Feuerbach mitgeprägten, Nietzsches gesamten Denkweg
leitenden Vorstellungen von einer ganzheitlichen leibhaften — dionysisch
bestimmten — Existenz des Menschen, 110 die er der griechischen Frühzeit
der abendländischen Geschichte zuspricht. Diese Epoche, auf deren
Wiedergeburt er hofft, betrachtete aber die Tragödie als höchste
Kunstgattung. Weil er auf diese jedoch die ästhetische Erfahrung überträgt,
die er mit den Wagnerschen Musikdramen gemacht hat, 111 scheint uns der
wichtigste Grund für die Bevorzugung von Tragödie und Wagnerschem
Musikdrama — als deren vermeintliche Neugeburt — in der Tatsache
234 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

beschlossen zu sein, daß Nietzsche mit „Musik" allein die von ihm als
absolut gehörte symphonische Orchestermelodie Wagners versteht („Denn
genau das ist Musik und nichts sonst!"), als welche die apollinischen
Elemente im dionysischen Geiste traktiert und so eine Bändigung außerhalb
ihrer eigenen Sphäre suchen muß — in der aus ihrem Geiste geborenen
mythischen Handlung: Darum nämlich kann Nietzsche jetzt noch nicht der
Musik selber zusprechen — auch später muß er es bei Worten der Hoffnung
belassen (siehe Anmerkung 259 zum vorigen Abschnitt) —, was er
vorderhand im Musikdrama erblickt, die strittigste Form des Streites von
Dionysos und Apoll.
So bemerkt Nietzsche in den zurückgehaltenen Notizen seiner ersten
Wagner-Kritik von Anfang 1874—Frühjahr 1874:
Das Aufhören der grossen rhythmischen Perioden, das Übrigbleiben der
Taktphrasen, macht allerdings den Eindruck der Unendlichkeit, des
Meers: aber es ist ein Kunstmittel, nicht das reguläre Gesetz, zu dem es
Wagner stempeln möchte. Wir haschen zuerst darnach, suchen uns
Perioden, werden immer wieder getäuscht, und endlich wirft man sich in
die Wellen. 112
Eingedenk dieser Erfahrung stellt Nietzsche an die Adressaten der „Geburt
der Tragödie" die Frage,
ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von
„Tristan und Isolde" ohne alle Beihülfe von W o r t und Bild rein als
ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter
einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen?
(21,131)
So hat der tragische Mythus nicht nur die Aufgabe, „als Gleichniss der
alleruniversalsten Thatsachen" zu fungieren, „von denen allein die Musik
auf directem Wege reden kann" (21, 132), vielmehr soll uns die Handlung
der Tragödie oder des Musikdramas auch vor der Gewalt der Musik
schützen, die umgekehrt gerade dadurch — und das stimmt mit unseren
Ausführungen über das Wesen des Streites überein — „erst die höchste
Freiheit" zuteil wird:
Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den
dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus,
und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes
Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei.
Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum
dithyrambischen T a n z e bewegen und sich unbedenklich einem orgiasti-
schen Gefühle der Freiheit hingeben, in welchem sie als Musik an sich,
ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. [ . . . ] . D a f ü r
verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so
eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie
W o r t und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und
insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes
Die Geburt der Tragödie 235

sichere V o r g e f ü h l einer höchsten Lust, zu der der W e g durch U n t e r g a n g


und V e r n e i n u n g führt, so dass er zu hören meint, als ob der innerste
A b g r u n d der D i n g e zu ihm spräche. (21, 130 f.)
Entscheidend ist bei diesem Zitat das „Als ob", wird damit doch auf den
metaphysischen Trost angespielt, mit dem die Tragödie das Entsetzende der
tragischen Erkenntnis zu bändigen sucht, daß alles Lebende dem Tode
anheimgegeben ist, 113 daß alles Sein im Strudel des Werdens unterzugehen
ist. Metaphysisch ist dieser Trost aber insofern, als die Tragödie dem
haltlosen Werden den Charakter des Seins aufprägt — „dass das Leben im
Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar
mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhaftiger Deutlichkeit
als Satyrchor" (7, 52) — und so dem Menschen die Möglichkeit der
Sinnsetzung gewährt.
Ähnlich ist es auch mit den anderen Künsten. Sie alle erwachsen aus
jener tragischen Erkenntnis — schöpferisch macht für Nietzsche allein das
Leiden —, sind indes nach der Art und Weise unterschieden, in der sie auf
diese und auf die in ihr aufscheinende Schicht des Werdens bezogen bleiben,
ob sie nämlich, wie die apollinischen Künste Malerei und Plastik, auf die
Erscheinungs-, d. h. auf die Seinswelt, oder, wie die für Nietzsche höher
stehenden dionysischen Künste Tragödie und Musikdrama, auf die
Musikwelt, d. h. auf das Werden, hindeuten. Niemals aber kann der andere
der beiden Streitpartner fehlen — andernfalls die Fuge des in sich
zwiefältigen Um-risses und mit ihr die künstlerische Gestalt überhaupt zum
Verschwinden gebracht würde. Die Fuge kann allenfalls dem Betrachter aus
dem Blick geraten.
Was für die Künste gilt, gilt auch für die Sprache, in der Nietzsche, wie
wir wissen, die Verschmelzung von Ton, als Symbol des Willens, und
Gebärde, als Symbol der begleitenden Vorstellung, erkennt. Als, wie es in
der „Geburt der Tragödie" heißt (6, 47), „Organ und Symbol der
Erscheinungen" gleich der Kunst an sich apollinischen Wesens, steht sie
damit für ihn, wie schon für Hegel, zwischen Musik und Plastik, so daß sie
von daher — entsprechend dem höchsten Kunstwerk der attischen Tragödie
— wesensmäßig als der strittigste Widerstreit von Dionysos und Apoll zu
begreifen ist. Das aber bedeutet, daß Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut
für Nietzsche wie bereits für Humboldt und später auch für Saussure durch
einander sind.
Bild und bedeutungsvoller Sprachlaut sind durch einander —
gesprochen im Hinblick auf das zeichentheoretische Modell des Genfer
Linguisten heißt das (— bei welchem Vergleich man natürlich im Auge
haben muß, daß Nietzsche dessen Grundgedanken des Oppositionssystems
nicht kannte): signifiant und signifie konstituieren einander wechselseitig im
236 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

einigen Streite, wobei la barre, der sie trennend-verbindende Balken des


Algorithmus der Fuge der Dinge entspricht, mit denen die Sprache als
ebenfalls Seiendes notwendig übereinkommt. Das aber bedeutet, daß die
Sprache nur dort wesensgemäß spricht, wo dieser Streit aufrechterhalten
wird; was besagt, daß sich der sprechende Mensch um bildliche, die
Erscheinungen der Welt vorstellende Sprachdarstellungen bemühen soll, im
Bewußtsein indes, daß sie Erscheinungen, vergängliche Gleichnisse,
Metaphern des im Lautkontinuum symbolisierten Willens sind, der als
Grund der Welt sich für uns nur in solchen Erscheinungen fortzeugt. Und
nur wenn der Mensch in dieser Weise, dem Wesen der Sprache
entsprechend, spricht, entspricht er, das sprechende Wesen, dem Wesen der
Welt, das für uns als Widerstreit von Dionysos und Apoll west, nur dann
zeugt er aber auch sprechend den Weltstreit fort, als welcher sich das Leben
vollzieht — unsere früheren Ausführungen über die Sprache werden mithin
bestätigt.
Solchem wesentlichen Sprechen, als das Nietzsche, wie wir wissen, in
Ubereinstimmung mit der Tradition seit Herder das dichterische Sprechen
begreift, bieten sich nun aber drei Möglichkeiten des Sprechens an:
J e nachdem [ . . . ] das Wort vorwiegend als Symbol der begleitenden
Vorstellung oder als Symbol der ursprünglichen Willensregung wirken
soll, je nachdem also Bilder oder Gefühle symbolisirt werden sollen,
scheiden sich zwei W e g e der Poesie ab, das E p o s und die Lyrik. D e r erste
führt zu der bildenden Kunst, der andre zur Musik: die Lust an der
Erscheinung beherrscht das Epos, der Wille offenbart sich in der Lyrik.
Jenes löst sich von der Musik los, diese bleibt mit ihr im Bunde.' 1 4
Das eine Mal ist das Sprechen, das als solches im Verhältnis zur Musik
apollinisch genannt werden muß, darum mehr als dionysisch, das andere
Mal mehr als apollinisch zu bewerten. Höchste Form des Sprechens ist aber
der dionysische Dithyrambus, in dem „der dionysische Schwärmer zur
höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Vermögen gereizt" 1 1 5 wird,
Apollinisches und Dionysisches in ihre höchsten Sprach-Möglichkeiten
gelangen.
Von der Musik und der durch sie symbolisierten Sphäre reden somit nur
die Lyrik und der Dithyrambus, und dies, wie es in der Natur der Sprache
liegt, zumindest, was die Inhaltsseite, die Seite der begleitenden Vorstellung
angeht, notwendigerweise metaphorisch — während das Epos über ihre
Sphäre hinausgeht, jedoch insofern auf sie bezogen bleibt, als es die von ihm
ins Auge gefaßten Erscheinungen als Erscheinungen des Urgrundes der
Welt auffaßt. Mit der Musik aber reden alle drei Sprecharten — und sind so
als apollinisch-gefügte Erscheinungen auf das innigste dem Um-riß des
dionysischen Werdens und Vergehens, als Bleibendes dem Flüchtigen in der
Zeit ausgesetzt: zumindest solange sie geredet werden. Denn die
Die Geburt der Tragödie 237

Verschriftlichung entzieht die Sprache der Einwirkung der Zeit — und


leistet so der Entartung der Sprache zur reinen Begriffssprache Vorschub,
die — wie schon angesprochen — die Weltverhaltung des Sokratismus —
von Nietzsche bisweilen auch als „Alexandrinismus" bezeichnet — prägt.
Dieser Sokratismus bestimmt, seitdem er die tragische Weltverhaltung
als herrschende Lebens- und Kulturform ablöste, ohne Unterbrechung die
abendländische Geschichte:
Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur
befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften
ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n
M e n s c h e n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. (18, 112)
Diese „Kultur"form ist, wie wir schon ausgeführt haben, dadurch
ausgezeichnet, daß sie sich vor der Unergründlichkeit der Welt, vor dem
Rätsel von Werden und Vergehen fürchtet und sich darum an die begrifflich
festgestellten und damit von ihrer Lebenswurzel abgeschnittenen histori-
schen Erscheinungen klammert, ohne zu bemerken, daß ihr dabei das Leben
zu bloßen Worthülsen verkommt: Im sprachlichen Begriff hat keine
eigentliche, nämlich unmittelbare Aus-einander-setzung des dionysischen
Lebensvollzuges mehr statt, so daß der schöpferische Fort-schritt des Lebens
im Sokratismus nahezu zum Stillstand kommt.
„ U n d weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo", sagt
Nietzsche formelhaft über diese Kultur und meint damit, daß in ihrer von
der Wissenschaft geprägten Weltverhaltung der Blick vom dionysischen
Weltgrund ab- und zu den Erscheinungen hingewendet wurde, so zwar, daß
man bei ihrer Erforschung den Um-riß ins Ungeheure des maßlosen
Werdens und damit die Endlichkeit alles Seienden ausgeblendet hat; „und
deshalb ist", schreibt Nietzsche,
das Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s als des durch Wissen und Gründe
der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem
Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert,
nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen
zu machen [...]. (15, 95)
„ D a s Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu
machen": das ist das Gegenwort zur tragischen Kultur, für die, wie wir noch
zeigen werden, das Dasein nur ästhetisch zu rechtfertigen ist, weil sie es als
unbegreiflich erkennt. Mit Sokrates ist dieses von der Erfahrung der
Endlichkeit des Menschen bestimmte Zeitalter darum gestorben, weil in ihm
und durch ihn
eine tiefsinnige W a h n v o r s t e l l u n g [ . · · ] zur Welt kam, jener
unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der
Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das
Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n
im Stande sei. (15, 95)
238 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Daß Nietzsche hierbei den historischen Sokrates im Sinne seines Entwurfs


einer monumentalischen Historie zu einer mythischen Gestalt stilisiert, wird
vor allem an seinen Ausführungen über Euripides deutlich, der die
vernunftgeprägte Weltverhaltung in der Tragödiendichtung und damit in
der Kunst überhaupt — wesenswidrig — zur Herrschaft gebracht haben
soll: Aus ihm habe, laut Nietzsche, „nicht Dionysus, auch nicht Apollo,
sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S o k r a t e s " (12, 79)
geredet. So erblickt Nietzsche im historischen Sokrates
das Urbild des theoretischen Optimisten, der in d e m bezeichneten G l a u b e n
an die Ergründlichkeit der N a t u r der D i n g e dem Wissen und der
Erkenntniss die K r a f t einer Universalmedizin beilegt und im Irrthum das
U e b e l an sich begreift. In jene G r ü n d e einzudringen und die w a h r e
Erkenntniss v o m Schein und v o m Irrthum zu sondern, dünkte d e m
sokratischen M e n s c h e n der edelste, selbst der einzige w a h r h a f t
menschliche Beruf zu sein [ . . . ] (15, 96).
Alles, selbst
die erhabensten sittlichen T h a t e n , die R e g u n g e n des Mitleids, der
A u f o p f e r u n g , des H e r o i s m u s und jene schwer zu erringende Meeresstille
der Seele, die der apollinische Grieche S o p h r o s y n e nannte, w u r d e [ . . . ] von
S o k r a t e s und seinen gleichgesinnten N a c h f o l g e r n bis auf die G e g e n w a r t
hin aus der D i a l e k t i k des Wissens abgeleitet und d e m g e m ä s s als lehrbar
bezeichnet. (15, 97)
Allein diese „sokratische Lust des Erkennens" mit Hilfe des „Mechanismus
der Begriffe, Urtheile und Schlüsse" — „von Sokrates ab als höchste
Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen
Fähigkeiten geschätzt" (15, 96 f.) — hält den Menschen des Alexandrinis-
mus im Leben fest und zwingt ihn zum Weiterleben.
Wir haben schon ausführlich dargelegt, warum Nietzsche zufolge durch
diese Weltverhaltung die Gefahr der Weltvernichtung droht. Doch weiß er
gleich dem Lieblingsdichter seiner Jugendjahre, dem damals noch weithin
unbekannten Friedrich Hölderlin:
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Nietzsche meint damit, wie wir wissen, daß jener der Wissenschaft „als
Instinct" beigegebene „erhabene metaphysische Wahn", „dass das Denken
das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n im Stande
sei", „sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen [führt], an denen sie in
K u n s t " — nämlich in den Mythus — „umschlagen muss: a u f w e l c h e es
e i g e n t l i c h , b e i d i e s e m M e c h a n i s m u s , a b g e s e h n i s t . " (15, 95)
Ihm zufolge
eilt die W i s s e n s c h a f t , von ihrem kräftigen W a h n e angespornt,
u n a u f h a l t s a m bis zu ihren G r e n z e n , an denen ihr im W e s e n der L o g i k
v e r b o r g e n e r O p t i m i s m u s scheitert. (15, 97)
Die Geburt der Tragödie 239

Die Logik, die den Leitfaden der Wissenschaft abgibt, reflektiert sich selbst
und muß erkennen, daß sie auf unlogischen Voraussetzungen basiert — die
„Wahnvorstellung als solche" wird erkannt, „welche, an der H a n d der
Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu
können." (18, 114) Der „edle und begabte" sokratische Mensch, der sich
furchtvoll die Frage stellt, wie er jemals den Kreis seiner Wissenschaft völlig
ausmessen soll, trifft, wie Nietzsche glaubt,
noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche
Grenzpunkte der Peripherie, w o er in das Unaufhellbare starrt. W e n n er
hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um
sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst — da bricht die
neue Form der Erkenntnis durch, d i e t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s , die,
um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.
(15, 97)
Diese tragische Erkenntnis beruht darin, daß der Mensch erkennen muß, das
innerste Wesen der Welt nicht erkennen zu können — eine Erkenntnis, die
f ü r den sokratischen Menschen gerade deshalb so grausam ist, weil er sich
damit radikal auf dasjenige zurückgeworfen sieht, was er fliehen wollte: auf
seine Endlichkeit. Mithin erschließt sich ihm in der tragischen Erkenntnis
von der Begrenztheit seines Erkenntnisvermögens dasjenige, was für die
Griechen die tragische Erkenntnis gewesen ist: das Wissen um das ewige
Leiden der Welt. Damit aus diesem Wissen aber nicht ein lebensverneinen-
der oder, wie Nietzsche sagt, ein „praktischer Pessimismus" (15, 96), ein
Pessimismus der Schwäche, erwächst, der Optimismus der wissenschaftli-
chen Weltverhaltung vielmehr in einen lebensbejahenden Pessimismus,
einen Pessimismus der Stärke, überführt wird, bedarf es jedoch der
Tröstungen der Kunst: Das zeigen dem sokratischen Menschen nicht nur die
Griechen des tragischen Zeitalters, vielmehr geht dies auch aus seiner
eigenen Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens hervor, die den
Erkenntnisapparat als Kunstapparat ausweist. Die Natur selber hat somit
schon Vorkehrungen „ z u r Abwehr jenes Pesthauchs" (15, 97) der
Verzweiflung über die Furchtbarkeit des Lebens getroffen. Als Folge dieser
Erkenntnis kann aber auch jene Verzweiflung des sokratischen Menschen
über die Begrenztheit seiner Erkenntniskraft umschlagen in eine
Dankbarkeit dem Leben gegenüber — eine Verwandlung, die überdies um
so eher eintreten sollte, als in dieser Erkenntnis auch ein Ausweg aus den
quälenden Labyrinthen der Wissenschaft gewiesen ist.116
Letzteres darf indes nicht so verstanden werden, als habe man nun die
Wissenschaft ganz aufzugeben. Im Gegenteil: auch sie ist, wie Nietzsche
dankbar vermerkt (15, 96), gleich der Religion ein movens des Lebens. Sie
soll nur fortan anders betrieben werden, nämlich im Bewußtsein ihrer
Grenzen, genauer: im Bewußtsein der einen Grenze, der Fuge des in sich
240 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

zwiefältigen Um-risses. Sie soll mithin als Kunst im weitesten Sinne


aufgefaßt werden — dort wie hier wird ja gleich gedacht —, ohne daß sie
man sie dabei doch wie die Kunst im engeren Sinne traktieren dürfte. Hielte
die Wissenschaft nämlich nicht mehr am — wie sie nun weiß: unerreichbaren
— Begriff der Wahrheit als adaequatio fest, so müßte das lebensnotwendige,
weil den schöpferischen Fort-schritt ermöglichende Wissen um die
Scheinhaftigkeit nicht nur der Kunst, sondern des Lebens selber
verlorengehen. Wissenschaft und Kunst treten mithin in einen in sich
einigen, nämlich das Leben forttreibenden Wettstreit ein. Dieser kann
insofern selber der Kunst im weitesten Sinne zugerechnet werden, zum
einen, als dort wie hier, in Wissenschaft wie Kunst, gleich gedacht wird, zum
anderen, als er maßsetzend ist. Er gibt sich mithin als eine Abart des
Weltstreites von Dionysos und Apoll zu erkennen — was noch deutlicher
wird, wenn man bedenkt, daß der Wissenschaft in diesem Streit vor allem
das Geschäft der Zersetzung und Zerstörung, der Kunst hingegen vor allem
die Aufgabe des Bauens obliegt.
Nietzsches Symbol dafür, daß „die Kunst [ . . . ] ein nothwendiges
Correlativum und Supplement der Wissenschaft" (14, 92) darstellt, ist der
musiktreibende Sokrates: Im „ P h a i d o n " (60 e) läßt Piaton den inhaftierten
Sokrates berichten, daß er nach seiner Verurteilung zum Tode endlich jener
inneren Stimme gefolgt sei, die ihm schon lange befohlen habe, Musik zu
treiben. Nietzsche erkennt darin des ,,despotische[n] Logikers" einziges
„Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur:
vielleicht — so musste er sich fragen — ist das mir Nichtverständliche", die
von ihm bekämpfte Kunst, „doch nicht auch sofort das Unverständige?
Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt
ist?" (14, 92)
Diese Weisheit ist die dionysische Weisheit, für die in unserer Zeit Kant
und Schopenhauer die Augen geöffnet und der Wagner in seinen
Musikdramen Ausdruck verliehen haben soll. Sie kann auch als künstlerische
Weisheit bezeichnet werden, nicht nur, weil sie der Kunst aus dem Wissen
um die Grenzen der Wissenschaft den höchsten Rang zuspricht, sondern
mehr noch, weil sie nur in der künstlerischen Gestaltung des Mythos
ergriffen werden kann: Das wichtigste Merkmal der tragischen Kultur, die
nach Nietzsches H o f f n u n g nunmehr eingeleitet ist, muß ihm zufolge darin
gesehen werden,
dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt
wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen A b l e n k u n g e n der
Wissenschaften, mit u n b e w e g t e m Blicke dem Gesammtbilde der W e l t
z u w e n d e t und in diesem das e w i g e Leiden mit sympathischer
Liebesempfindung als das eigne Leiden z u ergreifen sucht. (18, 114)
Die Geburt der Tragödie 241

Wie dies in der „Geburt der Tragödie" selber schon geschieht, die über die
dionysische Weisheit nicht nur redet, sondern sie auch — folgt man den
obigen Ausführungen: zwangsläufig — gestaltet.
Sie selber trägt so den künstlerischen Streit von Wissenschaft und Kunst
in sich aus. Wie wir gesehen haben, entfaltet Nietzsche dasjenige, was er in
seinen zurückgehaltenen erkenntnistheoretischen Aufzeichnungen und
Reflexionen in Kenntnis „der einschlägigen Untersuchungen, vornehmlich
der physiologischen seit Kant" (siehe Seite 4) in wissenschaftlichen Termini
bedenkt, in seiner philosophischen Erstlingsschrift auf begriffsdichterische
Weise, wodurch er das zum Austrag bringt, was er reflexiv, nämlich
sprachphilosophisch, erst später, in der Abhandlung „Ueber Wahrheit und
Lüge im aussermoralischen Sinne", eingeholt hat.
Eine Stufenfolge seiner Texte wird erkennbar: Entfaltet er in seinen
erkenntnistheoretischen Fragmenten in wissenschaftlicher Sprache den
Gedanken, daß unser Erkenntnisapparat als Vorstellungsapparat ein
Kunstapparat ist, der die tiefste uns zugängliche Schicht des Werdens, d. h.
des Flusses der Empfindungen in der Zeit, zu Gestalten fügt, und zieht er in
der besagten sprachphilosophischen Abhandlung daraus die Folgerung, daß
der Mensch sein damit aufgewiesenes Wesen als animal creans vor allem
dadurch bezeugt, daß er sprachschöpferisch tätig ist, dergestalt, daß er mit
seinen Metaphern f ü r sich immer neue Welten schafft, so überholt er diese
Entwürfe in der „Geburt der Tragödie" in der Weise, daß er im Ausgang
von einer Ästhetik, welche nicht nur Lehre von der Kunst und dem Schönen,
sondern auch Lehre von der Wahrnehmung, d. h. Erkenntniskritik ist —
Nietzsche hört mithin aus „Ästhetik" das griechische αϊσθησις
„Wahrnehmung; Erkenntnis, Bewußtsein" heraus —, eine neue, metapho-
risch gefaßte „Weltanschauung", einen die tragische Weisheit gestaltenden
Mythos, gewinnt: den des spielerischen Weltstreites von Dionysos und
Apoll. Wobei er dadurch, daß er diese Metaphern als Metaphern, damit die
Scheinhaftigkeit seiner Ausführungen zu erkennen gibt, seiner eigenen
Bestimmung der Kunst genügt, wonach diese den „ S c h e i n a l s S c h e i n "
behandeln soll: Die „Geburt der Tragödie" ist, wie wir sagten, das
Kunstwerk, von dem sie spricht.
Wenn die Schrift somit in sich den Kampf von Kunst und Erkenntnis
austrägt, in dem Nietzsche das Wesen der Philosophie erblickt, dann heißt
das aber, daß das von ihr für diesen Streit gefundene Bild des
musiktreibenden Sokrates letztlich ein Selbstbildnis ihres Verfassers ist, der
seine wissenschaftlichen Einsichten in ein künstlerisches Bild vom „ G a n z e n "
der Welt, nicht zuletzt vom Gang ihrer Geschichte einfügt, um so — im
Sinne seines Entwurfes einer monumentalischen Historie — den Menschen
242 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

einen neuen Mythos zu geben, an dem sie sich, ihre Vergangenheit,


Gegenwart und Zukunft deuten können.
Dichten und Denken werden mithin in der Kunst-Philosophie der
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " eines. Das aber zeigt sich vor allem an ihrer
zentralen Metapher des spielerischen Welt-Streites von Dionysos und Apoll,
der wir im folgenden weiter nachdenken wollen.

4. „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt
ewig g e rechtfe rtigt: — "Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und
Apoll

Mit dieser Metapher des spielerischen Welt-Streites von Dionysos und


Apoll sucht Nietzsche das Entsetzen der tragischen oder dionysischen
Erkenntnis apollinisch zu bändigen, um so den Pesthauch der
Lebensverneinung abzuwehren. In der unveröffentlichten Abhandlung „ D i e
Philosophie im tragischen Zeitalter der G r i e c h e n " führt er dies in der
persona Heraklits wie folgt aus:
Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles
Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies
Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem
Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei
einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. Es
gehörte eine erstaunliche Kraft dazu, diese Wirkung in das Entgegenge-
setzte, in das Erhabne und das beglückte Erstaunen zu übertragen. Dies
erreichte Heraklit durch eine Beobachtung über den eigentlichen Hergang
jedes Werdens und Vergehens, welchen er unter der Form der Polarität
begriff, als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ
verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende
Thätigkeiten. Fortwährend entzweit sich eine Qualität mit sich selbst und
scheidet sich in ihre Gegensätze: fortwährend streben diese Gegensätze
wieder zu einander hin. [ . . . ] Aus dem Krieg des Entgegengesetzten
entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden
Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers
aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit
fort. Alles geschieht gemäß diesem Streite, und gerade dieser Streit
offenbart die ewige Gerechtigkeit. 117
Nietzsche fährt fort:

Nur ein Grieche war im Stande, diese Vorstellung als Fundament einer
Kosmodicee zu finden; es ist die gute Eris Hesiods, zum Weltprincip
verklärt, es ist der Wettkampfgedanke des einzelnen Griechen und des
griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästren, aus den
künstlerischen Agonen, aus dem Ringen der politischen Parteien und der
Städte mit einander, in's Allgemeine übertragen, so daß jetzt das
Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht.118
Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 243

Bereits der Leipziger Student hat in einem Vortrag vor Kommilitonen 119 den
ά γ ω ν , den Wettkampf, als einen prägenden Wesenszug der Griechen
herausgestellt („der ά γ ω ν [ . . . ] [ist] von den ältest(en) Zeite(n} griechische(r)
Geschichtsschreibung an ein wirkendes Element". 120 ) und in ihm, dem
Willen eines jeden Griechen, den andern zu übertreffen, das movens der
griechischen Kultur gesehen — eine Erkenntnis, welche die spätere
Auslegung des „Lebens" als Wille zur Macht entscheidend bestimmt hat:
Der Argumente wären genug, um einen Exkurs über Nietzsches Gedanken
zum ά γ ώ ν zu rechtfertigen. Um der Straffung der Darstellung willen muß er
hier indes unterbleiben (vgl. auch Seite 156).
Alles, was geschieht, geschieht nach Maßgabe eines Streites, welcher
zutiefst unmoralisch, nämlich „jenseits von Gut und Böse", und darum als
solcher ewig gerechtfertigt ist. Diese von Nietzsche in der „Geburt der
Tragödie" übernommene Deutung der Welt — Dionysos und Apoll seien
„ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze
ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt", heißt es dort (25, 151) —,
diese unmoralische Deutung sei, so führt Nietzsche in seiner Schrift über die
Vorplatoniker aus, Heraklits Antwort auf Anaximanders moralisch-meta-
physische Weltauslegung: „Wie kann etwa vergehen", so habe dieser
gefragt,
was ein Recht hat zu sein! Woher jenes rastlose Werden und Gebären,
woher jener Ausdruck von schmerzhafter Verzerrung auf dem Angesichte
der Natur, woher die nie endende Todtenklage in allen Reichen des
Daseins? [ . . . ] Was ist euer Dasein werth? Und wenn es nichts werth ist,
wozu seid ihr da? Durch eure Schuld merke ich, weilt ihr in dieser Existenz.
Mit dem Tode werdet ihr sie büßen müssen.121
Nietzsche verweist auf eine ähnliche Betrachtung Schopenhauers 122 und
bemerkt dazu:
wer, wie Schopenhauer, auf den „Höhen der indischen Lüfte" das heilige
Wort von dem moralischen Werthe des Daseins gehört hat, der wird
schwer davon abzuhalten sein, eine höchst anthropomorphische Metapher
zu machen und jene schwermüthige Lehre aus der Beschränkung auf das
Menschenleben herauszuziehen und sie auf den allgemeinen Charakter
alles Daseins, durch Übertragung, anzuwenden. Es mag nicht logisch sein,
ist aber jedenfalls recht menschlich, und überdieß recht im Stile des früher
geschilderten Springens 123 , jetzt mit Anaximander alles Werden wie eine
strafwürdige Emancipation vom ewigen Sein anzusehn, als ein Unrecht,
das mit dem Untergange zu büßen ist.124
Die hier auf Taubenfüßen daherkommende Kritik an den metaphysischen
Entwürfen Schopenhauers und Anaximanders kann erst dann recht
gewürdigt werden, wenn die Formulierung „das heilige W o r t von dem
moralischen Werthe" im Hinblick auf Heraklits Ansatz seine Bewertung,
und das heißt: eine Umwertung erfährt: Aus dieser Welt des Schmerzes
244 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

„den höchsten superlunarischen Aufschwung zu nehmen", nämlich „in eine


metaphysische Burg" 125 zu flüchten, um dann von ihr aus jene physische
Welt moralisch als „Welt des Unrechtes, des frechen Abfalls von der
Ureinheit" 1 2 6 auszulegen, heißt, „die empirischen Stricke" 127 zu zerreißen,
sich vom Wirklichen ins Unwirkliche abzukehren und in dessen Namen
dasselbe, die werdende Physis, nichtig zu setzen — wobei es gleichgültig sein
soll, ob jene über das Werden erhabene Ureinheit als ά π ε ι ρ ο ν (von
Nietzsche nicht, wie üblich, als „Unendlichkeit" und „Unausschöpfbar-
keit", sondern als „Unbestimmtes" übersetzt 128 ) oder als „Wille" bestimmt
wird: Seiner Ansicht nach sollen beide darin übereinkommen, daß sie „dem
Kantischen ,Ding an sich' als ebenbürtig gelten" dürfen, welches „freilich
von dem Menschen nur negativ bezeichnet werden [kann], als etwas, dem
aus der vorhandenen Welt des Werdens kein Prädikat gegeben werden
kann" 1 2 9 . (Ebenwas Nietzsches Übersetzung von ά π ε ι ρ ο ν erklärt, welche
ebensowenig haltbar ist, wie jene Parallelsetzung dieses Begriffes mit
demjenigen des Dinges an sich, dient doch letzteres zur Bestimmung der
neuzeitlichen Subjektivität.)
Dementgegen bleibt Heraklit in seiner Deutung des Werdens Nietzsche
zufolge der Erde treu. Mit ,,beschauliche[m] Wohlgefallen" beschreibe er
„ n u r die vorhandene Welt" 1 3 0 . Anaximanders einen metaphysischen O r t
zum Blickpunkt erwählender Auslegung stelle er diejenige vom in sich
strittigen unmoralischen Spiel der Physis entgegen (— welche indes nach
Heideggers und auch nach unseren Begriffen insofern metaphysisch
genannt werden muß, als sie das Viele der Welt auf ein seiendes Eines, das
Feuer, den Logos, hin übersteigt). In der „Geburt der Tragödie" übernimmt
Nietzsche darum diese Auslegung Heraklits als eine erste Formel f ü r das,
was er später die „Unschuld des Werdens" nennen wird, 131 für eine
Weltbetrachtung mithin, die sich gegen jede moralisch-metaphysische, und
d. h. vor allem christliche, „Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur
Wehre" 1 3 2 setzt:
alle Ethik beginnt damit, daß wir das einzelne Individuum u n e n d l i c h
w i c h t i g nehmen — anders als die Natur, die grausam und spielend
verfährt.,
notiert Nietzsche im Sommer 1872—Anfang 18 7 3133. Einige Monate später
führt er dann in seiner den Vorplatonikern gewidmeten Schrift über
Heraklits Weltdeutung mit Bezugnahme auf das Fragment 52 (Diels/Kranz)
folgendes aus:
Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische
Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel
des Künstlers und des Kindes. U n d so, wie das Kind und der Künstler
spielt, spielt das ewig lebendige Feuer 134 , baut auf und zerstört, in Unschuld
— und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich. Sich verwandelnd in Wasser
Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 245

und Erde thürmt er, wie ein Kind Sandhaufen am Meere, thiirmt auf und
zertrümmert; v o n Zeit z u Zeit fängt er das Spiel v o n N e u e m an. Ein
Augenblick der Sättigung: dann ergreift ihn v o n N e u e m das Bedürfniß, wie
den Künstler z u m S c h a f f e n das Bedürfniß zwingt. N i c h t Frevelmuth,
sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre W e l t e n ins Leben.
D a s Kind wirft einmal das Spielzeug w e g : bald aber fängt es wieder an, in
unschuldiger Laune. Sobald es aber baut, knüpft und f ü g t und formt es
gesetzmäßig und nach inneren Ordnungen. 1 3 5

Die Welt, die Heraklit beschreibt, kennt keinen Stillstand. In der


Perspektive Nietzsches heißt das, daß das Leben den Fort-schritt will, den es
nur vollziehen kann, indem es das Alte als Abgelebtes hinter sich läßt: Zum
Werden gehört das Vergehen, das keinesfalls moralisch-metaphysisch als
Abtragung einer Schuld, einer Erbsünde, mißdeutet werden darf. Diese für
Nietzsche „selbstverständlich" immer noch anthropomorphische, aber
seiner Ansicht nach der Natur gemäßere — genauer: seinem Verständnis der
Natur gemäßere — Deutung der Welt als „ S p i e l des Zeus, oder
physikalischer ausgedrückt, des Feuers mit sich selbst" 136 , welche — wie
Nietzsche selber in „Ecce h o m o " ausführt 1 3 7 — an seine spätere Lehre von
der ewigen Wiederkunft gemahnt, wird von ihm nun als „aesthetische
Grundperception" 1 3 8 bezeichnet:
S o schaut nur der ästhetische M e n s c h die W e l t an, der an dem Künstler und
an d e m Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit
d o c h in sich G e s e t z und Recht tragen kann, w i e der Künstler beschaulich
über und wirkend in dem Kunstwerk steht, w i e N o t h w e n d i g k e i t und Spiel,
Widerstreit und H a r m o n i e sich zur Z e u g u n g des Kunstwerkes paaren
müssen. 1 3 9
Das künstlerische T u n ist demnach ein in sich höchste Gesetzmäßigkeit
beschließendes Spiel, das in Freiheit gleichsam zwanghaft geschieht — wir
haben dieser Paradoxien anläßlich unserer Ausführungen über die ewige
Wiederkunft gedacht —, wobei „Kontemplation" und „Aktion",
dionysische Inständigkeit in der und apollinische Abständigkeit zu der
unmittelbaren Wirk-lichkeit des ästhetischen Zustandes zusammengespannt
sind. Genau in diesem Sinne führt Nietzsche in „Die dionysische
Weltanschauung" über das Verhältnis von Rausch, dionysischem Künstler
und dionysischem Kunstwerk folgende Gedanken aus — durch die sich im
übrigen unsere Überlegungen zur Streithaftigkeit von Dionysos und Apoll
erneut bestätigt sehen:
W e n n nun der Rausch das Spiel der N a t u r mit d e m Menschen ist, s o ist das
S c h a f f e n des dionysischen Künstlers das Spiel mit d e m Rausche. Dieser
Zustand läßt sich nur gleichnißweise begreifen, w e n n man ihn nicht selbst
erfahren hat: es ist etwas Ahnliches, w e n n man träumt und zugleich den
T r a u m als T r a u m spürt. S o m u ß der D i o n y s o s d i e n e r im Rausche sein und
zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. N i c h t im W e c h s e l
246 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander zeigt sich das


dionysische Künstlerthum. 1 4 0
Und dieses künstlerische Spiel fügt Auseinanderstrebendes zu einer
Harmonie zusammen — ζ. B. die Malerei „die Bestandteile der weißen und
schwarzen der gelben und der roten Farbe", die Musik „hohe und tiefe,
lange und kurze Töne in verschiedenen Stimmen": In dieser Weise wird
jedenfalls in der pseudoaristotelischen Schrift „ D e mundo" (5. 396 b 20 f.)
der von Diels/Kranz als Fragment Nr. 10 in ihre Sammlung aufgenommene
Heraklitische Satz ausgelegt: „συνάψιες ολα και ούχ ολα, συμφερόμενον
διαφερόμενον, συναιδον διαιδον, και εκ πάντων εν και εξ ένός πάντα —
Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Einträchtiges Zwieträchtiges,
Einklang Zwieklang, und aus Allem Eins und aus Einem Alles." 141
In ähnlicher Weise interpretiert Nietzsche die Wagnersche Musik. So
kann man in „Richard Wagner in Bayreuth" lesen:
Ueber allen den tönenden Individuen und dem K a m p f e ihrer
Leidenschaften, über dem ganzen Strudel von Gegensätzen, schwebt, mit
höchster Besonnenheit, ein übermächtiger symphonischer Verstand,
welcher aus dem Kriege fortwährend die Eintracht gebiert: Wagner's
Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von dem grossen
ephesischen Philosophen verstanden wurde, als eine Harmonie, welche der
Streit aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft. 1 4 2
Zugleich aber interpretiert er in der „Geburt der Tragödie" die Musik —
Wagners Musik — im Anschluß an die Schopenhauersche Metaphysik als
Abbild des sich in der Welt inkarnierenden Willens. Von daher muß es
konsequent genannt werden, daß er in „ D i e Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen", im 5. Abschnitt 143 , die Brücke von Heraklit zu
Schopenhauer schlägt, welcher „in der Natur überall Streit, Kampf und
Wechsel des Sieges" erkennt und ebendann „die dem Willen wesentliche
Entzweiung mit sich selbst" zu erblicken wähnt:
J e d e Stufe der Objektivation des Willens macht der andern die Materie,
den R a u m , die Zeit streitig. Beständig muß die beharrende Materie die
Form wechseln, indem am Leitfaden der Kausalität mechanische,
physische, chemische, organische Erscheinungen, sich gierig zum
Hervortreten drängend, einander die Materie entreißen, da jede ihre Idee
offenbaren will. 144
Auf der anderen Seite aber muß diese Herstellung einer Verwandtschaftsbe-
ziehung in höchstem Maße gedankenlos genannt werden, vergißt Nietzsche
dabei doch seine Einsicht, daß Heraklit die von Anaximander(-Schopenhau-
er) vorgenommene Abtrennung einer metaphysischen von unserer
physischen Welt bestritten hat: Bei Heraklit ist der πόλεμος das
welterspielende Prinzip eines dieser Welt immanenten λόγος, während bei
Schopenhauer der „Kampf ums Dasein" als Folge der Weltinkarnation eines
absoluten Willens begriffen wird. (Ein Unterschied, der bei Nietzsche
Noch einmal: Der Wettstreit von Dionysos und Apoll 247

wenigstens anklingt in der Bemerkung, daß der „ G r u n d t o n " der


Schilderungen, die Schopenhauer von diesem Streit in der Welt gibt,
„immer ein andrer bleibt als bei Heraklit, sofern der Kampf für
Schopenhauer ein Beweis von der Selbst-Entzweiung des Willens zum
Leben, ein An-sich-selber-Zehren dieses finstren dumpfen Triebes ist, als ein
durchweg entsetzliches, keineswegs beglückendes Phänomen" 1 4 5 , als
welches der Streit im Spielbegriff aufgefaßt wird: Pessimismus der Stärke
versus Pessimismus der Schwäche.)
Damit deutet sich an der Oberfläche von Nietzsches Ausführungen ein
Tiefenriß an zwischen einem — nach seinem Sprachgebrauch —
metaphysischen und einem physischen Ansatz. Dieser Riß erfaßt indes nicht
nur seine Philosophie der Musik — als unmittelbare Darstellung des
Heraklitischen Weltspiels soll sie zugleich auch unmittelbare Darstellung
des Schopenhauerischen Willens sein —, sondern, noch grundsätzlicher,
den Zentralsatz seiner „Artisten-Metaphysik", welchen er aus Heraklits
„aesthetischer Grundperception" der Welt als eines unmoralischen,
gleichwohl Gesetz und Recht in sich bergenden Spiels gefolgert hat:
nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig
gerechtfertigt146.
Den Begriff der Rechtfertigung kennen wir aus der christlichen Theologie
— vor allem derjenigen der evangelischen Kirchen: Obwohl es dem
mittelalterlichen Katholizismus — abzulesen an Thomas von Aquin —
zunächst weniger auf den Menschen und sein Heilsverlangen als darauf
ankam, daß jegliches Leben seine Stellung in der O r d n u n g des Geschaffenen
erkannte und mit ihr übereinstimmend der Schöpfungsursache entsprach
(analogia entis), so bezeichneten doch auch seine Theologen schon die
iustificatio als primus motus fidei, als Grundbewegung der Glaubenshaltung
(Sancti T h o m a e Aquinatis Opera Omnia, VI, Commentum in Quatuor
Libros Sententiarum, Volumen Primum, Distinct. II, Quaest. I, Art. V,
Expositio Textus). Im Sinne des ordo-Denkens wurde jedoch die iustitia als
rectitudo rationis et voluntatis, als Richtigkeit der Vernunft und des Willens,
und die iustificatio in der Weise einer insgeheim materiell geprägten
Rechtsordnung gedacht, so zwar, daß der vom sündigen Menschen
Genugtuung fordernde Gott sowohl die stofflichen Gnadenmittel in Form
der vom ordo der Kirche verwalteten Sakramente bereitstellt, als auch die
Weisungen gibt, „durch deren Benutzung und Befolgung er sich bestimmen
läßt, den Menschen aus seinem Elend herauszuziehen und in die himmlische
Herrlichkeit einzuführen" 1 4 7 , ohne daß dabei dem Gläubigen doch mehr als
eine H o f f n u n g auf das Heil zuteil werden konnte. Anders zufolge dem
Lutherischen Protestantismus, der den Verkehr mit Gott nahezu
ausschließlich in die Sphäre des rein Geistigen verlegt. Nach seines
248 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Begründers Neuinterpretation von Römer 1, 17 ist die rechtfertigende


Gnade Gottes, die sich im Christusgeschehen ereignet hat, allen denen
gewiß, die sie als Glaubende (sola fide) ergreifen — der Glaube „macht
gerecht und wahrhaftig, dieweil es wahr ist und gerecht, daß Gott die
Wahrheit zuerkannt wird." So Martin Luther in seiner Schrift „Von der
Freiheit eines Christenmenschen" 148 .
Diese Reformation des iustificatio-Begriffes ist philosophisch gesehen
deshalb von Bedeutung, weil sich in ihr der den Beginn der Neuzeit
bezeichnende Wandel des Wesens der Wahrheit von der adaequatio zur
certitudo, nach Heideggers Worten, „einleitet und vorbereitet" 149 . Indem
Luther die Frage stellt, „ob und wie der Mensch des ewigen Heils, d. h. ,der
Wahrheit', gewiß und versichert sei, ob und wie er ein ,wahrer'
Christenmensch sein könne, d. h. ein rechter, ein zum Rechten gefertigter,
ein Gerechtfertigter" 1 5 0 , wird die Frage nach der christlichen Veritas „im
betonten Sinne" 151 zur Frage nach der iustitia und iustificatio. Doch nicht
allein darin, daß die Frage nach der Heilsgewißheit zur Mitte der
evangelischen Theologie wird, kündigt sich das von „der Gewißheit, der
Rechtheit, des Gerechtseins und der Gerechtigkeit her" 152 bestimmte
neuzeitliche Wesen der Wahrheit an — bedeutsamer noch ist unserer
Meinung nach die „strukturelle" Nähe, die Luthers Antwort auf diese Frage
zum Subjekt-Denken Descartes erkennen läßt. Sie besteht darin, daß der
Gläubige die von Gott in der Opferung seines Sohnes als Gnadenakt
vollzogene Rechtfertigung des Menschen — vorneuzeitlicher Teil der Lehre
— selber wiederum durch seinen Glauben rechtfertigen muß. Aus dem
neuzeitlichen Blickwinkel betrachtet heißt das: Indem der Mensch — der
schon durch die Befreiung des Verkehres mit Gott aus den fest
institutionalisierten religiösen Vermittlungen und dessen Gründung in der
Verbindung von H e r z zu H e r z zu einer Art von „unpersönlichem" Subjekt
wird — die Wahrheit der prima causa zuspricht, wird er selbst in sie gesetzt
(iustitia dei passiva), wodurch er — und das ist das Entscheidende — in
einem zumal sich selbst, seinen Bezug zum Seienden und dessen erster
Ursache sichert. 153
Im Hinblick auf diese Strukturparallele kann man sagen, daß der
Luthersche Begriff der iustificatio und der von der „Artisten-Metaphysik"
verwendete Begriff der Rechtfertigung das Selbe sind. In jenem Satz: „nur
als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig
g e r e c h t f e r t i g t " bringt Nietzsche das Wesen der Lutherschen iustificatio
in rein neuzeitlicher Form zum Austrag — auch das muß man im Auge
haben, wenn man Nietzsches Bekenntnis über seine „innigste Abhängigkeit
von dem Geiste Luthers" 154 zu bedenken sucht, mag damit zunächst auch
nur in psychologischer Sicht die eigene Neigung zum Protest gemeint sein,
Noch einmal: Der Weltstreit von Dionysos und Apoll 249

die sich nicht zuletzt in leidenschaftlichen Anwürfen gegen den Erneuerer


des Christentums im Moment seines möglichen Absterbens bekunden sollte.
Ästhetik, αισθητική έπιστήμη — Lehre vom sinnlichen, empfindungs-
mäßigen Verhalten des Menschen und von demjenigen, welches dieses
bestimmt, wird die von Piaton und Aristoteles überkommene Frage nach
dem Wesen der Kunst und dem Schönen erst seit dem 18. Jahrhundert, seit
Alexander Baumgarten, genannt — worin ein Wandel in der Hinsichtnahme
dieser Frage zum Ausdruck kommt. Auch er entspricht dem Geschehnis, daß
seit dem Beginn der Neuzeit das Subjekt dasjenige Seiende ist, dem als dem
auf sich selbst gestellten Grund und Maß der Wahrheit als certitudo die
Rechtfertigung des Seienden als eines solchen obliegt: Weswegen die Frage
nach dem Schönen nicht mehr, wie bei Piaton und Aristoteles, im Hinblick
auf die ιδέα dem Aussehen des Seienden nachfragen kann, sondern zu einer
Frage werden muß nach der Art, wie der Mensch die Dinge empfindet. Sie
wandelt sich darum zu einer Frage nach dem „Geschmack" als dem
menschlichen Urteilsvermögen über das Schöne in Kunst und Natur.
Eingedenk dessen hat der zitierte Zentralsatz der „Geburt der
Tragödie" eine zwiefache Deutung zu erfahren, die sich doch im Grunde als
einfach erweist. Dasein und Welt sind danach ewig gerechtfertigt:
1. Nur dann, wenn der Mensch Dasein und Welt wie ein Kunstwerk, wie
ein künstlerisches Spiel betrachtet, das als solches außerhalb der moralischen
Kategorien, jenseits von Gut und Böse, steht und damit in sich immer schon
gerechtfertigt ist.
2. Nur dann, wenn der Mensch Dasein und Welt in der Gestaltung eines
Kunstwerkes betrachtet. Ist doch dessen Absicht die Verklärung, sprich: die
metaphysische Überhöhung der Wirklichkeit: In dem Richard Wagner
gewidmeten Vorwort seiner Schrift spricht Nietzsche als weiteren
Zentralsatz derselben aus, daß er „von der Kunst als der höchsten Aufgabe
und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens [ . . . ] überzeugt
[ist]"155. Uber die Physis, d. h. über die empirische Welt und das empirische
Dasein, hinausgehend, rechtfertigt sie diese, indem sie — so in der
dionysischen Kunst — dieselbe auf einen Urgrund als ihren Hervorbringer
durchsichtig macht oder — so in der apollinischen Kunst — dessen Willen
zum potenzierten Scheine, zu einem den Schein der Welt verklärenden
Schein entspricht.
Der Einigungsgrund beider Deutungen ist ebenfalls in sich gedoppelt: In
einer oberen Schicht liegt er beschlossen in der Überlegung Nietzsches, daß
das Kunstwerk den Rezipienten in den kunstschaffenden Zustand versetzen
soll, in welchem der Künstler „künstlerisch" mit der Welt spielend („So
lange [ . . . ] die Statue als Phantasiebild vor den Augen des Künstlers
250 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

schwebt, spielt er [ . . . ] mit dem Wirklichen" 156 ), dieselbe als ein Spiel
ansieht, als das Welt-Spiel des Lebens erfährt:
soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem
Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der
Kunst-[Welt] 157 ,
heißt es in der „Geburt der Tragödie" kurz nach dem hier in Rede stehenden
Satz. Dieser Gedanke führt uns aber zu der tiefergehenden Überlegung,
daß, wie erinnerlich, für Nietzsche die Welt bereits auf der gemeinhin als
physisch bezeichneten Ebene metaphysisch, nämlich künstlerisch zum
Schein — das W o r t in seiner zwiefachen Bedeutung verstanden —
festgestelltes Werden ist. Weil somit das Seiende als Seiendes in seinem
Wesen Kunst ist, darum muß einerseits das Seiende im Ganzen als
Kunstwerk begriffen werden — „Die Welt als ein sich selbst gebärendes
Kunstwerk", notiert sich Nietzsche rückblickend auf die „Geburt der
Tragödie" im Zeitraum Herbst 1885—Herbst 1886158 —, und darum kann
andererseits die Kunst das im Erkenntnisvermögen des Subjekts
statthabende spielerische Geschehnis der die Welt erzeugenden Selbst-Aus-
legung des Weltgrundes auslegen, will sagen: metaphysisch bestimmen und
ineins damit verklären und rechtfertigen.
Sofern aber Nietzsche nun den von der Kunst offenbarten Weltgrund in
Anknüpfung an Schopenhauer — für den Dasein und Welt gleichfalls nur
als ästhetisch, d . h . für ihn: als interesselos betrachtete Phänomene
gerechtfertigt sind — als ein ewiges Sein, d. h. als ein Absolutum hinter den
Erscheinungen und nicht als ein „Relativum" in den Erscheinungen
versteht, leistet die Kunst in dieser ihrer metaphysischen Bestimmung der
Welt im Hinblick auf ein „metaphysischen Trost" 1 5 9 spendendes Jenseits —
wie er selber später erkennt 160 — letztlich keine Rechtfertigung, sondern
eine Nichtung der Welt, die, wie wir wissen, aus der moralischen
Verurteilung von Schmerz und Leid, von Werden und Vergehen erwächst.
So daß diese Anschauung die Welt gerade nicht in jener Auslegungsmöglich-
keit ergreift, die im Geschehnis der ästhetischen Perzeption beschlossen
liegt, in der Möglichkeit des sinnfreien Spieles.
Der Anschauende ist nicht fähig, den Schmerz der Welt in seiner
Sinnlosigkeit zu bejahen, zum einen, weil er nicht erkennt, daß dieser Folge
der Lust der Welt ist, zum anderen — und diesem vorgängig —, weil er nicht
aus der Fülle, aus der Gesundheit, sondern aus dem Mangel, der Krankheit,
heraus erlebt: darin gründet, wie schon mehrfach erwähnt, Nietzsches
spätere Unterscheidung zwischen einem Pessimismus der Stärke und einem
solchen der Schwäche. Derweise aber wirkt der „ W a h n einer überirdischen
Welt", der „die Menschengeister in eine falsche Stellung zu der irdischen
Welt gebracht [hat]", auch beim frühen Nietzsche noch fort. In einer Stärke
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 251

indes, die insofern vergleichsweise gering zu nennen ist, als dieser jenseitige
O r t bei ihm als bloßes Apotropäum des Leidens und nicht als O r t einer
Sehnsucht erscheint — wie solches der Fall ist in jenen Deutungen der Welt,
welche deren Unmoralität im Hinblick auf eine moralische Transzendenz zu
rechtfertigen suchen und sie dabei allererst ins helle Licht stellen. S o
Nietzsche zufolge im Christentum — obwohl allenfalls die Urchristen
freudig gestorben sind — , in der Auslegung Piatons, der es als höchstes Ziel
der π α ι δ ε ί α bezeichnet hat, den Kreislauf der Palingenesien durchbrechen
und in der Sphäre der Götter verbleiben zu können, aber auch in der
Deutung Schopenhauers, der, weil sich ihm der Schöpfergott in einen blind
wirkenden Willen verwandelt hat, auch noch dieses metaphysische Jenseits,
insofern es ein Sein verheißt, übersteigen muß — und damit nach Nietzsches
Auffassung offenbart, was dieses Jenseits immer schon gewesen ist: Nichts.
Womit wir den die „Geburt der T r a g ö d i e " durchziehenden Riß
zwischen dem traditionellen metaphysischen Ansatz und Nietzsches
Versuch einer Uberwindung desselben auch in den Zentralsätzen dieser
Schrift nachgewiesen haben.
Im folgenden werden wir uns noch einmal dem metaphysischen Ansatz
zuwenden müssen, haben wir doch bisher noch nicht aufgezeigt, in welcher
Weise er Nietzsches V o r h a b e n , dem Kultur-Leben einen metaphysischen
Sinn zu unterlegen, zu fördern geeignet ist.

5. Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis

Die W e l t ein Spiel: „ D a s scheint immer die den Griechen auf der Lippe
schwebende letzte Lösung oder Auskunft gewesen zu sein.", meint
Nietzsche 1 6 1 und verweist darauf, daß auch der νοϋς des Anaxagoras „ein
K ü n s t l e r " ist:
Es ist als ob Anaxagoras auf Phidias deutete und Angesichts des
ungeheuren Künstlerwerks, des Kosmos, ebenso wie vor dem Parthenon
uns zuriefe: das Werden ist kein moralisches, sondern nur ein
künstlerisches Phänomen. 1 6 2
Weil sie als Wiederholung der π ο ί η σ ι ς oder des Spieles der W e l t betrachtet
wird, darum deuten die Vorsokratiker, denen sich Nietzsche offenkundig
anschließt, dieselbe im Hinblick auf die Kunst — im Hinblick auf die
tragische Kunst, wie man zu präzisieren hat, ist es doch deren
ausgezeichneter Modus, in der Negation der Erscheinung dieselbe auf ein in
ihr bzw. hinter ihr Liegendes durchsichtig zu machen: auf das ewige Leben
oder, wie Nietzsche auch sagt, auf den dionysischen Grund der W e l t als
„der Einheit alles V o r h a n d e n e n " 1 6 3 :
252 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Die großen Denker des tragischen Zeitalters denken über keine andern
Phänomene nach als die, welche ebenfalls die Kunst erfaßt. 164 ,
zeichnet Nietzsche bereits im Winter 1869/70—Frühjahr 1870 auf. Um
zweieinhalb Jahre später, kurz vor der Abfassung der Abhandlung über die
Yorplatoniker, heißt es 165 :
Die Philosophen des tragischen Zeitalters
enthüllen, wie die Tragödie,
die Welt.
wie Nietzsche denken die Vorplatoniker dem nach, was die attische
Tragödie lehrt: der tragischen Erkenntnis, der Erkenntnis, daß alles aus dem
Urgrund Herausgetretene dereinst wieder in diesen einzugehen hat. 166
Doch nicht nur in dem Sinne, daß Nietzsche im Ausgang von den
menschlichen Kunsttrieben die beiden Weltprinzipien von Dionysos und
Apoll gewinnt, kann man die tragische Kunst als ontologisches Symbol
Nietzsches bezeichnen, vielmehr auch in jenem, gegenüber dem ersten
umgekehrten Sinne, daß er in der „Geburt der Tragödie" — wie auch in den
anderen von ihm selber veröffentlichten Schriften seiner Frühzeit, in den
Unzeitgemässen Betrachtungen nämlich — die Menschenkunst als
kosmisches Ereignis versteht, ihr metaphyische Bedeutsamkeit zuspricht.
Wenn der Mensch im künstlerischen Schaffen, der Nachahmung der
„unmittelbaren K u n s t z u s t ä n d e f . . . ] der Natur" 1 6 7 , das sind Traum und
Rausch, seine „Erlösung" vom Ekel über die Absurdität seiner Existenz in
der Weise erfährt, daß er im schönen Schein des Kunstwerkes das Leiden
und das Häßliche entweder hinweglügt, so in der apollinischen Kunst 168 ,
oder aber in solche Vorstellungen umbiegt, „mit denen sich leben lässt" 169 ,
so in der dionysischen Kunst, dann gewinnt auf der anderen Seite der
Weltgrund durch seine apollinische Schöpfung des schönen Scheins der
Welt nicht nur vorübergehend Ruhe des Verweilens, vielmehr eröffnet sich
ihm in ihr auch die Möglichkeit der Selbstanschauung:
In den Griechen wollte der „Wille" sich selbst, in der Verklärung des
Genius und der Kunstwelt, anschauen; 170
und an anderer Stelle der „Geburt der Tragödie" heißt es, wir dürfen
von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben
schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von
Kunstwerken unsre höchste Würde haben — denn nur als a e s t h e t i -
s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r -
tigt171.
Der Wille in „uns" stellt sich als Dasein und als Welt vor; in und durch uns,
durch die er eine Traum-Welt anschaut, räumt er sich zu Formen ein: Dieser
in den Fragmenten 172 , aber auch in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung 173
breit entfaltete Gedanke „riecht", wie Nietzsche selber in „Ecce h o m o "
bemerkt, „anstössig Hegelisch", stammt er doch von Schopenhauer 1 7 4 ...
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 253

Im glanzvollen Schein der Selbsterscheinung sucht sich das Ur-Eine vom


Schmerz und vom Leiden, das es ist, zu erlösen. Erlösung — dies der zweite
Begriff, den Nietzsche aus der Theologie in die Sprache seiner Metaphysik
übersetzt, wobei er ihn, wie schon den Begriff der Rechtfertigung, im Sinne
seines die neuzeitliche Subjektivität zum Austrag bringenden Ansatzes
verwandelt. So bemerkt er in der „Geburt der Tragödie":
Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in
ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch
den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der
metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und
Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die
entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung
braucht. 175

Das Ur-Eine ist reiner Schmerz, reine, nämlich gleichsam bewußtlose


Schmerzens-Empfindung, die erst in der Projektion auf ein Selbst zur
Selbst-Empfindung wird. Denn Empfindung des Selbst ist Anschauung des
Selbst, die umgekehrt — Nietzsche zufolge — gleich aller Anschauung ohne
Empfindung nicht möglich wäre. Bedeutet somit die Projektion der
Empfindung auf ein Selbst zum einen das Entschwinden ihrer sehrenden
Unmittelbarkeit, ihre Entäußerung in ein Objekt — welches das eigene,
nämlich angeschaute Selbst ist —, mithin Milderung des Schmerzes, so doch
zum anderen auch, daß er erst in einer solchen Projektion in der Weise
wahrhaft wirk-lich wird, daß er als schmerzendes Selbst begriffen werden
kann. Beides scheint Nietzsche im Auge zu haben, wenn er Ende
1870—April 1871 den nachfolgenden, von der menschlichen Empfindung
und ihrem Verhältnis zur Materie ausgehenden Gedanken aufzeichnet (für
dessen Verständnis es vonnöten ist, seine auf Seite 19 angesprochene
Ausführung zu vergegenwärtigen, wonach die Empfindung „die einzige
kardinale Thatsache [ist], die wir kennen, die einzige wahre Qualität"):

Die Empfindung ist nicht Resultat der Zelle, sondern die Zelle ist Resultat
der Empfindung d. h. eine künstlerische Projektion, ein Bild. Das
Substantielle ist die Empfindung, das Scheinbare der Leib, die Materie.
Anschauung wurzelt auf Empfindung. N o t h w e n d i g e s V e r h ä l t n i ß
z w i s c h e n S c h m e r z u n d A n s c h a u u n g : das Fühlen ist nicht ohne
Objekt möglich, das Objekt-Sein ist Anschauung-Sein. Dies der Urprozeß:
der eine Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als
Welt: als Erscheinung. 176

Hier hat noch eine andere Aufzeichnung aus dem Zeitraum Ende
1870—April 1871 ihren Platz zu finden:
Vorstellung — Gegensatz zur Selbstzerfleischung — Selbstgenuß — nur
möglich durch Selbstzerspaltung. 177
254 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Im Willen z u r genußvollen E m p f i n d u n g des Selbst muß sich das Ur-Eine


zerspalten, in ein Subjekt und ein Objekt, welches jenes als sein Selbst
anschaut. Diese unaufhebbare Spaltung verursacht Schmerz, der durch
Ganzheitsimaginationen überwunden werden soll. W e n n Nietzsche mithin
in der oben zitierten Passage der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " den Schmerz dem
Ur-Einen unmittelbar inhärieren läßt, so zwar, daß es sich von ihm in der
Anschauung, der Vision seiner selbst als Welt von ihm zu befreien sucht, so
ergibt sich nunmehr der umgekehrte Ansatz, daß das Leiden des Ur-Einen
allererst die Folge dieser Welt-Anschauung ist. Auch diese Sichtweise hat
ihren Niederschlag in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " gefunden. Im Abschnitt 10
gibt Nietzsche im Hinblick auf den Mythos des von Titanen zerstückelten
und als Zagreus verehrten Dionysos zu bedenken,
dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund
alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. 178
Dieser Ansatz ist demjenigen Schopenhauers sehr nahe, der das von ihm als
das entscheidende Wesensmerkmal des Lebens herausgestellte Leiden 179
durch die Individuation vermittelt sieht. Z w a r w o h n t seiner Ansicht nach der
metaphysischen Einheit des Willens zum Leben der Widerstreit mit sich
selbst immer schon inne, offenbar wird er aber erst „ d u r c h das Medium der
Individuation" 1 8 0 . Dieser Ansatz aber konnte f ü r Nietzsche darum nicht
bestimmend werden, weil er seiner G r u n d h a l t u n g des Pessimismus der
Stärke widerspricht: Ihm zufolge m u ß es das Bestreben des Menschen sein,
die Schmerzen verursachende Individuation als dasjenige, was besser nicht
wäre, zu negieren. Für Nietzsche hingegen, der den reinen Dionysismus —
die Auslöschung des principium individuationis — als lebensfeindlich, d. h.
als der „ I n t e n t i o n " des Lebens widersprechend ablehnt, kann es hingegen
n u r darum gehen, den Schmerz und das Leid schaffend zu überwinden, sie
somit als H e r a u s f o r d e r u n g zur Selbstüberwindung und -Steigerung zu
begreifen.
Die Auslegung der Welt als Versuch des Ur-Einen, durch Projektionen
seinen Schmerz zu mildern, trägt darum auch das Gedankengebäude der
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " . Ihr metaphysisch ausgestalteter G r u n d g e d a n k e ist
mithin, gesprochen mit den W o r t e n jenes schon mehrfach zitierten
Fragmentes von Ende 1870—April 1871:
Produktiv ist also der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne
erzeugt 181
— das Schöne des schönen Scheins; des schönen Scheins der Kunst oder des
T r a u m s in bezug auf den Menschen, des schönen Scheins der Welt als
träumerische Selbstanschauung in bezug auf das Ur-Eine. In diesem Sinne
heißt es in dem gleichen Fragment:
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 255

Die Subjektivität der Welt ist nicht eine anthropomorphische Subjektivität,


sondern eine mundane: wir sind die Figuren im Traum des Gottes, die
errathen wie er träumt.
Und doch ist diese mundane Subjektivität auch eine anthropomorphische,
insofern nämlich das Ur-Eine Zugang zu sich nur durch den die
Erscheinung durchschauenden Menschen hat: Es schaut sich selber mit den
geträumten Augen seiner Traumfiguren an, die einander zumeist als
„wirkliche" Gestalten betrachten und nur bisweilen sich selbst als
Erscheinungen, nämlich solche des Ur-Einen, wahrnehmen können:
Im Menschen schaut das Ureine durch die Erscheinung auf sich selbst
zurück: die Erscheinung offenbart das Wesen. D. h. das Ureine schaut den
Menschen und zwar den die Erscheinung schauenden Menschen, den
durch die Erscheinung hindurch schauenden Menschen. 182
Der Traum aber ist demzufolge eine „Umsetzung von Schmerzen in
Anschauungen, in denen die Schmerzen gebrochen werden: feindliche
Empfindung ihrer Nichtrealität.", wie ein ebenfalls aus dieser Zeit
stammendes Fragment 183 verrät. Wenn sich aber das Ur-Eine in der
träumerischen Anschauung der Welt von seinem Schmerz zu befreien sucht,
dann heißt das auch, daß seine Selbstanschauung Illusion ist, verkennt doch
sein Selbstbewußtsein das wahre Selbst (wie jedes Selbstbewußtsein: wir
erinnern hier an die oben besprochene unaufhebbare Selbst-Spaltung in
Subjekt und Objekt, als welche schon für den frühen Nietzsche nicht „real",
sondern illusionär ist). Das Ur-Eine projiziert seinen Schmerz auf
Visionsgestalten der Welt und nimmt ihn vermittelt und d. h. gebrochen
durch jene wahr. 184 Gesprochen im Hinblick auf die Artisten-Metaphysik
heißt das: Apollo lindert den Schmerz des Dionysos. Aber auch in der
Anschauung muß der Wille noch Schmerz empfinden, „denn hörte er auf, so
hörte die Anschauung auf. Aber das Lustgefühl ist im Überschuß." 1 8 5
Ist demnach die Schöpfung der Welt für Nietzsche die Folge eines
Mangels — am deutlichsten führen dies aus zum einen der Vergleich des
Ur-Einen mit einem „gemarterten Heiligen", der visionär „eine
schmerzlose, ja wonnereiche Verzückung fühlt" 1 8 6 , zum anderen die
Überlegung, daß der Wille „die Welt als Kunstwerk [ . . . ] gleichsam aus der
Leere, der Π ε ν ί α [ = Armut, Mangel, N o t ] " produziert, indem er „die
Kunst als Πόρος" 1 8 7 , als Hilfsmittel, benutzt, um dieser Abhilfe zu schaffen
(die griechischen Begriffe hat Nietzsche aus Piatons „Symposion" [203, b-c]
übernommen: Sokrates berichtet dort, wie aus der Verbindung beider der
Eros hervorgegangen ist) —, so konkurriert mit dieser Erklärung eine
andere, eine entgegengesetzte: Danach ist der Schmerz des Ur-Einen nicht
der eines Mangels, sondern der einer Überfülle, wie dies vom „Versuch
einer Selbstkritik" hervorgehoben wird:
256 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

In der That, das ganze Buch kennt n u r einen Künstler-Sinn und


-Hintersinn hinter allem Geschehen, — einen ,Gott', wenn man will, aber
gewiss n u r einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-
Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner
gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten
schaffend, von der N o t h der Fülle und U e b e r f ü l l e , vom L e i d e n der
in ihm gedrängten Gegensätze löst. 188
Diese Selbstinterpretation nimmt Bezug auf die Deutung der Welt als Spiel,
„welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt." 189
Ist erstere Deutung, mit Nietzsches eigenen Worten zu sprechen, „das
ächte rechte Romantiker-Bekenntniss von 1830, unter der Maske des
Pessimismus von 1850" 190 — die Romantiker sind nach seiner späteren
Einsicht die „an der V e r a r m u n g d e s L e b e n s Leidenden" 191 —, so
kann letztere Deutung gegenüber jener aus dem Pessimismus der Schwäche
erwachsenden als eine solche des Pessimismus der Stärke bezeichnet
werden. Diese die decadence überwindende „dionysische" oder tragische
Weltverhaltung charakterisiert Nietzsche in dem „Versuch einer Selbstkri-
tik" als eine
intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problemati-
sche des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus
F ü l l e des Daseins 1 9 2 .
Beide Male macht der Schmerz schöpferisch — das eine Mal der Schmerz
eines Mangels, das andere Mal der Schmerz einer Überfülle, was indes
voraussetzt, daß Nietzsche Lust und Schmerz nur als „quantitative
Verschiedenheit" 1 9 3 denkt. So bemerkt er auch in einer Notiz in Absetzung
von den Gedanken, die Eugen Dühring in seinem Buch „ D e r Werth des
Lebens. Eine philosophische Betrachtung" (Breslau 1865) zu diesem Thema
angestellt hat:
jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in
Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust
verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz." 4
Indes — vermerkt Nietzsche nicht im Winter 1869/70—Frühjahr 1870:
„Mitgetheilte Lust ist Kunst" 195 ? Ist dann die Kunst, die nicht aus dem
Schmerz der Lust, sondern aus dem Schmerz des Mangels hervorgeht, keine
Kunst? Wir werden noch zu zeigen haben, daß sich Nietzsche in der T a t im
Frühjahr 1888 zu der Annahme gedrängt sieht, daß eine Kunst im Sinne des
Pessimismus der Schwäche „eine contradictio" darstellt. Auch dort, wo
Kunstwerke — etwa die christlichen — in ihren Inhalten die Welt zu
verneinen scheinen, sind sie doch als Kunstwerke „ B e j a h u n g ,
S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g d e s D a s e i n s " 1 9 6 . Damit aber kommt
Nietzsches Unterscheidung zwischen einer pessimistischen und einer
tragischen Kunst Gültigkeit nur noch in bezug auf die vordergründigen
Inhalte zu.
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 257

Nach diesem Ansatz wäre alle Kunst aus dem Schmerz der Überfülle
hervorgegangen: Der Künstler sucht die Uberfülle seiner Lust dadurch zu
verringern, daß er sie in ein Kunstwerk entlädt und mittels seiner auf den
Rezipienten überträgt, der hinwiederum hierdurch seine Lebenslust und
seinen Lebenswillen vermehrt sieht:
Wenn jede L u s t , Befriedigung des Willens und Förderung desselben ist,
was ist die Lust an der Farbe?
was die Lust am T o n ?
Die Farbe und der T o n müssen den Willen gefördert haben. 197 ,
so k a n n m a n in e i n e m N o t a t aus d e m Z e i t r a u m W i n t e r 1 8 6 9 / 7 0 — F r ü h j a h r
1870 lesen.
Dasein aber ist Lust und Schmerz in einem zumal, muß es doch in der
Sichtweite der Artisten-Metaphysik als Auswurf des weltspielenden
Urgrundes und damit, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" sagt, als
eine „Dissonanz" 1 9 8 begriffen werden: Es west als in sich einiger Streit von
Dionysos und Apoll und somit als auseinanderklingender Zusammenklang.
V o m Urgrund her gesehen heißt das:
Wir sind einerseits r e i n e A n s c h a u u n g (d.h. projicirte Bilder eines rein
entzückten Wesens, das in diesem Anschaun höchste Ruhe hat),
andernseits sind wir das eine Wesen selbst. 199
Und als derartige Abbilder des Urschmerzes und Urwiderspruches — den
Schmerz des Ur-Einen deutet Nietzsche auch als Sich-selbst-Zerreißen
desselben —, welcher in der Welt der Erscheinung wirklich wird als
Widerspruch von Schmerz und diesen überwindensollender Lust an der
Erscheinung 200 , — als derartige Abbilder haben wir das Leid des Willens zu
leiden, allerdings „nur unter der Vorstellung und der Vereinzelung in der
Vorstellung" 2 0 1 und d. h. unter der Vorstellung der lustvollen Vorstellung,
die wir sein mögen. Jene „entsetzliche[...] Constellation" im Grunde der
Dinge fällt darum
in unsrer Augen „weit- und erdgemäß O r g a n " [ . . . ] als unersättliche Gier
zum Dasein und ewiges Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als
W e r d e n . Jeder Augenblick frißt den vorhergehenden, jede Geburt ist der
T o d unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist eins.
So Nietzsche in der Vorrede „ D e r griechische Staat" 202 . Die uns Schmerzen
und Lust zumal bereitende Trias von Geburt, Leben und T o d aber ist
letztlich nichts anderes als der eine, in sich zwiefältige Um-riß des Streites
von Dionysos und Apoll. Für uns ist der vorgeblich metaphysische
„Urwiderspruch" nur als der „physische" (das W o r t in Nietzsches Sinne
verstanden) des Werdens: D = D x A haben wir formelhaft gesagt. Die
Rückführung desselben auf besagten Urwiderspruch hinter den Dingen muß
deshalb, wie schon gezeigt, als Sprach-Erbe der Schopenhauerschen
Willensmetaphysik angesehen werden.
258 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

D i e Rückübersetzung in die N i e t z s c h e eigentümliche Sprache lautet


aber: Als Auswurf des Streites der W e l t müssen wir beständig den in sich
zwiefältigen Um-riß, v o n Schmerz in Lust und v o n Lust in Schmerz,
erleiden:
Die Lust der Erscheinung, der Schmerz der Erscheinung — das
A p o l l i n i s c h e und das D i o n y s i s c h e , die sich immer gegenseitig zur
Existenz reizen. 203
Jedes Geschehnis dieses Streites ist im Hinblick auf die Streitenden in sich
zwiespältig, immer sind Schmerz und Lust ineinander gemischt, Schmerz
auf der Seite des momentan Unterlegenen, Lust auf der Seite des
augenblicklich Überlegenen. So steigt mit dem Schwinden der Individua-
tion, dem U m - r i ß von Apoll zu D i o n y s o s hin, sowohl „Grausen" als auch
„ w o n n e v o l l e V e r z ü c k u n g " „aus dem innersten Grunde des Menschen, ja
der Natur e m p o r [ . . ,]" 204 , und v o m dionysischen Zustande her erscheint
„das principium individuationis", das Aufgehen und Wachsen der
Individuation, „gleichsam als andauernder Schwächezustand des Willens",
weil dieser darin in eine U n z a h l v o n Vorstellungen zerbröckelt und damit
seiner Einheit entäußert ist:
aus der höchsten Lust heraus tönt der Schrei des Entsetzens, die sehnenden
Klagelaute eines unersetzlichen Verlustes. 205
D a r u m künden „die eigentlichen dionysischen Mythen" davon,
wie der zukünftige Weltherrscher als Kind (D(ionysos) Z(agreus)) von den
Titanen zerstückelt wird und wie er jetzt in diesem Zustande als Zagreus zu
verehren ist. Dabei wird ausgesprochen, daß diese Zerreißung, das
eigentliche dionysische L e i d e n , gleich einer Umwandlung in Luft Wasser
Erde und Gestein Pflanze und Thier sei; wonach also der Zustand der
Individuation als der Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich
Verwerfliches betrachtet worden ist.206
Aber anders als Schopenhauer bejaht Nietzsche — gemäß seiner
U m d r e h u n g des Piatonismus — die apollinische Individuation:
Es giebt nur ein L e b e n : wo dieses erscheint, erscheint es als Schmerz und
Widerspruch. Die Lust allein in der Erscheinung und Anschauung möglich.
Die reine Versenkung in den Schein — das höchste Daseinsziel: dorthin,
wo der Schmerz und der Widerspruch nicht vorhanden erscheint. 207
D a s meint, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" zur Ausführung
bringt 208 , daß der Mensch,
um leben zu können, eine herrliche Illusion brauch[t], die ih[m] einen
Schönheitsschleier über [sein] eignes Wesen deck[t]. Dies ist die wahre
Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen
Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick
das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten
Augenblicks drängen.
Die Menschenkunst als kosmisches Ereignis 259

Was indes nicht heißen soll, daß Nietzsche den Menschen dazu anhielte, die
dionysische Sphäre zu verdrängen. Aber es soll sich leben lassen, und so ist
der reine Dionysismus, die beständige Ausgesetztheit in die dionysische
Sphäre für den Menschen nicht möglich. Gleichwohl meint Nietzsche ihm
als Wesensforderung abverlangen zu können, dieser Sphäre in der
apollinischen Abständigkeit eingedenk zu bleiben. Diesem Ansinnen vermag
der Mensch jedoch nur dann zu genügen, wenn er der Tröstungen der an
den Traum gemahnenden Kunst teilhaftig wird. Mögen nämlich auch zu den
oben angesprochenen Illusionen eigentlich alle Vorstellungen des Menschen
von der Welt zählen, so rechnet Nietzsche doch zum schönen Schein im
engeren Sinne nur den Traum und das vom Genius erzeugte Kunstwerk, der
,,[d]ie W a n d der Erscheinungen, rein als Erscheinungen", und nicht wie
„der Nicht-Genius [ . . . ] die Erscheinung als Realität anfschaut]" 209 .
Doch anders als Schopenhauer, an den auch diese Ausführungen
gemahnen 210 , betrachtet Nietzsche diese Versenkung in den schönen Schein
nicht als Vorstufe zu einer Erlösung von den Strebungen des Willens oder
Lebens, sondern, antithetisch formuliert, als eine noch tiefere Verstrickung
in sie: Das Leben selbst erzeugt den Schein, um sich von seinem Schmerz —
gleichgültig, ob von dem des Mangels oder der Uberfülle — zu befreien, um
seine Lust, die Lebenslust, zu erhöhen — im gewöhnlichen Menschen durch
die bloße Vorstellung der Welt, im Künstler durch den Schein der Kunst —,
ohne daß indes der Schmerz jemals völlig aussetzen dürfte, bedeutete dies
doch nicht nur das Ende der Lust — allein derjenige, der den Schmerz
kennt, weiß, was Lust ist —, sondern auch, nach dem Ansatz der
Artisten-Metaphysik, das Ende überhaupt jeglicher Erscheinung: „ P r o d u k -
tiv ist [ . . · ] der Schmerz, der als verwandte Gegenfarbe das Schöne
erzeugt" 2 1 1 . (Ein Satz, der für den Fall, daß mit dem Schmerz die
Empfindung der Uberfülle gemeint ist, zu modifizieren wäre, hätte man
doch dann das Schöne nicht mehr als Gegenfarbe, sondern als Farbe des
Schmerzes anzusehen.)
Immer aber ist es die „Richtung der Kunst, die Dissonanz", als welche
das Dasein darstellt, „zu überwinden", nämlich sie „als das an sich Störende
mit in das Kunstwerk hinüberzuziehn" 2 1 2 und derweise sie als „Realität" in
die „Idealität der Konsonanz" 2 1 3 aufzulösen.
Wenn sich Nietzsche hier — in Hindeutung auf die H e r k u n f t seines
Denkens aus dem Geiste der Musik — musikalischer Termini bedient, dann
deutet sich damit erneut die Widersprüchlichkeit seines Entwurfes einer
Hierarchie der Künste an. Denn was die Tragödie nur gedanklich vermitteln
kann, daß nämlich
260 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist,


welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt.214,
— dieses „schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen K u n s t "
vermag die Musik dagegen „ a u f directem W e g e " , d. h. ohne gedankliche
Übersetzung, „verständlich und unmittelbar" mitzuteilen: eben „in der
wunderbaren Bedeutung der m u s i k a l i s c h e n D i s s o n a n z " 2 1 5 . Auf der
einen Seite spricht Nietzsche darum der Musik als „ihre wahre W ü r d e " zu,
„dionysischer Weltspiegel zu sein" — wovon sie in der O p e r völlig
entfremdet ist, weil ihr dort „ n u r übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung,
das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen" 2 1 6 —, auf der anderen
Seite aber rückt er sie in eine dienende Stellung gegenüber der T r a g ö d i e ,
wenn er ihre H a u p t a u f g a b e darin erblickt, deren Wiedergeburt in der
Gestalt des Musikdramas einzuleiten.
D a s Dasein eine Dissonanz, die nach Auflösung strebt in der Idealität
der Konsonanzen von T r a u m und Kunstwerk: bezogen auf den
kosmologischen Ansatz der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " heißt das nun, daß sie als
Versuche der Linderung des menschlichen Schmerzes in einem zumal auch
Versuche der Überwindung des Urschmerzes darstellen, von dem das
Ur-Eine sich bereits in seinem Weltentraum zu befreien sucht. Im Hinblick
auf diesen T r a u m des Ur-Einen müssen die T r ä u m e und die Kunstwerke des
Menschen als „ S c h e i n d e s S c h e i n s , somit als eine noch höhere
Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin" 2 1 7 gelten. J a , ein Teil der
Kunst muß gar als Schein des Scheins des Scheins aufgefaßt werden. S o gibt
Nietzsche in seiner Abhandlung über „ D i e dionysische Weltanschauung" 2 1 8
zu bedenken:
Während also der Traum das Spiel des einzelnen Menschen mit dem
Wirklichen ist, ist die Kunst des Bildners (im weiteren Sinne) das S p i e l
mit d e m T r a u m . Die Statue als Marmorblock ist ein sehr Wirkliches,
das Wirkliche aber der Statue a l s T r a u m g e s t a l t ist die lebendige
Person des Gottes. So lange noch die Statue als Phantasiebild vor den
Augen des Künstlers schwebt, spielt er noch mit dem Wirklichen: wenn er
dies Bild in den Marmor übersetzt, spielt er mit dem Traum.
Bezogen auf das sich des Künstlers bedienende Ur-Eine heißt dies aber:
„jetzt giebt es ein Bild des Bildes des Bildes" 2 1 9 , streng genommen sogar ein
Bild des Bildes des Bildes des Bildes: Bereits auf der Stufe der einfachen
Weltbetrachtung des Menschen stellt sich das Ur-Eine seine Visionsgestalt
vorstellend vor, bereits hier ist somit ein Bild des einen Weltbildes
vorhanden, das zu diesem, wie wir wissen, in prästabilierter Harmonie steht.
Auf solche Momente des potenzierten Scheines ist es nun nach der
kosmologischen Fassung von Nietzsches früher Philosophie des umgedreh-
ten Piatonismus, welche das Leben im Schein als Ziel ansieht, „bei der
Weltschöpfung abgesehn" 2 2 0 . Erst auf dieser Scheinstufe
Versuch einer Er-läuterung 261

[i]m Künstler kommt der Wille zur Entzückung der Anschauung. Hier ist
erst der Urschmerz völlig von der Lust des Anschauens überwogen. 221
(Wohlgemerkt: im Künstler und nicht im Kunstwerk, das als solches „ein
sehr Wirkliches", nämlich einfache Erscheinung ist und nur im ästhetischen
Zustand seines Schöpfers oder eines nachschaffenden Rezipienten in sein
Wesen, auf die Stufe eines potenzierten Scheines gehoben wird.)
Das U r e i n e schaut den Genius an, der die Erscheinung rein als
Erscheinung sieht: dies ist die Verzückungsspitze der Welt. [ . . . ] D i e s e
S p i e g e l u n g e n im G e n i u s s i n d S p i e g e l u n g e n d e r E r s c h e i -
n u n g , nicht mehr des Ureinen: als A b b i l d e r d e s A b b i l d e s sind es
die reinsten Ruhemomente des Seins. Das wahrhaft Nichtseiende — das
Kunstwerk. Die anderen Spiegelungen sind nur die A u ß e n s e i t e des
U r e i n e n . Das S e i n b e f r i e d i g t s i c h im vollkommenen
Schein. 2 2 2
Im Künstler-Genius ist damit das Medium zu sehen, „durch das hindurch
das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert", wie
Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" 2 2 3 bemerkt: Indem er ihm so —
wider besseres Wissen — kosmologische, d. h. metaphysische Bedeutung
zuspricht, hofft er seine Zeitgenossen dazu bewegen zu können, an der
„Perpetuierung" des Genius, als des in Nietzsches Augen einzigen Sinnes
der Kultur und damit auch des „Lebens", mitzuarbeiten.

6. Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der „ Geburt der


Tragödie aus dem Geiste der Musik"

Erinnern wir uns: Nicht erst dadurch, daß er sich — wider besseres
Wissen — der metaphysischen Terminologie Schopenhauers bedient, bringt
sich Nietzsche um die Möglichkeit, seiner in der späteren Forderung „Bleibt
der Erde treu!" ausgesprochenen, dem traditionellen metaphysischen
Denken widersprechende Grunderfahrung in höchster Reinheit denkend zu
entsprechen, vielmehr liegt sein metaphysischer Sündenfall schon darin
beschlossen, daß er diese Forderung im Sinne eines Umdrehens des
Piatonismus aufgefaßt wissen will (vgl. dazu die Anmerkungen 28 und 280
des Abschnitts „Voraussetzungen"). Eine Umdrehung der Metaphysik ist
aber, wie wir im Anschluß an Heidegger ausgeführt haben, keine
Herausdrehung aus ihr. So wendet sich Nietzsche zwar im Zuge der
Entgöttlichung der Welt jenen von der Philosophie seit ihren Anfängen als
χ ά ο ς , als μή öv oder auch als „Gewühle" abgetanen Bereichen zu, aber er
übernimmt dabei, wie schon erwähnt, die bisherige Auslegung derselben,
etwa wenn er im 109. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft" bemerkt:
262 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

D e r G e s a m m t - C h a r a k t e r der Welt ist [ . . . ] in alle E w i g k e i t C h a o s , nicht im


Sinne der fehlenden N o t h w e n d i g k e i t , sondern der fehlenden O r d n u n g ,
G l i e d e r u n g , F o r m , Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen
Menschlichkeiten heissen.
Damit erschöpft sich Nietzsches Umdrehung der Metaphysik, grob gesagt,
in einer bloßen Umwertung der bisherigen Welt-Auslegungen, in einer
Aufwertung des scheinhaften, chaotischen — des reinen — Werdens und in
einer Abwertung des wahren Seins. Gleich der Tradition vor ihm reißt auch
er mithin — seine eigene Kritik an diesem, in seinen Augen von Parmenides
inaugurierten Vorgehen vergessend — „die Sinne und die Befähigung
Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander" und spricht, in
Umkehrung der überkommenen Wertung, allein jenen die Fähigkeit zu
„wahrer" Welterkenntnis, dieser hingegen den Trieb zur Lüge zu:
Leugneten die Philosophen bisher den Augenschein des Werdens, der allein
durch die trügerischen Sinne vermittelt werde, so verwirft Nietzsche
nunmehr umgekehrt denjenigen des Seins, den uns allein die Vernunft
vorspiegeln soll. Allein, dieser Unterschied darf unwesentlich genannt
werden, spricht sich doch in beiden Haltungen das gleiche Mißtrauen gegen
den Augenschein der Welt aus: Beide Male soll der von der Physis gewährte
Anblick auf einen wahren oder auch nur „wahreren" Grund, den Grund
ihres Erscheinens zurückgeführt werden, beide Male wird nur das als Wesen
der Physis zugelassen, wodurch sie im Sein bzw. im Erscheinen ermöglicht
wird. Genau dies macht aber nach unserer Meinung den Grund-Satz der
metaphysischen Weltverhaltung aus, deren Grundoperation sich mithin vor
allem in dem Sinne als Reduktion erweist, daß sie — im Widerspruch zu
Nietzsches Treue-Forderung — den Reichtum der Physis veruntreut,
nämlich für den „einen" Grund, die „eine" causa, oder das „eine" Quale
eintauscht. In Ubereinstimmung mit der von Nietzsche in der „Geburt der
Tragödie" als sokratisch bezeichneten Weltverhaltung und in Widerspruch
zu Nietzsches Formel von der „Unschuld des Werdens" trägt sie damit den
Gerichts-Ton an das Seiende heran, wird es doch auf diese Weise der
Rechtfertigungs-Forderung der „Dialektik" unterstellt.
Physisch — oder mit Nietzsches Bezeichnung in der „Geburt der
Tragödie": tragisch — wäre demnach nur ein solches Denken zu nennen,
das sich rückhaltlos der Flüchtigkeit und Unbegreiflichkeit der Phänomene
anvertraut, somit ihre Endlichkeit in die Obhut nimmt und derweise auf die
Zustellung von Gründen Verzicht leistet — dies in der bisher allein von
manchen Dichtern gehüteten Einsicht, daß die Fähigkeit der Phänomene,
den Menschen belangend zu bestimmen, wesentlich von ihrer Ab-gründig-
keit (was etwas anderes als Grundlosigkeit ist) abhängig ist, werden sie doch
durch die Verfolgung ihrer Gründe solcherweise in eine andere Ordnung
Versuch einer Er-läuterung 263

überführt, daß man — wir haben dies an einer Gegenüberstellung der


Goetheschen und der Descartesschen Weltverhaltung aufzuzeigen versucht
— nur von ihrer Vernichtung sprechen kann: Verfolgung, Überführung und
Veränderung sind die drei Grundbedeutungen des griechischen μέτα, die
indes nur dann aus dem W o r t „Metaphysik" sprechen, wenn man φύσις
nicht mehr nur im Sinne der intransitiven Bedeutung von φ ύ ω „aufgehen,
zum Vorschein kommen" als Aufgehen in die Unverborgenheit, sondern im
Sinne der transitiven Bedeutung dieses Wortes, nämlich „wachsenlassen,
schaffen" als wachsenlassende Umfängnis versteht.
Indes: haben wir nicht immer wieder — vor allem gegenüber Heidegger
(siehe im vorherigen Abschnitt die Anmerkungen 259 und 819) — darauf
insistiert, daß Nietzsche aus dem Geist der Musik und damit aus der
Unbeständigkeit heraus denkt? Spricht er selber nicht wiederholt von der
Unfaßbarkeit der Schicht der Welt, die er für die „wahrste" hält? In der Tat,
uns scheint, daß Nietzsche hier Erfahrungen der dichterischen Welterfah-
rung metaphysisch mißdeutet, indem er sie — in bloßer Umdrehung des
Piatonismus — auf das von der Metaphysik abgewertete chaotische Werden
bezieht, weil er meint, dieses den Phänomenen als Grund zugrundelegen zu
müssen.
Daß sich ihm selber aus inneren Zwängen seines Denkens die Erkenntnis
aufdrängte, bei diesem T u n von der von ihm bekämpften Metaphysik
abhängig zu bleiben, dies aufzuzeigen ist das Anliegen des brillanten
Aufsatzes „Uber die Tragweite der Artisten-Metaphysik" 224 von Holger
Schmid, der mir während der Ausarbeitung dieses vorletzten Kapitels
unserer Abhandlung zur Kenntnis gelangt ist. Zufolge dieses Aufsatzes
erblickt Nietzsche schließlich allein in der künstlerischen Weltverhaltung die
Möglichkeit, den weltvernichtenden Begründungswillen überwinden zu
können. Schmid bezieht sich dabei vor allem auf Notate, die Nietzsche im
Herbst 1885—Herbst 1886 und im Frühjahr 1888 2 " anläßlich erneuter
Lektüren seiner philosophischen Erstlingsschrift aufgezeichnet hat. Die
„Geburt der Tragödie" ist Nietzsche danach in einem solch neuen Licht
erschienen, daß man schon auf diese Lektüre beziehen darf, was Nietzsche
ein dreiviertel Jahr später, am 9. 12. 1888, an Heinrich Köselitz schreibt:
Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, d e r i c h j e t z t z u m
e r s t e n M a l e m i c h g e w a c h s e n f ü h l e . Verstehen Sie das? Ich habe
Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt, — im
Gegentheil!...
Angesichts dieser Notizen darf auch f ü r die hier in Rede stehende Schrift in
Anspruch genommen werden, was Nietzsche in jenem Brief kurz darauf
über die 3. und 4. Unzeitgemässe Betrachtung bemerkt:
264 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen v e r s t a n d e n . —226


Dieses aus den Aufzeichnungen sprechende neue Selbst-Verständnis seiner
Schrift bringt Nietzsche — und mit ihm Schmid — in die Nähe dessen, was
wir aus der „Geburt der Tragödie" meinen herauslesen zu müssen, ohne daß
dies doch beiden Anlaß gegeben hätte, die Begrifflichkeit der Schrift im
Sinne des nun erreichten Blickpunktes zu er-läutern, will sagen: sie von den
metaphysischen Implikationen zu befreien, sie somit aus dem Metaphysi-
schen ins „Physische" übersetzend überzusetzen. Wir wollen darum von der
bisherigen Gepflogenheit, Auseinandersetzungen mit anderen Auslegungen
Nietzsches nur in den Anmerkungen zu führen, abweichen und im
folgenden ausführlich auf Schmids Ausführungen eingehen, um mit ihrer
Hilfe unseren Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der
„Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" abzusichern: Unseres
Wissens ist Schmid der einzige aus der großen Schar der Nietzsche-Inter-
preten, der diesen Haupt-Aspekt des Nietzscheschen Denkens in den Blick
bekommen hat: mangelnde Vertrautheit mit Dichtung und Fixiertheit auf
metaphysische Ansätze scheinen die Gründe dafür zu sein, daß die meisten
Nach-Denker nicht einmal eine Ahnung davon haben, „ d a s s hier ein
Problem vorliegt".
Es deutet sich mithin schon an, daß wir aus sachlichen Gründen im
folgenden gezwungen sind, noch mehr als bisher Texte aus späteren
Schaffenszeiten heranzuziehen. Doch nötigt uns nicht nur die Auseinander-
setzung mit Schmid dazu, sondern auch die Tatsache, daß die wenigen
Zeugnisse, die in denkerischer Form von Nietzsches dichterischer
Welterfahrung künden, über seinen gesamten Denk-Weg verstreut sind. —
„Die Auslegung allen Geschehens als Wille zur Macht — oder, anders
gesagt, der Welt als Kraft — beginnt geläufigerweise mit der Abwendung
von einer traditionellen Vorstellung ,seiender' Dinge", bemerkt Schmid und
denkt dabei mit, daß diese Abwendung die Verwerfung der traditionellen
metaphysischen Annahmen von „Substanz, Ding, Körper, Seele usw."
impliziert, damit aber auch die Verwerfung der „Trennung des,Thuns' vom
,Thuenden', des Geschehens von einem (Etwas), das geschehen m a c h t , des
Prozesses von einem Etwas, das nicht Prozeß, sondern dauernd [ . . . ] ist"
(Herbst 1885—Herbst 18 8 6 227 ), d . h . die Verwerfung des „Causalismus",
des Schemas von Ursache und Wirkung, an das alle jene Annahmen
Nietzsche zufolge gebunden sind. (So heißt es in einer Aufzeichnung vom
Frühjahr 18 8 8 22«: „Das Ding, das Subjekt, der Wille, die Absicht — alles
inhärirt der Conception ,Ursache'.") An die Stelle besagter Vorstellungen
setzt Nietzsche nach Schmid „das Interpretieren als Grundgeschehen des
,Lebens'" (438), das sich ohne seiende Subjekte in der formalen Struktur
Versuch einer Er-Iäuterung 265

von Affekten vollzieht, als die Nietzsche die interpretierenden Kraftzentren


oder Machtquanten aufgefaßt wissen will.
Schmidt weist nun darauf hin, daß „diese Auslegung des Daseins oder
Interpretierens, wie es der dichtgedrängte Aphorismus 36 in Jenseits von
Gut und Böse' deutlich genug ausspricht, von einer Voraussetzung getragen
[wird], der nämlich, daß wir ,den Willen wirklich als w i r k e n d
anerkennen'", wobei Nietzsche hinzufüge, „dies sei im Grunde ,der Glaube
an Kausalität selbst'". Auch seine Konzeption der Welt als Kraft komme
mithin, so Schmid weiter, um die Annahme einer Art von Kausalität nicht
herum: „— der stärkere Wille dirigirt den schwächeren. Es giebt gar keine
andere Causalität als die von Wille zu Wille.", zitiert er (438) eine
Aufzeichnung Nietzsches vom Mai—Juli 18 8 5229. Auf dieser Kausalität
beruhe das Werden, und von ihr her erfasse es der Gedankenkreis von
Nietzsches Physiologie, die damit das fortsetze, „was Nietzsche
vordergründig-spöttisch die ,älteste Mythologie' oder in anderem
Zusammenhang die ,Psychologie der religiösen Menschen' nennt: nämlich
die Vermenschlichung des Geschehens als eines Wirkens, als Willens-Kausa-
lität. Indem sie das Geschehen, und vor allem den Leib, als Zeichensprache
kämpfender Affekte versteht, zementiert sie eben damit den ,Glauben an
Kraft und deren Wirkung', oder präziser: an die — uns verborgene —
,wahre Welt der Ursachen'." (439) 230 Derweise stehe aber diese Physiologie
mit ihrer „Grund-Überzeugung von der wahren Welt der Kraft [ . . . ] in
Nietzsches eigenem Sinne [ . . . ] auf dem Boden der Wissenschaff' und ihres
Glaubens „an die Grammatik des Urteils (oder an den Logos als Aussage)"
(439). Ebendiesen Glauben ob seiner groben, dem Augenschein
verpflichteten Täuschungen zu überwinden, ist aber Nietzsches erklärte
Absicht.
Schmid glaubt den sich hier abzeichnenden Widerspruch dadurch
auflösen zu können, daß er den Glauben, alles sei Wille gegen Willen, und
damit Nietzsches Philosophie des Willens zur Macht insgesamt, als
„exoterisch" bezeichnet. Er denkt dabei zunächst wohl an den
30. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse", in dem Nietzsche auf den
Unterschied zwischen exoterischen und esoterischen philosophischen
Lehren verweist, den man überall dort antreffe, „ w o man eine Rangordnung
und n i c h t an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte" 231 , d . h . — so darf
man wohl mit Recht, vor allem eingedenk des Anfangssatzes von jenem
Aphorismus („Unsre höchsten Einsichten müssen — und sollen! — wie
Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter
Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und
vorbestimmt sind."), interpretieren — auch in Nietzsches eigener
266 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Philosophie. W o b e i sich das Exoterische und das Esoterische N i e t z s c h e


zufolge
nicht sowohl dadurch von einnander ab [heben], dass der Exoteriker
draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt,
misst, urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge
sieht, — der Esoteriker aber v o n O b e n h e r a b ! 2 3 2
Bei seiner Einstufung des Willens zur M a c h t als einer exoterischen
K o n z e p t i o n dürfte Schmid v o r allem drei A u f z e i c h n u n g e n N i e t z s c h e s im
A u g e gehabt haben. D i e erste stammt v o m S o m m e r — H e r b s t 18 8 7 233 :
Exoterisch — esoterisch
1. — alles ist Wille gegen Willen
2 Es giebt gar keinen Willen
1 Causalismus
2 Es giebt nichts wie Ursache-Wirkung.
Exoterisch wäre d e m n a c h eine solche Philosophie z u nennen, die die W e l t
am Leitfaden der Kausalität als Folge v o n W i l l e n s w i r k u n g e n auslegt,
esoterisch h i n g e g e n eine solche, die die Existenz s o w o h l eines Willens als
auch eines U r s a c h e - W i r k u n g s - K o m p l e x e s leugnet; beide V e r w e r f u n g e n
g e h e n letztlich z u s a m m e n , w i e der Schluß des berühmten Aphorismus 36 in
„Jenseits v o n Gut und Böse" 2 3 4 lehrt:
Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w i r k e n d
anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben: thun wir das —
und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität
selbst —, so m ü s s e n wir den Versuch machen, die Willens-Causalität
hypothetisch als die einzige zu setzen. „Wille" kann natürlich nur auf
„Wille" wirken — und nicht auf „ S t o f f e " (nicht auf „ N e r v e n " zum
Beispiel —): genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, w o
„ W i r k u n g e n " anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt — und ob nicht
alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben
Willenskraft, Willens-Wirkung ist. — Gesetzt endlich, dass es gelänge,
unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer
G r u n d f o r m des Willens zu erklären — nämlich des Willens zur Macht, wie
es m e i n Satz ist —; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf
diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung
des Problems der Zeugung und Ernährung — es ist Ein Problem — fände,
so hätte man damit sich das Recht verschafft, a l l e wirkende Kraft
eindeutig zu bestimmen als: W i l l e z u r M a c h t . Die Welt von innen
gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter" hin bestimmt und
bezeichnet — sie wäre eben „Wille zur Macht" und nichts ausserdem. —
Schmids Einschätzung des Willens zur M a c h t als exoterische K o n z e p t i o n
stützt sich vermutlich n o c h auf eine weitere A u f z e i c h n u n g , auf jenes v o n uns
bereits zitierte N o t a t v o m Herbst 1 8 8 5 — H e r b s t 1886, in d e m N i e t z s c h e
„ Z u m ,Causalismus'" f o l g e n d e s z u bedenken gibt:
Versuch einer Er-läuterung 267

Thatsächlich stammt der Begriff ,Ursache und Wirkung', psychologisch


nachgerechnet, nur aus einer Denkweise, die immer und überall Wille auf
Wille wirkend glaubt, — die nur an Lebendiges glaubt und im Grunde nur
an ,Seelen' (und n i c h t an Dinge) Innerhalb der mechanistischen
Weltbetrachtung (welche Logik ist und deren Anwendung auf Raum und
Zeit) reduzirt sich jener Begriff auf die mathematische Formel — mit der,
wie man immer wieder unterstreichen muß, niemals Etwas begriffen, wohl
aber etwas bezeichnet, v e r z e i c h n e t wird.235
Schmid dürfte aus dieser Bemerkung schließen, daß auch Nietzsche mit
seiner physiologischen Ausdeutung des Weltgeschehens als Affektgeschehen
des Willens zur Macht — wobei, wie Schmid hervorhebt, „die Affekt-Natur
[ . . . ] Nietzsches Ergänzung am mechanischen Kraftbegriff" ist (438) —,
daß auch Nietzsche mit dieser Deutung „nur gethan hat, was Philosophen
eben zu thun pflegen: dass er ein V o l k s - V o r u r t h e i l übernommen und
übertrieben hat" — ein Vorwurf, den Nietzsche im 19. Aphorismus von
„Jenseits von Gut und Böse" gegen Schopenhauer und dessen
Willens-Konzeption erhebt, von der sich Nietzsche im folgenden auf das
entschiedenste absetzt. Woraus geschlossen werden kann, daß Nietzsches
exoterisches Denken von seiner eigenen Absicht her keineswegs ein solches
sein will: Die „Exoterik" widerfährt ihm — wir werden darauf
zurückkommen.
Das exoterische Denken Nietzsches findet Schmid dagegen in dessen
„Artisten-Metaphysik", die die Erscheinungen nicht mehr wie die
exoterische Physiologie nach ihrer H e r k u n f t befrage, sie mithin als
Symptome eines sinkenden oder steigenden,Lebens' oder Willens zur Macht
in der Weise abschätze, daß etwa — ζ. B. in dem Aphorismus 370 der
„Fröhlichen Wissenschaft" ( „ W a s i s t R o m a n t i k ? " aus dem fünften
Buch von 1887) — „vom Werk auf den Urheber, von der T h a t auf den
T h ä t e r " zurückgeschlossen wird, wobei hingeschlossen wird „auf ein
.dahinter kommandirende(s) B e d ü r f n i s s ' , das als schaffend angesetzt,
das heißt im Urteil fingiert wird."(440) Weil die Artisten-Metaphysik nicht
mehr an eine solche Kausalität des wirkenden Willens glaube, darum lehne
sie demgegenüber jene Frage nach der H e r k u n f t ab. Als Beleg für seine
Behauptung führt Schmid eine Passage an aus dem vierten Stück von „Was
bedeuten asketische Ideale", der dritten Abhandlung der Schrift „ Z u r
Genealogie der Moral":
Die Einsicht in die H e r k u n f t eines Werks geht die Physiologen und
Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen
Menschen, die Artisten!236
Als Anfang der Artisten-Metaphysik müssen daher, so Schmid (440), der
Satz gelten: „ e i n Geschehen ist w e d e r b e w i r k t , noch
237
bewirkend" .
268 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

„ ,Es gibt gar keinen Willen.'" zitiert Schmid und betont, daß die
Ablehnung der Geschehens-Auslegung als Wirken im Bereich des
Esoterischen zugleich die Ablehnung des Urteils — „nach Nietzsche als der
für-wahr-haltenden und daraus begründenden ,Denkweise'" — als
Grammatik der höchsten Einsicht bedeute, damit aber zugleich auch die
Verwerfung der Wissenschaft überhaupt, insofern deren Leitfaden eben
diese Grammatik sei. „ D e r geschichtliche O r t des Artisten-Gedankens ist
der Weltzustand, welcher bei Nietzsche der T o d des moralischen Gottes
heißt 238 und dessen Entdeckung gleichsam den Aon des Glaubens beschließt.
An diesem ,Wendepunkt der Geschichte' denkt die Esoterik an einen
,Zustand', den man zum Unterschied vom Fürwahrhalten als Erscheinen
bezeichnen könnte. Statt der Grammatik der Aussage (oder der gleichfalls
urteilenden ,Wertschätzung') ist die ,höchste' Sprache dieses Zustandes das
Bejahen als interpretierendes Dasein des Leibes, dem hier keine wahre
Affekt-Welt des Bedürfnisses ,dahinter' entspricht." (441) In dieser
Konzeption, in der Nietzsche „radikaler, ,besser als Descartes' zweifelt"
(440) — Schmid spielt hier auf ein Notat von August—September 1885 an 239
—, weil sie das von ihr selbst als wirklich vorhanden Gedachte, die
Kausalität des wirkenden Willens, bezweifle, finde Nietzsches Philosophie
„zum Gedanken der Bejahung oder des tragischen Pathos" (440), wie es im
ersten Zarathustra-Stück des „Ecce h o m o " heißt: „ D a es keinen Willen
gibt, kann das Erkennen des Artisten allein ein Bejahen des Ganzen der Welt
sein. Davon spricht Nietzsche als ,amor fati', das bedeute: dionysisch zum
Dasein stehen. Das urteilende Wertschätzen, das Wollen des schaffenden
Bedürfnisses, reicht nicht dorthin; Leitfaden des Bejahens ist vielmehr der
vornehme Gedanke einer Dankbarkeit, welche zu groß ist, als daß sie
Menschen abgestattet werden kann. [ . . . ] Der Artist ist Erkennender als
Schauspieler: in der Transfiguration des interpretierenden Leibes" (442), in
der er, wie Schmid an anderer Stelle ausführt, „die Vollkommenheit der Welt
[ . . . ] ausspricht" (441). Dies alles sei, so Schmid weiter, gedacht „in dem
berühmten W o r t vom ,Olymp des Scheins'" (ebd.) aus der 1887
geschriebenen Vorrede zur 2. Ausgabe der „Fröhlichen Wissenschaft"
(5/2, 13—20), auf die wir daher — zumindest kurz — eingehen müssen,
wenn wir in eine Auseinandersetzung mit Schmids Ausführungen eintreten
wollen.

Zunächst stellt Nietzsche in dieser Vorrede ganz im Sinne der, mit


Schmid zu sprechen, exoterischen Physiologie die Frage,
ob nicht, im G r o s s e n gerechnet, Philosophie bisher ü b e r h a u p t n u r eine
Auslegung des Leibes und ein M i s s v e r s t ä n d n i s s d e s Leibes
gewesen ist. (16)
Versuch einer Er-läuterung 269

W o r a u f er sich selbst die Antwort gibt:


Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren
Antworten auf die Frage nach dem W e r t h des Daseins, zunächst immer
als Symptome bestimmter Leiber ansehn; [ . . . ] bei allem Philosophiren
handelte es sich bisher gar nicht um „Wahrheit", sondern um etwas
Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht,
L e b e n . . . (16 f.)
Spricht Nietzsche in diesen Sätzen eindeutig im Hinblick auf die
Philosophie des Willens zur Macht, so kann man in der Fortführung dieses
Gedankenganges in der T a t eine zunehmende Abkehr v o n dem darin
waltenden metaphysischen Begründungswillen erkennen. Aus der Erfah-
rung seines eigenen D e n k e n s bemerkt er:
Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und
immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchge-
gangen: er k a n n eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die
geistigste Form und Ferne umzusetzen, — diese Kunst der Transfiguration
i s t eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele
und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei,
zwischen Seele und Geist zu trennen. (17)
W o r a n er die Bemerkung knüpft:
Leben — das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und
Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir k ö n n e n gar nicht
anders. (17 f.)
Er rühmt in diesem Zusammenhang sogar die Krankheit — seine Krankheit,
die er bereits eingangs der Vorrede angesprochen und thematisiert hat, um
dem Leser die Gestimmtheit näherzubringen, in der die „Fröhliche
Wissenschaft" entstanden ist, „die Dankbarkeit eines Genesenden" (13).
N i e t z s c h e schreibt:
Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der
Lehrmeister des g r o s s e n V e r d a c h t e s [ . . . ] Erst der grosse Schmerz
[ . . . ] zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles
Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein
wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun.
Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz „verbessert" —; aber ich weiss, dass er
uns v e r t i e f t . [ . . . ] Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst
wurde zum P r o b l e m . (18)
Gleichwohl ist diese H a l t u n g z u m „Leben" ein Zustand der Krankheit, aus
dem es sich zu befreien gilt, weil er erst im Zustand der Gesundheit seine
eigentliche Fruchtbarkeit entfalten kann:
man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum,
auch aus dem Siechthum des schweren Verdachts, n e u g e b o r e n zurück,
gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die
Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren
Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude,
270 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

kindlicher zugleich und hundert Mal raffinirter als man jemals vorher
gewesen war. (19)
D i e s e U n s c h u l d erzwingt vor allem eine Abkehr v o n der Wissenschaft und
eine Z u w e n d u n g zur Kunst:
Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr
lernen, gut zu vergessen, gut η i c h t - z u - w i s s e n , als Künstler! Und was
unsere Z u k u n f t betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden
jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher
machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen
verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen
wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur
„Wahrheit um jeden Preis", dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur
Wahrheit — ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig,
zu gebrannt, zu t i e f . . . Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch
Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug
gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der
Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein,
nicht Alles verstehn und „wissen" wolle. [ . . . ] Man sollte die S c h a m
besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r hinter Räthsel und bunte
Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das
Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? (19 f.)
U n d er rühmt in dieser Hinsicht die Weltverhaltung der Griechen:
Sie verstanden sich darauf, zu l e b e n : dazu thut N o t h , tapfer bei der
Oberfläche, der Falte, der H a u t stehen zu bleiben, den Schein anzubeten,
an Formen, an T ö n e , an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu
glauben! Diese Griechen waren oberflächlich — a u s T i e f e ! U n d
kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir
die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens
erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus
h i n a b g e s e h n haben? Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter
der Formen, der Töne, der Worte? Eben darum — Künstler? (20)
Die zuletzt zitierte Passage widerspricht unseres Erachtens Schmids
Behauptung, daß Nietzsche seine in die Tiefen der Erscheinungen
hinab- und ihren G r ü n d e n nachfragende Philosophie des Willens zur Macht
als exoterisch eingeschätzt hat, meinen wir d o c h die R e d e v o n der „ h ö c h s t e n
u n d gefährlichsten Spitze des g e g e n w ä r t i g e n G e d a n k e n s " , v o n der aus
„wir" „hinabgesehn haben", auf sie beziehen zu müssen: das
„Hinabsehen" aber ist, wie erinnerlich, ein Charakteristikum des
Esoterischen. A u c h die Philosophie des Willens zur Macht dürfte somit in
N i e t z s c h e s A u g e n esoterisch sein, zumindest an ihrer Spitze, dort nämlich,
w o sie die — v o n Schmid als „ e x o t e r i s c h " bezeichnete — Frage nach den
„ U r s a c h e n " und „ U r - S a c h e n " z u hintergehen versucht, damit aber zur
Uberwindung des eigenen Ansatzes und d. h. zur Selbstüberwindung
hinaustreibt. D i e s e n V e r s u c h übergeht Schmid. 2 4 0
Versuch einer Er-läuterung 271

Er findet sich in einer der „Kritik des Mechanismus"


g e w i d m e t e n A u f z e i c h n u n g v o m Frühjahr 18 8 8 241 . N i e t z s c h e b e m ä n g e l t d o r t
z u n ä c h s t die m o r a l i s c h e n I m p l i k a t i o n e n in der m e c h a n i s t i s c h e n W e l t a u s d e u -
t u n g a m Beispiel der B e g r i f f e „ N o t h w e n d i g k e i t " u n d „ G e s e t z " :
das erste legt einen falschen Z w a n g , das zweite eine falsche Freiheit in die
Welt. „ D i e D i n g e " betragen sich nicht regelmäßig, nicht nach einer
R e g e l : es giebt keine Dinge (— das ist unsere Fiktion) sie betragen sich
ebensowenig unter einem Z w a n g von Nothwendigkeit. H i e r wird nicht
gehorcht: denn d a ß e t w a s s o i s t , w i e e s i s t , so stark, so schwach,
das ist nicht die Folge eines Gehorchens oder einer Regel oder eines
Z w a n g e s . . .242
Es ist v i e l m e h r , so N i e t z s c h e , die F o l g e d e s s e n , d a ß „ j e d e M a c h t [ . . . ] in
j e d e m A u g e n b l i c k ihre l e t z t e C o n s e q u e n z [zieht]". 2 4 3 N i e t z s c h e erläutert
diese K o n z e p t i o n :
Ein M a c h t q u a n t u m ist durch die W i r k u n g , die es übt und der es widersteht,
bezeichnet. [ . . . ] Es ist essentiell ein Wille zur Vergewaltigung und sich
gegen Vergewaltigungen zu wehren. [ . . . ] . Deshalb nenne ich es ein
Q u a n t u m „ W i l l e z u r M a c h t " : damit ist der C h a r a k t e r ausgedrückt,
der aus der mechanischen O r d n u n g nicht weggedacht w e r d e n kann,
ohne sie selbst w e g z u d e n k e n .
Eine Übersetzung dieser W e l t von W i r k u n g in eine s i c h t b a r e Welt
— eine Welt f ü r ' s Auge — ist der Begriff „ B e w e g u n g " . H i e r ist immer
subintelligirt, daß e t w a s bewegt wird [ . . . ] d . h . wir sind aus der
Gewohnheit nicht herausgetreten, zu der uns Sinne und Sprache verleiten.
Subjekt, Objekt, ein T h ä t e r z u m T h u n , das T h u n und das, was es thut,
gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik und nichts
Reales bezeichnet. 2 4 4
U n d er fährt f o r t :
Eliminiren wir diese Z u t h a t e n : so bleiben keine Dinge übrig, sondern
dynamische Q u a n t a , in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen
dynamischen Q u a n t e n : deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen
Q u a n t e n besteht, in ihrem „ W i r k e n " auf dieselben — der Wille zur M a c h t
nicht ein Sein, nicht ein W e r d e n , sondern ein P a t h o s ist die elementarste
Thatsache, aus der sich erst ein W e r d e n , ein Wirken e r g i e b t . . .245
V o n e i n e m „ W i r k e n " des W i l l e n s z u r M a c h t darf m a n , s o ist daraus z u
s c h l i e ß e n , nur d a n n s p r e c h e n , w e n n m a n des u n e i g e n t l i c h e n Charakters
dieser R e d e w e i s e e i n g e d e n k bleibt: D e n W i l l e n z u r M a c h t k a n n u n s e r e
S p r a c h e nur m e t a p h o r i s c h b e z e i c h n e n , w e i l sie d e m g r o b e n A u g e n s c h e i n
v e r p f l i c h t e t ist, d e n j e n e K o n z e p t i o n z u h i n t e r g e h e n sucht. S o gilt in seiner
Sphäre:
Es g i e b t w e d e r U r s a c h e n , n o c h Wirkungen.
Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen. Aber daran liegt
nichts. W e n n ich den M u s k e l von seinen „ W i r k u n g e n " getrennt denke,
so habe ich ihn n e g i r t . . .
272 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch


bewirkend246.
Sprachlich wissen wir darum nicht vom Ursache-Wirkungs-Schema
loszukommen, weil der in der Sprache gefaßte Augenschein, wie Nietzsche,
den Ansatz seines philosophischen Lehrmeisters Schopenhauer weiter
denkend, ausführt, von der Kategorie der Kausalität erzeugt wird: die
mithin auch das dem Augenschein vorausliegende „ W e r d e n " erfaßt, sobald
es mit Hilfe der Sprache begriffen wird. Der Versuch, dieses Schema zu
transzendieren, zeitigt derweise die Konsequenz, daß die Sprache
augenscheinlich nichts mehr sagt: den Willen zur Macht als „ P a t h o s " zu
bezeichnen, heißt im Sinne des Augenscheins, sich einer Leerformel zu
bedienen: Die „ ,höchsten Begriffe', das heisst die allgemeinsten, die leersten
Begriffe", so bemerkt Nietzsche selber in der „Götzen-Dämmerung" 2 4 7 ,
bilden „den letzten Rauch der verdunstenden Realität". Dort aber, wo sich
diese Leerformel füllt, wird sie sogleich durch das geprägt, von dem sie sich
zu befreien sucht: als „elementarste Thatsache" soll dieses „ P a t h o s "
Ursache dafür sein, daß sich „ein Werden, ein Wirken ergiebt". (Dazu
bemerkt Bernhard Lypp in seinem Aufsatz „Dionysisch-apollinisch: ein
unhaltbarer Gegensatz, Nietzsches ,Physiologie' der Kunst als Version
,dionysischen Philosophierens" 248 : „Dieses Pathos, wie immer man es
genauer kennzeichnen mag, ist von Beginn an Äußerung, es verbirgt sich
nicht in vorstellenden Mechanismen, sondern es stellt sich in ihnen dar. [ . . . ]
Im Lebensprozeß als ganzem kommt dieses elementare Pathos eben darin
zur Geltung, daß er nur als ein fortgehendes Assimilationsgeschehen
verstanden werden kann. Dieses ist grund- und ziellos und kann darum nicht
am Leitfaden der Kausalität ausgelegt werden. Das Ungenügen, das
Schopenhauer am Satz vom Grunde als eines Mittels empfindet, den
metaphysischen Grund der Welt zu begreifen, hält Nietzsche fest, er zieht
aber daraus nicht die Konsequenz, man müsse deshalb zu dualistischen
Begriffsbildungen greifen. Leben als ganzes kann nur als ein Assimilations-
geschehen von Unbestimmtheit gedeutet werden." Und anderer Stelle 249 gibt
Lypp zu bedenken: „Was in metaphysischer Begriffsbildung als das Pathos
eines organischen Systems bezeichnet werden kann, ist in physiologischer
seine ,Spannung'. Der Rauschzustand ist die Bedingung ihrer Entladung. Er
muß als Zustand psychophysischer Enthemmung verstanden werden. In ihm
brechen die Sprachfiguren zusammen, in denen die Welt als Inbegriff
repräsentierender Mechanismen vorgestellt werden kann.")
,,[W]ir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene [ . . . ] zu
bezeichnen.", bemerkt Nietzsche im August—September 18 8 5250. Kurze
Zeit vorher hat er darum seine Philosophie als „Philosophie der
,Gänsefüßchen'" charakterisiert 251 : Er verwirft damit, wie wir mit
Versuch einer Er-läuterung 273

Müller-Lauter 252 im Rückgriff auf frühere Ausführungen sagen können,


„alle Worte, sofern mit ihnen der Anspruch des Begriffes erhoben wird, und
gebraucht sie lediglich als , Zeichen1. Sie sollen auf Sachverhalte nur
hinweisen. Man muß diesem ihren Hinweisungscharakter folgen, man darf
sich nicht auf sie versteifen, man muß das,Begriffliche' hinter sich lassen, um
zu dem zu gelangen, was ,wirklich vorhanden' ist." Versteift sich aber
Schmid — trotz der Mahnungen der Gänsefüßchen — nicht auf den
Wortlaut des Aphorismus 36 aus „Jenseits von Gut und Böse", wenn er
Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht in der Hinsicht an der Frage
der Kausalität scheitern sieht, daß in ihr „Wille" auf „Wille" „wirke"?
Verkennt er nicht, daß Nietzsches Verwerfung eines Willens in jener auf
S. 266 zitierten Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1887 („Es giebt gar
keinen Willen") eindeutig auf die gewöhnliche Willensvorstellung bezogen
ist? Und sieht Nietzsche diese nicht von der Philosophie des Willens zur
Macht als überholt an? So heißt es etwa im „Antichrist":
Ehedem gab man dem Menschen als seine Mitgift aus einer höheren
O r d n u n g den „ f r e i e n W i l l e n " : heute haben wir ihm selbst den Willen
g e n o m m e n , in dem Sinne, dass d a r u n t e r kein V e r m ö g e n mehr verstanden
w e r d e n darf. Das alte W o r t „ W i l l e " dient nur dazu, eine Resultante zu
bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die nothwendig auf eine
Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt:
— der Wille „ w i r k t " nicht mehr, „ b e w e g t " nicht m e h r . . . 253
Ist damit nicht belegt, daß für Nietzsche die Lehre vom Willen zur Macht in
ihren höchsten Spitzen das exoterische Niveau überschreitet?
Gleichwohl scheint uns Schmids Unterscheidung zwischen einer
exoterischen und einer esoterischen Philosophie Nietzsches weiterhin
wesentlich zu sein — in einer nur um ein geringes verschobenen Hinsicht.
Wenn Schmid nämlich alle die Bereiche von Nietzsches Denken als
exoterisch bezeichnet wissen will, in denen Erscheinungen auf ihre Gründe
hin befragt werden, dann schließt das, wie Schmid zu Recht meint, sämtliche
physiologischen Frageansätze ein, ζ. B. solche, in denen Erscheinungen
daraufhin befragt werden, ob sich in ihnen ein steigender oder ein sinkender
Wille zur Macht ausspricht. Von der Philosophie des Willens zur Macht
selber bleibt indes jener schmale Bereich ausgeschlossen, in dem Nietzsche
über die vordergründige Annahme eines „Wirkens", gleich welcher Art,
nicht nur hinauswill, sondern tatsächlich hinauskommt: Dort, wo er den
Willen zur Macht als „ P a t h o s " bezeichnet, gelangt Nietzsche auf dem Wege
des in die Tiefenschichten der Erscheinungen hinabfragenden Frageansatzes
— im Hinblick auf die Klassifizierung als „Exoterik" gesprochen: auf dem
Wege der hinauffragenden Fragestellung — bis zu jenem Punkt, von dem
die Artisten-Metaphysik hinabschaut, ohne daß beide Fragehinsichten doch
ineinsfielen (bildlich und im Sinne einer Grundfigur des Nietzscheschen
274 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Denkens gesprochen, ist es so, daß zwei Halbkreise hart aneinanderstoßen,


ohne ineinander überzugehen). An diesem Punkt spricht, wie erinnerlich,
auch die Artisten-Metaphysik von einem „Pathos", vom tragischen Pathos
nämlich. Als dessen Leitgedanken sieht Schmid aber den Anfangssatz der
„Genealogie der Moral" an:
Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst254,
den es als unübersteigbar erkenne und in seiner Dunkelheit als fatum
verehre. Wie dies schon in der „Geburt der Tragödie" in der Weise zum
Ausdruck gebracht wird, daß sie ihren eigenen metaphysischen Ansatz — in
Übereinstimmung mit ihrer Verwerfung der sokratischen Weltverhaltung,
die sich „durch Wissen und Gründe der Todesfurcht" 2 5 5 zu entheben, die
Ab-gründigkeit der Welt zu verdrängen sucht — als Illusion bezeichnet, so
versteckt indes, daß auch Schmid dies nicht aufgefallen ist — wie ja auch
Nietzsche selber sich diesen Gedanken erst auf dem langen Umweg über die
Philosophie des Willens zur Macht zudenken konnte. Denn zusammen mit
der aus ihm hervorgehenden Weltverhaltung des „amor fati" ist dieser Satz
— was Schmid ebenfalls übersieht — auch ein „Ziel"gedanke der
Philosophie des Willens zur Macht. Ihr wird der Mensch, wie Wolfgang
Müller-Lauter ausführt, „eine so komplexe Machtorganisation, daß er nicht
mehr erfahren kann, was ihn ,im Grunde' treibt. Er ist Interpretation, aber er
wird interpretiert. Er ist Wille zur Macht, aber — als ,Wille des Menschen'
— ohnmächtiger Wille zur Macht hinsichtlich seiner Selbstkonstitution.
Dies einzusehen, heißt das Eingesehene als das letztlich Wahre
uneingeschränkt bejahen. ,Amor fati' ist das letzte Wort der Philosophie des
Willens zur Macht. Aber auch dieses Wort konnte ihr selbst nur aus ihrer
eigenen Abgründigkeit heraus ,zugesprochen' werden." 256 Eine Abgründig-
keit, die ihr ob der Radikalisierung der überlieferten Frage nach dem Grund
zuwächst und die deshalb von der abgründigen Verhaltung der
Artisten-Metaphysik bei aller Nähe zutiefst geschieden ist.
Anders als Schmid meint, ist diese nämlich nicht Ergebnis dessen, daß
Nietzsche „radikaler,,besser als Descartes' zweifelt", vielmehr erwächst sie
aus der Erkenntnis des oben zitierten Vorwortes zur „Fröhlichen
Wissenschaft", daß Wahrheit nicht mehr „Wahrheit bleibt, wenn man ihr
den Schleier abzieht". Woraus Nietzsche, wie gesehen, die Forderung
ableitet:
M a n sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r
hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.

Eine Erkenntnis, die schon Nietzsches Deutung des Odipus-Mythos in der


„Geburt der Tragödie" 2 5 7 nahelegt,
Versuch einer Er-läuterung 275

dass dort, wo durch weissagende und magische Kräfte der Bann von
Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation, und
überhaupt der eigentliche Zauber der N a t u r gebrochen ist, eine ungeheure
Naturwidrigkeit — wie dort der Incest — als Ursache vorausgegangen sein
muss; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse
zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h.
durch das Unnatürliche? [ . . . ] . Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu
wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein
naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die N a t u r in
den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der
N a t u r zu erfahren habe.
„ M a n sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter
Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat": Ebendiesen Satz könnte
man aber auch als Grundformel bezeichnen f ü r diejenige Weltverhaltung,
die wir als un- oder vormetaphysisch, kurz: als physisch bezeichnen. Sie
weiß darum, daß Begründung die Phänomene um ihren atmosphärischen
Reichtum und damit um ihre ursprüngliche Wahrheit bringt, als welche die
Fruchtbarkeit ist, die Fähigkeit, den Menschen mit immer neuen
Weltbezügen zu begaben:
schone, was solch zarte Haut hat!
Was willst du Flaum
von solchen Dingen schaben?,
heißt es beispielsweise in einer Aufzeichnung vom Sommer 18 8 8 258. In
ähnlicher Weise wie die Philosophie des Willens zur Macht ist auch die
vormetaphysische Weltverhaltung der Ansicht, daß die Dinge negiert, d. h.
nichtig gesetzt werden, wenn sie von ihrer „ W i r k u n g " im Hinblick auf ein
„dahinter" stehendes „Wesen" getrennt werden. Wie Goethe im Vorwort
zu seiner „Farbenlehre" sagt: „Wirkungen werden wir gewahr, und eine
vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das
Wesen jenes Dinges." 259 Doch während die Philosophie des Willens zur
Macht dieser Erkenntnis, daß das „ W e s e n " der Dinge ihre „ W i r k u n g " „ist"
— so daß „Wesen" verbal im Sinne eines „Wesens-" nämlich eines
Bezugsgeschehens zu verstehen ist —, dadurch zu entsprechen sucht, daß sie
alles, was augenscheinlich ist, in ein Geschehen mit „absoluter
Homogenität" und d. h. vollständiger Wesensgleichheit auflöst, in dem
somit — trotz aller darin waltenden Abgründigkeit — die Dinge in ihrer
Dinghaftigkeit, in ihrer Fähigkeit, den Menschen zu sich zu versammeln und
in dieser Versammlung zu be-stimmen, erst recht vernichtigt werden. Statt
von „Ab-gründigkeit", die den Dingen ihre Dinghaftigkeit zu bewahren
sucht, indem sie auf jedwede Beistellung von hinter oder in den Phänomenen
angesiedelten „ G r ü n d e n " verzichtet und damit „tapfer bei der Oberfläche,
der Falte, der Haut stehen[bleibt]" — von jedwedem Begründungswillen
absteht —, sollte man im Falle des Willens zur Macht besser von
276 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

„Grundlosigkeit" sprechen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß mit


ihm ein Grund erfragt ist, der sich indes selbst als grundlos, als in sich
ungegründet erweist. Mit anderen Worten: Weil ein faßbarer, rationaler,
„berechenbarer" Grund der Erscheinungen nicht aufgewiesen werden kann,
deshalb muß der traditionelle metaphysische Begründungsansatz verwandelt
werden, so zwar, daß er zu dem Satz hinausfragt: „Wir sind uns unbekannt,
wir Erkennenden, wir selbst uns selbst!", aber der Begründungswille als
solcher wird damit nicht aufgegeben.
Anders hingegen im Falle des gleichlautenden Satzes der Artisten-Meta-
physik, die es damit ablehnt, den für sie zentralen Erfahrungssatz:
Leben — das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und
Flamme zu verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir k ö n n e n gar nicht
anders.
auf das Subjekt, das Objekt und die Gründe dieses Treffens zu befragen. Es
wird einfach konstatiert, daß „es" so ist, daß das Leben in leibender
Weltauslegung geschieht und daß das Ganze, das das leibende Leben als
ästhetisches oder apollinisches (Apollo ist der Gott des Maßes, d. h. der
Grenze) Phänomen bedeutet, vollkommen ist — gibt es doch für Nietzsche
kein „Jenseits" mehr, von dem her auf es herabgesehen werden könnte.
Dennoch ist auch die Artisten-Metaphysik nicht ab-gründig in dem Sinne, in
dem es eine vormetaphysische Denk- und Weltverhaltung zu sein hat: Zwar
bleibt sie bei der Oberfläche stehen, aber sie bezeichnet diese als „Schein"
und versteht dieses Wort dabei nicht nur im Sinne des lateinischen „lucere",
d. h. als Glanz, als Leuchten, sondern auch im Sinne des lateinischen
„videri": sie deutet somit die Oberfläche als täuschenden Augenschein, was
besagt, daß sie diesen unter Bezugnahme auf das überlieferte metaphysische
Wahrheitsgefüge auslegt — wovon ja bereits der Titel „Artisten-Metaphy-
sik" kündet. Zwar sucht sie sich von diesem Gefüge abzustoßen, doch ist es
ihr noch nicht gelungen, sich in einen eigenen Wahrheitsbegriff und damit
zu sich selbst zu befreien. Den Beginn dieser Befreiung dürfen wir vielleicht
in jenem nicht mehr ausgearbeiteten Denkversuch des Fabelwerdens von
wahrer und scheinbarer Welt erblicken, der die Welt in das pure Daß
mittäglichen, nämlich schattenlosen Glanzes rückt (vgl. Seite 99).
„So läßt sich sagen", faßt Schmid zusammen (442), „daß die
.Denkweisen' von Exoterisch und Esoterisch — also hier die Physiologie
(die Lehre vom Willen) und die Artisten-Metaphysik — nicht einfach
verschiedene Perspektiven unter noch anderen möglichen Perspektiven sind.
Sie heben sich voneinander ab zunächst durch geringere und größere
Radikalität im Hinblick auf das Problem der Wissenschaft — dann aber, mit
Nietzsches eigenen Worten, als Stufen der Höhe. Höher als ,ich will' steht
das Interpretieren des ,ich bin'. Erst darin gibt sich der tiefere Sinn des ,Es
Versuch einer Er-läuterung 277

gibt keinen Willen' zu erkennen". Schmid denkt bei diesen Ausführungen an


die nachfolgende Aufzeichnung vom Frühjahr 1884:
Die Lehre μηδέν ά γ α ν wendet sich an Menschen mit überströmender
Kraft — nicht an die Mittelmäßigen.
Die έγκράτεια und άσκεσις ist nur eine Stufe der H ö h e : höher steht
die „goldene N a t u r " .
„ D u sollst" — unbedingter Gehorsam bei den Stoikern, in den Orden
des Christenthums und der Araber, in der Philosophie Kant's (es ist
gleichgültig, ob einem Oberen oder einem Begriff).
H ö h e r als „du sollst" steht „ich will" (die Heroen); höher als „ich
will" steht „ich bin" (die Götter der Griechen)
Die barbarischen Götter drücken nichts von der Lust am Μ a a ß e aus
— sind weder einfach, noch leicht, noch maaßvoll. 260
Schmid bemerkt dazu: „Wenn das Dasein des Leibes die Vollkommenheit
des Ganzen ausspricht, ist er,goldene Natur', spricht er aus dem Herzen der
Erde" (442) — und folgt damit einem Hinweis der sich unmittelbar
anschließenden Aufzeichnung, die da lautet:
Zu Zarathustra: „die Goldenen" als höchste Stufe.26·
Im 2. Teil des Zarathustra, im Kapitel „Von grossen Ereignissen"262 heißt es
nämlich:
das H e r z d e r E r d e ist v o n Gold.
Gleichzeitig wendet sich Nietzsche mit dieser Aufzeichnung aber auch zur
„Geburt der Tragödie" zurück, die mehreren seiner späteren Notate ein
Gegenstand des Nachdenkens geworden ist. Schmid zieht daraus den
richtigen Schluß, „die Struktur der Rück-Erinnerung an die ,Geburt der
Tragödie' sei der Artisten-Metaphysik wesentlich und biete einen Schlüssel
zu deren ,esoterischer' Konzeption des Tragisch-Dionysischen." (441) In
Nietzsches philosophischer Erstlings-Schrift heißt es nämlich über die
griechischen Götter:
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt
und nun nach sittlicher H ö h e , ja Heiligkeit, nach unleiblicher
Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der
wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier
erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein
üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene
vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist.263
Ganz anders als bei Feuerbach ist hier das Schaffen der Götter durch die
Griechen nicht als Selbstentäußerung des Menschen verstanden, die ihm sein
Eigenstes entfremdet, sondern als Verklärung, als Vergöttlichung des
menschlichen Daseins und der Welt, so zwar, daß in ihnen „die Schrecken
und Entsetzlichkeiten des Daseins" verhüllt wurden: „um überhaupt leben
zu können", heißt es in der „Geburt der Tragödie" 264 , „musste er [der
Grieche] vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen."
278 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Ähnliches gibt auch eine Notiz vom Winter 1869/70—Frühjahr 1870 zu


bedenken:
D i e griechische Götterwelt ist ein w e h e n d e r Schleier, der das Furchtbarste
verhüllte.
Es sind die Künstler des L e b e n s ; sie haben ihre Götter, um leben zu
können, nicht um sich dem Leben zu entfremden. 2 6 5
Ebensowenig wie die Scheinhaftigkeit der Kunst hätten die Griechen dabei
jemals die Scheinhaftigkeit dieser Götterwelt vergessen, sie vielmehr —
Nietzsche weicht hier von seiner Auslegung der griechischen Götterwelt in
„Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" ab — immer vor
dem düsteren Hintergrund des Lebens gesehen, als eine — künstlerische —
Verheißung, ein Glücksversprechen desselben, das in diesem Widerstreit nur
um so heller erglänzte.
Es ist dies der Widerstreit von Wille zur Erkenntnis und Wille zum
Schein, der, wie wir gesehen haben, auch das Verhältnis von Wissenschaft
und Kunst, von Philosophie des Willens zur Macht und Artisten-Metaphysik
prägt. Da sich durch ihn und in ihm, Nietzsche zufolge, das „Leben"
vollzieht, ist er in seinem Wesen unaufhebbar, wofür Nietzsche in der
„Geburt der Tragödie", wie erinnerlich, das Bild vom „ m u s i k t r e i b e n -
d e n S o k r a t e s " findet: Weder darf die Wissenschaft zugunsten der
Kunst, noch umgekehrt die Kunst zugunsten der Wissenschaft aufgegeben
werden. Beide gewinnen ihre Daseinsberechtigung nur durch einander —
auch hier kehrt die für Nietzsche zentrale Denkfigur des Streites, des
πόλεμος, wieder. Für die Kunst bedeutet das, daß man, um ein Anrecht auf
sie zu haben — Nietzsche spricht es nur ganz wenigen „ A u s n a h m e -
M e n s c h e n " 266 zu —, durch die Nöte der Erkenntnis gegangen sein muß.
Das Leben im Schein als Ziel heißt demnach, daß der höchste Schein —
derjenige der Kunst — erst nach dem Durchgang durch den geringsten
Schein — denjenigen der Wissenschaft — angestrebt werden darf; will
sagen: erst nach dem Zerstören darf und kann gebaut werden. Denn nur
derjenige, dem im „Siechthum des Verdachts" „das Leben selbst [ . . . ] zum
P r o b l e m " geworden ist, weiß — so die Lehre des Vorworts zur
„Fröhlichen Wissenschaft" — in der Kunst anderes als Unterhaltung zu
sehen, anderes auch als jenen „metaphysischen Trost", von dem — zum
Leidwesen der späteren Selbstkritik — die „Geburt der Tragödie" spricht;
in ihm allein kann der Wunsch wachsen nach einer anderen als der
herrschenden Dekadenz-Kunst mit ihrem ,,romantische[n] Aufruhr und
Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Apirationen
nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen". Mit diesen Ausführun-
gen setzt sich Nietzsche ab zum einen von Schopenhauers Ästhetik,
derzufolge die Kunst, wie Lypp bemerkt, „Einübung in die Nichtung der
Versuch einer Er-läuterung 279

wirklichen Welt [ist], indem sie visionäre" — und, wie wir hervorheben
möchten: willenlose — „Anschauung einer ganz anderen zu sein
beansprucht" 2 6 7 — eine Auffassung, die Schopenhauer vor allem am
„Erhabenen" der Tragödie exemplifiziert —, zum anderen aber setzt sich
Nietzsche damit von seiner eigenen frühen Tragödienkonzeption ab, soweit
er in ihr den Begriff des „Erhabenen" in Anknüpfung an Schopenhauer
verwendet. (Bereits im 2. Teil des „Zarathustra" ironisiert Nietzsche die
„Erhabenen" ob der metaphysischen Implikationen ihres Verhaltens. 268 )
Diese von Nietzsche ersehnte, „andere" Kunst soll indes sein
eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche
Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel
hineinlodert! V o r Allem: eine Kunst für Künstler, nur für Künstler!
D. h. eine „unmetaphysische" Kunst, die dem Wesen der Kunst entspricht,
B e j a h u n g , S e g n u n g , V e r g ö t t l i c h u n g des Daseins
zu sein — so Nietzsche im Frühjahr 18 8 8 269 —, und nicht mehr, wie die
gesamte christlich-romantische Kunst den äußeren „ A n s c h e i n " erweckt,
„eine Folge des U n g e n ü g e n s a m W i r k l i c h e n " , mithin eine Folge des
zur Metaphysik treibenden Ressentiments zu sein, so Nietzsche in einer
Notiz vom Herbst 1885—Herbst 18 8 6 270 , in der er diese „Falschheit" am
Beispiel Raffaels aufweist. Indes geht er hier noch von der Möglichkeit einer
pessimistischen Kunst aus, die er in jener späteren Notiz in Konsequenz
seiner Auslegung des Rausches als des kunstschaffenden Zustandes negiert:
Sie sei „eine contradictio". Selbst in der Leidensgeschichte des Hiob sei das
Leben bejaht:
— Die furchtbaren und fragwürdigen D i n g e darstellen ist selbst schon ein
Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie n i c h t . . . ,
bemerkt Nietzsche unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Tragödie und
gegen Schopenhauers Ästhetik, die Kants Lehre vom Schönen als dem
interesselos Gefallenden fortzuführen meint. Gegen sie stellt Nietzsche
Stendhals Formel, das Schöne sei „une promesse de bonheur" 2 7 1 . Erst dort,
wo die Kunst als Bejahung des Daseins dieses Glücksversprechen abgibt,
kann sie dem genügen, was Nietzsche ihr als Wesensaufgabe zuspricht,
nämlich „Stimulans des Lebens" zu sein. Das Schöne aber ist das
Oberflächliche 272 , das die Wissenschaft mit ihrer Frage nach den Gründen
durchstößt. „ D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung.", zeichnet
Nietzsche darum schon im Winter 1869/70—Frühjahr 18 7 0 273 auf. Ganz im
Sinne des zentralen Satzes der „Geburt der Tragödie": „denn nur als
a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig
g e r e c h t f e r t i g t " wendet er im Sommer 1872—Anfang 1873 gegen dieses
T u n der Wissenschaft ein:
280 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

D i e menschliche S i n n e n e r k e n n t n i ß ist sicherlich auf S c h ö n h e i t


aus, sie verklärt die Welt. W a s haschen wir nach einer anderen? W a s w o l l e n
wir über unsere Sinne hinaus? D i e rastlose Erkenntniß geht in's O e d e und
Häßliche. — Z u f r i e d e n s e i n mit der künstlerisch angeschauten
Welt! 2 7 4
Worin aber die Weltvernichtung der Wissenschaft besteht, das kann allein
von der dichterischen Welterfahrung her deutlich werden, von der auch
Nietzsche ausgeht, ohne sie als solche rein gedacht zu haben. Diese unsere
These wollen wir im folgenden weiter verfolgen. Wir gehen dabei aus von
einer Bemerkung, die sich in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung
„Schopenhauer als Erzieher" findet. In Konsequenz seiner Bestimmung des
Wesens der Wissenschaften gibt Nietzsche dort zu bedenken,
dass der Gelehrte seinem W e s e n nach u n f r u c h t b a r ist — eine Folge
seiner Entstehung! — und dass er einen gewissen natürlichen H a s s g e g e n
den fruchtbaren M e n s c h e n hat; weshalb sich zu allen Zeiten die Genie's
und die Gelehrten befehdet haben. D i e letzteren w o l l e n nämlich die N a t u r
tödten, zerlegen und verstehen, die ersteren w o l l e n die N a t u r durch neue
lebendige N a t u r vermehren; [ . . .]. 2 7 5
Wir haben in diesem Zusammenhang an unsere auf Seite 81—87
abgedruckten Ausführungen zum Goetheschen Wahrheitsbegriff zu
erinnern, wonach wahr nur eine solche Betrachtungsweise der Phänomene
genannt werden kann, welche deren Fruchtbarkeit entspricht, sie nämlich als
das Unausdenkbare und Unergründliche in die Sorge zu nehmen sucht:
„Alles Lebendige bildet eine Atmosphäre um sich her.", weiß Goethe 276 und
fordert, daß Wissenschaft und Philosophie ihm diese bewahren sollen, was
bedeutet, daß sie nicht fest- und sicherstellend, sondern „atmosphärisch" zu
sein haben. „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen
geheimnissvollen Dunstkreis", weiß aber auch Nietzsche, der in der
2. Unzeitgemässen Betrachtung daraus folgert:
w e n n man ihm diese H ü l l e nimmt, w e n n man eine Religion, eine Kunst, ein
Genie verurtheilt, als Gestirn o h n e Atmosphäre z u kreisen: s o soll man sich
über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr
wundern. 2 2 7
Unfruchtbar ist nach physischer Lesart der Gelehrte mithin darum, weil er
dem „Lebendigen" diese Hülle nimmt, indem er es auf seine Gründe hin
festzustellen sucht — er behandelt es als bloßes Erkenntnisphänomen, mit
dem es sich umwillen des alltäglichen Besorgens rechnen lassen und das
deswegen um seine unbestimmbare Hülle des Atmosphärischen gebracht
werden muß. So daß vom Gelehrten dasjenige abgewehrt und nichtig gesetzt
wird, was das Genie als höchste „Bestimmung" des Phänomens erfährt.
Unter Absehung von all demjenigen, womit es sein Bewenden haben könnte,
läßt es sich vom Phänomen zum Stiften bestimmen, will es doch, wie
Nietzsche sagt, „die Natur durch neue lebendige Natur vermehren". Anders
Versuch einer Er-läuterung 281

als der Gelehrte ist das Genie mithin darum fruchtbar, weil es sich in der
Weise vom Zuspruch der Welt befruchten läßt, daß es ein Werk schafft, das
als Welt-Frucht seinerseits wiederum in der beschriebenen Weise Frucht
bringen kann. Was eben bedeutet, daß es im physischen Sinne wahr ist — im
Gegensatz zum „ W e r k " des „Gelehrten", das nur immer neu und anders
berechnet und zerlegt werden kann. Ihm eignet somit keine — oder
bestenfalls geringe — Wahrheit im Sinne der Fruchtbarkeit des abgründigen
Welt-Bezuges, sein Anspruch auf Wahrheit kann sich allein auf eine
mögliche Ubereinstimmung mit den Maß- und Vorgaben der alltäglichen
Existenz berufen, als welche aus der eigentlichen Offenheit des abgründigen
Welt-Bezuges hinaussteht („ex-"), weil sie ob ihres Strebens nach
Seinsmächtigkeit den im Dingen des Dings geschehenen Belang der Welt
zum Stehen („sisto") bringen und sich in der metaphysisch verfaßten
Gegen-Ständigkeit gegen sie einrichten muß; anders als die Dinge sind
nämlich die Gegenstände nur das, was ihnen der Mensch zuspricht. In der
Existenz ist mithin der Mensch nur offen für das, was er sich selbst
wesensmäßig öffnet, d. h. letztlich nur für sich selbst. Er ist hier die Welt,
insofern er ihr sub-iectum, das ihr als Grund Zugrundeliegende ist. In der
Frage nach dem Grund fragt darum der Mensch letztlich nur nach sich
selbst, was in der Gleichsetzung von Denken und Sein begründet liegt.
Dieses aber ist die Grundgleichung der Metaphysik, von der sich somit sagen
läßt, daß sie in ihrem Wesen Existenzphilosophie ist, denkt sie doch dem
nach, wovon sich die Existenz immer schon leiten läßt, der ratio nämlich.
Gleich dem Gelehrten ist mithin auch der Metaphysiker unfruchtbar —
als Frage nach den Gründen des Seins ist Metaphysik im Wesen das Selbe
wie die nach den Gründen einer einzelnen Erscheinung fragende
Wissenschaft: Im Verfolg ihrer Fragen vernichten beide das Anschaulich-
Gegebene, indem sie es auf ein anderes hin übersteigen. Von dieser
Selbigkeit legen nicht zuletzt auch weiteste Bereiche der Nietzscheschen
Philosophie Zeugnis ab, etwa jene, in denen der Denker in Fortführung
zeitgenössischer physikalischer und physiologischer Forschungen die Welt
auf Nervenreize oder später auf ein Ensemble von Kräften gleicher Qualität
reduziert.
Indes, wird ein kritischer Leser hier vielleicht einwenden, schreiben wir
Nietzsche damit nicht einen Ansatz zu, den er ausdrücklich hinter sich
gelassen hat, nämlich den metaphysischen Grundansatz einer Gleichsetzung
von Denken und Sein? H a t sein Denken nicht immer wieder um die Einsicht
gekreist, daß wir nach dem Verlust „einer religiösen Sanktion und
Verbürgung unsrer Sinne und Vernünftigkeit", nach dem Entschwinden
,,ein[es] essentielle[n] Wahrheits-Principfs] im Grund der Dinge", „gerade
gar nichts denken [können], in wiefern es i s t . . . " , um die Formulierung
282 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

eines Nachlaßfragments 2 7 8 vom Herbst 1885—Herbst 1886 zu zitieren?


Bedenkt er dies nicht gerade in der Philosophie des Willens zur Macht, so
daß diese auch in unserem Sinne fruchtbar wäre?
In der Tat, Nietzsche stellt die traditionelle metaphysische Gleichset-
zung von Denken und Sein in Frage. Doch bedeutet das zunächst „ n u r " ,
daß er die Grundlosigkeit offenbart, in der diese Gleichsetzung schwebt,
meint doch das mit dem Titel „Gottes T o d " bezeichnete Ereignis den
Verlust eines in sich gegründeten Grundes, der diese Gleichsetzung
verbürgen, nämlich begründen könnte. Keineswegs aber verzichtet
Nietzsche damit auf den metaphysischen Willen, das Erscheinen der Physis
auf seine Gründe zurückzuführen. Allein, der endlich aufgewiesene Grund
kann — gemäß der mit jenem Ereignis einhergehenden Umdrehung des
Piatonismus — nurmehr ein scheinhafter sein, ist doch das Quale des
Willens zur Macht in der Weise relativ zu sich selbst, daß es in der Auslegung
des scheinhaften Auslegungsgeschehens der Welt sich selbst auslegt. Indem
Nietzsche aber so der Unverbürgtheit jener besagten Identität Rechnung zu
tragen und ihre Scheinhaftigkeit zu begründen sucht, besteht — obzwar in
umgekehrter Form — bei ihm fort. Darum kann seine Philosophie —
abgesehen von jenem wohl nur schmalen, dafür aber um so wesentlicheren
Bereich der Artisten-Metaphysik — Fruchtbarkeit nur im Sinne der
neuzeitlichen Metaphysik beanspruchen — und sie will es auch so, denkt sie
selber doch die Schöpferischen, das Genie bzw. den Ubermenschen, wie
schon Heidegger angemerkt hat, 279 weitgehend — indes nicht durchgängig
— neuzeitlich-technisch vom Leistungshaften her. So auch im Kontext der
oben zitierten Stelle, demzufolge fruchtbar und genial derjenige zu nennen
ist, der durch seine Schöpfungen das Leben über den bisherigen Stand
hinaustreibt und so für die Zukunft das Fortleben der verbesserten Physis,
der Kultur, sichert, unfruchtbar und gelehrtenhaft hingegen derjenige, der
bloß den gegenwärtigen Kulturbetrieb betreibt.
Für ein physisches Denken aber kann „Fruchtbarkeit" nichts anderes als
den Zuspruch des Ursprünglichen bedeuten, in dem und als das die Welt
west, so zwar, daß „sie" dem immer schon in sie einbezogenen Menschen
die Überfülle ihrer Sinn- und Maß-Gabe zuspricht. Meint „ W e l t " damit
zunächst nichts anderes als das, was auch gemeinhin „Welt" genannt wird,
nämlich den „Lebensbereich", der den Menschen umgibt, so ist dieser bloße
Sammelbegriff dann jedoch genauer als Bezeichnung des Bezuges zu
verstehen, in dem sich der Mensch wohl immer schon vorfindet — das gilt
auch für die alltägliche Existenz, obwohl sie selber nur ein „Unwesen" von
„ W e l t " anerkennt —, den er eigentlich, nämlich in seinem vollen Wesen
(verbal), jedoch nur höchst selten erfährt: Welt ist für ihn nur als Bezug,
während er selber umgekehrt hinwiederum nur im Einbezug der Welt ist.
Versuch einer Er-läuterung 283

Daß der Mensch sich mithin immer schon von der Welt umfangen sieht,
bedeutet zum ersten, daß weder die Welt noch der Mensch in einem eigenen
Sein, einem Sein „an sich", außerhalb des Bezuges betrachtet werden
können, und zum zweiten, daß die Welt nicht als bloßer Entwurfsbereich
der Menschen verstanden werden kann, den sich dieser, sei es auch als
Vermittlungsinstanz eines Absolutum oder als Statthalter des Nichts bzw.
des Seins, selber erschließt. Immer schon sieht sich der Mensch
unhintergehbar auf die Welt verwiesen, wie die Zirkelhaftigkeit solcher
Versuche belegt, Gründungszusammenhänge seines Im-Welt-Bezug-Ste-
hens aufzuweisen; Indem sie — in einer Art „Dynamisierung" des
Kantischen Ansatzes — dem Weltentwurf eine Welteingenommenheit
vorangehen lassen müssen, haben sie immer schon das vorauszusetzen, was
sie doch erst erklären wollen, die Weltoffenheit und -bezogenheit des
Menschen.
Wir nennen diese unhintergehbare Eingenommenheit die Welt-Hörig-
keit des Menschen, als welche sein Wesen in der Weise ausmacht, daß er
be-stimmt wird von den Stimmen der Welt: ein Verhältnis, daß er weder
begründen kann — weil das eben hieße, hinter es zurückgehen zu können
—, noch überhaupt begründen darf, nicht nur, weil das bedeutete, die
Ganzheit des Weltbezuges zu zerschneiden, ihn damit — man denke an
Goethes Libelle — überhaupt zu zerstören, sondern auch, weil eine
Begründung der Welt den Charakter des Ursprünglichen nähme.
Ursprüngliches kann nämlich nur solches sein, was nicht auf etwas anderes
zurückgeführt wird, was eben selber Ursprung und als solcher ab-gründig
(und nicht grundlos) ist.
N u r als Ab-gründiges vermag Welt zu weiten, d. h. den Menschen
bezugsmäßig anzugehen, ihn zu be-dingen: Welt west vor allem als
dingendes Ding. Dabei ist mit „ D i n g " nicht das Gebrauchs-, auch nicht das
Sinnending, kurz: das insichstehende Seiende der alltäglichen Existenz, der
Gegen-stand, sondern das „ P h ä n o m e n " gemeint, das den Menschen dingt,
indem es, wie das auf die indogermanische Wurzel 'ten- „dehnen, ziehen,
spannen" zurückgehende W o r t „ D i n g " selber sagt, sich dem Menschen
entgegendehnt und ihn so zu sich versammelt — die jüngere Wortschicht
von „ D i n g " ist althochdeutsch thing, ding „das Gericht, die Versammlung
der freien Männer", wovon „dingen", „in Dienst, in Anspruch nehmen"
abgeleitet ist, das in seiner althochdeutschen Form dingon „vor Gericht
stellen" bedeutete. Ein solches Ding ist beispielsweise das von Goethe
bedichtete Lichtphänomen „Libelle" — wie wir schon früher sagten, ist
damit nicht etwa bloß das Tier, sondern das Ganze gemeint, das dem
lyrischen Ich als Freude aufgeht. Unter „ D i n g " verstehen wir mithin
dasjenige Phänomen, das in die Bemessenheit und Vermessenheit unserer
284 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Alltagsexistenz einbricht, sie aufbricht und uns in die Überfülle des


wesenden Welt-Bezuges hineinzieht, was bedeutet, daß wir ent-setzt,
nämlich unseres rationalen und rationellen Standpunktes entrückt und ins
Freie gesetzt sind. Derartig überwältigt und selbstvergessen können wir
dann nur noch mit Nietzsche — welch Wort! — ausrufen:
Ich bin z u voll: so vergesse ich mich selber, und alle D i n g e sind in mir, und
nichts giebt es mehr als alle D i n g e . W o bin i c h h i n ? 280
Es zeigt sich damit, daß wir — anders als etwa Heidegger in „Sein und Zeit"
— Mensch und Welt nicht von unseren gewöhnlichen, alltäglichen, sondern
von unseren höchsten Erfahrungen her zu denken suchen, die den Alltag als
defizitär erscheinen lassen. Bezogen auf die Frage nach dem „ D i n g " heißt
das, daß wir mit diesem Titel nur solches dem Menschen Begegnende
belegen wollen, das mit der oben beschriebenen Spann- oder Langekraft
begabt ist. Daß es dabei gleichgültig ist, ob es sich um Natur- oder
Kultur-Dinge handelt, belegt etwa die aus der Ebene aufragende
Kathedrale, deren den Menschen ins Staunen versetzende Größe ebensosehr
die des Himmels und des Umlandes wie die des Bauwerkes ist. Zugleich zeigt
sich an diesem Beispiel, daß ein Ding durch das Über-Maß charakterisiert
ist, in das es den Menschen versetzt. Das meint, daß es über jedes Maß hinaus
ist, das die Ratio der Existenz hervorbringt, um die Welt begreif- und
handhabbar zu machen: dieser Vermessenheit seiner Existenz wird der
Mensch durch das Ding entsetzt, in dessen Sphäre es ihm darum un-heimlich
wird.
Übermaß meint somit nicht Höchstmaß, an technischer Bauleistung
etwa. Ein Höchstmaß kann allein dem Gegenstand zukommen, der in seiner
Belang-Losigkeit von der Ratio um des alltäglichen Besorgens willen auf
seine Gründe hin gestellt und der Messung unterworfen werden kann — das
Beispiel des Descartesschen Wachsfleckes lehrt es, dem als pure res extensa
jene unmittelbare Kraft des Anganges abgeht, die dem Goetheschen
Lichtphänomen „Libelle" eignet.
Allein denjenigen, der sich wie Goethe und anders als Descartes beim
Anblick eines solchen Flecks seiner früheren Lange-Kraft erinnert fühlt,
vermag dieser Fleck noch zu bestimmen: zum Gefühl der Trauer. Dieses
Verlustgefühl wird mithin aus der Erfahrung genährt, die sich dem
Menschen im Dingen des Dings jäh eröffnet, jäh ihm zugefallen ist. Zeigt
sich somit erneut, daß die Bestimmungskraft des Dinges von der Fähigkeit
und Bereitschaft des Menschen, sich bestimmen zu lassen, nicht unabhängig
ist — worauf wir noch genauer einzugehen haben —, so darf gleichwohl
nicht verkannt werden, daß das Dingen des Dings für den Menschen in
zwiefacher Weise ein Zufall ist:
Versuch einer Er-läuterung 285

Zum einen wird dem Menschen in der dem Ding eigentümlichen


Belang-Spanne zwischen Belang-Losigkeit und Ubermaß die Spanne
zwischen zwei Grundweisen seines Wesens aufgeschlossen: Das Im-Welt-
Bezug-Stehen des Menschen bewegt sich zwischen der die Existenz
charakterisierenden rationalen Gegenständigkeit gegen den Ding-Bezug
und dem ir-rationalem Verströmen im Fortriss desselben, wobei diese beiden
Extrempunkte der Ausschlagsspanne, wie wir noch zeigen werden,
Entartungen zweier Grundweisen des Welt-Bezuges darstellen, nämlich des
Abstehens von und des Innestehens im Ding-Bezug.
Zum anderen aber kann das Ereignis innigsten Welt-Bezuges vom
Menschen nicht herbeigeführt werden, er kann sich für dieses Geschehnis
nur vor- oder zubereiten, sich für es offenhalten: Daß und Wie des Wesens
der Welt sind nicht erklärbar — weswegen wir es als abgründig bezeichnen.
W a r u m ein Ding mich heute so und morgen ganz anders, übermorgen aber
vielleicht gar nicht bestimmt, daß läßt sich nicht sagen. Von woher, warum,
wozu die Welt den Menschen auf diese Weise angeht — diese Fragen kann
man nicht beantworten. Mehr noch: man darf sie, wie Nietzsches
Artisten-Metaphysik weiß, noch nicht einmal stellen, hieße das doch, die
Scham zu verletzen, welche allein der Welt und dem Menschen das Wesen
wahrt.
Im Wissen um diese Zufälligkeit singt Zarathustra „ V o r Sonnenauf-
gang":
Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: „über allen
Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel
Ohngefähr, der Himmel Übermuth".
„ V o n Ohngefähr" — das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich
allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem
Zwecke.
Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner
Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, dass über ihnen und durch sie kein
„ewiger Wille" — will.
Dieser Übermuth und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes
Willens, als ich lehrte: „bei Allem ist Eins unmöglich — Vernünftigkeit!"
Ein W e n i g Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von
Stern zu Stern, — dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der
Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt!
Ein Wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand
ich an allen Dingen: dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls —
tanzen.
O h Himmel über mir, du Reiner! Hoher! Das ist mir nun deine
Reinheit, dass es keine ewige Vernunft-Spinne und -Spinnennetze giebt: —
286 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

— dass du mir ein T a n z b o d e n bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein
Göttertisch bist für göttliche W ü r f e l und Würfelspieler! —
D o c h du erröthest? Sprach ich Unaussprechbares? Lästerte ich, indem
ich dich segnen wollte?
O d e r ist es die S c h a m zu Zweien, welche dich erröthen m a c h t e ? —
Heissest du mich gehn und schweigen, weil nun — der T a g kommt?
Die W e l t ist tief — : und tiefer als je der T a g g e d a c h t hat. N i c h t Alles
darf v o r dem T a g e W o r t e haben. 2 8 1
Geht Nietzsches Gefühl für die Schamhaftigkeit der Natur hier noch so
weit, daß die von ihm gedichtete Figur des Verkündigers des Ubermenschen
ihre Reden über die Zufälligkeit, über die Zweck-, Sinn- und damit
Vernunftlosigkeit der Dinge, als welche deren Reinheit und Unschuld
ausmachen, in der Weise als schamverletzend empfindet, daß sie der Helle
des alltäglichen Bewußtseins, will sagen: der Helle der den Menschen des
Marktplatzes eignenden Rationalität und Sprache nahebringt, was diesem
verrechnenden Logos der Existenz zutiefst wesensfremd ist — nicht umsonst
nennt Nietzsche den „ Z a r a t h u s t r a " „Ein Buch für Alle und K e i n e n " : für
alle, weil sich seine Lehre: „ D e r Ubermensch sei der Sinn der E r d e ! " im
Grunde an alle richtet, für keinen, weil noch keine Ohren gewachsen sind,
welche — Voraussetzung des Verständnisses — die Befremdlichkeit dieser
Lehre zu hören vermöchten — , so belegt andererseits die folgende, aus der
Entstehungszeit jener Rede stammende Aufzeichnung 2 8 2 , daß er sich über
die tiefere Bedeutung dieser Einsicht nicht im klaren gewesen ist, daß er sie
sich mithin nicht wahrhaft zugedacht hat. V o r dem Hintergrund seiner auch
den „ Z a r a t h u s t r a " tragenden Lehre des Willens zur Macht mit ihrer
Auslegung des Menschen als „ a u s l e s e n d e s und sich nährendes
W e s e n " , kurz: als schaffendes T i e r , entwirft er in diesem N o t a t nämlich
eine „ T h e o r i e des Z u f a l l s " , welche da lautet:
— Zufall ist selber n u r d a s A u f e i n a n d e r s t o s s e n der schaffen-
den Impulse.
Erst in seinen späteren Ausführungen zur Artisten-Metaphysik gewinnt
Nietzsche Einblick in die Tatsache, daß der Gedanke von der „Unschuld des
W e r d e n s " so lange dem Zu-Denkenden — dem Wesen der W e l t —
unangemessen bleibt, als er noch mit der Lehre des Willens zur Macht
zusammengedacht werden kann; d. h. so lange, wie dieser Gedanke im Sinne
einer Freistellung der W e l t nur von einem moralischen Grund und nicht von
einem Grund überhaupt verstanden wird. D o c h führt dies nicht dazu, daß er
seine Philosophie im Sinne des darin erblickten „Physischen" umdächte, sie
von den darin umgehenden, nach unserem Sprachgebrauch metaphysisch zu
nennenden Mißdeutungen läuterte; was eben darin begründet liegt, daß
Nietzsche diese in die Gründe und damit in die Tiefenschichten der W e l t
hinabdenkende Philosophie, wie gesehen, als unabdingbare Voraussetzung
Versuch einer Er-läuterung 287

f ü r jene oberflächliche Weltverhaltung betrachtet, von der die Artisten-Me-


taphysik geprägt ist.
So bleibt sein letztes W o r t zum Phänomen des „Rausches" leider ein
physiologisches, was hinwiederum insofern nicht verwunderlich ist, als die
Bezeichnung „Rausch" einen anderen Interpretationsansatz fast verbietet.
D a ß sich Nietzsche dadurch aber um die Möglichkeit gebracht hat, als erster
Denker demjenigen nachzudenken, was bisher allein von den Dichtern zur
Sprache gebracht worden ist, das offenbart die „Geburt der Tragödie",
wenn sie bemerkt:
bei dem gewaltigen, die ganze N a t u r lustvoll durchdringenden Nahen des
Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das
Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.
So zwar, daß die „entfremdete, feindliche oder unterjochte" — neuzeitlich
gesprochen: die vom Subjekt objektivierte, das meint: die durch
Vergegenständlichung um ihre Lange-Kraft gebrachte Natur, als welche die
Metaphysik allein (aner)kennt — „wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem
verlorenen Sohne, dem Menschen [feiert]" 283 . Ebenweiche Rede nur bildlich
in dem Sinne gemeint sein kann, daß die Welt wieder als unmittelbare, den
Menschen zu sich ein-, ihn sich so um- und bestimmende Umfängnis
erfahren wird, die derart umfänglich ist, daß sie niemals — wie dies dagegen
der Mensch als Subjekt nicht nur in den alltäglichen Verrichtungen, sondern
auch im Denken der Existenz vermeint — seitens der rechnenden Vernunft
von den Bedingungen ihres Erscheinens her begriffen und damit als
Erscheinung des Willens, des unendlichen oder auch des endlichen Seins
ausgelegt werden kann. Wohl bezeichnet Nietzsche solche Bestimmngen,
einschließlich der eigenen, als Illusion, nämlich als apollinisch und damit
scheinhaft gefügte Vorstellungen des Dionysischen, aber er zieht daraus
eben nicht die Konsequenz, die Welt in ihrer Unbestimmbarkeit zu belassen.
Statt dessen legt er die Welt in Fortführung und Zuspitzung des
neuzeitlichen Ansatzes im Ausgang vom Menschen und d. h. im Ausgang
vom Subjekt (der Mensch wird als Grund dem Seienden im Ganzen
zugrundegelegt) aus — zunächst, in Anknüpfung an Schopenhauer, als
Wille zum Leben, dann als Wille zur Macht, von dem her gesehen sich zeigt,
daß der erste Ansatz doch mehr als bloße Begriffsdichtung, nämlich
Ausdruck eines Begründungswillens gewesen ist, mag Nietzsche diesen auch
— anders als später im Falle des Willens zur Macht — durch den Entwurf
des Willens zum Leben von Anfang an f ü r nicht erfüllbar gehalten haben. So
ist diese Resignation auch keineswegs als Ausdruck dafür zu deuten, daß
Nietzsche die Phänomenwidrigkeit einer solchen im Subjekt gründenden
Begründung erkannt hätte, obwohl er nur seiner eigenen phänomenalen
Beschreibung der dionysischen Regungen — in denen sich vorgeblich der
288 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

Weltgrund offenbaren soll — hätte nachdenken müssen: D a s „Subjective",


heißt es da, schwinde in ihnen „ z u völliger Selbstvergessenheit h i n [ . . . ] " .
Anders als er vermeint, geht er somit nicht von der umfänglicheren, neutral
gesprochen: „Weise des Menschseins" aus, welche er das Dionysische nennt
und wir als das Innestehen im Welt-Bezug bezeichnen, sondern von dem
„ e n g e r e n " , dem privativen Modus, den er das Sokratische nennt und wir als
Gegen-Ständigkeit gegen das Dingen des Dings, kurz: als Existenz
bezeichnet haben.
Allein von der Existenz her kann es nämlich berechtigt erscheinen, der
Welt einen Willen zu unterstellen. Aber wie das Geschehnis des
Dionysischen, der Fortriß durch das Übermaß des Welt-Bezuges lehrt,
kommt der Welt weder ein Wille, noch ein „von sich a u s " zu — das gilt es,
nicht zuletzt im Hinblick auf die anthropomorphischen Implikationen der
Sprache, immer im Auge zu behalten: „ S i e " ereignet „ s i c h " für uns frei und
zufällig als „blinder", dem auf Sinnfindung angewiesenen Menschen allein
sinngewährender, „ f ü r s i e " aber, so müssen wir in Zurückweisung jedweden
teleologisch-metaphysischen Denkens annehmen, wohl sinnfreier B e z u g :
Die Ros ist ohn w a r u m ; sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet. —,
gibt Angelus Silesius zu bedenken, was in physischer Lesart meint, daß sie
des Menschen nicht bedarf. Zwar „ g i b t " es den Welt-Bezug, als der allein
für uns die Welt immer schon und nur ist, nicht ohne den Menschen, doch
kann dieser in Befriedigung seines metaphysischen Bedürfnisses daraus
keineswegs ableiten, daß er von den ihn angehenden Phänomenen — erst
recht nicht von etwas anderem hinter, in oder mit ihnen: als welches die
Phänomene um ihren Charakter der Ursprünglichkeit brächte — gebraucht
würde, vielleicht weil sie allein in ihm — als dem Bewahrer vorgegebener
Sinnhaftigkeit etwa — einen Sinn zu finden vermöchten. Anders als
Heidegger etwa sehen wir uns an das zu halten genötigt, was Nietzsche
eingangs seiner Schrift „ U e b e r Wahrheit und L ü g e im aussermoralischen
S i n n e " zu bedenken gibt, Ausführungen, die im Zeitalter der Atombombe
wohl kaum etwas an Wahrscheinlichkeit eingebüßt haben:
In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen
flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem
kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und
verlogenste Minute der „Weltgeschichte": aber doch nur eine Minute.
N a c h wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die
klugen Thiere mussten sterben. — S o könnte J e m a n d eine Fabel erfinden
und würde doch nicht genügend illustrirt haben, wie kläglich, wie
schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche
Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er
nicht w a r ; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben
haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das
Versuch einer Er-läuterung 289

Menschenleben hinausführte. Sondern menschlich ist er, und nur sein


Besitzer und E r z e u g e r nimmt ihn s o pathetisch, als ob die A n g e l n der W e l t
sich in ihm drehten. 2 8 4

Dieses Wissens um den Anthropomorphismus jedweden Sinnes hat der


Mensch eingedenk zu bleiben, wenn er, mit dem — wie wir schon auf Sei-
te 159 bemerkt haben — der Sinn überhaupt erst möglich, damit aber, was
seinen eigenen Lebensvollzug angeht, zugleich auch unumgänglich wird —
Sinnlosigkeit ist nur eine Negation von Sinn —, darum bemüht ist, der Erde
einen Sinn zu verleihen:
D a s s mein Leben keinen Z w e c k hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines
Entstehens klar; dass ich einen Z w e c k mir setzen kann, ist etwas
anderes. 2 8 5 ,

bemerkt Nietzsche im Zeitraum Sommer—Herbst 1873.


Aber, so müssen wir uns hier besinnen, ist dann nicht auch gegen unseren
Ansatz jener Einwand vorzubringen, den wir gegen Nietzsches
Konzeptionen des Willens zum Leben und des Willens zur Macht in der
Frage erhoben haben, wie etwas „an sich selber" sinnlos sein kann, wenn es
doch unentwegt Sinn produziert, weil es zu seinem Vollzug auf Sinnfindung
angewiesen ist? Keineswegs: Denn anders als Nietzsche unternehmen wir
keine metaphysische Gesamtdeutung des „Lebens", als welche — ebenweil
sie, wie Nietzsche selber klarer als jeder andere gesehen hat, immer vom
Menschen und seinen Vermögen ausgehen muß — diesem notgedrungen
den Charakter der Sinnhaftigkeit zuzusprechen hat — und sei es auch in der
Form der Sinnlosigkeit —, anders als Nietzsche gehen wir über den Satz:
„Euer Wille sage: der Ubermensch sei der Sinn der Erde !"286 nicht hinaus, so
zwar, daß wir allem, was ist, im wissentlichen und willentlichen Ausgang von
der Leiblichkeit des Menschen ein Streben nach Sinn in der Form des —
Nietzsche zufolge letztlich sinnlosen — Strebens nach immer mehr Macht
unterstellen würden, von wo aus wir zu der Behauptung gelangen könnten:
„ D e r Ubermensch ist der Sinn der Erde." 2 8 7 ; anders als Nietzsche meinen
wir, daß der Satz von der Unschuld des Werdens so lange unzureichend
bleibt, als er nur das Jenseits von Gut und Böse, d. h. eine Moralfreiheit und
nicht auch eine Sinnfreiheit aussagen soll.
Genau das aber bedeutet, dem Welt-Bezug die Abgründigkeit zu
erhalten. Denn nur darin, daß sie der ratio als dem metaphysischen
Vermögen des Menschen an sich zu halten gebietet, nämlich die
Sinnhaftigkeit der Welt-Zusprüche hinzunehmen, ohne sie auf das Wie, das
W a n n , das W o , kurz: das Warum hin zu befragen — erinnert sei an einen
auf Nietzsches Entwurf einer Artisten-Metaphysik vorausweisenden Spruch
Goethes 286 :
290 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

W i e ? W a n n ? u n d W o ? — D i e G ö t t e r bleiben s t u m m !
D u halte dich ans W e i l u n d f r a g e nicht W a r u m ?
— nur darin kann die dichterische Weltverhaltung eine Verwindung der
Metaphysik und ihrer Fragestellungen beanspruchen, obzwar nicht in der
Weise, daß sie über diese hinausginge, vielmehr nur so, daß sie vor ihr
stehenbleibt, der Welt — mit Heidegger zu sprechen — verfällt.
Daß im Welt-Bezug weder dem Menschen noch der Welt ein
„Von-sich-Aus" zugesprochen werden kann, das weiß auch Nietzsche, der
dieser Erkenntnis, wie wir gesehen haben, dadurch Rechnung zu tragen
sucht, daß er in seiner Philosophie des Willens zur Macht Welt und Mensch
in ein vollkommen homogenes Geschehen auflöst: Ein der Sache in
zwiefacher Weise unangemesserer Versuch, denn er beschreitet — dies zum
ersten — den von der Frage nach dem Grund gewiesenen W e g und er basiert
— dies zum zweiten — auf einem anthropozentrischen Ansatz. Beide
Verfehlungen haben aber die eine Ursache, daß die Frage nach dem Grund
immer von der Gegen-Ständigkeit der alltäglichen Existenz auszugehen hat,
in der der Mensch nur für das offen ist, was er sich selbst wesensmäßig öffnet
— anders als im dionysischen Geschehnis, dem Wesen des Welt-Bezuges,
von dem als dem umfänglicheren „ P h ä n o m e n " her Mensch und Welt in
Wahrheit zu denken sind.
Was das bedeutet, daß der Mensch in der Existenz nur für das offen ist,
was er sich selbst wesensmäßig öffnet, das kann auf das deutlichste der auf
Seite 9 ff. angesprochene Kantische Ansatz lehren, den wir somit als Beispiel
für das Wesen der metaphysischen Grundhaltung überhaupt in Anspruch
nehmen, insofern er am diffizilsten jene Frage zur Ausarbeitung bringt, die
wir, ohne dies hier weiter ausführen zu können, als Grundfrage der
Metaphysik bezeichnen möchten, nämlich die Frage nach dem Apriori. Für
Kant bedeutet das, daß er die sekundären sinnlichen „Qualitäten" einer
Erscheinung — beispielsweise Geschmack, Geruch und Farbe eines Weins
(siehe Anmerkung 37 des Abschnittes „Voraussetzungen") — als
beiherspielend, als unwesentlich f ü r den Gegenstand abtun muß, weil ihnen
die Ständigkeit des Standes, in der seit den Griechen eine Grundbedingung
des metaphysischen Seins erblickt wird, und mit ihr die — von der Neuzeit
wörtlich genommene — Berechenbarkeit abgeht. 289
Daß Nietzsche aber von einer ganz anderen Welterfahrung her kommt,
belegt schon die Tatsache, daß nicht erst seine Spätphilosophie des Willens
zur Macht, sondern schon frühe denkerische Versuche dem Unbeständigen
und, wenn schon nicht dem Abgründigen, so doch zumindest dem
Grundlosen nachdenken: Wir sagten, daß sein Denken aus dem Geiste der
Musik, der atmosphärischsten und flüchtigsten aller Künste, geboren sei.
Aber anders als er in den von den Philosophen gemeinhin als allein
Versuch einer Er-läuterung 291

wesentlich bezeichneten Teilen seines Denkens vermeint, ist es nicht ein


reines Werden, was im „Gegenstand" zum Stehen gebracht wird — in
physischer Betrachtungsweise „gibt" es das Sein ebensosehr wie das Werden
—, sondern der atmosphärische Belang des Dinges, kurz: das
„Atmosphärische", wie Nietzsche an einigen Stellen der 2. Unzeitgemässen
Betrachtung sagt, die von uns zu den bedeutsamsten Abschnitten seines
Denkweges gerechnet werden.
Zu dieser Mißdeutung aber kommt es, weil sein Denken als
erklärtermaßen antimetaphysisches sich nicht zum Gedanken des
Physischen befreien kann, als anti-metaphysisches Denken von dem Begriff
geprägt bleibt, den es sich von der Metaphysik macht — und dieser schreibt
ihm vor, Beständigkeit mit Sein und Unbeständigkeit mit Werden, mit
Chaos gleichzusetzen. Mit anderen Worten: Dadurch, daß sein Denken im
Banne des von ihm als Tod Gottes bezeichneten Ereignisses verbleibt,
vermag es nicht in dieser seiner ureigensten Weise radikal zu werden, daß es
die Frage nach der Grundlosigkeit hinter sich ließe und sich jene nach der
Abgründigkeit zudächte, als welche mit der Frage nach dem Grund auch die
metaphysischen Oppositionsschemata von Werden und Sein sowie, darauf
aufbauend, von Wahrheit und Schein überwindet: Erst ganz am Ende seines
Weges findet Nietzsches Denken den Zugang zu jenem gelobten Land, in
dem es — als dem Land seiner physischen Grunderfahrung — seine tiefsten,
nämlich ureigensten Wurzeln hat.
Auf jenen langen Umweg wird es gezwungen, weil es seinen Ausgang
von einer vulgären Fassung des Kantischen Ansatzes nimmt, wodurch es
nicht nur genötigt ist, besagte metaphysische Schemata zu übernehmen,
vielmehr auch gedrängt wird, eine ausgearbeitete Begrifflichkeit zu
verwenden, die seiner Grunderfahrung so ferne steht, daß die denkerische
Besinnung auf sie nicht anders kann, als sie zu verkehren: Zufolge des
Kantischen Ansatzes ist es der Mensch selber, der die ihm erscheinende Welt
des Seins mit Hilfe der apriorischen Vermögen seines Vorstellungsapparates
aus einem Gewühle von Empfindungen herstellt, indem er es gewissermaßen
ordnet. Wie erinnerlich, spricht für Max Scheler aus diesem Ansatz
nur der die Denkweise der modernen Welt so stark durchziehende
Weltbaß\ die Weltfeindschaft, das prinzipielle Mißtrauen in sie, und deren
Folge, das grenzenlose Aktionsbedürfnis, daß sie „organisiert", „be-
herrscht" werde.
Denn — so fragen wir — ist der Kantische Ansatz nicht insofern „verkehrt"
zu nennen, als das apriorische Vermögen des Menschen nur dann etwas
vermag, wenn es affiziert, sprich: von der Welt angegangen wird? Muß nicht
auch Kant zugestehen, daß der Mensch — anders als ein denkbarer intuitus
originarius — auf Gebung angewiesen ist, wobei er, umwillen einer
292 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Begründung seiner Weltoffenheit von dieser Gebung wieder absehen muß?


Kann man angesichts der Welteingenommenheit, die auch er mithin
voraussetzen muß, wirklich von apriorischen Vermögen sprechen? Sind
diese bezüglich der uns angehenden Welt darum nicht aposteriorisch zu
nennen? Zeigt sich das nicht gerade darin, daß Kant jenen Bereich als
unwesentlich von seiner Fragestellung ausschließen muß, der nicht nur den
Dichtern der wesentliche ist, den Bereich der sinnlichen Qualitäten nämlich
— und dies, weil jene sich dem berechnenden Zugriff der ratio entziehen?
Denn ist es wirklich plausibel, daß wir im Falle eines uns erscheinenden
Wachsstückes Farbe und Geruch vom Gegenstand empfangen, seine
Ausgedehntheit oder Räumlichkeit hingegen ihm vorschreiben? Legt die
Tatsache, daß wir dem Gegenstand die Räumlichkeit apriori zusprechen
können, diesen Schluß unbedingt nahe? Wäre es nicht denkbar, daß wir
auch die Ausgedehntheit des Wachsstückes von der Welt empfangen, mit
dieser aber darum rechnen können, weil sie sich — wir erinnern hier an
frühere Ausführungen (Seite 53 ff.), vor allem an den in diesem
Zusammenhang zitierten Einwand Goethes gegen Kant (Anmerkung 219
des vorigen Abschnittes) sowie an unsere diesbezügliche Auseinanderset-
zung mit Martin Heidegger (Anmerkung 259 des gleichen Abschnittes) —
dem Zugriff der ratio fügt, als welche vom optischen und von dem auf diesen
bezogenen haptischen Sinn dominiert wird, so zwar, daß „Sein" seit den
Griechen Anwesenheit und Beständigkeit besagt — was eben zur Folge hat,
daß dem von den anderen Sinnen Wahrgenommenen kein „Sein"
zugesprochen werden kann, weil ihm diese Beständigkeit, sprich:
Berechenbarkeit abgeht?
Keineswegs wollen wir mit diesen Fragen der Erkenntnis widerstreiten,
daß uns nur darum „in der Welt" etwas begegnen kann, weil wir mit solchen
„apriorischen" „Strukturen" oder „Vermögen" ausgestattet sind — mit
Goethe zu sprechen: „ W ä r nicht das Auge sonnenhaft,/Wie könnten wir
das Licht erblicken?" —, vielmehr wollen wir nur darauf hinweisen, daß die
Philosophie im Verfolg ihrer Fragen nach dem Beständigen und
Apriorischen vergißt — oder zumindest vergessen will —, daß das
Begegnende darin nicht aufgeht, daß die uns angehende Welt wesentlich
„ m e h r " ist, als das, was wir von ihr entwerfen können — unseres Erachtens
war es das, was Nietzsche in „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" bei seinem verunglückten erkenntnistheoreti-
schen Streit mit der Metaphysik im Auge gehabt hat —: V o r allem durch
seine von Kant als sekundär bezeichneten sinnlichen Qualitäten
unterscheidet sich der wahrgenommene Baum etwa von seiner apriorisch
entwerfbaren Idee. Wenn besagte sinnliche Qualitäten aber dessen
Reichtum, seine Mannigfaltigkeit, ausmachen — darf man sie dann
Versuch einer Er-läuterung 293

gegenüber dem „Apriorischen" als sekundär oder beiherspielend, als


unwesentlich bezeichnen, zumal dieses doch, vereinfacht gesagt, bloß „im
D i e n s t e " des Begegnenden steht? Allein eine v o n der Existenz ausgehende
Fragestellung, in deren berechnenden V o l l z ü g e n der Mensch nur für das
o f f e n ist, was er sich notfalls auch allein zu ö f f n e n vermag, dürfte darin
nichts Verfängliches und Bedenkliches erblicken — und gilt nicht die
Ausgangsfrage der Kantischen Erkenntniskritik („wie sind synthetische
Urteile a priori möglich?") einer Disziplin, der sich die Fülle der Welt von
vornherein auf einige w e n i g e Strukturen reduziert, nämlich der Geometrie?
W i r fragen so im Wissen um die unvergleichliche Größe des Kantischen
Gedankengebäudes und in Kenntnis unserer kleinen Geisteskräfte — aber
wir müssen so fragen umwillen des v o n Nietzsche beschriebenen
dionysischen Geschehens, von dem auszugehen wäre, wollte man den
W e l t - B e z u g zu denken versuchen, weil sich v o n ihm her gesehen die
Kantische Fragestellung als verengt, nämlich als ungeeignet erweist, den —
im weitesten Sinne — „Lebensbereich" zu erfassen. U m Martin H e i d e g g e r
zu zitieren:
W o [ . . . ] — wie in der neuzeitlichen mathematischen Physik — das Ding
und der Körper als ausgedehntes und widerständiges Ding vorgestellt
werden, da sinkt die anschauliche Mannigfaltigkeit zu einer solchen von
Empfindungsgegebenheiten herab. Heute ist das Gegebene für die
experimentelle Atomphysik nur eine Mannigfaltigkeit von Lichtflecken
und Strichen auf der photographischen Platte, f . . . ]
Zum Glück gibt es aber vorerst noch — außer den Lichtwellen und
außer den Nervenströmen — die Farbigkeit und das Leuchten der Dinge
selbst, das Grün des Blattes und das Gelb des Kornfeldes, das Schwarz der
Krähe und das Grau des Himmels. Der Bezug zu all dem ist nicht nur auch
da, er muß ständig als das vorausgesetzt werden, was durch die
physiologisch-physikalische Fragestellung sogleich zerschlagen und
umgedeutet wird.
Die Frage erhebt sich: Was ist seiender, jener grobe Stuhl mit der
Tabakpfeife, den das Gemälde van Goghs zeigt, oder die Lichtwellen, die
den dabei verwendeten Farben entsprechen, oder die Empfindungszustän-
de, die wir bei der Betrachtung des Bildes ,,in uns" haben? Jedesmal spielen
Empfindungen eine Rolle, aber jedesmal in einem verschiedenen Sinne. Die
Dingfarbe ζ. B. ist etwas anderes als der im Auge gegebene Reiz, den wir
als solchen nie unmittelbar erfassen. Die Dingfarbe gehört zum Ding. Sie
gibt sich uns auch nicht als Ursache eines Zustandes in uns. Die Dingfarbe
selbst, ζ. B. das Gelb, ist nur dieses Gelb als zugehörig zum Kornfeld. Die
Farbe und ihre leuchtende Farbigkeit bestimmen sich jeweils aus der
ursprünglichen Einheit und Art des farbigen Dinges selbst. Dies setzt sich
nicht erst aus Empfindungen zusammen.
[ . . . ] Der mathematische Ansatz des Dinges als des ausgedehnten
Beweglichen in Raum und Zeit hat zur Folge, daß das umgänglich
alltäglich Gegebene als bloßes Material aufgefaßt und in die Mannigfaltig-
294 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

keit der Empfindungen aufgesplittert wird. [ . . . ] . In der Ebene dieses


Ansatzes hält sich auch Kant; er hat, wie die Überlieferung vor ihm und
nach ihm, jenen Bereich der Dinge von vornherein übersprungen, in dem
wir uns unmittelbar heimisch wissen, der Dinge, wie sie uns auch der Maler
zeigt: der einfache Stuhl mit der eben hingelegten oder liegengelassenen
Tabakpfeife bei van Gogh. 290

Die ganz anders geartete Erfahrung des dionysischen Geschehens hat


Nietzsche nicht davor schützen können, der Uberlieferung zu verfallen und
den Kantischen Ansatz zu übernehmen. Sein gesamter Denkweg ist von
diesem Ansatz gezeichnet, den er überdies dahingehend verschärft, daß die
Welt jegliche „Qualität" und damit jeglichen „ W e r t " zu Lehen des Subjekts
hat. 291 Mit am deutlichsten geht dies aus der frühesten Aufzeichnung hervor,
in der sich Nietzsche dezidiert erkenntnistheoretisch äußert. Diese
Aufzeichnung ist schon mehrfach zitiert worden, ohne daß wir auf ihre
innere Widersprüchlichkeit hingewiesen hätten, eine Widersprüchlichkeit,
die aus dem Gegensatz von metaphysischem Denken und physischer
Erfahrung hervorgeht. Nietzsche schreibt:
Die Quellen des N a t u r g e n u s s e s sind theils in uns, theils in der Natur
zu suchen. Alles, was in die geistigen Augen der Seele fällt, durchgeistigt sie
und giebt ihm einen individuellen Anstrich. Wir kennen die Dinge nicht an
und für sich, sondern nur ihre Abbilder auf dem Spiegel unsrer Seele.
Unsre Seele ist nichts als das vergeistigte Auge Ohr usw. Farbe und Klang
ist nicht den Dingen, sondern Auge und Ohr eigen. Alle Abstrakta,
Eigenschaften, die wir einem Dinge beilegen, bilden sich in unserm Geiste
zusammen. Nichts zieht uns an als das Lebendige. Alles was uns anzieht,
hat vorher Leben in unsrem Geiste empfangen. Alle(s) Todte ist des Geistes
unwürdig.
In die Natur legen wir also unsre Seele oder einen Theil derselben, eine
Stimmung.
Ubermächtigt von der metaphysischen Tradition, die qua Gleichsetzung von
Denken und Sein allein den von der menschlichen ratio und ihren
sogenannten apriorischen Strukturen konstituierten oder erfaßten Gegen-
stand anerkennt, weiß er dem ihn angehenden — von einem bloßen
Gegenstand durch sein Atmosphärisches zutiefst geschiedenen —
Phänomen, dem Ding, nur Ohnmacht zuzusprechen: so wird nicht er vom
Ding ge- und bestimmt, sondern er bestimmt den Gegenstand. Dabei kündet
sein unreflektierter Sprachgebrauch von einer ganz anderen Erfahrung;
unmittelbar im Anschluß an die gerade zitierte Stelle heißt es ganz im Sinne
seiner späteren Ausführungen in der „Geburt der Tragödie": In der Natur
[a]m häufigsten das Gefühl der stolzen Seelenunabhängigkeit, das uns bei
dem Anblick einer Weite überkömmt292. Dies die E m p f i n d u n g d e s
F r e i e ( n ) i m Gegensatz zur Enge.
Versuch einer Er-läuterung 295

An einem Kunstwerk nie etwas schön außer die Empfindung von


Seelenweite, die es erregt.293
D i e Empfindung des Freien, die den Menschen in einer Landschaft oder vor
einem Kunstwerk überkommt, meint das Wesen (verbal) des Welt-Bezuges,
das Freien des Dinges, das im Dingen die Gemessenheit und Vermessenheit
der alltäglichen Existenz aufbricht und den Menschen in das Übermaß des
Offenen des Welt-Bezuges versetzt. Ebendies ist das Wesen des
Atmosphärischen, von dem Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung
spricht, ohne es in angemessener, d. h. rein physischer Weise zu bedenken.
Schon umgangssprachlich bedeutet „ A t m o s p h ä r e " im übertragenen
Sinne ein Fluidum, das von etwas ausgeht — sei es etwa eine Landschaft, ein
Kultgegenstand, ein Kunstwerk, ein schön gearbeiteter Gebrauchsgegen-
stand, aber auch ein Mensch — vor allem ein geliebter —, bisweilen auch ein
Gedanke, oder der Ruf eines Vogels, der Wind —, dann auch die Stimmung,
in die sich ein Mensch durch den Eintritt in das „ K r a f t f e l d " eines solchen
Fluidums versetzt sieht. An dieses Wortverständnis knüpfen wir an, wenn
wir den Ausdruck „ a t m o s p h ä r i s c h " zur Titelbezeichnung des Wesens der
Welt wählen: Bereits aus der Etymologie dieses Wortes spricht, wie wir in
Anmerkung 256 des vorigen Abschnitts erwähnt haben, die den Menschen
angehende, ihn gleichsam anwehende, für ihn unfaßbare und nicht
begründbare Umfängnis, als welche sich Welt dem Menschen zuspricht.
Zugleich hebt sie das darin eingeschlossene Moment des Fruchtbaren
hervor, nämlich das Moment des Hervorrufens neuer Möglichkeiten der
Weltbeziehung, worin wir im Anschluß an Goethes „ W a s fruchtbar ist,
allein ist w a h r " das Wesen ursprünglicher Wahrheit erkennen wollen:
άτμός, feuchter Dunst, kommt von ά η μ ι , wehen, und σφαίρα,
(Luft-)Kegel, hängt vielleicht mit σπαίρω, schnellen, sowie mit σπείρω,
erzeugen, zusammen.
V o n diesem Wesen der Welt künden bisher am reinsten manche
Dichtungen. S o diejenigen Paveses, wenn etwa der Ich-Erzähler der
Kurzgeschichte „ E n d e A u g u s t " (Fine d'agosto) 2 9 4 über gewisse Sommermo-
nate seiner Kindheit — „sie haben nur in der Erinnerung eine einzige F a r b e "
— zu berichten weiß, daß in ihnen Augenblicke schlummern, „ d i e von einer
E m p f i n d u n g " — in der Geschichte ist es diejenige des nächtlichen
Wirbelwindes — „ o d e r einem Wort plötzlich wieder entzündet werden
können; und sogleich setzt die Verwirrung ein, die eine solche Distanz mit
sich bringt" 2 9 5 . S o aber auch Proust, wenn er in seiner „Recherche du temps
p e r d u " deren Erzähler berichten läßt, wie es ihm plötzlich und unerwartet
eines T a g e s beim Eintauchen einer Madeleine in eine T a s s e T e e geschah,
daß aus dem D u f t der Lindenblüten das ganze Panorama seiner
Kindheitstage im D o r f e Combray auftauchte — wodurch der Prozeß der
296 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Roman-Erzählung insofern erst in Gang gebracht wird, als der Erzähler


vordem von seinem Ich und von seiner Vergangenheit abgeschnitten war:
jetzt hingegen er-innert er sich ihrer. „Erinnerung" soll hier mithin — wie
auch in der oben zitierten Passage aus einer Erzählung Paveses — besagen,
daß der Abstand zwischen vergegenwärtigendem Subjekt und vergegenwär-
tigtem Objekt fehlt — im Unterschied zum Gedächtnis, das das Vergangene
in einer solchen Weise präsentiert, daß es in einem betonten Sinne
„gegenüber" bleibt. Wir verstehen „Erinnerung" somit in dem gleichen
Sinne, in dem Emil Staiger dieses W o r t im Rahmen seiner Ausführungen
über den lyrischen Stil verwendet:
„Erinnerung" bedeutet nicht den „Eingang der Welt in das Subjekt",
sondern stets das Ineinander, so daß man ebenso sagen könnte: der Dichter
erinnert die Natur, wie: die Natur erinnert den Dichter. Das zweite würde
vielleicht sogar der Erfahrung vieler lyrischer Dichter mehr entsprechen als
das erste. Die Gnade oder der Fluch der Stimmung zum mindesten wäre
besser gewürdigt.296
Schon vorher hat er in diesem Sinne zu bedenken gegeben:
Der lyrische Dichter leistet nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich
verstanden sein — der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache
wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der einen oder der anderen
gegenüberzutreten.297
Wir können diesen Ausführungen indes nur bedingt zustimmen, nur so weit
nämlich, als sie die Stimmung betreffen. Daß dem Dichter in eins mit dem
Geschehnis der Be-stimmung auch die Sprache eingegeben wird, daß sich
sein Dichten, mit Staiger zu sprechen, 2 9 8 „unwillkürlich" vollzieht — was
bedeuten würde, daß der Dichter in der Unmittelbarkeit des dionysischen
Fort-risses dichtet —, diese Annahme können wir nur als sachwidrig
bezeichnen — wir werden darauf zurückkommen. Bezüglich des
Geschehnisses der Be-stimmung erscheint uns Staigers Folgerung dagegen
korrekt:
Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er gleitet mit im Strom des
Daseins. Das Momentane gewinnt für ihn eine ausschließliche
Mächtigkeit299.
Nähert sich Staiger in diesen Ausführungen nicht auf eine erstaunliche
Weise demjenigen, was wir den atmosphärischen Bezug genannt haben —
und dies, obwohl er von metaphyischen Deutungen ausgeht 300 und auch
wieder in sie zurückfällt (ζ. B. dort, wo er von den oben zitierten
Auslegungen des Phänomens der „Erinnerung" die zweite und entscheiden-
de im Ausgang von einem — in diesem Kapitel weiter unten abgedruckten —
Hofmannsthal-Zitat als dem Mystischen verwandt bezeichnet 301 ): ganz
einfach deswegen, weil er dem dichterischen W o r t vertraut und ihm
nachzudenken sucht? In der Tat: manches von demjenigen, was Staiger zur
Charakterisierung des lyrischen Stils anzuführen weiß — eine Charakteri-
Versuch einer Er-läuterung 297

sierung, die im Grunde eine solche „des lyrischen Daseins" 302 ist, betrachtet
Staiger die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch doch als „literaturwissen-
schaftliche Namen für fundamentale Möglichkeiten des menschlichen
Daseins überhaupt" 3 0 3 , deren Unterschiede er im Anschluß an Heideggers
Daseinsanalyse auf den Primat jeweils einer der drei Zeitekstasen
zurückführen will —, manches der Staigerschen Charakterisierung des
lyrischen Daseins können wir als Bestätigung unserer Gedanken über die
dichterische Weltverhaltung zitieren. So etwa seine Bemerkungen zum
Unterschied zwischen Düften und optischen Eindrücken, die sich als
Kommentar zu den oben zitierten Stellen von Pavese und Proust lesen
lassen:
D ü f t e gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung an. Es kann
geschehen, daß wir einen D u f t nicht im Gedächtnis behalten, w o h l aber in
der Erinnerung. W e n n er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst
vergangenes Ereignis fühlbar; das H e r z klopft, und schließlich zieht die
Erinnerung das Gedächtnis nach; wir k ö n n e n sagen, w o dieser D u f t uns
früher einmal die Sinne betäubte. D a ß D ü f t e s o sehr der Erinnerung und so
w e n i g dem Gedächtnis gehören, hängt z w e i f e l l o s damit zusammen, daß
wir sie nicht gestalten, ja oft g e n u g sogar kaum benennen können.
Ungestaltet, unbenannt, w e r d e n sie nicht zu Gegenständen. U n d nur v o n
d e m , was A n s c h a u u n g oder Begriff z u m Gegenstand macht, sind wir frei.
N u r dazu haben wir „Stellung bezogen". 3 0 4

Wenn sich auch nicht sagen läßt, was das Atmosphärische „an sich" ist —
mit Goethe zu sprechen: „Wirkungen werden wir gewahr, und eine
vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das
Wesen jenes Dinges." —, soviel ist doch gewiß: daß es vor allem von jenem
„ausgeht", was in der Sichtweise der Philosophie f ü r die Gegenstandskon-
stitution unerheblich und damit unwesentlich ist: von Geruch, Geschmack,
von Klang und Farbe, kurz: vom Sinnlichen.
Daß es Nietzsche im Grunde um die Freisprechung dieses Sinnlichen von
den Vor-Stellungen des bisherigen Denkens geht, haben wir schon früher
(Seite 61 ff.) im Ausgang von folgendem Satz zu zeigen versucht:
U n s e r D e n k e n soll kräftig duften wie ein Kornfeld an S o m m e r - A b e n d e n .
Damit begibt er sich denkerisch auf das Feld des Unbeständigen, des
Nicht-Gegenständigen, will sagen: des Physischen, das er aber — aus schon
angesprochenen Gründen — metaphysisch mißdeutet, so zwar, daß er die
Sinne einem neuen Diktat — demjenigen des reinen Werdens — unterwirft.
Auf das deutlichste kann dieses Fehlschlagen seiner Revolution der
Sinnlichkeit an schon mehrfach zitierten Passagen des Kapitels „Die
,Vernunft' in der Philosophie" aus der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " abgelesen
werden. Eingangs des 3. Abschnitts singt Nietzsche dort das Hohelied der
Sinne:
298 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

— Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren
Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit
Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das
delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht 305
— dies aber nicht, weil es uns dem von lauen Sommer-Abend-Lüften
zugewehten kräftigen Duft des Kornfeldes öffnet, sondern weil es genauer
als alle wissenschaftlichen Instrumente das Werden, hier: die Bewegung der
Luft, wahrzunehmen vermag:
Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen
haben, das Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch
schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. 306
D. h. nicht jedes Zeugnis der Sinne, sondern nur das eine: gemäß Nietzsches
metaphysischer Voraussetzung ist das Zeugnis der Sinne dann brauchbar,
wenn es „das Werden, das Vergehn, den Wechsel" zeigt. Auch hier ist
mithin nicht der Duft selber wesentlich, sondern ein darin sich zeigendes
anderes, um dessentwillen er nach dem Diktat der Ratio veruntreut, nämlich
überstiegen, wenn man will: gefälscht wird — so daß auf Nietzsche selber —
mutatis mutandis — zurückfällt, was er der bisherigen Philosophie vorhält:
Die „ V e r n u n f t " ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne
fälschen. 307
Diese Mißdeutung mag sich überdies durch die phänomenale Beobachtung
aufgedrängt haben, daß dem Menschen im atmosphärischen Bezug die
Gegenständigkeit entglitten ist, daß er — wie auch Staiger für den lyrisch
Gestimmten zu bemerken weiß (siehe Seite 296) — darin ins Gleiten kommt,
die Opposition von Innen und Außen — wir erinnern daran, daß Nietzsches
Werden ein Geschehen von absoluter Homogenität bedeuten soll —
hinfällig wird: Stimmendes und Gestimmtes, Dingendes und Gedingtes sind
eines. Staiger bemerkt:
Im lyrischen Dasein [ . . . ] gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber
noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch
kein Subjekt. [ . . . ] W e n n lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie
darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt
darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern „innen" und
„außen", „subjektiv" und „objektiv" sind in lyrischer Poesie überhaupt
nicht geschieden. 308
Auch demjenigen, was Staiger über das Wesen der Stimmung zu bedenken
gibt, können wir beipflichten:
„Stimmung" bedeutet nicht das Vorfinden einer seelischen Situation. Als
seelische Situation ist eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher
Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist eine Stimmung gerade
nichts, was „ i n " uns besteht. Sondern in der Stimmung sind wir in
ausgezeichneter Weise „draußen", nicht den Dingen gegenüber, sondern
in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt das Dasein unmittelbarer
als jede Anschauung oder jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt
Versuch einer Er-läuterung 299

durchwaltet vom Entzücken des Frühlings oder verloren an die Angst des
Dunkels, liebestrunken oder beklommen, immer aber „eingenommen" von
dem, was uns als körperliches Wesen — in Raum oder Zeit —
gegenübersteht. Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von der
Stimmung des Abends wie von der Stimmung der Seele redet. Beide sind
ununterscheidbar eins. [ . . . ] Alles Seiende [ . . . ] ist in der Stimmung nicht
Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit ist die Seinsart von Mensch
und Natur in der lyrischen Poesie. 309
Als Beleg seiner A u s f ü h r u n g e n über das Lyrische führt Staiger — o h n e
weitere Interpretation — einen Abschnitt aus H o f m a n n s t h a l s 1903
verfaßtem „ G e s p r ä c h über G e d i c h t e " an, weil er in der T a t eine der g a n z
w e n i g e n Passagen ist, in denen das I m - W e l t - B e z u g - S t e h e n nicht nur
gestaltet, sondern auch bedacht wird:
Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten und tiefsten
Zustände unseres Inneren in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft
verflochten, mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft, mit
einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du von einem hohen
Wagen abspringst; eine schwüle sternlose Sommernacht; der Geruch
feuchter Steine in einer Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus
einem Laufbrunnen über deine H ä n d e sprüht: an ein paar tausend solcher
Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz geknüpft, alle deine
Aufschwünge, alle deine Sehnsucht, alle deine Trunkenheiten. Mehr als
geknüpft: mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran, daß —
schnittest du sie mit dem Messer von diesem Grunde ab, sie in sich
zusammenschrumpften und dir zwischen den H ä n d e n zu nichts vergingen.
Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen:
draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der wesenlose Regenbogen
spannt sich unsere Seele über den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir
besitzen unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht uns für lange
und kehrt uns in einem H a u c h zurück. Zwar — unser „Selbst"! Das W o r t
ist solch eine Metapher. Regungen kehren zurück, die schon einmal früher
hier genistet haben. Und sind sies auch wirklich selber wieder? Ist es nicht
vielmehr nur ihre Brut, die von einem dunklen Heimatgefühl hierher
zurückgetrieben wird? Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet
sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein Taubenschlag. 3 ' 0
„ W i r sind nicht mehr als ein T a u b e n s c h l a g " ist ein poetischer Ausdruck
dafür, daß der M e n s c h kein sich selbst besitzendes Für-Sich ist — später
merkt H o f m a n n s t h a l n o c h ausdrücklich an, „ d a ß wir und die W e l t nichts
V e r s c h i e d e n e s sind" 311 — , sondern als abgründige W e l t - D u r c h s t i m m t h e i t ,
w i e wir sagen: als I m - W e l t - B e z u g - S t e h e n aufgefaßt w e r d e n muß, so zwar,
daß ihm dieses sein wahres Selbst gestimmter W e l t o f f e n h e i t zunächst und
zumeist abhanden g e k o m m e n ist. N u r in seltenen Augenblicken wird er
seiner inne: Es wird ihm, w i e H o f m a n n s t h a l sagt, v o n außen z u g e w e h t , w a s
meint, daß er im atmosphärischen Belang des ihn dingenden D i n g e s aus der
m o n a d e n h a f t e n Verschlossenheit der sich eigen-, w e n n nicht gar allmächtig
d ü n k e n d e n Existenz des Alltags a u f g e b r o c h e n und zu diesem eingestimmt
300 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

wird: An diese seligen Momente des Innestehens im vollen Welt-Bezug, des


Welt-Uberschwangs von „ein paar tausend solcher Erdendinge" sind
Hofmannsthal zufolge alle unsere Aufschwünge, alle unsere Sehnsüchte und
alle unsere Trunkenheit geknüpft.
Der Mensch „fühlt sich eins mit dieser Landschaft, mit diesem Lächeln,
mit diesem T o n , nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit dem
Vergänglichsten" 312 , bemerkt Staiger und gewinnt daraus die Erkenntnis,
„daß die lyrische Stimmung selbst grundlos ist und daß sie auch keiner" —
metaphysischen — „Begründung bedarf" 3 1 3 : Was dahingehend zu
präzisieren wäre, daß sie eine solche auch nicht duldet, wäre doch dadurch
das Vergängliche um seinen Vergänglichkeitscharakter gebracht.
Daß auch Nietzsche von dieser Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens
und mit ihr von einem physischen Verständnis der Wahrheit im Sinne der
Fruchtbarkeit ausgeht, das kann aus den teilweise schon zitierten
Ausführungen der 2. Unzeitgemässen Betrachtung zum „Unhistorischen"
oder „Atmosphärischen" herausgelesen werden, soweit zumindest, als sie
das Phänomen nur zu beschreiben und nicht zu denken suchen:
Entschiedener noch als Goethe übersetzt nämlich Nietzsche den physischen
Befund in die metaphysische Sprache Leibnizens.
Um diese Ausführungen recht verstehen zu können, muß vorab erkannt
werden, daß Nietzsche in dieser Abhandlung die Historie als Paradigma der
wissenschaftlichen oder sokratischen Weltverhaltung bedenkt — einge-
schlossen die philosophische, soweit sie unter der Forderung des rationem
reddere steht, will Nietzsche doch, wie erinnerlich, in der „Geburt der
Tragödie" den Sokratismus vor allem durch „das Bild des s t e r b e n d e n
S o k r a t e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen
Menschen" 3 1 4 charakterisiert sehen. Die unhistorische Weltverhaltung ist
demnach diejenige, die sich von jener Forderung des reddendum freistellt,
die vorrationale mithin — wir sagen: die physische.
Beide Weltverhaltungen vergleichend, bemerkt Nietzsche in der
2. Unzeitgemässen Betrachtung:
wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch
empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten
müssen, insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas
Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches wachsen
kann. Das Unhistorische ist einer umhüllenden Atmosphäre ähnlich, in der
sich Leben allein erzeugt, um mit der Vernichtung dieser Atmosphäre
wieder zu verschwinden. Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch
denkend, überdenkend, vergleichend, trennend, zusammenschliessend
jenes unhistorische Element einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener
umschliessenden Dunstwolke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht,
also erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und
aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch
Versuch einer Er-läuterung 301

z u m Menschen: aber in einem Uebermaasse v o n Historie hört der Mensch


wieder auf, und o h n e jene H ü l l e des Unhistorischen w ü r d e er nie
a n g e f a n g e n haben und a n z u f a n g e n wagen. 3 1 5
Das Unhistorische ist das Wesen (verbal) des abgründigen Bezuges, in dem
die Physis den Menschen zu sich ein-, ihn umstimmt, sich ihm so als
Bestimmung zuspricht: allein auf diesem „Fundament" kann, so Nietzsche,
„etwas Rechtes, Gesundes und Grosses, etwas wahrhaft Menschliches
wachsen": φύσις ist, wie schon mehrfach erwähnt, zunächst im Sinne der
transitiven Bedeutung von φύω „wachsenlassen, schaffen" zu verstehen.
Das heißt aber, daß der Mensch ihre Gabe der Bestimmung als Aufgabe zu
übernehmen hat. Sie ist Aufruf zum Stiften eines Werks, das dem
Empfangenen mit dem darin eröffneten Welt-Bezug eine Stätte des
An-denkens eröffnet. Ineins damit spricht der Mensch in einem solchen
Denk-Mal seinen Dank aus für diesen Zuspruch der Welt — denken und
danken sind in unserer Sprache Worte ein und desselben Ursprungs.
Zugleich aber ist ein solches Werk den oben zitierten Worten zufolge das
Rechte: weil es sich nach den Stimmen der Welt richtet, der in dieser ihrer
Fruchtbarkeit Wahrheit im ursprünglichen Sinne zukommt: Als derweise
Richtiges aber ist das W e r k selber wahr, was bedeutet, daß es seinerseits
wieder fruchtbar werden kann. Doch vermag es den Menschen nur zu
be-dingen, wenn dieser sich ihm öffnet. 316 Als Ding-Stätte empfangenen
Welt-Zuspruches sprechen sich somit auch die Werke dem Menschen als
Bestimmung, als Auf-Gabe zu. Wie dies etwa Rilke vor dem „Archaischen
Torso Apollos" erfährt:

Wir kannten nicht sein unerhörtes H a u p t ,


darin die A u g e n ä p f e l reiften. Aber
sein T o r s o glüht n o c h w i e ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen D r e h e n
der Lenden könnte nicht ein Lächeln g e h e n
z u jener Mitte, die die Z e u g u n g trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz


unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern


aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. D u mußt dein Leben ändern. 3 1 7
Werke in diesem Sinne können indes nicht nur Kunstwerke sein —
Nietzsche selber nennt neben dem Bild des Künstlers den Sieg des Feldherrn
und die Freiheit eines Volkes, d. h. die staatsgründende Tat. Zu denken wäre
weiterhin an das Denken selber — nicht jedoch an die Wissenschaft, die das
302 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

A t m o s p h ä r i s c h e d e r D i n g e z e r s t ö r t — , v o r a l l e m a b e r a u c h an d e n B e z i r k
des Heiligen, des templum, für den der Zaun das schlichteste,
g e g e n s t ä n d l i c h s t e Z e i c h e n darstellt. A u c h er ist ein D e n k - M a l e m p f a n g e n e n
Welt-Zuspruches, wie aus den nachfolgenden S ä t z e n Goethes hervorgeht,
in d e n e n er im A l t e r s r ü c k b l i c k j e n e E m p f i n d u n g e n z u r S p r a c h e b r i n g t , d i e
ihn als j u n g e n M e n s c h e n in e i n e m „ s c h ö n e n b e l a u b t e n H a i n e " im G e f o l g e
d e r M i t t e i l u n g e n eines F r e u n d e s e r g r i f f e n h a b e n :
Umständlich erzählte er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere Urväter an
den Gefühlen begnügt, welche uns die N a t u r in solchen Einsamkeiten mit
ungekünstelter Bauart so herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange
davon erzählt, als ich ausrief: „ O ! warum liegt dieser köstliche Platz nicht
in tiefer Wildnis, w a r u m dürfen wir nicht einen Zaun umher führen, ihn
und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewiß, es ist keine
schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus
dem Wechselgespräch mit der N a t u r in unserem Busen entspringt!" —
W a s ich damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig; was ich sagte, wüßte ich
nicht wieder zu finden. S o viel ist aber gewiß, daß die unbestimmten, sich
weit ausdehnenden Gefühle der J u g e n d und ungebildeter Völker allein
zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch äußere Dinge in uns
erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen Formen gebildet, uns mit
einer Größe umgeben muß, der wir nicht gewachsen sind.
Eine solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle
Menschen, sowie sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu
befriedigen suchen. Aber wie das Erhabene von D ä m m e r u n g und Nacht,
w o sich die Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es
dagegen vom T a g e verscheucht, der alles sondert und trennt, und so muß es
auch durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht
glücklich genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm
zu vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich
sind. 318
Einmal abgesehen von G o e t h e s — auch aus diesem T e x t sprechender —
m e t a p h y s i s c h e r D e u t u n g d e s j e n i g e n , w a s er d a s „ E r h a b e n e " n e n n t 319 : die
p h ä n o m e n a l e B e s c h r e i b u n g d e s s e l b e n w e i s t U b e r e i n s t i m m u n g e n mit j e n e n
P a s s a g e n a u f , in d e n e n N i e t z s c h e v o m a t m o s p h ä r i s c h e n B e z u g spricht. S o
hat G o e t h e s R e d e von der uns u m g e b e n d e n G r ö ß e , der wir nicht g e w a c h s e n
s i n d , ihre P a r a l l e l e in N i e t z s c h e s H i n w e i s a u f d a s U b e r m a ß , in d a s u n s d e r
d i o n y s i s c h e F o r t r i ß e n t s e t z t , w i e sich a u c h bei b e i d e n d e r H i n w e i s a u f die
G e f ä h r d u n g dieses G e s c h e h e n s durch „ j e d e w a c h s e n d e B i l d u n g " bzw. durch
ein „ U e b e r m a a s s v o n H i s t o r i e " f i n d e t .
Es ist wahr: erst dadurch, dass der Mensch denkend, überdenkend,
vergleichend, trennend, zusammenschliessend jenes unhistorische Element
einschränkt, erst dadurch dass innerhalb jener umschliessenden Dunstwol-
ke ein heller, blitzender Lichtschein entsteht, also erst durch die K r a f t , das
V e r g a n g e n e zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder
Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen,
Versuch einer Er-läuterung 303

bemerkt Nietzsche und bringt damit zum Ausdruck, daß sich der Mensch
das, was ihm in der Weise der Stimmung als Bestimmung seines
Im-Welt-Bezug-Stehens zugesprochen worden ist, erkenntnismäßig —
rational — erschließen muß, weil er nur so dieser seiner empfangenen
Auf-Gabe in der alltäglichen Lebenswelt nachzukommen, sie in den rational
geprägten Lebensvollzügen, kurz und mit Nietzsche gesprochen: in der
geschichtlichen Welt durchzusetzen vermag. Wie nämlich der Titel
„Im-Welt-Bezug-Stehen" zum Ausdruck bringen soll, ist es — anders als
dies Rilke etwa vermeint 320 — dem Wesen des Menschen keineswegs gemäß,
wie scheinbar das Tier, im stimmungsmäßigen Gezüge des reinen Bezuges
aufzugehen. So gehört zu seiner Belang-Spanne als Gegenpol die
apollinische Abständigkeit gegen den dionysischen Fortriß, nicht allein um
des bloßen Lebensvollzuges, sondern vor allem um des Stiftens willen, das
dem Lebensvollzug auch nach Nietzsche allererst Sinn gibt. Im Stiften setzt
sich die apollinische Bändigung und Fügung des dionysischen Fortrisses ins
Werk. Wie Nietzsche sagt, sind Apollo und Dionysos nur durch einander,
wo der eine von beiden fehlt, geht auch der andere zugrunde; womit als
Entartungsformen des „Im-Welt-Bezug-Stehens" — als Hypertrophie des
Dionysischen — der reine Dionysismus, von Nietzsche auch als das
Tragische oder Buddhaistische bezeichnet, und — als Hypertrophie des
Apollinischen — das Sokratische oder Alexandrinische, in unserer
Terminologie: die Existenz, genannt wären.
Dionysos und Apoll sind durch einander, das meint, daß sich der Mensch
die empfangene Bestimmung erkenntnismäßig zu erschließen hat, wobei mit
Martin Heidegger — an den auch Emil Staiger anknüpft — darauf
hinzuweisen ist,321 daß die Stimmung nicht nur allem Erkennen und Wollen
immer schon vorausliegt, sondern auch über deren Erschließungstragweite
allemal hinausgeht. Erkenntnismäßige Erschließung: das meint vor allem,
sich umwillen des zu schaffenden Werkes eine Bewandtnisganzheit
aufzuschließen: Vorhandenes wird auf seine Tauglichkeit für die
Ins-Werk-Setzung des Welt-Zuspruches geprüft, verworfen oder als
Zuhandenes demjenigen eingereiht, mit dem es in Hinblick auf die Vorhabe
sein Bewenden haben kann. Es zeigt sich damit, daß die metaphysischen
Fragestellungen nach den apriorischen, den Entwurfs-Vermögen des
Menschen im Hinblick auf die geschichtliche Welt ihre Berechtigung haben.
Sie verlieren diese Berechtigung indes sofort dadurch, daß sie die
geschichtliche Welt für das ganze Wesen des Im-Welt-Bezug-Stehens des
Menschen und nicht nur f ü r einen Teilbereich desselben nehmen. Indem die
Metaphysik so nämlich die Frage nach dem Grund aus in sich gegründetem
Sein von einer Frage im Bereich der Mittel zu einer Frage im Bereich der
Ziele aufspreizt, dadurch aber die einzig rechtmäßige Zielfrage, die nach
304 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

dem Grund aus abgründigem Wesen von Welt, aus den Augen verliert, gerät
ihr nur noch ein „Unwesen" von Welt in den Blick — weswegen man die
Metaphysik als bodenlos bezeichnen muß.
Welt wird dann nur noch im Sinne eines vorausgesetzten Äußerlichen
erfahren, das der Mensch durch Re-flexion auf sich als den Quellgrund
seines Erscheinens in Innerliches verwandeln soll. Ebendas meint die
metaphysische und zugleich alltägliche Gleichsetzung von Denken und Sein,
die es dem Menschen verwehrt, der Welt die rätselhafte und undurchsichtige
Andersheit ihres abgründigen Zuspruches zu erhalten. Statt dessen hält sie
den Menschen dazu an, auf dem Wege eines Durchdenkens seiner absoluten
Identität mit allem sich der Welt als eines durch ihn Gesetzten zu versichern:
Metaphysisch gesehen ist der Mensch die Welt — was in physischer
Sichtweise nur bedeuten kann, daß Mensch und Welt ihres Wesens verlustig
gegangen sind: Alles physisch Wesende und Waltende wird auf diese Weise
um seinen Belang gebracht und zum insichstehenden Gegenstand fest- und
d. h. sichergestellt, während auf der anderen Seite der Mensch vom
Im-Welt-Bezug-Stehen zum Subjekt verkümmert, das sich um die Frage
mühen muß, wie es zu seinen Objekten gelangen kann — wir erinnern uns,
daß Goethe, von dieser Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens herkom-
mend, diesem Bemühen nur Vergeblichkeit zu attestieren weiß (siehe Sei-
te 15): Man reißt Welt und Mensch nicht ungestraft auseinander, da beide in
abgründiger Weise zusammengehören.
Das gilt sogar für den von der Metaphysik ins Auge gefaßten Alltag.
Physisch betrachtet sind es nicht Gegenstände, die dem Menschen in der
apollinischen Abständigkeit begegnen, sondern belang-freie Dinge, die
indes den Menschen jederzeit belangen oder dingen können: den
metaphysisch verfaßten Gegenständen jedoch geht die Belang-Fähigkeit
wesensmäßig ab, sie sind belang-los. Das aber heißt, daß im Gegensatz zum
metaphysischen Gegenstand das belangfreie Ding ebensowenig bestimmbar
ist wie das dingende Ding — wie solches in physischer Sicht auch für den
Alltag als einen Modus des Im-Welt-Bezug-Stehens in der Hinsicht gilt, daß
selbst in der belangfreien apollinischen Welt das Physische unumgängliche
Umfängnis bleibt, so daß sich nach den Gründen der apollinischen
Weltoffenheit ebensowenig fragen läßt wie nach den denjenigen der
dionysischen: beide sind letztlich das Selbe. Die Frage nach dem Grund als
in sich gegründetem Sein hat ihre Berechtigung, wir wiederholen es, allein
im Bereich der Mittel des dem Stiften dienenden Lebensvollzuges. W o sie
hingegen, wie in der metaphysisch verfaßten, der sokratischen Existenz, zu
einer solchen im Bereich der Ziele erhoben wird, so zwar, daß nach dem
Grund des Wesens der Welt, des Stiftens und des Gestifteten gefragt wird,
dort werden, mit Nietzsche zu sprechen, Welt und Mensch hart und
Versuch einer Er-läuterung 305

unfruchtbar: Ebendiese Gefahr hat er nämlich im Auge, wenn er in dem


oben zitierten T e x t bemerkt, daß der Mensch in einem ,Uebermaasse von
Historie aufhört, Mensch zu sein': D e r Mensch muß um der Sicherung des
Stiftens willen wohl begründen und berechnen, aber er darf dabei niemals
vergessen, daß diese ganze Lebenswelt im Abgründigen und Unsicheren
schwebt, weil sonst die Welt um die Möglichkeit ihres Zuspruches, er selbst
um diejenige der Bestimmbarkeit gebracht wird — eine Gefahr, die, das
weiß auch Goethe, mit wachsender Bildung immer größer wird, weil das
Geflecht begründender Kenntnisse immer dichter und damit die Fähigkeit
zum Ent-setzen, zum θ α υ μ ά ζ ε ι ν , immer geringer wird: gerade weil die W e l t
für das Kind, das in-fans, noch so abgründig ist, erweist es sich so ungleich
offener als der Erwachsene für den Angang der Welt, was so weit geht, daß
es ihrem Gezüge mehr oder minder hilflos ausgesetzt ist, sie als bedrohlich
und unheimlich erlebt: Die Kindheit ist das Lebensalter der höchsten
Welt-Innigkeit.
Diese Weltoffenheit des Kindes erklärt nun aber auch, warum sich viele
— nicht nur Dichter — bei späteren Erfahrungen des dionysischen
Fortrisses an Momente ihrer Kindheit erinnert fühlen: nicht nur weil sie die
ersten, sondern mehr noch weil sie die „intensivsten" Augenblicke
atmosphärischen Belanges — des freude- wie des angstvollen — darstellen:
S o eröffnet sich in solchen Momenten die Kindheit selbst.
Pavese, bei dem wir die reinsten Beschreibungen des Wesens der W e l t
gefunden haben, berichtet von einer solchen Erfahrung in seiner Erzählung
„ D a s Maisfeld", die so dicht geschrieben ist, daß wir trotz ihrer Kürze nur
weniges bedenken können. Sie beginnt mit dem S a t z :
An dem T a g , als ich unten an einem Maisfeld stehenblieb und dem
Rauschen der langen, dürren Stengel zuhörte, die sich in der Luft
bewegten, erinnerte ich mich an etwas, was ich schon lange vergessen hatte.
H i n t e r dem Feld — es stieg nach oben an — w a r der leere Himmel. 3 2 2
Solche Gestalten wie das Maisfeld, in denen sich bisweilen lange
zurückliegende Gespräche konkretisieren, so bemerkt der Erzähler,
wähle ich nicht aus: sie verstehen sich darauf, sich v o r mir zu erheben, sich
auf meinem W e g einzufinden im rechten Augenblick, wenn ich am
wenigsten d a r a n denke.
D a s Geschehnis des dionysischen Fortrisses ist mithin nicht in das Belieben
des Erzählers gestellt, es überkommt ihn, mit Nietzsche zu sprechen.
Was mir das Maisfeld sagt in den kurzen Momenten, wo ich wage, es zu
betrachten, ist das gleiche, was einer sagt, der auf sich hat warten lassen,
während man selbst ohne ihn nichts tun konnte.
D e r Erzähler nennt das Maisfeld darum etwas, das „ H e r r über uns ist". Das
meint zum einen, daß der „ G e g e n s t a n d " „sich von sich aus enthüllt", so daß
man „sich nichts von ihm erhoffen [kann], als was der Gegenstand schon
306 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

enthält", und z u m zweiten, daß das Verhältnis z u m Maisfeld das eines


Ü b e r k o m m e n - L a s s e n s , mithin passivischer Art ist, wie dies schon in der
F o r t f ü h r u n g des eben zitierten Satzes zum A u s d r u c k k o m m t : „ u n d eine zu
heftige B e w e g u n g könnte alles böse aus dem Gleichgewicht bringen." Weil
es nicht in ihm g e g r ü n d e t ist, v e r m a g der Mensch das Geschehnis des
atmosphärischen Belanges nicht herbeizuzwingen, jeder derartige Versuch
muß in einer V e r k r a m p f u n g und damit in einer Verschließung seiner
Weltoffenheit enden. S o kann der Mensch die Zeiten trauererfüllter
Belang-Freiheit und gleichgültiger Belang-Losigkeit nur in der Weise
ausstehen, daß er sie durchsteht, will s a g e n : daß er sich der Wiederkehr jenes
Geschehnisses zubereitet, seine innere U n r u h e stillt und so hörig wird —
dem G e s c h e n k des lautlosen Zuspruches der Welt:
Dieses Feld schuldet mir nichts, so daß ich nichts anderes tun kann als
schweigen und es in mich eindringen lassen. Und das Feld und die dürren
Stengel rauschen ganz allmählich in mir und bleiben mir still im Herzen.
Zwischen uns bedarf es keiner Worte. Die Worte hat es schon vor vielen
Jahren gegeben.,
bemerkt der Erzähler unserer Geschichte. W a n n das „ i n Wirklichkeit" 3 2 3
gewesen ist, weiß er nicht mehr. „ U n d ich weiß nicht e i n m a l " , fährt er fort,
was sie einander zu sagen haben konnten, ein Maisfeld und ein Junge. Aber
eines Tages war ich gewiß vor einem solchen Feld stehengeblieben — als
bliebe mit mir die Zeit stehen —, und ebenso den T a g danach und wieder
einen, eine ganze Jahreszeit, ein ganzes Leben hindurch; und das war eine
Grenze gewesen, ein vertrauter Horizont, durch den die Hügel — niedrig,
so weit entfernt waren sie — hindurchschienen wie Gesichter an einem
Fenster. Immer, wenn ich einen Schritt in den gelben Wald hinein gewagt
hatte, muß mich das Feld mit seinem knisternden, von der Sonne
erwärmten Laut in sich aufgenommen haben; und meine Antworten waren
die vorsichtigen, manchmal auch heftigen Bewegungen gewesen, mit denen
ich die scharfen Blätter beiseite schob, mich zu den Kornwinden bückte
und den Blick über die hohen Stengel hinaus auf die Leere des Himmels
richtete.
In jenem Knistern war eine tödliche Stille. Es war die Stille eines
abgeschlossenen, einsamen Ortes, die in dem fernen Himmel das
Versprechen eines unbekannten Lebens erschloß, unbegehbar und
verführerisch wie die Hügel.
Daß die Zeit damals stillstand, weiß ich, weil ich sie noch heute vor dem
Feld unversehrt wiederfinde. Es ist ein Rauschen, das sich nicht bewegt. Ich
begreife, daß ich eine Gewißheit vor mir habe, daß ich den Grund eines
ewig gleichen Sees, der mich erwartete, sozusagen berührt habe. Der
einzige Unterschied ist der, daß ich damals heftige Bewegungen wagte, ins
Feld eindrang und dabei zu den vertrauten Hügeln einen Schrei
hinaufschickte: mir schien, sie erwarteten mich. Damals war ich ein Kind,
und alles von diesem Kind ist gestorben — außer jenem Schrei. 324
Versuch einer Er-läuterung 307

Daß Mensch und Welt im atmosphärischen Bezug so rein ineinanderschwin-


gen können, daß sie eines werden — in dieser Geschichte wird es sogar
„physisch" sinnfällig, nämlich im Eindringen des Knaben in das Maisfeld,
womit dieser eine erste Antwort auf die Verheißung sucht, als die sich ihm
im Durchblick durch das Feld jene fernen Hügel zugerufen haben. Wenn
ihn dann das Maisfeld mit seinem knisternden, von der Sonne erwärmten
Laut in sich aufgenommen hat, so antwortet er erneut, diesmal, indem er mit
vorsichtigen, bisweilen auch heftigen Bewegungen die scharfen Blätter
beiseiteschiebt und sich zu den Kornwinden bückt, um dann seinen Blick
über die hohen Maisstengel hinaus auf die Leere des Himmels zu richten: In
den Lauten des Nahen und Vertrauten hat der Knabe die Rufe des Fernen
und Unbekannten gehört. So ist das Maisfeld — gleich dem Weinberg, der in
einer anderen, sehr verwandten Geschichte Paveses 3 2 5 ein immer
offenstehendes „Fenster nach dem H i m m e l " genannt wird — ein Tempel
des Himmels, nämlich ein abgeschlossener und einsamer Ort, dessen
„tödliche Stille [ . . . ] in dem fernen Himmel das Versprechen eines
unbekannten Lebens erschloß, unbegehbar und verführerisch wie die
Hügel."
Halten wir fest: Es ist die nahe Fülle, die dem Knaben die an ihrem
Horizont aufscheinende ferne Leere als jenes besagte Versprechen eines
unbekannten Lebens erschließt. Ubersetzt in die Sprache Heideggers — und
damit in Absetzung von ihm — meint das, daß nicht das Nichts die Welt,
sondern umgekehrt die Welt das Nichts erschließt, so zwar, daß dieses den
Menschen nur dann auf die Welt stoßen kann, wenn diese vorab den
Menschen zu sich eingenommen hat: andernfalls das Nichts nicht als
Drohung, sondern — siehe den Selbstmörder — als Verlockung der
Nichtung erfahren würde. Statt von Nichts sprechen wir aber von einem
Abgrund, der das Im-Welt-Bezug-Stehen des Menschen trägt: In Paveses
Geschichte ist es der „ G r u n d eines ewig gleichen S e e s " , der den Knaben
erwartete und den später auch der Erwachsene in jenen kurzen Momenten
im bzw. am Maisfeld berührt hat. Dieser Abgrund ist der Welt-Bezug selber,
als welcher die Fülle des menschlichen Lebens aus sich entläßt und in jedem
Dingen des Dings, in jedem dionysischen Fortriß, den Menschen
unmittelbar ergreift. In jener anderen Geschichte nennt Pavese dasjenige,
was sich dem Knaben beim Gang in den Weinberg („Ein Pfad durchläuft ihn
bis oben hin, teilt die Rebstockreihen und schneidet in den nahen Himmel
eine Pforte.") erschließt, von unserer Sichtwarte aus gesehen glücklich
etwas Ursprunghaftes, das ein heftiges Bestreben, es zu packen und von
Grund auf zu kennen, über die Zeit hinaus bis in die Zukunft lebendig
halten würde. Vielleicht bestand dieser Augenblick aus nichts, aber gerade
auf ihm beruhte seine Zukunft. Ein einfaches, tiefes Nichts — nicht in der
308 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Erinnerung haftend, weil es das nicht lohnte, in die Tage ausgebreitet und
dann verloren — taucht wieder auf angesichts des Pfades, des Weinbergs,
und enthüllt sich als an die Kindheit gebunden, jenseits von Dingen und
Zeit, wie es damals war, als es die Zeit für den Knaben noch nicht gab.326
Aber dieses Ursprunghafte ist als Ursprunghaftes unbegehbar, will sagen: es
läßt sich nicht packen — der jubelnde Ruf des Kindes als Ausdruck seiner
Be-geisterung durch jenes Ursprunghafte ist die einzige diesem gemäße
Antwort: Die dem Knaben durch die Stimmen der Ferne verheißene Welt ist
für den Menschen das Unumgängliche in jener zwiefachen Bedeutung, daß
er sich, von ihr immer schon umfangen und durch sie immer neu be-stimmt,
auf sie verwiesen sieht, ohne daß sie ihm doch je faßbar werden könnte, ohne
daß er sie — wie es der Knabe noch glaubt: auch das bedeuten seine
Antworten — je auszuschöpfen vermöchte — ebendas hält das Leben, mit
Pavese zu sprechen, bis in die Zukunft hinein lebendig. Und genau das meint
in physischer Lesart Nietzsches auf Seite 90 f. interpretierte metaphysische
Aufzeichnung von Ende 1870—April 1871, wonach es für den menschlichen
Intellekt als „ O r g a n des Willens" „kein Nichts als Ziel [giebt], somit auch
keine absolute Erkenntniß, weil diese dem Sein gegenüber ein Nichtsein
wäre."
Reiner und „intensiver" haben die Erzähler der beiden genannten
Erzählungen Paveses den physischen Bezug in ihrem Leben niemals mehr
erfahren, niemals mehr sind ihre gewöhnlichen rationalen Lebensvollzüge so
sehr zum Stillstand gekommen, sind ihnen zählbare Zeit und meßbarer
Raum so gänzlich zergangen wie in jenen Augenblicken der Kindheit: Kein
metaphysisches nunc stans 327 , sondern das physische Entrücktsein, das
Innestehen im dionysischen Fortriß, ermöglicht die Wiederbegegnung des
Erwachsenen mit dem Knaben, 328 die Erinnerung jener — im chronometri-
schen Sinne — zeitlosen Augenblicke der Verheißung seines Lebens, der
Andacht des Welt-Bezuges selbst: „ U n d alles, was er inzwischen aufgehäuft
hat", bemerkt der Erzähler der Geschichte „ D e r Weinberg" über jenen dem
Knaben begegnenden Mann,
der langsam angewachsene Reichtum von Erinnerungen aller Art, ist nichts
vor der Gewißheit dieser Verzückung, die er nicht mehr im Gedächtnis
hatte. Es gibt Himmel und Bäume, Jahreszeiten und ihre Wiederkehr, ein
Wiederfinden und süße Empfindungen — aber das ist nur Vergangenheit,
das Leben bildet es neu wie Wolkenspiele. Der Weinberg besteht auch aus
solchen Dingen, ein Honig der Seele, und etwas in seinem Horizont öffnet
glaubwürdige Fernsichten voll Heimweh und Hoffnung. Ungewöhnliche
Ereignisse können dort geschehen, die allein die Phantasie aufweckt, aber
nicht das Ereignis, das ihnen allen zugrunde liegt und alle wieder aufhebt:
das Entschwinden der Zeit. Das geschieht nicht, es ist, ja es ist der
Weinberg selbst.
Versuch einer Er-läuterung 309

Angesichts des Pfades, der zum H o r i z o n t aufsteigt, wird der Mann


nicht erst zum Knaben — er ist Knabe. Für einen Augenblick, w o er dahin
gelangt, jede Erinnerung zum Schweigen zu bringen, findet sich in den
Augen der unbewegliche, im Instinkt lebende, unveränderliche Weinberg:
daß er ihn im H e r z e n hatte, hat er immer gewußt. U n d es geschieht nichts,
weil nichts geschehen kann, was umfassender wäre als diese Gegenwart. 3 2 9
Allein solche Augenblicke der Erinnerung, des Wiedereinrückens in das
Offene des Welt-Bezuges, geben, wie der Erzähler einer weiteren
Geschichte Paveses, betitelt „Die Zeit" 3 3 0 , weiß,
so etwas wie einen Zuwachs an Leben, etwas wie ein Gefühl, daß sich unter
dem weggleitenden Augenblick ein schon mir angehörender Schatz
aufhäufe, den ich nur wiederzuerkennen brauche.
Anders hingegen, wo der Mensch sich vollkommen in der Welt der Gründe
einrichtet, sei es auf Bequemlichkeit — das fortwährende Sichoffenhalten
für die Zusprüche der Welt erfordert ein Höchstmaß an Anstrengung —, sei
es aus Furcht vor der Abgründigkeit, die das dionysische Geschehnis
offenbart: Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang gleichsinnig von
Todesfurcht, was an die tödliche Stille erinnert, die in Paveses Erzählung
aus dem Maisfeld aufgestiegen ist, Hölderlin im umgekehrten Falle der
Sehnsucht nach dem „ R a u s c h " von „Todeslust". Dort also, wo der Mensch
sich vollkommen in der Welt der Gründe einrichtet, vermag er nach
Nietzsches Einsicht nichts „Rechtes, Gesundes und Grosses" mehr zu
vollbringen, dort halten alle die Verfallsphänomene ihren Einzug, die
Nietzsche dem Sokratismus zuspricht, so etwa abstrakte Empfindung,
Uberforderung des plastischen Sinnes, Ruhelosigkeit, zunehmende
Verbreitung des egoistisch Kleinen und Elenden, Zerstörung der Natur.
Alles dies als Folge einer ,,tiefsinnige[n] W a h n v o r s t e l l u n g " , wie es in
der „Geburt der Tragödie" heißt,
jene[s] unerschütterliche[n] Glaube[ns], dass das Denken an dem Leitfaden
der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das
Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu c o r r i g i r e n
im Stande sei. 331
In welchem Glauben an die Machbarkeit von allem und jedem „die
Heiterkeit des t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n " begründet ist, als welche
Nietzsche dahingehend charakterisiert,
dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus
aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine
irdische C o n s o n a n z , ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den
Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren
Egoismus erkannten und verwendeten K r ä f t e der Naturgeister, dass sie an
eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft
geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen
Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen,
310 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „ I c h will dich: du bist werth
erkannt zu werden". 3 3 2
Alles das meint jener Satz, mit dem Nietzsche hellsichtig seinen eigenen
Denkweg bis hin zur Artisten-Metaphysik 333 beschrieben hat:
D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es
allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen D o s e n Opium ist:
Steigerung der Weltbejahung.
In der Wissenschaft wie auch in der Metaphysik kommt das Bestreben des
Menschen zu seiner höchsten Ausformung, nichts dem ab-gründigen Zu-fall
zu überlassen, vielmehr alles durch Zustellung auf seine Gründe
berechenbar und damit beherrschbar zu machen, wodurch eben das Wesen
des Welt-Bezuges, als welches man auch mit Nietzsches glücklichem Wort
als Weltspiel bezeichnen könnte, nichtig gesetzt wird:
D o c h Forschung strebt und ringt, ermüdend nie,
N a c h dem Gesetz, dem Grund, W a r u m und W i e . ,
gibt Goethe in den „Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten X " zu
bedenken und mahnt darum, wie gehört:
Wie? Wann? und W o ? Die Götter bleiben stumm!
D u halte dich ans W e i l und f r a g e nicht W a r u m ?
Was bedeutet, daß der Mensch an die Geheimnishaftigkeit der Welt nicht
rühren dürfe — „Wir wandeln alle in Geheimnissen", bemerkt Goethe zu
Eckermann 334 — nur dann nämlich könne das für den Lebensvollzug
unumgängliche Begründen fruchtbar sein: Die Forschung hat sich in den
Dienst des Geheimnisses zu stellen — was in physischer Lesart meint, daß
das Begründen niemals das Geschehnis des Welt-Bezuges, seine abgründige
Freiheit aus den Augen verlieren darf. So hat sich der Begründungswille in
den Dienst des Welt-Bezuges und des Stiftens zu stellen, weil er von ihnen
allein seine Rechtfertigung empfangen kann.
Zunächst und zumeist jedoch sucht sich der Mensch die Phänomene
restlos zu unterwerfen — was bedeutet, daß Nietzsches Auslegung des
Menschen als „Wille zur Macht" eine gewisse Berechtigung nicht
abgesprochen werden kann — im Hinblick auf das „Un-Wesen" der
Existenz indes, als welches die Folge davon ist, daß der Mensch zunächst
und zumeist dem Welt-Bezug zu entfliehen sucht — weil er sich vor dessen
Abgründigkeit fürchtet, aus Bequemlichkeit, nicht zuletzt aber, weil ihn
unsere metaphysische Tradition zu einer solchen Flucht anhält. Im Hinblick
darauf hat eine physische Lektüre die metaphysische Aussage der „Geburt
der Tragödie" zu deuten, daß der Mensch als „Dissonanz" 3 3 5 verstanden
werden müsse: „ K o n s o n a n z " zur Welt ist er nur in jenen seltenen
Momenten höchster Welt-Durchstimmtheit. In ihnen allein wird dem
Menschen Wesentliches zuteil, so zwar, daß ihm in dem dort erfahrenen
Über-Maß jenes „ M a ß " an die Hand gegeben ist, an dem er die
Versuch einer Er-läuterung 311

Yermessenheit der Existenz zu „messen" hat: N u r demjenigen, der den


Welt-Zuspruch als Auf-Gabe übernommen hat, ihn im Stiften geschichtlich
werden zu lassen, fällt das Schwergewicht zu, das ihn an die Erde bindet —
ihm allein erschließt sich die Lebenszeit als Zugeteiltes, als je eigene
mögliche Zukunft, die es in der Auseinandersetzung mit Gegenwart und
Gewesenheit zu erstreiten gilt umwillen der rettenden Uberlieferung des
Ureigensten an die Nachwelt. (So daß sich hier der Ansatzpunkt für eine
Er-läuterung des „Willens zur Macht" abzeichnet: Ubermächtigt durch den
Zuspruch der Welt, sieht sich der Mensch dazu bestimmt, als Frucht dieses
Zuspruches ein Werk zu schaffen, dem es in Auseinandersetzung mit Vor-
und Mitwelt zur „Macht", nämlich zu einer Stätte bestimmender Wirkung
zu verhelfen gilt.) In dem Maße nämlich, in dem die Existenz eine solche
Sorge nicht kennt, in dem Maße ist ihr auch der T o d weniger bedeutsam,
was bedeutet, daß sie jene eigentliche Zeit nicht zu erfahren vermag; sie
kennt, wie auch Nietzsche beobachtet hat, nur die gegenständliche, für ihre
kurzsichtigen, egoistischen Ziele berechnete Zeit. Der reine Dionysismus
hinwiederum kennt darum keine Zeit, weil er so gänzlich in der Umfängnis
aufgeht, daß er erst recht um keine Sorge des Stiftens weiß.
Zu dieser Sorge rechnet zunächst einmal die Sammlung auf jenes
Geschehnis des Welt-Zuspruches. Zwar erfüllt sich das Im-Welt-Bezug-Ste-
hen im „passiven" Uberkommen-Werden von der Welt, doch kann sich
dieses zumeist nur dann ereignen, wenn sich der Mensch ihm in schamhafter
Erduldung seiner abgründigen Freiheit zubereitet hat. Denn der Mensch
bringt, wie schon die gemeine Rede von der Empfänglichkeit besagt, eine
Befähigung zur Bestimmbarkeit mit — die unterschiedliche Gestimmtheit
verschiedener Menschen durch das „gleiche" Phänomen bezeugt dies —;
wobei diese „Subjektivität" bildlich gesprochen indes nicht mehr — aber
auch nicht weniger — bedeutet, als daß die Menschen als Resonanzkörper
mit unterschiedlichen Formanten jene Bestimmung durch das Phänomen
unterschiedlich verstärken, keineswegs aber, wie der junge Nietzsche meint,
von sich aus eine unterschiedliche Stimmung in die Natur hineinlegen.
V o n ganz anderem, nämlich von der Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Ste-
hens, kündet er selber aber beispielsweise im Aphorismus 552 „Die
idealische Selbstsucht" aus dem 5. Buch der „Morgenröthe" 3 3 6 , in dem er
von der Vor-Sorge des Stiftenden berichtet. Doch nicht allein deswegen sei
dieser Aphorismus hier vollständig zitiert, sondern auch, weil er ein
großartiges Beispiel für Nietzsches unerhörte Fähigkeit darstellt, die Macht
des Atmosphärischen nicht nur zu bedenken, sondern sie darüber hinaus in
der — musikalischen — Art seines Sprechens auf den Leser unmittelbar zu
übertragen:
312 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

D i e i d e a l i s c h e S e l b s t s u c h t . — G i e b t es einen weihevolleren
Z u s t a n d , als den der S c h w a n g e r s c h a f t ? Alles, w a s m a n thut, in dem stillen
G l a u b e n thun, es m ü s s e irgendwie d e m W e r d e n d e n in uns zu G u t e
k o m m e n ! E s m ü s s e seinen geheimnissvollen W e r t h , an den wir mit
E n t z ü c k e n denken, e r h ö h e n ! D a geht m a n V i e l e m aus d e m W e g e , o h n e
hart sich zwingen z u m ü s s e n ! D a unterdrückt m a n ein heftiges W o r t , m a n
giebt versöhnlich die H a n d : aus dem Mildesten und Besten soll das K i n d
hervorwachsen. E s schaudert uns v o r unsrer S c h ä r f e und Plötzlichkeit: wie
wenn sie d e m geliebtesten U n b e k a n n t e n einen T r o p f e n Unheil in den
Becher seines Lebens g ö s s e ! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, m a n weiss
von Nichts, wie es z u g e h t , m a n wartet ab und sucht b e r e i t z u sein. D a b e i
waltet ein reines und reinigendes G e f ü h l tiefer Unverantwortlichkeit in
uns, fast wie es ein Z u s c h a u e r v o r dem geschlossenen V o r h a n g hat, — e s
w ä c h s t , e s tritt an den T a g : w i r haben N i c h t s in der H a n d , z u
bestimmen, w e d e r seinen W e r t h , noch seine Stunde. E i n z i g auf jeden
mittelbaren s e g n e n d e n und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. „ E s
ist etwas G r ö s s e r e s , das hier wächst, als wir s i n d " ist unsere geheimste
H o f f n u n g : ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich z u r W e l t
k o m m e : nicht nur alles N ü t z l i c h e , sondern auch die Herzlichkeiten und
K r ä n z e unserer Seele. — I n d i e s e r W e i h e soll m a n leben! K a n n m a n
leben! U n d sei das E r w a r t e t e ein G e d a n k e , eine T h a t , — wir haben zu
allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der
S c h w a n g e r s c h a f t und sollten d a s anmaassliche R e d e n v o n „ W o l l e n " und
„ S c h a f f e n " in den W i n d blasen! D i e s s ist die rechte idealische
S e l b s t s u c h t : immer zu s o r g e n und z u w a c h e n und die Seele still z u
halten, dass unsere Fruchtbarkeit s c h ö n z u E n d e g e h e ! S o , in dieser
mittelbaren Art s o r g e n und w a c h e n wir f ü r den N u t z e n A l l e r ; und die
S t i m m u n g , in der wir leben, diese stolze und milde S t i m m u n g , ist ein Ö l ,
welches sich weit u m uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. —
Aber w u n d e r l i c h sind die S c h w a n g e r e n ! Seien wir also auch
wunderlich und v e r a r g e n wir es den A n d e r e n nicht, wenn sie es sein
m ü s s e n ! U n d selbst, w o dies in's S c h l i m m e und G e f ä h r l i c h e sich verläuft:
bleiben wir in der E h r f u r c h t v o r dem W e r d e n d e n nicht hinter der
weltlichen Gerechtigkeit z u r ü c k , welche dem Richter und d e m H e n k e r
nicht erlaubt, eine S c h w a n g e r e zu b e r ü h r e n !

„ D i e s s ist d i e r e c h t e i d e a l i s c h e S e l b s t s u c h t : immer zu sorgen und zu


w a c h e n u n d d i e S e e l e still z u h a l t e n , d a s s u n s e r e F r u c h t b a r k e i t s c h ö n zu
Ende gehe!": Von dieser an die zitierten P a s s a g e n aus Geschichten
P a v e s e s e r i n n e r n d e N o t w e n d i g k e i t , i n n e r l i c h still u n d d e s Z u s p r u c h e s der
W e l t h ö r i g z u w e r d e n , v o n dieser N o t w e n d i g k e i t , sich z u s a m m e l n , u m im
Sinne des Im-Welt-Bezug-Stehens f r u c h t b a r u n d d . h. w a h r w e r d e n zu
können, spricht Nietzsche auch in einem unvergleichlich schönen
A p h o r i s m u s , d e n er sich im H e r b s t 1881 auf der R ü c k s e i t e seines E x e m p l a r s
von Ralph W a l d o Emersons „ V e r s u c h e (Essays)"337 eingetragen hat:
Versuch einer Er-läuterung 313

Sei eine Platte von Gold — so werden sich die Dinge auf dir in goldner
Schrift einzeichnen.,338
— und du kannst von der Vollkommenheit und dem S e g e n der E r d e
k ü n d e n ; schon auf Seite 277 haben wir Nietzsches A u f z e i c h n u n g zitiert:
Zu Zarathustra: „die Goldenen" als höchste Stufe.
Sind sie doch diejenigen, die zu sagen wissen:
das H e r z der E r d e ist von G o l d .
„ W i r haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als
das der S c h w a n g e r s c h a f t und sollten das anmaassliche R e d e n von ,Wollen'
und , S c h a f f e n ' in den Wind b l a s e n ! " : V o n dieser E r f a h r u n g der Ein-gebung
in Momenten dionysischer Entrücktheit berichtet Nietzsche auch in jener
berühmten Stelle des „ E c c e h o m o " 3 3 9 über die Inspiration, in der er z u d e m
die Abgründigkeit dieser Augenblicke hervorhebt:
— Hat Jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen
Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter I n s p i r a t i o n nannten? Im
andren Falle will ich's beschreiben. — Mit dem geringsten Rest von
Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloss
Incarnation, bloss Mundstück, bloss medium übermächtiger Gewalten zu
sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass
plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas s i c h t b a r ,
hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft,
beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man
nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke
auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, — ich habe nie eine
Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter
in einen Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald
stürmt, bald langsam wird; ein vollkommnes Ausser-sich-sein mit dem
distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Uberrieselun-
gen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und
Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als
herausgefordert, sondern als eine n o t h w e n d i g e Farbe innerhalb eines
solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite
Räume von Formen überspannt — die Länge, das Bedürfniss nach einem
w e i t g e s p a n n t e n Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der
Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung... Alles
geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von
Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit... Die
Unfreiwilligkeit des Bildes, des Gleichnisses ist das Merkwürdigste; man
hat keinen Begriff mehr, was Bild, was Gleichniss ist, Alles bietet sich als
der nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich,
um an ein Wort Zarathustra's zu erinnern, als ob die Dinge selber
herankämen und sich zum Gleichnisse anböten (— „hier kommen alle
Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf
deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder
Wahrheit. Hier springen dir alles Seins Worte und Wort-Schreine auf; alles
Sein will hier Wort werden, alles Werden will von dir reden lernen —") 3 4 0 .
Dies ist m e i n e Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man
314 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Jahrtausende zurückgehn muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen


darf ,,es ist auch die meine". —
Dabei sind A r t und Grad der Inspiration nicht unabhängig von der
Umgebung, in der man sich aufhält: Daß den Gegenden der Erde eine je
andere K r a f t der Eingebung eignet, wußten schon die Griechen — zu
erinnern wäre dabei an Heraklits ή θ ο ς ά ν θ ρ ώ π ω ι δ α ί μ ω ν 3 4 1 (sein
Aufenthalt ist dem Menschen Zuteiler des Wesenhaften) oder auch an
Piatons Unterscheidung der Gegenden nach ihrem schicksalfügenden
Wesen, nach ihrem göttlichen Atem, θ ε ί α τ ι ς έ π ί π ν ο ι α 3 4 2 . W i e kaum ein
anderer Mensch der Neuzeit weiß auch Nietzsche von diesen Unterschieden
— doch meint er sie wiederum einer metaphysischen, nämlich
physiologischen Erklärung zuführen zu müssen, wobei er „die Begrifflich-
keit und die Einzelheiten" 343 aus Hippolyte Taines „Historie de la litterature
anglaise" übernommen hat:
Mit der Frage nach der Ernährung ist nächstverwandt die Frage nach O r t
und K l i m a . Es steht Niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse
Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar
eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den S t o f f w e c h s e l ,
seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in
Ort und Klima Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern
ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann. 344
Um zu sehen, was Nietzsche meint, ziehe man die schon früher zitierten,
von jeglicher positivistischen Deutung frei gehaltenen W o r t e Goethes hinzu,
die er am 2. 4. 1 8 2 9 zu Eckermann gesagt hat:
Und gewiß! wer sein Lebenlang von hohen ernsten Eichen umgeben wäre,
müßte ein anderer Mensch werden, als wer täglich unter luftigen Birken
sich erginge. Nur muß man bedenken, daß die Menschen im allgemeinen
nicht so sensibler Natur sind als wir andern und daß sie im ganzen kräftig
vor sich hinleben, ohne den äußeren Eindrücken so viele Gewalt
einzuräumen.
Will sagen: den meisten Menschen geht die Empfänglichkeit f ü r die
atmosphärische Bestimmung durch die W e l t ab, sie kennen allein den
Gegen-Stand der alltäglichen Existenz. Goethe fährt f o r t :
Aber so viel ist gewiß, daß außer dem Angeborenen der Rasse sowohl
Boden und Klima als Nahrung und Beschäftigung einwirkt, um den
Charakter eines Volkes zu vollenden. Auch ist zu bedenken, daß die
frühesten Stämme meistenteils von einem Boden Besitz nahmen, wo es
ihnen gefiel und wo also die Gegend mit dem angeborenen Charakter der
Menschen bereits in Harmonie stand. 345
Fassen w i r unsere bisherigen Ü b e r l e g u n g e n zu einer E r - l ä u t e r u n g des
philosophischen A n s a t z e s d e r „ G e b u r t der T r a g ö d i e " z u s a m m e n :
W i r verstehen das Dionysische als das Geschehnis des Fortrisses des
Menschen aus der seine alltägliche Existenz (von „sisto") charakterisieren-
den Gegen-Ständigkeit; mit welchem W o r t zum einen das durch den
Versuch einer Er-läuterung 315

Entwurf seiner Seinscharaktere seiner Abgründigkeit und damit seiner


Bezugskraft beraubte, zum „Stehen" gebrachte Ding (zu hören ist
„dingen") bezeichnet wird, als auch der Zustand dieser Gegenständigkeit
des Menschen gegen den unmittelbaren Angang der Dinge, dessen er im
alltäglichen Lebensvollzug bedarf, weil er nur mit Gegenständen rechnen
kann. Sie sind nämlich nur das, was der Mensch ihnen zuspricht. Damit aber
erweist sich die alltägliche Weltoffenheit als Verschlossenheit, als
Hinausstehen aus der eigentlichen Offenheit: Der Mensch ist hier offen nur
für das, was er sich selbst wesensmäßig öffnet, d. h. letztlich nur für sich
selbst. Der Mensch ist hier die Welt, insofern er ihr sub-iectum, das ihr als
Grund Zugrundeliegende ist. In der „Geburt der Tragödie" aber lesen wir:
Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle
ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem
gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des
Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das
Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.
Und mit dem Subjektiven auch sein Widerspiel, das Objektive: „die
entfremdete, feindliche oder unterjochte" — vergegenständlichte — „ N a t u r
feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne" 346 . Die
alltäglichen Grenzen von Raum und Zeit sind zergangen, aus der
Gemessenheit und Vermessenheit der Existenz steht der Mensch im
„Rausch" hinaus in das Uber-Maß des Offenen der seine Gegenständigkeit
aufbrechenden Welt.
Alles was bis jetzt als Grenze, als Maaßbestimmung galt, erwies sich hier als
ein künstlicher Schein; das „ U b e r m a ß " enthüllte sich als Wahrheit. 347
schreibt Nietzsche über den „ek-statischen" T o n der Dionysosfeier, den
T o n „des ,Außer sich seins'" 348 . Der solchermaßen Ausgesetzte, seiner
Ständigkeit Entsetzte, wird vom Übermaß fortgerissen:
Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren
Gemeinsamkeit: er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf
dem Wege, tanzend in die Lüfte emporzufliegen. 349
Er ist nicht mehr H e r r seiner selbst, die Natur spielt mit ihm:
Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden 350 .
Er hat jetzt weder Sein noch Sinn — er ist seiner Vernunft und d. h. seiner
metaphysischen Fähigkeit verlustig gegangen, ohne daß er deswegen zum
bloßen „animal" hinabsinkt:
als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie
er die Götter im Traume wandeln sah.351
Doch nicht darin ist dieser Mensch Über-mensch, daß er über das bisherige,
nämlich das metaphysisch als animal rationale begriffene Wesen des
Menschen etwa in der Weise hinausginge, daß er das Vernunftdenken, eben
„das vernehmende Vorstellen dessen, worin das Seiende je das Seiende
316 Ü b e r s e t z u n g e n : D i e Geburt der T r a g ö d i e aus dem Geiste der Musik

ist" 3 5 2 , in nihilistischer Verneinung „in den Dienst der [zum leibenden Leben
positiv umgewerteten] Tierheit (animalitas) zurück[nimmt]" 3 5 3 , vielmehr
darin, daß er als sein „ W e s e n " nunmehr das Geschehnis, das Wesen des
atmosphärischen Bezuges begreift, in dem die Physis den Menschen zu sich
ein-, d. h. ihn umstimmt. Er erfährt die Welt nicht mehr als bloßen, im
Menschen gegründeten Entwurfsbereich, sondern als unmittelbare, den
Menschen be-stimmende Umfängnis, die derart umfänglich ist, daß sie von
der rechnenden Vernunft niemals von den Bedingungen ihres Erscheinens
her begriffen und vergegenständlicht werden kann, sei es als Wille, sei es als
unendliches oder endliches Sein (φύσις im Sinne der transitiven Bedeutung
von φύω „wachsenlassen, schaffen"). Niemals besteht die Möglichkeit,
hinter sie zurückgehen, sie begründen zu können, begründbar ist allein die
Gegen-Ständigkeit. Die umfängliche Welt ist somit für den Menschen das
Unumgängliche in der zwiefachen Bedeutung, daß er sich, von ihr umfangen
und be-stimmt, auf sie verwiesen sieht, ohne daß sie ihm doch je faßbar
werden könnte; ist sie doch nicht in irgendwelche Konstituenten, hie
Mensch, hie Welt etwa, zerlegbar: Beide sind in abgründiger Weise eines.
Indes ist der dionysisch Berauschte in der Gefahr, sich in den Flutungen
des ekstatischen Offenstehens im Offenen des abgründigen Weltanganges
zu verströmen. Aber:
Es soll sich l e b e n lassen: also ist der reine Dionysismus unmöglich.354
D e r Mensch muß um seines Lebensvollzuges willen ein gewisses Maß an
Abständigkeit und Festigkeit gegenüber dem Fortriß des Uber-Maßes
zurückgewinnen. Bleibt er dessen eingedenk und auf ihn bezogen, sprechen
wir vom Apollinischen, verliert er ihn — wie die Menschen unserer
Gegenwartskultur — aus dem Blick, vom Sokratischen. (Der reine
Dionysismus — die Todeslust — ist das Tragische, siehe Hölderlins
Empedokles, Büchners Lenz.) Die apollinische „Gegenständigkeit", die
Abständigkeit, unterscheidet sich von der sokratischen, der metaphysischen
Gegen-Ständigkeit dadurch, daß sie sich als transitorischen und defizitären
Zustand erlebt und erleidet, sich neuem Ent-setzen in schamvoller Duldung
( „ M a n sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die N a t u r
hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat.") zubereitet, ohne
seines Eintrittes doch gewiß sein zu können; denn als unbegründbares ist es
nicht voraus- und absehbar. Derweise aber hält sich die apollinische
Daseinsverhaltung überhaupt im Angesicht des Ab-gründigen, wohingegen
die sokratische, der Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale
eingedenk, sich der Verpflichtung zur Zustellung der Gründe überläßt: Die
Metaphysik läßt das Ent-setzen nicht zu, scheint doch andernfalls die
Möglichkeit der Unterscheidung von Mensch und Tier nicht mehr gegeben
zu sein.
Versuch einer Er-läuterung 317

Sie beruht indes im Stiften, in der Fähigkeit, den dionysischen


Weltzuspruch apollinisch zu gestalten: Für Nietzsche ist der Mensch nicht
mehr Erkennender, sondern Schaffender, was bedeutet, daß allein das
Stiften seinen Lebensvollzug zu „rechtfertigen", nämlich ihm Sinn zu
gewähren vermag. Das Stiften läßt den Welt-Zuspruch geschichtlich
werden; so erfahren die Mensch die Physis zu allen Zeiten anders, nämlich
gemäß eines ihnen überlieferten Vor-Bildes derselben (man denke etwa an
Werther und Lotte, die sich das Gewitter an Klopstocks „Frühlingsfeier"
deuten).
Insofern das Stiften als Gestalten aber apollinischen Wesens ist, kann es
sich nur in abständiger Inständigkeit zum dionysischen Fortriß vollziehen —
so daß für den Stiftenden gilt, was Nietzsche über den Dionysosdiener sagt:
Er muß
im Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer
liegen. Nicht im Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im
Nebeneinander zeigt sich das [ . . .] 355 Künstlerthum. 356
Schon vor Nietzsche hat Hölderlin diese Grundspannung gesehen: In
seinem an Böhlendorff gerichteten Brief vom 4.12. 1801357 spricht er in
Besinnung auf das Wesen der Griechen und die geschichtliche Bestimmung
der Deutschen davon, daß das Apollonische, das den Dichter entflammende
„Feuer vom Himmel", das „heilige Pathos", die „schöne Leidenschaft",
durch die „abendländische J u n o n i s c h e N ü c h t e r n h e i t " , durch
„Klarheit" und „Geistesgegenwart" der Darstellung gebändigt werden
müsse. Diese Grundspannung hat Nietzsche im Auge, wenn er in der
4. Unzeitgemässen Betrachtung die Zeugungsmomente des dithyrambischen
Dramatikers wie folgt charakterisiert:
H e l l s i c h t i g - b e s o n n e n u n d l i e b e n d - s e l b s t l o s z u g l e i c h fällt
sein Blick hernieder 358 .
D a ß diese abständige Inständigkeit zum dionysischen Fortriß, zum, mit
Hölderlin zu sprechen, ,heiligen Pathos', nach Nietzsche das Wesen jedes
Stiftungsgeschehens ausmacht, das geht aus einem Notat vom Herbst
1887359 hervor:
— Künstler sind n i c h t die Menschen der g r o ß e n Leidenschaft, was sie
uns und sich auch vorreden mögen. [ . . . ]
Man wird nicht dadurch mit seinen Leidenschaften fertig, daß man sie
darstellt: vielmehr man ist mit ihnen fertig, w e n n man sie darstellt.
Das übersieht Staiger, wenn er aus der richtigen Einsicht: „ D e r lyrische
Dichter leistet nichts. Er überläßt sich — das will buchstäblich verstanden
sein — der Ein-gebung." 360 , folgert, daß ihm „in eins" mit der Stimmung
auch die Sprache eingegeben werde: „ E r ist nicht imstande, der einen oder
der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten ist unwillkürlich." 361 Wäre es
so, vermöchte sich der Dichter nur, gleich dem reinen Dionysaken, in
318 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

sinnlosen und vor allem wirren, nämlich formlosen Lautdelirien zu ergehen


— Staiger übersieht, daß der schöpferische Akt als Akt der Formgebung
einen apollinischen Abstand zu dem Geformten, der im dionysischen Fortriß
empfangenen Bestimmung, setzt, als welche hinwiederum durch diesen Akt
allererst in der Hinsicht wahrhaft Be-stimmung wird, daß sie damit als
Auf-Gabe des Welt-Zuspruches ergriffen wird: Dionysos und Apoll sind
durch einander, haben wir gesagt — was jetzt bedeutet, daß der dionysische
Fortriß nur ein Moment des Welt-Bezuges und damit der von uns als
„dichterisch" bezeichneten Weltverhaltung ausmacht, ein Moment, das
nicht verabsolutiert werden darf, wenn der Welt-Bezug als ganzer nicht
zerstört werden soll.
Gleiches gilt aber auch für den Akt der Formgebung — für sich allein
vermag das gestalterische Vermögen nichts: Hätte Nietzsche sein Leben nur
in Bibliotheken und Hörsälen verbracht, wäre es ihm nicht möglich gewesen,
„Die Sonne sinkt" zu schreiben — ein Gedicht, in dem die Frucht der
Landschaften seines Lebens erblickt werden muß, Nietzsches andenkender
D a n k an Sorrent, Venedig, Genua, Messina, Rapallo, Nizza, Turin und
Sils-Maria.
N u r in apollinischer Abständigkeit zum dionysischen Fortriß vermag
sich der Dichter der Sprache so zu bedienen, daß sie in der Weise des von
Staiger als „lyrisch" bezeichneten Stiles spricht: In ihm wird, laut Staiger,
„nicht ein Vorgang sprachlich ,wieder'-gegeben. [ . . . ] Es gibt hier noch kein
Gegenüber. Die Sprache geht in der Abendstimmung auf, der Abend in der
Sprache." 362 Auch Staiger verkennt nicht, daß sich dieser Stil einer großen
Gestaltungsleistung verdankt, so weist er etwa darauf hin, daß sich die
Sprache in ihrem apophantischen Wesen, in ihrer gegenständlichen
Intentionalität der „Wieder"gabe der lyrischen Gestimmtheit mit ihrem
Ineinander von Welt und Mensch nicht ohne weiteres fügt 3 6 3 : Der von einem
Lied erweckte Eindruck, den atmosphärischen Belang unmittelbar
darzubieten, muß der Sprache abgerungen werden, insofern sie dazu neigt,
diesen Belang zum Stehen zu bringen. Von Staigers Fragestellung her
gelesen, bringt der Satz „Gleichniß der Musik. Wie kann man von ihr
reden?" zum Ausdruck — und diese Übersetzung stimmt mit unserer
Er-läuterung des Nietzscheschen Ansatzes überein —, daß man das
Atmosphärische „unmittelbar" nur singend wiederzugeben vermag: Auch
f ü r Staiger ist die Musik die atmosphärischste aller Künste, die
Stimmungskunst par excellence, vermag sie doch, weil sie im Gegensatz zu
den anderen Künsten kein Gegenüber voraussetzt, den H ö r e r so in sich
einzubeziehen, daß er, mit Paul Valery zu sprechen, zum „esclave de la
presence generale de la musique" wird 364 — nicht umsonst ist der Begriff
„Stimmung" ursprünglich ein Terminus der Musiksprache (das von
Versuch einer Er-läuterung 319

„stimmen", mittelhochdeutsch „seine Stimme hören lassen, rufen",


abgeleitete Wort wird seit dem 16. Jahrhundert auf Musikinstrumente, seit
dem 18. Jahrhundert auf Menschen bezogen). Daß schließlich Nietzsche
selber in der „Geburt der Tragödie" unter Anführung einer Passage aus
jenem Brief, den Schiller am 18. 3. 1796 an Goethe geschrieben hat 365 , den
der lyrischen Schöpfung vorhergehenden dionysischen Fortriß als „eine
m u s i k a l i s c h e S t i m m u n g " bezeichnet — ähnlich bemerkt auch
Staiger, daß sich dem Lyriker die Welt an „irgendeiner Stelle im Lauf eines
gleichgültigen Tages [ . . . ] in Musik [verwandelt]" 366 —, das bestärkt uns
vollends in der Annahme, daß der „Geist der Musik", von dem Nietzsche in
seiner philosophischen Erstlingsschrift spricht, weniger das metaphysische
Werden, als das Wesen des Physischen, den atmosphärischen Bezug meint.
Doch anders als es die Frage „Gleichniß der Musik. Wie kann man von
ihr reden?" zum Ausdruck bringt, ist uns die Frage nach dem dichterischen
Weltverhalten zunächst weniger ein Problem der unmittelbaren Wiedergabe
des Atmosphärischen, kurz: ein Problem der Unmittelbarkeit — die
Konzeption der „Geburt der Tragödie" sieht da weiter, weiter auch als
Staiger etwa: Danach ist die wesentliche Frage allein die, ob jemand im
Angesicht des abgründigen Welt-Bezuges zu leben, sich in die
apollinisch-dionysische Widerwendigkeit des Welt-Spieles einzulassen
vermag — ebendas heißt nämlich nach Nietzsche dionysisch zum Dasein
stehen. Wobei das apollinische Zuhalten auf den dionysischen Fortriß dann
wiederum viele Spielarten kennt, je nach dem Grad der Nähe zum Fortriß
mehr dionysisch-inständige oder mehr apollinisch-abständige; dabei kann
„ N ä h e " auch „ N ä h e in der Ferne", d. h. Sehnsucht, meinen: Gerade in der
Moderne, man denke an Rilke, wird der Welt-Bezug bisweilen nur noch als
Entzug erfahren.
Gesprochen im Hinblick auf die künstlerischen Stiftungs-Zeugnisse
solcher Weltverhaltungen: Wenn in der Musik die dionysischste aller Künste
gesehen werden muß, so ergibt sich die weitere Abfolge nach der Nähe, in
der die anderen Künste oder deren Gattungen zur Musik stehen, mithin die
in der „Geburt der Tragödie" aufgestellte Reihe Dichtung, Malerei,
plastische Künste. Innerhalb der Dichtung wiederum folgt auf die Lyrik die
Epik — wobei man sehen muß, was auch schon Staiger angemerkt hat, daß
die poetischen Formen niemals rein verwirklicht werden, schon gar nicht in
der Moderne.
Das Drama hinwiederum gehört nicht in diese Reihe — insofern nämlich
sein movens, wie Staiger aufgewiesen hat, 367 die Frage nach dem
„Worumwillen?", nach dem ideellen Vorwurf des Menschen ist, muß es
nämlich als Dichtung der sokratischen Existenz betrachtet werden. So
bemerkt Staiger: „ D e r pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die
320 Übersetzungen: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik

Umwelt, das Millieu, das Atmosphärische geht ihn nichts an. Es existiert
überhaupt nicht für ihn, und also auch für den Dichter nicht." 368 Ähnlich
spricht ja auch Nietzsche von dem ,,metaphysische[n] Trost, — mit welchem
[ . . . ] uns jede wahre Tragödie entlässt" 369 . Allenfalls dort, wo solch ein
Trost nicht mehr verfängt, wo „die Frage ,Worumwillen?' zuletzt ins Leere
stößt" 370 , wo, nach Staigers Einteilung, das Dramatische ins Tragische
übergeht, 371 wo — wie in den Dramen Kleists — die Verschlossenheit der
Existenz von innen heraus aufgesprengt wird und der Mensch deren Boden-,
nämlich Grundlosigkeit erkennt, dort gelangt das Drama in die Nähe der
Erfahrung des Im-Welt-Bezug-Stehens: wenn man so will auf dem Wege
jenes Herauffragens, auf dem sich auch Nietzsches Metaphysik des Willens
zur Macht in die Nähe der Ausgangsposition der Artisten-Metaphysik
gebracht hat.
Damit aber bestätigt sich erneut, daß die Frage nach der
atmosphärischen Unmittelbarkeit einer Dichtung im Hinblick auf das
Im-Welt-Bezug-Stehen von sekundärer Bedeutung ist — wie sich dies ja
schon daran gezeigt hat, daß die Texte, die unseres Erachtens am reinsten
von diesem Wesen der Welt künden, Paveses Erzählungen, epische Texte
sind. Doch ist Staigers Bemerkung, „Denken und Singen vertragen sich
nicht" 372 in dieser Hinsicht nicht etwa nur unerheblich, sondern geradezu
gefährlich — verpflichtet sie den Lyriker doch allein auf das Singen. Aber
Dichtung ist, um einen Satz Heideggers aufzunehmen, um so dichterischer,
je denkerischer sie ist, wie auch umgekehrt das Denken um so denkerischer
wird, je dichterischer es ist: Das meint in bezug auf unseren Ansatz, daß es
darauf ankommt, daß die Dichtung ihre H e r k u n f t nicht mehr nur
„atmosphärisch" an sich selbst bezeugt, sondern diese auch bedenkt, um so
dem Denken den W e g aus der Irrnis weisen zu können, in die es sich
verlaufen hat.
Dieser H e r k u n f t aber ist der Lyriker näher als jeder andere Dichter, das
weiß auch Staiger: „Das Lyrische [ . . . ] ist der letzte erreichbare Grund alles
Dichterischen [ . . . ] , das ,sunder warumbe', die Fülle der Tiefe, aus der es
entspringt" 373 — weswegen alles darauf ankäme, daß die Lyrik diese ihre
H e r k u n f t zu bedenken suchte. Von Bedeutung wäre das nicht zuletzt f ü r
ihre Ausleger, würden diese doch dann unweigerlich darauf gestoßen, daß
sich Dichtung, sofern sie Denk-Mal des Welt-Zuspruches ist, und
begründendes Denken letztlich nicht vertragen. Letztlich, das meint
solange, wie dieses nicht erkennt, daß Fragestellungen nach empfangenen
und ausgeübten Einflüssen, nach Entstehungsbedingungen in dieser ihrer —
in bestimmter Hinsicht nicht nur berechtigten, sondern auch notwendigen
— metaphysischen Betrachtungsweise das Wesentliche der Dichtung
ausblenden müssen; wäre doch im Falle einer solchen Selbstbeschränkung
Versuch einer Er-läuterung 321

die Freigabe der Dichtung als ursprünglich Wesendes möglich, das den
Menschen in das wahrhaft fragwürdige Geheimnis des Welt-Bezuges zu
entsetzen vermag:
D i e Einsicht in die H e r k u n f t eines W e r k s geht die P h y s i o l o g e n und
Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen
Menschen, die Artisten!
Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick

Daß Nietzsche schon vor seiner Reise zu den ersten Bayreuther


Festspielen kein Parteigänger Wagners mehr war, das wußte allein sein
Freund Franz Overbeck, dem Nietzsche einiges von jenen Gedanken
mitgeteilt hatte, die er sich Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinem — so
Nietzsche in einem Brief — „Leiden um Bayreuth" 1 schon unter dem Titel
„Richard "Wagner in Bayreuth" 2 aufgezeichnet hatte und die nicht etwa nur
manche Ausführungen der 4. Unzeitgemässen Betrachtung, sondern auch
wesentliche Anwürfe der 1888 erschienenen Schrift „ D e r Fall Wagner" 3
vorwegnehmen.
Keineswegs nämlich erwuchsen ihm diese „Leiden um Bayreuth", wie
die Briefempfängerin, die Wagner-Freundin Malwida von Meysenbug,
wähnen mußte, allein aus der Sorge, daß Wagners ehrgeiziges Projekt in
jenen Tagen wegen mangelnder finanzieller Unterstützung zu scheitern
drohte, vielmehr quälte ihn vor allem die wachsende Einsicht, daß er sich in
seinen H o f f n u n g e n auf eine Erneuerung der Kultur durch das Wagnersche
Kunstwerk selbst betrogen hatte — daß er in seinem Glauben an Wagner
seinem eigenen Wesen untreu geworden war.
Das wichtigste Notat dieser Aufzeichnungen lautet:
Wagner's Kunst ist überfliegend und transscendental, was soll unsre arme
deutsche Niedrigkeit damit anfangen! Sie hat etwas wie Flucht aus dieser
Welt, sie negirt dieselbe, sie verklärt diese Welt nicht. Deshalb wirkt sie
nicht direkt moralisch, indirekt quietistisch. Nur um seiner Kunst eine
Stätte in dieser Welt zu bereiten, sehen wir ihn beschäftigt und activ: aber
was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan Siegfried an! Das scheint
aber das Loos der Kunst zu sein, in einer solchen Gegenwart, sie nimmt der
absterbenden Religion ein Theil ihrer Kraft ab. Daher das Bündniss
Wagner's und Schopenhauer's. Es verräth, dass vielleicht bald einmal die
Kultur nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten existirt: die
sich zu der umgebenden Welt ablehnend verhalten. Der Schopenhaueri-
sche „Wille zum Leben" bekommt hier seinen Kunstausdruck: dieses
dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Ekstase, diese Verzweiflung, dieser
Ton des Leidens und Begehrens, dieser Accent der Liebe und der Inbrunst.
Selten ein heitrer Sonnenstrahl, aber viel magische Zaubereien der
Beleuchtung.
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 323

In einer solchen Stellung der Kunst liegt ihre Stärke und Schwäche: es
ist so schwer, von dort her zu dem einfachen Leben zurückzukehren. Die
Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das
Vernichten oder das Hinwegtäuschen des Wirklichen. Die Stärke liegt in
dem sektirerischen Character: sie ist extrem und verlangt von dem
Menschen eine unbedingte Entscheidung. — O b wohl ein Mensch besser
zu werden vermag, durch diese Kunst und durch Schopenhauerische
Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftigkeit. Wenn nur in einer Zeit,
in der die Lüge und Convention so langweilig und uninteressant ist, die
Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäre! So unterhaltend! Aestetisch
reizvoll Η
Sämtliche V o r w ü r f e — daß W a g n e r s Kunst die W e l t negiert, aber nicht
verklärt, daß sie unmoralisch und vor allem quietistisch wirkt, weil sie die
M e n s c h e n nicht zur Verbesserung der W e l t anhält — wie auch das Lob —
daß diese Kunst die Menschen in Betreff der Wahrhaftigkeit unter
Umständen z u bessern vermag — erwachsen aus der einen Einsicht, daß das
K u n s t w e r k der Z u k u n f t metaphysischen W e s e n s ist, erkennbar schon an
d e m Bündnis, das W a g n e r mit S c h o p e n h a u e r e i n g e g a n g e n ist. D o c h diese
Erkenntnis ist für N i e t z s c h e , w i e wir wissen, k e i n e s w e g s neu, war es d o c h
gerade der kunstreligiöse Charakter der W a g n e r s c h e n W e r k e g e w e s e n ,
w o r a u f er seine H o f f n u n g e n für eine Erneuerung der Kultur g e g r ü n d e t
hatte. Auf das deutlichste g e h t dies aus einer A u f z e i c h n u n g v o m S o m m e r
1878 5 hervor, in der N i e t z s c h e — die erste „ n a c h w a g n e r s c h e " Schrift
„ M e n s c h l i c h e s , Allzumenschliches" ist im April erschienen — die Etappen
des zurückliegenden Abschnittes seines D e n k w e g e s reflektiert:
Plan.
Einsicht in die G e f ä h r d u n g der C u l t u r .
Krieg. Tiefster Schmerz, B r a n d d e s L o u v r e .
Schwächung des C u l t u r b e g r i f f s (das Nationale), Bildungsphili-
ster.
Historische Krankheit.
Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt?
1) Schopenhauer's Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker.
Standpunct fast religiös.
2) Wagner's Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack.
Daraus n e u e G e f a h r e n : das Metaphysische treibt zur-Verachtung
des W i r k l i c h e n : insofern zuletzt c u l t u r f e i n d l i c h und fast
gefährlicher.
Uberschätzung des Genius.
Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles
Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Rohheit neben
überreizter Sensibilität.
Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern.
Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum
mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament.
Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers.
324 Absetzungen

Bedeutung von Bayreuth für mich.


Flucht.
Kaltwasser-Bad.
Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder.
Zweck der Mittheilung
Freunde.

Z u f o l g e dieses Planes — vielleicht einer, nach dem Vorbild Wagners,


„Mittheilung an seine Freunde" — war es die Einsicht in die Gefährdung der
Kultur gewesen, was N i e t z s c h e in die Arme der Metaphysik zurückgetrie-
ben hatte, denen er doch schon im Herbst 1867—Frühjahr 1868 entkommen
schien. W o b e i ihm diese Einsicht zunächst aus der Erfahrung des Krieges
1 8 7 0 / 7 1 — man erinnere sich seiner Ausführungen im Abschnitt 1 des
„Versuches einer Selbstkritik" der „Geburt der Tragödie" — und dann im
G e f o l g e des Gerüchtes erwachsen sei, daß bei der Inbrandsetzung der
Tuilerien durch die Kommunarden in Paris am 24. 5. 1871 auch der Louvre
mit seinen unermeßlichen Kunstschätzen verbrannt wäre.
D a ß diese Nachricht N i e t z s c h e in der T a t zutiefst erschüttert hat, das
bezeugt ein Brief, den er am 2 1 . 6 . 1871 an Carl v o n Gersdorff geschrieben
hat:
Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns jener internationale
Hydrakopf erschreckt, der plötzlich so furchtbar zum Vorschein kam, als
Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe. Wenn wir uns einmal persönlich
aussprechen könnten, wo würden wir übereinkommen, wie gerade in jener
Erscheinung unser modernes Leben, ja eigentlich das ganze alte christliche
Europa und sein Staat, vor allem aber die jetzt überall herrschende
romanische „Civilisation" den ungeheuren Schaden verräth, der unserer
Welt anhaftet: wie wir Alle, mit aller unserer Vergangenheit, s c h u l d
s i n d an solchen zu Tage tretenden Schrecken: so daß wir ferne davon sein
müssen, mit hohem Selbstgefühl das Verbrechen eines Kampfes gegen die
Cultur nur jenen Unglücklichen zu imputiren. Ich weiß, was es sagen will:
der Kampf gegen die Cultur. Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so
war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und
Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische
Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die
herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte;
ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen
Werth der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann,
sondern höhere Missionen zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten
Schmerz war ich nicht im Stande, einen Stein auf jene Frevler zu werfen,
die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über die viel zu denken
ist! —*
N i e t z s c h e beschreibt hier seine erste tiefgreifende Erfahrung dessen, was er
später den „passiven Nihilismus" nennt: daß die Menschen nach dem
Verlust metaphysischer Sinnsetzungen nur noch das eine Ziel des
Richard W a g n e r in Bayreuth — Ein Ausblick 325

Erdenglückes aller kennen, um dessentwillen sie alles aufs Spiel zu setzen


bereit sind — selbst das von den Vätern ererbte Kulturgut, die großen
Kunstwerke, die der Masse ohnehin bestenfalls zum Sonntagsvergnügen
dienen, die Menschen wie Nietzsche aber als das einzige ansehen, was dem
Leben Sinn zu geben vermag. Dabei deutet Nietzsche jetzt schon an, daß die
sozialen Revolutionen in Gegenwart und Zukunft ihre Ursache in schweren
Fehlern und Versäumnissen der Vergangenheit haben — im Hinblick auf die
spätere Umwertung aller Werte gesprochen: in jenem Sieg Judäas über
Rom, mit dem Nietzsche zufolge der Piatonismus in der Gestalt des
Christentums und d. h. die Sklavenmoral zur herrschenden Geschichtsmacht
erhoben wurde.
Wenngleich Nietzsche in der Frühzeit auch noch nicht so klar sieht, was
das Wesen des Christentums ausmacht, daß es dem deutschen — dem
abendländischen — Wesen zutiefst fremd ist und als ein seine fernere
Entwicklung hinderndes Joch abgeschüttelt werden muß, das erkennt er
schon jetzt:
Monotheismus als ein Minimum von poetischer Welterklärung.
Bei den Juden ein Nationalgott, ein kämpfendes V o l k mit e i n e r
Fahne: eine Sittlichkeitsrigorisität verkörpert, Strenge gegen sich selbst,
imperativischer Gott (charakteristisch, daß er das O p f e r des einzigen
Sohns verlangt).
Unsre Nationalgötter und unsre Gefühle d a f ü r haben einen
Wechselbalg d a f ü r bekommen: wir widmen diesem alle jene Empfindun-
gen.
D a s E n d e der R e l i g i o n ist da, nachdem man die Nationalgötter
eskamotirt hat. Schreckliche Q u ä l e r e i hat dies in in der Kunst angerichtet.
Ungeheure Arbeit des deutschen Wesens, jenes fremde unnationale J o c h
abzuschütteln; und es gelingt ihm.
Der indische Hauch bleibt zurück; weil er uns verwandt ist.7
„ U n d es gelingt ihm" — das bezieht sich auf die Wiedergeburt der
tragischen Kultur, die Nietzsche durch das Wagnersche Kunstwerk
eingeleitet sieht. In ihm, so glaubt er, ist dem „deutschen Genius" jenes
Mittel zugewachsen, mit dem er das fremde Joch abschütteln kann: das ist —
auch nach Nietzsches späterer Selbstdeutung in „Ecce homo": „Einmal
wird auf die christlichen Priester wie auf eine ,tückische Art von Zwergen',
von ,Unterirdischen' angespielt .. ," 8 — die Bedeutung jener zunächst
rätselhaft erscheinenden Passage, mit der Nietzsche den Abschnitt 24 der
„Geburt der Tragödie" beschließt:
Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt, ihr wisst auch,
was für uns die T r a g ö d i e bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der
Musik, den tragischen Mythus — und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das
Schmerzlichste vergessen! D a s Schmerzlichste aber ist für uns alle — die
lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von H a u s
326 Absetzungen

und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort —
wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet. 9
Eine „künstlich eingeimpfte[... ] Religion" nennt Nietzsche in seinen
Aufzeichnungen vom September 1870—Januar 1871 das Christentum, und
er bemerkt:
Entweder sterben wir an dieser Religion oder die Religion an uns. Ich
glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müssen sterben.10

Indes: Mag Nietzsche auch das metaphysische Prinzip des Christentums


ablehnen — die Kraft, die im Ereignis des vermeintlichen Louvre-Brandes
offenbar gewordene Sinnlosigkeit des Daseins fest ins Auge zu fassen und
damit alle metaphysischen Tröstungen als lügnerisch hinter sich zu lassen,
sie geht ihm noch ab: Nietzsche sucht sich — und zwar nicht nur
vorübergehend, wie der Brief an Gersdorff nahelegen könnte, sondern all
die Jahre der Freundschaft mit Wagner hindurch — wider besseres Wissen
„an den metaphysischen W e r t h " der Kunst zu klammern, „die der armen
Menschen wegen nicht da sein k a n n " : Er will nicht sehen, daß die
Heillosigkeit der Gegenwart nicht durch den Verlust des metaphysischen
Glaubens in unseren Tagen, sondern schon durch das Aufkommen desselben
in der Vergangenheit verschuldet ist, insofern dieser der Erde das Gold
genommen und es dem „ H i m m e l " zugesprochen hat: „Augenschließen"
lautet knapp der Vorwurf, den Nietzsche im Rückblick gegen sich selbst
erhebt. 11
Eine andere Gefährdung, die Nietzsche in der Frühzeit erblickt hat, lag,
so der Plan vom Sommer 1878, in der „Schwächung des C u l t u r b e -
g r i f f s " infolge des Uberbordens des nationalen Bewegung nach der
Reichsgründung beschlossen, will sagen: in der „ E x s t i r p a t i o n d e s
d e u t s c h e n Geistes zu G u n s t e n des , d e u t s c h e n Reiches"'12,
die Nietzsche in seiner 1. Unzeitgemässen Betrachtung, „David Strauss der
Bekenner und der Schriftsteller", am Typus des herrschenden „Kul-
t u r m e n s c h e n , des Bildungsphilisters, aufgewiesen hat.
Noch bedeutsamer ist für Nietzsche die nächste auf dem Plan
angesprochene Gefährdung, die „historische Krankheit", gewesen, weil sie
nicht nationalen, sondern epochalen Charakters ist. Wie der Mensch gegen
diese Epidemie Halt gewinnen könne, diese Frage hat sich Nietzsche
zunächst in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung gestellt. Schon hier hat er
jenen Ausweg in den Blick genommen — ohne ihn dabei uneingeschränkt zu
bejahen —, den er dann in der 3. Unzeitgemässen Betrachtung seinen Lesern
vorbehaltlos anrät, nämlich die Welt in jener überhistorischen Sichtweise zu
betrachten, in der sie die Schopenhauersche Metaphysik ansieht:
Richard W a g n e r in Bayreuth — Ein Ausblick 327

„überhistorisch" nenne ich die Mächte, die den Blick vom Werden
ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und
Gleichbedeutenden giebt, zu K u n s t und R e l i g i o n . 1 3 ,
heißt es in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung, und in „Schopenhauer als
Erzieher" mahnt er den Leser:
Im Werden ist Alles hohl, betrügerisch, flach und unserer Verachtung
würdig; das Räthsel, welches der Mensch lösen soll, kann er nur aus dem
Sein lösen, im So- und nicht Anderssein, im Unvergänglichen. Jetzt fängt
er an, zu prüfen, wie tief er mit dem Werden, wie tief mit dem Sein
verwachsen ist — eine ungeheure Aufgabe steigt vor seiner Seele auf: alles
Werdende zu zerstören, alles Falsche an den Dingen an's Licht zu
bringen.14
Darunter versteht Nietzsche dasjenige, „was zwar an ihm selbst, was aber
nicht eigentlich er selbst ist" — was bedeutet, daß der Mensch einen
lebenslänglichen Kampf „gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an
sein Unzeitgemässes" 15 führen muß, sofern er der Genius werden will, der er
ist; was besagt, daß nur das Genie zu einem solchen Kampf in der Lage ist.
Allein in dieser Hinsicht hätte Schopenhauer — wie ja auch der Titel
„Schopenhauer als Erzieher" verrät — Nietzsche noch Vorbild sein
können, nachdem er dessen System frühzeitig verworfen hatte. Im Sommer
1878 zeichnet Nietzsche auf:
Mein Mißtrauen gegen das System v o n A n f a n g a n . Die P e r s o n trat
hervor, er t y p i s c h als Philosoph und Förderer der Kultur. Am
V e r g ä n g l i c h e n seiner Lehre, an dem, was sein Leben n i c h t
ausprägte, knüpfte aber die a l l g e m e i n e V e r e h r u n g an — im
Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt m i r als einzige
Nachwirkung — aber m i c h selbst hemmte der Aberglaube vom
G e n i u s . Augenschließen. 16
Diese — auch im „ P l a n " angesprochene — Hemmung durch den
Aberglauben vom Genius bestand in einem Rückfall in die Denkweise des
Schopenhauerschen Systems, als welcher ihm durch diesen Glauben gleich
in doppelter Weise nahegelegt wurde: Zum einen hegte er nämlich die
Auffassung, daß die Menschen nur dann an seiner Hervorbringung arbeiten
würden, wenn dieser von der Aura metaphysischer Bedeutsamkeit umgeben
ist. Zum anderen war das einzige lebende Genie, das er kannte, ein
Anhänger der Schopenhauerschen Philosophie: Wagner erschien Nietzsche
als Inkarnation des Schopenhauerschen Menschen, den er in seiner
3. Unzeitgemässen Betrachtung gezeichnet hatte, und als solche nicht nur als
ein Vorbild, sondern auch als Mitstreiter in seinem Kampf gegen die
Gefährdungen der Kultur.
Doch im Unterschied zu der vorhergehenden Unzeitgemässen
Betrachtung ist die im Plan angesprochene Schrift „Richard Wagner in
Bayreuth" im Grunde nicht apologetisch gemeint; nur kurzsichtige Augen
328 Absetzungen

können übersehen, daß diese Abhandlung als Mahnung an Wagner


verstanden werden will, den eigenen unzeitgemäßen Idealen treu zu bleiben.
Freund!

Ihr Buch ist ungeheuer! —


Wo haben Sie nur die Erfahrung von mir her? —17,
schreibt Wagner am 13. 7. 1876 Nietzsche als Antwort auf die Zusendung
der Schrift. Nietzsches Replik hätte lauten können: aus seinen eigenen
Werken — stellt doch die 4. Unzeitgemässe Betrachtung nichts anderes als
eine geschickte Kompilation von Wagnerschen Texten dar, an deren
Versprechung, mit dem Kunstwerk der Zukunft auf die Schaffung einer
neuen Gesellschaft, der Gesellschaft der „ M e n s c h e n d e r Z u k u n f t " 1 8 ,
abzuzielen, sich Richard Wagner in Bayreuth messen lassen muß. ( N u r
wenn man das im Auge behält, wird einsichtig, warum Nietzsche die Schrift
zunächst für unpublizierbar hielt: Er fürchtete sich — wie auch die
überlieferten Entwürfe zu einem Begleitschreiben zeigen 19 — vor der
Reaktion des Meisters und der Meisterin.)
Daß diese Messung zuungunsten des Bayreuther Unternehmens
ausfallen würde, das ahnte Nietzsche schon zwei Jahre vor dem ersten
Festspielsommer; daß er sich selbst betrogen hatte, als er darauf vertraute,
Wagner würde es um die Erneuerung der verrotteten Gesellschaft, um die
Wiedergeburt der tragischen Kultur gehen 20 , zu dieser Einsicht bedurfte er
des Anblickes biertrinkender Wagnerianer nicht:
N u r um seiner Kunst eine Stätte in dieser W e l t zu bereiten, sehen wir ihn
beschäftigt und activ: aber was geht uns ein Tannhäuser Lohengrin Tristan
Siegfried an!,
haben wir bereits gelesen und gesehen, daß Nietzsche Wagners
Friedensschluß mit dem Deutschen Reich letztlich darauf zurückführt, daß
dieser Metaphysiker geblieben ist:
D i e Verbesserung des Wirklichen ist nicht mehr das Ziel, sondern das
Vernichten oder das H i n w e g t ä u s c h e n des Wirklichen.
Insofern gereicht seiner Kunst schließlich zur Schwäche, worin Nietzsche an
sich eine ihrer Stärken zu erblicken geneigt ist: ihr sektiererischer
Charakter, der „von dem Menschen eine unbedingte Entscheidung
[verlangt]", insofern es „so schwer" ist, „von dort her zu dem einfachen
Leben zurückzukehren".
Ganz richtig hat Wagner nach Nietzsche gesehen, daß die Kultur in der
Gegenwart „nur noch in der Form klosterhaft abgeschiedener Sekten"
existieren kann — aber diese Abgeschiedenheit gestaltet sich in seinem Falle
zum reinen Selbstzweck aus, insofern es nicht die Absicht seiner Kunst ist,
die Menschen für den Kampf um eine geistige Erneuerung der Kultur zu
konzentrieren, sie vielmehr die Menschen — entsprechend dem
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 329

Schopenhauerschen Willen, dessen Kunstausdruck ja Wagners Musik sein


soll — in ein dumpfes Treiben ohne Zweck zu stürzen sucht: nicht
Steigerung, sondern Betäubung ist ihr Ziel:
die Kunst ist nicht für den Kampf selber da, sondern für die Ruhepausen
vorher und inmitten desselben,
mahnt Nietzsche darum in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung. Doch
diejenigen, an die sich dieses W o r t richtete, die Festspielbesucher von
Bayreuth, bestätigten ihm, was er schon befürchtet hatte — mit den Worten
des Sommers 1878 gesprochen:
Wagnerianer wollen nichts an sich ändern, leben im Verdruss über Fades
Conventionelles Brutales — die Kunst soll zeitweilig magisch sie
darüber hinausheben. Willensschwäche. 2 1
Genau das hat er schon Anfang 1874—Frühjahr 1874 im Auge, in der
Antwort auf die Frage:
Ob wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und
durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftig-
keit. Wenn nur in einer Zeit, in der die Lüge und Convention so langweilig
und uninteressant ist, die Wahrhaftigkeit nicht so interessant wäre! So
unterhaltend! Aesthetisch reizvoll!
Will sagen: Nietzsche erkennt, daß der Wagnerianer der alte Bildungsphili-
ster in einem neuen Gewände ist — ein Bildungsphilister, der um den
Kulturverfall unter Umständen weiß, dessen Einsatz für eine Umkehr dieser
Entwicklung sich aber auf den Erwerb eines Bayreuther Patronatsscheines
beschränkt; dessen Wahrhaftigkeit mithin nur so weit geht, als man jetzt
eben wahrhaftig zu sein hat — auf eine Formel gebracht: für den es
zeitgemäß ist, unzeitgemäß zu sein.
Darin folgt er seinem Meister, den Nietzsche in seinen Aufzeichnungen
von Anfang 1874—Frühjahr 1874 auch darum einen „versetzten
Schauspieler" nennt 22 , weil sein Streben nach Wahrhaftigkeit nur so weit
geht, als diese ihm nützen kann. Damit unterscheidet er sich von jenem
Idealbild eines Menschen, dem Nietzsche nachzuleben trachtet. Von ihm —
dem schopenhauerischen Menschen — spricht er in der 3. Unzeitgemässen
Betrachtung:
D e r S c h o p e n h a u e r i s c h e M e n s c h n i m m t das f r e i w i l l i g e
L e i d e n d e r W a h r h a f t i g k e i t a u f s i c h , und dieses Leiden dient
ihm, seinen Eigenwillen zu ertödten und jene völlige U m w ä l z u n g und
Umkehrung seines Wesens vorzubereiten, zu der zu führen der eigentliche
Sinn des Lebens ist. [ . . . ] also für sich und sein persönliches W o h l rein und
von wundersamer Gelassenheit, in seinem Erkennen voll starken
verzehrenden Feuers und weit entfernt von der kalten und verächtlichen
Neutralität des sogenannten wissenschaftlichen Menschen, hoch empor-
gehoben über griesgrämige und verdriessliche Betrachtung, sich selbst
immer als erstes Opfer der erkannten Wahrheit preisgebend, und im
tiefsten von dem Bewusstsein durchdrungen, welche Leiden aus seiner
330 Absetzungen

Wahrhaftigkeit entspringen müssen. Gewiss, er vernichtet sein Erdenglück


durch seine Tapferkeit, er muss selbst den Menschen, die er liebt, den
Institutionen, aus deren Schoosse er hervorgegangen ist, feindlich sein, er
darf weder Menschen, noch Dinge schonen, ob er gleich an ihrer
Verletzung mit leidet, er wird verkannt werden und lange als
Bundesgenosse von Mächten gelten, die er verabscheut, er wird, bei dem
menschlichen Maasse seiner Einsicht, ungerecht sein müssen, bei allem
Streben nach Gerechtigkeit: aber er darf sich mit den Worten zureden und
trösten, welche Schopenhauer, sein grosser Erzieher, einmal gebraucht:
„Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch
erlangen kann, ist ein h e r o i s c h e r L e b e n s l a u f , " 2 3
Doch auch Schopenhauer entspricht nur bedingt diesem nach ihm
benannten Menschenbild, treibt ihn doch seine überhistorische Sicht in eine
V e r a c h t u n g des Wirklichen hinein, in der er sich ebenfalls enthoben glaubt,
an einer V e r b e s s e r u n g desselben arbeiten zu müssen. S o schreibt Nietzsche
in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung in A n k n ü p f u n g an eine P a s s a g e des
ersten Teils von Schopenhauers H a u p t w e r k 2 4 :
Ueberhistorisch wäre ein solcher Standpunkt zu nennen, weil Einer, der
auf ihm steht, gar keine Verführung mehr zum Weiterleben und zur
Mitarbeit an der Geschichte verspüren könnte, dadurch dass er die Eine
Bedingung alles Geschehens, jene Blindheit und Ungerechtigkeit in der
Seele des Handelnden, erkannt hätte; er wäre selbst davon geheilt, die
Historie von nun an noch übermässig ernst zu nehmen.25
S c h o n hier verwirft Nietzsche jenen Standpunkt — anders als S c h o p e n h a u e r
bejaht er das Leben trotz seiner G r a u s a m k e i t und Ungerechtigkeit:
Doch lassen wir den überhistorischen Menschen ihren Ekel und ihre
Weisheit: heute wollen wir vielmehr einmal unserer Unweisheit von
Herzen froh werden und uns als den Thätigen und Fortschreitenden, als
den Verehrern des Prozesses, einen guten T a g machen. Mag unsere
Schätzung des Historischen nur ein occidentalisches Vorurtheil sein; wenn
wir nur wenigstens innerhalb dieser Vorurtheile fortschreiten und nicht
stillestehen! Wenn wir nur dies gerade immer besser lernen, Historie zum
Zwecke des L e b e n s zu treiben! 26

W e n n er dann am Schluß seiner Betrachtung den Lesern als Gegenmittel


g e g e n das Historische neben dem Unhistorischen, dem V e r g e s s e n , erneut
das Überhistorische empfiehlt, so ist dieses W o r t nunmehr im Sinne der von
ihm entworfenen monumentalischen Betrachtungsweise der Geschichte zu
verstehen, einer Betrachtungsweise, die im G e g e n s a t z zur Schopenhaueri-
schen sich nicht in der Kontemplation erschöpft, sondern zum Ergreifen und
Gestalten der Geschichte drängt: in ihr gehen vita contemplativa und vita
activa zusammen.

S o kann Nietzsche im S o m m e r 1878 rückblickend s a g e n :


Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 331

Der S c h o p e n h a u e r s c h e M e n s c h trieb mich zur Skepsis gegen alles


Verehrte Hochgehaltene, bisher Vertheidigte (auch gegen Griechen
Schopenhauer Wagner) Genie Heilige — Pessimismus der Erkenntniss. Bei
diesem U m w e g kam ich auf die H ö h e , mit den frischesten Winden. —
Die Schrift über Bayreuth war nur eine Pause, ein Zurücksinken,
A u s r u h e n . D o r t ging mir die U n n ö t h i g k e i t von Bayreuth für mich
auf. 27
W a r u m er vorher der Ansicht gewesen war, Bayreuths bedürftig zu sein, das
bedenkt er k u r z z u v o r :
Das grösste Pathos erreichte ich, als ich den Schopenhauerischen
Menschen entwarf: den z e r s t ö r e n d e n Genius, gegen alles Werdende.
Als Gegenbedürfniss brauchte ich den aufbauenden metaphysischen
Künstler, der einen schön träumen macht in solchem unheimlichen
Tagewerk.
Unzufriedenheit am t r a g i s c h e n D e n k e n gesteigert. 28
Aber der metaphysische Künstler, dem Nietzsche sich anvertraute, duldete
nicht, daß man seine K u n s t nur als „ G e g e n b e d ü r f n i s s " , nämlich als
Widerhalt der Wissenschaften betrachtete: Unter B e r u f u n g auf die tragische
Erkenntnis der V o r l ä u f i g k e i t und Illusionshaftigkeit alles Endlichen lehnt
die „ C u l t u r der Musik [ . . . ] die Wissenschaft, die Kritik a b " . Indem sie sich
so „ a u s V e r a c h t u n g des W i r k l i c h e n " in ein Faulbett des Denkens legt,
g e f ä h r d e t sie den Fort-schritt des Lebens: insofern ist sie in Nietzsches
Augen „zuletzt culturfeindlich und fast gefährlicher" als der
Sokratismus, den sie zu b e k ä m p f e n sucht.
Jenes schlechte Gewissen, das z u f o l g e einer A u f z e i c h n u n g Nietzsches
aus dem J a h r e 1875 (siehe Seite 203) die Künstler im Hinblick auf ihr
lügnerisches Verhältnis zur „ W i r k l i c h k e i t " plagen muß, scheint W a g n e r
abzugehen:
sie können über den Charakter des Daseins nur auf kurze Zeit sich und
andre täuschen — diese Täuschung ist ja das Wesen der Kunst —, aber
dafür rächt sich an ihnen auch fortwährend das böse Gewissen und Wissen
aller Künstler, wie sie den Dingen eine Larve mit reineren, freieren Zügen
aufsetzen wollen, die immer wieder herabfallen muss. J a wenn Plato Recht
hätte! Wenn der Mensch ein schönes Spielzeug in der Hand der Götter
wäre! Wenn das Leben als eine Kette edler Spiele und Feste angeordnet
werden könnte! Wenn das Dasein nichts als ein ästhetisches Phänomen
wäre! Dann würde der Künstler nicht nur der vernünftigste, weiseste Mann
sein, er fiele nicht nur mit dem Philosophen in Eins zusammen, er würde
auch das leichteste Leben haben und dürfte mit gutem Gewissen wie Plato
sagen: die menschlichen Dinge sind grossen Ernstes nicht werth. — Ob wir
freilich dann eine Kunst haben würden? Ob der Künstler entstanden sein
würde, wenn der Mensch selber ein Kunstwerk wäre? Ob nicht gerade das
Dasein der Kunst beweist, dass alles Dasein ein unästhetisches böses und
ernstes Phänomen ist? Man erwäge doch einmal, was ein wirklicher
332 Absetzungen

Denker, Leopardi, sagt. — Es wäre doch wahrlich zu wünschen, dass die


Menschen keine Kunst nöthig hätten. 29
Daß Wagner dieses schlechte Gewissen abgeht, spricht Nietzsche wiederum
seinem metaphysischen Ansatz zu. Im Sommer 1878 zeichnet er auf:
N a c h t h e i l d e r M e t a p h y s i k : sie macht gegen die richtige O r d n u n g
dieses Lebens gleichgültig — insofern gegen Moralität. 30
Was ihn zu Beginn seines Denkens an der Kunst angezogen hat und was ihn
nach dem Durchgang durch die große moralische Verdächtigung des Lebens
zu ihr wieder hinziehen wird, ihre Gleichgültigkeit gegenüber moralischen
Kategorien, ihn Jenseits von Gut und Böse, das wird ihm, wie gesehen,
schon im Jahre 1875 zum Anlaß, sich von seiner Artisten-Metaphysik und
ihrem Grund-Satz, „daß nur als ästhetisches Phänomen die Welt sich
rechtfertigen lasse" 31 , zu distanzieren:
Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leidenschaft und sah zuletzt in
allem Seienden nichts als Kunst — im Alter, wo sonst vernünftigermaassen
andere Leidenschaften die Seele ausfüllen. 32 ,
erkennt Nietzsche im Rückblick des Jahres 1878.
Daß er mit diesem Ansatz aber noch anderes bezweckt hat, nämlich die
Deutschen dazu anzuhalten, sich vom fremden Joch des Christentums zu
befreien, wobei er, wie sich uns schon angedeutet hat, auf die Mithilfe
Wagners glaubte zählen zu dürfen, das geht aus einer anderen
Aufzeichnung aus dem Sommer 1878 hervor:
Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und
gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die
Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden — und wie in
so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen
Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich
meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der
christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und
sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese
Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen
werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner's Kunst den W e g zu einem
deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu
einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. „Die
Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der
Mensch ist gut und dumm — er hat eine schönere Zukunft und erreicht sie,
wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind", — so
werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben. 33
Statt von einem lastenden Joch spricht Nietzsche auch von einer blutenden
Wunde, die dem germanischen Volksleib durch die Christianisierung
beigebracht worden sei, eine Wunde, die — so Nietzsche wiederum im
Sommer 1875 bis Ende September 1875 — die Deutschen
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 333

fast zum Verbluten gebracht [hätte], man nahm (ihnen) Sitte Religion
Sprache Freiheit. Sie sind nicht zu Grunde gegangen: aber daß sie eine tief
l e i d e n d e Nation sind, haben sie bewiesen, dadurch daß sie die M u s i k
erfanden; sie haben den Segen der Krankheit erfahren. — 3 4
Anders als die Rede vom Joch ist das W o r t von der Erkrankung im
Zusammenhang von Nietzsches „Lebensphilosophie" nicht als Metapher,
sondern als verbum proprium aufzufassen. Damit reiht sich Nietzsche, wie
das letzte Zitat deutlich macht, in die mit Novalis anhebende Reihe derer
ein, welche die Krankheit als ein geiststeigerndes Mittel auffassen. Doch
entfaltet sie in seinen Augen diese segensreiche Wirkung nur dort, wo ein im
Kern gesundes Leben infiziert wird — nur ein gesundes Leben ist zur
selbstheilenden Reaktionsbildung fähig, als welche die Schwächung in eine
Stärkung, den Mangel in eine Fülle umwandelt: Gleich Goethe sieht
Nietzsche in der Gesundheit nicht „das zufällige Fehlen einer Infektion,
sondern die Fähigkeit zur Uberwindung von Krankheiten." 3 5
So erkennt Nietzsche an, daß das Christentum wie auch die Metaphysik,
aufs Ganze gesehen den Menschen vertieft haben — die besten Ergebnisse
der bisherigen Menschheit verdanken sich ihnen —, doch dränge das Leben
nun dazu, über den Glauben an ein dem Menschen fordernd
gegenübertretendes Jenseits hinauszuschreiten, so zwar, daß sich die
Metaphysik selbst abschafft: Indem sie nämlich den Menschen auf
unbedingte Wahrhaftigkeit verpflichtet habe, müsse sich dieser im Zuge
seines Strebens nach ihr eingestehen, daß die Wahrheit und mit ihr die ganze
Metaphysik eine Fiktion ist: eine Erkenntnis, die den Menschen — Fluch
und Segen zugleich — zu sich selbst befreie.
O b wohl ein Mensch besser zu werden vermag, durch diese Kunst und
durch Schopenhauerische Philosophie? Gewiss in Betreff der Wahrhaftig-
keit.,
hatte sich Nietzsche Anfang 1874—Frühjahr 1874 in seinen Notizen zu
Wagner angemerkt, wobei dessen Charakterisierung „als versetzter
Schauspieler" zum Ausdruck bringt, daß Wagners eigene Wahrhaftigkeit in
bezug auf die metaphysische Grundfrage nach der Wahrheit ihre Grenzen
hat: Seit den Weihnachtstagen 1869 kannte Nietzsche Wagners
Parzifal-Entwurf; bei seinem Besuch in Tribschen war dieser, wie aus
Cosimas Tagebuch hervorgeht, mit ihm gelesen worden 3 6 : „schönste und
erhebendste Erinnerung!", vermeldete 37 Nietzsche über diesen Besuch
seinem Freund Rohde. Schon damals — und nicht erst, wie „Ecce h o m o "
nahelegt 38 , bei der Ubersendung des fertigen Parsifal-Textes am 3. 1. 1878
—, wußte Nietzsche also, daß „Wagner fromm geworden [war] .. ," 39 .
Doch mußte er selbst sich erst von seinem metaphysischen Bedürfnis
befreien, ehe er die Gefahr dieser „Wandlung" Wagners begreifen konnte.
Erst nachdem ihm „die U n n ö t h i g k e i t von Bayreuth für [s]ich"
334 Absetzungen

aufgegangen war — äußerliches Zeichen war seine „Flucht" von den


Generalproben für die ersten Festspiele ins „Kaltwasser-Bad" nach
Klingenbrunn im Bayrischen Wald am 4. August 1876, von wo aus er indes
schon am 12. August, dem Tage vor der ersten öffentlichen Aufführung des
„Rheingold", auf Drängen der Schwester nach Bayreuth zurückkehrte, um
dann endgültig am 27. August abzureisen —, erst nachdem er erkannt hatte,
daß die Erkrankung des Lebens nicht durch eine Wiederbelebung
metaphysischer Empfindungen, sondern allein durch deren radikale
Destruktion zu überwinden ist, daß mithin der Nihilismus nicht aufgehalten
werden, sondern in seine Krisis getrieben werden muß, erst dann konnte ihm
Wagners letztes Werk zum Gegenstand schärfster Kritik werden.
Am 1. Oktober 1876 begibt sich Nietzsche mit seinem neuen Freund Paul
Ree nach Italien, um dort — der Baseler Erziehungsrat hat ihm ein Jahr
Urlaub bewilligt — Heilung von seiner Krankheit zu suchen. Wohl bleibt
ihm auch dort die leibliche Genesung versagt, aber die geistige Gesundung
findet er: Im Sorrenter Heim Malwida von Meysenbugs gelingt es ihm, sich
vom romantischen Pessimismus zu lösen, und, wie er ein Jahr später, im
Frühling—Sommer 1878 aufzeichnet, 4 0 „die Moosschicht von 9 J a h r e n " zu
heben: N u n wagt er es, auch öffentlich an seine im Oktober 1867—April
1868 entstandene, von uns eingangs unserer Arbeit besprochene
umfangreiche Auseinandersetzung mit der Philosophie Schopenhauers
anzuknüpfen. Vorsichtig sucht er in seinem Brief vom 19. 12. 1876,
geschrieben in Sorrent aus Anlaß von Cosimas 39. Geburtstag, Meisterin
und Meister, mit denen er 2 Monate vorher in eben jener Stadt zum letzten
Male Umgang gepflogen hat, auf diese Wandlung vorzubereiten:
w e r d e n Sie sich w u n d e r n , w e n n ich Ihnen eine allmählich entstandene, mir
fast plötzlich in's Bewußtsein getretene D i f f e r e n z mit Schopenhauer's
Lehre eingestehe? Ich stehe fast in allen allgemeinen Sätzen nicht auf seiner
Seite; schon als ich über Sch. schrieb, merkte ich, daß ich über alles
D o g m a t i s c h e daran h i n w e g sei; mir lag alles am M e n s c h e n . In der
Z w i s c h e n z e i t ist meine „ V e r n u n f t " sehr thätig g e w e s e n — damit ist d e n n
das Leben wieder um einen Grad schwieriger, die Last größer g e w o r d e n !
W i e wird man's nur am Ende aushalten? 4 1

Indes wäre es auch jetzt noch nicht zum Bruch gekommen, hätte Wagner
Nietzsches Kritik gelten lassen: Mit der Ubersendung von „Menschliches,
Allzumenschliches" stellte Nietzsche — anders als in seinen früheren
Schriften — Wagner auf die Probe, ob er zu einer Auseinandersetzung im
Sinne des Heraklitischen πόλεμος fähig war:
Wirkung meiner Schriften: d a g e g e n sehr s k e p t i s c h . Ich sah
P a r t e i e n . „Ich will warten, bis W a g n e r eine Schrift anerkennt, die
g e g e n ihn gerichtet ist" sagte ich. 42 ,
Richard Wagner in Bayreuth — Ein Ausblick 335

schreibt Nietzsche rückblickend im Frühling—Sommer 1878. Da wußte er,


daß Wagner nur Jünger duldete.
Allein — ohne einen unmittelbaren Ansprechpartner mußte Nietzsche
fortan seinen Denkweg gehen, den er im Winter 1883—1884 als einen
solchen fortgesetzter, im Zeichen der Wissenschaft stehender Zerstörung
charakterisiert:

Meine Neuerungen.

[••·]

1.) Mein A n s t r e b e n gegen den Verfall und die zunehmende


Schwäche der Persönlichkeit. Ich suchte ein neues C e n t r u m .
2.) Unmöglichkeit dieses Strebens e r k a n n t !
3.) D a r a u f g i n g i c h w e i t e r i n d e r B a h n d e r A u f l ö s u n g ,
— darin f a n d ich für E i n z e l n e n e u e K r a f t q u e l l e n . Wir müssen
43
Zerstörer sein!
Eine Aufzeichnung, welche die Behauptung des Planes vom Sommer 1878:
„Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder." berichtigt: Weil
Nietzsche früh die Kunst und den Künstler mit dem Bayreuther Meister und
seinem Werk gleichgesetzt hatte, konnte er sich von seinem Mißtrauen
gegenüber ihrem metaphysischen Wesen lange nicht freimachen.
Doch am Ende sollte Malwida von Meysenbug mit jenen Worten recht
behalten haben, die sie Nietzsche Mitte Juni 1878 Nietzsche als Eindruck
ihrer Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches" geschrieben hat44 —
einmal abgesehen davon, daß der von ihr im folgenden angesprochene
„Streifzug ins Gebiet der Analyse" den größten Teil von Nietzsches
Denkweg ausmachen sollte:
Sie werden ihn trinken den Kelch der Einsamen, muthig, unverzagt, des bin
ich gewiss. Aber Sie werden noch in Ihrer Philosophie manche Phase
durchmachen, des bin ich auch gewiss. Sie sind nicht zur Analyse geboren
wie Ree; Sie müssen künstlerisch schaffen und trotzdem Sie sich gegen die
Einheit sträuben, so wird Ihr Genius Sie doch wieder zu derselben führen
wie in der Geburt der Tragödie, nur keine metaphysische mehr. Sie sollen
bald hören wie ich das meine. Sie können nicht wie Ree mit dem
anatomischen Messer Beine und Arme hinlegen und sagen so ist der
Mensch zusammengesetzt. Bei Ihnen tritt die Minerva in vollem
Strahlenglanze ihrer jungfräulichen Göttlichkeit, als vollkommne Gestalt
hervor und wohl Ihnen dass das die Eigenart Ihres Genius ist und wohl uns
dass Sie, nach einem Streifzug ins Gebiet der Analyse, zu derselben
zurückkehren werden.
Ich kann heute nichts weiter sagen denn ich bin todmüde.
Anhang
Zur Zitierweise

Wenn nicht anders vermerkt, werden Nietzsches Texte zitiert nach der Kritischen
Gesamtausgabe (KGW), hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York,
1967 ff. U n d zwar Werke und nachgelassene Schriften in der Weise, daß eine Sigle den Titel
anzeigt, die folgende Zahl den Abschnitt oder Aphorismus bezeichnet, worauf Angaben des
Bandes und der Seite folgen. G T 4, 3/1, 34 bedeutet also: Die Geburt der Tragödie aus dem
Geiste der Musik, Abschnitt 4, 1. Band der 3. Abteilung, Seite 34. Nachgelassene
Aufzeichnungen werden so zitiert, daß zunächst der Zeitraum angegeben wird, aus dem die
Aufzeichnung stammt, danach, durch ein Komma getrennt, der Fundort in der K G W , wobei
die römische Zahl die Abteilung, die folgende arabische Zahl die N u m m e r des Manuskripts
innerhalb dieser Abteilung und die arabische Zahl in der eckigen Klammer die N u m m e r des
Fragments innerhalb des Manuskripts bezeichnet; danach folgen ebenfalls Angaben über den
Band und die Seite. Frühjahr 1888, V I I I 1 4 [131], 8 / 3 , 105 f. besagt also, daß die Aufzeichnung
aus dem Frühjahr 1888 stammt, daß man sie in der Abteilung VIII der K G W als Fragment Nr.
131 des Manuskripts Nr. 14 findet und dies in Band 8 / 3 auf Seite 105 f. Damit sind die zitierten
Aufzeichnungen auch in der Kritischen Studienausgabe (KSA), hrsg. v. Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, 15 Bde., München, Berlin, N e w York 1980, ohne Schwierigkeiten
aufzufinden. Als Siglen werden verwendet:

a) Von Nietzsche selbst herausgegebene Werke


(mit Angabe des Erscheinungsjahres)

DS Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der
Schriftsteller, 1873.
FW Die fröhliche Wissenschaft, 1882.
GD Götzen-Dämmerung, oder: Wie man mit dem H a m m e r philosophirt, 1889.
GM Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, 1887.
GT Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872.
HL Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: V o m Nutzen und Nachtheil der
Historie f ü r das Leben, 1874.
JGB Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886.
Μ Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, 1881.
MA Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch f ü r freie Geister, 1878.
NW Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, 1889 (nicht ausgegeben,
da Nietzsche auf die Veröffentlichung dieser Schrift zuletzt verzichtet hatte).
SE Unzeitgemässe Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, 1874.
SGT Sokrates und die griechische Tragoedie, 1871.
VM Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch f ü r freie Geister, Anhang: Vermischte
Meinungen und Sprüche, 1879.
WA Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, 1888.
WB Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth, 1876.
WS D e r Wanderer und sein Schatten, 1880.
Za Also sprach Zarathustra. Ein Buch f ü r Alle und Keinen, 1883—85.
340 Zur Zitierweise

b) Von Nietzsche für den Druck fertig hinterlassene Schriften


(mit Angabe des Entstehungsjahres)

AC Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum, 1888.


DD Dionysos-Dithyramben, 1888/89.
EH Ecce homo. Wie man wird, was man ist, 1888/89.

c) Die Manuskripte der Basler nachgelassenen Schriften


(mit Angabe der Entstehungszeit)

BA Ueber die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten, 5 Vorträge vom 16. 1., 6. und 27.2., 5.
und 23.3. 1872.
CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, Weihnachtstage 1872; darin:
CV 1 Ueber das Pathos der Wahrheit,
CV 2 Gedanken über die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten,
CV 3 Der griechische Staat,
CV 4 Das Verhältniss der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur,
CV 5 H o m e r ' s Wettkampf.
DW Die dionysische Weltanschauung, Juni—Juli 1870.
GG Die Geburt des tragischen Gedankens, Weihnachten 1870.
GMD Das griechische Musikdrama, Vortrag vom 18. 1. 1870.
PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, Frühjahr 1873.
ST Socrates und die Tragoedie, Vortrag vom 1. 3. 1870.
WL Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, Sommer 1873.

Briefe werden zitiert nach ihrer Kritischen Gesamtausgabe (KGB), hrsg. v. Giorgio Colli
und Mazzino Montinari, Berlin, N e w York 1975 ff. Zunächst wird dabei das Datum
ausgewiesen, worauf entsprechende Angaben des Bandes und der Seite folgen, ζ. B. 26.1. 1887,
III/5, 13 f. Dabei macht die römische Zahl deutlich, daß es sich um eine Abteilung der
Briefausgabe handelt. Der Brief ist also im 5. Band der 3. Abteilung der K G B auf Seite 13 f.
abgedruckt.

Weiter werden Texte aus folgenden Ausgaben der Werke


Nietzsches zitiert:

BAW Die (insgesamt 5) Werkbände (1854—1869) der unvollständig gebliebenen Ausgabe:


Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe,
München 1933 ff.
GA Großoktav-Ausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Werke, 19 Bände und 1
Register-Band, Leipzig 1894 ff.).
MusA Musarionausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Gesammelte Werke, 23 Bände, München
1920—1929).
SA Schlechta-Ausgabe ( = Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, hrsg. v. Karl
Schlechta, München 7 1973).

Als Biographie wird herangezogen:

Janz Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, 3 Bde., München 1981 (zitiert
werden Band und Seite).
Zur Zitierweise 341

Andere zitierte Gesamtausgaben und Einzelwerke mit ihren Siglen:

Ludwig Feuerbach, Sämtliche Werke, neu hrsg. v. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, 2. um 3
Ergänzungsbände (hrsg. v. Hans-Martin Sass) erweiterte Auflage, Stuttgart-Bad Cannstatt
1959—1964 (zitiert werden Band und Seite).
Johann Wolfgang Goethe, Werke, H a m b u r g e r Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. v. Erich T r u n z ,
München 10 1974 (Sigle: H A ; bei den Nachweisen folgen Angaben des Bandes und der
Seite).
Johann Wolfgang Goethe, Briefe, Hamburger Ausgabe in 4 Bänden, hrsg. v. Robert
Mandelkow, H a m b u r g 2 1968 (Sigle: HA-Briefe; bei den Nachweisen folgen Angaben des
Bandes und der Seite).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe in 20 Bänden, hrsg. v.
H e r m a n n Glockner, Stuttgart 1927 ff. (besondere Kurztitel: Ästhetik = Vorlesungen über
die Ästhetik; Logik = Wissenschaft der Logik; Phänomenologie = Phänomenologie des
Geistes; nachgewiesen werden Band und Seite).
Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, 4., erneut überprüfter
reprografischer Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1960 (zitiert als „ W e r k e " ; es folgen
Angaben des Bandes und der Seite).
Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, hrsg. v. C. J. Gerhardt, 7 Bände,
Berlin 1875—1890 (zitiert als „Schriften"; es folgen Angaben des Bandes und der Seite).
Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang Freiherr von Löhneysen, 5 Bände,
o.O. und o.J.; darin:
W a W I Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. I, Band 1;
W a W II Die Welt als Wille und Vorstellung Bd. II, Band 2;
SG Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Band 3, Seite
1 — 189;
WN Über den Willen in der Natur, Band 3, Seite 300—479.
Richard Wagner, Dichtungen und Schriften, Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hrsg. v. Dieter
Borchmeyer, Frankfurt am Main 1983; darin:
Beethoven, Band 9, Seite 38—147;
Einleitung zum dritten und vierten Band [der „Gesammelten Schriften und Dichtungen"],
Band 6, Seite 192—198;
Das Kunstwerk der Zukunft, Band 6, Seite 9—157;
O p e r und Drama, Band 7;
Über die Benennung „Musikdrama", Band 9, Seite 271—277;
Über die Bestimmung der Oper, Band 9, Seite 151 —182.
Anmerkungen

Anmerkungen zum Vorwort

1
Lou Andreas-Salome, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894.
2
Karl Schlechta und Anni Anders, Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 7.
3
E H , Die Geburt der Tragödie 1, 6 / 3 , 308.

Anmerkungen zum Abschnitt „Voraussetzungen — Ueber Wahrheit und Lüge


im aussermoralischen Sinne"

1
Vgl. dazu Nietzsches Darstellung jener Lektüre im „Rückblick auf meine zwei Leipziger
Jahre, 17 Oktober 1865 — 10 August 1867" (SA 3, 1 3 3 f . ) . N a c h Karl Schlechta, Der junge
Nietzsche und Schopenhauer, in: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 26, 1939,
S. 289—300, hat Nietzsche, auf der Suche nach einem „Schlüssel zu der seltsamen
Chiffrenschrift der W e l t " (289), durch diese Lektüre seine damalige „innere N o t und
Q u a l " (290) überwunden, die dadurch hervorgerufen wurde, „ d a ß ihm die Erscheinungen
der praktischen Welt nicht zusammenliefen, daß er keinen Organisationspunkt der
gegebenen, insbesondere der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit sah" (289).
2
Martin Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961, hier: Bd. 2, S. 239.
5 Ebd.
4
Zur Problematik der Schopenhauerschen Ideenlehre siehe: Friedhelm Decher, Wille zum
Leben — Wille zur Macht, Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche,
W ü r z b u r g und Amsterdam 1984, S. 35—37.
5
W a W II, 212.
6
Vgl. dazu: Karl Schlechta, Der junge Nietzsche und Schopenhauer, a. a. O.; des weiteren:
Fritz Sprengel, Nietzsche und das Ding an sich, Königsberg 1933, S. 7 f. und Charles
Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pensee, 6 Bde., Paris 1920—31, hier: Bd. 1, S. 121 f. und
142.
7
Gemeint ist der Philosoph Friedrich Ueberweg (1826—1871). Dieser Passus und die
W e n d u n g von der „versteckten Kategorie" findet sich in: Friedrich Albert Lange,
Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn
Ί 8 6 6 , S. 267 f. (Siehe zu diesem Buch die folgenden Ausführungen.)
8
Nietzsche bezeichnet diese Art des Denkens in seinen späteren Schriften als „Redlichkeit".
9
Vgl. dazu Schopenhauers nachfolgende Ausführungen im Kapitel „ Ü b e r das
metaphysische Bedürfnis des Menschen", das sich im 2. Bande seines Hauptwerkes findet:
„ D a s Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift und die Philosophie der
Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden
Zusammenhang bewährt." ( W a W II, 236) In seiner Philosophie ist es der Grundgedanke
des Willens, „ d e r an alle Erscheinungen der Welt als ihr Schlüssel gelegt w i r d " (ebd.,
S. 239) und sie, so Schopenhauer, aufschließt. D a ß f ü r Nietzsche alle diese „Wege zur
Metaphysik" (ebd., S.236) grundsätzlich versperrt sind, wollen wir hier bereits andeuten,
indem wir eine Passage zitieren aus C V 1, in der Nietzsche die Metapher vom Schlüssel
Anmerkungen 9 bis 10 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 343

aufgreift: „Verschweigt ihm [dem Menschen] die N a t u r nicht das Allermeiste, ja gerade
das Allernächste ζ. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches ,Bewußtsein'
hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg."
(3/2, 254) Vgl. auch die nachfolgende Notiz von Ende 1876—Sommer 1877, IV 21 [13],
4 / 2 , 465: „Schopenhauer zur Welt wie Blinder zur Schrift."
10
Schopenhauer denkt sich, wie Nietzsche erkannt hat, „eine Stufenfolge von Willens-
erscheinungen mit fortwährend sich steigernden Existenzbedürfnissen: um diese zu
befriedigen, bediene sich die Natur einer entsprechenden Stufenfolge von Hülfsmitteln,
unter denen auch der Intellekt vom kaum dämmernden Empfinden an bis zu seiner
äußersten Klarheit seine Stelle habe. Bei einer derartigen Anschauung wird eine
Erscheinungswelt vor die Erscheinungswelt gesetzt: wenn wir nämlich die Schopenhauer-
schen termini über das Ding an sich festhalten wollen. Auch schon vor der Erscheinung des
Intellekts sehen wir das principium individ., das Gesetz der Causalität in voller
Wirksamkeit. Der Wille ergreift das Leben in voller Hast und sucht auf alle Weise in die
Erscheinung zu treten; er beginnt bescheidener Weise mit den untersten Stufen und dient
gewissermaßen von der Pike auf. In dieser Gegend des Schopenhauersch(en) System(s) ist
schon alles in W o r t e und Bilder aufgelöst: von den uranfänglichen Bestimmungen des
Dings an sich ist alles, fast bis auf die Erinnerung verloren gegangen." (BAW 3, 359) In die
gleiche Richtung geht aber auch die Kritik, die Schopenhauer an den ihm verhaßten
zeitgenössischen Philosophien des Absoluten, an den Philosophien Hegels und Schellings,
im 2. Bande seines Hauptwerkes übt: „Welche Fackel wir auch anzünden und welchen
Raum sie auch erleuchten mag; stets wird unser H o r i z o n t von tiefer Nacht umgrenzt
bleiben. Denn die letzte Lösung des Rätsels der Welt müßte notwendig bloß von den
Dingen an sich, nicht mehr von den Erscheinungen reden. Aber gerade auf diese allein sind
alle unsere Erkenntnisformen angelegt: daher müssen wir uns alles durch ein
Nebeneinander, Nacheinander und Kausalitätsverhältnisse faßlich machen. Aber diese
Formen haben bloß in Beziehung auf die Erscheinung Sinn und Bedeutung: die Dinge an
sich selbst und ihre möglichen Verhältnisse lassen sich durch jene Formen nicht erfassen.
Daher muß die wirkliche, positive Lösung des Rätsels der Welt etwas sein, das der
menschliche Intellekt zu fassen und zu denken völlig unfähig ist; [ . . . ] . Diejenigen sonach,
welche vorgeben, die letzten, d. i. die ersten Gründe der Dinge, also ein Urwesen,
absolutum oder wie sonst man es nennen will, nebst dem Prozeß, den Gründen, Motiven
oder sonst was, infolge welcher die Welt daraus hervorgeht oder quillt oder fällt oder
produziert, ins Dasein gesetzt, ,entlassen' und hinauskomplimentiert wird, zu erkennen —
treiben Possen, sind Windbeutel, wo nicht gar Scharlatane." ( W a W II, 240) W a s
Schopenhauer, blind vor H a ß , in dieser Kritik, mit der er nichts anderes vorbringt, als was
bereits Kant in Bezug auf die menschliche Erkenntnis behauptet hatte, übersieht, ist, daß
sie auch seinen eigenen Entwurf trifft, insofern der Wille als das — wie es im ersten Band
von „Welt als Wille und Vorstellung" heißt (544) — „allein Metaphysische oder das Ding
an sich" Züge eines Absolutum trägt (ζ. B. geht die Welt, was an Hegels Ansatz gemahnt,
aus des Willens Willen zur Selbsterkenntnis hervor, vgl. W a W I, 371). Zwar schränkt
Schopenhauer im zweiten Band von „Die Welt als Wille und Vorstellung" seinen
ursprünglichen Ansatz, der wie selbstverständlich von der Erkennbarkeit des Dinges an
sich und der Ineinssetzung von Ding an sich und Wille ausgeht, dahingehend ein, daß der
Wille nun nicht mehr als „das Ding an sich schlechthin und absolut" ( W a W II, 256) zu
verstehen ist — plötzlich widerspricht, wie gehört, „das Erkanntwerden selbst schon dem
An-sich-Sein" (ebd.) —, sondern nurmehr „die bei weitem unmittelbarste seiner
Erscheinungen" (255) sein soll. Anders als im ersten Band, wo er den Willen als Ding an
sich, als „ursprünglichen Willensakt", aus den empirischen, wohl nicht räum-, aber
zeitgebundenen Willensakten durch „Abstraktion von dieser zeitlichen Form der
Erscheinung" ( W a W I, 229) gewinnt, soll diese Abstraktion jetzt nicht mehr möglich
sein: der Wille bleibt „noch insofern Erscheinung [ · . · ] , als mein Intellekt, der allein
das der Erkenntnis Fähige ist, von mir als dem Wollenden noch immer unterschieden
bleibt und auch die Erkenntnisform der Zeit selbst bei der innern Perzeption nicht ablegt"
Anmerkungen 10 bis 16 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

( W a W II, 256). Dementsprechend bestimmt Schopenhauer in einer „nachgereichten"


Definition die Metaphysik nunmehr dahingehend, daß sie wohl „über die Erscheinung,
d. i. die N a t u r hinaus[geht] zu dem in oder hinter ihr Verborgenen (τό μ ε τ ά t ö
φ υ σ ι κ ό ν ) , es jedoch immer nur als das in ihr Erscheinende, nicht aber unabhängig
von aller Erscheinung betrachtend: sie bleibt daher immanent und wird nicht trans-
endent" ( W a W II, 237). Insofern er aber seine Unterscheidung zwischen
Ding an sich und Erscheinung ebensowenig aufgibt wie sein methodisches Vorgehen, im
Ausgang von der inneren Erkenntnis des Willens als dem Apriori des menschlichen
Leibes zu der Deutung des An-sich der Erscheinungswelt überzugehen, tut Nietzsche
recht daran, Schopenhauer im Hinblick auf den ursprünglichen, nämlich trans-
zendenten Anspruch seiner Philosophie zu messen. — Im übrigen verdient heraus-
gehoben zu werden, was bereits Margot Fleischer, Philosophische Aspekte von Wagners
„Tristan und Isolde", in: Perspektiven der Philosophie 8, 1982, S. 135—161, hier: S. 155,
Anm. 45 bemerkt hat: Wenn Schopenhauer es im 2. Band seines Hauptwerkes f ü r
denkbar hält, daß „das Ding an sich [ . . . ] ganz außerhalb aller möglichen Erschei-
nung Bestimmungen, Eigenschaften, Daseinsweisen haben mag, welche f ü r uns schlechthin
unerkennbar und unfaßlich sind und welche eben dann als das Wesen des Dinges an
sich übrigbleiben, wann sich dieses, [ . . . ] , als Wille frei aufgehoben hat, daher ganz aus
der Erscheinung herausgetreten und f ü r unsere Erkenntnis, d. h. hinsichtlich der
Welt der Erscheinungen ins leere Nichts übergegangen ist" ( W a W II, 256) — dann heißt
dies, daß relativ, nämlich in Bezug auf uns gesehen, das Wesen dieses „Dinges an
sich" das Nichts ist ( „ W ä r e der Wille das Ding an sich schlechthin und absolut; so wäre
auch dieses Nichts ein absolutes; statt daß es sich ebendort uns ausdrücklich nur als ein
relatives ergibt", ebd.).
1/2, 159 f.
In einem Brief an H e r m a n n Mushacke vom November 1866 bemerkt Nietzsche (1/2, 184):
„ D a s bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist
unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede
schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange — mehr brauche ich
nicht."
Zitat aus Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, a. a. Ο., S. 493.
Ebd., S. 268.
Ebd., S. 269. Wir werden sehen, daß Nietzsche später das menschliche Erkenntnisvermö-
gen selber „als eine F o l g e eines zunächst künstlerischen Apparates" beurteilt (Sommer
1871—Frühjahr 1872, III 16 [13], 3 / 3 , 423).
Gemeint ist der Literarhistoriker Rudolf H a y m (1821 —1901), der in seinem 1864
erschienenen Buch „Arthur Schopenhauer" (abgedruckt aus dem 14. Bande der
Preußischen Jahrbücher, 1864, S. 45—91, 179—243; danach unsere Zitate) das
Schopenhauersche System logisch zu widerlegen sucht: „Ein ganzes Nest von Irrthümern,
von Erschleichungen und Uebereilungen.", heißt es auf S. 62. Die Abhandlung schließt mit
den W o r t e n : „Ein Gemisch großer Schwächen und ungewöhnlicher Trefflichkeiten steht
nach Allem der Mann, mit dem wir uns beschäftigt haben, in seltener Durchsichtigkeit vor
uns. Es hält nichts desto weniger, so wie er ist, schwer, ihn unterzubringen. Er ist kein
Philosoph, an dem Maßstab gemessen, den uns Kant oder Aristoteles an die H a n d geben.
Die Intensität der Einbildungskraft, der Reichthum poetischer Anschauungen reicht weit
nicht aus, ihn zum Dichter zu machen. Mit wie geistvollen Blitzen er einzelne
wissenschaftliche Regionen beleuchtet hat, — in dem Bereiche strenger Wissenschaft ist
kein Platz f ü r ihn. So genial er ist: diese Genialität hat sich zu keiner besonderen
Virtuosität, zu keiner bestimmten wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistung von
dauerndem Werthe zusammengenommen. Wir sind versucht, ihn einen Dilettanten im
eminenten Sinne des Wortes zu nennen. Einen Schriftsteller haben wir ihn genannt, und
den Menschen müssen wir überdies als eine ,Merkwürdigkeit der Naturgeschichte'
bezeichnen. So gehört er, wenn es doch eine Kategorie sein soll, in die Geschichte der
deutschen Literatur und steht hier als eine einzige Erscheinung, als eine Rarität da. Man
Anmerkungen 16 bis 25 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 345

wird ihn von dort am Ende doch wieder für die Philosophie reclamiren, aber die Wahrheit
ist: nicht was er gelehrt hat, sondern daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in der, nach der
Zersetzung großer wissenschaftlicher Systeme, ein lebhaft geträumter und geistreich
ausgeführter Traum für Philosophie gegolten hat, das ist die Thatsache, welche in Zukunft
die Geschichte der Philosophie zu erzählen haben wird." (S. 242 f.) — Nietzsche hat sich
das Buch im J a h r 1865 zu Weihnachten gewünscht, s. den Brief an Franziska und Elisabeth
Nietzsche vom 9 . 1 2 . 1865, 1/2, 99 ff.
17 1/2, 267 ff., hier S. 269.
18 Neben dem erwähnten Buch von Lange dürfte sich Nietzsche vor allem auf Kuno Fischers
Kant-Buch (K.F., Geschichte der neueren Philosophen, Band 3 und 4 : Immanuel Kant.
Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie, Mannheim 1860)
beziehen, das Nietzsche Ende 1867 gelesen hat (s. J a n z I, 199).
19 Vorgreifend ist hier zu bemerken: Wenn Nietzsche in dem Richard Wagner gewidmeten
Vorwort der „Geburt der Tragödie" ausführt ( 3 / 1 , 20), Kunst sei die „eigentlich
metaphysische [ . . . ] Thätigkeit des Menschen", so ist dabei der gegen Schopenhauer
gerichtete Hinter-Sinn „Metaphysik ist Kunst", d. h. Illusion mitzuhören, soll — was wir
in dieser Arbeit versuchen wollen — der äußere Anschein blinder Wagner-Verehrung
überwunden und hinter den Verfremdungen der „Schopenhauerischen und Kantischen
Formeln" — so Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik" aus dem Jahre 1886 ( 3 / 1 , 13) —
Nietzsches Eigenes aufgezeigt werden, nämlich „fremde und neue Werthschätzungen
[ . . . ] , welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von
Grund aus entgegen giengen!" (Ebd.)
20 1/2 , 22 8 — 2 2 9, hier: S. 229.
21 In seiner Schopenhauer-Kritik notiert Nietzsche ( B A W 3, 3 5 3 f . ) : „Wenn wir also
gegenwärtig darangehen jenen vorhin aufgestellten Satz, den Inbegriff des Schopenhau-
er(s)ch. Systems prüfend zu zerlegen, so steht kein Gedanke uns ferner als mit einer solchen
Kritik Schopenhauer selbst auf den Leib zu rücken, ihm triumphirend die einzelnen Stücke
seiner Beweise vorzuhalten und am Schluß mit hochgezognen Augenbrauen die Frage
aufzuwerfen, wie in aller Welt ein Mensch mit einem so durchlöcherten System zu solchen
Prätensionen komm(e)."
22 In die gleiche Richtung deutet auch Nietzsches aus der zweiten Hälfte des Oktober 1868
(1/2, 3 2 7 — 3 3 0 , hier: S. 328) stammende Antwort auf einen nicht überlieferten Brief
Deussens. Dieser scheint an ihn das Ansinnen gestellt zu haben, eine Kritik des
Schopenhauerischen Systems zu schreiben — eine Aufgabe, der sich Nietzsche, wie wir
wissen, bereits ein J a h r zuvor unterzogen hat. Und doch erwidert er Deussen: „Indem ich
so an den Schluß Deines Briefes anknüpfe, erledige ich zugleich den dort mir
zugemutheten Vorschlag. Lieber Freund, ,gut schreiben' (wenn anders ich dies Lob
verdiene: nego ac pernego) berechtigt doch wahrhaftig nicht, eine Kritik des
Schopenhauerschen Systems zu schreiben: im Übrigen kannst Du Dir von dem Respekt,
den ich vor diesem ,Genius ersten Ranges' habe, gar keine Vorstellung machen, wenn Du
m i r (i. e. homini pusillullullo!) die Fähigkeiten zutraust, jenen besagten Riesen über den
Haufen zu werfen: denn hoffentlich verstehst Du unter einer Kritik seines Systems nicht
nur die Hervorhebung irgend welcher schadhaften Stellen, mißlungner Beweisführungen,
taktischer Ungeschicktheiten: womit allerdings gewisse überverwegne Uberwege und in
der Philosophie nicht heimische Hayme alles gethan zu haben glauben. Man schreibt
überhaupt nicht die Kritik einer Weltanschauung: sondern man begreift sie oder begreift
sie eben nicht, ein dritter Standpunkt ist mir unergründlich. Jemand, der den Duft einer
Rose nicht riecht, wird doch wahrhaftig nicht darüber kritisieren dürfen: und riecht er ihn:
a la bonheur! Dann wird ihm die Lust vergehn, zu kritisieren."
23 B A W 3, 354.
24 G T 18, 3 / 1 , 114.
25 Siehe dazu den Abschnitt „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände
überhaupt in Phaenomena und Noumena" in der „Kritik der reinen Vernunft".
Anmerkungen 26 bis 28 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

IV 28 [7], 4 / 3 , 363. Im folgenden kündet die Aufzeichnung im übrigen — neben der bei
vielen Dichtern angesprochenen besonderen Atmosphäre protestantischer Sonntage —
von der metaphysischen Aura, die Nietzsche der Musik zeitlebens angelastet hat:
„Schwermüth(iger) Nachmittag — Gottesdienst in der Capelle zu Pforta, ferne
Orgeltöne." Vgl. dazu: Mazzino Montinari, Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den
Jahren 1875 bis 1879, in: Μ. M., Nietzsche lesen, Berlin, N e w York 1982, S. 22—37.
1/1, 201 f., hier: S. 202.
Bei Feuerbach (VI, 222) heißt es: „ D e r Mensch ist der Anfang der Religion, der Mensch
der Mittelpunkt der Religion, der Mensch das Ende der Religion." Auch in der dem oben
abgedruckten Abschnitt unmittelbar vorhergehenden Passage gibt Nietzsche Feuerbach-
sche Gedanken wieder: „ D a s Christentum ist wesentlich Herzenssache; erst wenn es sich
in uns verkörpert hat, wenn es Gemüth selbst in uns geworden ist, ist der Mensch wahrer
Christ. Die Hauptlehren des Christentums sprechen nur die Grundwahrheiten des
menschlichen Herzens aus; sie sind Symbole, wie das Höchste immer nur ein Symbol des
noch H ö h e r n sein muß. Durch den Glauben selig werden heißt nicht(s) als die alte
Wahrheit, daß nur das H e r z , nicht das Wissen, glücklich machen kann." Bei Feuerbach
heißt es entsprechend (VI, 168): „Die Grunddogmen des Christenthums sind erfüllte
Herzenswünsche — das Wesen des Christenthums ist das Wesen des Gemüths." Das
Gefühl ist ihm zufolge (VI, 13): „Deine innigste und doch zugleich eine von Dir
unterschiedene, unabhängige Macht, es ist i η Dir ü b e r Dir: es ist Dein eigenstes Wesen,
das Dich aber a l s und w i e e i n a n d e r e s W e s e n ergreift, kurz Dein G o t t " (zu
Feuerbachs Unterscheidung zwischen „ H e r z " und „ G e m ü t " in der dem Kognitiven
( „ V e r n u n f t " ) entgegengesetzten Sphäre des Emotionalen ( „ H e r z " ) siehe: Simon
Rawidowicz, Ludwig Feuerbachs Philosophie, Ursprung und Schicksal, Berlin 1931,
S. 90 f., Anm. 4). Und an anderer Stelle (VI, 169) bedenkt Feuerbach das Wesen der
Religion als Flucht des menschlichen Gemütes vor der Vernunft: Es ist „gemüthlicher
überhaupt, als sich selbst durch die V e r n u n f t zu bestimmen, sich von s e i n e m e i g e n e n
G e m ü t h e b e s t i m m e n zu lassen, als wäre es ein anderes, wennschon im Grunde
dasselbige Wesen." An einer anderen Stelle (MusA 1, S. 281) reduziert Nietzsche ganz im
Sinne Feuerbachs Gott auf das Bedürfnis. In späteren Texten begegnen wir an zahlreichen
Stellen dem mit Feuerbachs Absichten übereinstimmenden Bestreben Nietzsches, das
Übermenschliche im Gottesbegriff auf das Menschliche zurückzuführen. Feuerbachs
Gedanke: „ U m Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden; damit Gott Alles sei,
der Mensch Nichts sein." (VI, 32) ist einer der Hauptgedanken in Nietzsches
Metaphysik-Kritik. Zwar hat der Einfluß, den Feuerbach auf den jungen Nietzsche
ausgeübt hat, in der Literatur über die beiden Denker gelegentlich Erwähnung gefunden,
doch ist eine eingehende Untersuchung ihrer beider Beziehung bis heute ein desideratum.
Simon Rawidowicz spricht von einer „Reihe von Stellen, die von einem tiefgehenden
Einfluß Feuerbachs auf die Entwicklung Nietzsches zeugen" (a. a. O., S. 336), wobei er die
Passagen im Auge hat, die wir bereits angeführt haben. Karl Löwith, Von Hegel zu
Nietzsche, Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, H a m b u r g
7
1978, geht es um den Aufweis der Beziehung, die Nietzsche zum Linkshegelianismus der
40er Jahre gehabt hat, zu David Friedrich Strauß, Bruno Bauer, Max Stirner, Heinrich
Heine und Karl Marx sowie zu Ludwig Feuerbach. Doch abgesehen davon, daß auch er es
bei globalen Hinweisen beläßt — im Falle von Nietzsches Feuerbach-Kenntnissen befindet
er sich zudem im Irrtum, wenn er sie allein durch Wagners Zürcher Schriften vermittelt
sieht.
Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis, Studien zur Entwicklung
des Willensbegriffes in Nietzsches Jugendschriften, Phil.-Diss. Köln 1969, hält es hingegen
immerhin f ü r „wahrscheinlich", daß Nietzsche „auch aus anderen Quellen Kenntnis
wenigstens von Teilen des ,Wesen des Christentums' hatte — manche Wendungen
Feuerbachs gibt Nietzsche wortgetreuer wieder, als es nur von den Zürcher Schriften aus
möglich gewesen wäre — " , doch belegbar scheint ihm „vorerst nur die Übermittlung durch
Wagner zu sein" (S. 56, Anm. 1). Inzwischen weiß man: „1861 war er mit Ludwig
Anmerkung 28 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 347

Feuerbachs Schriften bekannt geworden; ,Wesen des Christentums' und ,Gedanken über
T o d und Unsterblichkeit' erscheinen sogar auf dem Wunschzettel zum Geburtstag." So
Curt Paul Janz im ersten Band seiner dreiteiligen Biographie (Janz I, 23; vgl. dazu BAW 1,
251.). Daß Nietzsche zumindest das erste W e r k tatsächlich gelesen hat, bezeugt aber eben
jene oben zitierte Aufzeichnung f ü r seine Freunde Krug und Pinder. Ein solcher Beleg
wäre jedoch gerade f ü r Craemers — in der Darstellung bisweilen allzu umständliche und
häufig unklare — Arbeit vonnöten gewesen, weil sie als „treibende K r a f t " im Denken des
frühen Nietzsche „den geschichtlich vom Linkshegelianismus bestimmten Entwurf einer
nicht-stoizistischen ,Neuen R e l i g i o n ' " (8) ansieht. Er meint damit, „ d a ß Nietzsche mit
Hilfe der religionskritischen Argumentation" — vor allem Feuerbachs, aber auch Strauß'
— „ s e i n e n Ansatz der Wissenschaftskritik zur Durchführung bringt, damit aber zur
Kritik d e r " — neuzeitlichen — „Erkenntnisgewißheit vorstößt" (11), die die Wahrheit als
clara distincta et perceptio bestimmt: Sie verwerfe Nietzsche zufolge (Winter
1869/70—Frühjahr 1870, III 3[51], 3 / 3 , 74) das Unlogische als Scheinbares und damit
nicht Wesentliches und bekämpfe derweise wie die christliche Religion zugunsten einer
„ I d e e " die diesseitige, sinnliche und in in ihrem Wesen unlogische Welt. D e r „ U m r i ß " des
Nietzscheschen „Gegenzuges" zur stoizistischen Methode der Wissenschaft bestehe in
einer „Neueinschätzung des Sinnlichen und der Kunst, gefaßt in die Formel ,Neue
R e l i g i o n ' " (11). In U m k e h r u n g des überkommenen Begründungsverhältnisses führe
Nietzsche das Logische auf das „ e r d i c h t e n d e [ . . . ] V e r m ö g e n [ . . . ] des Menschen" zurück
(36) — ein „eigenständiger, neue Perspektiven eröffnender Nachvollzug der
Feuerbachschen W e n d u n g zur ,Anthropologie'" (ebd.) mit ihrer Zurückstellung des
(vermittelnden) Denkens hinter die jenem als Ursprüngliches vorausliegende Unmittelbar-
keit, gehe doch dem Nietzscheschen Umkehren „die durch Feuerbach geprägte Formel der
Vertauschung von Subjekt und Prädikat voraus — ,Was nämlich in der Religion
P r ä d i c a t ist, das dürfen wir nur immer [ . . . ] zum Subject, was in ihr Subject, zum
Prädicat machen, also die Orakelsprüche der Religion u m k e h r e n , gleichsam als
contre-v0rites auffassen, — so haben wir das Wahre.' [VI, 74]" (37) Das aber bedeute, daß
bei beiden, bei Nietzsche wie bei Feuerbach, die überlieferte Unterscheidung zwischen
Sinnlichem und Übersinnlichem — bei ersterem meint das auch: zwischen Unlogischem
und Logischem — als solche keineswegs aufgegeben, sondern nur umgekehrt werde, was
im Falle des Jüngeren zur Folge habe, daß seine umkehrende Neubegründung genötigt sei,
„ihre Begründungsleistung mit Hilfe der vorgegebenen Begrifflichkeit (obzwar diese
umdeutend) durchzuführen, ja überhaupt in den vorgeprägten Begriffen (sie umdeutend)
zu reden" (40 f.) — Nietzsche müsse darum etwa in positivem Sinne „vom absolut
U n l o g i s c h e n der Weltordnung" (III 3 [51], a . a . O . ; Hervorh. von mir, T h . B.)
sprechen —, anstatt Begriffe zu verwenden, die aus der .eigensten T e n d e n z ' (41) der
Neubegründung geprägt sind. Daraus erwachse eine wesentliche Zweideutigkeit der
Sprache. Wichtiger aber ist noch eine andere von Craemer angedeutete (33) Konsequenz
dieser Vorgehensweise, das Verhältnis von Sinnlich-„Un"logischem und Übersinnlich-Lo-
gischem — von, wie wir sagen wollen, Physischem und Metaphysischem — in seiner
Rangfolge bloß umzukehren, anstatt den „ W e g zu einer neuen Auslegung des Sinnlichen"
zu beschreiten (Heidegger, Nietzsche, a . a . O . , Bd. 1, S. 242), so zwar, daß das alte
Ordnungsschema verwandelt werden würde: Indem die überkommene Unterscheidung
beibehalten werde, wirke auch der Zwang zur Begründung fort, zur, wie wir sagen wollen:
Rückführung der physischen Erscheinungen auf einen „metaphysischen" Grund ihres
Erscheinens (siehe dazu im folgenden). In dem Fortwirken dieses Zwanges sieht Craemer
anscheinend eine wesentliche Ursache dafür, daß Nietzsche schließlich an Schopenhauers
Willensmetaphysik und -terminologie anknüpft, wobei sein eigenes Ansinnen einer
Rehabilitierung der Sinnlichkeit eine Verbiegung (73), der Schopenhauersche Ansatz
hingegen eine Verkehrung (110 ff.) erfahre. Schließlich sei als weitere Konsequenz dieser
bloßen U m k e h r u n g des traditionellen Rangverhältnisses das Sinnliche wie bei Feuerbach
nur das dem Denken gegenüber Ursprünglichere und nicht das Ursprüngliche schlechthin:
„ D a s von der Neubegründung aufgenommene Ursprünglichere ist nicht eine gleichsam
Anmerkungen 28 bis 32 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

geschichtslose, neu eingreifende Möglichkeit, sondern ist das von der Vernunft
Abgewiesene, vom Sichtvermögen des Daseins und der Allgemeinheit der Sprache
ausgelassene, somit nur in einer wesenhaften Verkürzung noch bestehende b l o ß e
Sinnliche." (41) Übernehme Nietzsche von Feuerbach auch die Rehabilitierung der
Sinnlichkeit, so fasse er doch das Sinnliche anders als dieser, nämlich „vornehmlich als
H ö r e n , ,musikalisches Empfinden' ([GA]I, 64), Musik, und als,unmittelbares Verständnis'
des Tons [ . . . ] [ D W 2, 3 / 2 , 57 f.] — das freilich mit unter dem Einfluß der von Wagner
ausgehenden Musik-Deutung." (39) Für den frühen Nietzsche bedeutsam seien die
Linkshegelianer — außer Feuerbach nennt Craemer noch Strauß und Marx als
Anknüpfungspunkte — auch noch im Falle seiner Kritik an der herrschenden, von der
Wissenschaft geprägten Bildung, an der er bemängelt, daß sie dem Menschen keine
Allseitigkeit oder Totalität — „seine ursprüngliche Seinsweise" (64) — zu vermitteln
vermag: „Die Allseitigkeit versteht Nietzsche — dem Linkshegelianismus folgend — als
Allseitigkeit der Bedürfnisse, — ihre Verwirklichung findet er in der griechischen Polis.
Das Zwingende dieser geschichtlichen Beziehung liegt zweifellos darin, daß Nietzsche die
Neueinschätzung der Sinnlichkeit, Leiblichkeit, Religiosität, die ihm als die Grundtendenz
des Linkshegelianismus vorgegeben ist, auszusprechen und zu behaupten sucht durch die
Wiederholung der griechischen Einschätzung von Sinnlichkeit und Leiblichkeit." (68 f.)
Craemer erkennt darin einen wesentlichen „ G r u n d f ü r die Ausfaltung der
linkshegelianischen ,Neuen Religion' zur Griechen-Deutung" (69). Von besonderer
Bedeutung sei dabei, daß Nietzsche in U m k e h r u n g des religionskritischen Ansatzes von
Feuerbach die Schöpfung der griechischen Götter ausdrücklich versteht „als n i c h t sich
selbst Entäußern des Menschen, welche Entäußerung das Eigenste des Menschen, ihm
entfremdet, vergegenständlicht zu den f ü r sich bestehenden Gestalten der Religion ihm
gegenüberstellt", sondern begreift „als Verklärung, als die Göttlichkeit des menschlichen
Daseins" (90 f.). — So bedenkenswert auch Craemers Ausführungen über Nietzsches
Verhältnis zum Linkshegelianismus sein mögen, in unseren Augen bleiben sie doch in
vielen Punkten fragwürdig. Abgesehen davon, daß eine Lektüre der linkshegelianischen
Schriften f ü r Nietzsche — worauf Craemer selber wiederholt aufmerksam macht — nicht
nachgewiesen werden konnte: es muß an der Arbeit moniert werden, daß sie zentrale
Begriffe ihrer Argumentation nicht klärt; das gilt vor allem f ü r den Begriff „Bedürfnis",
den Nietzsche aus der linkshegelianischen Diskussion übernommen und verwandelt haben
soll, das trifft aber auch bereits f ü r den scheinbar selbstverständlichen Terminus
„Linkshegelianismus" zu. Einer eingehenderen Erläuterung wäre auch der Ausdruck
„stoizistische Methode der Wissenschaft" bedürftig gewesen. Wären diese Klärungen
geschehen, so hätte die f ü r uns sehr wichtige (siehe das 6. Kapitel des 2. Teils unserer
Abhandlung) Arbeit einiges an Präzision und damit an Uberzeugungskraft gewonnen.
G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 6, 6 / 3 , 73: „Die Welt scheiden in eine ,wahre' und
eine ,scheinbare', sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant's (eines
h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der decadence, — ein
Symptom n i e d e r g e h e n d e n Lebens". Aus dieser Erkenntnis heraus schafft Nietzsche
im folgenden Abschnitt „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " (6/3, 74 f.) den
Gegensatz „wahre Welt — scheinbare W e l t " ab.
So in dem Aufsatz „Willensfreiheit und F a t u m " vom April 1862, BAW 2, 60—62, hier:
S. 60.
BAW 2, 23—28, hier: S. 23.
So Nietzsche auch noch 1878 in W S 1 , 4 / 3 , 178: „ V o m B a u m d e r E r k e n n t n i s s . —
Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit: Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit, — diese
beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des
Lebens verwechselt werden kann." Anders als bei der frühen Aufzeichnung muß hier
jedoch — das W o r t „Freischeinlichkeit" ist Anlaß d a f ü r : in den Augen Nietzsches hält sich
der Mensch irrtümlicherweise f ü r frei — „ W a h r - S c h e i n " eher als „Anschein der
Wahrheit" gehört werden, und doch bleibt auch hier, gerade weil die menschlichen
Wahrheiten nur Wahrscheinlichkeiten, d. h. relative Wahrheiten sind, ein Rest von
Anmerkungen 32 bis 37 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 349

Ungewißheit: Es besteht auch die Möglichkeit, daß diese Wahrheiten Aufschein der
(absoluten) Wahrheit sind. Anders gesagt: O b der Erkenntnis der Relativität menschlichen
Wissens muß Nietzsche jeden Dogmatismus abweisen. — Wir haben hier einen kleinen
Beleg dafür, wie grundlegend f ü r Nietzsches späteres Philosophieren die immer wieder
übergangenen Reflexionen des Pfortaer Alumnus und des Bonner und Leipziger Studenten
sind.
Ausdrücklich wird diese Haltung Langes von Nietzsche erst spät, im Frühjahr 1884 (VII 25
[318], 7 / 2 , 90) kritisiert. Nietzsche zitiert zunächst aus dem Schlußkapitel der seit der
2. Auflage stark erweiterten und umgearbeiteten „Geschichte des Materialismus" — ihm
lag die von H . Cohen besorgte 4. Auflage, eine einbändige Ausgabe aus dem Jahre 1882
vor: „Lange ρ 822 ,eine W i r k l i c h k e i t , wie der Mensch sie sich einbildet, und wie er sie
e r s e h n t , wenn diese Einbildung e r s c h ü t t e r t wird: e i n a b s o l u t f e s t e s , v o n u n s
u n a b h ä n g i g e s und doch von uns erkanntes Dasein — eine solche Wirklichkeit giebt es
nicht.' ", um daran die Bemerkung anzuschließen: „ W i r sind thätig darin: aber d a s giebt
dem Lange keinen Stolz!" Will sagen: Es erhebt Lange nicht, daß der Mensch die Welt des
Seienden schafft, die er erkennt — er stellt, so werden wir unten ausführen, das Werden
zum Seienden vor, um dann dieses als solches in die Unverborgenheit herzustellen —, daß
der Mensch in seinem Wesen somit ein schöpferisches und nicht, wie die abendländische
Uberlieferung vermeinte, ein erkennendes Lebewesen ist. Gemäß seiner späten Einsicht,
daß alles, „was gemeinhin ,Philosophie' genannt wird; und dies bis hinab in deren letzte
erkenntnißtheoretische Voraussetzungen", als ein moralisches Problem aufzufassen ist
(Nietzsche an seinen Verleger N a u m a n n am 5. 10. 1887, III/5, 163), folgert Nietzsche, daß
Lange eine Position der Sklavenmoral, d. h. eine Position des niedergehenden Lebens
vertritt: „nichts trügerisches, wandelndes, abhängiges, unerkennbares also wünscht er sich
— d a s sind Instinkte g e ä n g s t i g t e r Wesen und solcher, die noch moralisch beherrscht
sind: sie ersehnen einen a b s o l u t e n H e r r n , etwas Liebevolles Wahrheit-Redendes —
kurz diese Sehnsucht der Idealisten ist moralisch-religiös vom Sklavengesichtspunkte
aus./Umgekehrt könnte unser Künstler-Hoheits-Recht darin schwelgen, diese Welt
g e s c h a f f e n z u h a b e η/.subjektiv n u r ' , aber ich empfinde umgekehrt: w i r haben's
geschaffen!"
Den der Sache nach auf Kant und seine Lehre von der transzendentalen Einbildungskraft
zurückgehenden Ausdruck „die dichtende V e r n u n f t " gebraucht Nietzsche beispielsweise
in Μ 119, 5 / 1 , 111.
BAW 2, 255—257, hier: S. 255 f.
Es wird sich im weiteren Verlauf unserer Ausführungen zeigen, daß Nietzsche das W o r t
„verkörpern" in diesem Zusammenhang in strengem Sinne gebraucht: Der Mensch
begreift die Welt der Erscheinungen unter dem Bilde seines Körpers, er entwirft sie nach
dessen Vorbild, weswegen alles Verstehen körperbildlich ist.
In diesem Sinne heißt es in der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , Anmerkung A 28 f. im
Zusammenhang der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom Räume: „ D e r
Wohlgeschmack eines Weines gehört nicht zu den objektiven Bestimmungen des Weines,
mithin eines Objekts so gar als Erscheinung betrachtet, sondern zu der besondern
Beschaffenheit des Sinnes an dem Subjekte, was ihn genießt. Die Farben sind nicht
Beschaffenheiten der Körper, deren Anschauung sie anhängen, sondern auch nur
Modifikationen des Sinnes des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise affiziert
wird. Dagegen gehört der Raum, als Bedingung äußerer Objekte, notwendiger Weise zur
Erscheinung oder Anschauung derselben. Geschmack und Farben sind gar nicht
notwendige Bedingungen, unter welchen die Gegenstände allein vor uns Objekte der Sinne
werden können. Sie sind nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besondern
Organisation mit der Erscheinung verbunden. Daher sind sie auch keine Vorstellungen a
priori, sondern auf Empfindung, der Wohlgeschmack aber so gar auf Gefühl (der Lust und
Unlust) als einer W ü r k u n g der Empfindung gegründet." In der philosophischen Hinsicht
Kants ist der Wein objektiv und d. h. wesentlich nichts anderes als berechenbare res
extensa, sein f ü r jeden Weintrinker wesentlicher Geschmack hingegen ist danach subjektiv
Anmerkungen 37 bis 43 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

und beiherspielend, unwesentlich. Wir versagen es uns, an dieser Stelle zu verfolgen, wie
diese berechtigte, gleichwohl höchst gefährliche, von den modernen Naturwissenschaften
geprägte Fragehinsicht, die „metaphysisch" insofern zu nennen ist, als sie vom unmittelbar
gegebenen Phänomen auf seinen in ihm verborgenen, feststellbaren Grund zurückzugehen
sucht, wie sehr diese reductio der Erscheinungen auf ein berechenbares „ W e s e n " unser
gegenwärtiges Weltverhalten prägt. Der Blick auf unsere Umwelt lehrt es.
Max Scheler, D e r Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Gesammelte
Werke Band 2, Bern <1954, S. 88.
Ebd., S. 87, Anm. 2.
Eine Behandlung Kants im Vorübergehen ist wegen der verwickelten Sache seines
Denkens, die ein eigenes interpretatorisches Bemühen erfordert, höchst bedenklich —
doch ist sie hier und an anderen Stellen der Arbeit unumgänglich. Wir sind uns bewußt,
einseitig auszulegen, nämlich im ständigen Hinblick auf Nietzsches Kant-Deutung, die wie
die meisten seiner Auslegungen anderer Denker vergröbert, gerade dadurch aber
Wesentliches in den Blick bringt.
Vgl. dazu: Wilhelm Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, 2. Band, Von
Kant bis Hegel und Herbart, Leipzig 5 1911, S. 65.
III 19 [125], 3 / 4 , 47. Siehe auch aus dem gleichen Zeitraum die Aufzeichnung III 19 [153],
3 / 4 , 55: „Die F o r m e n des Intellekts sind aus der Materie entstanden, sehr allmählich. Es
ist an sich wahrscheinlich, daß sie streng der Wahrheit adäquat sind. W o h e r sollte so ein
Apparat, der etwas Neues erfindet, gekommen sein!" Doch Nietzsche läßt diesen
Gedanken sehr bald wieder fallen — wir werden an anderer Stelle den Grund d a f ü r zu
bedenken haben.
5/1, 6. Nietzsche dürfte hier Ausführungen wie die folgende aus der Einleitung zur
zweiten Auflage der „Kritik der reinen V e r n u n f t " im Auge haben: „ N u n wollen wir
annehmen, die durch unsere Kritik notwendiggemachte Unterscheidung der Dinge, als
Gegenstände der Erfahrung, von eben denselben, als Dingen an sich selbst, wäre gar nicht
gemacht, so müßte der Grundsatz der Kausalität und mithin der Naturmechanism in
Bestimmung derselben durchaus von allen Dingen überhaupt als wirkenden Ursachen
gelten. Von eben demselben Wesen also, ζ. B. der menschlichen Seele, würde ich nicht
sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnotwendigkeit
unterworfen, d. i. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu geraten; weil ich die
Seele in beiden Sätzen in e b e n d e r s e l b e n B e d e u t u n g , nämlich als Ding überhaupt
(als Sache an sich selbst) genommen habe, und, ohne vorhergehende Kritik, auch nicht
anders nehmen konnte. Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in
z w e i e r l e i B e d e u t u n g nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich
selbst; wenn die Deduktion ihrer Verstandesbegriffe richtig ist, mithin auch der Grundsatz
der Kausalität nur auf Dinge im ersten Sinne genommen, nämlich so fern sie Gegenstände
der Erfahrung sind, geht, eben dieselbe aber nach der zweiten Bedeutung ihm nicht
unterworfen sind: so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren
Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemäß und so fern n i c h t f r e i , und doch
andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als
f r e i gedacht, ohne daß hiebei ein Widerspruch vorgeht." (Β X X V I I f . )
Walter Kaufmann bemerkt dazu in seinem Buch „Nietzsche, Philosoph — Psychologe
— Antichrist" (übersetzt von Jörg Salaquarda, Darmstadt 1982) mit Recht: „ D a ß Kant die
Möglichkeit von synthetischen Urteilen α priori nur deswegen vorausgesetzt hat, weil er das
moralische Gesetz f ü r α priori gegeben hielt, ist eine These Nietzsches, gegen die man
Zweifel anmelden kann. Zwar sagt Kant selbst an einigen Stellen in der ersten Kritik, daß
ihn der moralische Zweck zu seiner Erkenntnistheorie inspiriert habe, aber er war auch
davon überzeugt, daß in der Mathematik wirklich synthetische Urteile α priori enthalten
sind. Allerdings hat er diese Methode, nämlich Probleme durch begriffliche Analogien,
Parallelen und Symmetrien zu lösen, viel zu weit getrieben. Nietzsches Einwand läßt sich
verstärkt gegen die Kritik der praktischen Vernunft und gegen die Kritik der Urteilskraft
vorbringen, die wirklich durch forcierte Parallelen zur ersten Kritik unnötig beeinträchtigt
Anmerkungen 43 bis 57 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 351

sind. W e r sie liest, kann sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß Kant weit davon
entfernt ist, konsequent alles in Frage zu stellen und eine Analyse der Erfahrung zu liefern.
Statt dessen verläßt er sich auf die Symmetrie der Schemata seiner Kritik der reinen
Vernunft und auf ihre Wiederholungen. Wir sind wahrscheinlich viel eher bereit, Kant den
Glauben zu verzeihen, daß in der Mathematik synthetische Urteile α priori enthalten sind,
als daß er die Annahme nicht mehr in Frage gestellt hat oder diskutiert hat, es gebe ein
apriorisches ,moralisches Gesetz'. Sollte es zwingende Argumente f ü r diese Annahme
geben, so hat Kant sie jedenfalls nicht beigebracht." (S. 124 f.)
44
6 / 2 , 73.
45
Christentum ist Nietzsche bekanntlich „Piatonismus für's . V o l k ' " , JGB, Vorrede, 6 / 2 , 4.
4
<> AC 17, 6 / 3 , 182.
47
1/1, 2 0 2; siehe oben Seite 6.
48
G D , Wie die „wahre W e l t " endlich zur Fabel wurde, 6 / 3 , 74 f.
49
Za, Vorrede, 6 / 1 , 9 .
50
Siehe oben Seite 3; diese Überlegungen entsprechen Punkt 4 und Punkt 5 von „Wie die
,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde".
51
III 19 [146], 3 / 4 , 53.
52
Der Terminus ist dem auf S. 4 zitierten Brief an Deussen von Ende April/Anfang Mai 1868
entnommen. Auch Lange spricht in seiner „Geschichte des Materialismus" (a. a. O., S. 268)
von der Metaphysik „als einer erbaulichen Kunst der Begriffsführung".
53
Der Ausdruck ist Schopenhauer entlehnt, der das 17. Kapitel des 2. Bandes von „Welt als
Wille und Vorstellung" überschreibt mit „Uber das metaphysische Bedürfnis des
Menschen". Das metaphysische Bedürfnis entspricht dort, w o „das innere Wesen der
Natur [ . . . ] endlich beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen zum ersten Male zur
Besinnung" (206) gelangt. Im Menschen beginnt sich die N a t u r über ihr eigenes Dasein zu
wundern, erschrickt aber zugleich über die Endlichkeit alles Daseins und die
Vergeblichkeit jedweden Strebens. „Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung
entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfnis einer Metaphysik: er ist sonach ein
,animal m e t a p h y s i c u m ' " (207). Was „die nie ablaufende U h r der Metaphysik in Bewegung
erhält", ist somit einerseits „das Bewußtsein, daß das Nichtsein dieser Welt ebenso möglich
sei wie ihr Dasein" (221), andererseits aber „noch mehr, daß sie eine so trübselige sei".
Schopenhauer nennt dies „das punctum pruriens" (223) der Metaphysik.
54
III 19 [98], 3 / 4 , 40.
55
Vgl. dazu: Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien 7/1978, S.
236—260, hier: S. 236.
56
Siehe die nachfolgende Aufzeichnung vom Sommer 1875, in der Nietzsche die Gefahren
bedenkt, welche die griechische Kultur bedroht haben, u.a.: „ d e r Mythus als Faulbett des
Denkens" (IV 6 [12], 4 / 1 , 177).
57
Jörg Salaquarda vermutet (op. cit., S. 241), daß Nietzsche diese Gefahr bewußt gemacht
wurde durch die nachfolgende Passage eines Briefes vom 4.11. 1868, in dem Erwin Rohde
über seine Lektüre des Langeschen Buches berichtet — bemüht, auch darin dem
bewunderten Freund nachzufolgen: „ W e n n man seine Bemerkungen mit Nietzsches
brieflicher Äußerung gegenüber Gersdorff vergleicht [s. oben S. 3 f.], kann man anneh-
men, daß er nur mit seinen Worten wiederholt, was Nitzsche ihm in Leipzig
mitgeteilt hatte. Nietzsche ist trotz des damaligen regen Briefverkehrs nicht auf die
Äußerung eingegangen. Das mag ein Zufall sein, man kann aber auch vermuten, daß ihm
eine solche vergröbernde Zuspitzung der subtilen Position, die er von Lange übernommen
hatte, diese eher problematisch gemacht als in ihr bestärkt haben mag." Rohde schreibt
über Lange (1/3, 299) folgendes: „ G a n z gewiß hat er Recht, mit Kants Entdeckung von der
Subjectivität der Anschauungsformen so bitter Ernst zu machen, und wenn er Recht hat, ist
es dann nicht ganz in der O r d n u n g daß ein Jeder sich eine Weltanschauung wähle die ihm,
d . h . seinem ethischen Bedürfniß, als seinem eigentlichen Wesen, genüge? N u n sagt mir
eine Anschauung, die den tiefen, herben Ernst jenes gänzlich Unbekannten stark betont,
innerlichst zu, und so ist mir auch durch die wachsende Überzeugung von der subjectiven
352 Anmerkungen 57 bis 68 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Phantastik aller Speculation die Schopenhauersche Lehre durchaus nicht im Werthe


gesunken: ein Factum das gegentheils wieder bestätigt daß der Wille, das ήθος, stärker,
primärer ist als der kühl erwägende Intellect. — Auch in diesen wichtigen Puncten stimmen
wir Beide, lieber Freund, ja wol von H e r z e n zusammen." — Wir vermuten indes, daß
Nietzsche die Problematik der von Lange übernommenen Position schon früher ins
Bewußtsein getreten ist, künden doch die Notizen zur geplanten Dissertation von einem
philosophischen Neuansatz.
58
1/2, 269.
59
1/2 , 274.
60
In § 65 der „Kritik der Urteilskraft" verlangt Kant von einem Ding als Naturzweck, „ d a ß
die Teile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze
möglich sind" (B 290). D a Kant jedoch, anders als beispielsweise Goethe, Ganzheiten oder
Gestaltzusammenhänge nicht ebenso voraussetzt wie die in ihnen zusammengeschlossenen
Elemente, muß er im Falle von Naturganzheiten, d. h. Organismen, bei denen ein die Teile
im Sinne des Ganzen organisierender Schöpfer empirisch nicht nachweisbar ist, zur
zweiten Bestimmung kommen, daß die Teile eines Organismus „sich dadurch zur Einheit
eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer
Form sind" (B 291). Weil nun eine solche Kausalität kein empirisches Analogon besitzt, ihr
vielmehr nur die „entfernte Analogie" (B 295) eines zwecksetzenden menschlichen
Verstandes an die Seite gestellt werden kann, wird der Begriff einer organischen Ganzheit
von Kant als lediglich regulativer (und nicht als konstitutiver) Begriff der reflektierenden
Urteilskraft bestimmt.
61
Nietzsche notiert (372): „Schließlich kann auf streng menschlichem Standpunkte eine
Lösung möglich sein: die empedokleische, wo das Zweckmäßige nur als ein Fall unter
vielem Unzweckmäßigen erscheint." Vgl. dazu Lange, Gesch. d. Mat., a. a. Ο., S. 44 f.; hier
S. 45 : „ D a s Zweckmässige nur als einen Specialfall alles dessen, was gedacht werden kann,
aufzufassen, ist ein ebenso grosser Gedanke, als es scharfsinnig ist, die Zweckmässigkeit
des Bestehenden auf den Bestand des Zweckmässigen z u r ü c k z u f ü h r e n . "
62
Vgl. dazu Lange, Gesch. d. Mat., a. a. Ο., S. 401 ff., wo der Verfasser neben der „Lehre von
dem R i n g e n d e r A r t e n u m i h r e E x i s t e n z [ . . . ] die tiefgreifenden Beziehungen
dieser Lehre zur T e l e o l o g i e " (401) im Auge hat. U . a . berichtet er dort über einen
Autor, der Darwins Lehre benutzt, „um Consequenzen zu ziehen, welche auf die uralte
radikale Opposition des E m p e d o k l e s gegen die Teleologie z u r ü c k f ü h r e n " (401 f.).
63
Nietzsche bemerkt: „In Wahrheit steht eins fest, daß wir nur das Mechanische erkennen.
Was jenseits unsrer Begriffe ist, ist völlig unerkennbar." (379).
64
Vgl. Gesch. d. Mat., a. a. Ο., S. 44 f.
65
Siehe dazu auch als ein weiteres Beispiel aus dem hier in Rede stehenden Zeitraum die
nachfolgende Aufzeichnung vom September 1870—Januar 1871, III 5 [83], 3 / 3 , 119: „Im
Reiche der Natur, der Nothwendigkeit ist Zweckmäßigkeit eine unsinnige Voraussetzung.
Was nothwendig ist, ist das einzig Mögliche."
66
Siehe H A 13, 54—59, hier: S. 56 und Gesch. d. Mat., a . a . O . , S. 406.
67
Wie Ferdinand Weinhandl, Die Metaphysik Goethes, Berlin 1932, mitzuteilen weiß
(S. 156), hat Goethe diesen Passus in seinem Handexemplar der „Kritik der reinen
V e r n u n f t " angestrichen.
68
In einem Brief an Schiller vom 6.1. 1798 weist Goethe sowohl die Position des kritischen
Realismus im Gefolge Lockes, der bewußtseinsunabhängige Dinge zu zeigen bestrebt ist,
als auch den Standpunkt des transzendentalen Idealismus ab: „Mir will immer dünken,
daß, wenn die eine Partei von außen hinein den Geist niemals erreichen kann, die andere
von innen heraus wohl schwerlich zu den Körpern gelangen wird, und daß man also immer
wohl tut in dem philosophischen Naturstande (Schellings Ideen pag. XVI) zu bleiben und
von seiner ungetrennten Existenz den besten möglichen Gebrauch zu machen, bis die
Philosophen einmal übereinkommen, wie das, was sie nun einmal getrennt haben, wieder
zu vereinigen sein möchte." (Zitiert nach: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller,
hrsg. v. Hans Gerhard Graf und Albert Leitzmann, 3 Bde., o. O. 1955, hier: Bd. 2, S. 10.)
Anmerkungen 69 bis 75 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 353

H A 12, 23—28, hier: S. 27.


Martin Heidegger, Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, 2. Band, Pfullingen 3 1967,
S. 37—55, hier: S. 49.
D a ß Nietzsche diesen Gedanken fortan festhält, belegt eine Notiz, die er im Zeitraum
Herbst 1885—Herbst 1886 nach einer erneuten Lektüre von Langes inzwischen in
4. Auflage erschienenem, seit der 2. Auflage verbesserten Buches aufgezeichnet hat: „Alle
Einheit ist n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l Einheit: nicht anders als
wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also G e g e n s a t z der atomistischen
A n a r c h i e ; somit ein H e r r s c h a f t s - G e b i l d e , das Eins b e d e u t e t , aber nicht eins
i s t . " (VIII 2 [87], 8/1, 102) Vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine
Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin, New York
1971, S. 29 ff.; sowie: ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in:
Nietzsche-Studien 3/1974, S. 1—60, hier: S. 14—18.
W a W I, 42: „Aber wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht; so
verwandelt der Verstand mit einem Schlage, durch seine einzige, einfache Funktion [der
Kausalität] die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. W a s das Auge, das
O h r , die H a n d empfindet, ist nicht die Anschauung: es sind bloße Data. Erst indem der
Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im
Räume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit
beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d. i. Wirksamkeit.
Diese Welt als Vorstellung ist, wie nur durch den Verstand, auch nur f ü r den Verstand da."
Das ist auch die Meinung von Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart, Berlin, Köln,
Mainz 4 1979, S. 166: „Es gibt keine Dinge, Dinge sind D e n k = Gebilde, die nie und
nirgends wirklich sind. Nicht die Sinnlichkeit ist die subjektive Quelle des Scheins, sondern
das Denken; das Denken erfindet die Fiktionen von Ich, Substanz, Kausalität usw."
Vermutlich stützt er sich dabei auf die Ausführungen Nietzsches über „ D i e ,Vernunft' in
der Philosophie", Abschnitt 2, in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " (6/3, 69), w o über die Sinne
zu lesen ist: „sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das legt
erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der
Substanz, der Dauer... Die .Vernunft' ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne
fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie
nicht..." Aber wenn Fink, wie wir sehen werden, meint, daraus schließen zu können, daß
demjenigen, was die Sinne bezeugen, dem Werden nämlich, Wahrheit zuzusprechen ist,
dann irrt er. So fährt Nietzsche etwa in dem eben zitierten Text fort: „Aber damit wird
Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die ,scheinbare' Welt ist
die einzige: die ,wahre Welt' ist nur h i n z u g e l o g e n . . . " Nietzsche versteht, was Fink
übersieht, unter „ W a h r h e i t " immer Wahrheit an sich, die mit der Offenbarkeit des Dinges
an sich gleichzusetzen ist; eben sie aber bleibt uns verschlossen.
Siehe oben S. 7.
Vgl. auch Frühjahr—Herbst 1873, III 27 [37], 3 / 4 , 201 f., hier: S. 202: „Nicht das Gehirn
denkt, sondern wir denken das Gehirn: das selbst an sich durchaus keine Realität hat."
Nietzsche gerät hier — wie wir meinen: wissentlich — in jenen Zirkel, den er an
Schopenhauers Grundsatz offenbart hat (s. o. S. 2 f.) und der darin besteht, daß
„Schopenhauer den Intellekt als Produkt und als ,Sekundäres des Willens', also als
Erscheinung des Willens (W[aW] II, 258) versteht, gleichzeitig aber den Intellekt bzw. das
erkennende Subjekt zur Voraussetzung und zum Träger der Welt als Objekt erklärt"
(Decher, Wille zum Leben, a. a. O., S. 76, Anm. 5). V o r allem K u n o Fischer
(Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, 2. neu bearbeitete und vermehrte Auflage
Heidelberg 1898, Geschichte der neueren Philosophie, Jubiläumsausgabe, 9. Band,
5. 508 ff.) hat auf diese Aporie deutlich hingewiesen. Er hebt hervor, daß Schopenhauer
diesen „handgreiflichen c i r c u l u s v i t i o s u s " wohl gesehen und „wegzuräumen sich
viel, aber vergeblich b e m ü h t " habe (ebd., S. 509). Er sei genötigt gewesen, „das G e h i r n
als G e h i r n p h ä n o m e n anzusehen und zu behandeln, wobei er immer in denselben
circulus vitiosus gerät" (ebd.). (Vgl. dazu auch Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in
354 Anmerkungen 75 bis 83 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 3: Die nachkantischen Systeme,
Darmstadt 1974 (Repr. d. 2. Aufl. New Haven, Conn., 1923), S. 411 ff.; Wolfgang Rod,
Das Realitätsproblem in der Schopenhauerschen Philosophie, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 14, 1960, S. 401—415.) — Anders als für Schopenhauer ist
dieser Zirkel in den Augen Nietzsches kein zu vermeidender, sondern ein eigens zu
ergreifender; siehe dazu, was er in JGB 15, 6/2, 23 bemerkt: „Um Physiologie mit gutem
Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane n i c h t
Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie: als solche könnten sie ja keine
Ursachen sein! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen
als heuristisches Princip. — Wie? und Andere sagen gar, die Aussenwelt wäre das Werk
unsrer Organe? Aber dann wäre ja unser Leib, als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk
unsrer Organe! Aber dann wären ja unsre Organe selbst — das Werk unsrer Organe! Dies
ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum: gesetzt, dass der Begriff causa
sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt n i c h t das Werk unsrer
Organe —?"
76 BAW 5, 189. Vgl. Anm. 71: Daß etwas, was ,nicht eins ist', gleichwohl ,Eins bedeutet', ist
Leistung unseres Erkenntnisvermögens, des Sinn oder Bedeutung erzeugenden, weil die
Welt fortwährend interpretierenden Intellekts. In dem Auslegungsgeschehen, das er ist,
legt er sich selbst als eins aus.
77 Nietzsches spätere Kritik in JGB 17 (6/2, 23 f.) an dem für die neuzeitliche Philosophie
grundlegenden cogito des Descartes, der darin eine „unmittelbare Gewissheit" zu
erkennen vermeint habe, ist in vielerlei Hinsicht bereits in der Frühzeit seines Denkens
präfiguriert; das gilt sowohl für seine Zurückweisung der Behauptung, „dass es ein
festumrissenes ,Ich' giebt", als auch den Aufweis, „dass es bereits fest steht, was mit
Denken zu bezeichnen ist, — dass ich w e i s s , was Denken ist". Bereits der frühe
Nietzsche erkennt, daß der Mensch „für sich" voraussetzt, was er dann „an sich" zu
erkennen glaubt. Nicht zuletzt aber gilt dies für jene die Descartessche Schlußfolgerung
tragende Rückführung einer Tätigkeit auf einen Täter, d. h. einer Wirkung auf eine
Ursache. Nennt er es in dem späten Text eine ,verwegene Behauptung', „dass überhaupt
ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines
Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird", so bezeichnet er — worauf wir gleichfalls
noch zurückkommen werden — im Sommer 1872—Anfang 1873 die Annahme, „daß das
Eine die Ursache des Andern ist", als „ e i n e M e t a p h e r " (III 19 [209], 3/4, 70—72,
hier: S. 71). — Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Descartesschen Ansatz siehe:
Karl-Heinz Dickopp, Nietzsches Kritik des Ich-Denke, Diss. Phil. Bonn 1965.
78 SG, 68.
79 Für das „An-Sich" wäre nur dann etwas gewonnen, ,,[w]enn Gedächtniß und Empfindung
das M a t e r i a l der Dinge wären" (III 19 [165], 3/4, 59), dann nämlich „ r e i c h t [ e ] d i e
E r k e n n t n i ß d e s M e n s c h e n v i e l t i e f e r i n ' s W e s e n d e r D i n g e " (III 19 [163],
3/4, 58) — dies Gedanken aus der Zeit Sommer 1872—Anfang 1873, die Nietzsche auf der
Flucht vor dem Dunkel der Skepsis zeigen. Wir werden darauf zurückkommen.
80 III 27 [37], 3/4, 201 f., hier: S. 202.
81 CV 1, 3/2, 254; vgl. Anm. 9.
82 Vgl. dazu Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, in: ders., Holzwege, Frankfurt/Main
21978, S. 103—121, hier: S. 121, sowie: ders., Nietzsche, Bd. 2, a . a . O . , S. 347.
83 Die Fehlinterpretationen des „Willens" in der „Geburt der Tragödie" als einer
„unbezweifelten philosophischen Erkenntnis" — so ζ. B. Eugen Fink in seiner Auslegung
(Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 14—32; das Zitat findet sich auf S. 168, ist dort —
fälschlicherweise — auf Nietzsches späte Konzeptionen des Willens zur Macht, des
Werdens, der ewigen Wiederkunft bezogen, gilt aber der Sache nach auch für seine
Deutung der philosophischen Erstlingsschrift) —, diese Fehldeutungen rühren daher, daß
nicht Ernst gemacht wird mit Nietzsches paradoxal gespannter Konstruktion, der „Wille"
als das „An-Sich" lasse eine Bestimmung des „An-Sich" nicht zu, weil er als Wille zum
Leben die Illusion brauche.
Anmerkungen 84 bis 87 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 355

Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, a. a. O., S. 118.


Ders., N a c h w o r t zu: „ W a s ist Metaphysik?", in: Holzwege, a . a . O . , S. 301—310, hier:
S. 302.
W L 1, 3 / 2 , 372.
Wir betrachten hier Nietzsches frühe erkenntnistheoretische Ansätze von späten Texten
her. Ende 1886—Frühjahr 1887 zeichnet sich Nietzsche auf (VIII 7 [60], 8/1, 323):
„Gegen den Positivismus, welcher bei dem Phänomen stehen bleibt ,es giebt nur
Thatsachen', würde ich sagen: nein, gerade Thatsachen giebt es nicht, nur
Interpretationen. Wir können kein Factum ,an sich' feststellen: vielleicht ist es ein Unsinn,
so etwas zu wollen. ,Es ist alles subjektiv' sagt ihr: aber schon das ist A u s l e g u n g , das
,Subjekt' ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. —
Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon das ist
Dichtung, Hypothese./Soweit überhaupt das W o r t .Erkenntniß' Sinn hat, ist die Welt
erkennbar: aber sie ist anders d e u t b a r , sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern
unzählige Sinne ,Perspektivismus'." Vgl. dazu auch JGB 22 (6/2, 31): „ M a n vergebe es mir
als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte
Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene Gesetzmässigkeit der Natur', von
der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob besteht nur D a n k eurer Ausdeutung und
schlechten ,Philologie', — sie ist kein Thatbestand, kein ,Text', vielmehr nur eine
naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen
Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt! ,Uberall Gleichheit vor dem
Gesetz, — die N a t u r hat es darin nicht anders und nicht besser als wir' [ . . . ] Aber, wie
gesagt, das ist Interpretation, nicht Text; und es könnte Jemand kommen, der, mit der
entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen N a t u r und im
Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und
unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, — ein
Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Macht' euch
[ . . . ] vor Augen stellte [ . . . ] und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt
zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen ,nothwendigen' und
.berechenbaren' Verlauf habe, aber n i c h t , weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil
absolut die Gesetze f e h l e n , und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte
Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig
genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser.—" Alle menschlichen Erkenntnisse
sind perspektivische Interpretationen f ü r uns, nicht bloße Wiedergabe des An-Sich eines
Textes. Unterschieden sind sie indes im Grad ihrer Tiefe: Mag die von Nietzsche monierte
Weltausdeutung der Physiker oberflächlich gesehen auch das Gleiche wie die seinige von
der Welt behaupten, so kann sie doch richtig nur im Verhältnis zum vordergründigen
Augenschein genannt werden, zu der von Nietzsche dahinter eröffneten Dimension des
Willens zur Macht hingegen ist sie un-richtig. Sie verkennt, daß das Weltgeschehen ein
fortwährendes, vom „Willen" zur Überwältigung bestimmtes Auslegungs- oder
Interpretationsgeschehen ist, in dem die einzelnen Willensquanta, die nur als
Zusammenspiel, d. h. als (Selbst-)Interpretation Einheit sind, in jedem Augenblick die
letzte, unumgängliche Konsequenz aus der jeweils bestehenden Konstellation ziehen. Weil
Nietzsche ebendies erkennt, daß alles Geschehen Interpretationsgeschehen ist, in dem sich
die Willensquanten gegenseitig interpretieren, das meint f ü r ihn: einverleiben, darum kann
er sich des Einwandes, auch seine Philosophie sei eine bloße Interpretation der Welt, als
Beleg f ü r ihre „Richtigkeit" (in Bezug auf ihre eigenen Voraussetzungen, s. dazu im
folgenden) bemächtigen. In ihr interpretiert sich das Interpretationsgeschehen selber in
letzter Konsequenz der augenblicklich bestehenden Konstellation als „Wille zur Macht",
weswegen sie sich selbst nur den Charakter der Vorläufigkeit zuerkennen kann. D a ß sie es
aber tut, ja mehr noch, daß sie dazu auffordert, über sie hinauszugehen, sichert ihr indes
den Status der Unvergänglichkeit, wenn man so will: der ewigen Wiederkehr; noch oder
gerade die Uberwindung dieser Philosophie ist derweise ein Beleg f ü r sie: „erst, w e n n
i h r m i c h A l l e v e r l e u g n e t h a b t , will ich euch wiederkehren...", zitiert Nietzsche in
Anmerkungen 87 bis 92 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

„Ecce h o m o " seinen „ Z a r a t h u s t r a " ( E H V o r w o r t 4, 6 / 3 , 259). Den physikalischen


Erklärungen hingegen wohnt in Nietzsches Augen das Schicksal der Vergänglichkeit inne,
weil sie mit dem Zu-Erklärenden auch sich selber als ein Feststehendes, Unumstößliches
betrachten müssen. Paradoxal formuliert: weil sie sich f ü r die einzig richtige
Weltauslegung halten, sind sie un-richtig. Gleichwohl heißt das auch f ü r Nietzsche nicht,
daß sie falsch sind, aber ihre groben, das „Tiefengeschehen" verkürzenden Formeln
taugen allein zum notgedrungen oberflächlichen alltäglichen Weltverhalten, das mit den
Erscheinungen rechnen können muß. Vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches
Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 41 ff.
E H , Die Geburt der Tragödie 3, 6/3, 311.
3 / 2 , 293—366, hier: S. 317.
Im nächsten Abschnitt werden wir schließlich zeigen, daß Nietzsche Heraklits Auslegung
des Werdens der Welt als Streit polarer Gegenspannungen, als πόλεμος, im Sinne seines
Gedankens des ewigen Widerstreits von Dionysos und Apoll auslegt. — Dieses von ihm
häufig geübte Verfahren, sich in und an anderen auszusprechen, reflektiert Nietzsche in
„Ecce h o m o " im Hinblick auf die Protagonisten der 3. und der 4. Unzeitgemäßen
Betrachtung, im Hinblick auf Schopenhauer und Wagner: „Ins Grosse gerechnet nahm ich
zwei berühmte und ganz und (gar) noch unfestgestellte Typen beim Schöpf, wie man eine
Gelegenheit beim Schöpf nimmt, um Etwas auszusprechen, um ein Paar Formeln, Zeichen,
Sprachmittel mehr in der H a n d zu haben. [ . . . ] . Dergestalt hat sich Plato des Sokrates
bedient, als einer Semiotik f ü r Plato." ( E H , Die Unzeitgemässen 2, 6 / 3 , 317 f.) Vgl. auch
bereits Frühjahr—Sommer 1874, III 34 [13], 3 / 4 , 413 f.: „Ich bin fern davon zu glauben,
dass ich Schopenhauer richtig verstanden habe, sondern nur mich selber habe ich durch
Schopenhauer ein weniges besser verstehen gelernt; das ist es, weshalb ich ihm die grösste
Dankbarkeit schuldig bin. Aber überhaupt scheint es mir nicht so wichtig zu sein, wie man
es jetzt nimmt, dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet und an's Licht gebracht
werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande gelehrt habe, was nicht: eine solche
Erkenntniss ist wenigstens nicht f ü r Menschen geeignet, welche eine Philosophie f ü r ihr
Leben, nicht eine neue Gelehrsamkeit f ü r ihr Gedächtniss suchen: und zuletzt bleibt es mir
unwahrscheinlich, dass so etwas wirklich ergründet werden kann."
P H G 5, 3 / 2 , 317 f.
W a W I, 35: „ D e r Hauptunterschied zwischen allen unsern Vorstellungen ist der des
Intuitiven und Abstrakten. Letzteres macht nur eine Klasse von Vorstellungen aus, die
Begriffe". Sie aber seien der Vernunft zuzusprechen. „ W i r werden [ . . . ] zuvörderst aber
ausschließlich von der intuitiven Vorstellung reden. Diese nun befaßt die ganze sichtbare
Welt oder die gesamte Erfahrung, nebst den Bedingungen der Möglichkeit derselben. Es ist
[ . . . ] eine sehr wichtige Entdeckung Kants, daß eben diese Bedingungen, diese Formen
derselben, d. h. das Allgemeinste in ihrer Wahrnehmung, das allen ihren Erscheinungen auf
gleiche Weise Eigene, Zeit und Raum, auch f ü r sich und abgesondert von ihrem Inhalt
nicht nur in abstracto gedacht, sondern auch unmittelbar angeschaut werden k a n n " (35 f.).
Des weiteren weist Schopenhauer darauf hin, „ d a ß der Satz vom Grunde, der die
Erfahrung als Gesetz der Kausalität und Motivation und das Denken als Gesetz der
Begründung der Urteile bestimmt, hier in einer ganz eigentümlichen Gestalt auftritt, der
ich den N a m e n Grund des Seins gegeben habe und welche in der Zeit die Folge ihrer
Momente und im Raum die Lage seiner sich ins Unendliche wechselseitig bestimmenden
Teile ist." (36) In der Zeit aber sei die einfachste der Gestaltungen jenes Satzes zu
erkennen. „Wie in ihr jeder Augenblick nur ist, sofern er den vorhergehenden, seinen
Vater, vertilgt hat, um selbst wieder ebenso schnell vertilgt zu werden; wie Vergangenheit
und Z u k u n f t (abgesehn von den Folgen ihres Inhalts) so nichtig als irgend ein T r a u m sind,
Gegenwart aber nur die ausdehnungs- und bestandlose Grenze zwischen beiden ist; ebenso
werden wir dieselbe Nichtigkeit auch in allen andern Gestalten des Satzes vom Grunde
wiedererkennen und einsehn, daß, wie die Zeit, so auch der Raum, und wie dieser, so auch
alles, was in ihm und der Zeit zugleich ist, alles also, was aus Ursachen oder Motiven
hervorgeht, nur ein relatives Dasein hat, nur durch und f ü r ein anderes, ihm gleichartiges,
Anmerkungen 92 bis 97 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 357

d. h. wieder nur ebenso bestehendes ist. Das Wesentliche dieser Ansicht ist alt: Herakleitos
bejammerte in ihr den ewigen Fluß der Dinge: Piaton würdigte ihren Gegenstand herab als
das immerdar Werdende, aber nie Seiende; Spinoza nannte es bloße Akzidenzien der allein
seienden und bleibenden einzigen Substanz; Kant setzt das so Erkannte als bloße
Erscheinung dem Dinge an sich entgegen; endlich die uralte Weisheit der Inder spricht: ,Es
ist die Maja, der Schleier des Truges [ . . . ]'." (36 f.).
Die hier ausgelassene Schopenhauer-Stelle wird auf S. 28 besprochen.
W a W I, 520. Schopenhauer bildet die von Duns Scotus eingeführte Unterscheidung der
intuitiven von der abstrakten Erkenntnis zu einem „ G r u n d z u g [sjeiner Philosophie"
( W a W II, 118) aus. Es ist ein „ H a u p t p u n k t " seiner „Kritik der Kantischen Philosophie",
daß Kant „nirgends die anschauliche und die abstrakte Erkenntnis deutlich unterschieden
und ebendadurch [ . . . ] sich in unauflösliche Widersprüche mit sich selbst verwickelt [hat]"
( W a W I, 582), weswegen sein Objekt der Erfahrung nicht näher bestimmt werden könne.
Kant hatte in der „Kritik der reinen V e r n u n f t " unsere Erkenntnis auf „zwei Grundquellen
des Gemüts" zurückgeführt, „deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die
Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen
Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein
Gegenstand g e g e b e n , durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung
(als bloße Bestimmung des Gemüts) g e d a c h t . " (A 50, Β 74) D. h. aber f ü r ihn, daß die
Erkenntnis nur im Zusammenspiel dieser beiden Quellen zustandekommt: „ O h n e
Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht
werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist
es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der
Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie
unter Begriffe zu bringen." (A 51, Β 75) An anderer Stelle weist er darum die Möglichkeit
intuitiver Erkenntnis dezidiert zurück: „ D e r Verstand wurde oben bloß negativ erklärt:
durch ein nichtsinnliches Erkenntnisvermögen. N u n können wir, unabhängig von der
Sinnlichkeit, keiner Anschauung teilhaftig werden. Also ist der Verstand kein Vermögen
der Anschauung. Es gibt aber, außer der Anschauung, keine andere Art, zu erkennen, als
durch Begriffe. Also ist die Erkenntnis eines jeden, wenigstens des menschlichen,
Verstandes eine Erkenntnis durch Begriffe, nicht intuitiv, sondern diskursiv." (A 67, 68,
Β 92, 93) Für Schopenhauer gibt es hingegen eine vorbegriffliche, rein anschauliche
Verstandeserkenntnis. Die daraus durch Abstraktion gewonnene begriffliche Erkenntnis
bezeichnet er als Wissen: „ Wissen also ist das abstrakte Bewußtsein, das Fixierthaben in
Begriffen der Vernunft, des auf andere Weise", nämlich durch das Gefühl ( W a W I §11),
„überhaupt E r k a n n t e n " ( W a W I, 94). Weil daher aber „die Vernunft immer nur das
anderweitig Empfangene wieder vor die Erkenntnis bringt, so erweitert sie nicht eigentlich
unser Erkennen, sondern gibt ihm bloß eine andere Form. Nämlich was intuitiv, was in
concreto erkannt wurde, läßt sie abstrakt und allgemein erkennen." Gleichwohl sei dies
„ungleich wichtiger, als es, so ausgedrückt, dem ersten Blicke scheint. Denn alles sichere
Aufbewahren, alle Mitteilbarkeit", d. h. alle Kommunikation und InterSubjektivität, „und
alle sichere und weitreichende Anwendung der Erkenntnis auf das Praktische hängt davon
ab, daß sie ein Wissen, eine abstrakte Erkenntnis geworden sei." Die ursprüngliche,
intuitive Verstandeserkenntnis gilt nämlich „immer nur vom einzelnen Fall, geht nur auf
das Nächste und bleibt bei diesem stehn, weil Sinnlichkeit und Verstand eigentlich nur ein
Objekt zur Zeit auffassen k ö n n e n " (97). Sie ist ein „ W e r k des Augenblicks, ein Apercu, ein
Einfall, nicht das Produkt langer Schlußketten in abstracto" (55). — Vgl. dazu auch Anm.
92.
Siehe Anm. 92.
Josef König, Der Begriff der Intuition, Halle/Saale 1926, S. 21.
Vgl. auch die nachfolgende Passage aus C V 3, 3 / 2 , 262: „ W a s in dieser entsetzlichen
Constellation der Dinge leben will das heißt leben muß, [ . . . ] , muß also in unsrer Augen
,welt- und erdgemäß O r g a n ' fallen als unersättliche Gier zum Dasein und ewiges
Sichwidersprechen in der Form der Zeit, also als W e r d e n . Jeder Augenblick frißt den
Anmerkungen 97 bis 100 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

vorhergehenden, jede Geburt ist der Tod unzähliger Wesen, Zeugen Leben und Morden ist
eins."
In: Karl Schlechta und Anni Anders, Friedrich Nietzsche, Von den verborgenen Anfängen,
a . a . O . , S. 140 ff.
Ebd., S. 64.
Keineswegs liegt hier jedoch eine bloße, zeitbedingte terminologische Unsicherheit vor —
Anni Anders führt als Beleg dafür, daß zu Nietzsches Zeit der physikalische Kraftbegriff
noch nicht endgültig fixiert war, Friedrich Möhrs „Allgemeine Theorie der Bewegung und
Kraft als Grundlage der Physik und Chemie" (Braunschweig 1869) an (ebd., S. 160, Anm.
21), ein Buch, das Nietzsche zur Zeit der Abfassung der Zeitatomenlehre aus der Basler
Universitätsbibliothek entliehen hat (ebd., S. 161) —, vielmehr wendet sich Nietzsche, so
werden die folgenden Zitate aus jener Lehre deutlich machen, auf das entschiedenste gegen
die Grundannahmen des auch heute noch gültigen Kraftbegriffes, wie er u. a. bereits von
Johann Karl Friedrich Zöllner geteilt wurde (op. cit., S. 178): „ D i e N E W T O N ' s e h e
K r a f t f u n c t i o n ist a l s o n i c h t s a n d e r e s als d e r p h ä n o m e n a l e A u s d r u c k
d e s A x i o m s v o n d e r U n z e r s t ö r b a r k e i t e i n e r K r a f t d e r Zeit u n d d e m
Räume n a c h . " Die Annahme solcher ,,δντα im parmenideischen Sinne" (s. das nächste
Zitat des Haupttextes) muß Nietzsche aus seiner heraklitisierenden Grundhaltung heraus
ablehnen.
Angesichts eines solchen „metaphysischen" — das Wort im Heideggerschen Sinne
verstanden — „Vorurteils" erscheint indes die Frage unabweisbar, ob Nietzsches
Kraftbegriff überhaupt etwas mit demjenigen der Physik zu tun haben kann oder ob er
nicht in einer ganz anderen Sphäre anzusiedeln ist. Heidegger bejaht diese Frage: „Was
Nietzsche mit ,Kraft' bezeichnet und meint, ist nicht das, was die Physik so nennt."
(Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 343) Zwar hat Heidegger bei dieser Aussage den Kraftbegriff
des späten Nietzsche im Auge, doch besitzt sie auch für dessen frühes Denken insofern
Relevanz, als sie grundsätzlicher Natur ist: Heidegger behauptet nämlich einen
wesentlichen Unterschied zwischen (Natur-)Wissenschaft und Philosophie, d. h.
Metaphysik (wie er sie versteht): „Niemand wird sich vermessen, geradehin und endgültig
zu sagen, was ,Kraft' sei. Nur dies können und müssen wir hier sogleich anmerken, daß
Nietzsche ,Kraft' nicht im Sinne der Physik begreift und begreifen kann; denn der
Kraftbegriff der Physik, mag sie rein mechanistisch denken oder dynamisch, ist immer nur
der Begriff einer Maßbezeichnung innerhalb der Rechnung; die Physik kann so, wie sie die
Natur in den Ansatz für das Vorstellen bringt, als Physik überhaupt nie Kraft als Kraft
denken. Physik stellt immer nur Kraftbeziehungen, und zwar in der Hinsicht der Größe
ihres raumzeitlichen Erscheinens in den Ansatz." (Ebd., S. 343) Will sagen: Sie setzt den
Kraftbegriff, als welcher doch einer ihrer Grundbegriffe ist, voraus und zwar notwendig
voraus, „nämlich als solches, was ihrem Fragebereich und ihrer Beweisform ewig
verschlossen bleibt" (ebd., S. 371); was darin begründet ist, „daß keine Wissenschaft je mit
ihren eigenen wissenschaftlichen Mitteln etwas über sich aussagen kann" (ebd., S. 372).
Eine solche Aussage und mit ihr auch die Klärung der Grundbegriffe der jeweiligen
Wissenschaft obliegt der Philosophie, die „im innersten Bereich der Wissenschaft selbst
verschlossen [liegt], so daß der Satz gilt: Eine bloße Wissenschaft ist nur so weit
wissenschaftlich, d. h. über eine bloße Technik hinaus echtes Wissen, als sie philosophisch
ist." (Ebd., S. 372) Das aber besagt: „sie stellt sich wissentlich und damit fragend in das
Seiende als solches im Ganzen zurück und fragt nach der Wahrheit des Seienden" (ebd.,
S. 373). Wer hingegen umgekehrt ζ. B. die Vorstellungsweisen des physikalisch-techni-
schen Denkens auf das Seiende im Ganzen überträgt, bringe „nur eine maßlose
Verwirrung in das Denken" (ebd., S. 344) — was indes nicht zuletzt für Nietzsche selber
gilt, der nicht nur wiederholt mathematisch-naturwissenschaftliche Beweisversuche für
seinen zentralen Gedanken der ewigen Wiederkunft unternommen, sondern auch im Jahre
1881 den Plan gefaßt hat, zur wissenschaftlichen Begründung seiner Lehre zehn Jahre lang
Mathematik und Physik zu studieren (vgl. zu diesem Komplex: Oskar Becker, Nietzsches
Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, in: Blätter für deutsche Philosophie
Anmerkung 100 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 359

9, 1936, S. 368—387; wiederabgedruckt in: ders., Dasein und Dawesen, Gesammelte


philosophische Aufsätze, Pfullingen 1963, S. 41—66; auf diese Abhandlung geht ein:
Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 164—186).
Heidegger zufolge aber hat sich nicht Nietzsche „in die Naturwissenschaft verirrt; die
damalige Naturwissenschaft hat sich auf eine fragwürdige Weise in eine fragwürdige
Philosophie verlaufen." (Ebd., S. 375) „Weil Nietzsche in seinem geistigen Grundwillen
überall sicher war, im Sagen und Gestalten freilich notwendig im Zeitgenössischen haften
blieb" — dies Friedrich dem Unzeitgemäßen! —, „bedarf es, um seinen Gedanken zu
folgen, einer Strenge des Denkens, hinter der die Exaktheit der mathematischen
Naturwissenschaften nicht nur dem Grade, sondern dem Wesen nach zurückbleibt." (Ebd.,
S. 344) Für Nietzsches Beweisgang der Wiederkunftslehre aber heiße das, daß er „an
keiner Stelle dem Gerichtshof der Naturwissenschaft [untersteht], selbst dann nicht, wenn
naturwissenschaftliche ,Tatsachen' gegen sein Ergebnis sprechen sollten; denn was sind
,Tatsachen' der Naturwissenschaft und jeder Wissenschaft anderes als bestimmte
Erscheinungen, ausgelegt nach ausdrücklichen oder verschwiegenen oder überhaupt
ungekannten Grundsätzen einer Metaphysik, d. h. einer Lehre vom Seienden im Ganzen?"
(Ebd., S. 375) Für Heidegger stellt sich mithin das Verhältnis von Metaphysik und
Wissenschaft so dar, daß jene epochal die seinsgeschickliche Wahrheit über das Seiende im
Ganzen aussagt, d. h. seine jeweilige Offenbarkeit offenbart, gemäß der dann die jeweilige
Wissenschaft die Erscheinungen ihres Bezirkes auslegt, so daß sich die Ergebnisse der
Wissenschaften nur in den von der Philosophie gezogenen Bahnen finden lassen. Derweise
sind etwa Keplers Lehren über die Planetenbahnen gegründet in der Philosophie des
Descartes, mit der die Mathematik zur Richtschnur des philosophischen und damit auch
des wissenschaftlichen Denkens erhoben und so der sinnfällige Augenschein weiter
abgewertet wurde. Für Heidegger bedeutet das aber, daß die Planeten erst seitdem — und
vielleicht auch nur solange — die neuzeitliche Philosophie der Subjektität währt, auf
elliptischen Bahnen um die Sonne kreisen — dies die Konsequenz des Heideggerschen
Ansatzes, nur epochal gedeutete Erscheinungen und keine „Tatsachen" anzuerkennen.
(Für diesen Zusammenhang ist ein kleines Gespräch höchst bedenkenswert, das Carl
Friedrich von Weizsäcker einst mit Heidegger angesichts der sinkenden Sonne geführt hat
und dessen sich jener in seinem Buch „ D e r Garten des Menschlichen" [Frankfurt a.M.
1980, S. 303 f.] erinnert; s. dazu Anm. 369 zum Abschnitt „Voraussetzungen").
Anders stellt sich hingegen das Verhältnis zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft
in den Augen Arthur Schopenhauers dar, an dessen Ansichten uns Nietzsche in bestimmten
Punkten anzuknüpfen scheint. Schopenhauer erklärt in seiner Schrift „Uber den Willen in
der N a t u r " : „ D i e Physik nämlich, also Naturwissenschaft überhaupt, muß, indem sie ihre
eigenen Wege verfolgt, in allen ihren Zweigen zuletzt auf einen Punkt kommen, bei dem
ihre Erklärungen zu Ende sind: dieser eben ist das Metaphysische, welches sie nur als ihre
Grenze, darüber sie nicht hinauskann, wahrnimmt, dabei stehnbleibt und nunmehr ihren
Gegenstand der Metaphysik überläßt. [ . . . ] . Dieses also der Physik Unzugängliche und
Unbekannte, bei dem ihre Forschungen enden und welches nachher ihre Erklärungen als
das Gegebene voraussetzen, pflegt sie zu bezeichnen mit Ausdrücken wie Naturkraft,
Lebenskraft, Bildungstrieb u. dgl., welche nicht mehr sagen als χ y z." ( W N , 323) Kommt
Schopenhauer mit Heidegger auch darin überein, daß er der Naturwissenschaft die
Fähigkeit zur Klärung ihrer Grundbegriffe ab- und diese allein der Metaphysik zuspricht,
so unterscheidet sich der Frühere von dem Späteren indes wesentlich darin, daß er der
Physik einen eigenen, nämlich von der Metaphysik unabhängigen W e g zuerkennen kann,
auf dem sie doch gleichwohl mit dieser zusammentreffen muß, und dies darum, weil
Schopenhauer von „an sich", d. h. transepochal wirk-lichem Seienden, in Heideggers
Sprachgebrauch: von „Tatsachen", ausgeht, in deren Deutung sich Physik und
Metaphysik in der Weise miteinander verschränken, daß die Naturwissenschaft die von ihr
empirisch erforschten Daten der Naturphilosophie zur metaphysischen Interpretation
vorlegt, während diese umgekehrt eine Bestätigung ihrer Ergebnisse durch die empirischen
Wissenschaften anstreben muß. In seiner Schrift „Über den Willen in der N a t u r " versucht
360 Anmerkung 100 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Schopenhauer dieses Programm einzulösen. Zum einen werden dort von ihm wichtige
Ergebnisse der Naturwissenschaften — von „Physischer Astronomie" über Biologie bis hin
zur Physiologie und Pathologie — referiert, die geeignet scheinen, seine Metaphysik als die
einzige zu bewähren, „welche wirklich einen gemeinschaftlichen Grenzpunkt mit den
physischen Wissenschaften hat" ( T O , 320). Zum anderen sucht er dort die „qualitates
occultae" der Naturwissenschaften — dazu zählt vor allem der Begriff der Kraft — mittels
seiner Metaphysik und ihres Erklärungsmodus, der Rückführung der objektiven
Erscheinungen der Welt, d. h. der Vorstellungen, auf etwas dem Subjekt unmittelbar
Bekanntes, wie Schopenhauer meint: nicht Erschlossenes, nämlich den Willen, zu erhellen
und dadurch die objektive Seite der Natur durch die subjektive Seite, die Wesensseite, zu
ergänzen. Für die Kraft aber stellt sich diese Seite so dar (— es mag sein, daß Nietzsche bei
seiner Zurückweisung der ,,δντα im parmenideischen Sinne" auch diese Schopenhauer-
sche Wesensbestimmung im Auge gehabt hat): Sie „liegt ganz außerhalb der Kette der
Ursachen und Wirkungen, welche die Zeit voraussetzt, indem sie nur in bezug auf diese
Bedeutung hat: jene aber liegt auch außerhalb der Zeit. Die einzelne Veränderung hat
immer wieder eine ebenso einzelne Veränderung, nicht aber die Kraft zur Ursache, deren
Äußerung sie ist. Denn das eben, was einer Ursache, so unzählige Male sie eintreten mag,
immer die Wirksamkeit verleiht, ist eine Naturkraft, ist als solche grundlos, d. h. liegt ganz
außerhalb der Kette der Ursachen und überhaupt des Gebietes des Satzes vom Grunde und
wird philosophisch erkannt als unmittelbare Objektität des Willens, der das An-sich der
gesamten N a t u r ist" ( W a W I, 197). (Siehe dazu: Decher, Wille zum Leben, a . a . O . ,
S. 133—144; über das Verhältnis der Schopenhauerschen Gleichsetzung von Wille und
Kraft zum Kraftbegriff der klassischen Physik äußern sich: Kurt W . Geisler, Schopenhauer
und die Technik, in: Schopenhauer-Jahrbuch 52, 1971, S. 59—79, hier: S. 66—68;
Wolfgang Seelig, Wille und Kraft, Über Schopenhauers Willen in der N a t u r und seine
Definition als K r a f t in der Naturwissenschaft, in: Schopenhauer-Jahrbuch 60, 1979, S.
136—147; sowie: H a n s Voigt, Wille und Energie, in: Schopenhauer-Jahrbuch 51, 1970, S.
133—137.)
Wenn Heidegger mithin die Philosophie der von ihr wesensmäßig geschiedenen
Wissenschaft in der Weise überordnet, daß jene in ihren Grund-Sätzen die epochal zu
denkende Offenbarkeit des Seienden im Ganzen denkt, in deren Lichte dann diese dem
solcherweise entborgenen Seienden allererst nachzuforschen vermag, ohne daß sie doch
mit ihren Aussagen jemals den ihr voranstehenden Grund-Sätzen widersprechen könnte,
dann vermöchte Schopenhauer diesen Überlegungen allein darin zuzustimmen, daß auch
er Philosophie und Wissenschaft als wesensmäßig geschieden begreift, weswegen sich seine
Auslegung der Kraft von einer physikalischen Definition derselben, wie sie beispielsweise
in der Newtonschen Gleichung: Kraft gleich Masse mal Beschleunigung vorliegt,
unterscheidet: Sucht diese Definition den Erfordernissen der alltäglichen Weltverhaltung
und damit vor allem dem Erfordernis der Berechenbarkeit zu genügen, so begreift sich
seine Auslegung als Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kraft. Dennoch stehen
wissenschaftliche Definition und philosophische Auslegung seiner Ansicht nach nicht in
einem hierarchischen, sondern in einem komplementären Verhältnis zueinander, so zwar,
daß sie sich aneinander zu bewähren haben.
Ahnliches gilt auch f ü r den frühen Nietzsche, dem sich der Unterschied zwischen
Philosophie und Wissenschaft als Folge seiner Abschaffung der Frage nach dem Wesen —
wie er sie versteht: als Frage nach dem An-Sich — dahingehend einebnet, daß er zwischen
beiden nicht mehr metaphysisch-wesensmäßig oder qualitativ, sondern allenfalls
positivistisch-quantitativ zu unterscheiden weiß: „ D a s philosophische Denken ist
spezifisch gleichartig mit dem wissenschaftlichen, aber bezieht sich auf g r o ß e Dinge und
Angelegenheiten.", zeichnet er im Sommer 1872—Anfang 1873 auf (III 19 [83], 3 / 4 , 35).
Damit zeigt sich schon dem oberflächlichen Blick der Grund dafür, daß Nietzsche zufolge
das — auf größere Einheiten bezogene, in anderer Hinsicht gesprochen: in tiefere
Schichten hinabstoßende — philosophische Denken Bestätigung durch und Anknüpfung
an das — oberflächliche — wissenschaftliche Forschen suchen muß (für Heidegger der
Anmerkungen 100 bis 110 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 361

Grund dafür, daß Nietzsche „eine maßlose Verwirrung in das D e n k e n " trägt): In
Philosophie wie Wissenschaft wird nach Nietzsches Ansicht, wie es an anderer Stelle seiner
Notizen heißt (III 19 [76], 3/4, 32), „ g l e i c h g e d a c h t " — zumindest gilt diese Antwort
f ü r die Frühzeit seines Philosophierens. Unbeantwortet bleibt damit jedoch eine Frage, die
Heidegger bei seiner Kritik an Nietzsches naturwissenschaftlichen Beweisgängen gar nicht
in den Blick gerät und die sich als weitaus wesentlicher erweisen wird, weil sie diese Kritik
noch tiefer zu fassen vermag, die von Wolfgang Müller-Lauter — indes ebenfalls allein im
Hinblick auf die späten Texte Nietzsches — aufgeworfene Frage nämlich, wie sich
Nietzsches affirmative Verwendung von Begriffen des naturwissenschaftlich-technischen
Denkens „zu der von ihm" — auch in der Frühzeit — „immer wieder vorgetragenen
fundamentalen Kritik am mechanistischen Denken" (Wolfgang Müller-Lauter, Das
Willenswesen und der Übermensch, Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretatio-
nen, in: Nietzsche-Studien 10/11, 1981/82, S. 132—192, hier: S. 158) verhält. Wir werden
im folgenden dieser Frage anhand der frühen Texte nachgehen — in der H o f f n u n g , daß
der Aufgang einer Erscheinung den deutlichsten Hinweis auf ihren Wesensursprung gibt.
101
Schlechta/Anders, a. a. O., S. 64.
102
SG, 68 f. Vgl. dazu auch: W a W I, §4.
103
SG, 43.
104
W a W 1,591.
105
Kants Nachweis, daß die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, die dem räumlichen und
zeitlichen Schema der Empfindungen in der W a h r n e h m u n g zukommt, nicht durch die
bloße Anschauungstätigkeit, sondern bereits durch begriffliche Beziehungen, mit Kant
gesprochen, durch Regeln des Verstandes bestimmt ist, diesen „ N e r v [ . . . ] der gesamten
Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (Windelband, Die Geschichte der neueren
Philosophie, 2. Band, a. a. O., S. 78), kritisiert Schopenhauer, wie bereits gesehen, als
„heillose Vermischung [ . . . ] der anschaulichen Vorstellung mit der abstrakten zu einem
Mittelding von beiden, welches er als den Gegenstand der Erkenntnis durch den Verstand
und dessen Kategorien darstellt und diese Erkenntnis Erfahrung nennt" ( W a W I, 592 f.).
Sofern sein eigener philosophischer Ansatz auf diese Frage nach der Notwendigkeit
unserer W a h r n e h m u n g — in die sich dem Kantischen Kritizismus die alte Frage nach der
Realität verwandelt hat — eine Antwort zu geben beansprucht, nimmt er unseres Erachtens
wider Willen Kants Kopernikanische W e n d e zurück: Wenn überhaupt, so kann sie bei ihm
doch nur das Objekt der Empfindung, d. h. ein von der Vorstellung zu scheidender
Gegenstand, der als Ob-jekt doch auch kein Ding an sich mehr ist, gewährleisten. Eine
solche Scheidung von Vorstellung, Gegenstand der Vorstellung und Ding an sich hält er
selbst aber f ü r ungegründet — mit dem gleichen Recht, mit dem wir es f ü r ungegründet
halten, daß er diese Scheidung Kant vorhält (vgl. W a W I, 598 f.).
106 W a W i> 595.
107
Vgl. Janz I, 404.
1Q
8 SG, 69.
109 W a W I, 38.
110
So zeichnet Nietzsche etwa im Sommer 1872—Anfang 1873 auf (III 19 [210], 3 / 4 , 72):
„Zeit Raum und Kausalität sind nur E r k e n n t n i ß m e t a p h e r n , mit denen wir die Dinge
uns deuten." Wenn Nietzsche dem Terminus „ M e t a p h e r " zunächst auch nur den Sinn
„bildliche Ausdeutung" oder „anthropomorphisierende Übertragung" zueignet, so ist
damit letztendlich doch ein sprachliches Phänomen gemeint, insofern zumindest der
usuelle Charakter der Kategorie(n) aus einer sprachlichen Versteinerung erklärt werden
muß. Bereits der frühe Nietzsche denkt dabei so wie der späte, der sich in der
„ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , in dem bereits zitierten 2. Abschnitt von „ D i e ,Vernunft' in der
Philosophie" (6/3, 69), wie folgt hören läßt: Die Sinne „lügen überhaupt nicht. Was wir
aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der
Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer ... Die ,Vernunft' ist die
Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen." Die V e r n u n f t aber ist
„Sprach-Metaphysik" (ebd., S. 71).
362 Anmerkungen 111 bis 124 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

111
Winter 1872/73, III 23 [154], 3/4, 154.
112
W L 1, 3/2, 372.
113
III 19 [125], 3 / 4 , 47.
114
N u r beiläufig sei bemerkt, daß darin jene „archäologische" Auffassung von „ W a h r h e i t "
beschlossen liegt, die auch den Ansatz von Sigmund Freud kennzeichnet: „ W a h r " ist
danach nicht jene uns zunächst und zumeist zugängliche Schicht sekundärer
Bearbeitungen, sondern eine dahinter verborgen liegende, „ursprüngliche" Schicht. Wenn
Freud selbst sein T u n wiederholt mit dem des Archäologen vergleicht — ζ. B. in der
Abhandlung „ Z u r Ätiologie der Hysterie" aus dem Jahre 1896 (in: S. F., Studienausgabe
Band VI, Hysterie und Angst, F r a n k f u r t / M . 1976, S. 51—81, hier: S. 54 und S. 60), in dem
„Bruchstück einer Hysterie-Analyse" von 1905 (ebd., S. 83 bis 186, hier: S. 92) und in dem
1937 veröffentlichten Text „Konstruktionen in der Analyse" (in: ders., Studienausgabe
Ergänzungsband: Schriften zur Behandlungstechnik, F r a n k f u r t / M . 1975, S. 393 bis 406,
hier: S. 396—398) —, dann ist das nicht etwa nur der Spleen eines Sammlers von
Archäologica, vielmehr wird damit die Wissenschaft genannt, in der — man vergleiche
etwa den Fall Schliemann — eine Grundüberzeugung des 19. Jahrhunderts am reinsten
zum Ausdruck kommt: der Glaube, daß die Wahrheit (sprachlicher Zeichen) hinter einer
imaginären Schicht in der Tiefe des realen Zeitraumes verborgen sei. Abgesehen von
anderen geistesgeschichtlichen Beziehungen, zum Historismus etwa oder zum Sturm und
Drang — scheint sie uns nicht zuletzt aus jenem Ereignis hervorzugehen, das auch, wie wir
zeigen werden, Nietzsches denkerische Grundstellung prägt: der T o d Gottes. Seit diesem
Ereignis nämlich ist der Sinn der göttlichen Zeichen, der sprachlichen Grund-Zeichen (cf.
„ G o t t war das W o r t " , Joh. 1,1; „Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des
geysts stickt.", Martin Luther, An die Ratherren aller Städte deutschen Lands, daß sie
christliche Schulen aufrichten und halten sollen [1524], in: Weimarer Ausgabe, Bd. X V ,
Weimar 1899, S. 9—53, hier: S. 38), ein abwesender, können sie nicht mehr als reale
Präsentation eines Imaginären, sondern nur noch — siehe Schliemann — als imaginäre
Vergegenwärtigung eines längst vergangenen Realen gelesen werden. Letztlich aber heißt
das, daß die sprachlichen Zeichen überhaupt die Kraft unmittelbarer Präsentation verloren
haben, siehe Kleist und Hölderlin, siehe aber auch, wenngleich auf niederem Niveau,
Freud, f ü r den das Ereignis des Todes Gottes bedeutet, daß Gott nunmehr unbewußt ist.
(Laut Jacques Lacans Auslegung von Freuds Mythos der Vatertötung, womit die Kultur
begründet wird [in: J. L., Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Buch X I des Seminars
von J. L., übers, v. Norbert Haas, Ölten und Freiburg im Breisgau 1978, S. 65], „wäre die
einzige zutreffende Formel f ü r den Atheismus nicht: Gott ist tot — indem er den Ursprung
der Funktion des Vaters auf seine T ö t u n g gründet, schützt Freud den Vater — die einzige
zutreffende Formel f ü r den Atheismus wäre: daß Gott unbewußt ist") Bzw. daß nunmehr
das Unbewußte, der Un-Sinn, Gott ist. Vgl. dazu Nietzsches Aphorismus „Historia in
nuce" in V M 22, 4 / 3 , 24: ,, ,im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn w a r , bei Gott!
und Gott (göttlich) war der U n s i n n . ' " Bei Mallarme schließlich radikalisiert sich diese
Absenz des Sinnes dahingehend, daß sprachliche Zeichen Nichts — nur sich selbst
bezeichnen.
115
W a W I, 40: „Im bloßen Raum wäre die Welt starr und unbeweglich: kein Nacheinander,
keine Veränderung, kein Wirken".
116
Ebd., S. 41.
117
Ebd., S. 40 f.
118 GT, Versuch einer Selbstkritik 3, 3/1, 9.
119
P H G 5, 3/2, 317.
>20 P H G 12, 3/2, 343.
121
Frühjahr 1873, III 26 [11], 3 / 4 , 176 f.
122
Ein Einwand gegen Schopenhauer, der sich schon in Nietzsches früher Auseinanderset-
zung mit dessen H a u p t w e r k findet, s. Anm. 10.
123
Schlechta/Anders, a . a . O . , S. 148.
124
Ebd., S. 119.
Anmerkungen 125 bis 127 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 363

Vgl. ζ. B. Mai—Juli 1885, VII 35 [56] und [61], 7 / 3 , 259 f.


Der Satz der Identität hat f ü r Spir nicht nur einen logischen, sondern auch einen
ontologischen Status: „An sich in seinem eigenen Wesen ist ein jedes reale Objekt mit sich
selbst identisch und unbedingt." (African Spir, Denken und Wirklichkeit, Bd. 1, Leipzig
1873, S. 257) Was insofern eine apriorische Aussage sein soll, als kein Gegenstand der
Erfahrung weder mit sich vollkommen identisch noch unbedingt sei.
Die weiteren Hauptfolgerungen sind:
2. Das allgemeine Gesetz der Veränderungen ist der Satz der Kausalität, ein aus dem
Satz der Identität und den Daten der Erfahrung gewonnener synthetischer Satz.
3. Es sind zu unterscheiden die „ w a h r e " , mit dem eigentlichen, unbedingten Wesen der
Dinge zusammenfallende Substanz und die „empirisch erkennbaren" Substanzen unserer
„Körper"-Welt.
4. Das Verhältnis der Welt unserer Erfahrung zu dem wahren Wesen der Dinge ist
weder erkennbar, noch kann die gegebene Wirklichkeit aus dem Unbedingten abgeleitet
werden, weil dieses als ein Unbedingtes auch als ein Unbedingendes gedacht werden muß.
Zwar distanziert sich Spir mit dieser letzten Hauptfolgerung, die von Nietzsche
mehrfach, z.B. in der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge" (3/2, 378: „ D a s W o r t
Erscheinung enthält viele Verführungen, weshalb ich es möglichst vermeide: denn es ist
nicht wahr, dass das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint.") und in MA 16,
4 / 2 , 34 ff. aufgegriffen worden ist, von allen metaphysischen Bestimmungsversuchen, doch
ist er in dieser Zurückweisung weniger radikal als Nietzsche: Hebt sie auf der einen Seite
dessen Kritik an Schopenhauer, daß dieser die Welt aus dem vom Gesetz der Kausalität
entbundenen Willen eben nach diesem Gesetz hervorgehen läßt, ins Grundsätzliche, so
bleibt sie doch auf der anderen Seite hinter Nietzsches, von Lange überkommenem
Gedanken zurück, daß bereits der Begriff eines „wahren Wesens der Dinge", d. h. f ü r
Nietzsche: eines unserer Welt der Erscheinung und des Werdens entgegengesetzten
(absoluten) Seins, nichts ist „als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation
bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung
irgend eine Bedeutung hat." Indes führt diese Erkenntnis erst spät, im August-September
1885, zu einer expliziten Kritik an Spir (VII 40 [12], 7 / 3 , 365). Im Anschluß an ein
Spir-Zitat („ .Logische Gesetze' bei Spir I p. 76 definirt als allgemeine Principien von
Affirmationen über Gegenstände d. h. eine innere N o t w e n d i g k e i t , etwas von
Gegenständen zu glauben'.") bemerkt Nietzsche: „Meine Grundvorstellungen: ,das
Unbedingte' ist eine regulative Fiction, der keine Existenz zugeschrieben werden darf, die
Existenz gehört nicht zu den nothwendigen Eigenschaften des Unbedingten. Ebenso ,das
Sein', die .Substanz' — alles Dinge, die nicht aus der Erfahrung geschöpft sein s o l l t e n ,
aber thatsächlich durch eine i r r t h ü m l i c h e A u s l e g u n g d e r E r f a h r u n g a u s i h r
g e w o n n e n s i n d . " W e n n er dann des weiteren gegen Spir bemerkt (VII 40 [41], 7 / 3 ,
382): „Es giebt keine unmittelbaren Empfindungen", so ist auch diese Kritik schon älteren
Datums. Im Frühling—Sommer 1877 schreibt Nietzsche (IV 22 [113], 4 / 2 , 496):
„Bewusstes Empfinden ist Empfindung der Empfindung, ebenso bewusstes Urtheilen
enthält das Urtheil dass geurtheilt wird. D e r Intellect ohne diese Verdoppelung ist uns
unbekannt, natürlich. Aber wir können seine Thätigkeit, als die viel reichere, aufzeigen. (Es
ergiebt sich, dass ,Empfindung' in dem ersten Stadium empfindungslos ist. Erst der
Verdoppelung kommt der N a m e zu. Bei der Verdoppelung ist das Gedächtniss wirksam.)
Fühlen ohne dass es durch das Gehirn gegangen ist: was ist das? — Lust und Schmerz
reichen nur so weit als es Gehirn giebt." Und etwa zur gleichen Zeit, Ende 1876—Sommer
1877, da Nietzsche sich entschieden einer antimetaphysisch-genealogischen Betrachtungs-
weise der Phänomene verschreibt, spricht er in einer gegen Schopenhauer gerichteten
Aufzeichnung (IV 23 [80], 4 / 2 , 527) den ζ. B. als Lust, Schmerz oder Begehren bestimmten
Empfindungen eine vom historischen Wandel unberührt gebliebene Ursprünglichkeit ab,
seien sie doch geprägt von der Geschichte des Intellektes oder Geistes: „was einer ζ. B. bei
der Liebe empfindet, ist das Ergebniß alles Nachdenkens darüber, aller je damit
verbundenen Metaphysik, aller verwandten m i t e r k l i n g e n d e n N a c h b a r s t i m m u n -
364 Anmerkungen 127 bis 142 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

g e n . " (Zur Frage unmittelbarer Gewißheiten vgl. des weiteren Anm. 190.) — Während
sich Spir mit der Annahme eines solchen wahren Wesens der Dinge in Nietzsches Augen
gleich Kant als Metaphysiker erweist, sieht sich Nietzsche selbst, wie erwähnt, genötigt,
von der Verwerfung des Dinges an sich zu derjenigen des überlieferten Begriffes der
Wahrheit fortzuschreiten, insofern dieser, nach seinem auf absolute Wahrheit bezogenen
Verständnis, ein solches wahres Wesen der Dinge voraussetzt — das W o r t auch im
transitiven Sinne verstanden: Uberwindung der Metaphysik bedeutet f ü r Nietzsche nicht
zuletzt die Anerkennung, daß jedwede „absolute" Wahrheit von uns als eine solche
vorausgesetzt wird, daß sie somit von uns entworfene Wahrheit f ü r uns und derweise, was
der phänomenale Blick bestätigt, der historischen Dimension, dem Werden unterworfen ist
(s. dazu beispielsweise MA 16, 4 / 2 , 32 ff. sowie die eben zitierte Aufzeichnung IV 23 [80],
4 / 2 , 527). Das gilt indes, wie Nietzsche erkennt, nicht zuletzt auch f ü r das, was unter
„ W a h r h e i t " selbst zu verstehen ist — weswegen sich die „Bestimmung" dessen, was
„ W a h r h e i t " ist, daran ausrichten muß, daß sie selbst wird, daß sie ein Geschehen, ein
Prozeß ist.
128
Das eben belegt, wie Anni Anders (Schlechta/Anders, a. a. O., S. 121) zu Recht bemerkt
hat, u. a. die Tatsache, daß Nietzsche „in der ,Philosophie im tragischen Zeitalter der
Griechen' ein ausführliches Zitat aus Spirs ,Denken und Wirklichkeit' (S. 264) [bringt], das
die Realität der Sukzession der Vorstellungen und damit die Realität der Zeit, gegen
Parmenides (Spir führt den Beweis gegen Kant) zu beweisen sucht" (vgl. P H G 15, 3 / 2 ,
351).
129
W a W I, 166. Vgl. auch ebd., S. 229 f.: „Was durch die notwendige Entwickelung in der
Zeit und das dadurch bedingte Zerfallen in einzelne Handlungen als empirischer
Charakter erkannt wird, ist, mit Abstraktion von dieser zeitlichen Form der Erscheinung,
der intelligible Charakter nach dem Ausdrucke Kants, der in der Nachweisung dieser
Unterscheidung und Darstellung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit,
d. h. eigentlich zwischen dem Willen als Ding an sich und seiner Erscheinung in der Zeit,
sein unsterbliches Verdienst besonders herrlich zeigt." Wie wir in Anm. 10 bereits
dargelegt haben, revidiert Schopenhauer im zweiten Teil seines Hauptwerkes schließlich
die in diesem Zitat sich aussprechende Ansicht, daß es möglich sei, von der Erkenntnisform
der Zeit zu abstrahieren und so zum Ding an sich in seiner Absolutheit vorzustoßen.
130
Siehe das Zitat in Anm. 129.
131
SG, 171. Nicht zu diesen Empfindungen rechnet Schopenhauer „die Affektionen der rein
objektiven Sinne, des Gesichts, Gehörs und Getastes, wiewohl auch nur, sofern diese
O r g a n e auf die ihnen besonders eigentümliche, spezifische, naturgemäße Weise affiziert
werden, welche eine so äußerst schwache Anregung der gesteigerten und spezifisch
modifizierten Sensibilität dieser Teile ist, daß sie nicht den Willen affiziert; sondern, durch
keine Anregung desselben gestört, nur dem Verstände die Data liefert, aus denen die
Anschauung w i r d " ( W a W I, 159). Sie sind darum ,,[u]nmittelbar als bloße Vorstellungen
zu betrachten" (ebd.).
>32 D W 4, 3/2, 64.
l» Vgl. den Brief an Rohde vom 11.11. 1869, I I / l , 72—74.
13t Sommer—Herbst 1873, III 29 [52], 3/4, 256—258, hier: S. 258: „Ekelhaftes Buch, eine
Schande f ü r die Zeit! Wie unendlich reiner, höher und sittlicher wirkt Schopenhauers
Pessimismus! Diese Hartmannsche Philosophie ist die F r a t z e d e s C h r i s t e n t h u m s ,
mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten T a g , ihrer Erlösung usw."
135 ΠΙ 7 [164], 3 / 3 , 210.
136
III 7 [165], 3 / 3 , 210.
137
III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 378 f.
138
Ebd., S. 379.
>39 Anfang 1871, III 10 [1], 3/3, 345—363, hier: S. 349.
140
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [132], 3 / 4 , 49.
141
W a W I, 240.
142 P H G 5, 3/2, 317.
Anmerkungen 143 bis 175 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 365

143
3 / 4 , 179, Hervorhebung von mir, T h . B.
1 44 Ebd.
Ebd.
i4<> Ebd.
>47 Ebd.
1 48 Ebd., S. 179 f.
149
Vgl. dazu, was Nietzsche im Frühjahr-Herbst 1881 aufzeichnet (V 11 [281], 5/2, 447):
„Erst das Nacheinander bringt die Ζ e i t Vorstellung hervor. Gesetzt, wir empfänden nicht
Ursachen und Wirkungen, sondern ein continuum, so glaubten wir nicht an die Zeit. Denn
die Bewegung des Werdens besteht n i c h t aus r u h e n d e n Punkten, aus gleichen
Ruhestrecken. ® Die äußere Peripherie eines Rades ist ebenso wie die innere Peripherie,
immer bewegt und, obschon langsamer, doch im Vergleich zur schneller bewegten inneren,
n i c h t r u h e n d . Z w i s c h e n langsamer und schneller Bewegung ist mit der ,Zeit' nicht zu
entscheiden. Im absoluten Werden kann die K r a f t nie ruhen, n i e U n k r a f t sein:,langsame
und schnelle Bewegung derselben' mißt sich n i c h t an einer Einheit, welche da fehlt. Ein
continuum von Kraft ist o h n e N a c h e i n a n d e r und o h n e N e b e n e i n a n d e r (auch
dies setzte wieder menschlichen Intellekt voraus und Lücken zwischen den Dingen). O h n e
Nacheinander und Nebeneinander giebt es f ü r u n s kein Werden, keine Vielheit — wir
k ö n n t e n nur behaupten, jenes continuum sei eins, ruhig, unwandelbar, kein Werden,
ohne Zeit und Raum. Aber das ist eben nur der menschliche G e g e n s a t z . "
150
P H G 5, 3 / 2 , 318, Hervorhebung von mir, T h . B.
'S' Ebd.
152
III 26 [12], 3 / 4 , 177—181, hier: S. 179.
'53 III 26 [11], 3 / 4 , 176 f., hier: S. 177.
154
Ebd., S. 176.
'55 Ebd.
Kr. d. r. V., A 42, Β 59.
157
P H G 11, 3/2, 340.
158
W L 1, 3 / 2 , 377.
159
III 19 [156], 3 / 4 , 56.
160
III 19 [146], 3 / 4 , 53.
161
III 19 [159], 3 / 4 , 57.
162
4 / 2 , 153 f., hier: S. 154.
163
III 19 [75], 3 / 4 , 31 f.
P H G 3, 3 / 2 , 307.
165
III 19 [76], 3 / 4 , 32.
166
P H G 3, 3 / 2 , 308.
167
Bereits der erste Satz der „Geburt der T r a g ö d i e " spricht implizit von der Intuition: „Wir
werden viel f ü r die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur
logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind,
dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des
D i o n y s i s c h e n gebunden ist" (3/1, 21; kursivierte Hervorhebung durch mich, Th. B.),
woraus zu schließen ist, daß diese philosophische Konzeption auf ebendiesem Wege
gewonnen worden ist. Unsere Auslegung dieser Schrift wird zeigen, daß sie selbst in
bestimmter Hinsicht nichts anderes versucht, als das Wesen dieses Denkens zu beschreiben.
168
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [80], 3 / 4 , 34 f., hier: S. 34.
ι*9 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [78], 3 / 4 , 33.
170
W a W II, 488.
171
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 28.
172
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [78], 3 / 4 , 33.
1 7 3 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [79], 3 / 4 , 33 f., hier: S. 33.
174
Wie Anm. 172.
175
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [217], 3 / 4 , 75: „Ähnliches mit Ähnlichem identificiren
366 Anmerkungen 175 bis 184 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

— irgend welche Ähnlichkeit an einem und einem andern Ding ausfindig machen ist der
Urprozeß."
1 7 6 W e r fühlte sich hier nicht entfernt an manche Ausführungen Heideggers erinnert? —

sowohl an solche wie die in Anm. 100 zitierten über das Verhältnis von Metaphysik und
Wissenschaft als auch an solche wie diese, die, eingedenk der ontologischen Differenz, das
Denken — in Anknüpfung zunächst an Kierkegaard — auf einen „ S p r u n g " (Martin
Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 5 1978, S. 95) verweisen, um das Geschick des
Seins anzudenken: „ D e r Sprung bringt das Denken ohne Brücke, d. h. ohne die Stetigkeit
eines Fortschreitens, in einen anderen Bereich und in eine andere Weise des Sagens."
(Ebd., S. 95) Das meint: Dieser Bereich des Seins ist aus demjenigen des Seienden nicht
ableit- oder beweisbar, wenn anders „beweisen heißt: Sätze über einen Sachverhalt aus
geeigneten Voraussetzungen durch Schlußketten herleiten" (Μ. H., Was heißt Denken?,
in: Vorträge und Aufsätze, Teil 2, Pfullingen 3 1967, S. 3 — 1 7 , hier: S. 8). Für den Bereich
des Seins aber gibt es keine derartigen ihm vorangehenden Voraussetzungen. So ist er
allein erfahrbar („Alles Denken muß [ . . . ] im Hinblick darauf, was es zu denken gibt, in
einer Erfahrung bewandert bleiben", Der Satz vom Grund, S. 119). D o c h anders als
Heidegger beharrt Nietzsche, wie gesehen, darauf, daß zwischen dem philosophischen und
dem wissenschaftlichen Denken kein wesensmäßiger, sprich: kein qualitativer, sondern nur
ein quantitativer Unterschied gemäß dem jeweiligen Grad an Schöpferkraft besteht: das
philosophische Denken ist, so werden wir sehen, in der Regel schöpferischer und d. h.
künstlerischer als das wissenschaftliche.
1 7 7 Man darf nicht sagen: Aus der Abstraktion in Konkretion überzuführen sucht, weil dies

bedeutete, daß der Satz ein empirischer, ein aus der Empirie abstrahierter Satz wäre.
1 7 8 So Schopenhauer in der Vorrede zu seiner Schrift „Uber den Willen in der N a t u r "

(a. a. O., S. 301): „ausgehend vom rein Empirischen, von den Bemerkungen unbefangener
den Faden ihrer Spezialwissenschaft verfolgender Naturforscher gelange ich hier
unmittelbar zum eigentlichen Kern meiner Metaphysik, weise die Berührungspunkte dieser
mit den Naturwissenschaften nach und liefere so gewissermaßen die Rechnungsprobe zu
meinem Fundamentaldogma, welches eben dadurch sowohl seine nähere und speziellere
Begründung erhält als auch deutlicher, faßlicher und genauer als irgendwo in das
Verständnis tritt."
> 79 W a W I, 63.
1 8 0 1/2 , 3 5 8 — 360, hier: S. 359 f.: „ W i r sind doch recht die Narren des Schicksals: noch vorige

W o c h e wollte ich Dir einmal schreiben und vorschlagen, gemeinsam Chemie zu studieren
und die Philologie dorthin zu werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-hausrath. Jetzt lockt
der Teufel ,Schicksal' mit einer philologischen Professur."
•si B A W 2, 5 4 — 5 9 .
1 8 2 Ebd., S. 55. — In Anm. 57 haben wir bereits auf die Meinung von J ö r g Salaquarda

hingewiesen, wonach diese Wandlung Nietzsches durch einen Brief Rohdes vom 4. 11.
1868 veranlaßt worden sein dürfte.
1 8 3 G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3 / 1 , 8. — Am 4. 8. 1871 antwortete Nietzsche Erwin

Rohde auf eine den Privatdruck „Sokrates und die griechische T r a g o e d i e " — eine
Vorstufe der „Geburt der Tragödie" — betreffende Bitte des Kieler Ordinarius für
klassische Philologie, O t t o Ribbeck: „Dein Ribbeck mit dem Wunsche nach Zeugniß und
Beweis hat mir Freude eigner Art gemacht, wie sollte denn wohl das Zeugniß ungefähr
lauten? Man bemüht sich der Entstehung der räthselhaftesten Dinge nahe zu kommen —
und jetzt verlangt der geehrte Leser, daß das ganze Problem durch ein Zeugniß abgethan
werde, wahrscheinlich aus dem Munde des Apollo selbst: oder würde eine Stelle bei
Athenaeus dieselben Dienste thun? Für gewisse Leute sogar noch bessere. Denn dem
wahrsagenden Apollo würde man jetzt, wie dem Ochsen der da drischet, das Maul
verbinden.—" ( I I / l , S . 2 1 5 . )
184 Nietzsche berichtet dort eingangs ( 4 / 3 , 3) von seinem Grundsatz, daß man nur von dem
reden solle, „was man ü b e r w u n d e n hat", demzufolge seine Schriften nur von seinen
Überwindungen reden würden. Für die 2. Unzeitgemäße Betrachtung „ V o m Nutzen und
Anmerkungen 184 bis 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 367

Nachtheil wissenschaftlichen Weltbetrachtung und -verhaltung bedacht wird, bedeute dies


aber (S. 4): „was ich gegen die ,historische Krankheit' gesagt habe, das sagte ich als Einer,
der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war,
fürderhin auf ,Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte."
185
Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, a. a. O., S. 239. Die Kontinuität betont auch Karl
Schlechta in: Schlechta/Anders, a. a. Ο., S. 7: „Der Bruch, der zwischen der ,ersten' und
,zweiten Periode' Nietzsches — d. h. zwischen der ,Geburt der Tragödie' und den vier
,Unzeitgemäßen Betrachtungen' einerseits und ,Menschliches, Allzumenschliches'
andererseits — liegt, erscheint [ . . . ] nur vom veröffentlichten Werk her als ein solcher."
Weil er anscheinend nur dieses kennt, gerät Fink diese Kontinuität nicht in den Blick, siehe
a. a. O., S. 42 ff. Nur darum kann er (S. 44) von einem zunächst unbegreiflichen „Wandel
in der Grundstellung Nietzsches" sprechen und fragen: „kann Nietzsche gleichsam
vergessen, was er in seiner Artisten = Metaphysik gedacht hat, und auf eine naive Stufe
zurücksinken? Keineswegs. Seine Aufklärung ist ja Kampf gegen seinen eigenen, vom
tragischen Griechentum, von Schopenhauer und Wagner bestimmten Ansatz eines hinter
den erscheinenden Dingen liegenden ,An sich', einer ,intelligiblen Welt'; er leugnet jetzt
die Unterscheidung zwischen dem Ur = Einen, dem Ding an sich, und der Erscheinung"
(S. 44 f.); aber er leugnet sie explizit bereits in jenem wiederholt zitierten Brief an Gersdorff
von Ende August 1866, und in der „Geburt der Tragödie" ist Nietzsches Grundstellung in
der Weise zwieschlächtig, daß der Text jene Position verdeckt in sich birgt, die Fink erst
den Texten der zweiten Phase zusprechen will — was man jedoch erst dann erkennt, wenn
man das Erstlingswerk im Kontext der Briefe und Fragmente liest.
186
MusA 1, 429.
187
Es zeigt sich damit, daß der Philosoph Nietzsche auch im Falle seiner grund-sätzlichen
Überlegungen in hohem Maße aus den Erfahrungen des Philologen Nietzsche geschöpft
hat. Besonders deutlich macht dies jener hoch bedeutsame Aphorismus 22 aus „Jenseits von
Gut und Böse", der bereits in Anm. 87 zitiert worden ist.
188
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [87], 8/1, 102. Vgl. dazu die Literaturangaben in
Anm. 71. Statt von einem reinen Werden spricht Nietzsche jetzt auch vom Chaos, das die
Welt „in Wahrheit" sei. Heidegger bemerkt dazu (Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 349):
„Diese Grundvorstellung vom Seienden im Ganzen als Chaos [ . . . ] hat eine zweifache
Bedeutung: einmal soll damit die Leitvorstellung des ständig Werdenden festgehalten
werden im Sinne der gewöhnlichen Vorstellung vom πάντα (bei, dem ewigen Fortfließen
der Dinge, eine Vorstellung, die auch Nietzsche mit der geläufigen Überlieferung
fälschlicherweise für eine solche Heraklits hielt; wir nennen sie richtigei pseudo-herakli-
tisch. Zum andern soll aber mit der Leitvorstellung ,Chaos' das ständig Werdende bei sich
selbst belassen und nicht als ein Vieles aus dem ,Einen' erst noch abgeleitet werden, mag
dieses Eine nun als Schöpfer oder Baumeister, als Geist oder als ein Grundstoff vorgestellt
sein. ,Chaos' ist darnach der Name für diejenige Vorstellung vom Seienden im Ganzen,
dergemäß dieses als notwendiges Werden mit einer Mannigfaltigkeit angesetzt wird, so
zwar, daß .Einheit' und ,Form' ursprünglich ausgeschlossen bleiben. Das Ausschließen
scheint zunächst die Hauptbestimmung der Chaos-Vorstellung zu sein, sofern es sich auf
alles erstrecken soll, was irgendwie ein Hineintragen menschlicher Art in das Weltganze
bei sich führt." Zugleich verrät dieser Begriff aber auch Nietzsches Herkommen vom
Kantischen Ansatz, der, worauf Heidegger ebenfalls hinweist (ebd., S. 564), vom
„,Gewühle der Empfindungen'" gesprochen hat, das der kategorischen Formung
vorausliegt: weiterer Beleg für unsere These, daß Nietzsche das reine Werden empirisch im
Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit erfährt.
189
Fink, Nietzsche, a . a . O . , S. 168.
190
6 / 2 , 48 — 50. Die hier zu bedenkende Passage lautet im Zusammenhang: „Auf welchen
Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn
ist die I r r t h ü m l i c h k e i t der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und
Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann: — wir finden Gründe dafür, die
uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ,Wesen der Dinge' verlocken
368 Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

möchten. [ . . . ] wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher
Philosophen, die ,scheinbare Welt' ganz abschaffen, nun, gesetzt, i h r könntet das, — so
bliebe mindestens dabei auch von eurer ,Wahrheit' nichts mehr übrig! Ja, was zwingt uns
überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr' und ,falsch'
giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und
dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, — verschiedene valeurs, um die Sprache
der Maler zu reden? W a r u m dürfte die Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t —, nicht eine
Fiktion sein?"
Daß er das in dieser Konzeption eine Lösung erheischende zentrale Problem
Nietzsches, keine von ihm allein als Wahrheit und Gewißheit angesehene unumstößliche
Wahrheit an sich erreichen zu können, nicht gesehen hat, zeigt Eugen Fink, wenn er
schreibt: „Seine [Nietzsches] Kritik trifft nicht überhaupt alle Erkenntnis, sondern nur die
Erkenntnis des Seienden, die empirische, vor allem aber die apriorische Erkenntnis, d. h. die
kategoriale Auslegung der Dingheit als solcher. Seine Intuition, der philosophische Blick
auf das Werden ist von dieser Kritik der Erkenntnis nicht betroffen; er ist vielmehr die
Voraussetzung, die diese Kritik erst möglich und auch gültig macht. M. a. W. erst unter der
Voraussetzung der Wahrheit seiner Intuition hat die Kritik der ontischen und kategorialen
Erkenntnis Sinn und Recht." (A. a. O., S. 165) Dieses Wahrheitsproblem verkennt Eugen
Fink zum einen darum, weil er augenscheinlich die Texte aus der Zeit der
Schopenhauer-Kritik nicht kennt, zum anderen aber darum, weil er — was vielleicht noch
wesentlicher ist — das Wahrheitsproblem im Hinblick auf seine eigene „Weltphilosophie"
interpretiert, wie die folgende Auslassung (ebd.) beweist: „Nietzsche selbst unterscheidet
nicht scharf genug zwischen der Wahrheit vom Werden und der Wahrheit vom Seienden.
Die erstere ist intuitiv, die zweite begrifflich; aber mit solcher Antithese ist das Wesentliche
noch nicht begriffen: die Wahrheit vom Werden ist eine Unverborgenheit der waltenden
Welt, die ihre seinlassende Bewegung als den Willen z u r Macht ausspielt, — und die
Wahrheit vom Seienden, das heißt: der Glaube an Fiktionen wie Substanz und Ich, ist ein
Offenstehen f ü r das Binnenweltliche, das das ,Werden' verstellt. D e r eigentliche
Unterschied ist also nicht der zwischen irgendeiner Anschauung und irgendwelchem
Begriff, sondern zwischen der Welt = Anschauung und dem kategorialen Begriff." (Später
werden wir auch aufzeigen — wenngleich nur am Rande, es ist dies kein Gegenstand
unserer Arbeit —, daß der Wille zur Macht, als den Nietzsche schließlich das Werden
interpretiert, eine Fiktionen begründende Fiktion ist, wie dies schon Karl-Heinz Dickopp
[a. a. O., S. 119], hellsichtiger als Fink, bemerkt hat: „ D e r Wille zur Macht darf kein Sein
haben im Sinne eines An-sich-seins. Er darf nicht unmittelbar Gewisses sein, was in einer
,Art I n t u i t i o n ' [ . · · ] gegeben ist. Er darf nur etwas notwendig Geglaubtes sein, dessen
Sein selbst ungewiß, mittelbar, funktional ist." D e r Ausdruck „eine Art Intuition" ist dabei
Zitat aus dem 16. Aphorismus von „Jenseits von Gut und Böse" [6/2, 23 f.], in dem sich
Nietzsche gegen „harmlose Selbst-Beobachter" wehrt, „welche glauben, dass es
.unmittelbare Gewissheiten' gebe, zum Beispiel ,ich denke', oder, wie es der Aberglaube
Schopenhauer's war, ,ich will': gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen
Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich', und weder von Seiten des Subjekts, noch
von Seiten des Objekts, eine Fälschung stattfände." [6/2, 23; vgl. zu dieser Frage der
unmittelbaren Gewißheiten auch die Anmerkungen 77 und 127, s. auch und vor allem die
Aufzeichnung von August-September 1885, VII 40 [25], 7 / 3 , 373], Die „Berufung auf eine
Art I n t u i t i o n der Erkenntniss" (6/2, 24) als Ermöglichungsgrund solcher
„unmittelbarer Gewissheiten" rechnet Nietzsche zu den „Vorurtheilen der Philosophen"
— so die Überschrift des Hauptstückes, zu dem jener Aphorismus gehört.)
Ähnliches wie f ü r Eugen Fink gilt auch f ü r Martin Heidegger, wenn er zwar mit Recht
darauf hinweist, daß bei Nietzsche die alten metaphysischen Bestimmungen des Wesens
der Wahrheit, „Anmessung und Entbergung, adaequatio und Αλήθεια" unerkannt
fortleben (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 318), dabei aber nicht ausdenkt, daß sie — gemäß
Nietzsches noch zu besprechendem Willen zur Umdrehung des Piatonismus — in ein in
sich gestaffeltes Schein-Gefüge eingeordnet werden: Der Mensch stellt die amorphe Flut
Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 369

des Werdens seiner Empfindung in der Zeit — das (sinnliche) Chaos, von dem die späteren
Nietzsche-Texte in A n k n ü p f u n g an Kants Rede vom „Gewühle der Empfindungen"
sprechen (siehe unten; vgl. dazu auch: Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, S. 562 ff.) — in
Formen vor, die er dann in die Unverborgenheit (άλήθεια) herstellt, um sich so an das
dergestalt hergestellte Vorgestellte anmessen, nach ihm richten (adaequatio) und sich
seiner versichern zu können. (Auch Heidegger hebt hervor, daß Wahrheit f ü r Nietzsche
das Wahre, d.i. „das in Wahrheit E r k a n n t e " [Bd. 1., S. 176], „was dem Wesen der
Wahrheit g e n ü g t " [ebd., S. 175], und nicht das Wesen des W a h r e n selbst ist: Wesenheiten
sind f ü r Nietzsche grobe Fiktionen.) Der menschliche Logos ent-deckt somit nichts als
seine eigenen Voraus-setzungen, schafft selber das, was er dann als vermeintliche Wahrheit
an sich erkennt, weswegen Nietzsche diese Wahrheiten als Illusionen bezeichnet: Der
Logos ist f ü r Nietzsche wesensmäßig nicht entdeckend, sondern verdeckend und die
Unverborgenheit darum Verborgenheit. Ebendas aber ist f ü r Heidegger von seinen — im
Hinblick auf Nietzsche, nicht aus Heideggers Selbstverständnis heraus gesprochen —
Voraus-setzungen her undenkbar. Metaphysik läßt sich einer seiner Nietzsche-Vorlesun-
gen zufolge bestimmen „als die in das W o r t des Denkens sich fügende Wahrheit über das
Seiende als solches im G a n z e n " (Bd. 2, S. 75), so daß Nietzsche als der in seinen Augen
letzte Metaphysiker mit seinen Konzeptionen des Willens zur Macht und der ewigen
Wiederkehr des Gleichen — in denen er, wie Heidegger einmal sagt (Bd. 2, S. 13), zum
einen neuzeitlich, zum anderen endgeschichtlich die Seiendheit des Seienden, bzw., wie
Heidegger ein andermal ausführt (Bd. 1, S. 425 und S. 464), zum einen existentia, zum
anderen essentia des Seins als Werden denkt — der Epoche der sich vollendenden
Metaphysik die Wahrheit über das Seiende im Ganzen sagen soll. Aber f ü r Nietzsche sind
weder der Wille zur Macht — er ist seinen Aussagen zufolge nichts als ein „bestimmter
N a m e f ü r diese Realität [ . . . ] , nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner
unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus" (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 ,
386), „das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen" (August—September 1885, VII 40
[61], 7 / 3 , 393), nämlich factum unseres Erkenntnisapparates und d. h. letztlich des Willens
zur Macht selber —, noch die Lehre der ewigen Wiederkunft — sie ist ein Mythos, dessen
,,[m]uthmaaßliche Folgen" Nietzsche zu bedenken sucht f ü r den Fall, daß er „ g e g l a u b t
w i r d " (Winter 1883—1884, VII 24 [4], 7 / 1 , 687) —, noch schließlich das Werden
Wahrheit: „ d e r Gegensatz dieser [vom Verstände aus dem undeutlichen und chaotischen
Material der Sinne zurechtgemachten] Phänomenal-Weit ist n i c h t ,die wahre Welt',
sondern die formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos, — also e i n e a n d e r e
A r t Phänomenal-Weit, eine f ü r uns .unerkennbare'." (Herbst 1887, VIII 9 [106], 8/2, 60)
Der Unterschied zwischen beiden Deutungen liegt aber darin beschlossen, daß Nietzsche
mit dem Begriff „ W a h r h e i t " dem Werden in der Zeit entrückte Wahrheit „an sich"
verbindet, die dem Menschen entgegen seiner traditionellen Annahme nicht zugänglich ist,
so daß der Philosoph Wahrheiten als Illusionen bezeichnen müsse, „von denen man
vergessen hat, dass sie welche sind" (WL 1, 3 / 2 , 374 f.), wohingegen Heidegger Wahrheit
als Wahrheit des Seins versteht, die der Mensch existierend zu übernehmen hat. Einerseits
verabschiedet er damit das f ü r Nietzsche im Gefolge Kants zentrale Problem der
Anthropomorphic aller Erkenntnisse („Die Vermenschung wird als Gefährdung der
Wahrheit um so wesenloser, je ursprünglicher der Mensch [ . . . ] das Da-sein als solches
erkennt und gründet.", Bd. 1, S. 381) — Heidegger deutet dieses Problem im Hinblick auf
die Geschichte des Seins als spezifisch neuzeitlich und rechnet es demzufolge „ z u m Wesen
der Endgeschichte der Metaphysik" (Bd. 1, S. 654) —, andererseits nimmt er damit
ausdrücklich die geschichtliche Dimension in den Begriff der Wahrheit auf, die Nietzsche
aus ihm verbannt hat („Die Metaphysik ist die Wahrheit des Seienden als eines solchen im
Ganzen. Die Wahrheit bringt das, was das Seiende ist (essentia, die Seiendheit), daß es und
wie es im Ganzen ist, in das Unverborgene der Ιδέα, der perceptio, des Vor-stellens, des
Bewußt-seins. Das Unverborgene aber wandelt sich selbst gemäß dem Sein des Seienden.
Die Wahrheit bestimmt sich als solche Unverborgenheit in ihrem Wesen, dem Entbergen,
aus dem von ihr zugelassenen Seienden selbst und prägt nach dem also bestimmten Sein die
370 Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

jeweilige Gestalt ihres Wesens. Die Wahrheit ist deshalb in ihrem eigenen Sein
geschichtlich.", Bd. 2, S. 257). Letzteres aber ist darauf zurückzuführen, daß das von
Heidegger gedachte Sein in keiner anderen Weise ist als in der seiner Geschichte („Die
Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses.", Bd. 2, S. 489), wohingegen Nietzsche
das wahrheitsmäßig auszusagende Sein „als etwas Stehendes, Unbewegtes, Starres,
Unlebendiges — als Gegensatz zum Werden [gilt]; Nietzsche hat überhaupt nie auch nur
einen Anlauf gemacht, die vulgäre Dichotomie zu überwinden und die Entgegensetzung
von Sein und Werden aus dem Seinsproblem selbst heraus zu denken", wie Eugen Fink
bemerkt (a. a. O., S. 41). Das bedeutet aber, das Sein im H o r i z o n t bzw. im Widerstreit zum
Nichts und nicht mehr, wie noch bei Nietzsche, im Gegensatz zum Werden zu denken:
„wir sind seit langem gewohnt, dem Werden das Sein entgegenzusetzen, gleich als ob
Werden ein Nichts sei und nicht auch in das Sein gehöre, das man seit langem nur als das
bloße Beharren versteht", bemerkt Heidegger in dem 1946 geschriebenen Aufsatz „ D e r
Spruch des Anaximander" (in: Μ. H., Holzwege, a. a. O., S. 317—368, hier: S. 338). Das
Nichts hält Nietzsche aber f ü r undenkbar (siehe Seite 32).
Die Crux der Heideggerschen Interpretation ist somit vor allem darin zu sehen, daß das
auslegende Denken die Nietzscheschen Grundbegriffe mit einem anderen Inhalt erfüllt,
ohne diese Differenz auszuweisen — Heidegger begnügt sich mit dem pauschalen
Hinweis, daß in seinem Text „Darstellung und Auslegung ineinandergearbeitet [sind], so
daß nicht überall und sogleich deutlich wird, was den Worten Nietzsches entnommen und
was dazugetan ist. Jede Auslegung muß freilich nicht nur dem Text die Sache entnehmen
können, sie muß, ohne darauf zu pochen, unvermerkt Eigenes aus ihrer Sache dazugeben
können. Die Beigabe ist dasjenige, was der Laie, gemessen an dem, was er ohne Auslegung
f ü r den Inhalt des Textes hält, notwendig als Hineindeuten und Willkür bemängelt."
(Bd. 2, S. 262 f.) (Hinter welcher Aussage offensichtlich ein bestimmtes Verständnis von
Hermeneutik steht, das Heidegger — wohl in A n k n ü p f u n g an seine Auslegung des
Heraklitischen πόλεμος-Begriffes (s. dazu: Μ. H., Die Selbstbehauptung der deutschen
Universität/Das Rektorat 1933/34, F r a n k f u r t / M a i n 1983, S. 29) — mit dem Terminus
„Aus-einander-setzung" zu fassen sucht und auf das wir in diesem Zusammenhang nicht
eingehen können; statt dessen verweisen wir f ü r erste Hinweise zu dieser Fragestellung auf
den Aufsatz von W o l f g a n g Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch,
a. a. O.)
Die Beigabe aber besteht darin, daß Heidegger Nietzsches Philosophie „im Bezirk der
einen E r f a h r u n g " auslegt, „aus der ,Sein und Zeit' gedacht ist" (Μ. H., Nietzsches W o r t
„ G o t t ist tot", in: ders., Holzwege, a . a . O . , S. 205—263, hier: S. 208), im Lichte von
Heideggers eigener, ,,vorausleuchtende[r] Idee" (Μ. H., Kant und das Problem der
Metaphysik, F r a n k f u r t / M a i n 2 1951, S. 193) mithin. Die daraus hervorgehende Deutung
Nietzsches als des letzten Metaphysikers muß zum einen in manchen Teilen schlichtweg
„unrichtig" genannt werden — so etwa, wenn sie Nietzsche einen Metaphysik-Begriff
unterstellt, dem dieser längst abgeschworen hatte: der Wille zur Macht ist kein
metaphysisches Prinzip (vgl. dazu: Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der
Gegensätze, a. a. O., besonders: S. 10—33, sowie: ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur
Macht, a. a. O . ; auf andere „Unrichtigkeiten" werden wir im folgenden eingehen) —, zum
anderen ist sie als einseitig zu betrachten — sie läßt der Deutung entgegenstehende Texte
unbeachtet und zwingt andere, sich der Auslegung nicht fügende, in ihr Schema —: In
letzterer Hinsicht ist Heideggers Auslegung unfruchtbar, dies nicht zuletzt auch im Sinne
seines eigenen Gedankens der Aus-einander-setzung, läßt er doch seine Position von
derjenigen Nietzsches nicht wahrhaft in Frage stellen. (Das von Heidegger selber
vorgebrachte, selbstzweiflerische W o r t von der „Verrechnung", das indes f ü r seine
Auslegung keine Konsequenz gezeitigt hat, scheint uns in diesem Zusammenhang nicht
unberechtigt zu sein; statt von „historischer" sollte man aber besser von „seinsgeschichtli-
cher V e r r e c h n u n g " sprechen: „ W e n n nun aber der hier versuchte Hinweis auf die
verborgene Einheit der Metaphysik Nietzsches ihr gleichwohl den N a m e n der Metaphysik
der unbedingten und vollendeten Subjektivität des Willens zur Macht gibt, ist dann nicht
Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 371

erzwungen, was Nietzsche vermieden hat: die von außen kommende, nur rückwärtsblik-
kende geschichtliche Einordnung, wenn nicht gar die stets verfängliche und leicht bösartige
historische Verrechnung? Und dies alles noch auf dem Grunde eines Begriffes der
Metaphysik, den Nietzsches Denken zwar erfüllt und bestätigt, aber nicht begründet und
nirgends entwirft!", Bd. 2, S. 329.)
D a ß eine solche Infragestellung der Heideggerschen Deutung gerade in dem einzigen
Punkt, den er selber f ü r wesentlich hält, in der Bestimmung der Metaphysik nämlich (s. das
folgende Zitat), möglich ist, hat bereits Eugen Fink in seinem Nietzsche-Buch deutlich
gemacht (a. a. O., S. 186—189; Heidegger selber scheint das anders empfunden zu haben,
schreibt er doch am 10.7. 1973 in einem Brief an Heinz Wenzel: „Die Kritik [an
Heideggers Nietzsche-Deutung] mag vieles in meinen Auslegungen als unrichtig und
,gewaltsam' feststellen; solange keine grundsätzliche und zugleich positive Auseinander-
setzung mit meinen Schriften zur Bestimmung der Metaphysik vorliegt, von w o aus meine
Darstellung Nietzsches geleitet wird, bewegt sich die ,Kritik' auf einer unzureichenden
Ebene. Für den Historiker sind vermutlich die Aussagen des Aristoteles über Piaton und die
vorplatonischen Denker durchgängig falsch und gewaltsam." [Aus dem Archiv des
Verlages Walter de Gruyter. Briefe U r k u n d e n Dokumente, Berlin 1980, S. 101 f.; hier
zitiert nach: Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a . a . O . , S. 137,
Anm. 14]. Wir meinen jedoch, daß Fink in dieser Frage noch nicht tief genug gedacht hat.
Zunächst aber ist in Heideggers Deutung die Verwischung der Unterschiede zwischen
seiner Position und derjenigen Nietzsches problematisch, kann es doch dem Leser, wie
Karl Löwith bemerkt hat (K. L., Heideggers Auslegung des Ungesagten in Nietzsches
W o r t ,Gott ist tot', in: ders., Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Frankfurt a. M. 2 1960,
S. 72—105), einmal so ergehen, daß er Heideggers Gedanken „im Gewände von
Nietzsche" entdeckt, und ein andermal so, daß ihm Heidegger „zu einem verspäteten
Jünger Nietzsches" wird (ebd., S. 121, 119). Auf fallen besagte Differenzen vor allem an
Stellen wie den folgenden, bei denen sich aus dem unvermittelten Gebrauch der
gleichlautenden, aber mit verschiedenem Inhalt erfüllten Grundbegriffe zunächst einmal
ein Widersinn ergibt. So bemerkt Heidegger etwa über das Ende des II. Teils von „Also
sprach Zarathustra" gesichtete Rätsel der ewigen Wiederkunft im Hinblick auf seinen
Wahrheits-Begriff: „ D a s Erraten dieses Rätsels muß sich hinauswagen ins O f f e n e des
Verborgenen überhaupt, in das Unbetretene und Unbefahrene, in die Unverborgenheit
(άλήθεια) dieses Verborgensten, in die Wahrheit. Dieses Raten ist ein Wagen der
Wahrheit des Seienden im Ganzen." (Bd. 1, S. 290), um daran anknüpfend eine
Nietzsche-Stelle aus dem Umkreis der „ M o r g e n r ö t h e " (siehe: Frühjahr 1880, V 3 [19],
5 / 1 , 382) zu zitieren, ohne daß er sich durch den Widerspruch beunruhigt zeigte: „ D a s
N e u e an unserer jetzigen Stellung zur Philosophie ist eine Überzeugung, die noch kein
Zeitalter hatte: daß wir die Wahrheit nicht haben. Alle früheren Menschen .hatten die
Wahrheit': selbst die Skeptiker."
Es ergibt sich der Eindruck, daß bei Heidegger die Nietzsche treibende quälende
U n r u h e des Fragens nach der Wahrheit darum nicht aufkommt, weil er die Wahrheit des
Seins „ h a t " — und dies auch noch in ihrem Entzug, insofern er doch diesen dem Wesen
der Wahrheit selbst zugehörig denken kann. Seine Beunruhigung ist anderer Art, sie äußert
sich als — allen Holzwegen zum T r o t z (vielleicht noch nicht einmal „ z u m T r o t z " : laut
Heidegger führen auch sie letztlich noch zu den Quellen, siehe dazu: C. F. v. Weizsäcker,
Erinnerungen an Martin Heidegger, a. a. O., S. 303) — beständiges Fortschreiten auf
seinem einen W e g des Fragens, der als solcher bereits die Findung dessen ist, was er sucht:
die Entbergung des Seins (nicht zuletzt darum kann er sagen: „das Fragen ist die
Frömmigkeit des Denkens."; Μ. H., Die Frage nach der Technik, in: Vorträge und
Aufsätze, Teil 1, Pfullingen 3 1967, S. 5—36, hier: S. 36; vgl. dazu auch die spätere
Selbstdeutung in: Μ. H., Das Wesen der Sprache, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen
5
1975, S. 157—216, hier: S. 175). Darum bleibt ihm letztendlich auch das Nietzschesche
Wahrheits-Problem, das doch im Zentrum von dessen denkerischer Existenz steht,
verschlossen. Dies möge die nachfolgende Stelle erneut verdeutlichen. Mit ihr schlagen wir
372 Anmerkung 190 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

zugleich den Bogen zurück zu den Erörterungen über Nietzsches Konzeption der
Wahrheit als eines in sich gestaffelten Schein-Gefüges.
Im Hinblick auf eine späte Nietzsche-Aufzeichnung (April—Juni 1885, VII 34 [253],
7 / 3 , 226: „ W a h r h e i t i s t d i e A r t v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art
von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth f ü r das Leben entscheidet zuletzt.")
bemerkt Heidegger mit Recht (Bd. 1, S. 247): „ D i e menschliche Logik dient dem
Gleichmachen und Beständig- und Ubersehbarmachen des Begegnenden. Das Sein, das
Wahre, was sie ,fest-stellt' (befestigt), ist nur Schein; aber ein Schein, eine Scheinbarkeit,
die wesensnotwendig zum Lebewesen als solchem, d. h. zum Sich-durch- und Fest-setzen
im ständigen Wechsel gehören." Im Hinblick auf sein eigenes Denken der Wahrheit als
ά λ ή θ ε ΐ α knüpft er daran jedoch die Bemerkung: „Aus tieferer Besinnung wird aber klar,
daß aller Anschein und alle Scheinbarkeit nur möglich ist, wenn überhaupt sich etwas zeigt
und zum Vorschein kommt. Was ein solches Erscheinen im voraus ermöglicht, ist das
Perspektivische selbst. Dieses ist das eigentliche Scheinen, zum sich Zeigen-Bringen." Aber
unmittelbar darauf, in A n k n ü p f u n g an Nietzsches Satz: „ D e r Wahrhaftige endet damit, zu
begreifen, daß er immer lügt." (Sommer—Herbst 1882, VII 3 [1], 7 / 1 , 74), muß er
bemerken: „Nietzsche bestimmt sogar jenes Scheinen, das Perspektivische, zuweilen als
Schein im Sinne der Illusion und der Täuschung und setzt diese der Wahrheit, die im
Grunde auch Irrtum ist, als dem ,Sein' gegenüber." (Ebd., S. 248; Hervorhebung von mir,
T h . B.) Heidegger scheint aus seinem Ansatz heraus nicht verstehen zu können, daß f ü r
Nietzsche das Perspektivische, als welches sich das Werden vollzieht, die Vorbedingung
dafür ist, daß alles, was ist, Schein ist, eingeschlossen es selbst, wenngleich dieses in einem
weniger hohen Maße als das von ihm und in ihm Gesetzte: Die Entbergung ist f ü r
Nietzsche, noch einmal sei es gesagt, eine in keiner Weise aufzuhebende Verbergung.
Heidegger muß damit eine wesentliche Dimension des Ereignisses übergehen, dem auch er
eine zentrale Bedeutung f ü r Nietzsches Denken zuspricht, des Todes Gottes nämlich (vgl.
dazu: Μ. H., Nietzsches W o r t „ G o t t ist tot", a . a . O . , w o diese Folge jenes Ereignisses
keine Beachtung findet).
An einigen wenigen Stellen jedoch deutet Heidegger diese Dimension zumindest an.
Etwa dort, wo er, eine Aufzeichnung von Juni—Juli 1885 (VII 38 [4], 7 / 3 , 326:
„ , W a h r h e i t ' : das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht nothwendig einen
Gegensatz zum Irrthum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung
verschiedener Irrthümer zu einander [ . . . ]") paraphrasierend, bemerkt: „Alle Wahrheiten
und Arten von Wahrheiten sind nur verschiedene Arten und Stufen von ,Irrtümern' [ . . . ] .
Dann gibt es in der T a t keine Wahrheiten und keine Wahrheit. Alles ist nur Schein und ein
verschiedenartiges und verschiedenstufiges Scheinen." (Bd. 1, S. 622) Und er nennt den
„hier sich ankündigendefn] ,Nihilismus'" „das Beziehen einer äußersten Stellung, in der
die metaphysisch begriffene ,Wahrheit' ihr letztmögliches Wesen erreicht". Schon früher
(ebd., S. 538) hat er gleichsinnig zu Nietzsches Satz: „Also daß etwas f ü r wahr gehalten
werden m u ß , ist nothwendig; n i c h t , daß etwas w a h r i s t . " (Herbst 1887, VIII 9 [38],
8/2, 16) ausgeführt: „darin spricht eine Tiefe des Abgrundes des neuzeitlichen Wesens des
Seins" und sogleich, darüber hinausgehend, angefügt: „es muß auf Verborgenes
hinausgedacht werden: darauf, daß nicht nur irgendeine Wahrheit, sondern daß das Wesen
der Wahrheit erschüttert ist und eine ursprünglichere Gründung ihres Wesens vom
Menschen übernommen und geleistet werden muß". Heidegger hat diese Gründung
geleistet und so die Erschütterung überwunden. Damit aber geht ihm der Zugang zum
vollen Verständnis von Nietzsches wichtigsten Konzeptionen verloren. So kann er
beispielsweise nicht mehr sehen, daß der „Wille zur Macht" ein N a m e f ü r das sich selbst
auslegende Verbergungsgeschehen ist, als das Nietzsche das Auslegungsgeschehen der
Welt denkt, und in dieser Relativität zu sich selbst bloße Interpretation (siehe dazu im
folgenden) — darin von allen vorgängigen metaphysischen Prinzipien geschieden, denen
Heidegger sie fälschlicherweise zuordnet. V o r allem aber vermag Heidegger in der aus
Nietzsches paradoxaler Auflösung des überlieferten Wahrheitsgefüges („Wahrheiten sind
Illusionen") erwachsenden „ C h a o t i k " des Denkens nichts Positives zu erkennen: „Wird
Anmerkungen 190 bis 192 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 373

dann nicht Nietzsches eigene Auslegung der Wahrheit als Schein zu einem Schein? Sie
wird noch nicht einmal zu einem Schein: Nietzsches Auslegung der ,Wahrheit' als Irrtum
unter Berufung auf das Wesen der Wahrheit als Ubereinstimmung mit dem Wirklichen
wird zur Verkehrung des eigenen Denkens und dadurch zu dessen Auflösung." (Bd. 2,
S. 185) Er kommt nicht auf den Gedanken, daß Nietzsche vielleicht gerade dadurch dem
fest-stellenden Charakter des Denkens — auch Heidegger spricht davon, daß das „Denken
als Vorstellung von Beziehung und Zusammengehörigkeit immer ein Beständiges hinstellt
und meint" (Bd. 1, S. 391) — zu entgehen suchen könnte, um sich so dem anzumessen, von
dem er eine Intuition hat, dem Werden nämlich (siehe Seite 117 f. unserer Ausführungen).
D a ß Heidegger dieser Gedanke nicht kommt, ist um so verwunderlicher, als er selber als
Folge dieses Denkens „den Einsturz von Sein und W a h r h e i t " (Bd. 2, S. 186) konstatiert.
Sollte einem solchen Verständnis vielleicht die von Nietzsche als scheinhafte
Denknotwendigkeit durchschaute Aufprägung des Seinscharakters der Beständigkeit auf
das Werden, d. h. die Einbeziehung des Werdens in das Sein, von der auch Fink gesprochen
hat, im Wege gestanden haben (Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [54], 8 / 1 , 320: „ D e m
Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r
M a c h t . / / Z w i e f a c h e F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine
Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen usw.")? — jedenfalls
behauptet Heidegger mehrfach, daß Nietzsche das Sein als Werden gedacht habe. — Wir
werden auf diese und auf andere Fragen von Heideggers Nietzsche-Interpretationen
zurückkommen. (Die Wandlungen von Heideggers Nietzsche-Auslegungen behandelt:
Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Ubermensch, a . a . O . ; siehe auch: ders., Der
Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später Nietzsche-Interpreta-
tion, in: Philosophie der intellektuellen Redlichkeit, Festschrift f ü r Gerd-Günther Grau,
hrsg. v. Friedrich Wilhelm Korff, Stuttgart 1981, S. 92-113.)
Der Terminus „notwendig Geglaubtes" ist von Karl-Heinz Dickopp übernommen (siehe
das Zitat in Anm. 190). — Daß diese Auffassung von Wahrheit auch im Spätwerk noch
Gültigkeit hat, belegt schlagend beispielsweise die nachfolgende Aufzeichnung zur Lehre
der ewigen Wiederkunft, Nietzsches letzter Deutung des Werdens der Welt (Winter
1883—1884, VII 24 [4], 7 / 1 , 687): „ D i e e w i g e W i e d e r k u n f t . / / E i n B u c h d e r
P r o p h e z e i u n g . / / I . Darstellung der Lehre und ihrer t h e o r e t i s c h e n Voraussetzun-
gen und Folgen./2. Beweis der Lehre./3. Muthmaaßliche Folgen davon, daß sie g e g l a u b t
wird (sie bringt Alles zum A u f b r e c h e n ) " . — Salaquarda (Nietzsche und Lange,
a. a. O., S. 249) meint dazu: „Die Interpretation', die Nietzsche in der ,Wiederkunftsleh-
re' anbietet, ist zweifellos nicht nur eine wissenschaftliche Theorie im engeren Sinn von
exakter Wissenschaft, aber sie will sich doch vor dieser ausweisen können. Im Sinne
Nietzsches kann sie nur aufrecht erhalten werden, wenn sie gesicherten Ergebnissen der
Forschung nicht widerspricht." Wir haben dem hinzuzufügen, daß ein zureichendes
Verständnis dieser Auffassung Nietzsches erst dann vorliegt, wenn Philosophie als
Widerstreit — das W o r t verstanden im Sinne des Heraklitischen π ό λ ε μ ο ς — von Kunst
und Wissenschaft gedacht wird. — Heidegger sieht den Glaubenscharakter des Gedankens
der ewigen Wiederkunft entspringen „aus seinem Charakter als Denken, sofern Denken
als Vorstellen von Beziehung und Zusammengehörigkeit immer ein Beständiges hinstellt
und meint." (Nietzsche, a. a. O., Bd. 1, S. 391) „ D e r Gedanke dtr ewigen Wiederkunft des
Gleichen macht fest, wie das Weltwesen als Chaos der Notwendigkeit ständigen Werdens
ist." (Ebd., S. 392) Aber nicht erst deswegen, weil dieser Gedanke als Gedanke das
Zu-Denkende, das Werden, verfehlt, ist er nur ein zu glaubender, sondern bereits darum,
weil das Zu-Denkende selbst nur den Charakter tiefster Scheinbarkeit trägt, mithin darum,
weil das W e r d e n anthropomorph ist.
September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115; eine Aufzeichnung, in
der sich Nietzsche eng an Schopenhauer anzulehnen sucht: „ [ • · . ] der Wille handelt — in
unerhörter Vielheit f ü r die Einheit. Sein Erkenntnißorgan und das menschliche fallen
keineswegs zusammen: dieser Glaube ist ein naiver Anthropomorphismus. [ . . . ] Unser
Intellekt führt uns n i e weiter als bis zum bewußten Erkennen: insofern wir aber noch
374 Anmerkungen 192 bis 203 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

intellektueller Instinkt sind, können wir noch etwas über den Urintellekt zu sagen wagen.
Über diesen trägt kein Pfeil hinaus."
193
So Nietzsche über den Willen zur Macht, als den er später das Werden denkt (siehe
Anm. 190).
194
Ein besonders anschauliches, wenngleich spätes Beispiel ist der in Anm. 87 angeführte
Aph. 22 aus „Jenseits von Gut und Böse".
195
Die Vorlage dieses im Sommer-Semester 1872 zum ersten Male gehaltenen, dann im
nächsten Sommer-Semester und noch einmal im Sommer-Semester 1876 wiederholten
Kollegs ist in Auswahl in GA 19, 125—234, sowie in MusA 4, 247—363, enthalten. Vgl.
dazu die Ausführungen bei Schlechta/Anders, a. a. Ο., S. 60 ff.
196
GA 19, 173 f.
197
Schlechta/Anders, a. a. O., S. 64. D a ß diese „Übersetzung" nicht falsch ist, belegen im
übrigen die Aufzeichnungen, mit denen Nietzsche später, terminologisch immer noch
zwischen „ K r a f t " und „Energie" schwankend, die Wiederkunftslehre in A n k n ü p f u n g an
Robert Mayers Satz von der Erhaltung der Energie wissenschaftlich zu beweisen versucht:
„ D e r Satz vom Bestehen der Energie fordert die e w i g e W i e d e r k e h r . " , heißt es im
Sommer 1886—Herbst 1887 ( V I I I 5 [54], 8 / 1 , 2 0 9 ) . Und bereits in der Zeit Mai—Juli 1885
zeichnet er auf: „ D a ß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht
möglich ist. [ . . . ] / / D a ß ,Kraft' und ,Ruhe' ,Sich-gleich-bleiben' sich widerstreiten. Das
Maaß der Kraft als Größe als fest, ihr Wesen aber flüssig, spannend, zwingend, "
Unmittelbar darauf bemerkt er: „ .Zeitlos' abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick
der Kraft ist die absolute Bedingtheit einer neuen Vertheilung aller ihrer Kräfte gegeben:
sie kann nicht still stehn. .Veränderung' gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit
[ . . . ] " (VII 35 [54], 7 / 3 , 258 f.) Zu diesen Ausführungen ist zudem anzumerken, daß
letztere unsere Überlegungen zur Temporalität, die wir anläßlich der Interpretation der
Zeitatomenlehre angestellt haben, stützt, beide aber als als Vorstufen jenes Aphorismus
Nietzsches zu sehen sind, der, so Eugen Fink ( a . a . O . , S. 178), „auf eine erstaunliche
Weise alle Gedankenelemente seiner Weltvision versammelt", und der mit den W o r t e n
anhebt: „ U n d wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel
zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne
Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern
nur verwandelt, als Ganzes unveränderlich groß, ein Haushalt ohne Ausgaben und
Einbußen, aber ebenso ohne Zuwachs, ohne Einnahmen" (Juni—Juli 1885, VII 38 [12],
7 / 3 , 338 f.; hier: S. 338). — Außer Mayer haben noch, wie schon früher erwähnt,
Schopenhauer, Boscovich und Zöllner sowie Lange und Johannes Gustav Vogt auf
Nietzsches Kraftbegriff Einfluß genommen. Siehe hierzu u. a.: Oskar Becker, Nietzsches
Beweise f ü r seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, a. a. O . ; Alwin Mittasch, Friedrich
Nietzsches Verhältnis zu Robert Mayer, in: Blätter f ü r deutsche Philosophie 16, 1942,
S. 139—161; ders., Der Kraftbegriff bei Leibniz, Robert Mayer, Nietzsche, in: Proteus 3,
1942, S. 69—76; Alfred Fouillee, Note Sur Nietzsche et Lange. „Le Retour Eternel", in:
Revue de philosophie 67, 1909, S. 519—525; Friedhelm Decher, Wille zum Leben, a. a. O.,
S. 144—153; Martin Bauer, Zur Genealogie von Nietzsches Kraftbegriff, Nietzsches
Auseinandersetzung mit J. G. Vogt, in: Nietzsche-Studien 13/1984, S. 211—227.
198
Die Passage erinnert an die Worte, die Nietzsche in seiner Schrift über die Vorplatoniker
Heraklit in den Mund legt: „ ,Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In
eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im
Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht N a m e n der Dinge als ob
sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist
nicht derselbe als bei dem ersten M a l e . ' " ( P H G 5, 3/2, 317).
199
GA 19, 174.
20° Ebd., S. 175 f.
201
P H G 10, 3 / 2 , 337.
202
A . a . O . , S. 168.
203 Vgl Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., §63.
Anmerkungen 204 bis 219 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 375

204
GA 19, 176.
205 Ebd.
206 Vg] a u c h die folgende Aufzeichnung vom Sommer 1872 — Anfang 1873: „Alles Erkennen
ist ein Wiederspiegeln in ganz bestimmten Formen, die von vornherein nicht existiren. Die
Natur kennt keine G e s t a l t , keine G r ö ß e , sondern nur f ü r ein Erkennendes treten die
Dinge so groß und so klein auf. Das U n e n d l i c h e in der N a t u r : sie hat keine Grenze,
nirgends. N u r f ü r uns giebt es Endliches. Die Zeit in's U n e n d l i c h e theilbar."
(III 19 [133], 3 / 4 , 50). Aus dem gleichen Zeitraum stammt auch dieses N o t a t : „Die
U n e n d l i c h k e i t ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das
Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine
T ä u s c h u n g . / / W i e kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden wagen ! / / I n der
unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t
e w i g d a in irgend welchen Formen. Was f ü r eine metaphysische Welt es geben soll, ist gar
nicht abzusehn." (III 19 [139], 3 / 4 , 52) Der Gedanke: „In der unendlichen Zeit und dem
unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t e w i g d a " bildet den
Ausgangspunkt f ü r die Lehre von der ewigen Wiederkunft.
207
Das Zitat dort auf S. 40. Anni Anders meint (Schlechta/Anders, a. a. O., S. 67), daß
Nietzsche das Zitat „wohl F. A. Langes .Geschichte des Materialismus' (S. 388)
entnommen [hat]. Wir wissen zwar, daß Nietzsche 1868 vorgehabt hat, die Helmholtzsche
Arbeit selbst zu studieren" — sie verweist auf eine in BAW 3, 394 abgedruckte Notiz —,
„doch ist es sehr unwahrscheinlich, daß er damals dazu gekommen ist."
208
A . a . O . , §29, S. 134.
209
H L 6, 3 / 1 , 282.
210
Ende 1870—April 1871, III 7 [185], 3 / 3 , 219.
211
P H G 5, 3 / 2 , 318 f.
212
Das lehrt jener Passus der „Geburt der Tragödie ( G T 7, 3 / 1 , 53), der die Heilkraft der
Kunst bedenkt: „sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde
des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt: diese sind das
E r h a b e n e als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das K o m i s c h e als
die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden.", womit, wie aus dem
Zusammenhang eindeutig hervorgeht, die griechische Tragödie und die griechische
Komödie gemeint sind.
213
Fink, a . a . O . , S. 17.
214
G T 18, 3 / 1 , 111.
215
Wenn Fink dagegen davon spricht, „das tragische Pathos lebt aus dem Wissen, ,alles ist
eins' " (a. a. O., S. 17; Hervorhebung durch mich, T h . B.), und darum jene oben erwähnte
„Ansicht" als „Grunderkenntnis" qualifiziert, dann belegt er damit nicht nur erneut, daß
sein Verständnis der Nietzscheschen Grundfrage, der Frage nach der Wahrheit,
unzureichend ist, vielmehr hat er zudem die „ G e b u r t der T r a g ö d i e " schlichtweg nicht
genau genug gelesen.
216
In diesen Zusammenhang gehört auch die folgende Charakterisierung des Heraklitischen
Denkens in „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" ( P H G 7, 3/2, 325):
„So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem
Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und
Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk
steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des
Kunstwerkes paaren müssen."
217
BAW 2, 100: „ H u n d s t a g e 1861 beendigt .Schmerz ist der Grundton der Natur',
vierhändig." D e r Titel nach Justinus Kerner. Siehe dazu: Curt Paul Janz, Friedrich
Nietzsche. Der musikalische Nachlaß, hrsg. im Auftrag der Schweiz. Musikforschenden
Gesellschaft, Basel und Kassel 1976, S. 288—297, sowie S. 350.
218
Fink, a . a . O . , S. 165.
219
Solches ist beispielsweise Goethe an Kant aufgegangen. Kant führt im Abschnitt IV der
Einleitung der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , „ V o n dem Unterschiede analytischer und
376 Anmerkungen 219 bis 228 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

synthetischer Urteile", aus — was sich bereits bei Descartes findet —, daß der Begriff des
Körpers nicht ohne den Begriff der Ausdehnung gedacht werden könne, wohingegen das
Merkmal der Schwere in ihm nicht mitgesetzt sei. Der Satz, daß ein Körper ausgedehnt ist,
stehe a priori fest und sei kein Erfahrungsurteil, anders als der Satz, daß ein Körper schwer
ist. Dieser sei darum ein synthetisches Urteil (und zwar a posteriori), jener hingegen ein
analytisches, weil im Subjekt „ K ö r p e r " das Prädikat „Ausdehnung" enthalten sei.
Dagegen wendet Goethe in einer Marginalie seines Handexemplars der „Kritik der reinen
V e r n u n f t " ein: „Die Ausdehnung eines Körpers wird eigentlich nur früher erkannt, weil
das Auge früher ist, als das Gefühl. Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere, Schall
sind doch alles Prädikate, die zum Subjekt notwendig gehören und nur daraus entwickelt
werden, die Erfahrung findet sie ja nicht damit v e r b u n d e n , sondern sie wird sie nur am
Subjekt g e w a h r . Und zusammen machts den Begriff von Körper." (Zitiert nach: Felix
Weinhandl, Goethes Metaphysik, a. a. O., S. 145.) Da wir diese Anmerkung hier nicht in
allen Einzelheiten auslegen können, bemerken wir nur so viel: Für Goethe spricht sich in
der Abspaltung der Prädikate „Schwere", „Schall" ins Nichtapriorische des logischen
Subjekts „ K ö r p e r " lediglich der physiologische Vorrang des Gesichtssinnes beim
erkennenden Subjekt aus.
220
Diels/Kranz Β 3; Übersetzung nach: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a . a . O . , S. 171.
221
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [36], 3 / 3 , 70.
222
Übersetzung nach: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a . a . O . , S. 171.
223
III/5, 172.
224
G T 21, 3 / 1 , 131.
225
1871, III 9 [125], 3/3, 332 f., hier: S. 332.
226
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [66], 3 / 4 , 28. Vgl. dazu auch: Richard Wagner,
Beethoven, 46, wo der Verfasser im Gefolge der Darstellung der Schopenhauerschen
Traumtheorie bemerkt: „Eine nicht minder bestimmte Erfahrung ist nun aber diese, daß
neben der, im Wachen wie im Traume als sichtbar sich darstellenden Welt, eine zweite, nur
durch das Gehör wahrnehmbare, durch den Schall sich kundgebende Welt, also recht
eigentlich eine Schallwelt neben der Lichtwelt, f ü r unser Bewußtsein vorhanden ist, von
welcher wir sagen können, sie verhalte sich zu dieser wie der T r a u m zum W a c h e n : sie ist
uns nämlich ganz so deutlich wie jene, wenngleich wir sie als gänzlich verschieden von ihr
erkennen müssen." Er faßt damit die spezifische Welterfahrung des Musikers, die in dem
Sinne genuin zu nennen ist, daß sie unmittelbar gehört wird. Carl Adolf Martienssen f ü h r t
in seinem Buch „Schöpferischer Klavierunterricht" (Wiesbaden 1983) aus tiefem Wissen
darum über die „malenden und abbildenden Elemente in den Werken Bachs" aus: „Sind
das nun Übertragungen der Eindrücke des Gesichtsinnes auf das O h r , sind das
Nachahmungen visueller Vorstellungen in der Hörsphäre? Nein! Für die Seele Bachs war
das Auge nur ein Zwischenglied zwischen der Außenwelt und seinem O h r . Auch die
sichtbareWeh erlebte er, apperzipierte er in seinem Ohre." (Ebd., S. 18; ich verdanke den
Hinweis auf dieses Buch, in dem sich noch weitere Beispiele finden, Frau Dorothee
Thomas, Detmold.)
227
Im letzten Zitat fährt Schopenhauer fort: „denn in den Empfindungen dieser Sinne liegt so
wenig die Anschauung, daß dieselben vielmehr noch gar keine Ähnlichkeit haben mit den
Eigenschaften der Dinge, die mittelst ihrer sich uns darstellen [ . . . ] . N u r muß man hiebei
das, was wirklich der Empfindung angehört, deutlich aussondern von dem, was in der
Anschauung der Intellekt hinzugetan hat." Dies aber sind laut Schopenhauer Zeit, Raum
und Kausalität.
228 Wenn Schopenhauer in seiner Dissertation bemerkt: „Getast und Gesicht nun also haben
zuvörderst jedes seine eigenen Vorteile; daher sie sich wechselseitig unterstützen. Das
Gesicht bedarf keiner Berührung, ja keiner N ä h e : sein Feld ist unermeßlich, geht bis zu den
Sternen. Sodann empfindet es die feinsten Nuancen des Lichts, des Schattens, der Farbe,
der Durchsichtigkeit: es liefert also dem Verstände eine Menge fein bestimmter Data, aus
welchen er nach erlangter Übung die Gestalt, Größe, Entfernung und Beschaffenheit der
Körper konstruiert und sogleich anschaulich darstellt. Hingegen ist das Getast zwar an den
Anmerkungen 228 bis 247 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 377

Kontakt gebunden, gibt aber so untrügliche und vielseitige Data, daß es der gründlichste
Sinn ist. Die Wahrnehmungen des Gesichts beziehn sich zuletzt doch auf das Getast" (SG,
71) — dann bedarf es, um letztere Behauptung zu widerlegen, nur des einfachen
Hinweises, daß der Blinde den von ihm sukzessive ertasteten Raum auf Distanz und
simultan, d. h. als augen-blicklichen vorstellt. Zu seiner phänomenwidrigen Behauptung
aber wird Schopenhauer durch ein seit Descartes Dioptrik übliches physikalisches Modell
des Sehens verleitet, das die Tätigkeit der Augen als aufeinander abgestimmte Tätigkeit
zweier Taststangen darstellt: „ja das Sehn ist als ein unvollkommenes, aber in die Ferne
gehendes Tasten zu betrachten, welches sich der Lichtstrahlen als langer Taststangen
bedient", fährt Schopenhauer in jenem Zitat fort. — Ein spekulativer Versuch Nietzsches,
eine der optischen W a h r n e h m u n g phylogenetisch vorausliegende rein haptische
W a h r n e h m u n g zu konstruieren, wobei er das W o r t „begreifen" konkret nimmt, findet sich
in einer Aufzeichnung vom August—September 1885 (VII 40 [28], 7 / 3 , 375 f.).
229 Vgl j n diesem Zusammenhang die nachfolgende Aufzeichnung Nietzsches vom Winter
1883—1884 (VII 24 [17], 7 / 1 , 698): „Bei der Entstehung der Organismen denkt er sich
z u g e g e n : was ist bei diesem Vorgange mit Augen und Getast wahrzunehmen gewesen?
Was ist in Zahlen zu bringen? Welche Regeln zeigen sich in den Bewegungen? Also: der
Mensch will alles Geschehen sich als ein G e s c h e h e n f ü r A u g e u n d G e t a s t
zurechtlegen, folglich als Bewegungen: und will F o r m e l n finden die ungeheure Masse
dieser Erfahrungen zu v e r e i n f a c h e n . R e d u k t i o n a l l e s G e s c h e h e n s auf den
Sinnenmenschen und Mathematiker."
230
III 19 [217], 3 / 4 , 75.
231
Phänomenologie, S. 172: „Sein Denken als solche[s] bleibt das gestaltlose Sausen des
Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung, ein musikalisches Denken, das nicht
zum Begriffe, der die einzige immanente gegenständliche Weise wäre, kommt."
232
Ästhetik III, 148.
233
KSA 14 (Kommentarband), 114.
234
Ästhetik III, 130.
235
Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 382.
236
G T 5, 3 / 1 , 40.
237
KSA 14 (Kommentarband), 114.
23
« Wie Anm. 235, hier: S. 382.
239
Ebd., S. 379.
240
Ästhetik III, 140.
241
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [37], 3 / 3 , 70 f., hier: S. 70.
242
September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115.
243
Ästhetik III, 149.
244
I I / l , 255—258, hier: S. 257.
245
September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115 f., hier: S. 115. Das heißt, daß die
Einheit nur als Vielheit ist — in diesem Gedanken liegen bereits Nietzsches spätere
Überlegungen zur Illusion der Einheit präformiert, auf die wir bereits in Anm. 71
hingewiesen haben: „Alle Einheit ist n u r als O r g a n i s a t i o n u n d Z u s a m m e n s p i e l
Einheit". Getragen werden diese späteren Ausführungen von seiner Konzeption des
Willens zur Macht, welche — und darin ist sie von allen vorgängigen metaphysischen
Konzeptionen unterschieden: Nietzsche hebt die Vielheit und Buntheit der physischen
Welt nicht in einer metaphysischen Einheit auf — eine solche der Vielheit von Willen zur
Macht ist (vgl. dazu vor allem die in Anm. 71 angeführten Arbeiten von Müller-Lauter),
sowie den darin beschlossenen Überlegungen, weshalb das vielheitliche Werden der
„ h ö h e r e n " Illusion einheitlichen Seins bedarf: U m sich jeweils übersteigen und so
fortschreitend aufsteigern zu können, muß sich das Werden allererst beständigen, d. h. im
und gegen den eigenen Fortriß Stand gewinnen.
246
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [10], 3 / 3 , 45 f., hier: S. 46.
247
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [217], 3/4, 75.
378 Anmerkungen 248 bis 253 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

248
Siehe P H G 10, 3 / 2 , 338: „ N u r in den verblaßtesten, abgezogensten Allgemeinheiten, in
den leeren Hülsen der unbestimmtesten W o r t e soll jetzt die Wahrheit wie in einem
Gehäuse aus Spinnefäden, wohnen: und neben einer solchen ,Wahrheit' sitzt nun der
Philosoph, ebenfalls blutlos wie eine Abstraktion und rings in Formeln eingesponnen. Die
Spinne will doch das Blut ihrer O p f e r ; aber der parmenideische Philosoph haßt gerade das
Blut seiner Opfer, das Blut der von ihm geopferten Empirie."
249 Vgl dazu: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 33 Bde., Nachdruck
München 1984, hier: Bd. 5, Sp. 3403 ff.
250
Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, Kassel, Basel, Tours, London und München
1984, S. 66.
251
Ebd., S. 38: „ D e n Terminus .absolute Musik' bezog Nietzsche, indem er ihn beim W o r t
nahm, zunächst auf die Emanzipation, die Loslösung der Musik von der Sprache." Später
werden wir zeigen, daß Nietzsche auch das Wagnersche Musikdrama als absolute Musik,
nämlich als Symphonie hört. „Tristan und Isolde", „das eigentliche opus metaphysicum
aller Kunst" (WB 8, 4 / 1 , 51), bedarf nur darum einer H a n d l u n g und eines dichterischen
Textes, „weil kein H ö r e r dem W e r k seelisch standhalten könnte, wenn es sich als die
Symphonie zeigte, die es eigentlich ist." (Dahlhaus, a. a. O., S. 38) So ging Nietzsche die
Idee der absoluten Musik, „die Ε. T . A. H o f f m a n n durch Beethovens Fünfte Symphonie —
bezogen auf Wackenroders und Tiecks Metaphysik der Instrumentalmusik — zur
Erfahrung geworden war, [ . . . ] an Wagners ,Tristan' auf: die Idee, daß Musik gerade
dadurch, daß sie sich von empirischen Bedingtheiten — von Funktionen, Worten,
Handlungen und schließlich sogar von irdisch greifbaren Gefühlen und Affekten — immer
weiter entferne, ihre metaphysische Bestimmung erreiche." (Ebd.) Nietzsche polemisiert
darum gegen die von Wagner in „ O p e r und D r a m a " aufgestellte, selbstapologetische
Behauptung, mit dem 4. Satz seiner 9. Sinfonie habe Beethoven „ein feierliches Bekenntniß
über die Grenzen der absoluten Musik abgegeben", und nennt sie einen „ungeheuerlichen
aesthetischen Aberglauben" (Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S. 385), eine
Auffassung, über die mit dem Kritisierten indes bereits Einverständnis bestand. Es wurde
nur darum nicht vollends offenkundig, „weil Wagner davor zurückscheute, die tragenden
Thesen aus ,Oper und D r a m a ' unmißverständlich zu widerrufen. D a ß die Musik eine
Funktion des Dramas sei oder sein müsse, glaubte er zwei Jahrzehnte nach ,Oper und
D r a m a ' längst nicht mehr. [ . . . ] Aus dem Feuerbach-Enthusiasten, der die leibhafte
Existenz des Menschen — also im Drama die sichtbare Aktion — akzentuierte, ist der
Schopenhauer-Adept geworden, der aus der ,Orchestermelodie' des musikalischen
Dramas das ,innerste Wesen' der Vorgänge heraushörte." Dahlhaus verweist in diesem
Zusammenhang auf einen Satz von Wagners Beethoven-Abhandlung von 1870, „dem
zentralen D o k u m e n t der Schopenhauer-Rezeption" (ebd., S. 39), wonach „die Musik das
innerste Wesen der G e b ä r d e " — damit ist die szenisch-mimische Aktion insgesamt gemeint
— „mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus[spricht], daß sie, sobald wir ganz von der
Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht f ü r die intensive W a h r n e h m u n g der Gebärde
depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen." (Beethoven, 55)
Noch deutlicher ist der von Dahlhaus angeführte Satz aus Wagners 1872 verfaßtem
Aufsatz „Uber die Benennung , M u s i k d r a m a ' " , in dem der Verfasser seine Dramen „als
ersichtlich gewordene Taten der Musik" bezeichnet (Musikdrama, 276). Und 1878 spreche
Wagner, „in einem Ausbruch von Ekel über das ,Kostüm- und Schminkewesen', sogar von
einem unsichtbaren Theater', das man — in Analogie zum .unsichtbaren Orchester' —
erfinden müsse." (Dahlhaus, a. a. O., S. 40, der nach Carl Friedrich Glasenapp, Das Leben
Richard Wagners, Band IV, Leipzig 1911, S. 137 f. zitiert) Was Dahlhaus zu dem Resümee
veranlaßt: „ D e r Theatromane zog sich angesichts der Realität des Theaters, die ihn
enttäuschte, in ein Traumbild zurück, wie es Nietzsche in der ,Geburt der Tragödie'
skizziert hatte." (Ebd., S. 40).
252
Ebd., S. 66.
253 Vgl Sören Kierkegaard, E n t w e d e r / O d e r , Erster Teil Band 1, übersetzt von Emanuel
Anmerkungen 253 bis 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 379

Hirsch, Gütersloh 1979, S. 72: „was eigentlich gehört werden soll, macht sich fort und fort
vom Sinnlichen frei."
254
Im Falle des auf S. 59 f. angeführten Zitates scheint es auf den ersten Blick auch möglich zu
sein, daß Nietzsche in dem Satz: „dadurch daß er [Parmenides] die Sinne und die
Befähigung Abstraktionen zu denken, also die Vernunft jäh auseinander riß", im
Widerspruch zu unseren Ausführungen die Vernunft als Einheit von Sinnen und
Begriffsvermögen auffaßt. Gegen diese Annahme spricht aber nicht nur der auf S. 381
zitierte, aus der Spätzeit des Nietzscheschen Denkens stammende Text, nicht nur die
Vermutung, daß Nietzsche auch hier an den Sprachgebrauch Schopenhauers anknüpft,
sondern vor allem eine Parallelstelle derselben Schrift. Im Abschnitt 13 von „Die
Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" kritisiert Nietzsche dort, wo er „die
Unwahrheit jener absoluten Trennung von Sinnenwelt und Begriffswelt und der Identität
von Sein und D e n k e n " (3/2, 344) zu erweisen sucht, „das Denken der V e r n u n f t in
Begriffen". Dementgegen spricht f ü r die Lesart, die V e r n u n f t sei die Einheit von Sinnen
und begrifflichem Denken, im ersten Zitat nur ein fehlendes Komma.
255
Der Terminus nach Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 233.
256
III 19 [179], 3 / 4 , 62 f.
257
W L 1, 3 / 2 , 374 f.
258
III 7 [156], 3 / 3 , 207.
259
In vergleichbarem Sinne führt Martin Heidegger, auf dessen Überlegungen zum
hermeneutischen Zirkel wir anläßlich unserer ersten Ausführungen zu den Voraussetzun-
gen einer Grunderfahrung schon verwiesen haben (siehe S. 48), von seinem Ansatz her
im Hinblick auf die griechische Seinserfahrung aus: „ D i e Auslegung des Seins als ι δ έ α
drängt sofort den Vergleich der Erfassung des Seienden mit dem Sehen auf. Die Griechen
haben denn auch, zumal seit Piatons Zeit, das Erkennen als eine Art Sehen und Schauen
begriffen, was sich in dem heute noch üblichen Ausdruck des ,Theoretischen' anzeigt,
worin θέα, der Blick, und ό ρ ά ν , sehen (Theater — Schauspiel) sprechen. Man glaubt
diesem Sachverhalt eine tiefere Erklärung mitzugeben, wenn man versichert, die Griechen
seien im besonderen Maße optisch veranlagt und ,Augenmenschen' gewesen. D a ß diese
beliebte Erklärung keine Erklärung sein kann, ergibt sich leicht. Erklärt soll werden,
weshalb die Griechen den Bezug zum Seienden durch das Sehen verdeutlichen. Dies kann
jedoch nur den zureichenden Grund in der f ü r die Griechen maßgebenden Auslegung des
Seins haben. Weil Sein besagt: Anwesenheit und Beständigkeit, deshalb ist das ,Sehen'
vornehmlich geeignet, als Erläuterung f ü r die Erfassung des Anwesenden und Beständigen
zu dienen. Denn im Sehen haben wir das Erfaßte in einem betonten Sinne ,gegenüber',
vorausgesetzt, daß nicht schon unserem Sehen eine Auslegung des Seienden zugrunde
liegt. Die Griechen haben das Verhältnis zum Seienden nicht durch das Sehen erläutert,
weil sie ,Augenmenschen' waren, sondern sie waren, wenn man so will,,Augenmenschen',
weil sie das Sein des Seienden als Anwesenheit und Beständigkeit erfuhren." (Nietzsche,
Bd. 2, a . a . O . , S. 223 f.)
Diese Gedanken Heideggers geben uns Winke f ü r mehrere bisher unbedacht
gebliebene Fragen, die uns ein tieferes Verständnis der Nietzscheschen Grunderfahrung
ermöglichen können.
Exkurs
Ausgangspunkt und Ziel des sich hier eröffnenden, in mehreren Etappen abzuschreitenden
Weges soll Heideggers Behauptung sein, daß „beständige Anwesenheit" der
unausgesprochene Sinn des Seins f ü r den Anfang des abendländischen Denkens, die
griechische Philosophie, und damit f ü r die Geschichte der Metaphysik überhaupt ist (vgl.
Μ. H., Hegels Begriff der Erfahrung, in: ders., Holzwege, a . a . O . , S. 111—204, hier:
S. 151: „Die Seiendheit des Seienden, die seit dem Beginn des griechischen Denkens bis zu
Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen sich als die Wahrheit des
Seienden ereignete, ist f ü r uns nur eine, wenngleich entscheidende Weise des Seins, das
keineswegs nur als Anwesenheit des Anwesenden erscheint."); eine Behauptung, die
Heideggers eigener Auffassung, wonach der Sinn von Sein aus der Zeit zu verstehen ist,
380 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

einerseits zur Abhebung, andererseits zur Bestätigung dient, „indem sie zeigt, daß auch
schon in der Tradition der Sinn von Sein unausdrücklich aus der Zeit, wenngleich unter
einem Primat der Gegenwart verstanden worden war." (Ernst Tugendhat, in: Historisches
Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971 ff., Bd. 1, Sp. 428,
Artikel „Anwesenheit"; vgl. dazu: Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 25 f.; ders.,
Kant und das Problem der Metaphysik, a. a. O., 5 44; ders., Der Spruch des Anaximander,
in: ders., Holzwege, a. a. Ο., S. 317—368, hier: S. 340 ff.) Die letzte Auslegung des Seins in
diesem Sinne meint Heidegger aber im Gedanken der ewigen Wiederkunft entdecken zu
können, einem Grundgedanken der Nietzscheschen Philosophie, die Heidegger darum
auch — dies die zentrale, indes inhaltlich jeweils anders ausgefüllte These aller seiner
Nietzsche-Auslegungen (siehe dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Das Willenswesen und der
Ubermensch, a. a. O.) — als das Ende der Metaphysik bezeichnet: Er glaubt in jenem
Gedanken die auf seine Weise erfolgende Wiederaufnahme der „wesentlichen
Grundstellungen des Anfangs [der Metaphysik], und zwar in ihrem Zusammenschluß"
(Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 465 f.) erkennen zu können, so daß sich der Ring schließe,
„den der Gang des Fragens nach dem Seienden als solchem im Ganzen bildet" (ebd.,
S. 464), sind doch Grundstellungen f ü r Heidegger Antworten „auf die noch nicht
entfaltete Leitfrage, was das Seiende sei" (ebd., S. 456). (Die Ausfaltung dieser Leitfrage
zur Grund-frage der Philosophie, in welchem Geschehnis f ü r Heidegger die Überwindung
der Metaphysik eingefaltet ist, liegt Heidegger zufolge in der Seinsfrage beschlossen:
„Diese allererst zu entfaltende und zu begründende Frage nennen wir die Grund-frage der
Philosophie, weil in ihr die Philosophie erst den Grund des Seienden als Grund und
zugleich ihren eigenen Grund erfragt und sich begründet.", ebd., S. 80.) Als die
wesentlichen Grundstellungen des Anfangs sieht Heidegger aber die Leitfragenantworten
von Parmenides und Heraklit an.
Dabei laute die Antwort des ersteren grob gesagt: das Seiende ist, wozu Heidegger
bemerkt: „eine merkwürdige Antwort; allerdings, doch eine sehr tiefe, denn damit ist
zugleich und erstmalig f ü r alles K o m m e n d e " — er hebt hervor: „auch f ü r Nietzsche" —
„festgelegt, was ,ist' und ,Sein' heißt: Beständigkeit und Anwesenheit, ewige Gegenwart."
(Ebd., S. 465) Ebenso grob gesagt laute hingegen die Antwort des letzteren: das Seiende
wird, was Heidegger so interpretiert: „seiend ist das Seiende im beständigen Werden, im
sich Entfalten und gegenwendigen Zerfallen." (Ebd.)
Gesetzt, Heideggers Auslegung, das Denken habe anfänglich das Sein als Anwesenheit
und Beständigkeit gedacht, ist zutreffend, dann könnte man seine Behauptung, auch
Nietzsche sei durch diese Antwort auf die Leitfrage in der Weise festgelegt worden, daß er
am Ende seines Denkweges im Gedanken der ewigen Wiederkehr das W e r d e n selbst als
Sein wollen mußte, vielleicht dadurch zu erschüttern versuchen, daß man auf die Bindung
dieser Antwort an die Sphäre des optischen Sinnes hin- und auf Nietzsches
Selbstcharakterisierung als „Ohrenmenschen" mit den Folgerungen verwiese, daß diese
Charakterisierung zum ersten gegen eine vollkommene Prägekraft jener anfänglichen
Antwort im Falle Nietzsches spreche, weswegen, dies zum zweiten, auch dessen eigene
Berufung auf Heraklit nicht Rechtens sein könne, müßten mithin doch das Heraklitische
und das Nietzschesche Werden im Wesen unterschieden sein. Mag die letztere Folgerung,
wenngleich mit anderer Begründung, auch Heideggers Zustimmung finden — er selber
spricht von einem „Abgrund", der „zwischen der Vollendung der abendländischen
Metaphysik durch Nietzsche und dem in den Anfang gestellten Spruch des Heraklit klafft"
(Μ. H., Heraklit, 1. Der Anfang des abendländischen Denkens, 2. Logik. Heraklits Lehre
vom Logos, Gesamtausgabe Bd. 55, hrsg. v. Manfred S. Frings, Frankfurt a. M. 1979,
S. 68), und bezeichnet demzufolge Nietzsches Auslegung der Lehre des Ephesers als „die
fürchterlichste Mißdeutung dessen [ . . . ] , was Heraklit denkt" (ebd., S. 5) —, so tritt der
solcherweise Argumentierende hingegen mit der ersten Folgerung nicht nur in einen Streit
um Heideggers Nietzsche-Interpretation ein, vielmehr sieht er sich unversehens in eine
Auseinandersetzung mit Heideggers eigenem philosophischem Ansatz verstrickt — eine
Auseinandersetzung, die im Rahmen dieser Arbeit indes nicht ausgetragen werden kann.
A n m e r k u n g 259 z u m Abschnitt „ V o r a u s s e t z u n g e n " 381

S o m ü ß t e nämlich in aller A u s f ü h r l i c h k e i t die F r a g e e r ö r t e r t w e r d e n , w a r u m H e i d e g g e r


b e h a u p t e n k a n n u n d m u ß , d a ß „ k e i n S i n n e s w e r k z e u g , f ü r sich g e n o m m e n , v o r d e m
a n d e r e n einen V o r r a n g h a b e n k a n n , w e n n es sich u m die E r f a h r u n g v o n S e i e n d e m
h a n d e l t . " W o m i t er meint, „ d a ß keine Sinnlichkeit jemals Seiendes als Seiendes z u
v e r n e h m e n v e r m a g . " ( N i e t z s c h e , Bd. 2, a. a. O . , S. 224) D a s aus der u n d in die
U n v e r b o r g e n h e i t a n w e s e n d e Seiende v e r m a g u n s e r e r T r a d i t i o n z u f o l g e nämlich allein die
V e r n u n f t , die r a t i o , in seiner Seiendheit z u v e r n e h m e n . Sie allein k a n n d a r u m a u c h
A n t w o r t g e b e n auf die eine d e r beiden G r u n d f r a g e n d e r π ρ ώ τ η φ ι λ ο σ ο φ ί α , der ersten
P h i l o s o p h i e — in H e i d e g g e r s A u s l e g u n g : d e r M e t a p h y s i k — , nämlich auf die Frage n a c h
d e m ö v f| ö v , d. h. n a c h d e m Seienden als solchem. (Vgl. d a z u : Μ. H . , Die G r u n d b e g r i f f e
d e r M e t a p h y s i k , W e l t — Endlichkeit — E i n s a m k e i t , G e s a m t a u s g a b e Bd. 2 9 / 3 0 , hrsg. v.
F r i e d r i c h - W i l h e l m v. H e r r m a n n , F r a n k f u r t a. M. 1983, S. 4 6 — 6 9 ; siehe auch das
n a c h f o l g e n d e Z i t a t aus H e i d e g g e r s A b h a n d l u n g „ D e r S a t z des A n a x i m a n d e r " , a. a. O . ,
S. 344: „ G e s e h e n h a b e n ist das W e s e n des Wissens. Im G e s e h e n h a b e n ist stets schon
A n d e r e s ins Spiel g e t r e t e n als der V o l l z u g eines optischen V o r g a n g e s . Im G e s e h e n h a b e n ist
das V e r h ä l t n i s z u m A n w e s e n d e n hinter jede A r t v o n sinnlichem u n d unsinnlichem E r f a s s e n
z u r ü c k g e g a n g e n . V o n da h e r ist das G e s e h e n h a b e n auf das sich lichtende A n w e s e n
b e z o g e n . D a s S e h e n b e s t i m m t sich nicht aus d e m A u g e , s o n d e r n aus d e r L i c h t u n g des Seins.
D i e I n s t ä n d i g k e i t in ihr ist das G e f ü g e aller menschlichen Sinne. D a s W e s e n des Sehens als
G e s e h e n h a b e n ist das Wissen. Dieses behält die Sicht. Es bleibt e i n g e d e n k des Anwesens.
D a s Wissen ist das G e d ä c h t n i s des Seins.")
W i e aber, w e n n N i e t z s c h e diese F r a g e nach d e m Seienden als solchem f ü r
v o r d e r g r ü n d i g hielte, weil sie einer g r o b e n Fiktion n a c h f r a g t ? W e n n sein D e n k e n in einen
Bereich v o r z u d r i n g e n s u c h t e , w o diese F r a g e ihren Sinn verliert? K ö n n t e d a n n vielleicht ein
S i n n e s w e r k z e u g den V o r r a n g v o r d e n a n d e r e n h a b e n ?
In d e r T a t hält N i e t z s c h e die Seiendheit f ü r eine Fiktion, die v o n d e r V e r n u n f t e r z e u g t
w i r d , i n d e m sie das Z e u g n i s „ d e r " Sinne v o m reinen W e r d e n kategorial z u m Begriff des
Seienden u m f ä l s c h t . D e r w e i s e gesteht a u c h e r w o h l z u , d a ß die Sinnlichkeit als solche
niemals Seiendes als Seiendes v e r n e h m e n k a n n — dies aber d a r u m , weil es Seiendes in
„ W a h r h e i t " , auf d e r E b e n e tiefster S c h e i n b a r k e i t , nicht „ g i b t " : D i e Sinne lügen nämlich
nicht, sagt N i e t z s c h e in d e r „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , im Abschnitt „ D i e , V e r n u n f t ' in d e r
P h i l o s o p h i e " ( 6 / 3 , 69), in einer Passage, in d e r er die H a l t u n g H e r a k l i t s kritisiert: „ W e n n
das a n d r e P h i l o s o p h e n - V o l k das Zeugniss d e r Sinne v e r w a r f , weil dieselben Vielheit u n d
V e r ä n d e r u n g zeigten, verwarf er d e r e n Zeugniss, weil sie die D i n g e z e i g t e n , als ob sie
D a u e r u n d Einheit hätten. A u c h H e r a k l i t t h a t d e n S i n n e n U n r e c h t . Dieselben lügen w e d e r
in d e r A r t , wie die E l e a t e n es g l a u b e n , n o c h wie er es g l a u b t e , — sie lügen ü b e r h a u p t nicht.
W a s w i r aus ihrem Z e u g n i s s m a c h e n , das legt erst die L ü g e hinein, z u m Beispiel die L ü g e
d e r Einheit, die L ü g e d e r Dinglichkeit, d e r S u b s t a n z , d e r D a u e r . . . D i e . V e r n u n f t ' ist die
U r s a c h e , dass w i r das Zeugniss d e r Sinne fälschen. S o f e r n die Sinne das W e r d e n , das
V e r g e h n , d e n W e c h s e l zeigen, lügen sie n i c h t . . . A b e r d a m i t wird H e r a k l i t ewig R e c h t
b e h a l t e n , dass das Sein eine leere Fiktion ist. D i e ,scheinbare' W e l t ist die einzige: die
, w a h r e W e l t ' ist n u r h i n z u g e l o g e n . . . " Eine U b e r w i n d u n g der M e t a p h y s i k k a n n es f ü r
N i e t z s c h e n u r d a n n g e b e n , w e n n es d e m D e n k e n gelingt, d e m Z e u g n i s der Sinne
n a c h z u d e n k e n . V o n d a h e r gesehen d ü r f t e H e i d e g g e r mit seiner Z u r ü c k s e t z u n g d e r
Sinnlichkeit f ü r N i e t z s c h e in d e r T r a d i t i o n d e r M e t a p h y s i k b e f a n g e n bleiben. A u c h ein
allfälliger H i n w e i s , d a ß N i e t z s c h e die V o r g ä n g i g k e i t u n d V o r r a n g i g k e i t des D e n k e n s
g e g e n ü b e r d e r Flüchtigkeit u n d U n f a ß l i c h k e i t , d e r U n b e g r e i f b a r k e i t d e r Z e u g n i s s e d e r
Sinnlichkeit g e r a d e b e w ä h r t , indem er sie zu u n t e r l a u f e n sucht, v e r f ä n g t in diesem
Z u s a m m e n h a n g nicht, h a t d o c h N i e t z s c h e das D e n k e n allererst auf seinem eigenen Felde
a n z u g r e i f e n , w e n n er d e n n d e m Z e u g n i s d e r Sinne g e g e n ü b e r d e r U b e r m a c h t d e r T r a d i t i o n
zu W o r t e n z u v e r h e l f e n bestrebt ist. U n d d o c h darf dabei nicht ü b e r s e h e n w e r d e n , d a ß die
Z u w e n d u n g zu d e n S i n n e n auf eine Selbstkritik d e r V e r n u n f t z u r ü c k g e h t , auf ein
V o r - U r t e i l des D e n k e n s mithin, seinen K a t e g o r i e n als das Z e u g n i s der Sinne
382 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

verfälschenden Vorurteilen zu mißtrauen. (Ein Vor-Urteil, dessen H e r k u n f t wir immer


noch nachfragen.)
Heidegger aber hält am Vorrang des Denkens vor der Sinnlichkeit fest, woraus sich
seine Geringschätzung der von Nietzsche — trotz einiger kritischer Bemerkungen — am
meisten, wenn auch philosophisch nicht immer — etwa in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " —
am höchsten geschätzten Kunst, der Musik, mit Notwendigkeit ergibt, ist sie doch als die
sinnlichste aller Künste auch die am wenigsten denkerische: Weil sie in ihrem Wesen kein
Erkennen ist, darum könne sie niemals, so Heidegger, „die W e r k w e r d u n g des eigentlichen
Wissens, des wesentlichen Bezuges des Geistes zum Sein selbst" sein (Μ. H., Nietzsche:
Der Wille zur Macht als Kunst, Gesamtausgabe Bd. 43, hrsg. v. Bernd Heimbüchel,
Frankfurt a. M. 1985, S. 159); weswegen sie auch in seiner „Ästhetik", als welche wir vor
allem seine Schrift „ V o m Ursprung des Kunstwerkes" ansehen, keine Rolle spielt.
Weil er mithin kein solch tiefes Verhältnis zur Musik wie Nietzsche besitzt, weil er, mit
Friedrich Kaulbach zu sprechen, „überhaupt nichts Musikalisches an sich hat", darum
müssen ihm, wie wir jetzt zeigen wollen, auch Nietzsches Gedanken über die in der Musik
eröffnete Sphäre des Werdens, des — wie Nietzsche in der „Geburt der T r a g ö d i e " sagt —
Dionysischen einigermaßen fremd und suspekt bleiben. (Wie auch Kaulbach in einem
Diskussionsbeitrag zu Müller-Lauters Vortrag „ D a s Willenswesen und der Ubermensch,
Ein Beitrag zu Heideggers Nietzsche-Interpretationen" [ a . a . O . , S. 185] meint:
„Heidegger hat f ü r das Dionysische überhaupt keinen Sinn, vielleicht, weil er überhaupt
nichts Musikalisches an sich hat.")
Wie allen großen Philosophen mit Ausnahme Schopenhauers und Nietzsches ist auch
Heidegger die Musik ob ihrer Begriffslosigkeit in höchstem Maße verdächtig. So bemerkt
er über das von der Musik in Gestalt der O p e r dominierte Wagnersche Gesamtkunstwerk,
an dem er zu Recht sowohl die bloß „zahlen- und mengenmäßige Vereinigung" der Künste
(Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 102) wie die Erhebung des Kunstwerkes zur Religion der
Volksgemeinschaft kritisiert: „Dichtung und Sprache bleiben ohne die wesentliche und
entscheidende gestalterische K r a f t des eigentlichen Wissens. Die Herrschaft der Kunst als
Musik ist gewollt und damit die Herrschaft des reinen Gefühlszustandes: die Raserei und
Brunst der Sinne, der große Krampf, das selige Grauen des Hinschmelzens im Genuß, das
Aufgehen im ,bodenlosen Meer der Harmonien', das Untertauchen im Rausch, die
Auflösung im reinen Gefühl als Erlösung; ,das Erlebnis' als solches wird entscheidend. Das
W e r k ist nur noch Erlebniserreger. Alles Darzustellende soll nur wirken als Vordergrund
und Vorderfläche, abzielend auf den Eindruck, den Effekt, das Wirken- und
Aufwühlenwollen: .Theater'. Theater und Orchester bestimmen die Kunst." (Ebd.,
S. 102 f.) Können sich diese Ausführungen, soweit sie eine Analyse der Wagnerschen
Musik geben, auch auf Nietzsche berufen, so geraten sie doch dort in einen Widerspruch
zu dessen Denken, wo sie diese Kritik auf die Musik als solche, auf ihre
„Wesensmöglichkeiten", ausdehnen — etwa wenn sie aus der Herrschaft der Kunst als
Musik mit Notwendigkeit die Herrschaft des von ihnen beschriebenen reinen
Gefühlszustandes erwachsen sehen. Sie lassen außer acht, daß Nietzsche im Hinblick auf
das zugrundeliegende schöpferische Bedürfnis wie zwischen zwei Arten des Werdens so
auch zwischen zwei Arten der Musik unterschieden hat: das romantische Verlangen nach
dem Werden — wie auch nach dem Sein, d. h. den romantischen Pessimismus — sieht er
gleich der romantischen Musik aus einem Leiden an Verarmung des Lebens erwachsen, das
dionysische Verlangen nach dem Werden — oder auch nach dem Sein, den dionysischen
Pessimismus mithin — aus einem Leiden an Überfülle des Lebens. Für die dionysische
Musik weiß Nietzsche indes noch keinen empirischen Beleg beizubringen — die
Einschätzung der Wagnerschen Musik als eine solche muß er ebenso bald widerrufen wie
die Klassifizierung der Schopenhauerschen Philosophie als dionysischen Pessimismus,
wobei beide Irrtümer zum Anlaß werden, den Unterschied des Romantischen und des
Dionysischen in A n k n ü p f u n g an Goethes Formel: „ D a s Klassische nenne ich das Gesunde
und das Romantische das K r a n k e " (zu Eckermann am 2. 4.1829) zu bedenken (FW 370,
5 / 2 , 301—304).
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 383

Die gleichen Einwände gelten auch f ü r die nachfolgenden Bemerkungen Heideggers,


die sich auf eine Aufzeichnung Nietzsches vom Herbst 1887 (VIII 10 [155], 8/2, 209)
beziehen. In ihr charakterisiert Nietzsche Wagners musikalische Mittel dahingehend, daß
sie „in einer befremdlichen Weise den Mitteln [ähneln], mit denen der Hypnotiseur es zur
Wirkung bringt", wobei er sie als gleichsam unmusikalische Musik abwertet. (Der Anfang
dieses Fragments lautet: „Es giebt heute auch einen Musiker-Pessimismus selbst noch unter
Nicht-Musikern. W e r hat ihn nicht erlebt, wer hat ihm nicht geflucht — dem unseligen
Jüngling, der sein Ciavier bis zum Verzweiflungsschrei martert, der eigenhändig den
Schlamm der düstersten graubraunsten Harmonien vor sich herwälzt? Damit ist man
e r k a η η t , als Pessimist. — O b man aber damit auch als musikalisch erkannt ist? Ich würde
es nicht zu glauben wissen. Der Wagnerianer pur sang ist unmusikalisch; er unterliegt den
Elementarkräften der Musik ungefähr wie das Weib dem Willen seines Hypnotiseurs
unterliegt — und um dies zu k ö n n e n , darf er durch kein strenges und feines Gewissen in
rebus musicis et musicantibus mißtrauisch gemacht sein." Heidegger läßt diesen Passus
über die Unmusikalität des Wagnerianers und damit auch über das musikalische Unwesen
der Wagnerschen Werke außer Betracht, wenn er, wie wir gleich sehen werden, Nietzsches
Analyse zu einer Kritik am Wesen der Musik ausmünzt.) Heidegger gibt über diese
Aufzeichnung zu bedenken: „ H i e r kommt das Wesentliche der Auffassung des
Gesamtkunstwerkes unzweideutig zum Ausdruck: die Auflösung alles Festen in das flüssig
Nachgiebige, Eindrucksempfängliche, Schwimmende und Verschwimmende; das
Ungemessene, ohne Gesetz, ohne Grenze, ohne Helligkeit und Bestimmtheit, die maßlose
Nacht des reinen Versinkens. Mit anderen W o r t e n : die Kunst soll wieder und noch einmal
ein absolutes Bedürfnis werden. Aber das Absolute wird jetzt nur noch als das reine
Bestimmungslose, als die völlige Auflösung in das reine Gefühl, das sinkende Verschweben
in das Nichts erfahren." (Nietzsche, Bd. 1, S. 104) H a t es hier zunächst noch den Anschein,
als unterwerfe Heidegger wie Nietzsche allein die Wagnersche Musik seinem — in dieser
Hinsichtnahme zutreffenden — Verdikt, so wird man durch den sich anschließenden
Gedankengang jedoch eines anderen belehrt: „ D a ß Richard Wagners Versuch scheitern
mußte, liegt nicht nur an der Vorherrschaft der Musik vor den anderen Künsten. Vielmehr:
daß die Musik überhaupt diesen Vorrang übernehmen konnte, hat bereits seinen Grund in
der zunehmend ästhetischen Grundstellung zur Kunst im Ganzen; es ist die Auffassung
und Schätzung derselben aus dem bloßen Gefühlszustand und die zunehmende
Barbarisierung des Gefühlszustandes selbst zum Brodeln und Wallen des sich selbst
überlassenen Gefühls. [ . . . ] Die Aufsteigerung in das W o g e n der Gefühle mußte den
fehlenden Raum f ü r eine gegründete und gefügte Stellung inmitten des Seienden bieten,
wie sie nur das große Dichten und Denken zu schaffen vermag." (Ebd., S. 105)
Wenn Heidegger solche Zeiten, in denen die Musik zur Vorherrschaft vor den anderen
Künsten gelangt, nur als Zeiten höchsten Verfalles begreifen kann, dann erhofft sich
Nietzsche umgekehrt gerade aus dem Geist der eigentlichen, der dionysischen Musik eine
Wiedergeburt der tragischen Weltverhaltung der vorsokratischen Griechen, als welche in
seinen Augen die höchste, weil im Wesen antimetaphysische Weltverhaltung ist. (Nur
darum kann er in der Frühzeit seines Philosophierens f ü r den Gedanken werben, „den
Staat auf Musik zu gründen, — Etwas, das die älteren Hellenen nicht nur begriffen hatten,
sondern auch von sich selbst forderten: während die selben Verständnisvollen über dem
jetzigen Staat ebenso unbedingt den Stab brechen werden, wie es die meisten Menschen
jetzt schon über der Kirche thun.", W B 5, 4 / 1 , 30) Nietzsches Satz von der „Geburt des
G e d a n k e n s a u s M u s i k " (Frühjahr 1871, III 9 [125], 3 / 3 , 332), in dem er den
Ursprung seines eigenen dionysischen Gedankens beschreibt, ist f ü r Heidegger
unannehmbar. In seinen Augen denkt das Denken der Musik wesensmäßig niemals nach,
sondern immer voraus. Darauf spielt er an, wenn er in seiner Nietzsche-Vorlesung „ D e r
Wille zur Macht als Kunst" über eine Postkarte, die Nietzsche in den Stunden des
ausbrechenden Wahns an seinen Freund Peter Gast geschrieben hat („Singe mir ein neues
Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.", 4.1. 1889, I I I / 5 , 575), bemerkt:
„Die Welt ist verklärt, ein neues, höheres und ursprünglicheres Sein des Seienden ist
384 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

gestiftet." (Gesamtausgabe, Bd. 43, S. 159) Erst muß ein neues Sein gestiftet und d. h. ins
W o r t gefügt sein, ehe ein neues Lied gesungen werden kann. Aber bei Nietzsche erweist
sich dieses Verhältnis als umgekehrt — wie könnte er sonst davon sprechen, daß sein
Hymnus an das Leben „ergänzend eintreten möge, wo das W o r t des Philosophen nach
der Art des Wortes nothwendig undeutlich bleiben muß. Der A f f e k t meiner Philosophie
drückt sich in diesem Hymnus aus." (An Felix Mottl am 20. 10. 1887, I I I / 5 , 172 f.) Und in
„Ecce h o m o " bemerkt er über die „Geschichte des Zarathustra" ( E H , Also sprach
Zarathustra 1, 6 / 3 , 333), daß er „als Vorzeichen" der „Grundconception des W e r k s " , des
Gedankens der ewigen Wiederkunft, „eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende
Veränderung meines Geschmacks, vor Allem in der Musik" findet: „Man darf vielleicht
den ganzen Zarathustra unter die Musik rechnen; — sicherlich war eine Wiedergeburt in
der Kunst zu h ö r e n , eine Vorausbedingung dazu."?:
Das Denken erwächst, so lautet Nietzsches von seiner Philosophie schon in der
„Geburt der Tragödie" bedachte Erfahrung, aus einer affektiven Spannung, welche sich
als musikalische Gestimmtheit äußert, die das W o r t nur unzureichend zu übertragen
vermag (eine affektive Spannung, die Nietzsche später als Wille zur Macht zu denken
versucht). In dieser Hinsicht betrachtet er auch die Werke anderer Denker: „so lese ich die
Denker und ihre Melodien singe ich nach", heißt es in einem Notat von Ende 1880 (V 7
[18], 5 / 1 , 650), „ich weiß, hinter allen den kalten Worten bewegt sich eine begehrende
Seele, ich höre sie singen, denn meine eigene Seele singt, wenn sie bewegt ist." „Sie hätte
s i n g e n sollen, diese ,neue Seele' — und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals
zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: Ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder
mindestens als Philologe", bemerkt Nietzsche in einem noch anderwärts zu bedenkenden
Satz seines Versuches einer Selbstkritik, den er 1886 seiner philosophischen
Erstlingsschrift gewidmet hat. Unfähig, die Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt —
auch der Hymnus an das Leben läßt nichts von dem hören, was er ihm zuspricht (er selbst
bringt diese seine Unfähigkeit, die musikalische Empfindung in Noten zu fixieren, zum
Ausdruck, wenn er am 31. 12. 1871 über seine Komposition „Nachklang einer
Sylvesternacht" an seinen Freund Gustav Krug schreibt: „Es ist sonderbar, daß die eigne
Empfindung sich so schwer übertragen läßt, und was man dann noch an einer solchen
Musik percipirt, o h n e diese meine Empfindung, das weiß Gott. Es muß was Seltsames
sein, und ich kann mich schlechterdings nicht hineindenken.", I I / l , 269) — , unfähig, die
Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt, sucht er sie in einer Art Klangrede mitzuteilen,
eindringlicher noch als in seinen „rein philosophischen" Texten in seinen mehr
dichterischen Werken, dem Zarathustra und, nach dem Abreißen des philosophischen
Denkens und dem darauf folgenden Verlust der Identität, in den Dionysos-Dithyramben,
auf die nur noch, mit dem erschütternden Intermezzo der Rezitation eines, vielleicht seines
venezianischen Gondelliedes während der nächtlichen Heimfahrt über den Gotthard (Janz
3, S. 43, Anm.), die Klavierrasereien des tobsüchtig Gewordenen folgen, ehe denn die
völlige Apathie eintritt...
Unfähig, die Musik aufzuzeichnen, die er in sich trägt, muß er den Widerklang seiner
inneren Empfindung in den Werken anderer Komponisten suchen. Zunächst glaubt er ihn
in den Werken Richard Wagners finden zu können. So bemerkt er in jenem schon zitierten
Brief, den er am 21. 12. 1871, am T a g e nach einem Wagner-Konzert in Mannheim,
geschrieben hat, im Hinblick auf die Gedanken der „Geburt der Tragödie" über die Musik
des Tribschener Meisters: „Mir gieng(es) wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt.
Denn genau das ist Musik und nichts sonst! Und genau das meine ich mit dem W o r t
,Musik', wenn ich das Dionysische schildere, und nichts sonst!" ( I I / l , 2 5 5 — 2 5 8 , hier: S.
256) Später, in dem der „Geburt der T r a g ö d i e " gewidmeten Abschnitt des „Ecce h o m o " ,
analysiert er diese Fehleinschätzung: „Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass was
ich in jungen Jahren bei Wagnerischer Musik gehört habe, Nichts überhaupt mit Wagner
zu thun hat; dass wenn ich die dionysische Musik beschrieb, ich das beschrieb, was i c h
gehört hatte, — dass ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren
musste, den ich in mir trug." ( E H , Die Geburt der Tragödie 4, 6 / 3 , 311 f-)
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 385

Heidegger hat diese unwillkürliche „Übersetzung" im Auge, wenn er über den


geistigen und menschlichen Irrtum des erwachenden Denkers bemerkt: Der „aus dem
Rausch kommende Fortriß ins Ganze war es, wodurch der Mensch Richard Wagner und
sein W e r k den jungen Nietzsche in den Bann zogen; doch dieses war nur möglich, weil
dem in Nietzsche selbst etwas entgegen kam, jenes, was Nietzsche dann das Dionysische
nannte. Aber weil Wagner die bloße Aufsteigerung des Dionysischen und die Verströmung
in ihm suchte, Nietzsche aber seine Bändigung und Gestaltung, deshalb war auch der Riß
zwischen beiden schon vorbestimmt." (Nietzsche, Bd. 1, S. 105) Diese Ausführungen
präzisierend kann — im Vorgriff auf unsere Ausführungen über die „Geburt der
Tragödie" — gesagt werden, daß der Nietzschesche Begriff des Dionysischen ein
relationaler Begriff ist, der auf denjenigen des Apollinischen in der Weise bezogen ist, daß
das Dionysische nur im Widerhalt des Apollinischen wie auch umgekehrt das Apollinische
nur im Widerstreit des Dionysischen gedacht werden kann. Das dieses Haltes entschlagene
„rein Dionysische", das Heidegger im Anschluß an Nietzsche Wagner zuspricht, nennt die
„Geburt der Tragödie" — terminologisch widersprüchlich, dazu später — das Tragische
oder auch Buddhaistische, das „rein Apollinische" hingegen das Sokratische oder
Alexandrinische, auch das Römische. W o das Tragische oder auch das Sokratische zu
herrschenden Lebensformen werden, ist nach Nietzsche das Leben erkrankt. Mithin auch
im Falle der von Wagner als Rettung aus der sokratischen Erstarrung unserer Kultur
gepriesenen „Auflösung alles Festen in das flüssige Nachgiebige, Eindrucksempfängliche,
Schwimmende und Verschwimmende", muß doch das Ubermaß der Erfahrung der
dionysischen Ek-stasis Nietzsche zufolge in die Bemessenheit der apollinischen Existenz
gerettet, in ihre Gemessenheit gefügt werden. Umgekehrt hat sich aber auch diese Existenz
dem dionysischen Fortriß offenzuhalten, will sie nicht der sokratischen Erstarrung und
Vermessenheit anheimfallen. Von dieser ist aber die rationale und rationelle, die
wissenschaftsorientierte Lebensweise der Gegenwartskultur gezeichnet, deren Anfänge
Nietzsche auf Sokrates zurückführt.
Angesichts dieser Entartungsform des Apollinischen war es möglich, daß Nietzsche
einen Augenblick lang im Wagnerschen Gesamtkunstwerk das aus dieser Gefährdung des
Lebens und der Kultur Rettende erblickte, konnte es doch so scheinen, als solle hier erneut
die für den Vollzug des Werdens unabdingbare Gegenspannung aufgebaut werden. Indes
mußte Nietzsche alsbald erkennen, daß Wagner der Spannung in der entgegengesetzten
Richtung zu entkommen suchte.
In bestimmter Hinsicht kann diese Spannung auch als Widerstreit von Gesetz und
Chaos, d. h. von Sein und Werden bestimmt werden. Wir haben bereits gesehen, daß
Nietzsche als die tiefste uns erreichbare Scheinbarkeit das Werden ansieht, als welches sich
uns als Fluß der bloßen Empfindung in der Zeit darstellt. Auf der anderen Seite muß jedoch
die Frage gestellt werden, warum unser Erkenntnisapparat dieses Werden zum Sein
feststellt und uns damit ein täuschendes Bild der Wirklichkeit vermittelt. Die Antwort
glaubt Nietzsche in dem Gedanken finden zu können, daß sich das Werden selber Halt
geben, daß es sich beständigen muß, um fortschreiten zu können. Das meint jedoch nicht,
daß allererst das Werden irgendwo vorhanden wäre, ehe es das Sein aus sich heraussetzte
— was bei Nietzsche zudem immer heißt: viele „ S e i n e " — , vielmehr ist es nur in der Form
des dem Werden widerstreitenden Seins: das Werden vollzieht sich in der Form des
Widerspiels von Werden und Sein. Mit Nietzsches mythologischen Termini gesprochen:
Dionysos erscheint als Streit von Dionysos und Apoll — für uns zumindest, die wir uns
selber nur unter der Hinsichtnahme des principium individuationis begreifen können und
als derweise apollinisch Gefügte das Werden, wie oben gesagt (s. S. 36), nur im Gegenhalt
zum Sein verstehen können.
Dieser Gedanke eines Widerspiels von Dionysos und Apoll trägt letztlich auch
Nietzsches Begriff des „großen Stils", den Heidegger als zentral für Nietzsches
Kunstphilosophie ansieht und der ihm Anlaß für eine — vorgeblich mit Nietzsches
letztgültigen Ansichten übereinstimmende — Abqualifizierung des Wesens der Musik
wird.
386 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Als großen Stil bestimmt Heidegger dasjenige, worin für Nietzsche „die Kunst wirklich
in ihr Wesen kommt" (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a. a. O., S. 145).
Gleichwohl suche man bei ihm vergeblich „nach einer Wesensbestimmung und
Wesensbegründung dessen, was Stil heißt" (ebd.). Auch über das, was „großer Stil" meint,
spreche er nur in knappen Hinweisen. „Was Nietzsche den großen Stil nennt, dem kommt
am nächsten der strenge Stil, der klassische." (Ebd., S. 146) Grundbedingung des
Klassischen sei aber für Nietzsche die „gleichursprüngliche Freiheit zu den äußersten
Gegensätzen, Chaos und Gesetz." (In der von Heidegger selber an anderer Stelle, S. 157,
gebrauchten Terminologie Nietzsches: zum Dionysischen und Apollinischen.) „Also,
wohlgemerkt, nicht die einfache Bezwingung des Chaos in einer Form, sondern jene
Herrschaft, die die Urwüchsigkeit des Chaos und die Ursprünglichkeit des Gesetzes
widerwendig zueinander und gleich notwendig unter einem Joch gehen läßt: die freie
Verfügung über dieses J o c h , die gleich weit entfernt ist von einer Erstarrung der Form im
Lehrhaften und Formalen wie von einem reinen Vertaumeln im Rausch als dem
vermeintlich eigentlich Lebendigen. W o die freie Verfügung über dieses Joch das sich
bildende Gesetz des Geschehens ist, da ist der große Stil; wo der große Stil, da ist die Kunst
eigentlich in der Reinheit ihrer Wesensfülle wirklich." (Ebd., S. 150)
Heidegger fährt fort: „Wenn Nietzsche von der Kunst im wesentlichen und
maßstäblichen Sinne handelt, meint er immer die Kunst des großen Stils. Und von hier aus
kommt sein innerster Gegensatz zu Wagner am schärfsten ans Licht, vor allem deshalb,
weil die Auffassung des großen Stils zugleich eine grundsätzliche Entscheidung nicht nur
über Wagners Musik, sondern über das Wesen der Musik überhaupt als Kunst in sich
schließt." (Ebd., S. 150 f.)
Für Heidegger werden in diesem Zusammenhang drei Aufzeichnungen aus der
Spätzeit von Nietzsches Philosophieren wichtig, die er in seiner im Wintersemester
1 9 3 6 / 3 7 gehaltenen Vorlesungen „Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst" zitiert
(ebd., S. 151 f.). Die erste Aufzeichnung aus der Zeit der „Morgenröthe" lautet im
Zusammenhang (von Heidegger wird nur der erste Halbsatz angeführt): „ D i e Musik hat
keinen Klang für die Entzückungen des Geistes; will sie den Zustand von Faust und
Hamlet und Manfred wiedergeben, so läßt sie den Geist weg und malt Gemüthszustände,
die höchst unangenehm sind ohne Geist und gar nicht zum Ansehen taugen; sie vergröbert
und malt die Mißvergnügtheit und den Jammer, vielleicht mit m u s i k a l i s c h e m Geiste;
aber wie schrecklich ist diese Kunst, wenn sie ohne Auswahl das Häßliche malt: welche
Martern sind den Tönen zu eigen, den aufdringlichen T ö n e n ! — Liegt es daran, daß unter
den Musikern ein feiner und wohlgestalteter Geist überhaupt selten ist? D a ß sie das Fühlen
in sich nie isoliren und seine Strahlenbrechung und Farbigkeit im Blitz des Gedankens nicht
kennen? Sie müssen alle Zustände vergröbern, gleichsam ins Unmenschliche
zurückübersetzen: wie als ob die Gedanken und die Worte noch nicht erfunden seien. Dies
ist übrigens ein großer Reiz: es ist Urnatur in der Musik: sie gehört in die Zeit, wo man die
wilde Natur der Landschaft verehrt und die Hochgebirge entdeckt hat. Einer Gesellschaft,
welche den geistigen Genüssen nicht gewachsen ist, welche selbst zu gedankenarm für
Gemälde ist, und überhaupt ihre Kopf-Kraft schon verthan hat, wenn sie sich anschickt,
sich zu e r g ö t z e n , bleibt der Appell an die Gefühle und Sinne: und in diesen bietet der
Musiker die anständigste Ergötzung. Schon gemeiner ist der Theatergenuß, mit dem
Conterfei menschlicher Vorgänge und dem groben Reize der indirekten Nachahmung
aufregender Scenen. Ein Schritt weiter: und wir haben, zur Erholung, die Erregung der
Triebe durch Getränke, usw. — Der Dichter steht höher als der Musiker, er macht höhere
Ansprüche, nämlich an den ganzen Menschen: und der Denker macht noch höhere
Ansprüche: er will die ganze ges(ammelte) frische Kraft und fordert nicht zum Genießen
sondern zum Ringkampf und zur tiefsten Entsagung aller persönlichen Triebe auf."
(Herbst 1880, V 6 [39], 5 / 1 , 533 f.)
Das zweite Zitat stammt aus dem gleichen Zeitraum (auch hier zitiert Heidegger nur
den ersten Halbsatz): „187. D e r Dichter läßt den erkennenwollenden Trieb s p i e l e n , der
Musiker läßt ihn a u s r u h e n , — sollte wirklich Beides neben einander möglich sein? Sind
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 387

wir ganz der Musik hingegeben, so giebt es keine W o r t e in unserem Kopfe, — eine große
Erleichterung; sobald wir wieder W o r t e hören und Schlüsse machen, das heißt sobald wir
den Text verstehen, ist unsere Empfindung f ü r die Musik oberflächlich geworden: wir
verbinden sie jetzt mit Begriffen, wir vergleichen sie mit Gefühlen und üben uns im
symbolischen Verstehen, — sehr unterhaltend! Aber mit dem tiefen seltsamen Zauber, der
unsern Gedanken einmal Ruhe gab, mit jener farbigen Dämmerung, welche den geistigen
T a g einmal auslöschte, ist es vorbei. — Sobald man freilich die W o r t e nicht mehr versteht,
ist Alles wieder in O r d n u n g : [ . . . ] . — Die O p e r will die Augen zugleich beschäftigen, und
weil bei der großen Menge die Augen größer sind, als die Ohren, was viel sagen will, so
richtet sich die Musik der O p e r nach den Augen und begnügt sich, charakteristische
Fanfaren zu blasen, sobald etwas Neues zu sehen ist, — Anfang der Barbarei." (Frühjahr
1880, V 3 [118], 5/1, 411 f.)
Die dritte, aus dem Frühjahr 1888 stammende Aufzeichnung zitiert Heidegger
ausführlicher. Wir geben hier im wesentlichen die von ihm angeführten Passagen wieder,
halten uns aber auch in diesem Falle an die K G W : „Wille zur Macht als K u n s t / / , M u s i k '
— u n d d e r g r o ß e S t y l / / Die Größe eines Künstlers bemißt sich nicht nach den
,schönen Gefühlen' die er erregt: das mögen die Weiblein glauben. Sondern nach dem
Grade, in dem er sich dem großen Stile nähert, in dem er fähig ist des großen Stils. Dieser
Stil hat das mit der großen Leidenschaft gemein, daß er es verschmäht zu gefallen; daß er es
vergißt zu überreden; daß er befiehlt; daß er w i l l . . . Uber das Chaos H e r r werden das
man ist; sein Chaos zwingen, Form zu werden: Nothwendigkeit werden in Form: logisch,
einfach, unzweideutig, Mathematik werden; G e s e t z werden —: das ist hier die große
Ambition. Mit ihr stößt man zurück; nichts reizt mehr die Liebe zu solchen
Gewaltmenschen — eine Einöde legt sich um sie, ein Schweigen, eine Furcht wie vor einem
großen Frevel.. .//Alle Künste kennen solche Ambitiöse des großen Stils: warum fehlen sie
in der Musik? Noch niemals hat ein Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo
Pitti schuf?.. Hier liegt ein Problem. Gehört die Musik vielleich in jene Cultur, w o das
Reich aller Art Gewaltmenschen schon zu Ende gieng? Widerspräche zuletzt der Begriff
großer Stil schon der Seele der Musik, — dem ,Weibe' in unserer Musik?.. . / / I c h berühre
hier eine Cardinal-Frage: wohin gehört unsere ganze Musik? Die Zeitalter des klassischen
Geschmacks kennen nichts ihr Vergleichbares: sie ist aufgeblüht, als die Renaissance-Welt
ihren Abend erreichte, als die .Freiheit' aus den Sitten und selbst aus den Wünschen davon
war: gehört es zu ihrem Charakter, Gegenrenaissance zu sein? Und anders ausgedrückt
eine Decadence-Kunst zu sein? etwa wie der Barockstil eine Decadence-Kunst ist? Ist sie
die Schwester des Barockstils, da sie jedenfalls seine Zeitgenossin ist? Ist Musik, moderne
Musik nicht schon d e c a d e n c e ? . . . / / [ . . . ] / / I c h habe schon früher einmal den Finger auf
diese Frage gelegt: ob unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist? ob
sie nicht die Nächstverwandte des Barockstils ist? ob sie nicht im Widerspruch zu allem
klassischen Geschmack gewachsen ist, so daß sich in ihr jede Ambition der Classicität von
selbst verböte?.. . / / A u f diese Werthfrage ersten Ranges würde die Antwort nicht
zweifelhaft sein dürfen, wenn die Thatsache richtig abgeschätzt worden wäre, daß die
Musik als Romantik ihre höchste Reife und Fülle erlangt — noch einmal als
Reaktions-Bewegung gegen die Classicität.. . / / M o z a r t — eine zärtliche und verliebte
Seele, aber ganz achtzehntes Jahrhundert, auch noch in seinem E r n s t e . . . Beethoven der
erste große Romantiker, wie im Sinne des f r a n z ö s i s c h e n Begriffs Romantik, wie
Wagner der letzte große Romantiker ist... beides instinktive Widersacher des klassischen
Geschmacks, des strengen Stils, — um vom .großen' hier nicht zu r e d e n . . . [ . . . ] " (VIII 14
[61], 8 / 3 , 38—40).
Wir haben diese Ausführungen Nietzsches in aller Ausführlichkeit zitiert, um die Frage
aufwerfen zu können, ob sich Heidegger mit Recht auf sie berufen kann, wenn er im
Rahmen seiner Erörterungen zu Nietzsches Begriff des großen Stils im Hinblick auf diesen
zu einer Abqualifizierung des Wesens der Musik gelangt.
Vorab muß dabei angemerkt werden, daß der Begriff „ W e s e n " im Falle des
Genealogen Nietzsche nur in historischer Hinsichtnahme verwendet werden darf,
388 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

dergestalt, daß mit ihm die bei einem Phänomen oder Phänomenbereich bisher zutage
getretenen Möglichkeiten seines Erscheinens bezeichnet werden: „Alles aber ist geworden;
e s g i e b t k e i n e e w i g e n T h a t s a c h e n : sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. —
Demnach ist das h i s t o r i s c h e P h i l o s o p h i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die
Tugend der Bescheidung.", heißt es im 2. Aphorismus von „Menschliches,
Allzumenschliches I " (4/2, 20 f., hier: S. 21). Und gleichsinnig damit schreibt Nietzsche im
2. Teil jener Schrift, in dessen 171. Aphorismus (4/3, 86—88, hier: S. 86): „ D i e Musik ist
eben n i c h t eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt
hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz
bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt:
die Musik Palestrina's würde f ü r einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum
— was würde Palestrina bei der Musik Rossini's hören? — Vielleicht, dass auch unsere
neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne
nicht mehr verstanden wird: denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken
begriffen ist; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso
ein gewisser K a t h o l i c i s m u s d e s G e f ü h l s wie die Lust an allem h e i m i s c h - n a -
t i o n a l e n W e s e n u n d U r w e s e n zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten
D u f t ausgoss: welche beide Richtungen des Empfindens, in grösster Stärke erfasst und bis
in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen
gekommen sind." (Von diesem Wesensbegriff her gesehen erscheint uns Heideggers
Behauptung, daß Nietzsches Aufzeichnung über Musik und „großen Stil" keiner
historischen Berichtigung zugänglich sei, als unrichtig. Er geht von einem anderen
Wesensbegriff aus, wenn er die Bemerkung eines Studenten, Nietzsches Behauptungen in
jener Notiz seien „historisch einfach irrig", erfülle doch „Bachs Musik ζ. B., als ,die Kunst
der Fuge', [ . . . ] gerade alle die Bedingungen, die Nietzsche aufzählt, wenn er den großen
Stil verdeutlicht: logisch, einfach, mathematisch, Gesetz, Ruhe, Durchsichtigkeit, keine
schönen Gefühle", mit den Bemerkungen zurückweist, es handele es sich in der Frage
„Musik und großer Stil" „nicht um die Frage, ob in der Musik bisher der große Stil vorkam
oder nicht, sondern um die grundsätzliche Frage, ob in der Musik als Musik der große Stil
überhaupt möglich ist", d. h. „um eine erst zu vollziehende Entscheidung über das Wesen
der Musik als solcher und ihre Stellung in der Rangordnung der Künste" (Μ. H.,
Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a. a. O., S. 157 f.). Nicht zuletzt steht dieser
Behauptung aber die Tatsache entgegen, daß Nietzsche den Satz: „ N o c h niemals hat ein
Musiker gebaut, wie jener Baumeister, der den Palazzo Pitti schuf" mit einem
Fragezeichen schließt, was Heidegger indes nicht wissen konnte, da dieser Satz in der von
ihm benutzten Großoktav-Ausgabe mit drei Punkten beendet wird: Dem eine historische
Behauptung aussprechenden Satz wird so der Zweifelscharakter genommen, in dem sich
die von Heidegger apodiktisch bestrittene Möglichkeit bekundet, daß die Musik den
großen Stil ausprägen könnte.
Im Sinne jenes Wesensbegriffes sind mithin auch die zitierten Notate zu verstehen. Sie
bedenken, wie vor allem an der 3. Aufzeichnung deutlich wird („Widerspräche zuletzt der
Begriff großer Stil schon der Seele der Musik, — dem ,Weibe' in unserer Musik?", „wohin
gehört unsere ganze Musik?", „Ist Musik, moderne Musik nicht schon decadence?", „ o b
unsere Musik nicht ein Stück Gegenrenaissance in der Kunst ist?"), das Wesen u n s e r e r
Musik, d. h. der abendländischen Musik, wie sie sich etwa vom Mittelalter bis zur Romantik
gezeigt hat — und nicht das Wesen der Musik als solcher. (Unmittelbar im Anschluß an
jene Notiz engt Nietzsche seinen Fragebereich sogar noch weiter ein: „ M o d e r n i t ä t / / d i e
deutsche r o m a n t i s c h e Musik, ihre U n g e i s t i g k e i t , ihr H a ß g e g e n die
, A u f k l ä r u n g ' u n d . V e r n u n f t ' " , kann man dort lesen (VIII14 [62], 8/3, 40). Schon
im November 1887—März 1888 hat er in verwandter Weise gefragt (VIII 11 [315], 8/2,
375): „ W a r u m kulminirt die deutsche Musik zur Zeit der deutschen Romantik? W a r u m
fehlt Goethe in der deutschen Musik? Wie viel Schiller, genauer wie viel ,Thekla' ist
dagegen in B e e t h o v e n ! [ . . . ] C u l t u s d e r M u s i k " . ) Dieser Musik hält Nietzsche vor,
wie überhaupt die gesamte (nach)sokratische Kultur — mit Ausnahme der
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 389

Renaissancekultur — der decadence verfallen zu sein. So bemerkt Nietzsche in „ E c c e


h o m o " zu seiner Schrift „ D e r Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem" (Abschnitt 1 , 6 / 3 ,
3 5 5 ) : „ W o r a n ich leide, wenn ich am Schicksal der Musik leide? Daran, dass die Musik
um ihren weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist, — dass sie
decadence-Musik und nicht mehr die Flöte des Dionysos i s t . . . " Und im „Versuch einer
Selbstkritik" seiner philosophischen Erstlingsschrift (6. Abschnitt, 3 / 1 , 14) teilt er mit: „In
der That, inzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem
,deutschen Wesen' denken, insgleichen von der jetzigen d e u t s c h e n M u s i k , als welche
Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen Kunstformen:
überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke,
das den T r u n k liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten
Eigenschaft als berauschendes und zugleich b e n e b e l n d e s Narkotikum. [ . . . ] wie
müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romantischen Ursprungs wäre,
gleich der deutschen, — sondern d i o n y s i s c h e n ? . . . "
In ihrem von Nietzsche gedachten Idealzustand ist die Musik im Verhältnis zu den
anderen Künsten darum aber am meisten dionysisch zu nennen, weil sie den dionysischen
Rauschzustand am leichtesten und intensivsten auszulösen vermag. In ihm ist „das
gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks
mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens,
Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt." ( G D , Streifzüge
eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 , 111). Der Mensch wird, wie es in der „Geburt der
Tragödie" heißt (Abschnitt 2, 3 / 1 , 29), „zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen
Fähigkeiten gereizt". Zwar sei die Musik, „wie wir sie heute verstehn", wohl „gleichfalls
eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel
von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s i d u u m des
dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine
Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem
gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht
mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist D a s der
eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam
erreichte Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen." ( G D ,
6 / 3 , 1 1 2 ) Gleichwohl ist in dieser Spezifikation als solcher noch nicht der „Sündenfall" der
Musikgeschichte, die Ursache des Verfalls der Musik, zu sehen. E r muß vielmehr in einer
Folge dieser Spezifikation erblickt werden, daß nämlich die Musik endlich zur „Sprache
unerlöster Innerlichkeit" (Bernhard Lypp, Dionysisch-apollinisch: Ein unhaltbarer
Gegensatz, Nietzsches,Physiologie' der Kunst als Version ,dionysischen' Philosophierens,
in: Nietzsche-Studien 1 3 / 1 9 8 4 , S. 3 5 6 — 3 7 3 , hier: S. 369), zur Sprache formlosen Gefühls
wurde. Nietzsche illustriert dies in der 3. Aufzeichnung am Beispiel der technischen unter
den Künsten, der Architektur, die ganz im Gegensatz dazu „hingestellte [ . . . ]
Notwendigkeit" ist (ebd.), sind doch Bauten „in versichtbarter Form, was sie bedeuten"
(ebd.). Sie prägen das aus, was sie sind, fügen sich in eine deutliche Gestalt, so daß in ihnen
„jede monologische Kunst der Innerlichkeit zu einem E n d e " (ebd.) kommt. Indem sie so
das J o c h des Widerstreits von Dionysos und Apoll frei übernehmen, entsprechen sie
demjenigen, was Nietzsche als „großer Stil" vorschwebt.
Insofern aber die Musik die Sprache unerlöster Innerlichkeit und bloßer Leidenschaft
ist, wird durch sie zudem „die Welt a l l e g o r i s i e r t " (ebd.), dies der zentrale Vorwurf
Nietzsches, der sich auch in jener Bemerkung ausspricht, „dass die Musik um ihren
weltverklärenden, jasagenden Charakter gebracht worden ist". Gegen die „religiöse
Herkunft der neueren Musik" erhebt Nietzsche mit Beginn der sogenannten zweiten Phase
seines Denkens schon Einwendungen, mit ihrem Bedenken in „Menschliches,
Allzumenschliches I " , Aphorismus 219 — auf ihn verweist Nietzsche in der dritten
Aufzeichnung mit seiner Bemerkung „Ich habe schon früher einmal den Finger auf diese
Frage gelegt" — , wendet sich Nietzsche auch öffentlich von Wagner ab, ein Bedenken, das
er dann in jenem bereits zitierten Aphorismus 171 aus dem zweiten Teil dieser Schrift
390 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

wiederholt. In Übereinstimmung damit zeichnet er noch im Frühjahr 1888 auf (VIII 14


[42], 8 / 3 , 31): „Wie viel uneingeständliche und selbst unverstandene Befriedigung aller
religiösen Bedürfnisse ist noch in der Wagnerschen Musik!"
Die Allegorisierung der Welt durch Transzendierung, die Nietzsche als Vernichtigung
derselben begreift, ist in seinen Augen auch der letzte Grund d a f ü r , daß in den
fortgeschrittensten Formen sowohl der Literatur wie auch der Musik sich untergeordnete
Teile gegenüber dem Ganzen verselbständigen — so bestimmt Nietzsche im Anschluß an
Paul Bourgets Charakterisierung der literarischen decadence in dessen Baudelaire-Aufsatz
aus den „Essais de psychologie contemporaine" die musikalische und literarische
decadence. (Vgl. zu dieser Fragestellung: Carl Pestalozzi, Nietzsches Baudelaire-Rezep-
tion, in: Nietzsche-Studien 7/1978, S. 158—178, und Wolfgang Müller-Lauter, Artistische
decadence als physiologische decadence. Zu Friedrich Nietzsches später Kritik am späten
Richard Wagner, in: Communicatio fidei, Festschrift f ü r Eugen Biser, Regensburg 1983,
S. 285—294.) Schon bei seiner ersten Lektüre dieses Buches in dessen Erscheinungsjahr
1883 bezieht Nietzsche im übrigen Bourgets Analyse auf Wagner (vgl. Winter 1883—1884,
VII 24 [6], 687 f., hier: S. 688). Wenn auch das Wort „decadence" erst 1888, in seinem
letzten Schaffensjahr „zu einem der zentralen Begriffe seines Philosophierens" wurde
(Müller-Lauter, Artistische decadence, a. a. Ο., S. 285), so hat er doch „den Sachverbalt
von früh an bedacht" (ebd.). (Bereits in einer Aufzeichnung von 1869/70—Frühjahr 1870,
III 3 [51], 3 / 3 , 74, bedenkt er — wenngleich hier noch unter einer metaphysischen
Hinsichtnahme — den Verlust der Fähigkeit zum organischen Gestalten, als welchen er
später der decadence vorhält und auf physiologische Gegebenheiten z u r ü c k f ü h r t — eine
Reduktion, die der frühen Willenskonzeption nicht fernsteht: „ D e r absterbende Wille (der
s t e r b e n d e G o t t [gemeint ist Dionysos]) zerbröckelt in die Individualitäten. Sein
Bestreben ist immer die verlorene Einheit, sein τέλος immer weiteres Zerfallen. Jede
errungene Einheit sein Triumph, vornehmlich die Kunst, die Religion.") Schon in der
„ M o r g e n r ö t h e " fordert Nietzsche eine neue, eine — wie er später in Wiederaufnahme
eines Terminus der frühen „Wagnerschen" Epoche sagen wird — „dionysische" Musik.
Im „ H i c Rhodus, hic salta" überschriebenen Aphorismus Nr. 461 gibt er zu bedenken:
„Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der
D ä m o n des Meeres, an sich keinen Charakter hat: diese Musik ist ehemals dem
c h r i s t l i c h e n G e l e h r t e n nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen
vermocht: warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen
Klang finden, der d e m i d e a l e n D e n k e r entspricht? — eine Musik, die erst in den
weiten schwebenden Wölbungen s e i n e r Seele sich h e i m i s c h auf und nieder zu wiegen
vermöchte?" (5/1, 281 f., hier: S. 281) Wie sich Nietzsche diese Musik schließlich denkt,
das geht aus jener Vorrede zum 2. Teil von „Menschliches, Allzumenschliches" hervor, die
er im Jahre 1886 geschrieben hat: „ G e g e n die romantische Musik wendete sich damals
mein erster Argwohn, meine nächste Vorsicht; und wenn ich überhaupt noch etwas von der
Musik hoffte, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker kommen, kühn, fein,
boshaft, südlich, übergesund genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche Weise
R a c h e z u n e h m e n . " (4/3, 7) Und in einem Brief an Heinrich Köselitz, alias Peter Gast,
schreibt Nietzsche am 10.11.1887: „Es scheint mit nöthig, den ganzen Gegensatz
,italiänische und französische Musik' erst wieder zu entdecken und den hybriden Begriff
,deutsche Musik' einmal bei Seite zu thun. Es handelt sich um einen S t i l g e g e n s a t z : die
H e r k u n f t der Componisten ist dafür ganz gleichgültig. [ . . . ] Man muß dem bornirten
,deutschen Ernst' in der Musik das G e n i e d e r H e i t e r k e i t entgegenstellen." (III/5,
190-192, hier: S. 191) Die Tatsache, daß der späte Nietzsche dieses Ideal in den Musiken
Gasts und Bizets verkörpert gesehen hat — so heißt es etwa in einer Aufzeichnung vom
Frühjahr 1888 (VIII 15 [96], 8/3, 257) die beste moderne O p e r stamme von Köselitz, „die
einzige, die von W(agner)-Deutschland frei ist: eine Neucomposition des ,matrimonio
s e g r e t o ' " , dann folge Bizets Carmen, „die beinahe davon frei ist", an dritter Stelle stünden
Wagners Meistersinger, „ein Meisterstück des Dilettantismus in der Musik", worauf er mit
der Bemerkung schließt: „Versuch einer Umwerthung der W e r t h e " —, diese Tatsache
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 391

wollen wir, soweit damit Geschmacksfragen angesprochen sind, auf sich beruhen lassen
und nur hervorheben, was Nietzsche an der Musik Bizets f ü r bemerkenswert hält: „Sie
baut, organisirt, wird fertig: damit macht sie den Gegensatz zum Polypen in der Musik, zur
.unendlichen Melodie'." (WA 1, 6 / 3 , 7 f.) Sie betont mithin wieder die apollinischen
Elemente der Musik, den T a k t und den Rhythmus, die Elemente, die Wagner zudiensten
der reinen Gefühlsübersteigerung ins Rauschhafte „dionysisch" umgeprägt hat. Schon
1871 bemerkt Nietzsche: „Die Bedeutung des T a k t e s als Schranke der Musik, gegen
ihre größte Wirkung. Bei Wagner empfindet man mitunter, wie Musik ohne ihn wirkt:
auch hierin ist er i d y l l i s c h . " (III 9 [116], 3 / 3 , 329) Ist diese Aufzeichnung, die ergänzt
wird durch die vorhergehende: „Im Tristan ist W o r t Gedanke und Bild G e g e n g e w i c h t
gegen den völlig verzehrenden Idealismus der Musik." (III 9 [113] 3 / 3 , 329), in ihrer
Ambivalenz doch eher positiv gemeint, so wird Wagners Bestreben, „alle mathematischen
Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen" — „ E r fürchtet die Versteinerung, die
Krystallisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische" (VM 134, 4/3, 70 f.,
hier: S. 71; Hervorhebung durch mich, T h . B.) —, Nietzsche bald darauf zu einem
beständig wiederholten Einwand gegen die „Zukunftsmusik": „Die künstlerische Absicht,
welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als
,unendliche Melodie' bezeichnet wird, kann man sich dadurch klar machen, dass man in's
Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem
wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt: man soll s c h w i m m e n . In der
bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und
Wieder, Schneller und Langsamer, t a n z e n : wobei das hierzu nöthige Maass, das
Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers
eine fortwährende B e s o n n e n h e i t e r z w a n g " (ebd., S. 70). Wagners Musik ist, wie
Nietzsche in „ D e r Fall W a g n e r " sagt, „eine Recrudescenz des Chaos [ . . . ] / / I n der
Sprache des Meisters geredet: Unendlichkeit, aber ohne Melodie" (6/3, 18):
Gewissermaßen als Ersatz dafür, daß seine Musik trotz ihrer bedeutend auftretenden
Gebärden kein lebendiges Ganzes ergebe, habe W a g n e r die ,Idee der Unendlichkeit'
offeriert, die seine Musik ,bedeute' (ebd., S. 30), auf die sie das Ahnen verwiese (ebd.,
S. 18): „er wurde der E r b e H e g e l ' s " .
Die Einwände gegen die überkommene Oper und gegen die Programmusik — das
W o r t im weitesten Sinne verstanden — zielen hingegen in die entgegengesetzte Richtung:
von ihnen wird das apollinische Element in der Weise überbetont, daß sie sich zu sehr an
die optischen Erscheinungen anlehnen. Während sich die O p e r in ihrer Musik nach der den
Augen dargebotenen szenischen Handlung richtet und so zur Szenenmusik verkommt,
sucht die in dem ersten Zitat in bedeutenden zeitgenössischen Werken angesprochene
Programmusik (der Faust-Stoff ist 1857 von Franz Liszt in einer „Faust-Sinfonie"
verarbeitet worden, während es von Richard Wagner eine 1840 entstandene, 1855
umgearbeitete „Faust-Ouvertüre" gibt, Hamlet hinwiederum hat Liszt eine Symphonische
Dichtung gewidmet, die er 1848 komponiert hat, und eine Musik zu Byrons dramatischem
Gedicht „ M a n f r e d " hat Robert Schumann in den Jahren 1848/49 geschrieben) der Musik
ob ihrer Begriffslosigkeit an sich unzugängliche Charaktere und Gemütszustände
abzubilden und sich so der Malerei und der Poesie anzunähern — eine Verfahrensweise,
die Nietzsche bereits in der „Geburt der T r a g ö d i e " angeprangert hat: „jetzt ist die Musik
zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die
Erscheinung selbst: durch welche Armuth sie f ü r unsere Empfindung die Erscheinung
selbst noch herabzieht [ . . . ] Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes, als er,
[ . . . ] , die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt
hatte." ( G T 17, 3 / 1 , 108 f.)
Gesetzt, Heideggers Bestimmung ist richtig, daß demjenigen, was Nietzsche den
„großen Stil" nennt, der klassische Stil am nächsten kommt, dessen Grundbedingung aber
die „gleichursprüngliche Freiheit zu den äußersten Gegensätzen, Chaos und Gesetz", d. h.
zum Dionysischen und zum Apollinischen ist, dann folgt daraus keineswegs, wie
Heidegger meint, daß der Musik als solcher die Fähigkeit zum großen Stil abgeht — weil
392 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

sie, so Heideggers Denken, dem Dionysischen weitaus stärker verpflichtet ist (s. u.).
Dagegen spricht schon die folgende Aufzeichnung vom Frühjahr—Sommer 1888, die in
enger Beziehung zu der dritten der von Heidegger zitierten Aufzeichnungen steht und die
er gleichfalls der von ihm benutzten Großoktav-Ausgabe hätte entnehmen können (GA 14,
145, Nr. 229; wir zitieren im folgenden jedoch nach der K G W ) : „Die Größe eines
Musikers mißt sich nicht nach den schönen Gefühlen, die (er) erregt: das glauben die
Weiber — sie mißt sich nach der Spannkraft seines Willens, nach der Sicherheit, mit der
das Chaos seinem künstl(erischen) Befehl gehorcht und Form wird, nach (der)
Nothwendigkeit, welche seine H a n d in eine Abfolge von Formen legt. Die Größe eines
Musikers — mit Einem W o r t e wird gemessen an seiner Fähigkeit zum großen Stil." (VIII
16 [49], 8/3, 298). Vielmehr spricht Nietzsche, wie gesagt, nur unserer
g e s c h i c h t l i c h m a n i f e s t i e r t e n Musik den großen Stil ab, insofern nämlich in ihr der
Streit zwischen Dionysos und Apoll nicht bis ins Äußerste entfaltet worden ist, setzte dieses
doch ein Gleichgewicht der Streitenden voraus (siehe dazu unsere Auslegung der „Geburt
der Tragödie"), das unsere decadence-Kultur nicht mehr zu wagen vermag: „wovon ein
Decadenz-Geschmack am entferntesten ist, das ist der g r o ß e S t i l : zu dem zum Beispiel
der Palazzo Pitti gehört, aber n i c h t die neunte Symphonie. Der große Stil als die höchste
Steigerung der Kunst der Melodie." Diese Bemerkung aus einem Brief Nietzsches an den
Musiker Carl Fuchs von vermutlich Mitte April 1886 (III/3, 176—179, hier: S. 177) macht
deutlich, daß der Begriff „großer Stil" vor allem aus der Gegnerschaft gegen Wagner —
Beethovens IX. Sinfonie ist das Werk, auf das sich dieser theoretisch immer wieder berufen
hat — und seine „unendliche Melodie" heraus gedacht ist: Ihrer decadencehaften
Kleingliedrigkeit, ihrem „espressivo um jeden Preis" (WA 1 1 , 6 / 3 , 32), das, wie wir bereits
angemerkt haben, den Mangel an Organisation überspielen soll, setzt Nietzsche auch in
diesem Brief die wohlgebaute „schöne Melodie" (WA 6, 6 / 3 , 19), die südliche Melodie
entgegen, die er Bizet zuspricht. (In ,ironischer Antithese gegen Wagner', wie er am
27.12.1888 in einem anderen Brief an Carl Fuchs offenbart: „Das, was ich über Bizet sage,
dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt (B)izet Tausend Mal f ü r mich nicht in
Betracht. Aber als ironische A n t i t h e s e gegen (W)agner wirkt es sehr stark", und er
nennt den Tristan „das c a p i t a l e W e r k und von einer Fascination, die nicht nur in der
Musik, sondern in allen Künsten ohne Gleichen ist", III/5, 553—555, hier: S. 554.)
Zufolge einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1884 besteht der große Stil nämlich „in der
Verachtung der kleinen und kurzen Schönheit, ist ein Sinn f ü r Weniges und Langes." (VIII
25 [321], 7 / 2 , 91) Und in „Ecce homo", im Abschnitt „ W a r u m ich so gute Bücher
schreibe" (4), bemerkt Nietzsche: „Die Kunst des g r o s s e n Rhythmus, der g r o s s e S t i l
der Periodik zum Ausdruck eines ungeheuren Auf und Nieder von sublimer, von
übermenschlicher, Leidenschaft ist erst von mir entdeckt" (6/3, 302 f.).
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Nietzsche die Musik als solche in keiner Weise,
wie Heidegger vermeint, rangmäßig den anderen Künsten nachgeordnet hat, im Gegenteil.
Gerade in ihrer „Ungeistigkeit", positiv gesprochen: in ihrer reinen Sinnlichkeit (siehe
dazu die zweite der von Heidegger zitierten Aufzeichnungen; vgl. auch: W S 167, „ W o die
Musik heimisch ist", 4 / 3 , 259) erkennt Nietzsche ihre überragende Bedeutung.
(Ebendaraus resultiert seine Kritik an der in der Moderne zunehmend zu beobachtenden
„Entsinnlichung der höheren Kunst": „Unsere O h r e n sind, vermöge der ausserordentli-
chen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer
intellectualer geworden. [ . •. ] Was ist von alledem die Consequenz? Je gedankenfähiger
Auge und O h r werden, um so mehr kommen sie an die Gränze, w o sie unsinnlich werden:
die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach,
das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, — und so gelangen wir auf
diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen." MA 217, 4 / 2 , 179 f.)
D a n k ihrer Sinnlichkeit vermag die Musik stärker als die übrigen Künste den Menschen der
Ständigkeit seines vernunftgeprägten und -beherrschten Alltagsstandpunktes zu entsetzen
und ihn in das Ubermaß und die Überfülle des Lebens — oder, wie Nietzsche auch sagt, des
Werdens — zu versetzen, die ihn in ihr auf unfaßbare und unbestimmbare Weise angehen:
Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 393

In der dionysischen Ek-stasis „hat" der Mensch keinen Gegen-Stand mehr, kein Seiendes
und auch kein Sein, nichts mehr, von der Musik je nach dem Grad seiner Empfänglichkeit
auf ihre je eigene Weise be-stimmt, „ist" „ e r " „alles". Doch erst nach der
lebensnotwendigen Rückgewinnung eines „vernünftigen" Standpunktes — die indes mit
dem Verlust des unmittelbaren Anganges der Uberfülle bezahlt wird — vermag er das
„Sein" der dionysischen Ek-stasis zu erschließen, wenngleich nur näherungsweise, ist doch
das Wort, dessen sich die sprachlich verfaßte Vernunft zu bedienen hat, jener Sphäre der
Sprachlosigkeit unangemessen: „Im V e r h ä l t n i ß z u r M u s i k ist alle Mittheilung durch
W o r t e von schamloser Art; das Wort verdünnt und verdummt; das Wort entpersönlicht:
das Wort macht das Ungemeine gemein.", notiert sich Nietzsche im Herbst 1887 (VIII 10
[60], 8/2, 159). Im Lichte des in der dionysischen Ek-stasis Erfahrenen erscheint dem
Menschen dann auch seine alltägliche, die apollinische Existenz in anderer Weise, nämlich
als defizitär gegenüber dem Ubermaß der Ek-stasis — eine Spannung, die es, wie
Nietzsche nicht müde wird zu betonen, jedoch auszuhalten gilt. Von einer solchen
Verrückung der Maßstäbe durch Musik kündet Nietzsche in einer Passage des ersten
Abschnitts der kleinen Decadence-Studie „Der Fall Wagner", an der er im Frühjahr und
im Sommer 1888 gearbeitet hat und die im September des gleichen Jahres erschienen ist
(während die Aufzeichnung, aus der Heidegger eine Abqualifizierung der Musik
herausliest, im Frühjahr 1888 verfaßt wurde): „Hat man bemerkt, dass die Musik den Geist
f r e i m a c h t ? dem Gedanken Flügel giebt? dass man um so mehr Philosoph wird, je mehr
man Musiker wird? — Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das
Licht stark genug für alles Filigran der Dinge; die grossen Probleme nahe zum Greifen; die
Welt wie von einem Berge aus überblickt. — Ich definirte eben das philosophische Pathos.
— Und unversehens fallen mir A n t w o r t e n in den Schooss, ein kleiner Hagel von Eis
und Weisheit, von g e l ö s t e n Problemen... W o bin ich? — Bizet macht mich fruchtbar.
Alles Gute macht mich fruchtbar. Ich habe keine andre Dankbarkeit, ich habe auch keinen
andern B e w e i s dafür, was gut ist. —" (6/3, 8)
Nach der Art, wie ihn eine Musik fruchtbar macht — das meint zunächst und vor allem,
ob sie ihm die dionysische Ver-rückung (Programm- und Gedankenmusik etwa fesseln ihn
an die apollinischen Erscheinungen), schließlich aber auch die Rückgewinnung eines
apollinisch gefügten Standpunktes ermöglicht (was ζ. B. die Musik Wagners zu verhindern
sucht) —, unterscheidet er gute von schlechter, decadencehafte von dionysischer Musik,
die in sich den Widerstreit von Apoll und Dionysos ins Äußerste treibt.
Daß Heidegger hingegen die Musik den anderen Künsten nachordnet, scheint im
wesentlichen zwei Gründe zu haben: zum einen, weil sie ob ihrer „Erkenntnislosigkeit"
niemals die „Werkwerdung des eigentlichen Wissens, des wesentlichen Bezuges des
Geistes zum Sein selbst" (Μ. H., Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, a . a . O . ,
S. 159) sein kann, zum anderen, weil in ihr, wie er wohl erkennen muß, das Sein in das
Werden aufgehoben ist — und nicht umgekehrt. Hörend haben wir das Erfaßte nicht wie
beim Sehen „in einem betonten Sinne gegenüber' ", sondern sind in ihm, so zwar, daß wir
von ihm fortgerissen, der Ständigkeit unseres vernunftgeprägten Standpunktes entsetzt
werden und derweise in einem reinen Vollzugsgeschehen aufgehen. Zumindest scheint dies
der letzte Grund dafür zu sein, daß er der Musik als solcher — entgegen Nietzsches
Intention — die Fähigkeit zum großen Stil abspricht, bestimmt er diesen doch in einer erst
jetzt, im Gefolge der Gesamtausgabe bekannt gewordenen Passage seiner Nietzsche-Vor-
lesung „Der Wille zur Macht als Kunst" — sie fehlt in der von Heidegger selber
veranstalteten Publikation seiner sämtlichen Nietzsche-Vorlesungen — als ,,aktive[n]
Wille[n] zum Sein, so zwar, daß dieser das Werden in sich aufhebt." (Ebd., S. 166) Diese
Bestimmung aber steht in engem Zusammenhang mit seiner Behauptung, daß „beständige
Anwesenheit" der unausgesprochene Sinn des Seins für die gesamte abendländische
Metaphysikgeschichte sei. Insofern dasjenige, was Nietzsche, dem beim Hören von Musik
„in" „sich" erfahrenen Vollzugsgeschehen nachdenkend, als das Dionysische, als das reine
Werden denkt, dieser Behauptung entgegensteht — in seiner Anwesenheit fehlt ihm an sich
selbst die Beständigkeit, die ihm erst die in der Abständigkeit des apollinischen
394 Anmerkungen 259 bis 270 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Standpunktes befangene Vernunft, das lumen naturale, aufzuprägen genötigt ist —,


scheint für Heidegger ein fruchtbarer Zugang sowohl zum Dionysischen als auch zu der
von diesem kündenden Musik versperrt. Das zeigt sich unseres Erachtens nicht zuletzt an
der Bedeutung, die seine Auslegung Nietzsches Gedanken der ewigen Wiederkunft
zuspricht, einem Gedanken, in dem in der T a t dem Werden der Charakter des Seins
aufgeprägt wird, so daß es in seiner Anwesenheit beständigt wird — dies jedoch, wie wir an
anderer Stelle glauben zeigen zu können, im wesentlichen aus ganz anderen Gründen und
mit ganz anderen Konsequenzen als Heidegger meint annehmen zu müssen. Vgl. dazu
Anm. 819.
2 6 0 IV 30 [126], 4 / 3 , 403.

2 6 1 6/3, 69 f.

2 6 2 Z a I , Zarathustras Vorrede 3, 6 / 1 , 9: „Ich beschwöre euch, meine Brüder, b l e i b t der


E r d e t r e u und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!
Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht." Sowie: Z a I , Von der schenkenden
Tugend 2, 6 / 1 , 95: „Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder, mit der Macht eurer Tugend!
Eure schenkende Liebe und eure Erkenntniss diene dem Sinne der E r d e ! "
2 6 3 Juni—Juli 1885, VII 36 [22], 7/3, 284 f., hier: S. 284. Das Zitat genau so.

2 6 4 III 19 [66], 3/4, 28.

2 6 5 Frühjahr 1873, III 26 [11], 3/4, 176 f., hier: S. 177.

266 Vgl etwa: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege,
a. a. O., S. 1-72, hier: S. 69 f.: „ D a s Ge-stell als Wesen der modernen Technik kommt vom
griechisch erfahrenen Vorliegenlassen, λόγος, her, von der griechischen ποίησις und
θέσις. Im Stellen des Ge-stells, d. h. jetzt: im Herausfordern in die Sicherstellung von
allem, spricht der Anspruch der ratio reddenda, d. h. des λόγον διδόναι, so freilich, daß
jetzt dieser Anspruch im Ge-stell die Herrschaft des Unbedingten übernimmt und das
Vor-stellen aus dem griechischen Vernehmen zum Sicher- und Fest-steilen sich
versammelt."
267 Vgl. dazu e twa Goethes Kontroverse mit Newton über das Phänomen der Farbe.
2 6 8 Siehe beispielsweise die nachfolgende Aussage Werner Heisenbergs: „ D i e Naturwissen-

schaft handelt nicht mehr von der Welt, die sich uns unmittelbar darbietet, sondern von
einem dunklen Hintergrund dieser Welt, den wir durch unsere Experimente ans Licht
bringen. Diese objektive Welt wird also doch gewissermaßen erst durch unseren tätigen
Eingriff, durch die verfeinerte Technik des Beobachtens hervorgebracht". (Werner
Heisenberg, Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre im Lichte der modernen
Physik, in: ders., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, Sieben Vorträge,
Leipzig, Stuttgart, Zürich 7 1947, S. 54-70, hier: S. 64.
2 6 9 Insofern wir unter „ G r u n d " überhaupt das Konstitutive einer Erscheinung und nicht etwa

nur das principium der vornietzscheschen Tradition verstehen, insofern ist nicht nur
Nietzsches frühe Philosophie des Willens zum Leben, sondern auch seine spätere
Philosophie des Willens zur Macht, die sich — was Heidegger übersieht — in Absicht und
Ausführung von der überkommenen, von ihr als „metaphysisch" bezeichneten
Prinzipienphilosophie absetzt (vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine
Philosophie der Gegensätze, a . a . O . ; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht,
a. a. O.; ders., Das Willenswesen und der Übermensch, a. a. O), ihrer Selbstklassifizierung
entgegen als Metaphysik einzuordnen: Wir bezeichnen im folgenden alle Fragestellungen,
die auf Gewinnung des Konstitutiven der Erscheinungen, der Bedingungen ihres
Erscheinens, gerichtet sind und so über das physische „ W e s e n " des Dinges, seinen
atmosphärischen Bezug, hinausgehen (μετά) und ihn vernichtigen, als meta-physische
Fragestellungen.
270 Vgl., was Martin Heidegger in: Wer ist Nietzsches Zarathustra? (in: ders., Vorträge und
Aufsätze, Teil I, a. a. O., S. 93 bis 118, hier: S. 104) in ganz anderer und doch verwandter
Hinsicht zu bedenken gibt: „Wie immer auch der Mensch das Seiende als solches vorstellen
mag, er stellt es im Hinblick auf dessen Sein vor. Durch diesen Hinblick geht er über das
Seiende immer schon hinaus und hinüber zum Sein. Hinüber heißt griechisch μετά. Darum
Anmerkungen 270 bis 278 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 395

ist jedes Verhältnis des Menschen zum Seienden als solchen in sich metaphysisch." (Wir
schränken ein: jedes vernunftgeprägte Verhältnis.) Und an anderer Stelle, in seiner
Vorlesung über „Die Grundbegriffe der Metaphysik, Welt—Endlichkeit —Einsamkeit"
bemerkt Heidegger über das metaphysische Fragen (a. a. O., S. 59): Wenn griechisch μετά
„von etwas weg zu etwas anderem" bedeutet, dann handelt τα μετά τά φυσικά von
demjenigen, was sich „von den φυσικά wegwendet und sich zu anderem Seienden, zum
Seienden überhaupt und eigentlichen Seienden hinwendet." Das aber bedeute, daß dieser
Ansatz zwei verschiedene Grundrichtungen des metaphysischen Fragens in sich berge, zum
einen die Frage nach dem Seienden im Ganzen, indem nämlich zurückgefragt wird nach
dem Höchsten und Letzten, dem ursprünglichen Seienden — zunächst nach dem θείον,
später nach dem Gott —, zum anderen aber die Frage nach dem Seienden als solchem, d. h.
nach dem „was jedem Seienden als Seiendem zukommt, jedem öv sofern es öv ist" (ebd.,
S. 65). Beide Fragen fragen über das Sinnliche hinaus, jedoch — was in der Metaphysik
unbedacht bleibe — in grundverschiedener Weise: „Im ersten Fall, bei der theologischen
Erkenntnis, handelt es sich um die Erkenntnis des Nichtsinnlichen im Sinne dessen, was
über den Sinnen als eigenes Seiendes liegt, im zweiten Fall, wenn ich so etwas herausstelle
wie Einheit, Vielheit, Andersheit, was ich nicht schmecken und wiegen kann, handelt es
sich um ein Nichtsinnliches, aber nicht um ein f/iminnliches, sondern um ein
ί/nsinnliches, das nicht durch die Sinne zugänglich ist." (Ebd., S. 68).
271
Hier zitiert nach: HA 1, S. 19.
272
Das Wort „atmosphärisch" ist darum als Titelbezeichnung des „Wesens" (verbal) der Welt
gewählt, weil es bereits in seiner Etymologie die den Menschen angehende, ihn gleichsam
anwehende, unfaßbare und nicht begründbare Umfängnis nennt, als welche sich Welt dem
Menschen zuspricht, und dabei zugleich das darin liegende Moment des Fruchtbaren
hervorhebt, nämlich das Moment des Hervorrufens neuer Möglichkeiten der
Weltbeziehung, worin wir, wie wir später im Anschluß an Goethes „Was fruchtbar ist,
allein ist wahr" kurz aufzeigen werden, das Wesen ursprünglicher Wahrheit erkennen:
άτμός, feuchter Dunst, kommt von άημι, wehen, und σφαίρα (Luft-)Kegel, hängt
vielleicht mit σπαίρω, schnellen, sowie mit σπείρω, erzeugen (daraus ist das Wort
σπέρμα, Same, Saat, Stamm, Sproß, hervorgegangen), zusammen. Eben dieses Moment
meint im Grunde auch Nietzsche, wenn er in seiner 2. Unzeitgemässen Betrachtung
bemerkt: „Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnissvollen
Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein
Genie verurtheilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das
schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbar-werden nicht mehr wundern." (HL 7, 3/1,
294) Wir werden darauf zurückkommen.
273
Siehe Seite 81 ff.
274
Hier zitiert nach: Rene Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, auf
Grund d. Ausg. von Artur Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, durchgesehen von Hans
Günter Zekl, Hamburg 2 1977, S. 53.
27
5 Vgl. Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [230], 3/4, 80: „Der Philosoph [ . . . ] will
Wahrheit, die b l e i b t . "
276
In der sechsten Meditation führt Descartes im Anschluß an den Nachweis, daß die
körperlichen Dinge existieren, aus: „Indessen existieren sie vielleicht nicht alle genau so,
wie ich sie mit den Sinnen wahrnehme, da ja diese sinnliche Wahrnehmung vielfach recht
dunkel und verworren ist; aber wenigstens all das ist in ihnen wirklich vorhanden, was ich
klar und deutlich denke, d. h. alles das, ganz allgemein betrachtet, was zum Inbegriffe der
reinen Mathematik gehört." (Ebd., S. 143 ff.)
277
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 178; vgl. Anm. 197.
278
Wozu noch anzumerken ist, daß Nietzsche jener „Kraft" in Analogie zum menschlichen
Organismus und d. h. in letzter Konsequenz der anthropomorphischen Auslegung „eine
innere Welt" meint zusprechen zu müssen, die er bezeichnet „als,Willen zur Macht', d. h.
als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der
Macht, als schöpferischen Trieb usw." (Juni—Juli 1885, VII 36 [31], 7/3, 287).
396 Anmerkungen 279 bis 280 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

279 In seinem Aufsatz „Über die Tragweite der Artisten-Metaphysik" (in: Nietzsche-Studien
1 3 / 1 9 8 4 , S. 4 3 7 — 4 4 2 ) hat dies Holger Schmid in äußerster Verknappung brillant,
wenngleich in einigen Punkten nicht ganz unanfechtbar, herausgearbeitet. W i r werden
diese den späten Aufzeichnungen Nietzsches gewidmete Arbeit auf den Seiten 263 ff.
eingehend besprechen.
280 finden hier Berührungspunkte mit der Grundthese der in Anm. 28 angesprochenen
Arbeit von Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis. W i r haben bereits
Craemers Ansicht referiert, daß Nietzsche es verabsäumt, sich eine eigene Begrifflichkeit
zu erarbeiten, die seinem Ansinnen, die Welt aus dem Sinnlichen als dem Ursprünglichen
und der mit ihm verbundenen Kunst heraus zu entwerfen, hätte entsprechen und dieses
hätte durchsetzen können. Statt dessen übernehme er die überkommenen metaphysischen
Begrifflichkeiten und Unterscheidungen, wodurch sein Ansatz wesentliche Verdeckungen
und Verbiegungen erleide, ohne daß Nietzsche das merke. So wandele sich das Sinnliche
vom schlechthin Ursprünglichen zum nur noch Ursprünglicheren gegenüber der Logik
und der Wissenschaft, als welche in der Tradition der Sinnlichkeit und der Kunst
präponiert wurden. Derweise kehre Nietzsche das metaphysische Gefüge nur um, anstatt
dieses, wie es seine Grunderfahrung eigentlich erfordere, zu zerstören. Nicht zuletzt
bestehe damit der metaphysische Begründungszwang fort, der jener Grunderfahrung
widerspricht — wie auch Craemer zu sehen scheint, ohne daß er sich indes bemüßigt zeigt,
auf diese in unseren Augen entscheidende Frage einzugehen. Er konstatiert lediglich zu
den mit einer Abwendung von der Sprache des „abstrakten Begriffs" (Winter
1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [51], 3 / 3 , 74) einhergehenden Versuchen Nietzsches, die
Sprache von dem gegenüber dem Erkennen Ursprünglicheren her zu bestimmen: „Dieser
Ubergang überwindet jedoch nicht den ,Grund' der vorgegebenen Sprache: das
Begründen, das Beziehen auf den Einheit gebenden Grund. Gerade daß nur das gegenüber
dem Erkennen Ursprünglichere erfaßt wird, bei Hinterlassung der ersten Position als des
nicht Ursprünglichen, besiegelt das Fortbestehn der Voraussetzung des Begründens. Dem
gemäß aber wird das gegenüber dem Erkennen Urprünglichere verstanden als die
Möglichkeit zu einer erneuten, gegenüber der Wissenschaftskultur neuen und
ursprünglicheren Kulturbegründung. Begründung aber heißt, der vorgegebenen Prägung
entsprechend: abweisendes Unterscheiden." (33) D. h. das Sinnliche wird — sachwidrig —
als das Ursprünglichere gegenüber der Wissenschaft metaphysisch ge- und begründet.
Craemer unterscheidet in diesem Begründungsprozeß verschiedene Stadien, von der
bloßen Übernahme metaphysischer Termini und Unterscheidungen bis hin zur Aufnahme
der Schopenhauerschen Willenssystematik. Dabei äußere sich Nietzsches eigenste Sache in
eben jenen Verbiegungen, die diese Entlehnungen in seinem Philosophieren erführen. Es
ist nun Craemers Anliegen, aus diesen Verformungen Nietzsches Grunderfahrung zu
eruieren, um dann im Gegenzug — Craemer ist sich wohl der Zirkelhaftigkeit dieses
Vorgehens bewußt — aufzuzeigen, wie und warum es bei den terminologischen
Entlehnungen zu besagten Umformungen kommt. Den Fluchtpunkt seines Fragens bildet
die Umdeutung der Schopenhauerschen Willensverneinung in eine Willensbejahung.
Craemer bemerkt dazu: „Nietzsches Wendung von der Verneinung zur Bejahung geht
über die Metaphysik hinaus. Aus bestimmten Zusammenhängen und Ansätzen der Kritik
wird es möglich, Wahrheit und Schein, Dasein, Mythus, Daseinsbejahung ursprünglich
aufzufassen und diesen Entwurf der Wissenschaft, der ,Gelehrtenreligion', der ,idea',
entgegenzusetzen. Erst durch die Rückbeziehung dieses Entwurfs auf den Willensbegriff
wird die ,Bejahung' zur Bejahung des Wollens, erst mit der Einfügung des Daseinsentwurfs
in die Grundstellung des Prinzips kommt es zur Umkehrung der vorgegebenen Systematik,
erst nach diesen Vollzugsschritten und durch sie folgt Nietzsche dem (umgedeuteten)
Grundgefüge der Metaphysik." (9) Weil er aber nicht der Frage nachgeht, warum
Nietzsches Grunderfahrung jedweden Begründungswillen abweist, bleibt Craemers in
vielen Punkten bedenkenswerte „Rekonstruktion" dieses Prozesses letztlich unzurei-
chend: Es hätte des Versuches bedurft, jene Grunderfahrung ins Vor-metaphysische und
damit in ihr Eigenes aus- und d. h. freizulegen. Erst dann wäre auch deutlich geworden,
Anmerkungen 280 bis 290 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 397

warum Nietzsches „Versuche eines nicht-begrifflichen, der Dichtung genäherten"


Sprechens das Ursprüngliche, wie Craemer ahnt, „vielleicht am ehesten" (10, Anm.)
entsprechen; erst dann nämlich, wenn von Nietzsches erkenntnistheoretisch-metaphysi-
scher Begründung des dichterischen Sprechens ab- und dessen Vor-metaphysisches
eingesehen wird.
281
G D , Die „ V e r n u n f t in der Philosophie" 2, 6 / 3 , 69; vgl. Anm. 73, Anm. 110 sowie Anm.
259.
282
P H G 10, 3/2, 337; vgl. auch S. 60.
283 Vgl a u c h Anm. 73.
284
BAW 2, 54—59.
285
Siehe J a n z l , 98—104.
286
Für die Auffassung des späten Nietzsche vgl. folgendes N o t a t vom Juni—Juli 1885, VII 36
[15], 7 / 3 , 280 f., hier: S. 280: „ H ä t t e die Welt ein Ziel, so müßte es erreicht sein. Gäbe es
f ü r sie einen unbeabsichtigten Endzustand, so müßte er ebenfalls erreicht sein. Wäre sie
überhaupt eines Verharrens und Starrwerdens, eines ,Seins' fähig, hätte sie nur Einen
Augenblick in allem ihrem Werden diese Fähigkeit des ,Seins', so wäre es wiederum mit
allem Werden längst zu Ende, also auch mit allem Denken, mit allem ,Geiste'. Die
Thatsache des ,Geistes' a l s e i n e s W e r d e n s beweist, daß die Welt kein Ziel, keinen
Endzustand hat und des Seins unfähig ist."
287
BAW 2, 56 f.
288 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Sämtliche Werke, Bd. 11, S. 36: „Es hat
sich [ . . . ] aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst zu ergeben, daß es vernünftig in
ihr zugegangen sey, daß sie der vernünftige, nothwendige Gang des Weltgeistes gewesen,
des Geistes, dessen N a t u r zwar immer eine und dieselbe ist, aber in dem Weltdaseyn diese
seine N a t u r explicirt."
289
BAW 3, 319—326, hier: S. 322 f.
290
H L 8, 3 / 1 , 304 f. Neben diesem Einwand, seine Art der Geschichtsbetrachtung sei „eine
verkappte Theologie" (ebd., S. 301; vgl. auch: Sommer—Herbst 1873, III 29 [46], 3 / 4 ,
253, und III 29 [53], 3 / 4 , 258) bringt Nietzsche gegen die Hegeische Geschichtsdeutung
folgendes vor:
1. Eine „Einheit des Planes" in der Geschichte zu erkennen, heiße nichts anderes, als
selber eine solche „in die Dinge" hineinzulegen: eine solche Einheit sei nichts als eine
Voraussetzung des Erkennenden, existiere nur in seiner Vorstellung. „So überspinnt der
Mensch die Vergangenheit und bändigt sie, so äussert sich sein Kunsttrieb — nicht aber
sein Wahrheits-, sein Gerechtigkeitstrieb." ( H L 6, 3 / 1 , 286 f.; vgl. dazu unsere
grundsätzlichen Ausführungen über die Vorstellung der Einheit bei Nietzsche auf S. 14 ff.
und in Anm. 71; vgl. auch auch Anm. 245.)
2. Seine Voraussetzung, daß in allen (wesentlichen) geschichtlichen Ereignissen die
Idee siege, sei „nackte Bewunderung des Erfolges" ( H L 8, 3 / 1 , 305). In einem Fragment
aus der Entstehungszeit der Schrift, Sommer—Herbst 1873, III 29 [42], 3 / 4 , 252, bemerkt
Nietzsche d a z u : „ V e r g ö t t e r u n g d e s E r f o l g s ist recht der menschlichen
Gemeinheit angemessen. W e r aber nur einen einzigen Erfolg einmal genau studirt hat,
weiss, was f ü r Faktoren (Dummheit, Bosheit, Faulheit usw.) immer mitgewirkt haben, und
nicht als die schwächsten Faktoren. Es ist toll, dass der Erfolg mehr werth sein soll als die
unmittelbar vorher noch bestehende schöne Möglichkeit! Gar aber in der Geschichte die
Verwirklichung des Guten und Rechten sehen ist Blasphemie gegen das Gute und Rechte.
Diese schöne Weltgeschichte ist, um Heraklitisch zu reden, ,ein wirrer Kehrichthaufen'!
Das K r ä f t i g e schlägt sich durch, das ist das allgemeine Gesetz : w e n n e s n u r nicht so oft
gerade das D u m m e und das Böse wäre!" In allen Geschehnissen das Walten der Vernunft
zu erkennen, führe darum zum „Götzendienste des Thatsächlichen" ( H L 8, 3 / 1 , 305),
wogegen eben einzuwenden sei, daß „das Factum immer dumm ist" (ebd., S. 306): „Ueber
Goethe hat uns neuerdings Jemand belehren wollen, dass er mit seinen 82 Jahren sich
ausgelebt habe: und doch würde ich gern ein paar Jahre des .ausgelebten' Goethe gegen
ganze Wagen voll frischer hochmoderner Lebensläufte einhandeln [ . . . ] . Wie wenige
398 Anmerkung 259 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Lebende haben überhaupt, solchen Todten gegenüber, ein Recht zu leben! Dass die Vielen
leben und jene Wenigen nicht mehr leben, ist nicht als eine brutale Wahrheit, das heisst eine
unverbesserliche Dummheit, ein plumpes ,es ist einmal so' gegenüber der Moral ,es sollte
nicht so sein'." (Ebd.) Anstatt dazu aufzurufen, daß man „sich gegen jene blinde Macht der
Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen" empöre und gegen „die Gesetze jener
Geschichtsfluctuationen" (ebd., S. 307) ankämpfe, anstatt mithin zur Unzeitgemäßheit
anzuhalten, f ü h r e diese „Religion der historischen M a c h t " (ebd., S. 305) vielmehr zum
Zynismus des „gerade so musste es kommen, wie es gerade jetzt geht" ( H L 9, 3 / 1 , 308)
und damit zur Neigung, sich „chinesenhaft-mechanisch" jeder Macht zu beugen, „sei dies
nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität" ( H L 8,
3 / 1 , 305).
3. Hegels Konzeption gehe von einem falschen Begriff der Größe aus. „ D i e Grösse soll
nicht vom Erfolge abhangen, und Demosthenes hat Grösse, ob er gleich keinen Erfolg
hatte." ( H L 9, 3 / 1 , 317)
4. Die Auflösung aller festen Fundamente des gegenwärtigen Handelns „in ein immer
fliessendes und zerfliessendes W e r d e n " durch das „Historisiren alles G e w o r d e n e n " (ebd.,
S. 309) lähme die Menschen, weil sie in Konsequenz davon an allen Sitten und Werten
zweifeln. V o r allem im jungen Menschen erwachse das Gefühl: „in allen Zeiten war es
anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist." ( H L 7, 3 / 1 , 296) Es ist dies ein Problem,
das sich in Nietzsches Philosophie des fortwährenden Werdens noch verschärft und das sie
schließlich mit der Konzeption der ewigen Wiederkunft des Gleichen zu lösen sucht: „ D a ß
A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s
a n d i e d e s S e i n s " , zeichnet Nietzsche Ende 1886—Frühjahr 1887 (VIII 7 [54], 8/1,
320 f., hier: S. 320) auf. — Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Hegeischen
Geschichtsphilosophie siehe auch: Ilse Nina Bulhof, Apollos Wiederkehr, Eine
Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches Denken über Geschichte und Zeit, Den
H a a g 1969.
291
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Logik, Bd. 2, S. 154.
292
Sie sei „Darstellung Gottes [ . . . ] , wie er in seinem ewigen Wesen [ . . . ] ist," bemerkt
Hegel in: G . W . F. H., Logik, Bd. 1, S. 31.
293 Yg| e bd., S. 143: „Die Antwort auf die Frage, wie das Unendliche endlich werde, ist [ . . . ]
diese, daß es nicht ein Unendliches gibt, das vorerst unendlich ist, und das nachher erst
endlich zu werden, zur Endlichkeit herauszugehen nötig habe, sondern es ist f ü r sich selbst
schon ebenso endlich als unendlich."
294
Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, System der Philosophie I, Werke Bd. 8, S. 425:
„die Dinge sind das was sie sind nur durch den ihnen inwohnenden göttlichen und damit
schöpferischen Gedanken."
29
5 H L 8, 3 / 1 , 304 f.
296
Sommer—Herbst 1873, III 29 [53], 3 / 4 , 258.
297
G . W . F . Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke Bd.7, S. 33.
298
Hegel hat „zwischen dem wahrhaft Wirklichen als der wahren Darstellung Gottes auf der
einen und dem bloß scheinhaft Wirklichen, der bloßen Erscheinung, auf der anderen Seite"
unterschieden (Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, Grundlegung einer
philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Zwei Bände in einem Band,
Darmstadt 1983, 1. Band, S. 379), ohne daß er dies zureichend begründen konnte. W e n n
nämlich „alles Wirkliche nur insofern i s t , als es die Idee in sich hat, und sie ausdrückt"
(G. W. F. Hegel, Logik, Bd. 2, Werke Bd. 5, S. 239), dann muß auch das Zufällige aus Gott,
der Idee oder dem Begriff stammen. Hegel ist darum genötigt, auf eine unbegreifliche
Freiheit des Begriffs zu rekurrieren, seine Macht aufgeben zu können, alle Wirklichkeit
darzustellen. Im Anschluß an die Aufzählung einer Reihe von Naturzufälligkeiten, als da
wären: die „sinnlichen Eigenschaften, Härte, Farbe, und so fort, sowie die Erscheinungen
der Reizempfänglichkeit f ü r H a f e r , der Irritabilität f ü r Lasten, oder der Anzahl und Art
Junge zu gebähren", f ü h r t Hegel in der „Phänomenologie des Geistes" (Werke Bd. 2,
S. 215) aus: „die Bestimmtheit ihres s i n n l i c h e n S e y n s besteht eben darin, vollkommen
Anmerkungen 298 bis 311 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 399

gleichgültig gegen einander zu existiren und die des Begriffs entbundene Freiheit der N a t u r
vielmehr darzustellen; als die Einheit einer Beziehung, viel mehr ihr unvernünftiges H i n =
und Herspielen auf der Leiter der zufälligen Größe zwischen den Momenten des Begriffs,
als diese selbst."
299
Vgl. den bereits erwähnten Aphorismus „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e "
aus der Götzen-Dämmerung, 6 / 3 , 74 f., hier: S. 74, Punkt 4.
300
Siehe ebd.
301 Nietzsche an Cosima Wagner am 3 . 1 . 1 8 8 9 aus Turin (III/5, 572): „ M a n erzählt mir, daß
ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit den Dionysos-Dithyramben fertig
geworden i s t . . . " ; vgl. auch: E H , W a r u m ich ein Schicksal bin 1, 6 / 3 , 363: „Ich will kein
Heiliger sein, lieber noch ein H a n s w u r s t . . . Vielleicht bin ich ein H a n s w u r s t . . . "
302
Die Wortgeschichte (siehe dazu: Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch,
a. a. O., hier: Bd. 1, Sp. 417—418) verzeichnet als einen der wenigen Belege vor Nietzsche
neben Stellen von Heinrich Müller (Geistliche Erquickstunden, 1666). H e r d e r und Jean
Paul auch Goethes „ Z u e i g n u n g " und „Faust I", wo in Vers 490 der von Faust beschworene
Erdgeist diesen spöttisch „Ubermensch" nennt, als er furchtsam vor ihm zurückweicht:
„Welch erbärmlich G r a u e n / F a ß t Ubermenschen dich! W o ist der Seele R u f ? / W o ist die
Brust, die eine Welt sich erschuf/Und trug und hegte, die mit Freudebeben/Erschwoll, sich
uns, den Geistern, gleich zu heben?" Nietzsche hat das W o r t zum ersten Male im Jahre
1861 verwendet, in seinen Überlegungen „Ueber die dramatischen Dichtungen Byrons"
(BAW 2, 9—15, hier: S. 10), in denen er Byrons Manfred, dem Goetheschen
Sprachgebrauch nahe, als „geisterbeherrschenden Uebermenschen" bezeichnet.
303
Siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Aufsätze aus dem Kritischen Journal der
Philosophie, S. 49.
304
Gemeint ist der Philosoph Friedrich Eduard Beneke (1798—1854).
305
P H G 11, 3/2, 341.
306
Ebd.
307
So zuerst bei Anaximander, der die ά ρ χ ή in ihrem dreifachen Walten als Ursprung,
Urgrund und Abgrund des Seienden τ ο θ ε ί ο ν genannt hat. Dieses ist f ü r ihn „ o h n e Alter"
(άγήρω), „ o h n e T o d " ( ά θ ά ν α τ ο ν ) , „ o h n e U n t e r g a n g " (άνώλεθρον), „ o h n e Anfang und
ohne V e r d e r b " ( ά γ έ ν η τ ο ν και ά φ θ α ρ τ ο ν); nach Diels/Kranz Β 3, A 11 , A 15. D. h., es ist
immerseiend, vom W e r d e n des Wirklichen geschiedenes Sein: Zufolge Nietzsches
Auslegung in der Schrift über die Vorsokratiker „eine metaphysische Burg", in die sich
Anaximander „aus dieser Welt des Unrechtes" flüchtete ( P H G 4, 3 / 2 , 314).
308
Das „ I m m e r " gilt indes nicht f ü r die letzte Phase seines Denkens — wir haben schon auf
S. 6 f. darauf hingewiesen, daß Nietzsche im Jahre 1888, in dem Aphorismus „Wie die
,wahre Welt' endlich zur Fabel w u r d e " aus der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " , nach
zweiundzwanzigj ähriger Denkarbeit endlich die Konsequenz aus seinen frühen — durch
F. A. Lange mit beeinflußten — Zweifeln an der Berechtigung des Begriffes „ D i n g an sich"
zieht und mit der wahren Welt auch die scheinbare Welt abschafft, ohne daß er indes noch
Gelegenheit gefunden hätte, die sich darin ankündigende „ H i n a u s d r e h u n g " aus dem
Piatonismus gedanklich zu vollziehen und damit, wie Martin Heidegger es formuliert
(Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 242), „den W e g zu einer neuen Auslegung des Sinnlichen aus
einer neuen Rangordnung von Sinnlichem und Nichtsinnlichem freizumachen." Ob dies
jedoch, wie dieses Zitat nahezulegen scheint, der W e g gewesen wäre, den Heidegger
schließlich gegangen ist, bleibt mehr als fraglich, mag auch die nachfolgende Passage aus
einer Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 in Heideggers Augen vielleicht in diese Richtung
gewiesen haben (er zitiert sie, ebd., S. 625, ohne sich indes explizit in diesem Sinne zu
äußern): „ D e r Gegensatz der scheinbaren Welt und der wahren Welt reduzirt sich auf den
Gegensatz ,Welt' und .Nichts' — " (VIII 14 [184], 8/3, 163).
309 γ n [293], 5 / 2 , 452.
310
W a W I , 566.
311
Vgl. dazu Martin Heideggers Ausführungen über die Geschichte des Chaos-Begriffes in:
Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S: 348—353.
400 Anmerkungen 312 bis 316 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

J ' 2 In: Μ. H., Wegmarken, a. a. O., S. 201—236.


313
Ebd., S. 232.
314
Ebd., S. 224.
315
Ebd., S. 228.
316
Ebd., S. 233. Heidegger entdeckt in Piatons Wahrheitsbegriff „eine notwendige
Zweideutigkeit" (ebd., S. 229), insofern in ihm zum einen „die ,Wahrheit' noch als
Charakter des Seienden festgehalten [wird], weil das Seiende als das Anwesende im
Erscheinen das Sein hat und dieses die Unverborgenheit mit sich bringt." Zugleich aber
verlagere „sich das Fragen nach dem Unverborgenen auf das Erscheinen des Aussehens
und damit auf das diesem zugeordnete Sehen und auf das Rechte und die Richtigkeit des
Sehens" (ebd.), womit Heidegger auf die ό ρ θ ό τ η ς abzielt, von der Piaton in Rep. 515 d, 4
spricht.
Uns erscheint diese Auslegung der Platonischen Wahrheit als „Richtigkeit des
Blickens" indes nicht unbedenklich zu sein. Einerseits spricht nämlich Piaton nirgends von
einer solchen „Richtigkeit des Blickens" als einem G r u n d z u g des menschlichen Verhaltens
zum Seienden — auch in der von Heidegger zitierten Stelle nicht, die nichts anderes
besagt, als daß das wahre Sein die Sicht des Seienden ermöglicht. Andererseits aber muß
eine „Richtigkeit des Blickens" auch die Möglichkeit des falschen Blickens annehmen; sie
aber ist im Bereich des in den sogenannten Ideendialogen Piatons thematisierten
noetischen Denkens insofern nicht gegeben, als die von ihm zu erschauenden Ideen im
Lichte der ά λ ή θ ε ι α stehen, die von der Idee des Guten gewährt wird: die Möglichkeit des
Irrtums besteht mithin f ü r das noetische Denken nicht, sind doch die Ideen die höchste
Instanz, durch die etwas verifiziert werden kann. Heidegger selbst hat in ebendiesem Sinne
noch in „Sein und Zeit" (a. a. O., S. 33) ausgeführt: „ ,Wahr' ist im griechischen Sinne und
zwar ursprünglicher als der [ . . . ] λ ό γ ο ς die α ΐ σ θ η σ ι ς , das schlichte, sinnliche Vernehmen
von etwas. Sofern eine α ΐ σ θ η σ ι ς je auf ihre ί δ ι α zielt, das je genuin nur gerade durch sie
und für sie zugängliche Seiende, ζ. B. das Sehen auf die Farben, dann ist das Vernehmen
immer wahr. Das besagt: Sehen entdeckt immer Farben, H ö r e n entdeckt immer Töne. Im
reinsten und ursprünglichsten Sinne ,wahr' — d. h. nur entdeckend, so daß es nie
verdecken kann, ist das reine ν ο ε ΐ ν , das schlicht hinsehende Vernehmen der einfachsten
Seinsbestimmungen des Seienden als solchen. Dieses ν ο ε ΐ ν kann nie verdecken, nie falsch
sein, es kann allenfalls ein Unvemehmen bleiben, ά γ ν ο ε ϊ ν , f ü r den schlichten,
angemessenen Zugang nicht zureichen."
Auch Piaton schließt eine falsche ά ν ά μ ν η σ ι ς grundsätzlich aus. Zwar besteht die
Möglichkeit, daß das Wissen in der Seele zunächst verborgen bleibt — Piaton spricht im
Phaidon (75 d) von der λήθη —, aber irgendwann wird es vermöge der
Sinneswahrnehmungen aufs neue erschlossen werden (Phaidon 75 e): Die Ursache f ü r die
Unvollkommenheit der Erkenntnis sieht Piaton in der Gemeinschaft der Seele mit dem
Leib beschlossen. Solange wir im Leibe leben, vermag unsere Seele „die ganze W a h r h e i t "
(Phaidon 67 b) nicht zu erkennen, hindert doch die Sorge um den Leib unsere „Jagd nach
dem Sein" (την τ ο ϋ δ ν τ ο ς θήραν, Phaidon 66 c). Das Wissen aber bleibt immer Wissen
vom wahren Sein und beruht in der Unvergessenheit (μη έ π ι λ ε λ ή σ θ α ι , Phaidon 75 d)
dessen, was unsere Seele vor der Geburt in voller Klarheit geschaut hat. So gründet die
Klarheit der Erkenntnis in der Klarheit und Unverborgenheit der Ideen (Phaidon 67 b).
Das ψεΟδος aber vermag dieser Ansatz nicht zu erklären, es wird darum in den
Ideendialogen außer acht gelassen; allenfalls hätte es auf das den Ideen Entgegengesetzte,
auf die Dinge als bloße Aggregate, d. h. auf das Chaos (Parmenides 135 b, Politeia 524 c,
Gorgias 465 d) bezogen werden können.
Erst in den Spätdialogen, zuerst im Sophistes, wird die Frage aufgeworfen, wie —
unter Beibehaltung des von Parmenides überkommenen Gesetzes der Gleichsetzung von
Denken und Sein — die Möglichkeit eines falschen Satzes denn gedacht werden könne.
Und nur im Hinblick auf die im Anschluß an diese Fragestellung entwickelte Methode der
διαίρεσις, der Methode der Abstufung der Begriffe nach ihrer relativen Allgemeinheit,
erscheint es angebracht, von einem Begriff, der Wahrheit als Richtigkeit (όρθότης) bei
Anmerkungen 316 bis 328 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 401

Piaton zu sprechen. W e n n im Phaidon und den anderen Ideendialogen mit dem Logos
immer die Anwesenheit (παρουσία) der Ideen bei den sinnenfälligen Dingen gemeint ist,
so wird im Sophistes hingegen vom Logos gesagt, daß er nur durch die Verflechtung der
verschiedenen Begriffe (Ideen) entstehe. Darin aber, daß die an sich immer wahren
Begriffe zu Unrecht miteinander verflochten werden, bestehe die Möglichkeit eines
falschen Logos. In dieser Hinsicht kann Wahrheit als Richtigkeit der Einteilung der
Begriffe verstanden werden.
317 f w 3 4 4 ( 5/2, 256-259, hier: S. 259.
318
Martin Heidegger, V o m Wesen der Wahrheit, in: Μ. H., Wegmarken, a. a. O., S. 175-199,
hier: S. 178.
319
Ebd., S. 178 f.
320 Vg[ dazu: Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Μ. H., Holzwege, a . a . O . ,
S. 73-110.
321
Hier zitiert nach: Rene Descartes, Regulae ad directionem ingenii — Regeln zur
Ausrichtung der Erkenntniskraft, kritisch revidiert, übersetzt und hrsg. von Heinrich
Springmeyer f> Lüder Gäbe, H a n s Günter Zahl, H a m b u r g 1973, Reg. VIII, 396,
S. 178/179.
322
Rene Descartes, Meditationes de prima philosophia, a. a. O., S. 38/39.
323 Vgl dazu die nachfolgende Passage aus einer Aufzeichnung, die von Nietzsche im Herbst
1885—Herbst 1886 festgehalten wurde (VIII 2 [93], 8/1, 105): „Auch Descartes hatte
einen Begriff davon, daß in einer christlich-moralischen Grunddenkweise, welche an einen
g u t e n Gott als Schöpfer der Dinge glaubt, die Wahrhaftigkeit Gottes erst uns unsre
Sinnesurtheile v e r b ü r g t . " Mithin setzte Descartes bei seiner Argumentation den „guten
G o t t " voraus. Vgl. auch die — in Anm. 418 zitierte — Aufzeichnung VII 40 [20], 7 / 3 ,
369 f. vom August—September 1885.
324
Vgl. dazu: Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, a. a. O., Bd. 1, S. 173.
325
Siehe dazu die auf S. 40 f. zitierte Bemerkung Nietzsches über den metaphysischen
Glaubenssatz.
326
Den Cartesianischen Ansatz, im Selbstbewußtsein den Anfangsgrund von Sein und Wissen
zu setzen, f ü h r t Leibniz nicht direkt fort. Gegen die Annahme des Descartes, daß
Vorstellung (coagitatio) immer und ausschließlich Selbstbewußtsein (apperceptio) bedeute
— weswegen Descartes nur den selbstbewußten Geist als Leben, alles andere hingegen nur
als Maschine begreifen konnte —, wendet Leibniz ein, daß es auch selbstbezogenes
Bewußtsein gebe, das nicht selbstbewußt sei. N u r beim Menschen sei das selbstbezogene,
die Vielheit des Vorgestellten zur Einheit vereinigende Bewußtsein zum Selbstbewußtsein
gesteigert. „Für die Monadologie ist das ego nicht mehr als eine, wenngleich
ausgezeichnete Analogie f ü r die Verfassung des wahrhaft Seienden." (Wolfgang Janke,
Leibniz als Metaphysiker, in: Leibniz, sein Leben, sein Wirken, seine Welt, hrsg. v.
Wilhelm T o t o k und Carl Haase, Hannover 1966, S. 361-420, hier: S. 378) So hat Leibniz
diese seine Grundeinsicht, daß das Bewußtsein als Prinzip einigender Einheit durch
perceptio und appetitus wirkt, auch nicht auf dem Wege einer Analyse des
Selbstbewußtseins gewonnen. „ D a s Ich bietet lediglich eine Analogie, welche die aus der
Analyse wahrer Einheit gewonnenen Resultate in die Sphäre konkreter Deutlichkeit und
verbürgter Gewißheit hebt. [ . . . ] Die Rücksicht auf die Einheit des Selbstbewußtseins
macht die sich einigende Einheit der Monade f ü r uns durchsichtig; denn hier liegt ja ein
Fassen vor, das sich seines Fassens bewußt ist, und es zeigt sich ein Streben, das Wille, also
vom Selbstbewußtsein begleitetes Erstreben ist. Im Anblick des Ich ist das
Einigungsverfahren der einfachen Einheit gleichsam exemplarisch zu Bewußtsein zu
bringen. Aber das Sein geht nicht darin auf, Einheit der Apperzeption zu sein." (Ebd.)
237
Ebd., S. 417.
328
Im „Discours de metaphysique", in: Schriften IV, 427-463, hier: S. 451, heißt es: „car
naturellement rien ne nous entre dans l'esprit par dehors, et c'est une mauvaise habitude
que nous avons de penser comme si nostre ame recevoit quelques especes messageres et
comme si eile avoit des portes et des fenestres" ("denn auf natürliche Weise tritt nichts in
402 Anmerkungen 328 bis 331 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

unseren Geist von außen ein, und es ist eine schlechte Gewohnheit von uns, zu denken,
unsere Seele empfinge irgendwelche Art von Boten und hätte Türen und Fenster").
329
Siehe dazu die vorzügliche Arbeit von Ingetrud Pape, Leibniz, Zugang und Deutung aus
dem Wahrheitsproblem, Stuttgart 1949, besonders S. 113-128.
330
Leibniz hat diesen Gedanken zunächst im Rahmen erkennnistheoretischer Erörterungen
entfaltet, welche „sich streng im Rahmen des ,systeme commun' " halten, „d. h. es wird in
ihnen so von Erkenntnis und Gegenstand, von Bewußtsein und Außenwelt, von
eingeborenen Ideen' und E r f a h r u n g e n der Sinne' gesprochen, als ob es die fensterlose
Monade und ihre unwiderrufliche Abgeschlossenheit nicht gäbe." (Pape, S. 97) In einem
Dialog aus dem Jahre 1677, welcher von der Verknüpfung von Worten mit Dingen
handelt, geht Leibniz von zwei Grundmomenten der Zeichen-Repräsentation aus, um dem
Wahrheitsrelativismus von Hobbes zu begegnen: Erstens dem Moment der geregelten
Z u o r d n u n g : „Est aliqua relatio sive o r d o in characteribus qui in rebus" („in den Zeichen
besteht eine Beziehung oder O r d n u n g , welche derjenigen in den Dingen entspricht";
Schriften VII, 192), zweitens dem Moment der zulässigen Ungleichartigkeit: „nulla opus
esse similitudine" („es ist keine Ähnlichkeit nötig"; ebd.). Er kommt damit zur neuen
Bestimmung des (objektiven) Wahrheitsbegriffes: „relatio est fundamentum veritatis". Die
Stelle lautet: „ N a m etsi characteres sint arbitrarii, eorum tarnen usus et connexio habet
quiddam quod non est arbitrarium, scilicet proportionem quandam inter characteres et res, et
diversorum characterum easdem res exprimentium relationes inter se. Et haec proportio sive
relatio est fundamentum veritatis." („Denn wenn die Charaktere auch willkürlich sind, so
liegt gleichwohl in ihrer Verwendung und ihrer V e r k n ü p f u n g etwas, was nicht willkürlich
ist, nämlich ein Verhältnis, das zwischen den Charakteren und den Dingen besteht, und
damit Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander, welche ein und dieselbe
Sache ausdrücken. U n d dieses Verhältnis oder diese Beziehung ist die Grundlage der
Wahrheit", Hervorhebung von mir, T h . B.) Diese beiden Grundmomente tragen auch die
Wahrheit der monadischen (metaphysischen) Repräsentation. Der geregelten Beziehung,
die jedes Vorstellungsmoment mit jedem Gegenstand verknüpft, entspricht hier die innere
Übereinstimmung der Vorstellungsabläufe unendlicher Monaden. Im „Discours de
metaphysique" heißt es ( a . a . O . , S. 439: „ [ . . . ] cependant il est tres vray que les
perceptions ou expressions de toutes les substances s' entrerepondent, en sorte que chacun
suivant avec soin certaines raisons ou loix qu'il a observees, se rencontre avec l'autre qui en
fait autant, comme lors que plusieurs s'estant accordes de se trouver ensemble en quelque
endroit ä un certain jour prefix, le peuvent faire effectivement s'ils veuillent." („Es ist
indessen durchaus wahr, daß die Perzeptionen oder Expressionen aller Substanzen
miteinander übereinstimmen, und zwar in der Weise, daß jeder, der mit Sorgfalt gewisse
Gründe oder Gesetze, die er beobachtet hat, befolgt, mit einem andern, der es ebenso
macht, zusammentrifft, so wie mehrere Leute, die sich f ü r einen vorher ausgemachten T a g
an einem bestimmten O r t verabredet haben, dies in der Tat, wenn sie wollen, tun können.",
Hervorhebung von mir, T h . B.) Die Einschränkung der Gleichartigkeit der Relationsglie-
der folgt auch hier mit Notwendigkeit daraus, daß jede Monade in der Lage (situs) des
Gesichtspunktes (punctus visus) der repraesentatio mundi einzigartig ist. Der oben
angeführte Text fährt in diesem Sinne fort: „ O r quoy tous expriment les memes
phenomenes, ce n'est pas pour cela que leur expressions soyent parfaitement semblables,
mais il suffit qu'elles soyent proportionelles; comme plusieurs spectateurs croyent voir la
meme chose, et s'entrentendent en effect, quoyque chacun voye et parle Selon la mesure de
sa veue." (Obwohl nun alle dieselben Phänomene ausdrücken, sind doch deshalb nicht alle
Expressionen vollkommen gleich, aber es genügt, daß sie einander entsprechen; so wie
mehrere Beobachter dieselbe Sache zu sehen vermeinen und sich in der T a t darüber
verständigen, obgleich jeder nach Maßgabe seines Gesichtspunktes sieht und spricht.") So
hat jede Monade wohl ihre eigene Welt, aber keine hat einen eigenen Weltinhalt; nur die
durch ihren Blickpunkt fixierte Ansicht der unendlich oft gespiegelten Welt ist ihr
eigentümlich.
331
Pape, op.cit, S. 118.
Anmerkungen 332 bis 346 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 403

332 w a s beispielsweise die Metaphysik der Monade belegt, die von Leibniz „zweifellos mit dem
Anspruch einer absolut sicheren, adäquaten Seinsaussage vorgetragen [ist]"; Pape, a. a. O.,
S. 123.
333
Janke, op. cit., S. 417.
334 Y g j ebd., S. 362: „ G o e t h e war — entgegen Diltheys These — Spinozist Leibnizscher
Observanz".
335
„ D a s Höchste, was wir von Gott und der N a t u r erhalten haben, ist das Leben, die
rotierende Bewegung der Monas um sich selbst, welche weder Rast noch Ruhe kennt;
[ . . . ]." „Die zweite Gunst der von oben wirkenden Wesen ist das Erlebte, das
Gewahrwerden, das Eingreifen der lebendig beweglichen Monas in die Umgebung der
Außenwelt, wodurch sie sich erst selbst als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes
gewahr wird." Goethe, Maximen und Reflexionen, H A 12, 365-547, hier: S. 396 f.,
Nr. 227 und Nr. 228.
336
Ebd., S. 371, Nr. 44 und Nr. 45.
337
Im Gespräch mit Falk an Wielands Begräbnistag (25. 1. 1813) sagt Goethe: „ich nehme
verschiedene Klassen und Rangordnungen der letzten Urbestandteile aller Wesen an,
gleichsam der Anfangspunkte aller Erscheinungen der Natur, die ich Seelen nennen
möchte, weil von ihnen die Beseelung des Ganzen ausgeht, oder noch lieber Monaden —
lassen Sie uns immer diesen Leibnizischen Ausdruck beibehalten! Die Einfachheit des
einfachsten Wesens auszudrücken, möchte es keinen bessern geben." (Zitiert nach:
Goethes Gespräche in vier Bänden, aufgrund der Ausgabe und des Nachlasses von F. v.
Biedermann ergänzt und hrsg. v. Wolfgang Herwig, Zürich 1965 ff., Band 2, S. 769-778,
hier: S. 771.)
338
Goethe zu Eckermann am 26. 2. 1824 (zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche
mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Zürich 1948, 24. Band der Gedenkausgabe
der Goetheschen Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, S. 94-98, hier:
S. 98). Vgl. auch: Annalen bis 1780, H A 10, 431; Brief an Zelter vom 28.6. 1831,
HA-Briefe 4, 433 f., hier: S. 434.
J . W . Goethe, Winckelmann, H A 12, 96-129, hier: S. 97.
340 J . W . Goethe, Bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches W o r t , H A 13, 37-41,
hier: S. 38.
341
Siehe dazu: Marie Hendel, Die platonische Anamnesis und Goethes Antizipation,
Kant-Studien X X V / 1 9 2 0 , S. 182-195. Vgl. auch: Franz Koch, Goethe und Plotin, Leipzig
1925, S. 100.
342
Wie Anm. 337.
343
Auf die Frage Falks, ob die Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen „ f ü r die
Monaden selbst mit Bewußtsein verbunden wären?", soll Goethe geantwortet haben:
„ ,Daß es einen allgemein historischen Uberblick, sowie daß es höhere Naturen, als wir
selbst, unter den Monaden geben könne, will ich nicht in Abrede sein. Die Intention einer
Weltmonade kann und wird manches aus dem dunkeln Schöße ihrer Erinnerung
hervorbringen, das wie Weissagung aussieht und doch im Grunde nur dunkle Erinnerung
eines abgelaufenen Zustandes, folglich Gedächtnis ist; völlig wie das menschliche Genie die
Gesetztafeln über die Entstehung des Weltalls entdeckte, nicht durch trockne
Anstrengung, sondern durch einen ins Dunkel fallenden Blitz der Erinnerung, weil es bei
deren Abfassung selbst zugegen war. [ . . . ] ' " (Ebd., S. 774 f.).
344
Zitiert nach: Georg Simmel, Goethe, Leipzig 5 1923, S. 6. Vgl. auch den Brief an Johann
Heinrich Meyer am 8.2. 1796, HA-Briefe 2, 214-216, hier: S. 215: „denken Sie immer:
daß wir nur eigentlich f ü r uns selbst arbeiten. Kann das jemand in der Folge gefallen oder
dienen, so ist es auch gut. Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst".
345
Solcherweise in „Vermächtnis", H A I , 369 f., hier: S. 370; auch in Naturphilosophie",
H A 13, 44 f., hier: S. 45, sowie im Brief an Zelter vom Silvester-Abend 1829, HA-Briefe 4,
366 f., hier: S. 367.
346
An Schiller am 19. 12. 1798; hier zitiert nach: Der Briefwechsel zwischen Goethe und
Schiller, hrsg. v. H a n s Gerhard Graf und Albert Leitzmann, a. a. O., Bd. 2, S. 180.
404 Anmerkungen 347 bis 360 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

347
Op. cit., S. 35.
348
Ebd., S. 23. Vgl. die W o r t e Goethes, die der Kanzler von Müller unter dem Datum des
4. 11. 1823 berichtet: „ ,Ich statuiere keine Erinnerung in eurem Sinne, das ist nur eine
unbeholfene Art sich auszudrücken. Was uns irgend Großes, Schönes, Bedeutendes
begegnet, muß nicht erst von außen her wieder er-innert, gleichsam er-jagt werden, es muß
sich vielmehr gleich vom Anfang her in unser Inneres verweben, mit ihm eins werden, ein
neueres beßres Ich in uns erzeugen und so ewig bildend in uns fortleben und
schaffen. [ · . · ] ' " (Zitiert nach: Goethes Gespräche, ed. Wolfgang Herwig, a . a . O . ,
Bd. 3 / 1 , S. 611.)
349
Siehe Goethes Maxime: „ D i e Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen,
ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur
Manifestationen der Idee". (Zitiert nach: H A 12, S. 366, Nr. 12.)
350
Emil Staiger, Goethe, 3 Bde., hier: Bd. 2, Zürich <1970, S. 124.
351
In höchster Deutlichkeit geht das aus einer kaum beachteten Aufzeichnung Arthur
Schopenhauers über Gespräche hervor, die er in den Jahren 1808/1814 mit Goethe geführt
hat. Es heißt dort: Dieser Goethe „war so ganz Realist, daß es ihm durchaus nicht zu Sinne
wollte, daß die Objekte als solche nur da seien, insofern sie von dem erkennenden Subjekt
vorgestellt werden. Was, sagte er mir einst, mit seinen Jupitersaugen mich anblickend, das
Licht sollte nur da sein, insofern Sie es sehen? Nein! Sie wären nicht da, wenn das Licht Sie
nicht sähe." (Zitiert nach: Goethes Gespräche, ed. Wolfgang Herwig, a . a . O . , Bd.2, S.
937.) Innerhalb des von ihm vorausgesetzten Entsprechungsverhältnisses von „ O b j e k t "
und „Subjekt" spricht Goethe ersterem eine Prävalenz zu. Darin liegt der Sinn der
Formulierung „ D e r Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt": In Goethes Augen
müssen sich die Gegenstände keineswegs, wie Kant meint, „nach unserem Erkenntnis
richten", vielmehr empfangen wir seiner Ansicht nach umgekehrt unsere „Vorstellungen"
von den Gegenständen. Er hätte diese seine Anschauung gegenüber Kant vielleicht wie
folgt gerechtfertigt: Auch er, Kant, müsse ja, wie seine Lehre vom „ D i n g an sich" zeige,
von der Affektation des Subjekts durch ein Objekt ausgehen; das aber bedeute vereinfacht
gesagt: Damit uns die Vorstellung „ B a u m " erwachsen könne, muß die in uns
bereitliegende apriorische Idee desselben, derer wir bedürfen, damit wir mit so etwas wie
„ B a u m " umzugehen vermögen, von etwas Entsprechendem ausgelöst werden, so daß dem
Objekt ein V o r r a n g gegenüber dem Subjekt und seinen Mitgiften zuerkannt werden
müsse. Ebenwas aber die Anerkenntnis voraussetze, daß das Subjekt in der Weise in der
Welt ist, daß es immer schon mit den Objekten zusammengeschlossen ist. (Vgl. dazu unsere
Ausführungen auf S. 14 f.)
352
Wolfgang Schadewaldt, Goethes Begriff der Realität, in: ders., Goethestudien, N a t u r und
Altertum, Zürich und Stuttgart 1963, S. 207—249, hier: S. 237—239.
353
Vgl. Martin Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit, a . a . O . , S. 225: ,,τό ά γ α θ ό ν
bedeutet, griechisch gedacht, das, was zu etwas taugt und zu etwas tauglich macht."
354
H A 5, S. 215—299, hier: S. 246, V. 1065 f.
355
H A 12, S. 491, Nr. 892.
356
An Jacobi schreibt er am 12. 1. 1785: „ E h ich eine Sylbe μ ε τ α τ α φ υ σ ι κ ά schreibe muß ich
nothwendig die φ υ σ ι κ ά besser absolvirt haben." (HA-Briefe 1, S. 470.)
357
So Schadewaldt, a. a. Ο., S. 223, im Hinblick auf Goethe. Vgl. auch Martin Heidegger, Die
Grundbegriffe der Metaphysik, Welt — Endlichkeit — Einsamkeit, a. a. O., S. 39: „ Φ ύ σ ι ς
meint dieses ganze Walten, von dem der Mensch selbst durchwaltet und dessen er nicht
mächtig ist, das aber gerade ihn durch- und umwaltet". O h n e nähere Erläuterung
behauptet Heidegger aber einen Unterschied dieses Begriffes zu demjenigen der Natur „im
Goetheschen Sinne". Siehe dazu auch Anm. 369.
558 Schadewaldt, a. a. O., S. 242.
359 Y g j d a z u Goethes Gedicht „ G r o ß ist die Diana der Epheser".
360
Schriften VII, 191, Anm. Vgl. dazu Goethes Reflexion: „ D a ß die N a t u r , die u n s zu
schaffen macht, gar keine Natur mehr ist, sondern ein ganz anderes Wesen als dasjenige,
womit sich die Griechen beschäftigten." ( H A 12, S. 372, Nr. 48.)
Anmerkungen 361 bis 369 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 405

361
Zitiert nach: Goethes Gespräche, ed. Herwig, a . a . O . , Bd.2, S. 2 4 6 f .
H A 12, S. 371, Nr. 47.
363
Am 2. April 1829; zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den
letzten Jahren seines Lebens, a. a. O., S. 333.
364
H A 9, S. 223.
365 Vgl Goethes Maxime: „ D i e N a t u r verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf
redliche Frage ist: Ja! ja! Nein! nein! Alles übrige ist vom Übel." ( H A 12, S. 434, Nr. 498.)
366
Johann Wolfgang Goethe, Anzeige und Ubersicht des Goethischen Werkes zur
Farbenlehre [Selbstanzeige in Cottas Morgenblatt], H A 13, S. 524—536, hier: S. 528.
Siehe auch Goethes Charakteristik des „experimentum crucis" von Newtons „Lectiones
opticae" in der „Farbenlehre", Polemischer Teil §114: „Es ist dieses das sogenannte
Experimentum crucis, wobei der Forscher die N a t u r auf die Folter spannte, um sie zu dem
Bekenntnis dessen zu nötigen, was er schon vorher bei sich festgesetzt hatte." ( H A 14,
S.311.)
367
Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, Didaktischer Teil, Vorwort, H A 13,
S. 315—322, hier: S. 315.
368
H A 12, S. 399, Nr. 245. Vgl. auch die nachfolgende Aufzeichnung in den Aufsätzen zur
Pflanzenkunde, in: 17. Band der Gedenkausgabe der Goetheschen Werke, Briefe und
Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Zürich 1948, S. 177: „Natürlich System, ein
widersprechender Ausdruck. Die N a t u r hat kein System, sie hat, sie ist Leben und Folge
aus einem unbekannten Zentrum, zu einer nicht erkennbaren Grenze. Naturbetrachtung
ist daher endlos, man mag ins Einzelnste teilend verfahren oder im Ganzen nach Breite und
H ö h e die Spur verfolgen."
369
Es ist Martin Heidegger vorzuhalten, daß solches zu tun ihn sein seinsgeschichtlicher
Entwurf hindert. So bemerkt er in seiner Heraklit-Vorlesung vom SS 1943 „ D e r Anfang
des abendländischen D e n k e n s " (a. a. O., S. 89) ausgerechnet im Zusammenhang seiner
Ausführungen „ Z u m W o r t φ ύ σ ι ς im anfänglichen Denken und zum Begriff der , N a t u r ' " :
„ D a s vielberufene W o r t von Goethe, daß allein das Fruchtbare das W a h r e sei, ist schon
Nihilismus. Wir müssen ja wohl eines Tages unsere sogenannten Klassiker uns genauer
ansehen, wenn nämlich die Zeit abgelaufen ist, in der wir nur noch bildungsmäßig und
geistesgeschichtlich um Kunstwerke und Dichtungen herumspielen. So ist auch Goethes
Naturanschauung im Wesen nicht verschieden von der Newtons; sie beruht mit dieser auf
dem Grunde der neuzeitlichen, im besonderen Leibnizschen Metaphysik, die überall uns
Heutigen noch in jedem Gegenstand und jedem Verfahren Gegenwart ist." Heidegger
verkennt, daß es Goethe letztlich nicht auf das Wissen einer theoretischen
Weltinterpretation ankommt, die mit den Phänomenen rechnen will, sondern auf eine
anschauende Einstimmung in das schöpferische Leben der Natur, wobei sein entfaltetes
Denken diese Erfahrung des Schwindens der Gegen-ständigkeit (vgl. S. 15) darum nicht
adäquat zu bezeichnen wußte, weil er sich als Nichtphilosoph immer wieder an die
überlieferten metaphysischen Schemata — vor allem an das Schema der Subjekt-Objekt-
Beziehung — anzuknüpfen gedrängt fühlte. Allein auf diese terminologischen
Verwindungen bezieht sich Heidegger aber, wenn er in seinem am 4. 8. 1953 in München
gehaltenen Vortrag „Wissenschaft und Besinnung" (in: Martin Heidegger, Vorträge und
Aufsätze, Teil 1, a . a . O . , S. 37—62, hier: S. 54 f.), im Anschluß an die Darlegung des
Gedankens, daß die moderne Naturwissenschaft und mit ihr die Neuzeit überhaupt die
Natur, die φύσις, als Gegenstand vorstellt, folgendes zu bedenken gibt: „Auch wenn das
Gegenstandsgebiet der Physik in sich einheitlich und geschlossen ist, kann diese
Gegenständigkeit niemals die Wesensfülle der N a t u r einkreisen. Das wissenschaftliche
Vorstellen vermag das Wesen der N a t u r nie zu umstellen, weil die Gegenständigkeit der
N a t u r zum voraus nur eine Weise ist, in der sich die N a t u r herausstellt. [ . . . ] Dies ist es,
was Goethe bei seinem verunglückten Streit mit der Newtonschen Physik im Grunde
vorschwebte. Goethe konnte noch nicht sehen, daß auch sein anschauendes Vorstellen der
N a t u r sich im Medium der Gegenständigkeit, in der Subjekt-Objekt-Beziehung bewegt
406 A n m e r k u n g e n 369 bis 373 z u m Abschnitt „ V o r a u s s e t z u n g e n "

u n d d a r u m g r u n d s ä t z l i c h v o n d e r Physik nicht verschieden ist u n d metaphysisch das Selbe


bleibt wie j e n e . "
Gilt d e n n nicht a u c h f ü r G o e t h e , i n s o f e r n er sich in das „heilig ö f f e n t l i c h G e h e i m n i s "
e i n b e h a l t e n weiß, w a s H e i d e g g e r in A n k n ü p f u n g an die griechische E r f a h r u n g d e r
ά - λ ή θ ε ι α , d e r U n - V e r b o r g e n h e i t , ü b e r d e n h o m o - m e n s u r a - S a t z des P r o t a g o r a s in A b w e h r
neuzeitlicher V e r e i n n a h m u n g e n desselben a u s z u f ü h r e n weiß?: „ F ü r P r o t a g o r a s bleibt
z w a r das Seiende auf d e n M e n s c h e n als έ γ ώ b e z o g e n . W e l c h e r A r t ist dieser B e z u g auf das
Ich? D a s έ γ ώ verweilt im U m k r e i s des ihm als je diesem zugeteilten U n v e r b o r g e n e n .
D e r g e s t a l t v e r n i m m t es alles in diesem U m k r e i s A n w e s e n d e als seiend. D a s V e r n e h m e n des
A n w e s e n d e n g r ü n d e t im V e r w e i l e n i n n e r h a l b des U m k r e i s e s der U n v e r b o r g e n h e i t . D u r c h
das V e r w e i l e n beim A n w e s e n d e n ist die Z u g e h ö r i g k e i t des Ich in das A n w e s e n d e . Dies
Z u g e h ö r e n z u m o f f e n e n A n w e s e n d e n g r e n z t dieses g e g e n das A b w e s e n d e ab. Aus dieser
G r e n z e e m p f ä n g t u n d w a h r t der M e n s c h das M a ß f ü r das, w a s a n - u n d abwest. In einer
B e s c h r ä n k u n g auf das jeweilig U n v e r b o r g e n e gibt sich d e m M e n s c h e n das M a ß , das ein
Selbst je zu diesem u n d j e n e m b e g r e n z t . D e r M e n s c h setzt nicht von einer a b g e s o n d e r t e n
Ichheit h e r das M a ß , d e m sich alles Seiende in seinem Sein zu f ü g e n hat. D e r M e n s c h des
griechischen G r u n d v e r h ä l t n i s s e s z u m Seienden u n d seiner U n v e r b o r g e n h e i t ist μ έ τ ρ ο ν
( M a ß ) , i n s o f e r n er die M ä ß i g u n g auf d e n i c h h a f t b e s c h r ä n k t e n U m k r e i s d e r
U n v e r b o r g e n h e i t ü b e r n i m m t u n d somit die V e r b o r g e n h e i t v o n S e i e n d e m u n d die
U n e n t s c h e i d b a r k e i t ü b e r dessen A n w e s e n o d e r A b w e s e n , insgleichen ü b e r das A u s s e h e n
des W e s e n d e n a n e r k e n n t . " (Μ. H . , D i e Zeit des Weltbildes, a. a. O . , S. 102 f.) U n d w e n n
H e i d e g g e r in solchem W i s s e n , wie e r w ä h n t (vgl. A n m . 100, S. 359), zu C a r l Friedrich v o n
W e i z s ä c k e r als V e r t r e t e r n e u z e i t l i c h - n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n D e n k e n s b e m e r k t : „ ,Sie als
N a t u r w i s s e n s c h a f t l e r d ü r f e n d o c h nicht s a g e n , die S o n n e g e h e u n t e r . Sie müssen sagen, d e r
H o r i z o n t hebe sich.' " — f a ß t er d a m i t nicht g e n a u das, w a s G o e t h e im Streit mit N e w t o n
u m t r i e b , d a ß es nämlich einen d e m M e n s c h e n z u g e d a c h t e n Bereich gibt, d e n dieser nicht
ü b e r s c h r e i t e n sollte? ( W e n n g l e i c h w i r z u g e b e n m ü s s e n , d a ß es Ä u ß e r u n g e n G o e t h e s gibt,
die einer solchen, d u r c h eine Vielzahl v o n M a x i m e n u n d R e f l e x i o n e n zu s t ü t z e n d e n
I n t e r p r e t a t i o n w i d e r s p r e c h e n u n d d a m i t das T i e f s t e verhüllen, was G o e t h e z u sagen h a t t e ;
so z e i c h n e t e t w a d e r K a n z l e r v o n Müller u n t e r d e m D a t u m des 2 7 . 1 . 1831 auf [Zitat n a c h :
G o e t h e s G e s p r ä c h e , ed. H e r w i g , a . a . O . , Bd. 3,1, S. 755]: „ D i e g r ö ß t e n W a h r h e i t e n
w i d e r s p r e c h e n o f t g e r a d e z u d e n S i n n e n , ja fast immer. D i e B e w e g u n g d e r E r d e u m die
S o n n e — w a s k a n n d e m A u g e n s c h e i n n a c h a b s u r d e r sein? U n d d o c h ist es die g r ö ß t e ,
e r h a b e n s t e , folgereichste E n t d e c k u n g , die je d e r M e n s c h g e m a c h t hat, in m e i n e n A u g e n
w i c h t i g e r als die g a n z e Bibel." Mit einer solchen Aussage, die das v o n ihm a n d e r n o r t s auf
das heftigste b e s c h w o r e n e V e r t r a u e n z u m A u g e n s c h e i n u n d der in ihm a u f b e w a h r t e n
W a h r h e i t destruiert, f o l g t e r g e d a n k e n l o s d e m v o n ihm an sich als i r r g ä n g i g a n g e s e h e n e n
Z u g d e r N e u z e i t . Solche Stellen geben H e i d e g g e r recht.)

H e i d e g g e r selber scheint gegen E n d e seines Lebens n o c h e r k a n n t z u h a b e n , d a ß seine


A u s l e g u n g G o e t h e s w e s e n t l i c h e m W o l l e n nicht g e r e c h t w i r d , z u m i n d e s t berichtet ein
S c h ü l e r v o n C a r l Friedrich v o n W e i z s ä c k e r , C h r i s t o p h Gögelein, in seiner Dissertation
„ Z u G o e t h e s Begriff v o n W i s s e n s c h a f t " ( M ü n c h e n 1972, S. 188) „ D i e s e M e i n u n g ü b e r
G o e t h e s Stellung z u r Physik h a t H e i d e g g e r in einem G e s p r ä c h am 12. D e z e m b e r 1968 in
H a m b u r g w i d e r r u f e n , w o er a u c h sagte, er h a b e ,lange g e b r a u c h t ' mit G o e t h e u n d h a b e v o r
allem Z u g a n g über d e n alten G o e t h e g e f u n d e n . " (Ebd., S. 188) Leider beläßt es G ö g e l e i n
bei dieser u n g e f ä h r e n Mitteilung.
370
H L 1, 3 / 1 , 253.
371
Ζ . B. G D , Die „ V e r n u n f t " in d e r P h i l o s o p h i e 5, 6 / 3 , 71.
372
III 19 [209], 3 / 4 , 7 0 — 7 2 , h i e r : S. 71.
373
Β 82. D i e Stelle lautet im Z u s a m m e n h a n g : „ D i e alte u n d b e r ü h m t e F r a g e , w o m i t m a n die
L o g i k e r in die E n g e zu treiben v e r m e i n t e [ . . . ] , ist diese: W a s i s t W a h r h e i t ? D i e
N a m e n e r k l ä r u n g der W a h r h e i t , d a ß sie nämlich die Ü b e r e i n s t i m m u n g d e r E r k e n n t n i s mit
i h r e m G e g e n s t a n d e sei, w i r d hier g e s c h e n k t , u n d v o r a u s g e s e t z t " .
Anmerkungen 374 bis 384 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 407

374
In dem hier in Rede stehenden Zeitraum zweimal; im Sommer 1872/Anfang 1873 notiert
er sich zum einen: „Sonderbarer Gegensatz , W i s s e n u n d G l a u b e n ' ! W a s hätten die
Griechen davon gedacht! Kant k a n n t e k e i n e n a n d e r n G e g e n s a t z ! A b e r
w i r ! / / E i n e Kulturnoth treibt Kant: er will ein Gebiet vor d e m W i s s e n r e t t e n : dorthin
legt die Wurzeln alles Höchsten und Tiefsten, Kunst und Ethik — Schopenhauer." (III, 9
[34], 3 / 4 , 14 f., hier: S.15) und zum anderen: „Uberwindung des Wissens durch
m y t h e n b i l d e n d e K r ä f t e . K a n t merkwürdig — Wissen und Glauben! Innerste
Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n und der R e l i g i o n s s t i f t e r ! " (III 19 [62], 3 / 4 ,
27).
375
G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 6, 6 / 3 , 73.
376
Gemeint ist die Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, vgl. Kr. d. r. V., Β 842.
377
Immanuel Kant, Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: Werke, Bd. 5, 265—283, hier:
S. 277.
378
Immanuel Kant, Einige Bemerkungen von H e r r n Professor Kant (aus Ludwig Heinrich
Jakobs P r ü f u n g der Mendelssohnschen Morgenstunden oder aller spekulativen Beweise f ü r
das Dasein Gottes), in: Werke, Bd. 5, 285—291, hier: S. 287.
379
Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, in: Werke, Bd. 9, 263—393, hier: S. 315.
380
In ähnlichem Sinne bemerkt Walter Kaufmann in seinem Nietzsche-Buch (a. a. O., S. 239):
„ D i e Existenz Gottes setzt Kant zwar zu Beginn seiner Untersuchung nicht voraus, aber er
abstrahiert von ihr nur zum Schein, ohne sie wirklich zu bezweifeln. Das bewahrt ihn vor
weitergehenden Konsequenzen, ζ. B. vor der Vermutung, es könnte das menschliche
Bewußtsein mitsamt dem Vernunftvermögen eine Fehlkonstruktion sein, oder der Glaube
an Gott (den er als ein unvermeidliches Postulat der praktischen Vernunft angesehen hat)
möchte vielleicht nur in einer Eigentümlichkeit unserer N a t u r begründet sein." Kaufmann
liefert einen wichtigen Beleg f ü r diese These, wonach Kant daran festgehalten habe, „ d a ß
es eine umfassende vernünftige O r d n u n g gibt. Er bediente sich oft der Formel,nicht allein
der Mensch, sondern alle vernünftigen Wesen', mit ihrer in der Tradition begründeten
Voraussetzung, daß die V e r n u n f t dem Menschen mit Gott und den Engeln gemeinsam ist."
— H a n s Vaihinger hat zwar in seinem Buch „Die Philosophie des Als O b " (Berlin 1911)
die Behauptung aufgestellt, daß Kant, vor allem im sogenannten „ O p u s postumum", die
Gottesidee als eine bloße Fiktion angesehen habe (ebd., S. 724—733), doch ist von Erich
Adicke, Kants Opus postumum dargestellt und beurteilt, Kant-Studien, Ergänzungsheft
Nr. 50, Berlin 1920, S. 827 bis 829, diese Ansicht in überzeugender Weise zurückgewiesen
worden. V o r allem weist er nach, daß die von Vaihinger angeführten Zitate kontextwidrig
ausgelegt worden sind. Durchweg trete „als klare Meinung Kants hervor, daß, um die
Erscheinungen des moralisch-religiösen Lebens, wie sie sich um den kategorischen
Imperativ herum kristallisieren, zu verstehn und zu erklären, es m i n d e s t e n s der
subjektiven persönlichen Glaubensüberzeugung vom transsubjektiven Dasein Gottes
bedarf." (Ebd., S. 827.)
381
Hier ist wiederum an das auf S. 77 zitierte W o r t Martin Heideggers zu erinnern.
382
Siehe ζ. B. die bereits zitierten Briefe an Gersdorff von Ende August 1866 (1/2, 159 f.), in
welchem er die Resultate des ,,Kantianer[s]" Lange referiert, und an Deussen von Ende
April/Anfang Mai 1868 (1/2, 267—271), in dem er von jener Einsicht Mitteilung macht,
die er aus der Kenntnis „der einschlägigen Untersuchungen vornehmlich der
physiologischen seit K a n t " über die Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens
gewonnen habe. Vor allem ist hier aber jener Passus aus dem 18. Abschnitt der „ G e b u r t der
T r a g ö d i e " anzuführen, demzufolge Kant und Schopenhauer „zum ersten Male jene
Wahnvorstellung als solche erkannt" haben sollen, „welche, an der H a n d der Causalität,
sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können." (3/1, 114.)
383
FW 108, 5 / 2 , 145, und F W 125, 5/2, 158 ff.
384
Den auf „Kantischen Voraussetzungen" fußenden Schopenhauer ordnet Nietzsche
zutreffend ebenfalls dem Ansatz des „christlichen Theismus" zu. In einer „ M o r a l a l s
h ö c h s t e A b w e r t h u n g " überschriebenen Aufzeichnung vom Herbst 1887 (VIII 10
[150], 8/2, 205f.) bemerkt Nietzsche: „ E n t w e d e r ist unsere Welt das W e r k und der
408 Anmerkungen 384 bis 387 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Ausdruck (der modus) Gottes: dann muß sie h ö c h s t v o l l k o m m e n sein (Schluß


Leibnitzens...) [ . . . ] / / Ο d e r unsere Welt ist unvollkommen, das Übel und die Schuld
sind real, sind determinirt, sind absolut ihrem Wesen inhärent; dann kann sie nicht die
w a h r e Welt sein: dann ist Erkenntniß eben nur der Weg, sie zu verneinen, dann ist sie
eine Verirrung, welche als Verirrung erkannt werden kann. Dies die Meinung
Schopenhauers auf Kantischen Voraussetzungen. Naiv! Das wäre ja eben nur ein anderes
miraculum! [ . . . ] / / I n w i e f e r n d e r S c h o p e n h a u e r ( s c h e ) N i h i l i s m i m m e r
noch die Folge des g l e i c h e n Ideals ist, w e l c h e s den christlichen
T h e i s m u s g e s c h a f f e n h a t / / D e r Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten
Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die
Philosophen davon wie von einer a b s o l u t e n G e w i ß h e i t a priori a u s g i e n g e n :
,Gott' an der Spitze als g e g e b e n e Wahrheit. ,Gott gleich zu werden', ,in Gott
aufzugehn' — dies waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten
Wünschbarkeiten (— aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist
bloß ü b e r z e u g e n d . Anmerkung f ü r E s e l ) / / M a n hat verlernt, jener Ansetzung von
Ideal auch die P e r s o n e n - R e a l i t ä t zuzugestehn: man ward atheistisch. Aber hat man
eigentlich auf das Ideal verzichtet? — Die letzten Metaphysiker suchen im G r u n d e immer
noch in ihm wirkliche .Realität', das ,Ding an sich', im Verhältniß zu dem Alles Andere nur
scheinbar ist. Ihr D o g m a ist daß, weil unsere Erscheinungswelt so ersichtlich n i c h t der
Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht ,wahr' ist, — und im Grunde nicht einmal auf jene
metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste
Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund f ü r alles Bedingte abgeben.
Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als
Gegensatz zum Ideale zu denken, als ,bösen blinden Willen': dergestalt konnte er dann
,das Erscheinende' sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit
gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf — er schlich sich durch . . . (Kant schien die
Hypothese der ,intelligiblen Freiheit' nöthig, um das ens perfectum von der
Verantwortlichkeit f ü r das So-und-So-sein d i e s e r Welt zu entlasten, kurz um das Böse
und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen . . . ) "
Es ist sicher unnötig hervorzuheben, daß diese Einwände auch Nietzsche selbst
betreffen, solange seine Philosophie am Begriff des Dinges an sich — und sei es auch nur ex
negativo — festhält.
385
III 7 [125], 3 / 3 , 189—191, hier: S. 191.
386
September 1870—Januar 1871, III 5 [123], 3 / 3 , 132.
387
Auch Schopenhauers „Wille" ist, wie bereits erwähnt, „Wille zum Leben", der „zu seinen
Zwecken das Bewußtsein hervorgebracht" hat, somit „alle Gedanken und Vorstellungen
als Mittel zu seinen Zwecken zusammenhält" ( W a W II, 180). Vgl. H L 3, 3 / 1 , 265, w o
Nietzsche das „Leben" als „jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende
Macht" bezeichnet. — Später, Ende 1876—Sommer 1877 wendet Nietzsche gegen diese
Willenskonzeption ein (VI 23 [12], 4 / 2 , 502—504, hier: S.502f.), „ d a ß der Begriff Wille
zum Leben vor der Wissenschaft sich noch nicht das Bürgerrecht erobert hat". Dies zum
einen, weil er den Charakter eines Absolutum impliziert — „bevor der Mensch ist, ist auch
sein Individualwille noch nicht: oder was sollte dieser sein?" —, und zum anderen, weil er
nichts Ursprüngliches darstellt: „Im Leben selber aber sich äußernd — ja ist denn das Wille
zum Leben? Doch mindestens Wille i m Leben zu bleiben, also, um den bekannteren
Ausdruck zu wählen, Erhaltungstrieb. Ist es wahr, daß, wenn der Mensch in sein Inneres
blickt, er sich als E r h a l t u n g s t r i e b wahrnimmt? Vielmehr nimmt er nur wahr, daß er
immer fühlt, genauer daß er irgend an welchem O r g a n e irgend welche, gewöhnlich ganz
unbedeutende Lust- oder Unlustempfindungen hat [ . . . ] . Der Erhaltungstrieb oder die
Liebe zum Leben ist entweder etwas ganz Bewußtes oder nur ein unklares irreführendes
W o r t f ü r etwas anderes: daß wir der U n l u s t entgehen wollen, auf alle Weise, und
dagegen nach Lust streben. Diese universale Thatsache alles Beseelten ist aber jedenfalls
keine erste ursprüngliche Thatsache, wie es Schopenhauer vom Willen zum Leben
annimmt: — Unlust fliehen, Lust suchen setzt die Existenz der Erfahrung und diese wieder
Anmerkungen 387 bis 388 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 409

den Intellekt voraus." Manches aus dieser Kritik kehrt in dem „ V o n der
Selbst-Ueberwindung" überschriebenen Zarathustra-Kapitel wieder, in dem Nietzsche
den „Willen zur Macht" einführt (Za II, 6 / 1 , 145 f.). In ihm glaubt er ein Ursprünglicheres
als den Willen zum Leben gefunden zu haben. Empirische Beobachtungen („das Leben
selber [redete] zu mir", heißt es dort) hätten ihn gelehrt, daß nichts Lebendiges sich selbst
genügt, daß es danach strebt, sich selbst zu übersteigen und zu vervollkommnen, Macht
auszuüben über sich selbst und über andere — und dies auch um den Preis der Unlust, des
Schmerzes oder gar — man denke an die christlichen Märtyrer — um den Preis des Todes
(vgl. dazu: Kaufmann, Nietzsche, a. a. O., S. 299—330).
388 Wig steht es aber mit dem Selbstmord? Ihn, der später mit zum Anlaß wird, die Konzeption
des Willens zum Leben durch eine solche des Willens zur Macht zu ersetzen (in der
vorhergehenden Anm. wurde das Beispiel des christlichen Märtyrers erwähnt), bedenkt
Nietzsche in seiner Frühzeit im ganzen noch sehr schopenhauerisch. So heißt es im Winter
1869/70—Frühjahr 1870 (III 3 [91], 3 / 3 , 84f., hier: S. 84): „ M a n kann nicht über den
Willen weg: wie steht es bei den Asketen? Selbstmord? (Nur durch Berauschung oder
Vernichtung des Bewußtseins möglich?) N u r im Streben nach glücklicherem Sein ist
Selbstmord möglich. Das Nichtsein ist nicht zu denken." Entsprechend heißt es bei
Schopenhauer über den Selbstmord ( W a W I, 541): „Weit entfernt, Verneinung des
Willens zu sein, ist dieser ein Phänomen starker Bejahung des Willens. Denn die
Verneinung hat ihr Wesen nicht darin, daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse
des Lebens verabscheuet. Der Selbstmörder will das Leben und ist bloß mit den
Bedingungen unzufrieden, unter denen es ihm geworden. Daher gibt er keineswegs den
Willen zum Leben auf, sondern bloß das Leben, indem er die einzelne Erscheinung
zerstört. Er will das Leben, will des Leibes ungehindertes Dasein und Bejahung; aber die
Verflechtung der Umstände läßt dieses nicht zu, und ihm entsteht großes Leiden." Diese
Konstruktion ist indes nichts anderes als Eskamotage, die aus ethischem Pflichtgefühl
allein der Erkenntnis und nicht der physischen Gewalt die Macht einräumen will, sich aus
der Umstrickung des Willens zu lösen. W e n n der Selbstmörder das Leben verneint, ist es
dann rechtens, von einem Fortbestehen des Willens zum Leben bei ihm zu sprechen?
Gewiß, verneint wird nur das principium individuationis, das Ding an sich, der Wille als
solcher besteht fort. Aber gilt das nicht auch f ü r den Fall, daß ein einzelner aus Erkenntnis
den Willen verneint? W o h e r hier die Macht der leiblichen Erscheinung, das Erlösungswerk
f ü r das Ding an sich, den Willen, betreiben zu können? (Vgl. Nietzsches gleichartigen
Zweifel an der Stichhaltigkeit dieser Argumentation in einer Aufzeichnung vom Winter
1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [5], 3 / 3 , 59 f.; ein anderer, damit zusammenhängender
Einwand, der in der Schopenhauer-Literatur immer wieder gegen die „Erlösungslehre"
erhoben wird, ist der folgende: „ D e r Wille zum Leben ist in jeder seiner Erscheinungen
identisch und gelangt in jedem Individuum ganz und ungeteilt zur Sichtbarkeit.
Konsequenterweise müßte dann der Verneinungsakt eines einzigen Individuums
ausreichen, die Welt im ganzen zu erlösen. Die Möglichkeit einer so verstandenen
universalen Erlösung wird von Schopenhauer indessen nicht eröffnet.", Decher, Wille zum
Leben, a. a. O., S. 38 f., Anm. 15.) Anders gefragt: Ist nicht gerade hier der Wille zum
Leben immer noch so stark, daß trotz der Erkenntnis des Elendes der Welt der T o d nicht
gesucht wird? Ist die konsequente Verneinung des Willens zum Leben nicht eben doch der
Selbstmord — vielleicht nicht der „gewöhnliche", sondern jene von Schopenhauer selber
davon unterschiedene Form des „aus dem höchsten Grade der Askese freiwillig
gewähltefn] Hungertodfes]" ( W a W I, 544)? So daß sich in Schopenhauers Zurückweichen
vor diesem Gedanken — und dies teilweise in Widerspruch zum Grundansatz seines
philosophischen Entwurfes —, mit Nietzsche gesprochen, ein Rest von Pessimismus der
Stärke bekundete? Nietzsche scheint es so zu sehen, wenn bei ihm im Gegensatz zu seinen
anfangs zitierten Ausführungen der Gedanke aufblitzt (Winter 1869/70—Frühjahr 1870,
III 3 [5], 3 / 3 , 59 f., hier: S. 59): „ D e r Selbstmord ist philosophisch nicht zu widerlegen. Er
ist das einzige Mittel, von dieser augenblicklichen Configuration des Willens
loszukommen. W a r u m sollte es nicht erlaubt sein, etwas wegzuwerfen, was das zufälligste
410 Anmerkungen 388 bis 415 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Naturereigniß minutlich zertrümmern kann? Ein kalter Lufthauch kann tödtlich sein: ist
eine Laune, die das Leben wegwirft, nicht immer noch rationeller als so ein Lufthauch? Es
ist doch nicht das absolut Dumme, das es wegwirft." Wobei Nietzsche indes diesem Akt
keine Bedeutung f ü r den Willen als solchen zumißt, und sollte auch die ganze Menschheit
in dieser Weise sterben: „Eine Menschheit ist etwas eben so Kleines wie das Individuum."
Ja, er fragt sich sogar: „ W e n n der Selbstmord auch nur ein Experiment ist!", d . h . ein
Experiment des Willens selber: Nietzsche kehrt damit zu seiner Grundansicht „ M a n kann
nicht über den Willen w e g " zurück. Von seiner späteren Philosophie her gelesen meint
dann jene Passage, daß sich im Selbstmord der Mensch über die Macht der Fakta — die
augenblickliche Konfiguration — erheben und gerade damit die Stärke seines Willens zur
(Über-)Macht bekunden kann.
J»9 Ende 1870—April 1871, III 7 [58], 3/3, 159 f., hier: S. 159.
390
Ende 1870—April 1871, III 7 [110], 3 / 3 , 171.
391
Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 32—34.
392 Vgl. Aristoteles, de interpretatione, cap. 1—6; ferner: ders., Met. Ζ 4 und Eth. Nie. Z.
393
Vgl. Anm. 316.
394
Sein und Zeit, S. 34.
395 Vgl d a z u e i n e bereits zitierte Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881, in der Nietzsche
bemerkt: „wir sind nicht f e i n genug um den muthmaaßlichen a b s o l u t e n F l u ß d e s
G e s c h e h e n s zu sehen" (V 11 [293], 5/2, 452).
396
Diels/Kranz 3. — Der Frage, inwieweit Nietzsches Auslegung des Parmenides zureichend
ist, ob ihm dessen ontologisches Problem überhaupt in den Blick gerät, können wir hier
nicht nachgehen.
397
III 5 [92], 3 / 3 , 121.
398
P H G 11, 3/2, 340 f.
399
SE 3, 3/1, 351.
400
E H , Die Unzeitgemässen 2, 6 / 3 , 318.
401
BAW 3, 392.
402
Janz I, 199.
403
Siehe S. 7; vgl. auch Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [139], 3 / 4 , 52: „ D i e
U n e n d l i c h k e i t ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das
Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine
Täuschung."
4 4
° MusA 2, 337—365, hier: S. 339.
405
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [70], 3 / 4 , 70.
406
H L 9, 3 / 1 , 315.
407 Vgl dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze,
a . a . O . , S. 26.
408
Für den „Willen zur M a c h t " siehe dazu die nachfolgende Aufzeichnung vom
August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386: „Ein bestimmter N a m e f ü r diese Realität
wäre ,der Wille zur Macht', nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner
unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus."
4 9
° W L 1, 3 / 2 , 370.
410
6 / 2 , 49 f.: „Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften
Gegensatz von ,wahr' und ,falsch' giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit
anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins,
— verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? W a r u m dürfte die Welt, d i e
u n s e t w a s a n g e h t —, nicht eine Fiktion sein?"
411
November 1887—März 1888, VIII 11 [148], 8/2, 311 f., hier: S. 311.
412
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [93], 8/1, 105.
413
Siehe: Martin Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit, a. a. O., S. 224 f.; Eugen Fink,
Nietzsche, a . a . O . , S. 185 f.
414
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [230], 3 / 4 , 80.
415
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [177], 3 / 4 , 62.
Anmerkungen 416 bis 418 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 411

41
<> Wie Anm. 414.
417
Deutlich ist das ζ. B. in G M III 27, 6 / 2 , 427: „ D e r unbedingte redliche Atheismus [ . . . ] ist
die Ehrfurcht gebietende K a t a s t r o p h e einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit,
welche am Schlüsse sich die L ü g e im G l a u b e n a n G o t t verbietet." Vgl. auch:
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [35], 3 / 4 , 15 f., hier: S. 16. „ D e r Erkenntnißtrieb, an
seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur K r i t i k d e s W i s s e n s
zu schreiten."; sowie: Ende 1870, III 6 [7], 3 / 3 , 137: „ D a s Logische hat als Ziel die
Erkenntniß des,unlogischen Centrums' der Welt". — Nicht zuletzt ist es diese Erfahrung,
daß die Wahrheit sich selbst überwindet, die Nietzsche zur Konzeption des Willens zur
Macht als das sich am deutlichsten in der Selbstüberwindung äußernde Quale der
Wirklichkeit bestimmt. In dem eingangs dieser Anm. zitierten Abschnitt aus „ Z u r
Genealogie der Moral" heißt es in diesem Sinne (S. 428): „Alle grossen Dinge gehen durch
sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des
Lebens, das Gesetz der n o t h w e n d i g e n Selbstüberwindung' im Wesen des Lebens, —
immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: ,patere legem, quam ipse tulisti.' "
418
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [127], 8 / 1 , 123-125, hier: S. 124.
Exkurs
Der als Zeuge angerufene Gott schweigt — und sein Schweigen schluckt das Sprechen, das
in ihm einst seinen Resonanzraum hatte. Der 423. Aphorismus der „ M o r g e n r ö t h e " lautet
(5/1, 263 f.): „ I m g r o s s e n S c h w e i g e n . — Hier ist das Meer, hier können wir der
Stadt vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria — es ist jener
düstere und thörichte, aber süsse Lärm am Kreuzwege von T a g und Nacht —, aber nur
noch einen Augenblick! Jetzt schweigt Alles! Das Meer liegt bleich und glänzend da, es
kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen, gelben,
grünen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbänder, welche in's
Meer hineinlaufen, wie um den O r t zu finden, wo es am einsamsten ist, sie können alle
nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und
grausenhaft, das H e r z schwillt dabei. — O h der Gleissnerei dieser stummen Schönheit!
Wie gut könnte sie reden, und wie böse auch, wenn sie wollte! Ihre gebundene Zunge und
ihr leidendes Glück im Antlitz ist eine Tücke, um über dein Mitgefühl zu spotten! — Sei es
drum! Ich schäme mich dessen nicht, der Spott solcher Mächte zu sein. Aber ich bemitleide
dich, Natur, weil du schweigen musst, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge
bindet: ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen! — Ach, es wird noch stiller, und
noch einmal schwillt mir das H e r z : es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, e s k a n n
a u c h n i c h t r e d e n , es spottet selber mit, wenn der Mund Etwas in diese Schönheit
hinausruft, es geniesst selber seine süsse Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das
Denken wird mir verhasst: höre ich denn nicht hinter jedem W o r t e den Irrthum, die
Einbildung, den Wahngeist lachen? Muss ich nicht meines Mitleides spotten? Meines
Spottes spotten? — O h Meer! O h Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den
Menschen a u f h ö r e n , Mensch zu sein! Soll er sich euch hingeben ? Soll er werden, wie ihr
es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend? Uber sich selber
erhaben?"
W o r t e haben Ernst gemacht mit dem W o r t : „Im Anfang war das W o r t , und das W o r t
war bei Gott, und Gott war das W o r t . " (Joh. 1,1) und den Glauben an Gott — und damit
an das Sein — sowie den Glauben an die Welt des Seienden als einen bloßen Wortglauben
erwiesen, als Glauben an die Grammatik; denn diese ist „Volks-Metaphysik" (FW 354,
5 / 2 , 272—275, hier: S. 275): die metaphysischen Bestimmungen von Substanz, Akzidenz,
Subjekt, Objekt, in summa: „ d e r Irrthum vom Sein [und damit von Wahrheit an sich], wie
er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes W o r t f ü r sich, jeden Satz
f ü r sich, den wir sprechen!", weswegen Nietzsche fürchten muß: „wir werden Gott nicht
los, weil wir noch an die Grammatik g l a u b e n . . . " (GD, Die „ V e r n u n f t " in der
Philosophie 5, 6 / 3 , 72). N u n , da W o r t e den zirkulären Schluß aufgewiesen haben, der
darin beschlossen liegt, daß der Mensch den W o r t e n nur deswegen Sinn zusprechen zu
können glaubte, weil er an Gott glaubte, er an Gott und damit an den Sinn aber nur darum
412 Anmerkung 418 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

glaubte, weil er eben den W o r t glaubte, — nun also sind die W o r t e des Einen Wortes zu
ändern in: „ ,im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn w a r , bei Gott! und Gott
(göttlich) war der U n s i n n . ' " (VM 22, 4 / 3 , 24)
Mit diesem Einen W o r t sind aber alle W o r t e unsinnig geworden, nicht etwa nur die,
welche sich im Buch der Bücher aufgezeichnet finden, sondern auch die W o r t e der
menschlichen Wort-Geschöpfe, die sich alle auf die W o r t e des Einen Wortes beziehen: Die
ganze Wort-Welt ist blanker Un-sinn, ihr Sinn nicht mehr kenntlich, denn: „die N a t u r
warf den Schlüssel w e g " ( C V 1, 3/2, 254). Anders gesagt: Die N a t u r ist nunmehr stumm,
weil Gott, der durch sie einst zum menschlichen H e r z e n redete, jetzt schweigt. Und weil er
schweigt, ist auch das früher so beredte, weil von ihm so volle H e r z stumm. In bloßer
Körpersprache — „es schwillt", sagt Nietzsche (ähnlich übrigens schon: — Goethes
Faust I, V. 364 f.: „ U n d sehe, daß wir nichts wissen k ö n n e n ! / D a s will mir schier das H e r z
verbrennen.") — kündet es von dem ungeheuren Verlust, der Absenz des Sinnes und der
Wahrheit. Jedem per se Wahrheit erheischenden W o r t ruft es in lautlosem Spott die einzige
Wahrheit zu, „ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein." (CV 1, 3 / 2 , 254): N o c h immer ist
das H e r z der Statthalter der Wahrheit, nun indes nicht mehr der „erfüllten", sondern der
„leeren" Wahrheit. Gab es einst einen in der Immanenz, nämlich im „Ebenbild",
gespiegelten, Sein, Sinn und Wahrheit verbürgenden O r t der Transzendenz, der das
Seiende um sich sammelte und zu einem Ganzen, zur Welt, rundete, so zeigt nun der
Herzensspiegel — Nichts und wird derweise zu einer von einem perpetuierenden Seins-,
Sinn- und Wahrheits-Entzug kündenden Instanz: „ M u ß ich nicht [ . . . ] Meines Spottes
spotten?" Erst bei Nietzsche wird somit der Zweifel des Descartes redikal: auch der
Zweifel muß bezweifelt werden, auch aus ihm ist kein substantielles Sein, keine Gewißheit
zu gewinnen (vgl. auch dazu jene bereits erwähnte Aufzeichnung vom August—September
1885, VII 40 [25], 7 / 3 , 373). Sei doch solches Descartes nur darum möglich gewesen, weil
er bei seiner Argumentation den „guten G o t t " bereits vorausgesetzt habe (August—Sep-
tember 1885, VII 40 [20], 7 / 3 , 369 f., hier: S. 370): „Gesetzt, es gäbe im Wesen der Dinge
etwas Täuschendes Närrisches und Betrügerisches, so würde der allerbeste Wille de
omnibus dubitare, nach Art des Cartesius, uns nicht vor den Fallstricken dieses Wesens
hüten; und gerade jenes Cartesische Mittel könnte ein Hauptkunstgriff sein, uns gründlich
zu foppen und f ü r Narren zu halten. Schon insofern wir doch, nach der Meinung des
Cartesius, wirklich Realität hätten, müßten wir ja als Realität an jenem betrügerischen
täuschenden Grunde der Dinge und seinem Grund-Willen irgendwie Antheil haben: —
genug, ,ich will nicht betrogen werden' könnte das Mittel eines tieferen feineren
gründlicheren Willens sein, der gerade das Umgekehrte wollte; nämlich sich selber
b e t r ü g e n . / / I n summa: es ist zu bezweifeln, daß ,das Subjekt' sich selber beweisen kann —
dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben und d e r fehlt!" Woraus sich als
Konsequenz ergibt, was Nietzsche im Sommer 1886—Herbst 1887 aufzeichnet (VIII 5
[71] 5, 8/1, 217): „ D i e D a u e r , mit einem ,Umsonst', ohne Ziel und Zweck, ist der
l ä h m e n d s t e Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und
doch ohne Macht (ist), sich nicht foppen zu lassen." (Vgl. dazu: Karl-Heinz Dickopp,
op. cit. Siehe auch die in Anm. 466 aufgewiesene Struktur eines niemals aufzuhebenden
„ D a h i n t e r " bei Nietzsche, deretwegen es angebracht erscheint, seine Philosophie als eine
„Philosophie der Maske" zu bezeichnen.)
So ist auch das seiner selbst gewisse Ich bei Nietzsche nicht da, das „ H e r z " erweist sich
als ein entleerter Ort, als eine verlassene Systemstelle, nämlich als ein bloßes W o r t wie das
Cogito (vgl. August—September 1885, VII 40 [23], 7 / 3 , 371 f., hier: S. 371: „Seien wir
vorsichtiger als Cartesius, welcher in dem Fallstrick der W o r t e hängen blieb. Cogito ist
freilich nur Ein W o r t " ) , wie auch der Spott aus bloßen Worten besteht, die ein auf sich
selbst zurückgeworfener „ M e n s c h " aneinanderreiht, ohne daß ihnen je eine Beziehung
zum Ausgesagten, aber auch zum Aussagenden, wie diese an sich selbst beschaffen sein
mögen, eignen könnte — im Vorblick auf Nietzsches Ausführungen in „Ueber Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne" gesprochen: Nach Gottes T o d erweisen sie sich als
tautologisch. N u r die Menschen in der Stadt haben dies unerhörte Ereignis in der
Anmerkungen 418 bis 420 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 413

Geschäftigkeit des Marktplatzes bisher verdrängen können (siehe: F W 125, 5/2, 126 f.).
Noch immer lassen sie aus törichter Gewohnheit die Glocken läuten, die allein dem
Wissenden von echter Bedeutung, nämlich „süße" Erinnerung an transzendent behütete
Vergangenheit sind. Bei den Menschen des Marktplatzes hingegen erfüllen sie nur den
Zweck, jene abmahnende Herzens- oder Gewissensstimme zu übertönen. (Vgl. S E 5, 3/1,
3 7 5 : „Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen,
aber wir wollen diese Geisterstimme nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein und
stille sind, dass uns etwas in das O h r geraunt werde, und so hassen wir die Stille und
betäuben uns durch Geselligkeit.")
T r o t z des Bewußtseins um jenen Mangel an Sinn darf der Mensch indes nicht aufhören
zu sprechen, hieße das doch, „ a u f h ö r e n , Mensch zu sein". V o r allen anderen
Lebewesen ist der Mensch dadurch ausgezeichnet, daß er Sprache und damit Vernunft hat:
Er ist ζ φ ο ν λόγον 6χον. Die Sprache gewährt ihm Abständigkeit gegen den unmittelbaren
Angang der Welt, dem Tier und in-fans, das „(noch) nicht sprechende (menschliche)
W e s e n " , d. h. das Kind, hilflos unterworfen sind (siehe dazu: H L 1,3/1, 244 f.) — von dem
aber auch der Sterbende fortgerissen wird, der die Sprache verliert. (Vgl. dazu die 8.
Duineser Elegie „Mit allen Augen sieht die Kreatur/das O f f e n e " von Rilke, dessen
Dichtung Martin Heidegger in seinem Aufsatz „ W o z u Dichter?" [in Μ. H., Holzwege,
a . a . O . , S. 2 6 5 — 3 1 6 , hier: S. 282] „von der abgemilderten Metaphysik Nietzsches
überschattet" weiß. Rilke übersieht indes in jener Dichtung die Bedeutung, die der Sprache
für das dort angesprochene Problem des Weltbezuges zuzumessen ist, auf das wir anläßlich
einer Er-läuterung der Phänomene des Dionysischen und des Apollinischen im Hinblick
auf eine mögliche Sprachkonzeption zurückkommen werden.) Sprachlos werdend, fällt
der Mensch in die bewußtlose Natur zurück — und dieses auch dann, wenn er sich aus
Verzweiflung über den Un-Sinn alles Sprechens und aller Vernunft des Gebrauches dieser
ihn auszeichnenden — zufolge der Tradition — höchsten Möglichkeiten des Lebens
entschlägt und in ein dumpfes, „übervernünftiges", d. h. vorgeblich weises Schweigen
versinkt. Derweise erliegt er dem Sog der stummen Natur und fällt auf die Stufe des
simplen ζ φ ο ν zurück. Es ist dies die Gefahr der „höheren Menschen" aus dem 4. Teil des
„Zarathustra" — des Wahrsagers der großen Müdigkeit, der beiden Könige, des
Gewissenhaften des Geistes, des Zauberers, des alten Papstes, des häßlichen Menschen, des
freiwilligen Bettlers und des Schatten Zarathustras — , aus Verzweiflung über den T o d
Gottes Menschen des passiven Nihilismus zu werden, die nichts mehr, auch keine Aufgabe
des Menschen mehr glauben und in denen darum jedwede Schöpferkraft, jedweder Wille
zur steigernden Selbstüberwindung erloschen ist. Die höheren Menschen haben als die
besseren Menschen unserer Zeit in ihrer Sehnsucht nach Höherem, nach Sinn zu
verharren, sie sollen aktive Nihilisten und derweise Brücke zum Ubermenschen werden:
„Euer Wille sage: der Ubermensch s e i der Sinn der E r d e ! " (Za Vorrede, 6/1, 8) Diese
Setzung eines Sinnes ist ein erster Schritt zum Übermenschen insofern, als dieser um keine
Werte und keinen Sinn an sich mehr weiß, die er nur aufzufinden und zu übernehmen hat,
sondern sich als selber Werte-Setzender und Sinn-Schaffender bejaht. Es ist seine Sprache,
seine Vernunft, die die Welt aus ihrer Stummheit zu erlösen und ihr Sinn zu geben hat:
„Hier springen mir alles Seins W o r t und Wort-Schreine auf: alles Sein will hier W o r t
werden, alles Werden will hier von mir reden lernen.", bemerkt Zarathustra, als er in seine
Einsamkeit heimgekehrt ist. (Za III, Die Heimkehr, 6/1, 228. — D a ß im „Zarathustra"
[Za I, V o n den drei Verwandlungen, 6/1, 27] für die Stufe des Ubermenschen das Bild des
Kindes verwendet wird, steht unserer obigen Deutung insofern nicht entgegen, als dieses
nicht im Hinblick auf sein Wesen als in-fans, sondern im Hinblick auf seine Traute zur
Welt geschieht: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus
sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.//Ja, zum Spielen des
Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: s e i n e n Willen will nun der
Geist, s e i n e Welt gewinnt sich der Weltverlorene.")
419 Piaton gibt diese Modifizierung seines Gleichnisses im 7. Brief, siehe vor allem: 341; 344.
420 Vgl Faust I, 1. Akt, 1. Szene, V . 4 7 2 7 : „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben."
414 Anmerkungen 421 bis 436 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

421
VIII 2 [110], 8/1, 113 f., hier: S. 113.
422
VII 40 [53], 7 / 3 , 386.
« 3 VII 40 [52], 7 / 3 , 386.
424
G D , Wie die „wahre W e l t " endlich zur Fabel wurde, 6 / 3 , 74 f.
4
» III 29 [72], 3 / 4 , 268 f., hier: S. 269.
426
Wenn Nietzsche in der Frühphase seines Denkens im Ausgang vom Schopenhauerschen
Ansatz metaphysische Überlegungen anstellt, die ein an sich vorhandenes „Ureines"
annehmen (ζ. B. Ende 1870—April 1871, III 7 [157], 3 / 3 , 207 f.), das er auch „ G o t t " nennt
(siehe: Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3 / 3 , 172 f., hier: S. 173), dann ist er sich, wie
wir an einer wichtigen Passage der „Geburt der T r a g ö d i e " erweisen werden, der
Illusionshaftigkeit solcher Versuche zutiefst bewußt. (Warum er sie dennoch unternimmt,
obwohl sie im Hinblick auf seine erkenntnistheoretischen Grundüberzeugungen nur als
geistig unredlich bezeichnet werden können, dies zu klären ist eine wichtige Aufgabe dieser
Arbeit.) Umgekehrt unterschlägt er im Falle einer bedeutsamen Stelle seiner Schrift über
die Vorsokratiker, die Schopenhauer als Zeugen f ü r die Auslegung der Welt als reines
Werden, wie er sie Heraklit und damit auch sich selbst zuspricht, zitieren zu können meint,
daß Schopenhauer nur die Materie in dieser Weise gedeutet hat, hinter welcher er aber das
absolute Sein des Willens zum Leben angenommen wissen wollte ( P H G 5, 3 / 2 , 318); vgl.
auch S. 243 f. u. S. 246 f.
427
Martin Heidegger, Nietzsche, a . a . O . , Bd.2, 314—333; siehe dazu Anm. 190.
428
Siehe Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [156], 5 / 2 , 398—400, hier: S. 399 f.: „Die Gattung ist
der gröbere Irrthum, das Individuum der feinere Irrthum, es kommt s p ä t e r . Es k ä m p f t
f ü r seine Existenz, f ü r seinen neuen Geschmack, f ü r seine relativ e i n z i g e Stellung zu
allen Dingen — es hält diese f ü r besser als den Allgemeingeschmack und verachtet ihn. Es
will h e r r s c h e n . Aber da entdeckt es, daß es selber etwas Wandelndes ist und einen
wechselnden Geschmack hat, mit seiner Feinheit geräth es hinter das Geheimniß, daß es
kein Individuum giebt, daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten
und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der u n e n d l i c h
k l e i n e A u g e n b l i c k ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen
Flusse. So lernt es: wie alle g e n i e ß e n d e Erkenntniß auf dem groben Irrthum der
Gattung, den feineren Irrthümern des Individuums, und dem feinsten Irrthum des
schöpferischen Augenblicks beruht."
429 Yg[ d a z u auch die nachfolgende Aufzeichnung von August—September 1885, V I I 4 0 [53],
7 / 3 , 386: „ S c h e ί η wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, —
das, dem alle vorhandenen Prädikate erst zukommen und welches verhältnismäßig am
besten noch mit allen, also auch den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit
dem W o r t e ist aber nichts weiter ausgedrückt als seine U n z u g ä n g l i c h k e i t f ü r die
logischen Prozeduren und Distinktionen: also ,Schein' im Verhältniß zur ,logischen
Wahrheit' — welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setze also
nicht ,Schein' in Gegensatz zur ,Realität' sondern nehme umgekehrt Schein als die
Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative .Wahrheits-Welt' widersetzt.
Ein bestimmter N a m e f ü r diese Realität wäre ,der Wille zur Macht', nämlich von Innen her
bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus."
430
W L 1, 3/2, 374 f.
431
Ende 1870, III 6 [7], 3 / 3 , 137.
432
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32] 3 / 3 , 69, sowie Ende 1870/April 1871, III 7
[58], 3 / 3 , 159 f.
433
S o m m e r / H e r b s t 1873, III 29 [8], 3 / 4 , 231—234, hier: S. 233.
434
W L 1, 3 / 2 , 374.
435
III 19 [135], 3 / 4 , 51. Vgl. auch: Sommer 1875, IV 6 [39], 4 / 1 , 189: „Die Verführer der
Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache."
436
Karl Schlechta und Anni Anders, Friedrich Nietzsche, Von den verborgenen Anfängen
seines Philosophierens, a. a. O., S. 18. Schlechta verweist auf „den Aphorismus 55 in ,Der
Wanderer und sein Schatten', den Aphorismus 47 in der .Morgenröte', die Vorrede zu
Anmerkungen 436 bis 441 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 415

Jenseits von Gut und Böse', die Stelle von d e r , V e r f ü h r u n g der Sprache' im Aphorismus 13
in ,Zur Genealogie der Moral' und schließlich den Schluß von Aphorismus 5 von ,Die
V e r n u n f t in der Philosophie' in der ,Götzendämmerung' ", welcher lautet: „In der That,
Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er
zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes W o r t f ü r sich, jeden Satz f ü r
sich, den wir sprechen! — Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der V e r f ü h r u n g
ihres Seins-Begriffs: Demokrit unter Anderen, als er sein A t o m erfand . . . Die , Vernunft'
in der Sprache: oh was f ü r eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden
Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben . . . " — Im Folgenden werden
Zitate aus der Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" in der Form
nachgewiesen, daß die erste Zahl den betreffenden Abschnitt des Textes ausweist, worauf
die Angabe der Seite in Band 3 / 2 der K G W folgt (ζ. Β.: 1, 369).
437
Abgedruckt in: GA 18, 236—268. D o r t werden die Aufzeichnungen auf das Jahr 1874
datiert. Die neue zeitliche Festlegung ist eines der Ergebnisse einer Arbeit von Anthonie
Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, Zum historischen Hintergrund der
sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche, Publications Series, T h e
Department of Epistemology and Philosophy of Science, Faculty of Philosophy,
Rijksuniversiteit Utrecht, Vol. 14—1987 (erscheint auch in: Nietzsche-Studien 17/1987).
Zum einen nämlich vermag Meijers zahlreiche Ubereinstimmungen zwischen den Notaten
zur Rhetorik und der im Juni 1873 verfaßten Schrift „Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne" nachzuweisen, die in ihrer Ausprägung den Schluß nahelegen,
daß diese Aufzeichnungen später als jene verfaßt worden sind. Zum anderen sind, wie
Meijers aufzeigt, wesentliche Passagen beider Texte aus dem 1. Band von Gustav Gerbers
W e r k „Die Sprache als Kunst" übernommen (siehe dazu im folgenden), den Nietzsche
zufolge des Verzeichnisses der Universitätsbibliothek Basel im Wintersemester 1872/73
entliehen hat. Für Meijers drängt sich nun der Schluß auf, „dass die Notizen f ü r die
Vorlesungen über Rhetorik auf das Jahr 1872 datiert werden müssen, und also gleichzeitig
mit Nietzsches Lektüre von Die Sprache als Kunst entstanden sind." (Ebd., S. 35) Wobei er
sich als Konsequenz dieses Schlusses zu der Annahme genötigt sieht, „einen Unterschied
zu machen zwischen dem Zeitpunkt, an dem die Notizen über Rhetorik verfasst worden
sind, und demjenigen, an dem die Vorlesungen über Rhetorik angekündigt bzw. gehalten
worden sind." (Ebd., S. 36) Angekündigt wurde eine solche Vorlesung f ü r das
Sommersemester 1874. O b sie allerdings auch gehalten worden ist, erscheint mehr als
fraglich; vgl. dazu: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in
Basel 1869—1879, in: Nietzsche-Studien 3/1974, S. 192—203, hier: S. 193.
438
Zum Inhalt und zum Verfasser dieses Buches siehe: Meijers, op. cit., S. 6—16.
439
GA 18, 248—251. Den Inhalt faßt Meijers, op. cit., S. 4 wie folgt zusammen: „In diesem
Abschnitt geht es um das systematische Verhältnis des Rhetorischen zur Sprache.
Nietzsche fasst dabei das Rhetorische als eine Form bewusster Kunst und die natürliche
Sprache als eine Form unbewusster Kunst auf. Er spricht von der Unmöglichkeit, das
Wesen der Dinge sprachlich abzubilden, und handelt von der Genese der Sprache, wobei er
die These vertritt, dass alle Wörter von Anfang an Tropen seien. Die drei wichtigsten
Tropen seien Metapher, Metonymie und Synekdoche. Schliesslich bespricht Nietzsche den
relativefn] Unterschied zwischen der regelrechten Rede und den rhetorischen Figuren."
440
Ebd., S. 251, A n m . 2 : „Ausführliche Sammlungen in diesem Sinne gemacht bei Gustav
Gerber, ,Die Sprache als Kunst', Bromberg 1871." Meijers ist der erste, der diesem
Hinweis nachgegangen ist.
441
In den Nietzsche-Studien 17/1987 erscheint eine von beiden Autoren verfaßte
„ K o n k o r d a n z zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten
aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches
Rhetorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne' ". Ich
danke beiden Verfassern ganz herzlich dafür, daß sie mir ihre Ergebnisse schon vor dem
Erscheinen jenes Bandes der Nietzsche-Studien zugänglich gemacht haben. Meijers faßt
416 Anmerkungen 441 bis 458 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

die Übereinstimmungen zwischen Gerbers Buch und Nietzsches Schrift in der in Anm. 437
zitierten Arbeit auf den Seiten 37—40 zusammen.
442
Op. cit., S. 160. Vgl. Meijers, a . a . O . , S. 43. D o r t auch die folgende Bewertung: „Die
Sprache als Kunst muss neben der Geschichte des Materialismus als einer der Texte
verstanden werden, die f ü r den jungen Nietzsche von grösster Wichtigkeit waren."
443
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [102], 3 / 4 , 40 f., hier: S. 40.
444
W L 2, 382: „ D e r Intellekt, jener Meister der Verstellung, ist [ . . . ] mit trübsinniger
Geschäftigkeit bemüht, einem armen Individuum, dem es nach Dasein gelüstet, den W e g
und die Werkzeuge zu zeigen und wie ein Diener f ü r seinen H e r r n auf Raub und Beute
aus[zu]ziehen[ . . . ]".
445
So auch noch in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " im Aphorismus 14, betitelt „Anti-Darwin"
(6/3, 114 f.): Den Kampf ums Dasein konnte Nietzsche nur so lange als movens des Lebens
anerkennen, wie er dasselbe im Anschluß an Schopenhauer als Wille zum Leben dachte.
Wie bereits gesehen, lehrten ihn aber empirische Beobachtungen, daß die Lebewesen weit
davon entfernt sind, ihre Existenz nur bewahren zu wollen, daß sie vielmehr danach
streben, an Macht zu wachsen — „ w o gekämpft wird, kämpft man um M a c h t " (114)
und nicht um das Leben, das vielmehr um der Macht willen aufs Spiel gesetzt wird. Im
übrigen hält Nietzsche Darwin vor, daß der Kampf ums Dasein, dort, w o er vorkommt,
umgekehrt verläuft, „als die Schule Darwin's wünscht" (ebd.): „die Schwachen werden
immer wieder über die Starken H e r r , — das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch
k l ü g e r . . . " (Ebd.) D e n n : „ M a n muss Geist nöthig haben, um Geist zu bekommen, —
man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. W e r die Stärke hat, entschlägt sich
des Geistes" (115). Dieser Gedankengang hat aber zur Voraussetzung, daß Nietzsche den
Geist immer noch als Kraft der Verstellung deutet: „Ich verstehe unter Geist, wie man
sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und
Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten T u g e n d ) . "
446
So Nietzsches prägnante Formulierung in JGB III 62, 6 / 2 , 79—81, hier: S. 79.
447
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [127], 8/1, 123—125, hier: S. 125.
448
In Übereinstimmung mit — erst später abzuhandelnden — erkenntnistheoretischen
Überlegungen bedeutet das, daß Nietzsche die Lehre des Darwinismus glaubt: „Jeder
G l a u b e i s t e i n F ü r w a h r - h a l t e n . " , wie Nietzsche im Herbst 1887 ( V I I I 9 [41], 8 / 2 , 18)
aufzeichnet.
449
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [132], 3 / 4 , 49.
450
JGB 11, 6 / 2 , 18—20, hier: S. 19.
451
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [153], 3 / 4 , 55.
452
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3 / 4 , 47.
« 3 HI 21 [16], 3 / 4 , 119 f., hier: S. 120.
454
III 19 [161], 3 / 4 , 57 f., hier: S. 58.
4
55 III 19 [165], 3 / 4 , 59.
456
Wie Anm. 454.
457 Vgl dazu und zum Folgenden, was Carl Friedrich von Weizsäcker im N a c h w o r t zu Bd. 13
der H a m b u r g e r Ausgabe von Goethes Werken (HA) schreibt (S. 537—554, hier: S. 538):
„ G o e t h e und die neuzeitliche Naturwissenschaft haben einen gemeinsamen Grund, der ihr
Gespräch ermöglicht. Wir können ihn durch die Formel andeuten: Piaton und die Sinne.
Das Gespräch scheitert, w o beide auf diesem Grund verschiedene Gebäude errichten. Die
platonische Idee wird in der Naturwissenschaft zum Allgemeinbegriff, bei Goethe zur
Gestalt; die Teilhabe der Sinnenwelt an der Idee wird in der Naturwissenschaft zur
Geltung von Gesetzen, bei Goethe zur Wirklichkeit des Symbols."
458
So Goethe in dem Gespräch mit Riemer am 2. (6./7.?) August 1807 (Goethes Gespräche,
ed. Herwig, Bd. 2., a . a . O . , S. 246 f., hier: S. 247), das deshalb so schwierig zu
interpretieren ist, weil Goethe hier, indem er an den Kantischen Sprachgebrauch anknüpft
(„Dies zur Verständigung und Vereinigung mit denen, welche noch von Dingen an sich
sprechen."), seine Denkart in die des neuzeitlichen Ansatzes übersetzt: „Wir sollten nicht
von Dingen an sich reden, sondern von dem Einen an sich. Dinge sind nur nach
Anmerkungen 458 bis 466 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 417

menschlicher Ansicht, die ein Verschiedenes und Mehreres setzt. Es ist alles nur Eins; aber
von diesem Einen an sich zu reden, wer vermag es?"
459
Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [18], 3 / 4 , 120.
460
November 1887—März 1888, VIII 11 [411], 8 / 2 , 431 f., hier: S. 431.
461
Za IV, Der Schatten 6 / 1 , 336.
462
Mit diesen Ausführungen glauben wir auch eine Antwort auf die nachfolgende Frage
Eugen Finks (Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 32) gegeben zu haben: „Aber von w o aus
will Nietzsche Wahrheit oder Lüge des Intellekts abschätzen? H a t er denn eine Stellung
außerhalb, von w o er darauf hinunter sehen könnte? Es ist erstaunlich, daß Nietzsche sich
diese kritische Frage überhaupt nicht stellt".
463 Vg] d a 2 U a u c h die schon erwähnte Aufzeichung vom Frühjahr—Herbst 1881 (V 11 [293],
5 / 2 , 452), in der Nietzsche vom „muthmaaßlichen a b s o l u t e n Fluß des
G e s c h e h e n s " spricht.
464 Vgl. 377 £> e n Nachweis, daß die neuzeitliche Berufung auf den homo-mensura-Satz
(siehe Frühjahr 1888, V I I I 1 4 [116], 8/3, 84 f., hier: S. 85: „unsere heutige Denkweise ist in
einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch . . . es genügte zu sagen,
d a ß s i e p r o t a g o r e i s c h (sei), weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit
in sich zusammennahm") etwas anderes meint als sein Urheber Protagoras, führt wie
bereits erwähnt Heidegger (siehe: Μ. H., Die Zeit des Weltbildes, a. a. O., S. 104): „Eines
ist die Bewahrung des jeweilig beschränkten Umkreises der Unverborgenheit durch das
Vernehmen des Anwesenden (der Mensch als μέτρον). Ein Anderes ist das Vorgehen in
den entschränkten Bezirk der möglichen Vergegenständlichung durch das Errechnen des
jedermann zugänglichen und f ü r alle verbindlichen Vorstellbaren.//Jeder Subjektivismus
ist in der griechischen Sophistik unmöglich, weil hier der Mensch nie Subjectum sein kann;
er kann dies nicht werden, weil das Sein hier Anwesen und die Wahrheit Unverborgenheit
ist."
465
Deutlich weisen die auf S. 16 ff. beschriebenen frühen Überlegungen auf die nachfolgen-
den Gedanken der Spätzeit vor: „Wir haben nur nach dem Vorbilde des Subjektes die
D i n g l i c h k e i t erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretiert. Glauben
wir nicht mehr an das w i r k e n d e Subjekt, so fällt auch der Glaube an w i r k e n d e Dinge,
an Wechselwirkung, Ursache und Wirkung zwischen jenen Phänomenen, die wir Dinge
nennen. [ . . . ] Geben wir das wirkende S u b j e k t auf, so auch das O b j e k t , auf das ge-
wirkt wird. Die Dauer, die Gleichheit mit sich selbst, das Sein inhärirt weder dem, was Sub-
jekt, noch dem, was Objekt genannt wird: es sind Complexe des Geschehens, in Hinsicht
auf andere Complexe scheinbar dauerhaft" (Herbst 1887, VIII 9 [91], 8/2, 47—51, hier:
S. 47 f.).
466 w i r bedenken hier die bereits zitierten Aufzeichnungen: Alles „ist Interpretation, nicht
T e x t " (JGB 22, 6 / 2 , 31; siehe Anm. 87) und „ S c h e i n wie ich es verstehe, ist die wirkliche
und einzige Realität der Dinge" (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386; siehe
Anm. 429).
Nietzsche denkt den täuschenden Gott des Descartes gleichsam als irdisches „Prinzip"
(siehe JGB 34, 6 / 2 , 48—50, hier: S. 48: „wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu
Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ,Wesen der Dinge' verlocken
möchten"), wenn er überall nur „Metamorphosen Verkleidungen Maskeraden" sieht —
man kann, wie dies Walter Kaufmann tut, von „Nietzsches Philosophie der Masken"
(Nietzsche-Studien 10—11/1981—82, S. 111 —131) sprechen, wobei das Attribut sowohl
als Genitivus subjectivus wie auch als Genitivus objectivus zu hören ist: Sie ist eine
maskenhafte Philosophie, die um diesen Wesenszug weiß und ihm — zwangsläufig in
maskenhafter Weise — nachdenkt.
So schreibt Nietzsche im 289. Aphorismus seines Buches „Jenseits von Gut und Böse"
(6/2, 243 f., hier: S. 244) in unüberhörbarer Selbstauslegung: „ W e r Jahraus, Jahrein und
Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche
zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann ein Labyrinth, aber auch ein
Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen
418 Anmerkung 466 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe, einen Geruch
ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden
Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein
Philosoph — gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine
eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht
gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt? — ja er wird zweifeln, ob ein
Philosoph ,letzte und eigentliche' Meinungen überhaupt haben k ö n n e , ob bei ihm nicht
hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse — eine umfänglichere
fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter
jeder ,Begründung'. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie — das ist ein
Einsiedler-Urtheil: ,es ist etwas Willkürliches daran, dass e r hier stehen blieb,
zurückblickte, sich umblickte, dass er h i e r nicht mehr tiefer grub und den Spaten
weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran.' Jede Philosophie v e r b i r g t auch
eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes W o r t auch eine Maske."
Jedes W o r t und jede Philosophie — d. h. auch seine „neue Philosophie" des Willens zur
Macht, die er darum in einem Fragment aus der Entstehungszeit von „Jenseits von Gut und
Böse" als „ Ve rs u ch e i n e r n e u e n A u s l e g u n g a l l e s G e s c h e h e n s " (August bis
September 1885, VII 40 [50], 7 / 3 , 385 f., hier: S. 385; Kursivierung von mir, T h . B.)
bezeichnet, könne sie doch „billigerweise nur vorläufig und versucherisch, nur
vorbereitend und vorfragend, nur ,vorspielend'" sein. Denn es gibt keine feststehende
Wahrheit, keinen absoluten Grund, „kein Ende und keine letzte Horizontlinie"
(August—September 1885, VII 40 [57], 7 / 3 , 388), weil in Nietzsches Sicht das Leben
immer über das, was ist, hinauswill: sei es doch Wille zur Macht. Er soll das „letzte Factum
[sein], zu dem wir hinunterkommen" (August—September 1885, VII 40 [61], 7 / 3 , 393),
insofern in ihm die in Anm. 418 angesprochene Struktur des immerwährenden „ D a h i n t e r " ,
das Geschehnis des ständigen Entzugs eines unbedingten Seins, das wir in unserem
Lebensvollzug anzunehmen genötigt sind (vgl. dazu die in Anm. 127 zitierte, gegen Spir
gerichtete Aufzeichnung vom August—September 1885), eine Auslegung findet. Er zeigt
sich als „Einer [der sich] tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken
trägt und in sich selber kein Ende und (keine) letzte Horizontlinie findet"
(August—September 1885, VII 40 [57], 7 / 3 , 388): Nietzsche selber bezeichnet darum, wie
gehört, seine Konzeption des Willens zur Macht als einen bloßen „ N a m e n " f ü r diese
unsere ,Schein-Realität', zudem nur „von Innen her bezeichnet und nicht von seiner [des
Willens zur Macht] unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus." (August—September 1885,
VII 40 [53], 7 / 3 , 386) Wie Karl-Heinz Dickopp (op. cit., S. 117 f.) bemerkt, gibt der Wille
zur Macht als Quale der Welt nämlich „nicht zu erkennen, was er ist und woher er kommt:
er will nur die Macht." Und dies in dieser versuchenden und zugleich versucherischen
Auslegung, die darum weiß, daß sie selber innerhalb der von ihr herausgestellten
Bedingtheit der Erkenntnis ist, in der sich anders gesagt der Wille zur Macht selber in
Übermächtigung der Erscheinungen der Welt und ihrer bisherigen Ausdeutungen als
solcher auslegt. Die oben angeführte Aufzeichnung, in der Nietzsche seine Philosophie als
„Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens" bezeichnet, endet darum mit der
Bemerkung: „jeder Philosoph soll insoweit die Tugend des Erziehers haben, daß er, bevor
er zu überzeugen unternimmt, erst verstehen muß zu überreden. Ja der V e r f ü h r e r hat vor
allem Beweisen zu untergraben und zu erschüttern, vor allem Befehlen und Vorangehn erst
zu versuchen, in wie weit er versteht, auch zu verführen."
Er muß verführen zu den Voraussetzungen seiner Philosophie, gemäß denen sie richtig
erscheint. Dieses Voraussetzen, Festmachen der Tatbestände, an die sich das Denken
nachher anmißt, sie entdeckt, hat Nietzsche aber als Wille zur Macht gedacht. Das
wiederum heißt, daß sich seine Philosophie nurmehr gemäß den eigenen Voraussetzungen
selbst begründet und dies zudem auch eingestehen kann („Gesetzt, dass auch dies nur
Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so
besser. — " , heißt es im Aphorismus 22 von „Jenseits von Gut und Böse", siehe dazu schon
Anm. 87), weil ein solches Eingeständnis jene Voraussetzungen bestätigt. In dieser
Anmerkung 466 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 419

Sichtweise ist kein Denken, sofern es stringent ist, mehr widerlegbar, da es rein in sich
selbst kreist. („Solche Menschen leben in ihrem eignen Sonnensystem; darin muß man sie
aufsuchen.", bemerkt Nietzsche in „Ueber das Pathos der W a h r h e i t " zu Heraklit, 3 / 2 ,
252.) Es ist bloß radikalisierbar, dies jedoch wiederum schon im Hinblick auf die eigene
Philosophie, insofern diese den Punkt voraussetzt, in welchem die jeweiligen Denkansätze
vergleichbar werden. Für Nietzsche ist dies das „Leben". — Heidegger, der dort, w o er
nicht belegen kann, häufig zu zitieren pflegt — als Mittel der V e r f ü h r u n g das Zitat benutzt
—, hat diesen Zirkel des Denkens noch klarer als Nietzsche in seiner Vorlesung über ihn
als „die Frage nach der Selbstbegründung der Philosophie" bedacht. „Sie betrifft jenen
Sachverhalt, daß, was die Philosophie ist und wie sie jeweils ist, sich nur aus ihr selbst
bestimmt, daß aber diese Selbstbestimmung nur möglich ist, indem sie sich schon selbst
begründet hat." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 24)
Walter Kaufmanns Argumentation zu dem Problem der Maske bewegt sich nahezu
ausschließlich auf psychologischer Ebene — w o zwar die meisten, nicht aber die
wichtigsten von Nietzsches Äußerungen zur Maske angesiedelt sind: auch das eine Maske.
Erst am Ende seines Aufsatzes kommt Kaufmann auf das eigentlich philosophische
Problem zu sprechen. Zu dem oben zitierten Satz: „Jede Philosophie v e r b i r g t auch eine
Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes W o r t auch eine Maske.", bemerkt
er in jener selbstherrlich-oberflächlichen Manier, die auch sein Nietzsche-Buch
auszeichnet: „Wir haben gesehen, daß viele seiner W o r t e tatsächlich Masken sind. Ist aber
jedes W o r t eine Maske? Kaum. Und schreibt man wirklich Bücher um zu verdecken, was
man in sich hat [ . . . ] ? / / D e r hier zitierte Abschnitt hat auch einen Selbstbezug. Indem er
fühlt, daß er sich zu sehr exponiert hat, setzt der Einsiedlerphilosoph die Maske des
Possenspielers auf, der lediglich spielt und keine letzten und wirklichen Gesichtspunkte
hat. Dies ist eine von Nietzsches personae, eine seiner Masken und Rollen" (128 f.).
„Natürlich hatte er Meinungen und drückte diese gelegentlich lebhaft und mit Nachdruck
aus, aber er sah es als seine Ehrenpflicht an, seine Meinungen als vorläufig und nicht
.endgültig' aufzufassen. Sie können alle in Frage gestellt werden, und der Zweck, die
Bücher zu schreiben, die er hervorbrachte, war insgesamt nicht, uns zu überreden, seine
Meinungen zu akzeptieren, sondern eher — im Geiste Gotthold Ephraim Lessings — uns
aufzuwecken, uns aufzuschütteln und uns dahin zu führen, daß wir f ü r uns selbst denken."
(129) Abgesehen davon, daß jemand, der sich in schopenhauerscher Manier über
Universitätsphilosophen erhaben dünkt — oder sollte seine Polemik gegen sie maskierte
Selbstironie sein? —, abgesehen davon also, daß jemand, der sich als ernsthaften Denker
darzustellen bemüht ist, das W o r t „natürlich" wenn nicht überhaupt, so doch zumindest
aus dem Schatz seiner Lieblingsvokabeln streichen sollte, einmal abgesehen auch davon,
daß mit dieser Argumentation das Problem wieder auf die psychologische Ebene verlagert
ist, — uns erscheint in dieser Darstellung Nietzsches als eines liberalen Aufklärers die
Gewalt seines Denkens verharmlost: Wenn Nietzsche den Leser dazu auffordert, über
seine Gedanken hinauszugehen, so setzt er ihm ineins damit den äußersten Widerstand
entgegen, weil sich seiner eigenen Philosophie nach nur so der Wille zur Macht weiter
steigern kann. Zudem fragt es sich, ob man Nietzsches Philosophie jemals „ e n t k o m m e n "
kann, bewährt sich doch gerade in einem solchen Entkommen einer ihrer Grundgedanken.
Eine Verharmlosung von Nietzsches Denken als Hauptfolge einer schlechten
Psychologisierung droht Kaufmann auch an anderen Stellen seines Aufsatzes, etwa dort,
wo er schreibt: „ebensowenig sollten seine Leser die verschiedenen anderen Masken als
seine letzten Meinungen auffassen, am wenigsten aber die exoterischen Bedeutungen von
,wie man mit dem H a m m e r philosophiert' und der ,Herren-Moral', dem Jenseits von Gut
und Böse' und dem ,Willen zur Macht'. Weit entfernt davon, roh zu sein, war Nietzsche,
womöglich, im Ubermaß feinsinnig." (129) Sicher sind die betreffenden Gedanken nicht
Nietzsches letzte Meinungen, aber nur derjenige, der sich ihrer Härte, die nichts mit
Roheit, alles hingegen mit geistiger Redlichkeit zu tun hat, aussetzt, hat sich das Recht und
auch die Möglichkeit erworben, zu den „esoterischeren" Gedanken vorzudringen. In ihre
N ä h e gelangt Kaufmann aber dort, w o er folgendes zu bedenken gibt: „Vielleicht — wie
420 Anmerkungen 466 bis 473 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Nietzsche selbst in einigen seiner späten Äußerungen nahelegt — gibt es nur


Erscheinungen und keine letzte Wirklichkeit hinter ihnen. Vielleicht gibt es nur den Fluß
und nichts wirklich Festes. Und vielleicht gibt es nicht einmal ein Selbst. Vielleicht haben
die Individuen kein Wesen und keine Natur, und wenn sie es hätten, dann könnte man
sagen, es sei ihre Aufgabe, dies zu überwinden. Vielleicht sind alle festen Positionen nur
Masken und nicht endgültig. Nietzsches Tiefe rührt zum Teil daher, daß er diese Fragen
aufgeworfen hat." (130 f.) W a r u m sucht sich Kaufmann, der so vieles Wichtige bei
Nietzsche beobachtet, nicht diese Tiefe zu bewahren? Könnte man dann nämlich noch
Nietzsches Wesensbestimmung der W o r t e als Masken mit einem einzigen W o r t abtun?
Kaum.
467
Vgl. Sommer—Herbst 1873, III 29 [17], 3 / 4 , 240 f., hier: S. 240: „Kunst behandelt also
den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, i s t w a h r . " Sowie: III 29
[20], 3 / 4 , 241: „Die Wahrheit ist unverkennbar. Alles Erkennbare Schein. Bedeutung der
Kunst als des wahrhaftigen Scheines."
468
H L 9, 3 / 1 , 315 nennt Nietzsche etwa „die Lehren vom souverainen Werden, von der
Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und Arten, von dem Mangel aller cardinalen
Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier — Lehren, die ich f ü r wahr, aber f ü r tödtlich
halte". Jeder Glaube aber ist, wie Nietzsche im Herbst 1887 bemerkt (VIII 9 [41], 8/2, 18),
„ein F ü r - w a h r - h a l t e n . " Nicht zuletzt spricht aus dem Begriff des „notwendig zu
Glaubenden" der Charakter der Vorläufigkeit, der Nietzsche zufolge allen Annahmen
zugesprochen werden muß.
469
Das eben angesprochene Zitat lautet im Zusammenhang: „Es giebt k e i n e a p a r t e
P h i l o s o p h i e , g e t r e n n t von der Wissensch aft: dort wie hier wird gleich
g e d a c h t . D a ß ein u n b e w e i s b a r e s Philosophiren noch einen Werth hat, mehr als
meistens ein wissenschaftlicher Satz, hat seinen Grund in dem aesthetischen W e r t h e
eines solchen Philosophirens, d. h. durch Schönheit und Erhabenheit. Es ist als
K u n s t w e r k noch vorhanden, wenn es sich als wissenschaftlicher Bau nicht erweisen
kann. Ist das aber bei wissenschaftlichen Dingen nicht ebenso? — / / M i t anderen W o r t e n :
es entscheidet nicht der reine E r k e n n t n i ß t r i e b , sondern der a e s t h e t i s c h e : die
wenig erwiesene Philosophie des Heraklit hat einen größeren Kunstwerth als alle Sätze des
Aristoteles.//Der Erkenntnißtrieb wird also gebändigt durch die Phantasie in der Kultur
eines Volkes. Dabei ist der Philosoph vom höchsten W a h r h e i t s p a t h o s erfüllt: der
W e r t h seiner Erkenntniß verbürgt ihm ihre W a h r h e i t . Alle F r u c h t b a r k e i t , und
alle treibende Kraft liegt in diesen v o r a u s g e w o r f n e n Blicken." (Sommer
1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3/4. 32).
470
Ganzheit ist Oberflächlichkeit, diese aber ist Schönheit; siehe Frühjahr 1884, VII 25 [505],
7 / 2 , 142 f., sowie: N W , Epilog 2, 6 / 3 , 437. D a r u m kann Nietzsche schon im Sommer
1872—Anfang 1873 (III 19 [22], 3 / 4 , 11) sagen: „ D i e S c h ö n h e i t tritt bei dem
wählerischen Erkenntnißtrieb wieder als Macht hervor."
471
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 33.
472
Schopenhauer sieht die Langeweile, die eintritt „sobald N o t und Leiden dem Menschen
eine Rast vergönnen" ( W a W I, 429), als „Quelle der Geselligkeit" an (ebd., S. 430).
473
In GM II 17 (6/2, 340 f.) wird Nietzsche diese Theorie vom Ursprung des Staates als
„Schwärmerei" abtun. Der Staat entstehe vielmehr in Ausübung des Willens zur Macht
durch Gewalt und Eroberung. Aus einem Willen zur Macht sieht Nietzsche den Staat im
Grunde schon 1872, in der Vorrede „ D e r griechische Staat", entstanden. Die
terminologische Nähe zu Rousseau in der ein halbes Jahr später entstandenen Schrift
könnte daher zu Mißverständnissen Anlaß geben, erkennte man nicht, daß die Rede vom
„Gesellschaftsvertrag" weniger ein Modell der Ereignisse zu geben beabsichtigt, die der
Gründung eines Staates voraufgehen, als vielmehr das zu erfassen bestrebt ist, was eine
solche G r ü n d u n g bedeutet, nämlich die Aufrichtung von Konventionen — sei es explizit
oder implizit.
In diesen Anschauungen stimmte Nietzsche mit Jacob Burckhardt überein. So bemerkt
dieser in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" — die ihnen zugrundeliegende
Anmerkungen 473 bis 479 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 421

Vorlesung „Über Studium der Geschichte" im Winter 1870/71 hat Nietzsche gehört
(siehe: Janz 1, 387) —: „Eitel sind alle unsere Konstruktionen von Anfang und Ursprung
des Staates, und deshalb werden wir uns hier über diese Primordien nicht wie die
Geschichtsphilosophen den Kopf zerbrechen. N u r so viel Licht, daß man sehe, was f ü r ein
Abgrund vor uns liegt, sollen die Fragen geben: Wie wird ein Volk zum Volk? und wie zum
Staat? [ . . . ] / / A b s u r d ist die Kontrakthypothese f ü r den zu errichtenden Staat, die bei
Rousseau auch nur als ideale hypothetische Aushilfe gemeint ist, indem er nicht zeigen will,
wie es gewesen sei, sondern wie es nach ihm sein sollte. N o c h kein Staat ist durch einen
wahren, d. h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt (inter volentes) entstanden". „ S o ist
denn nur zweierlei wahrscheinlich: a) die Gewalt ist wohl immer das Prius. U m ihren
Ursprung sind wir nie verlegen, weil sie durch die Ungleichheit der menschlichen Anlagen
von selbst entsteht. O f t mag der Staat nichts weiter gewesen sein als ihre Systematisierung.
O d e r b) wir ahnen sonst einen höchst gewaltsamen Prozeß, zumal der Mischung. Ein
Blitzstrahl schmilzt mehreres zu einem neuen Metall zusammen, etwa zwei stärkere und
ein schwächeres oder umgekehrt." (J. B., Weltgeschichtliche Betrachtungen, Erläuterte
Ausgabe hrsg. v. Rudolf Marx, Stuttgart 1978, S. 30 und S. 32).
474
Dies Nietzsches beständig wiederholte Betrachtung jener Unzeit, welche geprägt ist von
der „ E x s t i r p a t i o n d e s d e u t s c h e n G e i s t e s z u G u n s t e n d e s , d e u t s c h e n
R e i c h e s ' ". (DS 1, 3 / 1 , 156) Siehe zu dieser Fragestellung vor allem: C V 3 ( „ D e r
griechische Staat"), w o sich der Satz findet (3/2, 264 f.) über „die ungeheure
Nothwendigkeit des Staates, ohne den es der Natur nicht gelingen möchte, durch die
Gesellschaft zu ihrer Erlösung im Scheine", d. h. zur verklärten Physis (siehe unten) oder
Kultur, „im Spiegel des Genius, zu kommen." Dagegen erkennt Nietzsche „in jener
neuerdings von allen Dächern gepredigten", auf Hegel zurückgehenden „Lehre, dass der
Staat das höchste Ziel der Menschheit sei, und dass es f ü r einen Mann keine höheren
Pflichten gebe, als dem Staate zu dienen", „nicht einen Rückfall in's Heidenthum, sondern
in die D u m m h e i t " (SE 4, 3 / 1 , 361). Und an anderer Stelle der gleichen Schrift
„Schopenhauer als Erzieher" hält er dem Gerede vom deutschen „Kulturstaat" entgegen:
„ M a g der Staat noch so laut sein Verdienst um die Kultur geltend machen, er fördert sie,
um sich zu fördern und begreift ein Ziel nicht, welches höher steht als sein Wohl und seine
Existenz." (3/1,396).
475
Auf Nietzsches diesbezügliche Äußerungen kommen wir weiter unten zu sprechen.
476
III 19 [229], 3 / 4 , 79 f., hier: S. 80.
477
Im Frühjahr 1884 (VII 25 [305], 7 / 2 , 84) zeichnet Nietzsche auf: „— w i r m a c h e n
e i n e n V e r s u c h m i t d e r W a h r h e i t ! Vielleicht geht die Menschheit dran zu Grunde!
Wohlan!", womit er die Wahrheit meint, daß es keine Wahrheit gibt. Im Sommer
1872—Anfang 1873 nennt er hingegen das „Aussprechen der W a h r h e i t u m j e d e n
P r e i s [ . . . ] s o k r a t i s c h "(III 19 [97], 3 / 4 , 39 f., hier: S. 40), er rechnet es mithin noch
zu den Entartungen des gegenwärtigen Lebens. N o c h glaubt er die Kultur allein durch das
Festhalten an der überkommenen metaphysischen Begriffsdichtung retten zu können.
Noch sieht er nicht, daß erst zerstört werden muß, damit gebaut werden kann. (Weiteres
dazu im folgenden.)
478 Vgl. dazu, was Michel Foucault in seinem Buch „Die O r d n u n g der Dinge",
F r a n k f u r t / M a i n 2 1978, S. 74 f. schreibt: „Seit dem siebzehnten Jahrhundert [ . . . ] wird die
Anordnung der Zeichen binär, weil man sie seit Port-Royal durch die Verbindung eines
Bezeichnenden und eines Bezeichneten definieren wird. In der Renaissance ist die
Organisation eine andere und viel komplexere. Sie ist t e m ä r , weil sie sich des formalen
Gebietes der Zeichen, dann des Inhalts, der durch diese Zeichen signalisiert wird, und der
Ähnlichkeiten bedient, die diese Zeichen mit den bezeichneten Dingen verbinden. [ . . . ]
Diese neue Disposition zieht das Erscheinen eines neuen, bis dahin unbekannten Problems
nach sich. In der T a t hatte man sich gefragt, wie man erkennen soll, daß ein Zeichen genau
das bezeichnete, was es bedeutete. V o m siebzehnten Jahrhundert an wird man sich fragen,
wie ein Zeichen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet."
479
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [258], 3 / 4 , 88.
422 Anmerkungen 480 bis 484 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

480 Nietzsche war nicht der erste, der dies erkannt hat. Als Vorgänger sind vor allem Vico und
H e r d e r zu nennen. Aber erst bei Nietzsche führt diese Erkenntnis zu einer Krisis des
Denkens. Vgl. dazu: Beda Allemann, Die Metapher und das metaphorische Wesen der
Sprache, in: Welterfahrung in der Sprache, Erste Folge, hrsg. v. der Arbeitsgemeinschaft
Weltgespräch, Freiburg 1968, S. 29-43.
481
VIII 11 [148], 8/2, 311 f., hier: S. 311.
482
Die Metonymie sucht Nietzsche in zeitgleichen Fragmenten wie folgt zu spezifizieren,
wobei er anknüpft an deren rhetorische Bestimmung als „einer Verschiebung der
Benennung außerhalb der Ebene des Begriffsinhalts", wozu vorzüglich die Vertauschung
von Ursache und Wirkung rechnet (Heinrich Lausberg, Elemente der literarischen
Rhetorik, München H976, §216—§219, S. 75f.). Sommer 1872—Anfang 1873, III 19
[204], 3 / 4 , 69 f.: „ D i e A b s t r a k t i o n e n sind M e t o n y m i e n d . h . Vertauschungen
von Ursache und Wirkung. N u n aber ist jeder Begriff eine Metonymie und in Begriffen
geht das Erkennen vor sich." Und in der Aufzeichung III 19 [242], 3 / 4 , 83 heißt es: „Ein
bestimmter Körper ist gleich so und so viel Relationen. Relationen können nie das Wesen
sein, sondern nur Folgen des Wesens. Das synthetische Urtheil beschreibt ein Ding nach
seinen Folgen, d . h . W e s e n und F o l g e n werden i d e n t i f i c i r t , d . h . eine
M e t o n y m i e . / / A l s o im Wesen des synthetischen Urtheils liegt eine M e t o n y -
m i e , / / d . h. es ist eine f a l s c h e G l e i c h u n g . / / D . h. D i e s y n t h e t i s c h e n S c h l ü s s e
s i n d u n l o g i s c h . Wenn wir sie anwenden, setzen wir die populäre Metaphysik voraus,
d. h. die, welche Wirkungen als Ursachen betrachtet." In der Hinsicht, daß sämtliche
Begriffe als Anthropomorphismen oder Übertragungen anzusehen sind, werden sie mithin
von Nietzsche als Metaphern bezeichnet, während sie in der Hinsicht, daß sie das
Ursache-Wirkungs-Verhältnis vertauschen, nämlich überhaupt ein solches annehmen, von
ihm als Metonymien angesehen werden. Auch Lausberg bemerkt von seiner ganz anders
gelagerten Sichtweite her, daß die Grenzen zwischen Metonymie und Metapher fließend
sind (a. a . O . , §225. S. 77).
483
Vgl. dazu: Jochem Hennigfeld, Sprache als Weltansicht, Humboldt — Nietzsche —
W h o r f , in: Zeitschrift f ü r philosophische Forschung 30 (1976), S. 435—451, hier: S. 437:
„In der [ . . . ] Darlegung der Sprache als Weltansicht verbindet Humboldt Kants
transzendentalen Ansatz mit dem neuzeitlichen Individualitätsbegriff, wie er durch
Leibniz' Monadologie geprägt wurde." Dabei stoße er „ z u einer eigenen Art des
transzendentalen Idealismus" vor. Martin Heidegger, Der W e g zur Sprache, in: ders.,
Unterwegs zur Sprache, a. a. O., S. 239—268, hier: S. 246—249, stellt vor allem die enge
Beziehung zur Philosophie von Leibniz heraus, die sich am deutlichsten dadurch bekunde,
„daß Humboldt das Wesen der Sprache als Energeia bestimmt, diese jedoch ganz
ungriechisch im Sinne von Leibnizens Monadologie als Tätigkeit des Subjektes versteht."
(249).
Es gibt keine Anzeichen dafür, daß Nietzsche Humboldt jemals selber gelesen hätte.
Das Verhältnis zwischen beiden wären daher, wie Anthonie Meijers ausführt, „auf dem
Umweg über Gerbers Humboldt-rezeption [sie] näher zu erforschen." (Α. M., Gustav
Gerber und Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 44) Abgesehen davon, daß der Verfasser von
„Die Sprache als Kunst" vielfach mit großer Zustimmung auf Humboldt hinweist, zeigt
sich nämlich schon dem oberflächlichen Betrachter die enge Verwandtschaft zwischen
beiden, „so bei Gerbers Auffassungen über das Wesen der lebendigen Sprache, bei seiner
genetischen Betrachtungsweise und dem dabei angewandten Gesetz der Wechselwirkung
von Sprache und Geist, bei dem engen Zusammenhang zwischen Sprache und Kunst, bei
seiner Ansicht, der Satz sei die kleinste bedeutungsvolle Einheit in der Sprache, schliesslich
bei der Bedeutung, die er Analogien und Bedeutungswandlungen beimisst." (Ebd., S. 11,
Anm. 27) Hinweise genug, um eine eingehendere Untersuchung des Verhältnisses
zwischen Nietzsche und Humboldt als wünschenswert erscheinen zu lassen.
484 Wilhelm von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die
verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung, in: ders., Band 3 der Werke in fünf
Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 5 1979, S. 1—25, hier: S. 20.
Anmerkungen 485 bis 496 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 423

485
Ernst Cassirer, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie,
in: Festschrift für Paul Hensel, Erlangen 1923, S. 105—127, hier. S. 116.
486 Wie Anm. 484. Vgl. dazu auch, was Jochem Hennigfeld, op. cit., zu dieser Fragestellung zu
bedenken gibt: „Wenn Sprache Weltbild ist, dann wird nicht nur das Verstehen der
Menschen untereinander, sondern das Verstehen des Seienden überhaupt fraglich.
Humboldt sieht darin kein schwerwiegendes Problem. Denn für ihn entsteht die Sprache
als Abdruck der in der Vernunft von Dingen an sich erzeugten Bilder [ . . . ] , und das Bild ist
nicht das Ding selbst, aber doch dessen Erscheinung. Die Dinge an sich bleiben bei allen
individuellen Unterschieden unseres Verstehens das Einheit ermöglichende Substrat.
Sprache vermittelt so zwar immer nur ein Weltbild, aber dieses Bild ist doch Abbild, d. h.
der an sich seienden Welt ähnlich. Wodurch aber ist eine solche Auffassung begründet?
Wenn ohne Sprache keine Erkenntnis möglich ist, kann dann das Bild von der Welt, das die
Sprache uns gibt, nicht auch Trugbild statt Abbild sein?" (442) Diese Frage werfe erst
Nietzsche auf, für den der Maßstab von An-Sich und Für-Uns insofern bestehen bleibe,
„als er zwar das An-sich zu einer ,widersinnigen Konzeption' [ . . . ] erklärt, aber um den
Preis des Wahrheitsverlustes." (450) — Siehe des weiteren: Jörn Albrecht, Friedrich
Nietzsche und das „sprachliche Relativitätsprinzip", in: Nietzsche-Studien 8/1979,
225—244.
487
P H G 3, 3/2, 311.
488
Siehe: Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [210], 3/4, 72: „Zeit Raum und Kausalität sind
nur Erkenntnißme t a p h e r n , mit denen wir die Dinge uns deuten."
489
III 19 [209], 3/4, 70—72, hier: S. 71.
49
° Ebd.
491
Vgl. z.B. Frühjahr 1888, VIII 14 [98], 8/3, 66—68, hier: S. 66. Dem entspricht
Schopenhauers Aufzeichnung in WaW I, 158: „In der Reflexion allein ist Wollen und Tun
verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. Jeder wahre, echte, unmittelbare Akt des
Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes".
492
Ende 1870—April 1871, III 7 [194], 3/3, 221.
493
September 1870—Januar 1871, III 5 [77], 3/3,114: „Der Instinkt der uns zur That nöthigt
und die Vorstellung die uns als Motiv ins Bewußtsein tritt liegen auseinander. Die
W i l l e n s f r e i h e i t ist die Welt dieser dazwischen geschobenen Vorstellungen, der
Glaube daß Motiv und Handlung nothwendig einander bedingen."
494
Ende 1870—April 1871, III 7 [144], 3/3, 204 f., hier: S. 204; vgl. auch: III 7 [175], 3/3,
216 f., hier: S. 217. Zu diesem Trug rechnet Nietzsche auch Schopenhauers an Kant
anknüpfende Lehre vom „intelligiblen Charakter": „Begriff der Persönlichkeit, ja der
moralischen Freiheit nothwendige Illusionen" (III 29 [4], 3/4, 229 f., hier: S. 230). Er
denkt den Charakter schon jetzt von einem genealogischen Standpunkt aus, indem er seine
Bestimmtheit auf die Erbmasse einer langen Geschlechterkette zurückführt. „Es ist wahr,
jeder Mensch ist schon ein intelligibles Wesen (durch zahllose Generationen bedingt?).", so
im Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [113], 3/4, 43 f., hier: S. 43.
495
In größter Deutlichkeit spricht Nietzsche dies im „Antichrist" (5 14, 6/3, 178 f., hier:
S. 178) in Hinblicknahme auf den Willen zur Machtaus: „Ehedem gab man dem Menschen
als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung den ,freien Willen': heute haben wir ihm selbst
den Willen genommen, in dem Sinne, dass darunter kein Vermögen mehr verstanden
werden darf. Das alte Wort,Wille' dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art
individueller Reaktion, die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils
zusammenstimmender Reize folgt: — der Wille ,wirkt' nicht mehr, ,bewegt' nicht
m e h r . . . " Er ist auf dieser Stufe von Nietzsches Denken Wille zur Macht, d. h. eine
„Kraft", die „in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht." (JGB 22, 6/2, 31) Ein
„Konsequenzziehen" aber intendiert Nietzsche bereits auf der frühen Stufe, womit an
diesem Beispiel deutlich wird, daß der spätere Begriff des Willens zur Macht bereits in
jenem früheren des Willens zum Leben vorgezeichnet ist.
496
Vgl. JGB 213, 6/2, 151 — 153, hier: S. 152, wo Nietzsche die Künstler charakterisiert als
diejenigen, „die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr ,willkürlich' und
424 Anmerkungen 496 bis 513 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von
schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine H ö h e kommt, — kurz, dass
N o t w e n d i g k e i t und ,Freiheit des Willens' dann bei ihnen Eins sind."
497
G M II 17, 6 / 2 , 340 f., hier: S. 341. Die Deutung des Staates als Kunstwerk findet sich
bereits in der „Geburt der T r a g ö d i e " ( 2 1 , 3 / 1 , 129) und zwar in der Weise, daß Nietzsche
Apoll, den Gott der Kunst, auch als den ,,staatenbildende[n]" bezeichnet. Apoll ist der Gott
der Kunst, weil er der Gott der Form, d. h. des Maßes, ist. D e r Staat aber ist geformtes
Menschenmaterial: verbesserte Physis, d. h. Kultur.
498
Siehe d a z u : C V 3, 3 / 2 , 264. Vgl. zu dieser Fragestellung auch die hervorragende
Darstellung von Raymond Polin, Nietzsche und der Staat oder die Politik des Einsamen,
in: Nietzsche, Werk und Wirkungen, hrsg. v. H a n s Steffen, Göttingen 1974, S. 27-44.
499
G M I 13, 6 / 2 , 293.
5C
° Ebd.
Mi Der Terminus Herbst 1887, VIII 9 [91], 8 / 2 , 47—51, hier: S. 48.
502 G M I 13, 6 / 2 , 293.
503 Vgl. Herbst 1887, VIII 9 [106], 8/2, 59f., hier: S. 60: „ H y p o t h e s e , d a ß es n u r
S u b j e k t e g i e b t — daß ,Objekt' nur eine Art Wirkung von Subjekt auf Subjekt ist . . .
ein m o d u s d e s S u b j e k t s " .
504 Herbst 1887, VIII 9 [91], 8 / 2 , 47—51, hier: S. 47.
505
H a n s Martin Klinkenberg, D e r Kulturbegriff Nietzsches, in: Historische Forschungen und
Probleme, Festschrift f ü r Peter Rassow, hrsg. v. Karl Erich Born, Wiesbaden 1961,
S. 313—341, hier: S. 331.
506 G M I 13, 6 / 2 , 293.
507 Siehe: Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [209], 3 / 4 , 70—72, hier: S. 71: „Die einzige
Kausalität, die uns bewußt ist, ist zwischen Wollen und T h u n — diese übertragen wir auf
alle Dinge und deuten uns das Verhältniß von zwei immer beisammen befindlichen
Veränderungen. Die Absicht oder das Wollen ergiebt die Nomina, das T h u n die Verba."
508 E j n v o n Nietzsche sein ΜΑ I wiederholt aufgegriffenes Thema. Vgl. etwa dort Aph. 70
(4/2, 79) und Aph. 107 (4/2, 101 — 104).
509 G M I 13, 6 / 2 , 293.
510
G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 5, 6 / 3 , 72.
511
Brief an Constantin N a u m a n n , III/5, 163. Vgl. auch eine Aufzeichnung von Ende
1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [4], 8/1, 267—278, hier: S. 267, in der ein Gedanke zum
Ausdruck kommt, der sich bereits in P H G 4, 3 / 2 , 312 ff. findet: „Seit Plato ist die
Philosophie unter der Herrschaft der Moral: auch bei seinen Vorgängern spielen
moralische Interpretationen entscheidend hinein (bei Anaximander das Zu-Grunde-gehn
aller Dinge als Strafe f ü r ihre Emancipation vom reinen Sein, bei Heraklit die
Regelmäßigkeit der Erscheinungen als Zeugniß f ü r den sittlich-rechtlichen Charakter des
gesammten Werdens)".
512
Erich Heintel (Hg.), Johann Gottfried Herder, Sprachphilosophische Schriften, H a m b u r g
1975 (unveränderter N a c h d r u c k der zweiten, erweiterten Auflage), S. X X f.
513
Gustav Gerber, der eine Wechselwirkung zwischen Sprache und menschlichem Geist
dahingehend annimmt, daß sich beide gleichzeitig entwickeln — er zitiert in diesem
Zusammenhang Humboldts Satz: „Die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens"
(G. G., Die Sprache als Kunst, a. a. O., S. 146) —, er ist hier präziser: Meint Nietzsche bei
der Genese der Sprache von der vereinfachten Kette (Ding an sich) -* Nervenreiz -* Bild
(oder Anschauungsmetapher)-* Laut (oder Wort)-* Begriff ausgehen zu können, so nimmt
Gerber dagegen folgende viel komplexere Phasenfolge an: (Ding an sich)-* Nervenreiz-*
Empfindung-* Laut-* Vorstellung-* Wurzel-* Wort-* Begriff. (Vgl. d a z u : Meijers, op.
cit., S. 12 und S. 38). Erst durch den Zusammentritt von Empfindung und Laut ergibt sich
zufolge dieses Modells eine geformte Vorstellung. So vermag es in der T a t Gerbers
Einsicht wiederzugeben, daß „der Sprachschatz auch den Schatz des Erkennens [bildet]"
(Gerber, op. cit., S. 276), weswegen, wie er ausdrücklich hervorhebt, „dass, was Kant als
.Kritik der reinen V e r n u n f t ' zu untersuchen begann, fortzuführen ist als Kritik der
Anmerkungen 513 bis 523 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 425

unreinen Vernunft, der gegenständlich gewordenen, also als K r i t i k d e r S p r a c h e "


(ebd., S. 262). Eine solche Kritik der Sprache hat Gerber dann in seinem nächsten W e r k
„Die Sprache und das E r k e n n e n " (Berlin 1884) zu liefern versucht.
514
MusA 5, 467—470.
515
Ebd., S. 467.
516 Siehe Anm. 435.
517
So schon Schopenhauer in seiner „Kritik der Kantischen Philosophie" im Abschnitt „ D i e
Form des kategorischen Urteils", W a W I (Anhang), 615—617, hier: S. 617. — Die eckige
Klammer als Erläuterung bereits im Text.
518 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [107], 3/4, 42. So auch noch in F W 354 (5/2,
272—275, hier: S. 274): „dieses bewusste Denken g e s c h i e h t i n W o r t e n , d a s h e is s t
in M i t t h e i l u n g s z e i c h e n , womit sich die H e r k u n f t des Bewusstseins selber aufdeckt.
Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( n i c h t
der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen H a n d in
Hand."
si' P H G 5, 3 / 2 , 317.
520 KSA 14, 114.
521
Vgl. etwa G T 21, 3 / 1 , 41: Der Weltgenius, der Wille, spricht „seinen Urschmerz in jenem
Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch" aus.
522 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [20], 3 / 3 , 66: „Symbol die Übertragung eines
Dinges in eine ganz verschiedene Sphaere."
523
D a ß f ü r das Verständnis dieses Satzes der gesunde Menschenverstand nicht hinreichend
ist, zeigt Martin Heidegger (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 501 f.): „Die Wahrheit sei eine
Illusion, sagt H e r r Nietzsche. Dann ist doch, wenn Nietzsche .konsequent' sein will — und
es geht nichts über die ,Konsequenz' —, dann ist doch auch der Satz Nietzsches über die
Wahrheit eine Illusion, und dann brauchen wir uns nicht länger mit ihm a b z u g e b e n . / / D e r
leere Scharfsinn, der sich mit dieser Art von Widerlegung aufspielt, erweckt den Anschein,
als sei nun alles erledigt. Er vergißt allerdings bei seiner Widerlegung von Nietzsches Satz
über die Wahrheit als Illusion das Eine, daß, wenn Nietzsches Satz wahr ist, nicht allein
Nietzsches eigener Satz als ein wahrer zur Illusion wird, sondern daß dann ebenso
notwendig auch der hier als Widerlegung Nietzsches vorgebrachte wahre Folgesatz eine
.Illusion' sein muß. D e r Verfechter des Scharfsinns wird nun aber, inzwischen noch klüger
geworden, entgegnen, daß dann auch unsere Kennzeichnung seiner Widerlegung als einer
Illusion ihrerseits Illusion bleibe. Allerdings — und dieses wechselweise Widerlegen könnte
ins Endlose fortgesetzt werden, um stets nur das zu bestätigen, wovon es nämlich beim
ersten Schritt schon Gebrauch macht: daß die Wahrheit eine Illusion sei. Dieser Satz wird
durch die Widerlegungskunststücke des bloßen Scharfsinns nicht nur nicht erschüttert, er
wird dadurch nicht einmal berührt." U n d weiter (S. 503): „ D e r gesunde Menschenverstand
in Ehren, aber es gibt Bereiche, und es sind die wesentlichsten, zu denen er nicht hinreicht.
Es gibt solches, was eine strengere Denkungsart fordert. Wenn die Wahrheit in allem
Denken herrschen soll, kann ihr Wesen vermutlich nicht durch das gewöhnliche Denken
und dessen Spielregeln begriffen werden." Diese Behauptung sucht Heidegger durch den
Nachweis zu stützen, „ d a ß Nietzsches Bestimmung des Wesens der Wahrheit keine
überspannte und grundlose Behauptung eines Menschen ist, der um jeden Preis auf seine
Originalität erpicht bleibt, sondern daß die Wesensbestimmung der Wahrheit als ,Illusion'
wesentlich mit der metaphysischen Auslegung des Seienden zusammenhängt und deshalb
so alt und anfänglich ist wie die Metaphysik selbst." (504) Und er führt diesen Satz zurück
auf das Heraklit-Fragment 28 (Diels/Kranz): δ ο κ έ ο ν τ α γ α ρ ό δ ο κ ι μ ώ τ α τ ο ς γ ι ν ώ σ κ ε ι ,
φ υ λ ά σ σ ε ι , das er übersetzt mit: „ ,Ansichten haben ist nämlich/auch n u r / d e s
Angesehensten Erkennen, das Uberwachen/Festhalten einer Ansicht.'" (504) Danach
heiße f ü r Heraklit „Erkennen: das Festnehmen dessen, was sich zeigt, das Bewachen des
Anblicks als der ,Ansicht' die etwas bietet, des ,Bildes' im [ . . . ] Sinne der φ α ν τ α σ ί α . Im
Erkennen wird das Wahre festgehalten; das Sichzeigende, das Bild, wird in den Besitz auf-
und eingenommen; das W a h r e ist das ein-gebildete Bild. Wahrheit ist Ein-bildung; das
426 Anmerkungen 523 bis 527 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

W a h r e aber jetzt griechisch gedacht, nicht psychologisch', nicht erkenntnistheoretisch-


neuzeitlich." (506) O b diese R ü c k f ü h r u n g des Nietzscheschen Satzes „Wahrheiten sind
Illusionen" auf mehr als einem „Wortspiel" beruht, das müssen wir hier offenlassen. Uns
interessiert hier ein anderer Gedanke Heideggers mehr, weil er in die N ä h e dessen gerät,
was wir zu diesem Satz ausgeführt haben. Heidegger bemerkt: „Übereinstimmung der
Erkenntnis mit den Sachen und dem Wirklichen. Dieser Begriff der Wahrheit ist die
Voraussetzung und das Leitmaß f ü r die Auslegung der Wahrheit als Schein und Irrtum.
Wird dann nicht Nietzsches eigene Auslegung der Wahrheit als Schein zu einem Schein?
Sie wird noch nicht einmal zu einem Schein: Nietzsches Auslegung der .Wahrheit' als
Irrtum unter Berufung auf das Wesen der Wahrheit als Ubereinstimmung mit dem
Wirklichen wird zur Verkehrung des eigenen Denkens und dadurch zu dessen Auflösung."
(Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 185) D a ß diese Auflösung von Nietzsche intendiert sein kann
und zwar in Hinblick auf seinen Grundgedanken des Werdens, das vermag Heidegger —
aus Gründen, die wir bereits in Anm. 190 aufgezeigt haben — nicht zu sehen.
Viel zu kurz greift hingegen Eugen Fink mit seiner nachfolgenden Bemerkung, deren
Grund-Satz, daß Nietzsches Intuition des Werdens wahr zu sein beanspruche, ebenfalls
bereits in Anm. 190 als irrig ausgewiesen worden ist: „ O f t wird Nietzsche der Vorwurf
gemacht, er bewege sich in einem fehlerhaften Zirkel, wenn er einerseits die Erkenntnis auf
den Fälschungstrieb gründe und andererseits selbst eine neue Philosophie, also doch wohl
eine neue Erkenntnis proklamiere, [ . . . ] . Dieser Einwand geht fehl, weil die Erkenntnis
vom Werden, die zur kritischen Verwerfung aller das Werden verfälschenden kategorialen
Erkenntnis führt, nicht selbst wieder unter den kritisierten Erkenntnisbegriff fällt."
(Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 165)
524
P H G 5, 3 / 2 , 317.
525
Keine Übersetzung eines Fragments von Heraklit, sondern von Fragment Nr. 6
(Diels/Kranz) des Parmenides, in dem dieser über „nichts wissende Sterbliche" sagt, daß
bei ihnen „das Sein und Nichtsein f ü r dasselbe gilt".
526
P H G 10, 3 / 2 , 336.
527
Als Antinomie (von griech. ά ν τ ί ν ο μ ί α „Widerspruch des Gesetzes mit sich selbst")
bezeichnet man eigentlich den Widerstreit zwischen mehreren Sätzen, deren jedem f ü r sich
Gültigkeit zukommt. Doch macht Nietzsche, wie wir aus obiger Passage ersehen können,
keinen Unterschied zum Paradoxon (von griech. π α ρ ά δ ο ξ ο ν „Unerwartetes", aus π α ρ ά
„ g e g e n " und δόξα „Meinung"), einem Satz, der in sich Gegensätzliches oder
Widersprüchliches vereint, Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren ist. — Die
Berechtigung unserer Überlegungen hinsichtlich der Rolle der Paradoxien kann ein höchst
bedeutsames Beispiel belegen, das indes nicht unserem Untersuchungszeitraum angehört.
Wir sagten, daß Nietzsche keine Wahrheit (an sich) anzunehmen vermag, weil diese ein
Sein voraussetzen würde, das es „in W a h r h e i t " nicht gibt, weil alles wird und nichts ist. Das
Sein erwächst nämlich, wie Nietzsche später sagt, aus einer Fälschung des „ i m "
menschlichen Intellekt wirkenden Willens zur Macht, der sich nur so als
Überwindungsvollzug ermöglichen kann. Diesen Gedanken faßt Nietzsche in einer
berühmten, vielfach (u. a. von Heidegger und Fink, von diesen aber, wie wir zeigen
werden, ganz anders als von uns) interpretierten Notiz von Ende 1886—Frühjahr 1887
(VIII 7 [54], 8/1, 320 f., hier: S. 320) wie folgt: „ D e m Werden den Charakter des Seins
a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r Macht.//Zwiefache
F ä l s c h u n g , von den Sinnen und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten,
des Verharrenden, Gleichwerthigen usw." Was aber hat es danach mit der Fest-stellung
eines reinen Werdens auf sich? Ist sie nicht formal gesehen ein Widerspruch, weil sie, wie
wir jetzt in anderer Perspektive gesehen haben, zwangsläufig das Werden als ein Sein
setzt? Verfehlt sie es damit nicht notwendigerweise? In unmittelbaren Fortgang der N o t i z
spricht Nietzsche das Problem an: „ D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die extremste
A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s an die d e s S e i n s : G i p f e l d e r
B e t r a c h t u n g . " In der Konzeption der ewigen Wiederkunft, die wir — ohne daß dies
hier ausgeführt werden könnte — als Mythus verstehen, glaubt Nietzsche die beste
Anmerkungen 527 bis 532 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 427

„Übersetzung" des immerwährenden Werdens, f ü r das kein Anfang und kein Ende
denkbar ist, in die Sprache des Seins (insofern ein Pleonasmus, als das Sein das Ge-setz der
Sprache ist) gefunden zu haben, ohne daß sie, wie dies Fink (Nietzsches Philosophie,
a. a. O., S. 168) und Heidegger (Nietzsche, a. a. O., Bd. 1, S. 656 f., und Bd. 2, S. 288 ff.;
W e r ist Nietzsches Zarathustra?, a . a . O . , S. 112f.) vermeinen, „ W a h r h e i t " zu sein
beansprucht — was diese Konzeption schon deshalb nicht tun kann, weil sie sich dem
Werden anzumessen sucht. Das Werden aber ist uns, wie wir bereits auf S. 36 f. ausgeführt
haben, nur im Gegenhalt zum Sein denkbar: „ W i r würden nicht von Zeit reden und nichts
von Bewegung wissen, wenn wir nicht, in grober Weise, ,Ruhendes' neben Bewegtem zu
sehen glaubten. [ . . . ] Eine werdende Welt könnte im strengen Sinne nicht .begriffen', nicht
,erkannt' werden", zeichnet Nietzsche in ebendiesem Sinne im Juni—Juli 1885 auf (VII 36
[23], 7 / 3 , 285). Der Gedanke der ewigen Wiederkunft sucht diesen Zug zum Sein in der
Weise in sich aufzuheben, daß er ihn — was wir später noch genauer aufzeigen werden, s.
S. 445 ff. — bestreitet. In diesem Bemühen f ü h r t er auch Nietzsches paradoxales Denken
zum Gipfel. „Alle seine Begriffe, mit denen er in der Wiederkunftslehre operiert, heben
sich auf: eine ewige Wiederkunft, bei der es kein Original gibt, das dann repetiert würde,
ist ein ebenso paradoxer Begriff, wie die Wiederholung des Einmaligen mit dem Charakter
der Einmaligkeit." (Die Wiederholung soll die Einmaligkeit verewigen.) Des weiteren wird
die Vergangenheit Z u k u n f t und die Z u k u n f t Vergangenheit, die Freiheit Notwendigkeit
und die Notwendigkeit Freiheit — in gewohnter Präzision arbeitet Eugen Fink (op. cit.,
S. 103) diese paradoxalen Strukturen in der Lehre von der ewigen Wiederkunft heraus,
ohne daß er sich die Frage nach ihrem W a r u m stellte. Unsere Antwort auf diese Frage
lautet: Die durch den Logos, d. h. die sprachlich verfaßte Vernunft, hervorgerufene
Paradoxie einer Fest-stellung des reinen Werdens sucht diese Konzeption dadurch
aufzuheben, daß sie sich ent-spricht, in ihrem Sprechen dem Gesetz der Logik, dem
Ge-setz der Sprache widerspricht und derweise in der Widersprechungsbewegung das von
ihr Gemeinte als ein jenes Ge-setz Transzendierendes aufscheinen läßt.
528
III 7 [58], 3/3, 159 f., hier: S. 159.
529
Janz 1, 199.
530
Vgl. dagegen die auf S. 96 abgedruckte Aufzeichnung Nietzsches vom September
1870—Januar 1871, in der er gerade diesen Gedanken zu denken versucht.
531
P H G 12, 3 / 2 , 343.
532
Bezüglich der Bewertung der Antinomien bzw. der Paradoxien durch Kant und Nietzsche
ergibt sich eine Paradoxie: Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Kant durch das, was
er die „Antinomien der reinen V e r n u n f t " nannte, die Möglichkeit einer Ubereinstimmung
von menschlichem Weltbild und „wirklicher" Welt widerlegt zu haben glaubte. Kant geht
nämlich davon aus, daß alles, was f ü r uns erkennbar sein soll, sich den formallogischen
Gesetzen unterworfen zu zeigen hat. Zu diesen rechnet vor allem der Satz des
Widerspruches, demzufolge von zwei kontradiktorischen Behauptungen nicht beide
zugleich richtig sein können. Ist es mithin möglich, in logisch unanfechtbarer Weise über
einen vermeintlichen Gegenstand sowohl das positive als auch das negative Urteil eines
sonst gleichen Inhalts zu beweisen, so ergibt sich daraus, wie Kant schließt, daß der
beurteilte Gegenstand kein wirklicher Gegenstand sein kann. N u n deckt er aber auf, daß
unsere gesamte „Welt"auffassung durch eine solche Antinomie bestimmt ist. Unsere
Verstandeserkenntnis besitzt nämlich das Bedürfnis, die Gesamtheit der Dinge als ein
Fertiges und Abgeschlossenes zu betrachten. Doch jede bestimmte Vorstellung, mit der wir
dieses versuchen, zerschellt daran, daß die sinnliche Anschauungsweise über jede Grenze
im Räume, in der Zeit, in der Kausalreihe des Geschehens hinausgehen muß.
Notwendigerweise stehen sich darum immer wieder gegenüber die Gegensätze von
räumlicher Begrenztheit und Unendlichkeit Zeitlichkeit und Ewigkeit, Atomismus und
Monismus, Freiheitslehre und Mechanismus, Schöpfungstheorie und Naturalismus. Wenn
aber Thesis und Antithesis gleich wahr sind — die „ W e l t " unendlich und endlich zugleich
gedacht werden muß —, so sind sie auch gleich falsch: Für Kant heißt das, daß beide von
der falschen Voraussetzung ausgehen, daß die regulative Vernunftidee eines totalen
428 Anmerkungen 532 bis 541 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Zusammenhangs der Dinge — Nietzsches „Alles ist Eins" —, daß mithin die Idee „ W e l t "
Gegenstand möglicher Erkenntnis sein kann. Gleichwohl ist sie notwendig f ü r die
menschliche Erkenntnisfähigkeit, so daß auch diese Widersprüche ,nothwendige
Widersprüche im Denken' sind, ,um leben zu können' — wenngleich in anderer Weise als
bei Nietzsche. Bei diesem hat nämlich im Falle der Bewertung der Paradoxien gegenüber
Kant eine Verschiebung statt, die jener entspricht, die wir bei ihm in der Auslegung des
Verhältnisses von „Ding an sich" und „Erscheinung" bemerken konnten. W e n n sich Kant
des Begriffes „Ding an sich" als eines bloßen Grenzbegriffes bedient, um die Bedingungen
der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis herauszuarbeiten, Nietzsche hingegen diesen
Grenzbegriff in das Zentrum seiner Kant-Rezeption rückt und im Hinblick auf ihn von
Kant die Unmöglichkeit menschlicher Erkenntnis erwiesen sieht, dann entspricht dem, daß
Nietzsche nicht, wie Kant, in den formallogischen Gesetzen eine dieser Erkenntnisbedin-
gungen erblickt — so daß alles, was f ü r uns erkennbar sein soll, ihnen unterworfen sein
müßte —, sondern umgekehrt eine der Bedingungen, die eine Erkenntnis des „ H e r z e n s der
Dinge" verhindern, weswegen er in allem, was diese Bedingungen transzendiert, einen
Schritt in Richtung auf dieses H e r z sieht: eben in den Antinomien und Paradoxien.
533
Johann Wolfgang Goethe, Einleitung in die Propyläen, H A 12, 38—55, hier: S. 45.
534
Johann Wolfgang Goethe, Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz „ D i e N a t u r " , H A
13, 48 f.
535
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik I, Werke 12, S. 171 f.
536
Vgl. dazu eine Aufzeichnung vom Juni—Juli 1885, VII 36 [23], 7 / 3 , 285: „Die
fortwährenden Ubergänge erlauben nicht, von .Individuum' usw. zu reden; die ,Zahl' der
Wesen ist selber im Fluß. [ . . . ] Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den
.Augenschein', daß es gleiche Dinge giebt." Siehe dazu auch im folgenden unsere
Interpretation von „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne".
537
Siehe oben Seite 18 f.
538
Siehe oben Seite 30 f.
539
Ich modifiziere hier meine eigenen Ausführungen in dem Aufsatz „ ,Das Buch eines
Musikers ist eben nicht das Buch eines Augenmenschen' — Metaphysik und Sprache beim
frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 15/1986, S. 72—106, hier: S. 103 f.
540
Gemeint ist Heraklits Begriff des π ό λ ε μ ο ς , auf den wir anläßlich der Interpretation der
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " eingehen werden. Schon hier sei aber darauf hingewiesen, daß
Nietzsches Verwandtschaftsempfinden zu Heraklit auch diesen Begriff mit einschließt. In
„Ecce h o m o " heißt es im Kapitel über die „Geburt der T r a g ö d i e " im Abschnitt 3 (6/3,
311): „Die Bejahung des Vergehens u n d V e r n i c h t e n s , das Entscheidende in einer
dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das W e r d e n , mit
radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs ,Sein' — darin muss ich unter allen
Umständen das mir Verwandteste anerkennen, was bisher gedacht worden ist." Und an
anderer Stelle desselben Werkes, im Kapitel „ W a r u m ich so weise bin", Abschnitt 7 (6/3,
272), f ü h r t Nietzsche über sein polemisches Wesen aus: „Ein ander Ding ist der Krieg. Ich
bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein
k ö n n e n , Feind sein — das setzt vielleicht eine starke N a t u r voraus, jedenfalls ist es
bedingt in jeder starken Natur. Sie braucht Widerstände, folglich s u c h t sie Widerstand:
das a g g r e s s i v e Pathos gehört ebenso nothwendig zur Stärke als das Räch- und
Nachgefühl zur Schwäche." „Angreifen gehört zu meinen Instinkten" — ein rein
psychologisches Verständnis dieser Aussage wäre unzureichend, ist doch der „Instinkt",
den Nietzsche meint, der Wille zu Macht in seiner höchsten Ausprägung. Wenn wir oben
sagten, daß die Deutung der Welt die Weise vorgibt, in der sie gedacht wird, so kann man
nunmehr auch umgekehrt sagen, daß die Weise zu denken die Deutung der Welt
zumindest mitbestimmt.
541
Vgl. dazu, was Nietzsche im Juni—Juli 1885 aufzeichnet (VII 36 [21], 7 / 3 , 284): „ D a s
Schwächere drängt sich zum Stärkeren, aus Nahrungsnoth; es will unterschlüpfen, mit ihm
womöglich E i n s werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in
dieser Weise zu Grunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu Zweien und
Anmerkungen 541 bis 548 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 429

Mehreren. Je größer der D r a n g ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche
schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr
K r a f t ist da." Siehe auch das nachfolgende Notat aus dem Zeitraum August—September
1885 (VII 40 [57], 7 / 3 , 388): „ N B ! Ist aber etwas Ruhendes wirklich glücklicher als alles
Bewegte? Ist das Unveränderliche wirklich und nothwendig werthvoller als ein Ding, das
wechselt? Und wenn sich Einer tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele
Masken trägt und in sich selber kein Ende und (keine) letzte Horizontlinie findet: ist es
wahrscheinlich, daß ein Solcher weniger von der ,Wahrheit' erfährt als ein tugendhafter
Stoiker, welcher sich ein f ü r alle Mal wie eine Säule und mit der harten H a u t einer Säule an
seine Stelle gestellt hat? Aber dergleichen Vorurtheile sitzen an der Schwelle zu allen
bisherigen Philosophien: und sonderlich das, daß Gewißheit besser sei als Ungewißheit und
offene Meere, und daß der Schein es sei, den ein Philosoph als seinen eigentlichen Feind zu
bekämpfen habe."
542
Ebenfalls eine Modifikation entsprechender Gedankengänge des in Anm. 539 zitierten
Aufsatzes.
543
Vgl. etwa Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, S. 22.
544
So heißt es etwa in G M III 12, 6 / 2 , 383: „Es giebt n u r ein perspektivisches Sehen, n u r
ein perspektivisches ,Erkennen'; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu W o r t e
kommen lassen, je m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns f ü r dieselbe Sache
einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser .Begriff' dieser Sache, unsre
,Objektivität' sein."
545
Vgl. etwa den Aphorismus 301 der „Fröhlichen Wissenschaft" (5/2, 219 f., hier: S. 220), in
dem Nietzsche über den „ W a h n der Contemplativen" schreibt: Der höhere Mensch
„nennt seine Natur eine c o n t e m p l a t i v e und übersieht dabei, dass er selber auch der
eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist —, dass er sich freilich vom
S c h a u s p i e l e r dieses Drama's, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr
unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste v o r der Bühne.
[ . . . ] Wir, die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas
m a c h e n , d a s noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben,
Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns
erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen
(unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja
Alltäglichkeit übersetzt. W a s nur W e r t h hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an
sich, seiner Natur nach, — die N a t u r ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen
Werth einmal gegeben, geschenkt, und w i r waren diese Gebenden und Schenkenden!"
Siehe zu der darin angesprochenen erkenntnistheoretischen Frage, auf die wir im
folgenden noch genauer eingehen werden, bereits S. 8 f.
546
Dies ist die Grenze jenes berühmten Leibnizschen Gleichnisses, das die Monaden als
Spiegel begreift, die um einen Marktplatz herum aufgestellt sind: O b z w a r eine jede ein
anderes Bild zeige, könnten sie sich doch darum untereinander niemals widersprechen,
weil sie ein und dasselbe Objekt — eben nur in verschiedener Perspektive — widerspiegeln
(Monad. § 57; Disc. § 9). Das Gleichnis ist aber nur dann recht verstanden, wenn im Sinne
unserer Ausführungen über Leibniz (S. 80—81) gesehen wird, daß ihre Einheit nicht in der
Objektivität eines schon vorliegenden Objekts gründet, sondern vielmehr umgekehrt die
objektive Einheit der Welt in der Übereinstimmung jener Perspektiven.
547 Vgl etwa in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung „ V o m Nutzen und Nachteil der Historie
f ü r das Leben" das Nebeneinander von antiquarischer und kritischer Historie, die beide f ü r
einen gesunden Vollzug des Lebens vonnöten sind. Erstere „versteht [ . . . ] allein Leben zu
b e w a h r e n " (HL 3, 3 / 1 , 264), während die letztere „im Dienste des Lebens" „von Zeit
zu Zeit" die Kraft aufbringt, „eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen" ( H L 3,
3 / 1 , 265).
5 « Vgl. etwa Herbst 1887, VIII 9 [91], 8/2, 47—51, hier: S. 49: „Wahrheit ist somit nicht
etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, — sondern etwas, d a s z u
s c h a f f e n i s t und das den Namen f ü r einen P r o z e ß abgiebt, mehr noch f ü r einen
430 Anmerkungen 548 bis 558 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Willen der Überwältigung, der an sich kein Ende hat [ . . . ] Es ist ein W o r t f ü r den .Willen
zur M a c h t ' " .
549
Siehe November 1887—März 1888, VIII 11 [3], 8/2, 251 f.: „ M a n ist um den Preis
Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler ,Form' nennen, als I n h a l t , als ,die Sache
selbst' empfindet. Damit gehört man freilich in eine v e r k e h r t e W e l t : denn nunmehr
wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem, — unser Leben eingerechnet."
550
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [155], 8/1, 140. Siehe auch Herbst 1873—Winter
1873/74, III 30 [27], 3/4, 352: „So ein Unsinn, dass eine Descendenzlehre gar
religionsmässig gelehrt werden kann! Die Freude liegt darin, dass nichts Festes da ist,
nichts Ewiges und Unverbrüchliches."
551
G T 15, 3/1, 95. Siehe: Gotthold Ephraim Lessing, Sämtliche Schriften, hrsg. v. Karl
Lachmann und Franz Muncker, Bd. 13, S. 24.
552 Μ 575, 5 / 1 , 335.
553
Wir haben schon erwähnt, daß Nietzsche in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung „ V o m
Nutzen und Nachtheil der Historie f ü r das Leben" das Leben charakterisiert als „jene
dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht." ( H L 3, 3 / 1 , 265) Und wenn
das Leben Wille ist, dann heißt das, daß dieser Wille Wille zum Willen ist.
554
Μ . H . , Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 565: „ D a s Leben lebt, indem es leibt." Zu diesem
„Leiben" gibt er zu bedenken: „Es ist mehr und anderes als nur ,einen Leib mit sich
herumtragen', es ist jenes, in dem all das erst seinen eigenen Vorgangscharakter bekommt,
was wir an Abläufen und Erscheinungen am Leib eines Lebendigen feststellen." (Ebd.)
„ D a s Leiben des Lebens ist nichts Abgesondertes f ü r sich, verkapselt in den ,Körper', als
welcher uns der Leib erscheinen kann, sondern der Leib ist Durchlaß und Durchgang
zugleich. Durch diesen Leib strömt ein Strom von Leben, wovon wir je nur ein Geringes
und Flüchtiges und dieses wieder je nur gemäß der Empfängnisart des jeweiligen
Leibzustandes spüren. Unser Leib selbst ist in diesen Strom des Lebens zu einer Schwebe in
ihm eingelassen und durch diesen Strom fortgetragen und hingerissen oder auch an den
Rand gedrängt. Jenes Chaos unseres Empfindungsbezirkes, den wir als Leibbezirk kennen,
ist nur ein Ausschnitt aus dem großen Chaos, das die ,Welt' selbst ist." (565 f.)
555
Deutlich zeigt sich das vor allem darin, daß Nietzsche als das Wesen des „ U r - E i n e n " den
Schmerz ansieht; wie er in der „Geburt der T r a g ö d i e " (4, 3 / 1 , 34 f.) ausführt, fühlt er sich
„zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als
das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen
Schein, zu seiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und
aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in
Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden
genöthigt sind." In diesem Ansatz unterscheidet er sich von Schopenhauer, in dessen
System der Schmerz in der Welt die Folge davon ist, daß der eine Wille in jeder einzelnen
Erscheinung der uns gegebenen Welt nach möglichst adäquater Darstellung strebt, woraus
notwendigerweise ein Konflikt der Erscheinungen untereinander hervorgeht. Mit seiner
Modifikation konkretisiert Nietzsche den bei Schopenhauer unbestimmt bleibenden
Mangel des Willens, den Schopenhauer anzunehmen genötigt ist, weil er erkennt: „alles
Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden,
solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur
der Anfangspunkt eines neuen Strebens." ( W a W I, 425).
556 Sommer—Herbst 1884, VII 27 [27], 7 / 2 , 282.
557 Ende 1876—Sommer 1877, IV 23 [27], 4 / 2 , 509.
558
Vgl. auch ebd., Β 157: „Dagegen bin ich mir meiner selbst in der transzendentalen
Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen überhaupt, mithin in der synthetischen
ursprünglichen Einheit der Apperzeption, bewußt, nicht wie ich mir erscheine, noch w i e
ich an mir selbst bin, sondern nur d a ß ich bin. Diese V o r s t e l l u n g ist ein D e n k e n ,
nicht ein A n s c h a u e n . " Laut Wolfgang Rod, Gewißheit und Wahrheit bei Descartes, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 16, S. 342—362, hier: S. 357, habe auch
Descartes nicht anderes angestrebt, als die „Erfassung eines reinen Daß". Zumindest Kant
Anmerkungen 558 bis 574 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 431

und Nietzsche verstehen Descartes jedoch anders. Vgl. dazu: Karl-Heinz Dickopp,
Nietzsches Kritik des Ich-denke, a. a. O.
559 Vgl W L 1, 3/2, 373, wo es heißt: „Das ,Ding an sich' (das würde eben die reine folgenlose
Wahrheit sein)". Viele Jahre später, im August—September 1885, setzt er sich mit
Descartes' Ansatz auseinander: „in Betreff der unmittelbaren Gewißheit' sind wir nicht
mehr so leicht zu befriedigen: wir finden ,Realität' und .Schein' noch nicht im Gegensatz,
wir würden vielmehr von G r a d e n des Seins — und vielleicht noch lieber von Graden des
Scheins — reden und jene ,unmittelbare Gewißheit' ζ. B. darüber, daß wir denken und daß
folglich Denken Realität hat, immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad
dieses Sein hat" (VII 40 [20], 7/3, 369 f., hier: S. 369). Siehe auch: Dickopp. op. cit.
560 Die in der vorhergehenden Anmerkung zitierte Aufzeichnung vom August—September
1885 schließt mit der Bemerkung: „In summa: es ist zu bezweifeln, daß ,das Subjekt' sich
selber beweisen kann — dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben und d e r
fehlt!" (hier: 7/3, 370.)
561 Siehe: FW 354, 5/2, 272—275, hier: S. 275: „Es ist, [ . . . ] , nicht der Gegensatz von
Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den
Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik)
hängen geblieben sind." Vgl. auch die in Anm. 465 zitierte Aufzeichnung vom Herbst 1887.
562 Nicht umsonst lautet Nietzsches späte Formel für seine Philosophie: „Dionysos gegen den
.Gekreuzigten'" (Frühjahr 1888, VIII 14 [89], 8/3, 57—59, hier: S. 58, sowie: EH,
Warum ich ein Schicksal bin 9, 6/3, 372), in der „Dionysos" verstanden werden soll als
„jenes geheimnißreiche Symbol der höchsten bisher auf Erden erreichten Welt-Bejahung
und Daseins-Verklärung" (August—September 1885, VII 41 [7], 7 / 3 , 415 f., hier: S. 415).
563 Yg[ J a z u auch Anm. 466.
5M 1/2, 228 f., hier: S. 229.
565 SE 3, 3/1, 346.
sw PHG (1. und 2. Vorwort), 3/2, 295 bzw. 297.
567 Ebd., S. 295.
568 Yg] auch Sommer bis Ende September 1875, IV 12 [7], 4/1, 323 f.: „Erst glauben wir
einem Philosophen. Dann sagen wir: ,mag er in der Art, wie er seine Sätze beweist,
Unrecht haben, die Sätze sind wahr'. Endlich aber: es ist gleichgültig, wie die Sätze lauten,
die N a t u r des Mannes steht uns für hundert Systeme ein. Als Lehrender mag er
hundertmal Unrecht haben: aber sein Wesen selber ist im Recht; daran wollen wir uns
halten. Es ist an einem Philosophen etwas, was nie an einer Philosophie sein kann: nämlich
die Ursache zu vielen Philosophien, der große Mensch."
569 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. Ihn kommt damit dasselbe an, was den
Lieblingsdichter seiner Jugendjahre, den damals wenig geschätzten Friedrich Hölderlin,
einst „beim Lesen des Laertius Diogenes über Leben und Lehren griechischer
Philosophen" nachdenklich stimmte und wovon dieser in einem Brief an Sinclair vom
24. 12. 1798 berichtete, den Nietzsche in seiner 2. Unzeitgemässen Betrachtung zitiert (HL
7, 3/1, 296): „ ,ich habe auch hier wieder erfahren, was mir schon manchmal begegnet ist,
dass mir nämlich das Vorübergehende und Abwechselnde der menschlichen Gedanken und
Systeme fast tragischer aufgefallen ist, als die Schicksale, die man gewöhnlich allein die
wirklichen nennt.'"
570 CV 1, 3/2, 251.
571 Wie wir in Anm. 819 aufzeigen werden, sucht Nietzsche die Lösung des Problems, daß das
Werden sich nur im illusionären Glauben an ein Sein vollziehen kann, schließlich in der
mythischen Lehre von der ewigen Wiederkunft, die das Werden freisetzt, indem sie dieses
in ihrem Charakter einer ewigen Wiederkunh als ein Sein setzt, so daß sie das Leiden am
Vergehen der großen Augenblicke und ihrer Schöpfungen aufhebt, indem sie das Leiden an
der Unvergänglichkeit der kleinen und niedrigen Momente heraufbeschwört.
572 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3/4, 16 f., hier: S. 16.
573 Ebd.
57" III 19 [35], 3/4, 15 f., hier: S. 16.
432 Anmerkungen 575 bis 587 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

575
Wie Anm. 572.
576
September 1870—Januar 1871, III 5 [25], 3 / 3 , 102.
5 77 Ebd.
578
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [11], 3 / 3 , 62.
579
Siehe Seite 113 sowie Anm. 494. — Gleichzeitig finden sich auch schon — f ü r spätere
Phasen seines Philosophierens bestimmend gewordene — an die positivistischen
Tendenzen seiner Zeit anknüpfende Versuche Nietzsches, die schöpferische Freiheit des
Menschen in einer physiologischen Bestimmtheit aufzuheben. So notiert er sich im Sommer
1872—Anfang 1873 über die beim Bilderdenken tätige K r a f t (III 19 [79], 3 / 4 , 33 f.): „Es
ist zwiefach eine künstlerische Kraft da, die bildererzeugende und die auswählen-
d e . / / [ . . . ] / / Sieht man jene Kraft näher an, so ist hier auch kein künstlerisch ganz freies
Erfinden: das wäre etwas Willkürliches, also Unmögliches. Sondern die feinsten
Ausstrahlungen von Nerventhätigkeit auf einer Fläche gesehn: sie verhalten sich wie die
Chladni'schen Klangfiguren zu dem Klang selbst: so diese Bilder zu der darunter sich
bewegenden Nerventhätigkeit. Das allerzarteste sich Schwingen und Zittern! D e r
künstlerische Prozeß ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken
erscheint uns auf der Oberfläche als willkürlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die
unendliche Thätigkeit nicht."
580
Im November 1887—März 1888 stößt Nietzsche selber auf dieses Problem, wenn er
nämlich fragt, „ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils f ü r uns
unlösbar ist." (VIII 11 [97], 8/2, 287 f., hier: S. 228).
581 C V 1, 3 / 2 , 254.
5S2 Ebd.
583
III 5 [25], 3 / 3 , 102.
584
III 5 [26], 3/3, 102 f., hier: S. 102.
585
Wie Anm. 572.
586
Sommer—Herbst 1873, III 29 [205], 3 / 4 , 320 f., hier: S. 320.
587
Ebd. Siehe auch SE 3, 3 / 1 , 353: , , j e d e [ . . . ] g r o ß e [ . . . ] Philosophie [sagt] als Ganzes
immer nur [ . . . ] : dies ist das Bild alles Lebens, und daraus lerne den Sinn deines Lebens."
Aufgabe des Philosophen ist es mithin, Erzieher der anderen zu sein. Darauf deutet auch
der Titel der 3. Unzeitgemässen Betrachtung: „Schopenhauer als Erzieher", in welcher
Rolle sein philosophischer Lehrmeister f ü r ihn noch Bedeutung haben konnte, als er dessen
Lehre schon längst f ü r irrig hielt. „ E r z i e h e r e r z i e h n ! A b e r d i e e r s t e n m ü s s e n
s i c h s e l b s t e r z i e h n ! U n d f ü r diese schreibe ich.", zeichnet Nietzsche im
Frühling—Sommer 1875 auf (IV 5 [25], 4 / 1 , 122 f., hier: S. 122). Doch nicht nur
„theoretisch" machte sich Nietzsche Gedanken über das Erziehungswesen — als
bedeutendste Frucht der Frühzeit sind dabei die fünf Vorträge „Ueber die Z u k u n f t unserer
Bildungsanstalten" anzusehen —, vielmehr war er auch im „praktischen" Bereich, mehr
noch im Pädagogium als in der Universität, ein anerkannter Erzieher. Wiederholt denkt er
auch an den Aufbau einer klosterähnlichen „ , [ . . . ] Schule der Erzieher' (wo diese s i c h
selbst erziehen)" (an Reinhart von Seydlitz am 24. 9. 1876, II/5, 188 f.). Das erste Mal
taucht dieser Gedanke unmittelbar nach dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges
von 1870/71 auf: „Wir können bereits am Anfang vom Ende sein! Welche Wüstenei! Wir
werden wieder Klöster brauchen. Und wir werden die ersten fratres sein.", schreibt
Nietzsche am 19.7. 1870 an Erwin Rohde (II/1, 130 f.). Doch steht dieser Gedanke in
jenen Tagen noch in Zusammenhang mit Wagners Bayreuther Plänen (siehe den Brief vom
15.12. 1870 an den gleichen Adressaten, I I / l , 165—167).
Allein der Gedanke an den anderen gibt dem letzten Philosophen, der um keinen Sinn
an sich mehr weiß, Sinn und damit Halt. Darin liegt eine Erklärung d a f ü r beschlossen, daß
Nietzsche der Freundschaft eine so große Bedeutung zugemessen hat. So schreibt er am
16.11. 1875 an seinen Freund Carl von Gersdorff (II/5, 123 f., hier: S. 124): „wirklich ist
an meine Freunde zu denken immer noch das Einzige, was mich etwas mit dem Dasein
versöhnt, das mir sonst immer s i n n l o s e r erscheint. Diese Mühe! diese Hast! Dieser
naive Glauben jedes Menschen, daß um ihn die Sonne und alle Welt sich dreht! Ich strotze
Anmerkungen 587 bis 595 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 433

von Erfahrungen dieser Art und möchte lachen, wenn ich nur könnte." Indes heißt dies
nicht, daß Nietzsche den Sinn im anderen sucht, vielmehr sieht er ihn darin, dem anderen
Vorbild d a f ü r zu sein, „wie man wird, was man ist" (— es ist dies der Untertitel des „Ecce
h o m o " , der auf Pindars ,,γένοι', ο ΐ ό ς έ σ σ ι — werde, der du bist" (Pyth. II V. 73)
zurückgeht — : Spätestens seit 1867, als er es seiner Untersuchung „ D e Laertii Diogenis
fontibus" als Motto voranstellte, war dies der Leitspruch seines Lebens; siehe: Janz I, 191).
W e n n dagegen „jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben a l l e k e i n e n
Z w e c k i n s i c h , z u e x i s t i r e n ; und dies , f ü r e i n a n d e r e x i s t i r e n ' ist die
komischste Komödie." (März 1875, IV 3 [64], 4 / 1 , 108 f.) In diesem Sinne schreibt er nach
einer überstandenen Krise am 14.4. „Charfreitag 1876" (II/5, 149 f., hier: S. 150) an
Erwin Rohde: „Ich muß mir schon selber treu bleiben, um Euch meinen wahren Freunden
treu bleiben zu können, aber es fraß die Skepsis und das Mißtrauen an mir. Ebenso
verpflichtet mich das heimliche Weiterleben meiner Schriften, immer von neuem höre ich,
daß hier und dort ein Kreis von Menschen sitzt, die auf mich hören und die erwarten, daß
man noch höher steigt, freier wird, um selber dabei freier zu werden." In dieser Krise hat er
selber die Kraft, die von einem Vorbild ausgeht, erfahren. Über seine Lektüre des Buches
„Memoiren einer Idealistin" schreibt er am gleichen T a g an die Autorin, Malwida von
Meysenbug: „Sie gingen vor mir her als ein höheres Selbst, als ein v i e l höheres —, aber
doch noch mehr ermuthigend als beschämend: so schwebten Sie in meiner Vorstellung und
ich maass mein Leben an ihrem Vorbilde und fragte mich nach dem Vielen, was mir fehlt."
(Ebd., S. 148 f., hier: S. 148.)
588
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [187], 3 / 4 , 65.
589
VII 8 [24], 7 / 1 , 352. So im übrigen auch — Goethe in einem Gespräch mit Falk, in dem er
ausführt, daß Philosophie nichts als die Weise widerspiegele, in der ihr Schöpfer sein Leben
zu bewältigen sucht, weswegen wir diese „Lebensformen" nur danach beurteilen könnten,
wie diese „unserer N a t u r oder unseren Anlagen n a c h " „ f ü r uns passen" (zitiert nach:
Goethes Gespräche, Zweiter Teil, Zürich 1950, 23. Band der Gedenkausgabe der
Goetheschen Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, S. 817).
590 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105 f., hier: S. 106.
591
Za IV, Der Schatten, 6 / 1 , 336. Die früheste Andeutung dieses „Assassinen-Spruches", als
der jener Satz in GM III 24, 6 / 2 , 417 bezeichnet wird, stellt ein Fragment aus dem Sommer
1875 dar, das sich auf die Vorsokratiker und den bei ihnen erkennbaren Kampf zwischen
Weisheit und Wissenschaft bezieht: „Ironische Novelle: alles ist falsch. Wie der Mensch
sich an einen Balken klammert." (IV 6 [6], 4 / 1 , 174 f., hier: S. 175.)
592
Siehe dazu: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze,
a . a . O . , S. 154—157.
5 » Frühjahr 1884, VII 25 [300], 7 / 2 , 84.
594
Siehe dazu: Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, a . a . O . , S. 249—251, der den
Nachweis führt, daß Nietzsche Lamarcks These, die im „letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts [ . . . ] als recht wahrscheinlich [galt], sogar Darwin selbst hatte sie keineswegs
ausgeschlossen" (250), aus Langes „Geschichte des Materialismus" kannte.
595 y i j 25 [305], 7 / 2 , 84. — Diese Haltung manifestiert sich zum ersten Male in jenem Brief
vom 30. 1. 1872 an seinen Lehrer Ritsehl, mit dem er diesen zu einer Reaktion auf seine
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " herauszufordern suchte: „ich dachte, wenn Ihnen irgend etwas
Hoffnungsvolles in Ihrem Leben begegnet sei, so möchte es dieses Buch sein, hoffnungsvoll
f ü r unsere Alterthumswissenschaft, hoffnungsvoll f ü r das deutsche Wesen, wenn auch eine
Anzahl Individuen daran zu Grunde gehen sollte. Denn die practische Consequenz meiner
Ansichten werde i c h wenigstens nicht schuldig bleiben, und Sie errathen etwas davon,
wenn ich Ihnen mittheile, dass ich hier öffentliche Vorträge ,über die Z u k u n f t unserer
Bildungsanstalten' halte." (II/1, 281 f.) Nachdem er sich am 31. 12. 1871 bereits in seinem
Tagebuch notiert hatte: „Buch von N . Geburt der Tragödie ( = geistreiche Schwiemelei)",
zeichnet sich Ritsehl nunmehr am 2.2. 1872 dort auf: „Fabelhafter Br. von Ν ( =
Größenwahnsinn)". (Zitiert nach: Karl Schlechta, Nietzsche-Chronik, Daten zu Leben
und Werk, München 1984, S. 39.)
434 Anmerkungen 596 bis 613 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

596
Zum Terminus siehe Anm. 591.
597
Siehe dazu jene Passage des Kapitels „ V o n der schenkenden T u g e n d " , Abschnitt 3, aus
dem 1. Teil des „ Z a r a t h u s t r a " (6/1, 97), mit der Nietzsche auch das V o r w o r t zu „Ecce
h o m o " (6/3, 258 f.; wir folgen diesem leicht veränderten Selbstzitat) beschließt: „Allein
gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich e s . / / G e h t fort
von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner!
Vielleicht betrog er e u c h . / / D e r Mensch der Erkenntniss muss nicht nur seine Feinde
lieben, er muss auch seine Freunde hassen können. / / M a n vergilt einem Lehrer schlecht,
wenn man immer nur der Schüler bleibt. [ · · · ] / / N u n heisse ich euch, mich verlieren und
euch finden; und erst, w e n n i h r m i c h A l l e v e r l e u g n e t h a b t , will ich euch
wiederkehren . . . " .
598
E H , W a r u m ich ein Schicksal bin 1, 6 / 3 , 363.
5" BAW 3, 291—315, hier: S. 293.
600
Ebd.,S. 298.
«>i 1/2, 321 f., hier: S. 322.
602
Nicht von ungefähr erreicht die Schopenhauer-Begeisterung unter Nietzsches Freunden
ihren H ö h e p u n k t während des Feldzuges gegen Frankreich; siehe dazu vor allem die Briefe
des jungen Freiherrn Carl von Gersdorff an Nietzsche. Am 20. 10. 1870 antwortet ihm
dieser (II/I, 147— 149, hier: S. 147): „Alles was Du mir schreibst, hat mich auf das Stärkste
ergriffen, vor allem der treue ernste T o n , mit dem D u von dieser Feuerprobe der uns
gemeinsamen Weltanschauung sprichst. Auch ich habe eine gleiche Erfahrung gemacht,
auch f ü r mich bedeuten diese Monate eine Zeit, in der jene Grundlehren sich als
festgewurzelt bewährten: man kann mit ihnen sterben; das ist mehr als wenn man von
ihnen sagen wollte: man kann mit ihnen leben."
603 G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 6.
604
Ebd., Abschnitt 6, 3/1, 14.
605
Brief an Erwin Rohde vom 9. 12. 1868, 1/2, 348—353, hier: S. 352.
606
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [51], 3 / 3 , 74; vgl. G T 18, 3 / 1 , 114: „ D e r
ungeheuren Tapferkeit und Weisheit K a n t ' s und S c h o p e n h a u e r ' s ist der schwerste
Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus,
der wiederum der Untergrund unserer Kultur ist."
607
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32], 3 / 3 , 69.
608
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [95], 3 / 3 , 85 f.
609 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [91], 3/3, 84 f., hier: S. 85: „Die asketischen
Richtungen sind aufs Höchste wider die N a t u r und meist nur die Folge der verkümmerten
Natur. Diese mag eine verschlechterte Rasse nicht fortpflanzen. Das Christenthum konnte
nur in einer verkommenen Welt zum Siege kommen."
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [95], 3/3, 85 f., hier: S. 86. Vgl. September
1870—Januar 1871, III 5 [31], 3 / 3 , 104 f.: „Die Weltverneinung ist ein unglaublicher
Standpunkt: wie ließ ihn der Wille z u ? / / E r s t e n s ist er verbunden mit dem höchsten
Wohlwollen, er hindert nichts, er ist nicht aggressiv.//Zweitens wird er sofort wieder
eskamotirt durch eine andersartige Verherrlichung des Daseins, Unsterblichkeitsglauben,
Sehnsucht zur Seligkeit.//Drittens ist der Quietismus auch eine Daseinsform." Siehe des
weiteren III 5 [68], 3/3, 112: „ D a s h ö c h s t e Z e i c h e n d e s W i l l e n s : / / d e r Glaube an
die Illusion und der theoretische Pessimismus beißt sich selbst in den Schwanz." Ende 1870
zeichnet Nietzsche dann auf: „Die tragische Erkenntniß ist ja auch dem Ureinen-Wesen
gegenüber nur eine Vorstellung, ein Bild, ein W a h n . " (III 6[3], 3/3, 135 f., hier: S. 136).
611
III 10 [1], 3 / 3 , 345—363. Die Vorstufe findet sich in KSA 14, S.541. Als Vorstufen
bezeichnen die Herausgeber solche „Aufzeichnungen, welche zur Reinschrift f ü h r e n " ,
ebd., S. 39.
612
Die eckigen Klammern— mit Ausnahme der zweiten, die von mir als Erläuterung
eingefügt wurde — bereits in der Vorlage. Sie bedeuten „Streichung Nietzsches".
„ " weist auf einen abgebrochenen oder unvollständigen Satz hin.
613
Ende 1870—April 1871, III 7 [165], 3 / 3 , 210.
Anmerkungen 614 bis 637 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 435

614 WaW II, Kap. 17 „Über das metaphysische Bedürfnis des Mensch" S. 206—243, hier:
S. 207 f.
6 1 5 Ebd., S. 236: „ D a s Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift und die Philosophie

der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden
Zusammenhang bewährt."
6 1 6 Winter 1872/73, III 23 [9], 3/4, 137 f., hier: S. 137.

6 1 7 Winter 1872/73, III 23 [7], 3/4, 136.

6 1 8 Ebd.

619 Sommer-Herbst 1873, III 29 [212], 3/4, 322.


620 G T 23, 3/1, 141.
« i G T 17, 3/1, 107.
6 2 2 H L 9, 3/1, 319.

« 3 Ebd.
6 2 4 H L 1, 3/1, 247.

6 2 5 Gottfried Wilhelm Leibniz, Von deutscher Sprachpflege: Unvorgreifliche Gedanken

betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache, § 49, in: G . W . L.,
Deutsche Schriften, hrsg. v. Walther Schmied-Kowarzik, Bd. I, Leipzig 1916, S. 25—54,
hier: S. 38.
6 2 6 Ζ. B. Sommer 1871— Frühjahr 1872, III 16 [17], 3/3, 424 f., hier: S. 425: „Thaies. Kampf

mit dem Mythus."


6 2 7 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [11], 3/3, 62.

6 2 8 Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3/3, 59. Vgl. auch die nachfolgende
Aufzeichnung vom September 1870—Januar 1871, III 5 [33], 3/3, 105 f., hier: S. 106:
„ V o n Illusionen sich nicht beherrschen lassen, ist ein unendlich naiver Glaube, aber es ist
der intellektuelle Imperativ, das Gebot der Wissenschaft. Im Aufdecken dieser
Spinngewebe feiert der άνθρωπος θεωρητικός und mit ihm der Wille zum Dasein
ebenfalls seine Orgien: er weiß, daß die Neugier nicht zu Ende kommt und betrachtet den
wissenschaftlichen Trieb als eine der mächtigsten μηχαναί zum Dasein."
6 2 9 Ende 1870—April 1971, III 7 [125], 3/3, 189—191, hier: S. 191.

6 3 0 Ebd.

6 3 1 Ebd., S. 190.

6 3 2 Martin Heidegger hat in „Die Zeit des Weltbildes", a. a. O., herausgestellt, daß „Weltbild,

wesentlich verstanden, [ . . . ] nicht ein Bild von der Welt [meint], sondern die Welt als Bild
begriffen. Das Seiende im Ganzen wird [ . . . ] so genommen, daß es erst und nur seiend ist,
sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist." (S. 87) Weder
Mittelalter, wo Seiendes als analogia entis erfahren wurde, noch Früh-Griechentum,
welches das Seiende als „das Aufgehende und Sichöffnende [erfuhr], was als das
Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt" (S. 88), hätten derweise ein
Weltbild gekannt. Daß Nietzsche neuzeitliches Denken in die Antike projiziert, verrät sich
besonders deutlich dort, wo er das Enstehen griechischer Wissenschaft auf ebenjenes
Ereignis zurückführt, in dessen Gefolge sich Descartes über das Seiende ins Bild setzte:
„Wissenschaft [ . . . ] entsteht// 1) wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Grosser
Vortheil irgend etwas als f e s t zu erkennen." (Sommer 1875, IV 6 [4], 4/1, 173 f., hier:
S. 173). Darüber hinaus ist die Gleichsetzung der antiken Theoria mit der neuzeitlichen
Wissenschaft mehr als bedenklich. Vgl. dazu auch: Fink, Nietzsche, a. a. O., S. 29 f.
6 3 3 Wie Anm. 631.

6 3 4 Sommer 1875, rV 6 [7], 4/1, 175.

6 3 5 S E 3, 3/1, 352.

6 3 6 Wie Anm. 629.

6 3 7 Im Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [98], 3/4, 40) zeichnet Nietzsche als einen von

mehreren Titelentwürfen zu einer Schrift über den Philosophen auf:


„ D e r Philosoph.
Betrachtungen über den K a m p f von K u n s t und Erkenntniss."
Siehe dazu auch: KSA 14, 544.
436 Anmerkungen 638 bis 665 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

638
P H G 3, 3/2, 307.
639
Ebd., S. 311.
wo i v 6 [48], 4 / 1 , 191 — 194, hier: S. 194.
641
Sommer 1875, IV 6 [4], 4 / 1 , 173; vgl. auch: Herbst 1873— Winter 1873/74, III 30 [5],
3 / 4 , 341.
642
P H G 3, 3 / 2 , 310.
643
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3/4, 13: „Im Mittelalter übernimmt die
Theologie die Zügel der Wissenschaft."
644
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [24], 3 / 4 , 12.
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [319], 3 / 4 , 105.
646
H L 4, 3 / 1 , 267.
647
März 1875, III 3 [63], 4 / 1 , 107 f., hier: S. 108: „ M a n sehe nur, womit ein
wissenschaftlicher Mensch sein Leben todt schlägt: was hat die griechische Partikellehre
mit dem Sinne des Lebens zu thun?"
648
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [196], 3 / 4 , 67: „Wir sollen so lernen, wie die Griechen
von ihren Vergangenheiten und Nachbarn lernten — zum L e b e n , also mit größter
Auswahl und alles Erlernte sofort als Stütze benutzend, auf der man sich hoch — und
höher als alle Nachbarn schwingt. Also nicht gelehrtenhaft! Was nicht zum Leben taugt, ist
keine wahre Historie. Freilich kommt es darauf an, wie hoch und wie gemein ihr dieses
L e b e n nehmt.
649
Sommer 1872-Anfang 1873, III 19 [21], 3/4, 10 f., hier: S. 10.
650
Winter 1883—1884, VII 24 [14], 7 / 1 , 692 f.: „Eine Vielheit von Kräften, verbunden durch
einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang, heißen wir ,Leben'. Zu diesem Ernährung-Vor-
gang, als Mittel seiner Ermöglichung, gehört alles sogenannte Fühlen, Vorstellen, Denken,
d. h. 1) ein Widerstreben gegen alle anderen Kräfte 2) ein Zurechtmachen derselben nach
Gestalten und Rhythmen 3) ein Abschätzen in Bezug auf Einverleibung oder
Abscheidung." Siehe auch: Juni—Juli 1885, VII 36 [22], 7 / 3 , 284 f., hier: S.284: „Leben
wäre zu definiren als eine dauernde Form von P r o z e ß der K r a f t f e s t s t e l l u n g e n ,
wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen." D. h. Leben ist Wille zur
Macht: „ D e r [ . . . ] Begriff ,Kraft' [ . . . ] : es muß ihm eine innere Welt zugesprochen
werden, welche ich bezeichne als,Willen zur Macht', [ . . . ].", Juni—Juli 1885, VII 36 [31],
7 / 3 , 287.
651
Zu Eckermann am 2. 4. 1829 (hier zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit
Goethe, a. a. O., S. 332).
652
H L 10, 3 / 1 , 327.
653
Winter 1872/73, III 23 [15], 3 / 4 , 141.
654
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3 / 4 , 13.
« 5 Ebd.
656
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [319], 3 / 4 , 105.
657
P H G 3, 3 / 2 , 307.
658
Ebd.
659
Kr. d. r. V.,Β391.:„dieabsolute E i n h e i t der R e i h e der B e d i n g u n g e n der E r s c h e i -
nung".
660
Sommer 1872-Anfang 1873, III 19 [37], 3 / 4 , 17 f., hier: S. 17.
661
Immanuel Kant, Was heißt sich im Denken orientieren?, a. a. Ο., A 320.
Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [34], 3 / 4 , 14 f., hier: S. 15.
663
Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [37], 3/4, 17 f.
664
Sommer 1 8 7 2 - A n f a n g 1873, III 19 [28], 3/4, 13.
665
Die Verbindung zwischen den einzelnen Wissenssplittern schafft der Journalist, „der
Diener des Augenblicks", als solcher der Antagonist „des großen Genius, des Führers f ü r
alle Zeiten, des Erlösers vom Augenblick" (BA I, 3/2, 163). Die Journalistik ist „jene
klebrige verbindende Schicht, die sich jetzt zwischen die Wissenschaften gelegt h a t " (ebd.,
S. 162). Hier glaubt sie „ihre Aufgabe zu erfüllen", die „sie nun ihrem Wesen gemäß
ausführt d . h . wie der N a m e sagt, als eine Tagelöhnere!" (ebd., S. 162 f.). „Im Journal
Anmerkungen 665 bis 682 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 437

kulminirt" darum f ü r Nietzsche „die e i g e n t ü m l i c h e Bildungsabsicht der Gegenwart", in


ihm bekämpft er im Zeichen seines an den Griechen orientierten Bildungsgedankens die
„überall erreichte Verkehrung aller eigentlichen Bildungsbestrebungen" (ebd., S. 163):
„ D e n k e n Sie sich, wie nutzlos jetzt die angestrengteste Arbeit des Lehrers sein muß, der
etwa einen Schüler in die unendlich ferne und schwer zu ergreifende Welt des
Hellenischen, als in die eigentliche Bildungsheimat zurückführen möchte: wenn doch
derselbe Schüler in der nächsten Stunde nach einer Zeitung oder nach einem Zeitroman
oder nach einem jener gebildeten Bücher greifen wird, deren Stilistik schon das ekelhafte
Wappen der jetzigen Bildungsbarbarei an sich trägt." (Ebd.)
666
So Nietzsche in seiner Baseler Antrittsvorlesung „ H o m e r und die klassische Philologie"
(2/1, 247—269, hier: S.268 f.) als Erläuterung seines „Glaubensbekenntnisses [ . · · ] :
,philosophia facta est quae philologia f u i t ' " . Er bekundet darin seinen Willen, der
zunehmenden Spezialisierung der Geisteswissenschaften entgegenzuwirken — wie dies
auch sein Zuhörer Jacob Burckhardt versuchte. Mit diesem „Glaubensbekenntnis" sollte
nämlich „ausgesprochen sein, dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und
eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung, in der alles Einzelne und
Vereinzelte als etwas Verwerfliches verdampft und nur das Ganze und Einheitliche
bestehen bleibt."
667
H L 4, 3/1, 268 f.
668
H L 10, 3 / 1 , 330.
669
Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [4], 3 / 4 , 223.
670 Ebd.
671
Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. O., S. 23.
672
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [43], 3 / 4 , 21.
673
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 160.
674
Die T e n d e n z dieser Schrift kommt in nuce zum Ausdruck in einer Aufzeichnung vom
Sommer—Herbst 1873, III 29 [100], 3 / 4 , 286: „Diejenige Betrachtung der Geschichte ist
die beste, welche die fruchtbarste ist, aber f ü r das Leben. Was nützt es, die Ursachen streng
zu sammeln, daraus das Factum herzustellen und so zu mortificiren! Bei einer anderen
Betrachtung hätte es noch lebendig weiterzeugen können: sobald es als Resultat der
Rechnung erscheint, wirkt es nicht mehr, sondern vergeudet alle Kräfte in der Erklärung
seiner selbst." So auch schon Goethe am 15.10. 1823 zu Eckermann: „ , M a n g e l an
Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen', sagte er, ,ist die
Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur.//Besonders in der Kritik zeigt dieser
Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches f ü r Wahres verbreitet,
oder durch ein ärmliches W a h r e uns um etwas Großes bringt, das uns besser w ä r e . / / Bisher
glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lukretia, eines Mucius Scävola und ließ sich
dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, daß
jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der
große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit!
und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens
groß genug sein, daran zu glauben.' " (Zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche
mit Goethe, a. a. O., S. 162.)
675
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 123.
676
Ebd., S. 122.
677
Gemeint sind die monumentalische, die antiquarische und die kritische Historie, f ü r die
jeweils eine der drei zusammengehörenden Zeit-Ekstasen leitend ist: die Zukunft, die
Gewesenheit und das Gegenwärtigen.
678
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [258], 3 / 4 , 88. Siehe Seite 110.
Μ Ebd.
680
J G B 9, 6 / 2 , 15 f., hier: S. 16.
681
August—September 1885, VII 40 [50], 7 / 3 , 385 f. Vgl. Anmerkung 466.
682
In G D , Moral als Widernatur 5, 6 / 3 , 80, drückt Nietzsche das später so aus: „ W e n n wir
von Werthen reden, reden wir unter der Inspriration, unter der Optik des Lebens: das
438 Anmerkungen 682 bis 697 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Leben selbst zwingt uns W e r t h e anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, w e n n
wir Werthe ansetzen..."
683
Auf Seite 129 haben wir bereits die nachfolgende Aufzeichnung von Sommer 1883 gelesen:
„ M a n sucht das Bild der Welt in der Philosophie, bei der es uns am freiesten zu Muthe
wird; d. h. bei der unser mächtigster [Wille zur Macht!] Trieb sich frei fühlt zu seiner
Thätigkeit. So wird es auch bei mir stehen!" Eugen Fink (Nietzsches Philosophie, a. a. O.)
hat diesen Satz, zu dem er bemerkt: „Philosophie erscheint f ü r Nietzsche mehr als eine
,Lebenspraxis' denn eine theoretische Wahrheit". (159), nicht zureichend bedacht,
andernfalls hätte er nicht einige Seiten vorher bemerken können: „alle Probleme der
Philosophie sind ihm Wertprobleme; [ . . . ] Wahrheit als jene Offenbarkeit des flutenden
Lebens, als Wille zur Macht und als Ewige Wiederkunft aber ist ja die Grundlage f ü r
Nietzsches universale Wertperspektive — und kann also nicht nur ein Wertphänomen sein.
Die N a t u r derjenigen Wahrheit, die seine eigene Philosophie trägt, kommt zu keiner
letzten Klarheit." (127) Zum einen übersieht Fink dabei, wie wir schon mehrmals gezeigt
haben, daß seine eigene Philosophie f ü r Nietzsche Illusion ist, und zwar nicht zu
umgehende, d. h. notwendig zu glaubende Illusion, was besagt, daß sie weniger illusionär
ist als andere Illusionen. D a r u m aber kann Fink zum anderen auch kein ausreichendes
Verständnis d a f ü r aufbringen, daß der „ l e t z t e P h i l o s o p h " angesichts dieser
„Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein" (CV 1, 3 / 2 , 254), nur noch „ z u m
L e b e n zu helfen" hat (Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16f., hier: S. 16).
684
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3 / 4 , 47.
685
III 19 [49], 3 / 4 , 23.
686
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [67], 3/4, 28 f., hier: S. 29.
687
Ebd.
688
Wie Anm. 685.
689
Siehe Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [50], 3 / 4 , 23 f., hier: S.24: „die höhere
Physiologie wird freilich die künstlerischen Kräfte schon in unserem Werden begreifen, ja
nicht nur in dem des Menschen, sondern des Thieres: sie wird sagen, daß mit dem
O r g a n i s c h e n auch das K ü n s t l e r i s c h e b e g i n n t . "
690
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [37], 3 / 4 , 17 f., hier: S. 17.
691
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.
692
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [83], 3 / 4 , 35 f., hier: S. 35.
693
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [24], 3 / 4 , 12.
694
Vgl. Herbst 1873—Winter 1873/74, III 30 [15], 3 / 4 , 347 f., hier: S. 348: „Thatsächlich hat
die Philosophie sich in den Strom der jetzigen Bildung hineinziehn lassen: sie beherrscht
ihn gar nicht. Bestenfalls Wissenschaft geworden (Trendelenburg)."
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [51], 3 / 4 , 24.
696
Vgl. z . B . eine Aufzeichnung vom Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [134], 3 / 4 , 50,
derzufolge die Pythagoreer mit der „ Z a h l " und Demokrit mit dem „ S t o f f "
Grundvorstellungen der Naturwissenschaft entwickeln. Sehr wichtig ist in diesem
Zusammenhang die nachfolgende Passage eines Briefes an Gersdorff vom 5. 4. 1873 (II/3,
138—141, hier: S. 139): „ N a c h Bayreuth bringe ich ein Manuscript ,die Philosophie im
tragischen Zeitalter der Griechen' mit, zum Vorlesen. [ . . . ] Auch war ich genöthigt, die
sonderbarsten Studien zu jenem Zwecke zu treiben, selbst die Mathematik trat in die N ä h e ,
ohne Furcht einzuflößen, dann Mechanik, chemische Atomenlehre usw. Ich habe mich
wieder auf das herrlichste überzeugt, was die Griechen sind und waren. Der W e g von
Thaies bis Sokrates ist etwas Ungeheures." Bei dem Manuskript handelt es sich um die
nachgelassene Basler Schrift „ D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen",
welche indes im Gegensatz zu der Vorlage seines im Sommersemester 1872 gehaltenen
Kollegs über „Vorplatonische Philosophen" und anders auch als beispielsweise ein
nachgelassenes Notat vom Frühjahr 1873 (III 26 [1], 3 / 4 , 173 f.) keinen Vergleich
zwischen den Konzeptionen der Vorsokratiker und den modernen naturwissenschaftli-
chen Theorien anstellt.
697
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [24], 3 / 3 , 67.
Anmerkungen 698 bis 721 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 439

698 Ende 1870—April 1871, III 7 [125], 3 / 3 , 1 8 9 — 1 9 1 , hier: S. 190.


P H G 3, 3 / 2 , 308.
7 0 0 Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [19], 3 / 4 , 121.

7 ° ' Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.

702 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [136], 3 / 4 , 21 f. hier: S. 22.


703 Vgl w a s Nietzsche im „Versuch einer Selbstkritik" seiner „Geburt der Tragödie" als die
Aufgabe dieses ,,verwegene[n]" Buches herausstellt, nämlich: „ d i e W i s s e n s c h a f t
u n t e r d e r O p t i k des K ü n s t l e r s zu s e h n , die K u n s t a b e r u n t e r der des
L e b e n s . . . " ( 2 , 3 / 1 , 8).
7 ° 4 III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 140.

7 °5 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3 / 4 , 13.

7°<> Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 39.

7 ° 7 Sommer 1875, IV 6 [12], 4 / 1 , 177.

7 ° 8 Ebd.

7 0 9 Vgl. Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [6], 3 / 4 , 116: „Ich will Historienmalerei, nicht

Antiquitäten." Die Nähe der monumentalischen Historie zum Mythos zeigt: Ilse Nina
Bulhof, Apollos Wiederkehr. Eine Untersuchung der Rolle des Kreises in Nietzsches
Denken über Geschichte und Zeit, Den Haag 1969; siehe auch die Rezension dieses
Buches von J ö r g Salaquarda in: Nietzsche-Studien 1 / 1 9 7 2 , S. 4 2 7 — 4 3 2 .
7 1 0 Vgl. Nietzsches nachfolgendes Selbstlob aus jener Zeit, da er an einer einführenden

Vorrede für die Neuausgabe der „Morgenröthe" schrieb, Herbst 1885—Herbst 1886, V I I I
2 [162], 8 / 1 , 142: „Man bemerkt, bei meinen früheren Schriften, einen guten Willen zu
unabgeschlossenen Horizonten, eine gewisse kluge Vorsicht vor Uberzeugungen, ein
Mißtrauen gegen die Bezauberungen und Gewissens-Überlistungen, welche jeder starke
Glaube mit sich bringt; mag man darin zu einem Theile die Behutsamkeit des gebrannten
Kindes, des betrogenen Idealisten sehen — wesentlicher scheint mir der epikureische
Instinkt eines Räthselfreundes, der sich den änigmatischen Charakter der Dinge nicht
leichten Kaufs nehmen lassen will, am wesentlichsten endlich ein aesthetischer Widerwille
gegen die großen tugendhaften unbedingten Worte, ein Geschmack, der sich gegen alle
viereckigen Gegensätze zur W e h r setzt, ein gut Theil Unsicherheit in den Dingen
w ü n s c h t und die Gegensätze wegnimmt, als Freund der Zwischenfarben, Schatten,
Nachmittagslichter und endlosen Meere". Siehe dazu auch die auf Seite 122 zitierte, in
unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstandene Aufzeichnung.
7 | 1 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [52], 3 / 4 , 24.

7 1 2 Kapitel 15, 3 / 1 , 98 und Kapitel 17, 3 / 1 , 107.

7 1 3 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [7], 3 / 4 , 136.

7 1 4 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27.

7 ' 5 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [8], 3 / 4 , 136 f., hier: S. 137.

7 1 6 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [9], 3 / 4 , 137.

7 · 7 Vgl. für die Vorsokratiker, Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 140:
„ B ä n d i g u n g d e s M y t h i s c h e n . — Stärkung des Wahrheitssinnes gegenüber der
freien Dichtung, v i s v e r i t a t i s oder Stärkung des reinen Erkennens (Thaies Demokrit
P a r m e n i d e s ) . / / B ä n d i g u n g d e s W i s s e n s t r i e b e s — oder Stärkung des Mythisch-
Mystischen, des Künstlerischen, (Heraklit Empedokles Anaximander.) Gesetzgebung der
Größe."
7 1 8 Winter 1 8 7 2 / 7 3 , III 23 [14], 3 / 4 , 140 f., hier: S. 141.

7 19 Sommer 1875, I V 6 [7], 4 / 1 , 175 f., hier: S. 176.

7 2 0 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.

7 2 1 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27. Damit stimmt überein, was Nietzsche

rückblickend im Juni—Juli 1885 aufzeichnet (VII 38 [13], 7 / 3 , 339 f.): „Als ich jünger war,
machte ich mir Sorge darüber, was denn eigentlich ein Philosoph sei: denn ich glaubte an
den berühmten Philosophen entgegengesetzte Merkmale wahrzunehmen. Endlich ging mir
auf, daß es zwei unterschiedliche Arten von Philosophen giebt, einmal solche, welche
irgend einen großen Thatbestand von Werthschätzungen, das heißt ehemaligen
440 Anmerkungen 721 bis 742 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Werthsetzungen und Werthschöpfungen (logischen oder moralischen), festzuhalten


haben, sodann aber solche, welche selber Gesetzgeber von Werthschätzungen sind. Die
ersteren suchen sich der vorhandenen oder vergangenen Welt zu bemächtigen, indem sie
dieselbe durch Zeichen zusammenfassen und abkürzen. Diesen Forschern liegt es ob, alles
bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, faßbar, handlich zu
machen, die Vergangenheit zu überwältigen, alles Lange, ja die Zeit selbst abzukürzen,
eine große und wundervolle Aufgabe. Die eigentlichen Philosophen a b e r s i n d
B e f e h l e n d e u n d G e s e t z g e b e r , sie sagen: so s o l l es sein! sie bestimmen erst das
Wohin und W o z u des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit der
philosophischen Arbeiter, jener Überwältiger der Vergangenheit. Diese zweite Art von
Philosophen geräth selten; und in der T h a t ist ihre Lage und Gefahr ungeheuer."
722 Ebd.
7
23 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [28], 3/4, 13.
724
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [34], 3/4, 14 f., hier: S. 15.
725 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3/4, 27.
726 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [39], 3/4, 19.
727 Ebd.
728 G T 7, 3/1, 52. — Von einem „Trost, den die Kunst gewährt", weiß auch Schopenhauer
( W a W I, 372), nach dessen Ansicht die Künste die metaphysischen Ideen darstellen, die
immer seienden Urformen, in denen sich der Wille äußert — mit Ausnahme der Musik,
welche den Willen als solchen zur Erscheinung bringt.
729 Fragmentengruppe III 32, 3 / 4 , 367—399.
730 W B 4, 4 / 1 , 23.
731 31.1. 1873, II/3, 119—121, hier: S. 121.
732 Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, a. a. O., S. 93.
733 Ebd.
734 Ebd., S. 91.
735 Yg[ j a s nachfolgende Zitat aus dem vermutlich von Tieck verfaßten Aufsatz „Die
Symphonien" aus den „Phantasien über die Kunst f ü r Freunde der Kunst": „ D e n n die
Tonkunst ist gewiß das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus
geoffenbarte Religion. Mir ist es oft, als wäre sie immer noch im Entstehn, und als dürften
sich ihre Meister mit keinen andern messen." (zitiert nach: Wilhelm Heinrich
Wackenroder, Werke und Briefe, Heidelberg 1967, S.251).
736 Dahlhaus, op. cit., S. 77.
737 I I / l , 203—205, hier: S. 204.
738 Frühling—Sommer 1875, IV 5 [22], 4 / 1 , 121 f., hier: S. 122.
739 III 3 [60], 3 / 3 , 76 f.
740
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [35], 3 / 4 , 15 f., hier: S. 15. Vgl. auch G T 18, 3/1, 114:
Mit Kants und Schopenhauers Erkenntniskritik „ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als
eine tragische zu bezeichnen wage."
741
G T 23, 3 / 1 , 141.
742
H L 5, 3 / 1 , 280 f.: „es mag was Gutes und Rechtes geschehen, als That, als Dichtung, als
Musik: sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das W e r k hinweg und fragt nach
der Historie des Autors. [ . . . ] Augenblicklich erschallt das Echo: aber immer als ,Kritik',
während kurz vorher der Kritiker von der Möglichkeit des Geschehenden sich nichts
träumen Hess. Nirgends kommt es zu einer Wirkung, sondern immer nur wieder zu einer
,Kritik'; und die Kritik selbst macht wieder keine Wirkung, sondern erfährt nur wieder
Kritik. Dabei ist man übereingekommen, viel Kritiken als Wirkung, wenige als Misserfolg
zu betrachten. Im Grunde aber bleibt, selbst bei sothaner ,Wirkung', alles beim Alten: man
schwätzt zwar eine Zeit lang etwas Neues, dann aber wieder etwas Neues und thut
inzwischen das, was man immer gethan hat. Die historische Bildung unserer Kritiker
erlaubt gar nicht mehr, dass es zu einer Wirkung im eigentlichen Verstände, nämlich zu
einer Wirkung auf Leben und Handeln komme [ . . . ] Gerade in dieser Maasslosigkeit ihrer
kritischen Ergüsse, in dem Mangel der Herrschaft über sich selbst, in dem was die Römer
Anmerkungen 742 bis 755 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 441

impotentia nennen, verräth sich die Schwäche der modernen Persönlichkeit." Ein
Gegenbild erblickt Nietzsche in jener „Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit
[ . . . ] , wie sie [ . . . ] Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte."
(SE 3, 3 / 1 , 351 f.) Und er fragt: „wann werden wieder die Menschen dergestalt
Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an
ihrem ,heiligsten Innern' messen?"
7
« H L 8, 3 / 1 , 301.
744
Richard Wagner, Einleitung zum dritten und vierten Bande [der „Gesammelten Schriften
und Dichtungen"], in: Werke, Bd. 6, S. 192—198, hier: S. 194, über Ludwig Feuerbach,
„der meiner damaligen Stimmung vorzüglich dadurch nahe trat, daß er der Philosophie (in
welcher er einzig die verkappte Theologie aufgefunden zu haben glaubte) den Abschied
gab."
7
« Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16 f., hier: S. 16.
746
G T , Vorwort an Richard Wagner, 3 / 1 , 20.
747
An Elisabeth Nietzsche am 11.6. 1865 (1/2, 60—64, hier: S. 60 f.): „Suchen wir denn bei
unserem Forschen Ruhe, Friede, Glück? Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst
abschreckend und häßlich. [ . . . ] Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du
Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst D u ein Jünger der Wahrheit sein, so
forsche."
748
III 32 [68], 3/4, 392 f.
749
H a n s Martin Klinkenberg, Der Kulturbegriff Nietzsches, a. a. O., S. 338 f.
750
Im Herbst 1887 zeichnet Nietzsche auf (VIII 10 [28], 8/2, 136): „an Stelle der
,Gesellschaft' der C u l t u r - C o m p l e x als m e i n Vorzugs-Interesse (gleichsam als
Ganzes, bezüglich in seinen Theilen)".
751
Klinkenberg, op. cit., S. 314.
752
5 / 1 , 168—170. Nietzsche hat das Defizit der ,sogenannten classischen Erziehung' schon
früh erkannt, doch wurde die Absicht, es zu beheben, durch seine überraschende Berufung
nach Basel vereitelt. In dem Brief vom 16.1. 1869 an seinen Freund Erwin Rohde (1/2,
358—360), mit dem er diesem von jener W e n d e seines Lebens Mitteilung macht, heißt es:
„Wir sind doch recht die N a r r e n des Schicksals: noch vorige Woche wollte ich Dir einmal
schreiben und vorschlagen, gemeinsam Chemie zu studieren und die Philologie dorthin zu
werfen, wohin sie gehört, zum Urväter-hausrath. Jetzt lockt der Teufel .Schicksal' mit
einer philologischen Professur." (359 f.) Die Lösung von dem erst noch zu übernehmenden
Brotberuf kündigte sich schon an — und die Lebensberufung, zu bedenken, was ist, sollte
darunter zu leiden haben, daß die Möglichkeit, in naturwissenschaftlichen und technischen
Dingen über ein Dilettieren hinauszugelangen, nicht ergriffen wurde. Er sollte der letzte
nicht sein...
753
H L 10, 3 / 1 , 330. Dies, wie er meint, „der griechische Begriff der Cultur", der im
„Gegensatze zu dem romanischen" stehe (ebd.), als welcher aufzufassen sei „als
D e k o r a t i o n d e s L e b e n s " (ebd., S. 329). Das aber heiße „im Grunde doch immer nur
Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte." (Ebd.,
S. 329 f.)
754
BA II, 3/2, 176 f. erläutert dies am Beispiel des Soldaten, der „genöthigt ist gehen zu
lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige
Monate: man fürchtet daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle H o f f n u n g , daß die
künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und
leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor
Fuß setzt und fürchtet jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen.
Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits
wieder eine neue Gewohnheit und zweite N a t u r geworden ist, und daß die alte Sicherheit
und Kraft des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt:
jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist und darf sich über den rohen Empiriker
oder über den elegant sich gebärdenden Dilettanten des Gehens lustig machen."
755
C V 5, 3 / 2 , 277.
442 Anmerkungen 756 bis 785 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

756
Sommer 1871—Frühjahr 1872, III 16 [15], 3 / 3 , 423 f., hier: S.424.
757
C V 5, 3 / 2 , 286.
758
1879, in V M 95, 4 / 3 , 51, spricht Nietzsche von „sublimirter Geschlechtlichkeit". Vgl. zu
dieser Frage: Walter Kaufmann, Nietzsche, Philosoph — Psychologe — Antichrist,
a . a . O . , S. 254 f.
759
„Verbesserte Physis" meint durch „ F o r m u n g " gesteigerte Physis, was in der Terminologie
der „Artisten-Metaphysik" besagt, daß Dionyos durch Apollo bestritten und derweise
gesteigert wird.
7
<>° BA I, 3 / 2 , 155.
761
SE 3, 3 / 1 , 380. Vergleichbare Passagen u. a. in BA: Einleitung, 3 / 2 , 139; Vortrag 3, 3 / 2 ,
189 ff.; Vortrag 5, 3 / 2 , 242 f.
762
H L 9, 3 / 1 , 313.
7
« SE 5, 3 / 1 , 378.
764
BAW 3, 393.
765
Ebd., S. 373 f.
766
SE 5, 3 / 1 , 376.
767
H L 9, 3 / 1 , 315.
768 Vgl z u dieser Frage: Walter Kaufmann, op. cit., S. 204 f.: „Nietzsche akzeptierte Darwins
Lehre vom Mangel aller kardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Tier als
unbestreitbare empirische Tatsache; gegen diese ,tötliche' Botschaft versuchte er die neue
Nietzschesche Lehre zu setzen, daß sich der Mensch über die Tiere erheben kann.
Nietzsche gab zu, daß es nicht der Verstand ist, durch den sich der Mensch über alle
anderen Tiere erhebt [ . . . ] Aber Nietzsche trat Darwin entgegen, wenn dieser meinte, bei
Tieren auch nur Spuren von Kunst — die Nietzsche von bloßer Fertigkeit unterschied —
Religion und Philosophie zu finden. Ein Techniker ist nur ein Über-Affe, aber von Plato
kann man so etwas nicht sagen."
7 9
* Vgl. etwa Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [202], 3 / 4 , 69: „ V o n irgend einer
Vorsehung f ü r gute Bücher vermag ich nichts zu spüren: die schlechten haben fast mehr
Aussichten sich zu erhalten. Es sieht wie ein W u n d e r aus, daß Aeschylus Sophokles und
Pindar immer wieder abgeschrieben worden sind und offenbar ist es das zufälligste
Ereigniß, daß wir überhaupt eine antike Literatur besitzen." Siehe auch: III 19 [203], ebd.:
„ W e n n Schopenhauer es, in unserem Saeculum, erleben konnte, daß die erste Auflage
seines Werkes als Maculatur eingestampft wurde und es im Grunde der Geschäftigkeit
unbedeutender, ja bedenklicher Litteraten zu danken ist, daß sein N a m e aus tiefer
Verschollenheit allmählich auftauchte ".
77
° Anfang 1871, III 10 [1], 3 / 3 , 345—363, hier: S. 350.
771
1871, III 9 [26], 3/3, 292: „ D i e französiche Revolution ist aus dem Glauben an die Güte
der N a t u r entstanden: sie ist die Consequenz der Renaissance."
772
C V 3, 3 / 2 , 259.
773
Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3 / 3 , 172—174, hier: S. 172.
774
H a n s Blumenberg, „ N a c h a h m u n g der N a t u r " , Zur Vorgeschichte der Idee des
schöpferischen Menschen, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981,
S. 55—103, hier: S.55.
775
III 35 [12], 3/4, 432—439, hier: S . 4 3 2 f .
776
BA 4, 3 / 2 , 204.
777
BA 3, 3 / 2 , 189.
778
D S 1, 3/1, 159.
779
BA 5, 3 / 2 , 242.
78
° C V 3, 3 / 2 , 269 f.
781
Wie Anm. 779.
782
1/2 , 314 — 316, hier: S. 316.
783
IV 3 [36], 4 / 1 , 107 f., hier: S. 108.
784
1.—3 . 2. 18 6 8, 1/2 , 245 —2 5 0, hier: S. 248 f.
785
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [20], 3 / 3 , 50.
Anmerkungen 786 bis 798 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 443

786 BA 1, 3 / 2 , 157.
787
Frühjahr—Sommer 1874, III 34 [15], 3/4, 414.
788
In der 3. Unzeitgemässen Betrachtung „Schopenhauer als Erzieher " resümiert Nietzsche
seine Ausführungen über das Genie als Ziel der Kultur wie folgt: „was ist uns durch alle
diese Betrachtungen aufgegangen? Dass überall, wo jetzt die Kultur am lebhaftesten
gefördert erscheint, von jenem Ziel nichts gewusst wird. Mag der Staat noch so laut sein
Verdienst um die Kultur geltend machen, er fördert sie, um sich zu fördern und begreift ein
Ziel nicht, welches höher steht als sein Wohl und seine Existenz." (SE 6, 3 / 1 , 3 % ) Bald
jedoch wird Nietzsche erkennen, daß seine Forderung an den Staat, als wichtigste Aufgabe
die Pflege der höchsten Güter der Menschheit zu betrachten, sprich: Kulturpolitik zu
betreiben, nur das Gegenteil dessen herbeiführen kann, was er ersehnt. Rückblickend
zeichnet er im Juni—Juli 1879 (IV 40 [9], 4 / 3 , 437) auf: „Mir wurde Angst beim Anblick
der Unsicherheit des modernen Culturhorizonts. Etwas verschämt lobte ich die Culturen
unter Glocke und Sturzglas. Endlich ermannte ich mich und warf mich in das freie
Weltmeer." Mit „ E r m a n n u n g " meint Nietzsche Aufzeichnungen wie diese, welche zu den
Aphorismen 233, „Die Stimme der Geschichte", und 235, „Genius und idealer Staat in
Widerspruch", des ersten nachwagnerschen Buches „Menschliches, Allzumenschliches"
führten: „Die Ziele der m e n s c h l i c h e n W o h l f a h r t im Groben sind ganz a n d r e : als
die höchste Intelligenz zu erzeugen. Das Wohlleben gilt viel zu hoch und ist ganz äußerlich
genommen, auch die Schule und die E r z i e h u n g . / / D e r ideale Staat, den die Socialisten
träumen, zerstört das F u n d a m e n t der großen Intelligenzen, die starke E n e r g i e . / / W i r
müssen wünschen, daß das Leben seinen g e w a l t s a m e n Charakter behalte, daß w i l d e
Kräfte und Energien hervorgerufen werden. Das Urtheil über den Werth des Daseins ist
das höchste Resultat der kräftigsten S p a n n u n g im Chaos. [ . . . ] / / D e r W e i s e muß den
Gedanken der unintelligenten Güte w i d e r s t r e b e n , weil ihm an der Wiedererzeugung
seines Typus liegt. Mindestens kann er n i c h t den idealen Staat f ö r d e r n . — Christus
förderte die Verdummung der Menschen, er hielt die Erzeugung des großen Intellekts
auf." (Frühling—Sommer 1875, IV 5 [188], 4 / 1 , 169 f.) U n d : „ W e r zum Bewußtsein über
die Erzeugung des Genies käme und die Art, wie die N a t u r verfährt, auch praktisch
durchführen wollte, würde so böse und so rücksichtslos wie die Natur selbst sein müssen."
(Frühling—Sommer 1875, IV 5 [191], 4 / 1 , 170) Er trägt damit einer seiner
Grundeinsichten Rechnung, die schließlich auch in die Konzeption des Willens zur Macht
Eingang gefunden hat, daß nämlich nur dort Steigerung statthaben kann, w o das Prinzip
des Kampfes, des ά γ ώ ν , herrscht.
789
III 19 [64], 3/4, 27 f., hier: S. 27.
790
Winter 1870/71—Herbst 1872, III 8 [92], 3 / 3 , 267 f., hier: S. 267.
791
Man beachte die Sein und Werden zusammenschließende paradoxale Fügung.
792 G f 23, 3 / 1 , 143 f. Ebd., S. 141: „ O h n e Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden
schöpferischen N a t u r k r a f t verlustig: erst ein mit Mythen umstellter H o r i z o n t schliesst eine
ganze Culturbewegung zur Einheit ab."
793
H L 9, 3 / 1 , 313. Das Schopenhauersche Bild (siehe: Arthur Schopenhauer, Der
handschriftliche Nachlaß, 6 Bde., hrsg. v. Arthur Hübscher, F r a n k f u r t / M . 1970, hier:
Bd. 3, S. 188) findet sich auch andernorts: P H G 1, 3 / 2 , 302; Winter 1872/73, III 24 [4],
3 / 4 , 160; Sommer—Herbst 1873, III 29 [52], 3/4, 256—258, hier: S. 257.
794
Siehe H L 2, 3/1, 254: „Die Geschichte gehört vor Allem dem Thätigen und Mächtigen,
dem, der einen grossen Kampf kämpft, der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie
unter seinen Genossen und in der Gegenwart nicht zu finden vermag."
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [1], 3 / 4 , 5.
796
BA 3, 3/2, 192.
797
SE 4, 3/1, 361: „worin ich nicht einen Rückfall in's Heidenthum, sondern in die Dummheit
erkenne."
798
SE 4, 3 / 1 , 364: der Staat „wünscht dass die Menschen mit ihm demselben Götzendienst
treiben möchten, den sie mit der Kirche getrieben haben." Siehe auch das Kapitel „ V o m
neuen G ö t z e n " im 1. Teil von „Also sprach Zarathustra" (6/1, 57—60).
444 Anmerkungen 799 bis 814 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

799
C V 3, 3/2, 266.
800
BA 3, 3/2, 201.
et» Ebd., S. 202.
802
Ebd., S. 200. Zur Ablehnung des Staates durch die Stürmer-und-Dränger vgl. Gerhard
Kaiser, Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, München 2 1976, S. 189: „ T r o t z
der ideellen Rückbindung des Genies an das Volk kann der Sturm und D r a n g Merkmale
einer eigentümlichen sozialen und einer politischen Ortlosigkeit zeigen. Herders
Geschichtsschreibung richtet sich auf Völker und Kulturen; Staaten sind ihm ,künstliche
Anstalten der Gesellschaft', ,hölzerne Maschinen'. Die Kritik am Absolutismus hat als
mögliche Konsequenz die Abwendung vom Staat, die Gleichgültigkeit gegen ihn."
803
Frühjahr—Sommer 1874, III 34 [8], 3 / 4 , 412 f., hier: S. 413. Vorübergehend verwirft
Nietzsche diese Auffassung. So heißt es in einer Fragmentengruppe vom Sommer 1875 (IV
9 [1], 4 / 1 , 207—257), in der Exzerpte und kritische Anmerkungen zu „ D e r Werth des
Lebens von E. Dühring. 1865" aneinandergereiht sind: „Jedes Individuum ist ein neuer
Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten l ä ß t . / / ( N u n , das ist doch auch
Mythologie, und Mystik und zwar schlecht g e g l a u b t e ! ) " (Ebd., S. 220 f.) D a ß
Nietzsche diese Auffassung zumindest im Hinblick auf die schöpferischen Genies
schließlich weiter gelten läßt, bezeugt der in Anm. 545 zitierte Aphorismus 301 der
„Fröhlichen Wissenschaft".
804
Siehe: Piaton, Apol., 31c—33a.
805 Vgl dazu: Edgar Zilsel, Die Entstehung des Geniebegriffes, Ein Beitrag zur
Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Tübingen 1926, S. 12 f.
806
SE 1, 3 / 1 , 334.
807
JGB 62 (6/2, 79—81, hier: S. 79) bezeichnet Nietzsche den Menschen als „das n o c h
nicht festgestellte Thier".
8 8
° H L 10, 3 / 1 , 330.
809
SE 3, 3 / 1 , 355.
810
SE 3, 3 / 1 , 358.
811
Vgl. Zilsel, op. cit., a. a. O., S. 183.
812
W B 4, 4 / 1 , 18.
813
H L 8, 3 / 1 , 307.
814
In der Vorrede „Ueber das Pathos der W a h r h e i t " (CV 1, 3 / 2 , 249—254) fragt Nietzsche:
„Ist der Ruhm wirklich nur der köstlichste Bissen unserer Eigenliebe? — Er ist doch an die
seltensten Menschen, als Begierde, angeknüpft und wiederum an die seltensten Momente
derselben. Dies sind die Momente der plötzlichen Erleuchtungen, in denen der Mensch
seinen Arm befehlend, wie zu einer Weltschöpfung, ausstreckt, Licht aus sich schöpfend
und um sich ausströmend. [ . . . ] ; in der ewigen Nothwendigkeit dieser seltensten
Erleuchtungen f ü r alle Kommenden erkennt der Mensch die Nothwendigkeit seines
Ruhms; die Menschheit, in alle Z u k u n f t hinein, braucht ihn, und wie jener Moment der
Erleuchtung der Auszug und der Inbegriff seines eigensten Wesens ist, so glaubt er als der
Mensch dieses Momentes unsterblich zu sein" (249). Besonders gelte dies f ü r den
Philosophen, „weil er gar nicht weiß, w o er stehen soll, wenn nicht auf den weit
ausgebreiteten Fittigen aller Zeiten; denn die Mißachtung des Gegenwärtigen und
Augenblicklichen liegt in der Art des philosophischen Betrachtens. Er hat die Wahrheit;
mag das Rad der Zeit rollen, wohin es will, nie wird es der Wahrheit entfliehen können."
(251) Nietzsche exemplifiziert und korrigiert diese Überlegungen am Beispiel Heraklits,
der — so muß man aus der Nietzscheschen Perspektive interpretieren — in Widerspruch
zu dem von ihm Gedachten, dem Werden und Vergehen in sich beschließenden Werden,
an das Währen dieses Gedankens glaubte: „ D e n n die Welt braucht ewig die Wahrheit, also
braucht sie ewig Heraklit, obschon er ihrer nicht bedarf. Was geht i h n sein Ruhm an!
[ . . . ] Sein Ruhm geht die Menschen etwas an, nicht ihn; seine Eigenliebe ist die Liebe zur
Wahrheit — und eben diese Wahrheit sagt ihm, daß ihn die Unsterblichkeit der Menschen
brauche, nicht er die Unsterblichkeit des Menschen Heraklit." (253) D o c h : „was war die
Heraklitische . W a h r h e i t ' ! / / U n d wo ist sie hin? Ein verflogener Traum, weggewischt aus
Anmerkungen 814 bis 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 445

den Mienen der Menschheit, mit anderen T r ä u m e n ! — Sie war die Erste nicht!" Auf den
ersten Blick heißt das nur: seine Wahrheit des Werdens war gleich allen anderen
Wahrheiten eine der Vergänglichkeit unterworfene Illusion. Auf den zweiten Blick muß
man jedoch erkennen, daß sich gerade in diesem Vergehen die „Richtigkeit" dieses
Gedankens in bezug auf das Gedachte, nämlich das Werden, bezeugt. Anders als Heraklit,
der diese Tatsache verkannt hat, erwartet, ja fordert darum der sich auf ihn berufende
Nietzsche f ü r sein Denken das Vergehen, um so das Werden besser in die O b h u t nehmen
zu können: „erst, w e n n i h r m i c h A l l e v e r l e u g n e t h a b t , will ich euch
wiederkehren", ruft Nietzsche mit Zarathustra seinen „ J ü n g e r n " zu ( E H , Vorwort 4, 6 / 3 ,
259). Auf listige Weise stellt auch er sich mithin auf jene ,weit ausgebreiteten Fittige aller
Zeiten'.
815
W B 3, 4 / 1 , 16.
816 W B 5, 4 / 1 , 31.
817
H L 10, 3 / 1 , 326.
818
H L 2, 3 / 1 , 256.
819
Insofern die spätere Lehre von der ewigen Wiederkunft, von Nietzsche als „die
w i s s e n s c h a f t l i c h s t e aller möglichen Hypothesen" (Sommer 1886—Herbst 1887,
VIII 5 [71], 8/1, 215—221, hier: S.217) und d . h . als notwendig zu Glaubendes
herausgestellt (vgl. Frühjahr 1888, VIII 14 [188], 8/3, 166—168, wo es u. a. [S. 168] heißt:
„ W e n n die Welt als bestimmte Größe von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren
gedacht werden d a r f — und jede andere Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich
u n b r a u c h b a r — so folgt daraus, daß sie eine berechenbare Zahl von Combinationen,
im großen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde
jede mögliche Combination irgendwann einmal erreicht sein".), aus dieser überhistori-
schen mythischen Perspektive hervorgeht, stellt sich die Frage, ob Zarathustras Lehre
wirklich den Geist der Rache, nämlich „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es
w a r . ' " (Za II, Von der Erlösung, 6 / 1 , 176), und damit die metaphysische Nichtung der
Welt, wie sie der Entwurf überzeitlicher Ideale bewirkt, grundsätzlich überwindet, d. h. die
Vergänglichkeit des Irdischen rückhaltlos bejaht, ober ob nicht Heideggers diesbezügli-
cher Zweifel (Μ. H., W e r ist Nietzsches Zarathustra?, a. a. O., S. 113) geteilt werden muß:
Verbirgt sich, so fragt er, in diesem Denken, „das alles Werden in die O b h u t der ewigen
Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloße
Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache?"
In der der T a t : Nichts ist nach dieser Lehre endgültig vergangen, alles kehrt wieder:
Das Moment des Ewigen — von Nietzsche in seiner nachwagnerschen Phase bekämpfte
Leitvorstellung der Seins-Metaphysik — prägt im Widerstreit mit der Bestandlosigkeit des
Werdens diesem seinen illusionären Charakter der Beständigkeit auf, um so dem Dasein
die lebensnotwendige Möglichkeit der Sinnhaftigkeit zu eröffnen: „ G e g e η die lähmende
Empfindung der allgemeinen Auflösung und Unvollendung hielt ich die e w i g e
W i e d e r k u n f t ! " , zeichnet Nietzsche im Winter 1883/1884 auf ( V I I 2 4 [28], 7 / 1 , 703 f.,
hier: S. 704). Doch „der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e " wäre nicht die
„höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden k a n n " ( E H , Also sprach
Zarathustra 1, 6 / 3 , 333), trüge er nicht noch ein anderes, finsteres Gesicht: „Denken wir
diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und
Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ,die ewige
W i e d e r k e h r ' . / / D a s ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das .Sinnlose')
ewig!" (Sommer 1886—Herbst 1887, VIII 5 [71] 6, 8/1, 215—221, hier: S. 217) N u r die
stärksten Naturen vermögen Nietzsche zufolge diese Form des Gedankens zu ertragen:
„als a u s w ä h l e n d e s Princip" soll er „im Dienste der K r a f t (und Barbarei!!)" (Winter
1883/1884, VII 24 [7], 7 / 1 , 688 f., hier: S. 688) die Lebensuntüchtigen aussondern: „Es ist
der große z ü c h t e n d e Gedanke: die Rassen, welche ihn nicht ertragen, sind verurtheilt;
die, welche ihn als größte Wohlthat empfinden, sind zur Herrschaft ausersehn."
(Sommer— Herbst 1884, VII 26 [376], 7 / 2 , 248) Dieser die Sinnlosigkeit betonende Teil
der Lehre, die die Unendlichkeit der Welt in einer der Endlichkeit des Menschen
446 Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

entsprechenden Form zu fassen sucht, kündigt sich im übrigen bereits im Sommer


1872—Anfang 1873 in der nachfolgenden Aufzeichnung an (III 19 [139], 3 / 4 , 52): „Die
U n e n d l i c h k e i t ist die uranfängliche Thatsache: es wäre nur zu erklären, woher das
Endliche stamme. Aber der Gesichtspunkt des Endlichen ist rein sinnlich d. h. eine
T ä u s c h u n g . / / W i e kann man von einer Bestimmung der Erde zu reden w a g e n ! / / I n der
unendlichen Zeit und dem unendlichen Räume giebt es keine Ziele: w a s d a i s t , i s t
e w i g d a in irgend welchen Formen. Was f ü r eine methaphysische [sie!] Welt es geben
soll, ist gar nicht a b z u s e h n . / / O h n e jede derartige Anlehnung muß die Menschheit
s t e h e n können — ungeheure Aufgabe der Künstler!"
Sinnvolle und sinnlose Weltauslegung widerstreiten somit einander auf das höchste in
dieser paradoxalen, den Weltstreit von Dionysos und Apoll (siehe dazu den Abschnitt über
die „ G e b u r t der Tragödie"), von Werden und Sein abbildenden Formel ebenso wie
Metaphysik und Umkehrung der Metaphysik. In einem noch in Schlechtas Edition des
Nachlasses der Achtzigerjähre auftauchenden Fragment (SA III, 919), das in der K G W
darum nicht mehr zum Abdruck kommt, weil das Manuskript inzwischen verlorengegan-
gen ist (siehe dazu: Marie-Luise Haase und Jörg Salaquarda, Konkordanz, Der Wille zur
Macht: Nachlass in chronologischer O r d n u n g der kritischen Gesamtausgabe, in:
Nietzsche-Studien 9/1980, S. 446—490, hier: S. 447, es handelt sich um den Aphorismus
1061 der Nachlaßkompilation „ D e r Wille zur Macht") bemerkt Nietzsche genau in diesem
Sinne: „Die beiden extremsten Denkweisen — die mechanistische und die platonische —
kommen überein in der ewigen Wiederkunft: beide als Ideale." Die mechanistische
Denkweise — die Nietzsche unbeschadet ihres Wertes f ü r den täglichen Gebrauch (vgl.
Anm. 87) als „Tölpelei" bezeichnet (JGB 21, 6 / 2 , 29 f., hier: S. 29), weil sie „die
ursächliche K r a f t " , den Willen zur Macht, ,nicht berührt' (Frühjahr 1888, VIII 14 [79],
8 / 3 , 49—51, hier: S. 51) — nämlich in der Hinsicht, daß die von ihr entworfene Welt „eine
essentiell s i n n l o s e Welt w ä r e " (FW 373, 5 / 2 , 306—308, hier: S. 308), die platonische
Denkweise aber in der Hinsicht, daß von ihr die Sinnhaftigkeit der Welt verbürgt wird.
Im folgenden wollen wir auf einige Aspekte des Wiederkunft-Gedankens näher
eingehen, um so zum einen die in Anm. 259 aufgeworfene Frage weiterzutreiben, in
welcher Weise Nietzsches Denken dem metaphysischen Entwurf des Seins als beständiger
Anwesenheit folgt — wir erinnern an unsere Behauptung, daß Nietzsche aus dem Geist des
Dionysischen heraus denkt, als welchem an sich selbst, d. h. in seiner tiefsten uns
zugänglichen Schicht, die Beständigkeit fehlt, weswegen Heidegger nicht nur zu diesem,
sondern auch zu der von ihm kündenden Musik ein fruchtbarer Zugang versperrt ist —,
und zum anderen unsere Überlegungen zu Nietzsches Gedanken über das Verhältnis von
Wissenschaft, Kunst und Philosophie fortzusetzen. Zunächst aber wollen wir mit Blick auf
sie erneut die Frage nach der Metaphysik aufwerfen, wie Nietzsche sie versteht.
Exkurs
N u r der Glaube an ein Sein eröffnet die Möglichkeit von Sinn — und beides scheint f ü r den
Vollzug des vermutlich sinn-, weil ziellosen Werdens nötig zu sein, wie an dem vom
W e r d e n hervorgebrachten menschlichen Intellekt abgelesen werden kann, der als solcher
Sein und Sinn ,hat', metaphysisch ist, nämlich über das Werden, die φύσις, hinaus zum
Sein und zum Sinn geht und nur darum von Sinnlosigkeit sprechen kann. (Was etwas
anderes ist als das Jenseits das Sinnes, das Nietzsche f ü r die tiefste Schicht der Welt
anzunehmen genötigt ist, wie das in der bereits angeführten Bemerkung [vgl. Anm. 580]
zum Ausdruck kommt, „ o b nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils f ü r uns
unlösbar ist", November 1887—März 1888, VIII 11 [97], 8/2, 287 f., hier: S.288.)
Wenn derweise aber bereits das menschliche Erkenntnisvermögen metaphysischen
Wesens ist, weil es kunstschaffend, nämlich sein- und sinnvorstellend ist — wir verweisen
auf die noch zu bedenkende Aussage der „Geburt der Tragödie", daß die Kunst als die
„eigentlich metaphysische Thätigkeit dieses Lebens" anzusehen sei (GT, Vorwort an
Richard Wagner, 3/1, 20) —, so daß die Metaphysik selber nichts anderes als eine
Verschärfung und Verabsolutierung dieser Tendenz bedeutet, dergestalt, daß sie allein die
zu beständiger Anwesenheit festgestellte Welt f ü r wesentlich und die diese im Grunde
Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 447

tragende, sich durch die Setzung des Seins ermöglichende bestandlose Flucht des Werdens,
das Chaos der Physis, f ü r nichtig erachtet, dann ist diese nur im Abstoß von ihrem
Gegenhalt, dem Sein, her erreichbar. Weswegen zumindest nach Maßgabe dieses
erkenntnistheoretischen Verständnisses eine andere Form der denkerischen Überwindung
der Metaphysik als die einer Umdrehung des philosophischen Blickens und einer
Rückbeziehung des Seins auf das Werden nicht möglich zu sein scheint. (Auch Heidegger
spricht von einer „metaphysisch geprägtefn] Weise des menschlichen Vorstellens"
(Μ. H., Uberwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 66), doch versteht er etwas anderes
darunter als Nietzsche. So erläutert er seinen Satz in „ W e r ist Nietzsches Zarathustra?"
(a. a.O., S. 104) wie folgt: „Wie immer auch der Mensch das Seiende als solches vorstellen
mag, er stellt es im Hinblick auf dessen Sein vor. Durch diesen Hinblick geht er über das
Seiende immer schon hinaus und hinüber zum Sein. Hinüber heißt griechisch μετά. D a r u m
ist jedes Verhältnis des Menschen zum Seienden als solchen in sich metaphysisch." Für
Nietzsche äußert sich der metaphysische Charakter des menschlichen Vorstellens darin,
daß es das Werden zum Sein vor-stellt und dieses dann als Seiendes in die Unverborgenheit
her-stellt, f ü r Heidegger hingegen, f ü r den es Seiendes fraglos „gibt" —
erkenntnistheoretische Fragestellungen läßt er als der Metaphysik verhaftet hinter sich —,
bezeugt sich das metaphysische Wesen des Erkenntnisvermögens in dessen „Uberstieg"
vom Seienden zum Sein, wodurch allein uns Seiendes soll begegnen können. Kann darum
nach Nietzsches Ansicht der aus der Metaphysik herausführende Schritt nur in der
U m k e h r u n g des Blickes vom Seienden zum Werden beschlossen liegen, so in der
Heideggerschen Perspektive ausschließlich in der aus der Einsicht in die ontologische
Differenz von Seiendsein und Sein als solchem gestellten — auch das Nietzschesche
Werden, insofern dieses nicht nichts ist, umgreifenden — Seinsfrage.)
Daß sich, worauf wir bereits auf S. 36 f. hingewiesen haben, das Werden allein im
Gegenhalt zum Sein und somit das Physische allein in der Abstoßung vom Metaphysischen
denken läßt, bemerkt Nietzsche mit größter Deutlichkeit in der nachfolgenden
Aufzeichnung aus der Zeit kurz nach dem Aufkommen des Wiederkunft-Gedankens
(Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [162], 5 / 2 , 401 f.): „ D a m i t es irgend einen Grad von
Bewußtsein in der Welt geben könne, mußte eine unwirkliche Welt des Irrthums —
entstehen: Wesen mit dem Glauben an Beharrendes an Individuen usw. Erst nachdem eine
imaginäre Gegenwelt im Widerspruch zum absoluten Flusse entstanden war, konnte a u f
d i e s e r G r u n d l a g e etwas e r k a n n t w e r d e n — ja zuletzt kann der Grundirrthum
eingesehn werden worauf alles beruht (weil sich Gegensätze d e n k e n lassen) — doch
kann dieser Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit
vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht, unsere O r g a n e (zum
L e b e n ) sind auf den Irrthum eingerichtet. So entsteht im Weisen der W i d e r s p r u c h
d e s L e b e n s und seiner letzten Entscheidungen; sein T r i e b zur Erkenntniß hat den
Glauben an den Irrthum und das Leben darin zur Voraussetzung.//Leben ist die
Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im tiefsten Grunde
Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres ! / / W i r müssen das Irren
lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als die Pflege des
Wahnes — unser C u l t u s . / / U m des Erkennens willen das Leben lieben und fördern, um des
Lebens willen das Irren W ä h n e n lieben und fördern. Dem Dasein eine ästhetische
Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m m e h r e n , ist Grundbedingung aller
Leidenschaft der E r k e n n t n i ß . / / S o entdecken wir auch hier eine Nacht und einen T a g als
Lebensbedingung f ü r u n s : Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und Fluth.
Herrscht e i n e s absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und z u g l e i c h d i e
Fähigkeit."
Wir haben diese Aufzeichnung ungekürzt wiedergegeben, weil von ihr her die
Bedeutung deutlich werden dürfte, die der Gedanke der ewigen Wiederkunft f ü r
Nietzsches Philosophie hat.
Der Satz: „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g
nicht" meint, daß diese als die tiefste uns zugängliche Scheinbarkeit von den jeweiligen
448 Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Willen zur Macht nicht mehr übermächtigt, d. h. anverwandelt werden kann, weil sie sich
jeder sichernden Fest-stellung entzieht — etwas übermächtigen aber heißt, etwas in seiner
Machtsphäre so zum Stehen zu bringen, daß es die Basis f ü r weitere Ausgriffe abgeben
kann. Mit Heidegger gesprochen besagt das: „die Lehre vom ewigen Fließen aller Dinge im
Sinne der durchgängigen Bestandlosigkeit kann nicht mehr f ü r wahr gehalten werden; in
ihr kann sich der Mensch nicht als in einem Wahren halten, weil er sonst dem endlosen
Wechsel und Unbestand und der völligen Zerstörung preisgegeben ist, weil dann ein Festes
und damit Wahres unmöglich bleibt." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 407)
Heidegger ist nun der Ansicht, daß Nietzsche jene „Grundstellung zum Seienden im
Ganzen als einem ewigen Flusse" (ebd.) wohl bis zum Aufkommen des Gedankens der
ewigen Wiederkunft des Gleichen eingenommen, durch diesen aber überwunden hat. Er
verweist dabei auf jene Aufzeichnung aus der Zarathustra-Zeit (November 1882—Februar
1883, VII 5 [1] 160, 7 / 1 , 209): „Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluß
fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluß, als die
Gleichen." Was Heidegger so interpretiert: „Dieses W o r t ist eine bewußte Gegenwendung
gegen einen Gedanken, der in der griechischen Philosophie im Anschluß an Heraklit, d. h.
an eine bestimmte Deutung seiner Lehre, ausgesprochen wurde. Danach können wir
wegen des ständigen Fort- und Wegfließens des Flusses [Ν. B.: auch diese W e n d u n g zeigt,
daß wir das Werden nur im Gegenhalt des Seins denken können, T h . B.] niemals in
denselben Fluß steigen. Nietzsches Lehre bezeichnet sich dagegen als ,Erlösung vom
ewigen Flusse'. Das besagt nicht: Beseitigung des Werdens und Erstarrung, sondern
Befreiung von dem bloßen endlosen ,Immer so weiter'. Das Werden wird als Werden
erhalten, und doch wird in das Werden die Beständigkeit, d. h. griechisch verstanden, das
Sein, gelegt." (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 408)
Damit wird aber deutlich, warum Heidegger die Konzeption der ewigen Wiederkunft
als Nietzsches zentralen Gedanken herausstellen und den von ihm geprägten Bereich seiner
Philosophie als Nietzsches eigentliches Denken bezeichnen muß: N u r weil er in ihm die
Wiederaufnahme der wesentlichen Grundstellungen des anfänglichen Denkens findet,
kann er Nietzsches Spätphilosophie als das Ende der Geschichte der Metaphysik ausgeben.
Zu diesem Zwecke muß er aber behaupten, daß „die Kennzeichnung des Seienden als
Wille zur Macht nur die Ausfaltung des ursprünglichen und vorgängigen Entwurfes des
Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen" (ebd., S. 427) darstellt. Wir wollen uns hier
nicht auf die Frage nach der Chronologie beider Gedanken einlassen — der Befund eines
ersten Blickes auf die Textlage spricht gegen Heideggers Behauptung —, auch nicht auf
den jene Behauptung stützenden Gedanken Heideggers, daß ewige Wiederkunft und Wille
zur Macht zueinander im Verhältnis von existentia und essentia stehen — schon Wolfgang
Müller-Lauter hat hiergegen Einwände erhoben (in: Nietzsches Lehre vom Willen zur
Macht, a. a. O., S. 23, Anm. 68) —, vielmehr wollen wir aufzeigen, daß Heidegger selber 2
Jahre nach seiner letzten Nietzsche-Vorlesung dieser Deutung widersprochen hat und sich
dabei Nietzsches eigener Auslegung annähert, wonach der Wille zur Macht als
Voraussetzung f ü r die ewige Wiederkunft des Gleichen anzusetzen ist — was Heidegger
vordem als von nur begrenzter, leicht irreführender Bedeutung abqualifiziert hatte
(Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 424 ff.). In einer Passage seiner im Sommer—Semester 1943
gehaltenen Vorlesung über Heraklit, „ D e r Anfang des abendländischen Denkens"
(a. a. O., S. 104 f.), bemerkt Heidegger, nachdem von ihm aufgewiesen worden ist, daß sich
schon im Beginn des Denkens, eben bei Heraklit, „die Wesensnähe von ,Leben' und ,Sein'
gezeigt hat": „Zuletzt hat Nietzsche die Gleichsetzung von ,Sein' und ,Leben'
ausgesprochen, und zwar in dem Sinne, daß das ,Leben' als ,Wille zur Macht' erfahren und
begriffen ist. Damit wird dem W o r t ,Sein' die Rolle des Grundwortes der Philosophie
genommen. ,Sein' bleibt die Bezeichnung dessen, was ,Beständigkeit' meint. Diese wird
allerdings im Sinne der neuzeitlichen Metaphysik als .Sicherheit' und ,Sicherung' gedacht.
Allein die Bestandsicherung, also ,das Sein', ist nicht der Wille zur Macht selbst, ist nicht
,das Leben' selbst, sondern nur eine vom Leben selbst gesetzte Bedingung seiner selbst. Der
Wille zur Macht kann nur wollen, was er allein will und wollen muß, nämlich ,mehr
Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 449

Macht', also Machtsteigerung, wenn jeweils die erreichte Machtstufe gesichert ist, von der
aus und über die hinaus der nächste Schritt sich vollzieht. Das jeweils Gesicherte, das
Seiende, und die jeweilige Sicherung, das Sein, bleiben, innerhalb der Perspektive des
Willens zur Macht gesehen, das stets nur Vorübergehende, was nur ,ist', um überwunden
zu werden, was daher notwendig verdunsten muß im Feuer des Willens zur Macht.
Allerdings muß im höchsten Denken dieser Metaphysik doch noch die Erinnerung an das
Sein eingestanden werden; denn wenn der Wille zur Macht als die Wirklichkeit des
Wirklichen erscheint und als diese bestimmend bleiben soll, dann muß das ,Leben', d. h. das
ständige Werden, in den Grundzug des Seins eingehen und eben dieses .Werden', der Wille
zur Macht, selbst als das Sein gewollt werden. In der Tat, Nietzsches Denken ist im
Umkreis der Metaphysik des Willens zur Macht radikal genug, um auch dieses äußerste
Zugeständnis an das Sein einzugestehen. Am Beginn einer längeren Aufzeichnung, die
beschrieben ist: ,Recapitulation', sagt Nietzsche: ,Dem Werden den Charakter des Seins
aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht.' [ . . . ] Der höchste Wille zur Macht ist,
das Werden zu wollen, dieses aber als Sein zu stabilisieren."
Wenn somit das Leben sich selbst als das chaotische und bestandlose Werden, als das es
geschieht, niemals ergreifen kann, weil jeder Versuch eines Zugriffes ein Sein fest-stellt,
ohne eine solche Fest-stellung hinwiederum gar nichts er- und d. h. begriffen werden kann,
dann folgt daraus, wie wiederholt hervorgehoben, daß das Werden nur im Widerhalt des
Seins gedacht werden kann: „Erst nachdem eine imaginäre Gegenwelt im Widerspruch
zum absoluten Flusse entstanden war, konnte a u f d i e s e r G r u n d l a g e etwas e r k a n n t
w e r d e n — ja zuletzt kann der Grundirrthum" — der des Seins — „eingesehn werden
worauf alles beruht (weil sich Gegensätze d e n k e n lassen)", hat Nietzsche ausgeführt,
und man kann verschärfen: weil sich nur Gegensätze denken lassen. Im Abstoß vom Sein
bleibt das Denken mithin an dieses gebunden, weil es dieses selber ist — die vollständige
Ablösung bedeutete die Selbstabschaffung. Nietzsche fährt fort: „doch kann dieser
Irrthum nicht anders als mit dem Leben vernichtet werden: die letzte Wahrheit vom Fluß
der Dinge verträgt die E i n v e r l e i b u n g nicht, unsere O r g a n e (zum L e b e n ) sind auf
den Irrthum eingerichtet." Es ist dem Denken nur die Möglichkeit der Annäherung
gegeben: wohl bleibt jene Selbstaufhebung unaufhebbar — im Gefolge unserer
Darlegungen über den Tod Gottes haben wir Nietzsches Philosophie als das Denken eines
fortwährenden Entzugs charakterisiert —, doch eröffnen sich verschiedene Grade des
Verfehlens; von Stufen der Scheinbarkeit haben wir im Rahmen unserer Ausführungen
über den Wahrheitsbegriff gesprochen. Die größte Annäherung ist aber dort gegeben, wo
die Form des Denkens in der Weise seinen Inhalt ausmacht, daß es Denken im Fluß wird,
wie beispielsweise in der Paradoxie. Indes nähert es sich dort schon gefährlich der
Selbstvernichtung — erinnert sei nur an Heideggers Diktum von der „Auflösung"
(Nietzsche, Bd.2, a . a . O . , S. 185) des Nietzscheschen Denkens (vgl. Anm. 523).
Jedoch ist dieses nur der eine Aspekt der perpetuellen Selbstverfehlung des Lebens.
Denn es muß gesehen werden, daß sich gerade in dieser Selbstverfehlung die Möglichkeit
der Selbstgewinnung auftut, nämlich als beständig sich selbst Verfehlendes (wie sonst
könnte Nietzsche diese Tatsache konstatieren?). Denn die Selbstverfehlung ist es ja selbst,
sie geschieht in ihm — diesen „Wesenszug" aber kann es ergreifen. Ebendavon spricht
Heidegger in der oben zitierten Passage: Der Wille zur Macht kann sich als das bestandlose
Werden, als das er geschieht, nicht denken; sobald er sich denkt, stellt er sich fest, fügt sich
in ein Sein und verfehlt sich so. Gesprochen im Hinblick auf unsere Interpretation der
frühesten Nietzsche-Aufzeichnungen: sein Für-Sich entspricht nicht seinem An-Sich. Aber
dieses jene Kluft eröffnende Vorstellungsgeschehen ist er selbst, es macht sein
„Wesens"geschehnis aus, das ihm nicht etwa nur gelegentlich zugänglich ist, sondern als
das er sich beständig ergreifen muß: Die Rede von der Notwendigkeit des Verfehlens hat
neben der fatalistischen auch eine Imperativische Bedeutung — wie die Lehre von der
ewigen Wiederkehr des Gleichen. So deutet sich bereits an, daß die Lehre vom Willen zur
Macht in der Tat die Grundlehre der Nietzscheschen Spätphilosophie darstellt, aus der
450 Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

deren sämtliche inhaltlichen und formalen Aspekte — die bei Nietzsche überdies weniger
noch als bei anderen zu trennen sind — abgeleitet werden können.
D e r Wille zur Macht als das Quale des Lebens darf sich somit, wenn er sich als der
denken will, der er ist, nicht, wie das im reinen Dionysismus geschieht, in der
Bestimmungslosigkeit fortreißender Bestandlosigkeit belassen, sondern hat sich in einer
Gedankenform festzustellen, in der er sich ergreifen kann. Auf der anderen Seite darf er
sich doch auch wiederum nicht — wie dies das Kennzeichen der sokratischen Lebensform
darstellt — in ihr stillstellen. Vielmehr hat er sie in dem Bewußtsein, daß sie eine
denkerische Verfehlung seiner selbst darstellt, deren Grad überdies immer mehr zunimmt,
je länger sie währt, baldmöglichst hinter sich zu lassen, um sich aufs neue zu bestimmen.
Das vom Willen zur Macht Gefaßte bleibt in seiner Perspektive, mit Heidegger zu reden,
„das stets nur Vorübergehende, was nur ,ist', um überwunden zu werden, was daher
notwendig verdunsten muß im Feuer des Willens zur Macht."
Alles dies denkt Nietzsche im „Willen zur Macht" als seiner Auslegung des
Grundgeschehens der Welt, das f ü r ihn ein Auslegungsgeschehen in der Form eines — wie
wir meinen: metaphysikgeschichtlich begründeten — Verbergungs- oder Entzugsgesche-
hens darstellt. Das aber bedeutet, daß sich im Gedanken des Willens zur Macht dieser
selber interpretiert, indem er sich eine bestimmte Form gibt, die er ergreift. Weil diese aber
zwangsläufig seinsmäßiger Art ist, verfehlt er in ihr seine .unfaßbare flüssige
Proteus-Natur' (August—September 1885, VII 40 [53], 7 / 3 , 386), die zu bestimmen er
immer neue, wenn möglich machtvollere, gleichwohl immer vergebliche Interpretations-
versuche unternehmen muß: Eben weil sich in Nietzsches Auslegung des „Willens zur
M a c h t " dieser selber auslegt, müssen alle ihre Aussagen auf sich selbst hin gelesen werden
— wir sagten an anderer Stelle bereits, daß bei Nietzsche das Denken f ü r sich selbst
einstehen muß. Das heißt aber, mit Heidegger zu reden, der indes die Reflexivität der
Nietzscheschen Aussagen vollkommen zu übersehen scheint: das gedankliche Sein des
Willens zur Macht „ist nicht der Wille zur Macht selbst, ist nicht ,das Leben' selbst, sondern
nur eine vom Leben selbst gesetzte Bedingung seiner selbst", woraus sich ergibt, daß der
Wille zur Macht über diesen Gedanken seiner selbst als „Wille zur Macht" hinausgehen
muß, wenn er das bleiben will, was er ist — Werden, das sich heute im gedanklichen Sein
des Willens zur Macht ergriffen und befördert hat, morgen aber — gesprochen aus der
Bestimmung des Heute — sich noch mächtiger herausstellen und vollziehen wird. Die
„Richtigkeit" der Nietzscheschen Lehre beweist sich somit dadurch, daß man ihrem Aufruf
Folge leistet und sie als „irrig" überwindet, d. h. dadurch, daß sie das Werden in
fruchtbarerer Weise befördert als jede ihr vorangehende Lehre. Das gilt auch f ü r den
Gedanken der ewigen Wiederkunft, der erst dann wiederkehren könnte, wenn er
überwunden ist: „ D a s Leben selber schuf diesen f ü r das Leben schwersten Gedanken, es
will über sein höchstes Hindernis h i n w e g ! " , zeichnet Nietzsche auf (GA XII, 369,
Nr. 720). Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß von Nietzsche die Grundstellung
zum Seienden im Ganzen als einem ewigen Flusse völlig aufgegeben worden ist (dagegen
spricht schon die mehrfach zitierte Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881 — sie ist
mithin n a c h dem Aufkommen des Widerkunftsgedankens entstanden —, in der
Nietzsche den „muthmaaßlichen a b s o l u t e n F l u ß d e s G e s c h e h e n s " bedenkt (V 11
[293], 5 / 2 , 452): Für die tiefste uns zugängliche Schicht gilt diese Auslegung weiterhin,
auch in Nietzsches eigener Philosophie gibt es, wir haben bereits darauf hingewiesen,
verschiedene Stufen der Scheinbarkeit. Behält man dies im Auge, kann man ebenfalls
Heidegger recht geben, wenn er im Hinblick auf beide Grundgedanken der
Nietzscheschen Spätphilosophie bemerkt: „ D e r höchste Wille zur Macht ist, das Werden
zu wollen, dieses aber als Sein zu stabilisieren."
Er hat bei dieser Formulierung eine Passage aus einer von Ende 1886—Frühjahr 1887
stammenden Aufzeichnung im Auge (VIII 7 [54], 8 / 1 , 320—321, hier: S. 320), die er im
Zusammenhang seiner zahlreichen Auslegungen der Wiederkunftslehre immer wieder
heranzieht. Es dürfte nicht ganz unwichtig sein, vorab zu bemerken, daß der Titel, unter
dem diese Aufzeichnung sowohl in der Nachlaßkompilation „ D e r Wille zur Macht" als
Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 451

auch noch in der Schlechtaschen Edition des Nachlasses der Achtzigerjahre erscheint, von
den Herausgebern der K G W als nachträgliche H i n z u f ü g u n g von Peter Gast erkannt
worden und darum in ihrer Ausgabe nicht mehr zum Abdruck gekommen ist, hat doch
Heidegger aus dieser Überschrift „Recapitulation" geschlossen, daß Nietzsche hier eine
„Zusammennähme des Hauptsächlichsten seiner Philosophie in wenige Sätze" (Nietzsche,
Bd. 1, a . a . O . , S.466) versuche — eine Auszeichnung im Strom der Nietzscheschen
Gedanken, die dieser Aufzeichnung, zumindest was den Titel angeht, nun nicht mehr
zugesprochen werden kann. Die Passage lautet: „ D e m Werden den Charakter des Seins
a u f z u p r ä g e n — das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . I I Ζ w i e f a c h e
F ä l s c h u n g , von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu
erhalten, des Verharrenden, Gleichwerthigen u s w . / / D a ß A l l e s w i e d e r k e h r t , ist die
extremste A n n ä h e r u n g e i n e r W e l t d e s W e r d e n s a n d i e d e s S e i n s : G i p f e l
der Betrachtung."
Wenn Nietzsche die ewige Wiederkehr als ,die extremste Annäherung einer Welt des
Werdens an die des Seins' bezeichnet, dann bringt er damit zum Ausdruck, daß es in diesem
Gedanken nicht darum geht, die Unbeständigkeit des Werdens, das meint die
Bestandlosigkeit von Entstehen und Vergehen, durch die Beständigkeit des Seins zu
beseitigen und zu ersetzen, vielmehr darum, „das Werden so zum Seienden [zu] gestalten,
daß es als Werdendes erhalten bleibt und Bestand hat, d. h. ist." (Martin Heidegger,
Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 466) So zwar, daß das nur einen verhältnismäßigen Bestand
habende Gleiche sich durch seine Wiederkehr beständigt. Wie Heidegger sagt: „Die ewige
Wiederkehr ist die beständigste Beständigung des Bestandlosen." (Nietzsche, Bd. 2,
a. a. O., S. 287) Beständigung des bestandlosen Werdens ist aber die Grundbedingung f ü r
den Vollzug des Willens zur Macht, bedarf doch dieser allererst der Bestandsicherung, ehe
er sich übersteigen kann, indem er auf andere Willen zur Macht ausgreift. Aber nur dort,
w o sich die Bestandsicherung nicht in sich verschließt und d. h. Selbstzweck wird, machtet
der Wille zur Macht in seiner höchsten Kraft, nur dort also, w o das festgestellte Sein auf
das Werden bezogen bleibt, wo das Apollinische der Form dem Widerstreit des
dionysischen Chaos ausgesetzt bleibt (wir erinnern in diesem Zusammenhang an unsere
Ausführungen über den großen Stil, s. Anm. 259) und schließlich in dieses freigegeben wird
— wie dies im Gedanken der ewigen Wiederkunft der Fall ist, in dem somit das
Wesensgesetz des Willens zur Macht auf das reinste zur Geltung kommt. Anders als
Heidegger glaubte annehmen zu müssen — aus „systematischen" Gründen —, erweist sich
somit nicht der Entwurf der ewigen Wiederkehr, sondern derjenige des Willens zur Macht
als primär und damit als der Grundgedanke der Nietzscheschen Spätphilosophie.
D a ß der Gedanke der ewigen Wiederkehr Äußerung des höchsten Willens zur Macht
ist, läßt sich aber noch anders begründen. Ein jeder Wille zur Macht bedarf, wie es in einer
Aufzeichnung vom Frühjahr 1888 heißt (VIII 14 [122], 8/3, 93 f., hier: S. 94), zu seinem
Erhalt und d. h. zur Mehrung seiner Macht einer „Conception der Realität", welche „so
viel Berechenbares und Gleichbleibendes" erfaßt, „ d a ß darauf hin ein Schema ihres
Verhaltens construirt werden kann." Denn beim Menschen handele es sich um eine
„Thierart, welche nur unter einer gewissen relativen R i c h t i g k e i t , vor allem
R e g e l m ä ß i g k e i t ihrer Wahrnehmungen (so daß sie Erfahrung capitalisiren kann)
gedeiht". Grundsätzlich aber hängt, wie Nietzsche weiter ausführt, „das M a ß des
Erkennenwollens [ . . . ] ab von dem Maß des Wachsens des W i l l e n s z u r M a c h t der
Art: eine Art ergreift so viel Realität, u m ü b e r s i e H e r r z u w e r d e n , u m s i e in
D i e n s t z u n e h m e n . " Und mit Nietzsche sucht sie das Werden in seiner Gänze zu
ergreifen.
D a ß diesem Bestreben eine Täuschung auf dem Fuße folgt, ist Nietzsche von
vornherein klar — ist doch jede Einheitsvorstellung in seinen Augen, wie erinnerlich, ein
höherer Schein: Auch im Gedanken der ewigen Wiederkunft hat, wie Nietzsche betont,
eine „ z w i e f a c h e F ä l s c h u n g " statt, „von den Sinnen her und vom Geiste her".
Uber diesen Passus geht Heidegger in der Regel hinweg, nur ein einziges Mal kommt er
auf ihn zu sprechen (Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 288): „Auf der H ö h e seines Denkens muß
452 Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Nietzsche dem Grundzug dieses Denkens ins Äußerste folgen und die Welt hinsichtlich
ihres Seins bestimmen. So entwirft und fügt er die Wahrheit des Seienden im Sinne der
Metaphysik. Aber zugleich wird auf dem ,Gipfel der Betrachtung' gesagt, um eine Welt des
Seienden, d. h. des beharrend Anwesenden zu erhalten, sei eine zwiefache Fälschung'nötig.
Die Sinne geben in den Eindrücken ein Festgemachtes. D e r Geist stellt, indem er vor-stellt,
Gegenständliches fest. Jedesmal geschieht ein je verschiedenes Festmachen des sonst
Bewegten und Werdenden. Dann wäre also der ,höchste Wille zur Macht' als solche
Beständigung des Werdens eine Verfälschung. Auf dem ,Gipfel der Betrachtung', wo die
Wahrheit über das Seiende als solches im Ganzen sich entscheidet, müßten ein Falsches
und ein Schein errichtet werden. So wäre die Wahrheit ein I r r t u m . / / I n der Tat. Die
Wahrheit ist sogar f ü r Nietzsche wesenhaft Irrtum [ . . . ]". Es ist dies mithin auch eine der
wenigen Stellen, wo Heidegger dem Grundzug des Nietzscheschen Denkens über die
Wahrheit folgt — doch auch sie bleibt f ü r sein eigenes Denken folgenlos. Wie nämlich
verträgt sich die Erkenntnis, daß Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft f ü r
eine Fälschung gehalten hat, mit der seinsgeschichtlich begründeten Behauptung
Heideggers, Nietzsche habe mit dem Gedanken der ewigen Wiederkunft „die Lehre vom
ewigen Fluß der Dinge [ . . . ] überwunden" (Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 407) und d. h.
hinter sich gelassen? Kann Nietzsche diesen Gedanken denn nicht nur darum als Fälschung
ansehen, weil in seinen Augen das bestandlose Werden weiterhin die tiefste uns
zugängliche Scheinbarkeit darstellt?
So bleibt Nietzsches Denken auch fürderhin der Bestandlosigkeit verpflichtet — sein
Ursprung ist immer noch der Geist der Musik, die von allen Künsten das Werden am
reinsten darzustellen befähigt ist, woraus sich erklärt, warum ihr Nietzsche einen so hohen
Rang zuspricht. Daß er sie den anderen Künsten nachgeordnet habe, dieser auf das Ganze
gesehen irrigen Meinung konnte Heidegger nur im Hinblick auf Nietzsches Gedanken der
ewigen Wiederkunft anhängen, in dem in der T a t die anfängliche metaphysische
Auslegung des Seins als beständige Anwesenheit wiederkehrt.
Doch Nietzsches Denken hat, wenn man so will, zwei Aspekte: Zum einen geht sein
Bestreben dahin, das reine Werden zu ergreifen. Aus dem Verfehlen desselben ergibt sich
als Konsequenz, zum anderen die Notwendigkeit dieses Verfehlens f ü r den Vollzug des
Werdens zu bedenken. Dieses wiederum kann nur dann geschehen, wenn das denkerische
Bemühen weiterhin zugleich auf das reine Werden bezogen bleibt. Anders gesagt: Aus dem
Bestreben, das reine Werden zu denken, geht eine Kluft des Verfehlens hervor, die
denkerisch wohl ergriffen, dabei aber auch offengehalten werden muß. W e n n nämlich das
Denken der ihm einwohnenden Tendenz zum Sein zu folgen hat, dann in der Weise, daß es
schließlich doch im Werden untergehen kann. Dieses aber läßt sich nicht denken, sondern
nur — sofern man sich von den eingewurzelten Vorurteilen der V e r n u n f t zu befreien
vermag — sinnlich erfahren: vom Gehörs- oder auch vom Geruchssinn. Nietzsches
diesbezügliche Ausführungen in der „ G ö t z e n - D ä m m e r u n g " (Die „ V e r n u n f t " in der
Philosophie 3, 6 / 3 , 69 f.) haben wir bereits zitiert: „ — Und was f ü r feine Werkzeuge der
Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein
Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das
delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der
Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute
genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne
a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. D e r
Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie,
Psychologie, Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die
Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar
nicht vor, nicht einmal als Problem". Gleichwohl hat es seinen Sinn, daß dieses Zeugnis der
Sinne verfälscht und denkerisch in ein Sein gefügt wird. Das geschieht auch in jenen
Gedanken Nietzsches, in denen er — wie etwa im Falle der ewigen Wiederkehr — diesem
Zeugnis nachzudenken und gleichzeitig jenen Sinn zu bedenken und damit eine
Selbstrechtfertigung des Denkens zu erdenken sucht. Weil er an der Selbigkeit von Denken
Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 453

und Sein festhält, darum sieht sich Heidegger ausschließlich an diese Gedanken verwiesen
und nicht auch an jene, in denen Nietzsche die Kluft des Verfehlens dadurch überhaupt
erst zu eröffnen bzw. einseitig offenzuhalten sucht, daß er das Denken gegenüber dem
Sinnlichen zurücksetzt. Ebendeshalb kann Heidegger auch Nietzsches daraus
erwachsender Hochschätzung der sinnlichsten aller Künste, der Musik, nicht beipflichten,
die nur vorübergehend — in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " — gegenüber der Tragödie
zurückgesetzt wird, aus Gründen, die wir später ansprechen werden.
Schon früh erkannte Nietzsche, daß die aus dem Zusammenbruch der Metaphysik
hervorgehende, den Lebensvollzug unmittelbar gefährdende Sinnlosigkeit vor allem ein
Problem der Zeit darstellt. Bereits in der 2. Unzeitgemässen Betrachtung spricht er davon,
daß „das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden, an Verknöcherung und Selbstsucht
zu G r u n d e " ( H L 9, 3/1, 315) zu gehen droht, weil es nach dem Ende des metaphysischen
Zeitalters keine überpersönlichen Mächte mehr gibt: Kunst, Religion und Philosophie
haben ihren überhistorischen Charakter verloren. Der eingetretene „ U n g l a u b e a n d a s
, m o n u m e n t u m a e r e p e r e n n i u s ' " bewirkt, „dass das Individuum zu streng seine
kurze Lebenszeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften,
f ü r Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume
pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine
jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von
Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den
Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich
nunmehr alle Z u k u n f t der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der
Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird
ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am
ewigen Heil der Seele." (Vgl. auch: Frühjahr—Herbst 1881, V 11 [172], 5 / 2 , 405) Ist
Nietzsche in diesem 22. Aphorismus von „Menschliches, Allzumenschliches" (4/2, 39 f.,
hier: S. 39) noch der Ansicht, daß einst auch die Wissenschaft solchen Glauben an ihre
Resultate erwecken und so unser gegenwärtiges ,,aufgeregte[s] Ephemeren-Dasein" (ebd.)
beenden kann, so kehrt er doch schließlich zu seiner früheren Einsicht zurück, daß das
„rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, ihre Auflösung in ein
immer fliessendes und zerfliessendes Werden, das unermüdliche Zerspinnen und
Historisiren alles Gewordenen durch den modernen Menschen" ( H L 9, 3 / 1 , 309) das
unaufhebbare Grundgeschehen der Wissenschaft ausmacht: Eben weil der Zweck der
Wissenschaft die Weltvernichtung ist, bedarf sie der Bändigung durch die ihr
widerstreitende Kunst:
„Leben ist die Bedingung des Erkennens. Irren die Bedingung des Lebens und zwar im
tiefsten Grunde Irren. Wissen um das Irren hebt es nicht auf! Das ist nichts Bitteres!//Wir
müssen das Irren lieben und pflegen, es ist der Mutterschooß des Erkennens. Die Kunst als
die Pflege des Wahnes — unser C u l t u s . / / U m des Erkennens willen das Leben lieben und
fördern, um des Lebens willen das Irren Wähnen lieben und fördern. Dem Dasein eine
ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m m e h r e n , ist
Grundbedingung aller Leidenschaft der Erkenntniß. / / S o entdecken wir auch hier eine
Nacht und einen T a g als Lebensbedingung f ü r u n s [vgl. zu dieser denkerischen Figur
auch unsere Ausführungen auf S. 56]: Erkennen-wollen und Irren-wollen sind Ebbe und
Fluth. Herrscht e i n e s absolut, so geht der Mensch zu Grunde; und z u g l e i c h d i e
F ä h i g k e i t . " Das alles zersplitternde Wesen der Wissenschaft bedarf der Bändigung
durch die ganzheitlichen Bilder der Kunst, wie umgekehrt diese auch wieder durch
wissenschaftliche Analyse zersetzt werden müssen — wir haben bereits aufgewiesen, daß
und wie sich Nietzsche zufolge das Leben im Widerstreit beider Mächte vollziehen muß,
wenn es gesund bleiben will. In der Gegenwart ist es indes erkrankt, wozu, wie Nietzsche
selber sagt, in nicht unerheblichem Maße sein eigener wissenschaftlich abgesicherter (siehe
Seite 46 ff.) Grundgedanke des,immer fliessenden und zerfliessenden Werdens' beigetragen
hat. (Vgl. dazu, was Nietzsche in H L 1, 3 / 1 , 246, anmerkt: „ D e n k t euch das äusserste
Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt
454 Anmerkung 819 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

wäre, überall ein Werden zu sehen: ein Solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein,
glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert
sich in diesem Strome des Werdens: er wird wie der rechte Schüler Heraklits zuletzt kaum
mehr wagen den Finger zu heben.") „Ars longa, vita et scientia breves" — gemäß diesem
Spruch soll nun die Kunst die fatalen Folgen abwenden, die jener Gedanke f ü r das
Zeitempfinden und damit f ü r das Lebensverhalten der Menschen nach sich zieht. Dies
geschieht im Gedanken der ewigen Wiederkunft, so zwar, daß in ihm Wissenschaft und
Kunst in der Form der mechanistischen und platonischen Denkweise zu einem Ausgleich
kommen, nämlich einander widerstreitend sich in ihre höchsten Möglichkeiten treiben: In
reinster Form ist in jener Lehre Nietzsches denkerische Grundfigur des Streites verkörpert,
so daß man vielleicht in dieser Hinsicht den Wiederkunftsgedanken als den
Grundgedanken der Nietzscheschen Spätphilosophie bezeichnen kann.
Unmittelbar nach dem Aufkommen dieses Gedankens, im Frühjahr—Herbst 1881,
notiert sich Nietzsche (V 11 [159], 5 / 2 , 401): „ D r ü c k e n wird das Abbild der Ewigkeit auf
u n s e r Leben! Dieser Gedanke enthält mehr als alle Religionen, welche dies Leben als ein
flüchtiges verachten und nach einem unbestimmten a n d e r e n Leben hinblicken lehrten."
Das will sagen: Verhalten wir uns in der Weise künstlerisch, nämlich schaffend zum in uns
leibenden Leben, daß wir ihm den Charakter der Ewigkeit aufprägen, es zum währenden
Sein umprägen und d. h. das bestandlose Chaos in eine beständige Form fügen, doch so,
daß das Werden in dieser Einverleibung erhalten bleibt — kurze Zeit nach der ersten
Aufzeichnung des Wiederkunftsgedankens bemerkt Nietzsche: „ W i r wollen ein
Kunstwerk immer wieder erleben! So soll man sein Leben gestalten, daß man vor seinen
einzelnen Theilen denselben Wunsch hat! Dies der H a u p t g e d a n k e ! " (Frühjahr—Herbst
1881, V 11 [165], 5/2, 403) W e n n wir aber unser Leben so leben, daß wir es jederzeit
wieder wollen können, bekommt es das Schwergewicht zurück, das es mit dem Vergehen
der Metaphysik verloren hat. Denn dann eröffnet sich mitten in der Zeit sinnvolle Ewigkeit
— ,,[u]nd gerade nur so viel ist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als es
auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag", heißt es schon in der
„ G e b u r t der T r a g ö d i e " (23, 3 / 1 , 144) programmatisch —, so daß das Leben nicht mehr
wie in den überkommenen Religionen und metaphysischen Systemen dadurch nichtig
gesetzt wird, daß die Ewigkeit jenseits der Zeit angesiedelt ist. Indes muß gesehen werden,
daß Nietzsches Gedanke jenen metaphysischen Ansatz in mehrfacher Weise beerbt. Zum
einen darin, daß er — worauf Heidegger und Fink hingewiesen haben — „noch an der
antiken Grundvorstellung vom Sein als dem Ständigen festhält" (Eugen Fink, Nietzsches
Philosophie, a. a. O., S. 101), des weiteren darin, daß in ihm — auch darauf hat Heidegger,
wie gesehen, aufmerksam gemacht — in höchst vergeistigter Form der metaphysische Geist
der Rache, nämlich „des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war' ", fortlebt (vgl.
dagegen: Wolfgang Müller-Lauter, Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu
Heideggers später Nietzsche-Interpretation, a. a. O., hier vor allem: S. 104 f.), und daß er
schließlich, was damit zusammenhängt, den Charakter einer religionsmäßigen Lehre
beansprucht: Als das größte Schwergewicht wird der Wiederkunftsgedanke nichts anderes
sein als die „Religion der Religionen" (GA 12, 415; vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter,
Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 143). So daß sich erneut die
,,[i]nnerste Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n und der R e l i g i o n s s t i f t e r " bezeugt
und Nietzsches eigene Skepsis sich als unbegründet erweisen könnte, daß es nach der
„Kritik der reinen V e r n u n f t " „ u n w a h r s c h e i n l i c h " sei, „ d a ß einer f ü r sein in das
Vacuum hineingestelltes mythisches Gebäude G l a u b e n e r w e c k t , d . h . daß er einem
außerordentlichen Bedürfnisse entspricht." (Siehe dazu: S. 151)
Als ein Bild vom Ganzen der Welt ist dieser Gedanke im Sinne der „Geburt der
T r a g ö d i e " ein Mythos, der „eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab[schliesst]", indem
er ihren H o r i z o n t umstellt, ein Mythos, der der Kultur der Gegenwart ihre
verlorengegangene „ g e s u n d e f . . . ] schöpferische[... ] N a t u r k r a f t " wiedergeben soll
( G T 2 3 , 3 / 1 , 141). Mythos aber ist er ein neuer Glaube: „seine nächste Wirkung ist ein
Ersatz f ü r den Unsterblichkeitsglauben: er mehrt den guten Willen zum Leben?", gibt
Anmerkungen 819 bis 828 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 455

Nietzsche im Herbst 1883 zu bedenken (VII 16 [63], 7 / 1 , 546 f., hier: S. 547). Derweise
wäre er eine Lebensnotwendigkeit — vorläufig zumindest, denn Nietzsche weiß: „es kann
ein Glaube Lebensbedingung und t r o t z d e m f a l s c h sein." (Juni—Juli 1885, VII 38 [3],
7 / 3 , 325 f., hier: S. 326) Vorderhand aber stellt er auch wissenschaftlich gesehen eine
Denknotwendigkeit dar, woraus sich das Pathos der Gewißheit erklärt, mit dem Nietzsche
diesen Gedanken vorträgt: „Meine Lehre sagt: s o leben, daß du w ü n s c h e n mußt,
wieder zu leben ist die Aufgabe — du wirst es j e d e n f a l l s ! " (Frühjahr—Herbst 1881, V
11 [163], 5 / 2 , 402 f., hier: S. 403). Und nur weil er wissenschaftlich abgesichert ist, kann
ihm Nietzsche den Glaubenscharakter zubilligen, ist doch jeder Glaube f ü r ihn „ein
F ü r - w a h r - h a l t e n " (Herbst 1887, VIII 9 [41], 8/2, 18). So sieht Nietzsche den
Wiederkunftsgedanken im doppelten Sinne als einen Glauben an: zum einen in dem
überkommenen religiösen Sinne, zum anderen in dem speziellen Sinne seines eigenen
Wahrheitsbegriffes. Dieser aber stellt jenen Gedanken in einen Raum des Zweifels:
„Vielleicht ist er nicht wahr: — mögen Andere mit ihm ringen!", schließt Nietzsche die
schon zitierte Aufzeichnung vom Herbst 1883. Von diesem Wahrheitsbegriff her gesehen
kann dem Gedanken, wie wir wissen, bestenfalls der Charakter der Wahrscheinlichkeit
oder Möglichkeit zugesprochen werden. D o c h : „ W e n n die Kreis-Wiederholung auch nur
eine Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit ist, auch der G e d a n k e e i n e r M ö g l i c h k e i t
kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte
Erwartungen! Wie hat die M ö g l i c h k e i t der ewigen Verdammniß gewirkt!", so
Nietzsche schon kurz nach der ersten Vision dieses Gedankens im Frühjahr—Herbst 1881
(V 11 [204], 5/2, 421 f.).
In bezug auf die tiefste uns zugängliche Schicht des reinen Werdens bedeutet dieser
Gedanke indes noch weniger, nämlich nicht mehr als einen Irrtum. In bezug auf sie ist
„ j e d e r Glaube, jedes Für-wahr-halten nothwendig falsch", weil es von ihr her gesehen
„ e i n e w a h r e W e l t g a r n i c h t g i e b t " . Auch dieser Gedanke ist „ein
p e r s p e k t i v i s c h e r S c h e i n , dessen H e r k u n f t in uns liegt (insofern wir eine engere,
verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h i g h a b e n ) " (Herbst 1887, VIII 9 [41],
8/2, 18). Er ist somit ein Irrtum im Dienst des Lebens und damit auch im Dienst des
Erkennens und zwar ein solcher, mit dem wir, wie Nietzsche hofft, auf das Ganze gesehen
,,[d]em Dasein eine ästhetische Bedeutung geben, u n s e r e n G e s c h m a c k a n i h m
mehren".
820
H L 6, 3 / 1 , 286.
821
H L 6, 3 / 1 , 290: „Also: Geschichte schreibt der Erfahrene und Ueberlegene. W e r nicht
Einiges grösser und höher erlebt hat als Alle, wird auch nichts Grosses und H o h e s aus der
Vergangenheit zu deuten wissen.", ist eine euphemistische Beschreibung dieses
Sachverhaltes.
822
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [123], 3/4, 47.
823
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3/4, 47.
824
G T 24, 3 / 1 , 147.
825
G T , V o r w o r t an Richard Wagner, 3 / 1 , 20.
826
September 1870—Januar 1871, III 5 [32], 3 / 3 , 105.
827
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [50], 3 / 4 , 23 f., hier: S. 23. Vgl. auch die nachfolgende
Aufzeichnung vom September 1870—Januar 1871, III 5 [91], 3/3, 121: „ W e n n man die
Wahnvorstellung sich als solche auflöst, so muß der Wille — w e n n a n d e r s er unser
Fortbestehen will — eine n e u e schaffen. B i l d u n g ist ein fortwährendes Wechseln von
Wahnvorstellungen zu den edleren hin, d. h. unsre ,Motive' im Denken werden immer
geistigere, einer größeren Allgemeinheit angehörige. Das Ziel der .Menschheit' ist das
Äußerste, was uns der Wille als Phantom bieten kann. Im Grunde ändert sich nichts. Der
Wille thut seine Nothwendigkeit und die Vorstellung sucht das universell besorgte Wesen
des Willens zu erreichen. In dem Denken an das Wohl größerer Organismen, als das
Individuum ist, liegt die Bildung."
828
G T 5, 3 / 1 , 43.
456 Anmerkungen 829 bis 849 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

829
Ende 1870, III 6 [3], 3/3, 135 f., hier: S. 136: „ D e r Genius hat die Kraft, die Welt mit
einem neuen Illusionsnetze zu umhängen: die Erziehung zum Genius heißt das
Illusionsnetz nothwendig zu machen, durch eifrige Betrachtung des Widerspruchs."
830
H L 7, 3/1, 292.
« ι September 1870—Januar 1871, III 5 [35], 3/3, 106.
832
Siehe Anm. 827.
833
H L 6, 3 / 1 , 286.
834
Ebd.
83
5 Ebd.
836
H a n s Martin Klinkenberg. D e r Kulturbegriff Nietzsches, a. a. O., S. 336.
837
September 1870—Januar 1871, III 5 [33], 3 / 3 , 105 f., hier: S. 106.
838
Hans Blumenberg schreibt in seinem Aufsatz „ N a c h a h m u n g der N a t u r " (a. a. O., S. 65)
über Piatons Begriff der μίμησις: „ Z w a r gebraucht Plato den Ausdruck .Nachahmung'
durcheinander und füreinander mit dem der ,Teilhabe', oft f ü r ein und denselben
Sachverhalt; aber es ist doch deutlich zu erkennen, daß μέθεξις ein positives Vorzeichen
hat, während μίμησις eher die Negativität der Differenz zwischen Urbild und Abbild, den
Defekt des phänomenalen gegenüber dem idealen Sein akzentuiert. N a c h a h m u n g heißt
eben: das Nachgeahmte selbst nicht sein."
839
Aristoteles, Poetik, griechisch-deutsch, übersetzt von Walter Schönherr, Leipzig 1979,
Kap. 9, 1451b: ά λ λ ά τ ο ύ τ ω διαφέρει, τ φ τ ό ν μ έ ν τ ά γ ε ν ό μ ε ν α λέγειν, τ ό ν δέ ο ί α ά ν
γένοιτο, διό κ α ι φ ι λ ο σ ο φ ώ τ ε ρ ο ν και σ π ο υ δ α ι ό τ έ ρ ο ν ποίεσις ι σ τ ο ρ ί α ς εστίν, ή μέν γ ά ρ
π ο ί η σ ι ς μ ά λ λ ο ν τ ά κ α θ ό λ ο υ , ή δ'Ιστορία τ ά καθ' έ κ α σ τ ο ν λέγει.
840
Ε. Chr. Schröder, Die Selbstaufhebung der Moral im Vollendungsstadium der Metaphysik
bei Nietzsche, Phil. Diss. Köln 1953, masch.-schriftl., S . 2 0 5 f .
841
W L 1, 3 / 1 , 375.
842
Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 375—387, hier: S.378.
843
Ebd., S. 379.
844
D W 4, 3 / 2 , 64.
845
Wie Anm. 842, hier: S. 379.
846
Wie Anm. 844.
847
Bereits Anfang 1874—Frühjahr 1874 (III 32 [52], 3 / 4 , 385) ist hingegen zu lesen:
„Überdies ist unendlich viel Conventionelles an allen Gebärden — der völlig freie Mensch
ist ein Phantasma." Ebenso dann wieder, nach der Lösung von Wagner, Frühling—Som-
mer 1877 (IV 22 [76], 4 / 2 , 486): „Wie es f ü r den Menschen keine absolut menschlichen
Gebärden giebt, sondern sie immer der Symbolik einer bestimmten Culturstufe, eines
Volksthums, eines Standes eignen müssen, so giebt es bei keiner Kunst eine absolute
Form." Entsprechend spricht er in der jetzt gewonnenen Perspektive einer „Chemie der
Begriffe und Empfindungen" der Musik ab, „als u n m i t t e l b a r e Sprache des Gefühls"
gelten zu dürfen: „An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom
.Willen', vom ,Dinge an sich'; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen,
welches den ganzen U m f a n g des inneren Lebens f ü r die musicalische Symbolik erobert
hatte." (ΜΑ I 4, Aph. 215, 4 / 2 , 177.)
848 4 ; 3 / 2 , 64. Noch im Frühjahr 1888 (VIII 14 [119], 8/3, 88—91) gibt Nietzsche über
den von einem „Uberreichthum von M i t t h e i l u n g s m i t t e l n , zugleich mit einer
extremen E m p f ä n g l i c h k e i t f ü r Reize und Zeichen" gezeichneten ästhetischen
Zustand des Rausches zu bedenken: „die Sprachen haben hier ihren Entstehungsherd: die
Tonsprachen, sogut als die Gebärden- und Blicksprachen. Das vollere Phänomen ist immer
der Anfang: unsere Culturmensch-Vermögen sind subtrahirte aus volleren Vermögen.
Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln, man liest selbst noch mit den Muskeln.
[ . . . ] Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische
Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin z u r ü c k g e l e s e n werden..." (ebd., S. 88 f.).
Vgl. dazu auch: ΜΑ I 4, Aph. 216, 4 / 2 , 178 f.
849
D W 4, 3 / 2 , 67.
Anmerkungen 850 bis 868 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 457

850
BAW 3, 351: „Parallele zwischen Sprache und Musik. Die Sprache besteht auch aus
Lauten wie die M u s i k . / / D i e Interjektion und das W o r t . / / E r s t e r e s schon musikalisch."
851
Richard Wagner, O p e r und Drama, S. 218 ff.
852
MusA 5, 467—470, hier: S.470.
853
D W 4, 3/2, 67.
854 Vgl. (Ueber das Wesen der Musik), Oktober 1862, BAW 2, 114: „ D u r c h die
Sprachwissenschaft finden wir, daß je älter eine Sprache umso tonreicher sie ist, ja daß man
oft die Sprache vom Gesang nicht unterscheiden kann. Die ältesten Sprachen waren auch
mehr wortärmer, die allgemeinen Begriffe fehlten, es waren die Leidenschaften, die
Bedürfnisse und Gefühle, die in dem T o n ihren Ausdruck fanden. Man kann fast
behaupten, daß sie weniger Wortsprache als Gefühlssprache waren, jedenfalls bildeten die
Gefühle die Töne und Worte, bei jedem Volk nach seiner Individualität; das wallende
Gefühl brachte den Rythmus. Allmählich trennte sich die Sprache von der Tonsprache,"
(das Zitat genau so).
855
Wie Anm. 842, hier: S. 379.
856
D W 4, 3 / 2 , 67.
857
Ebd., S. 68, wo der „Wille" als Metaphysicum ausgegeben wird.
858
Mit der Hervorhebung des „ u n d " pointiert Nietzsche eine Differenz zu der in „ O p e r und
D r a m a " entfalteten, auf der Theorie vom Ursprung der Sprachwurzeln aus der Melodie
basierenden Theorie vom Stabreime, der ,,urälteste[n] Eigenschaft aller dichterischen
Sprache". Danach werden „die verwandten Sprachwurzeln in der Weise zueinander
gefügt, daß sie, wie sie sich dem sinnlichen Gehöre als ähnlich lautend darstellen, auch
ähnliche Gegenstände zu einem Gesamtbilde von ihnen verbinden" (Oper und Drama,
S. 221), so zwar, daß sich der Konsonant — mit dem das Gefühl die äußeren Gegenstände
„auf eine dem Eindrucke des Gegenstandes entsprechende, diesen Eindruck ihm
vergegenwärtigende Weise" „nach ihrer Unterscheidung selbst" bezeichnet (S. 220) —
„dem ,Auge' des Gehöres" (S. 267) darstellt, wohingegen sich der Vokal — „der tönende
Laut der reinen Gefühlssprache" (S. 219) — „dem ,Ohre' des Gehöres selbst" mitteilt
(S. 267).
859
Wie Anm. 842, hier: S. 379 f. Von hier aus eröffnet sich eine neue Möglichkeit des
Verständnisses, warum Nietzsche seine späten Gedichte „Dionysos-Dithyramben"
genannt hat.
860
V o m Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 467.
«61 D W 4, 3/2, 68.
862
V o m Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 470.
863
Carl Wilhelm Ludwig Heyse, System der Sprachwissenschaft, Berlin 1856, S. 62. Hier
zitiert nach: Meijers, Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche, a. a. O., S. 3, Anm. 5.
8
<>4 III 19 [329], 3 / 4 , 108.
865
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [278], 3 / 4 , 94: „ D e r feste Punkt, um den sich das
griechische Volk krystallisirt, ist seine S p r a c h e . / / D e r feste Punkt, an dem seine Kultur sich
krystallisirt, ist H o m e r . / / A l s o beidemal sind es Kunstwerke."
866
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [310], 3 / 4 , 101.
867
III 23 [14], 3/4, 140 f., hier: S. 141.
868
So verkündet Nietzsche in einer dem Umkreis der 1. Unzeitgemässen Betrachtung
zugehörigen Aufzeichnung vom Frühjahr 1873 (III 26 [16], 3 / 4 , 183—186), in der er vor
den schlimmen Folgen warnt, die der militärische Sieg über Frankreich f ü r die deutsche
Kultur haben kann — neben der Gefahr der Überschätzung der eigenen Kultur, die sich in
diesem Sieg als überlegen erwiesen haben soll, ist dies in seinen Augen vor allem eine noch
weiter zunehmende Durchdringung mit ausländischen Sitten und Gebräuchen: „In dieser
N o t h halte ich mich an die deutsche Sprache, die wahrhaftig bis jetzt allein sich
durchgerettet hat, durch all die Mischung von Nationalitäten und Wechsel der Zeiten und
Sitten, und meine, daß ein metaphysischer Zauber, Einheiten aus Vielheiten, Einartiges aus
Vielartigem zu gebären, in der Sprache liegen müsse. Eben deshalb müssen wir die
strengsten Wächter über diese unificirende, unsre zukünftige Deutschheit verbürgende
458 Anmerkungen 868 bis 888 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

Sprache setzen. Unsere großen Autoren haben ein heiliges Amt, als Wächter dieser
Sprache; und unsere deutsche Schule hat eine fruchtbare ernste Aufgabe, unter den Augen
solcher Wächter zur deutschen Sprache zu erziehen." (Ebd., S. 184 f.) Wenn indes solche
Schriftsteller wie David Friedrich Strauß als große Autoren gelten, kann es, so Nietzsche,
um den Zustand und die Z u k u n f t der deutschen Kultur nicht zum besten stehen.
869 Ende 1870—April 1871, III 7 [23], 3/3, 149 f., hier: S. 150.
8 70 Ende 1874, III 37 [6], 3 / 4 , 455 f., hier: S. 456.
871 Ebd., S. 455.
872 W L 1, 3 / 2 , 371.
873 Wie Anm. 870, S. 456.
874 F W 370, 5 / 2 , 301—304, hier: S. 303.
875 Frühjahr 1888, VIII 14 [47], 8/3, 33. Siehe dazu S. 273 ff.
876 Wie Anm. 870, S. 455.
877 Ebd. S. 456.
878 Ebd., S. 455.
879
4 / 4 , 275: „nach dem W o r t Valentin Roses in Aristoteles pseudoepigraphus, Leipzig 1863,
717: ,sibi quisque scribit', das Ν schon in seinen Aufzeichnungen vom Herbst
1867—Frühjahr 1868 vielfach kommentiert und zitiert hatte", vgl. etwa: BAW 3, 362 f.
(dort auch ein Zitat aus Ralph Waldo Emersons „Versuche (Essays)", übersetzt von G.
Fabricius, Hannover 1858, S. 114: „ D e r der f ü r sich selbst schreibt, schreibt f ü r ein
unsterbliches Publikum.") sowie BAW 4, 70 f. Als Wahlspruch dann etwa: Bis Anfang
März 1875, IV 2 [2], 4 / 1 , 87; V M 167, 4 / 3 , 82. Als Beispiel späterer Zeugnisse kann die
nachfolgende Stelle aus einem Brief an Erwin Rohde von Mitte Juli 1882 ( I I I / l , 226 f.,
hier: S. 226) dienen: „Mihi ipsi scripsi — dabei bleibt es". Eine Kombination seiner beiden
Wahlsprüche findet sich in einer Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881 (V 11 [297],
5 / 2 , 453 f., hier: S. 453): „ W e r d e fort und fort, der, der du bist — der Lehrer und Bildner
deiner selber! Du bist kein Schriftsteller, du schreibst nur f ü r dich!" Doch macht er dort
auch deutlich, daß letzteres nur f ü r die Gegenwart gilt: „ S o bereitest du dich auf die Zeit
vor, w o du sprechen mußt! Vielleicht daß du dich dann des Sprechens schämst, wie du dich
mitunter des Schreibens geschämt hast, daß es noch nöthig ist, sich zu interpretiren, daß
Handlungen und Nicht-Handlungen nicht genügen, dich m i t ζ u t h e i 1 e η . Ja, du willst
dich mittheilen! Es kommt einst die Gesittung, wo viel-Lesen zum schlechten T o n e gehört:
dann wirst du auch dich nicht mehr schämen müssen, gelesen zu werden; während jetzt
jeder, der dich als Schriftsteller anspricht, dich beleidigt".
880 i n | 9 [131], 3/4, 48 f. D e r Untertitel lautet: „Ein Fragment aus der Geschichte der
Nachwelt."
881
E H , W a r u m ich so klug bin 7, 6 / 3 , 289. Die letzte Strophe lautet: „Meine Seele, ein
Saitenspiel,/sang sich, unsichtbar berührt,/heimlich ein Gondellied dazu,/zitternd vor
bunter Seligkeit./— H ö r t e Jemand ihr zu?..."
882 Ende 1874, III 37 [6], 3/4, 455 f., hier: S.455.
883 Frühjahr—Sommer 1883, VII 7 [173], 7 / 1 , 306.
884 W B 5, 4 / 1 , 27.
885 III 8 [29], 3 / 3 , 242 f., hier: S. 242. Vgl. Sommer—Herbst 1882, VII 3 [1] 296, 7 / 1 , 89:
„ D a s Verständlichste an der Sprache ist nicht das W o r t selber, sondern T o n , Stärke,
Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen werden — kurz die
Musik hinter den Worten, die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser
Leidenschaft: alles das also, was nicht g e s c h r i e b e n werden kann. Deshalb ist es nichts
mit Schriftstellerei."
886 III 9 [128], 3/3, 333.
887
So Friedrich A. Kittler im Nietzsche-Kapitel seiner Arbeit über „Aufschreibesysteme
1800/1900", München 1985, S. 183 ff.
888
D e r Begriff des Gleichnisses spielt in Nietzsches frühen Schriften eine bedeutsame Rolle.
Wie „Symbol" oder „ M e t a p h e r " bezeichnet auch er „die Übertragung eines Dinges in eine
ganz verschiedene Sphaere" (Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [20], 3 / 3 , 66).
Anmerkungen 888 bis 910 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 459

Gleichnisse in diesem Wortsinne sind f ü r Nietzsche alle Erscheinungen, insofern sie auf
den „Willen" oder das „ W e r d e n " als ihren „ G r u n d " zu beziehen sind, der an ihnen
gleichnishaft zum Vorschein kommt ( D W 1, 3 / 2 , 49: „Jedes Individuum kann als
Gleichniß, gleichsam als ein einzelner Fall f ü r eine allgemeine Regel, dienen"); sich auch
anders als in solch gleichnishafter Weise gar nicht fassen läßt: was meint, daß die Sphäre
des Dionysischen überhaupt nur in apollinischen (Traum-)Gleichnissen gedacht werden
kann — auch das „Dionysische" ist, wie wir noch sehen werden, ein solches Gleichnis. Das
am wenigsten gleichnishafte Gleichnis dieser Sphäre stellt — aus bereits erwähnten
Gründen — die Musik dar, als welche nämlich zu dem f ü r eine Hinblicknahme auf das
Dionysische notwendigen „Depotenziren des Scheins zum Schein" ( G T 4, 3 / 1 , 35)
auffordert: „die Musik reizt zum g l e i c h n i s s a r t i g e n A n s c h a u e n der dionysischen
Allgemeinheit, die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild i n höchster
B e d e u t s a m k e i t hervortreten." ( G T 16, 3 / 1 , 103) Das Gleichnis der Sprache ist somit
gegenüber jener Sphäre des Dionysischen in ihren Signifikaten gleichnishafter als in ihren
Signifikanten. Hinsichtlich der Sphäre der Erscheinungen, der Sphäre des Apollinischen,
kann die Sprache indes darum nicht als Gleichnis bezeichnet werden, weil sie die
Erscheinungen allererst vorstellend herstellt, und sei dies auch nur in der Form der rein
bildlich verfaßten, erst nachträglich verlautbarten Metapher. Anderes kann nach
Nietzsches Ansatz nur derjenige meinen, der von an sich bestehenden Erscheinungen
ausgeht, die in der Sprache bloß abzubilden sind.
889
D a ß der Mensch, auch wenn mit dem Entschwinden des göttlichen Logos nunmehr alles
Sprechen sinnlos geworden, weil seines Resonanzraumes verlustig gegangen ist,
fortsprechen muß, will er nicht von seinem Wesen als ζ φ ο ν λ ό γ ο ν έ χ ο ν abfallen und zum
stummen Naturwesen degenerieren — das spricht Nietzsche, wie wir in Anmerkung 418
gezeigt haben, in jenem unendlich schwermütigen Aphorismus 423 der „ M o r g e n r ö t h e "
aus.
890
1871, III 9 [125], 3/3, 332.
891
W L 1, 3 / 2 , 380.
892
III 3 [81], 3/3, 81 f., hier: S. 82.
893
D W 4, 3 / 2 , 68.
894
W L 1, 3 / 2 , 373.
895
Vgl. auch Arthur Schopenhauer, W a W II, 89 f.
896
W L 1, 3 / 2 , 375 f.
897
In der Vorstufe zu „Ueber Wahrheit und Lüge" heißt es am Ende des 1. Abschnittes (KSA
14, S. 114): „Jeder Begriff, also eine Metapher ohne Inhalt". Vgl. zu dieser Fragestellung
folgende in MusA 2, 29 abgedruckte Aufzeichnung zur Antrittsvorlesung „ H o m e r als
classischer Philologe": „ D e r Philologe liest noch Worte, wir Modernen nur noch
Gedanken."
898
P H G 12, 3 / 2 , 343.
899
W L 2, 3 / 2 , 380.
900
W L 1, 3 / 2 , 377.
901
P H G 11, 3 / 2 , 340.
9
°2 G T 15, 3 / 1 , 95.
903
G T 18, 3 / 1 , 115.
904
Vgl. eine Aufzeichnung vom Sommer 1872—Anfang 1873 (III 19 [283], 3 / 4 , 95), in der
Nietzsche „Die Faktoren der jetzigen C u l t u r . " auflistet und als Punkt 9 notiert:
„Schreiben, nicht Sprechen."
9t)
5 Ende 1874, III 37 [4], 3 / 4 , 453 f., hier: S. 453.
906
W L 1, 3 / 2 , 377.
9 7
° Ebd., S. 378.
9 8
° Ebd.
909
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [236], 3 / 4 , 81 f., hier: S. 82.
910
H L 1, 3 / 1 , 246.
460 Anmerkungen 911 bis 917 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

911
Za rV, Das Lied der Schwermuth 3, 6 / 1 , 367—370, hier: S. 370, sowie D D , N u r N a r r !
N u r Dichter!, 6 / 3 , 375—378, hier: S.378.
912
Das W o r t „Auseinandersetzung" ist, wie wir noch zeigen werden, im Sinne des
Nietzschesch-Heraklitischen πόλεμος-Begriffes als „Aus-einander-setzung" zu verstehen.
913
H L 10, 3 / 1 , 324 f.
914
Ende 1874, III 37 [8], 3 / 4 , 458: „ M a n denke, (was für) ein complicirtes Wesen der Mensch
ist: wie unendlich schwer f ü r ihn, sich wirklich a u s z u d r ü c k e n ! Die meisten Menschen
bleiben eben in sich kleben und können nicht heraus, das ist aber Sklaverei. Sprechen- und
Schreibenkönnen heisst freiwerden: zugegeben dass nicht immer das Beste dabei
herauskommt; aber es ist gut, dass es sichtbar wird, dass es W o r t und Farbe findet. Barbar
ist einer, der sich nicht ausdrücken kann, der sklavenhaft plappert."
915
Siehe dazu Anm. 90.
916
O p e r und Drama, S. 225 f.: „In der modernen Prosa sprechen wir eine Sprache, die wir mit
dem Gefühle nicht verstehen, deren Zusammenhang mit den Gegenständen, die durch
ihren Eindruck auf uns die Bildung der Sprachwurzeln nach unserem Vermögen bedang,
uns unkenntlich geworden ist; die wir sprechen, wie sie uns von Jugend auf gelehrt wird,
nicht aber wie wir sie bei erwachsender Selbständigkeit unseres Gefühles etwa aus uns und
den Gegenständen selbst begreifen, nähren und bilden; deren Gebräuchen und auf die
Logik des Verstandes begründeten Forderungen wir unbedingt gehorchen müssen, wenn
wir uns mitteilen wollen. Diese Sprache beruht vor unserem Gefühle somit auf einer
Konvention, die einen bestimmten Zweck hat, nämlich nach einer bestimmten N o r m , in der
wir denken und unser Gefühl beherrschen sollen, uns in der Weise verständlich zu machen,
daß wir eine Absicht des Verstandes an den Verstand darlegen. Unser Gefühl, das sich in
der ursprünglichen Sprache unbewußt ganz von selbst ausdrückte, können wir in dieser
Sprache nur beschreiben [ . . . ] Wir können nach unserer innersten Empfindung in dieser
Sprache gewissermaßen nicht mitsprechen, denn es ist uns unmöglich, nach dieser
Empfindung in ihr zu erfinden; wir können unsere Empfindungen in ihr nur dem Verstände,
nicht aber dem zuversichtlich verstehenden Gefühle mitteilen; und ganz folgerichtig suchte
sich daher in unserer modernen Entwickelung das Gefühl aus der absoluten
Verstandessprache in die absolute Tonsprache, unsere heutige Musik, zu flüchten."
917
SE 4, 4 / 1 , 27 f. In der Vorstufe dieser Passage (Sommer bis Ende September 1875, IV 12
[24], 335—339, hier: S. 336) hat Nietzsche im übrigen später zwischen den Zeilen
hinzugefügt: „Wie die antike Welt die Sprache in Rhetorik zuletzt förmlich verbraucht
hatte, so ist durch Schreiben und Drucken, durch Litteratur die Sprache erkrankt — die
Sprache ein Ding, welches stumpf gemacht werden kann." (4/4, 409) Vgl. dazu Richard
Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft, S. 78 ff., sowie: ders., Über die Bestimmung der
Oper, S. 164 ff. Daß Nietzsche am Gedanken einer Erziehung zu richtigen Empfindungen
auch nach seiner Lösung von Wagner festhält, belegt die nachfolgende Aufzeichnung vom
Sommer 1880 (V 5 [25], 5 / 1 , 516), in der er allerdings in der neugewonnenen Perspektive
eines historischen Philosophierens dessen Vorstellung von einer „natürlichen"
Empfindung als unhistorisch verwerfen muß: „Unsere Aufgabe ist, die richtige
Empfindung d. h. die welche wahren Dingen und richtigen Urtheilen entspricht zu
pflanzen. N i c h t die natürlichen wiederherstellen: denn sie haben nie existirt. Man lasse
sich durch das W o r t .natürlich' oder ,wirklich' nicht täuschen! Das bedeutet
,volksthümlich' ,uralt' ,allgemein' — mit der Wahrheit hat es nichts zu thun. N u r auf der
Grundlage r i c h t i g e r Empfindungen können die Menschen sich auf die Dauer und auf
alle Entfernungen h i n v e r s t e h e n . Dazu bedarf es n e u e r Werthschätzungen.
Zunächst eine Kritik und Beseitigung der Alten. Das zu V e r l e r n e n d e ist jetzt die
nächste Masse die Arbeit giebt." — Später präzisiert Nietzsche seine oben dargelegten
Überlegungen zum Leiden des Menschen an der sprachlichen Konvention. So äußert er im
354. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft", mit dem auf Schopenhauer anspielenden
Titel „ V o m ,Genius der Gattung' " (5/2, 272—275), die schon auf den Willen zur Macht
vorausdeutende "Vermuthung [ . . . ] , dass B e w u s s t s e i n ü b e r h a u p t s i c h n u r
u n t e r d e m D r u c k d e s M i t t h e i l u n g s - B e d ü r f n i s s e s e n t w i c k e l t h a t , — dass
Anmerkungen 917 bis 926 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 461

es von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und
Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum
Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat." (273) Er geht dabei von der Beobachtung
aus, daß das „bewusste Denken [ . . . ] i n W o r t e n [ g e s c h i e h t ] , d a s h e i s s t i n
Μ i t t h e i l u n g s z e i c h e n " (274). Nietzsche schließt daraus, „dass das Bewusstsein nicht
eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm
Gemeinschafts- und H e e r d e n - N a t u r ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf
Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von
uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu v e r s t e h e n , ,sich selbst
zu kennen', doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein
bringen wird, sein durchschnittliches', — dass unser Gedanke selbst fortwährend durch
den Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm gebietenden ,Genius der Gattung' —
gleichsam m a j o r i s i r t und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird." (Ebd.)
Weil aber „die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( n i c h t
der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) [ . . . ] H a n d in H a n d
[gehen]" (ebd.), darum kann die Sprache nicht mehr als ein „Heerden-Merkzeichen"
(275) sein. So daß sich derjenige, welcher sich gegen jenen „natürlichen, allzunatürlichen
progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in's Ahnliche, Gewöhnliche,
Durchschnittliche, Heerdenhafte — in's G e m e i n e !" (JGB 268, 6 / 2 , 231 f., hier: S. 232)
zur W e h r zu setzen sucht, vor nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt sieht. Mag
es ihm schließlich auch gelingen, sein eigenes Bewußtsein zu individualisieren, so vermag er
dies schwerlich anderen mitzuteilen, weil diese seine W o r t e nur gemäß ihren eigenen
konventionalisierten Empfindungen verstehen können (ebd., S. 231: „ W o r t e sind
Tonzeichen f ü r Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen f ü r
oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, f ü r Empfindungs-Grup-
pen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben W o r t e
gebraucht: man muss die selben W o r t e auch f ü r die selbe Gattung innerer Erlebnisse
gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander g e m e i n haben.") — In einer
Aufzeichnung vom Frühjahr—Herbst 1881, aus der Entstehungszeit der „Fröhlichen
Wissenschaft" also (V 11 [156], 5 / 2 , 398—400) zeigt Nietzsche, daß in unserer Zeit vor
allem die Wissenschaft das Geschäft der Konventionalisierung betreibt: „ I m Grunde ist die
Wissenschaft darauf aus, festzustellen, wie d e r M e n s c h — n i c h t das Individuum — zu
allen Dingen und zu sich selber empfindet, also die Idiosyncrasie Einzelner und Gruppen
auszuscheiden und das b e h a r r e n d e Verhältniß festzustellen. [ . . . ] Die
Wissenschaft setzt also den Prozeß nur f o r t , der das Wesen der Gattung c o n s t i t u i r t
hat, den Glauben an gewisse Dinge endemisch zu machen und den Nichtglaubenden
auszuscheiden und absterben zu lassen. [ . . . ] Es ist der M a s s e n instinkt, der auch in der
Erkenntniß waltet" (398 f.).
918
SE 4, 4 / 1 , 28.
919
G T 1, 3 / 1 , 25.
920
Winter 1872—73, III 23 [15], 3/4, 141.
921
III 2 [10], 3 / 3 , 45 f.
922
W L 2, 3 / 2 , 381.
9
" Ebd.
924
Ebd., S. 383.
925
G T 8, 3 / 1 , 56.
926
Vgl. die nachfolgende Selbsteinschätzung des Zarathustra-Dichters in „Ecce h o m o " ( E H ,
Also sprach Zarathustra 6, 6 / 3 , 341): „Dass ein Goethe, ein Shakespeare nicht einen
Augenblick in dieser ungeheuren Leidenschaft und H ö h e zu athmen wissen würde, dass
Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die
Wahrheit erst s c h a f f t , ein w e l t r e g i e r e n d e r Geist, ein Schicksal —, dass die Dichter
des Veda Priester sind und nicht einmal würdig, die Schuhsohlen eines Zarathustra zu
lösen, das ist Alles das Wenigste und giebt keinen Begriff von der Distanz, von der
a z u r n e n Einsamkeit, in der dies W e r k lebt."
462 Anmerkungen 927 bis 945 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

927
Dementgegen hält Eugen Fink trotz der von ihm erkannten Begriffsfeindlichkeit
Nietzsches die dichterische Form seines Denkens f ü r defizient: „Die Dichtung wird zur
vorläufigen Rettung eines von der Metaphysik sich abstoßenden und zunächst noch
spracharmen Weltdenkens" (Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 180). Es muß mithin in
Begriffe überführt werden, um vollgültige Philosophie sein zu können — was bei Eugen
Fink geschieht. Gerhard Kaiser weist diese Interpretation, die in ähnlicher Form auch von
Karl Löwith (Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, a. a. Ο., S. 21)
vertreten wird, zu Recht zurück: „Statt dessen wäre Nietzsche beim W o r t zu nehmen:
W e n n die Welt ποίησις ist, ,ein sich selbst gebärendes Kunstwerk' (zit. Fink, ebd. S. 169),
dann ist Poesie die einzig angemessene Weise von ihr zu sprechen." (G. K., Wie die Dichter
lügen, Dichten und Leben in Nietzsches ersten beiden Dionysos-Dithyramben, in:
Nietzsche-Studien 15/1986, S. 186—224, hier: S.221, Anm. 33.)
928
G T 1, 3 / 1 , 21.
929
W L 2, 3/2, 381.
93
° W L 1, ebd., S. 369.
931
W L 2, ebd., S. 383. Schon hier sei darauf hingewiesen, daß Nietzsche in der „ G e b u r t der
T r a g ö d i e " die Welt als ein Spiel von Werden und Vergehen interpretiert. (Siehe auch Anm.
927.)
932
W L 1, 3/2, 375.
933
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [218], 3 / 4 , 76.
934
Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, Studien zum Motiv der Erhebung in der
Lyrik, Berlin 1970, S. 220.
935
Nietzsche im Frühjahr—Sommer 1883 (VII 7 [107], 7 / 1 , 286 f., hier: S. 286) über die
Philosophen: wie die Künstler wollen sie „ihren Geschmack an der Welt h e r r s c h e n d
m a c h e n — d e s h a l b l e h r e n u n d s c h r e i b e n s i e . " Vgl. auch Anmerkung 466.
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 2 [11], 3 / 3 , 46.
937
Brief vom 20. 10. 1887, III/5, 172 f. — Es ist auffällig, daß f ü r Nietzsche, der so viel über
die Verschriftlichung der Sprache und die Bedeutung dieser Verschriftlichung f ü r die
„Mnemotechnik" nachgedacht hat, die Aufzeichnung der Musik kein Gegenstand des
Nachdenkens geworden ist. Dabei ist der von ihm angesprochene Fort-schritt der Musik
über weite Strecken der Musikgeschichte von den Fortschritten in der Notation abhängig
gewesen. Im übrigen ist die Musik, im Hinblick auf die Übertragung von Affekten gesehen,
wohl eine unmittelbarere Sprache als die Wortsprache, aber sie ist immer noch nicht
unmittelbar genug, der H ö r e r hat noch einen Freiraum: „Es ist sonderbar, daß die eigne
Empfindung sich so schwer übertragen läßt, und was man dann noch an einer solchen
Musik percipirt, o h n e diese meine Empfindung, das weiß Gott.", schreibt er über seine
Komposition „Nachklang einer Sylvesternacht" am 31.12. 1871 an Gustav Krug (II/1,
269).
938
SE 3, 3/1, 352.
939
G T 23, 3 / 1 , 141.
94
° Ebd.
94
> Ebd.
942
D S 1, 3 / 1 , 159.
943
G T 23, 3/1, 141.
944
Ebd., S. 142.
945 G T 23, 3/1, 141 f. im Anschluß an die Darstellung des auf „das mythische Fundament"
gegründeten Staates: „ M a n stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten
Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten
Staat: man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte
Schweifen der künstlerischen Phantasie: man denke sich eine Cultur, die keinen festen und
heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich
kümmerlich zu nähren verurtheilt ist — das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf
Vernichtung des Mythus gegründeten Sokratismus." In einer Aufzeichnung aus dem
Umkreis der „Geburt der T r a g ö d i e " (1871, III 9 [93], 3/3, 319 f., hier: S. 320) bemerkt
Anmerkungen 945 bis 949 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 463

Nietzsche: „Eine Menschheit, die die Welt nur abstrakt, nicht in Symbolen sieht, ist
kunstunfähig." Mit gleichem Recht kann man aber auch umgekehrt sagen: Eine
Menschheit, die unter dem Druck gesellschaftlicher Konventionen, nämlich dem Zwang
zur Begrifflichkeit kunstunfähig geworden ist, kann die Welt nur noch abstrakt erleben,
d.h. empfinden: Sofern an ihm unentwegt weitergedichtet wird, ist der Mythos für
Nietzsche unmittelbarer Ausdruck der Empfindungen oder Instinkte eines Volkes (siehe
etwa: BA III, 3 / 2 , 191; W L 2, 3 / 2 , 381). Nietzsches Klage über den Verlust des Mythos
und seine Kritik am Uberhandnehmen der Begrifflichkeit erwachsen mithin aus der einen,
schon angesprochenen Erkenntnis, daß der Mensch im herrschenden Sokratismus nur
noch abstrakt empfinden kann. Was das in Nietzsches Augen bedeutet, lehrt die
nachfolgende Passage aus der 2. Unzeitgemässen Betrachtung ( H L 4, 3 / 1 , 273), in der
Nietzsche von einer Bemerkung ausgeht, die er in Franz Grillparzers „Über den Nutzen
des Studiums der Geschichte" gefunden hatte (siehe: Sommer—Herbst 1873, III 29 [65],
3 / 4 , 265 f., S. 265, sowie den dazugehörigen Kommentar in K S A 14, 550): „wie
verzweifelt klänge der Satz: wir Deutschen empfinden mit Abstraction; wir sind Alle durch
die Historie verdorben — ein Satz, der jede Hoffnung auf eine noch kommende nationale
Cultur an ihren Wurzeln zerstören würde: denn jede derartige Hoffnung wächst aus dem
Glauben an die Aechtheit und Unmittelbarkeit der deutschen Empfindung heraus, aus dem
Glauben an die unversehrte Innerlichkeit".
946 H L 7, 3 / 1 , 295.
947 Ebd., S. 295 f.
948 G T 23, 3 / 1 , 143.
949 Daß die Griechen in Nietzsches Augen das Idealbild einer Kultur, als welche ja „die
Herschaft der Kunst über das Leben" ( W L 2, 3 / 1 , 383) darstellt, verwirklicht haben, liegt
für ihn nicht zuletzt darin begründet, daß sie auch als Exempel „eines mythisch erregten
V o l k e s " dienen können: Ihr wacher T a g „ist durch das fortwährend wirkende Wunder,
wie es der Mythus animmt, in der T h a t dem Traume ähnlicher als dem T a g des
wissenschaftlich ernüchterten Denkers." ( W L 2, 3 / 2 , 381) Mythisch zu leben, heißt aber,
eine unhistorische, nämlich künstlerische Stellung zur Geschichte zu beziehen, was ein
gewisses Maß an Kraft des Vergessens verlangt: Nur dasjenige wird er-innert, was sich
unmittelbar an die Gegenwart anschließt, so zwar, daß es von ihr einverleibt und d. h.
handelnd bewältigt werden kann. „Zu allem Handeln gehört Vergessen" ( H L 1 , 3 / 1 , 246)
gibt Nietzsche in der Erkenntnis zu bedenken, daß der Mensch allererst ganz bei sich sein
muß, um sich wahrhaft ent-schließen zu können, was bedeutet, daß die Zeitekstasen zu
höchster Gegenwart zu versammeln sind. In Nietzsches positivistischer Sprache
gesprochen: Sicher handeln kann der Mensch nur instinktiv, was allein aus Momenten
unhistorischer Unbewußtheit heraus möglich ist. Diese Gedanken geben den
Verstehenshintergrund für die folgende Aufzeichnung vom Sommer—Herbst 1873, III 29
[172], 3 / 4 , 3 1 0 - 3 1 2 , hier S. 311 f.): „Es ist gar nichts Unsinniges zu denken, dass das
Gedächtniss für die Vergangenheit auch bei uns geringer sei und dass der historische Sinn
etwa ebenso schliefe, wie er in der höchsten Akme der Griechen schlief. Bald hinter der
Gegenwart begänne das Dunkel: in ihm wandeln schattenhaft unsicher grosse Gestalten ins
Ungeheure sich ausdehnend, wirkend auf uns, aber fast wie Heroen, nicht wie gemeine
helle Tageswirklichkeit. Alle Tradition wäre jene fast unbewusste der ererbten Charactere:
die lebenden Menschen wären, in ihren Handlungen, Beweise, was im Grunde durch sie
tradirt werde; mit Fleisch und Blut liefe die Geschichte herum, nicht als vergilbtes
Document und als papiernes Gedächtniss. [ . . . ] Ähnlich lebt jetzt noch der Bauer, ähnlich
fast jedes grosse Volk der Vergangenheit. Der Hauptgewinn für beide ist und war, dass die
gegenwärtige Generation nicht so peinlich vergleicht und sich misst, so dass sie über sich
selbst in Unbewusstheit des Urtheils bleiben kann. Sie wird zutrauensvoller zu ihrer Kraft
sein, weil ihre Kraft nur durch durch das wirkliche, nicht durch das eingebildete und
anerzogene Bedürfniss in Anspruch genommen wird und Kraft und Bedürfniss sich
meistens entsprechen. Sie wird vor dem Überdrusse mehr bewahrt bleiben als ein Volk, das
historischer und gebildeter ist, als seine Productionskraft auszuhalten vermag. Nicht so oft
464 Anmerkungen 949 bis 965 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

irregeführt nach dem unerreichbaren Ziele, zum Ekel gestimmt über das Erreichte, kommt
der Mensch zu einer Ruhe, die der Gegensatz der modernen durch und durch historischen
Welt und ihrer Hast ist."
950
Siehe d a z u : Ilse Nina Bulhof, op. cit.
« ι Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [52], 3/4, 24.
952
Winter 1870/71—Herbst 1872, III 8 [69], 3 / 3 , 259. In der 2. Unzeitgemässen Betrachtung
bezeichnet Nietzsche diese Art der Geschichtsschreibung als „Künstlerhistorie" ( H L 2,
3 / 1 , 259), und in der 4. Unzeitgemässen Betrachtung spricht er sie Wagner zu: „Sobald ihn
seine bildende Kraft überkommt, wird ihm die Geschichte ein beweglicher T h o n in seiner
H a n d ; dann steht er mit einem Mal anders zu ihr als jeder Gelehrte, vielmehr ähnlich wie
der Grieche zu seinem Mythus stand, als zu einem Etwas, an dem man formt und dichtet,
zwar mit Liebe und einer gewissen scheuen Andacht, aber doch mit dem Hoheitsrecht des
Schaffenden. Und gerade weil sie f ü r ihn noch biegsamer und wandelbarer als jeder T r a u m
ist, kann er in das einzelne Ereigniss das Typische ganzer Zeiten hineindichten und so eine
Wahrheit der Darstellung erreichen, wie sie der Historiker nie erreicht." (WB 3, 4 / 1 , 15).
953
H L 10, 3 / 1 , 326.
954
Siehe dazu: Martin Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, a . a . O . , S. 92 ff. Vgl. auch
folgende, längst eingetroffene Prophezeiung Nietzsches vom Sommer 1872—Anfang 1873
(III 19 [21], 3 / 4 , 10 f., hier: S. 11): „Schreckliche Gefahr: daß das amerikanische-politi-
sche Getreibe und die haltlose Gelehrtenkultur sich verschmelzen."
955
Sommer—Herbst 1873, III 29 [193], 3/4, 316 f., hier: S.317. Siehe dazu Anm. 819.
956
SE 4, 3 / 1 , 370 f.
957
H L 9, 3/1, 315.
958
III 11 [1], 3 / 3 , 367—373, „ V o r w o r t a n R i c h a r d W a g n e r " , „ L u g a n o am
22 Februar 1 8 7 1 / / a m Geburtstage Schopenhauers." (Für die philologische Einordnung
siehe KSA 14, 42.) Das folgende Zitat auf S. 372.
959
Za I, Zarathustra's Vorrede 5, 6 / 1 , 14.
960
In der Vorrede „ D e r griechische Staat" bemerkt Nietzsche: „ D a m i t es einen breiten tiefen
und ergiebigen Erdboden f ü r eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl
im Dienste einer Minderzahl, ü b e r das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der
Lebensnoth sklavisch unterworfen sein. Auf ihre Unkosten, durch ihre Mehrarbeit soll jene
bevorzugte Klasse dem Existenzkampfe entrückt werden, um nun eine neue Welt des
Bedürfnisses zu erzeugen und zu befriedigen." Diese an der griechischen Kultur
abgelesene, auch von Friedrich August Wolf (siehe: Ende 1870—April 1871, III 7 [79],
3 / 3 , 164) und von Jacob Burckhardt vertretene Auffassung, „ d a ß z u m W e s e n e i n e r
Kultur das S k l a v e n t h u m g e h ö r e " — » S i e ist der Geier, der dem
prometheischen Förderer der Kultur an der Leber nagt.", schreibt Nietzsche (CV 3, 3 / 2 ,
261) —, führt mit zu seiner vehementen Ablehnung aller sozialen T e n d e n z e n : „ H i e r liegt
der Quell jenes Ingrimms, den die Kommunisten und Socialisten und auch ihre blasseren
Abkömmlinge, die weiße Race der,Liberalen' jeder Zeit gegen die Künste, aber auch gegen
das klassische Alterthum genährt haben." (Ebd., S. 261 f.) Mit ihrem Streben nach
Verbreiterung sowie nach Verminderung und Abschwächung der Bildung kämpfen sie, wie
Nietzsche im 3. Vortrag „Ueber die Z u k u n f t unserer Bildungsanstalten" (BA III, 3 / 2 , 191)
in Anknüpfung an romantisches Gedankengut sagt, „gegen die natürliche Rangordnung
im Reiche des Intellekts, zerstören sie die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes
hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und
sodann in der richtigen Erziehung und Pflege desselben ihre mütterliche Bestimmung
haben."
96)
BA III, 3 / 2 , 192.
962
G T 5, 3 / 1 , 43.
963
SE 4, 3 / 1 , 371.
964
Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [54], 8/1, 320 f., hier: S. 320. Vgl. Anm. 819.
965
Siehe SE 3, 3 / 1 , 351: „Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung
auszuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden
Anmerkungen 965 bis 978 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 465

Skepticismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den thätigsten und edelsten
Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene
Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel
Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte." Nietzsche zitiert
dann aus jenem Brief vom 22. 3. 1801, in dem Kant Wilhelmine von Zenge über seine
Kant-Lektüre berichtet („Wir können nicht entscheiden, ob das, war wir Wahrheit
nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. [ . . . ] Mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr."), um anschließend zu fragen: „Ja,
wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistisch-natürlich empfinden, wann lernen
sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem ,heiligsten Innern' messen?" (Ebd.,
S. 351 f.)
966
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [125], 3 / 4 , 47.
967
Sommer 1875, IV 9 [1], 4 / 1 , 207—261, hier: S. 235.
968
Vgl. Anm. 387.
9 9
<> C V 1, 3 / 2 , 251.
970
H L 9, 3 / 1 , 315. Darüber hinaus hält er folgende Lehre bereit, der er selber nachzuleben
bestrebt sein sollte: „Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die
Wahrheit — und nie soll einer finden was er suchen muss, lautet der böse Grundsatz der
Natur. W e r aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem
wird vielleicht ein anderes W u n d e r der Enttäuschung bereitet: etwas Unaussprechbares,
von dem Glück und Wahrheit nur götzenhafte Nachbilder sind, naht sich ihm, die Erde
verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft, wie an
Sommerabenden breitet sich Verklärung um ihn aus." (SE 4, 3 / 1 , 371.)
971
Sommer 1875, IV 6 [48], 4 / 1 , 191 f., hier: S. 192.
972
So auch noch in F W 110 ( „ U r s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s " ; 5 / 2 , 147—149). Nietzsche
führt dort aus, der Intellekt habe „ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer
erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie
vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf f ü r sich und seinen Nachwuchs mit grösserem
Glücke." Die „feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei
entgegengesetzte Sätze auf das Leben a n w e n d b a r erscheinen, weil sich beide mit den
Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des
N u t z e n s f ü r das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, w o neue Sätze sich dem
Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen
eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele." Doch
erst dann, wenn „der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht b e w i e s e n
hat", kämpfen im Denker „Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren
ersten Kampf". Nietzsche schließt: „ I m Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist
alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt,
und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu
antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? — das ist die Frage, das ist
das Experiment."
973
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.
974
Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [11], 3 / 4 , 117: „An Sokrates alles falsch — die
Begriffe sind nicht fest,/auch nicht wichtig, / / d a s Wissen ist nicht der Quell/des Rechten,
und überhaupt/nicht f r u c h t b a r , / / d i e Kultur verneinend."
975
Zur Erinnerung: Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [91], 3 / 3 , 62: „ D e r Zweck der
Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung
die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung."
976
C V 1, 3/2, 254. — Das Bild ist, worauf Nietzsche selber in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e "
aufmerksam macht ( G T 18, 3/1, 114), Schopenhauers H a u p t w e r k entnommen (siehe:
W a W I, 568).
977
G T 7, 3 / 1 , 53.
978
Nietzsche selbst spricht diese mit dem Streben nach Wahrhaftigkeit einhergehende
Notwendigkeit der Selbsttäuschung, der „Kunst", an, wenn er in der aus dem Jahre 1881
466 Anmerkungen 978 bis 1004 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

stammenden Vorrede zur zweiten Auflage von „Menschliches, Allzumenschliches", Teil 1,


jenen (imaginären) Kritikern, die ihm seine frühen Irrtümer über Schopenhauer und
Wagner, über die Griechen und die Deutschen vorhalten (könnten), folgendes entgegnet:
„was wisst i h r davon, was k ö n n t e t ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung,
wie viel Vernunft und höhere O b h u t in solchem Selbst-Betrüge enthalten ist, — und wie
viel Falschheit mir noch n o t h t h u t , damit ich mir immer wieder den Luxus m e i n e r
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht
von der Moral ausgedacht: es w i l l Täuschung es l e b t von der Täuschung..." (4/2, 8).
979
C V 1, 3 / 2 , 254.
980 Vgl s . 145 f. In Anm. 259 haben wir darauf hingewiesen, daß Nietzsche später zwischen
einem schöpferischen Leiden an der Uberfülle und einem schöpferischen Leiden an der
Verarmung des Lebens unterscheidet und daß er ersteres dem Pessimismus der Stärke, dem
dionysischen Pessimismus, letzteres aber dem Pessimismus der Schwäche, dem
romantischen Pessimismus, zuordnet.
981
SE 3, 3 / 1 , 351.
982 F W 125, 5 / 2 , 158—160.
983
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [157], 8 / 1 , 123—125, hier: S. 125: „Seit Copernikus
rollt der Mensch aus dem Centrum ins x".
984
Siehe: Za IV, Der Nothschrei, 6 / 1 , 298.
985
H L 9, 3 / 1 , 317.
986
Sommer 1876, IV 17 [22], 4 / 2 , 396.
987
Vgl. H L 10, 3 / 1 , 329, w o Nietzsche im Hinblick auf den delphischen Spruch „Erkenne
dich selbst" ausführt: „Es gab Jahrhunderte, in denen die Griechen in einer ähnlichen
Gefahr sich befanden, in der wir uns befinden, nämlich an der Ueberschwemmung durch
das Fremde und Vergangne, an der .Historie' zu Grunde zu gehen. [ . . . ] . Und trotzdem
wurde die hellenische Cultur kein Aggregat, D a n k jenem apollinischen Spruche. Die
Griechen lernten allmählich das C h a o s z u o r g a n i s i r e n , dadurch dass sie sich, nach
der delphischen Lehre, auf sich selbst, das heisst auf ihre ächten Bedürfnisse zurück
besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben Hessen. So ergriffen sie wieder von sich
Besitz".
988
W B 4, 4 / 1 , 25.
989
III 7 [29], 3 / 3 , 153.
990
Vorrede zu ΜΑ II, 4 / 3 , 3—11.
991
Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [2], 3 / 4 , 221—223, hier: S.222.
992
III 3 [51], 3/3, 74.
993
Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [127], 8/1, 123—125, hier: S. 125.
994 v g i . etwa SE 4, 3 / 1 , 363 f.: „Wir leben die Periode der Atome, des atomistischen Chaos.
Die feindseligen Kräfte wurden im Mittelalter durch die Kirche ungefähr zusammengehal-
ten und durch den starken Druck, welchen sie ausübte, einigermaassen einander assimilirt.
Als das Band zerreisst, der D r u c k nachlässt, empört sich eines wider das andre. [ . . . ]
jedenfalls befinden wir uns auch jetzt noch im eistreibenden Strome des Mittelalters; es ist
aufgethaut und in gewaltige verheerende Bewegung gerathen. Scholle türmt sich auf
Scholle, alle Ufer sind überschwemmt und gefährdet. Die Revolution ist gar nicht zu
vermeiden und zwar die atomistische".
995
H L 7, 3 / 1 , 298.
996
H L 3, 3 / 1 , 265 bzw. 266.
997
Siehe dazu: ΜΑ II, Vorrede 2, 4 / 3 , 4.
998
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [36], 3 / 4 , 16 f., hier: S. 16.
999 G T , Versuch einer Selbstkritik 13, 3 / 1 , 13.
1000 Vgl. dazu: ΜΑ II, Vorrede 1, 4 / 3 , 4.
1001 G T 25, 3 / 1 , 151.
1002
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [122], 3 / 4 , 106.
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [47], 3 / 4 , 22.
1004
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [76], 3 / 4 , 32.
Anmerkungen 1005 bis 1031 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 467

1005
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105.
»006 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [322], 3 / 4 , 106.
1007
Winter 1872—73, III 23 [14], 3/4, 140 f., hier: S. 141.
Ό08 Ebd., S. 140.
1009
Frühjahr—Herbst 1873, III 28 [2], 3 / 4 , 221—223, hier: S. 222.
1010 A n m . 1007.
1011
Zum ά γ ώ ν als wesentlichem Element des Nietzscheschen Denkens siehe Seite 242 f.
ίο»2 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [23], 3/4, 11; das Fragment fährt fort: „ D e r
Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nachempfinden: wie die alten griechischen
Philosophen jeder eine N o t h ausdrückt: dort, in die Lücke hinein stellt er sein System."
1013
Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [10], 3 / 4 , 370 f. hier: S. 370.
1014 w b 4 ) 4 / 1 , 19. Solches spricht Nietzsche im übrigen auch Schopenhauer zu, siehe Sommer
1872—Anfang 1873, III 19 [321], 3 / 4 , 105 f., hier: S. 105: „Schopenhauer Vereinfacher,
räumt die Scholastik auf."
1015 w b 4, 4 / 1 , 19. Vgl. auch: W B 5, 4 / 1 , 26.
1016 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [17], 3 / 4 , 9.
1017 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [23], 3/4, 11.
•οι» Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [12], 3/4, 7.
1019
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [51], 3/4, 24.
1020 G T 7, 3 / 1 , 53.
ι 0 2 ' Ende 1870—Anfang 1871, 7 [27], 3/3, 151 — 153, hier: S. 152.
i° 2 2 C V 1, 3 / 2 , 254.
•° 23 Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [145], 3 / 4 , 53.
1024
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [22], 3 / 4 , 11.
1025
Im Frühjahr 1888 liest Nietzsche erneut seine philosophische Erstlingsschrift. Er bemerkt
unter anderem: „ D a s Wesentliche an dieser Conception ist der Begriff der Kunst im
Verhältniß zum Leben: sie wird, ebenso psychologisch als physiologisch, als das große
S t i m u l a n s aufgefaßt, als das, was ewig zum Leben, zum ewigen Leben d r ä n g t . . . "
(VIII 14 [23], 8/3, 20).
1026
Ende 1870—April 1871, III 7 [27], 3 / 3 , 151 — 153, hier: S. 152.
1027 Vgl. dazu: Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, a . a . O . , S. 126—135.
1028 W a W I, 253: „Das einzelne, in Gemäßheit des Satzes vom Grunde erscheinende Ding ist
also nur eine mittelbare Objektivation des Dinges an sich (welches der Wille ist), zwischen
welchem und ihm noch die Idee steht, als die alleinige unmittelbare Objektität des Willens,
indem sie keine andere dem Erkennen als solchem eigene Form angenommen hat als die
der Vorstellung überhaupt, d. i. des Objektseins f ü r ein Subjekt. Daher ist auch sie allein
die möglichst adäquate Objektität des Willens oder Dinges an sich, ist selbst das ganze Ding
an sich, nur unter der Form der Vorstellung". Auf die Problematik dieser Ideenlehre hat
zuletzt Friedhelm Decher, Wille zum Leben, a. a. O., S. 35—37, aufmerksam gemacht. Er
bemerkt zu Recht, daß die Idee aufgrund jener Bestimmungen „ein seltsames
Zwischengebilde mit undurchsichtigem ontologischen Status zwischen der Welt der
Erscheinungen und dem Willen als dem Ding an sich dar[stellt]." (35) V o r allem erscheine
die Ideenlehre als „inkompatibel" „mit seiner dem Pessimismus zugrundeliegenden Lehre
vom Willen". Ist dieser in der ihm eigentümlichen Entzweiung mit sich selbst f ü r das
Leiden in der Welt verantwortlich, so sollen die mit den Gattungen gleichzusetzenden
Ideen den Anblick von Harmonie und Aufeinanderhingeordnetsein bieten. Decher stellt
daher die berechtigte Frage, „ob Schopenhauers Ideenlehre nicht eine künstliche
Konstruktion darstellt, die durch sachliche Motive kaum zu rechtfertigen ist." (35 f.)
1029 W a W 259.
1030 W a W 260.
1031
Schopenhauer selber deutet dies an, wenn er über den Willen, als das An-Sich der Subjekt
und Objekt zusammenschließenden Idee ausführt, daß er „außer der Vorstellung und allen
ihren Formen [ . . . ] einer und derselbe im kontemplierten Objekt und im Individuo [ist],
welches sieb an dieser Kontemplation emporschwingend, als reines Subjekt seiner bewußt
468 Anmerkungen 1031 bis 1049 zum Abschnitt „Voraussetzungen"

wird' ( W a W I, 259; Hervorhebung von mir, T h . B.). Nietzsche ist in diesem Punkt
genauer. Das Geschehen des Durchschauens der Erscheinungen der Welt auf den darin
erscheinenden Urgrund, d. h. das Geschehen des Erkennens des Scheins als Schein,
charakterisiert er „gleichnißweise" so: „es ist etwas Ahnliches, wenn man träumt und
zugleich den T r a u m als T r a u m spürt." Der Erkennende muß danach im subjektauflösen-
den „Rausche sein und zugleich hinter sich als Beobachter auf der Lauer liegen. Nicht im
Wechsel von Besonnenheit und Rausch, sondern im Nebeneinander" ( D W 1, 3 / 2 , 47 f.),
im Streit von Ausständigkeit und Inständigkeit im Selbst vollzieht sich jener
Erkenntnisvorgang.
1032
G M III 6, 6 / 2 , 364.
1033
So bemerkt Nietzsches Freund Heinrich Romundt in einem Brief vom 16. 2. 1872 über die
soeben erschienene Schrift: „Es scheint mir in der That, lieber Freund, daß in Deinem
Buche zum ersten Mal der Quell alles Kunstschaffens und alles Kunstgenusses klar
aufgedeckt ist. Noch erst kürzlich wieder ist mir deutlich geworden, wie sehr die Ästhetik
auch die Schopenhauers darunter leidet, daß sie vom Kenner und nicht vom Künstler
ausgeht. Nicht einmal der Genuß der Kunst, geschweige das Schaffen läßt sich aus der
Willenslosigkeit des reinen Subjects des Erkennens erklären." (II/2, 547—550, hier:
S. 548) In dieser Antithese zur Schopenhauerschen Ästhetik sieht auch Nietzsche selbst
eine der bedeutsamsten Leistungen dieses Buches. Im Herbst 1885—Herbst 1886 schreibt
er (VIII 2 [110], 8/1, 113 f.): Der „einseitigen Betrachtung Schopenhauer's", „welcher die
Kunst nicht vom Künstler aus, sondern vom Empfangenden aus allein zu würdigen
versteht: weil sie Befreiung und Erlösung im Genuß des Nicht-Wirklichen mit sich bringt",
habe die Artisten-Metaphysik „die Kunst vom Erlebniß des Künstlers aus, entgegengestellt,
vor Allem des Musikers: die T o r t u r des Schaffenmüssens, als d i o n y s i s c h e r T r i e b . "
1034 d W 2, 3/2, 55 f.
1035
Siehe G T 5, 3 / 1 , 39.
1036 D W 2, 3 / 2 , 56.
!° 37 Ebd.
1038
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 59.
i° 3 9 Siehe Seite 131 f.
1040
Sommer—Herbst 1873, III 29 [17], 3 / 4 , 240 f.
1041 2, 3 / 2 , 381.
1042
Ebd. Vgl. Frühjahr—Sommer 1875, IV 5 [69], 4 / 1 , 135 f., hier: S. 135: „ D a s l e i b h a f t e
E r s c h e i n e n von Göttern, wie bei Sappho's Anrufung der Aphrodite, ist n i c h t als
poetische Lizenz zu verstehen, es sind häufige Hallucinationen."
1043 Vgl J i e nachfolgende Passage aus einem Brief, den Nietzsches Lehrer Friedrich Ritsehl am
2.2. 1873 an den Baseler Ratsherrn Wilhelm Vischer geschrieben hat: „Aber unser
Nietzsche —! ja das ist wirklich ein recht betrübtes Kapitel, wie ja doch auch Sie — trotz
alles Wohlwollens f ü r den trefflichen Mann — in Ihrem Briefe es auffassen. Es ist
wundersam, wie in dem Manne geradezu zwei Seelen nebeneinander leben. Einerseits die
strengste Methode geschulter wissenschaftlicher Forschung... anderseits diese phanta-
stisch-überschwängliche, übergeistreich ins Unverstehbare überschlagende, Wagner-Scho-
penhauerische Kunstmysterienreligionsschwärmerei! Denn das ist kaum zu viel gesagt, daß
er und seine — ganz unter seinem magischen Einfluß stehenden — Mitadepten Rohde und
Romundt im Grunde auf eine neue Religionsstifterei ausgehen." (zitiert nach: Janz 1,
S. 511).
1044 2, 3 / 2 , 383.
Ό « Ebd., S. 383 f.
1046
W L 1, 3 / 2 , 375.
1047
GA 19, 389—391, hier: S.391.
1048
Ebd.
>°49 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, 6 / 1 , 367—370, hier: S.370; schließlich, leicht
verändert, als erster Dionysos-Dithyrambus unter dem Titel „ N u r N a r r ! N u r Dichter!",
Anmerkungen 1049 bis 1063 zum Abschnitt „Voraussetzungen" 469

6 / 3 , 375—378, hier: S. 378, danach das Zitat. Siehe dazu Gerhard Kaisers vorzügliche
Interpretation dieses Gedichtes in: G. K., Wie die Dichter lügen, a. a. O., S. 184—206.
1050 h i n t e r 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [3], 3 / 3 , 59.
1051
September 1870—Januar 1871, III 5 [25], 3 / 3 , 102.
1052 Ebd.
1053
September 1870—Januar 1871, III 5 [26], 3 / 3 , 102.
1054
Ende 1870—April 1871, III 7 [152], 3 / 3 , 206.
Ό » W B 3, 4 / 1 , 17.
1056 W B 4, 4 / 1 , 23.
1057
Ebd., S. 24 f. "Woraus sich seine Feindschaft gegen die moderne — später sagt er dazu:
decadencehafte — Kunst erklärt, insofern diese nämlich ihre Aufgabe in einer — vom
Publikum erwünschten — „künstlich erzeugten A u f r e g u n g " findet: „Als ob man sich
fürchtete, an sich selber durch Ekel und Stumpfheit zu Grunde zu gehen, ruft man alle
bösen Dämonen auf, um sich durch diese Jäger wie ein Wild treiben zu lassen: man lechzt
nach Leiden, Zorn, Hass, Erhitzung, plötzlichem Schrecken, athemloser Spannung und
ruft den Künstler herbei als den Beschwörer dieser Geisterjagd." (WB 5, 4 / 1 , 32).
1058 VII 25 [505], 7 / 2 , 142 f.
1059 i n 19 [322], 3/4, 106. Vgl. zu der folgenden Erklärung dieses Satzes Nietzsches
entsprechende Ausführungen in der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " über das Wiederaufleben der
dionysischen Weisheit in der Gegenwart (Abschnitt 19, 3/1, 124): „ D e n n diesen
unausmessbaren Werth behält f ü r uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener
Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und
Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind: nur dass wir gleichsam in
u m g e k e h r t e r O r d n u n g die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch
durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur
Periode der Tragödie zu schreiten scheinen."
1060
Siehe E H , Die Geburt der Tragödie 3, 6 / 3 , 310 f: „ V o r mir giebt es diese Umsetzung des
Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die t r a g i s c h e W e i s h e i t , —
ich habe vergebens nach Anzeichen davon selbst bei den g r o s s e n Griechen der
Philosophie, denen der zwei Jahrhunderte v o r Sokrates, gesucht. Ein Zweifel blieb mir
zurück bei Η e r a k 1 i t , in dessen N ä h e überhaupt mir wärmer, mit wohler zu Muthe wird
als irgendwo sonst."
i° 61 III 19 [17], 3 / 4 , 9.
1062
I I / l , 189—191, hier: S. 190.
1063
2 / 1 , 247—269, hier: S.268.

Anmerkungen zum Abschnitt „ Übersetzungen - Die Geburt der Tragödie aus


dem Geiste der Musik"
1
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a. a. O., S. 20 f.
2
I I / 3 , 44—46, hier: S. 45. Vgl. auch Nietzsches Brief an Ritsehl vom 30. 1. 1872, I I / l , 281 f.
3
So Nietzsche über sich selbst im Entwurf eines Briefes an Sophie Ritsehl am 26.7. 1869
( I I / l , 29—31, hier: S.30).
4
SE 3, 3 / 1 , 356.
5 Siehe den Brief an Rohde vom 29.3. 1871 ( I I / l , 189—191, hier: S. 189).
6
II/3, 80—83, hier: S. 81 f.
7
G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3 / 1 , 9.
8
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [62], 3 / 4 , 27.
9
Wie Anm. 7.
10
G T 5, 3 / 1 , 39.
11
G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 5.
' 2 Ebd., S. 5 f.
13
G T , Versuch einer Selbstkritik 3, 3/1, 8.
470 Anmerkungen 14 bis 25 zum Abschnitt „Übersetzungen"

14 G T 21, 3/1, 131.


15 Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, a. a. O., S. 220.
!<> Wie Anm. 13.
1 7 Louis Ehlert (1825—1884), Musiklehrer, Komponist und Musikschriftsteller. Das von

Nietzsche gelesene Buch ist im Jahre 1859 in Berlin erschienen (3. Auflage 1879) und
wurde auch ins Französische und Englische übersetzt.
18 1/2, 297—299, hier: S. 298 f.
1 9 Siehe dazu: G T , Versuch einer Selbstkritik 6 und 7, 3/1, 13—16, sowie: FW 370 („Was ist

Romantik?"), 5/2, 301—304.


2 0 Vgl. etwa FW 370, a. a. O., hier: S. 303: „Dergestaltlernte ich allmählich Epikurbegreifen,

den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den ,Christen', der in der That nur
eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist". — Daß sich das Wesen
der Romantik auf Christentum und Piatonismus zurückführen läßt, hat vor Nietzsche mit
am deutlichsten Jean Paul gesehen. Im § 23 seiner „Vorschule für Ästhetik" schreibt der
vom Nietzsche als „Verhängniss im Schlafrock" (WS 99, 4/3, 235) bezeichnete Dichter
unter der Uberschrift „Quelle der romantischen Poesie": „Ursprung und Charakter der
ganzen neueren Poesie läßt sich so leicht aus dem Christentume ableiten, daß man die
romantische ebensogut die christliche nennen könnte. Das Christentum vertilgte, wie ein
Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem
Grabeshügel, zu einer Himmels-Staffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an
die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie der Körperwelt, und Teufel
als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle Erden-Gegenwart war zu
Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem
Einstürze der äußern Welt noch übrig? — Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist
stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern
haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das
Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. [ . . . ] statt der
griechischen heitern Freude erschien entweder unendliche Sehnsucht oder die
unaussprechliche Seligkeit — und zeit- und schrankenlose Verdammnis — die
Geisterfurcht, welche vor sich selber schaudert — die schwärmerische beschauliche Liebe
— die grenzenlose Mönchs-Entsagung — die platonische und neuplatonische
Philosophie." (Jean Paul, Werke in zwölf Bänden, hrsg. v. Norbert Miller, München/Wien
1975, hier: Bd. 9, S. 93) Auch Nietzsche war der Meinung „Jean Paul wußte sehr viel" (WS
99, a. a. O.,): eben ζ. B. über den Ursprung jenes Tuns, die Welt zu einem Grabeshügel
zusammenzudrücken, doch verstand er nicht, was dieses letztlich bedeutet — wir hingegen
verstehen dies mit einem Blick, beispielsweise aus dem Fenster, aber sind Ignoranten in
bezug auf das Woher jener Umweltzerstörung. Vielleicht sollte man doch Goethe, den
Abgott des Bildungsbürgers, endlich einmal genau lesen, der schon wußte, warum er
gleichermaßen Christentum, Romantik und Technik bekämpfte.
21 EH, Die Geburt der Tragödie 1, 6/3, 308.
22 Wir erinnern hier an unsere Ausführungen über Sprache und Musik auf S. 171 f., S. 182 f.
sowie S. 185.
23 I I / l , 255-258, hier: S. 256.
24 EH, Die Geburt der Tragödie 4, 6 / 3 , 311 f. Solches sollte sich später im Falle des Maestro
Pietro Gasti wiederholen.
25 EH, Menschliches, Allzumenschliches 6, 6 / 3 , 325 f., hier: S. 326; siehe dazu auch: EH, Die
Unzeitgemässen 1, 6/3, 314 f.: „In der d r i t t e n und v i e r t e n Unzeitgemässen werden,
als Fingerzeige zu einem h ö h e r e n Begriff der Cultur, zur Wiederherstellung des Begriffs
,Cultur', zwei Bilder der härtesten S e l b s t s u c h t , S e l b s t z u c h t dagegen aufgestellt
[ . . . ] Schopenhauer und Wagner o d e r , mit Einem Wort, Nietzsche..." Vgl. des
weiteren: Friedrich A. Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von
,Ecce homo', in: Literaturmagazin 12, Nietzsche (Das neue Buch 135), Reinbek bei
Hamburg 1980, S. 153-175.
Anmerkungen 26 bis 35 zum Abschnitt „Übersetzungen" 471

26
G T , Versuch einer Selbstkritik 5 , 3 / 1 , 11. Im folgenden werden Zitate aus der „Geburt der
T r a g ö d i e " im Haupttext nachgewiesen, wobei zunächst der Abschnitt, dann die Seite zur
Angabe kommen.
27
Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, a. a. O., S. 29. Zu
unserer Interpretation des Heraklitischen π ό λ ε μ ο ς siehe auch Heideggers Ausführungen
über das betreffende Heraklit-Fragment, ebd., S. 28 f., sowie seine daran anknüpfende
Deutung des wesenhaften Streites in der Schrift „ D e r Ursprung des Kunstwerkes",
a. a. O., S. 34. — Unsere folgenden Ausführungen werden zeigen, was von Friedhelm
Dechers Behauptung zu halten ist, daß es angebracht sei, „den Einfluß Heraklits auf den
jungen Nietzsche nicht zu hoch zu veranschlagen." (F. D., Nietzsches Metaphysik in der
„Geburt der Tragödie" im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers, in: Nietzsche-Stu-
dien 14/1985, S. 110-125, hier: S. 118.) Sofern dabei das W o r t „Einfluß" im
philosophischen und nicht im philologischen Sinne verstanden werden will...
28
P H G 5, 3 / 2 , 319: „es ist die gute Eris Hesiods".
29
Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung, S. 28.
3
° Ebd.
31
W B 9, 4 / 1 , 66: „Wagner's Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von dem
grossen ephesischen Philosophen verstanden wurde, als eine Harmonie, welche der Streit
aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft."
32
C V 5, 3 / 2 , 283.
33
Eine solche Kultur erblickt Nietzsche im „indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit
seiner Sehnsucht in's Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit
ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf: wie diese wiederum eine
Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände durch
eine Vorstellung zu überwinden." (21, 129) Wenige Seiten vorher bezeichnet Nietzsche
diese Kultur als „ t r a g i s c h e Cultur", was zur Verwechslung mit seinem Kulturideal
Anlaß geben kann, das er an dieser Stelle „ k ü n s t l e r i s c h e " oder „hellenische" Kultur
nennt (18, 112), dem er später jedoch ebenfalls den N a m e n „tragische Kultur" gibt
(18,114). Vielleicht ist diese terminologische Unsauberkeit nicht ganz unbeabsichtigt, wird
doch dadurch unter Umständen weniger deutlich, daß Nietzsche bei seinen kritischen
Worten über die buddhaistische Kultur nicht zuletzt die Schopenhauersche Metaphysik
und mit ihr die Wagnersche Kulturphilosophie und Kunst im Auge hat. Mögen darum
beide auch in der „Geburt der T r a g ö d i e " als Wegbereiter der von Nietzsche erhofften
tragischen Kultur gefeiert werden, mag Wagners „Tristan" darüber hinaus als Vorbild der
neuen Tragödie gerühmt werden — diese Stelle belegt, daß Nietzsches Konzeption der
Wiederbelebung des in sich einigen Streites von Dionysos und Apoll von den „rein
dionysischen" und als solchen nicht mehr mit „dionysisch" zu betitelnden Ansätzen
Schopenhauers und Wagners tiefgreifend geschieden ist.
34
Martin Heidegger, Heraklit, a. a. O., S. 26.
35
Anfang 1871, III 10 [1], 3 / 3 , 345-363, hier: S. 349. — Genau dies aber sieht Walter
Kaufmann (op. cit.) nicht — womit er Zeugnis davon ablegt, daß alles Reden über das
„dialektische" Verhältnis von Apoll und Dionysos („Nietzsches Denkweise ist in doppelter
Weise dialektisch. [ . . . ] Wie Nietzsche zu seinem Verständnis philosophischer Systeme
kam, indem er ihre Gefahren und Nachteile erkannte, so erklärte er auch die Geburt der
Schönheit durch den Konflikt und durch den Triumph von Apollo über Dionysos."
[S. 154] U n d : „In der Geburt der Tragödie steht das Dionysische f ü r jenes negative und
doch notwendige dialektische Moment, ohne das, nach Nietzsche, die Erschaffung
ästhetischer Werte unmöglich wäre." [S. 151]) so lange gedankenlos bleibt, wie man den
„Kampf jenes Gegensatzes" ( G T 1,21) bzw. „Dialektik" nicht im Hinblick auf Heraklits
π ό λ ε μ ο ς zu denken versucht — und d. h. nicht bloß darüber redet: „alle philosophisch
bedeutsamen Stellen über ,Krieg' haben, genausowenig wie Heraklits berühmter Satz:
,Der Krieg ist der Vater aller Dinge', etwas mit dem Abbruch der diplomatischen
Beziehungen zu tun. Es war ja auch Heraklit, von dem Nietzsche das W o r t .Krieg'
übernommen hat." Das mag einem amerikanischen Kaufmann genügen (S. 452), nicht aber
472 Anmerkung 35 zum Abschnitt „Übersetzungen"

einem Leser, der diesem zentralen Gedanken Nietzsches nachzudenken versucht — der
sich denn doch besser an das hält, was Heidegger über Heraklits πόλεμος zu sagen weiß.
Bezugnehmend auf ein Zitat aus dem 2. Kapitel der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " (3/1, 28),
in dem die „dionysischen" Regungen der Barbaren den apollinisch veredelten der Griechen
gegenübergestellt werden („gerade die wildesten Bestien der N a t u r wurden hier entfesselt,
bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der
eigentliche ,Hexentrank' erschienen ist"), führt Kaufmann aus: „Dieses Bild vom
Dionysischen als höchst zerstörerischem Fieber unterscheidet sich so sehr von seiner
angeblichen Verherrlichung auf Kosten des Apollinischen, daß man sich verwundert fragt,
wie die Geburt der Tragödie jemals so gründlich mißverstanden werden konnte. Es gibt eine
einfache Erklärung dafür. Man hat nicht gemerkt, daß der Dionysos, den Nietzsche in den
späteren Schriften als seinen Gott rühmte, nicht mehr die Gottheit der gestaltlosen Raserei
ist, die er in seinem ersten Buch repräsentiert. N u r der N a m e hält sich durch, aber später
steht das Dionysische f ü r die beherrschte Leidenschaft im Gegensatz zu der Abtötung der
Leidenschaften, die Nietzsche zunehmend mit dem Christentum identifizierte. [ . . . ] Der
spätere Dionysos ist eine Synthese aus den beiden Kräften, die in der Geburt der Tragödie
durch Dionysos und Apoll repräsentiert w e r d e n " (S. 150 f.).
Nein, man hat ebensowenig wie Kaufmann bemerkt, daß der Dionysos der „ G e b u r t
der T r a g ö d i e " darum keine Gottheit der gestaltlosen barbarischen Raserei sein kann, weil
er nur im gegenwendigen Bezug zu Apollo ist. Und um solches zu erkennen, bedarf es noch
nicht einmal des Nachdenkens über das, was Nietzsche mit dem „Kampf jenes
Gegensatzes" zwischen Dionysos und Apoll gemeint haben könnte, sondern nur
schlichten, aber genauen Lesens. So schreibt Nietzsche nämlich über die „ungeheure Kluft
[ . . . ] , welche die d i o n y s i s c h e n G r i e c h e n von den dionysischen Barbaren trennt",
die Apollo nicht kennen: „Aus allen Enden der alten Welt — um die neuere hier bei Seite
zu lassen — von Rom bis Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen,
deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige
Satyr, dem der Bock N a m e n und Attribute verlieh, zu Dionysus selbst." ( G T 2, 3/1, 27 f.)
Die sich in ,,geschlechtliche[r] Zuchtlosigkeit" (ebd., S. 28) ergehenden Barbaren
verehrten somit in Wahrheit nicht Dionysos, sondern seine „rein dionysischen" Begleiter,
sind mithin dem buddhaistischen Kultur-Typus zuzurechnen; womit übereinstimmt, daß
Nietzsche die Barbarenwelt als „ausser-apollinische[... ] Welt", das griechische
Titanen-Zeitalter hingegen als „vor-apollinische W e l t " charakterisiert ( G T 4, 3 / 1 , 36).
Damit aber wird auch Kaufmanns Behauptung hinfällig, daß man „einen
grundsätzlichen Unterschied zwischen den früheren und den späteren Thesen Nietzsches"
(S. 207) konstatieren könne, dergestalt, daß „seine endgültige Philosophie [ · . . ] sich auf
die Annahme eines einzigen grundlegenden Prinzips [stütze], die Philosophie seiner
Jugend [ . . . ] dagegen durch eine Kluft gekennzeichnet [ sei ], die sie beinahe in zwei
Stücke geteilt hätte." (Ebd.) Jene angebliche Kluft ist nämlich nichts anderes als die Fuge
des in sich einigen Streites, als welcher der eine Wille, der Urgrund, west, der auch f ü r den
frühen Nietzsche, wie wir sehen werden, dionysischen Charakters ist und von ihm
ebenfalls mit „Dionysos" bezeichnet wird. D e r Unterschied zur späteren Konzeption liegt
somit keineswegs darin beschlossen, daß jene monistisch, die frühere hingegen dualistisch
ist, sondern darin, daß jene den „Willen" — wie Nietzsche meint — unmetaphysisch als
Willen zur Macht, diese aber im Anschluß an Schopenhauer (pseudo-)metaphysisch als
Willen zum Leben denkt.
Und nur diese Kette von Verkennungen — Bedeutung des Streites, Entsprechung
zwischen früher und später Auffassung im Hinblick auf einen „gebändigten" Dionysos —
gestattet es Kaufmann, Nietzsche schließlich auch noch das Mäntelchen eines
„Aufklärers" umzuwerfen: Mit seiner Formel „Dionysos gegen den Gekreuzigten" habe
Nietzsche niemand anderes als Sokrates im Sinn gehabt. Ausgerechnet Sokrates!
Ausgerechnet denjenigen, in dem die „Geburt der T r a g ö d i e " den Begründer der nach ihm
benannten rein apollinischen, wissenschaftlichen Weltverhaltung erblickt! (Aber von ihrer
Konzeption des Dionysischen soll Nietzsche ja abgewichen sein). Ausgerechnet
Anmerkungen 35 bis 37 zum Abschnitt „Übersetzungen" 473

denjenigen, über den Nietzsche im Sommer 1875 aufzeichnet (IV 6 [3], 4 / 1 , 173):
„ S o c r a t e s , um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf
mit ihm kämpfe." Mit dem Mechanismus von Thesis, Antithesis und Synthesis klappernd,
weiß Kaufmann über jene „kritische" T e n d e n z nur zu bemerken: „In Nietzsches erstem
Buch wird Sokrates zwar ebenso kritisiert wie in seinem letzten, aber er wird zugleich
aufgehoben in den Typ, den Nietzsche am meisten bewundert, wird ein Teil von ihm."
(S. 460) Das bezieht sich auf Nietzsches selbstcharakterisierende Formel vom
„ m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s " ( G T 15, 3 / 1 , 98). Aber diese „ A u f h e b u n g " des
Sokrates, in der Kaufmanns dialektische Interpretation gipfelt („Das volle Ausmaß der
ausgeführten Dialektik in der Geburt der Tragödie wird erst [ . . . ] deutlich werden, wenn
wir die Rolle des Sokrates untersuchen.", S. 154), — diese „ A u f h e b u n g " ist nicht anders zu
verstehen als im Sinne jenes einläßlich besprochenen Streites von „Wissenschaft und
Kunst" bzw. von „Wissenschaft und Weisheit": Die Kunst bestreitet die Tendenz der
Wissenschaften zur Aufsplitterung der Welt durch Zusammenfassung ihrer Erkenntnisse
zu einem „Weltbild"; umgekehrt suchen jene dasselbe zu zersetzen: N u r in diesem
Widerstreit sind Kunst und Wissenschaft fruchtbar. Mit „Sokrates" — f ü r Nietzsche mehr
eine, im Sinne seiner monumentalischen Historie, die heute herrschende Strömung
verbildlichende mythische Gestalt, als der „reale" Sokrates — setzte aber eine
Verabsolutierung der nihilistischen Tendenz der Wissenschaften ein. Nietzsche bekämpft
sie, indem er jenen Widerstreit erneut zu entfachen sucht — auch in sich selbst. Ebendies
meint die zitierte Aufzeichnung: „ S o c r a t e s , um es nur zu bekennen, steht mit so nahe,
dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.", folgt ihr doch unmittelbar das N o t a t
(IV 6 [4], 4 / 1 , 173): „Wissenschaft und Weisheit im Kampfe."
Allenfalls ein „musiktreibender Sokrates" dürfte sich mithin „Dionysos" nennen und
sich gegen den Gekreuzigten stellen — in Athen aber träumte sich ein solcher bestenfalls,
tanzen sah ihn erst Turin. „Polemik" bedeutet bei Nietzsche nämlich nicht zuletzt, sich das
Selbst zu erstreiten in Bestreitung Eigenes, häufig natürlich auch Anderes repräsentieren-
der anderer, mit denen indes ein Streit nur dann wahrhaft strittig sein kann, wenn jener
andere anerkannt wird. N u r das meint die Bewunderung, die Nietzsche f ü r Sokrates hegt
— keineswegs aber eine Identifikation.
Nietzsche aus den Fängen der nationalsozialistischen Ideologie zu befreien, ist eines —
da hat Kaufmann sicher große Meriten —, ihn zum „ A u f k l ä r e r " zu stilisieren, weil er sich
nur so im angelsächsischen Bereich . . . an den Mann bringen läßt, aber ein anderes.
Am Anfang steht das „ e r z e n e " Zeitalter mit dem kaum gebändigten dionysischen
„Uebermaass" (4, 36) ,,seine[r] Titanenkämpfe [ . . . ] und seiner herben Volksphilosophie"
(4, 37). Nietzsche zeigt dann, wie „sich unter dem Walten des apollinischen
Schönheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese ,naive' Herrlichkeit wieder
von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen
Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst und
Weltbetrachtung erhebt." (4, 37 f.) Auf diese Weise zerfällt „die ältere hellenische
Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier grosse Kunststufen"
(4, 38). Das gemeinsame Ziel beider Triebe aber ist „das erhabene und hochgepriesene
Kunstwerk der a t t i s c h e n T r a g ö d i e und des dramatischen Dithyrambus" (ebd.).
Friedrich A. Kittler, Nietzsche (1844-1900), in: Klassiker der Literaturtheorie, hrsg. v.
H o r s t T u r k , München 1979, S. 191-205, hier: S. 194. Diese Bezugnahme auf Leibliches
wird im ersten Satz der Schrift fortgeführt: „ W i r werden viel f ü r die aesthetische
Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur
unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der
Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist: in
ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei
fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt." ( G T 1,
3 / 1 , 21). Heiner Craemer, Religionskritik und tragische Erkenntnis, a. a. O., S. 6 f., Anm.,
liest diesen Satz, „über die thematische Vorzeichnung hinaus, auch als Ironie": er bezieht
den letzten Teil desselben auf Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe". Schon
474 Anmerkungen 37 bis 50 zum Abschnitt „Übersetzungen"

hier sei von Nietzsche „gegen Schopenhauer die Bejahung des Wollens in der Kunst
vorgewiesen".
38 N W , W o ich Einwände mache, 6 / 3 , 416.
39
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, Zukunftsphilologie I, Berlin 1872, S. 11.
40
So hat Nietzsche im Eingangsabschnitt von „Die dionysische Weltanschauung", einer
Vorstufe der „Geburt der Tragödie", den Gegensatz von Dionysos und Apoll bezeichnet.
Es heißt dort von den Griechen, daß sie „die Geheimlehre ihrer Weltanschauung in ihren
Göttern aussprechen und zugleich verschweigen" (3/2, 45). Indem Nietzsche in der
entsprechenden Passage der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " statt dessen von „Kunstanschauung"
spricht, verschweigt er hinwiederum, daß seine Ästhetik Metaphysik ist.
41
September 1870—Januar 1871, III 5 [79], 3 / 3 , 115f., hier: S. 115. Vgl. auch September
1870—Januar 1871, III 5 [81], 3 / 3 , 118 f.: „Ich scheue mich, Raum Zeit und Kausalität aus
dem erbärmlichen menschlichen Bewußtsein abzuleiten: sie sind dem Willen zu eigen. Es
sind die Voraussetzungen f ü r alle Symbolik der Erscheinungen: nun ist der Mensch selbst
eine solche Symbolik, der Staat wiederum, die Erde auch. N u n ist diese Symbolik
unbedingt nicht f ü r den Einzelmenschen allein da —".
42
D W 3, 3 / 2 , 62.
43
D W 2, 3 / 2 , 57. Siehe auch G T 4, 3 / 1 , 37.
44
G M D , 3 / 2 , 11.
45
Vgl. D W 1, 3 / 2 , 47: „der Rausch [ist] das Spiel der N a t u r mit dem Menschen".
46
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32], 3/3, 69.
47
Wir erinnern hier erneut an Heideggers Ausführungen über die griechische
Seinserfahrung, die das abendländische Denken bis einschließlich Nietzsche geprägt haben
soll: „Weil Sein besagt: Anwesenheit und Beständigkeit, deshalb ist das ,Sehen'
vornehmlich geeignet, als Erläuterung f ü r die Erfassung des Anwesenden und Beständigen
zu dienen. Denn im Sehen haben wir das Erfaßte in einem betonten Sinne g e g e n ü b e r ' ,
vorausgesetzt, daß nicht schon unserem Sehen eine Auslegung des Seienden zugrunde
liegt. Die Griechen haben das Verhältnis zum Seienden nicht durch das Sehen erläutert,
weil sie ,Augenmenschen' waren, sondern sie waren, wenn man so will, ,Augenmenschen',
weil sie das Sein des Seienden als Anwesenheit und Beständigkeit erfuhren." (Nietzsche,
Bd. 2, a. a. O., S. 223 f.) In Nietzsches Sicht und Terminologie würde das heißen, daß die
Griechen Apolliniker waren — was ihm zufolge nur bedingt richtig ist: „ D e r Grieche
kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben
zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen."
( G T 3, 3 / 1 , 31) Der Grieche war f ü r Nietzsche vordergründig sehender Apolliniker, weil
er in der Tiefe hörender Dionysiker war — mag Heidegger dieser Behauptung noch
zustimmen können, so doch nicht mehr der Folgerung, die Nietzsche daran k n ü p f t : daß die
Griechen an das Sein als einen illusionären Schein glaubten, weil sie im Bewußtsein des von
Heraklit verkündeten reinen Werdens, das kein „ G e g e n ü b e r " kennt, nicht hätten leben
können — wie ja auch Heraklit diesen Gedanken in das künstlerische Bild des Spiels
kleiden mußte. Heraklit aber ist, wie wir wissen, auch ein anderer N a m e f ü r N i e t z s c h e . . .
48
W a r u m wir hier plötzlich statt von „ U b e r m a ß " von „ U n m a ß " sprechen, das wird aus dem
Kapitel „Versuch einer Er-läuterung des philosophischen Ansatzes der ,Geburt der
Tragödie aus dem Geiste der M u s i k ' " hervorgehen.
49
III 7 [27], 3/3, 151 — 153, hier: S. 153.
50
Siehe dazu etwa G T 16, 3 / 1 , 104, wo es über den Untergang des Helden in der Tragödie
heißt: „an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige
Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht
gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit [sie] aller
Erscheinung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. [ . . . ] der Held, die höchste
Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und
das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. [ . . . ] In der
dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe N a t u r mit ihrer
wahren, unverstellten Stimme an: ,Seid wie ich bin! Unter dem unaufhörlichen Wechsel
Anmerkungen 50 bis 64 zum Abschnitt „Übersetzungen" 475

der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem
Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter!' "
51
Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, a . a . O . , S. 18. Unsere Deutung meint Fink
unverständlicherweise erst den Spätschriften zusprechen zu können. „In der Tragödie der
Griechen entdeckt Nietzsche das Gegenspiel von Gestalt und gestaltloser Lebensflut, von
PERAS und A P E I R O N ; von endlichem Seienden, das der Vernichtung geweiht heimfällt
an den un=endlichen Grund, und dem Grunde selbst, der immer wieder Gestalten aus sich
hinauswirft, — dieses Gegenspiel nennt er den Gegensatz des Apollinischen und
Dionysischen. In der ,Geburt der Tragödie..' operiert Nietzsche noch mit dieser
Unterscheidung wie mit einem echten Gegensatz, so als ob das Apollinische auf der einen,
das Dionysische auf der anderen Seite stünde. Auf dem Wege seines Denkens aber
radikalisiert sich dieser anfängliche Gegensatz zu einer Hereinnahme des Apollinischen
selbst in das Dionysische. Das un=endliche Leben selbst ist das Bauende, das Bildende,
welches Gestalten fixiert — und sie wieder zerbricht. Das Apollinische wird am Ende von
Nietzsches Entwicklung als ein Moment des Dionysischen begriffen."
52 Ebd., S. 41.
53
P H G 5, 3 / 2 , 316.
Ebd., S. 317.
55 Ebd., S. 318.
56 Ebd., S. 319.
57 G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11.
58 VIII 11 [415], 8/2, 435 f., hier: S. 435.
59
Fragment 80 lautet: ,,είδέναι δέ χ ρ ή τ ο ν π ό λ ε μ ο ν έ ό ν τ α ξυνόν και δ ί κ η ν έριν, και
γ ι ν ό μ ε ν α π ά ν τ α κ α τ ' έριν και χ ρ ε ώ μ ε ν α . — Man soll aber wissen, daß der Krieg
gemeinsam (allgemein) ist und das Recht der Zwist und daß alles geschieht auf Grund von
Zwist und Schuldigkeit." (Übersetzung nach Diels/Kranz). Zu Fragment 53 siehe Seite 213.
60
P H G 5, 3 / 2 , 319.
61
Es zeigen sich hier entfernte Beziehungen zu Schopenhauers Deutung der Materie als eines
— von der Kausalität hervorgebrachten — in sich einigen Widerstreites von Raum und
Zeit. W a W I, 39 f.: „ W i r haben aber gefunden, daß im Wirken, also in der Kausalität, das
ganze Wesen der Materie besteht: folglich müssen auch in dieser Raum und Zeit vereinigt
sein, d. h. sie muß die Eigenschaften der Zeit und die des Raumes, sosehr sich beide
widerstreiten, zugleich an sich tragen, und was in jedem von jenen beiden f ü r sich
unmöglich ist, muß sie in sich vereinigen, also die bestandlose Flucht der Zeit mit dem
starren unveränderlichen Beharren des Raumes [ . . . ] Im bloßen Raum wäre die Welt starr
und unbeweglich [ . . . ] In der bloßen Zeit wiederum wäre alles flüchtig".
62
Rainer Maria Rilke, Brief an Gräfin Margot Sizzo-Noris-Crouy am Dreikönigstag 1923,
in: R. M. R., Briefe, Wiesbaden 1980, S. 802—808. Die Passage, in der Rilke versucht, „das
W o r t ,Tod' ohne Negation zu lesen", lautet im Zusammenhang: „wie der Mond, so hat
gewiß das Leben eine uns dauernd abgewendete Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern
seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit, zu der wirklichen heilen und
vollen Sphäre und Kugel des Seins." (S. 806 f.) Zur Beziehung zwischen Nietzsches
Denken und Rilkes Dichten siehe: Martin Heidegger, W o z u Dichter?, a. a. O., vor allem
die Seiten 271, 282 und 308.
63
Martin Heidegger, W o z u Dichter?, a. a. O., S. 298.
64
Ende 1870—April 1871, III 7 [175], 3 / 3 , 216f., hier: S.216: „Es i s t allein der e i n e
Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment geborne Vorstellung. [ . . . ] / / U n d so ist unser
Denken nur ein B i l d des Urintellekts, ein Denken durch die Anschauung des e i n e n
Willens entstanden, der sich seine Visionsgestalt denkend denkt. Wir schauen das Denken
an wie den Leib — weil wir Wille s i n d . / / [ . . . ] / / D i e Einheit zwischen dem Intellekt und
der empirischen Welt ist die prästabilirte Harmonie, in jedem Moment geboren und sich
völlig im kleinsten Atome deckend. [ . . . ] / / [ . . . ] D. h. alles Vorhandene ist in d o p p e l t e r
Weise V o r s t e l l u n g : einmal als B i l d , dann als B i l d des B i l d e s . / / L e b e n ist jenes
476 Anmerkungen 64 bis 78 zum Abschnitt „Übersetzungen"

unablässige Erzeugen dieser doppelten Vorstellungen: der Wille i s t und l e b t allein. Die
empirische Welt e r s c h e i n t nur, und w i r d . "
Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 377—387, hier: S. 380.
66
Ebd., S. 379.
<>7 C V 3, 3/2, 262.
68
Vgl. jetzt auch: D W 3, 3 / 2 , 59, wo sich Nietzsche ausläßt über „das E r h a b e n e als die
künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das L ä c h e r l i c h e als die künstlerische
Entladung vom Ekel des Absurden", kurz: über die apollinische Bändigung oder
Gestaltung des Dionysischen: „ D a s Erhabene und das Lächerliche ist ein Schritt über die
Welt des schönen Scheins hinaus, denn in beiden Begriffen wird ein Widerspruch [sc. ein
Streit] empfunden. Andererseits decken sie sich keineswegs mit der Wahrheit: sie sind eine
Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger als die Schönheit, aber doch noch
eine Umschleierung ist. Wir haben in ihnen also eine M i t t e l w e i t zwischen Schönheit
und Wahrheit: in ihr ist eine Verneinung von Dionysos und Apoll möglich. Diese Welt
offenbart sich in einem Spiel mit dem Rausche, nicht in einem völligen Verschlungensein
durch denselben. Im Schauspieler erkennen wir den dionysischen Menschen wieder, den
instinktiven Dichter Sänger Tänzer, aber als g e s p i e l t e n dionysischen Menschen. Er
sucht dessen Vorbild in der Erschütterung der Erhabenheit zu erreichen oder auch in der
Erschütterung des Gelächters: er geht über die Schönheit hinaus und er sucht doch die
Wahrheit nicht. In der Mitte zwischen beiden bleibt er schwebend. Er strebt nicht nach dem
schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach
W a h r s c h e i n l i c h k e i t . (Symbol, Zeichen der Wahrheit)."
69
3/1, 32: „Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben
verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt
entstehn" — dieser Trieb aber ist der apollinische Trieb.
70
G T 21, 3 / 1 , 129: „der staatenbildende Apollo [ist] auch der Genius des principii
individuationis".
71
Vgl. Frühjahr 1888 VIII 14 [47], 8/3, 33: „die Wirkung der Kunstwerke ist die
E r r e g u n g d e s k u n s t s c h a f f e n d e n Z u s t a n d e s , des R a u s c h e s . . . "
72
V I I I 1 4 [46], 8/3, 32: „Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust:
sie fehlt nicht im apollinischen." Vgl. auch: G D , Streifzüge eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 ,
Ulf.
73
So Nietzsche in einer berühmten Stelle von „Ecce h o m o " (Also sprach Zarathustra 3, 6 / 3 ,
337), auf die wir später noch zu sprechen kommen werden.
74
Sommer bis Ende September 1875, VI 12 [8], 4 / 1 , 324: „Wie durch Wagner die
aesthetischen Gegensätze ,subjektiv', ,objektiv', romantisch, klassisch, naiv, sentimenta-
lisch, ganz aufgehoben sind; sie p a s s e n nicht."
75
1871, III 9 [36], 3/3, 296 f., hier: S. 296.
76
Wie Anm. 72.
77
Sommer 1871—Frühjahr 1872, III 16 [6], 3/3, 421.
78
D W 4, 3 / 2 , 64. Noch in „ D e r Fall W a g n e r " fühlt sich Nietzsche bemüßigt, über das
Drama, respektive die Tragödie, an der er in seiner philosophischen Erstlingsschrift das
Wesen der Kunst abgelesen hatte, in einer Anmerkung folgendes zu bedenken zu geben
( 6 / 3 , 2 6 ) : „Es ist ein wahres Unglück f ü r die Aesthetik gewesen, dass man das W o r t D r a m a
immer m i t , H a n d l u n g ' übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt ist noch im
Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike D r a m a hatte grosse
P a t h o s s c e n e n im Auge — es schloss gerade die H a n d l u n g aus (verlegte sie v o r den
Anfang oder h i n t e r die Scene). Das W o r t Drama ist dorischer H e r k u n f t : und nach
dorischem Sprachgebrauch bedeutet es ,Ereigniss', ,Geschichte', beide W o r t e in
hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die ,heilige Geschichte',
auf der die Gründung des Cultus ruhte (— also kein Thun, sondern ein Geschehen: δ ρ ά ν
heisst im Dorischen gar nicht ,thun')." Schon im Herbst 1869 hatte er in diesem Sinne
aufgezeichnet (III 1 [56], 3 / 3 , 23 f., hier: S. 23): „ W i c h t i g s t . Die H a n d l u n g kam in die
Tragödie erst mit dem D i a l o g . Dies zeigt, wie es in dieser Kunstart von vornherein gar
Anmerkungen 78 bis 100 zum Abschnitt „Übersetzungen" 477

nicht abgesehn war auf das 6pöv: sondern auf das πάθος." (Vgl. dazu auch: GMD, 3/2,
17; Ende 1876—Sommer 1877, IV 23 [74], 4/2, 523).Wagner schreibt hingegen in seiner
1872 erschienenen Abhandlung „Über die Benennung ,Musikdrama'": „Nun heißt
,Drama' ursprünglich Tat oder Handlung·, als solche, auf der Bühne dargestellt, bildete sie
anfänglich einen Teil der Tragödie, d. h. des Opferchor-Gesanges, dessen ganze Breite das
Drama endlich einnahm und so zur Hauptsache ward. Mit seinem Namen bezeichnete man
nun für alle Zeiten eine auf einer Schaubühne dargestellte Handlung, wobei das Wichtigste
war, daß dieser Darstellung zugeschaut werden konnte, weshalb der Raum, in welchem
man sich hierzu versammelte, das .Theatron', der Schauraum hieß." (A. a. O., S. 273 f.)
79
Μ. H., Nietzsche, Bd. 2, a . a . O . , S. 223; vgl. Anm. 259 des Abschnittes „Voraussetzun-
gen".
80
Nietzsche an Rudolf Buddensieg am 12.7. 1864, 1/1, 292—294, hier: S.293. Nietzsche
fährt, in Anknüpfung an die romantische Kunst-Religion, fort: „Wenn es je Ahnungen
höherer Welten giebt, so liegen sie hier verborgen." — Als „dämonisch" wurde die Musik
auch von dem Nietzsche unbekannt gebliebenen Sören Kierkegaard bezeichnet, dem das
Unmittelbare der Musik, nicht anders als Hegel, trotz seiner Begeisterung für sie suspekt
war. Dieses Unmittelbare bestimmt Kierkegaard in seiner Don-Giovanni-Abhandlung
„Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische" (S. K.,
Entweder/Oder, Erster Teil, deutsch von Emanuel Hirsch, Köln und Düsseldorf 1979,
S. 47—145) als „sinnliche Unmittelbarkeit" (S. 75). Vom Christentum her gesehen aber ist
das Sinnliche das vom Geist Ausgeschlossene, und als solches ist es dämonisch.
81
September—Oktober 1862, (Ueber das Wesen der Musik.), BAW 2, 89.
82
[Frühjahr 1863], (Ueber das Wesen der Musik), BAW 2, 171 f., hier: S. 171.
83
GA 18, 317. Die Datierung nach KSA 14, 26. Die Aufzeichnung ist Bestandteil des
Quarthefts Ρ I 20 (vgl. GA 18, 338, wo noch die alte Sigle P. XLI verwendet wird).
84
Siehe 1871, III 9 [116], 3/3, 329f.:„Die Bedeutung des T a k t e s als Schranke der Musik,
gegen ihre größte Wirkung. [ . . . ] Der Takt gänzlich vorbildlos in der Natur: was wäre das
für eine Gewalt, die die Regungen des Willens mit gleichen Zeittheilen durchschnitte? —
d. h. ursprünglich ist er Abbild des Wellenschlags. Er ist schon eine Gleichnißrede vom
Willen: etwas Äußerliches, zu vergleichen mit den zwei Schauspielern der Tragödie; was
festgehalten wird. Mit dem Takte wird die Harmonie und Melodie gleichsam gebändigt.//
[ . . . ] / / D a n n wäre der T a k t als etwas Fundamentales zu verstehen: d.h. die
ursprünglichste Zeitempfindung, die F o r m d e r Z e i t selbst."
85
GT, Versuch einer Selbstkritik 6, 3/1, 13.
86
GA 18, 320 (vgl. Anm. 83).
87
Ebd., S. 318.
88
DW 4, 3/2, 66.
89
Ebd., S. 66 f.
90
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [29], 3/3, 68.
91
III 3 [23], 3/3, 67.
92
Vgl. GT 21, 3/1, 133 f., wo Nietzsche in Fortführung Wagnerscher Thesen, beispielsweise
in „Oper und Drama" (S. 289 ff.), über den „Harmonienwechsel" bemerkt, daß er „uns
die Relationen der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise,
unmittelbar vernehmbar" macht.
93
WaW I, 366.
94
Ebd.
95
Ebd., S. 377.
96
Carl Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik, a. a. Ο., S. 38.
97
Ebd., S. 37.
98
Vgl. für die Frühzeit Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [52], 3/4, 384—387, hier:
S. 384; für die Spätzeit: Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [110], 8/1, 113 f., hier: S. 114.
99
Carl Dahlhaus, op. cit., S. 39.
100
Siehe den Brief an Wagner vom 10.11. 1870 ( I I / l , 156 f.). Vgl. auch die Briefe an
478 Anmerkungen 100 bis 111 zum Abschnitt „Übersetzungen"

Gersdorff vom 12.12. 1870 ( I I / l , 160—163, hier: S. 161) und an Rohde vom 15. 12. 1870
( I I / l , 165—167, hier: S. 166).
101
Richard Wagner, Beethoven, 55. Vgl. dazu Nietzsches nachfolgende Aufzeichnung von
Ende 1870—April 1871, III 7 [127], 3 / 3 , 193—200, hier: S. 196: „in jedem Momente, w o
einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge,
das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der
Zuhörer v e r g i ß t jetzt das D r a m a und wacht erst wieder f ü r dasselbe auf, wenn ihn der
dionysische Zauber losgelassen hat." — 1872, in dem Aufsatz „Uber die Benennung
, M u s i k d r a m a ' " wird Wagner noch deutlicher, er bezeichnet dort (S. 276) seine Dramen
„als ersichtlich gewordene Taten der Musik".
102
op. cit., S. 40.
103 Vgl. ebd.
104
Frühjahr 1871, III 12 [1], 3 / 3 , 377—387.
105
Ebd., S. 385.
106
Ende 1870—April 1871, III 7 [127], 3 / 3 , 193—200, hier: S. 195.
107
Vgl. etwa FW 368, 5/2, 298—300, hier: S. 299: „Was geht mich das D r a m a an! Was die
Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das ,Volk' seine Genugthuung hat! Was der
ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! . . . Man erräth, ich bin wesentlich
antitheatralisch geartet, — aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und
Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als M u s i k e r ! . .
U n d , beiläufig gesagt: wenn es Wagner's Theorie gewesen ist ,das Drama ist der Zweck,
die Musik ist immer nur dessen Mittel', — seine P r a x i s dagegen war, von Anfang bis zu
Ende, ,die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur i h r Mittel'."
108
Vgl. den Brief an Paul Deussen „Mittwoch im Febr. 1870", I I / l , 99—101, hier: S. 100: „Es
ist traurig, aber f ü r die unsäglich dürftige deutsche Geselligkeit charakteristisch, daß Du
Vergnügen am Umgange mit Schauspielern hast. [ . . . ] . Im Allgemeinen kann der ernstere
Mensch sicher sein, in diesen Kreisen ausgenützt und ausgelacht zu werden. Doch merkt
man dies sehr spät, und deshalb ist es ein hübscher Zeitvertreib. Mir ist dies Wesen
augenblicklich fatal." Eine Passage, die insofern von einiger Ironie gezeichnet ist, als
Nietzsche bald erkennen muß, justament einen versetzten Schauspieler zu seinem Idol
erkoren zu haben.
109
Anfang 1874—Frühjahr 1874, III 32 [8], 3 / 4 , 370: „ W e n n Goethe ein versetzter Maler,
Schiller ein versetzter Redner ist, so ist Wagner ein versetzter Schauspieler."
110
Wir denken hier an Ausführungen wie die nachfolgende aus der Götzen-Dämmerung,
Streifzüge eines Unzeitgemässen 10, 6 / 3 , 111 f.: „ D e r apollinische Rausch hält vor Allem
das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. [ . . . ] . Im dionysischen Zustande
ist dagegen das gesamte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des
Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens,
Transfigurirens, Verwandeins, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt.
[ . . . ] Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und
-Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren
Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s i d u u m des dionysischen Histrionismus. Man
hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den
Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens: denn in einem gewissen Grade redet noch aller
Rhythmus zu unsern Muskeln): so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort
leibhaft nachahmt und darstellt. T r o t z d e m ist D a s der eigentlich dionysische
Normalzustand, jedenfalls der Urzustand; die Musik ist die langsam erreichte
Spezifikation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen." — Für
Nietzsches Beziehung zu Feuerbach siehe Anm. 28 des Abschnitts „Voraussetzungen".
111
Vgl. etwa die nachfolgende Aufzeichnung vom Frühjahr 1871— Anfang 1872 (III 14 [3],
3 / 3 , 398), in der Nietzsche über die Musik als „ein Mittel [ . . . ] , jedes Bild der Welt [ . . . ]
in einen M y t h u s z u v e r w a n d e l n und zum Ausdruck einer ewig-gültigen allgemeinen
Wahrheit zu bringen", anzumerken weiß: „Dieses ungeheure Vermögen der Musik sehen
wir zweimal bisher in der Weltgeschichte zur M y t h e n s c h ö p f u n g kommen: und das
Anmerkungen 111 bis 125 zum Abschnitt „Übersetzungen" 479

eine Mal sind wir beglückt genug, diesen erstaunlichen Prozeß selbst zu erleben, um von
hier aus auch jenes erste Mal uns analogisch zu verdeutlichen."
112
III 32 [42], 3 / 4 , 381. Es wird dies einer der Hauptvorwürfe gegen die Wagnersche Musik.
Vgl. etwa: Sommer 1875, IV 10 [16], 4 / 1 , 264; Frühling—Sommer 1877, IV 22 [3],
4 / 2 , 475; sowie V M 134, 4 / 3 , 70 f.
113
G T 7, 3 / 1 , 52: „Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und
schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das
furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die
Grausamkeit der N a t u r geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen
Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich
— das Leben."
114
D W 4, 3 / 2 , 69.
" 5 Ebd.
116
Vgl. dazu und zu dem Folgenden die Fortsetzung des auf Seite 221 angeführten und in
Anmerkung 58 nachgewiesenen Zitates: „ W i r h a b e n L ü g e n ö t h i g , um über diese
Realität, diese ,Wahrheit' zum Sieg zu kommen das heißt, um zu l e b e n . . . D a ß die Lüge
nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen
Charakter des Daseins.. . / / D i e Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft —
sie werden in diesem Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit
ihrer Hülfe wird ans Leben g e g l a u b t . ,Das Leben s o l l Vertrauen einflößen': die
Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. U m sie zu lösen, muß der Mensch von N a t u r schon ein
Lügner sein, er muß mehr als alles Andere noch K ü n s t l e r sein... Und er ist es auch:
Metaphysik, Moral, Religion, Wissenschaft — Alles nur Ausgeburten seines Willens zur
Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der ,Wahrheit', zur V e r n e i n u n g der ,Wahrheit'. Dies
Vermögen selbst, dank dem er die R e a l i t ä t d u r c h d i e L ü g e v e r g e w a l t i g t , dieses
K ü n s t l e r - V e r m ö g e n par excellence des Menschen — er hat es noch mit Allem, was
ist, gemein: er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, N a t u r — er selbst ist auch ein
Stück G e n i e d e r L ü g e . . . / / D a ß der Charakter des Daseins v e r k a n n t wird — tiefste
und höchste Geheim-Absicht (der) Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerschaft. Vieles
niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn . . . O h wie klug man noch ist, in
Zuständen, wo man am fernsten davon ist, sich f ü r klug zu halten! Die Liebe, die
Begeisterung, ,Gott' — lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen
zum Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrogenen wird, w o er wieder ans
Leben glaubt, wo er sich überlistet hat: oh wie schwillt es da ihm auf! Welches Entzücken!
Welches Gefühl der Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! . . . Der
Mensch ward wieder einmal H e r r über den ,Stoff' — H e r r über die Wahrheit! . . . Und
wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude: er freut sich
als Künstler, er genießt sich als Macht. D i e L ü g e i s t d i e M a c h t . . . / / D i e Kunst und
nichts als die Kunst. Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum
Leben, das große Stimulans zum L e b e n . . . "
117
P H G 5, 3 / 2 , 318 f.
" β Ebd., S. 319.
119
Juli 1867, D e r Sängerkrieg auf Euboea, BAW 3, 230—244.
120
Ebd., S. 243.
121
P H G 4, 3 / 2 , 314.
122
P H G 4, 3 / 2 , 312: „ ,Der rechte Maßstab zur Beurtheilung eines jeden Menschen ist, daß er
eigentlich ein Wesen ist, welches gar nicht existiren sollte, sondern sein Dasein abbüßt
durch vielgestaltetes Leiden und T o d : was kann man von einem solchen erwarten? Sind wir
denn nicht alle zum T o d e verurtheilte Sünder? Wir büßen unsre Geburt erstlich durch das
Leben und zweitens durch das Sterben a b . ' " Das Zitat entstammt einer Anmerkung im
§ 156 aus dem 2. Band der „Parerga und Paralipomena".
123
Siehe dazu Seite 39 ff.
124
P H G 4, 3 / 2 , 312 f.
125
P H G 4, 3 / 2 , 314.
480 A n m e r k u n g e n 126 bis 159 z u m Abschnitt „ Ü b e r s e t z u n g e n "

126 Ebd.
127 Ebd.
128 P H G 4, 3 / 2 , 313.
129 Ebd.
1 30 P H G 7, 3 / 2 , 326.
13' So z . B . in G D , Die vier grossen I r r t h ü m e r 8, 6 / 3 , 90 f.: „ D a s s N i e m a n d m e h r
verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima
z u r ü c k g e f ü h r t werden darf, dass die W e l t w e d e r als Sensorium, noch als ,Geist' eine
Einheit ist, d i e s e r s t i s t d i e g r o s s e B e f r e i u n g , — damit erst ist die U n s c h u l d
des W e r d e n s wieder h e r g e s t e l l t . . . D e r Begriff , G o t t ' w a r bisher der grösste E i n w a n d
gegen das D a s e i n . . . W i r leugnen G o t t , wir leugnen die Verantwortlichkeit in G o t t :
d a m i t erst erlösen wir die W e l t . — "
,32
G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11.
1» III 19 [50], 3 / 4 , 23.
• 3 4 Vgl. die Heraklitischen Fragmente 30, 31, 64, 66 ( D i e l s / K r a n z ) .
1 3 5 P H G 6, 3 / 2 , 324 f.
1 3 6 P H G 6, 3 / 2 , 322.
1 37 E H , Die G e b u r t der T r a g ö d i e 3, 6 / 3 , 311.
158 P H G 7, 3 / 2 , 327.
1 3 9 P H G 7, 3 / 2 , 325.
D W 1, 3 / 2 , 47 f.
H1
Zitat und Ü b e r s e t z u n g nach D i e l s / K r a n z .
142
W B 9, 4 / 1 , 65 f.
143
3 / 2 , 3 2 0.
144 W a W 1 , 218.
145
P H G 5, 3 / 2 , 320.
i4<> G T 5, 3 / 1 , 43.; vgl. auch G T 24, 3 / 1 , 148, G T 25, 3 / 1 , 150.
147
O t t o Scheel, Die Bedeutung d e r W i t t e n b e r g e r R e f o r m a t i o n , in: W i r k u n g e n der deutschen
R e f o r m a t i o n , hrsg. v. W a l t h e r H u b a t s c h , D a r m s t a d t 1967, S. 31—67, hier: S. 58.
' 4 8 Zitiert n a c h : Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher N a t i o n , V o n der Freiheit
eines Christenmenschen, Sendbrief vom Dolmetschen, hrsg. v. Ernst Kahler, Stuttgart
1975, S. 132.
• 4 9 Martin H e i d e g g e r , Parmenides, Gesamtausgabe Bd. 54, hrsg. v. M a n f r e d S. Frings,
F r a n k f u r t a. M. 1982, S. 75.
150 Ebd.
151 Ebd.
152 Ebd., S. 76.
153 V g l dazu: Martin H e i d e g g e r , Ü b e r w i n d u n g der Metaphysik, in: Μ. H . , V o r t r ä g e und
Aufsätze, Teil I, a. a. O . , S. 63—91, hier: S. 77: „ D i e Gewißheit ist als die Selbstsicherung
(Sich-selbst-wollen) die iustitia als R e c h t f e r t i g u n g des Bezugs z u m Seienden und seiner
ersten U r s a c h e und damit der Zugehörigkeit in das Seiende. Die iustificatio im Sinne der
R e f o r m a t i o n und Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit als W a h r h e i t sind das Selbe."
Letzteres bezieht sich auf H e i d e g g e r s A u s f ü h r u n g e n z u m Wahrheitsbegriff des späten
Nietzsche (vgl. etwa Nietzsche, Bd. 1, a. a. O., S. 632 ff., Bd. 2, a. a. O., S. 19 f., S. 322), die
— was wir hier jedoch nicht aufzeigen k ö n n e n — keineswegs unproblematisch sind.
1 54 An Erwin R o h d e am 28. 2. 1875, I I / 5 , 26—28, hier: S. 28.
155 G T , V o r w o r t an Richard W a g n e r , 3 / 1 , 20.
156 D W 1, 3 / 2 , 46.
ι57 G T 5, 3 / 1 , 43 f.
158 VIII 2 [114], 8 / 1 , 116 f., hier: S. 117.
159 G T 7, 3 / 1 , 52; G T 8, 3 / 1 , 55: d o r t spricht Nietzsche über „das ewige Leben jenes
Daseinskernes", den er mit „ d e m D i n g an sich" gleichsetzt; G T 18, 3 / 1 , 111, w o „ d e r
metaphysische T r o s t " als „Illusion" herausgestellt wird.
Anmerkungen 160 bis 175 zum Abschnitt „Übersetzungen" 481

160
Siehe d a z u : G T , Versuch einer Selbstkritik 7, 3 / 1 , 16: „Ihr solltet vorerst die Kunst des
d i e s s e i t i g e n Trostes lernen, — ihr solltet l a c h e n lernen, meine jungen Freunde,
wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, als
Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt — und die
Metaphysik voran!"
161
P H G 19, 3/2, 363.
i« Ebd.
i« G T 10, 3 / 1 , 69.
164
III 3 [24], 3 / 3 , 67.
Sommer 1872—Anfang 1873, III 21 [16], 3 / 4 , 119 f., hier: S. 119 (dort das ganze Zitat
gesperrt). Diese Aufzeichnung beantwortet implizit Eugen Finks Frage nach der
Bedeutung der Bezeichnung „ t r a g i s c h e [ . . . ] Philosophen. Sind sie dies, weil sie im
Zeitalter der Tragödie lebten und dachten, — oder sind sie in ihrem Denken selbst offen
f ü r das, was Nietzsche in seiner Deutung der Tragödie den Bruderbund von Dionysos und
Apoll nannte? Schwingt in ihrem Denken das tragische Weltverständnis?" (Nietzsches
Philosophie, a. a. O., S. 39).
166
Dazu Nietzsche später, im Sommer 1878, IV 30 [32], 4 / 3 , 388: „ W e n n ich auf den
Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich T ö n e zu
vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie
gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an
meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag — das kann ich auch
jetzt noch nicht mit Bestimmtheit aussprechen."
167
G T 2, 3 / 1 , 26.
168
So bemerkt Nietzsche beispielsweise über die Kunst des Plastikers: „hier überwindet
Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der E w i g k e i t
d e r E r s c h e i n u n g , hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden, der
Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der N a t u r hinweggelogen." ( G T 16,
3 / 1 , 104).
169
Derweise in den dionysischen Erscheinungen des Erhabenen als der ,,künstlerische[n]
Bändigung des Entsetzlichen" und des Komischen als der ,,künstlerische[n] Entladung
vom Ekel des Absurden" ( G T 7, 3 / 1 , 53).
i7° G T 3, 3 / 1 , 33.
>7' G T 5, 3 / 1 , 43.
'72 Z . B . Ende 1870—April 1871, III 7 [168], 3/3, 211 f.: „Dies der U r p r o z e ß : der eine
Weltwille ist zugleich Selbstanschauung: und er schaut sich als Welt: als Erscheinung.";
III 7 [175], 3 / 3 , 216: „Es i s t allein der e i n e Wille: der Mensch ist eine in jedem Moment
geborne Vorstellung. [ . . . ] Und so ist unser Denken nur ein B i l d des Urintellekts, ein
Denken durch die Anschauung des e i n e n Willens entstanden, der sich seine
Visionsgestalt denkend denkt.", III 7 [204], 3 / 3 , 224 f., hier: S. 225: „ S o ist der ganze
Wille Erscheinung geworden und schaut sich selbst an."
173
Ζ. B. SE 5, 3 / 1 , 374: „und wenn die gesammte N a t u r sich zum Menschen hindrängt, so
giebt sie dadurch zu verstehen, dass er zu ihrer Erlösung vom Fluche des Thierlebens
nöthig ist und dass endlich in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde
das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint."
Ebd., S. 378: „ D e n n wie die N a t u r des Philosophen bedarf, so bedarf sie des Künstlers zu
einem metaphysischen Zwecke, nämlich zu ihrer eignen Aufklärung über sich selbst, damit
ihr endlich einmal als reines und fertiges Gebilde entgegengestellt werde, was sie in der
U n r u h e ihres Werdens nie deutlich zu sehen bekommt — also zu ihrer Selbsterkenntniss."
174
E H , Die Geburt der Tragödie 1 , 6 / 3 , 308. Beispielsweise bittet Schopenhauer im § 52 des 1.
Bandes von „Die Welt als Wille und Vorstellung" den Leser zu erwägen, daß „nach
unserer Ansicht die gesamte sichtbare Welt nur die Objektivation, der Spiegel des Willens
ist, zu seiner Selbsterkenntnis, ja wie wir bald sehn werden, zur Möglichkeit seiner
Erlösung ihn begleitend" (a. a. O., S. 371).
17
5 G T 4, 3 / 1 , 34.
482 Anmerkungen 176 bis 196 zum Abschnitt „Übersetzungen"

176
Ende 1870—April 1871, III 7 [168], 3 / 3 , 211 f.
177
III 7 [64], 3/3, 161.
178 G T 10, 3/1, 68. Siehe auch ebd., S. 69, wo Nietzsche als einen der Bestandteile der
„ M y s t e r i e n l e h r e d e r T r a g ö d i e " „die Betrachtung der Individuation als des
Urgrundes des Uebels" nennt.
179
Siehe W a W I, 426, wo Schopenhauer darüber sinniert, „wie wesentlich alles Leben Leiden
ist".
180 'Wohl erscheint, wie Schopenhauer ausführt, der Wille in jedem Individuum ganz und
ungeteilt (vgl. W a W I, 195), aber „durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntnis
getäuscht", verkennt er, wie er „in einer seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlsein
suchend, in der andern großes Leiden hervorbringt und so im heftigen Drange die Zähne in
sein eigenes Fleisch schlägt, nicht wissend, daß er immer nur sich selbst verletzt, dergestalt
durch das Medium der Individuation den Widerstreit mit sich selbst offenbarend, welchen
er in seinem Innern trägt." ( W a W I, 484). Vgl. dazu: Friedhelm Decher, Nietzsches
Metaphysik in der „Geburt der T r a g ö d i e " im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers,
a. a. O., Seite 115—120, der indes nicht erkennt, warum dieser Schopenhauersche Ansatz
f ü r Nietzsche nicht bestimmend werden konnte.
181
Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3 / 3 , 172 f., hier: S. 172. Das folgende Zitat S. 173.
182
Ende 1870—April 1871, III 7 [170], 3 / 3 , 213.
183
III 7 [188], 3/3, 219.
184
Siehe Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3 / 3 , 222—224, hier: S.223: „ D e r S c h m e r z
u n d d a s L e i d m u ß m i t i n d i e V i s i o n ü b e r g e h n , aus der Vorstellung des
Gemarterten: nun empfindet er ihre Visionsbilder, als Anschauender, nicht als Leid." Vgl.
auch Ende 1870—April 1871, III 7 [204], 3 / 3 , 224f.: „1. Nachweis, warum die Welt nur
eine Vorstellung sein k a n n . / / 2 . Diese Vorstellung ist eine verzückte Welt, die ein leidendes
Wesen projicirt. Analogie-Beweis: wir sind zugleich Wille, aber ganz in die
Erscheinungswelt verstrickt. Das Leben als ein fortwährender, Erscheinungen
projicirender und dies mit Lust thuender Krampf. Das Atom als Punkt, inhaltslos, rein
Erscheinung, in jedem kleinsten Momente werdend, n i e s e i e η d . So ist der ganze Wille
Erscheinung geworden und schaut sich selbst a n . / / J e n e aus der Qual erzeugte Vorstellung
wendet sich einzig der Vision zu. Sie hat natürlich kein Selbstbewußtsein. / / S o sind auch
wir nur der Vision, nicht des Wesens uns b e w u ß t . / / [ . . . ] / / [ . . . ] Somit können wir sagen,
daß der Schmerz des kleinsten Atoms zugleich der Schmerz des e i n e n Willens ist: und
daß aller Schmerz ein und derselbe ist: die Vorstellung ist es, durch die wir ihn als zeitlich
und räumlich wahrnehmen, bei NichtVorstellung nehmen wir ihn gar nicht wahr. Die
Vorstellung ist die Verzückung des Schmerzes, durch die er gebrochen wird. In diesem
Sinne ist der ä r g s t e S c h m e r z doch noch ein gebrochener, vorgestellter Schmerz,
gegenüber dem Urschmerz des e i n e n Willens.//Die Wahnvorstellungen als Verzückun-
gen, um den Schmerz zu brechen."
185
Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S. 224.
186
Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172; vgl. auch: Ende 1870—April
1871, III 7 [201], 3/3, 222— 224, hier: S. 223.
187
Ende 1870—April 1871, III 7 [117], 3 / 3 , 173 f., hier: S. 173; vgl. auch: III 7 [165], 3 / 3 ,
210: „ D a s A l l e i n e l e i d e t und projicirt zur Heilung den Willen, zur Erreichung der
reinen Anschauung. Das Leid, die Sehnsucht, der Mangel als Urquell der Dinge."
188 G T , Versuch einer Selbstkritik 5, 3 / 1 , 11.
189
G T 24, 3/1, 148.
190 G T , Versuch einer Selbstkritik 7, 3 / 1 , 15.
191 p w 3 7 0 ) 5 / 2 , 301—304, hier: S. 302.
192 G T , Versuch einer Selbstkritik 1, 3 / 1 , 6.
193
D W 4, 3 / 2 , 64.
194
Sommer 1875, IV 9 [1], 4 / 1 , 207—257, hier: S.232.
195
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [18], 3 / 3 , 65.
196
VIII 14 [47], 8/3, 33.
Anmerkungen 197 bis 227 zum Abschnitt „Übersetzungen" 483

197 III 3 [17], 3/3, 64 f.


198 G T 25, 3/1, 151.
199 Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S. 222.
200 Ende 1870—April 1871, III 7 [157], 3/3, 207 f., hier: S.207.
201 Ende 1870—April 1871, III 7 [201], 3/3, 222—224, hier: S.223.
202 CV 3, 3/2, 262.
203 Ende 1870—April 1871, III 7 [154], 3/3, 207; vgl. auch III 7 [196], 3/3, 221: „Das
Ineinander von Leid und Lust im Wesen der Welt ist es, von dem wir leben. Wir sind nur
Hülsen um jenen unsterblichen Kern."
204 G T 1, 24.
205 D W 1, 3/2, 49 f.
206 Ende 1870—April 1871, III 7 [123], 3/3, 184—187, hier: S. 185; ebenso: G T 10, 3/1, 68.
207 Ende 1870—April 1871, III 7 [172], 3/3, 213.
208 G T 25, 3/1, 151.
2°9 Ende 1870—April 1871, III 7 [172], 3/3, 213 f., hier: S.214.
210 Genialität ist für Schopenhauer „die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in
die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des
Willens daist, diesem Dienste zu entziehn, d. h. sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke
ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu
entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben: und dieses
nicht auf Augenblicke; sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um
das Aufgefaßte durch überlegte Kunst zu wiederholen [ . . . ]." (WaW I, 266) „Der
gewöhnliche Mensch, diese Farbikware der Natur, wie sie solche täglich zu Tausenden
hervorbringt", ist hingegen „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung,
welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, wenigstens durchaus nicht anhaltend fähig: er
kann seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern richten, als sie irgendeine, wenn
auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben." (WaW I, 268)
211 Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172.
212 Ende 1870—April 1871, III 7 [117], 3/3, 173 f., hier: S. 174.
213 Ende 1870—April 1871, III 7 [116], 3/3, 172 f., hier: S. 172.
214 G T 24, 3/1, 148.
2 '5 Ebd.
216 G T 19, 3/1, 122.
217 G T 4, 3/1, 35.
218 DW 1, 3/2, 46.
219 Ende 1870—April 1871, III 7 [175], 3/3, 216 f., hier: S.217.
22° Ebd.
22' Ebd.
222 Ende 1870—April 1871, III 7 [157], 3/3, 207 f.
223 G T 5, 3/1, 43.
224 Siehe Anm. 279 des Abschnitts „Voraussetzungen". Nachweise für Zitate aus diesem Text
im folgenden in Klammern. — Erst bei der Drucklegung der vorliegenden Arbeit habe ich
Kenntnis von Schmids Buch „Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis" (Würzburg
1984 [Nietzsche in der Diskussion]) erhalten, das ich zu den nicht allzu häufigen wirklich
wichtigen Auslegungen der Nietzscheschen Philosophie zählen möchte. Die Lektüre dieser
Schrift bestätigte meine Vermutung, daß der von mir diskutierte Aufsatz ihre
Grundgedanken enthält. Abgesehen davon, daß meine Auseinandersetzung mit Schmid
nunmehr noch auf eine breitere Basis Nietzschescher Texte gestellt werden könnte, habe
ich daher meinen obigen Ausführungen nichts Wesentliches hinzuzufügen.
225 Siehe: Herbst 1885—Herbst 1886, VIII 2 [106], 2 [110] bis 2 [120], 8/1, 111 bzw.
113—119; November 1887, VIII 11 [415], 8/2, 435 f.; Frühjahr 1888, VIII 14 [14] bis
14 [26] und 14 [33] bis 14 [36], 8/3, 16—22, 26—28.
226 III/5, 513—515, hier: S. 515.
227 VIII 2 [139], 8/1, 133 f., hier: S. 134.
484 Anmerkungen 228 bis 266 zum Abschnitt „Übersetzungen"

228
VIII 14 [98], 8 / 3 , 66—68, hier: S.67.
229
VII 35 [15], 7 / 3 , 235 f., hier: S. 236.
230
Schmid beruft sich dabei auf die folgenden beiden Aufzeichnungen: Winter 1883—1884,
VII 24 [9], 7 / 1 , 689 f., April—Juni 1885, VII 34 [46], 7 / 3 , 154.
231
6 / 2 , 44.
232
Ebd.
233
VIII 5 [9], 8/1, 191.
234
6 / 2 , 50 f., hier: S.51.
235
Wie Anm. 227, S. 133.
236
6 / 2 , 361.
237
Frühjahr 1888, VIII 14 [98], 8/3, 66—68, hier: S.67.
238
Vgl. dazu eine Aufzeichnung von Ende 1886—Frühjahr 1887, VIII 7 [4], 8 / 1 , 267—278,
hier: S. 267, in der ein Gedanke zum Ausdruck kommt, der sich bereits in P H G 4, 3 / 2 ,
312 ff. findet: „Seit Plato ist die Philosophie unter der Herrschaft der Moral: auch bei
seinen Vorgängern spielen moralische Interpretationen entscheidend hinein". Siehe auch
Nietzsches Brief an Constantin N a u m a n n vom 5. 10. 1887, III/5, 163.
239
VII 40 [25], 7 / 3 , 373: „ D e r Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein
Glaube mehr, und keine Gewißheit! Wir Neueren sind Alle Gegner des Descartes und
wehren uns gegen seine dogmatische Leichtfertigkeit im Zweifel. ,Es muß besser gezweifelt
werden als Descartes!' "
240
So hat schließlich auch Wolfgang Müller-Lauter die in seinem Nietzsche-Buch (a. a. O.,
S. 166) geäußerte Auffassung widerrufen, daß Nietzsches naturwissenschaftliche
Begründung der Wiederkunftslehre „exoterisches R e d e n " sei, „das auf den Zeitgeist
Rücksicht nimmt" (W. M.-L., Das Willenswesen und der Übermensch, a. a. O., S. 160 f.,
Anm. 38).
241
VIII 14 [79], 8 / 3 , 49—51.
242
Ebd., S. 49.
243
Ebd., S. 50.
244
Ebd.
2
« Ebd., S.51.
246
Wie Anm. 237.
247
G D , Die „ V e r n u n f t " in der Philosophie 4, 6 / 3 , 70.
248
In: Nietzsche-Studien 13/1984, S. 356—373, hier: S. 360.
249
Ebd., S. 364.
August—September 1885, VII 40 [8], 7 / 3 , 363 f., hier: S. 363.
Juni—Juli 1885, VII 37 [5], 7 / 3 , 305 f., hier: S. 306.
252
Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Philosophie der Gegensätze, a. a. O., S. 21.
AC 14, 6 / 3 , 178. Siehe auch: November 1887—März 1888, VIII 11 [73], 8 / 2 , 278 f.;
Frühjahr 1888, VIII 14 [219], 8 / 3 , 186; Frühjahr 1888 VIII 14 [121], 8 / 3 , 92 f.; Frühjahr
1888, VIII 14 [122], 8 / 3 , 93—95; Winter 1883—1884, VII 24 [34], 7 / 1 , 705; vgl. dazu
schon: Müller-Lauter, Nietzsches Philosophie der Gegensätze, a . a . O . , S. 2 3 f .
254
6 / 2 , 2 59.
255
G T 15, 3 / 1 , 95.
256
Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, a. a. O., S. 60.
2 7
* G T 9, 3 / 1 , 62 f.
"8 VIII 20 [58], 8 / 3 , 363.
259
Johann Wolfgang Goethe, Z u r Farbenlehre, Vorwort, H A 13, 315.
260 VII 25 [351], 7 / 2 , 101.
2
61 VII 25 [352], 7 / 2 , 101.
262
6/1, 166.
263
G T 3, 3 / 1 , 30 f.
264
Ebd., S. 31.
265
III 3 [62], 3 / 3 , 77.
266
V M 169, 4 / 3 , 82 f.
Anmerkungen 267 bis 293 zum Abschnitt „Übersetzungen" 485

267
Bernhard Lypp, op. cit., S. 370.
268 Yg[ d a z u : Bernhard Lypp, op. cit., S. 370.
269
Frühjahr 1888, VIII 14 [47], 8/3, 33.
270
VIII 2 [114], 8/1, 117.
271
GM III 6, 6 / 2 , 365.
272
Siehe: Frühjahr 1884, VII 25 [505], 7 / 2 , 142 f.
273
III 3 [11], 3 / 3 , 62.
274
Sommer 1872—Anfang 1873, III 19 [145], 3/4, 53.
275
SE 6, 3 / 1 , 395 f. Nietzsche fährt dort fort: „und so giebt es einen Widerstreit der
Gesinnungen und Thätigkeiten. Ganz beglückte Zeiten brauchten den Gelehrten nicht und
kannten ihn nicht, ganz erkrankte und verdrossene Zeiten schätzten ihn als den höchsten
und würdigsten Menschen und gaben ihm den ersten Rang."
276
H A 12, 371, Nr. 47.
277
H L 7, 3 / 1 , 294.
278
VIII 2 [93], 8/1, 105.
279
Martin Heidegger, Uberwindung der Metaphysik, a. a. O., S. 74.
280
November 1882—Februar 1883, VII 5 [1], 7 / 1 , 191—233, hier: S.219.
281
Za III, 6 / 1 , 205 f.
282
Im Zeitraum Ende Sommer 1883 und Anfang 1884 arbeitete Nietzsche am 3. Teil des
„Zarathustra", während die im folgenden zitierte Aufzeichnung VII 24 [28], 7 / 1 , 703 f. im
Winter 1883—1884 entstanden ist.
283
G T 1, 3 / 1 , 25.
284
W L 1, 3 / 2 , 369.
285
III 29 [72], 3 / 4 , 268 f., hier: S. 269.
286
Za, Vorrede 3, 6 / 1 , 8.
287
Ebd.
288
H A 1, 304.
289 Vgl auch, was der Philosoph dazu sagt, der sich bisher am aufgeschlossensten f ü r das
gezeigt hat, was uns bewegt. Im Kapitel „ D a s Da-sein als Befindlichkeit" bemerkt Martin
Heidegger in „Sein und Zeit" (a. a. O., S. 138): „Theoretisches Hinsehen hat immer schon
die Welt auf die Einförmigkeit des puren Vorhandenen abgeblendet, innerhalb welcher
Einförmigkeit freilich ein neuer Reichtum des im reinen Bestimmen Entdeckbaren
beschlossen liegt."
290
Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Zu Kants Lehre von den transzendentalen
Grundsätzen, Tübingen 1962, S. 163 f.
291
Siehe f ü r die Spätzeit F W 301, 5 / 2 , 219 f., hier: S. 220 (zitiert in Anm. 545 zum Abschnitt
„Voraussetzungen"). Siehe auch: Herbst 1887, VIII 9 [102], 8/2, 57 f., hier: S.57: „Die
Zustände, in denen wir eine V e r k l ä r u n g u n d F ü l l e i n d i e Dinge legen und an ihnen
dichten, bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln:/ der Geschlechtstrieb/
der Rausch/die Mahlzeit/der Frühling/der Sieg über den Feind, der H o h n / d a s
Bravourstück; die Grausamkeit; die Ekstase des religiösen Gefühls." Umgekehrt muß
Nietzsche aber auch folgendes annehmen, was er mit seinem Ansatz wohl schwerlich
erklären kann: „treten uns Dinge entgegen, welche diese Verklärung und Fülle zeigen, so
antwortet das animalische Dasein mit einer E r r e g u n g j e n e r S p h ä r e n , wo alle jene
Lustzustände ihren Sitz haben: — und eine Mischung dieser sehr zarten Nuancen von
animalischen Wohlgefühlen und Begierden ist der a e s t h e t i s c h e Z u s t a n d . " : Der
gleiche Zwiespalt wie in seiner Jugend.
292
Hervorhebung von mir, T h . B.
293
Juli 1863, BAW 2, 255—257, hier: S.255. Vgl. auch, was Nietzsche in einer anderen
Aufzeichnung vom Juli 1863, überschrieben „ N a t u r p h y s i o g n o m i e " (BAW 2, 259 f.,
hier: S. 260), bemerkt: „ W e r fühlt sich nicht anders gestimmt in dem dunkeln Schatten der
Buchen; auf Hügeln, die mit einzeln stehenden T a n n e n bekränzt sind; oder auf der
Grasflur, w o der Wind in dem zitternden Laube der Birke säuselt?"
486 Anmerkungen 294 bis 318 zum Abschnitt „Übersetzungen"

294 Wir zitieren nach: Cesare Pavese, Nacktheit, Sämtliche Erzählungen, Deutsch von
Charlotte Birnbaum, Hamburg, Düsseldorf Neuausgabe 1983; die erwähnte Erzählung
darin: S. 345—347.
295 Ebd., S. 346.
296 Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, München 4 1978, S. 47. Staiger sieht den lyrischen
Stil überhaupt durch die „Erinnerung" charakterisiert.
297 Ebd., S. 19.
298 Ebd. Siehe dazu im folgenden.
299 Ebd., S. 43.
300 Vgl e t w a s. 123, wo er im Ausgang von Martin Heideggers Schrift „Vom Wesen des
Grundes" bemerkt: „Wer irgend etwas als etwas erkennt, ja wer es bloß wahrnimmt,
verfügt bereits über einen Sinnzusammenhang, in dem es artikulierbar wird. Derselbe
Gegenstand kann zu verschiedenen Sinnzusammenhängen gehören und dementsprechend
Verschiedenes sein. [ . . . ] Ohne den ,Hinblick a u f . . . ' , der im voraus gegeben sein muß,
sieht keiner etwas. Was der Hinblick a u f . . . im voraus, ,a priori', wenngleich an Hand der
Dinge erschließt, nennt Heidegger ,Welt'."
301 Ebd., S. 47 f.
3°2 Ebd., S. 53.
303 Ebd., S. 148.
304 Ebd., S. 43.
305 6/ 3 , 69.
3<* Ebd., S. 70.
307 GD, Die „Vernunft" in der Philosophie 2, 6/3, 69.
3C8 Staiger, op. cit., S. 45.
3°9 Ebd., S. 46.
310 Hugo von Hofmannsthal, Das Gespräch über Gedichte, in: Η. v. H., Gesammelte Werke
in Einzelausgaben, Prosa II, hrsg. v. Herbert Steiner, Frankfurt a. M. 1976, S. 80—96, hier:
S. 82 f.
311 Ebd., S. 90.
312 Staiger, op. cit., S. 48.
313 Ebd., S. 59.
314 GT 15, 3/1, 95.
315 HL 1, 3/1, 248 f.
316 Yg[ Staiger, op. cit., S. 37: „Das Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen
soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine Seele gestimmt ist wie die Seele des
Dichters. Und also erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit, die rein nur von
Gleichgestimmten in der Einsamkeit erhört wird." Siehe auch, was Nietzsche über den
ästhetischen Zustand als den Zustand der Uberfülle bemerkt: „Der Nüchterne, der Müde,
der Erschöpfte, der Vertrocknete (ζ. B. ein Gelehrter) kann absolut nichts von der Kunst
empfangen, weil er die künstlerische Urkraft, die Nöthigung des Reichtums nicht hat: wer
nicht geben kann, empfängt auch nichts." (Herbst 1887, VIII 9 [102], 8/2, 57 f., hier:
S. 57).
317 Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke, hrsg. vom Rilke-Archiv, in Verbindung mit Ruth
Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, 1. Band, Frankfurt am Main 1955, S. 557.
318 Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, Zweiter Teil, 6. Buch, HA 9, S. 223.
W e r dächte bei dieser Passage nicht an die Eingangsverse eines Sesenheimer Gedichtes:
„Es schlug mein Herz. Geschwind, zu Pferde !/Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht./
Der Abend wiegte schon die Erde,/Und an den Bergen hing die Nacht./Schon stund im
Nebelkleid die Eiche/Wie ein getürmter Riese da,/Wo Finsternis aus dem Gesträuche/Mit
hundert schwarzen Augen sah." (HA 1, 27)
Nicht fern von unseren Ausführungen über das dem Welt-Zuspruch antwortende
Stiften bemerkt Carl Friedrich von Weizäcker zu diesen Zeilen: „Die Finsternis sieht —
wer hat diesen Blick der Nacht nicht schon gespürt?//Aber ist die Gebärde der Natur nicht
bloß ein Kunstmittel der dichterischen Phantasie? Versteht der Dichter hier nicht aus der
Anmerkungen 318 bis 333 zum Abschnitt „Übersetzungen" 487

Bewegung seiner eigenen Seele heraus etwas, wo an sich gar nichts zu verstehen i s t ? / / D e r
Mensch des rationalen Zeitalters muß so fragen. N u r sollte er langsam sein mit der
Antwort. Der Dichter schlägt hier an einen alten Felsen. Der Quell, den er noch einmal, in
Freiheit und wie spielend erschließt, hat in der großen Gebundenheit der mythischen Zeit
die Menschheit getränkt." (C. F. v. W., Nachwort zu Goethes naturwissenschaftlichen
Schriften, in: H A 13, S. 537—554, hier: S. 552).
Sofern „Erlebnis", wie auch Martin Heidegger zu bedenken gibt (Aus einem Gespräch
von der Sprache, in: Μ. H., Unterwegs zur Sprache, S. 83—155, hier: S. 129 f.), „die
Rückbeziehung des Objektiven auf das Subjekt [nennt]", so sollten, wenn schon nicht
unsere Ausführungen über das Stiften, dann doch zumindest diese W o r t e Weizsäckers
Anlaß geben, den Titel „Erlebnisgedicht" in Frage zu stellen — denn impliziert er nicht
„den V o r r a n g des Künstlers [ . . . ] als des Subjektes, das auf das W e r k als sein Objekt
bezogen bleibt" (ebd., S. 140)?
319
In einer seiner Reflexionen bezeichnet er es als die „Einheit, die uns in vollem Maß zu
Mitempfindung des Unendlichen erhebt" ( H A 12, S. 439, Nr. 540). In Übereinstimmung
mit dem oben zitierten Text gibt er hier auch zu bedenken, daß wir durch zunehmende
Kenntnis „stufenweise" um dieses „Höchste gebracht [werden]" — dies zum einen darum,
weil es, durch sie „nach und nach vereinzelt, [ . . . ] vor unserm Geist nicht leicht wieder
z u s a m m e n t r i t t ] " , zum anderen aber, weil „wir bei vermehrter Kenntnis immer kleiner
werden. D a wir vorher mit dem Ganzen als Riesen standen, sehen wir uns als Zwerge gegen
die Teile."
320 Yg[ dazu*. Martin Heidegger, W o z u Dichter?, a. a. O., S. 292.
321
Martin Heidegger, Sein und Zeit, a. a. Ο., S. 136.
322
Cesare Pavese, Das Maisfeld, in: ders., Nacktheit, a. a. Ο., S. 379—381, hier: S. 379.
323
Ebd., S. 380.
324
Ebd., S. 380 f.
325
Cesare Pavese, Der Weinberg, in: ders., Nacktheit, a. a. O., S. 509—511, hier: S. 509.
32
<> Ebd., S. 510.
327
Siehe dazu die bereits zitierte Stelle bei Staiger, op. cit., S. 48: „ D a s , s u n d e r warumbe' des
lyrisch gestimmten Menschen [ . . . ] ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit dieser
Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem T o n , nicht also mit dem Ewigen, sondern
gerade mit dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln erstirbt."
328
Siehe dazu die Fortsetzung der oben zitierten Passage aus „ D e r Weinberg": „ [ . . . ] wie es
damals war, als es die Zeit f ü r den Knaben noch nicht gab. Und damals geschah wirklich
etwas. Es geschah vor einem Augenblick, es ist der Augenblick selbst: der Mann und der
Knabe begegnen einander und wissen und sagen sich, daß die Zeit verflogen ist." (Pavese,
Nacktheit, a. a. O., S. 510.)
329
Ebd., S. 510 f.
330
Cesare Pavese, Die Zeit, in: Nacktheit, a . a . O . , S. 428—430, hier: S. 429.
331 G T 15, 3 / 1 , 95.
332 G T 17, 3 / 1 , 111.
333
Mag Nietzsche auch den aus dieser sokratischen Grundhaltung hervorgehenden
hoffnungsvollen ,,Glaube[n] an das Erdenglück Aller" ( G T 18, 3 / 1 , 113) nicht nur niemals
geteilt, ihn vielmehr auch als eine der größten Gefahren f ü r die Fortentwicklung der
Menschheit bekämpft haben — nur dort sei „die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten
emporgewachsen", bemerkt er im Juni—Juli 1885 (VII 37 [8], 7 / 3 , 306—309, hier:
S. 307), w o „die Gefährlichkeit seiner Lage ins Ungeheure [ge]wachsen [ist]" —, so finden
sich doch weite Bereiche seiner Philosophie von dieser hier zurückgewiesenen
Grundhaltung geprägt: Erstaunlicher noch als die Tatsache, daß er, wie schon mehrfach
erwähnt, das Leben nicht nur im dionysischen, sondern auch im sokratischen Sinne bejaht
hat, so zwar, daß auch er zu ihm sagte: „ ,Ich will dich: du bist werth erkannt zu werden' ",
erstaunlicher noch muß es nach der oben angeführten Stelle anmuten, daß Nietzsche dem
Gott der Maschinen und Schmelztiegel ebenfalls gefrönt hat, in seiner Lehre von der
Erdherrschaft nämlich, als welche der Mensch nach Gottes T o d in Konsequenz der
488 Anmerkungen 333 bis 355 zum Abschnitt „Übersetzungen"

Philosophie des Willens zur Macht anzutreten habe (MA 25, 4/2, 42). Abgesehen davon,
daß diese Lehre von einem optimistischen Glauben an die Möglichkeiten der
Wissenschaften ausgehen muß, insofern „eine solche bewusste Gesammtregierung" (ebd.),
wenn sie die Menschheit nicht zugrunde richten soll, vorher „eine alle bisherigen Grade
übersteigende K e n n t n i s s d e r B e d i n g u n g e n d e r C u l t u r , als wissenschaftlichefn]
Maassstab für ökumenische Ziele" (ebd.) zu finden hat, zwingt sie Mensch und Ding mit
Ausnahme des höheren Typus, des Übermenschen (vgl. dazu: Wolfgang Müller-Lauter,
Das Willenswesen und der Übermensch, a . a . O . , S. 154—162), in eine vollständige
Machinalisierung hinein — wobei der Philologe zu ungeahnten Ehren kommt: „Ich
versuche eine ökonomische Rechtfertigung der Tugend. — Die Aufgabe ist, den Menschen
möglichst nutzbar (zu) machen, und ihn soweit es irgendwie angeht der unfehlbaren
Maschine zu nähern: zu diesem Zwecke muß er mit M a s c h i n e n - T u g e n d e n
ausgestattet werden (— er muß die Zustände, in welchen er machinal-nutzbar arbeitet, als
die höchstwerthigen empfinden lernen: dazu thut noth, daß ihm die a n d e r e n möglichst
verleidet, möglichst gefährlich und verrufen gemacht werden..)//Hier ist der erste Stein
des Anstoßes die L a n g e w e i l e , die E i n f ö r m i g k e i t , welche alle machinale Thätigkeit
mit sich bringt. D i e s e ertragen zu lernen und nicht nur ertragen, die Langeweile von
einem höheren Reize umspielt sehen lernen: dies war bisher die Aufgabe alles höheren
Schulwesens. Etwas lernen, was uns nichts angeht; und eben darin, in diesem ,objektiven'
Thätigsein seine ,Pflicht' empfinden; die Lust und die Pflicht von einander getrennt
abschätzen lernen — das ist die unschätzbare Aufgabe und Leistung des höheren
Schulwesens. Der Philologe war deshalb bisher der Erzieher an s i c h : weil seine
Thätigkeit selber das Muster einer bis zum Großartigen gehenden Monotonie der
Thätigkeit abgiebt: unter seiner Fahne lernt der Jüngling ,ochsen': erste Vorbedingung zur
einstmaligen Tüchtigkeit machinaler Pflichterfüllung (als Staats-Beamter, Ehegatte,
Bureauschreiberling, Zeitungsleser und Soldat)". (Herbst 1887, VIII 10 [11], 8/2, 125 f.)
In welche Sackgasse sich Nietzsches Philosophie hier verrannt hat, das beweist auf das
deutlichste die Tatsache, welch hohes Maß an Fruchtbarkeit damit jenem Typus
zugesprochen wird, den die Frühphilosophie für gänzlich unfruchtbar gehalten hat.
334
Goethe zu Eckermann am 7. 10. 1827 (zitiert nach: Johann Peter Eckermann, Gespräche
mit Goethe, a. a. O., S. 654).
«5 GT 25, 3/1, 151.
336
M, 5/1, 326 f.
337
Aus dem Englischen von G. Fabricius, Hannover 1858.
338 γ i3 [ 6 ] ; 5/2, 517.
339
EH, Also sprach Zarathustra 3, 6/3, 337 f.
340
Siehe: Za III, Die Heimkehr, 6/1, 228.
341
Β 119 (Diels/Kranz).
342
Legg. V. 747. e.
343
Friedrich A. Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht, a. a. O., S. 160.
344
EH, Warum ich so klug bin 2, 6/3, 279 f.
345
Johann Peter Eckermann, op. cit., S. 333.
346
GT 1, 3/1, 25.
347
DW 2, 3/2, 57.
348
GMD, 3/2, 11.
349
GT 1, 3/1, 26.
550 Ebd.
351 Ebd.
352
Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, a. a. O., S. 293.
353
Ebd., S. 294
354
Winter 1869/70—Frühjahr 1870, III 3 [32], 3/3, 69.
355
Nietzsche bezieht hier besagtes Nebeneinander nur auf das „dionysische" Künstlertum —
wir haben aber schon auf Seite 227 gezeigt, daß er auch für den apollinischen Künstler
einen — indes qualitativ andersgearteten — Rausch annehmen muß; was bedeutet, daß
Anmerkungen 355 bis 373 zum Abschnitt „Übersetzungen" 489

diese Ausführungen f ü r das Künstlertum überhaupt in Anspruch genommen werden


können.
356
D W 1, 3 / 2 , 47 f.
357
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, hrsg. v. Friedrich
Beissner, Bd. 6, S. 425—428, hier: S. 426.
358
W B 7, 4 / 1 , 43.
359
VIII 10 [33], 8/2, 138 f., hier: S. 138.
360
Staiger, op. cit., S. 19.
Ebd.
362
Ebd., S. 13.
363
Ebd., S. 57: „In der Sprache nämlich als Organ der Erkenntnis setzen wir uns mit allem
Dasein auseinander und stellen bestimmte Zusammenhänge der Dinge her. Die Sprache
selbst setzt auseinander, um das Auseinandergesetzte im Satzgefüge wieder zu einen. Die
lyrische Stimmung dagegen wurde als Ineinander charakterisiert, das keiner
Zusammenhänge bedarf, weil alles bereits in der Stimmung geeinigt ist. Jedes einzelne
W o r t stellt fest [ . . . ] und ordnet die vergänglichen Erscheinungen in ein Dauerndes ein.
Der lyrisch Gestimmte aber gleitet; sobald er feststellt, ist er ernüchtert. So findet er sich
tatsächlich von einigem, was die Sprache leistet, bedrängt, von ihrer Intentionalität, die als
solche ein Gegenüber bildet, und ihrer ,Logik', wenn λ ό γ ο ς (von λέγω) ,Zusammenge-
rafftsein des Vielen' besagt. W e n n er sich lyrisch äußern will, muß es ihm deshalb gelingen,
gerade diese Wesenszüge der Sprache nach Möglichkeit zu verdunkeln. Wir haben
dergleichen bemerkt in der Auflösung des syntaktischen Gefüges [ . . . ] , in der Reduktion
der Sätze auf einzelne unzusammenhängende W o r t e [ . . . ] , in einer Scheu vor der allzu
deutlich feststellenden K r a f t des Hilfszeitworts ,ist' [ . . . ] , vor allem in der Musik der
Sprache, die ihre Intentionalität oder Gegenständlichkeit gleichsam aufsaugt."
364
Paul Valery, Eupalinos, Paris 1924, S. 126.
365 G T 3 / i ; 39 : „ ,Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren
Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung
geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische I d e e . ' " Vgl. in diesem
Zusammenhang auch Schillers Brief an Körner vom 25. 5. 1792 sowie seine Abhandlung
„ U b e r naive und sentimentalische Dichtung", in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke in
5 Bänden, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 5 1973, hier: Bd. 5,
S. 375, Anm.
366
Staiger, op. cit., S. 35.
367
Ebd., S. 125.
Ebd., S. 111.
G T 7, 3 / 1 , 52.
370
Staiger, op. cit., S. 130.
371
Ebd., S. 131: „Das Tragische ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten
allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches Dasein ankommt, zerbricht. Im
Tragischen, anders ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt eines Menschen oder wohl gar
eines Volkes oder Standes gesprengt."
372
Ebd., S. 29.
373
Ebd., S. 146.

Anmerkungen zum Abschnitt „Absetzungen: Richard Wagner in Bayreuth —


ein Ausblick"

1
An Malwida von Meysenbug am 11. 2. 1874, II/3, 198 f., hier: S. 199.
2
An Carl von Gersdorff am 11.2. 1874, II/3, 199 f., hier: S. 200.
3
Carl Albrecht Bernouilli gibt in seinem Buch „Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche,
Eine Freundschaft, Nach ungedruckten Dokumenten und im Zusammenhang mit der
490 Anmerkungen 3 bis 31 zum Abschnitt „Absetzungen"

bisherigen Forschung, Erstes Buch" (Jena 1908) Overbecks Bericht über seine
Erfahrungen mit Nietzsches Mitteilsamkeit und Verschlossenheit wieder: „ E r war nichts
weniger als ein Mensch, der ,das H e r z auf der Zunge hatte', soviel man von ihm auch von
,Herzensgeheimnissen' hörte, die andere f ü r sich zu behalten pflegen. Gerade was ihn
lebhaft beschäftigte, behielt er mit unvergleichlicher Energie in seiner Gewalt. Es drängte
mit ungewöhnlicher Mächtigkeit aus ihm heraus und konnte doch unter niemandes
Verschluß sicherer stehen. Wie wählerisch er bei aller Fülle seiner Mitteilungen war, davon
habe ich vielfältige Erfahrungen gemacht, keine von der ich einen lebhafteren Eindruck
behalten hätte, als die mit seinen zu mir im Jahre 1874/75 getanen Äußerungen über
Wagner und seinen Lohengrin gemachte. Sie antizipierten schon damals den ,Fall W a g n e r '
und tauchten im Moment f ü r mich, zu eigener größter Überraschung, blitzartig auf, um
ebenso und zwar f ü r Jahre zu verschwinden. Denn so lange ließ Nietzsche dergleichen in
unserem Verkehr nicht mehr dem Zaum seiner Zähne entfahren, und f ü r die Welt schrieb
er 1876 Richard Wagner in Bayreuth." (Ebd., S. 136 f.)
4
III 32 [44], 3 / 4 , 381 f.
5
IV 30 [166], 4 / 3 , 410.
6
An Carl von Gersdorff am 21.6. 1871, I I / l , 203—205, hier: S . 2 0 3 f . Vgl. auch Cosima
Wagners Eintrag in ihrem Tagebuch unter dem Datum des 28.5. 1871: ,,R[ichard]. spricht
nun heftig über den Brand und seine Bedeutung, ,wenn ihr nicht fähig seid, wieder Bilder
zu malen, so seid ihr nicht wert, sie zu besitzen'. Pr[ofessor]. Nfietzsche]. sagt, daß f ü r den
Gelehrten die ganze Existenz aufhöre bei solchen Ereignissen." (C. W., Die Tagebücher,
B a n d l , 1869—1877, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich
Mack, München/Zürich 1976, S. 392).
7
September 1870—Januar 1871, III 5 [30], 3 / 3 , 1 0 3 f. Vgl. auch: III 5 [115], 3 / 3 , 1 2 8 f.
8
E H , Die Geburt der Tragödie 1, 6 / 3 , 308.
9
G T 24, 3 / 1 , 150.
10
September 1870—Januar 1871, III 5 [115], 3 / 3 , 128 f.
Ι Sommer 1878, IV 30 [9], 4 / 3 , 381 f., hier: S. 382.
12
D S 1, 3 / 1 , 156.
,3
H L 10, 3 / 1 , 326.
14
SE 4, 3 / 1 , 370 f.
15
SE 3, 3 / 1 , 358.
Wie Anm. 11.
17
11/6,1, 362 f., hier: S. 362.
'S W B 10, 4 / 1 , 77.
19
I I / 5 , 171 —174. Vgl. z.B. Seite 173: „Meine Schriftstellerei bringt f ü r mich die
unangenehme Folge mit sich daß jedesmal, wenn ich eine Schrift veröffentlicht habe irgend
etwas in meinen persönlichen Verhältnissen in Frage gestellt wird und erst wieder, mit
einem Aufwand von Humanität, eingerenkt werden muß. In wiefern ich dies heute ganz
besonders empfinde, mag ich gar nicht deutlicher aussprechen. Überlege ich, was ich
diesmal gewagt habe, so wird mir hinterdrein schwindlig und befangen zu Muthe und es
will mir wie dem Reiter auf dem Bodensee ergehen."
20
Vgl. W B 4, 4 / 1 , 25.
21 IV 29 [46], 4 / 3 , 377.
22
III 32 [8], 3 / 4 , 370.
23
SE 4, 3 / 1 , 367—369.
24
W a W I, § 35, 262 f.
25
H L 1, 3 / 1 , 250.
26
H L 1, 3 / 1 , 252 f.
27
IV 27 [80], 4 / 3 , 358.
2
« IV 27 [34], 4 / 3 , 351.
29
Ueber den Rhythmus, MusA 5, 473—476, hier: S. 475 f.
30
IV 30 [24], 4 / 3 , 384.
31
Sommer 1878, IV 30 [51], 4 / 3 , 388.
Anmerkungen 32 bis 44 zum Abschnitt „Absetzungen" 491

32
Frühling—Sommer 1878, IV 27 [79], 4 / 3 , 358.
33
IV 30 [68], 4 / 3 , 391 f.
34
IV 12 [22], 4 / 1 , 333—335, hier: S. 334 f.
35
Walter Kaufmann, Nietzsche, a. a. O., S. 153. — Für Goethe vgl. ζ. B. „Wilhelm Meisters
Lehrjahre", Zweites Buch, 1. Kapitel: Wilhelms Wesen wurde durch den vermeintlichen
Betrug seiner Geliebten Marianne so zerrüttet, „ d a ß die Natur, die ihren Liebling nicht
wollte zugrunde gehen lassen, ihn mit Krankheit anfiel, um ihm von der andern Seite Luft
zu machen." (HA 7, 77) Siehe auch Goethes Bericht über seinen Leipziger Blutsturz im
8. Buch von „Dichtung und W a h r h e i t " : „ich verhetzte meinen glücklichen Organismus
dergestalt, daß die darin enthaltenen besondern Systeme zuletzt in eine Verschwörung und
Revolution ausbrechen mußten, um das Ganze zu retten." ( H A 9, 330)
36
Unter dem Datum des 25.12. heißt es in Cosima Wagners Tagebuch: „nachher mit Pr.
Nietzsche Parzival gelesen, erneuerter furchtbarer Eindruck." ( C . W . , Die Tagebücher,
a. a . O . , S. 182.)
37
Ende Januar und 15.2. 1870, I I / l , 93—96, hier: S.93.
38
Siehe: E H , Menschliches, Allzumenschliches 5, 6 / 3 , 325.
39
Ebd. Für Nietzsches erste Reaktion nach der Übersendung des „Parsifal" vgl. seinen Brief
vom 4.1. 1878 an den von ihm geschätzten Wagnerianer Reinhart von Seydlitz, II/5, 300.
4
° IV 28 [33], 4 / 3 , 366.
41
I I / 5 , 209—211, hier: S.210.
42
IV 28 [16], 4 / 3 , 368.
43
VII 24 [28], 7 / 1 , 703 f., hier: S.703.
44
11/6,2, 8 99 f.
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Personenregister
Adickes, Erich 407 Dahlhaus, Carl 232, 377, 440, 477
Aischylos 442 Darwin, Charles Robert 13, 95, 103—105,
Albrecht, Jörn 423 157, 158, 352, 416, 433, 443
Allemann, Beda 422 Decher, Friedhelm 342, 360, 374, 409, 467,
Anaxagoras 150, 251 471, 482
Anaximander 150, 243, 244, 246, 399, 424, Demokrit 149, 150, 203, 415, 417, 438, 439
439 Demosthenes 398
Anders, Anni 24, 25, 342, 358, 361, 364, 374, Descartes, Rene 18, 62, 66 f., 79 f., 91, 94, 96,
375, 414 107, 124, 225, 248, 263, 268, 274, 284, 354,
Andler, Charles 342 359, 376, 377, 395, 401, 412 f., 417, 430 f.,
Andreas-Salome, Lou 342 435, 484
Angelus Silesius 288 Deussen, Paul 4, 12, 13, 44, 103, 125, 151,
Archilochus 425 160, 345, 351, 407, 478
Aristoteles 52, 76, 118, 137, 143, 155, 159, Dickopp, Karl-Heinz 354, 368, 373, 412,
169, 170, 246, 249, 344, 371, 410, 456, 458 418, 431
Augustinus 71 Diderot, Denis 162
Dilthey, Wilhelm 403
Bach, Johann Sebastian 376, 388 Diogenes Laertios 431
v. Baer, Karl Ernst 46, 47, 49 Dühring, Eugen 444
Baudelaire, Charles 390 Duns Scotus 347
Bauer, Bruno 346
Eckermann, Johann Peter 85, 310, 314, 382,
Bauer, Martin 374
403, 405, 436, 437, 488
Baumgarten, Alexander 249
Ehlert, Louis 210, 470
Becker, Oskar 358 f., 374
Emerson, Ralph Waldo 312, 458
v. Beethoven, Ludwig 4, 12, 196, 210, 232,
Empedokles 13, 150, 161, 352, 439
233, 278, 378, 387, 388, 392
Epikur 203, 470
Beneke, Friedrich Eduard 74, 399
Euripides 238
Bernoulli, Carl Albrecht 489 f.
Bizet, Georges 390—393
Falconet, Etienne Maurice 15
Blumenberg, H a n s 442, 456
Falk, Johann Daniel 82, 403, 433
Böhlendorff, Casimir Ulrich 317
Feuerbach, Ludwig 6, 104, 154, 171, 232,
Böning, T h o m a s 428, 429
233, 277, 346—348, 378, 441, 478
Boscovich, Roger Josef 24, 25, 374
Fink, Eugen 45, 48, 67, 96, 142, 143, 208,
Bourget, Paul 390 219, 220, 353, 354, 367, 368, 370, 371, 374,
Brendel, Franz 233 375, 395, 410, 417, 420, 426, 427,435, 437,
Buddensieg, Rudolf 477 438, 454, 462, 469, 475, 481
Büchner, Georg 316 Fischer, K u n o 27, 29, 345, 353 f.
Bulhof, Ilse Nina 398, 439, 464 Fleischer, Margot 344
Burckhardt, Jacob 420 f., 437, 464 Foucault, Michel 421
Byron, George Gordon Lord 391, 399 Fouillee, Alfred 374
Freud, Sigmund 362
Cassirer, Ernst 111, 353 f., 423 Fuchs, Carl 392
Christus 443
Cohen, H e r m a n n 349 Galilei, Galileo 67
Craemer, Heiner 346—348, 396 f., 473 f. Gast, Peter s. Köselitz, Heinrich
502 Personenregister

PersonenregisterGeisler, Kurt W . 360 Hölderlin, Friedrich 238, 309, 316, 317, 362,
Gerber, Gustav 415 f., 422, 424 f. 431, 489
v. Gersdorff, Carl Freiherr 3, 12, 196, 324, H o f f m a n n , Ernst T h e o d o r (Wilhelm) Ama-
326, 351, 367, 407, 432, 434, 438, 478, 489, deus 59, 210, 378
490 v. Hofmannsthal, H u g o 296, 299, 486
Gögelein, Christoph 406 H o m e r 173, 207, 437, 457
v. Goethe, Johann Wolfgang 14, 15, 63—66, v. Humboldt, Wilhelm Freiherr 235,
67, 69, 80, 81—87, 92, 98, 106, 108, 119, 422—424
124 f., 138, 141, 158, 263, 275, 280, 283,
289, 292, 295, 297, 302, 304, 305, 310, 314, Janke, Wolfgang 401, 403
317, 319, 333, 352, 375 f., 382, 388, 394, Janz, Curt Paul 347, 361, 375, 397, 410, 415,
395, 397—399, 403—406, 413, 416 f., 428, 421, 433, 468
433, 436, 437, 461, 470, 478, 484, Jean Paul 399, 470
486—488, 491
van Gogh, Vincent 293 f. Kaiser, Gerhard 444, 462, 469
Grillparzer, Franz 463 Kant, Immanuel 1—5, 7, 9, 10, 12—16, 20,
Grimm, Jacob und Wilhelm 377, 399 22—24, 27—31, 34, 35, 37, 46, 66, 72, 74,
75, 80, 88—90, 93—95, 100, 103—105,
Haase, Marie-Luise 446 108, 111, 116, 119, 124, 132—134, 138,
H a m a n n , Johann Georg 116 139, 145—147, 151, 157, 172, 183, 189,
v. Hartmann, Eduard 34, 364
191, 192, 197—200, 229, 240, 241, 244,
H a y m , Rudolf 4, 344, 345
277, 279, 283, 290—294, 343—345,
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 52, 54, 57,
348—352, 356, 357, 361, 364, 365, 367,
70—74, 81, 119, 162, 177, 235, 252, 343,
369, 375 f., 404, 406—408, 416, 422—424,
377, 391, 397—399, 421, 428
427 f., 430 f., 434, 436, 440, 441, 464 f.
Heidegger, Martin 1, 21, 48, 50, 62, 76, 77,
Kaufmann, Walter 350 f., 407, 409, 417,
92, 96, 100, 141, 160, 163, 166, 213, 228,
419 f., 442, 471—473, 491
244, 248, 261, 263, 282, 284, 288, 290,
Kaulbach, Friedrich 382
292—294, 297, 303, 307, 320, 342, 347,
Kepler, Johannes 359
353—355, 358—361, 366, 368—373, 374,
Kerner, Justinus 375
376, 379—395, 399—401, 404—407, 410,
414, 417, 419, 422, 425 f., 427, 430, 435, Kierkegaard, Sören 366, 378 f., 477
437, 445, 446—455, 464, 467, 471, 472, Kittler, Friedrich Adolf 214, 458, 470, 473,
488
474, 475, 477, 480, 485—488
Heine, Heinrich 210, 346 v. Kleist, Heinrich 189—192, 320, 362, 441,
Heintel, Erich 424 465
Heisenberg, W e r n e r 394 Klinkenberg, Hans Martin 155, 168, 424,
Helmholtz, H e r m a n n 49, 375 441, 456
Hendel, Marie 403 Klopstock, Friedrich Gottlieb 317
Hennigfeld, Jochem 422, 423 Koch, Franz 403
Heraklit 22, 23, 28, 29, 31, 32, 35—37, 45, König, Josef 357
4 6 , 5 1 — 5 3 , 5 8 , 6 9 , 116, 118, 120, 150, 179, Körner, Christian Gottfried 489
184, 206, 213, 220, 221, 242—247, 314, Köselitz, Heinrich 263, 383, 390, 451, 470
353, 356—358, 367, 370, 374, 380, 381, Kopernikus, Nikolaus 466
397, 413, 414, 417, 419, 420, 424—426, Krug, Gustav 6, 347, 384
428, 439, 444, 448, 454, 460, 469, 471, 474,
475, 480 Lacan, Jacques 362
Herder, Johann Gottfried 110, 111, 116, de Lamarck, Jean Baptiste de Monet 130
170—172, 236, 399, 422 Lange, Friedrich Albert 3, 4, 6, 8, 11, 13, 14,
Hesiod 156, 471 29, 35, 42, 102, 119, 157, 342, 344, 345,
Heyse, Carl Wilhelm Ludwig 172, 457 349, 351—353, 363, 374, 375, 399, 407,
Hiob 279 416, 433
Hobbes, T h o m a s 109, 402 Lausberg, Heinrich 422
Personenregister 503

Leibniz, Gottfried Wilhelm 7, 18, 20, 80—82, Piaton 1, 52, 60, 61, 69, 71, 75—78, 83, 86,
84, 87, 91, 108, 111, 121 — 124, 134, 163, 87,96, 98,99, 106, 115, 127, 161, 169, 170,
223, 225, 300, 401—403, 405, 408, 422, 178, 201, 240, 249, 251, 255, 314, 331, 356,
429, 435 357, 371, 379, 400 f., 413, 416, 424, 442,
Leopardi, Giacomo 332 444, 456, 484
Lessing, Gotthold Ephraim 122, 419, 430 Plotin 84
Levi, H e r m a n n 53 Polin, Raymond 424
Liszt, Franz 391 Protagoras 406, 417
Locke, John 352 Proust, Marcel 295 f.
Pütz, Peter 429
Löwith, Karl 346, 371, 462
Pythagoras 150, 438
Luther, Martin 139, 247—249, 480
Lukretia 437 Raffael 4, 12, 196, 279
Lypp, Bernhard 272, 278, 389, 485 Rawidowicz, Simon 346
Ree, Paul 334, 335
Mallarme, Stephane 362 Ribbeck, O t t o 366
Martienssen, Carl Adolf 376 Riemer, Friedrich Wilhelm 84, 416
Marx, Karl 346, 348 Rilke, Rainer Maria 222, 301, 303, 319, 413,
Mayer, Robert 374 475, 486
Meijers, Anthonie 102, 415 f., 422, 424 f., 457 Ritsehl, Friedrich 208, 433, 468, 469
v. Meysenburg, Malwida 209, 321, 334, 335, Ritsehl, Sophie 210, 469
Rod, Wolfgang 354, 430 f.
433, 489
Rohde, Erwin 13, 42, 57, 131, 152, 161, 206,
Miltiades 156
208, 211, 333, 351, 364, 366, 432—434,
Mittasch, Alwin 374
441, 458, 468, 469, 478, 480
Mohr, Friedrich 358 Romundt, Heinrich 468
Montinari, Mazzino 346 Rose, Valentin 458
Mottl, Felix 185, 384 Rossini, Gioacchino 388
Mozart, W o l f g a n g Amadeus 387
v. Müller, Friedrich 404, 406 Salaquarda, Jörg 351, 366, 367, 373, 433,
Müller, Heinrich 399 439, 446
Müller-Lauter, Wolfgang 272—274, 353, Sappho 468
356, 359, 361, 370, 371, 373, 377, 380, 382, de Saussure, Ferdinand 59, 175, 235
390, 410, 433, 448, 454, 484 Scaevola, Gaius Mucius 437
Mushacke, H e r m a n n 344 Schadewaldt, Wolfgang 83, 404
Scheel, O t t o 480
N a u m a n n , Constantin 349, 424, 484 Scheler, Max 9—11, 15, 291, 350
Newton, Isaac 67, 86, 358, 360, 394, 405, 406 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 59, 112,
343, 352
Nietzsche, Elisabeth 334, 345, 441
v. Schiller, Friedrich 319, 352, 388, 478, 489
Nietzsche, Franziska 345
Schlechta, Karl 101, 342, 358, 361, 362, 367,
Novalis 119, 333
374, 414, 433, 446, 451
v. Schlegel, Friedrich 119
Overbeck, Franz 321, 489 f.
Schleiermacher, Friedrich Daniel 59, 152
Schliemann, Heinrich 362
Palestrina, Giovanni Pierluigi da 388
Schmid, Holger 263—280, 396, 483, 484
Pape, Ingetrud 402 f.
Schopenhauer, Arthur 1—5, 17, 19, 20, 23,
Parmenides 25, 32, 48, 52, 58—60, 69, 92, 93, 24, 27—30, 32, 34, 35, 37, 38, 40—45, 49,
100, 118, 119, 127, 150, 161 53, 54, 58, 59, 75, 91, 98, 103, 109, 112,
Pavese, Cesare 295, 296, 305—309, 312, 320, 115, 119, 123, 125, 130—133, 148,
486, 487 151 — 153, 161, 162, 170, 173, 176, 189,
Pestalozzi, Karl 185, 390, 462, 470 191, 197—200, 214, 215, 217, 223, 226,
Phidias 251 229—232, 240, 243, 246, 247, 250—252,
Pindar 433, 442 254, 257—259, 261, 267, 272, 278, 279,
Pinder, Wilhelm 6, 347 287, 322—335, 342—345, 347, 351—354,
504 Personenregister

356, 357, 359—368, 373, 376—379, 382, Vaihinger, Hans 407


396, 399, 404, 407—409, 414, 416, 420, Valery, Paul 318, 489
423, 425, 430, 432—435, 440, 442, 443, Vico, Giambattista 422
459, 465—468, 470, 471, 473—475, Vischer, Wilhelm 468
479—482, 490
Vogt, Johannes Gustav 374
Schröder, Ε. Chr. 456
Voigt, Hans 360
Schumann, Robert 391
Seelig, Wolfgang 360
Wackenroder, Wilhelm Heinrich 59, 152,
v. Seydlitz-Kurzbach, Reinhart 432, 491
Shakespeare, William 461 210, 378, 440
Sizzo-Noris-Crouy, Gräfin Margot 475 Wagner, Cosima 195, 333, 334, 399, 490, 491
Simmel, Georg 82, 403 Wagner, Richard 35, 42, 45, 56—58, 131,
v. Sinclair, Isaak 431 152—154, 166, 170, 171, 176, 180, 181,
Sokrates 148, 150, 163, 178, 228, 237, 238, 195, 197, 205, 211, 212, 224, 227,
240, 255, 356, 385, 438, 465, 469, 473 f. 231—234, 240, 246, 249, 324—335, 345,
Sophokles 51, 161, 442 346, 356, 367, 376, 378, 382—393, 441,
Spinoza 111, 357, 403 456, 457, 460, 464, 466, 468, 470, 471,
Spir, African 24, 33 f., 36, 102, 363 f., 418 476—479, 489, 490
Sprengel, Fritz 342 Weischedel, Wilhelm 398, 401
Staiger, Emil 296, 298—300, 303, 317—320, v. Weizsäcker, Carl Friedrich Freiherr 359,
404, 486, 487, 489 371, 406, 416, 486 f.
Stendhal 279 Wenzel, Heinz 371
Stingelin, Martin 102, 415 f. Wieland, Christoph Martin 82, 403
Stirner, Max 346 v. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich 208,
Strauß, David Friedrich 346—348, 458 215, 474
Windelband, Wilhelm 350
Tacitus, Publius Cornelius 302 Wittgenstein, Ludwig 101
Taine, Hippolyte 314
Wolf, Friedrich August 464
Thaies 112, 134, 136, 150, 435, 439
Thomas, Dorothee 376
Zarathustra 461
Thomas v. Aquin 78, 88, 247
Tieck, Ludwig 59, 152, 210, 378, 440 v. Zenge, Wilhelmine 465
Trendelenburg, Friedrich Adolf 438 Zeno 119, 178
Tugendhat, Ernst 380 Zilsel, Edgar 444
Zöllner, Johann Karl Friedrich 24, 102, 358,
Uberweg, Friedrich 2, 342 374
Sachregister
Abgrund 87, 307 38, 49, 74, 106, 107, 111, 123, 126, 132,
Abgründigkeit 262, 274—276, 283, 285, 143—146, 166, 173, 179, 217, 224, 243,
289—291, 295, 300, 303—305, 309—311, 245, 255, 265, 288—290, 361, 367, 369,
315 373, 395
absolute Erkenntnis 308 ά ν θ ρ ω ρ ο ς θ ε ω ρ η τ ι κ ό ς 153
absolute Musik 232, 233, 378 Antinomien 10, 118, 119, 426—428
absoluter Geist 71 f. Anwesenheit 52, 292, 379—394, 417, 435,
Absolutes 59, 74, 95, 133, 152, 250, 283, 343, 446—455, 474
383, 408 ά π ε ι ρ ω ν 52, 70, 244, 475
Abständigkeit 316, 393 Apoll 51, 52, 61, 176, 213—216, 218—224,
abstrakte Erkenntnis 357, 361 226, 231, 235—238, 240, 241, 243, 245,
adaequatio (s. a. Richtigkeit, Ubereinstim- 252, 255, 257, 258, 276, 303, 316, 318, 356,
mung, ώ μ ο ί ω σ ι ς ) , 17 f., 40, 78—81, 84, 385, 392, 393, 424, 442, 446, 471—474,
85, 88, 91, 93, 97, 100, 101, 105, 110, 118, 481
121, 143 f., 240, 248, 368, 369, 373, 400 f., apollinisch 199, 211, 213, 217, 218, 225, 227,
426 228, 234—236, 242, 245, 249, 252, 259,
Ästhetik 214 f., 227, 229, 241, 249, 279, 448, 276, 287, 303, 304, 316—319, 365, 385,
474 f., 386, 389, 391—393, 413, 459, 468,
ästhetischer Mensch 245, 375 473—476, 478, 488 f.
ästhetischer W e r t 196, 420, 455 apollonisch 317
ästhetischer Zustand 485 f. Apperzeption 88, 401
ästhetisches Phänomen 188, 279, 332 appetitus 80, 122, 401
Affekt 185, 228, 264 f., 267, 268, 384, 389, Apriori 94, 104, 290—294, 303, 344,
429, 462, 478 349—351, 363, 368, 408, 486
ά γ α θ ό ν 77, 83, 96 Archäologie 362
ά γ ώ ν (s.a. Wettkampf) 156, 227, 242, 243, ά ρ χ ή 63, 399
443, 467 Architektur 387, 389, 391
Akzidenz 31, 116, 411 Aristokratismus 113, 160
ά λ ή θ ε ι α (s. a. Unverborgenheit) 17 f., 40, 41, Artisten-Metaphysik 68, 99, 267 ff., 273 f.,
76, 77, 81, 92, 94, 100, 118, 213, 263, 349, 276, 278, 282, 285—287, 289 f., 310, 320,
353, 359, 368, 369, 371, 372, 381,400, 406, 332, 367, 468
417, 438, 447 Aspekt 121, 134, 429
Amerika 464 Assassinen-Spruch 433
amor fati 98, 268, 274 ά τ α ρ α ξ ί α 203
analogia entis 78, 435 Atheismus 362, 411
analytisches Urteil 375 f. Atmosphäre 64—68, 85, 86, 275, 280, 290 f.,
ά ν ά μ ν η σ ι ς 77, 82 294, 295—302, 305 ff., 311, 314, 316, 318,
ά ν α φ έ ρ ε ι ν 77 319 f., 395
An-denken 301, 308 Atomisierung 192, 466
animal creans 192, 349 Atomismus 14 f.
animal rationale 64, 104, 192, 349 Auf-Gabe 301, 311, 318
Anschauung 17, 28, 31, 37, 40, 52, 183, 257, Aufschein 100, 101, 136, 191, 225
261, 297 Auge 52—54, 61, 70, 112, 222, 228, 271, 292,
Anschein 100, 101, 136, 191, 225 297, 376 f., 379, 380, 393, 478
Anthropomorphisierung 13, 17, 20, 29, 37, Augenmensch 210, 379 f., 474
506 Sachregister

Augenschein 26, 29, 30, 48, 50, 58, 63, 69, 70, Bildungsphilister 326, 329
96, 97, 120, 262, 271, 272 biologistische Argumentation 48, 56, 103,
Ausdruck 174, 176, 460 138, 146
Auseinandersetzung 180, 213, 237, 370, 460 Bleibt der Erde treu! 11, 62, 98, 129, 261, 394
Ausgedehntheit (s. a. res extensa) 292, 376 Buddhaismus 303, 311, 385, 471, 479
Außen 7, 18, 95, 98, 99
Casualismus 14
Bändigung 51 causa 262
Barockstil 387, causa prima 144
Bauen — Zerstören 121 f., 129, 143, 165, causa sui 354
193—195, 240, 244, 256, 277, 334, 475 certitudo (s. a. Gewißheit) 79 f., 85, 86, 88,
Bedingtes 21 f., 36 139, 141, 142, 148, 170, 248, 249, 369, 394,
Bedürfnis 348, 466 448
Befehl 392, 440 Chaos 16, 49, 76, 107, 261, 262, 291, 367,
Begriff 7, 20, 22, 23, 28, 31, 32, 37, 40, 50, 369, 372 f., 385—387, 391 f., 399, 400,417,
52—55, 58, 59, 71, 74, 77, 92, 93, 101, 106, 426, 430, 443, 447, 449, 451, 454, 466
114, 117—119, 143, 150, 151, 176, 177, Charakter, empirischer 34, 423
178, 181 — 183, 187, 192, 196, 199, Charakter, intelligibler 34, 123
201—203, 212, 227, 230, 233, 237, 238, C h o r 479
272, 273, 297, 300 f., 356, 357, 361, 368, Christentum 10, 11, 96, 111, 132, 211, 244,
377, 379, 387, 391, 396 f., 416, 420, 422, 247—249, 251, 277, 279, 325 f., 332 f., 346,
424, 427, 429, 449, 457, 459, 460—463, 347, 351, 364, 390, 408, 434, 470, 477
465 coagitatio 401
Begriffsdichtung 4, 12, 17, 20 f., 35, 41, 45, cogito 79 f., 354, 412
107, 151, 184 f., 195, 223, 241, 287, 421 convenientia 81
Begründungswille 76, 267, 269, 275, 287,
304 f., 316, 347 f., 396 f. dämonisch 228
Belang 86, 281, 284, 287, 303, 304, 305 ff. δ α ι μ ό ν ι ο ν 163
Belangfreiheit 304, 306 Darwinismus 95, 105, 416, 430, 442
Belanglosigkeit 284 f., 304, 306 Dasein 369
bellum omnium contra omnes 109, 163 Dauer 69, 417
Berechenbarkeit 290, 292, 293, 305, 349 f. decadence 11, 138, 256, 277, 348, 349, 383,
Beständigkeit 53, 57, 100, 101, 117, 124, 149, 387, 389, 390, 392, 393, 469
291, 292, 373, 379—394, 445—455, 474 Demokratie 355
Bestand 290, 292, 372, 445 Denken 17, 18, 22, 31, 32, 36, 39—41, 51, 53,
Be-stimmung 280, 283—285, 287, 294, 296, 5 7 , 6 1 , 6 8 , 85,91 f., 93, 100, 101, 107, 115,
301, 303, 305, 308, 311, 316, 392 116, 118, 122, 124, 146 f., 172, 176, 178,
Bewandtnisganzheit 303 183, 190, 196, 222, 237, 242, 281, 282, 294,
Bewegung 26, 33, 36, 62, 271, 365, 377 301, 304, 309, 320, 347, 353, 354, 366, 372,
Bewußtheit 116 373, 379, 381—384, 386, 397, 418 f., 425,
Bewußtsein 128, 190, 343, 369, 408, 423, 425, 426, 430 f., 432, 436, 447, 449, 452 f.,
447, 460 f. 475 f., 481
Bezug (s. a. Welt-Bezug) 64—66, 282—285, Denkstrom 121
303, 315, 316, 319 D e n k - W e r k 196
Bild 40, 53, 55, 108, 115, 175, 176, 183, 200, Destruktion 141
201, 222, 227, 232—236, 260, 391, 424, deutscher Idealismus 119, 153
454, 475 f., 481 deutsche Sprache 417 f.
bildende Kunst 199, 226, 236 deutsches Volk 332 f.
Bilderdenken 108, 115, 116, 175, 432 deutsches Wesen 388 f.
Bildner 199, 213, 260 Dialektik 96, 112, 120, 238, 262, 471—473
Bildung 85, 140, 160—163, 180, 181, 186, διαίρεσις 400 f., 489
206, 301 f., 305, 432, 437, 438, 440 f., 455, Dichten 183, 242
464 Dichter 173, 183, 199, 204, 209, 227, 262,
Bildungsanstalten 160 292, 305, 317 f., 384, 386 f., 429, 468
Sachregister 507

dichterische Weltverhaltung 63, 85, 87, 212, Ekstasis 57, 59, 61, 218, 219, 313, 315, 316,
262, 275, 280, 318 385, 393, 468, 471
Dichtung 151, 173, 180, 182, 236, 319—321, Empfänglichkeit 64, 311, 314, 392
382, 390, 397, 439, 462 Empfindung 14—21, 27, 28, 31—34, 36—38,
Differenz 56, 58, 115 f. 45, 49, 54, 55, 62, 95, 97, 101, 103, 105,
Ding 91, 92, 264, 267, 271, 275, 281, 120, 171, 172, 176, 180—182, 222, 230,
283—285, 293 f., 295, 299, 307, 313, 315, 236, 241, 253, 291, 293 f., 348—350, 353,
353, 361, 381, 398, 416, 417 363 f., 367, 369, 376, 384, 385, 387, 424,
Ding an sich 1—8, 11, 15, 16, 19, 20, 22, 29, 430, 460—463, 489
30, 38, 72, 75, 88, 89 f., 93, 96, 97, Endliches 71, 73, 91, 134, 225, 375, 410
104—107, 110, 124, 129, 132, 216, 223, Endlichkeit 237, 239, 261, 375, 398, 427,
231, 244, 343, 344, 349, 350, 353, 354, 360, 445 f., 470, 487
361, 363, 364, 367, 368, 399, 404, 408, 409, έ ν έ ρ γ ε ι α 81
416 f., 423, 424, 428, 431, 449, 456, 467, Energie 25, 46, 374
480 ens creatum 78
dingen 281, 283, 295, 298, 299, 301, 304, 307 Entbergung 368, 369, 371, 372
Dinglichkeit 45, 69, 114 Entelechie 80, 81, 159
dionysisch 67, 174, 181, 199, 211, 213, 214, Entsetzen 242, 284, 305, 316, 375
217, 218, 226—228, 233, 235—237, 245 f., Entsetzliches 158, 197, 475
249, 258—260, 277, 287, 288, 290, 294, Entwurfsbereich (s. Welt-Entwurf) 316
296, 302, 304, 305, 307—309, 311, 312, Entwurfsvermögen 303
314 f., 316—319, 365, 382—386, 389, Entzug 412, 418, 449, 450
391 f., 393, 394, 413, 446, 450, 451, 459, Epik 319
468, 473—476, 478, 488 f. Epos 199, 227, 236
dionysische Philosophie 428 Erbsünde 245
dionysische Weisheit 275, 309, 469 Erde 313 f.
dionysischer Mensch 476 Erdherrschaft 487 f.
dionysischer Pessimist 470 Ereignis 87
Dionysos 51, 52,61, 176, 194,207, 217—224, Erfolg 397 f.
227, 231, 234—238, 240, 241, 243, 245, Erhabenes 51, 85, 147, 151, 196, 242, 279,
252, 254, 255, 257, 258, 303, 316, 318, 356, 302, 375, 420, 476, 481
385, 389, 390, 392, 393, 431, 442, 446, Erinnerung 296, 297, 308, 403 f., 486
471—473, 474 £ρις 156, 213, 242, 471
Diskontinuität 56—59, 146 Erkennen 51, 93, 100, 155, 169, 185, 189,
Dissonanz 257, 259, 260, 310 223, 268, 375, 439, 449
dithyrambischer Dramatiker 317 Erkenntnis 91, 109, 128, 136, 141, 142, 148,
Dithyrambus 236, 473 170, 184, 188, 190, 191, 193, 196, 202,
Dogmatismus 349 203—206, 241, 277, 280, 303, 317, 331,
dorische Kunst 473 347, 348, 354, 355, 357, 368, 404, 411, 420,
Drama 232, 319 f., 378, 476 f., 478 422—425, 427, 435, 447, 449, 451, 453,
Dynamik 229 f. 455, 465, 468, 489
Erkenntnis, absolute 11 f., 38, 91, 93, 121,
Egoismus 187, 188, 192 f., 309, 453, 466 126 f.
ε ΐ δ ω λ ο ν 169 Erkenntnis, empirische 28, 38
είδος 18, 52, 80, 82 Erkenntnisapparat 8 f., 27, 28, 35, 37, 60, 69,
Eingebung 296, 317 120, 147, 155, 159, 166, 168, 183, 192, 239,
Einheit — Vielheit 14, 16, 18, 35, 37, 44, 45, 241, 344, 369, 373, 385, 446
56—58, 69, 81, 94, 101, 119, 120, Erkenntnistheorie 115
122—124, 133 ff., 149, 160, 166, 168, 174, Erkenntnistrieb 109, 134, 137, 138, 145, 148,
192, 194, 217, 229,244, 245, 251, 258, 353, 149, 152, 197, 420
354, 361, 365, 367, 373, 377, 381, 390, 395, Er-läuterung 69, 212
397, 401, 416 f., 428 f., 451, 457, 480 Erlebnis 382, 487
Einsamer 109, 418 Erlebnisgedicht 487
Einverleibung 436, 447, 449, 465 Erlösung 253
508 Sachregister

Eroberer 113 Fuge 219, 221, 235 f., 239


Er-örterung 69 fundamentum absolutura inconcussum 124
Erscheinung 216, 221 f., 231, 236, 237, 246,
251, 255, 259, 260, 270, 342, 344, 350, 359, Gebärde 232, 235, 378, 456
363, 367, 391, 394, 398, 418, 474 f., 476, Gebärdensprache 171, 175, 229 f.
481, 482 Gebärdensymbolik 171, 175
Erstaunen 51, 242 Gedächtnis 58, 105
erzenes Zeitalter 473 Gedanken 180, 182, 386, 391, 456, 459
Erziehung 432, 441 Gefühl 34, 55, 180, 182, 357, 376, 383, 386,
esoterisch — exoterisch 265 ff., 273, 276 f. 387, 392, 436, 456, 457, 460
Eschatologie 194 Gegenstand 16, 17, 22, 51, 87, 97, 283, 291,
espressivo 392 294, 297, 304, 314, 392
Gegen-Ständigkeit 281, 285, 288, 290, 298,
essentia 74, 75, 78, 369, 448
314—316, 405 f.
Evolution 95
Geheimnis 310, 320, 406
Ewigkeit 242, 427, 453
Gehör 54, 70, 364, 376, 393, 452
Ewiges 37, 51, 71, 94, 162, 164, 165, 187,
Geist 60, 81, 103, 105, 123, 155, 157, 188,
196, 223, 251, 355 f., 375, 445, 454, 474,
269, 333, 352, 386, 393, 397, 416, 451, 452
480, 481, 482, 487
Geisteswissenschaft 155
ewige Wiederkunft des Gleichen 19, 24, 36,
Gelehrte 194, 280 f., 390, 436, 485, 486
43, 113, 149, 151, 165, 195, 245, 354,
Gelehrtenkultur 154
355 f., 358 f., 369, 371, 373—375, 379, 380,
Gemüt 346, 357
394, 398, 419, 426 f., 431, 434, 438, Genealogie 109, 182, 423
445—455, 484 Genialität 483
existentia 78, 369, 448
Genie/Genius 131, 132, 152, 153—155,
Existenz 281, 282, 284—288, 290, 293, 295,
157—163, 166, 173, 188, 192 f., 206, 225,
299, 303, 304, 310 f., 314 f., 319 f., 392, 393 250, 252, 259, 261, 280 f., 282, 323, 326,
Existenzphilosophie 281 327, 331, 395, 421, 436, 443, 444, 456, 464
γένοι', ο ΐ ό ς έ σ σ ι 433, 458
Falschheit 79
Gerechtigkeit 166, 168, 221, 242, 243, 246,
Farbe 349 f.
330, 397, 471, 480
Feststellung 36, 372 f., 394, 418, 426 f.,
Geruch 54, 70, 71, 297, 452
448—450
Gesamtkunstwerk 382 f., 385
Fiktion 21, 45, 47, 74, 368, 410
Geschichte (s. a. Historie) 42, 187, 194, 397,
Form 16—19, 60, 75, 95, 103, 106, 121 f.,
437, 443, 455, 463
145, 166, 201, 252, 262, 270, 318, 343, 350,
Geschichtlichkeit 369 f.
367, 369, 375, 386, 387, 389, 392, 424, 430,
Geschlechtlichkeit 485
436, 450, 454
Geschlechtstrieb 485
französische Revolution 158, 442
Geschmack 197, 249, 349 f.
Freies 294
Gesellschaft 109, 174
Freiheit (s. a. Willensfreiheit) 4, 35, 86, 89, Gesellschaftsvertrag 109, 111
107, 113, 115, 1 2 7 , 2 3 4 , 2 4 5 , 3 1 0 , 3 1 1 , 3 1 3 , Gesetz 19, 75, 105, 106, 245, 271, 355, 385,
348, 350, 364, 386, 423 f., 427, 432 386, 391 f., 416, 440
Freischeinlichkeit 348 Gesichtspunkt 7, 94, 100, 134, 163, 402
Freundschaft 432 f. Gestalt 219, 221, 222, 436
Fruchtbarkeit 5, 69, 82, 84, 87, 108, 125, 126, Ge-stell 394
128—130, 133, 135, 142—145, 147—149, Gestimmtheit 50, 199, 385
188—191, 195, 202, 216, 269, 280—282, Gesundheit 138, 250, 269, 333, 382
295, 300, 301, 309, 310, 312, 356, 370, 393, Getast (s. a. Tastsinn) 53, 54, 70, 292, 364,
395, 405 f., 420, 437, 450, 465 376 f.
Fühlen 436 Gewissen 163, 203, 323 f., 331 f., 383, 413
Führer 160 Gewißheit (s. a. certitudo) 21, 33, 44, 45, 78,
Fürwahrhalten 268 88, 110, 122, 124, 139, 363 f., 368, 408,
Fülle 250 429, 431, 480, 484
Sachregister 509

Glaube 89, 105, 124, 139, 151, 407, 416, 420, όμοίωσις (s. a. adaequatio) 76, 91, 143
439, 453—455 homo-mensura-Satz 406, 417
Gleichnis 55, 57, 59, 176, 225, 227, 230, 232, Horizont 7, 91, 133, 134, 148, 149, 160, 185,
234, 236, 313, 458 f., 477 225, 418, 439, 443
Gott 6, 10, 11, 30, 48, 50, 70—90, 94—99, Humanität 156
104, 106, 115, 121, 123, 124, 163, 172,
Hypothese 44, 47, 445
191 — 194, 205, 247 f., 251, 255, 256, 268,
277, 281, 282, 291, 300, 325, 326, 332, 346,
ιδέα 1, 52, 61, 76 f., 96, 115, 169, 170, 249,
348, 362, 372, 395, 398 f., 401, 403, 407,
369, 379, 400 f., 416
408, 411—415, 417, 427, 435, 449, 468,
Ideal 408
479, 480, 487 f.
Idealität 19
Grammatik 35, 115, 411, 415, 431
Grammatik des Urteils 265, 268, 431 Idee 83, 88, 106, 115, 128, 170, 190,198, 246,
Grenze 219, 222, 375, 406 398, 404, 440, 467 f.
Griechen 173, 186, 193, 215 f., 239, 242 f., Identität 33, 75, 101, 107, 115 f., 120, 177,
251, 252, 270, 317, 379, 404, 436, 438, 463, 304, 363, 428
466, 469, 474, 479 Illusion (s. a. Irrtum, Täuschung, Wahn) 12,
griechische Götter 277 f. 21, 29, 45, 51, 60, 61, 95, 97, 98, 100, 101,
griechische Kultur 156, 173 103, 104, 111, 117, 118, 120, 124,
großer Stil 385—393 126—128, 131, 132, 135, 142, 145—148,
Größe 137, 146 f., 398 153, 161, 165, 167, 168, 170, 184, 190, 191,
Großes 197, 439 193, 195, 197, 205, 223, 234, 255, 258, 259,
Grund 17, 33, 63—66,68, 74, 83, 86, 87, 104, 274, 287, 331, 332, 345, 354, 367—369,
119, 144, 200, 251, 262, 263, 269, 270, 372, 377, 425 f., 434, 435, 438, 445, 453,
274—276, 279—283, 286, 288—290, 456, 480
303 f., 309, 310, 315, 316, 347, 350, 380, Im-Welt-Bezug-Stehen 283, 285, 299, 300,
394, 396 f., 408, 418, 459, 475 303, 304, 307, 311, 312, 320
Grund des Seins 346 Individualität 198
Grund-Erfahrung 48, 50, 54, 61 Individuation 217, 229, 230, 254, 258, 275,
Grundfrage 380 482
Grundlosigkeit 68, 276, 282, 283, 286, 288, Individuelles 107
290, 291, 295, 300 Individuum 14, 16, 20, 57, 58, 94, 107, 129,
Grundstellung 380 138, 167, 174, 181, 187, 193, 194, 217,227,
Gutes 77, 83, 96, 106 244, 246, 414, 428, 444, 451, 460 f., 471,
481
Häßlichkeit 252, 260 individuum est ineffabile 110
Hanswurst 73, 130, 399 Inhalt 121 f., 430, 450
Harmonie 213, 245, 246, 375, 467, 471 Innen (— Außen) 7, 95, 98, 99, 107, 298
Harmonie (Musik) 229 f., 382, 383, 477
Innerlichkeit 389
Heidentum 332
Innervation 171
Heiliger 158, 201, 331
Heiliges 302 Inspiration 227, 313 f., 437
heiliges Pathos 317 Instinkt 103, 172, 227, 313 f., 437
Heiterkeit 390 intellectus divinus 88
Herde 109, 174 Intellekt 2, 16—18, 40, 60, 75, 90, 91, 93, 94,
Hermeneutik 370 103—105, 145, 185, 217, 288, 308, 343,
heroischer Lebenslauf 330 350, 353, 354, 363, 373, 392, 416, 426, 446,
Herz 346, 412 f. 465, 475 f.
Historie (s. a. Geschichte) 70—72, 87, 94, intelligibler Charakter 364, 423
139, 140, 142, 143, 154, 164, 168—170 intelligible Welt 96, 123
Historismus 164 f., 362 Interjektion 171
Höhlengleichnis 75, 77, 83, 98, 99 Interpretation 21, 43, 46, 107, 123 f., 145,
höherer Mensch 192, 195, 413, 429 264, 268, 274, 276, 282, 355 f., 372,
homerische Welt 473 417—419, 450
510 Sachregister

Intuition 2, 3, 5, 20, 22, 28, 31, 32, 38—46, Kultur 109, 113, 141, 147, 150, 152,
4 8 , 5 0 , 5 3 , 6 9 , 112, 115, 118, 136, 139, 146, 154—161, 163, 166, 167, 173, 174, 178,
182, 202, 365, 368 180, 185, 186, 188, 192, 193, 196, 200, 202,
intuitive Vorstellung 356 f. 206, 214, 261, 282, 322—324, 326, 328 f.,
intuitus originarius 78, 88 331, 421, 424, 441—443, 454, 457
Irrtum (s. a. Illusion, Täuschung) 367 f., 372, Kunst 4, 5, 8, 9, 12, 39, 42, 43, 51 f., 76, 85,
373, 447, 453, 455, 465, 466 108, 126, 128, 129, 131, 135—137, 140,
iustificatio 247 f., 480 145—156, 158—162, 165—167, 169, 170,
iustitia 248, 480 173, 174, 179, 183, 185, 189, 191,
193—196, 198—205, 213—215, 222,
Judäa gegen Rom 325 225—228, 231 ff., 238—241, 245 f.,
Junonische Nüchternheit 317 249—252, 254, 256, 258, 259, 263, 270,
Journalist 436 f., 440 f. 278—280, 322—324, 327, 329, 331, 332,
335, 345, 365, 373, 382—396, 415, 420,
Kampf (s. a. π ό λ ε μ ο ς ) 70, 136, 146, 148, 152, 432, 435, 439, 440, 442, 446, 447, 453, 454,
196, 213, 246, 329, 435 456, 463—468, 473, 476, 478, 479, 486
Kampf ums Dasein (s. a. struggle for life) 246, Kunstreligion 152 f.
416 Kunsttrieb 165 f., 173, 397
Kategorien (s. a. Verstandeskategorien) 5, 7, Kunstwerk 132, 152, 154, 160, 161, 173, 183,
17, 21, 22, 69, 116, 361, 368 185, 189, 196, 199, 200, 218, 226—228,
Katholizismus 247 f., 388
249 f., 252, 255, 256, 259—261, 301, 315,
Kausalität 1, 3, 5, 12, 13, 21, 28, 30, 37, 39,
325, 375, 420, 424, 457, 462, 476
41, 44, 54, 55, 71, 87, 93, 112—114, 135,
136, 178, 217, 227, 237, 239, 246, 264 f.,
Lachen 481
266, 268, 271 f., 309, 310, 320, 343, 350,
Lächerliches 476
353, 356, 361, 363, 376, 407, 417, 423, 424,
Langeweile 109, 174, 420, 488
430, 474, 475
Laut 175, 176, 179
Kind 244 f., 305, 413
klassischer Stil 386, 391 f. Leben 17—21, 42, 45, 56—60, 62, 68, 82, 83,
klassisch 138, 382, 386, 387, 476 91, 96, 99, 100, 103, 115, 117, 119, 121,
Klima 314 122, 124—126, 128, 133—136, 138—140,
Komisches 375, 481 142, 143, 145, 146, 148—150, 153,
155—157, 160, 161 f., 166, 167, 169, 173,
Körper (s. a. Leib) 16, 18, 214, 264, 352, 376,
176, 177, 179, 180, 182, 185, 188—192,
430
195—197, 200, 202, 204, 205, 215, 217,
Konsonant 171 f., 457
Konsonanz 259, 260, 310 219, 220, 223, 224, 229, 236, 237, 239,240,
Kontinuität 24, 56—58, 146 242, 244, 254, 258, 259, 261, 267, 269, 272,
Konvention 109, 181, 203, 329, 456, 276, 278, 279, 282, 289, 316, 317, 323, 330,
460—463 330—332, 345, 349, 385, 395, 403, 408,
Kraft 25, 36, 46, 51, 62, 67 f., 264 f., 281, 419, 425, 430, 432, 433, 436—439, 441,
358—361, 365, 374, 395, 423, 436, 445 447—450, 453—455, 466, 467, 474—476,
Krankes 382 479—482
Krankheit 138, 175, 177, 250, 269, 285, 333, Lebensbereich 293, 303
453, 491 Lebensphilosophie 333
Krieg (s. a. πόλεμος) 51, 221 f., 242, 246, Leib (s. a. Körper) 17, 34, 60, 123, 155, 172,
428, 473 f. 214, 215, 229, 233, 253, 268, 269, 276, 289,
Kritik 440 f. 316, 348, 349, 354, 389, 400, 423, 430, 473,
Kritiker 227 478
kritische Historie 194 Leid (s. a. Urleiden) 131 f., 192, 2 3 2 , 2 3 5 , 2 4 0 ,
Künstler 158, 159, 180, 196, 199—203, 218, 253, 256, 467, 481—483
244 f., 251, 259—261, 270, 279, 315, 317, Leistung 282
320, 331 f., 375, 387, 423 f., 430, 439, 446, Leitfrage 380
468, 479, 481 Lesen 458 f.
Künstlerhistorie 464 letzte Menschen 192
künstlerische Kultur 471 letzter Philosoph 195, 206, 432 f., 438
Sachregister 511

Liebe 168 206, 211, 212, 215 f., 220, 222—224,


Linkshegelianismus 346—348 229—231, 235, 243, 244, 246, 247,
Logik 4, 5, 32, 39, 42,44, 60, 9 1 , 9 2 , 1 0 1 , 106, 249—253, 257, 260—263, 267 ff., 272,
118, 125, 131, 135, 142, 148, 178, 183, 200, 274, 276, 279, 281, 282, 286, 288—292,
203, 230, 239, 240, 243, 267, 347, 366, 372, 294, 296, 297, 300, 303, 304, 310,
396, 411, 414, 427 f., 434, 440, 452, 489 314—316, 319, 320, 323, 324, 326—328,
λ ό γ ο ς 91 f., 94, 244, 246, 286, 369, 394, 331—335, 342—345, 347, 350, 351,
400 f., 427, 489 358—361, 363 f., 366, 368—372, 375, 377,
Louvre-Brand 153, 324, 326, 490 378, 380, 381, 383, 394 f., 396 f., 399, 404,
Lüge 103, 109, 111, 185, 200, 262, 479 405, 408, 411—413, 421, 422, 440,
lumen naturale 57, 225, 394 445—455, 457, 462, 473, 474, 479, 481
Lust (— Unlust) 55, 105, 106, 171, 172, metaphysischer Trost 51, 152, 223, 235, 250,
229 f., 255—260, 408 f., 483 278, 309, 320, 326, 440, 480, 481
Lyrik 58, 199, 226, 227, 236, 319, 320 metaphysisches Bedürfnis 12, 20, 133, 351
Lyriker 55 Metempsychose 82
lyrisches Dasein) 296—300, 317—320, 486, μέθεξις 169, 456
487, 489 Metonymie 111, 183, 415, 422
μίμησις 169, 456
Macht 65, 85, 269, 271, 274, 289, 416, 418, Mißtrauen zur Welt 97 f.
479 Mitleid 199, 238
Maler 210 Mitteilungsbedürfnis 175, 460 f.
Malerei 56, 199, 235, 246, 319 Mittelalter 78 f., 435, 436, 466
Man 163 Möglichkeit 91, 100, 140 f.
Mangel 250, 255, 259, 482 Möglichsein 181, 455
Maschine 487 f. Monade 80 f., 97, 107, 108, 121, 122, 163,
Maske 94, 97, 412, 417—420, 429 401—403, 429
maskenhafte Philosophie 417—420 Monotheismus 324
Maß 218—222, 277, 391, 406, 417, 424 monumentalische Historie 149, 162,
Masse 188 164—166, 186, 238, 241, 330, 438, 439,
Materie 24, 28, 30—32, 34, 55, 62, 105, 246, 473
253, 475 Moral 10, 30, 35, 90, 96, 109, 111, 113, 115,
Mathematik 67, 79, 86, 293 f., 350 f., 377, 131, 167, 200, 203, 243, 244, 249—251,
387, 395, 452 268, 271, 289, 332, 349—351, 398, 407 f.,
Mechanisches 352 423, 424, 440, 464, 478, 484
Mechanismus 13, 267, 271, 427, 446, 454 Mundgebärde 171
Melodie 229, 477 Musik 32, 52—59, 61, 117, 152, 171, 176,
Mensch 163, 177, 187, 192, 286, 290, 181, 182, 185, 198, 199, 209—211, 213,
303—305, 316, 346, 348, 438, 442, 444, 214, 219, 228—234, 236, 246, 247, 259,
451, 475, 481 260, 263, 290 f., 318 f., 325, 331, 332, 346,
μή öv 61, 76, 261 348, 376, 378—392, 440, 446, 452 f.,
μ ή jbelv 47 456—460, 462, 468, 477—479, 489
μ έ τ α 67, 263, 394 f., 447 Musikdrama 231—235, 260
Metamorphose 94, 97 Musiker 376, 386 f., 392
Metapher 58, 74, 92, 102, 110 f., 117, 132, musiktreibender Sokrates 150, 208, 240, 241,
168, 170, 173, 176, 177, 179, 182—184, 278, 473
202, 213, 217, 225, 236, 241—243, 271, Mystik 132, 136, 139, 296, 439, 440, 444
333, 354, 361, 415, 422, 423, 424, 458 f. Mythos 133—136, 148—151, 153 f., 162,
Metaphysik 1, 3—5, 11 — 13, 17, 20, 21, 29, 164, 183, 186, 187, 206, 219, 234, 238,
30, 32, 35, 37—40, 43, 44, 48, 53, 59, 60, 240—242, 325, 351, 369, 426, 435, 439,
62, 63, 67—69, 71, 75—77, 80, 81, 83, 86, 443—445, 453, 462—464, 478 f.
87, 90, 93, 95—97, 99, 101, 103, 115, 123,
124, 129, 132, 133, 138—140, 145, 147, Nase 62, 298, 452
151 — 155, 162, 165—167, 170, 174, 182, N a t u r 8, 9, 17, 68, 83, 84, 106, 147,
183, 185, 187, 188, 192, 200, 202, 203, 205, 155—160, 163, 166, 181, 198, 218, 239,
512 Sachregister

244, 245, 249, 252, 258, 275, 2 8 0 , 2 8 7 , 2 9 4 , Organisches 438


315, 344, 360, 374, 403—405, 412, 421, Organismus 14, 57, 94, 217, 352, 395
443 όρθότης (s. a. Richtigkeit) 400 f.
Naturalismus 427 ούσία 74, 76
Naturgesetz 350
Naturkraft 359 παιδεία 169, 201, 251
Naturwissenschaft 42, 43, 63, 105, 106, Palingenesie 251
155 f., 227, 350, 358, 394, 406, 416, 441, πάντα (bet 46, 51, 367
484 Paradoxie 118, 119, 127, 130, 426—428, 443,
Nervenreiz 21, 102, 104, 110, 112, 179, 281, 446, 449
293, 424 f. παρουσία 401
Nichts 89—91, 97, 283, 307, 308, 344, 362, Pathos 271—274, 476 f.
370, 383, 399, 445, 471 πέρας 52, 70, 475
Nichtsein 32, 37 perceptio 80, 369, 401
Nichtsinnliches 395, 399 Periodik 392
Nihilismus 11, 106, 127, 129, 134, 135, 138, persona 419, 470
147, 149, 154, 178, 190—192, 194, 251, Personalität 124
315 f., 324—326, 334 f., 372, 383,
Perspektive 7, 91, 121, 122, 124, 134, 149,
405—408, 413, 445, 473
160, 185, 205, 225, 355, 455
noetisches Denken 400 f.
Perspektivismus 355, 372, 429
Nomina 114, 424
Pessimismus 131, 179, 194, 200, 211, 221,
Notenschrift 462
239, 247, 250, 254, 256, 331, 382, 383, 409,
Notwendigkeit 71, 76, 113, 126, 127, 179,
434, 466, 470, 481
204,245, 262, 271, 313, 350, 364, 375, 387,
Phänomen 64—66, 68, 80, 85—87, 262 f.,
392, 423 f., 427, 455
notwendig zu Glaubendes 21, 45, 74, 105, 275, 280, 283 f., 288, 294, 298, 310
107, 143, 149, 368, 373, 420, 438, 445, 455 Phänomen-Bezug 64—66, 68, 85—87
nunc stans 308 Phantasie 39, 40, 55, 148, 420
Philologen 161 f.
Objekt 9, 15, 28, 37, 54, 65, 112, 114, 116, Philologie 206—209, 355, 367, 384, 437,441,
124, 218, 225, 226, 228, 253—255, 271, 459, 488
276, 296, 298, 304, 315, 349, 361, 368, 404, Philosoph 97, 104, 128, 136—138, 142, 146,
405 f., 411, 417, 424, 431, 467, 476, 487 148, 150, 151, 158, 173, 182, 183, 190, 191,
Objektivität 53, 168, 429 193, 196, 201, 204, 206, 209, 393, 407, 418,
Ödipus 274 f. 431, 432, 435, 439 f., 454, 462, 465, 467,
Offenbarung 73 481
Offenes 218, 295, 316 Philosophie 4, 12, 39, 41—44, 108, 115, 129,
Ohr 54, 61 133, 144, 146—151, 154, 155, 158, 169,
Ohrenmensch 380 170, 173, 183, 185, 190, 195, 196,
Olymp des Scheins 268, 270 206—208, 241, 268, 269, 272, 280, 345,
ÖV 142, 395 356, 358—361, 366, 373, 418, 420, 424,
öv τ) öv 381 432, 435, 437, 438, 441, 442, 465, 484
δντα 25, 358, 360 philosophisches Pathos 393
Ontologie 92, 93, 142 Physik 25, 46, 67, 293, 355 f., 358, 359, 405 f.
ontologische Differenz 366, 447 „Physik" 68, 247, 347, 396 f., 404
δντως öv 77 Physiologie 4, 47, 49, 56, 103, 146, 147,
Oper 232, 233, 260, 387, 391 214 f., 227—229, 231, 265, 267, 268, 272,
Ophthalmozentrismus 54 276, 287, 293, 314, 320, 354, 389, 390,407,
Oppositionssystem 99 432, 438, 478
Optimismus 238, 239, 434 φύω 67, 86
optischer Sinn (s. a. Auge) 52—54 φύσις 59, 63, 69, 84, 86, 97, 124 f., 141, 146,
Orchestermelodie 232, 234, 378 156, 159, 163, 164, 166, 167, 173,244,249,
ordo-Denken 247 262, 282, 301, 304, 316, 317, 319, 394,
Organ 447, 449 404—406, 442, 446, 447
Sachregister 513

physisch 230 f., 247, 250, 257, 262, 264, 275, rechnen 15, 65, 66, 79, 84, 85
280—282, 286, 294, 297, 300, 304, 319, Rechtfertigung 167, 237, 242, 243, 247 ff.,
347, 447 252, 253, 262, 279, 310, 317, 480
physisches Denken 262, 282, 288, 290, 294, rectitudo s. Richtigkeit
304, 394, 396 f. Rede 92
Plastik (s. a. Skulptur) 56, 319 Redlichkeit 127, 224, 342, 464
Plastiker 199, 227, 481 Redner 173
plastische K r a f t 137, 186, 195, 309 reductio 66, 350
Piatonismus (s. a. Metaphysik) 61, 155, 169 Reflex 105
Poesie 55 f., 169, 199, 462 Reflexion 23, 40, 304
π ο ί η σ ι ς 183, 251, 394 Reformation 480
Polarität 51, 119, 220 f., 242 regulative Idee 20, 88, 139, 427 f.
π ό λ ε μ ο ς (s. a. Streit/Kampf/Krieg) 51, 117,
Relativismus 192, 282, 349, 450, 465
120, 122, 136, 213, 246, 277, 334, 356, 370,
Relativität 95
373, 428, 460, 471—473, 475
Religion 58, 148, 151 — 155, 158, 165, 167,
πόλις 169, 201, 348
168, 193, 194, 239, 280, 326, 327,
Polyperspektivismus 121
346—348, 389 f., 395, 440, 442, 453, 454,
Positivismus 102, 355
466, 479
Präsentation 98, 144
Religionsstifter 151, 407, 454
prästabilierte Harmonie 80, 108, 111, 160, Renaissance 164, 387, 389, 442
223, 260, 475 Repräsentation 7, 18, 79, 80, 94, 98, 122, 402
preußischer Staat 72 res extensa (s. a. Ausgedehntheit) 349 f., 376
prima causa 248, 480 Ressentiment 113, 158, 279
principium individuationis 1, 2, 23, 55, 216, Rezeption 200
217, 254, 258, 343, 385, 390, 409, 474 Rhetorik 415, 460
Prinzip 95, 124, 371, 372, 394
Rhythmik 228—230, 234
Programmusik 233, 391, 393
Rhythmus 313, 389, 391, 392, 436, 457, 478
π ρ ώ τ η φ ι λ ο σ ο φ ί α 381
Richtigkeit (s. a. adaequatio) 94, 121, 400,
Protestantismus 247 f., 346
Prozeß 18, 19, 21, 62, 71, 119—121 418 f., 435, 445, 450, 451
ψεΟδος 400 Romantik 58, 152, 173, 210, 211, 256, 267,
278, 279, 382, 387—390, 470, 476, 477
Quale 95, 262, 282, 418, 450 Romantisches 138, 174
Qualität 62 f., 67, 294 Ruhm 444 f.
Quantität 62 f., 67
Quietismus 153, 434 Sachwahrheit 78 f., 81, 89
Satz vom Grund 21, 30, 41, 103, 110, 112,
Rache 390, 445, 454 198, 272, 356, 467
Rasse 314 Satz vom Widerspruch 118, 427 f.
Raten 2, 44 Satzwahrheit 78 f., 81, 89
ratio (s. a. Vernunft) 79, 281, 284, 292, 294, Schaffen 121, 130, 185, 189, 225, 254, 312 f.,
298, 303, 316, 381 317, 349, 413, 432, 468
rationem reddere 300, 394 Scham 270, 301, 304 f., 310, 311, 317
ratio reddenda 63, 64 Schauspieler 173, 389, 429
Rätsel 439 Schein 6—8, 12, 45, 50, 56,60, 61, 70, 74, 83,
Raum 19, 23—30, 34, 36, 49, 53—55, 66, 93, 95, 97—100, 132, 142, 149, 155, 166,
106, 112, 119, 1 2 0 , 2 1 7 , 2 1 8 , 2 2 7 , 2 4 6 , 2 9 9 , 168—170, 195, 198, 201—204, 215—217,
308, 315, 349 f., 353, 356—358, 361, 362, 219, 223—225, 230, 240, 241, 250, 252,
365, 376, 377, 423, 430, 471, 474, 475, 482 253, 259—261, 268, 276—278, 282, 291,
Rausch 199, 200, 214, 217, 218, 226, 227, 347, 348, 353, 367 f., 372 f., 381, 399, 414,
231, 245, 252, 272, 279, 287, 309, 312 f., 417—420, 425 f., 429, 430, 455, 459, 468,
317, 382, 385, 386, 389, 391, 456, 468, 474, 474, 476
476, 478, 485, 488 f. Schema 451
Reales 362 Schmerz (s. a. Leid) 52, 158, 192, 224, 250,
Realität 27 253—260, 269, 375, 425, 430, 481, 482
514 Sachregister

Schönheit 76, 108, 151, 158, 195, 197—199, Sinnlichkeit 8 f., 61 f., 68, 69
202, 204—206, 216, 224, 249, 254, 259, Sinnlosigkeit 153, 157, 159, 166, 193, 205,
262, 279, 280, 420, 476, 481 221, 250, 286, 326, 432, 445 f., 453, 481
schöpferischer Akt 110, 113 Skepsis 29, 75, 90, 93, 105, 354, 465
schöpferischer Augenblick 414 Sklave 158
schöpferischer Zustand 200, 227, 245, 249, Sklavenmoral 115, 325, 349, 464
261, 279 Skulptur (s. a. Plastik) 199, 235
Schöpfungstheorie 427 Somatisches 288, 385
Scholastik 151, 467 Sokratismus 148, 176, 178, 181, 186, 206,
schopenhauerischer Mensch 329—331 214, 237, 238, 274, 300, 303, 304, 309, 316,
Schreiben 458—460 385, 450, 462, 463, 487 f.
Schriftsprache 178, 182, 254, 458 Soldatenstand 160
Schwangerschaft 312 f. Solipsismus 175
Schweigen 411—413 Sophrosyne 238
Schwermut 346 Sorge 84, 311
Seele 264, 267, 269, 294, 384 soziale Revolution 325
Sehen 113, 377, 379, 474 Sozialismus 443, 464, 487 f.
Sehnsucht 319 Spekulation 20
Seiendes 21, 176, 368, 381, 447
Spiel 219, 220, 242, 244, 245, 247, 249—251,
Sein 17, 18, 22, 23, 28, 30—32, 34—37,
256, 260, 375, 413, 462
48—50, 52, 56—58,60, 61, 63, 72, 74—77,
Spieltrieb 245
80, 83, 87, 9 1 , 9 2 , 93, 96, 97,99—101, 116,
Spott 412
118, 119, 141, 146, 167, 176, 178—180,
Sprache 7, 26, 32, 35—37, 55, 58, 59, 76, 93,
187, 219, 220, 222, 235, 237, 243, 250,261,
101 — 117, 152, 170—185, 199, 209, 210,
262, 271, 281—283, 287, 290—292, 294,
234—236, 271—273, 286, 288, 296, 305,
303, 304, 309, 315, 316, 353, 361, 363, 366,
313, 318, 348, 361, 362, 374, 377, 378,
368—373, 377, 379—381, 383—385,
382—384, 386 f., 389, 391, 393, 396 f.,
393—395, 397—401, 411, 415, 417, 418,
411—416, 418, 420 f., 424—427,
426—428, 431, 443—455, 474, 475, 480
456—462, 489
Sein des Seienden 21
Sprechen 459
Seinsfrage 380
Sprung 366
Seinsgeschichte 369 f.
seinsgeschichtliche Verrechnung 370 f. Staat 109, 113, 160, 162 f., 383, 420 f., 424,
Seinsgeschick 359 443, 444, 462, 464, 474
Seiendes im Ganzen 155, 212, 250, 369, 371, Stabreim 457
395, 412, 435, 450 Ständigkeit (s. a. Beständigkeit) 57, 58, 290
Selbstanschauung 253, 255 Standpunkt 225, 228
Selbstbewußtsein 255, 401 Steigerung 100, 115, 117, 119, 124, 134, 189
Selbstmörder 307, 409 f. Stiften 280, 301, 304 f., 310, 311, 317
Sensualismus 104 Stil 160, 166, 173, 186, 386
sentimentalisch 476 Stimmung 9, 50 f., 59, 64 f., 68, 85, 209,
sibi scribere 458 294—296, 298—300, 302, 303, 311, 318 f.,
Sicherung 448 384, 485, 486, 489
signifiant 176 Stoff 438
signifie 235 f., 459 Stoffwechsel 314
Singularität 124 Streben 80
Sinn 72, 99, 127,159, 187,193,235, 288, 289, Streit (s. a. πόλεμος) 31, 51, 52, 62, 136, 148,
315, 317, 324, 362, 411—413, 432, 445 f. 156, 175, 176, 204, 213, 214, 218 f., 221 f.,
Sinne 60—62, 68—70, 75, 96, 105, 197, 205, 234—236, 240, 242, 247, 257, 258, 278,
262, 280, 290, 292, 293, 297 f., 353, 354, 375, 385, 386, 392, 393, 427, 442, 443, 446,
361, 379, 381, 382, 386, 392, 395,401, 406, 453, 454, 471—473, 476
416, 451, 452 strenger Stil 387
Sinnliches 297, 347—350, 353, 357, 375, struggle for life (s. a. Kampf ums Dasein)
395—397, 399 103—105
Sachregister 515

Stufen der Scheinbarkeit 95—97, 100, 107, Todeslust 309, 316


367—369, 372 f., 385, 410, 431, 447, 449, toller Mensch 192
450, 452 T o n 56, 171, 175
subiectum 79 f., 83, 85, 94 tragische Bedürftigkeit 129, 196
Subjekt (s. a. subiectum) 9, 15, 37, 53, 65, tragisch-dionysisch 277
78—80, 83, 85, 87, 93, 94, 107, 112, 114, tragische Erkenntnis 147, 153, 191, 235, 239,
116, 124, 179, 198, 218, 225, 226—228, 242, 252, 331, 434
248—250, 254, 255, 271, 276, 281, 288, tragische Gesinnung 183, 193
294, 296, 298, 304, 315, 349, 354, 368, 376, tragische Kultur 240, 326, 328, 440, 471
404—406, 411, 412, 417, 424, 431, 467, tragische Kunst 204, 212, 251, 252
476, 487
tragische Philosophen 481
Subjektivismus 417
tragische Resignation 206
Subjektivität 7, 19, 28, 54, 68, 76, 88,94, 107, tragischer Mythos 325
124, 217, 225, 226, 227, 253, 255, 287, 288,
Tragisches 51, 52, 212, 232, 303, 316, 320,
311, 417
385, 489
Sublimation 156
tragisches Denken 262, 331
Substanz 31, 69, 80, 116, 124, 264, 353, 361,
tragisches Pathos 268, 274, 375
363, 368, 381, 411
tragisches Zeitalter 239, 252
sunder warumbe 320, 487
tragische Weisheit 469
Symbol 170, 177, 258 f., 425, 463, 474, 476
tragische Weltverhaltung 256, 383
Synkedoche 415
Tragödie 52, 147, 193, 214, 231, 233—235,
synthetisches Urteil 105, 293, 375 f., 422
238, 251, 259, 260, 279, 320, 453,
synthetische Urteile a priori 350 f.
473—476, 482
Täter 114 translatio 92, 110
Täuschung (s. a. Illusion, Irrtum) 63, 103 f., transzendentale Einbildungskraft 183
202, 331, 466 transzendentaler Idealismus 352
T a k t 229, 230, 234, 371, 477 transzendentale Synthesis 430
Tanzen 391 transzendentaler Schein 134
Tastsinn (s. a. Getast) 54 Transzendenz 2, 95, 108, 412
T a t 112—114, 301, 424 Transzendierung 390
Tatsachen 355, 359, 397 f. T r a u m 5 5 , 9 5 , 1 0 3 , 1 8 3 , 199—201,214—216,
Tautologie 110, 143, 144, 412 f. 226, 252, 254, 255, 259, 260
τ έ χ ν η 159 Trieb 201
Technik 155 f., 309 f., 487 f. Trost 440, 481
Teleologie 13, 21, 68, 82, 123, 157, 172, 352, T u n 264, 271, 354
446
Telos 80, 90, 194, 288, 375, 397, 446 Ubereinstimmung (s. a. adaequatio) 76—78,
Text 21, 355, 417 80, 81, 88, 426
θ α υ μ ά ζ ε ι ν 305 Überfülle 174, 255, 256, 259, 284, 382, 392,
Theater 233, 378, 382, 389, 478 393, 466
θείον 74, 77, 395, 399 Überhistorisch 186, 326, 330, 445, 453
Theismus 407 f. Übermaß 284 f., 288, 295, 302, 310, 315, 316,
Theologie 4, 71, 77, 80, 96, 137, 151, 154, 392, 393, 474
397 f., 436, 452 Übermensch 73, 192, 195, 282, 286, 289, 315,
theoretischer Mensch 121, 309 f. 399, 413, 488
Theoretisches 379 Übersetzung 27, 69, 112, 117, 211, 232, 374,
θ ε ω ρ ί α 52, 84, 435 384 f., 427
θέσις 394 Übersinnliches 347, 395
Tier 95, 103, 158, 163, 177, 187, 192, 303, Übersinnlichkeit 10, 30
315 f., 413, 420, 438, 442, 444 Übertragung 26, 36, 55,74, 92, 112, 183,211,
T o d 91, 132, 193, 235, 237, 243, 274, 300, 227, 243, 361, 376, 425, 458 f.
311, 475, 479 Überwindung der Metaphysik (s. a. Metaphy-
Todesfurcht 309 sik) 63, 68, 69
516 Sachregister

Umdrehung der Metaphysik 60, 61, 63, 69, V e r n u n f t 23, 27, 32, 57, 5 9 , 6 0 , 6 3 , 65, 66, 69,
84, 95, 98, 100, 368 f. 70, 7 9 , 8 5 , 8 8 , 9 2 , 9 6 , 113 f., 116, 151, 168,
Umfängnis 287, 295, 304, 308, 316, 395 218, 222, 225, 238, 247, 262, 285—287,
Umriß 219, 235—237, 257, 258 298, 315 f., 347 f., 351, 353, 357, 361, 379,
Umwertung 61, 262 381, 393, 394 f., 413, 425, 427
Unbedingtes 22, 36, 133, 363, 408 Vernunftlosigkeit 286
Unbegriffliches 22 versetzter Schauspieler 329, 333, 478
Unbeständigkeit 263, 290, 291, 297 Verstand 23, 27, 28, 53, 66, 94, 353, 357, 361,
Unbewußtes 362 364, 376, 468
Unbewußtheit 204 Verstandeskategorien (s. a. Kategorien) 116
unendliche Melodie 391 f. Verstehen 51, 94, 175, 176, 387, 456, 461
Unendliches 220, 374, 391, 398, 410, 427, Verstellung 109
445 f., 470, 475 Verstellungstrieb 185, 416
Unendlichkeit 49, 59, 71, 73, 84, 94, 152 Versuch 145
Unfruchtbarkeit 280, 304 f. Verzweiflung 189
unglückliches Bewußtsein 54 vis primitiva activa 80, 122
Unheimlichkeit 97 vita activa 330, 429
Unhistorisches 300 f., 330, 463 vita contemplativa 330, 429
Unlogisches (s. a. Logik) 347 Vokal 172, 457
U n m a ß 218—220, 240, 474 Volk 188, 196, 206
Unmittelbarkeit 319, 320, 347
Volkskultur 196
Unschuld 269 f., 286, 413
Volksseele 173
Unschuld des Werdens 244, 262, 286, 289,
Vollkommenheit 277
413, 480 Vollzugsgeschehen 114
Unsichtbarkeit 84
Voraussetzung 4, 5, 17 f., 21, 40, 44, 45, 48,
Un-Sinn 362, 412 f.
50, 59, 60, 69, 72, 74, 94, 100, 102, 106,
Unsinnliches 395
107, 120, 136, 143—145, 169, 184, 191,
Unsterblichkeit 89, 124, 128, 190, 434, 444
355, 364, 366, 369, 418 f.
Unterschied 58
vormetaphysische Welterfahrung 66, 396 f.
Unumgängliches 65, 308, 316
Vorsokratiker (Vorplatoniker) 150 f., 154,
Unverborgenheit (s. a. άλήθεια) 17, 76, 92,
184, 252
100
Unwesen 343 Vorstellung 15—17, 21, 26, 31—34, 36, 40,
Unzeitgemäßes 327, 359, 398, 436 76, 79, 80, 97, 143, 170 f.
Unzeitgemäßheit 160, 164
Ur-Eines 56, 132, 166, 192, 217, 218, 223, W a h n (s. a. Illusion) 128, 204, 237, 239
224, 235, 250, 253—255, 257, 260, 261, Wahrheit 1—8, 12, 17 f., 20, 21, 29, 30, 37,
367, 414, 430, 434, 482 40, 44, 48, 50, 52, 60, 62, 69, 74—101, 108,
Urgrund 212, 219, 225, 252, 257, 468, 473 109, 111, 112, 118—130, 133, 139,
Urleiden (s. a. Leid) 232, 257, 260 142—145, 148, 165, 168—170, 178, 179,
Ursache 28, 44, 87, 114, 264, 266 f., 183, 185—188, 190—193, 195, 201, 203,
270—272, 353, 354, 360, 365, 417, 422 215, 218, 223, 224, 240, 248, 262,
Ur-sache 74, 77, 83, 96 268—270, 274, 276, 280 f., 291, 295, 300,
Ursprüngliches 84, 282, 283, 288, 307 f., 301, 312, 315, 329, 333, 347—350, 353,
347 f., 396 355 f., 362, 364, 367—373, 375, 377, 379,
Urteil 346, 363 381, 388, 395, 397, 400—402, 406, 408,
410—414, 417—421, 423, 425—427,
Verba 114, 424 429—431, 437—439, 441, 444 f.,
Verbergungsgeschehen 450 448—455, 465, 476, 478—480
Vergessen 179, 204, 330, 463 f. Wahrheitstrieb 109
Vergöttlichung 277—279, 348 Wahr-Schein 190, 225, 348 f.
Verklärung 250, 277, 279, 348 Wahr-Scheinlichkeit 7, 8, 19, 21, 43, 44, 100,
Vermessenheit 311 455, 476
Vernünftigkeit 72 Wein-Anmerkung (in der Kr.d.r.V) 349 f.
Sachregister 517

Weisheit 136—138, 146, 148—150, 232, 240, Wesen 35, 85, 86, 275, 282, 297, 360, 369,
241, 262, 275, 285, 473 387 f., 422
Weite 295 Wettkampf (s. a. ά γ ώ ν ) 156, 197, 242
Welt 57, 62, 67, 80, 97, 134, 139, 186, 205, Widerspruch 60, 91, 118 f., 120, 427—429,
212, 221, 224, 231, 232, 247, 249—252, 476
255, 262, 268, 282, 283, 285—287, Widerstreit 245
290—295, 304 f., 307, 316, 353, 374, 375, Wille 1, 2, 12, 20, 34 f., 38, 45, 55, 56, 58, 80,
383, 395, 397, 399, 407 f., 427—430, 446, 82, 90, 91, 95, 97, 101, 103, 107, 108,
462, 471, 481, 482, 486 112 f., 122 f., 127, 131, 132, 134, 142, 152,
Weltanschauung 4, 125, 345, 351 f. 168, 170, 172—177, 189, 190, 194,
Weltbejahung 445 197—201, 214—218, 220, 223, 224, 230,
Welt-Bezug (s. a. Bezug) 275, 281—285, 231, 233, 235, 236, 242, 244, 246, 247, 252,
288—290, 293, 295, 296, 300, 301, 305 ff., 254, 256—261, 264—268, 271, 273, 276 f.,
310, 315, 318—320, 395, 413 285, 287, 289, 308, 312 f., 316, 321, 329,
Weltbild 129, 135, 136, 140, 148, 149, 162, 342—344, 347, 350, 352, 354, 360, 363,
183, 186, 435, 438, 454 364, 373, 390, 392, 394, 396, 408 f., 414,
Welt-Durchstimmtheit 310 416, 423—425, 430, 434, 435, 440, 455,
Welt-Eingenommenheit 283, 292 456, 459, 467, 473—477, 481—483
Welt-Entwurf (s. a. Entwurfsbereich) 283 Willensbejahung 396 f.
Weltgeist 397 Willensverneinung 396 f., 409 f., 434
Weltgrund 218, 237, 250 Wille zur Macht 11, 20, 36, 43, 44, 46, 56 f.,
Welthaß 10, 11, 60, 97, 291 68, 95, 99, 107, 117, 123, 144, 145, 175,
Welt-Hörigkeit 283 185, 191, 195, 215, 264—267, 269—275,
Welt-Innigkeit 305 278, 282, 286, 287, 289, 290, 311, 320,
Welt-Offenheit 283, 292, 299, 304—306, 315 354—357, 368, 369, 370, 372—374, 377,
Welt-Spiel 319 384, 387, 394, 395, 409—411, 414,
418—421, 423, 426—428, 430, 436, 438,
Welt-Streit 120, 176, 224, 231, 232, 236,
443, 446, 448—451, 473, 487 f.
240—242, 446
Willensfreiheit (s. a. Freiheit) 113, 423 f.
Weltverklärung 389, 431, 465, 485
Wirken 23, 28, 51, 114
Weltvernichtung 127, 137 f., 238, 250, 263,
Wirklichkeit 28, 36, 81
275, 278—280, 291, 309, 310, 390, 445,
Wirksamkeit 80
453, 465
Weltvertrauen 15 Wirkung 25, 28, 45, 85—87, 114, 142, 264,
Welt-Zuspruch 301—305, 311, 312, 317, 318, 266 f., 271—273, 275, 297, 353, 354, 360,
320 365, 417, 422, 475
Werden 16, 17, 20—23, 25, 26, 28, 30, 31, 33, Wissen 77, 89, 146, 147, 150, 151, 407, 439,
34, 36, 37, 45, 48—53, 56—58, 60, 61, 63, 465
69—71, 74, 75,94, 97,99—101, 105—108, Wissenschaft 5, 12,29, 39—44, 46, 5 0 , 6 2 , 6 6 ,
116—120, 124, 132, 136, 141, 142, 146, 85, 86, 90, 101, 108, 112, 127, 133—142,
148, 149, 164—168, 175—181, 187, 189, 145—151, 153—155, 168—170, 186,
188—190, 196, 237—241, 265, 268, 270,
192, 212, 217—220, 222, 224—226, 229,
276, 278—281, 298, 300—302, 309 f., 324,
232, 235—237, 241—244, 250, 257, 262,
331, 344, 347 f., 358—361, 366, 373, 385,
263, 265, 271, 272, 291, 297, 298, 319, 327,
394, 396, 405, 406, 420, 435, 436, 438, 439,
349, 353, 354, 357 f., 364, 365, 367—370,
441, 445, 452—455, 461, 463, 465, 473,
372—374, 377, 380—382, 385, 392—394, 479, 487 f.
397, 398, 420, 424, 426—431, 443—455,
Wissenschaftler 178, 202 f., 206, 435, 436
459, 462, 474, 475
W o r t 93, 199, 270, 272
W e r k 311
Werkbegriff 121 W ü r d e der Arbeit 158
Wert 82, 94, 104, 108, 115, 138, 139, 142, W ü r d e des Menschen 158
145, 148, 154, 157, 161, 169, 185, 190, 195,
196, 205 f., 269, 294, 372, 413, 420, 429, Zahl 62, 106, 230, 377, 438
437 f., 440 Zeichen 200, 401, 421, 456
518 Sachregister

Zeit 19, 23—27, 29, 30, 34, 36, 47, 49, 50, 54, Zeitgemäßes 327, 359, 398
55, 58, 71, 93, 97, 101, 106, 112, 120, 160, Zirkel 18, 40, 48, 80, 353 f., 379, 419, 426
162, 164, 177, 178, 186, 187, 192 f., 196, ζ φ ο ν λ ό γ ο ν έ χ ο ν 413, 451
217, 218, 220, 227, 237, 241, 246, 257, Züchtung 129, 445
296 f., 299, 308 f., 311, 315, 327, 343, 353, Zufall 157, 284—286, 288, 310, 318 f.
356—358, 360, 361, 364, 365, 367, 369, Z u k u n f t 165
374—376, 379 f., 414, 417, 423, 427, 430, Zweck 70, 100, 157, 159, 205, 286, 289, 352
436, 437, 440, 444 f., 450, 453 f., 463, 471, Zweckmäßigkeit 13, 14
474, 475, 477, 482 Zweifel 124, 455, 465, 484
Zeitatomenlehre 19, 24, 374 Zwietracht 213
MONOGRAPHIEN UND TEXTE ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG

RICHARD FRANK KRÜMMEL


Nietzsche und der deutsche Geist I
Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im
deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen.
Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867 bis 1900
Groß-Oktav. X X , 290 Seiten. 1974. Ganzleinen DM 1 4 6 , -
I S B N 3 11 004019 0 (Band 3)

Nietzsche und der deutsche Geist II


Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im
deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges.
Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1901 bis 1918
Groß-Oktav. X X X , 688 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 2 6 4 , -
I S B N 3 11 008867 3 (Band 9)

GEORGE J. STACK
Lange and Nietzsche
Large-octavo. VIII, 341 pages. 1983. Cloth D M 1 3 2 , -
ISBN 3 11 008866 5 (Volume 10)

URSULA SCHNEIDER
Grundzüge einer Philosophie des Glücks
bei Nietzsche
Groß-Oktav. XII, 180 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 8 2 , -
I S B N 3 11 008737 5 (Band 11)

HEINZ RASCHEL
Das Nietzsche-Bild im George-Kreis
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mythologeme
Groß-Oktav. XII, 223 Seiten. 1983. Ganzleinen DM 9 8 , -
I S B N 3 11 009702 8 (Band 12)

JÜRGEN KRAUSE
„Märtyrer" und „Prophet"
Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende
Groß-Oktav. XII, 291 Seiten und 24 Seiten Tafeln. 1984. Ganzleinen DM 138,-
I S B N 3 11 009818 0 (Band 14)

Preisänderungen vorbehalten

W
Walter de Gruyter DE
Berlin · New York
G
MONOGRAPHIEN UND TEXTE ZUR NIETZSCHE-FORSCHUNG

GÜNTER ABEL
Nietzsche
Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr
Groß-Oktav. X I V , 471 Seiten. 1984. Ganzleinen D M 124,-
I S B N 3 11 009727 3 (Band 15)

tylHAILO DJURIC
Nietzsche und die Metaphysik
Groß-Oktav. VIII, 326 Seiten. 1985. Ganzleinen DM 154,-
I S B N 3 11 010169 6 (Band 16)

HENNING OTTMANN
Philosophie und Politik bei Nietzsche
Groß-Oktav. XII, 418 Seiten. 1987. Ganzleinen D M 150,-
ISBN 3 11 010061 4 (Band 17)

KURTBRAATZ
Friedrich Nietzsche
Eine Studie zur Theorie der öffentlichen Meinung
Groß-Oktav. X , 308 Seiten. 1988. Ganzleinen D M 1 2 4 , -
I S B N 3 11 011337 6 (Band 18)

CLAUDIA CRAWFORD
The Beginnings of Nietzsche's Theory
of Language
Large-octavo. X X I V , 412 pages. 1988. Cloth D M 154,-
I S B N 3 11 011336 8 (Volume 19)

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Walter de Gruyter DE
Berlin · New York
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