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Selbsterkenntnis und Metaphysik in den philosophischen

Hauptschriften Friedrich Heinrich Jacobis1


von Eilert Herms (Kiel)

Die Zusammenstellung der Begriffe „Selbsterkenntnis" und


„Metaphysik" bezeichnet eine der fundamentalen Probleinkonstel-
lationen, welche die neuzeitliche Philosophie- und Wissenschafts-
geschichte seit ihren Anfängen begleiten:
Bekanntlich hatte Rene Descartes seinen Um- und Neubau der
Metaphysik de facto auf die Selbsterkenntnis der Intelligenz ge-
gründet, ohne gleichzeitig epistemologisch die Möglichkeit dieser
Art von Erkenntnis sicherzustellen2. Als daher Jahrzehnte später
John Locke erstmals ausdrücklich die Frage nach dem Ursprung,
den Konstitutionsbedingungen und den danach3 zu bemessenden
Grenzen von Erkenntnis überhaupt aufwarf und in einem Descar-
tes widersprechenden Sinne beantwortete4, hatte das für die euro-
päische Wissenschaftswelt erschütternde Konsequenzen. Wo immer
nämlich Lockes Sensualismus rezipiert oder gar verschärft5 wurde,
ergab sich die schwierige Aufgabe, den bereits traditionell ge-
1
Erweiterte und mit Anmerkungen versehene Fassung meiner am 15. 2. 1975
vor dem Fachbereich Theologie der Christian-Albrechts-Universität Kiel ge-
haltenen Probevorlesung.
2
Daß Descartes seine Metaphysik nicht im Rahmen einer Erkenntnis-» sondern
nur im Rahmen einer Methodenlehre begründet, kommt besonders durch die
Interpretation von H. Scholz (Descartes' Bedeutung für die Umgestaltung des
abendländischen Geistes, in: Mathesis Universalis, Darmstadt 1969, S. 95—114)
und W. Röd (Descartes. Die innere Genesis des cartesianischen Systems,
München-Basel 1964; und: Descartes' Erste Philosophie. Versuch einer Analyse
mit besonderer Berücksichtigung der Cartesianischen Methodologie, Kant-
studien Ergänzungsheft 103, Bonn 1971) zum Ausdruck.
3
Die Neuigkeit des durch Locke eingeführten kritischen Gesichtspunktes erhellt
aus einem Vergleich der Lockeschen Äußerungen „Über die Reichweite mensch-
licher Erkenntnis" (Essay Concerning Human Understanding [EHU], Book
IV Chapter III) mit Descartes' Forderung, sich nur solchen Gegenständen zu-
zuwenden, „zu deren klarer und unzweifelhafter Erkenntnis unser Geist zu-
reichend scheint*' (Regeln zur Leitung des Geistes, Regel II).
4
Vgl. die Themathese des Ersten Buches von EHU: „Neither Principles nor
Ideas are innate".
5
Etwa durch Leugnung der von Locke (EHU B II Ch VT) neben den Sensationen
als Quelle der Selbsterkenntnis zugelassenen Reflektionen.
9 Arch. Gesch. Philosophie Bd. 58

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122 Etlcrt Hcrms

wordenen Themenbestand der cartesianischen Metaphysik6 in


diesem, ihr fremden epistemologischen Rahmen durchzuführen,
cLh. zu rechtfertigen, zu modifizieren oder aufzugeben7; es sei
denn, die sensualistische Epistemologie wurde ihrerseits einer ein-
schneidenden Kritik unterworfen8.
Auch die deutsche Wissenschaftsgeschichte blieb von diesem
Konflikte nicht verschont. Kants erkenntnistheoretisch begründeter
Umbau der auf Descartes und Leibniz fußenden Metaphysik der
Wolffschule ist das meistbesprochene und in Wahrheit wichtigste
Beispiel dafür; aber nicht das einzige. Vielmehr läßt sich eine —
hinsichtlich Ausgangslage und Resultat charakteristisch abwei-
chende9 — Spielart desselben Konfliktes auch studieren an der
Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis (1743—1819).
Dieser Sachverhalt kann freilich nur unter der Voraussetzung erkannt und
durchschaut werden, daß man den Umgang mit der literarischen Hinterlassen-
schaft Jacobis10 nach Grundsätzen einrichtet, die bis heute nur von Teilen der

8
Daß jedenfalls die deutsche Schulmetaphysik der Aufklärungszeit durch die
cartesianische Tradition geprägt ist, hat M. Wundt gezeigt: die deutsche Schul-
philosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945. Aber auch die west-
europäische Aufklärungsphilosophie hat in ihrem antimetaphysischen, induk-
tionistischen Grundzug den Themenkatalog der cartesianischen Metaphysik
im Rücken; vgl. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932
(19733).
7
Etwa im Materialismus eines Lamettrie, Helvetius oder Holbach; einer für die
Durchschnittsauffassung der Zeit freilich nicht repräsentativen Extremposition.
8
Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt für den Verlauf der europäischen Auf-
klärung die Tatsache Gewicht, daß Leibnizens Bestreitung der Lockeschen
Erkenntnistheorie erst mit jahrzehntelanger Verspätung seit 1765 (Herausgabe
der Nouveaux Essais durch R. E. Raspe) eine Wirkung entfalten konnte.
9
Im Gefolge Hegels hat die deutsche Philosophiegeschichtsschreibung Jacobi
überwiegend vor dem Hintergrund der Leibniz-Wölfischen Aufklärungsphiloso-
phie interpretiert (vgl. die unten Anm. 12 genannten Arbeiten). Tatsächlich
aber wurzelt Jacobi durch seinen Bildungsgang direkt in der westeuropäischen
Aufklärung, wie insbesondere durch den jüngst edierten Briefwechsel des jungen
Jacobi mit seinem Amsterdamer Buchhändler in reicher Fülle belegt ist: J. Th.
Booy/Roland Mortier, Les Ann&s de formation de F. H. Jacobi, d'apres ses
lettres in6dites a M. M. Rey (1763—1771), Studies on Voltaire and the 18th
Century, Vol. XLV, Genf 1966. — Diese Veröffentlichung ist in der Forschung
bisher wenig berücksichtigt worden. So scheint sie z. B. auch noch K. Homann
in seiner unten Anm. 13 genannten Arbeit entgangen zu sein.
10
Zur Quellen- und Editionslage vgl. S. Sudhof, Die Edition der Werke F. H.
Jacobis. Gedanken zur Neuausgabe des Allwill, in: Germanistisch-Romanisti-
sche Monatsschrift 43 (1962), S. 243—253; außerdem: Eberhard Galley, Bei-
träge zur Handschrift- und Nachlaßfrage, in: F. H. Jacobi. Philosoph und
Literat der Goethezeit, Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16.—19.10.1969),

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 123

Jacobiforschung als ein Ganzes methodischer Regeln anerkannt und befolgt


werden11:
1. Statt mit einer Untersuchung der Beiträge Jacobis zur Entwicklung der
nachkantischen Philosophie zu beginnen oder sich gar auf sie zu beschränken12,
hg. v. K. Kammacher, Frankfurt/Main 1971, S. 337—345. — In der vorliegenden
Arbeit werden folgende Texteditionen unter folgenden Sigeln (mit Seiten- und
gelegentlich Zeilenzahl) zitiert: F. H. Jacobi, Werkerhg. v. F. H. Jacobi, F.
Roth und F. Koppen, 6 Bde., Leipzig 1812—1825, anastatischer Neudruck
Dannstadt 1968: W I—VI; F. H. Jacobis auserlesener Briefwechsel, hg. von
F. Roth, 2 Bde., Leipzig 1825/27: AB I/II; Briefwechsel zwischen Goethe und
F. H. Jacobi, Leipzig 1846: GB; Aus Herders Nachlaß, hg. v. H. Düntzer und
F. G. v. Herder, Frankfurt am Main 1857, Bd. II: HN II; Aus F. H. Jacobis
Nachlaß. Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und andere, hg. v. R. Zoeppritz,
2 Bde., Leipzig 1869: Z I/II; J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi
(Band V von: C. H. Gildemeister, J. G. Hamanns, des Magus im Norden, Leben
und Schriften, Gotha 1868): G V; S. Sudhof (Hg.), Der Kreis von Münster,
Briefe und Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin und ihrer
Freunde, Teü 1:1769—1788,1. Hälfte: Texte, 2. Hälfte: Anmerkungen, Münster
1962/64: S I A/B; die oben Anm. 9 genannte Edition J. Th. Booys und R.
Mortiers: BM; F. H. Jacobi, Eduard Allwills Papiere, Faksimiledruck der er-
weiterten Fassung von 1776 aus Chr. M. Wielands „Teutschem Merkur", mit
einem Nachwort von H. Nicolai, Stuttgart 1962: AI; F. H. Jacobi, Woldemar,
Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1779, mit einem Nachwort von H.
Nicolai, Stuttgart 1969: Wol; F. H. Jacobi, Vermischte Schriften, Erster
[einziger] Theil, Hamburg 1781: Verm. Sehr. — In [ ] stehende Passagen inner-
halb von Zitaten stellen Zusätze des Verf. dieses Aufsatzes dar.
11
Z. B. von: K. Isenberg, Der Einfluß der Philosophie Charles Bonnets auf F. H.
Jacobi, Phil. Diss. Tübingen 1906; A. L. Frank, F. H. Jacobis Lehre vom Glau-
ben. Eine Darstellung ihrer Entstehung, Wandlung und Vollendung, Phil.
Diss. Halle 1910. Diesen beiden Arbeiten verdankt die vorliegende Studie mit
die fruchtbarsten Anregungen aus der gesamten Jacobiliteratur.
12
Vgl. als extremes Beispiel R. Kroners Beurteilung der philosophischen Arbeit
Jacobis als dilletantisch und unerheblich, soweit sie nicht in die Wirkungs-
geschichte Kants eingreift: Von Kant bis Hegel, Tübingen 1921/24 (196l2),
Bd. I S. 303ff. — Ganz in der Wirkungsgeschichte Kants hatten bereits Fichte
und Reinhold Jacobi stehen sehen; vgl. unten Anm.J195. — Auch in den neueren
Arbeiten von V. Verra (Dairilluminismo all' idealismo, Torino 1963, und:
Jacobis Kritik am Deutschen Idealismus, Hegel-Studien 5 (1969) S. 201—223)
und H. Timm (Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der
Goethezeit, Bd. I: Spinnozarennaissance, Firn. 1974, dort S. 135—225: Fr. H.
Jacobi. Salto mortale. Der Antagonismus von Glauben und Wissen; vgl. auch
den früheren Aufsatz desselben Verfassers: Die Bedeutung der Spinozabriefe
Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie, in dem
o. Anm, 10 genannten Symposionband S. 30—81) betrachten Jacobi dezidiert
unter dem Gesichtspunkt seines Eingreifens in die Werdegeschichte des deut-
schen Idealismus. Diese wird freilich von beiden Autoren hinter Kant zurück-
verfolgt, so daß Jacobi in weitere Zusammenhänge zu stehen kommt, die seine
Eigenbedeutung stärker als das bei Kroner der Fall ist zur Geltung zu bringen
erlauben.

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124 Eilert Herms

ist in erster Linie mit Nachdruck nach Jacobis „eigener Philosophie"1* zu fragen.
2. Diese Frage ist gegenüber Vormeinungen des Interpreten dadurch best-
möglich abzusichern» daß die historische Rekonstruktion genau desjenigen Argu-
mentationsganges versucht wird, durch welchen Jacobi seine eigene philosophische
Position aufbaute14.
3. Dazu ist eine Konzentration auf die Anfänge der theoretischen Arbeit dieses
Autors erforderlich, in denen die für ihn grundlegenden Arbeitsgänge15 zu vermuten
sind1·. Deren Resultate werden zum ersten Male öffentlich vertreten und verteidigt
18
VgL dazu F. D. E. Schleiermachers Exzerptheft aus dem Jahre 1793: „Ueber
dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrifft und
besonders ueber seine eigene Philosophie" (Hervorhebung E. H.; das Schleier-
machersche Manuskript ist jetzt veröffentlicht als Anhang zu E. H. U. Quapp:
Christus im Leben Schleiermachers, Göttingen 1972, S. 375—389). — Eine
Interpretation von Jacobis „eigener" Philosophie intendieren folgende Mono-
graphien: F. A. Schmid, F. H. Jacobi. Eine Darstellung seiner Persönlichkeit
und seiner Philosophie als Beitrag zu einer Geschichte des modernen Wert-
problems, Heidelberg 1908; O. F. Bollnow, Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis,
Stuttgart 1933 (19662); K. Kammacher, Kritik und Leben II. Die Philosophie
F. H. Jacobis, München 1969; G. Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philoso-
phie F. H. Jacobis, Bonn 1969; Karl Homann, F. H. Jacobis Philosophie der
Freiheit, München 1973.
14
Bis auf die beiden zuletzt genannten geben die in der vorigen Anm. erwähnten
größeren Arbeiten Jacobiinterpretationen im Rahmen von systematischen philo-
sophischen Positionen, die Jacobi selber fremd sind. Baums Arbeit bietet zwar
eine Menge historischer Informationen, hält sich auch von systematischen Vor-
meinungen, die historisch nicht hinreichend kontrolliert wären, weithin, frei,
verfährt jedoch in der Textauswertung ganz flächig (vgl. u. Anm. 18). Und
Homann legt seiner Untersuchung eine höchst einseitige Auffassung von der
Zirkelstruktur des historischen Verstehens zugrunde: Daß historische Text-
interpretation sich in der Spannung zwischen zwei gleichursprünglichen Polen —
umfassendem Problemhorizont und Einzeldokument — bewegt, die sich gegen-
seitig bedingen, soll gar nicht bestritten werden. Die Frage ist nur, ob der jeweils
die Interpretation leitende umfassende Problemhorizont notwendig die Gestalt
eines aus der Zeit des Interpreten stammenden „VorVerständnisses" behalten
muß, oder ob er nicht, wenn überhaupt Kontrolle eines Interpretationsansatzes
am Detail (Homann S. 10) möglich ist, so weit und so gründlich kontrolliert
werden kann, daß schließlich Gründe für die Vermutung bestehen, er komme
dem zumindest nahe, was der· umfassende Problemhorizont nicht in erster Linie
für die Urteilsbildung des Interpreten, sondern die textlich überlieferten Dis-
kussionszusammenhänge selber ist. In der Ausschöpfung der hier bestehenden
Annäherungsmöglichkeiten besteht diejenige „Objektivität" des historischen
Verstehens, welche dieses Geschäft allein fruchtbar, nämlich mehr als eine bloße
Repetition gegenwärtiger Fragestellungen sein läßt (gegen Homann S. 9—12).
Glücklicherweise folgt Horaann in der Durchführung seiner Arbeit seinem
hermeneutischen Programm nicht durchgehend (s. unten Anm. 60).
15
Die Untersuchung späterer Umbrüche im Denken des Philosophen wird dadurch
nicht erübrigt, sondern gerade ermöglicht.
16
Hier liegt eine entscheidende Differenz des vorliegenden Interpretationsver-
suches zu der Deutung Timms (vgl. o. Anm. 12). Zwar artikuliert auch diese

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 125

in den Veröffentlichungen von 1785—1789, die ich .deshalb hier Jacobis Haupt-
schriften17 nenne: „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendels-
sohn" (1785, 17892) und „David Üume über den Glauben, oder Idealismus und
Realismus. Ein Gespräch" (1787).
4. Um die Materialschichten entdecken und gegeneinander abheben zu können,
welche den Hauptstadien des. Diskussionsganges entsprechen, ist eine chronologisch
differenzierte Behandlung der Quellen geboten18. Diese Forderung ist mit besonde-
sich als Versuch einer genetischen Rekonstruktion (Gott und die Freiheit S. 140)
der Jacobischen Postition. Aber Timm geht davon aus, daß diese Position sich
„in der Spinozadiskussion der 80er Jahre" entfaltet, und der Argumentations-
zusammenhang, in den er Jacobis Hauptschrift, die Spinozabriefe, stellt, ist
offensichtlich ein anderer als der von mir in den Blick gefaßte: einsetzend mit
dem vom reifen Jacobi berichteten „mystischen Grunderlebnis" in Jacobis
Kindheit (a. a. O. S. 143 ff.) entfaltet Timm dann als den eigentlichen Kontext
der Jacobischen Glaubensphilosophie dasjenige allgemeine Problembewußtsein,
welches der Generation der Stürmer und Dränger im ganzen eigen gewesen und
als eine wesentliche Stufe im Werden der idealistischen Religionsphilosophie
anzusehen sei (a. a. O. S. 160ff.)· Dieser Versuch, ein genetisches Verständnis
der Jacobischen Philosophie aus dem Geiste des Sturms und Drangs heraus zu
gewinnen, erinnert stark an das Verfahren, durch das einst Dilthey die Ent-
wicklung des Schleiermacherschen Denkens aus dem es umgebenden geistigen
Gesamtleben verständlich zu machen suchte. Demgegenüber bescheidet sich
die hier vorgelegte genetische Interpretation der philosophischen Zentrallehren
des reifen Jacobi damit, auf einen sehr viel engeren, vielleicht aber auch über-
sichtlicheren, Kontext Bezug zu nehmen: nämlich auf die rekonstruierbaren
Problemstellungen, die Jacobi selber zwischen jenen vortheoretischen Kindheits-
erlebnissen und der Artikulation seiner Glaubensphilosophie sukzessive be-
arbeitet hat. Letztere wird im Rahmen dieses von mir gewählten Kontextes
in einem anderen Lichte erscheinen als in dem Timmschen Interpretations-
rahmen (s. u. S. 135ff., 151 f.). — Bollnow beabsichtigt zwar, Jacobis Anfänge zu
untersuchen (a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 9 ff.), verfehlt aber den Denkzusammen-
hang Jacobis dadurch, daß er seine Untersuchung nicht am historisch grund-
legenden Punkte einsetzen und dann zu schnell von Vorbegriffen der Lebens-
philosophie systematisch leiten läßt (S. 77ff.). — Wichtige Beiträge zur ersten
Schaffensperiode Jacobis stammen von germanistischer Seite: F. David, F. H.
JacobisWoldemar in seinen verschiedenenFassungen, Leipzig 1913; H. Schwartz,
F. H. Jacobis Allwill, Halle 1911; T. Th. v. Stockum. Spinoza-Jacobi-Lessing.
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie und Literatur im 18.
Jahrhundert, Groningen 1916; F. Heraus, Jacobi und der Sturm und Drang,
Heidelberg 1928; neuerdings H. Nicolai, Nachworte zu den o. Anm. 10 genann-
ten Faksimilieausgaben; außerdem Ders., Goethe und Jacobi. Studien zur Ge-
schichte ihrer Freundschaft, Stuttgart 1965; Ders., Jacobis Romane, in dem o.
Anm. 10 genannten Symposionband S. 347—360; H. Schanze, Jacobis Roman
„Eduard Alhvills Papiere" — eine formgeschichtliche Analyse, ebendort S.
32&—331.
17
So auch Bollnow (Anm. 13) S. 14. Aber auch im Blick auf Jacobis Wirkungs-
geschichte verdienen die genannten Veröffentlichungen diese Bezeichnung.
18
Wenn z. B. G. Baum in seiner Anm. 13 genannten Arbeit Texte aus den Jahren
1773 und 1815(1) zu einer Sinneinheit zusammenfaßt (S. 27), so wäre das

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rem Nachdruck hinsichtlich des Spinozabüchleins in Erinnerung zu bringen. Denn


in ihm sind Zeugnisse aus einem Zeitraum von fünf bzw. neun Jahren vereinigt,
die mit Sicherheit verschiedenen Stadien der philosophischen Einsicht Jacobis
zugehören.

Im folgenden werde ich den Grundriß der Problemgeschichte,


die Jacobi von 1759—1785 (bzw. 1789) durchlaufen hat, in vier
Linien zu zeichnen suchen: Mit einer Skizze der Problemkonstella-
tion, welche Jacobi in Genf begegnete, werde ich beginnen. Teil II
wird zeigen, wie diese Problematik von Jacobi angeeignet wird
und ihn als Aporie umtreibt. In Teil III und IV verfolge ich Jaco-
bis schrittweise Überwindung dieser Aporie und versuche, den
systematischen Sinn der erreichten Problemlösung — insbesondere
durch einen Vergleich mit Kantischen und nachkantischen Theore-
men — zu präzisieren.

I.

Mit Jacobis Erinnerungen an seinen Genfer Studienaufenthalt


(1759—1761) verbinden sich — was den Ertrag dieser Jahre an-
geht — vor allem drei Namen: Wilhelm Jacob 'sGravesande19,
Charles Bonnet20 und Jean-Jacques Rousseau21. Mit Sicherheit
fällt die grundlegende Einwirkung der beiden zuerst genannten
auf Jacobi bereits in dessen Genfer Zeit selber?2. Werfen wir einen
kurzen Blick in die von Jacobi studierten Schriften dieser beiden
Autoren:

Recht solchen Vorgehens doch wohl eigens zu begründen. Eine solche Begrün-
dung läßt sich aber jedenfalls dann, wenn das Interesse an Jacobis eigener Phi-
losophie leitend ist, nicht erbringen.
19
1688—1742; seit 1717 Professor in Leiden; zunächst als Naturwissenschaftler,
seit 1734 als Philosoph. Vgl., Ph. H. Külb, Art.: Gravesande, in: Allgemeine
Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. von J. S. Ersch und J. G.
Gruber, Bd. 88, Leipzig 1868, S. 279—286; Art.: 'sGravesande, in: Nouvelle
Biographie Galorale, hg. von Hoefer, Bd. 43, Paris 1867, S. 869—871. — Jacobi
ist mit seiner Philosophie durch Le Sage bekannt geworden: WII180ff.
20
1720—1793; Genfer Biologe und Philosoph. Zur Biographie vgl. Sprengel,
Art.: Karl Bonnet, in: Ersch-Gruber (o. Anm. 19) Bd. 11, 1823, S. 406ff.; jetzt
vor allem: Ch. Bonnet. M&noires autobiographiques, hg. v. R. Savioz,'Paris
1948; R. Savioz, La Philosophie de Charles Bonnet de Geneve, Paris 1948. .
21
Dazu siehe unten S. 138ff.
22
Rousseau hat vor allem durch den „Contrat Social" und die „Nouvelle Höloise*'
auf Jacobi gewirkt, also durch Schriften, die erst seit 1761 erschienen sind..

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 127

1. Jacobi begann sein Philosophiestudium23 mit einer Durch-


arbeitung der „Introductio ad Philosophiam" von 'sGravesande24.
Dieser Autor war schon in den Jahren seiner vorwiegend mathema-
tisch-naturwissenschaftlichen Beschäftigungen als Philosoph mit
einer Freiheitslehre hervorgetreten25, die wegen anstößiger Details
öffentlichen Widerspruch erfahren hatte26. Auch in der „Intro-
ductio" bildet diese Theorie ein durch Breite der Diskussion aus-
gezeichnetes Zentralthema27.
'sGravesande definiert: „Freiheit nennen wir die Fähigkeit, in
der Tat auszuführen, was belieben und wie immer die Willensbe-
stimmung ausfallen mag28." Ob nun diese Definition den Sach-
verhalt von sittlicher Freiheit deckt oder ausschließt, hängt von
den weiteren Aussagen über die Willensbestimmung ab. 'sGravesan-
de sieht sittliche Freiheit für den Fall als garantiert an, daß die
Willensbestimmung sich „spontan"29 nach „moralischer Not-
wendigkeit"30 vollzieht. Darunter versteht er dreierlei: a) Ausge-
schlossen sein soll die Annahme grundloser Willensbestimmung;
ein durch nichts bestimmter Wille wäre eben nicht bestimmter
Wille31, b) Ausgeschlossen sein soll ebenso eine Willenbestimmung
„causis physicis"**; in diesem Falle unterläge nämlich die Willens-
bestimmung mechanischer Notwendigkeit33, so daß Moralität fata-
listisch negiert wäre34. Dies sei offenkundig bei Spinoza36, dem-
zufolge gelehrt werden müsse, daß alles Seiende „vult quia movetur,
non movetur quia vult"36. c) Zu behaupten ist nach 'sGravesande
vielmehr das Bestimmtwerden des Willens nach moralischer Nor-
23
Vgl. W II ISOff.
24
1. Aufl. Leiden 1736; im folgenden zitiert als: Intr. Ich. zitiere paragraphenweise
nach, dem auf der Kieler Universitätsbibliothek befindlichen venezianischen
Druck von 1748.
25
Von 'sGravesande stammt die „Lettre envoyöe au Libraire qui imprime le
Journal", im Journal littoraire, Bd. X (1718) S. 234—238. Der Aufsatz behandelt
thematisch das Problem der „agents libres".
26
Vgl. Külb (o. Anm. 19).
27
Intr. 116—178.
28
Intr. 117.
29
Intr. 121, 124, 125.
30
Zum Sinn des Ausdrucks vgl. Intr. 127, 139, 147, 176.
81
Intr, 130—133, 161—170.
32
Intr. 134, 146, 171.
33
Intr. 127, 139,147, 176.
34
Intr. 137-157; der Abschnitt handelt „de fato".
35
Intr. 145—146.
3e
Intr. 146.

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wendigkeit37 „causis moralibtis"**; d.h. das Bestimmtwerden von


seelischem Sein (voluntas) durch seelisches Sein (cogitationes)39,
also: Selbst-bestimmung des mentalen Seins40.
Nun setzt offenkundig die Überzeugung von der Existenz dieses
Falles sittlicher Freiheit zunächst die Überzeugung davon voraus,
daß überhaupt mentales Sein — und zwar von körperlichem Sein
unterschieden, unabhängig von der Herrschaft mechanischer Not-
wendigkeit und gleichwohl zur tathaften Bestimmung des physi-
schen Seins kräftig — existiert. Alle diese Überzeugungen teilte
'sGravesande. Gelang ihm aber auch der Nachweis ihrer Stich-
haltigkeit ?
Für diesen Nachweis verweist 'sGravesande einerseits auf Er-
fahrung: Krankheit könne einen Menschen seiner Willensfreiheit
berauben, die er also im gesunden Zustande gehabt haben müsse41.
Aber dieser Sachverhalt offenbart nur die Abhängigkeit des men-
talen Seins vom körperlichen und von seiner Selbständigkeit gar
nichts. Andererseits aber erscheint es auch völlig aussichtslos, daß
'sGravesande ein rationaler Beweis für die Selbständigkeit men-
talen Seins gelingen könnte. Denn dazu wäre vorab Klarheit über
nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Konstitution, den Ur-
sprung des Begriffes „mens" erforderlich. Jedoch gerade diese
epistemologische Grundfrage nach dem Ursprung unserer Ideen
überhaupt bezeichnet 'sGravesande offen und ausdrücklich als
einstweilen nicht hinreichend beantwortet42.
2. Genau dies ist nun der Punkt, an dem der zweite Genfer
Lehrer Jacobis, Charles Bonnet43, auf völlig sicherem Boden zu
stehen meinte. Mit Entschiedenheit teilte er nämlich diejenige
Verschärfung des Lockeschen Sensualismus, welche zuvor schon
37
Intr. 49 ff.
38
Intr. 134. — 'sGravesande folgt hier Ueberlegüngen Leibnizens. Zu dessen
Freiheitslehre vgl. jetzt Chr. Axelos, Die ontologischen Grundlagen der Frei-
heitstheorie von Leibniz, Berlin 1973.
89
Intr. 141 („persuasio ex judicio aut ratiocinio deducta"), 147 (^mentis persua-
sio", „quae ipsa persuasio non causis mechanicis sed propositis rationibus,
generatur."), 148 („Qui ratione regitur, non Fato submittitur").
40
N. Hartmanns Behauptung, als erster habe Kant einen Begriff von Freiheit
ohne Indeterminismus dadurch zu gewinnen gesucht, daß er eine „positive Be-
stimmung höherer Ordnung" als wirksam annahm (Neue Wege der Ontotogie,
Stuttgart 19492, S. 101), ist historisch falsch.
41
Intr. 148 ff.
42
Intr. 307.
43
Über die Beziehungen Jacobis zu Bonnet vgl. K. Isenberg (o. Anm. 11) S. 10
und R. Mortier BM S. 54r-57.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 129

Etienne Bonnot de Condillac44 vorgenommen hatte: daß nämlich


alle unsere Ideen allein aus dem Empfindungen der äußeren Sinne
(Sensationen) entspringen. -Gleichfalls mit Condillac leugnete
Bonnet jedoch den ontologischen Materialismus und behauptete
die Existenz mentalen Seins. Für beide kam es als Empfindungs-
träger in Betracht45. Der Mentalismus war damit also Teil der
Empfindungstheorie selber und besaß insofern epistemologischen
Sinn.
Aus diesen Voraussetzungen resultierte für Bonnet die Aufgabe,
in einer Untersuchung nach sensualistischen Grundsätzen eine
Theorie des seelischen Seins zu erarbeiten und die psychologischen
Aussagen der cartesianischen Metaphysik „naturwissenschaftlich"
zu rekonstruieren; d. h. wenn auf diese Weise schon nicht den theo-
retischen Charakter der Aussagen als „metaphysischer"46, doch
wenigstens ihren materialen Gehalt zu bewahren47. Dieser Aufgabe
widmete Bonnet seinen „Essai analytique sur les facultes de
Tarne"48, in dessen Vorwort er sein Programm wie folgt skizziert:
Erstens: „Ich habe mir vorgenommen, den Menschen zu studieren, wie ich be-
reits die Insekten und Pflanzen studiert habe. Der Geist der Observation ist keines-
wegs auf eine Art von Gegenständen beschränkt: Er ist der universale Geist der
Wissenschaft und Technik." Das ergibt sich aus folgenden epistomologischen
Grundsätzen, die Bonnet unmittelbar anschließt: „Es sind stets sinnliche Vor-
stellungen, von denen wir die mehr abstrakten Notionen ableiten; und die sinnlichen
44
Vgl. dessen „Tratte* des Sensations", 1754 (dt. von E. Johnson, Berlin 1870). —
Daß Bonnet auf seine Originalität gegenüber Condillac pocht (Essai analytique
sur les faculte*s de Tarne [EA] S. lOif.), ändert nichts an der Identität seiner
erkenntnistheoretischen und methodologischen Position mit der Condillac-
schen. Die Nähe erstreckt sich bis auf die Darstellungsform der Theorie ver-
mittelst des Gedankenexperiments mit einer sich durch Sensationen allein
sukzessive belebenden Statue, EA 7 ff.
45
Die Condülacsche und Bonnetsche Statue ist als schon vor dem Gebrauch der
Sinne beseelte gedacht: Condillac, Tratte" des Sensations, Vorrede; Bonnet
E A l ff.
46
Vgl. dazu Condülacs „Tratte* des Systfcmes", 1749 und Bonnets Äußerungen u.
Anm. 49. Zur Metaphysikfeindlichkeit der französischen Aufklärung insgemein
vgl. E. Cassirer (o. Anm. 6) S. 27, 67ff., 70, 449.
47
Zur Psychologie des Materialismus d'Holbachs und Lamettries, welcher eben
dies nicht mehr gelang, vgL Cassirer (o. Anm. 6) S. 70ff.; ferner A. Baumgarten,
Heivetius, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, hg. von W.
Krauss und Hans Mayer, Berlin (DDR) 1955. S. 3—23; M. Naumann, Holbach
und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung, ebendort.
S. 85—127. bes. S. 112ff.
48
Kopenhagen 1760; vgl. den Vorläufer dieses Werkes: Essai de Psychologie ou
ConsideYations sur les Op&ations de l'Ame etc., anonym veröffentlicht, London
1755.

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130 Bilert Herms

Vorstellungen repräsentieren sinnliche Objekte. Indem wir beobachten, kommen


wir also zum Verallgemeinern, Die ausgebreitete und klare Anschauung der Be-
ziehungen [sc. zwischen den sinnlichen Einzelvorstellungcn] macht das Genie aus.
Und wie die Beziehungen sich aus den den verschiedenen Gegenständen eigenen
Bestimmungen ergeben« so betrachtet das Genie diese Bestimmungen und sieht,
was aus ihrem Beisammensein resultiert. Bas Genie ist nichts als Aufmerksamkeit,
die sich auf allgemeine Vorstellungen richtet, und die Aufmerksamkeit ist selber
nichts als der Geist der Obvervation." Daraus zieht Bonnet sogleich die wissen-
schaftstheoretische Konsequenz: „Folglich ist die Physik in gewisser Weise die
Mutter der Metaphysik, und das Verfahren der Beobachtung ist das Verfahren des
Metaphysikers gerade so, wie es das Verfahren des Physikers ist49,"

Die Konsequenz dieser Ansichten wird durch die Hervorhebung


zweier ihrer Implikate deutlich: a) das Observieren der sinnlichen
Vorstellungen geschieht selber durch sinnliche Vorstellungen00.
Nun „repräsentieren" diese „äußere Objekte". Daher gilt b): Die
sinnliche Beobachtung richtet sich auf sinnliche Vorstellungen als
auf objektive Vorgänge im System der Nervenfibern. In diesem
System besitzt die Gesamtmenge der Vorstellungen eines Indivi-
duums — also sowohl seine auf von ihm unterschiedene Gegenstände
gerichteten Vorstellungen wie auch seine Beobachtungen dieser
Vorstellungen selber — objektive, beobachtbare Gestalt. Das
Wechselspiel zwischen den Elementen dieser Vorstellungsmenge
und dessen Gesetze lassen sich an dem objektiven Befunde der
Funktionen jenes physischen Systems als Mechanik der Begriffe
beobachtend erforschen61.
Daß nun solcher Forschung offenbar weder die Existenz der
Seele, noch deren Wesen, noch schließlich die Weise, in welcher sie
auf den Körper einwirkt, zugänglich ist, hat Bonnet selbst mit Nach-
druck unterstrichen62. Aber er meinte, seine Überzeugung von der
realen Möglichkeit einer empirischen Seelenlehre im Geiste der
Observation neben seiner gleichzeitigen Überzeugung von der Un-
erforschbarkeit des unkörperlichen Seins und von dessen Existenz
widerspruchsfrei festhalten zu können53. Und zwar glaubte Bonnet,
sich und sein Publikum dadurch über die Stichhaltigkeit der zuletzt
49
EA I f. (Hervorhebung von E. H.).
60
EA II Z. 15.
51
Vgl. EA II Z. 22, XIII Z. Uff.. XXIff., 17ff. Zur Annahme einer „Mechanik" der
Begriffe vgl. II Z. llf. („M^chanique de nos Idees"), XIV Z. .91 („M&hanique
des Op&ations de notre Ame"). Vgl. Jacobis Erinnerung an dieses Thema Bon-
nets WIV A 59 Z. 18 (1780) und W II 54 Z. If. (1815).
52
EA XIV Z. 16 („l'Ame ne peut se connoitre elle-meme"), 5f. — Vgl. dazu auch
Lavaters Übersetzung der „Paling&i&ie" (u. S. 146f.) S. 23ff.
68
EA Xllff., XXff.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 131

genannten Annahme vergewissern zu können, daß er erstens in


cartesianischem Stile an die Evidenz der Selbstempfindung appel-
lierte54 und außerdem einen rationalen Beweis für die Existenz
einer immateriellen Seele zu geben versuchte55.
Nun ist aber offenkundig, daß diese beiden Erkenntniswege über-
haupt nur dann offenstehen, wenn die Grundsätze des oben skiz-
zierten Sensualismus de facto nicht durchgehend festgehalten wer-
den56. Hingegen müßte deren konsequente Vertretung erstens zur
Bestreitung der Existenz einer von der Sinnesempfindung unter-
schiedenen Selbstwahrnehmung führen und zweitens zur Beurtei-
lung jedes vermeintlichen Beweises für die Existenz der unkörper-
lichen Seele als eines bloßen Resultates des Zusammenspiels gerade
von Außenweltempfindungen. Offenbar gilt: Selbsterkenntnis —
im Sinne einer ausweisbaren Einsicht in die Realität seelischen
Seins, welches der über die Körperwelt herrschenden mechanischen
Notwendigkeit nicht unterworfen ist, sich vielmehr durch die Fähig-
keit zur spontanen Selbstbestimmung auszeichnet und somit als
sittliches erweist — scheidet in der Konsequenz des Condillac-
Bonnetschen Sensualismus aus.
3. Die skizzierten Doktrinen Bonnets und 'sGravesandes er-
heben in ihrem Ineinandergreifen diejenige Problematik zum
Thema, an welcher sich Jacobis philosophische Lebensarbeit
orientiert:
Der junge Mann verließ Genf in dem Bewußtsein, mit der Frage nach dem Ver-
hältnis von Freiheit und Notwendigkeit vor dem Zentralproblem der Philosophie
zu stehen57, für dessen Losung Entscheidendes am Nachweise körperunabhängiger
Selbständigkeit der Seele hängt58. Noch der alte Jacobi bekundet sein Einver-
ständnis nicht nur mit Kant, sondern de facto mit der gesamten nachcartesischen
Metaphysik, wenn er „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" als die eigentlichen
Gegenstände der Philosophie bezeichnet59. In diesem Themenkreise aber ist es
54
EA XVI Z. 171, 4 Z. 3.
55
EA 3 („La supposition que l'Ame existe n'est pas gratuite: eile est fonde*e sur
l'opposition qui est entre la simplicite' du sentiment et la composition de la
Mattere"). Ausführlicher: Essai de Psychologie Ch. XXXV. Vgl. dazu bei
Jacobi W II1721
56
Schon die die Existenz der Seele voraussetzende Empfindungstheorie (s. o. Anm.
45) ist selber insofern widersprüchlich, als sie mit der Existenz der Seele einen
Sachverhalt bejaht, den sie selber gleichwohl aus der Welt des Erkennbaren
ausschließt. « AB 61 (1762).
68
BM 135 (1768); BM 1491 (1769): zum Plan einer Übersetzung von Mendels-
sohns „Phädon"; IBM 164 (1769), 155 (1769): Studium von Bonnets „Palin-
g&iesie" (s. u. Anm. 1541).
59
W 68, 84 (1801), 341 (180); W II 42, 65 (1815); W IV A XX (1819); vgl.
auch W II 63 (1815).

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132 Eilert Herms

charakteristischer Weise der Freiheitsbegriff, dem Jacobi eine Schlüsselposition


zuspricht» indem er ihn als den seiner Philosophie „eigentümlichen" Begriff rekla-
miert60:
Die Unabhängigkeit des Geistes vom Fleische ist das Thema der belletristischen
Arbeiten Jacobis seit 177661, und nach der Aufgabe dieser Arbeitsweise Anfang der
80er Jahre plante er als erste eigentlich philosophische Veröffentlichung eine Ab-
handlung über die Freiheit62. Als Bruchstücke und Konkretionen seiner vor-
schwebenden Freiheitstheorie sind Jacobis ethische63, staatstheoretische64 und
volkswirtschaftliche65 Schriften zu verstehen. Eben sein Freiheitsverständnis war
es, welches einerseits sein eigenes Aufklärungspathos beflügelte und zugleich
andererseits seine Kritik an all den Aufklärungsprogrammen motivierte, in denen
er Freiheit abgesehen von einem Begriff ihrer Gebundenheit an die realen, der
Manipulation entzogenen Bedingungen menschlicher Lebenswirklichkeit gefordert
und praktiziert sah66. Und das Engagement für eben diesen Begriff von Freiheit
als auf das Vorgegebene der Realität bezogener und durch sie gehaltener verwik-
kelte ihn schließlich in diejenigen literarischen Auseinandersetzungen — zunächst
mit Mendelssohn und ihm Gefolge davon mit Kant und dessen Nachfolgern —,
welche sich so in den Vordergrund schoben, daß dann nur noch der rhapsodische und
nicht ohne Schwierigkeiten vernehmbare Hinweis auf das Jacobis Absichten
„eigentümliche" Thema möglich war67.
60
W IV 231: „Alle meine Überzeugungen ruhen auf der einen [Hervorhebung
von Jacobi] von der Freiheit des Menschen. Dieser Begriff ist mir eigen und
unterscheidet meine Philosophie ... von allen vorhergegangenen" (aus: „Flie-
gende Blätter"). — K. Homann hat völlig recht, wenn er das Freiheitsproblem
als das Zentralthema der Jacobischen Philosophie behandelt (vgl. seine o.
Anm. 13 genannte Arbeit). Besondere Zustimmung verdienen auch Homanns
Nachweise, daß Jacobi die Relevanz der Freiheitsthematik nicht nur in der
persönlichen, sondern zugleich einer öffentlich-politischen Dimension erlebt hat.
Zur Aufhellung der sachlichen Struktur des FreiheitspyoWßws, wie es sich für
Jacobi aufgebaut hatte, trägt freilich auch Homann wenig bei.
61
Siehe unten S. 138f. und Anm. 126f.
62
Z I 50 (Dohm an Jacobi am 18.1. 81): „Liefern sie nun bald die Untersuchung:
Was ist Freyheit?"; S I A 122 (Jacobi an die Fürstin Gallitzin am 11.1. 82):
Ich arbeite gegenwärtig an einer Abhandlung über die Frage: Was ist Freyheit ?
Meist in politischer Hinsicht. Dennoch nehme ich den Begriff in seinem ganzen
Umfange und laß ihn unzerteilt. Meine Hauptabsicht ist die Aufklärung der
Materie des Rechts"; vgl. auch AB I 381 (1785), ferner AB II 46 (1790).
63
Abgesehen von den Romanen die Schrift „Über Recht und Gewalt" (1777)
W IV 419—464.
64
„Etwas das Lessing gesagt hat. Ein Commentar zu den Reisen der Päpste"
(1782) W II 325—411; „Über das Buch: Des lettres de Cachet und eine Be-
urtheilung desselben" (1783) W. II 411—453.
65
„Eine politische Rhapsodie" und „Noch eine politische .Rhapsodie" (1779)
W VI 346—362, 362—418.
66
S. o. Anm. 64 und: „Einige Betrachtungen über den frommen Betrug und über
eine Vernunft welche nicht die Vernunft ist" (1788) W II 455—500; „Schreiben
an Friedrich Nicolai" (1788) WII 501—512.
67
S. o. Anm. 60 und dazu die Gesamtmasse der „Fliegende(n) Blätter" W VI
131—242. — Zur Verwurzelung der Auseinandersetzung mit Kant in der mit

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 133

Wie sehr nun der für Jacobi zentrale Freiheitsbegriff durch die
eben skizzierte Genfer Problemkonstellation geprägt war, zeigt
sowohl seine formale Fassung als Begriff der Selbstbestbestimmung
des Geistes68 wie auch. die voluntaristische Zuspitzung69 dieses
Begriffes:
a) "Freiheit als Selbstbestimmung des Geistes wird 1782 in einer für das Gesamt-
werk gültigen Weise so beschrieben: „Was den Menschen von dem Thiere unter-
scheidet ... ist das Vermögen einen Zusammenhang von Zwecken einzusehen, und
nach dieser Einsicht seinen Wandel einzurichten70. In so fern der Mensch sich in
und nach sich selbst bestimmen, das ist freye Handlungen verrichten kann: in
so ferne wird derselbe durch Vernunft bewegt71, und nur in so ferne zeigt er sich
als Mensch. Wo keine Freyheit ist, keine Selbstbestimmung, da ist keine Mensch-
heit72."
b) Kommen nun aber nach sensualistischen Prinzipien als Erkenntnisquelle
einzig die Sinnesempfindungen in Betracht und wurzelt alle Erkenntnis dement-
sprechend in Fremdbestimmung durch die Außenwelt, dann bedeutet in der Tat
schon die Annahme einer Bestimmung der voluntas durch die cogitationes die
Leugnung einer Bestimmung des mentalen Seins durch sich selbst. Soll linier
diesen epistemologischen Voraussetzungen Selbstbestimmung in der Weise sittlicher
Freiheit gedacht werden, so ist der Wille selber als ,,eine sich selbst bestimmende
Ursache"73 anzusetzen und statt einer Bestimmung des Willens durch die Ein-
sicht vielmehr deren Bestimmung durch den Willen anzunehmen: „Der Verstand
des Menschen hat sein Leben nicht in ihm selbst, und der Wille entwickelt sich
nicht durch ihn. Im Gegentheil entwickelt sich der Verstand des Menschen durch
seinen Willen, der ein Funken aus dem ewigen Lichte, und eine Kraft der Allmacht
ist74." — Die sich hier abzeichnende metaphysische Vertiefung des Voluntarismus
ist es, welche dann den geschichtsphilosophischen Irrationalismus schon impliziert,

Mendelssohn siehe die ganz zutreffenden Beobachtungen H. Timms (o. Anm. 12,
Symposionband, S. 61—81).
68
Vgl. o. Anm. 40.
69
Zu Jacobis „Voluntarismus" vgl. Bollnow (o. Anm. 13) S. 210.
70
Auch diese Betonung der Tatkraft klingt schon in 'sGravesandes Definition
von Freiheit an (o. Anm. 28). — Vgl. auch*W VI 181: „Was du glücklich bist,
sagte ich zu L., daß du einen so freien Willen hast. Indem ich dieses sagte, fiel
es mir lebhafter auf, daß wir, was wir die Freiheit des Willens nennen, nicht
sowohl in das Vermögen zu wählen, als in die Kraft, unsern Willen zu thun
setzen"; vgl. gleichfalls die Betonung der Tatfreiheit in W IV A 70 Z. 16, 231,
249.
71
Also nicht causis physicis: vgl. o. S. 127.
72
W II 339 ff.
73
W IV A 249 Z. 3f.
74
W IV A 248; vgl. überhaupt dort die Passage S. 230-253; später W VI 68. —
Hierher gehört dann auch die Trieb- und Instinktlehre Jacobis: a) „Trieb":
W IV A 18, 34; W I 175, 289; W III 203, 273, 317; W VI 136; W II 44. b)
„Instinkt": W I XlVf.; W III35,193, 206, 216; W V 79; (W VI 333 (1773)). —
In diesen Anschauungen werden offenbar Vorstellungen schon aus der empfind-
samen Phase Jacobis weitergebildet: s. u. S. 138.

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134 Eilort Herms

zu dem Jacobi sich schließlich als zu dem Entspringen aller unter Menschen gelten-
den Wahrheit aus der ursprünglicheren Schicht der „Meinung"7* und dieser aus
der Praxis76 ausdrücklich bekannt hat.
Freilich war solche positive Fassung und Entfaltung des Frei-
heitsbegriffes dem reifen Jacobi erst möglich, nachdem der junge
Jacobi ihn in jahrzehntelanger Arbeit gegen zerstörerische Be-
drohungen sichergestellt hatte. Was den Charakter dieser Be-
drohungen betrifft, so läßt sich — in näherer Ausführung der soeben
gemachten Andeutungen — nachweisen, daß sie alle von den Konse-
quenzen eines Sensualismus ausgingen, wie ihn Jacobi in der
Schule Bonnets eingesogen hatte.

II.
Für den gründlichen Einfluß der Bonnetschen Lehren auf Jacobi
gibt es eine ganze Reihe von Belegen:
1. Zunächst: Jacobis ausdrückliches Selbstzeugnis. Er studierte die erreichbaren
Schriften Bonnets, bis er sie „fast auswendig" kannte77; mit Nachdruck schloß
er sich der Bonnetschen Forderung nach einer „analytischen" Philosophie an78;
er weitete sein Studium auf die Medizin aus79; und sein mit metaphysischen Studien
begonnener Genfer Aufenthalt endete mit dem Wunsch, sich in einem weiteren
Studium andernorts80 als Arzt, also: als „physicien", ausbilden zu lassen81.
2. Sodann: Bis in Jacobis reife Schriftstellerei hinein finden sich Grundsätze
der sensualistischen Erkenntnislehre: Erkenntnis der Wirklichkeit bieten allein
75
Von Jacobi seit den „Zufälligen Ergießungen eines einsamen Denkers" (1793,
W I 25^-305) gelehrt (W I 227f.).
76
W IV A 231, 234f., 237, 248, 249.
77
WIV A 80 Z. 12f. und AB I 320 (auf den „Essai" bezogen). — Erwähnungen
Bonnets oder seiner Werke: AB I 6 (1762), BM 78 (1764), 94 (1766), 135f.
(1768), 154 (1769), 155 (1769), W VI 255 (1773), AB I 320 (1781), W IV A 80f.
(1783), W II 170, 172 (1787), AB II 67 (1791), AB II 142 (1794), W II 54, 73
(1815). — Als Jacobi 1794 Bonnet einen „hölzernen Philosophen" nannte, fügte
er sogleich entschuldigend hinzu, im übrigen „die Verdienste dieses Mannes
wohl zu schätzen" zu wissen. Die Bemerkungen kann also das Gewicht des
Jacobischen Bekenntnisses nicht im geringsten mindern, in Genf zwei „gewiß
der fruchtbarsten" Jahre seines Lebens verbracht zu haben: W II183.
78
Zu Bonnet vgl. E AIII ff.; zu Jacobi SI A 10 (1771)1 — Auch der spätere Grund-
satz, philosophische Erkenntnis gehe auf Daseinsenthüllung (erstmals gegen
Hamann geäußert ZI56f., 1783), ihre Wahrheit sei stets auf „Wirklichkeit,
auf Facta" (W IV A 193,1785) bezogene Klarheit, scheint mir, in die Tradition
dieses Philosophieverständnisses zu gehören. Das erhellt m. E. eindeutig aus
W II 189f. (vgl. u. Anm. 144).
79
W II183.
80
Gedacht war an Glasgow: WII183.
81
Der Wunsch wurde ihm vom Vater nicht erfüllt. Jacobi trat vielmehr in das
väterliche Geschäft ein: AB XI; vgl. WII183.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 135

die sinnlichen Vorstellungen, und zwar auf unmittelbare Weise82. Die diskursive
Erkenntnis erreicht durch Vergleichen, Unterscheiden und Gleichsetzen der Sensa-
tionen nur Einsichten von sekundärem Rang83. Denn für sie gilt erstens: daß sie
ganz und gar von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung lebt84, nur durch Rück-
führung auf sie bewährt85 und durch jeden ihrer Einsprüche unmittelbar widerlegt
wird86. Für sie gilt zweitens: daß die diskursiven Operationen selber nichts anderes
als im Wesen der einzelnen Sensationen begründete quasi automatische Reaktionen
der Elemente einer gegebenen* Gesamtmenge von Empfindungen aufeinander sind:
,,Sobald ein Mannichfaltiges von Vorstellungen, in einem Bewußtseyn vereinigt,
einmal gesetzt ist, so ist damit zugleich gesetzt, daß auch diese Vorstellungen, theils
als einander ähnlich, theils als von einander verschieden, das Bewußtsein afficiren
müssen.. .. Wir haben also außer der ursprünglichen Handlung der Wahrnehmung,
keine besondere Handlung des Unterscheidens und Vergleichens nöthig, bey denen
sich auch gar nichts denken läßt ... So erkläre ich mir auch das Nachsinnen, das
Überlegen, und ihre Wahrnehmungen, aus der immer fortgesetzten Bewegung des
activen [sc. sinnlichen] Prinzips in uns87/'
3. Wie konsequent Jacobi in den Bahnen dieses Sensualismus dachte, belegt
drittens in komplexer Weise ein ebenso berühmtes wie bisher in entscheidenden
Details dunkel gebliebenes Überlieferungsstück: Jacobis Bericht über sein im
Sommer 1780 mit Lessing geführtes Gespräch über Spinoza. Sowohl dessen Thema-
problem wie seine Lösung zeigen uns den Sensualisten Jacobi:
a) In den Diskussionen, die Jacobi selber über sein Gespräch mit Lessing vor88
und nach89 dessen Veröffentlichung anregte, rückte immer nachdrücklicher die
theo-logische Problematik des vermeintlichen Atheismus der Spinozischen Philo-
sophie in den Vordergrund. Anders aber steht es mit dem Gespräch aus dem Som-
mer 1780 selber. Sein Zentralthema ist keineswegs Spinozas Theo-logie, sondern
sein „Fatalismus**. Lessings Behauptung der gedanklichen Konsequenz Spinozas
bekräftigt Jacobi nämlich mit der das gesamte weitere Gespräch auslösenden Fest-
stellung: „Das mag wahr seyn. Denn der Determinismus, wenn er bündig seyn

82
WII 267; vgl. auch WIV A 228; AB I 329 (1781).
88
WII 227, 234f., 2821. IV B 151, IV A 210.
M W II 226, 2701; WII 2181; vgl. schon W VI 254 (1773).
85
WII 2271, WIV A 236 Z. 9ff.
M
W VI 3261
87
W II 268f. — Dem Urteil G. Baums (a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 12) über die
fundamentale Bedeutung der Bonnetschen Erkenntnistheorie für Jacobi ist
zuzustimmen. Baum selber aber hat im Fo'rtgange seiner Arbeit diesen Sach-
verhalt nicht entschieden genug berücksichtigt.
88
Z. B. in seiner Thesenreihe von Anfang 1785 eröffnenden Behauptung: „Spino-
zismus ist Atheismus" (W IV A 216) und in den Diskussionen mit Herder,
Goethe und Hamann; vgl. dazu die eingehende Darstellung bei H. Scholz,
Einleitung zu: Die Hauptschriften um Pantheismusstrreit, Berlin 1916, S.
XCff.
89
Z. B. W IV B 74fl. 81 ff. (Beilagen, die sich mit Herders „Gott" beschäftigen;
vgl. auch die in denselben Zusammenhang gehörende Erweiterung der An-
merkung WIVA216ff. von 1789); W IV B 47ff. (Hemsterhuis über die drei
Formen des Atheismus; vgL dazu S I A 361, Jacobi an die Fürstin Gallitzin
am . 6.1787).

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136 Eilert Herrn»

will, muß zum Fatalismus werden; hernach giebt sich das Uebrige von selbst™"',
und mit den Worten: „Ich merke, Sie hätten gern Ihren Willen frcy"*1 iaOt Lessing
zutreffend den Skopus des ganzen vorausgegangenen Jacobischen Referats02 der
Spinozischen Metaphysik zusammen.
Spinoza als Paradigma des Fatalismus zu traktieren, entspricht nun alter
Tradition; im besonderen Falle Jacpbis aber: Genfer Tradition. In seiner Skizze
der fatalistischen Grundbchauptung hat Jacobi nachweislich 'sGravesandes Aus-
führungen im Sinne0*, Vor allem aber erkennen wir die Genier Schule daran, daß
für Jacobi Spinoza deshalb Fatalist ist, weil bei ihm die Konsequenzen des Sensua-
lismus gezogen seien. Jacobi meint, Spinoza stufe die menschlichen Verstandes-
fälligkeiten als Körperfunktion ein64 und lasse ebenso die „Entschlüsse des Wil-
lens" — indem sie jene physische Erkenntnisoperationen voraussetzen — „nur
Bestimmungen des Körpers4* sein95. Dies erscheint als der springende Punkt für
Jacobis Ablehnung des Spinozismus, nicht die Alleinheitslehre. Sonst hatte auch
Jacobi nicht Leibniz — bei klarem Bewußtsein über dessen· theo-logische Differenz
zu Spinoza96 — ganz ebenso als Fatalisten einstufen und ablehnen können97. Denn
auch die Monadenlehre gründet für Jacobi auf dem Satz: „Das Denken ist nicht die
Quelle der Substanz; sondern die Substanz ist die Quelle des Denkens"98. Und
weiter unten heißt es zu Leibniz: „Wie aber ... das Prmcipium aller Seelen für
sich bestehen könne und wirken . ·.; der Geist vor der Materie; der Gedanke vor
dem Gegenstande: diesen großen Knoten, den er [sc. Leibniz] hätte lösen müssen,
um uns.wirklich aus der Noth zu helfen, diesen hat er so verstrickt gelassen als
er war .. ,90."
Diese Leibnizkritik wirft — unabhängig von dem Problem ihrer historischen
Haltbarkeit100 — hellstes Licht auf Jacobis Problembewußtsein noch im Jahre 1780:
90
WIV A 55f. (Hervorhebung von mir). — Hier wird das einleitende theo-logische
Gespräch (W IV A 51 ff.) eindeutig der Freiheitsproblematik untergeordnet.
Den Diskussionsbemerkungen von Brüggen und Homann, daß dieses Problem
für Jacobi zentral gewesen sei (Symposionband — o. Anm. 10 — S. 82 f.),
stimme ich voll zu.
91
WIV A 61.
92
WIV A 55—60.
93
Vgl. WIV A 70 Z. 13ff. mit 'sGravesandes Spinozareferat o. Anm. 36 und
WIV A 66 Z. 5ff. mit Intr. 145 (Jacobi zitiert genau denselben Spinozatext
wie 'sGravesande).
ö
*WIVA59f.
95
WIV A 196ff.
96
WIV A 63—65.
97
WIV A 65, 66, 221.
98
WIV A 67 Z. 9ff.
99
WIV A 68 Z. lif.
100 w IV A 68 Z. Iff. beschränkt Jacobi den Vorwurf selbst auf die Grenzen seines
Leibnizverständnisses, das schon deshalb nicht Leibniz im „tiefsten und voll-
ständigsten" Sinn gerecht wird, weil Jacobi in Bezug auf Leibniz hier weder
dessen Theorien über das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit noch
über die Geltungsweite des Satzes vom zureichenden Existenzgrunde disku-
tiert. — Zum Satz vom zureichenden Existenzgründ hat Jacobi später bekannt-
lich scharfsinnige Bemerkungen gemacht (WII192ff.; WIVB144ff.). Aber
. sie sind kritisch gegen die Vermischung von Ursache und Grund gerichtet.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik-bei F. H. Jacobi 137

Die Kritik richtet sich genau auf die Differenz zwischen 'sGravesande und Leibniz.
Beide Denker sind Leugner des Indeterminismus. Zugleich aber ist Leibniz im
Gegensatz zu 'sGravesande entschiedener Antidualist. Nur dann aber läuft dieser
Antidualismus bezüglich begründeter Willensbestimmungen auf den Fatalismus
hinaus, wenn er wie bei Jacobi sehsualistisch gedeutet wird. Hierin also wurzelt
Jacobis dualistisches Postulat einer Körperunabhängigkeit des Geistes als Bedin-
gung von dessen Freiheit und die „Noth" der einstweiligen Undenkbarkeit solcher
Unabhängigkeit.
b) Das Gespräch mit Lessing gipfelt in Jacobis Behauptung, es gebe eine Mög-
lichkeit, der Konsequenz des Fatalismus auszuweichen; und zwar eine Möglichkeit,
die statt als Verabschiedung aller Philosophie vielmehr als eine selbst philosophisch
legitime101 angesehen werden müsse.
Freilich, ein Nachweis der Selbständigkeit und Wirkkräftigkeit mentalen Seins
auf diskursivem, „erklärendem"102 oder „beweisendem"103 Wege kann für Jacobi
nicht in Betracht kommen.
Das ergibt sich gerade von den skizzierten epistemologischen Prinzipien her:
Ihnen zufolge ist jede Theorie ja nur die Resultante der unmittelbaren Empfindung
von Gegebenem und wird nur durch solche bestätigt oder widerlegt. Nach sensua-
listischen Grundsätzen legitim ist allein ein „unmittelbares Schließen"104 gegen eine
theoretische Behauptung; ein „Schließen", das nur darin bestehen kann, daß eine
unmittelbare Objektempfindung ins Spiel tritt, welche zu dem Ergebnis, in welchem
das Wechselspiel der zuvor vereinigten Vorstellungen endete — hier: der fatalisti-
schen Unfreiheitsvorstellung — in dem Verhältnisse des kontradiktorischen Wider-
spruches steht. Gerade so verfährt Jacobi: er bringt ein Empfindungsdatum ins
Spiel, welches in seiner Unmittelbarkeit — genommen, wie gefunden105 — das
fatalistische Vorstellungsresultat aus den Angeln hebt: „Ich habe", bekennt er,
„keinen Begriff, der mir inniger als der von den Endursachen wäre; keine lebendi-
gere Überzeugung, als, daß ich thue was ich denke; anstatt, daß ich nur denken
sollte was ich thue108".
Die besprochene Passage gilt bis auf den Tag als locus classicus für Jacobis
„Irrationalismus"; nicht zuletzt deshalb, weil Jacobi selber seine Argumentation

Wenn also Jacobi seit 1787 Leibniz' Monadenlehre nun anders als 1780ff. im
Sinne seiner eigenen Freiheitslehie auslegt (W IV B 97 ff.), so geschieht das
nicht im genauen Leibnizschen Sinne, sondern aufgrund veränderter Jacobiscfor
Prämissen: nämlich aufgrund einer bestimmten Modifikation seines Sensualis-
mus, s. u. S. 152f.
101 \v IV A 69 Z. 13 ff. -r Auch die späte Deutung dieser Diskussion aus dem Jahre
1819 (W IV A XXXVII Z. 9ff.) zeigt, daß Jacobi zwar nicht ein nach rationa-
listischen Grundsätzen konstruiertes System durch ein anderes solches ersetzen,
aber dennoch mit seinem nicht-rationalistischen Standpunkt eine „philosophi-
sche Ueberzeugung" zu vertreten glaubte.
102 IV A 70 Z. 17 ff.
103
Vgl. die Kritik an Bonnets „^Beweisen" für das Dasein der immateriellen Seele:
W II 172f.
10
* W IV A 59 Z. 12ff. (Hervorhebung von E. H.).
los \y iv A 70 Z. 101 — Diese Interpretation wird durch Jacobis späten Selbst-
kommentar W IV A XXXVIII Z. 12ff. (1819) bestätigt,
loc W I V A 7 0 Z . llff.
10 Axcb. G«cb. Philosophie Dd. 58

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138 Eilcrt Herme

durch die vieldeutige Metapher eines „Salto mortale"107 beschrieb. Die tatsächlich
vorgenommene Außerkraftsetzung einer diskursiven Erkenntnis durch den Wider-
spruch des unmittelbar Gegebenen entspricht aber lediglich den Grundsätzen der
von Jacobi rezipierten Erkenntnislehre. In der konsequenten Befolgung Ihrer
Regehi bekundet sich m. £. gerade die eigentümliche Rationalitat des Jacobischen
Gedankenganges108.
4. Nun erhebt sich jedoch sofort die Frage, ob Jacobis Vorschlag nicht an dem*
selben Widerspruche kranke, den wir schon an Bonnets Behauptung der Existenz
selbständigen mentalen Seins moniert hatten: an dem Widerspruch nämlich zwi-
schen der Behauptung der äußeren Sinne als einziger Erkenntnisquelle einerseits
und der gleichzeitigen Behauptung einer untrüglichen Selbstwahrnehmung anderer-
seits ? Offenbar ist aber diese Frage Jacobi selber als das entscheidende Problem-
zentrum präsent gewesen; auf sie nämlich konzentriert sich das Resultat seiner
gesamten belletristischen Arbeit der Jahre 1776 bis 1779:
Bekanntlich war diese erste, künstlerische Schaffensperiode Jacobis ausgelöst
worden durch sein Zusammentreffen mit Goethe im Juli 1774loa. Darüber hatte
Jacobi im Spätsommer desselben Jahres geschrieben: „Göthe ist der Mann, dessen
mein Herz bedurfte ... Mein Charakter wird nun erst seine aechte eigenthümliche
Festigkeit erhalten, denn Göthen's Anschauung hat meinen besten Ideen, meinen
besten Empfindungen — den einsamen, verstoßenen — unüberwindliche Gewiß-
heit gegeben. Der Mann ist selbständig vom Scheitel bis zur Fußsohle110." Mit
dieser Beschreibung seines Erlebnisses der neuen Bekanntschaft hält Jacobi zu-
gleich deren Bedeutung für ihn fest: Sie hatte ihn offensichtlich hinsichtlich der
Stichhaltigkeit einer seit längerem erwogenen Lösung des Konfliktes zwischen
Freiheit und Notwendigkeit endlich mit solchem Zutrauen erfüllt, daß er von da
an ihre positive Darstellung in den Romanversuchen von 1775 bis 1779 in Angriff
zu nehmen gewagt hatte.
Diese erste, seit Anfang der 70er Jahre erwogene, von Goethe zur Festigkeit
beförderte und in den Romanen dargestellte Auffassung der sittlichen Freiheit
zeigt sich nun ganz durch die Gedankenwelt J. J. Rousseaus bestimmt: Werk und
Geschick dieses Autors waren ein durchgehendes, durch Zustimmung und Anteil-
nahme ausgezeichnetes Thema in Jacobis Briefwechsel111. Die Maxime „II faut
marcher avec la nature"112 verrät den Rousseauisten ebenso wie die Annahme eines
Konnexes mit dieser maßgeblichen Instanz der „Natur" durch „Empfindungen",
welche, keineswegs identisch mit den „Sensationen" der sensualistischen Erkennt-
107
WIV A 59 Z. 4ff.
108
Gegen ein Urteil wie das von C. Prantl (Art.: F. H. Jacobi, in: ADB Bd. XIII,
1881, S. 577—584) ist der Einsicht von R. Mortier (BM 54) zuzustimmen, daß
Jacobis Philosophie in einer, bestimmten Tradition aufklärerischer Rationalität
selber steht; sie „est moins le ,salto mortale' qu'on a dit que le recherche d'un
nouvel e*quilibre entre les exigences du coeur et les donne*es ine*cluctables de la
raison". — Zu Timms Interpretation des „Salto mortale" und der Glaubens-
philosophie Jacobis vgl. unten Anm. 193.
» w V S. X. — Vgl. dazu die o. Anm. 16 genannten Arbeiten H. Nicolais.
110
AB 1174; vgl. auch GB 44.
ni
Vgl. dazu die Übersicht von Mortier BM 39—49.
112
AB I 44 (1771), AI 86 (1776; eines Sinnes mit der Natur leben); zur Maßgeblich-
keit der „Natur" und des „Natürlichen" vgl. auch AB I 262 Z. 17, 294 Z. 21,
GB 33, Wol 65, AI 57.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 139

nistheorie, den von dieser Seite her erhobenen Ausschließlichkeitsansprüchen viel-


mehr ausdrücklich widersprechen: „Die Empfindung, die ich an diesem Abende
gehabt", heißt es im Bericht über das erste Zusammentreffen mit Wieland im
Mai 1771, „sind ein starker Beweis für mich, daß das Gefühl der Zärtlichkeit sich
nicht in bloß vervielfältigte und zusammengedrängte Sensationen auflösen lasse";
und selbst wenn man sich die Sinnesempfindung aufs äußerste vereinheitlicht
dächte, so würde das „Gefühl" der „Liebe" oder „Zärtlichkeit" immer noch „wesent-
lich", also semer Konstitution nach, von jener „unterschieden bleiben"113. So
haben Herzensempfindungen auch anders als die Sinnesempfindungen die Kraft,
Jacobi seiner höheren, tätigen Natur zu versichern114.
Daß dann eben die „schöne Seele"115, ihre „Selbständigkeit"116 im „Gefühl des
Schönen und Wahren"117, also ein Rousseausches — besonders am Gehalt der
„Neuen Heloise" ausgerichtetes118 — Lebensideal, Gegenstand der literarischen
Darstellung in den Erstfassungen des „Allwill" und „Woldemar" sein sollte, ist
von Jacobi selbst ausgesprochen worden119. Dabei erscheint freilich schon Jacobis
Rousseaurezeption in charakteristischer Weise durch die für ihn maßgebliche
Fassung des Problems sittlicher Freiheit akzentuiert: Entsprechend Rousseaus
Überbietung der ungebrochenen Naturfolgsamkeit St. Preux's120 durch die natür-
liche Tugendliebe der verehelichten Julie121 kritisiert Jacobi die prinzipienlose
und unstete Naturbesessenheit Allwills durch Luziens Grundsätze der natürlichen
Mäßigung122. Eben eine Herzensempfindung, welche so als Gefühl der sittlichen
Freiheit von dem Drängen der Sinnlichkeit unterschieden ist123, auch als den Hilfe-
n8
ABI40 (1771). Zu den Stichworten „Empfindung" und „Empfindsamkeit"
vgl. auch AB I 44 Z. 17ff., 50 Z. 16ff. 86 Z. 16ff. („Liebe" und „Empfindung"
einander entgegengesetzt), 174 Z. 201, 259 Z. 17ff. („Ideen und Empfindun-
gen"), 292 Z. 9 („Empfindsamkeit" der „Empfindelei" gegenübergestellt, so
auch AI 103), 294. — „Hören auf die Stimme des Herzens" u. ä. Ausdrücke:
AB 1194 (1774), GB 44 (1774), AI 95.
114
AB I 77 (1772).
115
AB 1161; Wol 143 Z. 5.
116
AB 1174,194; Wol 51 Z. 18.
117
AB 1142 Z. Uff.
118
Zu Jacobis Verehrung gerade dieses Werkes vgl. AB I 55; BM 481
"* AB I 293 (Jacobi über Dohm, der eine Ähnlichkeit zwischen Woldemar und
Rousseaus philosophischen Romanen empfunden hatte, am 25.10. 79): „Es
kann nichts richtiger seyn als diese Vergleichung".—Vor allem die Gestalt Wolde-
mars ist als Verkörperung der Idee sittlicher „Eigenmacht" und Freiheit ange-
legt: Verm. Schriften 201, 811, 110«.. 133 Z. 14ff. Aber vgl. auch AI 57.
120
Neue Heloise Teil I Brief 27, 31, 54. 65; Teü II Brief 13,16; Teü III Brief 12,15,
16.
121
Teü III Brief 18, 20.
122
AI 82—94, 94-111.
m
AI lOOf. (Luzie wirft Allwill Verwirrung von „Sinnlichkeit" und „Empfindung"
vor); vgl. auch GB 44: „Der einzigen Stimme meines eigenen Herzens horch
ich. Die zu vernehmen, zu unterscheiden [Hervorhebung E. H.], zu verstehen ist
mir Weisheit; ihr muthig zu folgen Tugend." — Diese reine Empfindsamkeit
zeichnet die Henriette im Wol aus: sie „hatte nicht jene funkelnde ...
Empfindsamkeit, jene röstende Wärme, wobey das Herz so schwer in Frieden
bleiben kann, und die mir ein sehr zweydeutiges Merkmahl von seiner Vortreff-
10*

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140 Eilort Herms

Stellungen und Ansprüchen von gesellschaftlicher Sitte und Konvention Überlegen


zu erweisen, ist dann das Thema des Woldemarm.
Entspricht nun dieser dualistische Zug125 der Jacobischen Empfindsamkeit ganz
dem Erbe seines Genier Philosophiestudiums, so ist es nicht verwunderlich, daß
dieses Erbe ihm auch den Blick für die Problematik der empfindsamen Lösung des
Problems sittlicher Freiheit offengehalten hatte. In diesem Sinne heißt es im zweiten
Teile des Woldemar aus dem Munde des Titelhelden: Es „mag wahr seyn, daß
unsere Seele, eben so wenig als unser Angesicht sich in sich selbst zu beschauen im
Stande sey, und daß sie ihr Wesen nur durch [sc. physischen] Anstoß und Gegen-
wirkung inne werde. Aber sie wird es denn doch inne, und sie gelangt zur Beschau-
ung ihrer selbst; Sie, ihr inneres Wesen, ihr wunderbares Ich, wird und ist allen
Menschen sich selbst ein Gegenstand der Empfindung, der Betrachtung ... und
zwar der nächste, wirklichste, fruchtbarste und intereßanteste von allen. Da wir
die Beschaffenheiten der Dinge außer uns nur nach denen Veränderungen schätzen,
die sie in uns veranlaßen, so müßen unsere eigenen inneren Beschaffenheiten, da
sie uns unmittelbar angehen, uns unendlich über alles andere gelten"; zwar „muß
unser Bewußtseyn durch Einwirkung von außen, zuerst geweckt werden, bestehen

lichkeit ist. Das ihrige war so glücklich gebildet, daß es die Unterstützung der
Sinne und Einbildung gewissermaßen entbehren und daß es seine Verrichtungen
allein [Hervorhebung durch Jacobi] bestehen konnte, und genug hatte an seinen
eigenen lautersten Gefühlen"; so herrscht „Stille und Stetigkeit'1 in ihrer Seele
(Wol 50 f.). Dem entspricht, daß Woldemar den Gedanken an eine sinnliche
Verbindung mit Henriette als schlechthin abwegig empfindet: Wol 63ff.
Vgl. dazu besonders 131—145; auch Venn. Sehr. 97 Z. 4ff.: „Aus der Wüste der
Sinnlichkeit zur Straße der Natur." — Von Anfang ihrer Bekanntschaft an
scheint Jacobi in Bezug auf Goethe den Eindruck gehabt zu haben, welchen in
AI Luzie von Allwill hat: daß nämlich die ihn innerlich bestimmende Kraft
nicht die von der Sinnlichkeit unterschiedene reine Herzensempfindung sei.
Daher erscheint Göthes „Selbständigkeit" in den Augen Jacobis auch nicht
eindeutig als sittliche Freiheit, vielmehr eher als „Besessenheit": AB 1179.
124
Die Herzensfreundschaft konstituiert sich ohne alle Vermittlung sozialer Kom-
munikation (Wol 52) und wird gerade durch Einbeziehung einer sozialen Rück-
sicht (Henriettes Schwur ihrem Vater gegenüber: Wol 103ff.) erschüttert:
Wol 161 ff. Henriette und Woldemar erkennen sich gegenseitig als jeweils von
der Konvention frei: Wol 51, 58. Diese freie, natürliche Sittlichkeit ist dann ein
Zentralthema der Fortsetzung des Romans: Verm. Sehr. 20ff., 48ff., 631,
70. — Im Unterschiede zu dieser Überlegenheit gegenüber der gesellschaftlichen
Sitte, die in der Gestalt des Woldemar dargestellt wird, zeichnet sich Allwill
noch bloß durch sein Freisein von ihr aus: AI 65f., 86f. — Übrigens begegnet
bei Jacobi auch der andere Rousseausche Gedanke, daß die menschliche Natur
durch die Verhältnisse bestimmt werde: WIV A160, 238; Verm. Sehr. 84ff.,
lOOff. u. ä. Vgl. auch die im Vorwort von Verm: Sehr, atisgesprochene Bezie-
hung auf Herders Staats- und gesellschaftstheoretische Schrift „Vom Einfluß
der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regie-
rung".
125
Vgl. Bollnow a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 12, auch 77: Jacobi entwickele aus
dem Pantheismus des Sturm und Drang ein „bewußt dualistisches Weltbild".
Welchen theoretischen Sinn dieser Dualismus hat, bleibt bei Bollnow aber unge-
klärt.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 141

aber und fortdauern kann es nur in sich selbst durch Erkenntniß, die dem Menschen
Persönlichkeit, Freyheit, inniges Gefühl der Seele, eigentliches Leben giebt"126.

Wortlaut und Kontext127, dieser Äußerung stellen außer Zweifel,


daß Jacobi hier am Ende seiner empfindsamen Schriftstellerei
ausdrücklich auf den sensualistischen Grundsatz von der natür-
lichen Unerkennbarkeit des Geistes als auf den zentralen, ihn
selbst seit eh und je verunsichernden128 Einwand gegen eine direkte
Selbstempfindung des Geistes und seiner Selbständigkeit zurück-
kommt.
Nun behält zwar diese kritische Erinnerung nicht das letzte Wort.
Aber der zuversichtliche Hinausschritt über sie erfolgt auch nicht
durch einfache Aufgabe der sensualistischen Auffassung von Er-
kenntnis. Schon der Sprachgebrauch des Zitats129 zeigt vielmehr,
daß diese Doktrin Jacobis Denken weiterhin beherrscht.. Und dar-
aus ergeben sich für ihn zwei Konsequenzen:
a) Mit dem Sensualismus ist eine philosophische Theorie Quelle
der das unbefangene Vertrauen in das Selbstgefühl zersetzenden
Einwände130. Vermochte nun zwar das Erlebnis einer menschlichen
Begegnung die Stärke dieses Selbstgefühls so zu erhöhen131, daß der
„Traum"132, im Rousseauschen Sinne durch es im Besitze der
Wahrheit zu sein, Wirklichkeit zu werden schien, so enthüllte
dieser Traum sich doch in dem Augenblick als solcher, in dem die
tragende menschliche Beziehung erschüttert wurde133. In dieser
Situation mußten die theoretischen Einwände gegen die Gefühls-
gewißheit wieder erstarken, gleichzeitig aber auch der Wille wach
werden, ihnen nun selbst theoretisch zu begegnen und durch „Meta-
126
Verm. Sehr. 107f. (Hervorhebung von E. H.).
127
Kurz vorher hatte Jacobi durch den Mund Biederthals die Ansichten des fran-
zösischen Materialismus, der die Konsequenz des Sensualismus zieht, zu Worte
kommen lassen: Venn. Sehr. 80ff.
128
Vgl. die verräterische Wendung, daß Goethe ihm — Jacobi — zum Zutrauen
zu zwar seinen besten, aber bisher auch ,,verstoßenen" Ideen beflügelt habe:
AB 1174. — Zum Fortwirken dieser Verunsicherung siehe unten Teil III
Zffr. 1.
129
Vgl. die Hervorhebungen.
180
Hamann hat also in gewissem Sinne völlig recht, wenn er Jacobis Anfechtungen
„ergrübelt" nennt: G V 6 (vgl. dazu dann Jacobis Entgegnung ebendort S. 12,31 f.).
181
AB 1174; vgl. auch Wol 61.
"2 Vgl. Wol 131 Z. 10.
183
Über die Wirkung der Ettersburger „Woldemarkreuzigung" vgl. H. Nicolai
a. a. O. — o. Anm. 16 — S. 83ff.

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142 Eilert Herms

physik" eine von der Unstetigkeit persönlicher Stimmung unab-


hängige134 Klärung der offenen Fragen herbeizufuhren136.
b) Die Erkenntnislehre des Sensualismus gilt aber für Jacobi
mit solcher Selbstverständlichkeit, daß auch die materiale Bewälti-
gung der von ihr ausgehendem Bedrohung noch als lediglich eine
ganz spezielle Modifikation innerhalb des Systems ihrer Grundsätze
ins Auge gefaßt wird: nämlich als eine solche Verbreiterung der sen-
sualistischen Erkenntnisbasis, daß „Beschauung", „Empfindung"
oder „Betrachtung" nicht nur der körperlichen Außenwelt, sondern
auch des mentalen Seins selber angenommen werden darf.

III.
Ich wende mich jetzt den Schwierigkeiten zu, die Jacobi auf dem
Wege zu diesem Ziel einer Erweiterung des Sensualismus über-
winden mußte. Aus dem Quellenmaterial lassen sich drei solcher
Schwierigkeiten erkennen: 1. Die Geschlossenheit der überkomme-
nen sensualistischen Position; 2. das Problem, wie eine Erweiterung
des Sensualismus überhaupt als Möglichkeit soll gedacht werden
können; 3. der Nachweis einer mit deii äußeren Sinnen gleich-
wertigen Leistungskraft der neu angenommenen Erkenntnis-
quellen.
1. Nach der Übersendung seines „Woldemar" an Hamann An-
fang 1782 kommentiert Jacobi im Juni 1783 diesem gegenüber sein
Werk wie folgt: Es sei mit dem Roman seine Absicht gewesen, der
134
Die Vorläufigkeit der „empfindsamen" Freiheitstheorie Jacobis erhellt aus dem
Tatbestand, daß er schon in AI seine eigene, durch Goethe geweckte Begeisterung
Eduard Allwill in den Mund legt (GB 44 wörtlich gleich AI 87 Z. 9ff.), der dann
durch Luzie kritisiert wird, und daß im Wol nur die Frauengestalt Henriette
das Ideal der von Sinnlichkeit unbestimmten Herzenstugend verkörpert (Wol
143), während der Titelheld — entsprechend seiner Doppelbeziehung zu Hen-
riette und Allwine (vgl. Wol 145) — nur eine künstliche Unterscheidung von
Sinnlichkeit und Herzensempfindung als zweier ihn zumal bestimmender Mächte
anstreben kann, Wol 671, 139f. — Daß gerade diese Zwiespältigkeit in das
Selbstporträt Jacobis hineingehört, wird durch die' in BM mitgeteilten bisher
unbekannten biographischen Nachrichten erwiesen.
135
Zu dem Wechsel von der Poesie zur Philosophie seit Herbst 1779 vgl. AB I
308; Z. I 36 (am 23.10. 80 an Heinse über den gemeinsamen Besuch mit Lessing
bei Gleim): „Leßing und ich plagten ihn hingegen manchmal mit unserer Phi-
losophie, und erhärteten im Fall der Noth, daß die Metaphysik zu allen Dingen
nütze sey, und die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens habe, weil
von ihr alle Gewißheit des Gegenwärtigen und des Zukünftigen, des Wirklichen
und des Möglichen abhänge." Daß Jacobi selber die Arbeit der folgenden Jahre
als „metaphysisch" ansah, ergibt sich aus AB 1342 Z. 13ff.·

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Selbsterkenntnis und Metaphysik -bei F. H. Jacobi 143

rationalistischen „Kothphilosophie136 unserer Tage" seine „Irre-


verenz" dadurch zu erweisen, daß „was im Menschen der Geist
vom Fleische unabhängiges hat" möglichst deutlich ans Licht
gestellt würde. Jedoch sei er mit dieser Absicht nicht zum Ziele
gelangt, habe vielmehr am Grunde der edlen Philosophie des
Helden Woldemar nur ein „großes Loch" gefunden137.
Wo dieses Loch gähnte, ist nach allem bisher Gesagten nicht
schwer zu vermuten: Angenommen, die Empfindung geistigen Seins
ist kein Trug; ist dann nicht trotzdem die Annahme, es sei zur
S^fts^-bestimmung fähig, deshalb unmöglich, weil jedenfalls die
Ideen, nach denen es sich zu bestimmen hätte, wie alle Erkenntnis,
statt allein in der Selbständigkeit des Geistes vielmehr nur in der
Gestalt passiver Körperaffektationen existieren? So fährt Jacobi
in dem Briefe an Hamann fort138: Wir „können ... keine Ideen
haben, die nicht Vorstellungen wären, folglich ein Leiden invol-
vieren. Mithin tragen wir alles, sogar unser eigenes Bewußtseyn
nur zu Lehn. Mein Wesen, meine Substanz kann ich nicht anders
machen als sie ist; und alle ihr zufälligen Beschaffenheiten kommen
von außen"1*9.
Die Problemlage dieser Zeit tritt noch plastischer heraus, wenn man auf die
Kantkritik140 achtet, welche Jacobi in demselben Briefe an Hamann ausspricht:
Begierig mußte Jacobi deshalb nach der 1781 erschienenen „Kritik der reinen
Vernunft" greifen, weil ihr Verfasser ihm schon Anfang der 60er Jahre mit seiner
Akademieschrift „Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie
und Moral" volle Zustimmung abgewonnen hatte141. Denn im Gegensatz zu dem in
der konkurrierenden Schrift Mendelssohns vertretenen und in den Augen Jacobis
136
Daß sich das Schimpfwort auf den die diskursive Erkenntnis allein anerkennen-
den (und damit nach den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Jacobis
im Fatalismus endenden) Rationalismus der Wolffschule bezieht, scheint mir
aus W III 478 (Brief vom 8.6.83 an Herder) hervorzugehen: „Dem Lichte
unserer Weisen, den triefenden Flammen ihrer Pechkränze, ihrem Tag im
Kothe, und ihrem Dampfhimmel, bin ich längst entflohen. Die reine Mitter-
nacht [sc. des Spinozismus] mit ihren Sternen ist mir lieber."
137
Z I 57f.
138
Ganz gleichlautende Äußerungen finden sich mehrfach im Briefwechsel dieser
Zeit: SIA1171 (1781), AB I 310 (1781), AB I 329 (1781), Z I 521 (1782),
AB I 342f. (1782), W III 477 (1783).
139
Z I 68.
140
Diese erste, ganz aus den eigenen denkerischen Motiven Jacobis entsprungene
Reaktion auf Kants Kritizismus ist, soweit ich sehe, in der Forschung bisher
nirgends berücksichtigt worden.
ui \v u 184. Mit zustimmender Anteilnahme las Jacobi dann vor allem die mit der
eben genannten Schrift systematisch zusammenhängende „Der einzig mögliche
Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes" (vgl. WII189 ft).

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144 Eilert Horms

katastrophalen Rationalismus142 hatte Kant hier ganz parallel zu den Erfahrungs-


wissenschaiten auch für die Metaphysik einen „analytischen"143 — also von einem
nicht zu beweisenden, sondern als gegeben hinzunehmenden Fundamente aus-
gehenden — Aufbau gefordert144.
Ich habe an anderem Orte skizziert145, auf welchem Denkwege Kant nun von
diesem Punkte aus Über die Einsicht in den nicht sinnlichen Ursprung der reinen
Vcrstandsbegriffe zu seiner die Wahrheitsmomente des Sensualismus aufnehmenden»
ihn aber an Konkretheit weit übertreffenden Lehre von der synthetischen, Idee und
Empfindung verbindenden und somit de facto selbst immer schon Freiheit im-
plizierenden Verfaßtheit jeder möglichen Erfahrungserkenntnis gelangte. Dieser
Denkweg und der Sinn seinen Resultates blieben Jacobi verborgen146. Daher erlebte
142
WII185—189. — Mendelssohns Schrift „lieber die Evidenz in metaphysischen
Wissenschaften" jetzt am leichtesten zugänglich in: M. Mendelssohn, Schriften
zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik, Bd. I, hg., von Moritz Braasch,
Leipzig 1880, reprografischer Neudruck Hildesheim 1968, S. 45—104.
140
Vgl. o. Anm. 78 mit Kants Äußerungen in der zitierten Schrift S. 276 (des
Textes in Bd. II der Ausgabe der Berliner Akademie).
144
Demgegenüber geht es Mendelssohn genau umgekehrt um das Problem eines
Beweises für die Prinzipien — also Ausgangssätze — der natürlichen Moral
und Theologie: a. a. O. — o. Änm. 142 — S. 47 Z. 69ff. Für Jacobis Aus-
einandersetzung mit diesem Rationalismus ist es offenbar grundlegend, daß
er ihn nicht als logisch unmöglich einfach abtut, was durchaus möglich wäre:
denn „jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes voraus", so daß Mendelssohns
Vorhaben in einen unendlichen Regreß mündet. Vielmehr interpretiert Jacobi
diese Beweise im Sinne seiner sensualistischen Erkentnistheorie: nimmt —
erstens — an, daß sie von Gegebenem ausgehen und deutet sie — zweitens — als
diskursive Erkenntnisgänge (vgl. o. Anm. 82 ff.). Dann halten sie zwar logisch
Stich; — aber nur für einen fatalistischen Spinozismus. — Allein diese Inter-
pretation wird m. E. dem Bericht WII185—189 gerecht. Sie faßt die Differenz
zwischen Jacobi und Mendelssohn ins Auge, welche hinsichtlich der beider-
seitigen Bestimmungen über die Konstitution von Erkenntnis de facto herrschte.
In dem Streit, der sich thematisch auf die Bedeutung der diskursiven Erkennt-
nis konzentrierte, kam dieser tiefer liegende Sachverhalt dann nur noch indirekt
zur Sprache: nämlich — da ja beide Seiten (auch Jacobi) das Vorhandensein,
die Möglichkeit und den Nutzen diskursiver Erkenntnis zugaben — nur in der,
auf ihre epistemologischen Gründe nirgends zurückgeführten, unterschiedlichen
Bewertung des Sinnes und der Leistungskraft diskursiver Operationen. — Alles
in allem macht also auch die Weise von Jacobis Rationalismuskritik — statt
durch Hinweis auf die logische Nichtstichhaltigkeit dieses Rationalismus viel-
mehr durch Hinweis auf seine epistemologisch begründeten Konsequenzen —
die unerschütterliche Selbstverständlichkeit deutlich, mit der der Sensualismus
für ihn den Horizont seines Problembewußtseins abgab: Schon sein Verständnis
fremder philosophischer Position überführt diese von vornherein in einen Rah-
men sensualistischer Voraussetzungen, die gar nicht als ihrerseits strittig dis-
kutiert werden.
145
Unter Anlehnung an M. Wundt, Kant als Metäphysiker, Stuttgart 1924, in
meiner Arbeit: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissen-
schaften bei Schleiermacher, Gütersloh 1974, S. 69—74.
146
Überhaupt ist nicht sicher, daß Jacobi die Lehre von der synthetischen Ver-
' faßtheit jedes Wissens eher als das Herzstück der Kantischen Erkenntnistheorie

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 145

Jacobi auch nicht die KdrV als Revolution seines Sensualismus, sondern — gebannt
in die gerade durch ihn konstellierte Problematik — mußte er von Kants Haupt-
werk vor allem eines erwarten: eine Theorie darüber, wie denn Intelligenz sich
selbst und an sich selbst Selbständigkeit erkennen könne.
Bekanntlich besteht nun aber tatsächlich der fundamentale Mangel in Kants
Position gerade darin, daß er eine solche Theorie zeitlebens nicht ausarbeitete und
anbot. Dementsprechend blieb es für Jacobi rätselhaft, wie man überhaupt etwas
über die von Kant behauptete Selbständigkeit der reinen Form des Erkennens oder
wenigstens einiger ihrer Elemente ausmachen könne. Und-der-Brief an Hamann
stellt dementsprechend fest: „Es ist also falsch, daß unsere Glückseligkeit nicht von
den Gegenständen, sondern allein von uns selbst abhängt, daß wir . . . mit einer
gewissen Form unseres armen Selbst allein bestehen, daran genug haben können.
Das Wie der Vorstellung hängt am Ende immer von dem Was derselben ab, oder
das vollständige Was derselben involviert das Wie147."
2. Jacobis Suche nach einer Möglichkeit, die Wahrnehmungs-
basis des französischen Sensualismus so erweitert zu denken, daß
Selbsterkenntnis zugelassen ist, scheint nun ihre endgültige Rich-
tung überhaupt nicht direkt durch eine philosophische Anregung,
sondern durch den christlichen Offenbarungsgedanken empfangen
zu haben.
So heißt es in einem Brief an Johann Friedrich Kleuker vom
April 1782: „Wenn ein Gott ist, so muß es noch eine andere Offen-
barung geben als die Offenbarung der Natur. Denn, sagt der große
Baco, wird nicht derjenige, welcher aus dem Anschauen der sinn-
lichen und materiellen Dinge soviel Licht zu empfangen hofft, wie
zum Eindringen in Gottes Natur und Willen erforderlich ist, von
einer unsinnigen Philosophie getäuscht? Die Betrachtung der
Kreaturen führt nämlich nur bezüglich dieser selbst zum Wissen,
bezüglich Gottes aber allein zur Bewunderung — gewissermaßen
einem abgebrochenen Wissen (abrupta scientia). Daher sagt ein
gewisser Platoniker sehr wahr: der menschliche Sinn gleiche der
Sonne, welche zwar die irdische Sphäre erhellt, die himmlische
aber und die Sterne unsichtbar macht." Auf dieses Eingeständnis
der Notwendigkeit einer die äußeren* Sinne übersteigenden Offen-
barung des höheren Seins läßt Jacobi dann sofort die entscheidende
Zuspitzung folgen: „Unmöglich aber kann ich durch bloß historische
Mittel zur Erkenntniß des Unbegreiflichen gelangen; unmöglich
kann es eine allgemeine Offenbarung im eigentlichen Verstande
geben, ein physisches Insti^iment der Offenbarung Gottes*'; jede
derart allgemeine Offenbarung müsse vielmehr menschlichen Ur-
durchschaute, als bis er bei Fichte ihre Konsequenzen gezogen sah. Denn deut-
lich kommt er auf sie erst in den 90er Jahren zu sprechen.
147
Z I 58.

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146 Eilert Herms

sprung haben, göttliche Offenbarung dürfe demgegenüber nur


individuellen Charakter tragen148.
Mit seiner Annahme, gerade die geschichtliche Offenbarung sei die allgemeine,
weicht Jacobi von der zur seiner Zeit vorherrschenden Ansicht frappierend ab149. Zur
Erklärung dieses Sachverhaltes wird man sich daran erinnern, daß die christlichen
Gesprächspartner Jacobis allesamt dem Kreise der von E. Hirsch so genannten
„frommen Außenseiter"150 zugehören. Zwar ist dieser Hinweis für das Verständnis
der Jacobischen Gedanken nicht hinreichend, führt aber auf die richtige Spur.
Zu den seinerzeit bekanntesten Vertretern christlicher Gemütsfrömmigkeit
zählte bekanntlich Johann Caspar Lavater. In Jacobis Briefwechsel mit ihm
taucht — soweit ich sehe — das Offenbarungsthema als Gesprächsgegenstand erst-
malig auf151; d. h. im Gespräche mit dem Manne, der 1769 seine Übersetzung von
,,Charles Bonnets philosophischer Untersuchung der Beweise für das Christen·
thum, samt desselben Ideen von der künftigen Glückseligkeit des Menschen"
veröffentlicht und durch ihre Widmung an Mendelssohn dem Publikum merkwürdig
gemacht hatte. Es dürfte u. a. die Hochschätzung dieses Werkes gewesen sein, in
welcher sich die Brieffreunde trafen. Denn Jacobi selber hatte Bonnets „Idoes
sur Tltat future des dtres vivants, ou Palinge'ne'sie philosophique" sofort nach
ihrem Erscheinen per Express aus Amsterdam bestellt152 und „mit Begierde".
gelesen153. Dabei lernte er folgendes Raisonnement seines Genfer Lehrers kennen:
a) Thema der Untersuchung seien die Zustände der Seele nach diesem Leben154,
b) Eine observierende oder räsonnierende Erkenntnis vom Wesen der Seele und
ihrer Unsterblichkeit ist nicht möglich155, c) Wir sind also auf Offenbarung ange-
wiesen156, d) Vernünftigerweise kann und muß man ihr dann folgen, wenn durch
naturphilosophische und historische Untersuchungen festgestellt ist, daß die zu
148
AB I 342f. (Hervorhebung E. H.).
149
Vgl. die Problemstellung im zweiten der „Fragmente eines Ungenannten"
(H. S. Reimarus): Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine
gegründete Art glauben können" (G. E. Lessing, Gesammelte Werke, ed. P.
Rilla, Berlin/Weimar 19682, Bd. 7, S. 686 ff.) und bei Lessing selber in der
Schrift „Über den Beweis des Geistes und der Kraft (a. a. O. Bd. 8 S. 9ff.);
besonders auch die Jacobi bekannte (BM 128) Schrift J. G. Toeliners „Beweis,
daß Gott die Menschen durch die Offenbarung zur Seligkeit führet" (1766).
150
Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bde. Gütersloh 1949ff.,
Bd. 4 S. 166ff.
151
AB I 315 (1781), 332 (1781).
152
BM 164.
15
* BM 155.
154
Vgl. den Titel und Kapitel VII des Werkes („Leichte Vermutungen über die
zukünftige Glückseligkeit", S. 360ff. in der Lavaterschen Übersetzung, nach
der auch im folgenden zitiert wird).
155
A. a. O. S. 23 f. — Die räsonierende Erkenntnis ist als auf anschauende ange-
wiesene bei deren Unmöglichkeit ebenfalls unmöglich (S. 25ff.) — Die o. Anm.
55 erwähnten Beweise beziehen sich bloß auf die Existenz der immateriellen
Seele.
156
A. a. O. S. 34ff. Könnte Gott „nicht auf den sterblichen Menschen einen Stral
desjenigen himmlischen Lichtes fallen lassen, welches die höhern Intelligenzen
erleuchtet" ? (S. 36).

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 147

ihrer Beglaubigung geschehenen Wunder und Weissagungen möglich und so wie


berichtet geschehen sind167.
Offenkundig sind Jacobis oben zitierte Überlegungen sowoM in
ihrer Position wie in ihrer negativen Kritik auf diesen Gedanken-
gang Bonnets bezogen:
Erstens: Wie bei Bonnet ist auch bei Jacobi die auf die Offen-
barung gerichtete Erwartung durch einerseits-das Interesse an
der Selbständigkeit mentalen Seins körperlichem gegenüber und
andererseits die sensualistische Grundmeinung von der „natür-
lichen" Unerkennbarkeit des Geistes motiviert.
Zweitens: Gerade auf Hoffnungen, wie Bonnet sie in die allge-
meine Offenbarung in der äußeren Geschichte setzte, bezieht sich
Jacobis Kritik. Diese Fassung des Begriffs der allgemeinen Offen-
barung entsprach zunächst ganz den sensualistischen Erkenntnis-
Prinzipien: Die jedermann zugängliche, für intersubjektiv gültige
Erkenntnis offenstehende und insofern allgemeine Welt ist allein
die der äußeren Sinneserfahrung, die Welt der Natur und Ge-
schichte. Aber eben, weil alles, was aus ihr erkannt werden kann,
durch die Sinne bekannt wird, kann auf diesem Wege auch nie
die gesuchte Einsicht in die Selbständigkeit des Geistes gefunden
werden. Jacobi sieht, daß die von ihm und Bonnet gemeinsam
erhoffte Leistung von Offenbarung nur erbracht werden kann,
wenn diese nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch als Er-
keimtiasweise von der sinnlichen Außenwelterkenntnis unter-
schieden ist. Als Verbreitung der sensualistischen Erkenntnisbasis
greift Jacobi daher den Gedanken an Offenbarung so auf, daß er
sie auf ein übersinnliches Wahrnehmungsorgan des Menschen be-
zogen denkt, welches ebenso wie die äußeren Sinne durch das kon-
tingente Auftauchen der ihm eigentümlichen Gegenstände — also
des göttlichen und geistigen Seins — zu aktueller Realitätsempfin-
dung und -erkenntnis bestimmt wird158. Solche Erkenntnis be-
157
A. a. O. S. 37ff. (Kap. II—VI).
158
Diese für den späten Jacobi breit belegte Annahme eines in völliger Parallele
zum Apparat der äußeren Sinne gedachten Wahrnehmungsorgans für das Über-,
sinnliche (vgl. z.B. WII 30, 58ff., 72, 74 WIII 436 IV A XXI) entwickelte
sich Anfang der 80er Jahre. Nachdem sich der Gedanke an die Notwendigkeit
von Offenbarung zur Erkenntnis des Übersinnlichen festgesetzt hatte (vgl.
die genau den Bonnetschen Gedankengang reproduzierenden und noch vor die
Belege Anm. 148 und 150. nämlich ins Jahr 1780 zurückweisende Notiz WIV
A 75 Z. 7—12), sehen wir Jacobi 1784 (WIVA159f.) und 1785 (G V 44) im
Rückgriff auf Platoäußerungen (die ihrerseits wiederum den o. Anm. 156 zitierten
Bonnetschen Gedanken implizieren) die Vorstellung von der Ausgestattetheit

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148 Eilort Herms

währt darin ihre eigenartige Dignität, daß sie sich von der aller
bloßen Sinneswahrnehmung eigenen Allgemeinheit (Intersubjek-
tivität) vielmehr durch ihren individuellen Charakter abhebt.
Ganz im Sinne dieser Überlegungen aus dem Jahre 1782 schließt
dann auch der bereits angezogene Brief an Hamann aus dem folgen-
den Jahre seine Erörterung über die Probleme der Selbst- und
Freiheitserkenntnis mit der Frage ab: „Sagen Sie mir, ob für den
Rechtschaffenen, der an diese öde Stelle hingeängstigt wurde eine
andere Hilfe ist, als aus den Händen selbst des Unerforschlichen;
als durch ein Wunder seiner Gnade1™ t"
Acht Monate nach diesen Äußerungen gegenüber Hamann, im
Februar 1784, verlor Jacobi — 41jährig — seine 40jährige Frau.
Er meldete dieses Ereignis an die Familie der Verstorbenen mit
folgenden Worten: „Betty lebt! 0, daß ich es aussprechen könnte,
wie es in meiner Seele tönt: Sie lebt! — Ich habe nun, was ich so
oft vom Himmel forderte: ein Zeichen der Unsterblichkeit und
Gottes. ... Gewiß und wahrhaftig, was sie belebte, war ein Geist
aus der Höhe, nicht ein Werk des Staubes, der anjetzt zerfällt;
der ihn erschaffen hat, ist Gott; ist .ein Gott, der die Menschen
liebt — denn wie liebte sie nicht die Menschen?" Dieser Geist
steht Jacobi jetzt „vor den Augen"160: „Freiheit ist der Name dieses
Geistes; herrschender, immer siegender Wille. Wo dieser ist, da ist
jede Tugend und die Klarheit Gottes161."
Daß Jacobi hier eine existentielle Erschütterung mit Mitteln aus
dem Fundus seiner literarischen162 und philosophischen Bildung
der menschlichen Natur (vgl. WIV A 160, G V12) mit einem Organ der Geist-
anschauung ausbilden, das 1785 (W IV A 73 Z. 10) und 1787 (W II 266 Z. 7)
als „Auge der Seele" bzw. Vernunftauge angesprochen wird. Jacobi modifiziert
den Bonnetschen Gedanken also so, daß er ein von der Sinnlichkeit unter-
schiedenes Rezeptionsorgan für die Offenbarung als quasi „anthropologische
Konstante" neu in Anschlag bringt. Offenbarung ist dann als von außerhalb
des Menschen geschehende Aktualisierung dieses höheren Wahrnehmungs-
vermögens zu denken: vgl. WIV A 260; C V12 und die Belege in der folgenden
Anm.
159
Z I 58f. (Hervorhebung von E. H.). Zur gleichen Zeit mit diesem Brief repro-
duziert Jacobi Herder gegenüber (W III 478) seine Offenbarungsanschauung
unter ausdrücklichem Rückgriff auf die Gedankengänge des Vorjahres (o. Anm.
148). — Noch ganz auf dieser Linie diskutiert Jacobi seine Offenbarungslehre
mit Hamann bis 1785 i G V 43ff., 50, 51 (dann in die 1. Aufl. des Spinozabüch-
leins übernommen: Originalausgabe S. 1651, 210f.; vgl. WIV A212f„ 248ff.).
160
AB I 367f.
161
AB I 370f. (18. 6. 84 an dieselbe Adresse).
162
Vgl. den Glauben an die Lebendigkeit Juliens am Schlüsse der Neuen Heloise
(6. Teil, 11. und 12. Brief).

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 149

verarbeitet hat, ist ebensowenig zu bezweifeln wie die Tatsache,


daß umgekehrt auch diese Erschütterung in die theoretische Arbeit
an der durch eben diesen Bildungsgang aufgebauten Zentralproble-
matik des Jacobischen Denkens eingriff.
3. Gleichwohl hatte sich Jacobi inzwischen zu sehr auf die Arbeit
des Gedankens eingelassen, als daß er in dieser Gefühlsgewißheit
als solcher sein Problem schon hätte gelöst sehen-können. Wie die
körperlichen Sinne163 ist auch die Anschauung geistigen Seins auf
ihre Vertrauenswürdigkeit hin zu überprüfen. Und vor allem: mit
der Annahme einer Anschauung geistigen Seins ist alleine dann
etwas für Jacobis Leitproblem gewonnen, wenn dieses Anschauen
uns ebenso wie die äußeren Sinne der Existenz des Angeschauten
direkt versichert. Im Sinne des Condillacschen Sensualismus hatte
Jacobi schon in den 70er Jahren vor allem dem Tastsinn die Funk-
tion zugewiesen, objektive Wahrnehmungen von Traumgebilden
zu sondern164. Daß für die metaphysischen Vorstellungen solche
Kriterien der „Berichtigung" einstweilen nicht gefunden seien,
war damals in der Hoffnung zugegeben worden, daß sie sich in
absehbarer Zeit entdecken lassen würden165.
Aber erst das Frühjahr 1785 brachte die ersehnte Klärung dieses
Punktes, freilich in unerwarteter Weise. Denn der Nachweis für
eine den äußeren Sinnen hinsichtlich der Existenzversicherung
äquivalente Leistungskraft des geistigen Sinnes wird jetzt statt
durch den Beweis für die Objektivität dieser neuangenommenen
Erkenntnisquelle selber vielmehr durch die Bestreitung der Mög-
lichkeit geliefert, einen solchen Beweis auch nur für die äußeren
Sinne geben zu können. Und zwar ist es J. G. Hamann gewesen,
der hier das für Jacobi entscheidende Wort gesprochen hat166:
163
Vgl. WII169.
164
W VI 326f. — Vgl. Condülacs „Tratte* des Sensations" Teü III Kap. VI—XI,
insbesondere Kap. VIII. — Zur Nachwirkung der Bonnetschen Variante dieses
Gedankens bei Jacobi (vgl. Baum — o. Anm. 13 — S. 103f.) siehe unten Anm.
176.
165w VI 327 Z. 161
166
Baums Frage nach dem „geschichtlichen Hintergrund von Jacobis Erkenntnis-
theorie" (a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 11 ff.) unterscheidet nicht solche Bezie-
hungen, welche für die Genese der Position Jacobis konstitutiv sind, von solchen,
welche nur für die systematische Darstellung des erarbeiteten Standpunktes
relevant sind. Daß Jacobis Beschäftigung mit der englischen Philosophie
irgendwo eine andere als die zuletzt genannte Bedeutung gewonnen hätte, läßt
sich nicht nachweisen; vgl. vielmehr AB I 341. Dies Urteil gilt auch für Hume,
siehe unten Anm. 178 und 181. — Ebenso scheint mir Jacobis Inanspruchnahme
der Spinozischen Theorie der Selbsterkenntnis der Vernunft (vgl. Timm, Gott

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150 Eilcrt Herras

Anfang 1785 von Jacobi um sein Urteil Ober die Kosmologie Spinozas gebeten1*7,
antwortete Hamann: „Ihnen meine Herzensmeinung Ober Spinozas Metaphysik
und seine incompetente und unbefugte Methode zu sagen, hab ich keine weitere
Mühe noth ig, und dürfte ich alles weiteren Suchens fiberhoben sein. Die Wahrheit
zu sagen sehe ich den Philosophen mit Mitleiden an, der erst von mir einen Beweis
fordert, daß er einen Körper hat, und daß es eine materielle Welt giebt168. Ueber
dergleichen Wahrheiten und Beweise seine Zeit und Scharfsinn zu verhehren, ist
ebenso traurig als lächerlich1"." Damit wiederholte Hamann für Jacobi lediglich
eine Überzeugung, die er schon in seinen „Sokratischen Denkwürdigkeiten" (1759)
folgendermaßen ausgedrückt hatte: „Unser eigen Daseyn und die Existenz aller
Dinge ausser uns muß geglaubt und kann aui keine andere Art ausgemacht wer-
den ... Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein
Satz kann so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden ...
Die Gründe eines Hume mögen noch so triftig und ihre.Wiederlegung immerhin
lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt und verliert der Glaube gleichviel bey
dem geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sachwalter. Der Glaube ist kein
Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriff derselben unterliegen;
weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen170." Von
diesem Glauben als dem grundlosen Geltenlassen der Empfindung von Dasein be-
hauptet Hamann dann in den „Zweifeln und Einfallen über eine vermischte Nach-
richt der allgemeinen deutschen Bibliothek" (1776): er (dieser Glaube) gehöre über-
haupt „zu den natürlichen Bedingungen unserer Erkenntniskräfte und zu den
Grundtrieben unserer Seele"171.
Wenige Wochen nach Hamanns Antwort finden wir diese Ge-
danken in einem Briefe Jacobis an Mendelssohn (21. 4. 85): „Lieber
Mendelssohn, wir alle werden im Glauben geboren und müssen im
Glauben bleiben ... Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn
uns Gewißheit nicht zum Voraus schon bekannt ist; und wie kann
sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas, das wir mit Gewißheit
schon erkennen ? ... Die Überzeugung aus Gründen ist eine Gewiß-
heit aus der zweiten Hand . . , Wenn nun jedes Fürwahrhalten,

und die Freiheit, S. 211 f.) als seine „eigene" die nachträgliche Feststellung
einer vorher in anderen Zusammenhangen gewonnenen Überzeugung zu sein.
167
C V 29.
168
Ob Hamann dabei Spinozas Ethik (etwa Teil II Lehrsatz 19—31 in Beziehung
mit Teil II Lehrsatz 32 und Teil I Lehrsatz l und 2) im Sinne hat, ist fraglich,
da er erstens seine Äußerung als eine „a priori", also vor eingehenderer Prüfung
der vorgelegten Problematik getane charakterisiert (W IV C19 f.) und zweitens
noch nach dieser spontanen Äußerung bekennt, sich mit der Durcharbeitung
von Spinozas Ethik schwer zu tun (W IV C 37).
169
G V 48 (16.1.85).
170
J. G. Hamanns Hauptschriften erklärt, hg. v. F. Blanke und K. Gründer,
Bd. 2: Sokratische Denkwürdigkeiten, erklärt von F. Blanke, Gütersloh 1959,
S. 138—142.
*71 J. G. Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Wien 1949ff., Bd. III S. 190
Z. 16ff.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 151

welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß


die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben
kommen, und ihre Kraft von ihm allein empfangen172/' „Das
Element aller menschlichen* Erkenntniß und Wirksamkeit ist
Glaube173."
Damit erscheint das Problem der Äquivalenz der Leistungskraft
zwischen innerem und äußerem Sinn für Jacobi gelöst. Es gilt für
alle Erkenntnis: erstens die sensualistische Verhältnisbestimmung
zwischen unmittelbarer Erfahrung und Schlußfolgerung: „Wir
können nur Ähnlichkeiten (Uebereinstimmungen, bedingt noth-
wendige Wahrheiten) demonstrieren, fortschreitend in identischen
Sätzen. Jeder Erweis setzt etwas schon Erwiesenes voraus174." Es
gilt zweitens für alle in Erweisen vorauszusetzende „Erfahrung",
daß ihr „Principium Offenbarung ist"176, der nur „geglaubt"176
werden kann.
Im Herbst 1785 lagen diese Äußerungen im Rahmen des Jacobi-
Mendelssohnschen Briefwechsels über Spinoza und Lessing dem
literarischen Deutschland vor und wurden von diesem alsbald als
die Spitzenthesen der ganzen Veröffentlichung diskutiert177. Dem-
gegenüber erscheinen sie unserer historischen Betrachtung jedoch
172 w IV A 210.
i?» w IV A 223 (Thesenreihe zwischen dem letzten Brief an Mendelssohn und der
Veröffentlichung im Spätsommer). — Aber derselbe Gedanke schon im Brief
an Mendelssohn: WIV A 210 Z. 16ff.
174w IV A 223.
175 w IV A 223 Z. 8. — Derselbe Gedanke bei Hamann: a. a. O. — o. Anm. 171 —
S. 191 Z. 24ff.
176
WIV A 210 Z. 191, 223 Z. 101; vgl. auch den „Vorbericht" zur Originalaus-
gabe des Dialogs von 1787. — Kants Beweis für die Objektivität der Erkenntnis
(vgl. dazu W. Müller-Lauter, Kants Widerlegung des materialen Idealismus» in:
Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), S. 60—82) wird dementspre-
chend sowohl von Hamann (G V 62) wie von Jacobi (AB II 50) abgelehnt. —
Natürlich schließt für Jacobi die unmittelbare Realitätswahrnehmung — der
äußeren Sinne ebenso wie des inneren Auges — das Verstandesdenken nicht aus,
sondern begründet es. Daß aber Jacobi wie Bonnet die diskursive Reflexion
zum Kriterium für Wahrheit oder Irrtum in einer Perception erhoben hätte
(so Baum — o. Anm. 13 — S. lOOff.), müßte a) Aufgabe des gesamten Ertrages
der hier beschriebenen denkerischen Arbeit bedeuten, würde b) einem Wider-
rufe von W II172 ff. gleichkommen, ist aber auch c) gar nicht zu erweisen
(keinesfalls aus dem Gesprächsprotokoll W. v. Humboldts aus dem Jahre 1788:
Briefe von W. v. Humboldt an F. H. Jacobi, hg, von A. Leitzmann, Halle
1892, S. 33 und 911).
177
Sie begründeten die Tradition der pauschalen Auffassung Jacobis als des
„Glaubensphilosophen" und seiner Philosphie als der „Glaubensphilosophie";
vgl. dazu H.-J. Birkner, Art.: Glaubensphüosophie, HWbPh Bd. III 6641

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höchstens als neben der Fatalismusdiskussion mit Lessing zweites


Eckthema in Jacobis eigener philosophischer Position. Die Zu-
ordnung beider Themen ist genau dahingehend vorzunehmen, daß
Jacobis Glaubenstheorie ganz auf die Fatalismusdebatte hinge-
ordnet ist. Sie übernimmt für diese diejenige epistemologische Ent-
lastungsfunktion178, welche der übersinnlichen Selbsterkenntnis,
und damit der Erkenntnis von Freiheit, Gott und Unsterblichkeit
dieselbe Dignität sichert, wie sie der sinnlichen Erkenntnis äußerer
Realität zukommt. Ob die „Idee der Wahrheit" — nämlich die
178
Daß Jacobi Herders Einwendungen (HNII 276) betreffend seine Äußerungen
zum „Glauben" entgegenhielt, in ihnen spreche sich seine „eigenste Philosophie"
aus (AB 1389), widerspricht diesem Urteil nicht. Herzstück der Jacobischen
Einsicht ist diese Glaubenstheorie nämlich deshalb, weil sie auf das Zentral-
thema der Freiheit hingeordnet ist (vgl. W VI 231 Z. 4—8!) und hier als die
entscheidende theoretische Entkräftigung der theoretischen Einwände wirkt,
welche bisher das Vertrauen in das Freiheitsgefühl zermürbt hatten (vgL o.
S. 1411). Ganz in diesem Sinne greift Jacobi 1787 auf den Humeschen Glaubens-
begriff zurück (W II152f.), der nichts anderes als die Zusammenfassung der
für Jacobi entscheidenden Theorie von der Nichtbeweisbarkeit aller „matters
of fact" darstellt; in genau dieselbe Richtung weist auch Jacobis Paraphrase
seiner jetzt errungenen Position als „Resignation auf das Sein im Schein des
Seins" (G V 242, 265). — Der eigentümliche Sinn der (epistemologischen)
Glaubenstheorie von 1785 und ihre systematische Funktion innerhalb der Ge-
samtposition Jacobis scheint deshalb schwer zu erfassen, weil — erstens — die
Ausgangsproblematik des Jacobischen Denkens bisher nicht gründlich genug
rekonstruiert wurde, und weil — zweitens — die (durch Jacobis Quellen er-
ursachte) Benutzung des Ausdrucks „Glaube" (G 1) für den jetzt gesichteten
entscheidenden epistemologischen Sachverhalt dessen klare Unterscheidung
von demjenigen Sachverhalt erschwerte, den Jacobi schon seit der Mitte der
70er Jahre durch die Stichworte „Glaube" — „Unglaube" (G 2) bezeichnet
hatte: nämlich das Zutrauen zu den im Herzen und im Gefühl empfindbaren
Aussprüchen der Natur (vgl. z. B. AI 11, 87, W V 342, 388, GB 51, AB 1194
Z. 8ff.). — Daß es sich hier um eine echte Äquivokation handelt, sich die jeweils
mit „Glauben" bezeichneten Sachverhalte also real unterscheiden, erhellt
schlagend aus der Beobachtung, wie sich der Ausdruck „Offenbarung" in je-
weils anderem Sinne mit den beiden Verwendungsweisen des Ausdrucks „Glau-
ben" verbindet: „Offenbarung" bezogen auf G 2 hat einen spezifischen mate-
rialen Sinn: das sich Zeigen der ewigen Wahrheiten „Gott", „Freiheit" und
„Unsterblichkeit"; „Offenbarung" bezogen auf G l hat demgegenüber den
ganz allgemeinen Sinn des sich Zeigens von-Realität als solcher überhaupt:
W IV A 211 Z. 6, 223 Z. 8, WII164 Z. 14ff. Ganz ebenso deutlich wie dieser
semantische Unterschied von G l und G 2 ist freilich auch ihr natürlicher
Zusammenhang: G l ist der Grund für die theoretische Unanfechtbarkeit von
G 2. Ganz im Sinne dieses Zusammenhanges gilt dann der Satz Jacobis: „Aller
Glaube [hier im Sinne von G l imd G 2] ist unwillkürliche [nämlich durch kein
Wenn und Aber erschütterte] Hingebung des Geistes an eine Vorstellung von
Wahrheit" (W VI 208).

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 153

Idee eines persönlichen Gottes mit seiner Vorsehung und die Idee
von Freiheit, Tugend und Unsterblichkeit — unbesiegbar sei, das
war das Zentrum des theoretischen Kampfes, den Jacobi seit seinem
Genfer Studium führte179; daß' sie unbesiegbar180 sei, darin besteht
das in der skizzierten Weise erreichte Resultat des Ringens181.

IV.
Im vierten und letzten Teil habe ich kurz das Verhältnis der
beiden von Jacobi seit 1785 positiv gelehrten Erkenntnisquellen
und Seinsbereiche zueinander zu erörtern. Dazu sind erstens die
"9 WIV A122 (1784); vgl. o. S. 15.
180 w IV A 230 (1785): „La nature confond les Pyrrhoniens, et la raison confond
les Dogmatistes. — Nous avons une impuissance a prouver, invincible a tout
le Dogmatisrae. Nous avons une ide& de la v..rit6, invincible ä tout le Pyrrhonisme"
(Pascalzitat mit Jacobis Hervorhebungen. Dasselbe Zitat als Motto der 2. Aufl.
des „David Hume": Will).
181
Die gründliche Analyse der Jacobischen Denkarbeit bis 1785 führt also zu dem
Urteil, daß Hegel ganz richtig gesehen hat, als er Jacobis Glaubenslehre für
eine Herübernahme aus Hamann ausgab (Werksausgabe hg. von E. Molden-
hauer und K. M, Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 11 S. 302). Dafür sprechen
abgesehen von Jacobis Selbstzeugnis (G V 363, 396; vor allem 395: Hamann,
„den ich mehr als liebe, der mir eine Andacht einflößt und mein Herz zum Glau-
ben stimmt" [Hervorhebung von E. H.]) auch zwei weitere Details: a) Mendels-
sohns Bemerkungen (W IV A 115 Z. 18ff.) zu Jacobis Rekurs auf „Offenbarung"
(W IV A 75) und dessen noch wenig prägnante Rede von „Glauben" (W IV
A 72 Z. 6, 81 Z. 12, 90 Z. 5) bewegt sich ganz im Bedeutungsfeld von G 2 ebenso
wie auch noch Jacobis erste Reaktion (W IV A159). Die epistemologische
Vertiefung des Glaubensbegriffes taucht erst nach der geschilderten Diskussion
mit Hamann auf. b) Jacobi kannte Hume schon 1781 (AB I 341). Aber erst
nach dem Dialog mit Hamann vermochte Jacobi die Brisanz des epistemolo-
gischen Glaubensbegriffes dieses zuvor als „seicht" apostrophierten Philoso-
phen zu entdecken. — Natürlich impliziert die Tatsache, daß Jacobi von Ha-
mann zu einem entscheidenden Durchbruch befördert wurde und sich selbst
als mit ihm einig dachte, keineswegs, daß, er dies auch wirklich war. Vielmehr
besteht die fundamentale Diskrepanz zwischen den Positionen der beiden Freun-
de darin, daß Hamanns Glaubensbegriif die grundlose Anerkennung mensch-
licher Existenz gerade in ihrer Leiblichkeit, und d. h. in ihrer Angewiesenheit
auf und Bestimmtheit durch Natur und Geschichte denkt, Jacobi aber den
epistemologischen Glaubensbegriff zur Fundierung seines Dualismus und
Spiritualismus verwendete. Diese Differenz fand ihren handgreiflichen Ausdruck
in dem unterschiedlichen Verhältnis beider Freunde zum Christentum: Ha-
manns Insistieren auf der Positivität des Buchstabens (und d. h. der äußeren
Überlieferung insgesamt) trat — nach einer anfänglichen Selbsttäuschung
(vgl. z. B. AB I 343, W IV A 212) — schließlich Jacobis Kritik am positiven
Christentum (z. B. gegen Claudius WIII 270ff.) und sein Bekenntnis zur
„unsichtbaren Kirche" des Geistes (WIVALIIIf.) gegenüber.
1l Arch. Gesch. Philosophie Dd. 58

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wichtigsten einschlägigen Äußerungen in dem 1787 veröffentlich-


ten Gespräch über Idealismus und Realismus in Betracht zu ziehen.
Zweitens ist ein kurzer Blick auf Jacobis Anschauung über die
Verklammerung der beiden Weltteile — des körperlichen und
geistigen Seins — im Absoluten zu werfen.
1. Obwohl Jacobi auch in der Schrift aus dem Jahre 1787 von
einer „zwiefachen Offenbarung"182 spricht, denkt er jedoch aus-
drücklich an eine Gleichzeitigkeit1** beider Offenbarungen. Ferner
scheint dieses Beieinander beider Wahrnehmungsweisen so als
systematische Einheit bestimmt zu werden, daß die eine Grund184
bzw. Implikat185 der anderen und daher Selbst- und Dingerkennt-
nis nur die beiden unterscheidbaren Wesensaspek'te einunddesselben
realen Sachverhaltes — nämlich der Realitätswahrnehmung —
seien: Zunächst scheint für diese Deutung der — jetzt zustim-
mende — Rückgriff auf Leibiiizens Monadenlehre zu sprechen:
Als letzte Seinselemente erscheinen die „Individuen"186, welche als
jeweils ein „Ich"187 Einheit und Mannigfaltigkeit188, Spontaneität
und Rezeptivität189, Sinn und angeborene Ideen190 ursprünglich
vereinen.
Da der Dialog im ganzen als Auseinandersetzung mit Kants
Erfahrungslehre angelegt ist, können solche Aussagen weiterhin
den Anschein erwecken, als werde in ihnen die Lehre der kritischen
Philosophie reproduziert, daß das menschliche Bewußtsein als
sachhaltiges Wissen nur in synthetischer Verfassung vorkomme.

182 wn 175 Z. 16., 176 Z. 13.


183 w ii 175 z. 12ff. — Die erste Meditation Jacobis über diesen Sachverhalt
stammt schon aus dem Jahre 1775 (AB I 330, vgl. auch das Zitat oben Anm.
125). Es geht freilich nicht an, diese Überlegungen bloß als solche zum Schlüssel
der Jacobischen Philosophie zu machen (geg£n Kammacher — o. Anm. 13).
Denn der in ihnen thematische Sachverhalt ist an sich doppeldeutig, nämlich
sowohl einer fatalistischen (wie 1781 in AB 1329) als auch einer dualistisch-
freiheitlichen (wie seit 1785) Auslegung fähig. Nicht der Sachverhalt der Gleich-
zeitigkeit von Innen und Außen ist das eigentliche Thema Jacobis, sondern die
Entscheidung zwischen .jenen beiden Auslegungsmöglichkeiten.
184
Selbstempfindung als Grund der Dingempfindung (vgl. schon AB I 329 Z. 4ff.;
WII175 Z. 13ff.).
185
Dingempfindung als Implikat der Selbstempfindung: WII176 Z. 9ff.; deut-
licher noch WIV A 211.
186
WII 209, 236ff., WIV B 97ff.
187
W II 256 Z. 9.
188
WII 209, 256, 258.
189
WII 261.
190
WII 260. 262 Z. 8ff., 263 Z. llff.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 155

Ein solches kantianisierendes Verständnis des Textes mußte sich


besonders deshalb nahelegen, weil Jacobi sich mit seiner berühmten
Kritik an dem Uiigedanken vom „Dinge an sich", die er im Anhang
der Veröffentlichung vortrug191, als intimer Kenner der Kantischen
Theorien auszuweisen schien192. Dann aber konnten die wirklich
intimen Kenner Kants, welche den bereits angesprochenen Grund-
mangel der Kantischen Erkenntniskritik — das Fehlen einer Theorie
über die Prinzipien der in der Kritik selber vollzogenen Selbst-
erkenntnis — bemerkt hatten, auch mit Grund die Meinung fassen,
Jacobis Theorie von der Unmittelbarkeit der Selbstanschauung
sei eben als Supplement dieser Lücke zu verstehen. Dies etwa
scheint mir der Grundzug des folgenreichen und fruchtbaren Miß-
verständnisses zu sein, in dessen Bahnen sich die Jacobirezeption
Schleiermachers193 und wohl auch Schellings194 bewegte195.
191
W II 289 ff. — Vgl. dazu Fichte, Werke, ed. F. Medicus, Bd. III S. 65 und die
Hochschätzung dieses Jacobischen Textes noch durch H. Vaihinger (Commentar
zur Kritik der reinen Vernunft, Bd. 2 Stuttgart 1892, S. 35ff.).
192
Vgl. das Urteil Reinholds in den von ihm herausgegebenen „Beyträgen zur
leichteren Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19.
Jahrhunderts" Heft 2, Kiel 1801, S. 28.
193
Vgl. meine o. Anm. 145 genannte Arbeit S. 136ff. — In Richtung auf dieses —
an sachlichem Gewicht und .Gehalt weit über Jacobis tatsächliche Meinung
hinausreichende — Mißverständnis scheint mir auch die Interpretation Timms
zu zielen, wenn er schon den 1780 beschriebenen „salto mortale" als „salto
mortis" des in der Subjekt-Objektspaltung seine Identität findenden Selbst-
bewußtseins, d. h. also als Eintauchen in die von der Subjekt-Objektunter-
scheidung immer schon vorausgesetzte „präsubjektive Totalitätserfahrung des
Glaubens" von der Koexistenz beider Seiten — freilich als einer von der reflek-
tierenden Subjektivität noch „getrennten" — deutet (Gott und die Freiheit
S. 142). Zwar durchschaut auch Timm die Wirkung Jacobis als eine „positive
FeAJwirkung" (a. a. O. S. 137,191), aber die Weite der Distanz zwischen idea-
listischem Jaucobiverständnis und dem eigenen Sinn der Jacobischen Freiheits-
und Glaubenslehre scheint mir bei Timm doch noch nicht ganz ermessen zu
sein (ebensowenig wie in meiner eigenen oben genannten Arbeit).
*** Für den Einfluß der Jacobischen Schrift über Idealismus und Realismus auf den
jungen Schelling vgl. z. B. in dessen „Abhandlungen zur Erläuterung des Idea-
lismus der Wissenschaftslehre" die zentrale Passage S. 369—372 (in dem 1.
Bande der 1. Abtheilung der Werkausgabe Stuttgart 1856), welche der Sache
nach als breite Entfaltung von W II170 zu verstehen ist.
MS
Eine etwas andere Funktion scheint die Auseinandersetzung mit Jacobi bei
Fichte für die Ausbildung seiner Philosophie gehabt zu haben. Auch Fichte be-
ruft sich positiv auf Einsichten Jacobis (vgl. Werke, ed. F. Medicus, Bd. III
S. 65fl, 92ff., 192). Dabei betrachtet er ihn, wie es auch Reinhold später aus-
drücklich tat (o. Anm. 191), wesentlich als Kritik Kants und dessen Lehre vom
Ding an sich; was Jacobi jedoch ursprünglich nur beiläufig war. Hingegen
scheint Fichte die Theorie von der Unmittelbarkeit des Selbstbewußtseins als

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156 Eilert Herms

Um diese Interpretation als Mißverständnis zu durchschauen,


mache man sich zunächst die folgenden wesentlichen Implikationen
der Wissenstheorie Kants und seiner Nachfolger klar:
a) Die synthetische Form des Wissens beschreibt den Umkreis
des überhaupt Wißbaren; nichts, was außerhalb dieser Form ge-
wußt werden könnte.
b) Dementsprechend sind auch die beiden Momente der Form
des Wissens nicht je für sich existent. Als lediglich zwei an jedem
Wissen voneinander unterscheidbare Strukturelemente sind sie je
für sich weder Quellen noch Gegenstände unmittelbaren Wissens.
c) Jedenfalls für Kants Nachfolger zerfällt die Welt daher nicht
in zwei Weltteile, den des mentalen und den des körperlichen Seins.
Die Welt des Wißbaren erscheint in der Selbsterkenntnis des
Wissens ihrer Struktur nach als zwar polar aufgebaute aber gerade
darin doch eine.
d) Unmittelbarkeit selber ist dementsprechend unter den Vor-
aussetzungen der Kantschule überhaupt keine Weise des Wissens,
sondern kann allein als die Weise der Erschlossenheit allen ver-
mittelt strukturierten Wissens für sich selber gedacht werden.
Nicht in der vermittelten Weise des Wissens selbst, sondern un-
mittelbar konstituiert kann allein die Reflexivität des Wissens sein;
dessen Offenstehen für die Selbstbetrachtung. Die aktuelle Selbst-
betrachtung oder Reflexion hingegen, als Weise des wirklichen
Wissens um sich selbst, tritt ebensowenig aus der Form der Ver-
mitteltheit wie das auf andere Gegenstände als es selbst bezogene
Wissen196.
e) Mit dieser Theorie der Reflexivität — des „unmittelbaren
Selbstbewußtsein" oder der „intellektuellen Anschauung" — war
nun im Nachkantianismus der Inbegriff der Möglichkeitsbedin-
gungen allen denkbaren Wissens so konkretisiert worden197, daß
aus ihm die für Wissen konstitutive GleichursprüngHchkeit und
Differenz seiner empirischen und metaphysischen Richtung be-
Theorie über die Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis erst später
in einem eigenen Reflexionsgang erarbeitet zu haben: vgl, D. Henrich, Fichtes
ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik, Festschrift für W.
Gramer, Frankfurt 1966, S. 188—232.
196
Diese allen Nachkantianern geläufige Einsicht spricht sich z. B. in dem Schleier-
macherschen Satz aus: Das unmittelbare Realitätsbewußtsein ziehe „sich in
das Dunkel einer ursprünglichen Schöpfung zurück" und hinterlasse mir, „was
es erzeugt hat", nämlich die Möglichkeit einer Reflexion des Wissens auf sich
selber in der synthetischen Struktur allen Wissens (Reden 1. Auf l S. 75).
197
Vgl. D. Henrichs o. Anm. 196 genannte Arbeit.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 157

griffen werden konnte. Die Einsicht, daß jedes denkbare Wissen als
möglicher Gegenstand seiner selbst gedacht werden muß, sieht zu-
nächst die Möglichkeit eines vom empirischen bestimmt — nämlich
durch einen eigentümlichen Gegenstandsbereich — unterschiedenen
reflexiven Wissens ein. Zugleich kann eingesehen werden, daß
dieses Wissen sich als metaphysisches vom empirischen sowohl
durch seine Konstitution als auch durch die Form seines Gewußten
unterscheidet: 1. Überhaupt als Wissen kommen beide Erkenntnis-
weisen deshalb in Betracht, weil jeder aktuelle Fall von Reflexions-
wissen ebenso wie jeder aktuelle Fall von empirischem Wissen den
einheitlichen Inbegriff der Bedingungen jedes möglichen Wissens
erfüllt. Gleichwohl unterscheiden beide Weisen sich dadurch, daß
sie diesen Inbegriff jeweils in den von ihm selbst zugelassenen unter-
schiedlichen Weisen realisieren, als unausdrückliche Selbst- und
ausdrückliche Dingerfassung· einerseits (empirisches Wissen), als
unausdrückliche Ding- und ausdrückliche Selbsterfassung anderer-
seits (metaphysisches Wissen). 2. Erfaßt sich das Wissen — dazu
durch seine unmittelbare Erschlossenheit für sich selbst befähigt —
in einem aktuellen Vollzug der Reflexion tatsächlich selbst, d. h.
nicht wiederum als Ding sondern als Wissen, so wird es mit der
Wirklichkeit seiner selbst als Wissen zugleich der Bedingungen alles
Wißbaren inne. Nun zeichnen sich diese in der Reflexion erfaß-
baren Bedingungen des Wißbaren überhaupt durch das spezifische
Formmerkmal eines metaphysischen Sachverhaltes aus: nämlich
statt für bestimmte Sonder- oder Einzelfälle des Wißbaren viel-
mehr für alle möglichen Gegenstände von Wissen zu gelten. Müssen
also diese Bedingungen für Wissen bloß als solches als metaphysi-
sche Sachverhalte anerkannt werden, so sind sie im Rahmen des
Kantischen Kritizismus zugleich die einzigen, welche als solche
noch anerkannt werden können.
Daß Jacobis Satz, jede Wahrnehmung sei zugleich Begriff198,
tatsächlich nicht im Sinne der Kantischen Erfahrungstheorie von
der synthetischen Struktur anschauenden Wissens, sondern als
Reproduktion einer Überzeugung des französischen Sensualis-
mus199, dem eine solche Theorie fehlte, gedacht wurde, das schlägt
sich in einer fundamentalen Differenz in der Bedeutung der Aus-
drücke „vermittelt" und ,%,unmittelbar" bei Jacobi und den Kanti-
anern nieder:
198
1W
w ii 263 z. 181
S. o. S. 128f.

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158 Eileft Herms

a) „Vermitteltheit" ist für Jacobi nicht wie in der Kantschule


die Weise der Verfaßtheit jedes möglichen Wissens, sondern der
— inferiore — Status eines bestimmten Teiles des Wissens; des-
jenigen Wissens nämlich, welches aus der unmittelbaren Reaütäts-
empfindung diskursiv abgeleitet ist-
b) „Unmittelbarkeit" bezeichnet bei Jacobi nicht wie in der
Kantschule die Weise der Erschlossenheit allen Wissens für das
Wissen, sondern eine bestimmte Weise von Wissen selber. Von
Kantischen Voraussetzungen aus wäre ein solcher Gedanke als
schlechthin haltlos zu verwerfen200.
c) Erkenntnis sinnlicher Phänomene und Selbsterkenntnis der
Intelligenz sind für Jacobi statt zwei Aspekte 'des einheitlichen
Sachverhaltes der Erkenntnis der einen Realität vielmehr als zwei
real von einander unterschiedene Erkenntnisquellen für zwei real
getrennte Semsbereiche gedacht.
d) Deshalb betrachtete Jacobi auch den Kritiker Kant zunächst
insofern als einen Gesinnungsgenossen, als auch dieser in der An-
erkennung des „Faktums der Vernunft" unabhängig von der Welt
des phänomenalen Erfahrungswissens de facto eine Zweiwelten-
theorie vertrat201. Um so erbitterter mußte er zugleich Kants
Versuch, die Vernunfterkenntnis der intelligiblen Welt an die Be-
dingungen der Verstandeserkenntnis zu binden, als Angriff gegen
das Herzstück seiner eigenen Epistemologie bekämpfen202.
e) Mit der Behauptung der Doppelrichtung der menschlichen
Wahrnehmungsmöglichkeiten hatte Jacobi keineswegs das meta-
physische Wissen in dessen Eigenart — nämlich Wissen von Sach-
verhalten, die für jedes mögliche wißbare Sein gelten, darzustellen —
begründet. Da Jacobi vielmehr die Wahrnehmung der metaphysi-
schen Sachverhalte in genauer Parallele zur Wahrnehmung der
Körperwelt konzipierte, behielt auch sie 'den Sinn eines Erfahrens
von Einzelsachverhalten. Daher muß sich Jacobi wohl zu Recht den
Vorwurf gefallen lassen, mit dem Auge des Geistes statt bis zu den
200
So hat denn schon Kant strikt darauf gehalten, daß das „Gefühl", statt selbst
eine Weise von Einsicht sein zu können, vielmehr ausschließlich die Weise des
Wirkens und Empfundenwerdens von vorausgegangener Einsicht sein könne:
1786 in der Schrift „Was heißt: Sich im Denken orientieren?" (Akademieaus-
gabe Bd. VIII S. 139) und 1796 in der Schrift „Von einem neuerdings erhobenen
vornehmen Ton in der Philosophie" (ebendort S. 395ff.). — Im übrigen vgl. o.
Anm. 196.
201
Z. B. W. III 362.
202
„Ueber das Unternehmen des Kriticismus die Vernunft zu Verstande zu brin-
gen" (1801) WIII 59ff.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 159

notwendigen Grundzügen von welthaftem Sein überhaupt viel-


mehr nur bis zu denen der „Friedrich-Heinrich-Jacobiheit" (F.
Schlegel) vorgedrungen zu sein203.
2. Dem Problem der Koexistenz, Kooperation und Wechsel-
wirkung der beiden Realitätsbereiche, des körperlichen und gei-
stigen Seins, hat Jacobi bemerkenswert wenig theoretische Auf-
merksamkeit gewidmet. De facto bewegen sich seine Anschauungen
hier ganz in den Bahnen der Metaphysik des 17. Jahrhunderts,
welche beide Bereiche durch die Wundermacht des Absoluten als
Einheit dachte204.
Dabei deutet freilich der Wandel der Bezeichnungen, welche
Jacobi für das Absolute gebraucht — die Ausdrücke der rousseau-
istisch-empfindsamen Frühzeit, „Natur"205 und „Universum"206,
treten später hinter den Ausdrücken „Leben"207, „Vernunft"208
und „Geist"209 zurück —, auf einen Wandel auch in Jacobis Auf-
fassung vom Absoluten hin, der sich besonders in seiner Spinoza-
rezeption widerspiegelt:
Wir besitzen deutliche Überlieferungsspuren einer Frühform der
Jacobischen Theo-logie, in der das Absolute als transzendente
Ursache des Daseins der Welt gedacht wird210. Noch im Gespräch
mit Lessing setzt Jacobi der Spinozischen Lehre von der bloßen
Inexistenz des Absoluten im Endlichen211 und der Leugnung jedes
Überganges vom Unendlichen zum Endlichen212 sein Bekenntnis
entgegen: „Ich glaube an eine verständige, persönliche Ursache
der Welt213/'
In den Spinozareferaten seit 1785 verzichtete Jacobi darauf,
diesen Gedanken der Transzendenz Gottes gegen Spinoza auszu-
spielen. Anders als 1780 wird Spinoza jetzt gerade als Lehrer eines
natürlich vermittelten Überganges vom Unendlichen zum End-
203
Jacobis eigene Stellungnahme zu diesem Vorwurf: WIV A XII f. — Vgl. auch,
sein Bekenntnis hinsichtlich des seiner Philosophie zugrunde liegenden Ver-
fahrens der „Selbstverständigung": AB I 881 (1771), W II 6f. (1815).
204
Diese Struktur des metaphysischen Grundsachverhaltes — Innen- und Außen-
welt durch die Gottheit als Einheit erhalten — schon AB I 330.
205
Z. B. AI 57, 72, 89 f.
206
Z. B. AI 72.
207
Schon AI 94; dann W II 258 Z. 6ff.
a>« WIV B 152.
209
WII 313; W IV A XXII Z. 5f.
210
AB I 71—74 (1772); vgl. noch W IV A 132 (1784).
211
WIV A 56 Z. 26, 64 Z. 14ff. (1780); 158 (1784).
212
WIV A 56 Z. 13 ff.
2U
WIV A 59.

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160 Eilert Herms

liehen dargestellt214. Und was wird an dieser Doktrin als wider-


vernünftig kritisiert216? Nicht die Behauptung eines natürlichen
Zusammenhanges zwischen Gott und Welt, sondern nur die seines
vermittelten Charakters. Zu behaupten sei vielmehr das „unver-
mittelte"21 Existieren des Natürlichen aus dem Übernatürlichen.
Bezüglich des letztgenannten aber, „von dessen Daseyn wir gewiß
sind", ist dann in erster Linie nicht die Transzendenz zu verteidigen,
sondern „nur217 noch zu entscheiden, ob wir annehmen wollen,
es sey ein blind actuoses Wesen oder eine Intelligenz"218. Und dies
eben, daß die weltschöpferische „Allmacht"219 nicht Sein ohne
Bewußtsein, sondern nach Endursachen sich selbst bestimmend,
also selbst „Geist" und „Vernunft" sei, das ist Jäcobis Behauptung,
wenn er dem „Spinozismus" seinen eigenen „Theismus"220 oder
„Platonismus"221 gegenüberstellt.
Hegel hat diese Konzeption als lediglich eine Modifikation des
Spinozismus aufgefaßt: dahingehend nämlich, daß das Absolute
statt als willens- und einsichtslose Substanz vielmehr als Geist
gedacht wird222. Vielleicht aber ist Jacobis „Lebens"philosophie
und ihr dualistischer Grundzug historisch genauer beschrieben,
wenn man sie als — von bestimmten Schwierigkeiten und Proble-
men durch Modifikation der epistemologischen Prinzipien befreite
— Durchführung eines ideologischen Evolutionismus anspricht,
wie er schon Bonnet vorschwebte: als Theorie eines Prozesses, der
durch die personale vernünftige Allmacht so gesteuert wird, daß
214
215
w iv B I34f.
WIVB147fl
216 W IV B 1591; auch 155.
217
1787 hängt demgegenüber für Jacobi die Persönlichkeit (Begabtheit.mit'Ver-
stand und Wille) des Absoluten gerade an seiner Existenz als Individuum außer-
halb der endlichen Dinge: WIV A 62f.; vgl. Auch 64 1.14. Gerade auf diesen
Transzendenzgedanken richten sich daher die kritischen Anfragen Lessings
(W IV A 63 Z. 3 ff.) und Herders (HN 2541). Vgl. auch Timm, Gott und die
Freiheit, S. 153. — Obwohl Jacobi den Transzendenzgedanken nie fallen ge-
lassen hat (W VI1541; WIV A XXXIV, XXXV), setzt er jedenfalls die Ak-
zente anders; und immerhin kann später auch Gott der Welt wie die Form dem
Stoff (W VI157) oder die Seele dem Leib (W VI153) zugeordnet werden. Dabei
gilt freilich für Jacobi im dualistischen Sinne die Selbständigkeit beider Seiten:
„Der Geist kann seinen Körper abwerfen" (W VI170), ist für seine Existenz
also nicht vom Körper abhängig.
218
WIV B 162.
219
W IV A 216 Z. 6.
220 W I V B 78; vgl. auch 92.
221
W VI2381
222
Hegel, Werkausgabe (o. Anm. 180) Bd. 4 S. 435.

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 161

er — aufbauend auf anorganische, organische und tierische For-


men223__ die Form vernünftigen Daseins annimmt, das seinerseits
zu immer fortgehender lebendiger Fortentwicklung bestimmt ist224.

V.
Wie sich im Lichte des skizzierten Skopus der eigenen Philoso-
phie F. H. Jacobis auch die verschlungenen Pfade seiner späteren
Auseinandersetzungen mit Fichte und Schelling aufhellen, kann
hier nicht mehr im einzelnen dargestellt werden225. Die vorliegende
Untersuchung sei vielmehr mit den beiden folgenden Erwägungen
geschlossen:
1. Je intensiver man sich um den Sinn von Jacobis eigener
Philosophie bemüht, desto ungünstiger scheint das Ergebnis für
diese zu werden226. Insbesondere erscheint Jacobis Vorstellung
von der Möglichkeit der Selbsterkenntnis keineswegs so geartet,
daß sie die Möglichkeit einer echten Metaphysik begründen könnte:
Erstens ist nämlich die Jacobische Doktrin hinsichtlich ihrer eigenen
Konstitution als Theorie ganz ungeklärt. Auf die Bedingungen der
Möglichkeit des Zustandekommens seiner Erkenntnistheorie hat
Jacobi so wenig reflektiert wie Kant. Wollte man nun — um diese
Lücke auszufüllen — Jacobis Epistemologie auf sich selbst an-
223
Zu Bonnets Evolutionstheorie, welche naturwissenschaftliche Einsicht und
theologische (calvinistische) Tradition dadurch versöhnt, daß sie das decretum
Dei mit dem Gesetz der Evolution gleichsetzt, die sich durch die Stufen des in der
Welt Seienden hindurch bewegt, vgl. Isenberg a. a. O. — o. Anm. 11 — S. 11 ff.
224
Vgl. WIV A 241—244. 231 f.; G V 51; W IV 212ff.; W VI146; auch AB I 376.
22» Dazu vgl. neuerdings W. Müller-Lauter, Nihilismus als Konsequenz des Idea-
lismus, in: Denken im Schatten des Nihilismus, Festschrift für W. Weischedel
zum 70. Geb., hg. von A. Schwan, Darmstadt 1976, S. 113—163. Jacobis Polemik
richtet sich gegen jede Position, die ihm eine Gefährdung seines dualistischen
Realismus und dessen epistemologischer Voraussetzungen zu sein scheint:
Gegen Kants „subjektivistische" Erkenntnistheorie und gegen Fichtes Idealis-
mus als gegen Gefährdungen seines Realismus; gegen Kants Versuch, die Ver-
nunft zu Verstande zu bringen (s. o. Anm. 201) als gegen die erste — nämlich
epistemologische — Bedrohung seines Dualismus; und gegen Schelling als
gegen die zweite — nämlich materiale — Bedrohung dieses Dualismus durch
dessen Naturphilosophie, die Jacobi getreu seinen Voraussetzungen als „Mate-
rialismus" auffaßt. So bestätigt diese Doppelrichtung der Polemik des späten
Jacobi den Skopus seiner eigenen Philosophie, wie wir ihn zu erheben ver-
suchten.
226
Die unvoreingenommene und gründliche historische Einsicht macht es m. E.
unmöglich, Jacobi weiterhin als Vorläufer und Beiträger von bzw. zu theore-
tischen Problemlösungen mit aktueller Relevanz zu betrachten, wie Schmid,
BolLnow und Kammacher (s. o. Anm. 13) meinten.

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wenden und für ihre eigene Konstitution eines der beiden in ihr
selbst behaupteten Erkenntnisvermögen in Betracht ziehen, so
kann sie in keinem Falle strikte Allgemeingültigkeit und damit
den Sinn einer Metaphysik der Erkenntnis gewinnen. Denn — hier
wirkt sich nun zweitens die materiale Aussage der Jacobischen
Lehre negativ aus — wie die äußeren Sinne kommt auch das innere
Auge des Geistes lediglich als Organ der Anschauung von Einzel-
sachverhalten in Betracht.
Daher ist auch die Theologie227 nicht gut beraten, wenn sie sich
zwecks Erfassung ihrer thematischen Selbständigkeit ins Gefolge
der Jacobischen Denkansätze begibt228.
2. Gleichzeitig aber offenbart die historiscKe Erhebung des
spezifischen Skopus des Jacobischen Philosophierens m. E. dessen
geistesgeschichtlichen Rang. Denn es stellt einen signifikanten Bei-
trag aus den Anfängen jenes Kampfes um eine Metaphysik der
Freiheit dar, der seine volle .Gewalt erst 100 Jahre nach dem Er-
scheinen der philosophischen Hauptschriften Jacobis entfaltete.
Und es ist durchaus fraglich, ob nicht der Jacobische Weg noch für
das zeitgenössische Bewußtsein eine plausible Verlockung dar-
stellt: nämlich den Glauben an die Existenz von sich selbst be-
stimmender Subjektivität die Stelle ihrer Theorie vertreten zu
lassen229.
227
Zur Wirkungsgeschichte Jacobis im Räume der röm.-kath. Theologie vgl. Ph.
Weindel, F. H, Jacobis Einwirkung auf die Glaubenswissenschaft der katholi-
schen Tübinger Schule, in: Aus Theologie und Philosophie, Festschrift für Fr.
Tülmann, hg. von Th. Steinbüchel und Th. Muncker, Düsseldorf I960, S. 673
bis 596. — Die Wirkung Jacobis auf die protestantische Theologie war eine
direkte und eine indirekte. Die direkte vollzog sich durch Schleiermacher. Sie
war ungefährlich, weil sie auf einer Interpretation der Philosophie Jacobis be-
ruhte, welche deren Schwächen beseitigte (vgfc dazu meine oben Anm. 145 ge-
nannte Arbeit S. 136ff.). Die zweite vollzog sich direkt über die Philosophie
J. F. Fries. Diese, vor allem durch R. Otto (Die Kantisch-Friessche Religions-
philosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909) zur Geltung
gekommene Einwirkung Jacobis trägt ihrerseits deutlich die soeben bezeichneten
Unklarheiten'und Schwächen an sich.
228
Daß und in welchem Sinne ich Metaphysik für eine Theologie, welche wie alle
Wirklichkeitswissenschaften praxisrelevante Theoriearbeit leisten will, für
unverzichtbar halte, habe ich in meinem Aufsatz „Metaphysik und Christen-
tumstheorie. Beobachten und Erwägungen zu Josiah Royces »religiöser Philoso-
phie' und Fundamentaltheologie" (Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 71 (1974) S.
410—455) dargelegt.
229
Ein nicht geringer Teil des philosophischen Interesses an Jacobi richtet sich
auf ihn als auf denjenigen Denker, welcher die neuzeitliche Nihilismusdebatte
eröffnet hat. Dabei erscheint Jacobi der historischen Betrachtung zunächst als

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Selbsterkenntnis und Metaphysik bei F. H. Jacobi 163

derjenige, welcher den „Nihilismus als Konsequenz des Idealismus", d. h. der


Metaphysik insbesondere Fichtes (aber auch Schellings) aufgevviesen und be-
kämpft hat (vgl. dazu die umfassende Darstellung von Wolfgang Müller-Lauter
in der oben Anm. 225 genannten Arbeit). Versteht man nun unter Nihilismus
im Sinne der Jacobischen Idealismuskritik das Unfähigwerden des vernünftigen
Subjektes zur Erfassung und Anerkennung seiner eigenen Existenz und deren
bestimmter Verfassung, so fällt der Nihilismusvorwurf in einem viel fundamen-
taleren Sinne, als er ihn der Reflexionsphilosophie gegenüber je gewinnen
konnte« auf Jacobi selber zurück: Denn die Resultate der idealistischen Trans-
zendentalphilosophie präsentieren sich selbst, wie immer die Beurteilung ihrer
materialen Aussagen ausfallen mag, jedenfalls hinsichtlich ihrer Konstitution
stets als Produkt der rationalen Se/fcstexplikation des vernünftigen Daseins.
Nicht wurde nur das Recht solcher Selbstexplikation der Vernunft behauptet,
sondern auch die Bedingungen ihrer Möglichkeit nachzuweisen versucht. Dem-
gegenüber hat Jacobis „realistische" Kritik an den Resultaten der Transzenden-
talphilosophie — wenn die Nachweisungen dieses Aufsatzes stichhalten —
gerade eine Theorie zum Grunde liegen, welche, ausgehend von der empiristi-
schen Überzeugung der Unmöglichkeit einer rationalen Selbstexplikation der
Vernunft, in dem Nachweis von deren Unnötigkeit gipfelt. Was Jacobi der
vermeintlichen Bodenlosigkeit der transzendentalphilosophischen Subjektivi-
tätstheorie entgegensetzt, ist also de facto die sich durch eine Theorie ihrer
eigenen Nichtexplizierbarkeit verbarrikadierende unmittelbare Gewißheit des
Selbstgefühles. Zwischen dieser Position und dem spätromantischen Irrationa-
lismus, wie er seit der Mitte des 19. Jhdts. im Gefolge des empirizistischen
Positivismus herrschend wurde — und zwar gerade in der sich aus dem sozialen
Milieu Jacobis entwickelnden Schicht des Großbürgertums —, wird man nicht
jede Vergleichbarkeit bestreiten können.

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