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8
Daß jedenfalls die deutsche Schulmetaphysik der Aufklärungszeit durch die
cartesianische Tradition geprägt ist, hat M. Wundt gezeigt: die deutsche Schul-
philosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945. Aber auch die west-
europäische Aufklärungsphilosophie hat in ihrem antimetaphysischen, induk-
tionistischen Grundzug den Themenkatalog der cartesianischen Metaphysik
im Rücken; vgl. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932
(19733).
7
Etwa im Materialismus eines Lamettrie, Helvetius oder Holbach; einer für die
Durchschnittsauffassung der Zeit freilich nicht repräsentativen Extremposition.
8
Unter diesem Gesichtspunkt gewinnt für den Verlauf der europäischen Auf-
klärung die Tatsache Gewicht, daß Leibnizens Bestreitung der Lockeschen
Erkenntnistheorie erst mit jahrzehntelanger Verspätung seit 1765 (Herausgabe
der Nouveaux Essais durch R. E. Raspe) eine Wirkung entfalten konnte.
9
Im Gefolge Hegels hat die deutsche Philosophiegeschichtsschreibung Jacobi
überwiegend vor dem Hintergrund der Leibniz-Wölfischen Aufklärungsphiloso-
phie interpretiert (vgl. die unten Anm. 12 genannten Arbeiten). Tatsächlich
aber wurzelt Jacobi durch seinen Bildungsgang direkt in der westeuropäischen
Aufklärung, wie insbesondere durch den jüngst edierten Briefwechsel des jungen
Jacobi mit seinem Amsterdamer Buchhändler in reicher Fülle belegt ist: J. Th.
Booy/Roland Mortier, Les Ann&s de formation de F. H. Jacobi, d'apres ses
lettres in6dites a M. M. Rey (1763—1771), Studies on Voltaire and the 18th
Century, Vol. XLV, Genf 1966. — Diese Veröffentlichung ist in der Forschung
bisher wenig berücksichtigt worden. So scheint sie z. B. auch noch K. Homann
in seiner unten Anm. 13 genannten Arbeit entgangen zu sein.
10
Zur Quellen- und Editionslage vgl. S. Sudhof, Die Edition der Werke F. H.
Jacobis. Gedanken zur Neuausgabe des Allwill, in: Germanistisch-Romanisti-
sche Monatsschrift 43 (1962), S. 243—253; außerdem: Eberhard Galley, Bei-
träge zur Handschrift- und Nachlaßfrage, in: F. H. Jacobi. Philosoph und
Literat der Goethezeit, Beiträge einer Tagung in Düsseldorf (16.—19.10.1969),
ist in erster Linie mit Nachdruck nach Jacobis „eigener Philosophie"1* zu fragen.
2. Diese Frage ist gegenüber Vormeinungen des Interpreten dadurch best-
möglich abzusichern» daß die historische Rekonstruktion genau desjenigen Argu-
mentationsganges versucht wird, durch welchen Jacobi seine eigene philosophische
Position aufbaute14.
3. Dazu ist eine Konzentration auf die Anfänge der theoretischen Arbeit dieses
Autors erforderlich, in denen die für ihn grundlegenden Arbeitsgänge15 zu vermuten
sind1·. Deren Resultate werden zum ersten Male öffentlich vertreten und verteidigt
18
VgL dazu F. D. E. Schleiermachers Exzerptheft aus dem Jahre 1793: „Ueber
dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrifft und
besonders ueber seine eigene Philosophie" (Hervorhebung E. H.; das Schleier-
machersche Manuskript ist jetzt veröffentlicht als Anhang zu E. H. U. Quapp:
Christus im Leben Schleiermachers, Göttingen 1972, S. 375—389). — Eine
Interpretation von Jacobis „eigener" Philosophie intendieren folgende Mono-
graphien: F. A. Schmid, F. H. Jacobi. Eine Darstellung seiner Persönlichkeit
und seiner Philosophie als Beitrag zu einer Geschichte des modernen Wert-
problems, Heidelberg 1908; O. F. Bollnow, Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis,
Stuttgart 1933 (19662); K. Kammacher, Kritik und Leben II. Die Philosophie
F. H. Jacobis, München 1969; G. Baum, Vernunft und Erkenntnis. Die Philoso-
phie F. H. Jacobis, Bonn 1969; Karl Homann, F. H. Jacobis Philosophie der
Freiheit, München 1973.
14
Bis auf die beiden zuletzt genannten geben die in der vorigen Anm. erwähnten
größeren Arbeiten Jacobiinterpretationen im Rahmen von systematischen philo-
sophischen Positionen, die Jacobi selber fremd sind. Baums Arbeit bietet zwar
eine Menge historischer Informationen, hält sich auch von systematischen Vor-
meinungen, die historisch nicht hinreichend kontrolliert wären, weithin, frei,
verfährt jedoch in der Textauswertung ganz flächig (vgl. u. Anm. 18). Und
Homann legt seiner Untersuchung eine höchst einseitige Auffassung von der
Zirkelstruktur des historischen Verstehens zugrunde: Daß historische Text-
interpretation sich in der Spannung zwischen zwei gleichursprünglichen Polen —
umfassendem Problemhorizont und Einzeldokument — bewegt, die sich gegen-
seitig bedingen, soll gar nicht bestritten werden. Die Frage ist nur, ob der jeweils
die Interpretation leitende umfassende Problemhorizont notwendig die Gestalt
eines aus der Zeit des Interpreten stammenden „VorVerständnisses" behalten
muß, oder ob er nicht, wenn überhaupt Kontrolle eines Interpretationsansatzes
am Detail (Homann S. 10) möglich ist, so weit und so gründlich kontrolliert
werden kann, daß schließlich Gründe für die Vermutung bestehen, er komme
dem zumindest nahe, was der· umfassende Problemhorizont nicht in erster Linie
für die Urteilsbildung des Interpreten, sondern die textlich überlieferten Dis-
kussionszusammenhänge selber ist. In der Ausschöpfung der hier bestehenden
Annäherungsmöglichkeiten besteht diejenige „Objektivität" des historischen
Verstehens, welche dieses Geschäft allein fruchtbar, nämlich mehr als eine bloße
Repetition gegenwärtiger Fragestellungen sein läßt (gegen Homann S. 9—12).
Glücklicherweise folgt Horaann in der Durchführung seiner Arbeit seinem
hermeneutischen Programm nicht durchgehend (s. unten Anm. 60).
15
Die Untersuchung späterer Umbrüche im Denken des Philosophen wird dadurch
nicht erübrigt, sondern gerade ermöglicht.
16
Hier liegt eine entscheidende Differenz des vorliegenden Interpretationsver-
suches zu der Deutung Timms (vgl. o. Anm. 12). Zwar artikuliert auch diese
in den Veröffentlichungen von 1785—1789, die ich .deshalb hier Jacobis Haupt-
schriften17 nenne: „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendels-
sohn" (1785, 17892) und „David Üume über den Glauben, oder Idealismus und
Realismus. Ein Gespräch" (1787).
4. Um die Materialschichten entdecken und gegeneinander abheben zu können,
welche den Hauptstadien des. Diskussionsganges entsprechen, ist eine chronologisch
differenzierte Behandlung der Quellen geboten18. Diese Forderung ist mit besonde-
sich als Versuch einer genetischen Rekonstruktion (Gott und die Freiheit S. 140)
der Jacobischen Postition. Aber Timm geht davon aus, daß diese Position sich
„in der Spinozadiskussion der 80er Jahre" entfaltet, und der Argumentations-
zusammenhang, in den er Jacobis Hauptschrift, die Spinozabriefe, stellt, ist
offensichtlich ein anderer als der von mir in den Blick gefaßte: einsetzend mit
dem vom reifen Jacobi berichteten „mystischen Grunderlebnis" in Jacobis
Kindheit (a. a. O. S. 143 ff.) entfaltet Timm dann als den eigentlichen Kontext
der Jacobischen Glaubensphilosophie dasjenige allgemeine Problembewußtsein,
welches der Generation der Stürmer und Dränger im ganzen eigen gewesen und
als eine wesentliche Stufe im Werden der idealistischen Religionsphilosophie
anzusehen sei (a. a. O. S. 160ff.)· Dieser Versuch, ein genetisches Verständnis
der Jacobischen Philosophie aus dem Geiste des Sturms und Drangs heraus zu
gewinnen, erinnert stark an das Verfahren, durch das einst Dilthey die Ent-
wicklung des Schleiermacherschen Denkens aus dem es umgebenden geistigen
Gesamtleben verständlich zu machen suchte. Demgegenüber bescheidet sich
die hier vorgelegte genetische Interpretation der philosophischen Zentrallehren
des reifen Jacobi damit, auf einen sehr viel engeren, vielleicht aber auch über-
sichtlicheren, Kontext Bezug zu nehmen: nämlich auf die rekonstruierbaren
Problemstellungen, die Jacobi selber zwischen jenen vortheoretischen Kindheits-
erlebnissen und der Artikulation seiner Glaubensphilosophie sukzessive be-
arbeitet hat. Letztere wird im Rahmen dieses von mir gewählten Kontextes
in einem anderen Lichte erscheinen als in dem Timmschen Interpretations-
rahmen (s. u. S. 135ff., 151 f.). — Bollnow beabsichtigt zwar, Jacobis Anfänge zu
untersuchen (a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 9 ff.), verfehlt aber den Denkzusammen-
hang Jacobis dadurch, daß er seine Untersuchung nicht am historisch grund-
legenden Punkte einsetzen und dann zu schnell von Vorbegriffen der Lebens-
philosophie systematisch leiten läßt (S. 77ff.). — Wichtige Beiträge zur ersten
Schaffensperiode Jacobis stammen von germanistischer Seite: F. David, F. H.
JacobisWoldemar in seinen verschiedenenFassungen, Leipzig 1913; H. Schwartz,
F. H. Jacobis Allwill, Halle 1911; T. Th. v. Stockum. Spinoza-Jacobi-Lessing.
Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie und Literatur im 18.
Jahrhundert, Groningen 1916; F. Heraus, Jacobi und der Sturm und Drang,
Heidelberg 1928; neuerdings H. Nicolai, Nachworte zu den o. Anm. 10 genann-
ten Faksimilieausgaben; außerdem Ders., Goethe und Jacobi. Studien zur Ge-
schichte ihrer Freundschaft, Stuttgart 1965; Ders., Jacobis Romane, in dem o.
Anm. 10 genannten Symposionband S. 347—360; H. Schanze, Jacobis Roman
„Eduard Alhvills Papiere" — eine formgeschichtliche Analyse, ebendort S.
32&—331.
17
So auch Bollnow (Anm. 13) S. 14. Aber auch im Blick auf Jacobis Wirkungs-
geschichte verdienen die genannten Veröffentlichungen diese Bezeichnung.
18
Wenn z. B. G. Baum in seiner Anm. 13 genannten Arbeit Texte aus den Jahren
1773 und 1815(1) zu einer Sinneinheit zusammenfaßt (S. 27), so wäre das
I.
Recht solchen Vorgehens doch wohl eigens zu begründen. Eine solche Begrün-
dung läßt sich aber jedenfalls dann, wenn das Interesse an Jacobis eigener Phi-
losophie leitend ist, nicht erbringen.
19
1688—1742; seit 1717 Professor in Leiden; zunächst als Naturwissenschaftler,
seit 1734 als Philosoph. Vgl., Ph. H. Külb, Art.: Gravesande, in: Allgemeine
Encyklopädie der Wissenschaften und Künste, hg. von J. S. Ersch und J. G.
Gruber, Bd. 88, Leipzig 1868, S. 279—286; Art.: 'sGravesande, in: Nouvelle
Biographie Galorale, hg. von Hoefer, Bd. 43, Paris 1867, S. 869—871. — Jacobi
ist mit seiner Philosophie durch Le Sage bekannt geworden: WII180ff.
20
1720—1793; Genfer Biologe und Philosoph. Zur Biographie vgl. Sprengel,
Art.: Karl Bonnet, in: Ersch-Gruber (o. Anm. 19) Bd. 11, 1823, S. 406ff.; jetzt
vor allem: Ch. Bonnet. M&noires autobiographiques, hg. v. R. Savioz,'Paris
1948; R. Savioz, La Philosophie de Charles Bonnet de Geneve, Paris 1948. .
21
Dazu siehe unten S. 138ff.
22
Rousseau hat vor allem durch den „Contrat Social" und die „Nouvelle Höloise*'
auf Jacobi gewirkt, also durch Schriften, die erst seit 1761 erschienen sind..
Wie sehr nun der für Jacobi zentrale Freiheitsbegriff durch die
eben skizzierte Genfer Problemkonstellation geprägt war, zeigt
sowohl seine formale Fassung als Begriff der Selbstbestbestimmung
des Geistes68 wie auch. die voluntaristische Zuspitzung69 dieses
Begriffes:
a) "Freiheit als Selbstbestimmung des Geistes wird 1782 in einer für das Gesamt-
werk gültigen Weise so beschrieben: „Was den Menschen von dem Thiere unter-
scheidet ... ist das Vermögen einen Zusammenhang von Zwecken einzusehen, und
nach dieser Einsicht seinen Wandel einzurichten70. In so fern der Mensch sich in
und nach sich selbst bestimmen, das ist freye Handlungen verrichten kann: in
so ferne wird derselbe durch Vernunft bewegt71, und nur in so ferne zeigt er sich
als Mensch. Wo keine Freyheit ist, keine Selbstbestimmung, da ist keine Mensch-
heit72."
b) Kommen nun aber nach sensualistischen Prinzipien als Erkenntnisquelle
einzig die Sinnesempfindungen in Betracht und wurzelt alle Erkenntnis dement-
sprechend in Fremdbestimmung durch die Außenwelt, dann bedeutet in der Tat
schon die Annahme einer Bestimmung der voluntas durch die cogitationes die
Leugnung einer Bestimmung des mentalen Seins durch sich selbst. Soll linier
diesen epistemologischen Voraussetzungen Selbstbestimmung in der Weise sittlicher
Freiheit gedacht werden, so ist der Wille selber als ,,eine sich selbst bestimmende
Ursache"73 anzusetzen und statt einer Bestimmung des Willens durch die Ein-
sicht vielmehr deren Bestimmung durch den Willen anzunehmen: „Der Verstand
des Menschen hat sein Leben nicht in ihm selbst, und der Wille entwickelt sich
nicht durch ihn. Im Gegentheil entwickelt sich der Verstand des Menschen durch
seinen Willen, der ein Funken aus dem ewigen Lichte, und eine Kraft der Allmacht
ist74." — Die sich hier abzeichnende metaphysische Vertiefung des Voluntarismus
ist es, welche dann den geschichtsphilosophischen Irrationalismus schon impliziert,
Mendelssohn siehe die ganz zutreffenden Beobachtungen H. Timms (o. Anm. 12,
Symposionband, S. 61—81).
68
Vgl. o. Anm. 40.
69
Zu Jacobis „Voluntarismus" vgl. Bollnow (o. Anm. 13) S. 210.
70
Auch diese Betonung der Tatkraft klingt schon in 'sGravesandes Definition
von Freiheit an (o. Anm. 28). — Vgl. auch*W VI 181: „Was du glücklich bist,
sagte ich zu L., daß du einen so freien Willen hast. Indem ich dieses sagte, fiel
es mir lebhafter auf, daß wir, was wir die Freiheit des Willens nennen, nicht
sowohl in das Vermögen zu wählen, als in die Kraft, unsern Willen zu thun
setzen"; vgl. gleichfalls die Betonung der Tatfreiheit in W IV A 70 Z. 16, 231,
249.
71
Also nicht causis physicis: vgl. o. S. 127.
72
W II 339 ff.
73
W IV A 249 Z. 3f.
74
W IV A 248; vgl. überhaupt dort die Passage S. 230-253; später W VI 68. —
Hierher gehört dann auch die Trieb- und Instinktlehre Jacobis: a) „Trieb":
W IV A 18, 34; W I 175, 289; W III 203, 273, 317; W VI 136; W II 44. b)
„Instinkt": W I XlVf.; W III35,193, 206, 216; W V 79; (W VI 333 (1773)). —
In diesen Anschauungen werden offenbar Vorstellungen schon aus der empfind-
samen Phase Jacobis weitergebildet: s. u. S. 138.
zu dem Jacobi sich schließlich als zu dem Entspringen aller unter Menschen gelten-
den Wahrheit aus der ursprünglicheren Schicht der „Meinung"7* und dieser aus
der Praxis76 ausdrücklich bekannt hat.
Freilich war solche positive Fassung und Entfaltung des Frei-
heitsbegriffes dem reifen Jacobi erst möglich, nachdem der junge
Jacobi ihn in jahrzehntelanger Arbeit gegen zerstörerische Be-
drohungen sichergestellt hatte. Was den Charakter dieser Be-
drohungen betrifft, so läßt sich — in näherer Ausführung der soeben
gemachten Andeutungen — nachweisen, daß sie alle von den Konse-
quenzen eines Sensualismus ausgingen, wie ihn Jacobi in der
Schule Bonnets eingesogen hatte.
II.
Für den gründlichen Einfluß der Bonnetschen Lehren auf Jacobi
gibt es eine ganze Reihe von Belegen:
1. Zunächst: Jacobis ausdrückliches Selbstzeugnis. Er studierte die erreichbaren
Schriften Bonnets, bis er sie „fast auswendig" kannte77; mit Nachdruck schloß
er sich der Bonnetschen Forderung nach einer „analytischen" Philosophie an78;
er weitete sein Studium auf die Medizin aus79; und sein mit metaphysischen Studien
begonnener Genfer Aufenthalt endete mit dem Wunsch, sich in einem weiteren
Studium andernorts80 als Arzt, also: als „physicien", ausbilden zu lassen81.
2. Sodann: Bis in Jacobis reife Schriftstellerei hinein finden sich Grundsätze
der sensualistischen Erkenntnislehre: Erkenntnis der Wirklichkeit bieten allein
75
Von Jacobi seit den „Zufälligen Ergießungen eines einsamen Denkers" (1793,
W I 25^-305) gelehrt (W I 227f.).
76
W IV A 231, 234f., 237, 248, 249.
77
WIV A 80 Z. 12f. und AB I 320 (auf den „Essai" bezogen). — Erwähnungen
Bonnets oder seiner Werke: AB I 6 (1762), BM 78 (1764), 94 (1766), 135f.
(1768), 154 (1769), 155 (1769), W VI 255 (1773), AB I 320 (1781), W IV A 80f.
(1783), W II 170, 172 (1787), AB II 67 (1791), AB II 142 (1794), W II 54, 73
(1815). — Als Jacobi 1794 Bonnet einen „hölzernen Philosophen" nannte, fügte
er sogleich entschuldigend hinzu, im übrigen „die Verdienste dieses Mannes
wohl zu schätzen" zu wissen. Die Bemerkungen kann also das Gewicht des
Jacobischen Bekenntnisses nicht im geringsten mindern, in Genf zwei „gewiß
der fruchtbarsten" Jahre seines Lebens verbracht zu haben: W II183.
78
Zu Bonnet vgl. E AIII ff.; zu Jacobi SI A 10 (1771)1 — Auch der spätere Grund-
satz, philosophische Erkenntnis gehe auf Daseinsenthüllung (erstmals gegen
Hamann geäußert ZI56f., 1783), ihre Wahrheit sei stets auf „Wirklichkeit,
auf Facta" (W IV A 193,1785) bezogene Klarheit, scheint mir, in die Tradition
dieses Philosophieverständnisses zu gehören. Das erhellt m. E. eindeutig aus
W II 189f. (vgl. u. Anm. 144).
79
W II183.
80
Gedacht war an Glasgow: WII183.
81
Der Wunsch wurde ihm vom Vater nicht erfüllt. Jacobi trat vielmehr in das
väterliche Geschäft ein: AB XI; vgl. WII183.
die sinnlichen Vorstellungen, und zwar auf unmittelbare Weise82. Die diskursive
Erkenntnis erreicht durch Vergleichen, Unterscheiden und Gleichsetzen der Sensa-
tionen nur Einsichten von sekundärem Rang83. Denn für sie gilt erstens: daß sie
ganz und gar von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung lebt84, nur durch Rück-
führung auf sie bewährt85 und durch jeden ihrer Einsprüche unmittelbar widerlegt
wird86. Für sie gilt zweitens: daß die diskursiven Operationen selber nichts anderes
als im Wesen der einzelnen Sensationen begründete quasi automatische Reaktionen
der Elemente einer gegebenen* Gesamtmenge von Empfindungen aufeinander sind:
,,Sobald ein Mannichfaltiges von Vorstellungen, in einem Bewußtseyn vereinigt,
einmal gesetzt ist, so ist damit zugleich gesetzt, daß auch diese Vorstellungen, theils
als einander ähnlich, theils als von einander verschieden, das Bewußtsein afficiren
müssen.. .. Wir haben also außer der ursprünglichen Handlung der Wahrnehmung,
keine besondere Handlung des Unterscheidens und Vergleichens nöthig, bey denen
sich auch gar nichts denken läßt ... So erkläre ich mir auch das Nachsinnen, das
Überlegen, und ihre Wahrnehmungen, aus der immer fortgesetzten Bewegung des
activen [sc. sinnlichen] Prinzips in uns87/'
3. Wie konsequent Jacobi in den Bahnen dieses Sensualismus dachte, belegt
drittens in komplexer Weise ein ebenso berühmtes wie bisher in entscheidenden
Details dunkel gebliebenes Überlieferungsstück: Jacobis Bericht über sein im
Sommer 1780 mit Lessing geführtes Gespräch über Spinoza. Sowohl dessen Thema-
problem wie seine Lösung zeigen uns den Sensualisten Jacobi:
a) In den Diskussionen, die Jacobi selber über sein Gespräch mit Lessing vor88
und nach89 dessen Veröffentlichung anregte, rückte immer nachdrücklicher die
theo-logische Problematik des vermeintlichen Atheismus der Spinozischen Philo-
sophie in den Vordergrund. Anders aber steht es mit dem Gespräch aus dem Som-
mer 1780 selber. Sein Zentralthema ist keineswegs Spinozas Theo-logie, sondern
sein „Fatalismus**. Lessings Behauptung der gedanklichen Konsequenz Spinozas
bekräftigt Jacobi nämlich mit der das gesamte weitere Gespräch auslösenden Fest-
stellung: „Das mag wahr seyn. Denn der Determinismus, wenn er bündig seyn
82
WII 267; vgl. auch WIV A 228; AB I 329 (1781).
88
WII 227, 234f., 2821. IV B 151, IV A 210.
M W II 226, 2701; WII 2181; vgl. schon W VI 254 (1773).
85
WII 2271, WIV A 236 Z. 9ff.
M
W VI 3261
87
W II 268f. — Dem Urteil G. Baums (a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 12) über die
fundamentale Bedeutung der Bonnetschen Erkenntnistheorie für Jacobi ist
zuzustimmen. Baum selber aber hat im Fo'rtgange seiner Arbeit diesen Sach-
verhalt nicht entschieden genug berücksichtigt.
88
Z. B. in seiner Thesenreihe von Anfang 1785 eröffnenden Behauptung: „Spino-
zismus ist Atheismus" (W IV A 216) und in den Diskussionen mit Herder,
Goethe und Hamann; vgl. dazu die eingehende Darstellung bei H. Scholz,
Einleitung zu: Die Hauptschriften um Pantheismusstrreit, Berlin 1916, S.
XCff.
89
Z. B. W IV B 74fl. 81 ff. (Beilagen, die sich mit Herders „Gott" beschäftigen;
vgl. auch die in denselben Zusammenhang gehörende Erweiterung der An-
merkung WIVA216ff. von 1789); W IV B 47ff. (Hemsterhuis über die drei
Formen des Atheismus; vgL dazu S I A 361, Jacobi an die Fürstin Gallitzin
am . 6.1787).
will, muß zum Fatalismus werden; hernach giebt sich das Uebrige von selbst™"',
und mit den Worten: „Ich merke, Sie hätten gern Ihren Willen frcy"*1 iaOt Lessing
zutreffend den Skopus des ganzen vorausgegangenen Jacobischen Referats02 der
Spinozischen Metaphysik zusammen.
Spinoza als Paradigma des Fatalismus zu traktieren, entspricht nun alter
Tradition; im besonderen Falle Jacpbis aber: Genfer Tradition. In seiner Skizze
der fatalistischen Grundbchauptung hat Jacobi nachweislich 'sGravesandes Aus-
führungen im Sinne0*, Vor allem aber erkennen wir die Genier Schule daran, daß
für Jacobi Spinoza deshalb Fatalist ist, weil bei ihm die Konsequenzen des Sensua-
lismus gezogen seien. Jacobi meint, Spinoza stufe die menschlichen Verstandes-
fälligkeiten als Körperfunktion ein64 und lasse ebenso die „Entschlüsse des Wil-
lens" — indem sie jene physische Erkenntnisoperationen voraussetzen — „nur
Bestimmungen des Körpers4* sein95. Dies erscheint als der springende Punkt für
Jacobis Ablehnung des Spinozismus, nicht die Alleinheitslehre. Sonst hatte auch
Jacobi nicht Leibniz — bei klarem Bewußtsein über dessen· theo-logische Differenz
zu Spinoza96 — ganz ebenso als Fatalisten einstufen und ablehnen können97. Denn
auch die Monadenlehre gründet für Jacobi auf dem Satz: „Das Denken ist nicht die
Quelle der Substanz; sondern die Substanz ist die Quelle des Denkens"98. Und
weiter unten heißt es zu Leibniz: „Wie aber ... das Prmcipium aller Seelen für
sich bestehen könne und wirken . ·.; der Geist vor der Materie; der Gedanke vor
dem Gegenstande: diesen großen Knoten, den er [sc. Leibniz] hätte lösen müssen,
um uns.wirklich aus der Noth zu helfen, diesen hat er so verstrickt gelassen als
er war .. ,90."
Diese Leibnizkritik wirft — unabhängig von dem Problem ihrer historischen
Haltbarkeit100 — hellstes Licht auf Jacobis Problembewußtsein noch im Jahre 1780:
90
WIV A 55f. (Hervorhebung von mir). — Hier wird das einleitende theo-logische
Gespräch (W IV A 51 ff.) eindeutig der Freiheitsproblematik untergeordnet.
Den Diskussionsbemerkungen von Brüggen und Homann, daß dieses Problem
für Jacobi zentral gewesen sei (Symposionband — o. Anm. 10 — S. 82 f.),
stimme ich voll zu.
91
WIV A 61.
92
WIV A 55—60.
93
Vgl. WIV A 70 Z. 13ff. mit 'sGravesandes Spinozareferat o. Anm. 36 und
WIV A 66 Z. 5ff. mit Intr. 145 (Jacobi zitiert genau denselben Spinozatext
wie 'sGravesande).
ö
*WIVA59f.
95
WIV A 196ff.
96
WIV A 63—65.
97
WIV A 65, 66, 221.
98
WIV A 67 Z. 9ff.
99
WIV A 68 Z. lif.
100 w IV A 68 Z. Iff. beschränkt Jacobi den Vorwurf selbst auf die Grenzen seines
Leibnizverständnisses, das schon deshalb nicht Leibniz im „tiefsten und voll-
ständigsten" Sinn gerecht wird, weil Jacobi in Bezug auf Leibniz hier weder
dessen Theorien über das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit noch
über die Geltungsweite des Satzes vom zureichenden Existenzgrunde disku-
tiert. — Zum Satz vom zureichenden Existenzgründ hat Jacobi später bekannt-
lich scharfsinnige Bemerkungen gemacht (WII192ff.; WIVB144ff.). Aber
. sie sind kritisch gegen die Vermischung von Ursache und Grund gerichtet.
Die Kritik richtet sich genau auf die Differenz zwischen 'sGravesande und Leibniz.
Beide Denker sind Leugner des Indeterminismus. Zugleich aber ist Leibniz im
Gegensatz zu 'sGravesande entschiedener Antidualist. Nur dann aber läuft dieser
Antidualismus bezüglich begründeter Willensbestimmungen auf den Fatalismus
hinaus, wenn er wie bei Jacobi sehsualistisch gedeutet wird. Hierin also wurzelt
Jacobis dualistisches Postulat einer Körperunabhängigkeit des Geistes als Bedin-
gung von dessen Freiheit und die „Noth" der einstweiligen Undenkbarkeit solcher
Unabhängigkeit.
b) Das Gespräch mit Lessing gipfelt in Jacobis Behauptung, es gebe eine Mög-
lichkeit, der Konsequenz des Fatalismus auszuweichen; und zwar eine Möglichkeit,
die statt als Verabschiedung aller Philosophie vielmehr als eine selbst philosophisch
legitime101 angesehen werden müsse.
Freilich, ein Nachweis der Selbständigkeit und Wirkkräftigkeit mentalen Seins
auf diskursivem, „erklärendem"102 oder „beweisendem"103 Wege kann für Jacobi
nicht in Betracht kommen.
Das ergibt sich gerade von den skizzierten epistemologischen Prinzipien her:
Ihnen zufolge ist jede Theorie ja nur die Resultante der unmittelbaren Empfindung
von Gegebenem und wird nur durch solche bestätigt oder widerlegt. Nach sensua-
listischen Grundsätzen legitim ist allein ein „unmittelbares Schließen"104 gegen eine
theoretische Behauptung; ein „Schließen", das nur darin bestehen kann, daß eine
unmittelbare Objektempfindung ins Spiel tritt, welche zu dem Ergebnis, in welchem
das Wechselspiel der zuvor vereinigten Vorstellungen endete — hier: der fatalisti-
schen Unfreiheitsvorstellung — in dem Verhältnisse des kontradiktorischen Wider-
spruches steht. Gerade so verfährt Jacobi: er bringt ein Empfindungsdatum ins
Spiel, welches in seiner Unmittelbarkeit — genommen, wie gefunden105 — das
fatalistische Vorstellungsresultat aus den Angeln hebt: „Ich habe", bekennt er,
„keinen Begriff, der mir inniger als der von den Endursachen wäre; keine lebendi-
gere Überzeugung, als, daß ich thue was ich denke; anstatt, daß ich nur denken
sollte was ich thue108".
Die besprochene Passage gilt bis auf den Tag als locus classicus für Jacobis
„Irrationalismus"; nicht zuletzt deshalb, weil Jacobi selber seine Argumentation
Wenn also Jacobi seit 1787 Leibniz' Monadenlehre nun anders als 1780ff. im
Sinne seiner eigenen Freiheitslehie auslegt (W IV B 97 ff.), so geschieht das
nicht im genauen Leibnizschen Sinne, sondern aufgrund veränderter Jacobiscfor
Prämissen: nämlich aufgrund einer bestimmten Modifikation seines Sensualis-
mus, s. u. S. 152f.
101 \v IV A 69 Z. 13 ff. -r Auch die späte Deutung dieser Diskussion aus dem Jahre
1819 (W IV A XXXVII Z. 9ff.) zeigt, daß Jacobi zwar nicht ein nach rationa-
listischen Grundsätzen konstruiertes System durch ein anderes solches ersetzen,
aber dennoch mit seinem nicht-rationalistischen Standpunkt eine „philosophi-
sche Ueberzeugung" zu vertreten glaubte.
102 IV A 70 Z. 17 ff.
103
Vgl. die Kritik an Bonnets „^Beweisen" für das Dasein der immateriellen Seele:
W II 172f.
10
* W IV A 59 Z. 12ff. (Hervorhebung von E. H.).
los \y iv A 70 Z. 101 — Diese Interpretation wird durch Jacobis späten Selbst-
kommentar W IV A XXXVIII Z. 12ff. (1819) bestätigt,
loc W I V A 7 0 Z . llff.
10 Axcb. G«cb. Philosophie Dd. 58
durch die vieldeutige Metapher eines „Salto mortale"107 beschrieb. Die tatsächlich
vorgenommene Außerkraftsetzung einer diskursiven Erkenntnis durch den Wider-
spruch des unmittelbar Gegebenen entspricht aber lediglich den Grundsätzen der
von Jacobi rezipierten Erkenntnislehre. In der konsequenten Befolgung Ihrer
Regehi bekundet sich m. £. gerade die eigentümliche Rationalitat des Jacobischen
Gedankenganges108.
4. Nun erhebt sich jedoch sofort die Frage, ob Jacobis Vorschlag nicht an dem*
selben Widerspruche kranke, den wir schon an Bonnets Behauptung der Existenz
selbständigen mentalen Seins moniert hatten: an dem Widerspruch nämlich zwi-
schen der Behauptung der äußeren Sinne als einziger Erkenntnisquelle einerseits
und der gleichzeitigen Behauptung einer untrüglichen Selbstwahrnehmung anderer-
seits ? Offenbar ist aber diese Frage Jacobi selber als das entscheidende Problem-
zentrum präsent gewesen; auf sie nämlich konzentriert sich das Resultat seiner
gesamten belletristischen Arbeit der Jahre 1776 bis 1779:
Bekanntlich war diese erste, künstlerische Schaffensperiode Jacobis ausgelöst
worden durch sein Zusammentreffen mit Goethe im Juli 1774loa. Darüber hatte
Jacobi im Spätsommer desselben Jahres geschrieben: „Göthe ist der Mann, dessen
mein Herz bedurfte ... Mein Charakter wird nun erst seine aechte eigenthümliche
Festigkeit erhalten, denn Göthen's Anschauung hat meinen besten Ideen, meinen
besten Empfindungen — den einsamen, verstoßenen — unüberwindliche Gewiß-
heit gegeben. Der Mann ist selbständig vom Scheitel bis zur Fußsohle110." Mit
dieser Beschreibung seines Erlebnisses der neuen Bekanntschaft hält Jacobi zu-
gleich deren Bedeutung für ihn fest: Sie hatte ihn offensichtlich hinsichtlich der
Stichhaltigkeit einer seit längerem erwogenen Lösung des Konfliktes zwischen
Freiheit und Notwendigkeit endlich mit solchem Zutrauen erfüllt, daß er von da
an ihre positive Darstellung in den Romanversuchen von 1775 bis 1779 in Angriff
zu nehmen gewagt hatte.
Diese erste, seit Anfang der 70er Jahre erwogene, von Goethe zur Festigkeit
beförderte und in den Romanen dargestellte Auffassung der sittlichen Freiheit
zeigt sich nun ganz durch die Gedankenwelt J. J. Rousseaus bestimmt: Werk und
Geschick dieses Autors waren ein durchgehendes, durch Zustimmung und Anteil-
nahme ausgezeichnetes Thema in Jacobis Briefwechsel111. Die Maxime „II faut
marcher avec la nature"112 verrät den Rousseauisten ebenso wie die Annahme eines
Konnexes mit dieser maßgeblichen Instanz der „Natur" durch „Empfindungen",
welche, keineswegs identisch mit den „Sensationen" der sensualistischen Erkennt-
107
WIV A 59 Z. 4ff.
108
Gegen ein Urteil wie das von C. Prantl (Art.: F. H. Jacobi, in: ADB Bd. XIII,
1881, S. 577—584) ist der Einsicht von R. Mortier (BM 54) zuzustimmen, daß
Jacobis Philosophie in einer, bestimmten Tradition aufklärerischer Rationalität
selber steht; sie „est moins le ,salto mortale' qu'on a dit que le recherche d'un
nouvel e*quilibre entre les exigences du coeur et les donne*es ine*cluctables de la
raison". — Zu Timms Interpretation des „Salto mortale" und der Glaubens-
philosophie Jacobis vgl. unten Anm. 193.
» w V S. X. — Vgl. dazu die o. Anm. 16 genannten Arbeiten H. Nicolais.
110
AB 1174; vgl. auch GB 44.
ni
Vgl. dazu die Übersicht von Mortier BM 39—49.
112
AB I 44 (1771), AI 86 (1776; eines Sinnes mit der Natur leben); zur Maßgeblich-
keit der „Natur" und des „Natürlichen" vgl. auch AB I 262 Z. 17, 294 Z. 21,
GB 33, Wol 65, AI 57.
lichkeit ist. Das ihrige war so glücklich gebildet, daß es die Unterstützung der
Sinne und Einbildung gewissermaßen entbehren und daß es seine Verrichtungen
allein [Hervorhebung durch Jacobi] bestehen konnte, und genug hatte an seinen
eigenen lautersten Gefühlen"; so herrscht „Stille und Stetigkeit'1 in ihrer Seele
(Wol 50 f.). Dem entspricht, daß Woldemar den Gedanken an eine sinnliche
Verbindung mit Henriette als schlechthin abwegig empfindet: Wol 63ff.
Vgl. dazu besonders 131—145; auch Venn. Sehr. 97 Z. 4ff.: „Aus der Wüste der
Sinnlichkeit zur Straße der Natur." — Von Anfang ihrer Bekanntschaft an
scheint Jacobi in Bezug auf Goethe den Eindruck gehabt zu haben, welchen in
AI Luzie von Allwill hat: daß nämlich die ihn innerlich bestimmende Kraft
nicht die von der Sinnlichkeit unterschiedene reine Herzensempfindung sei.
Daher erscheint Göthes „Selbständigkeit" in den Augen Jacobis auch nicht
eindeutig als sittliche Freiheit, vielmehr eher als „Besessenheit": AB 1179.
124
Die Herzensfreundschaft konstituiert sich ohne alle Vermittlung sozialer Kom-
munikation (Wol 52) und wird gerade durch Einbeziehung einer sozialen Rück-
sicht (Henriettes Schwur ihrem Vater gegenüber: Wol 103ff.) erschüttert:
Wol 161 ff. Henriette und Woldemar erkennen sich gegenseitig als jeweils von
der Konvention frei: Wol 51, 58. Diese freie, natürliche Sittlichkeit ist dann ein
Zentralthema der Fortsetzung des Romans: Verm. Sehr. 20ff., 48ff., 631,
70. — Im Unterschiede zu dieser Überlegenheit gegenüber der gesellschaftlichen
Sitte, die in der Gestalt des Woldemar dargestellt wird, zeichnet sich Allwill
noch bloß durch sein Freisein von ihr aus: AI 65f., 86f. — Übrigens begegnet
bei Jacobi auch der andere Rousseausche Gedanke, daß die menschliche Natur
durch die Verhältnisse bestimmt werde: WIV A160, 238; Verm. Sehr. 84ff.,
lOOff. u. ä. Vgl. auch die im Vorwort von Verm: Sehr, atisgesprochene Bezie-
hung auf Herders Staats- und gesellschaftstheoretische Schrift „Vom Einfluß
der Regierung auf die Wissenschaften und der Wissenschaften auf die Regie-
rung".
125
Vgl. Bollnow a. a. O. — o. Anm. 13 — S. 12, auch 77: Jacobi entwickele aus
dem Pantheismus des Sturm und Drang ein „bewußt dualistisches Weltbild".
Welchen theoretischen Sinn dieser Dualismus hat, bleibt bei Bollnow aber unge-
klärt.
aber und fortdauern kann es nur in sich selbst durch Erkenntniß, die dem Menschen
Persönlichkeit, Freyheit, inniges Gefühl der Seele, eigentliches Leben giebt"126.
III.
Ich wende mich jetzt den Schwierigkeiten zu, die Jacobi auf dem
Wege zu diesem Ziel einer Erweiterung des Sensualismus über-
winden mußte. Aus dem Quellenmaterial lassen sich drei solcher
Schwierigkeiten erkennen: 1. Die Geschlossenheit der überkomme-
nen sensualistischen Position; 2. das Problem, wie eine Erweiterung
des Sensualismus überhaupt als Möglichkeit soll gedacht werden
können; 3. der Nachweis einer mit deii äußeren Sinnen gleich-
wertigen Leistungskraft der neu angenommenen Erkenntnis-
quellen.
1. Nach der Übersendung seines „Woldemar" an Hamann An-
fang 1782 kommentiert Jacobi im Juni 1783 diesem gegenüber sein
Werk wie folgt: Es sei mit dem Roman seine Absicht gewesen, der
134
Die Vorläufigkeit der „empfindsamen" Freiheitstheorie Jacobis erhellt aus dem
Tatbestand, daß er schon in AI seine eigene, durch Goethe geweckte Begeisterung
Eduard Allwill in den Mund legt (GB 44 wörtlich gleich AI 87 Z. 9ff.), der dann
durch Luzie kritisiert wird, und daß im Wol nur die Frauengestalt Henriette
das Ideal der von Sinnlichkeit unbestimmten Herzenstugend verkörpert (Wol
143), während der Titelheld — entsprechend seiner Doppelbeziehung zu Hen-
riette und Allwine (vgl. Wol 145) — nur eine künstliche Unterscheidung von
Sinnlichkeit und Herzensempfindung als zweier ihn zumal bestimmender Mächte
anstreben kann, Wol 671, 139f. — Daß gerade diese Zwiespältigkeit in das
Selbstporträt Jacobis hineingehört, wird durch die' in BM mitgeteilten bisher
unbekannten biographischen Nachrichten erwiesen.
135
Zu dem Wechsel von der Poesie zur Philosophie seit Herbst 1779 vgl. AB I
308; Z. I 36 (am 23.10. 80 an Heinse über den gemeinsamen Besuch mit Lessing
bei Gleim): „Leßing und ich plagten ihn hingegen manchmal mit unserer Phi-
losophie, und erhärteten im Fall der Noth, daß die Metaphysik zu allen Dingen
nütze sey, und die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens habe, weil
von ihr alle Gewißheit des Gegenwärtigen und des Zukünftigen, des Wirklichen
und des Möglichen abhänge." Daß Jacobi selber die Arbeit der folgenden Jahre
als „metaphysisch" ansah, ergibt sich aus AB 1342 Z. 13ff.·
Jacobi auch nicht die KdrV als Revolution seines Sensualismus, sondern — gebannt
in die gerade durch ihn konstellierte Problematik — mußte er von Kants Haupt-
werk vor allem eines erwarten: eine Theorie darüber, wie denn Intelligenz sich
selbst und an sich selbst Selbständigkeit erkennen könne.
Bekanntlich besteht nun aber tatsächlich der fundamentale Mangel in Kants
Position gerade darin, daß er eine solche Theorie zeitlebens nicht ausarbeitete und
anbot. Dementsprechend blieb es für Jacobi rätselhaft, wie man überhaupt etwas
über die von Kant behauptete Selbständigkeit der reinen Form des Erkennens oder
wenigstens einiger ihrer Elemente ausmachen könne. Und-der-Brief an Hamann
stellt dementsprechend fest: „Es ist also falsch, daß unsere Glückseligkeit nicht von
den Gegenständen, sondern allein von uns selbst abhängt, daß wir . . . mit einer
gewissen Form unseres armen Selbst allein bestehen, daran genug haben können.
Das Wie der Vorstellung hängt am Ende immer von dem Was derselben ab, oder
das vollständige Was derselben involviert das Wie147."
2. Jacobis Suche nach einer Möglichkeit, die Wahrnehmungs-
basis des französischen Sensualismus so erweitert zu denken, daß
Selbsterkenntnis zugelassen ist, scheint nun ihre endgültige Rich-
tung überhaupt nicht direkt durch eine philosophische Anregung,
sondern durch den christlichen Offenbarungsgedanken empfangen
zu haben.
So heißt es in einem Brief an Johann Friedrich Kleuker vom
April 1782: „Wenn ein Gott ist, so muß es noch eine andere Offen-
barung geben als die Offenbarung der Natur. Denn, sagt der große
Baco, wird nicht derjenige, welcher aus dem Anschauen der sinn-
lichen und materiellen Dinge soviel Licht zu empfangen hofft, wie
zum Eindringen in Gottes Natur und Willen erforderlich ist, von
einer unsinnigen Philosophie getäuscht? Die Betrachtung der
Kreaturen führt nämlich nur bezüglich dieser selbst zum Wissen,
bezüglich Gottes aber allein zur Bewunderung — gewissermaßen
einem abgebrochenen Wissen (abrupta scientia). Daher sagt ein
gewisser Platoniker sehr wahr: der menschliche Sinn gleiche der
Sonne, welche zwar die irdische Sphäre erhellt, die himmlische
aber und die Sterne unsichtbar macht." Auf dieses Eingeständnis
der Notwendigkeit einer die äußeren* Sinne übersteigenden Offen-
barung des höheren Seins läßt Jacobi dann sofort die entscheidende
Zuspitzung folgen: „Unmöglich aber kann ich durch bloß historische
Mittel zur Erkenntniß des Unbegreiflichen gelangen; unmöglich
kann es eine allgemeine Offenbarung im eigentlichen Verstande
geben, ein physisches Insti^iment der Offenbarung Gottes*'; jede
derart allgemeine Offenbarung müsse vielmehr menschlichen Ur-
durchschaute, als bis er bei Fichte ihre Konsequenzen gezogen sah. Denn deut-
lich kommt er auf sie erst in den 90er Jahren zu sprechen.
147
Z I 58.
währt darin ihre eigenartige Dignität, daß sie sich von der aller
bloßen Sinneswahrnehmung eigenen Allgemeinheit (Intersubjek-
tivität) vielmehr durch ihren individuellen Charakter abhebt.
Ganz im Sinne dieser Überlegungen aus dem Jahre 1782 schließt
dann auch der bereits angezogene Brief an Hamann aus dem folgen-
den Jahre seine Erörterung über die Probleme der Selbst- und
Freiheitserkenntnis mit der Frage ab: „Sagen Sie mir, ob für den
Rechtschaffenen, der an diese öde Stelle hingeängstigt wurde eine
andere Hilfe ist, als aus den Händen selbst des Unerforschlichen;
als durch ein Wunder seiner Gnade1™ t"
Acht Monate nach diesen Äußerungen gegenüber Hamann, im
Februar 1784, verlor Jacobi — 41jährig — seine 40jährige Frau.
Er meldete dieses Ereignis an die Familie der Verstorbenen mit
folgenden Worten: „Betty lebt! 0, daß ich es aussprechen könnte,
wie es in meiner Seele tönt: Sie lebt! — Ich habe nun, was ich so
oft vom Himmel forderte: ein Zeichen der Unsterblichkeit und
Gottes. ... Gewiß und wahrhaftig, was sie belebte, war ein Geist
aus der Höhe, nicht ein Werk des Staubes, der anjetzt zerfällt;
der ihn erschaffen hat, ist Gott; ist .ein Gott, der die Menschen
liebt — denn wie liebte sie nicht die Menschen?" Dieser Geist
steht Jacobi jetzt „vor den Augen"160: „Freiheit ist der Name dieses
Geistes; herrschender, immer siegender Wille. Wo dieser ist, da ist
jede Tugend und die Klarheit Gottes161."
Daß Jacobi hier eine existentielle Erschütterung mit Mitteln aus
dem Fundus seiner literarischen162 und philosophischen Bildung
der menschlichen Natur (vgl. WIV A 160, G V12) mit einem Organ der Geist-
anschauung ausbilden, das 1785 (W IV A 73 Z. 10) und 1787 (W II 266 Z. 7)
als „Auge der Seele" bzw. Vernunftauge angesprochen wird. Jacobi modifiziert
den Bonnetschen Gedanken also so, daß er ein von der Sinnlichkeit unter-
schiedenes Rezeptionsorgan für die Offenbarung als quasi „anthropologische
Konstante" neu in Anschlag bringt. Offenbarung ist dann als von außerhalb
des Menschen geschehende Aktualisierung dieses höheren Wahrnehmungs-
vermögens zu denken: vgl. WIV A 260; C V12 und die Belege in der folgenden
Anm.
159
Z I 58f. (Hervorhebung von E. H.). Zur gleichen Zeit mit diesem Brief repro-
duziert Jacobi Herder gegenüber (W III 478) seine Offenbarungsanschauung
unter ausdrücklichem Rückgriff auf die Gedankengänge des Vorjahres (o. Anm.
148). — Noch ganz auf dieser Linie diskutiert Jacobi seine Offenbarungslehre
mit Hamann bis 1785 i G V 43ff., 50, 51 (dann in die 1. Aufl. des Spinozabüch-
leins übernommen: Originalausgabe S. 1651, 210f.; vgl. WIV A212f„ 248ff.).
160
AB I 367f.
161
AB I 370f. (18. 6. 84 an dieselbe Adresse).
162
Vgl. den Glauben an die Lebendigkeit Juliens am Schlüsse der Neuen Heloise
(6. Teil, 11. und 12. Brief).
Anfang 1785 von Jacobi um sein Urteil Ober die Kosmologie Spinozas gebeten1*7,
antwortete Hamann: „Ihnen meine Herzensmeinung Ober Spinozas Metaphysik
und seine incompetente und unbefugte Methode zu sagen, hab ich keine weitere
Mühe noth ig, und dürfte ich alles weiteren Suchens fiberhoben sein. Die Wahrheit
zu sagen sehe ich den Philosophen mit Mitleiden an, der erst von mir einen Beweis
fordert, daß er einen Körper hat, und daß es eine materielle Welt giebt168. Ueber
dergleichen Wahrheiten und Beweise seine Zeit und Scharfsinn zu verhehren, ist
ebenso traurig als lächerlich1"." Damit wiederholte Hamann für Jacobi lediglich
eine Überzeugung, die er schon in seinen „Sokratischen Denkwürdigkeiten" (1759)
folgendermaßen ausgedrückt hatte: „Unser eigen Daseyn und die Existenz aller
Dinge ausser uns muß geglaubt und kann aui keine andere Art ausgemacht wer-
den ... Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein
Satz kann so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden ...
Die Gründe eines Hume mögen noch so triftig und ihre.Wiederlegung immerhin
lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt und verliert der Glaube gleichviel bey
dem geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sachwalter. Der Glaube ist kein
Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angriff derselben unterliegen;
weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen170." Von
diesem Glauben als dem grundlosen Geltenlassen der Empfindung von Dasein be-
hauptet Hamann dann in den „Zweifeln und Einfallen über eine vermischte Nach-
richt der allgemeinen deutschen Bibliothek" (1776): er (dieser Glaube) gehöre über-
haupt „zu den natürlichen Bedingungen unserer Erkenntniskräfte und zu den
Grundtrieben unserer Seele"171.
Wenige Wochen nach Hamanns Antwort finden wir diese Ge-
danken in einem Briefe Jacobis an Mendelssohn (21. 4. 85): „Lieber
Mendelssohn, wir alle werden im Glauben geboren und müssen im
Glauben bleiben ... Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn
uns Gewißheit nicht zum Voraus schon bekannt ist; und wie kann
sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas, das wir mit Gewißheit
schon erkennen ? ... Die Überzeugung aus Gründen ist eine Gewiß-
heit aus der zweiten Hand . . , Wenn nun jedes Fürwahrhalten,
und die Freiheit, S. 211 f.) als seine „eigene" die nachträgliche Feststellung
einer vorher in anderen Zusammenhangen gewonnenen Überzeugung zu sein.
167
C V 29.
168
Ob Hamann dabei Spinozas Ethik (etwa Teil II Lehrsatz 19—31 in Beziehung
mit Teil II Lehrsatz 32 und Teil I Lehrsatz l und 2) im Sinne hat, ist fraglich,
da er erstens seine Äußerung als eine „a priori", also vor eingehenderer Prüfung
der vorgelegten Problematik getane charakterisiert (W IV C19 f.) und zweitens
noch nach dieser spontanen Äußerung bekennt, sich mit der Durcharbeitung
von Spinozas Ethik schwer zu tun (W IV C 37).
169
G V 48 (16.1.85).
170
J. G. Hamanns Hauptschriften erklärt, hg. v. F. Blanke und K. Gründer,
Bd. 2: Sokratische Denkwürdigkeiten, erklärt von F. Blanke, Gütersloh 1959,
S. 138—142.
*71 J. G. Hamann, Sämtliche Werke, hg. v. J. Nadler, Wien 1949ff., Bd. III S. 190
Z. 16ff.
Idee eines persönlichen Gottes mit seiner Vorsehung und die Idee
von Freiheit, Tugend und Unsterblichkeit — unbesiegbar sei, das
war das Zentrum des theoretischen Kampfes, den Jacobi seit seinem
Genfer Studium führte179; daß' sie unbesiegbar180 sei, darin besteht
das in der skizzierten Weise erreichte Resultat des Ringens181.
IV.
Im vierten und letzten Teil habe ich kurz das Verhältnis der
beiden von Jacobi seit 1785 positiv gelehrten Erkenntnisquellen
und Seinsbereiche zueinander zu erörtern. Dazu sind erstens die
"9 WIV A122 (1784); vgl. o. S. 15.
180 w IV A 230 (1785): „La nature confond les Pyrrhoniens, et la raison confond
les Dogmatistes. — Nous avons une impuissance a prouver, invincible a tout
le Dogmatisrae. Nous avons une ide& de la v..rit6, invincible ä tout le Pyrrhonisme"
(Pascalzitat mit Jacobis Hervorhebungen. Dasselbe Zitat als Motto der 2. Aufl.
des „David Hume": Will).
181
Die gründliche Analyse der Jacobischen Denkarbeit bis 1785 führt also zu dem
Urteil, daß Hegel ganz richtig gesehen hat, als er Jacobis Glaubenslehre für
eine Herübernahme aus Hamann ausgab (Werksausgabe hg. von E. Molden-
hauer und K. M, Michel, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 11 S. 302). Dafür sprechen
abgesehen von Jacobis Selbstzeugnis (G V 363, 396; vor allem 395: Hamann,
„den ich mehr als liebe, der mir eine Andacht einflößt und mein Herz zum Glau-
ben stimmt" [Hervorhebung von E. H.]) auch zwei weitere Details: a) Mendels-
sohns Bemerkungen (W IV A 115 Z. 18ff.) zu Jacobis Rekurs auf „Offenbarung"
(W IV A 75) und dessen noch wenig prägnante Rede von „Glauben" (W IV
A 72 Z. 6, 81 Z. 12, 90 Z. 5) bewegt sich ganz im Bedeutungsfeld von G 2 ebenso
wie auch noch Jacobis erste Reaktion (W IV A159). Die epistemologische
Vertiefung des Glaubensbegriffes taucht erst nach der geschilderten Diskussion
mit Hamann auf. b) Jacobi kannte Hume schon 1781 (AB I 341). Aber erst
nach dem Dialog mit Hamann vermochte Jacobi die Brisanz des epistemolo-
gischen Glaubensbegriffes dieses zuvor als „seicht" apostrophierten Philoso-
phen zu entdecken. — Natürlich impliziert die Tatsache, daß Jacobi von Ha-
mann zu einem entscheidenden Durchbruch befördert wurde und sich selbst
als mit ihm einig dachte, keineswegs, daß, er dies auch wirklich war. Vielmehr
besteht die fundamentale Diskrepanz zwischen den Positionen der beiden Freun-
de darin, daß Hamanns Glaubensbegriif die grundlose Anerkennung mensch-
licher Existenz gerade in ihrer Leiblichkeit, und d. h. in ihrer Angewiesenheit
auf und Bestimmtheit durch Natur und Geschichte denkt, Jacobi aber den
epistemologischen Glaubensbegriff zur Fundierung seines Dualismus und
Spiritualismus verwendete. Diese Differenz fand ihren handgreiflichen Ausdruck
in dem unterschiedlichen Verhältnis beider Freunde zum Christentum: Ha-
manns Insistieren auf der Positivität des Buchstabens (und d. h. der äußeren
Überlieferung insgesamt) trat — nach einer anfänglichen Selbsttäuschung
(vgl. z. B. AB I 343, W IV A 212) — schließlich Jacobis Kritik am positiven
Christentum (z. B. gegen Claudius WIII 270ff.) und sein Bekenntnis zur
„unsichtbaren Kirche" des Geistes (WIVALIIIf.) gegenüber.
1l Arch. Gesch. Philosophie Dd. 58
griffen werden konnte. Die Einsicht, daß jedes denkbare Wissen als
möglicher Gegenstand seiner selbst gedacht werden muß, sieht zu-
nächst die Möglichkeit eines vom empirischen bestimmt — nämlich
durch einen eigentümlichen Gegenstandsbereich — unterschiedenen
reflexiven Wissens ein. Zugleich kann eingesehen werden, daß
dieses Wissen sich als metaphysisches vom empirischen sowohl
durch seine Konstitution als auch durch die Form seines Gewußten
unterscheidet: 1. Überhaupt als Wissen kommen beide Erkenntnis-
weisen deshalb in Betracht, weil jeder aktuelle Fall von Reflexions-
wissen ebenso wie jeder aktuelle Fall von empirischem Wissen den
einheitlichen Inbegriff der Bedingungen jedes möglichen Wissens
erfüllt. Gleichwohl unterscheiden beide Weisen sich dadurch, daß
sie diesen Inbegriff jeweils in den von ihm selbst zugelassenen unter-
schiedlichen Weisen realisieren, als unausdrückliche Selbst- und
ausdrückliche Dingerfassung· einerseits (empirisches Wissen), als
unausdrückliche Ding- und ausdrückliche Selbsterfassung anderer-
seits (metaphysisches Wissen). 2. Erfaßt sich das Wissen — dazu
durch seine unmittelbare Erschlossenheit für sich selbst befähigt —
in einem aktuellen Vollzug der Reflexion tatsächlich selbst, d. h.
nicht wiederum als Ding sondern als Wissen, so wird es mit der
Wirklichkeit seiner selbst als Wissen zugleich der Bedingungen alles
Wißbaren inne. Nun zeichnen sich diese in der Reflexion erfaß-
baren Bedingungen des Wißbaren überhaupt durch das spezifische
Formmerkmal eines metaphysischen Sachverhaltes aus: nämlich
statt für bestimmte Sonder- oder Einzelfälle des Wißbaren viel-
mehr für alle möglichen Gegenstände von Wissen zu gelten. Müssen
also diese Bedingungen für Wissen bloß als solches als metaphysi-
sche Sachverhalte anerkannt werden, so sind sie im Rahmen des
Kantischen Kritizismus zugleich die einzigen, welche als solche
noch anerkannt werden können.
Daß Jacobis Satz, jede Wahrnehmung sei zugleich Begriff198,
tatsächlich nicht im Sinne der Kantischen Erfahrungstheorie von
der synthetischen Struktur anschauenden Wissens, sondern als
Reproduktion einer Überzeugung des französischen Sensualis-
mus199, dem eine solche Theorie fehlte, gedacht wurde, das schlägt
sich in einer fundamentalen Differenz in der Bedeutung der Aus-
drücke „vermittelt" und ,%,unmittelbar" bei Jacobi und den Kanti-
anern nieder:
198
1W
w ii 263 z. 181
S. o. S. 128f.
V.
Wie sich im Lichte des skizzierten Skopus der eigenen Philoso-
phie F. H. Jacobis auch die verschlungenen Pfade seiner späteren
Auseinandersetzungen mit Fichte und Schelling aufhellen, kann
hier nicht mehr im einzelnen dargestellt werden225. Die vorliegende
Untersuchung sei vielmehr mit den beiden folgenden Erwägungen
geschlossen:
1. Je intensiver man sich um den Sinn von Jacobis eigener
Philosophie bemüht, desto ungünstiger scheint das Ergebnis für
diese zu werden226. Insbesondere erscheint Jacobis Vorstellung
von der Möglichkeit der Selbsterkenntnis keineswegs so geartet,
daß sie die Möglichkeit einer echten Metaphysik begründen könnte:
Erstens ist nämlich die Jacobische Doktrin hinsichtlich ihrer eigenen
Konstitution als Theorie ganz ungeklärt. Auf die Bedingungen der
Möglichkeit des Zustandekommens seiner Erkenntnistheorie hat
Jacobi so wenig reflektiert wie Kant. Wollte man nun — um diese
Lücke auszufüllen — Jacobis Epistemologie auf sich selbst an-
223
Zu Bonnets Evolutionstheorie, welche naturwissenschaftliche Einsicht und
theologische (calvinistische) Tradition dadurch versöhnt, daß sie das decretum
Dei mit dem Gesetz der Evolution gleichsetzt, die sich durch die Stufen des in der
Welt Seienden hindurch bewegt, vgl. Isenberg a. a. O. — o. Anm. 11 — S. 11 ff.
224
Vgl. WIV A 241—244. 231 f.; G V 51; W IV 212ff.; W VI146; auch AB I 376.
22» Dazu vgl. neuerdings W. Müller-Lauter, Nihilismus als Konsequenz des Idea-
lismus, in: Denken im Schatten des Nihilismus, Festschrift für W. Weischedel
zum 70. Geb., hg. von A. Schwan, Darmstadt 1976, S. 113—163. Jacobis Polemik
richtet sich gegen jede Position, die ihm eine Gefährdung seines dualistischen
Realismus und dessen epistemologischer Voraussetzungen zu sein scheint:
Gegen Kants „subjektivistische" Erkenntnistheorie und gegen Fichtes Idealis-
mus als gegen Gefährdungen seines Realismus; gegen Kants Versuch, die Ver-
nunft zu Verstande zu bringen (s. o. Anm. 201) als gegen die erste — nämlich
epistemologische — Bedrohung seines Dualismus; und gegen Schelling als
gegen die zweite — nämlich materiale — Bedrohung dieses Dualismus durch
dessen Naturphilosophie, die Jacobi getreu seinen Voraussetzungen als „Mate-
rialismus" auffaßt. So bestätigt diese Doppelrichtung der Polemik des späten
Jacobi den Skopus seiner eigenen Philosophie, wie wir ihn zu erheben ver-
suchten.
226
Die unvoreingenommene und gründliche historische Einsicht macht es m. E.
unmöglich, Jacobi weiterhin als Vorläufer und Beiträger von bzw. zu theore-
tischen Problemlösungen mit aktueller Relevanz zu betrachten, wie Schmid,
BolLnow und Kammacher (s. o. Anm. 13) meinten.
wenden und für ihre eigene Konstitution eines der beiden in ihr
selbst behaupteten Erkenntnisvermögen in Betracht ziehen, so
kann sie in keinem Falle strikte Allgemeingültigkeit und damit
den Sinn einer Metaphysik der Erkenntnis gewinnen. Denn — hier
wirkt sich nun zweitens die materiale Aussage der Jacobischen
Lehre negativ aus — wie die äußeren Sinne kommt auch das innere
Auge des Geistes lediglich als Organ der Anschauung von Einzel-
sachverhalten in Betracht.
Daher ist auch die Theologie227 nicht gut beraten, wenn sie sich
zwecks Erfassung ihrer thematischen Selbständigkeit ins Gefolge
der Jacobischen Denkansätze begibt228.
2. Gleichzeitig aber offenbart die historiscKe Erhebung des
spezifischen Skopus des Jacobischen Philosophierens m. E. dessen
geistesgeschichtlichen Rang. Denn es stellt einen signifikanten Bei-
trag aus den Anfängen jenes Kampfes um eine Metaphysik der
Freiheit dar, der seine volle .Gewalt erst 100 Jahre nach dem Er-
scheinen der philosophischen Hauptschriften Jacobis entfaltete.
Und es ist durchaus fraglich, ob nicht der Jacobische Weg noch für
das zeitgenössische Bewußtsein eine plausible Verlockung dar-
stellt: nämlich den Glauben an die Existenz von sich selbst be-
stimmender Subjektivität die Stelle ihrer Theorie vertreten zu
lassen229.
227
Zur Wirkungsgeschichte Jacobis im Räume der röm.-kath. Theologie vgl. Ph.
Weindel, F. H, Jacobis Einwirkung auf die Glaubenswissenschaft der katholi-
schen Tübinger Schule, in: Aus Theologie und Philosophie, Festschrift für Fr.
Tülmann, hg. von Th. Steinbüchel und Th. Muncker, Düsseldorf I960, S. 673
bis 596. — Die Wirkung Jacobis auf die protestantische Theologie war eine
direkte und eine indirekte. Die direkte vollzog sich durch Schleiermacher. Sie
war ungefährlich, weil sie auf einer Interpretation der Philosophie Jacobis be-
ruhte, welche deren Schwächen beseitigte (vgfc dazu meine oben Anm. 145 ge-
nannte Arbeit S. 136ff.). Die zweite vollzog sich direkt über die Philosophie
J. F. Fries. Diese, vor allem durch R. Otto (Die Kantisch-Friessche Religions-
philosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, Tübingen 1909) zur Geltung
gekommene Einwirkung Jacobis trägt ihrerseits deutlich die soeben bezeichneten
Unklarheiten'und Schwächen an sich.
228
Daß und in welchem Sinne ich Metaphysik für eine Theologie, welche wie alle
Wirklichkeitswissenschaften praxisrelevante Theoriearbeit leisten will, für
unverzichtbar halte, habe ich in meinem Aufsatz „Metaphysik und Christen-
tumstheorie. Beobachten und Erwägungen zu Josiah Royces »religiöser Philoso-
phie' und Fundamentaltheologie" (Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 71 (1974) S.
410—455) dargelegt.
229
Ein nicht geringer Teil des philosophischen Interesses an Jacobi richtet sich
auf ihn als auf denjenigen Denker, welcher die neuzeitliche Nihilismusdebatte
eröffnet hat. Dabei erscheint Jacobi der historischen Betrachtung zunächst als