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Michele Cometa

(Università degli studi di Palermo)

Jüdisches Denken beim jungen Lukács

Eine Theorie der Avantgarde


Der vorliegende Beitrag steht in der kleinen Tradition der Benjamin- und
Lukács-Forschung, die die Wahlverwandtschaft zwischen dem jungen Lukács
und Benjamin hervorgehoben hat – eben jene Tradition, die vom bahnbrechen-
den Essay von Bernd Witte Benjamin, Lukács. Historical Notes on Their Poli-
tical and Aesthetic Theories (1975)1 ausgeht bis hin zu dem zehn Jahre später
erschienenen Aufsatz von Ferenc Fehér Lukács and Benjamin. Parallels and
Contrasts (1985).2 In ebenjener Zeit hatte ich anhand einiger unveröffentlichter
Schriften des jungen Lukács3 selbst zu zeigen versucht, dass die Wahlverwandt-
schaft der beiden Philosophen keine postume „erpresste Versöhnung“ war, son-
dern eine Tatsache. In der Tat war der junge Lukács als Schüler Georg Simmels
und Max Webers nicht ein Feind der Avantgarde, sondern ebenso wie Benjamin
einer ihrer wichtigsten und raffiniertesten Theoretiker. Im Grunde legt uns dies
schon Benjamin selbst nahe, wenn er in der ersten Fassung seines Aufsatzes
zum epischen Theater Brechts4 sowohl Lukács als auch Rosenzweig als seine
Vorläufer erkennt.
Auch wenn es aus heutiger Sicht überraschen mag, so wusste Benjamin,
dass Lukács und Rosenzweig gut zwei Jahrzehnte vor ihm zu einer Theorie des
untragischen Dramas beziehungsweise des epischen Theaters gelangt waren.
So hatte Lukács in der damals sehr renommierten Theaterzeitschrift Die Schau-
bühne5 einige wichtige, wenn auch in Vergessenheit geratene Aufsätze zum

1 Bernd Witte: Benjamin, Lukács. Historical Notes on Their Political and Aesthetic
Theories, in: The New German Critique 5 (1975), S. 3–26.
2 Ferenc Fehér: Lukács and Benjamin. Parallels and Contrasts, in: The New German
Critique 34 (1985), S. 125–138.
3 Georg Lukács: Scritti sul romance, hg. von Michele Cometa, mit einem Vorwort
von F. Masini, Bologna 1982 (Palermo, Aesthetica edizioni, 19952).
4 Walter Benjamin: Was ist das epische Theater (1)., in: Ders.: Gesammelte Schrif-
ten, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, Frankfurt/Main
1980, S. 523 f.
5 Georg Lukács: Das Problem des untragischen Dramas, in: Die Schaubühne 7
(1911), S. 231–234 und Ders.: Hauptmanns Weg, in: Die Schaubühne 7 (1911),
S. 253 ff.

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untragischen Drama veröffentlicht – also ebenjener Gattung, die Euripides mit


Calderón und Shakespeare, Strindberg und Shaw verbindet. Auch Rosenzweig
hatte diesem Genre einige Seiten seines epochalen Werks6 gewidmet. Beide
hoben hervor, dass die Grundstruktur des abendländischen Theaters maßgeb-
lich durch die messianische Idee, den guten Ausgang (Happy End), die Fabel
und das Moment der Erlösung geprägt ist.
Im soeben erwähnten Jahrzehnt der Lukács-Forschung kam auch der be-
rühmte Koffer zum Vorschein, den Lukács selbst vor seiner Rückkehr nach Bu-
dapest in einem Schließfach der Deutschen Bank in Heidelberg hinterlegt hatte.
Dort fand man weitere Manuskripte zum untragischen Drama beziehungsweise
zur „Ästhetik der Romance“, die in der Folge auf Ungarisch und dann auch auf
Italienisch erschienen sind.7 Es handelt sich dabei um Texte, die im Kontext
der nie zu Ende geschriebenen Fortsetzung der Theorie des Romans, des soge-
nannten Dostojewski-Buchs8 – Lukács’ messianisches Buch –, gelesen werden
müssen.
Diese „messianische“ Wende, die anhand der Schriften zum untragischen
Drama (Romance) und zu Dostojewski rekonstruiert werden kann, ist aber auch
das Ergebnis einer langen und intensiven Beschäftigung mit dem Werk von
Martin Buber oder, besser gesagt, sie resultiert aus der tiefen Freundschaft, wel-
che die beiden Intellektuellen verbindet. Wie Lukács’ Briefwechsel zeigt, hat
diese Freundschaft mindestens ein Jahrzehnt (1911–1921)9 angehalten und die
ästhetische, philosophische und nicht zuletzt auch politische Bildung Lukács’
maßgeblich beeinflusst. Bei Buber fand Lukács jene Mischung aus Mystik und
Messianismus, die für die Zeit, und insbesondere für ihn, so charakteristisch ist.
Dabei sollte natürlich nicht vergessen werden, dass zu jener Zeit, das heißt vor
der Shoah, die Utopie einer Synthese der christlichen und jüdischen Theolo-
gie keineswegs abwegig erschien, wenngleich sie bisweilen zu einem gewissen
Eklektizismus neigte. Man vertrat die Auffassung, dass dieser gewagte Syn-
kretismus zu einer Überwindung der europäischen beziehungsweise kapitalis-
tischen Zivilisation führen könne. Eine Idee, die aus dem Orient kam, wo eine
Versöhnung von Mystik und Messianismus, eines Aristokratizismus der Seele
und der Idee der Gemeinschaft vermeintlich möglich sei.

6 Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Frankfurt/Main 1930, S. 158 f.


7 Georg Lukács. Ifjukori müvek (1901–1918), hg. v. Arpád Timár, Magvetö, Buda-
pest, 1977, S. 784–806. Eine italienische Übersetzung findet man in den von mir
herausgegebenen theatertheoretischen Schriften von Lukács. S. Lukács: Scritti sul
romance [Anm. 3], S. 89–116. Eine deutsche Übersetzung befindet sich im An-
hang der Heidelberger Notizen (1910–1913), hg. von Béla Bacsó, Budapest 1997,
S. 203–227.
8 Georg Lukács: Dostojewski. Notizen und Entwürfe. Veröffentlichungen des
Lukács-Archivs aus dem Nachlaß von Georg Lukács, Budapest 1985.
9 Vgl. Lukács: Briefwechsel 1902–1917, hg. von Éva Karádi und Éva Fekete, Stutt-
gart 1982, S. 148 ff.

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Eine Wiederbesinnung
Die früheste Beschäftigung Lukács’ mit der Mystik und dem Messianismus
steht eindeutig im Zeichen Bubers. Er hatte die von Buber editierte Legende
des Baalschem und die Geschichten des Rabbi Nachman gelesen und rezipiert.
Eine weitaus wichtigere Lektüre stellten aber vor allem – wie für weitere Krei-
se der europäischen Intelligenz – die Ekstatischen Konfessionen10 dar. Verortet
werden müssen diese im Kontext der vom Jenaer Verleger Eugen Diederich
initiierten Renaissance der christlichen Mystik, so beispielsweise die Rezeption
Meister Eckharts, dank der modernen Übersetzungen von Büttner und Landau-
er (1903).11
Die Rezeption Eckharts stellte für Buber wie auch für Lukács die Mög-
lichkeit einer Wiedergeburt des metaphysischen Denkens dar, und – wie ich
andernorts gezeigt habe12 – auch die Chance zu einer neuen beziehungsweise
modernen Theorie des Dramas, wobei Begriffe wie Ekstase13 und Einheit im
Mittelpunkt standen, wie das folgende Zitat aus den Ekstatischen Konfessionen
belegt:
Die elementare Vorstellung darin [in der Mystik, M. C.] ist die einer – mehr oder
minder körperhaft gedachten – Vereinigung mit Gott. Ekstasis ist urpsrünglich:
Eingehen in den Gott, Enthusiasmos: Erfülltsein vom Gotte. Essen des Gottes, Ein-
atmen des göttlichen Feuerhauchs, Liebeseinung mit dem Gott […]. Neugezeugt-
werden, Wiedergeburt durch den Gott, Auffahrt der Seele zum Gotte, in den Gott,
sind Gestalten dieser Vorstellung. […] Nur in indischen Urworten […] wird das Ich
verkündigt, das eines mit dem All und die Einheit ist.14
Wenn die Mystik vor allem für die Theorie der Tragödie von großer Bedeutung
ist, so darf die poetologische Relevanz des Messianismus, betrachtet als ein
Ausweg aus der Zeit der „vollendeten Sündhaftigkeit“, wie wir ihn im Ent-
wurf für eine Ästhetik des untragischen Dramas beziehungsweise des epischen
Theaters (Romance) finden, nicht unterschätzt werden. Um zu dieser Synthese
zu gelangen, musste sich Lukács zunächst auf seine jüdische Identität und Re-
ligiosität überhaupt rückbesinnen. Seine Freundschaft mit Buber konnte dies

10 Martin Buber: Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von Martin Buber, Jena


1909.
11 Vgl. Meister Eckharts Schriften und Predigten. Aus dem Mittelhochdeutschen über-
setzt und herausgegeben von Hermann Büttner, Jena 1903, und: Meister Eckharts
mystische Schriften. In unsere Sprache übertragen von Gustav Landauer, Berlin
1903.
12 Vgl. Michele Cometa: Il demone della redenzione. Tragedia, mistica e cultura da
Hebbel a Lukács, Firenze 1999.
13 Bernát Alexander, ein Mentor Lukács, hatte sofort auf die Verwandtschaft von
Mystik und Tragödie verwiesen. Vgl. Lukács: Briefwechsel 1902–1917 [Anm. 9],
S. 247 ff.
14 Buber: Ekstatische Konfessionen [Anm. 10], S. XV f.

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freilich nur stimulieren. Dabei spielten aber auch Persönlichkeiten wie Richard
Beer-Hoffmann und Ernst Bloch eine Rolle.
Aber Lukács „Bekehrung“, seine Rückbesinnung auf seine jüdischen Wur-
zeln, war keineswegs einfach, wie die Notizen seines jüdischen Freunds Balázs
verdeutlichen:
Gyuris grosse neue Philosophie. Der Messianismus. Die homogene Welt als Ziel
der Erlösung […] Gyuri hat in sich selbst den Juden entdeckt! Die Suche nach
Ahnen. Die Chassidische Sekte. Baal Schem. Nun hat er seine Ahnen gefunden und
seine Rasse […] Gyuris Theorie über den kommenden, den wiedererscheinenden
jüdischen Typ, den anti-rationalistischen Skeptiker, jenem, der die Antithese dar-
stellt zu allem, was man gemeinhin als „Jüdisch“ bezeichnet.15
Doch warum spricht Balázs von einer „Entdeckung“ und inwiefern war Lukács
Jude? Sein Judentum war in der Tat weder evident noch selbstverständlich.
Noch 1971 sagt Lukács in seiner dialogischen Autobiografie Gelebtes Denken:
Die Familien aus der Leopoldstadt waren in religiösen Fragen vollkommen gleich-
gültig. Dementsprechend interessierte uns die Religion eigentlich nur insofern, als
sie ein Teil des häuslichen Protokolls war, als sie bei der Eheschließung und bei der
Abwicklung sonstiger Zeremonien eine Rolle spielte. Ich weiß nicht, ob ich schon
jene Anekdote erzählt habe, daß mein Vater am Anfang der zionistischen Bewegung
sagte, daß er bei Konstitution des jüdischen Staats Konsul in Budapest sein wolle.
Mit einem Wort, bei uns herrschte der jüdischen Religion gegenüber vollkommene
Gleichgültigkeit.16
Selbst seine Bekehrung zum Protestantismus vor dem Eintritt in das Budapester
evangelische Gymnasium – sein Pate war Richard Lessner, ein Freund Endre
Adys – erwähnt Lukács mit keinem einzigen Wort:
Interviewer: Wurde Ihre Entwicklung in der Höheren Schule auch nicht durch das
Problem des Judentums beeinflußt?
Lukács: Nein. Weder pro noch kontra.
Interviewer: Wirkte sich das Judentum auch in dem Sinn nicht auf Ihre Entwick-
lung aus, daß es Ihnen unabhängig von Ihrem Bewußtsein Schwierigkeiten machte
und…
Lukács: Am evangelischen Gymnasium war die Leopoldstadt die Aristokratie. Ich
spielte dort nie als Jude eine Rolle, sondern als Leopoldstädter Jüngling, der an

15 Béla Balázs: Notes from a Diary (1911–1912), in: The New Hungarian Quarterly
13 (1972), S. 123–128, hier S. 124, 126. Vgl. dazu Ferenc Féher: Das Bündnis von
Georg Lukács und Béla Balázs bis zur ungarischen Revolution 1918, in: Die Seele
und das Leben. Studien zum frühen Lukács, hg. v. Agnes Heller, Ferenc Fehér, Gy-
örgy Márkus u. Sándor Radnóti, Frankfurt/Main 1977, S. 131–176; Lee Congdon:
The Making of a Hungarian Revolutionary. The Unpublished Diary of Bela Balazs,
in: Journal of Contemporary History 8 (1973), S. 57–74.
16 Georg Lukács: Gelebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt/Main
1981, S. 39.

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dieser Schule als Aristokrat galt. Folglich tauchten die Fragen des Judentums nicht
auf. Daß ich Jude bin, wußte ich immer, doch hatte das niemals wesentlichen Ein-
fluß auf meine Entwicklung. […] Weil ich mich nicht als Jude gefühlt habe. Ich
nahm mein Judentum als eine Tatsache der Geburt hin, und damit war die Sache
erledigt.17
Lukács teilte also das Schicksal vieler seiner Zeitgenossen, d. h. eine innere
Zerrissenheit, die zu einem Stigma der mitteleuropäischen Intelligenz wurde.
Arpad Kadarkay, sein Biograf, schreibt treffend:
Lukács […] von jüdischer Herkunft, in einem katholischen Land geboren und zum
Protestantismus übergegangen […] verkörperte die echteste Alienation.18
Seine Bekehrung zum Protestantismus beziehungsweise zur ungarisch-evange-
lischen Kirche, war – wie oft bei ihm – reiner Opportunismus. Aber die Reak-
tion beziehungsweise die Irritation der eigenen jüdischen Herkunft erwies sich
gegenüber allem als Aufbegehren gegen den triumphierenden Kapitalismus der
Väter, gegen die Heuchelei der gutbürgerlichen, assimilierten, habsburgischen
Juden, aber auch gegen die provinziellen und konservativen Züge der neu as-
similierten, armen, ungarischen Juden (man denke nur daran, wie sehr Kafkas
Vater den „armen“ und „schmutzigen“ Jizchak Löwy verachtete!). „Die Juden
sind die Karikatur des Bürgertums […]“19, notierte der junge Lukács in Hei-
delberg. Die radikalen Söhne dieses Bürgertums, das seine Privilegien bezie-
hungsweise die Einstufung in die ungarische Aristokratie wortwörtlich erkauft
hat (wie die Familie Lukács), waren deshalb zum jüdischen Selbsthass und zur
Revolte gegen die Generation der Väter prädestiniert; mehr noch aber für einen
kulturellen und politischen Kosmopolitismus sowie ferner für ein utopisches
und revolutionäres Denken, wofür jedoch zu diesem Zeitpunkt noch die theore-
tischen Grundlagen fehlten.
„Mir ist nie passiert, daß die Wörter, gesprochen oder gesungen in der Sy-
nagoge, eine Bedeutung hatten […]“,20 schrieb Lukács in seinem Heidelber-
ger Curriculum Vitae. Dass die jüdische Tradition für ihn aber überhaupt keine
Rolle gespielt haben soll, ist jedoch schwer zu glauben, wenn man seine Her-
kunft und seinen Werdegang rekonstruiert. Sein Vater, József Löwinger, später
Lukács (1890), stammte aus einer jüdischen Familie aus Galizien. Seine Mutter
war eine Pollak, deren Bruder Zsigmond Pollak ein Talmudist der Synagoge
von Szeged war. Das Foto dieser Synagoge schmückte Lukács’ Schreibtisch als
Monitum gegen die Entseelung der assimilierten Juden21. Lukács’ Urgroßvater,
Jakob Löwinger, war ein Genosse von Louis Kossuth, einem Helden der jüdi-
schen Emanzipation in Ungarn. Auch seine Mutter, Adél Wertheimer, stammte

17 Ebd., S. 45.
18 Arpad Kadarkay: Georg Lukács. Vida, pensamiento y politica, Valencia 1994,
S. 21.
19 Ebd., S. 34.
20 Georg Lukács: Curriculum Vitae, hg. v. János Ambrus, Budapest 1982, S. 11.
21 Vgl. István Mészáros: Lukács’ Concept of Dialectics, London 1972.

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aus einer alten jüdischen Familie aus Osteuropa. So war Samson Wertheimer
im 18. Jahrhundert Landesrabbiner von Ungarn, seine Familie hatte mehrmals
die Habsburger finanziert. Lukács’ Mentor war Sándor Hevesi (eigentlich Illés
Handler), Bruder des Führers der jüdischen Gemeinschaft in Budapest, Rabbi-
ner und Herausgeber der ungarischen Jüdischen Zeitschrift. Es mag sein, dass
die strikte Observanz in diesem Umfeld vielleicht keine Rolle gespielt hat,
doch Lukács’ Bildungsjahre wurden durchaus von jüdischen Figuren geprägt.
Indirekt bezeugt dies ein Vergleich von Zügen seiner Persönlichkeit mit denen
seiner Zeitgenossen. Es ist kein Zufall, dass auch der junge Lukács – wie Kafka
zum Beispiel – Begriffe wie Schuld, Schuldgefühl, Sühne oder Gericht (als my-
thopoetische Projektion seiner Vaterfigur)22 verwendete. Charakteristisch ist
sein Schuldgefühl in Bezug auf den Selbstmord seiner Geliebten Irma Seidler
oder auch die Tatsache, dass er seine „innerweltliche Askese“ – im Sinne We-
bers – nur in der Erfüllung einer Form sah, also die Form als Antidot zur exzen-
trischen und daher „formlosen“ Geistigkeit der Juden. So führte zum Beispiel
Weiningers Selbsthass dazu, dass dieser sich umbrachte. Nach dem Tod seines
Freundes Leo Popper und von Irma Seidler dachte auch Lukács daran, sich das
Leben zu nehmen, er setzte seine Gedanken aber nie in die Tat um. Nicht aus
Heuchelei, wie er selbst später behauptet hat, sondern, weil er einen Ausweg
in der Wiederbesinnung auf seine jüdische Herkunft und in einer sehr fragwür-
digen Mischung aus christlicher Mystik und jüdischem Messianismus fand. In
dieser Hinsicht hat seine Freundschaft mit Buber keine geringe Rolle gespielt.

Die Geschichte einer Freundschaft


Lukács lernt Buber mit großer Wahrscheinlichkeit beim Privatissimum Sim-
mels im Jahre 1910 kennen. Auf seiner Suche nach einem Verlag für sein Pro-
jekt zum Ästhet wendet er sich an Buber, der Herausgeber der Reihe Die Ge-
sellschaft bei Rütten und Loening war. Obgleich das Projekt scheitert, finden
die zwei Freunde Gelegenheit, über Kierkegaard zu sprechen23, dem Lukács
seinen damals noch unveröffentlichten, aber später sehr berühmt gewordenen
Aufsatz Das Zerschellen der Form am Leben. Sören Kierkegaard und Regine
Olsen24 gewidmet hatte.
In einem Brief aus Florenz vom 20. April 1911 erfahren wir, dass Lukács
auch die von Buber herausgegebene Sammlung der Schriften Tschuang-Tses25
erhalten hat und ständig zum Thema Mystik zurückkehrt. In dieser Zeit ver-
sucht Lukács, zusammen mit seinem Freund Lajos Fülep, die Tradition der mit-

22 Georg Lukács: Napló-Tagebuch (1910–11) – Das Gericht (1913), hg. v. Lendvai L.


Ferenc, Budapest 1981, S. 59 ff.
23 Lukács: Briefwechsel 1902–1917 [Anm. 9], S. 204 ff.
24 Georg Lukács: Das Zerschellen der Form am Leben. Sören Kierkegaard und Regi-
ne Olsen, in: Ders.: Die Seele und die Formen, Berlin 1911, S. 61–90.
25 Lukács: Briefwechsel 1902–1917 [Anm. 9], S. 214.

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telalterlichen Mystik in der philosophische Debatte der Zeit wieder zu beleben,


was in die Gründung der ungarischen Zeitschrift A Szellem26 mündet. Aber
Lukács interessiert sich auch für die „Nacherzählungen“ Bubers:
Besonders Baalschem war unvergeßlich für mich! Es ist nur Schade, daß es so we-
nig ist; es ist doch kaum möglich, daß nur dies übriggeblieben ist. Gibt es irgendei-
ne (deutsche, französische oder englische) Ausgabe? Oder werden Sie sich, verehr-
ter Herr Doktor – doch einmal entschließen, eine größere Ausgabe zu machen? Ich
glaube, so, wie für die indischen Texte gibt es hier keine Möglichkeit eine komplet-
te Ausgabe zu machen? So viele, z. B. die ethische Wendung der Seelenwanderung
– würde man gerne in der ganzen Breite der Tradition kennen lernen!27
Buber antwortet mit einer gewissen Ausführlichkeit, die von einer langen Dis-
kussion mit Lukács zeugt:
Daß Ihnen meine Chassidica etwas gewesen sind, freut mich sehr. Hoffentlich be-
einträchtigt es Ihr Gefühl nicht, wenn ich Ihnen (ich muß es nun wohl) mitteile,
daß im Baalschem zumeist nur die innersten Motive „authentisch“ sind. Ich meine
natürlich nur die Erzählungen; die in der Einleitung zitierten Worte sind wortgetreu
übersetzt. Ähnlich steht es im Nachman mit den beiden letzten Gedichten. Darum
ist das mit einer Textsammlung, die Sie empfehlen, so eine Sache. Ein Bändchen
Sprüche, wie die in den Einleitungen, könnte ich wohl zusammenstellen, habe auch
schon daran gedacht; aber der Wust der erzählenden Texte gibt eben nichts anderes
her als Motive […]. „Die ganze Breite der Tradition“ des Chassidismus, von der
Sie sprechen, ist tot, wenn sie nicht aus der ganzen Enge eines Menschengehirns
erneuert wird.28
Lukács antwortet aus Florenz:
[E]s beeinflußt meinen Eindruck sicherlich nicht, daß die Baalschem-Legenden
nicht „authentisch“ sind, und ich verstehe vollkommen Ihren Standpunkt, nicht nur
als möglichen, sondern auch als notwendigen. […] Über die beiden Bände habe
ich eine kurze Anzeige in der ungarischen philosophischen Zeitschrift „Szellem“
[…] geschrieben. Der Redakteur dieser Zeitschrift, Herr Ludwig Fülep, ein feiner

26 Vgl. ebd., S. 160 ff. Das zweite Heft der Zeitschrift brachte eine Sammlung zu
Meister Eckhart heraus mit dem Titel Über ewige Geburt. Im ersten Heft erschien
eine Übersetzung Plotins. Vgl. dazu: Ebd., S. 179 ff. Diese italienische Phase der
Auseinandersetzung mit der Mystik ist übrigens sehr wichtig. Florenz war zu jener
Zeit Mittelpunkt der modernen philosophischen Mystik, auch dank der gemein-
samen Projekte von Lukács, Fülep und Buber selbst, der sich dort lange aufhielt.
Giovanni Papini und Giovanni Amendola waren Mitherausgeber der gleichnami-
gen italienischen Zeitschrift L’anima, in der auch die Metaphysik der Tragödie ver-
öffentlicht werden sollte. Fedor Stephun wollte Benedetto Croce für eine italieni-
sche Ausgabe der Zeitschrift Logos gewinnen. Vgl. dazu: Europa e Messia. Paure
e speranze del XX secolo in eredità, in: B@belonline/print 4 (2008), hg. v. Patrizia
Cipolletta.
27 Lukács: Briefwechsel 1902–1917 [Anm. 9], S. 258 (Brief aus Florenz vom Novem-
ber 1911).
28 Ebd., S. 260.

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Kenner der italienischen und spanischen Mystik, interessiert sich sehr für diese
Bücher.29
In der kleinen Anzeige, die Lukács in der Zeitschrift A Szellem unter dem Titel
Zsidó miszticizmus veröffentlicht, scheinen die zwei Wege der Mystik und des
Messianismus zu einer paradoxen Synthese zu gelangen:
Die chassidische Bewegung […] war eine stark primitive Mystik. Mit der deut-
schen Reformation und mit der spanischen gegenreformistischen Mystik stellt sie
die einzige wahre Bewegung dar, die man mit den anderen früheren Bewegungen
vergleichen kann. Ihre wichtigste Charakteristik ist die Tatsache, daß, trotz ihrer tie-
fen Religiosität, diese Mystik keine Beziehung zum Religiösen hat […]. Wir wuß-
ten schon, daß Plotin, Eckhart und Böhme die gleiche Weltanschauung vertreten,
und jetzt bei dem Baalschem und seinen Anhängern finden wir eine wunderschöne
Einstimmung mit allen früheren Mystikern.30
Ekstase und Einheit, Weisheit und Messianismus sind die Pole dieser Weltan-
schauung, die Lukács schrittweise entwickelt. Er oszilliert einerseits zwischen
dem Aristokratizismus der Gnade – in seinem Aufsatz zur Metaphysik der Tra-
gödie (1911)31 sowie in dem mystischen Dialog Von der Armut am Geiste32 –,
wobei auch die Figur des Zadik eine, wenn auch noch hintergründige, Rolle
spielt, und andererseits der Utopie einer neuen Gemeinschaft, welche die west-
liche Zivilisation überwinden soll. Er schwärmt, wie Rabbi Nachman, von einer
„höchst gotterfüllte[n] und höchst realistische[n] Anleitung zur Ekstase“33 und
von einer neuen Religiosität, die im Zeichen des mystischen Atheismus Dosto-
jewskis steht. Diese neue Synthese, die die westliche Zivilisation überwinden
konnte und sollte, skizziert er plakativ in einem Brief an den französischen
Germanisten Félix Bertaux:
Zum großen Glück für Deutschland wächst aber die Unzufriedenheit sowohl mit
der heutigen Desorientiertheit wie mit den unzulänglichen Versuchen ihrer Über-
windung von Tag zu Tag. Und das Bedeutsame an dieser Unzufriedenheit, an dieser
Sehnsucht nach wirklicher Gemeinschaft ist, daß ihr tiefster Gefühlaccent nicht
auf einer Erneuerung der Kunst liegt, sondern auf der Hoffnung auf ein Wiederer-
wachen der deutschen Philosophie und Religiosität. Denn hier, und nur hier, liegt
eine Möglichkeit für deutsche Kultur (und als ihre notwendige Folge: für deutsche
Kunst). Deutschland hat nie eine Kultur im Sinne von Frankreich oder von England
besessen, seine Kultur war, gerade in den besseren Zeiten, eine „unsichtbare Kir-

29 Ebd., S. 264 f.
30 Georg Lukács: Zsidó miszticizmus, in: Szellem 2 (1911), S. 256 ff.
31 Georg Lukács: Metaphysik der Tragödie, in: Ders.: Die Seele und die Formen, Ber-
lin 1911, S. 325–373. Vgl. zu Mystik und Tragödie in diesem Aufsatz Lukács’:
Cometa: Il demone della redenzione [Anm. 12], S. 65 ff.
32 Georg Lukács: Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief, in: Neue
Blätter 2 (1912), S. 67–92.
33 Die Geschichten des Rabbi Nachman, ihm nacherzählt von Martin Buber, Frank-
furt/Main 1906, S. 13.

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che“: die Weltanschauung schaffende und alles durchdringende Macht von Philo-
sophie und Religion.34
Diese kommende Gemeinschaft ist, wie bei Buber, zugleich das Ergebnis und
die Voraussetzung des Chassidismus. Es ist kein Zufall, dass in der von Ma-
rianne Weber verfassten Biografie Max Webers die Stimmung dieser kleinen
Patrouille von Apokalyptikern wie Lukács oder der Heidelberger Slawophilen
folgendermaßen dargestellt wird:
Vom Gegenpol der Weltanschauung kamen auch einige junge östliche Philoso-
phen […]. Diese jungen Philosophen bewegten eschatologische Hoffnungen auf
einen neuen Gesandten des überweltlichen Gottes, und sie sahen in einer durch
Brüderlichkeit gestifteten sozialistischen Gesellschaftsordnung die Vorbedingung
des Heils35.
Insofern verwundert es nicht, dass Lukács die Vorbedingung in der vom Chas-
sidismus beförderten Brüderlichkeit und Gemeinschaftssinn bei Dostojewski
sah, erblickte er in den beiden Elementen doch die Voraussetzungen für die
Überwindung des westlichen Individualismus und Nihilismus, wie Bernd Witte
erklärt:
Der Zaddik, der Gerechte und seine Anhängerschar, die Chassidim, die gegen Ende
des achtzehnten und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in Osteu-
ropa eine aus mystischen Quellen gespeiste Erneuerung der Religion herbeiführen,
werden für die jungen Intellektuellen, die einen Ausweg aus der Identitätskrise des
Judentums im aufgeklärten, emanzipierten Westen suchen, zum Vorbild für die von
ihnen ersehnte Gemeinschaft.36
Diese Wiederentdeckung des Messianismus und diese Nacherzählungen der jü-
dischen Mystik bedeuteten für Buber und Lukács zugleich eine ästhetische Um-
funktionierung alter mündlicher Überlieferungen, wobei der Dichter die Rolle
des Propheten übernehmen kann. Bernd Witte hat schon auf die „höchst subjek-
tive Selbstidentifikation Bubers mit dem ‚letzten jüdischen Mystiker‘“,37 mit
dem bereits erwähnten Nachman, hingewiesen. Gleiches gilt auch für Lukács
und später für Bloch. Chassidismus bedeutet aber auch Häresie und Revolte.38
So geht Lukács’ gesamtes Projekt zu Dostojewski von einer systematischen und
historisch dokumentierten Rekonstruktion des ketzerischen Denkens im Wes-
ten und im Osten aus. Es soll ein Beispiel für die sogenannte „zweite Ethik“
(die Ethik des Guten) sein, die mit der ersten Ethik des Staates, der Kirchen
und der „Gebilde“, d. h. der weltlichen Institutionen, konfrontiert wird. Deshalb
konnte Lukács auch schreiben, dass „der Chassidismus die Ethos gewordene

34 Lukács: Briefwechsel 1902–1917 [Anm. 9], S. 325 ff.


35 Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 474.
36 Bernd Witte: Jüdische Tradition und literarische Moderne. Heine, Buber, Kafka,
Benjamin, München 2007, S. 95.
37 Ebd., S. 116.
38 Ebd., S. 117.

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Kabbala“39 sei. In dieser Hinsicht ist auch die christliche Mystik Meister Eck-
harts eine zur Ketzerei bestimmte revolutionäre Ethik.
Diese revolutionäre Ethik, wie Lukács mehrmals in seinen Notizen zu Dos-
tojewski betont, ist eine Ethik der ganzen Gemeinschaft, eine Utopie für die
ganze Menschheit:
[: Alle Menschen I Tim II:] [: (Baalschem 23) :] Alles Vollkommen wenn der Mes-
sias kommen soll:] […] [:Der Mangel an Vollkommenheit in uns verzögert das
Kommen des Messias (Baalschem 32):] […] Christus hat alle Creatur in sich auf-
genommen – um alle Creatur zu erlösen (Stöckl (Eriugena) I 109) […] Messias.
Alles: weil sie nicht vollkommen ist, zögert das Kommen des Messias (Balschem
32).40
Die Legenden des Baalschem werden ausdrücklich zitiert. Die Rede vom Mes-
sias entspricht also der Idee einer gemeinschaftlichen Erlösung aus der Welt
der vollendeten Sündhaftigkeit. Diesbezüglich verweist Lukács in seinen An-
merkungen zu Dostojewski ständig auf die Notwendigkeit einer allgemeinen
Rettung der ganzen Menschheit: „Demokratisch. Wenn heute der Messias
kommt und sagt: Du bist besser als die anderen, dann sage ihm: Du bist nicht
Messias.“41

Der kommende Gott


In seinen Dostojewski-Notizen konnte Lukács nicht zu einer klaren Darlegung
seines Messianismus gelangen. Auch die Bearbeitung der mystischen und mes-
sianischen Tradition im Sinne Bubers vermochte er nicht zu Ende zu führen.
Sein Buch zu Dostojewski, das durchaus als Lukács’ messianisches Buch be-
trachtet werden darf, blieb ein Torso. Die vorgesehene Fortsetzung der Theorie
des Romans kam nicht zustande. Wohl aber konnte Lukács seine politischen
und gesellschaftlichen Utopien dramaturgisch umsetzen. Wie bei der Tragödie,
die für ihn eine aristokratische Metaphysik der Güte darstellte, fand er in der
Theorie des untragischen Dramas das ästhetische Korrelat zu seinem Messia-
nismus. In der Theorie der „Romance“ versucht er, seine Dostojewski-Lektüre
dramatisch umzusetzen; eine Interpretation, die in der Begeisterung für den
„mystischen Atheismus“ der Hauptfiguren des russischen Schriftstellers gip-
39 Die Geschichten des Rabbi Nachman [Anm. 33], S. 13. Vgl. dazu: Witte: Jüdische
Tradition und literarische Moderne [Anm. 36], S. 117 ff.
40 Lukács: Dostojewski [Anm. 8], S. 100 und S. 187 ff. (Hervorhebung im Original).
Vgl. auch: Martin Buber: Die Legende des Baalschem, Frankfurt/Main 1908, S. 23
und S. 32: „Kawanna ist ein Strahl der Gottesglorie, der in jedem Menschen wohnt
und die Erlösung meint. Dies aber ist die Erlösung, daß die Schechina aus der Ver-
bannung heimkehre. ‚Daß alle Schalen von der Gottesglorie weichen und sie sich
reinige und sich eine ihrem Eigner in vollkommener Einung.‘ Des zum Zeichen
erscheint der Messias und macht alle Wesen frei“.
41 Lukács: Dostojewski [Anm. 8], S. 189. Vgl. Buber: Die Legende des Baalschem
[Anm. 40], S. 34.

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Jüdisches Denken beim jungen Lukács

felte. Hauptvertreter dieser Tendenz des mystischen Atheismus ist die Figur
Ivan Karamazov. Der Gott Dostojewskis ist daher eine „leidende Gottheit“, die
selbst zum Sterben bestimmt ist:
Iwan (Der Teufel) Oh viel würdest du darum geben, wenn du wüßtest, wozu du
gehst! (1349). Ad Realität: Das letzte Schwanken des Iwan-Typus ist: zwischen
Sein und Nichtsein Gottes (sie sind Atheisten, die an Gott glauben/vielleicht ist
Kiriloff eine Ausnahme), darum als Konsequenz des Nichtsein Gottes: nicht neue
Moral, sondern: alles ist erlaubt (und müssen scheitern). Es müssen – andeutungs-
weise – der neue, schweigende, unserer Hilfe bedürftige Gott und seine Gläubigen
(Kaljajeff), die sich auch für Atheisten halten, geschildert werden […].42
Dabei ist es insbesondere die Betonung des „kommenden Gottes“, die das Tra-
gische ins Messianische umkippen lässt, in eine Philosophie der Offenbarung
und der Erlösung. Auf diesem Weg gelangt Lukács zu seiner persönlichen Syn-
these: Die Mystik der entgötterten Welt und der Messianismus des kommen-
den Gottes verbinden sich. Die Ethik der Tragödie avanciert zur Religiosität
des „neuen Reichs“. In dieser Hinsicht sind die Atheisten nichts anderes als
Propheten eben jenes neuen und noch unsichtbaren Gottes, der noch kommen
soll. Die Gattung der Tragödie und das untragische (epische) Drama können
koexistieren.
Lukács’ Schriften über das untragische Drama stellen die poetologische
Darlegung dieser messianischen Wende dar, wobei er einerseits an die west-
liche Tradition des untragischen Dramas von Euripides bis Shakespeare, von
Caldéron bis Shaw anknüpft, sowie anderseits die indische Tradition des Bha-
gavdagita aufgreift.
Diese Dramen stellen das notwendige Pendant zur Tragödie dar, die Lukács
selbst in seiner Metaphysik der Tragödie als eine der entgötterten Welt gemäße
Gattung betrachtet hatte. In seinem epochalen Essay zu Paul Ernsts Ariadne auf
Naxos begründet Lukács diese untragische Form ausführlich:
In der Periode seines Werdens, als er noch die Form der Tragödie suchte, schrieb
Paul Ernst, daß nur, wenn die Welt ganz gottlos geworden ist, eine Tragödie ent-
stehen könne, und traf mit diesem Ausspruch das Innerste der Metaphysik des Tra-
gischen. […] Er hat damit das Dasein dieser Zeit aus ihrem Mittelpunkt heraus
gestaltet: die Welt, wo, mit Nietzsches Wort, Gott gestorben ist, wo der Mensch,
in einer hohen und pathetischen Bedeutung, das Maß aller Dinge wurde. Wenn
es aber doch einen Gott gibt? Wenn nur der eine Gott gestorben ist, ein anderer,
aus jüngerem Geschlechte, von anderem Wesen und in anderen Beziehungen zu
uns jetzt im Werden ist? Wenn das Dunkel unserer Ziellosigkeit nur das Dunkel
der Nacht zwischen dem Sonnenuntergang eines Gottes und der Morgenröte eines
anderen ist? […] Steckt nicht […] in unserer Verlassenheit ein Wehgeschrei und ein
Sehnsuchtsruf nach dem kommenden Gott?43

42 Lukács: Dostojewski [Anm. 8], S. 62.


43 Paul Ernst, Georg Lukács: Dokumente einer Freundschaft. In Verbindung mit dem
deutschen Literaturarchiv Marbach hg. v. Karl August Kutzbach, Sonderband von

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Michele Cometa

Lukács entwickelt seine Theorie zu diesem neuen (epischen) Erlösungs- und


Gnadendrama in den Kriegsjahren, getragen von der Idee einer neuen Religio-
sität, die das Kommen des Messias vorbereiten sollte:
Es ist das religiöse Drama einer Zeit ohne Religion, in der auch das Sein an sich
mit in das Werden von allem gezogen wird, in der das Absolute, der Gott nicht nur
Objekt, sondern auch Subjekt der Sehnsucht ist. Die Gnadendramen früherer Zeiten
hatten stets Götter des Seins, hier wird das Nichtsein Gottes, seine Ferne von uns
zur Gestalt.44
Lukács’ Messianismus blieb jedoch in dem berühmten Koffer auf der Deut-
schen Bank begraben und mit ihm die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der
Menschheit aus dem Geiste des Dramas.

„Der Wille zur Form“, Emsdetten, S. 56. Zuerst in: Paul Ernst zu seinem 50. Ge-
burtstag, hg. v. Werner Mahrholz, München 1916, S. 11–28
44 Ernst, Lukács: Dokumente einer Freundschaft [Anm. 43], S. 61.

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