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Georg Lukács,

Karl Mannheim
und der
Sonntagskreis

Herausgegeben von Eva Karadi und Erzsebet Vezer

Übersetzung aus dem Ungarischen von Albrecht Friedrich

Sendler Verlag Frankfurt am Main 1985

Digitale Version: Gábor Varró Budapest 2011


INHALT

EVA KARADI: EINLEITUNG.................................................5

BEKENNTNISSE, ERINNERUNGEN, TAGEBÜCHER

ERVIN SINKÓ: VOR DEM RICHTER....................................................


GYÖRGY KÁLDOR: ÜBER BÜCHER...................................................
KARL MANNHEIM: HEIDELBERGER BRIEFE..................................
ERINNERUNGEN: von Charles de Tolnay, Béla Balázs, Anna Lesznai,
Georg Lukács, Arnold Hauser, Antal Molnár, Edit Gyömrői....................
BÉLA BALÁZS: TAGEBUCH (1915 – 1922) ........................................
ANNA LESZNAI: TAGEBUCH (1912-1927)..........................................

VORTRÄGE, AUFSÄTZE, BESPRECHUNGEN

LAJOS FÜLEP: DIE WERTE DES LEBENS..........................................


KARL MANNHEIM: GEORG SIMMEL ALS PHILOSOPH.................
GEORG LUKACS: BÉLA BALÁZS, TÖDLICHE JUGEND.................
VORLESUNGEN AUS DEM BEREICH DER GEISTES-
WISSENSCHAFTEN................................................................................
JULIA LÁNG: KARL MANNHEIM, SEELE UND KULTUR..............
ADALBERT FOGARASI: UMRISSE EINER THEORIE DER
INTERPRETATION..................................................................................
ARNOLD HAUSER: VORLESUNGEN ÜBER ÄSTHETIK..................
GEORG LUKÁCS: NOTIZEN ZUM GEPLANTEN DOSTOJEWSKI -
BUCH.........................................................................................................
KARL MANNHEIM: D I E G R U N D P R O B L E M E D E R
K U L T U R P H I L O S O P H I E ..................................................................
BÉLA BALÁZS: ÜBER LYRISCHE SENSIBILITÄT............................

3
LAJOS FÜLEP: KUNST UND WELTANSCHAUUNG.........................
GEORG LUKÁCS: DISKUSSIONSBEITRAG ÜBER
KONSERVATIVEN UND PROGRESSIVEN IDEALISMUS................
KARL MANNHEIM: ERNST BLOCH: GEIST DER UTOPIE..............
GYÖRGY KÁLDOR: ZIVILISATION UND KULTUR..........................
ADALBERT FOGARASI: VON DER ZUKUNF T DER
GEIS TES WIS S ENS C HAF TEN ........................................................
BÉLA BALÁZS: ZUR DOSTOJEWSKI-JAHRFEIER............................
LADISLAUS RADVÁNYI: CHILIASMUS UND
BOLSCHEWISMUS...............................................................................
LAJOS FÜLEP: GEISTESGESCHICHTE................................................
FRIEDRICH ANTAL: PICASSOS WEG............................................
BÉLA BALÁZS: CHARLIE CHAPLIN, DER REVOLUTIONÄR. .
ADALBERT FOGARASI: DIE WELTANSCHAUUNG DER
SOZIALREVOLUTIONÄRE....................................................................
KARL MANNHEIM: ÜBER GESCHICHTE UND
KLASSENBEWUSSTSEIN......................................................................
GYÖRGY KÁLDOR: IDEOLOGIE UND UTOPIE................................
LAJOS FÜLEP: WISSENSSOZIOLOGIE................................................

BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN..................................

4
EVA KARADI: EINLEITUNG
LUKÁCS, MANNHEIM UND DER SONNTAGSKREIS

Die Namen von Georg Lukács und Karl Mannheim sind gut bekannt,
ihre Hauptwerke, Geschichte und Klassenbewußtsein, Ideologie und
Utopie spielten eine wichtige Rolle in der weltanschaulichen
Entwicklung zahlreicher Intellektuellengenerationen. Weniger bekannt
ist aber, daß diese zwei wirkungsmächtigen Denker ursprünglich in
Budapest in den zehner Jahren Repräsentanten der gleichen
intellektuellen Gruppierung - des Sonntagskreises - gewesen sind.
Wer gehörte noch zu diesem Kreis? Wer ist von seinen Mitgliedern
noch bekannt geworden? Welche gemeinsame Weltanschauung
verband diese jungen Philosophen und Kunstwissenschaftler? In
welcher Form sind sie vor die Öffentlichkeit getreten? Was für
theoretische Leistungen entstanden in diesem geistigen Milieu? Wie
haben sie auf die großen historischen Schicksalswenden der Zeit, auf
Weltkrieg und Revolution reagiert? Welche Auswirkungen hatte dies
auf ihre weitere persönliche und theoretische Entwicklung? Wieweit
sind Lukács’ und Mannheims denkerische Produktionen vom
gemeinsamen Ansatzpunkt her interpretierbar?
Auf diese Fragen suchen wir eine Antwort mit einer Auswahl aus
diesem wegen der sprachlichen Schranken meist unbekannten Kapitel
der europäischen Kulturgeschichte. 1 Was findet man in diesem Band?
Bekenntnisse einer Intellektuellengeneration über die Wandlungen
ihrer letzten Positionen. Erinnerungen und Tagebücher, die die
Atmosphäre dieses kleinen Kreises fühlbar machen und zeigen, was
diese Gemeinschaft für ihre Teilnehmer bedeutete. Kleine Schriften,
Vorträge und Besprechungen, die das gemeinsame Gruppenbewußtsein,
die weltanschaulichen Voraussetzungen und das Verhältnis zu anderen
1
Über den Sonntagskreis sind in deutscher Sprache eigentlich nur folgende Arbei ten erschienen:
David Kettler, Marxism us und K ultur. Mannheim und Lukács in den ungarischen
R evolutionen 1918/19, Neuwied 1967. Arnold Hauser: „Der Budapester ,Sonntagskreis"` in:
Arnold Hauser, Im Gespräch m it G eorg Lukács, München 1978, S. 48-81. Und unlängst auf
der Grundlage unseres ungarischen Bandes über den Sonntagskreis: Peter Por: „Lukács und sein
Sonntagskreis: ein unbekanntes Kapitel aus der Geschichte des europäischen Denkens", in: Zeit -
schrif t für L iteraturw is senschaf t und Linguist ik 53/54 (1984), S. 108- 146.

5
zeitgenössischen Strömungen dokumentieren. Solche kleinen Schriften
eignen sich auch dazu, die Wandlung der ursprünglichen Werte, die
schrittweisen Umwertungen im Zusammenhang mit den
Zeitereignissen bis hin zu den oben er wähnten Hauptwerken zu
verfolgen. Um den geistigen Kontext, den Hintergrund und
Wirkungsbereich der größeren Arbeiten zu zeig endig in
deutscher Sprache schon erschienen sind, 2 wurden in unseren
Band auch Texte aufgenommen, die sich im weiteren Sinn mit
den Vorlesungen an der Freien Schule des Kreises verbinden las -
sen, wie Lukács ’ Dostojewski-Notizen und Mannheims
kulturphilosophische Vorlesungen von 1919. Wir denken, daß
diese Schriften auch heute inspirierende Gedanken enthalten.
Was war eigentlich dieser Sonntagskreis? Mit den Augen des
Heidelberger Professors Eberhard Gothein bei seinem Besuch in
Budapest im Frühling 1918: „Die Hauptsache war dann der
Abend in Lukács ’ eigenem Kreise, seiner jungungarischen
Akademie." Es wird eine ganz eigenartige, bezaubernde,
geistreiche Zusammenkunft beschrieben, mit einem kleinen
Zusatz Bohéme. „Sonntag abends finden sie sich in einem
Privathause bei dem Dichter des Kreises, Balázs, zusammen. Um
8 Uhr bricht alles auf, um in einem benachbarten bescheidenen
Gasthaus Abendessen einzunehmen, um dann wieder alle an den
gleichen Platz zurückzukehren." Diskutieren sei ein
Lebenselement der jungen ungarischen Welt, „es sind Idealisten,
als solche vielleicht etwas zu bewußt". „Lukács weiß seine
Ansichten ebenso liebenswürdig wie dialektisch und mit
ständiger Berufung auf seine Autorität durchzuführen." „Der
Ton ist ebenso lebhaft wie gehalten, auch die Frauen,
Künstlerinnen, Schriftstellerinnen durchaus ohne Affektation
und ohne starre weibliche Dogmatik, die Unterhaltung bald
gemeinsam, bald in Gruppen, so wie man es sich wünscht."

2
Georg Lukács, H eidelberger P hilosophie der Kunst (1912- 1914); H eidelberger
Ä sthetik (1916- 1918). Aus dem Nachlaß herausgegeben von György Markus und Frank
Benseler, Neuwied 1974-75. D ie Theorie des R om ans (1916), Neuwied 1963. Taktik und
E thik. P olitische A ufsätze: 1918- 1920. Hrsg. J. Kammler und F. Benseler, Neuwied 1975.
Karl Mannheim: „Seele und Kultur" (1918), „Strukturanalyse der Erkenntnis theorie" (1922),
„Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation" (1922), „Georg Lukács, Die Theorie des
Romans" (1920), in: Karl Mannheim, Wissenssoz iolog ie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. K.H.
Wolff, Neuwied 1964.

6
„Eine hoffnungsreiche Generation" - summiert Gothein seine
Eindrücke.“ 3
Die Fakten kann man kurz zusammenfassen: Der
Sonntagskreis war eine informelle Gruppierung eines
Freundeskreises um Lukács und seinen geistigen Verbündeten,
den Dichter Béla Balázs. Sie kamen ab Herbst 1915 - als Lukács
aus Heidelberg zum Militärdienst nach Ungarn zurückberufen
wurde und ein Jahr lang in Budapest bei der Briefzensur
arbeitete - jeden Sonntag, meist von 5 Uhr nachmittags bis 5 Uhr
früh, regelmäßig zusammen und diskutierten.

Wer waren die Teilnehmer dieser Zusammenkünfte, Mitglieder


dieses Kreises'? Diesbezüglich bekommen wir aus den
Erinnerungen keine vollkommen übereinstimmenden Auskünfte.

Mehrere Namen werden erwähnt, manche werden zu den


Mitgliedern gezählt, manche nicht. 4 Bei einem Vergleich der 59
Vgl. Balázs Tagebuch und Fülep „Assisi", Előszó, Nachlaß Fülep (MTAK-K).
verschiedenen Dokumente sind wir zu der Folgerung
gekommen, daß Mitglieder und Teilnehmer unterschieden werden
sollten: zu den Mitgliedern werden nur die gezählt, die sich selbst
mit dieser Gruppe identifiziert haben, von einem gewissen Wir-
Bewußtsein erfüllt waren und die gemeinsame weltanschauliche
Richtung teilten. Demzufolge sähe die innere Struktur des Kreises
folgendermaßen aus: Zentrale Gestalten waren Lukács als mehr
intellektueller und Balázs als mehr persönlicher Bezugspunkt.
Durch ihre eigenständige geistige Gestalt wurden auch Fülep und
Mannheim zu dominanten Figuren an den Sonnta gen (obwohl
Fülep recht spät eingeladen wurde). Neben ihnen ge hörten noch
Anna Lesznai, Fogarasi, Antal und Hauser zu den
Gründungsmitgliedern und Hauptfiguren. 5 Die jüngere
Mitgliedergeneration setzte sich vor allem aus Hörern der von den
Sonntäglern organisierten Freien Schule der
3
Eberhard Gothein an Marie-Luise Gothein, am 3., 5., 7. März 1918, in: Nachlaß Gothein,
Universitätsbibliothek
4
Heidelberg. Handschriftensammlung.
5
Dementsprechend sind die Angaben in der Fachliteratur auch uneinheitlich.
Emma Ritoók gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern, hat sich aber durch ih re konservative
politische Haltung vom Sonntagskreis entfernt. Edith Hajós und Anna Schlamadinger, die erste und
die zweite Frau von Balázs, waren ständige Teilnehmerinnen der Zusammenkünfte, haben aber
keine aktive Rolle innegehabt. Edit Gyömrői und Antal Molnár, obwohl keine dominanten
Mitglieder des Kreises, sind wegen der Relevanz ihrer Erinnerungen in unseren Band aufgenom -
men.

7
Geisteswissenschaften (1917/ 1918) zusammen, so Káldor,
Tolnay, Radványi, Gergely. In der Revolutionszeit ist Sinkó
Mitglied des Kreises geworden.
Unter den Peilnehmern der Diskussionen finden wir Namen
wie die des später berühmt gewordenen Wirtschaftshistorikers
Karl Polányi und seines Bruders, des Chemikers und
Wissenschaftsphilosophen Michael Polányi, der Psychologen
Géza Révész und René Spitz, unter den Vortragenden der Freien
Schule die Musiker Zoltáu Kodály und Béla Bartók und den
einflußreichen Marxisten und Syndikalisten Ervin Szabó. Wir
betrachten diese und auch andere in den Erinnerungen und
Tagebüchern erwähnten Leute wie Lorsy, Varjas, Varga, Révai
usw. als durch Generationsgemeinschaft und persönliche
Sympathien in die Nähe des Kreises geführte Freunde und
Verbündete, nicht aber als Mitglieder.
Eine andere strittige Frage ist, wie lange der Sonntagskreis exi -
stierte. Lukács betrachtete die Geschichte des Kreises mit seinem
Eintritt in die Kommunistische Partei als beendet. Das ist in dein
Sinne berechtigt, daß der Kreis in seiner Entwicklung keine Rolle
mehr spielte. Für die anderen Mitglieder war er aber weiterhin
wichtig. Edit Gyömrői berichtet z.B. von Sonntagen aus der Zeit
der ungarischen Kommune, Balázs beschreibt Sonntage in der
Wiener
Emigrationszeit: „Unsere sonntägliche Akademie ist wieder zu-
sammen. Es scheint, daß wir doch ein starkes Gewebe des Geistes
sind, weil sogar die Stürme der Geschichte` unsere Gesellschaft
nicht zerstreuen konnten. Sie haben sie vielmehr nur ausgeworfen
und wie ein Netz über Mitteleuropas Antlitz ausgebreitet. Von
Berlin bis München, von Prag bis Wien ausgespannt, ist die junge
ungarische philosophische Schule doch zusammengeblieben.“ 6
Solange also diese Zusammenkünfte noch stattgefunden haben,
spätestens bis Balázs' Übersiedlung nach Berlin 1926, betrachten
wir den Sonntagskreis als existent. Sein gedankliches
Weiterwirken, die Wirkungen und Reaktionen der Mitglieder
aufeinander (wie die von Anna Lesznai aufgezeichnete Debatte
zwischen Lukács und Mannheim über den Kommunismus 1927,
Mannheims Reflexionen zu Lukács' Buch 1929, die Aufnahme der

6
Balázs Béla: „Napló", in: TŰZ 1922.okt.29. S. 5.

8
Mannheimschen Schriften seitens ehemaliger Sonntägler
1930/1932) gehören aber auch zur Ideengeschichte des
Sonntagskreises und damit in den Rahmen unseres Buches.
Die Diskussionsthemen können wir den Tagebüchern entneh -
men, die Bedeutung dieser Gemeinschaft für die einzelnen
Mitglieder aus den Erinnerungen und Bekenntnissen. Lukács fand
die Beurteilung der Bedeutung dieses Kreises nachträglich über -
trieben. 7 Balázs läßt andererseits fühlen, was es für die anderen
bedeutete, in der Nähe so eines großen Menschen zu leben: „Bei
allen unseren theoretischen Zweifeln gibt Gyuris Anwesenheit
eine solche Sicherheit, wie die des Herrn Lehrers den kleinen
Jungen. Zuletzt kann man ihn fragen, wie es nun wirklich ist." 8
Mannheim, den Balázs als einen außerordentlich fähigen Philo -
sophen und ganz besonderen Menschen beschreibt, mit
strahlender Ehrlichkeit und glühendem Wahrheitshunger, aber
auch mit gewisser Zurückhaltung, Zweifeln und Kraftlosigkeit, 9
hat damals und später direkt und indirekt die Wichtigkeit des
Sonntagskreises für sich betont. Er schrieb im November 1916 an
Lukács darüber, welche Wohltat die Sonntagnachmittage bei
Balázs für ihn seien.10 „Mannheim sagte mir hier vor einigen
Jahren,“ - schrieb Fülep 1942 einem anderen Teilnehmer der
ehemaligen Sonntage - „daß er nie und nirgends das Äquivalent
dessen finden konnte, was die ,Sonntage` waren.“ 11 Indirekt ist
das emotionale Erlebnis auch hinter Mannheims
Generationenstudie und seiner Beschreibung der geistigen Kreise
Heidelbergs in den Heidelberger Briefen fühlbar, wenn er über
gemeinsame Attitüde, Denk- und Anschauungsweise, über
Affinität der Einstellungen, Themen, Fragen, 'Terminologie und
Worte spricht. 12 In seinem bekannten Vortrag Seele und Kultur
weist er auf die einheitliche Richtung ihrer in Entwicklung und
Lebensführung verwandten Generation hin. 13
7
Vgl. Georg Lukács, G elebtes Denken. Eine Autobiographie im Dialog. Hrsg. Istán
Eörsi,
8
Frankfurt/M. 1981, S. 258.
9
Balázs: „Tagebuch", in diesem Band, S. 117.
10
Ebd.. S. 108, 116, 119.
Mannheim an Lukács 19.11.1916, in: Georg Lukács, B riefw echsel 1902-1917, Hrsg. Eva
Karádi
11
und Eva Fekete, Stuttgart 1982, S. 386.
Fülep an Imre Kner 6.7.1942, in: A vasárnapi kör. D okum entum ok. Szerk. Karádi Éva és
Vezér
12
Erzsébet, Budapest 1980, S. 147.
„Das Problem der Generationen", in: Wissenssoz iolog ie, S. 509-566. „Heidelberger Briefe"
in
13
diesem Band.
"Seele und Kultur" in: Wissens sozio logie, S. 67.

9
Fogarasi war nicht so sehr durch freundschaftliche
Beziehungen, als durch eine verwandte philosophische Bildung
und Orientierung dem Lukács-Kreis verbunden. Er war angeblich
der einzige, der sich der Autorität Lukács' nicht unterwarf, er
stand ihm - trotz aller Anerkennung - mit einer gewissen
maliziösen Kritik gegenüber. Sein Buch über konservativen und
progressiven Idealismus hat er „den Sonntagnachmittagen"
gewidmet, und hier äußert er sich folgendermaßen: „Die
Gedanken, die ich auszudrücken versuchte, sind Konsequenzen
eines systematischen philosophischen und kulturellen
Standpunktes, in dem einige von uns sich getroffen haben und den
wir in gemeinsamer Arbeit zu propagieren versuchten.“ 14
Anna Lesznai hat den zeremoniellen, quasi-religiösen Ton
der sonntäglichen Zusammenkünfte hervorgehoben, durch den die
Gruppe am ehesten einer religiösen Gemeinschaft ähnelte. 15 Hau-
ser betonte die Möglichkeit, in diesem Kreis den Provinzialismus
zu überwinden und europäisches Niveau zu erreichen. „Wir
gruppierten uns damals nicht nur darum um Lukács, weil wir
dessen bewußt waren - was heute jeder weiß -, daß er der einzige
in Ungarn war, der Europa im besten Sinne vertrat und von dem
wir das meiste lernen konnten, sondern auch, weil er um sich so
eine Atmosphäre schuf, ohne deren geistige Intensität wir,
nachdem wir sie kennen gelernt hatten, nicht mehr leben und
arbeiten konnten.“ 16 Ähnliches wurde in einem Antal-Brief in
Zusammenhang mit „Georg Lukács' altem Kreis" ausgedrückt, der
„wirklich eine Gedankenwelteinheit bedeutete; Einheit nicht im
luftleeren Sinne, sondern so, daß unsere Gedankenwelt mit der
Entwicklungslinie der gegenwärtigen Welt Europas wirklich
zusammenfällt.“ 17

14
15
A vasárnapi kör, , S. 258.
16
Vgl. David Kettler, Marxism us und K ultur, S. 19.
17
Marianne Gáchs Interview mit Arnold Hauser, in: N agyvilág, 1971, S. 272.
Friedrich Antal an Oszkár Jászi 22.6.1922, in: A vasárnapi kör, S. 144.

10
DIE UNGARISCHE GEISTESWISSENSCHAFTLICHE
SCHULE

Wieweit der Sonntagskreis eine einheitliche Gedankenwelt


verkörperte und mit welcher Entwicklungslinie der
zeitgenössischen europäischen Geisteswelt diese zusammenfiel,
das ist mit seinem öffentlichen Auftreten, mit der Freien Schule
der Geisteswissenschaften, manifestiert. Diese war eine Art
moderne „Gegen-Universität", wo die Vortragenden ihre
Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Kulturphilosophie mit
der Werkstattwärme des Denkens weitergeben konnten. 18 In ihrem
vermutlich von Fülep formulierten Programm wurde ihre
Richtung dem „überholten Positivismus und Materialismus" bzw.
dem „relativistischen Impressionismus“ gegenübergestellt. 19
„Heutzutage, da die Menschen nach außen hin und oberfläch lich
leben, da Schriftsteller und Künstler frivole Sensationshascherei
treiben und alles zum Tageswert erniedrigen, suchen wir das und
wenden uns jenem zu, was in der Seele der Menschen das Beste und
Tiefste ist ... Wir sind einfach auf der Suche nach einer höheren
geistigen Weltanschauung und einem höheren Leben“ - so stand es
schon im Programm der von Fülep und Lukács herausgegebenen
philosophischen Zeitschrift A Szellem.20 Die Attitüde des geistigen
Menschen, die Distanz zum gewöhnlichen Leben, die Gegenüber -
stellung von Zivilisation und Kultur (deren für den ganzen Sonn-
tagskreis typische Ausprägung wir in Füleps Werte des Lebens und
18
19
Vgl. Balázs' Erinnerungen in diesem Band.
Die Vorlesungen haben im März 1917 mit folgendem Programm begonnen: Ba lázs Dramaturgie;
Fogarasi, Die Theorie des philosophischen Denkens; Fülep, Das nationale Element in der
ungarischen Kunst; Hauser, Probleme der nachkantischen Ästhetik; Lukács, Ethik; Mannheim,
Erkenntnistheoretische und logische Probleme; Ritoók, Probleme der ästhetischen Wirkung;
Seminare: Antal, Cézanne und die Malerei nach Cézanne; Kodály, Über das ungarische Volkslied.
Das zweite Semester hat im Februar 1918 mit Mannheims Programmvorlesung „Seele und Kultur"
begonnen. Folgende Vorlesungen wurden ausgeschrieben: Balázs, Lyrische Sensibilität; Varjas,
Phänomenologische Untersuchungen; Mannheim, Strukturanalyse erkenntnistheoretischer Systeme;
Lukács, Ästhetik; Fogarasi, Methoden der Geistesgeschichte; Hauser, Der künstlerische Dilettantis -
mus; Antal, Entstehung der Komposition und Inhalt der modernen Malerei; Er vin Szabó, Über die
letzten Fragen des Marxismus; Kodály, Über das ungarische Volkslied; Bartók, Volksmusik und
moderne
20 Musik.
Diese Zeitschrift ist 1911 mit zwei Nummern erschienen, ihre Mitarbeiter waren. neben Fülep
und Lukács Béla Zalai, Sándor Hevesi und von den späteren Mitglie dern des Sonntagskreises Béla
Balázs, Emma Ritoók, Karl Mannheim (mit einer Hegel-Übersetzung: „Wer denkt abstrakt?").

11
Káldors Zivilisation und Kultur finden können) führten zu einer
Weltablehnung, einem Rückzug in die Innerlichkeit, zu einer Neigung
für mystische Tendenzen.
Da aber die Mystik „nicht das tägliche Brot der Seele" (Káldor) und
die Fähigkeit zur mystischen Ekstase nicht allen gegeben ist
(Mannheim), war für sie als Überwindung des Kulturrelativismus auch
der Weg der neukantianischen Geltungsphilosophie gangbar. Auf
dieser Grundlage konnte sich der ästhetische und ethische Nor-
mativismus von Lukács und Fülep mit dem logischen Idealismus der
als Zalai-Schüler in den Sonntagskreis gelangten jüngeren Phi-
losophen (Fogarasi, Mannheim, Hauser) treffen. 21 Gemeinsam war
ihnen die Bestrebung, die Wahrheit bzw. die ästhetischen und
ethischen Normen vom empirischen, psychischen Prozeß ihrer Er-
kennung und Anerkennung zu trennen und als unabhängige, unbedingt
geltende Werte zu setzen.
Mit dieser Bestrebung und der darin ausgedrückten antipsycho-
logischen Einstellung knüpfte die junge ungarische philosophische
Schule an der Entwicklungslinie der deutschen Kulturphilosophie, der
auch in Mannheims Programmvorlesung erwähnten Logos-Bewegung,
an. Der Antipsychologismus richtete sich in diesem breiteren
Zusammenhang gegen den „Imperialismus“ der naturwissen-
schaftlichen Methoden und war dazu berufen, die Autonomie der
Geisteswissenschaften zu verteidigen. „Eine der wichtigsten Errun-
genschaften der neuen Philosophie ist der Bruch mit dem methodi-
schen Monismus“, heißt es auch bei Lukács. 22 Der methodologische
Pluralismus, die Grundtendenz der ungarischen geisteswissen-
schaftlichen Schule, beruhte auf der Überzeugung, daß die Vielfalt der
einzelnen selbständigen Kultursphären in keinerlei Einheit auf -
gelöst werden dürfe. Das war eine entschiedene Ablehnung jedes
Versuches, „der das geistige Leben aus etwas anderem als ihm
selbst erklären will“. 2 3 Fogarasi betont z.B. in seiner Interpreta-
tionstheorie, daß ein geistiges Sinngebilde (ein Kunstwerk, ein
philosophisches System usw.) nicht Ausdruck der Seele des
Schaffenden, aber auch nicht seines sozialen Milieus, sondern
eine von ihnen trennbare, in sich interpretierbare objektive
Bedeutung ist. Dieselbe Tendenz ist in Lukács' Heidelberger
21
Über den früh verstorbenen Philosophen und seine Wirkung siehe: Béla Zalai, Allgemeine
Theorie
22
der Systeme, Hrsg. Béla Bacsó, Archivumi Füzetek II., Budapest, 1982.
Lukács: Beitrag zur Diskussion der Nationalitätenfrage (1919) (ung.) ín: A vasárnapi kör, S.
271.
23
Fogarasi: „Kritik des historischen Materialismus", ín diesem Band, S. 149.

12
Ästhetik erkennbar: das ist eine Ästhetik, die nicht von der
Psychologie des Schaffenden und auch nicht von der Soziologie
der Wirkung ausgeht, sondern das Werk als solches in den
Mittelpunkt stellt.
Hier werden in zwei Richtungen Schranken errichtet: gegen
jede Art von Reduktionismus, die Zurückführungsversuche der
einzelnen Kulturgebiete auf andere Sphären (Psychologismus,
Soziologismus, historischer Materialismus), andererseits aber
auch gegen den „Panlogismus", „Begriffsrealismus" des
Hegelschen absoluten Idealismus: „Wir halten es für wichtiger,
die Kulturobjektivationen in ihrer Gesondertheit zu erkennen, als
das Weltbild mit Hilfe einfacher Gedankenschemas zu eigener
Beruhigung übereilt in einer Einheit abzuschließen.“ 24
Diesen Pluralismus wollten sie aber in die Richtung eines
pluralistischen Systems weiterführen, wie das in Lukács' und
Mannheims Simmel-Kritik zum Ausdruck kommt. Sie fragten
nach dem Zusammenhang und der Hierarchie der einzelnen
unabhängigen Sphären. Ihr methodischer Pluralismus wurde
gewissermaßen auch ontologisiert, in dem Sinne, daß die uns
umgebende Wirklichkeit aus mehreren voneinander wesenhaft
unterschiedlichen Gegebenheiten besteht. 25 Fogarasi hat das
folgenderweise formuliert: „Neben der, Wirklichkeit` des
sinnlichen und seelischen Seins besteht eine besondere Welt und
ist durch unseren Geist erfaßbar: die Welt der Be deutungen, der
logischen, ethischen und ästhetischen objektiven
Zusammenhänge.“ 26 Ihr methodischer Pluralismus hat sie in die
Nähe der idealistischen Tradition geführt.

Wie tief diese „Kantianer, Laskianer, Rickertianer" doch das Di -


lemma der modernen Philosophie zwischen der Substanzlosigkeit
der „wissenschaftlichen Philosophie" und der Unformulierbarkeit
der letzten Fragen erlebt und zu Ende gedacht haben, dafür ist
Mannheims Besprechung von Blochs Geist der Utopie das beste
Beispiel. Dasselbe Dilemma tritt in dem Zwiespalt von Lukács'
24
Mannheim: „Seele und Kultur", in: Wissenssoziologie, S. 68.
25
Vgl. Hauser: „Vorlesungen über Ästhetik" in diesem Band.
26
Vorwort zur ungarischen Ausgabe des Buches von Bertrand Russell Über die
Grundprobleme der Philosophie (1918), S. 5.

13
Heidelberger Ästhetik und seiner Theorie des Romans zutage.
Den Formalismus des Neukantianismus versuchte die ungarische
geisteswissenschaftliche Schule mit der historischen Konkretheit
und inhaltlichen Fülle der Geistesgeschichte zu kompensieren.
„Hier stehen zwei extreme Typen der Geistigkeit einander gegen -
über" - sagt Mannheim in seinem Simmel-Aufsatz. Diese werden
auch in Füleps Geistesgeschichte-Beitrag gegenübergestellt. Im
ersten Fall gibt es ein absolutes Ideal und eine Norm, aber der
gesamte historische Prozeß wird neben ihnen unwesentlich, zu
einem blassen Schattenbild und zur Illustration, worin das
Konkrete, Spezifische und Individuelle keinen Sinn und Wert hat.
Die zweite Möglichkeit, die des Historismus, eröffnet uns den
unendlichen Reichtum des Geistes und des Lebens, dadurch lernt
man den spezifischen, durch nichts anderes zu ersetzenden Wert
der Erscheinungen kennen, der sich gerade in ihrem
individuellen, einmaligen, konkreten Charakter verbirgt.
Dieser Reichtum des Geistes ist im Sonntagskreis und an der
Freien Schule der Geisteswissenschaften vor allem anhand der
einzelnen Kunstgattungen und ihrer geistesgeschichtlichen
Analyse (wie Lukács' Dramen- und Romantheorie, Balázs'
Dramaturgie und Poetik, Füleps Vorlesungen über das nationale
und universale Element in der Geschichte der Architektur,
Bildhauerei und Malerei usw.) untersucht worden.
Hier war die Frage der Geschichtlichkeit unumgänglich und
wurde zunächst folgendermaßen formuliert: „Wie kann die Idee
ewig sein und doch eine Geschichte haben? Wie kann die
künstlerische Form ewig und doch einer Entwicklung unterworfen
sein? ... Schließen sich diese zwei einander ganz und gar
entgegengesetzten Prinzipien Ewigkeit und Zeit nicht
vollkommen aus? 27
Die Geschichtlichkeit wird in die Fülepsche Kunstphilosophie
durch den konstitutiven Begriff der Weltanschauung eingeführt.
Seine These über den Zusammenhang von Kunst und
Weltanschauung wird in der Polemik gegen das L'art-pour-l'art-
Prinzip des Impressionismus herausgearbeitet. Gleichzeitig
verteidigt er aber auch die Autonomie der Kunst gegenüber den
27
Fülep: „Ewige Reformation" (ung.). lm 1. Band der dreibändigen Auswahl aus seinen
Schriften, Hrsg. Arpád Tímár, Budapest 1971, S, 581.

14
relativistischen Folgen eines extremen Historismus - in
Übereinstimmung mit dem methodologischen Pluralismus des
ganzen Kreises. „Die Kunst als Verwirklichtes ist eine in sich
geschlossene - selbständige - Welt, doch ist ihr historisches
Zustandekommen nicht willkürlich und unabhängig von allein
anderen: als Verwirklichtes ist sie sehr wohl in sich geschlossen,
als Werdendes nie für sich allein.“ 28
Fülep nimmt gegen die Dekorativität und den Naturalismus des
L'art pour l’art Stellung und versucht mit historischen Beispielen
zu begründen, daß der Bezug zu einer Weltanschauung für jede
große Kunst konstitutiv sei. Andererseits stellt er auch fest, daß
der „Ausdruck" der Weltanschauung allein nicht ausreicht, um
Kunst entstehen zu lassen. Seine Konklusion ist, es gäbe zwar
keine Kunst ohne Inhalt, also ohne Weltanschauung, doch müsse
die Weltanschauung völlig zur Kunst, zur künstlerischen Form
werden.
Die gleichzeitige Durchsetzung der Prinzipien der Gültigkeit
und der Geschichtlichkeit zeigte sich am fruchtbarsten im Bereich
der Kunstgeschichte. Innerhalb des Sonntagskreises wurde dies
vor allem von Fülep geleistet, von anderen Kunsthistorikern (wie
Tolnay, Antal, Hauser, Wilde) weitergeführt und - mit der
Richtung der Wiener Kunsthistorischen Schule sich berührend -
dieser Ansatz in die westeuropäische Kunstwissenschaft
eingebracht. 2 929
Nicht weniger befruchtend war die Verbindung der
neukantianischen und geistesgeschichtlichen Tendenzen im
Bereich der geisteswissenschaftlichen Methodologie, in der
Hermeneutik. Fogarasis Interpretationstheorie versucht die
tatsächlichen Methoden der einzelnen historischen
Kulturwissenschaften (Philosophiegeschichte, Literaturgeschichte,
Kunstgeschichte usw.) von der Zalaischen Strukturanalyse her zu
systematisieren. Seine Arbeit wurde später hinsichtlich der
Unterscheidung des intentionellen, objektiven und transzendenten
28
Fülep: „Kunst und Weltanschauung", ín diesem Band, S. 238.
29
?
Tolnay äußerte sich darüber so, daß er, als er aus dem Sonntagskreis 1918 nach Wien zu Dvořak
gegangen ist, das Gefühl gehabt hatte, von Fülep und Lukács ei - was gelernt zu haben, was
Dvořaks Lehre nur ergänzen, nicht aber ersetzen konn te. Ein philosophischer Standpunkt, den er als
Kunsthistoriker nötig hatte: die Kunst wollte er von innen her, mit Hilfe der Intuition verstehen,
nicht aber von außen her, wie die Soziologie oder Psychologie. - Ein Fernsehinterview mit Tol nay,
Budapest 1978, ín: A vasárnapi kör, S. 49.

15
Sinnes - wenn auch mit veränderter Terminologie - von
Mannheim weitgehend fortgeführt. 30
Die Grundprinzipien dieser Interpretationstheorie erweisen sich
auch heute noch den psychologisierenden und soziologisierenden
Simplifizierungen in der Kulturgeschichte gewachsen. Zu den
letzteren haben später auch Lukács und Mannheim beigetragen,
weshalb sie von ihren alten Freunden (wie Fülep und Káldor) vom
alten gemeinsamen Standpunkt aus kritisiert wurden.
Das Problem, die logische, ethische und ästhetische Geltung
der Normen aufrechtzuerhalten und gleichzeitig das Prinzip der
Geschichtlichkeit anzuerkennen, ohne dabei dem Reduktionismus
des historischen Materialismus zu verfallen, löste die ungarische
Geisteswissenschaftliche Schule mit Hilfe der Hegelschen
Terminologie: mit der Unterscheidung zwischen den Sphären des
objektiven und des absoluten Geistes. Die Bedenken gegenüber
dem Marxismus wurden auch in diesem theoretischen Sinne
formuliert: Die marxistische Soziologie habe die Tendenz, alles
Überzeitlich-Unbedingte (wie Religion, Kunst, Philosophie) ins
Zeitlich-Bedingte (wie soziale Klassen, Ökonomie) aufzulösen. 31
Die Differenzierung der Kategorie des objektiven und des
absoluten Geistes (die in unserer Auswahl in Fogarasis Kritik des
historischer Materialismus, in Káldors Zivilisation und Kultur,
aber auch in Lukács' Dostojewski-Notizen eine wichtige Rolle
spielt) wird in einem Diskussionsbeitrag von Lukács im Januar
1919 folgenderweise erklärt: „Unter den ersten Begriff' gehören:
Rechtsordnung, Staat, Wirtschaft usw., unter den zweiten:
Wissenschaft, Kunst und Religion.“ 32 Und er fügt hinzu: „Hegel
hat die ethische Setzung der rechtlichen untergeordnet, nach der
hier nicht zu begründenden Meinung des Verfassers dieser Zeilen
gehört sie nicht in den Bereich der Setzungen des ,Geistes', steht
also beiden Gruppen heterogen gegenüber.“

30
Mannheim weist auf Fogarasis Interpretationstheorie ín seinen Kulturphilosophie-Vorlesungen
ín diesem Band hin, aber auch ín seinen „Beiträgen zur Theorie der
Weltanschauungsinterpretation", ín: Wissenssoziologie, S. 151, sich auf Fogarasis - ín
Deutschland benützten - Decknamen A. Fried berufend.
31
Lukács: „Georg Simmel" ín: Pester Lloyd, 2. Okt. 1918. S. 2 f.
32
Anm. 22, S. 272.

16
Die Ethik nahm in der Gedankenwelt, der Welt- und
Lebensauffassung des Sonntagskreises eine zentrale Rolle ein.
Das ist auch hinter der Analyse von Kunstfragen bemerkbar. Nach
Lukács' eigener Aussage richtete sich sein Interesse vor allem auf
die „Axiologie und Geschichtsphilosophie der Werke.“ 33 Die
Existenzberechtigung der Kunst fanden sie darin, daß sie eine
tiefere und echtere Wirklichkeit zeigt als die an der Oberfläche
des Lebens sichtbaren Tatsachen und die Wahrheiten der
Wissenschaft. 34 Lukács' geplantes Dostojewski-Buch sollte eine
Ethik in Spinozas Sinne sein 35 , die die Idee der
Seelenwirklichkeit theoretisch begründet und daraus ei ne
Geschichtsphilosophie und Metaphysik entfaltet.
Die Grundthese der Ethik Lukács' - inspiriert von
Kierkegaard und Dostojewski - war die Substantialität der Seele.
„Wir müssen immer wieder betonen, daß das einzig Essentielle
doch nur wir sind, unsere Seele ... Die reelle Macht der Gebilde
kann freilich nicht geleugnet werden . . . Ja, der Staat ist eine
Macht - muß er aber deshalb als Seiendes, im utopischen Sinn der
Philosophie: im essentiell handelnden Sinn der wahren Ethik -
anerkannt werden'? Ich glaube nicht." - summiert er in einem
seiner Briefe die Konzeption, die wir in diesem Band in den
Dostojewski-Notizen ausgeführt finden. 36
Lukács erklärte diese Attitüde für eine Reaktion auf das
Kriegserlebnis, Lind so wurde dieses dostojewskische Welt- und
Lebensgefühl, dieser Spiritualismus des Sonntagskreises wurde
von den jüngeren Mitgliedern auch in einem radikal
antimilitaristischen Sinne aufgefaßt: „Bibel-Ady-Dostojewski-
Kierkegaard-Claudel: In allen ihren Wirkungen ist etwas von der
revolutionären Haltung des absoluten Individualismus gegen den
sinnlosen, rasenden Kollektivismus des Krieges.“ 37
Die Sonntägler wendeten sich aber mit ihrer die Macht der Ge -
bilde, der Institutionen ignorierenden Haltung nicht nur der Inner -
lichkeit, der zum Kosmos erweiterten Seele` zu, wie dies in
Balázs' Und l Lesznais Dichtung geschah und von Lukács und
33
Lukács' Vorwort zu seinem Band „Béla Balázs und die ihn nicht mögen" (ung.) (1918). In der
ungarischen Ausgabe der Jugendschriften, Ifjúkori Művek, Hrsg. Árpád Tímár, Budapest 1977, S.
709
34
35
Balázs: „Zur Dostojewski-Jaltrfeier" ín diesem Band.
Vgl. Ernst Bloch, „Zur Rettung von Georg Lukács", ín: Die weissen Blätter, 1919, S.
529.
36
37
Lukács an Paul Ernst, 14.4.1915, ín: Briefwechsel, S. 349. 3 7
Káldor: „Über Bücher", ín diesem Band, S. 68.

17
Fülep gewürdigt wurde 38 sondern haben, der Dostojewskischen
Weisung folgend, auch die von Seele zu Seele führenden Wege
gesucht. „Das Sichselbstabfinden der Seele ist das Finden der
Anderen" - heißt es in den Dostojewski-Notizen. Dostojewskis
große Tat sahen sie nicht nur darin, daß er neben den bestehenden
Wirklichkeiten mit der Seelenwirklichkeit eine echtere
Wirklichkeit entdeckte, sondern daß seine Romane das
Durchbrechen der die Seelen verschließenden Grenzen
bewirkten. 39 „Dostojewskis Christentum ist nicht der Weg des
Menschen zu Christus, sondern der Weg des einsamen Menschen
- durch Christus, den einzigen Weg - zum anderen einsamen
Menschen.“ 40
Dieses Heimfinden der Seele im unmittelbaren Verhältnis
zur anderen ist als Alternative des sozialen Verhältnisses
aufgefaßt, als
Befreiung von den untergeordneten, zum objektiven Geist
gehören-
den Determinanten des Menschen: „Auf dem Niveau der Seelen -
wirklichkeit lösen sich alle jene Bindungen von der Seele, die sie
sonst mit ihrer gesellschaftlichen Lage, ihrer Klasse,
Abstammung usw. verknüpften, und an ihre Stelle treten neue,
konkrete, Seele mit Seele verbindende Beziehungen.“ 41
Das Neue dieser Ethik versucht Lukács in den Notizen zum
Dostoiewski-Buch mit der Unterscheidung der „ersten" und
„zweiten" Ethik zu beleuchten. Die „erste" kann als das
Verhältnis des isolier ten, einsamen Individuums zu den
abstrakten Normen im Sinne der Kantschen Pflichtethik aufgefaßt
werden, die „zweite" als das Durchbrechen dieser Einsamkeit, das
Auftauen der individuellen Seele in der Solidarität mit den
Leidenden, im Sinne der Dostojewskischen Ethik der Güte.
Diese Gegenüberstellung der zwei - auch als Werkethik und
Liebesethik unterschiedenen - Ethiken wird in eine geistesge -
schichtliche Typologie eingesetzt und als Gegensatz der
europäischen und russischen Idee entfaltet. Das finden wir neben
Lukács auch bei Fülep in Anknüpfung an seine Zivilisationskritik:
38
Lukács: "Trisztán hajóján" (1916), ín: Ifjúkori Múvek, S. 643-665, 751 bis 759;„Anna
Lesznais neue Gedichte", in: Pester Lloyd, 29.11.1918; Fülep: „Lesznai Anna lírája" (1923). lm 3.
Band der Auswahl aus seinen Schriften, S. 192- 204.
39
40
Lukács: "Trisztán hajóján", in: Ifjúkori Müvek, S. 649.
41
Sinkó: „Egzisztencia és látszat", in: Korunk, 1926, S. 185.
Lukács: „Béla Balázs, Tödliche Jugend", in diesem Band, S. 156.
„Das Europa der Papierkultur und technischen Kultur liest seit
Jahrzehnten erschüttert und mit der Sehnsucht einer Neugeburt, was
die russischen Dichter über die Seele des russischen Volkes sagen,
darüber, wie dieses Volk das Evangelium wiedererlebt und lebendig
macht. Dostojewski, der größte Dichter und tiefste Kenner des
russischen Volkes, verkündet, daß das geistig und moralisch völlig
verderbte Europa vom russischen Muschik erlöst wird, diesem neuen
erwählten Volk Gottes.“ 42
Mit der Historisierung des Konfliktes zwischen dem Individuum
und der Welt, zwischen Innerem und Äußerem wird der „negative
Kosmos" der Gegenwart (Fülep) als Übergangsstadium dargestellt, als
„gottverlassene Welt" vor dem „kommenden Licht" (Lukács), als
Eingekeiltsein der rationalistisch-individualistischen Episode der
bürgerlichen, westeuropäischen Kultur zwischen die vergangenen und
kommenden großen Kulturen. 43
In der spiritualistischen Ablehnung der Einrichtungen, der Ob-
jektivationen, in den kulturphilosophischen Korrelationsbegriffen
Natur und Kultur, Zivilisation und Kultur, Seele und Kultur
(Mannheim) sind die Umrisse einer antiliberalen Entfremdungstheorie
erkennbar. Die Frage war nur, ob diese Entfremdung als eine Tragödie
der Kultur (Simmel) aufzufassen sei, oder als eine ge-
schichtsphilosophisch notwendige Übergangsphase, nach der eine
Erlösung folgen müsse - und ob „das kommende Licht" von Osten,
von „der russischen Idee" zu erwarten sei.

DIE HERAUSFORDERUNG DER POLITIK

Als ein Mitglied des Sonntagskreises im November 1918 die Freunde


nach langer Zeit wieder besuchte, war sie überrascht davon, was sie
dort vorfand. Sie hatte nie geglaubt, daß diese Leute je über die
Theorie hinausgehen würden: „Die Philosophengesellschaft, in der ich
so gutgläubig von Platons Staat bis zur bolschewistischen
Staatstheorie, über Fragen der revolutionären Ethik, der Mystik
Dostojewskis und des Mittelalters, über Wert und Berechtigung der
Geisteswissenschaften, über die Philosophie Bergsons und Simmels,
Windelbands und der deutschen Romantiker diskutiert hatte, ... diese

42
Fülep: „Arni hiányzik a magyar irodalomból" (1918). Im 2. Band der Auswahl aus seinen
Schriften, S. 169- 170.
43
Vgl. Lukács: „Balázs Béla, Hét mese", in: lfjukori Müvek, S. 710 - 724.
Gesellschaft stand jetzt plötzlich als aktive revolutionäre
politisierende Gesellschaft vor mir.“ 44
In den Erinnerungen wird mehrmals betont, wie wenig der
Sonntagskreis als eine „präbolschewistische Gruppierung“ betrach tet
werden darf, wie wenig seine Mitglieder sich für Politik interes sierten.
Sie hielten Politik nicht für ihre eigene Lebensaufgabe, nur durch
Situationszwang konnten sie zur politischen Stellungnahme veranlaßt
werden.
Anfang März 1918 gab es eine Diskussion in der Sozialwissen-
schaftlichen Gesellschaft, wo die Geisteswissenschaftler vom Ver-
hältnis ihrer Philosophie zur progressiven Politik Rechenschaft geben
sollten. Fogarasi hielt den einleitenden Vortrag Konservativer und
progressiver Idealismus, darin versuchte er, die progressive Politik
von der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, mit der sie bisher
verbunden war, zu trennen und mit dem ethischen Idealismus zu
verknüpfen. In der Diskussion, wo von der Seite der radikalen und
sozialistischen Politiker auch Oszkár Jászi und Ervin Szabó
teilgenommen haben, hat Lukács ebenfalls in dem Sinne argumentiert,
daß die Setzung der Transzendenz keineswegs paralysierend auf das
progressive Handeln wirken müsste. Sie kann auch erzwin gen, daß wir
uns die transzendente Wirklichkeit als Aufgabe stellen, die wir jetzt,
gleich in diesem Augenblick, verwirklichen, Gottes Reich auf die Erde
holen müssen. Georg Lukács vertrat hier, in seinem in unseren Band
aufgenommenen Diskussionsbeitrag, die Position, daß die Politik eine
heteronome, der Ethik unterzuordnende Sphäre sei, daß sie nur ein
Mittel sein dürfe und ihre Ziele von der Weltanschauung bekommen
solle. 45

Im Zeichen einer Weltanschauungspolitik und eines progressiven


Idealismus haben sich die radikalen Sozialwissenschaftler und die
Geisteswissenschaftler einigen können und die Fusion ihrer Freien
Schulen beschlossen. Diese Annäherung bildete die Grundlage dafür,
daß die Mitglieder des Sonntagskreises 1918 die Károlyi Revolution
aktiv unterstützten.
Lukács' Eintritt in die Kommunistische Partei hat aber sogar
seine nächsten Freunde überrascht, seine Bekehrung fand angeblich

44
Emma Ritoók, Erinnerungen, Privatbesitz.
45
Vgl. Lukács: „Diskussionsbeitrag über konservativen und progressiven Idealis mus" in diesem
Band.
zwischen zwei Sonntagen statt: „Saulus wurde Paulus.“ 46 Die anderen
konnten ihm darin nicht ohne Bedenken folgen. Mannheim gehörte
z.B. zu den Zweifelnden, er war der Ansicht, daß das Zweifeln nicht
nur das Recht, sondern sogar die Pflicht des Intellektuellen sei, er habe
kein Anrecht auf das billige Glück des blinden Glaubens.47
Als aber Ende März_ 1919 Lukács zum Volkskommissar für
Unterrichtswesen in der Ungarischen Räterepublik wurde und den
ganzen Stab des Kultusministeriums durch neue Leute ersetzen
wollte, haben seine Freunde aus dem Sonntagskreis verschiedene
Posten neben ihm in der kulturpolitischen Leitung angenommen.
Sie verstanden die Wende keineswegs so, als mühten sie jetzt ein
neues politisches Regime bedienen, sondern daß nun der
Durchsetzung ihrer geistigen Bestrebungen nichts mehr im Wege
stehe. (Fogarasi: Über die Zukunft der Geisteswissenschaften
Sie haben dem sozialistischen Staat eine Kulturmission
beigemessen, worauf auch in Mannheims Universitätsvorlesungen
hingewiesen wird. Hier finden wir einmalig in Mannheims Œuvre
Äußerungen darüber, wie er zur proletarischen Diktatur stand. Am
interessantesten sind gewiß die letzten Ausführungen über
Lebensformen des Heiligen, des Geschichtsphilosophen und des
Pädagogen. Die erste Charakteristik paßt innerhalb des
Sonntagskreises am meisten auf Fülep, die zweite auf Lukács, in
der dritten wollte Mannheim sicherlich die ei gene Position
bestimmen.
Der Weg, auf welchem die meisten Sonntägler Lukács nicht
folgen konnten, war der der Annahme und Berechtigung des
Te r rors, der politischen Gewalt als Mittel der Erlösung. Lukács
hat diese Konzeption mit allen ihren praktischen Konsequenzen
als T h eorie des Aufsichnehmens der Sünde, als Konsequenz der
Dostojewskischen Ethik vertreten. Theoretisch wurde dieses
Problem schon in den Dostojewski-Notizen behandelt und hat in
der Revolutionszeit auch die „ethischen Kommunisten" stark
beeindruckt. Die ungarischen Intellektuellen „lernten von
Dostojewski, daß ich mich nicht damit zufrieden geben kann,
selbst anständig` zu leben, weil ich für jede um mich her
geschehende Ungeheuerlichkeit verantwort lich bin, wenn ich sie
nicht angreife.“ 48 Der Wille zur individuellen Erlösung wurde
46
47
Vgl. Kettler, Marxismus und Kultur, S. 64.
48
Vgl. Anna Lesznai, Spätherbst im Eden (ung.), Budapest 1965, Bd. Il, S. 505.
Balázs: „Zur Dostojewski-Jahrfeier", in diesem Band. S. 269.
vom Bewußtsein der solidarischen Verantwortung für das
menschliche Leid abgelöst. 49
Lukács' Überlegungen in Taktik und Ethik, seine in
Geschichtsphilosophie aufgelöste Moralphilosophie, hat auf den
jungen Kommunisten Ervin Sinkó am tiefsten gewirkt: „Damals
glaubte ich noch daran, daß der Weg des Geistes durch die
objektive Wirklichkeit hindurch, führt, daß die Herrschaft des
Geistes durch die Geschichte der Klassenkämpfe hindurch, im
Klassenkampf des Proletariats ihren Anfang findet, daß sie in der
Geschichte und nicht trotz der Geschichte existiert und sich
verwirklicht. Damals glaubte ich noch an eine hexenhafte Kraft in
den Institutionen, die dafür würden, daß im Proletariat nach den
Gesetzen der Dialektik der Klassenegoismus zur Menschenliebe, der
Haß zur selbstopfernden Güte, der Neid zur Selbstentsagung wird.“ 50
Sinkó mußte aber schon in den ersten Tagen der Räterepublik
erfahren, daß es moralisch viel einfacher ist, mit einer politischen
Bewegung in ihrer Verfolgung solidarisch zu sein, als an ihr nach ihrer
Machtergreifung teilzunehmen. „Warum machen wir keine Revolution
gegen die historische Notwendigkeit?" - fragt er verzweifelt. „Im
Namen der historischen Notwendigkeit wogte und haßte die Menge
auf den Straßen und saßen wir 20-30 zusammen und bereiteten uns,
der historischen Notwendigkeit dienend, vor, ins Lebens der
Menschen mit Gewalt einzugreifen, Menschen zum Militär zu
schicken, einkerkern und aufhängen zu lassen. Man war daran, über
Produktion, Privateigentum, über Bourgeoisie und Proletariat im
Namen der historischen Notwendigkeit zu entscheiden, daß dies aber
das Leben abertausender Menschen sei, daß die Wirklichkeit die
Menschen seien, durch welche und durch nichts anderes das alles
möglich ist, daß man nur mit diesen einzelnen lebendigen Menschen
etwas erreichen soll und kann - diese naive Wahrheit ist im Nebel des
revolutionären Rausches verloren gegangen.“ 51
Nach dem Sturz der Räterepublik waren die praktischen und
theoretischen Folgerungen zu ziehen. Der ganze Sonntagskreis mußte
entweder die innere oder die äußere Emigration wählen. Aus den
Tagebüchern und Bekenntnissen kann man erfahren, wie die Wege
sich getrennt haben und wie verschieden die Sonntägler in der

49
50
Vgl. Sinkó: „Vor dem Richter" in diesem Band.
51
Sinkó: „ Az út" (1918) Manuskript, Nachlaß Sinkó, Zagreb
Ebd.
nachrevolutionären Situation sich zur Politik verhielten. Fast alle
möglichen intellektuellen Verhaltensweisen wurden eingenommen.
Die Konsequenzen, die Lukács zog, beschreibt Balázs in seinem Ta-
gebuch erschütternd. Mannheims Folgerungen sind in seinen Hei-
delberger Briefen bekenntnishaft ausgedrückt. Er scheint hier ge-
genüber dem Insistieren Lukács' auf dem proletarischen Klassenbe-
wußtsein den weniger radikalen, aber nicht weniger berechtigten
Standpunkt des intellektuellen Klassenbewußtseins einzunehmen.
Balázs hat sein Engagement für den Kommunismus im Sinne des
Sonntagskreis-Spiritualismus interpretiert: „Den Kapitalismus halte
ich für schlecht, unmoralisch, schädlich, das Beharren am Pri-
vatvermögen für eine Sünde wider den heiligen Geist, den Kommu-
nismus aber für den einzigen Weg der menschlichen
Spiritualisierung," - schrieb er noch im Versteck zur Zeit des
weißen Terrors in Budapest. 52
Mannheims und Hausers Entfernung vom Sonntag, als er
sich zu sehr der Weltrevolution verpflichtet hatte, kommentierte
Balázs in seinem Tagebuch mit diesen Worten: „Heute bekommt
jede geistige Tätigkeit, die nicht irgendwelche Wurzeln in der
Bewegung besitzt, den Charakter eines anachronistischen Spiels,
des Briefmarkensammelns.“ 53 Interessanterweise wird dasselbe
Gefühl auch von der anderen Seite, von dem nicht durch
politische Tätigkeit kompromittierten begabten jungen Fülep-
Schüler, dem Kunsthistoriker Tolnay, zur selben Zeit in einem
Brief an seinen Meister ausgedrückt: „Irgendwie fühle ich
schon, daß es unmoralisch ist, heu te, wo jedermann, der einem
nahesteht, so unendlich viel aufopfert, ruhig am Platze zu sitzen
und zu arbeiten. Man wartet nur darauf, gerufen zu werden, man
schaut nur herum, ob man irgendwo nötig sein könnte. Und das
Sonderbare ist nur, daß es auch heute noch völlig Überflüssige`
gibt, die zu nichts gebraucht werden können, die nie gerufen
werden.“ 54
Fogarasi sieht die Lehren der Ereignisse darin, daß die
Philosophen nicht nur ihren Interessenkreis, sondern auch ihre
Lebensformen verändern müssen. 55 Als Parteiideologe wird er
orthodoxer als Lukács, wie er auch als Geisteswissenschaftler
52
53
Balázs an Emma Ritoók, Herbst 1919, Budapest, Nachlaß Ritoók, Privatbesitz.
54
Balázs: "Tagebuch", in diesem Band, S. 126.
Tolnay an Fülep 2.12.1920, Nachlaß Fülep, Handschriftenabteilung der Biblio thek der
Ungarischen Akademie der Wissenschaften (MTAK-K.).
55
Fogarasi: „Tömegkultura és tömegfilozófia", Tűz, 1921.juli 16, S. l.
orthodoxer war. In der Zurücknahme ihrer eigenen wichtigsten
Ideen - anhand der auch von Lukács oft zitierten Romane
Ropschins - kommen bei Fogarasi (Weltanschauung der
Sozialrevolutionäre) dieselben Argumente vor, mit welchen
Lukács damals seine früheren Ansichten über Dostojewski
revidierte. 56 Radványis Arbeit über Chiliasmus und Bolschewismus
muß auch als eine theoretische Bearbeitung der
Revolutionserfahrungen betrachtet werden, offensichtlich von
Mannheim beeinflußt.
Sinkó hat, mit den Káldorschen Bekenntnissen zusammenklin -
gend, die Auswirkung der historischen Erfahrungen auf ihre
Weltanschauung später so beschrieben: „Alle Illusionen,
Hoffnungen einer chiliastisch fieberhaften, in jeder Weise
menschlichere und freiere Lebensformen suchenden
revolutionären Generation, meiner Generation, sind auf dem
Höhepunkt des Lebens dieser Generation in phantastischem
Tempo ins Finstere gestürzt, von wo kein einziges Mitglied
dieser Generation zu seinem ursprünglichen schwärmerischen
Glauben mehr zurückfinden konnte.“ 57

Wie können wir nach alledem auf unsere Grundfragen antworten?


Wieweit kann die Erkenntnis der gemeinsamen weltanschaulichen
Grundlagen, des gemeinsamen geistigen Kontextes zum besseren
Verständnis der späteren Werke von Lukács und Mannheim beitragen?
Gewisse Kontinuitäten sind in der theoretischen Einstellung zweifellos
erkennbar: das Gegenüber zur naturwissenschaftlichen
Weltanschauung, zum Positivismus wird in Lukács' Marxismus
ebenso aufrechterhalten, wie der Antireduktionismus in Kulturfragen,
die Ablehnung der vulgärsoziologistischen „Proletkult"-Tendenzen
und vor allem die Entfremdungstheorie - nur wird diese Entfremdung
jetzt nicht mehr kulturkritisch-pessimistisch, sondern
geschichtsphilosophisch-messianistisch begründet. Bei Mannheim ist
das Interesse an der Strukturanalyse verschiedener „Denkstile"
aufbewahrt worden, trotz seines Wechsels von der Philosophie zur
früher ein wenig verachteten Soziologie. Die Umrisse der wissensso-

56
Vgl. Lukács: „Stawrogins Beichte", Rote Fahne, Berlin, 16.7.1922, in: Organisation und
Illusion, Politische Aufsätze Ill., Neuwied 1977, S. 152.
57
Sinkó: „Budapesti mozaik", Híd, 1964.2, S. 138.
ziologischen Position sind in Mannheims Auseinandersetzung mit
Lukács' Geschichte und Klassenbewußtsein klar erkennbar.
Den Unterschied zwischen der ursprünglichen und der späteren
Mentalität hat Mannheim auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn nach
dem Erscheinen seines Buches Ideologie und Utopie und seiner
Berufung zum Professor der Soziologie in Frankfurt in einem Brief an
Béla Balázs,
der für ihn die Sonntage verkörperte, zusammengefaßt: „Es freute
mich ganz aufrichtig zu wissen, daß ihr positiv zu der Änderung
meines Lebens steht. Ich würde mir auch einen schönen gemeinsamen
Abend zumindest wünschen, wo wir über das Vergangene, den
schweren Kampf und den Weg diskutieren könnten, und wenn ich
auch so manches aus der früheren Zeit einer Revision unterworfen
habe, wie Du das ja bereits meinem Buch entnehmen konntest, so
bleibt der Kern des Sonntags` hoffentlich auch in mir so intensiv
lebendig und für Euch annehmbar, daß Meinungsdifferenzen als
ehrliche Auseinandersetzungsformen eines gewandelten
Erfahrungsraumes und eines in vielen Dingen notwendigerweise sich
auch wandelnden Subjekts erlebt werden. Was ich aus alter Zeit nicht
gut mitmachen kann, ist die Lebenskonstruktion und Betrachtung der
Dinge in völlig gerader Linie und Einseitigkeit. Wenn ich auch die
Bedeutung der geradlinigen und eindeutigen, aber gerade deshalb
beschränkten oder sich beschränkenden Menschen durchaus
hochzuschätzen geneigt bin, glaube ich doch nicht, daß dies der
einzige Weg für den einzelnen und für die Gesellschaft ist und daß
man, was einem das Leben oder sonst etwas als Einsicht
entgegenbringt, rücksichtslos aussprechen und zu Ende denken
muß.“58
Die Fragen des politischen Engagements und der geistigen Auto-
nomie der Intellektuellen werden mit jeder Generation wieder von
neuem aktuell, ebenso die im Sonntagskreis diskutierten Probleme des
Konfliktes zwischen Zivilisation und Kultur, L'art pour Vart und
Tendenzkunst, Individualismus und Kollektivismus, die Fragen des
moralisch motivierten Terrorismus, des Sinnes der Geschichte und des
individuellen Lebens, Entfremdung und Erlösung, Ideologie und
Utopie.
Theoretisch haben die Mitglieder des Sonntagskreises der Ent-
fremdungstheorie, Hermeneutik, Kunstphilosophie, Ästhetik, Ethik
58
?
Mannheim an Balázs 15.2.1930. Nachlaß Balázs, Budapest (MTAK-K).
und im Marxismus, der Wissenssoziologie, Kunstgeschichte und
Kunstsoziologie Neues und Dauerhaftes geschaffen. Begabung,
Originalität und Leistung sind freilich bei den verschiedenen Gestalten
nicht gleichwertig - wie in allen geistigen Gruppierungen, die aus
Meistern und Anhängern, Schöpfern und Anwendern neuer Ideen
bestehen. Doch stellt dieser Kreis „etwas“ dar: ein repräsentatives
Dokument einer Zeit und einer Generation, eine geistige
Gemeinschaft, die auch die weniger Großen mitreißen konnte, und
ohne die auch die Großen weniger wären. 59

59
Vgl. Balázs Tagebuch und Fülep „Assisi", Előszó, Nachlaß Fülep (MTAK-K).
ERVIN SINKÓ: VOR DEM RICHTER
„Schüler: Wo bleibt der Messias, warum kommt er nicht,
wann kommt er endlich?
Meister: Hier steht er, vor dem Tor, und wartet auf dich. "

(Chassidische Legende)

Der Richter, vor dem ich stehe, ist ein wohlgepflegtes


Herrensöhnchen. Noch keine zehn Jahre. In einem Schwabendorf
beobachtet er seit seiner frühen Kindheit voll Neid die barfüßigen
Schwabenkinder von einem der acht Fenster des einstöckigen
Herrenhauses aus. Sie sind immer in Gruppen zusammen, immer
fröhlich und fühlen sich großartig in ihrer Gemeinschaft. Er
begeistert sich für die Geschicklichkeit dieser Bauernjungen, für
ihre sorglose Waghalsigkeit, er möchte zu ihnen gehören, sie aber
prügeln ihn, wenn er sich ihnen nur nähert. Der kleine Junge geht
in die Schule: Die Strecke von der Schule nach Hause ist fast
täglich ein Spießrutenlauf. Obwohl er es gern möchte, traut er sich
nicht, auf die Straße zu treten, weil dort überall die Bauernjungen
sind, und wenn sie ihn sehen, bücken sie sich nach Steinen, ihn zu
bewerfen. Er würde sich schämen, sich dafür bei irgend jemand zu
beschweren, gerade vor den Jungen. Der Richter, vor dem ich
stehe, dieser kleine Junge, liegt für mich noch immer in einem
Graben des Schwabendorfes. Eine Rotte Bauernkinder lauerte ihm
eines Nachmittags auf. Sie fingen ihn und knüpften seine kurze
Hose auf, um „die Pfeife des Judenjungen" zu sehen. Später mit


Sinkó Ervin: „Szemben a bíróval“ (1935)Zuerst erschienen in französischer Sprache:
Ervin Sinkó, „En face du Juge“, trad. par: Yvonne Pujade, Europe (Paris), 1935, No.
149, S. 36-72.Übersetzt aus: Sinkó Ervin: Szemben a bíróval. Válogatott tanulmányok.
Szerk. Sükösd Mihály Budapest 1977, S. 47-90.
dem Schlachtruf „Jud! Jud!“ stießen sie den so gar nicht
kämpferischen, knieweichen kleinen Jungen in den Graben.
Fast dreißig Jahre später, heute weiß ich, daß ich mehr als aus
jedem Buch, das ich las, aus jedem weisen Wort, das ich hörte, aus
jeder Freude, die mir seither widerfuhr, und aus jedem Schmerz,
den ich seitdem durchlebte, mehr als aus all dem und für das Leben
Wesentlicheres aus jenen von Hohn begleiteten Tränen schöpfte,
die dieser kleine Junge weinte. Ihm verdanke ich, daß mir von An -
fang an gegeben war, daß mir in Fleisch und Blut überging, wozu
vielen anderen nicht einmal ein Weltkrieg genügte: der Internatio -
nalismus. Lange genug beobachtete ich vom Fenster aus die schwä -
bischen Kinder, wenn sie miteinander spielten; ich konnte mir nicht
vorstellen, sie seien schlecht. Es konnte nur ein schreckliches und
dunkles Mißverständnis sein, weswegen sie mich verfolgten. Nie -
mals träumte ich denn auch davon, daß ich gegen eine Legion
schwäbischer Kinder den Kampf mit einer Legion jüdischer Kinder
aufnehme; aber immer träumte ich davon, daß sie wie mit den übri -
gen, so auch mit mir friedlich spielen würden, und wie ich nur
Kind sein wollte, sind auch sie nur Kinder und nicht Juden und
Christen, nicht Deutsche und Ungarn. Dem kleinen Jungen
verdanke ich, daß ich, ohne zu suchen, meinen Platz bei denen
fand, die geschlagen werden, und daß ich, bevor ich von Marx
überhaupt etwas gehört hatte, wußte: Man muß eine Welt ohne
Oben und Unten zu erreichen suchen. Ihm - und auch jenen, die ihn
nicht in ihre Gemeinschaft aufnahmen - verdanke ich, daß in mir
die Sehnsucht nach Gemeinschaft wuchs und sich nie verlor, die
Sehnsucht, die sich aus einer viel zu tiefen Einsamkeit speiste, als
daß irgendeine exklusive konfessionelle oder rassische
Gemeinschaft mir zur Versuchung hätte werden können. Auch ich
bin jetzt erwachsen, einer von jenen Erwachsenen, auf die der
kleine Junge verständnislos blickte: Sie sind stark und klug, warum
tun sie nichts? Habe ich getan, tue ich alles, was ich kann?
Dieser Richter spricht nicht jenes Gewissen an, welches das in
der Welt herrschende Schlechte in Gottes Namen vom eigenen, ge -
sonderten Leben abgrenzt. Das heutige Gewissen ist anders, denn
wir kennen Zusammenhänge, die anderen Zeiten nicht bekannt wa -
ren, und deshalb kennen wir eine Schuld, von der zum Beispiel die
mittelalterlichen Heiligen nichts ahnten. Schnellstens würden wir
aus einem Himmelreich flüchten, in dem nach Thomas von Aquins
Lehre die Wonne der Seligen vollkommen wird durch die Betrach -
tung der Qualen der Verdammten. Denn für unser Selbstbewußt sein
ist ein Himmel, dessen unterbau, dessen Fundament eine Hölle ist,
empörend unerträglich. Deshalb unerträglich, weil der Wille zur
individuellen Erlösung vom Bewußtsein der solidarischen Verant -
wortung für das menschliche Leid abgelöst wurde. Mit diesem Be -
wußtsein der Verantwortlichkeit mit dem Gewissen, geboren aus
diesem Verantwortungsbewußtsein, blickt aber nicht nur der in den
Graben gestoßene kleine Junge als fragender Richter auf mich. Er
ist nur der bescheidene erste in der Schar, die seither täglich
wächst. Jeder Hungrige, jedes Gefängnis, jeder Galgen - jedes
Opfer und jeder Tag, an dem diese sich auf Hunger, Gefängnis und
Galgen stützende Gesellschaft weiterbesteht, sind unsere fragenden
Richter: Hast du alles getan, tust du alles? Es gibt heute keinen
denkenden Menschen, der nicht wüßte, daß die Welt und wir mit
ihr jeden Tag und jede Nacht, während wir sitzen und uns
unterhalten, während wir uns umarmen, schreiben oder essen, dem
drohenden neuen Weltkrieg immer näher rücken. Niemand, der die
Solidarität mit der Verantwortlichkeit kennt, kann sich von der
Frage befreien, mit jedem Zeitungsbuchstaben dringt ein Stück
Welt zu uns ins Zimmer - und fragt. Die Antwort, die Antworten,
die wir mit unserem Leben gaben und geben wollen, beziehen sich
nicht nur auf Gott und uns wie zur Zeit des früheren Gewissens.
Der Glaube, die Leidenschaften und Irrtümer, welche wir
durchlebten, seien nicht nur unsere eigenen - dieser Glaube läßt es
nicht nur zu, sondern verpflichtet uns, für jeden hörbar zu reden -
immer vor dem Richter.

II.

Mein Vater kränkelte viel, das trug sehr dazu bei, daß sich das
Familienleben bei uns zum Idealtyp der Bürgerfamilie entwickeln
konnte. Mit grenzenloser Liebe Lind Opferbereitschaft hingen die
Familienmitglieder aneinander, aber die ganze übrige Welt, beson -
ders in dem südungarischen Schwabendorf Apatin, war bis zur
Gleichgültigkeit fremd und, falls sie sich nicht mit den unmittelba -
ren Interessen der Familie berührte, für sie unwichtig. In dieser
warmen, milden und exklusiven Familienatmosphäre fand ich mich
von Anfang an einem sonderbaren menschlichen Wesen konfron -
tiert; es lebte mit uns unter einem Dach und gehörte nicht zu uns,
es stand früher auf als die anderen, brachte uns das Essen, aber
setzte sich nicht mit uns zum Tisch und kam nur deshalb in unsere
Wohnräume, um sie sauber zu machen; waren sie dann aber in
Ordnung. gehörte es nicht mehr hinein. Freundlich wurde es
angeredet, aber man redete hauptsächlich nur dann mit ihm, wenn
man etwas von ihm wollte. Man redete von ihm nur als von einem
guten oder schlechten Diener, und weit von unseren Zimmern
entfernt, hinten in der Küche verbrachte es sein von allen übrigen
Bewohnern des Hauses unendlich verschiedenes Leben. Und es
schien nicht nur fremd, sondern sogar ein Feind zu sein, weil
offensichtlich vor ihm alle Schränke verschlossen wurden und
selbst das große Tor der Einfahrt unseres Dornhauses jeden Abend
von einem Familienrnitglied eigenhändig zugesperrt werden mußte,
damit der Diener nicht in der Nacht womöglich jemand einlasse.
Hätte ich nicht unter der feindlichen Fremdheit zwischen der
Straße und mir gelitten, würde ich das Verhältnis zwischen Familie
und Diener gar nicht wahrgenommen haben. Heute glaube ich, daß
dieses Herrschafts- und Dienerverhältnis in mir die erste bewußte
Rebellion gegen das auslöste, was um mich herum jeder als ganz
natürlich empfand. Jedenfalls hätte ich immer gerne gewußt, was
die Diener von uns denkest, doch sie blieben für reich fremd,
unnahbar und geheimnisvoll wie die ganze übrige Welt außerhalb
unseres Hauses. Offensichtlich stand das Ziel in mir von Anfang an
fest, und ich zog es fast nie in Zweifel. Dieses „fast“, das war der
Weltkrieg. Bis dahin schien nicht nur das Ziel, sondern auch die
auf es hinführende Straße unbedenklich.
Von dem Zeitpunkt, da ich als Gymnasiast in die Stadt kam
und zum ersten Mal das sozialdemokratische Arbeiterheim in
Szabadka betrat, bis zum Ausbruch des Weltkrieges lebte ich in
einem einzigen glücklichen Rausch. Im Arbeiterheim kümmerte
sich niemand um Rasse, Konfession, Nationalität - ungarische,
serbische und deutsche Arbeiter saßen zusammen, und mich
unreifen Gymnasiasten behandelten sie, sei es nun bewußt oder
nicht, mit sehr viel mehr pädagogischem Gespür als meine Eltern,
die ganz verzweifelt waren, nichts mit mir anfangen zu können,
und als meine Gymnasiallehrer, die mich nur fleißig durchfallen
ließen. Zwischen den Szabadkaer Arbeitern fiel zum ersten Mal in
meinem Leben diese halb schuldbewußte, halb mißtrauische,
ständig quälende Unsicherheit von mir ab, die ich aus unserem
abgeschlossenen Haus und der Dorfstraße mitgebracht hatte. Von
der ersten Minute meines Eintretens an war ich dort nicht allein, ja,
aus einem verschrecktest und traurigen Zuschauer konnte ich nicht
nur - zu einem in die Gemeinschaft aufgenommenen, sondern in ihr
auch tätigen Mitglied werden. Sie fanden Arbeit für mich. Viele
der landlosen Bauern hätten gerne lesen und schreiben gelernt, und
- wie sie sagten - wurde jemand gebraucht, der die verschiedenen
Fachbüchereien in Ordnung hielt und den Genossen die ihrem
Bildungsgrad entsprechenden Bücher empfehlen konnte. Sie gaben
mir eine Aufgabe, Arbeit und nannten mich Genosse! Die Schule -
mehr als sie haßte ich später nur noch die Kaserne - sah ich nicht
mehr oft, ich hatte keine Zeit. Ich mußte die Bücher in der
Bibliothek des Arbeiterheims durchlesen, damit ich wußte, welches
ich welchem Genossen vorschlagen konnte - und ich fühle, wenn es
etwas gibt, das für Ungarn symbolische Bedeutung hat, dann dies:
In dieser Stadt mit 100000 Einwohnern wurden mir die Bücher,
durch die ich das meiste gelernt habe, von Arbeitern gegeben. Aus
ihren Pfennigen war die Bibliothek entstanden, in der ich mein
Ziel, den Sozialismus und den zu ihm führenden Weg fand, und
zwar nicht als Wunsch, sondern als lebendige Wirklichkeit einer
die ganze Erde umfassenden Gemeinschaft. Sie lachten nicht, sie
standen mir bei und halfen, als ich mit der Schaffung eines
Dienstmädchengewerkschaft begann - sie verstanden, daß die
meisten Dienstmädchen nach einer gewissen Zeit in ihr Dorf
zurückgingen und man dafür sorgen müsse, daß sie in ihrem
Bündel auch ein Stückchen Sozialismus mit nach Hause in ihr im
Hörigendasein und Analphabetismus vegetierendes Dorf nahmen.
Und später hielt ich Vorträge über die Bücher, die ich gelesen
hatte, und es wurde mir, dem jungen Dachs erlaubt, meine
schlechten Gedichte vorzulesen, weil sie voll von revo lutionärer
Begeisterung waren, und dreimal so alte Männer, als ich es war,
alte Arbeiter klatschten Beifall und ermutigten mich zu schreiben.
Und bei Streiks und Straßendemonstrationen durfte ich zwischen
ihnen stehen, mit ihnen singen, mit ihnen gemeinsam haß te ich
Graf István Tisza und glaubte, die internationale Sozialdemo kratie
werde die Landesgrenzen niederreißen, aus den Kasernen würden
wir Museen und Schulen machen und allein wir Sozialdemokraten
würden die gewagtesten Träume der Propheten verwirkli chen, die
Welt zu einem brüderlichen Land machen. Es war herrlich - und
dann kam der Juli 1914. Sechzehn Jahre war ich damals.

III.
Lenin führte zu jener Zeit im Löwenzorn der verletzten
marxistischen Dialektik einen Angriff gegen die Gruppe
Lunatscharski, den späteren Volksbildungskommissar und seine
Anhänger, die auf ihren Wegen der Gottsuche im Sozialismus eine
Religion, die neue Religion sahen und verkündeten. Lenin hatte
recht - und nicht Lunatscharski, und ich war mit meinen 16 Jahren
offensichtlich kein guter Marxist, weil für mich bis zum Juli 1914,
oder genauer bis zu jener denkwürdigen deutschen
Reichstagssitzung, bei welcher der deutsche Kaiser keine Parteien,
sondern nur noch Deutsche kannte, die Sozialdemokratie die
Religion war. Das Wort Religion im Sinne des Evangeliums: sie
befreite und band, befreite von Familie und der ganzen Gesellschaft,
und band, weil alle meine Sehnsucht, all mein Gefühl und meine
Gedanken nur noch von ihr Leben empfingen. Es war eine naive und
kindische Religion, aber eben eine Religion, und außer der kleinen
Kapelle, die das Szabadkaer Arbeiterheim für mich war, sah ich in
den fernen westlichen Parlamenten, vor allem im deutschen
Reichstagsgebäude, die Kathedralen dieser Religion. Für den
Westeuropäer muß ich betonen: Der Junge, von dem ich spreche, lag
geistig nicht unter dem Durchschnitt, und ein Westeuropäer wird es
nur schwer verstehen, wenn er hört, daß die Gefühle dieses im
übrigen zu leidenschaftlicher Kritik neigenden Jungen für die
sozialdemokratischen Abgeordneten des deutschen Reichstags sich
nicht sehr unterschieden von dem Vertrauen, der Schwärmerei und
Verehrung, die gläubige Katholiken ihren Heiligen entgegenbringen.
Auch jetzt noch kann ich darüber nicht lachen, weil ich mir
vorstelle, daß in fernen Städten und Dörfern, in Korea, auf dem
Balkan, in China oder afrikanischen Kolonien auch heute
sehnsüchtige Sechzehnjährige an Moskau oder sogar an führende
Sozialisten oder Kommunisten in Paris oder London denken, deren
Namen, Reden oder Schriften bis zu ihnen gedrungen sind. Es ist
nicht ihre Schande, wenn sich die eine oder andere ihrer Er-
wartungen als einfältig erweisen sollte.
Sehr wohl war Ungarn nicht der Balkan und keine Kolonie -
aber es war das Land der Lügen. Es besaß ein Parlament, doch hat ten
die Völker des Landes kein Wahlrecht, und im Land der zum
Verstummen gebrachten Werktätigen wirkte eine deutsche Reichs -
tagssitzung, in der sozialistische Wahrheiten verkündet wurden und
sozialistische Willensäußerungen geschehen konnten, oder eine
französische Kammersitzung, in der Jaurés frei das Wort ergreifen
durfte, fast wie ein verwirklichter Traum. Unser Land war das Land
der Lügen, in dem das gesamte amtliche öffentliche Leben aus der
ständigen Verleugnung der Wahrheit, der nicht zu überse henden
Wirklichkeit bestand. Es wurde von nationaler Selbständigkeit
gesprochen, während der ungarische König vor allem österrei -
chischer Kaiser war; Liberalismus wurde verkündet, aber die halbe
Bevölkerung des Landes, die Völker nicht-ungarischer Nationalität,
wurde von den Schulbüchern bis zum Parlament verleugnet.
In der Hauptstadt dagegen, in die jede geistige Strömung Euro-
pas befruchtend gelangte und vielleicht um so tiefer wirkte, als in
dem Feudalstaat alles nur rebellisches Wunschdenken blieb - in
Budapest gab es begeisterte Gruppen von Anhängern jedes neuen
Gedankens, jedes neuen Schönen, in denen die verlorenen Einsamen
Aufnahme fanden. Aus der Sicht der Provinz, wie aus meiner Stadt,
war Budapest das Paradies, und erst recht Berlin, Wien oder Paris.
Das Paris der Großen Französischen Revolution, die Stadt der
Kommune, die glänzende Metropole der Demokratie und des
Geistes, schimmerte in goldenem Nebel, war aber so unerreichbar,
daß auch ihre Anziehungskraft fast irreal war. Sogar Anatole France,
der ganz gewiß keine Bibel schreiben wollte, las ich in den schnell
hintereinander erscheinenden ungarischen Übersetzungen wie die
Heilige Schrift. Wien und Berlin waren dagegen realer -
hauptsächlich Berlin -, denn Wien und vor allem der preußische
Militarismus waren ja die stärksten Stützen des ungarischen Feuda-
lismus, und die österreichischen und deutschen Sozialdemokraten
waren unser Stolz, unsere mächtigen Bundesgenossen. Damals hät te
ich genau sagen können, wieviel hunderttausend Mitglieder die
deutschen Gewerkschaften hatten und wie viele Abgeordnete der
Sozialdemokratischen Partei in den Reichstag gelangten. Bei jeder
Wahl stets neue glänzende Siege, und immer im Namen der
Menschheit, immer im Zeichen der Parolen des internationalen,
weltverändernden revolutionären Willens. Unten in Szabadka ver-
stand ich jedes Wort in seiner großen und genauen Bedeutung als
untrügliches Versprechen. Was im Parlament nur Routine und
Phrasendrescherei war, ertönte dort unten wie ein andächtig ver-
nommener, vielversprechender und eindringlicher Alarm. Nicht ei ne
Minute zweifelte ich daran, daß die Abgeordneten der mächti gen,
von Triumph zu Triumph eilenden deutschen Sozialdemokra tischen
Partei wie ein Mann dem kaiserlichen Willen zum Krieg ent-
gegentreten würden. Ich konnte mir vorstellen, daß sie alle, mit Karl
Kautsky an der Spitze, ohne Ausnahme den Märtyrertod sterben und
mit ihrem Blut die Brüderlichkeit der Völker der Welt besiegeln
würden. Alles andere schien mir eher möglich, als daß ich bald mit
ebensolchem Entsetzen auf sie blicken müsse wie auf den
asthmatischen kleinen Krämer in unserer Nachbarschaft, der an je-
nem schwülen Julitag völlig außer sich unter unserem Fenster schrie:
Es lebe der Krieg! Sechzehn Jahre war ich, und ich war nicht das -
und bin es nie geworden -, was man einen Politiker nennt, und auf
einmal stand ich sogar im Szabadkaer Arbeiterheim Politikern
gegenüber, die die Notwendigkeit des Opportunismus beteuerten und
mich erschrocken aus dem Arbeiterheim drängten - aus meinem
einzigen Heim -, weil ich geschrien hatte: Nieder mit dem Krieg.
Und wie damals im Dorf die Schwabenkinder mit ihrem Schlachtruf
„Jud! Jud!“, so machten jetzt draußen die Erwachsenen mit ihrem
Gebrüll „Nieder mit Serbien" die Straße zum Alptraum.

IV

Mit meinen Augen sah ich und unter meinen Händen konnte ich den
Zusammenbruch all dessen spüren, weswegen es zu leben lohnte.
Die Menge hatte mir bisher die Wahrheit bedeutet, der Indivi-
dualismus dagegen die Verleugnung der Solidarität und jeder Ge-
meinschaft. Weit entfernt vom Individualismus, für den im Be-
wußtsein des unendlichen Wertes des eigenen Ichs das Ich der übri-
gen nur Menschenmaterial darstellt, streikten dort die Arbeiter, wenn
einen ihrer Gefährten ein Unrecht traf, und stürzten sich anläßlich
der Demonstrationen für das Wahlrecht mit bloßen Händen auf die
mit gezogenem Säbel herumfuchtelnden berittenen Polizisten, um
ihnen einen umzingelten Gefährten zu entreißen. Im Individualismus
sah ich die konsequente Verleugnung des individuellen Wertes, weil
in ihm die zehn Gebote durch das eine ersetzt werden: Liebe mich
wie dich selbst. In der Arbeiterbewegung dagegen fand ich, soweit
ich das sehen konnte, die Synthese der Achtung des an deren Ichs,
der Solidarität, und des individuellen Wertes. Jetzt, seit dem Krieg
begegnete ich von der sozialdemokratischen Parteizeitung bis zu
dem, was ich täglich auf der Straße sah und hörte, wie derum einer
Solidarität, einer anderen, die scheinbar jeden einschloß: der
Solidarität der Lust an Blutvergießen und Eroberung.
Die Arbeiterbewegung war für mich bis zum Krieg der Protest
der Menschheit im Namen der Wahrheit, der Liebe und der Schön -
heit gegen den kapitalistischen Mechanismus, der den Menschen zur
reinen Ware und die Völker zum Menschenmaterial degradiert und
der Vernichtung ausliefert. Und jetzt, wo der Protest am lautesten
hätte sein müssen, war er völlig verstummt, und die singenden
Marschkompanien schrien den Triumph des verhaßten Begriffes
„Menschenmaterial" über den Menschen heraus. Und wie die So -
zialdemokraten, so redeten auf einmal auch die übrigen, die in der
Heimat wie im Ausland gleich schimmernden Ritter der Schönheit
und des schöpferischen Gedankens als leuchtende Vorbilder vor mir
gestanden hatten, genauso wie István Tisza, und schworen auf
ebensolche Wahrheiten wie er. Auf die Nachricht von Jaurés' Blut-
zeugnis beugten sie ihr Knie vor Jaurés, um seine Ideen, deren Prie -
ster sie gestern selbst waren, bei der Gelegenheit einmal mehr zu
schänden; sie verherrlichten Jaurés, um „die Franzosen" verun -
glimpfen zu können. Wiederum sah ich auf die Massen wie in Apatin
auf die sich in wilden Gruppen zusammenrottenden schwäbi schen
Kinder.
Und da traf ich auf einen Individualismus, der sich grundlegend
von dem bürgerlichen unterschied, einen Individualismus, der nicht
oder nicht nur der Erkenntnis des eigenen, sondern des unendlichen
Wertes jedes einzelnen Individuums entsprang: zu dieser Offenba-
rung führte mich Endre Ady.
Im gesamten Ungarn mit seinen 20 Millionen Bewohnern war
er der einzige Mensch, der sich selbst treu geblieben war, der im Na -
men der Menschlichkeit, der Schönheit und des Patriotismus ein für
jeden unmißverständliches Veto herausschrie und der die viereinhalb
Kriegsjahre hindurch bei seinem verzweifelten, treuen und
heldenhaften Veto blieb. Im Ausland war sein Name unbekannt, aber
für das Leben meiner ungarischen Generation hatte dieser den
ganzen Krieg hindurch sterbenskranke, schwer leidende, seelisch
zum Riesen gewordene ungarische Lyriker eine derartige Bedeutung
wie für das Leben einer gewissen Generation russischer Revolutio -
näre Dostojewski.

„Nie und nimmer will ich Sklave


Unter tobenden Völkern sein."

Dieser Individualismus stand einsam und hielt ganz allein im Namen


der der Menschheit gebührenden heroischen Solidarität und der
Treue jene Fahne hoch, welche die Sozialdemokratie mit ihrem
Millionen Mitgliedern gegen die Nationalfahne vertauscht hatte: die
Fahne der Menschheit, der Menschenwürde. Nicht der Apostel eines
politischen Programms und von Prinzipien, nein, ein über
Generationen und Klassen hinaus Schmerz empfindender Mensch er-
hob seine Stimme,

„ den Schicksal,
Leben, Jahre und Tage
Bis in die Tiefen der Seele schmerzen".

Adys Kriegsdichtung war nicht politisch, aber nichts, gar nichts


war darin von jener platonischen Resignation, welche der Ansicht
war, „nirgendwo ein Bundesgenosse, mit dem man der Gerechtigkeit
helfen könnte, ohne selbst unterzugehen, es ist ja so, als ob ein
Mensch unter wilde Tiere fiele; weder will er zusammen mit den an -
dern ein Unrecht tun, noch kann er allein all den Wilden standhal -
ten ... Da er die andern voll der Ungesetzlichkeit sieht, ist er zu -
frieden, wenn er nur selbst unberührt von Ungerechtigkeit und
ruchlosen Taten sein Leben hier lebt . . . " (Platon, Der Staat, Sech-
stes Buch). Es war individuelle Dichtung, aber das Individuum, das
hier das Wort ergriff, ließ die zum Verstummen gebrachte Seele der
Menschheit sprechen, es genoß und suchte nicht die Einsamkeit, die
Tür zu ihm hatte sich von außen geschlossen, und es wurde in der
tiefsten Einsamkeit zum Sprecher der tiefsten menschlichen Solida-
rität, revolutionierender als jede politische Parteidichtung.
All das konnte ich in jener Zeit nicht so bewußt sehen, damals
wirkten nur die während des Krieges geschriebenen Ady-Gedichte
mit ihrem von der Attitüde des Dichters untrennbaren immanenten
moralischen und sozialen Pathos. Dies war das einzige, was von der
ganzen versunkenen Welt übriggeblieben war. Die Menschen, die
daheimgeblieben waren, begannen sich an den Krieg zu gewöhnen,
und je länger er dauerte, desto besser verstanden sie sich auf ihn
einzurichten, wie auf einen Normalzustand. Und ich, der ich das
Arbeiterheim und meinen Glauben an die mächtigen Organisationen
und die Massen verloren hatte, ich suchte den neuen Weg zu dem
alten verhöhnten Ziel in den Ady-Gedichten, bei Nietzsche, Tolstoi
und auf Tolstois Spuren im Buddhismus, ja in allem, was die
Meinung bekräftigte, man könne auch allein leben.

„Jedes Leben sei zu führen,


Wenn man sich nicht selbst vermißt;
Alles könne man verlieren,
Wenn man bliebe, was man ist."

Wenn der Abgrund zwischen den Forderungen des Selbstbewußt -


seins und den Fakten der Außenwelt, zwischen Idee und Empirie
unüberbrückbar scheint, dann bleibt dem Individuum nur Goethes
stolze Armut der Einsamkeit. Damit will ich nicht die Gesellschaft,
in der wir leben, der Armut bezichtigen. Museen, Konzertsäle, eine
Fülle von Bildern, Bibliotheken und Universitäten stehen bereit und
warten auf empfängliche Augen und Ohren, jeder kann so viele Ge-
danken, Schönheit und Wahrheit in sich aufnehmen, wie er vermag
und will; die Armut besteht nur darin, daß dies in dieser Gesell schaft
der Beginn und auch die Krönung der Kultur und des Kulturlebens
ist. Es bleibt Theorie und kann den Mechanismus der Gesellschaft,
die allgemeine Praxis, die objektiven Bedingungen des Lebens nicht
beeinflußen. Der Geist wird zu einem sonderbaren, un zeitgemäßen
Gespenst, zu einer heimatlosen, wandernden Seele, die sich in der
objektiven Welt nicht inkorporieren kann.
Deshalb ist es so wenig, was diese Kultur bei all ihrem
wunderbaren Reichtum, bei all ihren aufgehäuften Schätzen - ohne
ein Medium, durch das hindurch sie in die Materie zurückkehren
könnte - moralisch zu bieten hat. Die Ady-Gedichte waren herrlich,
und nachdem ich Tolstoi gelesen hatte, fühlte ich mich besser und
zugleich schlechter als früher, auf jeden Fall aber reicher; und dann
bemühte ich mich, mich selbst und alles mit Nietzsches umwerten -
den Augen zu sehen - und natürlich war ich inmitten dieser ganzen
geistigen und seelischen Pracht der eselsohrigen Midas-Junge, faßte
nur Gold und blieb zwischen den vielen Schätzen hungrig. Es fehlte
das Medium. Solange ich im Arbeiterheim war, wußte ich, warum
ich las und schrieb, jetzt dagegen stopfte ich mich mit Gedanken und
Gefühlen voll, jedoch so ungebunden, daß diese Freiheit für mich
auf einmal dasselbe wurde, als hätte man mich in einer Wüste „frei"
gelassen. Heute ist mir klar, daß dies nicht nur mein Abenteuer war,
sich nicht allein mit meiner Jugend erklären läßt. Solange die Kultur
nicht ihre auf ihr eigenes reines Subjekt beschränkte Realität verläßt
und nicht zu einem Faktor wird, der auch das alltäglichste äußerliche
Leben erfüllt und formt, solange neben einem Konzertsaal, in dem
Beethovens 1X. Sinfonie gespielt wird, betrunkene, Lieder brüllende
Marschkompanien vorbeimarschieren, ist es eine immanente Gefahr
jedes Kulturlebens, daß es zum ästhetischen Spiel, zum reinen
Intellektualismus demoralisiert. Kultur kann nur in der Einheit von
Theorie und Praxis, also nur um den Preis einer Liquidierung der
„mit der Blindheit der Naturgesetze" existierenden gesellschaftlichen
Wirklichkeit moralisch, d.h. auch objektiv real werden. So wie es für
mich von symbolischer Bedeutung war, daß ich zuerst im
Arbeiterheim ein Kulturleben im wahren Sinne des Wortes fand,
ebenso hat deshalb für mich allgemeine symbolische Geltung, daß
nach dem Verlust der Beziehung zum Proletariat mich weder Ady,
noch Tolstoi, noch Nietzsche davor bewahrten, zu einem moralisch
Schiffbrüchigen zu werden. Auf der Suche nach dem „wirklichen"
Leben fand ich mich im zweiten Kriegsjahr am Künstlertisch eines
Provinzkaffeehauses. Dort war von allem die Rede, also auch von
den schönsten Dingen, aber nie derart, daß wir die für unser
persönliches Leben verpflichtende Kraft einer Erkenntnis in Betracht
gezogen hätten. Die bürgerliche Welt um uns herum produzierte kein
höheres praktisches Ideal, keinen schöneren Traum, als den einen
oder anderen ergiebigen Kriegstransportauftrag an sich zu reißen.
Demgegenüber lebten wir in ästhetischen Emotionen, und nach einer
gewissen Zeit fiel es mir gar nicht mehr auf, daß die Diskussion über
Tolstoi zufällig am Tisch eines Bordells stattfand. Wir nahmen nicht
wahr, daß diese Art Individualismus, mit der wir uns selbst und
einander zu gefallen suchten, ebenso das Produkt des
Verfallsprozesses einer geistig abgestorbenen Gesellschaft war wie
das Leben derer, denen als Ideal nur noch vor Augen schwebte, sich
Kriegstransporte zu verschaffen. Das Proletariat war von seinen
eigenen Priestern verkauft worden, und es war keine Klasse mit
geschichtlicher Berufung in Sicht, die das Hindernis des Lebens, den
Kapitalismus, aus dem Wege hätte räumen können; mit dem
Proletariat war der historische Träger jedes Kulturwillens veruntreut
worden. Als Faktum der Hilflosigkeit und deshalb nur als schönes
Gedicht wirkte Adys bekenntnishafte Ermutigung im „blutigen
Herbst“:

„Es folgt kein Tod auf die heiligste Sehnsucht,


Und der heiligen Sehnsucht beste Fahnen
Tragen die besten Gebliebenen fort.“

Liebknechts revolutionärer Protest gegen den Krieg und gegen den


Verrat seiner eigenen Partei blieb ein heroischer individueller Akt -
die Bestie triumphierte, und ihr Triumphwagen rollte ebenso über
Liebknecht hinweg wie über die Flüche der Gedichte Adys oder über
die toten Nazarener, die sich in Christus' Namen gegen den Krieg
aufgeopfert hatten. Was menschlich war, bewies nur die menschliche
Ohnmacht, war nur tragisches Zeugnis gegen die Geschichte - die
Geschichte, die man vor kurzem als schon sicheren friedlichen Motor
des Fortschritts zu betrachten lehrte und die nun als unaufhaltbarer,
monotoner Mechanismus ziellosen Raubens und Mordens erschien.
Alles, was sich nicht als Einzelmensch absonderte, alles, was Masse
war, wurde dämonisch und feindlich, war eine ins Gigantische
gewachsene Rückkehr dieser Vision aus der Kinderzeit, aber jetzt
sah ich nicht mehr aus dem Fenster, sondern auch mich - denn mit
meinen 18 Jahren war auch ich an die Reihe gekommen - im
Soldatenrock, als Maschine im Mordmechanismus, als Mensch irreal,
ausgelöscht. Den Krieg empfand ich nicht so sehr als einen Moment
der Geschichte, sondern vielmehr als Bankrott aller Werte, des
gesamten Lebens auf der Erde, als eine Katastrophe kosmischen
Ausmaßes, welche die Erde zu einer viel unmenschlicheren Hölle
erniedrigte, als es die bei aller Qual doch menschliche Hölle Dantes
war: zu einem einzigen riesigen Kasernenhof, wo jeder auf
Kommandoworte hin sich bewegen, hinlegen, knien, stehen, laufen
und singen muß und wo den Menschen noch in seine nächtlichen
Träume hinein die schnarrenden Kommandos grober Unteroffiziere
und arroganter Offiziere verfolgen.
Wer darin allein die Kleingläubigkeit des schlechten Marxisten
zu sehen meint, möge sich daran erinnern, daß der einzige Vertreter
des Marxismus vor dem Krieg die II. Internationale war. Wenn sich
heute die römisch-katholische Kirche mit dem Papst an der Spitze
öffentlich und laut, mit täglich wiederholenden demonstrativen
Akten der gottesleugnenden Bewegung der Bolschewiki anschließen
würde, ließe sich nur diese, bis zur Geschmacklosigkeit phantasti -
sche Unmöglichkeit mit jener Unmöglichkeit vergleichen, die im
Krieg tatsächlich eintrat: Die Parteien der II. Internationale ver-
kündeten mit dem, was sie taten, was sie in Wort und Schrift Tag für
Tag zum Ausdruck brachten, daß die vom Proletariat vor dem Krieg
vertretene Mission, daß jeder Internationalismus irreführende
Illusion gewesen sei - und das suggerierte die Tatsache des Krie ges
mit der ihm eigenen grauenvollen Kraft. Aber ich, der ich selbst
Soldat war, konnte ich die in Uniform versteckten Menschen sehen,
mit ihnen sprechen? Ja, aber man brauchte gar nicht zu sprechen,
man sah und es lag in der Luft, daß auch sie den Krieg haßten und
ihnen vor der Front graute - aber ihr Haß war ebenso ohnmächtig wie
der meine, und sie gingen ebenso an die Front wie ich. Es schien, als
sei daran nichts zu ändern. An der Front antimilitaristi sche
Propaganda zu machen war genauso überflüssig, wie beweisen zu
wollen, daß wir Läuse haben. Das spürte jeder. Und daß wir wußten,
was wir von Stunde zu Stunde tun, wollen wir alle mitein ander gar
nicht, machte die überall gegenwärtige, scheinbar unverwundbare,
unbesiegbare Macht, den Krieg, nur noch schicksalhaf ter und
unwiderstehlicher. Mein mit an die Front genommener Buddha-Band
im Tornister - die Welt ist ein Trugbild, von dem sich der Mensch
von innen heraus befreien muß -, das war alles, was zu tun
übrigblieb.
,,Die Außenwelt", wo beginnt und wo endet sie? Ich war nicht
nur ich. Was heißt das, man könne alles verlieren, wenn man sich
nur nicht selbst verliert? Verlor ich nicht auch etwas von mir selbst,
als mir das Arbeiterheim verlorenging? Kann man sein Haus verlie-
ren, ohne daß auch etwas Eigenes dort bleibt? Und was dort bleibt,
bin das nicht mehr ich? Ich war nicht nur ich, das Dorfkind, die in
unserem Haus aus- und eingehenden barfüßigen Knechtsfrauen mit
ihren vielen Röcken und das Arbeiterheim von Szabadka waren auch
in meinem Ich enthalten - enthalten waren darin auch die beiden
jungen Deserteure, die ich an einem strahlenden Sommermorgen
zum ersten und letzten Mal sah. In Anwesenheit der gesamten
Mannschaft der Kaserne, vor meinen Augen wurden sie vor einen
Holzstapel geführt, neben zwei weißgehobelte Särge, und nach
umständlicher Urteilsverkündung - die wir in Habachtstellung
anhörten - wurde erst auf den einen und dann den anderen mit an -
gezogenem Säbel Feuer aus den Gewehren sechs anderer Soldaten
befohlen - an diesem Ich war auch der Blick der zwei jungen Sol -
daten während der Urteilsverkündung enthalten, und jene Bewegung,
mit der der zweite, nachdem er die Hinrichtung des ersten bis zum
Ende mitangesehen hatte und bevor die Reihe an ihn kam, zum
letzten Male seine schweißfeuchte Stirn abwischte, blieb unaus-
löschlich - nicht in meiner Erinnerung, sondern, wie ich später
merkte, in meinem Leben.

VI.

Vor dem Richter - ja ich muß feststellen, daß ich von mir nicht re den
kann, ohne über die Welt zu sprechen. Offensichtlich kann das gar
nicht anders sein. Wir in der Welt: das heißt auch die Welt in uns.
Wir im Schützengraben, heißt auch, der Schützengraben in uns.
Dagegen kann man kämpfen. Vielleicht kann man auch im Ge-
fängnis sitzen und nicht dessen Wände, sondern den geöffneten
Himmel sehen. Das ist jedoch nur Ekstase, und jede Ekstase ist nur
so etwas wie ein Sonntagsausflug aus der Stadt ins Freie: In unse rem
sonntäglichen Entzücken ist determinierend auch enthalten, daß dort
hinter uns die Stadt liegt. Niemand kann sich davon aus nehmen und
offensichtlich kann das gar nicht anders sein. Jeder, der von sich
redet, spricht auch über die Welt; es gibt vielleicht keine Schuld, die
nicht - aus einem anderen Aspekt - auch Anklage ist. Den Krieg
produzierte der Kapitalismus, die 11. Internationale gab nicht nur
den Weg frei, sondern ihre Parteien wurden Kriegsparteien - aber
darüber hinaus ist, wie bei jeder Kollektivschuld, so auch bei der des
Krieges, jeder, der an ihr beteiligt ist, nicht nur Ankläger, sondern in
seiner Person zugleich auch Angeklagter, wie ich, der stumm, in
Habachtstellung die Hinrichtung der zwei Deserteure bis zum Ende
mit ansah. Der zum Herrn gewordenen Bestie traute ich zu,
allmächtig zu sein. Konnte man etwa nicht daran glauben? Sprach
nicht alles, aber auch alles dafür, daß dieses, auch die scheinbar
sichersten Versprechen verschlingende, mordende Chaos die einzig
reale, immer wiederkehrende „Geschichte" sei? Verstummten nicht
die die ewigen menschlichen Werte bezeugenden Stimmen, wie die
von Romain Rolland, die wie aus einer versunkenen Welt
heraufklingende Glockentöne gewirkt hatten? Und waren sie nicht
ebenso ohnmächtig wir wir selbst? Das ist alles wahr, und das alles
wußten wir damals auch, und doch konnte man nicht „Mensch in der
Unmenschlichkeit" sein, ohne sich auch in seiner eigenen Person
verzweifelt und beschämt schuldig zu fühlen.

Über die Zeitungsnachrichten hinaus, aus denen man sich


kaum orientieren konnte, erfuhr ich an der Bukowina-Front, was der
Bolschewismus ist. Die russischen Schützengräben waren kaum
einige hundert Schritt von uns entfernt, und während des
Waffenstillstands kamen immer häufiger russische Soldaten zu uns
herüber und brachten uns ihre Gewehre in der Hoffnung auf einen
Bissen Brot oder einen halben Liter Rum. Unsere Offiziere
amüsierten sich nur über die seltsamen Besucher, die fürchterlich
zerlumpt und so dreckig waren, daß die in ihren lächelnden
Gesichtern aufleuchtenden weißen Zähne überraschend wirkten.
Solch ein riesiger Russe erklärte mir zum ersten Mal in meinem
Leben die Bedeutung Lenins. Weder ich noch die um mich
Stehenden verstanden auch nur ein Wort Russisch, doch der Russe
wollte uns mit Händen und Feißen und ungeheuerer Anstrengung
irgendetwas erklären. Endlich fand er die richtige Art heraus. Der
riesige Mann umarmte mit seinen gewaltigen Armen zugleich mit
mir noch zwei andere, drückte uns an sich und wiederholte so immer
wieder: „Lenin, Lenin . . . "
Bis heute hat mir niemand mit Wort oder Schrift Lenins Programm
besser erklärt.
Bevor man noch wissen konnte, was der Bolschewismus später
objektiv verwirklichen würde, brachte er doch schon Großes zu -
stande: Allein mit seinem Auftreten, mit der Tatsache und der
Möglichkeit seiner Existenz war der böse Zauber gebrochen. Dem
passiven kontemplativen Pazifismus, der eine ohnmächtige Sehn-
sucht war, zeigte er die Möglichkeit des Handelns, in das aussichts-
lose Dunkel schnitt er einen hellen Spalt, denn mit dem Dasein und
der Verteidigung des russischen Proletariats war hier die internatio -
nale Revolution aus ihrem Grab auferstanden, die totgeglaubte Idee
des die Welt erlösenden Proletariats. Und dazu so deutlich wie noch
nie, denn nie war so deutlich wie in ihrem Kampf gegen den Krieg
zu sehen, daß der Kampf für die heiligsten Interessen der Menschheit
eins ist mit dem Kampf des Proletariats um seine eigene Befreiung.
Als der Befehl erging, daß es nicht erlaubt sei, mit den russischen
Soldaten zu fraternisieren, war es schon zu spät. Da wußte ich schon,
daß der Sozialismus die Sozialdemokratie überlebt hatte - und auf
einmal war die Welt wieder interessant geworden, interessanter und
verheißungsvoller denn je. Und als die Monarchie zerfiel und
Deutschland Demokratie wurde, schien das zunächst die erste Phase
der Erfüllung der russischen Prophezeiung zu sein. Die gesamte
während des Krieges angehäufte Verzweiflung schlug um in
himmelstürmenden Optimismus, als sich die Offiziere selbst ihre
Sterne abrissen und den Kriegsminister der revolutionären Károlyi-
Regierung hochleben ließen, als er der freudetrunken in Hochrufe
ausbrechenden Menge zurief: „Ich will in Zukunft keinen Soldaten
mehr sehen!" Als sich aber herausstellte, daß alles, was wir im
Oktober 1918 miterlebten, weniger Revolution war als viel mehr die
Folge des Sieges des Entente-Imperialismus über den Imperialismus
der Mittelmächte, des Zerbrechens der Fronten, wurde es zweifellos
zur Aufgabe, aufzubrechen zur Verwirklichung der russischen
Prophezeiung, der Weltrevolution, die die Menschheit für alle Zeiten
von Krieg, Gewalt und Ausbeutung befreien sollte.
VII.

Die Revolution, das war Budapest, und dort war auch ich sofort nach
dem Kriege, halb von zu Hause geflohen, mit einem kleinen Koffer,
der hauptsächlich mit meinen Manuskripten gefüllt war, 5 mit leeren
Taschen und einem vollen Herzen. Gleich am ersten Tag fand ich
mich inmitten einer seit der russischen Revolution aktiven
antimilitaristischen Gesellschaft wieder. Zu meinem großen und
glücklichen Erstaunen stellte sich heraus, daß die Mitglieder dieser
Gesellschaft seit 1914 mit den gleichen Teufeln der Verzweiflung,
des Schuldbewußtseins und der Ohnmacht gerungen hatten wie ich.
Damals machte ich zum ersten Mal die sich seither so oft wiederho -
lende und in jedem Fall so ermutigende Erkenntnis, daß ich objek tiv
niemals mit meinen Problemen allein bin und es niemals war. Unter
den verschiedensten Umständen, ohne voneinander zu wissen, ringen
Hunderte und Tausende mit genau den gleichen Fragen, klagen sich
selbst wegen ihrer Einsamkeit des schuldhaften Individualismus an,
und erst später stellt sich heraus, daß sie auch in ihrer Vergangenheit
als Mitglieder einer unsichtbaren Gemeinschaft in einer unsichtbaren
Kirche lebten.
Der Feudalismus und die Bourgeoisie Ungarns waren vom En-
tente-Imperialismus zerschlagen worden, Hunderttausende von
Soldaten strömten ohne jede Ordnung von den Fronten heim, jede
Produktion war unterbrochen. Wir betrachteten mit dem in vierein -
halb Kriegsjahren angewachsenen Haß diesen Zusammenbruch, den
die an die Regierung gelangten Sozialdemokraten Revolution
nannten, als Zerfall des Kapitalismus und stimmten alle darin über -
ein, daß die echte Revolution erst noch durchgeführt werden müs se.
Noch bevor sich der Kapitalismus reorganisieren könne, wollten wir
auf seinen Trümmern mittels der Diktatur des Proletariats die von
Grund auf neue, kommunistische Gesellschaft aufbauen.
„Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie
lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die
Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer
Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens
begriffen sind." (Marx) Wir glaubten 1918/19, dies sei der hi -
storische Augenblick, statt der Klassengesellschaft die Gesellschaft
der von jeder ökonomischen Knechtschaft befreiten Menschen auf-
zubauen. Wir glaubten 1918/19, es sei die Zeit für die vollständige
Liquidation der gesamten bisherigen Geschichte der Menschheit ge -
kommen und wir stünden an der Schwelle zum Beginn der wahren
Geschichte der Menschheit. Und wir glaubten 1918/19, daß außer
den materiellen Voraussetzungen nach dem viereinhalbjährigen
Krieg ebenso auch die psychologischen Bedingungen zur Lösung
dieser Aufgabe gegeben seien wie noch nie vorher. Alle
revolutionären Versuche der Kommunisten Mitteleuropas 1918/19
waren aus diesem Glauben geboren. Auch die russische proletarische
Revolution betrachtete sich selbst als Erstgeborenen der imminenten
Weltrevolution. Nach Zeugnis der Entwicklungen war dies eine
perspektivische Täuschung. Ohne diese hätte aber die russische
Revolution wohl nicht Brest-Litowsk überlebt, und dieser Glaube
war nicht nur vielleicht, sondern zweifellos eine ihrer großen
Stärken. Als sich herausstellte, daß er eine Illusion war, hatte das
russische Proletariat schon genügend Kraft, diese Enttäuschung
siegreich zu überstehen. Wenn 1918/19 wenigstens die Führer der
österreichischen und deutschen Arbeiterschaft im Zeichen dieser
„Illusion" gehandelt hätten! Wäre dann nicht dieser Glaube, der sich
in der damaligen Gegenwart als perspektivische Täuschung erwies,
aus einer Täuschung zur historischen Realität geworden? Wurde er
nicht zur Illusion, weil er dazu gemacht wurde? Dies ist keine heute
aufgekommene Frage, schon 1918/19 stand sie vor uns, damals eine
Frage der Zukunft, heute eine der Vergangenheit. Und wenn heute
diese Frage nur einen rekriminierenden Akzent hat, erschien sie
damals, 1918/19, als Dilemma der Vergangenheit und der Zukunft.
Die Gegenwart, in der wir uns zwischen dieser Vergangenheit und
dieser Zukunft befanden, erschien in unserem Selbstbewußtsein als
pathetischer Augenblick der Geschichte, jeder bisherigen
Geschichte.
Uns direkt gegenüber stand die Sozialdemokratische Partei, die
die Perspektive nicht im Ruf nach Schaffung eines radikal Neuen
sah, sondern allein in der Verwirklichung der vor dem Krieg vor-
handenen Absichten. Die ungarischen Sozialdemokraten bemühten
sich zusammen mit dem Bürgertum, unter der Ägide der Entente auf
den Trümmern des feudalen Ungarn eine der westlichen Demo kratie
ähnelnde ungarische Republik zu errichten - unser Ideal aus der
Vorkriegszeit. Sie wollten die Geschichte dort fortsetzen, wo sie mit
dem Krieg abgebrochen war, wir aber konnten den Krieg nicht als
einen Zwischenfall und eine vorübergegangene Katastrophe be-
trachten, sondern als die letzte Katastrophe, und damit sie die letzte
bliebe, war es nötig, nicht dort fortzusetzen, wo man aufgehört hat te,
sondern neu anzufangen. Das Bürgertum kam in jenen Monaten in
Ungarn als selbständiger Machtfaktor nicht in Betracht. Der Kampf -
der ungefähr drei bis vier Monate anhielt und eher von der Führung
der zwei Parteien als innerhalb der Arbeiterschaft geführt wurde -
tobte ausschließlich zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten;
es gab damals in Ungarn keine andere Organisation, kein anderes
zahlenmäßig starkes Lager. Als deshalb infolge der siegreichen
Entente-Politik die sozialdemokratische Parteiführung den Kampf
gegen die Kommunisten aufgeben mußte, wurde Ungarn automatisch
und so einfach, ohne Erschütterung, als ginge man von einem
Zimmer in ein anderes, am 21. März von einem Tag zum anderen zur
Räterepublik. Es war kein Putsch, sondern eine siegreiche
Revolution, der kein revolutionärer Kampf vorausgegangen war.
Bis zur Ausrufung der Diktatur, solange man uns schlug, die
Unsrigen ins Gefängnis warb, solange wir die Agitationsarbeit von
Verstecken aus führen mußten, stand ich meinen Mann so gut, daß
man mich in einem der bedeutendsten Arbeiterviertel von Budapest,
in Újpest zum kommunistischen Parteisekretär machte. Bis zur
Ausrufung der Diktatur war ich im Bewußtsein unserer Wahr heit
und weltumfangenden heiligen Ziel ein zum erbarmungslosen Kampf
bereiter, sorglos und glücklich selbstsicherer zwanzigjähri ger
Revolutionär. Ich hatte nicht eine einzige Frage, deren Antwort ich
im Programm der kommunistischen Partei nicht gefunden hätte. Bis
zum Sieg der Diktatur konnte ich es kaum erwarten, zur Waffe zu
greifen, daß es zum offenen Kampf mit dem Gegner käme, der
unseren Willen, eine neue Welt zu schaffen, unterdrückte, zum
Kampf mit den Feinden der Zukunft - und ich glaube, auch nach
einem noch so mörderischen Kampf' hätte mich mein Gewissen
damals befriedigt und ruhig schlafen lassen. Mit der Ausrufung der
Diktatur des Proletariats dagegen wurde ich auf einmal aus ei nem
Unterdrückten, Verfolgten, einem bisher immer nur unter der Gewalt
Leidenden zum Gewalt ausübenden Vertreter der herrschenden
Klasse. Gleich in den ersten Tagen schickte mich der Regierungsrat
zur Organisierung und Kontrolle der Arbeiterräte in die Provinz, und
später wurde ich Mitglied im Arbeiterrat eines Budapester
Stadtbezirkes und im zentralen hauptstädtischen Arbeiterrat. Und
damit geschah es immer häufiger - und je öfter, desto weniger
konnte ich mich daran gewöhnen -, daß ich den Menschen nicht als
Mensch, sondern als Macht gegenüberstand. Ich empfand mich als
unverändert, und dennoch traten immerfort Menschen Vor mich hin,
denen ich ansehen konnte: der fürchtet sich Vor mir, er sieht mich an
und seine Knie zittern. Der glückliche Schlachtruf des Ulrich von
Flutten: „Welch eine Lust, heut zu leben“ wurde immer gedämpfter
in mir. Solange wir den Kampf von unten führten, ging ich restlos in
dem fanatischen, kollektiven Selbstbewußtsein auf, das als
Verkörperung der gesamten Wahrheit im revolutionären Willen
erschienen war. Auch nach dem Sieg bedeutete dieses kol lektive
Selbstbewußtsein für mich die Wahrheit, aber nicht mehr die ganze
Wahrheit. Ich stieß auf Probleme, die für das Kollektiv keine
Probleme sein konnten, weil das kollektive Selbstbewußtsein keinen
inneren Widerspruch kennt. Für mich dagegen ging mehr und mehr
das Leben zu Ende, das nur einen einzigen Befehl kannte, den des
Kollektivs als Vertreter der historischen Aufgabe. Das Leben war
nicht mehr so einfach, daß in ihm nur ein Befehl gegolten hätte. Der
eine Befehl, aber nur der eine, war die uralte Maxime je des
Kollektivwillens, die Wahrheit des Kaiphas: Lieber soll einer für die
Gemeinschaft sterben, als die Gemeinschaft für einen. Der andere
Befehl verlangte die Achtung der Heiligkeit und Freiheit jedes
Menschenlebens. Dieser zweite Befehl war das Grundgefühl meines
Lebens, damit war ich zum Revolutionär geworden, und das mußte
ich im Interesse der Revolution verleugnen. Es war zur Frage
geworden, „wie sich das Gewissen und die Verantwortung des ein-
zelnen zum taktisch richtigen kollektiven Handeln verhält“.
Gewissen „ernsthaften Politikern“ mag es lächerlich erscheinen,
daß ein Exponent der Regierungsgewalt solche Probleme hatte. Für
die ernsthaften Politiker bedeutet die Politik nicht das Mittel eines
universalen Erlösungswillens, sondern die Verteidigung bzw. den
Kampf für die nationalen Klassen- und Persönlichkeitsinteressen.
Die Klassenpolitik des Proletariats ist ebenfalls Klassenpolitik, sie
will aber mit der Liquidierung der sozialen Klassen auch die Politik
selbst liquidieren, und darin liegt ihr einzigartiger moralischer Ge-
halt, ihre Anziehungskraft, darin liegt das prophetische Pathos. Die
Führer der ungarischen Diktatur des Proletariats waren überwiegend
aus ethischem Verantwortungsgefühl zu Politikern geworden. Der
Philosoph Georg Lukács, der Volkskommissar der ungarischen
Kommune, formulierte noch zur Zeit des Spartakistenaufstandes das
ethische Problem des einzelnen angesichts der an ihrem historischen
Augenblick angelangten Menschheit: „Denn in der Ethik gibt es
keine Neutralität und keine Parteilosigkeit; wer nicht handeln will,
muß auch seine Untätigkeit vor seinem Gewissen verantworten
können. Jeder, der sich gegenwärtig für den Kommunismus
entscheidet, ist also verpflichtet, für jedes Menschenleben, das im
Kampf für ihn umkommt, dieselbe individuelle Verantwortung zu
tragen, als wenn er selbst alle getötet hätte. Aber alle, die sich der
anderen Seite - der Verteidigung des Kapitalismus - anschließen,
müssen für die Vernichtung in den sicherlich folgenden neuen
imperialistischen Revanchekriegen, für die künftige Unterdrückung
der Nationalitäten und Klassen die gleiche individuelle Verantwor-
tung tragen. Ethisch kann sich keiner der Verantwortung mit der
Begründung entziehen, daß er nur ein einzelner sei, von dem das
Schicksal der Welt nicht abhinge. Dies kann man nicht nur objektiv
niemals mit Sicherheit wissen, weil es immer möglich ist, daß es ge -
rade vom einzelnen abhängt, sondern ein derartiges Denken wird
auch durch das innerste Wesen der Ethik, durch Gewissen und Ver -
antwortungsbewußtsein, unmöglich gemacht."
Der Fehler lag nicht in den Problemen, die nur mich
unvorbereitet trafen. Es ist auch kein Zufall, daß ich gerade durch
die Diktatur des Proletariats die Realität dieser Probleme bemerkte.
Der moralische Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv gehört
zu den Gegensätzen, die ebenfalls nur das Proletariat durch seine
Diktatur selbst lösen kann, indem es eine Gesellschaftsorganisation
schafft, die das Individuum nicht nur vom Erleiden der Gewalt,
sondern auch von der Notwendigkeit der Gewaltanwendung befreit.
Der Fehler lag darin, daß ich diesen individuellen Problemen damals
schon historische Aktualität zuschrieb. In Wahrheit lag das aktuelle
moralische Problem in der passiven Haltung der Arbeiterschaft, die
von der unblutig und ohne ernsthaften Widerstand errungenen Dik -
tatur des Proletariats unmittelbare und wirtschaftliche Vorteile er-
wartete, ohne im Interesse ihrer Aufrechterhaltung zu Opfern bereit
zu sein.
Béla Kun, der Führer der kommunistischen Partei, erwies sich
als Agitator und Organisator von außerordentlicher Befähigung;
binnen einigen kurzen Wochen schuf er die siegreiche kommunisti -
sche Partei. Nach dem Sieg jedoch gelang es selbst Béla Kun nicht,
die großen Massen der Arbeiterschaft als aktiven Faktor in das po-
litische leben einzubeziehen, wie es nötig gewesen wäre - ganz zu
schweigen von der Bauernschaft, die wir uns mit der Landbesitz-
politik der Kommune entfremdet hatten. Nach viereinhalbjährigem
Krieg konnte die Armee, wenn sie jetzt auch eine Rote Armee war,
die Arbeiterschaft nicht begeistern. „Aber wenn ich jetzt Soldat
werde und sterbe, was für einen Nutzen habe ich dann vom Sieg? -
fragte mich auf meiner Agitationsrundreise durch die Provinz ein
Arbeiter.
Die Passivität der Arbeiterschaft, die individuelle Korruption
und die Fälle von Machtmißbrauch bewiesen mir alle, daß zwischen
meinen eigenen Problemen und den Interessen der Diktatur ein ak -
tueller positiver Zusammenhang besteht. So entstand unter meiner
Leitung, aufgrund eines Auftrages des Volkskommissariat für Un-
terrichtswesen, die Weltanschauungsabteilung des Volkskommissa-
riats für Unterrichtswesen. Ihre Aufgabe sollte sein, in Zusammen -
arbeit mit Betrieben und der Roten Armee ein der Diktatur entspre -
chendes, der historischen Berufung der Arbeiterschaft würdiges
neues moralische Gemeinschaftsbewußtsein zu schaffen. Während in
einem von unten geführten Klassenkampf der Haß, die Rachsucht,
der Neid und das Bemühen um das eigene Wohlergehen zum Motor
der Revolution werden können, werden in der Diktatur, wenn das
Proletariat seinen Klassenkampf schon von oben führt, die gleichen
Motive zu Quellen der Korruption und des Machtmißbrauchs und
erhalten die Moral der bürgerlichen Gesellschaft aufrecht. Dagegen
kämpfte die Weltanschauungsabteilung, und im Laufe dieser Arbeit
kam es schon in den ersten Wochen der Diktatur in Budapest zu
Vorträgen, darüber, daß für die Rote Armee alles getan werden
müsse, daß aber in den Mitgliedern der Roten Armee, in uns auch
nicht für eine Minute der Haß gegen den Krieg, die Gewalt und
gegen jeden Kampf zwischen den Menschen verblassen dürfe, der
einzige edle Haß.
Mir schien, als hätte ich meinen Konflikt endgültig dadurch ge -
löst, daß ich nichts von meinem Grundgefühl verleugnen mußte und
dennoch ein guter Revolutionär bleiben konnte. Durch die
Weltanschauungsabteilung, das offizielle Organ des ungarischen
Proletarierstaates, konnte ich verkünden, daß es unter allen Um -
ständen, gleich, mit welchem Ziel es geschehe, nicht erlaubt und
Sünde sei, einen Menschen zu töten, daß es aber getan werden müs -
se, damit wir eine Welt erbauen können, in der dies sich nicht nur
verbiete, sondern auch nicht mehr erforderlich sei. Einen Menschen
zu töten ist Sünde, aber in diesem gegen die Gesellschaft geführten
Kampf gibt es eine bewußte tragische Verpflichtung zur Schuld: die
bewußte Aufopferung der individuellen sittlichen Reinheit um der
Brüder willen.
Haßt der gute Soldat den Gegner, vernichtet er ihn wohlgemut
und ohne jede bewußte Schuldübernahme? Bezogen auf jede bisherige
Armee stimmt das wohl, ich glaubte aber nicht, daß dies auch in der
Roten Armee so sein müsse. Ich kannte einen guten Soldaten, der auch
unter dem Galgen, bis zum letzten Atemzug ein guter Soldat blieb und
der aus Liebe, brennend großer Liebe tötete: Es war der Chef der
politischen Polizei der ungarischen Diktatur des Proletariats, Ottó
Korvin. Der Fehler war nur, daß ich schon die Zeit ge kommen glaubte
für den Bau des Daches, als noch nicht einmal das Haus stand. Der
andere Fehler, der persönliche Irrtum war dagegen, daß ich die Stärke
einer Theorie überschätzte; als ich zum ersten Mal in die Lage kam,
im Zeichen dieser Theorie handeln zu müssen, töten zu müssen,
versagte sie.

VIII.

Die Ausrufung der Diktatur des Proletariats war kein Sieg, sie
schuf nur die Machtvoraussetzungen zum Sieg, und ich - nicht nur die
Arbeiterschaft, heute weiß ich das schon -, auch ich wußte nicht, was
da auf dem Spiel stand. Manchmal glaube ich, genau wußten es nur
sehr wenige, ich aber war nicht unter ihnen. Von einem Menschen
weiß ich genau, daß er nicht nur wußte, nicht nur niemals vergaß,
sondern mit visionärer Kraft sah, daß wir in der damaligen Gegenwart
den Kampf zwischen einem sozialistischen Ungarn und einem Ungarn
des weißen Terrors ausfechten: Dies war Tibor Szamuely. Ja, er sah,
worum es ging, und weil er es sah, gab er sich restlos für die Zukunft
hin, welche er erreichen wollte, gegen die Zukunft, die sie bedrohte.
Er kannte kein anderes Problem als die Verteidigung der ungarischen
Kommune, und weil ein Scharfrichter gebraucht wurde zur
Personifizierung des roten Terrors, wurde sein Name dazu. Es gab in
den vier Monaten der ungarischen Diktatur des Proletariats wenige
Todesurteile, an deren Erinnerung sich nicht sein Name knüpfte. Die
Weißen fluchen heute seinem Gedächtnis als dem eines blutrünstigen
Sadisten. Szamuely hätte bleiben können, was er anfänglich war,
Volkskommissar für Wohnungsfragen. Seine Hände wären sauber
geblieben. Auch seine Genossen, die wie ich ihm Nahestehenden
hätten ihn nicht mit einer Art unüberwindlicher Voreingenommenheit
betrachtet. Mit_ unüberwindlicher Voreingenommenheit denke ich
auch jetzt an ihn, aber anders, aus einem anderen Grunde als damals.
Meine Hand blieb rein von Blut, ich tötete nicht, aber ich weiß nicht,
und es bleibt die Frage unentschieden, ob es dann, wenn auch ich und
alle übrigen so wie Szamuely nichts anderes hätten sein wollen und
gewesen wären als ein scharfes Schwert in der Hand des Proletariats
und mit unserem gesamten Leben nur Lehm und Mörtel für die im Bau
befindliche Zukunft - ob es dann in Ungarn einen weißen Terror
gegeben hätte, neben dem die gesamte Gewalt der Diktatur des
Proletariats verschwunden wäre, und ein System, das jenes Volk mit
endgültiger Vernichtung bedroht hätte, dessen Zukunft einmal in
unserer Hand lag? Ich gab mich nie damit zufrieden, dem Proletariat
treu zu bleiben, auch mir wollte ich treu bleiben.
Als kurze Zeit nach der Gründung der Weltanschauungsabtei -
lung die Entente von mehreren Seiten die junge Räterepublik be-
waffnet angriff, rückte auch ich als Soldat der Roten Armee ein,
doch nicht, wie ich sollte, als politischer Kommissar zur Kontrolle
der Offiziere, sondern weil ich einer von vielen sein wollte und nicht
wie in Budapest einer der ausgezeichneten Vertreter der Macht. So
billig suchte ich die möglichen inneren Konflikte zu umgehen, ich
wollte den Preis der Treue selbst bestimmen. Wenn es gelungen wä -
re, wenn ich bis zum Sturz der Diktatur hätte Soldat der Roten Ar -
mee bleiben können, ich wäre nicht für eine Minute wankend ge-
worden. Doch so geschah es nicht. Für die Rote Armee v, ar dies die
erste Feuerprobe an der rumänischen Front, und die damals zum
größten Teil noch aus geflohenen Bauern rekrutierten roten Trup pen
konnten die vorwärtsdrängende rumänische Armee nicht aufhalten.
In meinem Regiment waren kaum ein Dutzend Kommunisten, und
das Ziel unserer ganzen Kraftanstrengung konnte nur sein, die
zurückgehenden Truppen zusammenzuhalten. Die Panik griff von
den Soldaten auch auf die Arbeiterräte der bedrohten Städte über.
Als ich mit dem Regiment in eine der großen Städte der ungarischen
Tiefebene, nach Kecskemét gelangte, wurde ich aus einem Soldaten
der Roten Armee, der ich bleiben wollte, zum Mili tärkommandanten
der Stadt Kecskemét.
Die Arbeiterräte - besonders in der Provinz - arbeiteten die
gesamte Zeit der Diktatur hindurch schlecht. Wie die Diktatur selbst,
so hatte auch sie kein revolutionärer Kampf, sondern ein plötzlicher
Sieg ins Leben gerufen. Nicht wie aktive Repräsentanten eines
revolutionären Kampfes, sondern ab, Körperschaften unerfahrener
Bürokraten führten sie recht und schlecht - zumeist im Geiste des
Lokalpatriotismus - die Verordnungen des Regierungsrates durch.
Da das Gesetz über die Sozialisierung des Grundbesitzes im Moment
nichts an der Lage des mittellosen Bauern änderte, der auch
weiterhin als Lohnknecht seinen Broterwerb suchte, stand die arme
Bauernschaft der neuen Ordnung, wenn auch nicht feindlich, so doch
in ihren großen Massen gleichgültig gegenüber. Die Arbeiterräte
wurden folglich in der Provinz, wo der Klassenkampf ausschließlich
zwischen dem Großgrundbesitz und der armen Bauernschaft hätte
bedeutsam sein können, zu administrativen Körperschaften ohne
organischen Zusammenhang mit den existierenden oder möglichen
revolutionären Kräften, isoliert, saturiert, mit persönlichen Intrigen
und häufig nur den persönlichen Rachegelüsten dienend.
So war es auch in Kecskemét, wo ich am Tage meiner Ankunft
das Exekutivkomitee des Arbeiterrates, also die Stadtregierung, in
erregter Beratung vorfand. Auf die Nachricht vom Herannahen der
Rumänen hin befürchtete sie, daß in der Stadt konterrevolutionäre
Bewegungen ausbrechen könnten, und wollte fliehen. Dies hätte be -
deutet, daß die Stadt nach Bekanntwerden ihrer Flucht automatisch
der Konterrevolution in die Hände gefallen wäre. Da inzwischen
auch die Nachricht vom Einmarsch der Rumänen in Szolnok einge-
troffen war, bestätigte die Situation ihren Pessimismus, aber nicht
die Konsequenzen, die sie hinsichtlich ihrer eigenen Aufgaben zo-
gen. Mein Standpunkt war, daß wer um eines Zieles willen töten,
auch für das Ziel sterben könne. Natürlich beruhigte sie das nicht.
Die Nacht verbrachte ich im Rathaus, und wachte auf, als die Mit -
glieder des Exekutivkomitees, ohne mich von ihrer Absicht infor -
miert zu haben, im Morgengrauen nicht nur das Rathaus, sondern
auch die Stadt fluchtartig verließen. Vom Fenster aus sah ich das mit
ihnen davonrasende Auto.
Im Rathaus befand sich außer mir keine einzige Seele, und ich
mußte, bevor sich die Flucht der Mitglieder des Exekutivkomitees
noch herumsprach, äußerst schnell handeln. Nach Budapest konnte
ich keine Telefonverbindung mehr bekommen, so suchte ich in der
Hoffnung auf die nachträgliche Einwilligung des Regierungsrates -
die ich selbstverständlich auch bekam -- schnell die wenigen
Kommunisten aus unserem Regiment zusammen und ließ Plakate
drucken, auf denen zur Wahrung der Ordnung der Diktatur des
Proletariats das Standrecht verkündet wurde, und - ungemein
charakteristisch für die damaligen Verhältnisse - allein diese jede
konterrevolutionäre Bewegung mit dem Tode bedrohenden Plakate
hatten einzigartige Wirkung. Drei Tage später schlug die Rote Ar -
mee mit einem siegreichen Gegenangriff die Rumänen zurück, ich
aber blieb nun auf Befehl des Regierungsrates auch weiter bevoll-
mächtigter Militärkommandant der Stadt Kecskemét anstelle des
Amtsenthobenen Arbeiterrates. In meiner Freude darüber, daß es
ohne einen Tropfen Blut zu vergießen gelungen war, Kecskemét
wenigstens vor einem konterrevolutionären Versuch zu bewahren,
wollte ich alles tun, damit das Standrecht auch weiterhin nur
Drohung bliebe. Gerade deshalb wollte ich die in Kecskemét
stationierte, aus früheren Gendarmen rekrutierte Volksmiliz
überraschend entwaffnen, die in den drei kritischen Tagen mit
passiver Resistenz die Entwicklungen abgewartet hatte, ja, deren
Kommandeure - der eine war der später unter dem Namen
„Britannia“-Offizier bekannt gewordene Babarczy - den Versuch
machten, mich mit Gewalt aus dem Rathaus zu entfernen. Aus
Budapest wurden zur Demobilisierung dieser Miliz „Terrori sten“
geschickt, und die Volksmiliz lieferte ohne jede Gegenwehr, wenn
auch protestierend gegen den Verdacht, nicht zuverlässig zu sein,
ihre Waffen ab.

Wer waren die Lenin-Jungs, diese Terroristen? Jede Staatsord -


nung hat ihre Henkersknechte. Während der Richter, der das To -
desurteil ausspricht, ein allgemein angesehener Repräsentant des
Staates ist, werden die Henkersknechte, ohne die eine Staatsgewalt
nicht existieren kann und die das Urteil nur vollstrecken, aus der
Gesellschaft ausgestoßen. Selbst der Richter sitzt nicht gern an ei -
nem Tisch mit ihnen. Das ist unlogisch, aber es geschieht über eine
Hypokrisie des Selbstbetrugs hinaus aus dem Instinkt, der die phy-
sische Bestialität, den Mord, selbst wenn er eine unpersönliche ge -
sellschaftliche Funktion hat, nur als Mord und seinen Vollstrecker
nur als Mörder empfindet. Ich konnte mit eigenen Augen sehen, mit
meinen Händen fassen, daß die Werkzeuge der Revolution, die
Henkersknechte, wenn sie nicht außerordentliche menschliche Qua-
litäten hatten, menschlich die ersten Opfer der Revolution wurden.
Als ich vor der Diktatur einen Monat lang in der Illegalität, von
Verstecken aus die Parteiarbeit durchführen mußte, war ich viel mit
einem großen Burschen zusammen. Er gehörte zu der Art körperlich
überaus starker, primitiver Menschen, die ein wenig unbehol fen und
auch sentimental sind. Auch seinen letzten Bissen teilte er noch
gerne mit mir, begeisterte sich für unsere Führer und war un-
ermüdlich bei der Parteiarbeit. Dieser József Czerny wurde der
Kommandeur der Lenin-Jungs, er mußte zu nächtlicher Stunde er-
schreckte Konterrevolutionäre fassen, er mußte Geständnisse er-
pressen, er mußte handeln, als sei er persönlich blutdürstig, seelisch
grob und dazu noch korrupt, und ich sah, daß er sich in dieser Rolle
wohlfühlte. Zur Bravour war geworden, was im Prinzip unumgäng -
licher Zwang hätte bleiben müssen.
Aus dieser Atmosphäre kamen die zur Entwaffnung der Volks-
miliz entsandten Terroristen nach Kecskemét. Weil ich das wußte,
schickte ich sie um so lieber und mit dem Gefühl der Erleichterung
zurück nach Pest, als die Entwaffnung glatt vor sich gegangen war.
Zwei der Terroristen stellten sich lächelnd vor mir auf und drückten
mir ein Notizbuch, Photographien und eine Börse mit einigen Kronen
in die Hand. - Das hat einem Gendarmen gehört, den wir
„heimgeschickt" haben. - Aber was hat er denn getan? - Darauf
konnten sie nicht antworten. Nachdem sie alle früheren Gendarmen
demobilisiert hatten, mußte auch dieser die Kaserne verlassen, viel-
leicht hatte er es eilig, nach Hause zu kommen. Es waren vierzig
Terroristen, er allein einige Schritte von ihnen entfernt - und sie
schossen ihn nieder. - Wenn wir sauber zurückgekommen wären, was
hätten dann die Jungs gesagt! - So gaben sie schließlich den wahren
Grund an. Deshalb mußte der frühere Gendarm András Vén sterben,
der, wie ich später erfuhr, noch nicht einmal dreißig Jahre alt war.

Auf diese Weise wurde mit klar, daß man während einer
revolutionären Umgestaltung die moralische Atmosphäre nicht mit
irgendeiner Weltanschauungsabteilung regeln konnte. Für mich war
das Programm der Weltanschauungsabteilung real: Niemals vorher
habe ich so sehr jede Art Gewalt gehaßt, als während meine Kecske -
méter Stadtkommandanrenzeit, und ich blieb Kommunist, um das
Kommen jener Gesellschaft zu beschleunigen, die dann den dämo -
nischen Repräsentanten der Gewalt, den Staat, nicht mehr kennen
würde. Obwohl mich András Véns Schatten nicht verließ, blieb ich
überzeugter Kommunist und Stadtkommandant, bis ich den Ange-
klagten im Prozeß von Szentkirály gegenüberstand.

Diese Szentkirályer Bauern waren mit Sensen und Hacken be-


waffnet auf den Plan mehrer Berufsoffiziere hin nach Kecskemét
gekommen, um das Direktorium gefangenzunehmen und die alte
Ordnung wiederherzustellen. Dies geschah zehn Tage vor meiner
Ankunft in Kecskemét, und nun mußte das Kecskeméter Revolu-
tionsgericht über die Bauern und ihre Anführer urteilen. Die Mehr -
heit der Angeklagten, sechzig, waren arme Bauern, unter ihnen der
Vater, die Mutter und die jüngere Schwester des später berüchtigten
Massenmörders, der weißen Terroristen Héjjas - diese letzteren
waren wohlhabende Bauern. Während der Verhandlung saß ich
neben dem Vorsitzenden des Revolutionsgerichtes, und als man die
Angeklagten aus dem Gefängnis vorführte, sahen alle mich an, der in
Uniform, mit dem Revolver im Gürtel dort saß und von dem sie
wußten, er sei der Herr über ihr Leben oder ihren Tod. Während der
gesamten Verhandlung blickten sie auf mich, ununterbrochen bis
zum Ende - auch Leutnant Rád, der spätere weiße Terrorist, der
zwischendurch erregt an seinem kleinen englischen Schnurrbart
herumkaute. Es waren völlig Weißhaarige und auch ganz junge
Leute darunter. Jede Theorie, jeder großartige Glaube wurde zu-
nichte, ich war zu einem armen, elenden Menschen geworden; Ge-
sellschaft, Revolution, Menschheit, alles wurde zu einem leeren
Wort gegenüber der vollen, ungeheuren Wahrheit, dem Fundament
aller Wahrheiten: dem Wert des einzelnen, jedes einzelnen Men-
schenlebens. Ein Mensch ist mehr als seine politische Überzeugung,
mehr als alle von ihm begangenen Sünden, das spürte ich. Wenn im
Moment des Todes jede irdische Wahrheit irreal wird und nur ein
einsamer Mensch Auge in Auge der letzten Ewigkeit gegenüber
steht, dann war dies ein solcher Augenblick in meinem Leben.
Als die Mitglieder des Revolutionsgerichts sich zur Urteilsfin-
dung zurückzogen, gelang es mir - heute auch mir selbst unerfind lich
-, sie davon zu überzeugen, daß sie nicht ein einziges Todesurteil
aussprachen. Einige Monate später wurden die Mitglieder dieses
Revolutionsgerichts von dem Sohn des weißhaarigen alten Héjjas ,
„einem der besten Offiziere" Miklós Horthys, des heutigen Reichs -
verwesers Ungarns, von Iván Héjjas wie Vieh auf einen Bauernwa -
gen geladen, nachts abtransportiert und mit vielen anderen im Or-
goványer Wald abgeschlachtet.
In Ungarn wurden von der Diktatur des Proletariats im allge-
meinen nur die offen konterrevolutionären Verschwörungen, und
diese auch nur zum Teil, mit dem Todesurteil geahndet. Das läßt
sich dadurch belegen, daß ich nach dem Szentkirályer Prozeß mit
seinen Urteilen vergeblich um Abberufung bat und noch wochen lang
in Kecskemét als Stadtkommandant blieb.

IX.

Die Erkenntnis des heiligen und unverletzlichen Wertes jedes


Menschenlebens bedeutete offensichtlich nicht nur, daß ich nicht
töten dürfe, sondern daß jede Gewalt - nicht nur die des
Kapitalismus, auch die im Interesse der faszinierendsten Zukunft
angewandte - zu verneinen sei. Zur Sitzung des zentralen
Arbeiterrates von Budapest am 23. Juni ging ich mit der Absicht, ein
offenes Bekenntnis abzulegen. Ich wollte erklären, daß ich kein
Kommunist mehr sei, jede Staatsgewalt für böse halte und, obwohl
aller Konsequenz bewußt, nicht besser als Christus sein wolle und
könne, gegenüber welchem größere und sehendere Liebe noch nie
über die Erde schritt und der, obwohl er unter Unterdrückern und
Unterdrückten lebte, dennoch seine Jünger lehrte und ihnen mit
eigenem Beispiel zeigte: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß
er sein Leben läßt für seine Freunde" (Johannesevanglium 15, 13).
Bevor jedoch die Reihe an diese Erklärung kommen konnte, stürzte
Tibor Szamuelys jüngerer Bruder mit der Nachricht herein, daß in
Pest die Konterrevolution ausgebrochen sei und Monitore von der
Donau her das Haus der Sowjets angriffen. Diese Nachricht löste in
der Arbeiterratssitzung Panik aus, nur die Kommunisten blieben zu-
sammen, und ich eilte mit ihnen zur Stadtkommandantur. Die Stadt
war voll wilder Erregung, Flintengeknatter und überall zum Pogrom
hetzenden, blutdürstigen Flugblättern. Auf der Stadtkommandatur
bat jeder um Waffen, ich auch.
Umsonst war, was ich seit dem Szentkirályer Prozeß wußte;
nichts zu tun bedeutete nicht nur, meine von den sozialdemokrati-
schen Verbündeten verratenen Genossen, die Revolution zu verraten,
sondern auch, die Sieg der Konterrevolution zu unterstützen, wenn
ich ihnen nicht mit der Waffe in der Hand beistände.
Von der Stadtkommandantur gingen wir mit dem Volkskom-
missar für Unterrichtswesen in Richtung Haus der Sowjets. Die
Frauen und Kinder der Volkskommissare waren nach den ersten
Schüssen der Monitore fortgebracht worden, so daß das Haus der
Sowjets leer stand, und um es herum schlugen die Wellen des kon-
terrevolutionären Herrengesindels hoch. Man konnte nicht telefo -
nieren, da um die Telefonzentrale der Josephstadt zwischen den das
Gebäude besetzt haltenden Kadetten und den Roten gekämpft wurde.
Genosse Lukács sagte, ich solle die Befehlsgewalt über das Haus der
Sowjets übernehmen, während er eine entsprechende Wache be-
sorgen wollte. Daß ich dies tun müsse, verstand sich ganz von selbst,
und umsonst wußte ich, was ich wußte; während der Konter-
revolution war ich Kommandant des Hauses der Sowjets.
Ich glaube, daß einmal eine Welt sein wird, in der jeder Mensch
seiner - wahren Gesinnung entsprechend handeln kann. Was ich
allerdings aus der Erfahrung mit der Konterrevolution vom Juni hät te
lernen können, erkannte ich erst später, erst mehr als zehn Jahre
danach: Inmitten der heutigen Gegensätze dieser Gesellschaft und
ihrer Kämpfe wählt der Mensch seinen Platz nicht, sondern findet ihn
mit unvermeidlichem moralischen Zwang an der Seite des revo-
lutionären Proletariats.
Die Kadetten der Ludovika-Akademie ergaben sich nach mehr -
stündigem Kampf. Von den Unseren waren in diesem Kampf um die
Rückeroberung der Telefonzentrale viele gefallen. Nachdem das
Revolutionsgericht den Kommandeur der Ludovika zum Tode ver -
urteilt hatte, kam man zum Urteil über die Kadetten. Es waren mehr
als Hundert, der älteste 22, der jüngste 16 Jahre, aber alle, auch die
Sechzehnjährigen, hatten auf unsere Leute geschossen. Es war Otto
Korvin, der dafür sorgte, daß die nach dem mörderischen Kampf
gefangengenommenen Herrensöhne nicht von der Menge gelyncht
wurden.
Was wird mit ihnen, sie sind größtenteils Kinder, die offensicht-
lich nur die Opfer einer unmenschlichen Erziehung, in sie einge -
pflanzter falscher Ideale sind? - mit dieser Frage fand ich mich ei-
nige Tage vor der Verhandlung des Revolutionsgerichts bei Ottó
Korvin ein. Ich bekam ein Papier von ihm, mit dem ich die in der
Martinovics-Kaserne bewachten Ludovika-Kadetten aufsuchen
konnte. Als ich von dort zurückkehrte und Korvin von meinem Be -
such berichtete, legte ich ihm meinen Plan vor: Man solle die
Ludovika-Kadetten internieren, im Urteil auf die Erziehungsarbeit
hinweisen, und ich würde sie unterrichten. Nie werde ich das Lä -
cheln vergessen, mit der er diesen Plan und die ihm beigegebene op-
tinlistische Begründung anhörte. Aber er drückte mir die Hand,
machte sich meinen Plan zu eigen und ruhte nicht, bis er - die sehr
verständlichen Widerstände beseitigend - durchgesetzt hatte, daß die
Ludovika-Kadetten, diese minderjährigen Arbeitermörder, im
Kloster in der Budapester Horányszkystraße und später in der
Gyepstraße interniert worden, und vertraute sie meiner Erziehung an.
Täglich acht Stunden verbrachte ich mit den Ludovika-Kadet-
ten. Voraussetzung für den Erfolg meiner Arbeit war, daß sie in mir
nicht den Repräsentanten der feindlichen Diktatur sahen. Ihre bis -
herigen Wachleute schichte ich zurück, statt der Wache stellte ich
von ihnen selbst gewählte Vertrauensleute auf. - Wenn jemand
flüchten sollte, wurden nicht nur die Vertrauensleute zur Verant-
wortung gezogen, sondern auch ich - sagte ich ihnen, und die gan ze
Zeit hindurch bat ich sie - statt zu befehlen -, mein Vertrauen in sie
mit ähnlichem Vertrauen zu erwidern. Das war nicht gelogen; mit der
Zeit kannte ich jeden von ihnen persönlich und mochte sie wirklich
gern; wie es schien, sie auch mich, denn am zweiten Tag beteuerten
sie nicht mehr, sie seien Kommunisten, sondern wagten
auszusprechen, was sie von uns, den Roten, hielten. - Ich werde nicht
verlangen, daß sie von heute auf morgen Kommunisten wer den, ich
will Ihnen nur dazu verhelfen, daß Sie denkende, seelisch freie, zu
Entscheidungen fähige Menschen werden - sagte ich ihnen, und
außer über das Kommunistische Manifest hielt ich mit ihnen
Seminare über Tolstoi und Dostojewski …
War das alles schrecklich naiv? Ja, wohl deshalb, weil sich die
Diktatur damals in ihren letzten Wochen befand. Wenn sie aller dings
überlebt hätte, wären diese Ludovika-Kadetten heute zum größten
Teil keine weißen Offiziere, sondern tätige Glieder der ungarischen
Sowjetrepublik, und wir hatten damals, bis in die letzten Tage hinein,
in der Erwartung der nahen Weltrevolution und nicht des möglichen
Sturzes der ungarischen Diktatur des Proletariats gelebt.
Zum letzten Mal traf ich mit Ottó Korvin am Tage des Sturzes
der Diktatur zusammen. In Budapest hingen damals an den Wän den
schon die ersten Plakate der neuen sozialdemokratischen Regierung,
welche die völlige Wiederherstellung des Privateigentums
verkündeten, und an den Häusern Fahnen in den Nationalfarben. Ottó
Korvin saß noch immer im leeren Haus der Sowjets, um die
Genossen mit Instruktionen zu versehen, und ihnen vor allem ihre
Verstecke anzugeben. - Was ist mit den Ludovika-Kadetten? - fragte
ich, weil ich die letzten zwei Tage an der Front verbracht hat te. -
Weißen Terror werden sie machen - antwortete Ottó Korvin, den man
einige Tage später auf der Straße verhaftete und Tag und Nacht
schlug und trat, aus Rache und um von ihm zu erfahren, wer sich wo
versteckt hatte. Ich konnte Ottó Korvin nicht mehr erzählen, was
geschah, als ich eines Tages während des weißen Terrors mein
Versteck wechseln mußte: Zwei frühere Ludovika-Kadetten kamen
mir auf der Straße entgegen; als sie mich sahen, senkten sie die
Augen und gingen, verwirrt grüßend, wortlos weiter. Denn auch
solche waren unter ihnen.

X.
Die schlechte Agrarpolitik der ungarischen Diktatur des Proletariats
und die unwahre Einheitsfront mit der Sozialdemokratie wa ren
Fehler, die sich unter Umständen hätten korrigieren lassen. Trotz
dieser inneren Fehler rückte die Rote Armee immer noch triumphal
vor. - Wenn die siegreiche Rote Armee zurückgeht, ist die Entente
bereit, mit der Ungarischen Räterepublik Frieden zu schlie ßen -
dieser Vorschlag Clemenceaus war eine Falle. Und die Regierung
der Ungarischen Räterepublik ging, das Beispiel des Friedens von
Brest-Litowsk vor Augen, in diese Falle. Statt der versprochenen
Friedensverhandlungen eröffnete die Entente eine allgemeine
Offensive gegen die Ungarische Räterepublik. Auch die Hilfe des
internationalen, vor allem des französischen Proletariats blieb aus.
Und dennoch, trotz aller dieser Fehler und unglückseligen Zufälle
hätte sich die Diktatur des Proletariats halten können, wenn sich
nicht während des freiwilligen Rückzugs der Roten Armee und unter
dem Einfluß der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie die große
Masse der Arbeiterschaft von der Diktatur abgewendet hätte. Doch
die Arbeiterschaft glaubte, nach der Diktatur des Proletariats kämen
eine lange Reihe von Lebensmittelzügen der Entente und die
Demokratie. Schon Wochen vor dem Sturz der Diktatur war es diese
gegen die Diktatur gerichtete Stimmung in der Arbeiters chaft selbst,
gegen die wir mit immer weniger Erfolg in Ver sammlungen und
Beratungen ankämpfen mußten.
Den Faschismus nannte man damals noch nicht bei seinem Na -
men, aber die Arbeiterschaft Ungarns bekam ihn als erste zu spüren.
Die ungarische Diktatur des Proletariats hat in ihrem mehr als
viermonatigen Bestehen nicht so viel Blut vergossen wie der auf sie
folgende weiße Terror innerhalb von drei Tagen. Und der wie eine
mythologische Furie wütende weiße Terror dauerte nicht Tage, son-
dern Monate und - immer wieder von neuem Kraft gewinnend --
Jahre. Ruhige und friedliche Bürger beteiligten sich in kannibali-
schem Rausch an der Menschenjagd in den Straßen, Wohnungen und
hauptsächlich in den Fabriken. Ich war darauf vorbereitet, daß der
weiße Terror gnadenlos und blutdürstig sein werde, hatte ich doch
gerade deshalb die Diktatur nicht verlassen können. Dennoch
überraschte mich diese Orgie des Hasses, was mir alles in meinen
Versteck berichtet wurde, wie ansonsten gutwillige Spießbürger die
Galgen beklatschten und die Quälereien ' befürworteten. Als ich mich
von der Diktatur des Proletariats abwandte, innerlich in Ge gensatz
zu ihr geriet, kam ich damit nicht der bürgerlichen Gesell schaft
näher, sondern lehnte mich mit allen meinen Empfindungen gegen
jede Staatsordnung auf, in erster Linie gegen den Kapitalismus. Und
unter dem weißen Terror wurde meine Überzeugung im mer stärker,
daß ich auf jenem Wege weitergehen müsse, den ich mit dem
Szentkirályer Prozeß betreten hatte. Der auf die Diktatur folgende
weiße Terror, die auf die Gewalt antwortende gesteigerte Gewalt
schienen mir Elemente ein und desselben Dämonen zu sein, gegen
den man nur im Namen eines anderen Prinzips den Kampf
aufnehmen könne, im Namen dessen, der lehrte, es sei besser zu
sterben als zu töten, die Welt könne nur von der Liebe besiegt wer -
den. Jede gegen Gewalt angewendete Gewalt ist die Anerkennung
des Gewaltprinzips, und jeder Versuch, das Böse mit Bösem zu ver-
nichten, nährt das Böse nur weiter, und mir schien, das Beste, was
ein zum Dienen bereiter Mensch tun könne, sei, Tolstoi folgend mit
seinem Leben, im eigenen Alltagsleben Christus' Beispiel zu ver-
wirklichen.
Ebenso wie der Sozialismus war auch dies nicht nur eine Theo -
rie, die ich mir zu eigen machte. Ich erinnere mich, daß ich mir
schon im Dorf oft den Katechismus der katholischen Kinder ange-
sehen hatte, und der traurige arme Gott. von dem sie lernten, zog
mich viel stärker an als der andere, allzu majestätische, den man
mich lehrte. Zu diesem Gott strahlender Reinheit kehrte ich mit dem
Gefühl zurück, mich endgültig gefunden zu haben. Und als es mir
gelungen war, nach Wien zu fliehen, sagte ich meinen alten Ge -
nossen, die schon wieder für die neue ungarische Revolution arbei -
teten, ich könne nicht mit ihnen zusammenarbeiten, weil ich nicht
glaube, daß ein den weißen Terror ablösender roter Terror die Un-
menschlichkeit des weißen Terrors aus den Herzen vertreiben könne.
Ohne die frühere Gemeinschaft blieb ich allein mit der last mei -
ner Treulosigkeit, allein mit meinem Glauben. Das sind Lasten, die
zu tragen der Mensch keine Hilfe erwarten kann. Doch ich bekam
für die große Aufgahe, in der unmenschlichen Welt menschlich zu
leben, mehr als einen Helfer, ich bekam einen Lebensgefährten,
meine Frau, die selbst auch Kommunistin gewesen war, selbst &;n
weißen Terror überlebt hatte und die im eigenen Leben niemals et -
was anderes sah als ein großes, herrliches Geschenk, dem zu ent -
sprechen wir mit ganzer Strenge gegen uns selbst bemüht sein
müssen. Uns gegenseitig bestärkend, versuchten wir in unserem
bewegten Emigrantenleben das zu verwirklichen, was wir für unsere
einzige Aufgabe hielten. Uns, den von unserer bürgerlichen Herkunft
losgerissenen Emigranten, fiel es nicht besonders schwer, die Ver-
pflichtungen zur Armut des Evangeliums einzuhalten, das Problem
war vielmehr: ohne Kompromiß leben zu können. Außer unserer
gegenseitigen Hilfe hatte ich als Drittes zu diesem Leben meine
schriftstellerische Arbeit. Unter dem Titel Der Weg beschrieb ich
meinen Weg über die Diktatur zu Christus. Es war ein Glaubensbe-
kenntnis, aber als es fertiggestellt war und ein deutscher Verlag dafür
gefunden schien, waren wir uns einig, es nicht drucken zu las sen.
Umsonst stand in dem Manuskript, den Kommunismus zu ver neinen
sei nur apolitisch, unter Ausschließung aller Politik, nur aus
moralischen Gründen gerechtfertigt, doch bezog das Buch auch gegen
die Diktatur des Proletariats Stellung - und deshalb, so empfanden wir,
dürfe es nicht gedruckt werden. Das war offensichtlich ein
Widerspruch, doch meinten wir, ein Widerspruch nur in diesem
besonderen Fall.
Und wir versuchten, die Aufgabe zu verwirklichen: unser beider
Leben so gestalten, daß es eindeutig ausdrückt, was mein Buch nur
mit Buchstaben und Worten ausgedrückt hatte. Wir wußten, was nicht
erlaubt war, und nur das wußten wir. Es war nicht erlaubt, zur Waffe
zu greifen, und es war nicht erlaubt, aus Sorge für die morgigen Tage
unser Brot heute nicht zu teilen, es war nicht erlaubt, vor irgendeiner
Mühe oder Entbehrung zurückzuschrecken, nicht erlaubt, nur für uns
gegenseitig da zu sein ... alles das wußten wir, und dementsprechend
zu leben, schien genug Lebensaufgabe zu sein, denn es gab genügend
Arbeit, unerledigte Arbeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen
wie in uns selbst. Dies waren jene Wiener Jahre, in denen wir mehr
oder weniger außerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft
gemeinsam mit polnischen, deutschen, balkanischen und ungarischen
kommunistischen Emigranten von Gelegenheitsarbeiten, minimalen
Unterstützungen und der gegenseitigen Armut - denn auch das kann
man - leben. Über die konkreten menschlich-persönlichen
Beziehungen hinaus blieb mir bei den für mich geltenden christlichen
Verboten als mögliche Betätigung nur das Schreiben. Noch mehr als
in Wien war dies in dem kleinen Dorf der Fall, wohin ich gelangte, als
meine Frau ihr Arztdiplom bekam. Diese viereinhalb Jahre, die wir
dort verbrachten, erscheinen mir heute, als seien sie eine große, bis zur
letzten Konsequenz durchgehaltene Probe gewesen, ob man - nicht so
wie in Wien gleichsam am Rande der Gesellschaft, sondern inmitten
der gegebenen Gesellschaft - einsam leben könnte, selbst wenn man
als Christ leben will. Eigenartigerweise brachten uns nicht so sehr die
Ereignisse in der Welt, sondern - noch lange vor dem deutschen
Faschismus -- das, was wir in diesem kleinen Dorf erlebten, von dem
Weg ab, den konsequent fortzusetzen wir hierher gekommen waren.
Wir waren gezwungen gewesen, im Namen der Heiligkeit des
Einzellebens, unsere Genossen im Kampf zu verlassen, und in die
Praxis des Dorfarztes drang das Dorfleben ein, aber nicht, um die
Absicht des Arztes zu erfahren, sondern um ihm das Handeln zu
diktieren. Vergebens waren wir als überzeugte Tolstoianer der
Meinung, die Abtreibung der Leibesfrucht sei Sünde - wenn der Arzt
sich weigerte, eine schwangere Frau von ihrer Last zu befreien,
befreite sich die Frau selbst auf Bauernweise davon, so daß sie dabei
auch ihr eigenes Leben gefährdete. Der Arzt konnte die Frage der
Überzeugung gar nicht aufwerfen, es ging nur um das nötige und
mögliche Handeln. Die Überzeugung verlor ihre Bedeutung. Daß
dieser Zwang den ersten Riß in dem Glauben erzeugte, auch in dieser
Gesellschaft sei ein christliches Leben möglich, das weiß ich erst
heute. Wenn sich jedoch ein bis zum Ende konsequentes,
vollkommenes christliches Leben in dieser Gesellschaft nicht fuhren
läßt, zumindest nicht für Menschen, welche die entscheidende
Bedeutung der gesellschaftlichen Zusammenhange auf das Men-
schenleben kennen ... Mein Arbeitszimmer lag neben dein ärztlichen
Sprechzimmer, und ohne daß ich selbst gewußt hätte, zu welchen
Konsequenzen ich gelangen würde, nahm ich eines Tages mein
unveröffentlichtes Buch über die Diktatur hervor und fing an. die
Geschichte der ungarischen proletarischen Revolution neu zu
schreiben. Ich begann meinen Roman Optimisten.
Ich kenne nichts Erschütternderes als die Geschichte von dem al-
ten Tolstoi, der von zu Hause flüchtet, von herbeigerufenen Ärzten
umstanden in der Bauernhütte auf dem Sterbebett liegt und mit Abheu
und Verzweiflung ausstößt: „So stirbt ein Bauer nicht.“ Tol-stoi
gelangte über das soziale Problem zum Christentum; er begann seinen
Weg mit der ethischen Frage: Was muß ich in dieser Welt tun, damit
ich meine Sache am besten mache? Und die Antwort war: Alles ist
vom 'Teufel, was Institution, Dogma, Gewalt und nicht unmittelbar
seelisch lebendig ist. Macht und Geld errichten zwischen Mensch und
Mensch Trennwände und vernichten die einzige Grundlage des
Guten, das persönliche Verhältnis von Seele zu Seele. Mit diesen
Überzeugungen wie ein Narr in einer Bauernkutte vor den Kameras
amerikanischer Fotoreporter zu pflügen, und sich mittags nach dem
Pflügen vom livrierten Diener die Speisen am gräflichen Tisch
auftragen zu lassen - ein Leben, das die Karikatur dessen ist, was es
sein will, was innere lebendige Wahrheit ist. Tolstois ganzes Leben
war bis zu seinem letzten Aufschrei ein unablässiger Kampf gegen
jene Welt, die die Hypokrisie zur objektiven Situation macht.
Nicht nur in der gräflichen Umgebung Tolstois -- in dieser Ge-
sellschaft geht es jedem so. Die Diskrepanz von Selbstbewußtsein
und historischer Wirklichkeit, unseres inneren Lebens und jenes äu -
ßeren, das uns überallhin folgt, ja, dessen wenn auch nur passive
Teile wir sind, die Diskrepanz von Gedanke und Tat, die Hypokri sie
als objektive Situation, machte die Form unseres eigenen Lebens für
uns unablässig zum Problem. Im Sinne des Evangeliums Christ zu
sein, wissend, daß die Seinsvoraussetzungen der heutigen kapita-
listischen Gesellschaft nicht unabänderlich sind, wissend, daß diese
gesellschaftlichen Faktoren sowie die Produktionsfaktoren den
größten Teil der den Menschen erniedrigenden Qualen reproduzie ren
- das ist die Hypokrisie. Alles, was ich unter den unterschied lichsten
Umständen lange Jahre hindurch geschrieben hatte, war - je eine
Phase meines Ringens mit diesem Problem. lm Grunde genommen
fand ich dort in dem Schwabendorf in der Batschka, wo wir
jahrelang einsam lebten, meinen Weg, so daß das Auftreten der
letzten und scheußlichsten Mißgeburt des Kapitalismus, des Fa-
schismus als bedrohliche weltweite Erscheinung, mich nicht mehr
unschlüssig und ungerüstet traf. Während der Arbeit, beim Schrei -
ben, führten mich die Probleme, die sich mir in den Weg stellten,
einer Lösung zu.
Es ist der Faschismus, der die Forderung mach denn Selbstwert
des einzelnen Lebens aufgibt, der damit selbst den Begriff des Wer-
tes vernichtet. Wenn der Teufel Gottes Affe ist, dann ist der
Faschismus das teuflischste Zerrbild der Diktatur des Proletariats -- -
aber ein Zerrbild, das die moralische und historische Vorzüglichkeit
des Modells erhellt. Auch die Diktatur des Proletariats relativiert den
Wert des Lebens des Individuums, aber um diesen Preis bewirkt sie
die Geburt des individuellen Lebens, schafft sie die Möglichkeit, daß
der Mensch zum Menschen werden kann. Sowjetrußand ist heute der
einzige Staat der Welt, auf den nicht mehr zutrifft, was Marx über
das unlebendige Leben des Lohnarbeiters feststellte: „Seine
Lebenstätigkeit ist für ihn also nur ein Mittel, um existieren zu
können. Er arbeitet, um zu leben. Er rechnet die Arbeit nicht selbst
in sein Leben ein, sie ist vielmehr ein Opfer seines Lebens ... Das
Produkt seiner Tätigkeit ist daher auch nicht der Zweck seiner
Tätigkeit ... Umgekehrt. Das Leben fängt da für ihn an, wo diese
Tätigkeit aufhört.“
Nichts mußte ich vergessen, was ich unter der Diktatur erlebt
hatte, nichts mußte ich verneinen, was ich als Wert zu erkennen ge-
lernt hatte, nur darüber hinaus erfuhr ich auch, wo mein Platz ge
blieben war: an der Seite des revolutionären Proletariats, das in ei -
nem blutigen und gnadenlosen Kampf letztlich doch die Ideen des
Humanismus verwirklichen und den Abgrund zwischen Gedanken
und Tat beseitigen würde.
Das Proletariat steht heute mit seiner Arbeitslosigkeit, mit dem
langsamen Hungertod dem Faschismus gegenüber. Die Solidarität
mit dem Proletariat ist heute, angesichts des Faschismus zweifellos
nicht nur eine politische Frage; sie ist moralische Verpflichtung im
Namen der Kultur und des Gefühls für menschliches Leben. Und
gerade weil ich glaube, daß der Weg zum Beginn der echten Ge-
schichte der Menschheit über den Sieg des Proletariats führt, glaube
ich auch, daß jedes ehrliche Wort, das aus Achtung vor den
menschlichen Werten, aus dem Bewußtsein der menschlichen Soli -
darität heraus gesprochen wird, letztlich diesem Proletariat dient und
- es kann gar nicht anders sein - sich gegen den Faschismus richtet.
Schreiben ist nur eine Form des Dienens. In diesem Sinne gibt
es, glaube ich, heute keine unpolitische Literatur, und das ist der
Grund dafür, daß ich ein Schriftsteller in einer heute in der Welt
heimatlosen Sprache geblieben bin. Schreiben, weil eine unendliche
Schuld auf mir liegt, die ich, das weiß ich, nie abtragen werde - aber
im Zeichen einer solchen Schuld zu leben und zu arbeiten kann auch
dem Leben eines schwachen Menschen moralische Berechtigung
geben. Das meiste, was ein Mensch vielleicht erreichen kann, ist, daß
er mit allen Umwegen seiner Wahrheitssuche, jeden Widerspruch
prüfend, weder vor sich noch vor anderen etwas verbergend, zum
Zeugnis einer Wahrheit wird.
Vor dem Richter schreibe ich, immer vor dem Richter, und es
taucht die Frage auf: War es erlaubt, nicht nur für Freunde, sondern
auch für Gegner hörbar zu .sprechen? War es erlaubt, alles zu sagen,
als ich über die im Blut erstickte ungarische Diktatur sprach? Es
durfte nicht nur, es mußte geschehen. Die ungarische Diktatur des
Proletariats überführte die Fabriken, Bergwerke, Banken, Häuser und
den Boden in Gemeineigentum, sie bedrückte vier Monate hindurch
wie ein Alptraum die mächtigsten kapitalistischen Staaten der Welt,
vier Monate lang fing sie mit ihrem eigenen Körper die Schläge auf,
die sonst ihre heute mächtige russische Schwester getroffen hätten.
Es gibt keine Wahrheit, die im Interesse der ungari schen Diktatur des
Proletariats nicht ausgesprochen werden dürfte. Die proletarische
Revolution erbt die in der verpesteten Luft des Kapitalismus
aufgewachsenen Menschen. Wir müssen nicht lügen, und ein
revolutionärer Schriftsteller zu sein, bedeutet nicht, die Revolution
zu verherrlichen. Die Revolutionsziele sind herrlich, und die heutige
Gesellschaft ist mörderischer als jede Revolution. Wir wollen die
Ziele der Revolution und wollen deshalb so schnell wie möglich und
mit aller Konsequenz die revolutionäre Gewalt.
GYÖRGY KÁLDOR: ÜBER BÜCHER
Welche Wirkung hatten Bücher auf meine Entwicklung? Das klingt
so, als würde ich aufgefordert, ein Bekenntnis meiner großen Lie -
beserlebnisse und geheimen Leidenschaften abzulegen. Denn die
Erinnerung an die großen Bücher lebt in mir wie die an leiden-
schaftliche Liebeserlebnisse, und ich habe ein ebensolches Verlan -
gen nach einem Buch wie der Trinker nach Wein, der Morphinist
nach der Injektion. Ich erinnere mich auch nicht an den Inhalt oder
die Form der großen Bücher, sondern an ihre Persönlichkeit, ihre
Gefühlswirkung, Farbe, Aroma und Duft. Wie bei der Assoziation
meiner ersten Kinderliebe nicht die klaren Züge eines Gesichtes vor
mir erstehen, sondern eine Akazie irgendwo an einer kleinen Stra -
ßenecke in Fonyód, wie sie sich im Juniwind biegt und hinter ihr ein
rotgepunkteter Kleiderzipfel hervorschwingt. Auch in der Erinne-
rung an große Bucherlebnisse verschwimmen Plätze und Gesichter,
Berge und Möbel, Helden und Melodien ineinander. In der Einheit
von Bergsons durée réelle verschmelzen in mir Leben und Kultur,
Wille und Kontemplation, Bücher, Städte, Menschen ...
Deshalb ist es verständlich, daß dies eine besonders schwere
Aufgabe für mich ist: Ein wenig ist es die Aufgabe der Selbstbiogra -
phie und des lyrischen Bekenntnisses, auf diese Fragen zu antwor-
ten. (Ich bekenne auch noch, daß ich kein Anhänger der Mode un -
serer Zeit, der leidenschaftlichen Konfessionen bin, und schon gar
nicht, daß wir als angehende Vierziger bereits an unseren Memoiren
schreiben.) Dennoch unternehme ich den Versuch, in einigen Zügen
die Erinnerung an jene Bücher wachzurufen, deren Wirkung noch
heute in mir weiterschwingt, während der heiße Strom des ersten
Erlebnisses schon in die abgekühlten Lavaschichten des Unbewußten
eingemündet ist.
Irgendwo im schwülen Urwald der Pubertät, inmitten der Morä-
ste trüber Leidenschaften, der stachligen Ranken von Verdrängun -
gen, der großen Aufschreie edler Anläufe leuchtet ein Antlitz auf,
zwischen Frauen, Visionen und Bestien, das des Menschen, das
schöne, weise, rotbärtige Silenenantlitz von Lajos Fülep. Er war der


Káldor György: „Könyvekről" (1937) in: Kőhalmi Ma, Az új Könyvek könyve,
Budapest 1937, S. 173-176.
erste, der mich aufweckte, mein Führer, der die Seele in mir ent -
zündete. Ihm verdanke ich die Bibel, Homer und Dante zur Zeit des
Weltkriegs, seinen andachtsvollen, stolzen, reinen Worten, mit de-
nen er die Sehnsucht und Verehrung der großen Kulturen in uns
einpfropfte. Dante und Homer blieben nur ästhetische Erlebnisse
(vielleicht weil ich spürte, daß die ursprüngliche duftige Frische von
keiner Übertragung ersetzt werden kann). Doch die Bibel verstörte
mich dermaßen, brachte mich so in ihre Gewalt und unterjochte mich
derart, wie nur das reine und sanfte Wort Gottes die nach dem
Glauben dürstende Seele in der schändlichen, verlogenen und bluti-
gen Wirklichkeit des Weltkrieges betören kann. Um mich herum
überall Tod und Vernichtung, mein älterer Bruder war damals gerade
in den Karpaten gefallen, an meiner Seite waren innerhalb von drei
Jahren vier gestorben, und ich, die eingeengte Kreatur, floh mit dem
Instinkt der in Todesgefahr geratenen individuellen und kollektiven
Existenz zum Absoluten vor einer bis ins Knochenmark verfaulten
Wirklichkeit. Welche wunderbaren Wege öffneten sich durch die
Bibel! Welche elementar schnell strömenden Fluten! Da erschien
„Den Toten voran", und in Adys großartiger Lyrik wurde uns der ans
Kreuz geschlagene Mensch gegenwärtig, der gejagte und verspottete
Ungar. Und die Gestalten von Aljoscha Karamasow, Fürst Myschkin
und „Jeune Fille Violaine", mit welch reinem Glanz leuchteten sie
im Nebel der schmutzigen und blutdampfenden Wirklichkeit. Schon
glühte in mir der Funken, der in Dostojewski, Ady, Kierkegaard,
Claudel und Meister Eckhart immer wieder von neuem zur Flamme
auflodert: mit dem Aufruhr der mystischen Seele gegen den
unchristlichen Massenmord der mit tödlicher Maschinerie
organisierten Wirklichkeit. Bibel-Ady-Dostojewski-Kierkegaard-
Claudel: In allen ihren Wirkungen ist etwas von der revolutionären
Haltung des absoluten Individualismus gegen den sinnlosen,
rasenden Kollektivismus des Krieges. Und schon war in mir auch der
politische Instinkt erwacht: Oszkár Jászis Jaurés-Gedenkrede
erschütterte mich tief und weckte in mir die Verehrung der großen
pazifistischen Märtyrer. Doch mehr als alles leuchtete das mystische
„Fünkchen“: Dank, den Dank des Jünglings, an Lajos Fülep, der die
Flamme an uns weiterreichte, welche niemals verlöschen kann. Aber
die Mystik ist nicht das tägliche Brot der Seele, eher ein
verzehrendes und beunruhigendes Aufflammen außerordentlicher
Augenblicke. Der junge Geist dagegen sehnt sich nach ei nem
Weltbild, nach weltformenden Gedanken und Taten. In kleinen
Klassenräumen städtischer Schulen, an den Stammtischen Budaer
Kaffeehäuser lernte ich jene kennen, die nach dem Feuer der Seele
die Fackel des Geistes in mir entzündeten: die „Verschwore nen" der
Geisteswissenschaften. Denn die kleine idealistische Gruppe der
„Vorlesungen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften" war so
etwas wie eine verschworene Garde des Geistes, die mit einem
neuen religiösen Glauben die deutsche klassische Philosophie, die
deutsche Romantik wiederentdeckt hatte, in großen geschichts-
philosophischen Kategorien zu denken wagte und ein erklärter Geg -
ner jedes Positivismus, Materialismus und Psychologismus war.
Georg Lukács, Béla Balázs, Anna Lesznai, Lajos Fülep, Karl
Mannheim, Emma Ritoók und Zoltán Kodály: Sie führten in die
systematische Kenntnis des europäischen Geistes ein, aber sie ent -
falteten vor mir auch die wahre ungarische Kultur. In den kleinen
Versammlungen der „Geisteswissenschaftler" gaben sie mir zum er -
sten Mal Hegel in die Hand, der später mit seiner Geschichtsphilo -
sophie und Phänomenologie meine gesamte Geschichtsanschauung
entscheidend beeinflußte, aber dort hörte ich zum ersten Mal das
ungarische Volkslied „Magas a rutafa“ und die vielen herrlichen, bis
heute im Keller des Nationalmuseums verstaubenden Stücke der
Kodály-Bartók-Sammlung, die ich auch während meiner Wande -
rungen im Ausland im Herzen mit mir trug wie die liebe Heimat, von
der wir uns niemals trennen können. In vielem war diese philo -
sophische Bewegung fluchtartig, scholastisch, eine Insel-Kultur, die
sich jahrelang nicht traute, dem großen Problem der Zeit, dem So -
zialismus, ins Auge zu schauen, und auch heute vergesse ich nicht,
als welchen Verrat wir es empfanden, wir Jungen, als die Alten der
„Geisteswissenschaftler“ beschlossen, daß die Schule mit der Freien
Schule der Gesellschaft für Sozialwissenschaften fusioniere.
Für mich bedeutete der „reine“ und „absolute“ Geist lange Zeit
mehr als alles, und der Sozialismus war allein eine wirtschaftliche
und Organisationsfrage, die von der „idealistischen“ Philosophie als
ein Problem untergeordneten Ranges behandelt wurde. Aber über
Hegel und Georg Lukács' Geschichtsphilosophie führte der Weg
dennoch zu Marx, und wie mich die klassische deutsche Philosophie
mit ihren gigantischen Gedankentorsos gefangennahm, ebenso tief
wirkte auf mich, den zwanzigjährigen Jüngling, die in sich selbst
ruhende theoretische Geschlossenheit des marxistischen Gedankens
und seine ununterbrochene Wechselwirkung mit den aktiven Kräften
der sozialen Bewegung. Wie mit dem asketischen Glauben eines

69
mittelalterlichen Mönchs verbohrte ich mich in die drei Bände des
„Kapital", schlug mich mit den Gegensätzen des er sten und dritten
Bandes herum und mit den Exegesen von Hilfer ding, Luxemburg
und Otto Bauer.
Ich schritt an drohenden Steilhängen und Abgründen entlang,
vielfach umfing mich hoffnungslose Dunkelheit, als ich die Wahr -
heit schon so nahe wähnte, daß ich fast nur noch die Hand nach ihr
auszustrecken brauchte. Doch das Fünkchen des ersten Erlebnisses
glühte dort in unseren Seelen und leuchtete selbst in der finstersten
Verzweiflung. Welcher Trost war Tolstois „Krieg und Frieden", als
ich die großen inneren Widersprüche des sozialistischen Weltbildes
durchlebte! Ich saß im Wiener Votivpark, um mich herum jagten
sich Kinder, Kindermädchen klatschten, Autos hupten, Straßen-
bahnen klingelten, die Zeitungsverkäufer schrien: „Budjonny vor
Warschau", und ich fiel, fiel in den tiefen Traumbrunnen und erlebte
mit jeder meiner Nervenfasern die Napoleonische Tragödie von
neuem. Wie leer und abstrakt wurde jede Geschichtsphilosophie,
jede Expansion der Weltrevolution, gemessen an der Plastizität der
Tolstoischen Welt! An Kutusows Gestalt verstand ich den
notwendigen Bankrott der ganzen Konzeption Napoleons, aller
Dogmatik der Weltrevolution. Tolstoi zerbrach in mir das revolu-
tionäre Weltbild und bekehrte mich zur epischen Anschauung.
Danach folgten die Jahre der langen strengen Selbstprüfung. Ich
mußte aus dem Garten der Seele alles Unkraut ausreißen, immer
tiefer in mich hineingraben und das zerstörte Gleichgewicht zwi-
schen Seele und Geist wiederherstellen. Es kamen Jahre der Wirt -
schafts- und Geschichtsstudien, ermüdende und qualvolle Bemü-
hungen um die Vision des einheitlichen Europa. Ökonomen wie
Keynes, Cassel, Lederer, Schumpeter, Soziologen und Historiker wie
Max Weber, Sombart, Friedjung, Alfred Weber halfen bei die sem
geistigen Reinigungsprozeß. Am meisten fesselte die Dynamik der
modernen Geschichte mein Interesse, und erschüttert von der großen
Memoiren-Literatur des Krieges - besonders den Erinnerungen von
Grey, Churchill, Tirpitz, Bülow - schuf ich mir ein Bild der
Vorgeschichte des Weltkrieges. Und von da an gab es für mich keine
wichtigere Frage als das Problem der institutionellen und geistigen
Verhütung des Krieges. Der Kampf gegen den Geist des Krieges ist,
so fühle ich, seither in jedem Lager und jedem Land die Aufgabe
jedes rechtschaffen gesinnten Menschen. Und zu dieser Erkenntnis

70
trugen in gleicher Weise die Bibel, der Sozialismus und die
Erforschung der Ursachen des Weltkrieges bei.
Und jetzt sitzen wir am Ufer eines seit zwei Jahrzehnten ver-
schmutzten Stromes und sehen, sehen nur, was das Wasser mitführt.
Wir glauben nicht mehr an die weltformende Kraft der Seele wie zur
Zeit der ersten mystischen Ekstasen, auch nicht mehr an die
konstruktive historische Macht des Geistes wie in den Jahren des
flammenden sozialistischen Glaubens. Doch das „Fünkchen" in uns
lassen die wahre Seele und der glühende Geist immer von neu em zur
Flamme auflodern: Freuds tiefer Einblick in die Seele (besonders die
Lebens- und Todesproblematik in „Jenseits des Lustprinzips"), die
dramatische Synthese von Manns „Zauberberg", Huxleys „Point
Counter Point", die unheimlichen Visionen und der urtümliche
Humor von De Costers „Till Eulenspiegel".
Und auch die immer wieder auflodernden Feuer des
ungarischen Lebens brennen in uns weiter: Wir versenken uns in den
„Feengarten" von Móricz, in dieses reine jungfräuliche Paradies der
ungarischen Sprache, in die gewaltige Vision der ungarischen
Geschichte, Gyula Illyés' und Attila Józsefs bittere neue Lyrik belebt
unseren in die Jugend gesetzten Glauben wieder. Anna Lesznais
reiche Seelensicht, ihre Brueghelsche Farbenpracht ergötzen uns von
Herzen. Der im Dunkeln glühende Realismus in „Pusztavolk" klingt
in uns wider. Den edlen Individualismus Márais fühlen wir als
unseren eigenen.
Doch dieses vereinzelte Aufflackern des Geistes wirkt nur noch
wie einsame Wachfeuer. Das Leben vermischt schon so unwahr -
scheinliche, so phantastische Farben, daß ich in meine Lieblingsbü-
cher nicht mehr hineinstürze wie in den tiefen blumigen Brunnen des
Traumes, nein, ich flüchte zu ihnen wie in den Wehrturm der
einzigen festen und sicheren Wirklichkeit. Das Leben wird langsam
zum Traum, und nur noch die Träume sind wahrhaft wirklich. Die
Zeitungen sind voll von erschreckenden, scheußlichen, apokalypti -
schen Visionen, welche die Offenbarungen des Johannes übertreffen.
Die Dichter und Gelehrten bauen tagsüber an der Zukunft, die
Politiker zerstören es in der Nacht. Die Flamme des Geistes lodert
umsonst, das nächtliche Dunkel weitet sich ständig nur aus.
Was sollen wir tun? Die Faust schütteln und Verwünschungen
ausstoßen? Oder wie Hiob mit unerschütterlichem Glauben die im -
mer neue Qual ertragen? Claudel sagte einmal, seine
Lieblingslektüre sei die Zeitung und die Bibel. Langsam neigen auch

71
wir nur noch dazu: Das Heute und das Ewige Leben interessiert.
Deutlich wollen wir mit ungeschminkter, unerbittlicher Objektivität
sehen, was mit uns geschieht, wie man wiederum die eines besseren
Schicksals würdige Menschheit zum Schlachthof führen will. Und
täglich erneuern wir in uns das, was mehr als das Heute, Gestern und
Morgen: die Fülle der Zeiten. Denn täglich müssen wir die Energien
der schlummernden guten Absicht aufrütteln, mittels der Vision der
Schändlichkeiten der Welt, damit wir Kraft bekommen, den Lei -
denden und Gestürzten zu helfen. Aber täglich müssen wir in uns das
ewige Wort Christi erneuern, das Wort der Nächstenliebe: „Wer das
Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen."

KARL MANNHEIM:HEIDELBERGER BRIEFE

Heidelberg, Oktober 1921


Wir Ungarn leben in der Zerstreuung, der eine hier, der andere dort,
und jeder Punkt der Welt ist heute weiter vom anderen entfernt als
früher, aber dennoch ist unsere Neugier gieriger als je. Ich fühle
mich, seit ich draußen in der Fremde bin, wie ein vorausgeschickter
Wachposten, wie ein vorgeschobener Beobachter einer kleinen
Gruppe von Menschen, um festzustellen, ob endlich irgendwo et was
geschieht, ob es zwischen den fremden Häusern auch Men schen gibt.
Ich sehe in jedes geöffnete Fenster, errate die Gebärden der
gestikulierend Sprechenden und die verschwiegenen Worte der
zurückhaltenden Stummen. Wenn Menschen zusammenkommen, bin
ich dort, wenn sie lernen, lerne ich mit ihnen, und ich wünschte mir
auch, mit ihnen zusammen zu leben, mich niederzulassen - und
dennoch finde ich meinen Platz nicht.

Mannheim Károly: „Heidelbergi levél. I.“ Tűz (Bratislava), 1921, nov. 15.-dec. 1, S. 46-50;
„Heidelbergi levelek II.“ Tűz, 1922, ápr. 1.-ápr. 15.-máj. 1, S. 91-95.

72
Der ungarische Krug ist zerbrochen und seine hundert Scherben
sind in hundert Richtungen versprengt, diese wenigen wertvollen
Menschen, der Kreis jener großenteils voneinander Wissenden ist
zerstreut, und wenn zwei oder drei zufällig zusammenkommen, er-
kundigen sie sich eifrig nach den anderen. Ich möchte nicht nur das
Schicksal jedes einzelnen kennenlernen, sondern alles, was er mit
ungarischen Augen in den unterschiedlichsten Ecken der Welt gese -
hen hat, und ich täusche mich wohl nicht, wenn ich glaube, daß es
auch anderen so geht und sie sich dafür interessieren, was ein nach
Deutschland verschlagener Scherben erzählt.
Eines muß ich vor allem anderen eingestehen, daß jene Welt,
von der hier die Rede ist, nicht das gesamte Geistesleben des heuti-
gen Deutschland widerspiegelt. Man wird aus diesen Zeilen nur die
Charakteristik einer kleinen, dünnen Schicht von Menschen heraus-
lesen können: die der heutigen deutschen progressiven Intellektuel-
len. Es war immer und ist auch heute so, daß wir, die wir schreiben,
irgendwie zu ihnen gehören; und wenn wir schreiben, prüfen wir,
obwohl unwissentlich, auch die Gesichtspunkte, die Vorurteile un-
serer eigenen Kaste, und wenn wir angeblich die Geschichte des
Geistes schreiben, berichten wir nur über das Abenteuer einiger
Voraneilender und tun dabei so, als wären wir zusammen mit diesen
wenigen ausgesuchten Menschen die Achse der Welt.
Die Neuzeit hat mit der höchstsymbolischen Tat begonnen, daß
der Mensch mit kopernikanischer Geste entdeckte, er sei nicht die
Mitte der Welt, und einsah, daß die Welt sich in Wahrheit nicht um
ihn dreht, der sie sieht, und daß die Krone der Schöpfung nicht un-
bedingt der Mensch ist. Als der Mensch schon wußte, daß nicht er
die Mitte der Welt ist, lebte der schreibende Mensch noch immer in
der ptolemäischen Welt, und es wird vielleicht eine der nur schritt -
weise zu verwirklichenden Reformen der neuen Zeiten sein, daß der
schreibende Mensch begreift, daß innerhalb der Ordnung dieser Erde
nicht der Gelehrte und nicht der Journalist das Zentrum des öf-
fentlichen Lebens der gesellschaftlichen Bewegungen ist. Es sind
nicht seine Fragen, nicht seine Gesichtspunkte, nach denen sich die
Entwicklung richtet, und es heißt, die Dinge aus einem bemerkens -
wert engen Gesichtswinkel zu betrachten, wenn wir die Geschehnis -
se nur mit den Augen der Gebildeten ansehen. Wie es bisher das
Schicksal der Frauen war, daß (mit ein oder zwei Ausnahmen) im -
mer Männer ihr Leben und ihre verborgensten Empfindungen be -
schrieben, so können wir auch auf anderen Gebieten infolge einer

73
paradoxen Bestimmung der Dinge Charakteristik und Schicksal der
nicht-schreibenden, der nicht-geistigen Menschen durch die Brille
der Gebildeten sehen. Es folgt aus der Natur der Dinge, daß Tristan
liebt und Don Juan herumliebelt, und keiner von beiden schreibt ein
Essay oder Schauspiel, und wir sehen ihre Gestalten nur durch die
kontemplativen Kategorien eines Dichters oder Schriftstellers, wobei
das wahre Problem doch ist: Wie sähe wohl die Gestalt Don Juans
und Tristans aus, wenn sie sich selbst beschrieben hätten. Die letzte
Paradoxie beim Schreiben ist, daß es sachlich, wirklich sein und den
Grundriß der Dinge wiedergeben will und doch immer nur in der
Lage ist, eine ihrer Perspektiven zu Papier zu bringen.
Dagegen gibt es nur eine Hilfe: sich dieser Gegebenheit bewußt
zu werden und offen einzugestehen; in irgendeiner Form der Zeich -
nung die Umrechnungstabelle, den Grad des Blickwinkels beifügen,
damit der Leser etwas hinzufügen oder abziehen, erweitern oder
einengen kann - entsprechend des Schlüssels seiner Seele und seines
Interesses.
Gerade deshalb schicke ich eines allem anderen voraus: Mich
interessiert heute - möglicherweise wird das einmal anders - in er ster
Linie das Leben derer, zu denen ich gehöre. Wir, die über alle
Punkte der Welt verstreute Menge, sind der einzige internationale
haltlose Kehricht ohne Grund unter den Füßen: die wir Bücher
schreiben und lesen und die beim Schreiben und Lesen einseitig nur
der Geist interessiert. Wen man wirklich in diese Kaste eingliedern
kann, läßt sich nur von Fall zu Fall entscheiden, weil die Sache nicht
so einfach ist, ob man in den äußeren Erkennungszeichen des
Schreibens oder Lesens den Schlüssel wirklicher Unterschiede sehen
darf.
Wie nicht jeder, der auf der Bühne agiert, Schauspieler und
nicht jeder kritzelnde Beamte Staatsmann ist, ebenso lassen sich nur
jene in diese Kaste einordnen, die sich in so hohem Maße in den
Dienst des Geistes stellten, daß er tatsächlich im Mittelpunkt ihres
Lebens steht und seine Anwesenheit in allen ihren Lebensäußerun -
gen spürbar ist. Das entscheidet sich auch nicht daran, ob jemand an
der Bildung im tieferen Sinne des Wortes teilnimmt, ob er selbst
etwas durch geschriebene und gedruckte Buchstaben überprüfbares
Neues gestaltet und schafft, sondern daran, ob seine gesamte Le -
bensform davon ihren letzten Sinn erhält. Die Bildung, die wahre
Humanität, schafft eine die wirtschaftlichen und auch anderen so-
ziologischen Kategorien kreuzende neuartige Menschenschicht, die

74
selbst noch die spontansten Lebensformen gestaltet und den Men -
schen in eine isolierte, den übrigen unverständlichen Welt versetzt.
Während die Kulturen Chinas Lind Indiens für jene Menschen eine
auch nach außen sichtbare gesonderte Kaste schufen, verwischt sich
diese Isoliertheit bei uns zeitweise, weil diese Menschen äußerlich
kein so eindeutiges Kennzeichen besitzen.
Wenn ich über den daraus resultierenden allgemeinen und irri -
gen Glauben ab und zu nachdenke, bin ich immer erstaunt, um wie-
viel näher ich denen stehe, die an dieser Humanität beteiligt sind,
und wieviel näher sie mir stehen als ich oder sie der zu ihrer Natio-
nalität gehörenden, aber ganz anderen Menschensorte. Ich achte
deren Anstrengungen (und die Zeit gibt ihren Bemühungen viel leicht
einmal Sinn), verachte aber gleichzeitig die Lügen derjenigen, die
unter nationalen oder rassischen Parolen oder unter der Losung des
Klassenkampfes den romantischen Trauer verwirklichen wollen, sie
seien eins mit der Rasse oder Klasse, die sie programmatisch
vertreten.
Die Annäherung ist schön, doch muß man die Distanz sehen
und eingestehen und muß wissen, daß auch wir eine fast
hoffnungslose Sehnsucht haben und um sie kämpfen und uns
einschläfern: wir möchten ein Heim, eine Welt finden, weil wir
spüren, daß wir in dieser Welt keinen Platz finden. Ady sagt an einer
Stelle (gegen Ende von Portus Herculis Monoecii unter den
Bekenntnissen und Studien) - schade, daß ich es nicht bei mir habe,
so kann ich es nicht Wort für Wort zitieren -, es gebe ein wirklich
schweres Problem: diesen wenigen Vorstoßenden ihre
Lebensmöglichkeit zu sichern. Allem anderen läßt sich vielleicht
einmal helfen, möglicherweise löst sich sogar die wirtschaftliche
Frage irgendwann, doch wäre es Selbstbetrug zu glauben, wir
würden uns damit auch nur ein Jota der Lösung dieser schwierigen
Aufgabe nähern, die ein für allemal auch die seelische Brücke
zwischen Mensch und Mensch schlagen könnte. Vielleicht werden es
mehr, die infolge Beseitigung äußerer Hemmungen zu einem
seelischen und geistigen Leben gelangen können - auf diese
Beseitigung der Hemmungen kann und darf nicht verzichtet werden
-, aber dadurch werden wir nur noch mehr, und auch statistisch wird
das Problem dadurch schwieriger, wie der Geist ein Heim auf der
ganzen Erde finde.
Während ich umhergehe und die Dinge betrachte, frage ich
mich, wie in Deutschland nach Krieg und Revolution die Gesalbten

75
oder die Opfer des Geistes leben. Womit beschäftigen sie sich, was
bewegt sie, womit schläfern sie sich ein, was geschieht mit und in
ihnen, wohin bewegt sich diese enge Welt? Wenn ich über den heuti -
gen Deutschen spreche, denke ich mit absichtlicher Sinneinschrän -
kung nur an diese dünne Schicht, und neben allen meinen Bean -
standungen und Verurteilungen wendet sich ihnen doch meine Liebe
zu. Denn ich glaube dennoch - und vielleicht ist auch das eine
Voreingenommenheit -, was einmal wichtig werden kann, wird in
ihnen vorbereitet und gestaltet. Vielleicht, wenn ich sie und ihre Sa -
chen genügend verstehe und mir der Grenzen solcher Kenntnisse be -
wußt bin, mag es sein, daß ich die Ausstrahlungskraft und den Ein-
fluß dieses absichtlich eingeengten Kreises einschätzen kann, mit
denen er auf größere Einheiten, ausgedehnte Welten zu wirken ver-
mag.
Diese Briefe werden aus Heidelberg geschrieben, einer kleinen
Universitätsstadt in Deutschland, und dennoch müssen sie nicht
notwendigerweise „provinzielle Briefe" werden. Wie es möglich ist,
daß man von einer kleinen Provinzstadt aus die Seele des großen
Deutschlands sehen kann, schon dafür gibt es auch weiterführende
Gründe: Es hängt mit der kulturellen Dezentralisiertheit Deutsch -
lands zusammen. Träger der verschiedenartigen geistigen Bewegun -
gen ist nicht dieselbe Kulturschicht eines Ortes, einer großen Stadt,
sondern die neuen Erlebnisse, Ereignisse und Gedanken haben ih ren
Ausgangspunkt verstreut in zahlreichen kleinen Städten des Landes.
Das Ganze stammt aus mehreren Traditionsquellen, aus mehreren
lokal gebundenen Wurzeln. Die Provinz, die Kleinstadt ist folglich
nicht die letzte Ausstrahlung, ein peripherischer Nieder schlag vom
Leben eines Kulturzentrums, sondern die lebendige Quelle selbst.
Vielleicht auch deshalb ist es für uns sinnvoll, vor allem dies zu
beachten, weil das ungarische Kulturproblem, wie früher mit der
Frage der Zentralisiertheit, so jetzt mit der der Dezen tralisiertheit
identisch ist. Die aufbrechende ungarische Kultur konnte nur deshalb
so plötzlich vernichtet werden, weil sie zentralisiert war. Sozusagen
eine einzige geistige Schicht Budapests war Träger der Bewegungen,
und indem man diese auseinanderjagte, gelang es mit einem Schlag,
auch das geistige Leben gleichsam völlig zu vernichten. Heute ist
nur noch der zweite Weg gangbar - der dem der deutschen Kultur
verwandt ist, daß nämlich die auseinandergetriebenen geistigen
Kräfte in den vielen kleinen Zentren von neuem aufeinandertreffen,

76
sich in die existenten provinziellen Kulturanfänge einschalten und
die Basis für eine künftige dezentralisierte ungarische Kultur legen.
Daß eine dezentralisierte Kultur ein völlig anderes Bild gibt als
die auf eine Hauptstadt orientierte, das eben zeigt die deutsche gei-
stige Welt. Die vielästige Herkunft verleiht dem deutschen geistigen
Leben nicht nur Vielfarbigkeit, sondern eine Breite, die jedem auf-
tretenden Neuen mehr Möglichkeit als üblich sichert. Jede Bewe -
gung hat ihren eigenen lokalen Charakter, ihre Vaterstadt, von der
sie ausgeht, und wer reist, entdeckt sehr schnell, welche von den
vielen geistigen Richtungen eben in dieser Stadt entstand. Jede Stadt
hat ihre spezifische Atmosphäre (auf dieses Wort sind sie sehr stolz),
die sich langsam herausbildet, und wenn man dem nachgeht, kann
man hie und da noch dahinterkommen, welchen Zug ihres all-
gemeinen geistigen Habitus die Kleinstadt von welchem früheren
oder noch lebenden herausragenden Menschen erhielt.
Die Kultur der Kleinstadt hat den Vorteil, daß die Spuren des
dortigen Aufenthaltes des einen oder anderen bedeutenderen Men-
schen noch sehr lange erhalten bleiben und nicht nur mit ihren In-
halten, sondern mit ihrer ganzen Lebensform eingehen in jene gei stige
Atmosphäre, aus der sich die weitere Entwicklung speist; der Mensch
ist in der Kultur der Kleinstadt anwesender und nicht derart
unpersönlich wie in der alles neutralisierenden Vielfalt der Großstadt.
So entwickeln sich nicht nur die Inhalte weiter, sondern auch die
Lebensformen, die Attitüde, das Denken und die Sichtweise vererben
sich, und in der Luft liegt vieles, was gemeinsames Eigentum und
gemeinsam geschaffener kultureller Schatz ist. Daß jeder Gedanke
zuerst in einem kleinen Kreis heimisch wird und sich nur langsam
weiter ausbreitet - diese Probe tut den sich verbreitenden Inhalten nur
gut.
Natürlich hat das aus den kleinen Städten stammende dezentra-
lisierte geistige Leben neben diesen Vorteilen auch seine Gefahren.
Die kleine Stadt bietet den wirklich aktiven Menschen und besonders
solchen, die über politische oder in irgendeiner anderen Form
prophetische Fähigkeiten verfügen, zu wenig Möglichkeit, sich aus-
zuleben.
Vermutlich wurde dies zum Schicksal eines der bedeutendsten
Menschen der letzten Zeiten, Max Webers, der über alles verfügte,
was ihn fähig zur politischen Führung gemacht hätte: grenzenloses
soziologisches und wirtschaftliches Wissen, realpolitisches Gefühl,
suggestives Temperament, und doch blieb sein Einfluß auf den Ablauf

77
der Dinge minimal. Als Professor in Heidelberg konnte er in der
Politik nur eine Gastrolle spielen, und obwohl sich auch vieles andere
gegen ihn verschwor, weil die Strömung des lebendigen politischen
Lebens ihn nicht über die toten Punkte hinwegtreiben konnte, kennt
man ihn heute nur als Gelehrten. Max Weber ist nur ein Beispiel für
die Verstopfung der Energien, die nur eine der großen Gefahren der
Provinzkultur ist. Die andere liegt im Kleinbürgerlichen, das selbst
noch den ausgezeichnetsten Menschen von der Kraft der Trägheit des
sozialen Lebens aufgezwungen wird. Man muß hier sein und sie
sehen, die „Fackelträger" und „Reformer", was für Kleinbürger sie in
ihrem Alltag sind und wie sehr es nur Ideen sind, die sie verkünden,
und in welch engem Rahmen sich ihr Leben bewegt. Darin liegt auch
etwas ergreifend Naives, wie manche Ausgezeichneten nur gerade in
dem, was sie zentral beschäftigt, vordringen und stürmen, in ihrem
Alltagsleben sich aber in ganz enge Schranken einbinden lassen! Es
reicht nicht, ihre Sachen zu lesen, denn kaum gab es irgendwann und
irgendwo einen so tiefen Abgrund zwischen Werk und Mensch wie
hier und jetzt. Unerhört tapfer schreiben sie alles durchbrechende
Worte und führen ihre Feder allzu leicht, während der Mensch selbst,
der es schrieb, in jedem Zug seines Lebens ruhig und ergeben und
ohne jede die Seele befreiende Geste ist. Der Antagonismus zwischen
kleinbürgerlichem Leben und kosmopolitischem Denken wird hier
unerhört stark spürbar, denn im Kleinstadtleben kann man nicht so
leicht einem Problem ausweichen wie in der Großstadt, wo die
Kontrolle der Lebensformen gering ist Lind sich das Leben ohne
Widerstand gestaltet wie auch der Gedanke.
All das ist heute natürlich nicht mehr ganz so, weil besonders in
letzter Zeit Berlin auch in geistigen Dingen immer größere Bedeu tung
bekommt und die geistigen Bewegungen verschiedenster Herkunft
vereinheitlicht und miteinander konfrontiert, ihnen ihr Lokalkolorit
nimmt und im deutschen Schmelzofen zusammenwirft und mischt, um
sie unter chaotischem Lärm zu vereinigen.
Wenn ich die Wahl hätte, ständig herumzureisen und dabei
Berlin, München, Dresden, Köln und die übrigen Orte flüchtig zu se-
hen und auf dieser Basis geistige Reportagen von ihnen zu machen
oder irgendwo an einem Ort zu bleiben und von dort aus das Leben zu
beobachten, so würde ich mich für letzteres entscheiden. Einen großen
peil der Städte habe ich auch gesehen, ich könnte, reisend, aufgrund
nur flüchtiger Eindrücke ihren Inhalt beschreiben, der sich auch aus
ihren Büchern ablesen ließe. Das jedoch interessiert mich nicht. Mich

78
beschäftigt, wie sich die Menschen zu ihren Inhalten verhalten, wie sie
mit ihnen leben und was von dem verwirklicht wird, was auf dem
Papier nur als Buchstabe existiert. Dazu muß man aber zwischen
ihnen leben, mit ihnen, irgendwo an einem Ort. Man muß zwar auch
wissen, was außerhalb der Mauern geschieht, aber wie sich das Neue
neben dem Alten placiert, wie sich die Idee mit der Wirklichkeit
verträgt, das wird in einem Querschnitt des Lebens an einem Ort
sichtbar. Und weil der Verwirklichungsprozeß im kulturellen Leben
stark typisiert ist, ist es sehr leicht möglich, daß aus der Orientierung
auf ehren Testen Punkt sich auch die übrigen Orte besser sehen
Kissen. Um nicht die Stadt am Neckar einseitig in den Mittelpunkt des
deutschen Globus zu rücken, will ich im einführenden Brief, bevor ich
die Dinge ans lokalen Gesichtspunkten betrachte, noch ein paar Worte
über jene allgemeine geistige Einstellung verlieren, die den heutigen
Deutschen nicht nur liier,
sondern auch überall charakterisiert. Die
geschichtsphilosophische Konstellation ist heute so beschaffen, daß
sich die vielen örtlichen Gottheiten, lokalen Bewegungen auf eine
weit- oder zumindest das ganze Land erobernde Rundreise begeben.
Was unter anderen Umständen die an einen Ort, eine Stadt
gebundene enge, schulmäßige Lehre gewesen wäre, verläßt heute
seinen Sitz, und da die Menschen in ihrer seelischen Einstellung
heißhungrig auf Glauben und Belehrung warten, findet jede
Bewegung auch über ihren eigenen engen heimischen Bereich hinaus
Anhänger. Die allgemeine und für unsere gesamte Zeit bezeichnende
Richtungslosigkeit trifft und fällt mit der aus der deutschen
kulturellen Dezentralisierung resultierenden Vielfalt zusammen und
treibt den Einzelnen in den verwirrenden Strudel der geistigen
Richtungen. Die meisten deutschen Gebildeten sind heute verkappte
Sektierer, Anhänger irgendeiner isolierten Bewegung, sehen die
Welt im Zeichen irgendeines „Ismus“ und versuchen, sich mit Hilfe
einiger nicht besonders scharf konturierter Prinzipien in dem
Durcheinander, das sie umgibt, zu orientieren. Auch hier gibt es
nicht „eine Sache", wie nirgendwo auf der Welt, an die jeder glauben
und der erlösenden Kraft von Teilwahrheiten vertrauen könnte. Aber
auch der Einzelne glaubt nicht vollkommen mit dem ganzen
Fanatismus der Überzeugung das, dem er sich verschworen hatte,
jeder schwebt irgendwie über seiner übernommenen Sache.
Vielleicht ist dies noch die Erbschaft der Aufklärung, des 18.
Jahrhunderts, die unauslöschlich tief eingeschnittene Spuren in der

79
menschlichen Seele hinterlassen hat, und wenn auch die Inhalte und
die vergangenen aufklärerischen Lehren immer mehr verdrängt
werden und die Menschen die Sehnsucht nach einer neuen Religion
und einem neuen Glauben erfaßt, ist die „seelische Einstellung" die
alte geblieben: Der heutige Deutsche ist in Wahr heit ungebunden
und haltlos in seiner Seele und mit seinem Verstand ein Suchender
und Räsoneur, und seine tiefe Paradoxie ist es, daß er über
vorverstandesmäßige irrationale Dinge räsoniert und ausschließlich
aus der organischen Entwicklung stammende Dinge organisiert.
Nach der Aufklärung öffnete die Romantik die Schleusen für
das Vor-Vernunftmäßige, die Ahnung, den Glauben und den In -
stinkt, der Mensch sah mit seinem Verstand ein, daß es Dinge vor
und jenseits des Verstandes gibt und die Einsicht jetzt mit ihren ei-
genen Mitteln über sich selbst hinausgreifen will.
Deshalb dürfen ihre Überlegungen nur als Sehnsüchte und nicht
als Reformen betrachtet werden. Die Grundform ihres Denkens-
ist das Programm und ihr Leben erfüllt sich mit der skizzenhaften
Aufzeichnung neuer Möglichkeiten, und es gibt in Wahrheit keine
Inhalte, mit denen man diesen Rahmen füllen könnte. Und weil es
das Verhängnis des Programms ist, daß es immer irgend etwas Zu -
fälliges, eine sich an den Rändern des Lebens bewegende Sache her -
ausgreift und in den Mittelpunkt stellt, deshalb lassen sich neue
Welten nur künstlich um diesen herum einbauen.
Der eine entdeckt den Rhythmus, der andere den Tanz, der drit-
te die Erziehung, und wieder andere den Glauben, Gott, die Neger,
den Stil, die Einheit und die Theaterkulisse. Und worauf sich einer
zufällig stürzt, das wird die Mitte der Welt, der Grundstein der
Wiedergeburt und das verheißene Land des kommenden Lebens,
dessen alleiniger Apostel er ist.
Überall gibt es das Warten auf Propheten, die Luft ist voll von
kleinen und großen Propheten. Der eine schwört auf Steiner, der
andere auf Spengler. Es gibt Blüher, Kayserling, Zentren, die ganze
Kulturen reformieren, es gibt die Apostel Wynekens und Georges.
Eine unerhörte - geistige, aber nicht seelische - Bereitschaft der
Menschen für irgendeine Erlösung ist vorhanden, eine gewisse Lee -
re, ein Mangelgefühl, das es nicht gelingt auszufüllen.
Eben deshalb ist der heutige deutsche Intellektuelle distanzlos,
er sieht keine Unterschiede in kleinen und großen Dingen, weil er
sich scheinbar immer zwischen großen Dingen bewegt.

80
Als Einzelner ist jeder sympathisch, weil alle diese
Bewegungen irgendeine Teilwahrheit beinhalten: die „Freideutsche
Jugendbewegung", der „Wandervogel", der „Georgeismus" und die
übrigen, und wenn man von ihnen die pathetische Hülle entfernt und
sie aus dem künstlichen Mittelpunkt wegrückt, können wir ihnen den
ihnen zukommenden natürlichen Platz in der Gesamtheit des Lebens
zuweisen. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit ihnen zu beschäftigen -
von Heidelberg her betrachtet sind sie auch bald alle erreichbar -,
denn in ihnen ringt ein kommendes Leben, und alle diese Anfänge
können vielleicht irgendwann ihren Platz in einer größeren Einheit
finden. Heute ist es erst nur ein Ringen, und vielleicht liegt in dieser
distanzlosen Begeisterung auch viel traurig Liebenswertes, denn für
jeden von uns ist das sein Schicksal, daß wir den Dingen mehr Liebe
und hauptsächlich mehr Sehnsucht entgegengebracht haben, als die
heutige Welt erfüllen könnte. Wir sind zu etwas reif geworden, und
niemand ist da, die Früchte einzubringen, und unsere Seele be-
fürchtet, dem nutzlosen Verwelken entgegengereift zu sein.

II.

Heidelberg ist die Stadt der Herbste und Frühlinge. Im Winter


hüllt der Mensch sich ein und wartet oder denkt zurück, verkriecht
sich in die Bibliothek oder betrachtet, am Ufer stehend, die herrlich
geschwungene alte Neckarbrücke mit ihren Natursteinbögen. Die ro-
mantischen Maler haben das alte Schloß, den Mond und das reiche
Laubwerk unzähligemal verewigt, und wer als Engländer hier nur
flüchtig zweimal 24 Stunden verbringt, kann die in das Bild von der
Stadt vielfach eingedrungene Romantik nur schwer von ihm entfer-
nen. Wenn der Mensch aber hier lebt und es sich schon ein wenig
von selbst versteht, daß der Mond scheint, und auch das Riesenfaß,
das im Schloß gezeigt wird, die Phantasie nicht mehr allzu sehr er -
regt, dann entdeckt er die vielen harten Züge und die wohltuende
Bestimmtheit, die sich in Architektur und Gegend als entdeckens-
werter Schatz in größerer Tiefe verbirgt. Zur Zeit meiner früheren
Touristenreisen, wenn wir irgendeinen sehenswürdigen Ort verlie-
ßen, dachte ich, während der Führer seine Sprüche beendete und der
eintönige Rhythmus der eingelernten Rede noch in meinem Ohr
widerklang, häufig daran, wie wohl diese Stadt, dieser Ort sich dem
zeigt, der hier bleibt, der sie nicht im momentanen Aufblitzen des
flüchtigen Abenteuers sieht, sondern die Dinge mit seinem Leben

81
abgeht - und niemals etwas anderes als sie sieht. Als Zurückgeblie -
bener und Liebhaber eines solchen „Touristenortes" gehe ich jetzt in
der Stadt und den Gärten herum und fühle mich, als erhöbe ich einen
meiner alten erdachten Versuche dadurch zur Wirklichkeit, daß ich
hier bin. Der Mensch läßt so viele Minuten treulos zurück, wenn er
von einer Sache zur anderen eilt; warum soll ich nicht eine dieser
Minuten festhalten und sagen, diese Möglichkeit nutze ich diesmal
bis zum Ende.
Heidelbergs Schönheit ist die einer in die deutsche Welt ver-
pflanzten italienischen Gegend. Was Riegl über Salzburgs Archi-
tektur sagt, das gilt auch für die Heidelberger Gegend: Hier treffen
sich die italienische und die deutsche Landschaft; während sich aber
in Salzburgs Architektur das Südlich-Romanische mit dem Nördlich-
Germanischen nicht in leisen Übergängen vermischt, sondern mit
harter Plötzlichkeit eine in der deutschen Umgebung gerei nigte
italienische Architektur vor uns tritt, liegt es hier nur am Son -
nenlicht, ob die weich ineinanderfließenden Farben der deutschen
Laubwälder unser Auge festhalten oder ob in die eine weite Sicht
ermöglichenden Atmosphäre des italienisch klarblauen Himmels die
in ein scharfes Liniensystem gegliederte Gegend hineinstrahlt.
Genau an jenem Punkt, wo der Neckar, dieser kleine Fluß, sich an-
schickt, das von den Ruinen mittelalterlicher Burgen eingefaßte Tal
zu verlassen, um in die große Ebene zu eilen, am Fuße der letzten
Hügel liegt die Stadt. Der Fluß führt noch den Duft der Blumen und
Wälder des Tales mit sich, doch hat der Mensch die Empfindung,
dieser staue sich hier in der buchtartigen Talmündung und ströme
nicht hinaus in die Ebene, wo sich als fremde Blume die
amerikanisierte Stadt Mannheim erhebt. Dieser Ort besitzt eine ge-
wisse Abgeschlossenheit, die Geschütztheit eines Glashauses, und
ich denke an die Welt immer als an das, was draußen ist, an etwas
Äußeres, obwohl die abschließenden Mauern nirgendwo zu erblicken
sind. Dies ist jedoch nur eine Geschütztheit und keine Ab-
geschlossenheit, denn wie die Stadt noch im Tal liegt und dennoch
mit ihrem halben Antlitz auf die Rheinebene sieht, rundet im Gei -
stigen die Einheit der Abgeschiedenheit das Leben ab, aber nicht die
Verschlossenheit nach außen. Heidelbergs Hauptverdienst ist, daß es
trotz seiner Tradition, obwohl die Aufgaben und Probleme der
Generationen einander ständig abwechselten, nicht in unfruchtbaren
Konservativismus versank, der sich wie ein Strudel immer nur um
sich selbst dreht. Trotz seiner Tradition ist es kosmopoli tisch, denn

82
man ist hier seit Jahrhunderten den Fremden gewöhnt, und über die
durchreisenden Ausländer hinaus sind die Straßen von den sich im
Sommer und Winter erneuernden Scharen von Studenten überlaufen,
die die vielen kleinen, sich ununterbrochen leeren den Mietzimmer
bevölkern. Dieses Zu- und Abströmen, dieses Eingestelltsein auf
immer neue Gesichter, ändert den Habitus der Hierbleibenden. Jeder
spürt: was er tut, was er sagt, strebt in menschlicher Form nach
außen und trifft auch in anderswo liegende Ziele. Manchmal abends,
wenn ich die ruhigen Straßen entlang an den Wänden alter Häuser
vorbeischlendere, habe ich die Empfindung, der Wind der hinter den
modernen Handelslinien zurückgebliebenen mittelalterlichen toten
Städten schwebe über den Häusern - das Andenken an Brügge und
Rothenburg erscheint -, wenn ich aber das von gelbem Licht erhellte
Zimmer betrete, und um den Tisch sitzen Menschen, junge Leute,
ihre Augen glänzen und es ist die Rede von neuen Schmerzen und
neuen Freuden - dann weiß ich, das wir leben, und die aus dem
Gefühl der Verlassenheit stammende Erstarrung fällt von mir ab.

Man müßte auch darüber sprechen, wie diese Welt von außen
wirkt und welches ihr Hintergrund ist, vor dem das dann zu schil-
dernde Leben sich bewegt, das mein Auge auf direkteste Weise fes -
selt. Heidelbergs geistiges Leben läßt sich an seinen zwei polaren
Gegensätzen messen: Der eine Pol sind die Soziologen, der andere
die Georgeaner; der idealtypische Vertreter der einen ist der schon
gestorbene Max Weber, der der anderen der Dichter Stefan George.
Auf der einen Seite die Universität, auf der anderen die ungebunde ne
außeruniversitäre Literatenwelt, die eine liegt auf der Linie der
protestantischen Kulturtradition, die andere orientiert sich am Ka -
tholizismus. Diese Gegenüberstellungen decken sich nicht restlos, es
sind nur starre Schemata, deren Ziel es ist, die gegeneinander ge -
richteten Komponenten der vielfältigen Kreuzungen des wachen Le-
bens aufzuzeigen. Das Universitätsleben läßt sich nicht allein durch
die Person Webers vertreten, wie auch er viel mehr war als die Uni-
versität, und ebenso kann man den Georgeanern nicht restlos den
Stempel der Katholisierung aufdrücken. Und dennoch ist diese Ge -
genüberstellung berechtigt, denn hier haben sich langsam diese zwei
Weltanschauungen und die allgemeineren Gegensätze herausgebil -
det, wie Katholizismus, universitäre und Literatenkultur, die ihre
lokale Färbung aus ihren Kontakten mit diesen beiden Polen gewin-
nen. Da aber in diesem Falle Katholizismus und Protestantismus

83
weder eine rassische noch religiöse Unterscheidung bedeuten, son -
dern die Züge von zweierlei Arten Vergangenheit, deren Spuren in
der geistigen Haltung und der Kohärenz der Lehren der heutigen
Richtungen erscheinen, kann man auch sonstige Unterscheidungen
nicht zum positivistischen Maßstab machen, als könne man die
Menschen im Zeichen ihrer Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit
zur Religion oder Universität in zwei Gruppen einteilen. Die
Einteilung kann allein von ihrer Nähe zu der einen oder anderen, von
ihrer Affinität zu der einen oder anderen Einstellung abhängen.
Themen, Fragen, Gang und Sprechweise, Assoziation und Zu-
sammenkunft sind in beiden Welten anders: Den Georgeaner er -
kennst du auf der Straße, den Soziologen auf dem Katheder: Ter -
minologie und Worte liegen schon dort im Streit, wo die Abwei -
chung im Wesen noch gar nicht zu Worte kam.
Der Georgeanismus entstand dadurch, daß ein Dichter mit sei-
nem Werk, insbesondere aber mit seiner Person und seinem Wesen
einige Menschen an sich zog und dieses sich anfänglich nur von
Mensch zu Mensch erstreckende Verhältnis zu einer einheitlichen
Gemeinschaft verschmolz.
Es gibt zahlreiche Formen menschlicher Assoziationen, es kann
sich um äußere Interessen handeln, um Verteidigung nach außen, um
die unpersönliche Gruppierung um einen geistigen Inhalt und um
reine gegenseitige Anziehung ohne jeden geistigen Inhalt: gesell-
schaftlichen Kontakt. Letzterer, der allein auf farb- und inhaltsloser
gegenseitiger Verbindung von Menschen beruht, zehrt sich sehr bald
selbst auf. Dort, wo Menschen ohne Inhalte, gemeinsamen Willen,
trotz mangelnden Glaubens zusammenleben, artet ihre gegenseitige
Sympathie langsam aus zu gegenseitiger Indiskretion; das Material
des Zusammenlebens bildet dann nur noch, daß sie einan der mit
kleinen (zumeist Liebes-) Problemchen traktieren. Und weil die
Einstellung des heutigen Menschen ohnehin übertrieben psycho-
logisch und analytisch ist, bleibt ein gemeinsames Erlebnis, ein ge-
meinsames Geschehen zweier Menschen in solchen Fällen daran
hängen, daß schon die ersten Keime des Geschehens analysiert wer-
den. Ständige gegenseitige Beichten und psychoanalytische Refle-
xionen erfüllen in solchen Beziehungen zum Teil dieselbe Funktion
wie der Klatsch in der kleinbürgerlichen Atmosphäre, dessen Auf -
gabe und Ursprung aus dieser Sicht dieselben sind: den gemeinsa-
men geistigen Inhalt, den Glauben zu ersetzen. Der zweite gemein -
schaftsbildende Faktor ist die Idee: ein gemeinsames religiöses, phi-

84
losophisches, politisches Wollen, das innerlich zusammenhält und
nach außen eine Front schafft. Wenn dies allein die ausschließliche
Klammer ist und nur dies herrscht, dann sind auch dem unfruchtbar
machende Grenzen gesetzt. Die Idee, das Ziel, wäre ein zu un -
persönlicher, über den Menschen schwebender, keinesfalls entspre-
chender Auswahlgesichtspunkt für die Menschen. Die Idee bringt die
Seelen nur in kameradschaftliche Nähe, sie ist kein vollkomme ner
Maßstab, weil sie viele in die Gemeinschaft miteinbringt, die von
ihrer Seele her nicht dorthin gehören, und viele fernhält, die nur die
objektiven Inhalte nicht übernehmen könnten. An diesem Punkt
ergibt sich eine Ähnlichkeit zur Interessengemeinschaft: Denn wohl
ist dies von seinem Wesen her etwas anderes und viel mehr als jene
-- doch verschiebt sich auch hier der Nachdruck infolge der
Dynamik der Dinge langsam von der Seite des inneren
Zusammenhaltes auf die Seite der Verteidigung nach außen, der Ab -
grenzung.
Schließlich gibt es eine Art menschlichen Zusammenlebens, die
mit einem in der Soziologie heimischen Wort „charismatische" Ge -
meinschaft genannt werden könnte, bei der meist die seelische Aus-
strahlungskraft eines Menschen die übrigen um ihn schart. Nicht die
der Seele fernerstehenden, objektiven geistigen Inhalte halten in
einer solchen Gemeinschaft die Einzelnen in erster Linie zusam men,
sondern diese andere seelische Anziehung, die aus der Seele des
Leiters auf die anderen ausstrahlt und die magisch genannt wer de
könnte. In solchen durch die menschliche Seele zusammengehal -
tenen Gemeinschaften bilden sich dann auch langsam die Inhalte
heraus. Doch läßt sich die Kohärenz dieser Inhalte nicht aus einem
logischen oder durch eine Tradition geschaffenen Zusammenhalt
ableiten. Und weil das übergegenständliche Zentrum der Men-
schenseele diese Inhalte langsam an sich zieht, wird auch die Not -
wendigkeit ihres Zusammenhaltes nur aus dieser seelischen Einheit
verständlich. Zeitlose Beispiele dieses seelischen Zusammenhaltes
sind Jesus und seine Jünger, die sich in erster Linie um diesen cha-
rismatischen Kern gruppieren, wobei die Lehren unterschiedlicher
Herkunft erst in der Einheit dieses neuen Lebensgefühls zu einem
„System" verschmolzen. In einer solchen gemeinsamen Existenz gibt
es noch keine dogmatische Bindung; und das Kriterium der Häresie
ist nicht ein Gegensatz zu irgendeiner These, sondern die
Versündigung gegen den Geist der zusammenhaltenden Seele.

85
Die Existenz und Wirkungsmöglichkeit des charismatischen
Menschen ist nicht jederzeit gegeben, sie werden nicht von der gei -
stigen und seelischen Atmosphäre aller Zeiten begünstigt, doch er -
kennen wir selbst noch in den härtesten Zeiten einen solchen Men -
schen, dem, wenn auch unentwickelt, so doch zumindest als Keim
die substantielle Wirkung von Seele zu Seele innewohnt. Von dieser
charismatischen Anziehungskraft muß etwas in George enthalten
sein, denn die Assoziationsform der zu ihm Gehörigen, die nicht ge -
genständliche, sondern jenseits davon liegende Einheit seiner Schü-
ler trägt deren Spuren an sich. Und gerade weil in unserer Zeit sol-
che Assoziationen auf charismatisch geprägter Grundlage so selten
sind und weil ich irgendwie dennoch des Glaubens bin, daß der neue
Mensch sich weder in der Familie noch in der Schule, noch im
Leben und der Politik der Außenwelt wirklich neu umgestalten kann,
halte ich es für wichtig, daß eine solche Art Zusammenleben in
unserer Zeit existiert.
Mit dem Hineingestelltsein der Dinge in die jeweilige Zeit
hängt zusammen, daß nicht jede überhaupt mögliche Lebensform
oder jeder Versuch des Zusammenlebens sich in jeder Zeit
gleichermaßen realisieren und entwickeln kann. Gewisse
Lebensformen verlangen zu ihrer Entwicklung gewisse Inhalte, und
wenn sie sich gezwungenermaßen in ihnen nicht angemessenen
Inhalten niederschlagen, verkümmern sie, ersticken sie an den
Dingen. Die charismatische Gemeinschaft ist die tiefste Form des
menschlichen Zusammenlebens und kann sich deshalb nur in den
tiefsten Inhalten realisieren - die Inhalte des Glaubens, der Religion
sind es, denen diese Lebensform angemessen ist. Und weil damals,
als der George-Kreis entstand (und auch heute noch), der Glaube in
seiner tiefsten Form für diese Menschenschicht keine Möglichkeit
war, da er nicht so lebendig war, daß er ein zusammenhaltendes,
einheitsbildendes Erlebnis sein konnte (und weil sie ehrlich genug
waren, das einzusehen, zu spüren), wählten sie (spontan) den damals
tiefstmöglichen Inhalt, die Humanität, zum Substrat der
Gemeinschaft. Der Georgeanismus entstand in den neunziger Jahren
des vergangenen Jahrhunderts, zur gleichen Zeit, als der
Naturalismus seinen Eroberungeszug begann. Georges Entwicklung
speiste sich aus ganz anderen Quellen als denen des Naturalismus
und er geriet auch bald in Gegensatz zu ihm; seine historische
Funktion läßt sich vielleicht darin sehen, daß er half, die Kräfte des
Naturalismus im Interesse einer weiteren Entwicklung aufzuspalten.

86
George erlebte in seiner Jugendzeit (ebenso wie Ady) in Paris den
großen Gesinnungswandel. Auch auf ihn wirkten zuerst Verlaine
(und die Parnassiens), und wie bei uns Ady anfänglich der
Sammelpunkt einer ästhetisierenden Generation war, so gestaltete
sich auch der Georgeanismus am Anfang als loser Zusammenhalt
des Kreises um einen literarischen Ästheten. (Damals gehörte auch
Hofmannsthal noch zu ihnen.) Noch das Nietzsche-Erlebnis und die
Einfühlung in die Nationalsprache lassen ihre Entwicklung am
Anfang des Weges ähnlich erscheinen, erst was danach geschah,
unterscheidet sie vollkommen und beruht zum Teil auf den
Unterschieden der ungarischen und der deutschen Welt. Ady
beschritt bald allein den einsamen Kreuzweg des „glaubenslosen
Glaubenden", das Substrat seiner seelischen Kämpfe sind die beiden
Extreme der irdischen Welt: Gott und die Politik. Vom einen flüchtet
er zur anderen, und weil bei uns jene mittlere Region des Lebens
nicht existiert, die Kultur genannt wird und mit deren Hilfe man sich
im irdischen Leben akklimatisieren kann, und weil er sich nicht
zufriedengeben wollte, gingen daraus seine großartigsten Gedichte
hervor. Während Adys unerhörtes Genie seine Substanz aus dem
Mangel schuf, entstand für George vielleicht eben aus dieser Fülle
des deutschen Lebens die Versuchung und die den Ausdruck der
Seele verhindernde Grenze. George war vom Ästhetizismus
ausgegangen, und obwohl er, von der Dynamik der Geschichte
getrieben, diesen hinter sich ließ, gelang es ihm nie, ihn völlig
abzustreifen. Da man in Deutschland im Strom einer großen
Tradition steht, kann man zeitweise das in der Tiefe des Lebens und
der Seele klaffende Chaos vergessen; es gibt hier partielle Aufgaben,
die der Einzelne von den vorherigen Generationen ererbte und in die
er mit seinem Schicksal sein Leben einzeichnen kann. Bei uns wird
die wirklich lebendige Seele vor das ganze Leben gestellt, jeder muß
alles tun und kann sich bei den einzelnen Dingen nicht aufhalten.
Bei uns kann man nur von Seele zu Seele leben, die Menschen lieben
einander nur einzeln (darauf ist die gesteigerte Wichtigkeit der
Liebeskämpfe zurückzuführen). In Deutschland war die Möglichkeit
für solche Gemeinschaften gegeben, die mehr sind als eine
Assoziation mit praktischen Zielen und die Illusion des Schutzes und
der Heimatfindung erwecken können.
So wurde aus dem George-Kreis eine geschlossene geistig-
aristokratische Gemeinschaft, die sich vor jedem Ereignis der
Außenwelt verschließt und sich in sich selbst einhüllt. Sie kämpft

87
gegen das Zeitalter, indem sie seinem Irrsinn die Schuld gibt, aber in
den Ablauf der Dinge eingreifen will sie nicht, und der
charismatische Kern, der ihre Mitglieder zusammenhält, entwickelt
ausschließlich humanistische Inhalte. In Deutschland bildete seit der
Renaissance in erster Linie die Humani t ät das den Bruderschaften
und Gemeinschaften Form gebende Prinzip und ihren Träger - die
Beschäftigung mit der Geschichte, der Literatur und der
Vergangenheit. Die Philologie, eine an sich tote und trockene
Wissenschaft, zieht hier in das Leben ein und wird zu dessen
Sozialisierungsfaktor. Nicht zufällig war nach den Humanisten eine
solche, die Vergangenheit erneuernde, von neuem aufsaugende
Bildung der Träger des Rokoko, dann des Goethe-Schiller-
Humboldtschen Zusammenwirkens und der Romantiker. In diese im
Laufe von Jahrhunderten geschaffene Assoziationsform strömte die
den charismatischen Menschen verlangende Energie ein, und die
Seele legte sich diese im Endergebnis philologischen Inhalte wie
eine zeitliche Hülle an. Die Mitglieder des Kreises waren
hauptsächlich Schriftsteller und Historiker, der wertvollste unter
ihnen war Gundolf, dessen Sicht der deutschen literarischen
Vergangenheiten man abspürt, daß seine Gesichtspunkte aus einer
Einheit herauswuchsen und seine Forschung kein zielloses Kreisen
um die Dinge war.
Dennoch findet sich zwischen dem Wesen ihres seelischen Zu-
sammenhalts und seinen Inhalten eine gewisse Inadäquatheit. Wenn
ihr Aristokratismus auch nicht politisch und gesellschaftlich ist,
ähneln ihre Prinzipien dennoch nach und nach der Ideologie eines
von seinen Zinsen lebenden wohlhabenden Menschen. Ihre unerhörte
Abstraktheit nährt sich statt von den konkreten Forderun gen des
Alltags und des Lebens ständig von der Wesensschau der großen
historischen Perspektiven: Das zerfallende deutsche Geistesleben
muß durch einen neuen Mythos erlöst werden, man muß auf die
großen historischen Kräfte zurückgreifen und den Geist, der die
wahren deutschen Anfänge, den nordgermanischen und den
deutschen Teil des Griechentums so oft regenerierte, wieder neube -
lebten. Man muß gegen das protestantische kapitalistische Prinzip
kämpfen, und wenn für sie auch die katholische Kirche als positive
Konfession eingestandenermaßen schon zu eng ist, ist der in ihm
enthaltene Kultus auch heute noch ein aktueller, lebensformender
Faktor. Sie lehnen den Sozialismus ab, weil dieser sich an die
Massen wendet, das Volk aber ist die eigentliche Substanz - und

88
daran knüpft sich ein großes magisches Fluidum, die Sprache. Alles,
was die Aufklärung gebracht hat, viel Schlechtes, verurteilen sie und
möchten es in der heutigen Welt weglassen und jene Dinge über -
springen, die historische und gegenwärtige Voraussetzungen auch
ihrer geistigen Existenz sind.
Viel charakteristischer als dies alles ist jedoch ihr Kampf gegen
die „Fortschrittsparole", und interessanterweise sind sie darin der
Stellungnahme des Neu-Katholizismus verwandt. Es ist sinnvoll, auf
diese Stellungnahme einzugehen, denn an diesem Punkt sind sie die
Gegenbeispiele der Lehre des Sozialismus mit seiner „aufklärá -
stischen" Affinität: Der moderne Mensch hat sich daran gewöhnt,
den Weg der Geschichte als eine ins Unendliche strebende gerade
Linie zu sehen, weshalb der ständig zukunftsgerichtete Fortschritt zu
seiner Losung wurde. Mit Hegels Worten könnte man diese Vor -
stellung als die „schlechte Unendlichkeit" bezeichnen, weil sie et was
ist, zu dem man immer etwas hinzufügen kann (wie bei einer
Zahlenreihe) und das nie vollständig wird. Das Erlebnissymbol der
Georgeaner ist der Kreis, die ständige Wiederkehr an dieselben
Punkte auf neuem Niveau. Für eine solche Anschauung ist die Ge -
schichte das immer neue Auftauchen der in ihrer Zahl begrenzten
Möglichkeiten der Seele und der Kultur und ihr Ideal die In-sich
Geschlossenheit, die innere Fülle und nicht die ständige Verweisung
über sich hinaus. Daß man die Geschichte so im Zeichen einander
völlig entgegengesetzter Symbole sehen kann, hat hauptsächlich den
Grund, daß jeder der Argumentierenden seine Aufmerksamkeit auf
jeweils andere kulturelle Erscheinungen richtet. Wer den Weg der
Technik, der Wissenschaft oder der Zivilisation betrachtet, wird das
Symbol der historischen Entwicklung in der ins Unendliche
laufenden Geraden sehen, wer dagegen auf die Literatur, die Kunst
und die Religion blickt, entnimmt dieser inneren Erfah rung auch,
daß hier allein die Vertiefung möglich ist und kein Wei terschreiten.
Auf diesen Gebieten sind die später auftretenden Erscheinungen der
Zeitlichkeit nicht unbedingt gleichzeitig auch die vollkommeneren:
Die religiöse Selbstversenkung der seelischen Substanz oder ihr
Aufblühen im Werk verlaufen nicht parallel mit der Entwicklung der
Zivilisation.
Aus ihrer Kampfposition gegen die „Fortschrittsparole" heraus
greifen die Georgeaner auch die heutige Wissenschaft an, die ihrer
Meinung nach gegenwärtig allein ein Zivilisationsfaktor ist und

89
nicht der Ausdruck und die Ausstrahlung der Seele, sondern ledig -
lich ziellos destruktive Analyse.

Dies alles könnte von außen betrachtet auch eine


nationalistische konservative Ideologie sein, da sie aber politisch
passiv und als Einzelne die Träger einer Bildung mit sehr breitem
Gesichtskreis sind, kann man ihren Wert nicht an diesen,
notwendigerweise wie Bruchstücke herausgegriffenen Thesen
ermessen - und auch diese Thesen sind anders, wenn wir sie aus
selbsterlebter Nähe betrachten und nicht als abgenutzte Phrasen
eines taktischen Kampfes nach außen. Viele produktive Einsichten
resultierten aus ihrer Opposition gegen ihre Zeit, und ihre
literarische und allgemeine öffentliche Kritik deckte viele
Übelstände des heutigen deutschen Lebens auf. Aber andererseits
ähnelt ihr Schicksal den Reformern, die, ihre Zeit geißelnd, selbst
tief an den Fehlern der Zeit teilhaben. Wie Moliére in seinen
„précieuses ridicules“ die Preziosität seiner Zeit geißelte und nicht
ahnte, wie sehr précieux er selbst sei, so schaffen sie, die doch an die
Stelle der vielen Analysen und Programme Leben setzen wollten,
selbst auch nur Literatur und Programme.
Solange der charismatische Kern lebendig ist, gibt er auch
einem diesem Wesen inadäquaten Inhalt Sinn: doch sobald er nicht
mehr wirkt, werden die aus den humanistischen Studien geschöpften
Inhalte - da sie keine adäquaten Träger der früher mit ihnen verbun -
denen Seele sind - auseinanderfallen und Thesen zwischen den vie-
len anderen deutschen Thesen werden.
Die georgeanische Gemeinschaft ist von innen gesehen eine der
gutgemeinten Experimente des in der heutigen Gesellschaft einsam
gewordenen „Intellektuellen", das mit der seelischen Heimatlosigkeit
gesetzte Problem zu lösen. Ihre Lösung ist die des Augenschlie ßens:
um sich mit dem Gefühl, einen Grund gefunden zu haben,
einschläfern zu können, schließen sie sich ab, hüllen sich in die In-
halte der Kultur und - die Welt aus ihren Dingen herauslassend -
entfremden sie sich selbst. Die von den Heidelberger Hügeln ge-
schützte Lebensbucht läßt sie glauben machen, daß sie da sind, wir -
ken und wichtig sind, und dabei brauchte es nur einen kleinen Sturm
- und sie wären Symbole einer vergangenen Zeit.

90
91
ERINNERUNGEN: von Charles de Tolnay, Béla
Balázs, Anna Lesznai, Georg Lukács, Arnold
Hauser, Antal Molnár, Edit Gyömrői
CHARLES DE TOLNAY

Wie auch im Westen gingen bei uns seit Mitte des 19. Jahrhunderts
die geistigen Erneuerungen fast ohne Ausnahme von denen aus, die
den offiziellen Kreisen fernstanden. Hier kann nicht auf die sozio-
logischen Ursachen für diese Erscheinung eingegangen werden. Wir
müssen uns damit begnügen, kurz eines dieser herausragenden und
bisher offiziell nicht gewürdigten Kapitel der ungarischen Geistes -
geschichte zu skizzieren. Die erste Erneuerung der ungarischen Gei-
steswissenschaften im Zeichen des westlichen Spiritualismus ging
vom Kreis der um die philosophische Zeitschrift A Szellem (Der
Geist) versammelten Wissenschaftler aus. Indem diese dem herr-
schenden Positivismus den Kampf ansagten, orientierten sie sich am
französischen und deutschen metaphysischen Idealismus. Die
Mitarbeiter dieser bedeutsamen, aber nur kurzlebigen Zeitschrift
zerstreuten sich sehr bald auf die großen westlichen Kulturzentren, um
dann sechs Jahre später, auf dem Höhepunkt des Krieges, an Wissen
bereichert und mit vertieftem Weltverständnis, sich wiederum in
Budapest zu treffen. Sie gründeten im Sommer 1917 unter der
Überschrift „Vorlesungen aus dem Bereich der Geisteswissen-
schaften" eine freie und moderne wissenschaftliche Hochschule, die
gegenüber der zum Selbstzweck gewordenen Wissenschaftlichkeit der
ungarischen und westlichen Universitäten der wissenschaftlichen
Arbeit eine neue Zielsetzung gab: Die Erkenntnis sei hinfort kein
Selbstzweck mehr, sondern ein Weg zur Vervollkommnung der Seele.
Die Wissenschaft und die „objektive Kultur" im allgemeinen seien
Mittel, mit denen sich die Seele auf ein Niveau des Lebens erhebe, auf
dem sie - sich von den sozialen Bindungen des gewöhnlichen Lebens
befreiend - ihr eigenes Wesen leben könne. Im Kreis dieser jungen


Tolnai Károly: Ferenczy Noémi. Budapest 1934, S. 9- 11. Übersetzt aus: A vasárnapi kör.
Dokumentumok. Szerk. Karádi Eva es Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S. 45.
Wissenschaftler bildete sich eine geistige Gemeinschaft heraus. Zum
ersten Mal verwirklichte sich im modernen ungarischen Geistesleben
in einer von ähnlichen Kreisen des Westens abweichenden Form die
höchste Sehnsucht jedes heutigen Wissenschaftlers, jedes heutigen
Menschen: sich wieder in die Gemeinschaft hineinzufinden. Nicht
zufällig bekam zum ersten Mal in Ungarn die Kultur eine derart
neue, direkt auf eine wahrere Lebensführung gerichtete Bedeutung,
weil bei uns die bürgerliche Weltordnung und das in diese
eingebettete System der Einzelwissenschaften nie so tiefe Wurzeln
geschlagen hatte, daß sie die Sehnsucht nach einem anderen, einem
wahreren Leben hätte vergessen lassen.

BÉLA BALÁZS

Die „Freie Schule der Geisteswissenschaften" (. . .) haben wir 1917


und 1918 in Budapest abgehalten. Wir waren acht oder zehn, die
nicht im Traum an Politik dachten. Wir haben sie gegen die be-
schränkte, geistlose, Kompendien ableiernde „Lehrerbildungs“- -
Schule der Universität geschaffen, und gewiß fühlten wir uns dem
gesamten praktischen Leben entzogen, in dem stolzen Elfenbeinturm
der hohen Philosophie, wenn wir unsere Metaphysik, Er-
kenntnistheorie, Ethik und Kunstphilosophie lehrten oder lieber noch
vordachten. Nicht im Traum kümmerten wir uns um Politik. Nur
dachten wir eben ehrlich bis zu Ende, ohne stehenzubleiben und
Abwege zu gehen, und siehe: Kaum war ein Semester vergan gen, da
saßen wir im Saal der Gesellschaft für Sozialwissenschaf ten, wo
einer von uns eine Vorlesung „Über konservativen und progressiven
Idealismus" hielt, in der er uns vor den Kämpfern des Le bens
rechtfertigten wollte. Und in jener denkwürdigen großen Diskussion
wurde offensichtlich, daß wir nicht im Elfenbeinturm sind und auch
nicht waren, sondern jeder unserer Gedanken gefordertes Leben
bedeutet. In jener schönsten und ertragreichsten Diskussion


Balázs Ma: „Szabadiskola°, Bécsi Magyar Újság (Wien), 1922, okt. 12.Ausschnitt.
Übersetzt aus: Balázs Ma: Válogatott cikkek és tanulmányok, Szerk, K. Nagy Magda,
Budapest 1968, S. 91-92.
explodierte unsere Philosophie in ihrem zu eng gefaßten Materialis-
mus, doch wurde andererseits klar, daß es keine so ernsthafte Gei-
steswissenschaft gibt, daß sie nicht auch Sozialwissenschaft wäre.
Wir haben die Hand ausgestreckt. Es war von der Vereinigung un -
serer Schule mit der Schule der Gesellschaft für Sozialwissenschaf -
ten die Rede. Aber selbst das gelang nicht. Die Wege hatten sich
schon zu scharf getrennt - die irdischen Wege, auf die unsere „gei-
stigen“ Einsichten uns zwangen.
Seither durchlebten wir Zeiten, die zu scharfen Weggabelungen
führten, und besonders hierher in die Emigration haben sich, glau be
ich, nur wenige zufällig verirrt. Doch kamen wir nicht auf einem
Weg. Aber alle miteinander haben wir so blutige irdische Konse-
quenzen unserer „Ideen" erlebt und auf uns genommen, daß kaum
einer noch an die objektive, in eine Wissenschaft, eine „Schule"
einzuschließende Isoliertheit seiner „Ideenwelt" glaubt.

ANNA LESZNAI

Es war sehr interessant. In Béla Balázs' Heim, einer Villa am Nap -


hegy, kamen wir zusammen. Jahrelang ging ich dorthin. Grün-
dungsmitglieder waren Georg Lukács und Balázs mit seinen zwei
Frauen, Edit Hajós und Anna Schlamadinger. Sie gaben den Anstoß,
und Lukács war die Hauptperson. Weitere Gründungsmitglieder
waren Karl Mannheim, Lajos Fülep, Arnold Hauser, Béla Fo garasi
und Ernő Lorsy. Sie waren die Alten. Eine Zeitlang ging auch Emma
Ritoók dorthin. Unter den Jungen waren Ervin Sinkó, József Révai,
László Radványi, György Káldor, Tibor Gergely und Edit Rényi.
Weitere Mitglieder waren noch Frici Antal mit seiner Frau und
Juliska Láng. Vielleicht ein- oder zweimal kam Sándor Varjas,
manchmal Jenő Varga und János Wilde. Jedes Mitglied durfte zu
einer Gelegenheit jemanden einladen, doch ständige Mitglieder
durften nur jene sein, deren Anwesenheit von allen gewünscht
wurde. Es wäre interessant zu wissen, was seither aus die sen
Menschen geworden ist. Lukács hatte immer den Vorsitz, allerdings


Ausschnitt aus einern interview von Erzsébet Vezér in Budapest 1965. Erschienen in: Emlékezések,
Szerk. Vezér Erzsébet, Irodalmi Múzeum, Budapest 1967, S. 4. übersetzt aus: A vasárnapi kör.
Dokumentumok. Szerk. Karádi Eva és Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S. 54-55.

94
nicht offiziell. Das Gespräch verlief ganz locker, bis Lukács eintraf.
Aber dann unterbrach er uns plötzlich, und wenn von etwas die Rede
war, was ihn von seiner Philosophie her interessierte, sagte er: „Stop,
jetzt werden wir darüber reden." Jedes Thema kam zum Zuge,
Malerei, Folklore, Geschichte. Von Liebe war am häufigsten die
Rede, von Liebesphilosophie. Und dann saßen wir und sprachen über
diese Dinge, und notierten das Allerwichtigste. Ich besitze noch ein
recht dickes Tagebuch aus jener Zeit, in das ich die Gespräche
notierte. Dann hatten die Mitglieder der Gesellschaft noch eine
Verpflichtung: Sie mußten ehrlich beichten. Wenn sie etwas getan
hatten, was sie als schlecht, als nicht richtig empfanden, mußten sie
es sagen, und dann wurde es moralisch erwogen und durch -
gesprochen. Lukács' Weltanschauung hat sich seither natürlich sehr
verändert, und ich glaube, er würde mich auslachen, wenn ich diese
Dinge zitierte, oder er würde böse -- aber manchmal pflege ich sie zu
erwähnen. Ein Gespräch ist auch in meinem Roman enthalten: „Gut",
habe ich gesagt, „die Menschen werden selig werden, wenn ihr die
Welt erlöst, was wird aber mit der übrigen Kreatur? Was wird mit
den Pflanzen, den Tieren? Du weißt, ich will nicht ohne sie selig
werden." Worauf Lukács antwortete: „Selbst die Steine werden selig
werden." Natürlich ist auch die Zerstörung, die der Krieg unter den
Steinen anrichtete, eine Art Seligwerden, denn die Vernichtung ist
ein Seligwerden: das Zurückgehen in die Einheit. Die
Sonntagszusammenkünfte sind nicht nur in meinem Leben, sondern
auch in dem vieler anderer die schönsten Erinnerungen. An diesen
Sonntagen lernten wir mehr als in der Schule.

GEORG LUKÁCS

Die Sonntagsgesellschaft war der Zusammenschluß eines um Béla


Balázs und mich entstandenen Freundeskreises. Wir hatten uns im
Kriege zusammengefunden. Das Jahr von 1915- 16 verbrachte ich in
Pest als Soldat im Hilfsdienst, und dort kam damals auch diese
Gesellschaft zusammen. Zu ihr gehörten Béla Balázs und Anna
Lesznai, dann schlossen sich uns von allen Seiten auch andere an,
z.B. Emma Ritoók, eine recht alte Bekannte von Béla Balázs; au -


Ausschnitt aus einem Interview von Erzsébet Vezér und István Eörsi in Budapest 1966.
Erschienen in: Emlékezések, 16. übersetzt aus: A 1asárnapi kör. Dokurrrentumok. Szerk. Karádi
Éva és Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S. 56-57.

95
ßerdem gehörte auch eine ganze Gruppe jüngerer Leute mit theore -
tischen Interessen dazu, z.B. Béla Fogarasi. Dann kam auch Lajos
Fülep zu uns, zu dem ich schon seit längerem ein gutes Verhältnis
hatte. Hierher gehörte dann der nachher im Ausland bekannt ge-
wordene Kunsthistoriker Friedrich Antal, der später über die italie -
nische Malerei und über Hogarth schrieb, hierher gehörten auch der
junge Karl Mannheim und Arnold Hauser usw. Um 1918 schlossen
sich ebenfalls einige junge Leute dieser Gesellschaft an, darunter
auch Gergely, Anna Lesznais späterer Ehemann, und vor allem der
begabteste unter ihnen, der Kunsthistoriker Károly Tolnay, doch
Révai, der - wenn ich es recht weiß - ihr Mitschüler war, gehörte
nicht zu dieser Gruppe. Wir dürfen nicht vergessen, daß sich der
junge Révai der Komját-Richtung angeschlossen hatte. Mit einem
Wort, Anna Lesznai irrt sich in dieser Frage mit Gewiß heit. Als ich
mich während der Diktatur mit Révai anfreundete, da traf Révai mit
der Gesellschaft zusammen, und so konnte auch Anna Lesznai seine
Bekanntschaft gemacht haben. Das mag ihre Erinnerung getäuscht
haben. Zur Gesellschaft selbst, zum sog. Sonntag, hat Révai nie
gehört.
Die Diskussionen gingen um außerordentlich verworrene und
auch untereinander gegensätzliche liberale Ansichten. Es kann
überhaupt nicht davon gesprochen werden, daß es einen einheitlichen
Standpunkt des Sonntags gegeben habe. Beispielsweise: Die
allgemeine Stimmung in der Gesellschaft neigte sich den westlichen
Demokratien zu, á la Mihály Károlyi. Ich glaube, ich vertrat allein
die Ansicht (an einer Stelle schrieb ich es auch): „Gut, Österreich- -
Ungarn und Deutschland können Rußland schlagen, dann stürzen die
Romanows, und das ist in Ordnung. Es kann auch geschehen, daß die
westlichen Staaten Deutschland und Österreich schlagen, dann
stürzen die Hohenzollern und die Habsburger, und auch das ist in
Ordnung - wer aber wird dann uns vor den westlichen Demokratien
schützen?" Im Sonntagskreis wurde dies natürlich für ein
schreckliches Paradoxon gehalten. Ich selbst bekam die Antwort
durch die Per Revolution, jene dritte Möglichkeit, die ich auch schon
früher gesucht hatte. Unseren gemeinsamen Standpunkt könnte man
so zum Ausdruck bringen, daß wir jede Konzession an die
ungarische Reaktion zurückwiesen, und in dieser Hinsicht gin gen wir
auch ein Bündnis mit dem Huszadik Század ein, andererseits standen
wir in scharfem Gegensatz zum freidenkerischen Positivismus.
Daraus erwuchs dann die Freie Schule der Geisteswissen schaften,

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mit der 1917 begonnen wurde; dort hielten Lajos Fülep, Béla Balázs,
Emma Ritoók und auch Mannheim Vorlesungen, ich selbst las auch.
Im übrigen stand diese Einrichtung offiziell überhaupt nicht in
gegnerischem Verhältnis zur Gruppe Jászi - so sym pathisierte z.B.
Ervin Szabó mit der Gründung dieser Schule und hielt diese
keineswegs für eine gegen sie gerichtete Aktion. Natür lich ist dem
hinzuzufügen, daß man unseren Radikalismus nicht im heutigen und
besonders im bolschewistischen Sinne übertreiben darf, mußte ich
doch auch selbst durch eine gewisse Krise hindurch, um vom
Sonntägler zum Kommunisten zu werden. Keineswegs ent spricht es
den Tatsachen, was später die Konterrevolution und mit ihr z.B.
Emma Ritoók behaupten, daß der Sonntag eine bolschewistische
Versammlung gewesen sei. Für die Unterschiedlichkeit der
Standpunkte innerhalb des Sonntags ist bezeichnend, daß ich der
einzige war, der begann, einen hegelianisch-marxistischen Stand-
punkt zu vertreten - eine gewisse Neigung für den Marxismus hat te
wohl nur Friedrich Antal. Lajos Fülep nahm einen geisteswissen -
schaftlichen Standpunkt ein, Emma Ritoók war im Grunde konser -
vativ. Nur durch nachträgliche Stilisierung könnte man dem den
Anstrich einer präbolschewistischen oder gar bolschewistischen
Versammlung geben.

ARNOLD HAUSER

Diese Entwicklung, jene sogenannte „große Generation", die wir


Beteiligten keineswegs als solche betrachtet haben, begann, als Georg
Lukács bei Kriegsbeginn aus Heidelberg nach Hause kam. Etwa ein
Dutzend junge Leute gruppierten sich um ihn, ambitioniert, aber
unvorbereitet. Ich kam durch meinen Freund Karl Mannheim, der
mein Universitätskollege war, mit ihnen in Verbindung. Es kam ein


Ausschnitt aus einem lnterview von Kristof Nyíri in London 1975 für das Ungari sche
Fernseh. Deutsch vom Verfasser, erschienen in: Arnold Hauser: Im Gespräch mit Georg
Lukács, München 1978, S. 49 - 61.

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Kreis zustande, genau könnte ich gar nicht sagen wie; man traf sich,
gewöhnte sich daran, sich zu treffen, wöchent lich einmal, Sonntag
nachmittags, in der Ofner Wohnung des Dichters Béla Balázs. Die
Gruppe bestand fast von Anfang bis Ende aus etwa fünfzehn Leuten
und bildete einen literarischen Zirkel, der später den Namen
„Sonntagskreis" erhielt. Mittelpunkt des Kreises war von Anfang an
selbstverständlich Lukács, und er blieb es. Es war eine dem Wesen
nach sehr lockere geistige Vereinigung; jedermann konnte ihr Mitglied
werden, es gehörte dazu kein Ausweis, keine bereits vollbrachte
Produktion, kein Glaubensbekenntnis, die Anerkennung keiner
bestimmten Lehre, nicht einmal die Annahme der Schriften von
Lukács in ihrer Gesamtheit. Man kam oder blieb weg, wie man wollte.
Man sprach oder schwieg nach Belieben. Es kamen, die es
interessierte, wovon die Rede war. Und wovon war die Rede? Auch
dies war von jeglichem Programm unabhängig, also nicht wie etwa in
den Salons des 18. Jahrhunderts oder zur Zeit der Romantik in den
französischen cénacles, wo eine Persönlichkeit im Mittelpunkt stand,
deren Lehre, Glaube und Werk der Kern der Zusammenkünfte war.
Wir kamen zusammen, im Anfang ohne zu wissen, wovon eigentlich
die Rede sein würde. Es handelte sich keinesfalls darum, daß jemand
einen Essay oder eine Novelle oder was auch immer vorgelesen und
daß man sich darüber auseinanderzusetzen begonnen hätte. Davon war
keine Rede. Man begann über Dinge des Alltags zu reden, über ein
künstlerisches Ereignis, etwa eine Ausstellung, oder eine
Neuerscheinung, eine neue Nummer der Zeitschrift Nyugat.
Unsere Beziehung zu dieser Zeitschrift war übrigens sehr
eigentümlich; sie gründete sich teils auf Verwandtschaft, teils auf
Opposition. Sie war ein Tor zum Westen, sie widersprach aber,
infolge ihrer Vorurteile und ihres eigenen dogmatischen Wesens,
unseren Anschauungen auch politisch. Ansonsten hatte sich der
Kreis auch diesbezüglich keineswegs verschrieben oder verbunden.
Sein Liberalismus war und blieb selbstverständlich, es war meines
Wissens nie ausgesprochen die Rede davon, ob wir Sozialisten oder
gar Kommunisten waren, überhaupt kaum von politischen Fragen
dieser Art. Der Ausgangspunkt unterschied sich merkwürdigerweise
stark von dem, wozu die Bewegung geworden ist. Er war ganz und
gar geistig. Die Größen der geistigen Welt, an die wir uns hielten,
waren Männer wie Meister Eckehart, der deutsche Mystiker, Kier-

98
kegaard, der dänische Religionsphilosoph, Dostojewski, von dem
wir wissen, daß er durch und durch konservativ war. Diese bildeten
das Fundament unserer geistigen Welt, als Gegensatz zu dem damals
noch modischen und fest gefügten Positivismus, und entfrem deten
bereits den Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts von dem
des achtzehnten. Das Motto dieser ersten, in sehr verschiede nen
Formen sich ausdrückenden Phase der antipositivistischen Be-
wegung hätte das Schlagwort Geist sein können. Dies war der Titel
der Zeitschrift, die Lukács noch vor seiner Rückkehr nach Ungarn
mit Lajos Fülep herauszugeben begann; diese Tendenz drückte sich
aber auch darin aus, daß wir die Freie Hochschule, die sich aus dem
Sonntagskreis entwickelt hatte, die Schule der „Geisteswissenschaf -
ten" nannten. Da hatte wieder jeder Zugang, der wollte. Die Schule
war zeitweise sehr beliebt und hatte trotz der schwierigen Umstände
ein- bis zweihundert Hörer.
Georg Lukács hegte, neben der Beschäftigung mit den aus Flo-
renz mitgebrachten Ästhetik-Manuskripten, den unter dem Einfluß
seines Freundes Ernst Bloch gefaßten Plan, eine begonnene Dosto-
jewski-Monographie zu beenden. Die Theorie des Romans wäre die
Einleitung zu dieser Arbeit geworden. Sie ist aber nicht weiter ge -
diehen. Elemente des Buches sind indessen, im Sinne der Hegel -
schen „Aufhebung", erhalten geblieben und hatten bis zu seinen
letzten Schriften Anteil an der Entwicklung seiner ästhetischen und
geschichtsphilosophischen Gedanken. (...)

Da war noch eine geschichtliche Erbschaft, die uns in den Schoß


gefallen ist, das Andenken und das Werk des im ersten Weltkrieg
jung gefallenen oder tödlich verwundeten Béla Zalai. Er war der er -
ste wirklich schöpferische, moderne ungarische Philosoph; ein un -
gemein inventiöser, ungewöhnlich origineller Denker, dessen Pro -
bleme sich hauptsächlich um die Frage der Systematisierung dreh-
ten. Meine eigene Dissertation befaßte sich mit dieser Zalaischen
Frage und erschien seinerzeit in der Zeitschrift Athenaeum. Ich er-
wähnte es nur, weil es ein Zeichen unserer Meinung von der Wich -
tigkeit dieser Initiative war. Sie gehörte jedenfalls zu den Funda-
menten, auf die wir bauten, wenn auch nur halb bewußt. (...)

99
Das Charakteristische an Zalais Philosophie bestand für uns in
der Erkenntnis, daß die Elemente an sich keine besondere Bedeutung
haben und eine solche erst durch ihre Funktion gewinnen, die durch
ihre Beziehung zueinander zustande kommt. Ein System besteht in
nichts anderem als in einer solchen Beziehung. In verschiedenen
Sphären, verschiedenen Gebieten des Wissens oder des geisti gen
Schaffens können die gleichen Elemente verschiedene Funktionen
erfüllen und, den verschiedenen Funktionen entsprechend, ver-
schiedene Systeme bilden, aus denen sich dann die einzelnen Diszi -
plinen, die einzelnen Wissenschaften herausbilden. Diese Erkennt nis
stellte eine ungeheure Anregung dar und antizipierte die spätere
Funktionstheorie als Fundament der ganzen modernen Philosophie. (
... )
So neuartig auch dieser Sonntagskreis zu sein schien und noch
immer scheint - war er als Gruppierung nicht so neu, er hatte Vor -
gänger und fiel nicht vom Himmel. Wir hatten schon vorher den
Galilei-Kreis, ein liberales, im bürgerlichen Sinne sehr progressives
Gebilde. Da war Ervin Szabó, eine beträchtliche geistige Potenz, der
für uns alle Anregung und Vorbild war. Ein starker Mann, ein Mann
von starkem Willen. Und da war vor allem alles, was Georg Lukács
aus Deutschland mitbrachte, und er brachte allerhand we sentliche
Einflüsse mit: er hatte Freunde da, von denen er vieles übernahm:
zunächst den schon erwähnten Ernst Bloch, den unge mein begabten
jungen Philosophen, der damals bereits sein erstes berühmtes Buch,
Geist der Utopie, geschrieben hatte. Dann Emil Lask, der junge, im
ersten Weltkrieg gefallene Gelehrte. Und dann vor allem Georg
Simmel, zu dessen Lieblingsschülern Lukács zählte., er war Mitglied
des in der Wohnung des Meisters gehaltenen Privatissimums. Er war
ein Auserwählter der Auserwählten. Sein großes Talent erkannte
schon Simmel - und Lukács brachte die Wirkung von all diesen mit,
die ganze geistige soziologisch saturierte Atmosphäre, den
Dunstkreis bald von Max Weber, bald von Werner Sombart. Mit
einem Wort, der neue Geist war nicht alles in allem neu, er hatte
Antezedenzien, doch zerstreut in der Welt. Der ganze Kreis bewegte
sich in einem neuen Reich des Geistes, dessen Name
unausgesprochen blieb, von dem programmatisch keine Rede war,
weil dafür noch das Wort fehlte.

100
Von Dostojewski war ausgesprochen und unausgesprochen die
Rede; dann von Meister Eckehart, von Hegel, von Marx seltener,
und noch seltener vom Sozialismus und Kommunismus, zumindest
in der ersten Zeit der Entfaltung. Doch die Soziologie als Hinter -
grund war da; es war eine soziologisch gesättigte Lebenssphäre, in
der wir uns bewegten.
Die erste persönliche Beziehung kam durch meinen Freund
Mannheim zustande, mit dem ich während meiner Universitätsjah re
bekannt wurde und mit dem mich eine lebenslange, wenn auch im
Laufe der Jahre fluktuierende Freundschaft verband. Durch ihn
wurde ich mit Lukács bekannt und auf diesem Wege mit den zwölf
bis zwanzig Mitgliedern des Sonntagskreises.
An wen denken wir vor allem, wenn wir von dem Dutzend
Leute des Kreises sprechen? Vor allem natürlich an Georg Lukács,
der nicht nur vom Anfang bis zum Ende ihr bedingungslos
anerkannter Leiter, sondern gewissermaßen auch ihr Lehrer, ohne
jede Spur von Schulmeisterei, blieb. Außer Lukács waren Mannheim
und Balázs bemerkenswerte - vielleicht die bedeutendsten -
Mitglieder des Kreises. Andere, um noch einige Namen zu nennen,
waren Edith Hajós, die erste Frau von Balázs, Anna Lesznai,
Friedrich Antal, der Kunsthistoriker, und noch ein paar Leute, die an
den Diskussionen gelegentlich teilnahmen.
Worin bestand nun Wesen und Rolle der beiden jungen Leute,
die ich für das Leben des Kreises als zentral betrachte? Karl Mann-
heim war, neben Lukács, zweifellos der bedeutendste Kopf, ein ori-
ginell denkender, wenn auch, wie wir mehr oder weniger alle, unter
dem Einfluß von Lukács stehender Mann. Der wesentlichste Cha-
rakterzug seines Empfindens und Denkens war seine jedem Dogma -
tismus, jedem vorgefaßten und unrevidierten Vorurteil abgeneigte
Haltung. Sein kritischer Geist war und wurde mit der Zeit um so
auffallender, als wir anderen für die Dogmen von Lukács so emp-
fänglich waren. Dieser, der Meister, ging darin mit dem ärgsten
Beispiel voran. Gelegentlich glaubte er so fest an seine einmal ange -
nommenen Dogmen, als ob er bekräftigen wollte, daß, wer einmal
Katholik ist, Papist zu sein habe. Er hing an vielen seiner alten
Freunde, die er erst viel später aufzugeben bereit war. So Ernst
Bloch, Paul Ernst, Richard Beer-Hoffmann und eine Reihe von an -

101
deren Idolen, von seinen Lehrern wie Max Weber, mit dem er in sehr
freundschaftlicher Beziehung stand, ganz zu schweigen. (... )
Worin bestand nun die Bedeutung von Balázs innerhalb des
Kreises und in der nachfolgenden Zeit? Darin, daß die Fähigkeit, die
wir unter Sensibilität verstehen, die Sensibilität des Künstlers oder
das Qualitätsgefühl des Kenners, bei ihm in höherem Maße
vorhanden war als bei all den anderen, namentlich als bei Lukács,
bei dem dieser Sinn fehlte. Lukács selbst drückte dies folgenderma-
ßen aus: „Ich hin kein Kunstkritiker, ich bin ein Kunstphilosoph."
Dies bedeutete, daß wenn er jemanden Tür einen bedeutenden
Künstler oder Dichter hielt, sein Urteil fast immer irrig war. (... )
Das besondere Vermögen von Béla Balázs bestand, wie gesagt,
im Entdeckungsspürsinn für dichterische Sensibilität. Seine unzäh-
ligen Bemerkungen, frappanten Analysen und seine diesbezüglichen
Abendkurse bleiben mir unvergeßlich. Ich erinnere mich ins-
besondere lebhaft an seine Vorträge über „Die lyrische Sensibilität",
in welchen er auf seine Art die mittelalterliche Troubadourlyrik von
neuem entdeckte, nachdem die klassische Erbschaft der Gattung
verlorengegangen ist. Er entdeckte aber noch eine epochale
Erscheinung und schrieb die ersten zwei Bücher über den Film als
den Anfang eines neuen Zeitalters. Seither ist nichts mehr so Gutes
über diesen Gegenstand geschrieben worden. Von all dem wußte
man im Sonntagskreis kaum etwas, um so weniger, als die Bücher
noch nicht da waren; die Vision von Balázs blühte aber bereits, und
der Sinn war da, die neue Empfindbarkeit, das Auge für eine neue
Welt, die er die der Visualität nannte. (... )
Im Anfang war die Beziehung [zwischen Mannheim und
Lukács] sehr innig. Man entdeckte in Mannheim ein neues, großes
Talent, schätzte ihn hoch, vielleicht überschätzte man ihn. (. . .) Im
Laufe der Zeit, später in Deutschland und besonders in London,
schwächte sich dieses Prestige ab. Welchen Anteil Mannheim selbst
daran hatte, namentlich daran, daß Lukács den Eindruck haben
mochte, daß der andere allzusehr in den Vordergrund der
soziologischen Bewegung rückte, könnte ich nicht sagen; ich würde
es wohl auch . nicht sagen, wenn ich es wüßte. Daß das Verhältnis
sich abgekühlt hat und am Ende sich fast in eine Animosität
verwandelte, ist Tatsache. Lukács mag das Gefühl gehabt haben, daß

102
Mannheim sich zuviel von dem angeeignet hatte, was von ihm
stammte. Mannheim war von Lukács zweifellos stark beeinflußt,
doch waren sie durchaus verschiedenartige Denker und Charaktere.
(. . .)
Ich war Mitglied des Kreises, fühlte mich stark als solches; das
war ein inneres Band, wenn auch kein besonders sentimentales, doch
eine Zusammengehörigkeit, deren Grundton von Lukács stammte,
dessen jeder Rührseligkeit abgeneigtes Wesen allgemein bekannt
war. Die innigen Beziehungen, die er zu wenigen Jugendfreunden
unterhielt, kamen bei den sachlichen Relationen nicht zur Geltung.
Auch mir gegenüber nicht.
Doch verließ ich, trotz meiner Verwaisung, nicht ganz mit
leeren Händen den Kreis - wohl ohne materielle Güter, ohne Wissen,
das ich in klingende Münze hätte verwandeln könnten, doch mit
einer Belehrung, einer moralischen Gefaßtheit, die unverlierbar war:
mit dem Bewußtsein, daß die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von
Menschen, wie die, welche ich verlassen mußte, in Zukunft das Maß
war, nach welchem man sich richten würde, was immer einem auch
zustoßen möge. (... )
Die Auflösung des Kreises war die Folge des Zusammenbruchs
der Räterepublik. Und damals trachtete jeder, mit heiler Haut da-
vonzukommen. Man wußte, wer zum Kreis gehörte, und wenn auch
nicht viel mehr, als daß wir links orientiert und liberal gesinnt waren
- wieweit wir Sozialisten oder Kommunisten waren, wußte man
vielleicht nicht genau; dies war aber genug, um verdächtig zu sein,
ins Sammelgefängnis zu kommen oder das Land so schnell wie
möglich zu verlassen. Dies geschah auch; die Mitglieder des Kreises
zerstreuten sich in alle Welt.

ANTAL MOLNÁR


Molnár Antal: „Emlékezés a Vasáruapi Társaságra", Irodalomtörténet (Budapest), 1978, 2,
S. 489.

103
Zur Zeit wird so viel über diese Gesellschaft gesprochen, daß ich es
für nötig halte zu erzählen, was aus der Distanz von sechzig Jahren
noch deutlich in meiner Erinnerung geblieben ist.
Die Gesellschaft von 10 bis 15 Personen kam in Béla Balázs'
Wohnung in der Naphegy-Straße zusammen. Zwischen Herbst 1918
und März 1919 war die Redefreiheit ungefährdet, niemand mußte
befürchten, für gleich welche extreme Meinung auf ein Polizeiverbot
zu stoßen.
Im geräumigsten Zimmer der Wohnung saß die Leitung um ei-
nen runden Tisch herum. Unter ihnen erinnere ich mich an vier
Männer: Georg Lukács, Lajos Fülep, Karl Mannheim und der
Hausherr Béla Balázs waren die Sprecher. Die übrigen, eher Jünge re,
waren stehend an den Wänden verteilt.
Es war sehr lehrreich, gut aufzupassen, was die Leiter
sprachen. In erster Linie standen philosophische Fragen auf der
Tagesordnung. Damals bekannten sich die genannten Denker noch
hauptsächlich zur sogenannten neukantianischen
Betrachtungsweise. Auf dieser Grundlage kritisierten sie unter
anderen Simmel, den damaligen deutschen Modephilosophen, und
ordneten Kierkegaard, Nietzsche und die übrigen namhaften
Geister in ihr System ein. In der Literatur wurde außer Goethe in
erster Linie Stendhal lebhaft besprochen, der Romanschriftsteller,
dessen Größe eben in jenen Jahren evident wurde. (Unter den
Malern konnte sich damals ähnlicher Wiederentdeckung Greco
erfreuen.)
Die Zusammenkünfte verliefen so, daß einer irgendeinen
Gedanken aufnahm - einen möglichst neuen und noch ungeklärten -,
seine Meinung darüber äußerte, wozu dann die übrigen Stellung
nahmen und immer ganz zum Schluß Lukács. Seihe Worte faßten das
Bisherige zusammen, und gleichzeitig wurde aufgrund seines großen
Ansehens seine Meinung angenommen.
Die Jugend im Umkreis redete überhaupt nicht mit. Ihre Rolle
war nicht einmal die des griechischen Chors, denn sie assistierten
absolut stumm. Ebenso waren zwei Frauen anwesend, die damalige
und die zukünftige Ehefrau von Balázs, Edit Hajós und Anna
Schlamadinger - alle beide schon damals starke Anhänger des Bol-
schewismus -, aber ebenfalls stumm; keinesfalls aufgrund des

104
Prinzips „mulier taceat in Ecclesia“, sondern offensichtlich aus
Einsicht.
Wie die Genannten jenen Denkern heimleuchteten, die ihre
Weltanschauung nicht teilten, daran erinnere ich mich im einzelnen
nicht mehr. Nur so viel weiß ich, daß die Form, die Art der Mei-
nungsäußerung immer überlegen, apodiktisch war. Die Anwesenden
bewunderten übereinstimmend Lukács' außergewöhnliches Wissen,
und jeder hielt es für natürlich, daß ihm das Recht des letz ten Wortes
zukam. Hinzuzufügen ist: So wie 10 Jahre später die Sziget (Insel)
um Karl Kerényi, so war auch die Sonntagsgesellschaft zweifellos
eine Treibhausgärtnerei im Bereich der ungarischen Bildung. Mit
ihrem gesamten Charakter bedeutete sie ein Umpflanzen westlicher
Ergebnisse.
Allein die Schlußfolgerung einer einzigen Sitzung blieb mir fast
Wort für Wort im Sinn; gewiß deshalb, weil sie sich als schicksals -
entscheidend erwiesen hat. Irgend jemand warf Anfang März die
Frage auf: Wie müssen wir Stellung nehmen, wenn zufällig eine
bolschewistische Regierung die Macht übernehmen sollte? Es wur-
den mehrere Meinungen geäußert, und auch dann entschied Lukács:
„Wir müssen uns immer der Politik anschließen, die relativ den
meisten Menschen die meisten Rechte sichert.“

EDIT GYÖMRŐI

Ich gelangte durch Anna Lesznais Einladung in den Sonntagskreis,


als junge Dichterin, 1918. Damals hieß ich Edit Rényi, später publi -
zierte ich auch unter diesem Namen.
Zentrum der Gesellschaft waren Lukács, Balázs und seine Frau,
Anna Schlamadinger - Edit Hajós war damals für lange Zeit in
Rußland - und Máli. Außerdem kamen Fogarasi, Lajos Fülep,
Mannheim, Arnold Hauser und unregelmäßig Ernő Lorsy zu uns.
Und es gab solche, die wir die „Knaben" nannten. Ich befand mich
zwischen diesen und den älteren, denn ich war jünger als die Gruppe
um Lukács, aber älter als die „Knaben". „Knaben" waren Gyuri


Ausschnitt aus einem Interview von Erzsébet Vezér und Éva Karádi in Budapest 1976.
Erschienen in: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér Erzsébet,
Budapest 1980, S. 64-66.

105
Káldor, Tibor Gergely, Tivadar Berger, Ervin Sinkó, Károly Tol nay
und Laci Radványi. Auch Révai kam im Jahre 19 einigemal.
Der Sonntag nahm später ein Ende, er dauerte nur bis 1919. In
Wien war er nicht mehr das Richtige. Die Sonntags-Leute kamen
zwar zusammen, aber unregelmäßig, der eine traf sich mit dem, der
andere mit jenem.
Als wir zusammenkamen, war, glaube ich, keinem von uns klar,
was wir wollten. Wir versuchten, eine Antwort zu bekommen. Es
wäre eine große Lüge, wollte ich behaupten, daß wir Kommunisten
waren. Die Dinge waren für uns chaotisch. Ich möchte dafür ein
Beispiel bringen. Als Károlyi ah die Macht kam, waren alle sehr be -
geistert, nur ich verstand nicht, warum das Revolution genannt wird,
daß Károlyi aus der Hand des Großherzogs die Ernennung
entgegennimmt. Da stimmte etwas nicht. Daraufhin griffen sie mich
ah, ich sei ein Konterrevolutionär.
Große interne Kämpfe fochten wir aus. Schließlich kamen we -
der Gyuri Lukács noch wir aus der Arbeiterklasse. Und wir gehör ten
nicht zu jenen, die ihre pubertäre Revolution damit beenden, dala sie
in die kommunistische Partei eintreten und gegen ihren Papa
kämpfen. Zu ihnen gehörten wir nicht. Für uns war es eine
schrecklich wichtige Frage, aber wir hatten mit unserem Hintergrund
zu kämpfen.
Daran lag es, daß alles zu einer so großen Frage wurde.
Also saßen wir an den Sonntagen zusammen und versuchten zu
diskutieren, was warum so ist. Wir wollten einfach wissen, was ih
der Welt schief gelaufen ist. Damals suchte auch Gyuri hoch die
Antworten. Während der Kommune war ein Sonntag sehr interessant.
Als Lukács zu Pfingsten für zwei Tage von der rumänischen Front
zurückkam, waren wir von Sonnabendnachmittag bis Montagmorgen
zusammen und diskutierten ohne Pause. Auch daran erinnere ich
mich, daß wir nichts zu essen hatten, und das Mädchen, das auf
meinen Sohn aufpaßte, hatte, ich weiß nicht woher, Speck
bekommen und mir - wir brachten alle etwas mit, damit wir zu essen
hätten - Brot mit Speck eingepackt. Nie hatte ich Speck essen
können. Als wir dort saßen, öffnete ich mein Päckchen und sagte:
„Pfui, Speck." Woraufhin Gyuris Augen aufstrahlten und er sagte:
„Speck!" Ich gab ihn ihm, und unser Volkskommissar, Georg Lu-
kács, aß den Speck glücklich auf. Aber was ich sagen wollte, ist, daß
das Thema unserer damaligen Diskussion war: Wenn unter uns
jemand wäre, von dem wir wüßten, daß er in naher Zukunft etwas tun

106
werde, was der Kommune schade, hätten wir dann das Recht, ihn zu
töten? Und zweieinhalb Tage stritten wir uns qualvoll und konnten
uns nicht einigen. Dabei war zu Pfingsten die Lage schon sehr
schwierig, doch immer noch stand dies als Problem.
Nicht nur Lukács beherrschte die Situation, auch Béla Balázs
spielte eine sehr dominante Rolle. Aber Lukács war dennoch der
klügste und gebildetste von uns. Während der Kommune gab es na
türlich eine Reihe von Sonntagen, bei denen Lukács nicht anwesend
war, und dann leitete Balázs die Diskussion. Niemals konnte eine
Diskussion zum Abschluß gebracht werden. Ich erinnere mich daran,
daß nach den Sonntagszusammenkünften Mannheim, die „Knaben"
und ich noch stundenlang im Hűvösvölgy und anderswo
spazierengingen und weiter diskutierten. Es gab nicht viele gegen-
sätzliche Meinungen, wir warfen hauptsächlich ethische Fragen auf.
Von den Mitgliedern der Gesellschaft mochte ich Máli und Ba-
lázs sehr, ebenso auch Anna, die sehr fest auf ihren Prinzipien be-
stand. Lukács brauche ich wohl nicht zu beschreiben. Mannheim war
ein sehr kluger, sehr sensibler und sehr charmanter Mensch, doch
war er total verängstigt; so phantasierte er, daß man ihm die Nägel
herausreißen werde. Innerhalb der Gesellschaft war Mannheim sehr
mit Hauser und Sinkó mit Révai befreundet. Ich verstand mich außer
mit Máli besonders gut mit René Spitz. Sinkó war der
unschuldvollste Mensch auf der Welt. Lorsy war mein Chef im
Volkskommissariat. Als ich zum ersten Mal ins Volkskommissariat
für Unterrichtswesen ging, suchte ich Lorsy, fand ihn aber nirgend-
wo. Schließlich stieß ich auf ihn: er saß in einem Zimmer und las
Stefan George.
Ich war bis Anfang 1923 in Wien, danach in Klausenburg und
Ungvár, ging dann nach Berlin, und wurde so vom Sonntagskreis
losgerissen. Bis zuletzt blieb ich in guter Freundschaft mit Anna
Lesznai, Tibor Gergely, Ervin Sinkó und Mannheim.

107
BÉLA BALÁZS: TAGEBUCH (1915 – 1922) 

23. Dezember 1915


(... ) Dann kam Gyuri nach Pest, weil er gemustert wurde. Er wur de
Soldat. Er ist fast täglich bei uns. Unser Verhältnis hat sich ge-
bessert, ist aber eher eine intellektuelle Waffenbrüderschaft. Im
übrigen war es nie etwas anderes. Ich schätze Gyuri wegen seiner
großen Ehrlichkeit, seiner Feinfühligkeit (denn gut ist er nicht), mir
imponiert sein riesiger Intellekt, sein metaphysischer Erlebnisreich -
tum, aber - nie begeistert er mich. Mir wird nicht heiß, ich bin nicht
bewegt, wenn ich ihn sehe, wie früher bei Zoltán und auch jetzt bei
Bartók. Ich habe nicht das Gefühl: „Du mußt ihm jetzt nachstürzen."
Wir philosophieren immer. Das ist vielleicht nicht gut, weil es mich
des sinnlichen und praktischen Teils meines Berufes entzieht, und
auch deshalb nicht, weil Gyuris egozentrisches Interesse und
dominierender philosophischer Hochmut dies leitet und mein
Selbstgefühl dabei Schaden nimmt. Natürlich läßt sich über meine
Sachen nicht richtig streiten, ja, nicht einmal immer sprechen, und
ich bin bei ihm mehr zuhause, als er bei mir. (. ..)
Sonnabends (beziehungsweise neuerdings am Sonntagnachmittag) ist
bei mir „Herrenjour", aus dem vielleicht eine Akademie des
„Geistes" und der Ethik werden könnte. Nur „ernsthafte" und zur
Metaphysik neigende Leute werden eingeladen. Jeder neue Gast wird
vorher proponiert, und jedes Mitglied der Gesellschaft hat Ve torecht.
Es ist schon bei der ersten Gelegenheit so gut gelungen, wir spürten
alle eine so „gute Atmosphäre", daß es zur Herzenssache aller


Ausschnitte aus den handschriftlichen Tagebüchern von Béla Balázs.
Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.
Handschriftenabteilung. (MTAK-K) Ms 502311 1 -21. Übersetzt aus: A
vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér Erzsébet, Budapest
1980, S. 71 - 101. Komplette ungarische Ausgabe: Balázs Béla: Napló 1-11.
Szerk. Fábry Anna, Budapest 1982.

108
Anwesenden wurde. Gyuri, Béla Fogarasi, Mannheim, Emma Ritoók.
Doch wird der Kreis noch wachsen.
Letztlich wunderte man sich darüber, und auch ich selbst wunderte
mich, daß ich mit diesen Fachphilosophen, die alle nicht nur
außerordentlich befähigt sind, sondern auch seit Jahren nichts an -
deres tun, als dies auszuüben, völlig auf einem Niveau spr e chen
kann, daß sie interessiert sind, ja, sogar erregt werden vo n dem, was
ich sage, und ich jedes ihrer Worte ohne weiteres verstehe obwohl
ich mich doch eigentlich nie ernsthaft mit Philosophie be schäftigt
habe. (.. .)

Dezember 1915
Der „Jour" vom vergangenen Sonntag blieb lange zusammen. Noch
nach Mitternacht gingen wir ins Café. Und schließlich ka men, nach
früherem „jungen" Brauch, zwei junge Männer (der eine namens
Mannheim, ein außerordentlich fähiger Philosoph und ganz
besonderer Mensch, strahlende Ehrlichkeit und glühender
Wahrheitshunger) morgens um drei zu mir, um einige meiner
Schriften mitzunehmen und damit ich ihnen Gedichte vorlese. Ich
las. Auch Edith war hier. Es gefiel ihnen. Am meisten freute ich
mich darüber, daß sie das Wesentliche darin sahen. Ihre paradoxe
Einfachheit: „Die differenziertesten Dinge werden zu einfachen
Liedern. Zu solchen wie die Psalmen." Ja, sagte ich, weil es gerade
mein wichtigstes Erlebnis ist, daß diese Dinge so wirklich existent,
naheliegend und selbstverständlich sind.
(... ) Die Jours an den Sonntagnachmittagen gelingen herrlich.
Gyuri, Mannheim, Fogarasi, Hauser, Emma Ritoók, Mihály Polányi
G za Révész, Frigyes Antal, Máli, Julia Lang. - Der ständige
Stamm sind eigentlich Gyuri, Mannheim, Hauser, Fogarasi und
Emma Ritoók. Von herrlichen Dingen ist die Rede, in herrlicher
Stimmung, alle werden stimuliert, befruchtet. Es ist eine ideale phi -
losophische Akademie. Vielleicht in dem alten griechischen Sinne
als die Philosophie noch nicht so sehr eine Einzelwissenschaft war
So schöne, neue und bedeutende Dinge werden ausgesprochen, l ra -
gen geklärt, daß die Idee aufkam; man müßte die Ergebnisse dieser
Gespräche notieren. Ich wollte dies hier in meinem Tagebuch tun,
hatte bloß keine Energie dazu. Man müßte es schon deshalb ma-
chen, sagt Gyuri, damit den Leuten nach hundert Jahren der Spei -
chel im Munde zusammenläuft, wie uns, wenn wir an alten Wei-

109
marer Gesellschaften denken. Wie notwendig brauchten wir einen
Eckermann oder sogar zwei! Schade, daß sich ein bedeutender
Mensch für so etwas nicht hergibt.
Als wir mit Freude entdeckten, daß unsere Gesellschaft „etwas"
darstellt, eine Schöpfung und ein repräsentatives Dokument unserer
Zeit und Generation ist, da assoziierte sich unmittelbar der Schmerz
hinzu: Daß Zalai das nicht erleben konnte! Wie sehr hätte er
hierher gepaßt! Und wie suchte er dies sein ganzes Leben lang!
Und daß Leó Popper und Irma gestorben sind! Eigentlich sind wir
ein sich nach der Schlacht von neuem sammelnder Überrest. (. . . )
Mannheim griff mich neulich wegen meines okkulten Interesses an.
Das sei bloß Sensationshascherei - sagte er. Womit könnte dieser
Zuwachs das Niveau, den Wert meines Wissens steigern. Warum
suchte ich nach einer Welt jenseits meiner Wahrnehmbarkeit, wo
ich doch diese Wirklichkeit noch nicht einmal kenne und sie um
eines unsicheren Nichtexistenten willen vernachlässigen müßte. Ich
antwortete: Mich interessiert nicht die jenseitige, sondern diese
Welt, aber in ihrer Relation zum Jenseits, weil diese Relation mein
ganzes hierauf bezügliches Wissen umbewertet, (. . .) ich wäre auf
das Jenseits nicht neugierig, wenn ich es nicht in dieser Welt sähe
und erführe. Negativ, in Form der Mangelhaftigkeit und des Unge -
nügens der Erklärungen und Bedeutungen. (... ) Es ist mir wichti -
ger, oder sagen wir, vordringlicher, die Sinnlosigkeit dieser Welt
an sich zu verstehen als zu erklären. Gyuri pflegt zu sagen, es sei
seine große metaphysische Entdeckung, daß sich die
metaphysischen Tatsachen nicht in der Geltungssphäre befinden.
Sie sind ,.Sein". Diese Wirklichkeit ist als Geltungssphäre
vollständig und ausreichend (wie jede Sphäre, schon deshalb, weil
ich aus ihr nicht heraustreten kann, es sei denn, in eine andere
Sphäre). Aber als „Sein" ist sie wenig! Und ich muß auch von den
anderen wissen, um Ort, Bedeutung und Rolle dieser Wirklichkeit
spüren zu können.
(...) Mannheim sagte neidisch: „Wie beneide ich Ihren Mut zum
Irrtum! Zuweilen wage ich mich nicht zu bewegen, weil ich fürchte
fehlzutreten." Ich sage: Ich fürchte mich deshalb nicht, weil nicht
ich mich irre, sondern höchstens selbst ein Irrtum bin. ( ... ) Es gibt
zwei unterschiedliche Qualitäten von Irrtum. Der eine, welcher die
in mir lebende Wirklichkeit ist und sich in meinem Tun und
meinem Gedanken nur objektiviert und realisiert. Die Tatsache
dieses Irrtums bedeutet eine Wahrheit. - Dann gibt es noch den auf

110
dem gewöhnlichen Mißverständnis, fehlerhaften Denken (... )
beruhenden, nicht notwendigen Irrtum. Vor dem fürchte ich mich
auch.
(. . . ) Gyuri sagt, die Kunst sei luziferisch. Sie schaffe eine besse re
Welt als die Gottes, eine vorweggenommene Vollkommenheit, eine
Harmonie vor der Erlösung. Bisher hat mich dieser Gedanke bloß
beunruhigt, ich empfand ihn aber als zwingend. Gestern dage gen
kam ich darauf, daß dies nicht stimmt. Die Formen der Kunst sind
vollständig und in sich schlüssig, doch ist ihre Materie nicht Bronze
oder Marmor, sondern Sehnsucht. Nicht ihr Inhalt weist über sich
hinaus, sondern ihre Essenz. Die Kunst ist die chinesische Mauer,
das Tschanoju. Ein hochmütiger und bewußter Verzicht auf etwas,
das ich ohnehin nicht erreichen kann. Sie glaubt nicht, daß ihre Welt
die erlöste Welt ist. Negativ enthält sie alles, worauf sie verzichtet.
Sie ist kein luziferischer, sondern ein prometheischer Aufruhr. Sie ist
eine Totalität nur für den Eigengebrauch, in der sie zu Hause sein
will, ein sich selbst empfindender Herr. Doch ist sie kein Erlöser und
keine Erlösung. Sie bleibt sogar bewußt früher auf dem zu Gott
führenden Weg stehen, als die das Menschsein des Künstlers
verlangen würde. Die Kunst ist eine heroisch geschaffene
Einsamkeit. Sie ist in Wahrheit ein Elfenbeinturm, will aber nicht
eine bessere als diese Welt sein.
Deshalb ist alle Schönheit traurig.

16. Januar 1916


( ... ) Am vergangenen Sonntag habe ich gesagt, den Seelen seien
ethisch nur zweierlei Verhältnisse zu erlauben. Entweder die völlige
Fremdheit, wenn ich also die Seele des anderen Menschen nicht
wahrnehme, nicht zur Kenntnis nehme, wenn sie Ornament, Welt -
kulisse ist - oder die vollkommene seelische Gemeinschaft. Seelen,
die einander gespürt haben, können nicht in Distanz zueinander
bleiben, sie werden einander automatisch zur Aufgabe, zur Forde -
rung. Hier ist jede Distanz Sünde, die niedergerungen werden muß.
(... ) Entweder - oder. Man kann Gott nicht sehen, man kann sich mit
ihm vereinigen, aber man kann nicht ein diskret distanziertes, gutes
Verhältnis zu ihm haben. Und so verhält es sich mit der Seele. Die
seelische Vereinigung ist wohl in den meisten Fällen undurchführbar.
Aber dies muß man als solches empfinden, als nicht gelungen, noch
nicht gelungen, als vorübergehende Formlosigkeit. Denn die

111
Freundschaft ist eine Form, und auch die Einsamkeit, aber dieses
gute Verhältnis ist keine Form, keine Gattung, kann nicht Ziel und
Ergebnis sein. (...)
Als ich dies alles sagte, wurde vieles dagegen vorgebracht.
Hauptsächlich von Gyuri. Es sei nicht moralisch, sagte er, auf mei ner
eigenen höchsten metaphysischen Ebene leben zu wollen, die für
meine empirische Person ohnehin unerreichbar sei, und, mich von
vornherein mit einem heroischen Steckenbleibe„ beruhigend, die
Ebene, auf der ich wirklich leben könnte, in moralischer Unord nung
zu lassen. Es sei nicht erlaubt, mit dem Schmerz nach etwas
Unmöglichem das Weh der nahen Wirklichkeit zum Verstummen zu
bringen und mich unverrichteterdinge hinüberzulügen auf ein
höheres Niveau. Es gebe keinen Sprung. (...) Ich spürte während des
Gespräches, daß meine Worte neben oder jenseits ihres gedanklichen
Inhalts keinerlei ethischen Kredit hatten. Denn meine Person ist nicht
auf dem Niveau meiner Gedanken, und deshalb - ich will es mal so
sagen - gebe ich ihnen kein Gewicht, ich disqualifiziere sie eher
etwas. Mit der Unvollkommenheit meiner Person lasse ich meine
Gedanken im Stich, verrate ich sie. Es wäre meine Pflicht, mich zu
ihnen hin zu entwickeln, mich auf ihr Niveau hinaufzubilden. Das
aber wäre wiederum eine besondere Lebensaufgabe: ich selbst wäre
der Gegenstand meines Werkes. Ich habe aber ein ande res Werk
gewählt.
Hier taucht selbstverständlich wiederum ein ernsthaftes Genie -
problem auf. Denn dazu, die eigenen ethischen Werte gegenüber ei-
nem objektiven Werk zu vernachlässigen, kann wohl nur das Genie
ein Recht geben. Wer kein Genie ist, der sei gut (... )
„Alles in seine eigene Schublade" - sagte Gyuri. Er haßt das
„Gepantschte" und die gemischten Verhältnisse und gemischten
Gefühle. Gut so. Es gibt aber nur zwei Schubladen. Entweder
Fremdheit oder Brüderlichkeit. Was schon oder noch dazwischen-
liegt, darf in keine Schublade getan werden, so daß wir steckenblei -
ben und uns von ihm als Aufgabe befreien.

14. März 1916

112
(...) Vergangenen Freitag Vortrag im März-Kreis. Danach habe ich
im muffigen, trüben Souterrain des Café Miramare jungen Leu ten
mit historisch-materialistischer und monistisch-naturwissen-
schaftlicher Weltanschauung vom Kommen des Reiches der Seele
gepredigt.

24. März 1916


(...) Ein neues Problem: Ob ich an einer Revolution teilnehmen
würde? Ich würde nicht. Das ist nicht meine Lebensaufgabe. (An der
Revolution der Seele würde ich teilnehmen.) Dennoch gibt es einen
Situationszwang. Aus Amerika käme ich nicht nach Hause, um zu
kämpfen. Doch wenn mich der Kampfzufällig auf der Barrikade
erreichte, würde ich nicht mehr weglaufen. Die Frage ist, wo die
Barrikade beginnt. Das andere ist: Dies wäre eine irrationale und
spontane ethische Reaktion auf einer ethischen Ebene, die in mei ner
bewußten Seele nicht mehr wirkt. (...)
Mit Mannheim und Hauser im Café über die Freundschaft. Ich
glaube nicht mehr (wie im „Dialog"), daß sie ausschließlich ist. Aber
ich glaube an eine Brüderlichkeit mehrerer Menschen.
(... ) Kürzlich sprach ich wieder mit Gyuri über die zwei Stile des
Dramas. (...) Der lineare - der malerische - ist der von Shakespeare,
der Alfieris ist auf die Situation und den Charakter konzentriert.
Gyuri sagt, dies ist ein unbedingtes Entweder--Oder. Ich sage, meine
Mission sei, die Synthese, die dritte Möglichkeit zu finden. Das
„Blut der Heiligen Jungfrau" ist auf der Situation aufgebaut - aber
ihre Gestalten sind dennoch „lebendig". Gyuri sagt, jede echte
Situation von letzter Wahrheit verlebendigt (mit einer eigenen
Lebendigkeit) die Gestalten.
(... ) Noch etwas muß getan werden. Ich muß eine moralische
Aristokratie um mich sammeln, ein Niveau, einen intransigenten
Stolz, eine Exklusivität der moralischen Sensibilität in einem klei nen
Lager zusammenbringen, aus dem ein Motto, ein Programm
hervorgehen kann. Die moralische Revolution, die notwendiger ist
als jede soziale Revolution, muß vorbereitet werden. (. . .)

21. Mai 1916

113
(... ) Gyuri ereifert sich ständig dagegen, daß wir alle Dinge des Le -
bens als a priori sinnvoll akzeptieren. „Denn die jehovaische Welt ist
sinnlos und zufällig." Ich wünschte mir, er schriebe seinen darüber
geplanten Dialog, weil dies eine Antwort auf ihn auslösen wür de.
Einstweilen ist es nur ein elementarer und unverrückbarer Glauben in
mir, daß alles, was geschieht, sinnvoll ist und etwas bedeutet (auch
wenn wir es nicht verstehen).
Die jehovaische Welt gefährdet im übrigen nur das Werk und nicht
die Seele. Für die Seele ist alles Ereignis, clean allem entnimmt sie
ihre Nahrung. (. . .)
Oszkár Jászi war mit Máli bei uns zum Abendbrot. Es war vom
Zwang zur Lüge aus Güte oder Gewogenheit die Rede. Gyuri und ich
lehnten dies ab. Der Seele muß eine einfache und eindeutige At titüde
gegeben werden, weil sie sonst formlos wird. Es darf nicht sein, daß
sie ihre Haltung von Fall zu Fall anders wählt. Die Möglichkeit einer
Gesellschaft in der Atmosphäre absoluter Wahrheit? Das ist ein
soziologisches Problem). Die Lüge ist die ewige Fremd heit der
Seelen zueinander. Die dem gesellschaftlichen Leben geschuldete
Lüge zernagt von ihrer Wurzel her auch jede Möglichkeit einer
gewollten Wahrheit. (. . .)

12. Juni 1916


Sonntag hatten wir wiederum eine große Diskussion über unser
ständiges Thema. Gyuri - und auch Anna! - sagte, es sei nicht er-
laubt, offen zu leben, wenn wir keine Heiligen sind. Und die
Fremdheit zwischen den Seelen sei bindend. Und ich sagte, damit
dürfe man sich nicht zufriedengeben. Wir sollten uns mit reinem
Wollen und freier Seele unter die Seelen begeben und der Sehnsucht
und dem Schmerz über unsere Abgeschlossenheit voneinander Aus -
druck geben. Mit der Brücke der Sehnsucht die Entfernung verbin -
dend und gleichzeitig messend.
Man muß den Untergang und auch die Sünde auf sich nehmen, die
mit dieser Erweckung der Seele verbunden sind. Denn es kann kein
echtes Vergehen und keinen echten Untergang durch diese Er-
weckung der Seele geben. Dieses Leid und diese Gefahr haben einen
höheren Rang als die vorsichtige Korrektheit der prinzipiellen
Fremdheit! Ich vermochte keinen zu überzeugen. (...)

114
11. Februar 1917
Ich halte Vorträge am Pädagogischen Seminar, die großen Erfolg
haben. Ich bereite mich kaum für sie vor. Alle diese Sachen, die ich
schon früher einmal überdacht habe, treten zu einer besonderen
Einheit zusammen. Die Rede war von der Bildung, vom Individua -
lismus, von der religiösen Bedeutung der Bildung gegenüber dem
luziferischen Charakter der Werkethik. Die Paradoxie der Bildung
(was ständige Offenheit und Weiterschreiten bedeutet) an Werken
mit immanentem Zentrum. Die Rede war von Memoiren und Briefen,
so, wie ich mir die Sache „unbesehen" denke. - Ich trage eine
erdachte Kulturphilosophie vor, mangelt es mir doch selbst an den
oberflächlichsten Kenntnissen. Es sind ganz willkürliche Theorien,
wie es scheint, erhalten sie aber irgendwo dennoch gewisse Wahr -
heiten. Antal sagt, wunderbarerweise entsprechen sie dennoch der
Wirklichkeit.
Bei den philosophischen Sonntagnachmittagen hatte ich seit kurzem
große Erfolge: Die „Knaben" waren begeistert. Es hat einen bitteren
Beigeschmack. Für mich bedeutet solch ein Erfolg immer
Einsamkeit. Ich brauchte eine Gesellschaft, wo auch die tiefste
Sache, die ich sage, natürlich und selbstverständlich auf einem Ni-
veau liegt und wo ich sofort eine adäquate Antwort bekomme. In der
Bewunderung spüre ich allein den Schmerz der Isoliertheit (des halb
ist für mich die Bewunderung meiner Gesellschaft so belastend). Wie
sehr fehlt mir auch deshalb Gyuri - dessen nicht huldi gende, sondern
brüderliche Achtung doch schwerer wiegt und mehr Selbstvertrauen
gibt!
Die Freie Schule der Geisteswissenschaften. - Wir wollen und
werden vielleicht eine freie Schule machen. Spiritualismus, Neo -
idealismus, Problemsensibilität (Wort und Begriff müßte ich besser
und bewußter propagieren) - und nicht populär. Auf unserem ei genen
höchsten Niveau darüber sprechen, was uns beschäftigt - kein
Handbuch-Einführungen, wie sie selbst an der Universität noch
gehalten werden.

28. Mai 1917


Inzwischen organisiere ich die Vorlesungen aus dem Bereich der
Geisteswissenschaften und hielt auch meine sechs dramaturgischen
Vorlesungen, die ich zuvor auch noch ausarbeiten mußte, hatte ich

115
doch nur einige verstreute und zufällige Einfälle. Und wunderbar
schnell entstand aus dem Nichts auf einmal ein fertiges, reiches und
(vor allem mir) viele Wege weisendes einheitliches dramaturgisches
System. Das ist ein ernsthafter Gewinn.
Die Schule ist über Erwarten gut gelungen. Durchschnittlich wa ren
in jeder Vorlesung siebzig Hörer, die nicht fortblieben, womit wir
gerechnet hatten. Und - wie Fogarasi sagte - wir waren auch
gegenseitig überrascht über unsere Fähigkeiten. Fogarasis Vorle-
sungen (Theorie des philosophischen Denkens) waren erstrangig.
Hausers (Ästhetik nach Kant) weniger. Doch hat er eine imponie-
rende Arbeit geleistet. Antals war ein wenig mager. Mannheim da-
gegen (Erkenntnistheorie, Logik) gab eine herrliche, erregende und
reiche Erstvorstellung eines kommenden bedeutenden Philosophen.
Auch Gyuri ist eingetroffen. Und obwohl er diese ethischen Vorle-
sungen jetzt nur improvisierte, waren sie non plus ultra!
In der Nähe eines großen Menschen zu leben, gibt dem Leben ei ne
Art kosmischer weltgeschichtlicher Sicherheit. Ich lehne mit mei nem
Rücken an einer ewigen Mauer. Dieser Mensch ist für mich Freund
und Seher! Unter seinem Auge schmerzen meine Konturen.
Im Zusammenhang mit der Schule, aber auch darüber hinaus fühlt
man, daß irgendwie auch meine Generation wächst. ( ... )
Während dieser Zeit hielt ich an jedem zweiten Sonnabend (manch -
mal auch häufiger) auch meine sonnabendlichen Bibliotheksvorträge.
Die große Verschwendung! Diese Vorträge hatte ich nicht nie -
dergeschrieben, meist improvisierte ich. (...) Die Ergebnisse der
Diskurse an den Sonntagnachmittagen verpufften auf ähnliche
Weise.
Mannheim führte in seinen erkenntnistheoretischen Vorträgen aus,
daß wir zwar die Substanz nicht ausfindig machen können, sie
fungiert aber dennoch als ein kontrollierendes Etwas, wir können
jedenfalls an diesem Unbekannten den Sinn und Wert einer Sache
messen. - So macht es Ibsen mit der „Idealen Forderung". Er weiß
nicht, was werden soll, aber er versteht sie mit beispielloser, schwin -
delerregender Sensibilität, als Maßstab, als Kritik, als Problemsonde
für dieses Leben zu benutzen. (...)
Es ist aber erstaunlich, wie sehr Gyuris Nimbus langsam im Lau fe
der Jahre hier gewachsen ist. Obwohl sie eigentlich gar nicht wis sen,

116
warum sie ihn verehren, hat er ein sich stets ausweitendes, absolutes
Prestige. Seine Vorlesungen fanden großes Interesse, und wenn auch
wenige sie verstanden, besonders die ersten blieben noch bis zum
Ende. Es war wunderbar. Und wie großartig Gyuri vorträgt! Ein
idealer Professor. Jeder, der in den Bänken saß, mag ein neues
heroisches Zeitalter der Philosophie gespürt haben.
Gyuri konnte sich nur schwer trennen. Er schob die Abreise von Tag
zu Tag auf. Er fühlte, daß er hier zuhause ist. Nur die Pflicht treibt
ihn fort - gegenüber seiner Laufbahn und Lena. (... )
Károly Polányi ist auf Urlaub zuhause. Karlis große Wandlung. Er ist
in unser Geistesreich eingetreten. Freilich vermag ich immer noch
nicht ihm zu vertrauen. Er ist ungeheuer einfallsreich, klug, reich
und begeistert. Aber dies alles ist wie eine üppige, auf einer Ebene
auseinanderfließende Arabeske, und man weiß nicht, was sich auf die
Wirklichkeit stützt. Selbst wo er recht hat, fühle ich nicht , was
daran wirklich ist. Dies ist der typische jüdische Verstand. Ich spüre
seine Substanz noch nicht, und ein noch nicht beseitigter, tiefer
Argwohn steckt in mir. (...)
Es gab vielfältige Gespräche und Diskussionen. Es ist Karlis Theorie
über den Krieg, daß er ein Götzenkrieg sei, um schon lange nicht
mehr reale, lebendige Ideen geführt wird und seine letzte Ur sache die
seelische Desorientiertheit der Menschen sei, daß sie nicht wissen,
was wirklich geschieht. Denn alle ihre Institutionen, ihre Bildung,
sogar ihr ererbtes Programm - womit er auch die Zukunft irreal sein
läßt - seien Manifestationen vergangener Seelenzustände und
Verhältnisse und entsprächen ihren heutigen Seelen nicht. Deshalb
handeln sie innerhalb zweier Kategorien und wissen nicht, was
wirklich geschieht, und haben die Balance verloren.
Also reden wir wieder davon, daß die Menschen nicht wissen, was
wirklich geschieht. (Dies entnahm ich für mich aus Karlis Wor ten,
die ein wenig verwirrend, gegensätzlich sind und nicht bei einem
Problem bleiben können.) Der Sinn des Krieges wäre, die Men schen
zur Realität zu zwingen.
In den Diskussionen sagte Anna einmal, ich sei eigentlich ein In -
tellektueller und Rationalist. Das schmerzte mich, weil es - beson-
ders von ihrer Seite - eine tragische Verkennung ist. Denn es ist ei ne
tragische Situation, daß ich eine Burg verteidige, die ich selbst schon

117
lange aufgegeben habe, früher und tatsächlicher aufgegeben habe als
jene, die so leichthin und bequem von mystischer Paradoxie,
Intuition und dem Glauben jenseits des Verstandes sprechen. Denn
ich kann die Burg des Intellekts nicht aufgeben, obwohl ich weiß,
daß sie einstürzt, ich muß in ihr aushalten. Denn gerade das ist
wichtig, daß ich sie trotz allem besetzt halte. (. . . )

4. August 1917
Fogarasi fragte mich einmal nach meiner Weltanschauung, ob ich sie
zusammenfassen könne. Ich spüre, daß ich eine habe, doch rnuß sie
sich nun schon zum Begriff klären. (... )
Gespräch mit Mannheim in der Laube. Wie sehr er sich doch an
freunden will und wie vorsichtig und achtsam er ist, daß wir nicht
etwas übereilen und es natürlich und langsam dazu komme. Doch ist
eben Langsamkeit nicht die Natur der Begegnungen. Seltsam, welch
eigenartiger Widerstand in mir besteht, ihn zu duzen, obwohl dies
vieles an unserem Verhältnis ebnen würde. Es fehlt an vegetati ver
Wärme und auch das Pathos der großen Schicksalsgemein schaft ist
nicht vorhanden, wie bei Gyuri. (. . .)

24. September 1917


In der Bibliothek sprachen wir mit Fogarasi darüber, was ich indes
Schule der Geisteswissenschaften vortragen soll. Während des Dis-
kurses kristallisierte sich das Thema heraus: „Die Entwicklung der
lyrischen Sensibilität". Heute sehen die Dichter mehr -- sinnlich
mehr -, völlig unabhängig von ihrem Talent. In welche Richtung geht
dieses Plus? Eine seiner Hauptrichtungen (die klare Intention der
Kunst) ist, auch solches zu empfinden, was früher gedacht wurde.
Das ist eine gewisse Materialisierung der Seele und andererseits
gleichzeitig eine Vergeistigung der Materie. Der immer weitere
Sprung der Assoziationen komprimiert das Dazwischenliegende mit
in das Thema hinein. Dies alles wird nicht nur in der Metapher
sichtbar, sondern auch in Wortverbindungen, Endungen, Wortstel-
lungen und der Syntax.
Mannheim machte darauf aufmerksam, daß hier eine umgekehrte
Tendenz wie in der Wissenschaft vorliegt, die die Sinnesor gane
immer stärker ausschließt und deren Endziel die Reduktion auf
Quantität und Proportion ist. Dies entspricht jener Gegenüber -

118
stellung. die ich in den kunstphilosophischen Fragmenten beschrie -
ben hatte: die Eroberung der Kunst durch den Anthropomorphismus
und der Kampf der Wissenschaft dagegen. Die antike Poesie ist
einfache Feststellung und musikalische metrische Schönheit, an-
dererseits ist die antike Wissenschaft noch subjektiv, so daß von
heute her gesehen die alten Gelehrten und Philosophen dichteri scher
sind als die alten Dichter. (...)

1918
Gyuri ist angekommen. Er ist in viel besserem Zustand als vergan -
genes fahr. (. . . ) Er ist nach Hause gekommen, um die Ästhetik zu
beenden und wird sich im Sommer habilitieren. Bis Kriegsende
bleibt er jedenfalls hier. Für mich ist das sehr gut. Bei all unseren
theoretischen Zweifeln gibt Gyuris Anwesenheit eine solche Sicher-
heit wie die des Herrn Lehrers den kleinen Jungen. Zuletzt kann man
ihn fragen, wie es nun wirklich ist. Die überlegene Sicherheit seines
Gehirns hat etwas von enormer Monumentalität. (... ) Dabei ist sein
Urteil nicht sicher, besonders sein Geschmack beeinflußbar wie der
eines Kindes. Sowie Gyuri angekommen war, begannen wir über das
Mistbeet zu sprechen. Daß wir uns unser Alter gar nicht anders
vorstellen können als irgendwo zu viert, weiter von den anderen
Menschen entfernt. Ein Haus mit Garten, eine große Biblio thek,
gesonderte Wohnungen. Die zwei Frauen versorgen uns. Wir
brauchen bloß zu arbeiten, Gästezimmer. Doch Gyuri will dies nur in
der Nähe von Heidelberg, Denn er muß lehren, er will mittels le -
bendigem Wort und unmittelbarem Einfluß eine neue Generation
erziehen. (…)
Seminar und Schule haben begonnen. Wöchentlich gibt es zwei
Vorträge. Vergehens teilte ich mir die Woche so ein, daß auch noch
drei halbe Tage zum Romanschreiben bleiben. Die lyrische Sensibi -
lität verlangt viel mehr Arbeit, das Thema wurde völlig umgestaltet
und hat sich sehr ausgewachsen. Die Geschichtsphilosophie der Ly-
rik und Grundzüge einer neuen Poetik. (... ) Und ebenfalls jeden
Mittwoch rede ich zwei Stunden lang im Seminar. Dreimal zwei
Stunden über Prometheus und ebensoviel über Sakuntala, gestern
über den Baumeister Solness. Mannheim und Fogarasi, Gyuri und
Edith sitzen auch dort, und es gefällt ihnen sehr. Doch die fünfzehn
Leute, die sich für den ersten Monat einschrieben, hat es sehr ermü-
det. Ich kann nicht populär sein. (. . . )

119
21. Februar 1918
In der Schule war sechs Wochen lang „Kohlepause", also auch in der
Bibliothek. Auch keine Vorträge. Nur das Seminar war übrig-
geblieben, das ich zu Hause hielt. (... ) Ich machte mich an die
Ausarbeitung der Vorlesungen. Das Gleichnis und die Metapher.
(Die Bezeichnung) Ich glaube, es sind einige gute Ideen zu einem
Problem, das bisher niemand beachtet hat. Besonders das Problem
der Metapher halte ich für sehr tiefgründig und enorm bedeutsam. -
Gyuri haben diese Dinge sehr gefallen, er sagt zu mir, wenn ich Zeit
hätte, müsse ich unbedingt eine Poetik schreiben, denn es gäbe keine
(er könne dies nicht leisten).

17. März 1918


(... ) Letztes Jahr war auch oft davon die Rede, wie sich Gyuri im
Lebensgefühl von uns beiden unterscheidet, das heißt mit seiner
„jehovaischen" Weltanschauung, für die die Dinge des empirischen
Lebens nicht vernünftig, symbolisch bedeutungsvoll sind. (. . . )

15. Juli 1918


Bekanntschaft mit der jüngsten Generation gemacht, mit den Hö rern
unserer Schule. Es sind gerade maturierte Jungen: Radványi,
Gergely, Tolnay, Káldor usw. Eine neue philosophisch und ethisch
ernsthafte Generation. Diese werden bestimmt zu uns gehören. Wir
müssen sie um uns sammeln und uns mit ihnen beschäftigen. Don -
nerstagnachmittage im Café (zu denen ich so selten gegangen bin).
Die Gesellschaft für Sozialwissenschaften hat von irgendwoher Geld
bekommen und will ihre Schule zu einer Gegenuniversität auf
höchstem Niveau reformieren. Einstweilen mit zwei Fakultäten. Die
eine: Soziologie und Nationalökonomie, die andere: Geistes
wissenschaften, die völlig autonom zu besetzen unsere Schule auf -
gefordert wurde. Das bedeutet sehr vieles. Wir werden nicht weiter
so isoliert bleiben. Es ist wahr, daß dann auch unsere vornehme
Reinheit in Gefahr ist, sie muß aber nicht verloren gehen. Fülep hat
Angst davor. „Bisher waren wir zwölf Fischer, und jetzt wird bald

120
eine Kirche aus uns werden" - sagte er. (Wenn er bloß nicht auch
jetzt noch eine gewisse Judas-Färbung hätte.)
Es ist ergreifend, daß unsere Achtzehnjährigen die Intransigen testen
sind, die die intime Vornehmheit der früheren Vorlesungen, die
Repräsentation einer einheitlichen Weltanschauung um keines
Erfolgs und praktischen Nutzens willen gefährden lassen wollen.

27. September 1918


Ich war sechs Wochen lang mit Mannheim zusammen. Ich glaubte,
es würde daraus eine „Freundschaft". Das wurde es nicht. Ja, es war
so, als hätte sich bei aller Liebe in ihm und auch bei mir ent schieden
und geklärt, daß das nicht geht. Wir haben darauf verzich tet. Es ist
der Generationsunterschied zum Vorschein gekommen. So etwas wie
ein Unterschied der Temperamente. Ihm fehlt es an elementarer
Kraft, an Leidenschaft, an reger Fähigkeit zur Exaltation. In allen
seinen Sachen spüre ich eine Schwäche und Kleinlichkeit, eine
Blutlosigkeit: Feigheit und ständige argwöhnische Kontrolle. Er kann
nicht „restlos" sein. Er ist mir immer lieb, aber nie kann er mich
ergreifen und mitreißen. Auch Antal Molnár war mit uns zusammen.
Ein lieber, tüchtiger, kluger, ehrlicher guter Junge. Aber er ist aus
Mannheims Generation, sein Typ. Mit ihm hat er sich auch
angefreundet. Es ist ein interessanter Anblick, diese saubere
Trennung der Generationen und Typen. Epigonen. Aber wes sen
Epigonen? Selbst wir haben noch nichts erreicht.

22. November 1918


Eine verborgene Rokoko-Neigung habe ich an mir entdeckt. Es ist
gewiß ein komplementäres Gesetz der Seele, daß ich gerade heute,
wo sich die Welt von Grund auf umkehrt und man um uns Ungarn
schachert wie die Schakale um das Aas, wo es nichts zu essen gibt
und nichts, womit man heizen kann, wo wir nicht wissen, was mor-
gen wird, und wo die spanische Grippe wie die Pest unter uns um -
geht, daß ich da so oft am Abend denke: Ich wünschte mir etwas
Gutes, möchte auf seidenem Liegestuhl ruhen, in stark parfümier ter
Luft, farbiger Beleuchtung, glänzendem Pomp und möchte glatte

121
(fremde) Frauenkörper streicheln, feine Liköre trinken und Musik,
Gesang, Tanz und spielerisches, gutes Theater genießen. Jeden
Abend. Und frierend spüre ich, daß es nicht geht. Sicher ist jedoch,
daß ich nicht das Leben eines Dichters führe. Ich fürchte mich vor
dem Austrocknen. Ich möchte trinken, aber es ist nichts da. Inzwi -
schen protestiert mein Gewissen immer wieder: Jetzt müßtest auch
du handeln - am Kampf teilnehmen. Doch es gibt nichts, wo ich
antreten könnte, denn einen Kampf einleiten kann ich als Amateur,
als Neuling nicht, und sie, die „Berufenen", leiten ihn nicht ein, so
daß ich nur anzutreten brauchte. Doch habe ich manchmal ein
schlechtes Gewissen, besser gesagt, nicht einmal ein schlechtes, ich
denke nur manchmal theoretisch daran, ob ich nicht schlecht sein
muß, daß ich in dieser Zeit arbeiten, Literatur machen kann. Und in
Gedanken antworte ich, daß dies der Nutzen ist, den ich bringe, und
vielleicht heute wichtiger als der der anderen, denn wenn wir nun
einmal ein uns selbst überlassenes Völkchen im weltweiten
Wettbewerb sein werden, dem mit Politik nicht zu helfen war, das
diesen Wettbewerb weder wirtschaftlich noch industriell bestehen
kann und auch in seiner Zivilisation schrecklich zurückgeblieben ist,
dann ist das einzige, mit dem wir wettbewerbsfähig sein können, das,
was ich mache, was wir machen: gute Kunst und gute Wissenschaft
und Philosophie. An unserem Prestige hängt alles, denn materielle
Macht haben wir nicht.

Wien, 4. Dezember 1919


Nach und nach ist jeder von dort geflohen. Auch Fogarasi war schon
in Wien sowie Lena, Révai und Sinkó. Wir blieben bis zuletzt, weil
man um uns so sehr besorgt war. ( . . . )
Emma Ritoók, deren Verstand und Bildung internationales Niveau
hat und die geistig zu uns gehört, eine geschwisterlose Waise
zwischen ihren ungarischen Geschwistern, wohin sie der schmerz -
volle, tragische Trotz, die Gewalt des aus der Erde hervorbrechen -
den, dunklen nationalen Instinktes zurücktreibt. Ihr Pendant auf der
anderen Seite ist vielleicht Fülep.
Am anderen Morgen Edith, die durch drei Fronten hindurch aus
Rußland kam. (. . .) Sie ist in Rußland zuhause und wird bald heim-
fahren.(...)

122
Mannheim und Juliska von Pest her auf der Flucht. Olga Máté,
Mannheims Eltern, Noémi Ferenczy und Pátzay wurden verhaftet.
Die Polizei weiß alles, was sich auf die „Haarbürste" [Parteikasse]
bezieht. Und es kann sein, daß sie uns als Hehler mit ganz besonde -
rer Energie suchen und unsere Auslieferung verlangen werden. Ich
mußte also aus Wien abreisen (so kam ich hierher /nach Reichenau/,
das vorläufig beste Versteck).( . . . )
Ich muß noch über Gyuri schreiben. Der herzzerreißendste An blick;
das totenblasse eingefallene Gesicht, nervös und traurig. Er wird
beobachtet, man spürt ihm nach, er geht nur mit einem Revolver in
der Tasche aus, weil er sich mit Recht davor fürchtet, gewaltsam
entführt zu werden. In Pest ist er wegen Anstiftung zu neunfa chem
Mord angeklagt, und man hat einen Beleg in der Hand gegen ihn.
Hier dagegen übt er eine hoffnungslose konspirative Parteiarbeit aus,
er forscht nach Leuten, die Parteigelder unterschlagen haben,
während sein philosophisches Genie unterdrückt wird wie ein unter
die Erde gezwungener Wasserlauf, der den Boden durchwühlt,
lockert und zerstört.
Ganz .selten erhebt sich in einem Gespräch seine Philosophie wie ein
Geysir aus Blut als Beweis dafür, daß sie sich seither unter dem
Selbstbewußtsein weiterentwickelt und zugenommen hat, aber auch
das wühlt nur die Seele auf, lockert und zerstört sie. Und er kann
seinen Platz jetzt nicht verlassen und muß „aus Ehrgefühl" dort
bleiben, wohin er in Anbetracht seiner ewigen Sendung gar nicht
gehört. Denn anscheinend muß man sich entscheiden, ob man eine
Ethik schreibt oder lebt, so wie sich der Religionsphilosoph Gott
ausrechnet, aber ihn nicht lebt.
Wenn das so ist, dann wird Georg Lukács, wie es scheint, aus
Ehrgefühl, einem moralischen Gebot gemäß, sein Leben bis ans Ende
in Lüge verbringen. Denn bei Lukács ist die Maske des konspira -
tiven, aktiven Politikers und Revolutionärs eine Lüge, nicht seine
metaphysisch verwurzelte Mission. Er wurde zu einem stillen Ge -
lehrten, zu einem einsamen Weisen geboren, zum Visionär ewiger
Dinge, und nicht dazu, in Eckcafés Leuten nachzuforschen, die ge-
stohlene Parteigelder unterschlagen haben, sogar nicht einmal dazu,
die Tagesströmungen unserer vergänglichen Politik zu beobachten
und auf Massen wirken zu wollen - er, der nicht seine eigene
Sprache spricht, wenn ihn mehr als zehn Menschen verstehen. Die
seine ist die einer schrecklichen Verbannung, er ist tatsächlich ein
Heimatloser, weil er seine geistige Heimat verlor.

123
Natürlich ist die Frage, was wichtiger ist, das Ehrgefühl oder die
Wahrheit. Er führt aus Ehrgefühl ein verlogenes Leben (nicht das
ihm gemäße), er begeht eine metaphysische Sünde. Ethisch darf man
in die Entscheidung eines so tief empfindenden Menschen nicht
eingreifen oder über ihn urteilen. Wer weiß denn, welche Gründe er
hatte? - Doch irgendwann muß ich mit ihm noch darüber sprechen.
Ich wiederum habe Gyuri gemieden, während ich in Wien war, weil
ich mich durch seine Gesellschaft nicht kompromittieren wollte!
Das ist die Wahrheit, und es schmerzt mich jetzt bitter und ich
schäme mich dafür. - Es ist wahr, daß ich mich niemals wieder an
Politik beteiligen will, wie ich es auch bisher nicht tat, weil sie nicht
meine Sache ist. Für mich ist auch der Kommunismus Glaube und
nicht Politik. Von nun an will ich nur Künstler sein und nichts an -
deres. Ich habe auch beschlossen, mich völlig aus jeder Art von re -
volutionärem Zusammenschluß herauszuhalten, und will auch mit
niemandem Kontakte haben. Aber kann ich das denn, mit Edith
keinen Kontakt haben oder mich nicht mit Gyuri treffen? Auch bei
mir hat die „Werkethik" ihre Grenzen.(... )
Kommunismus und Persönlichkeit. - Er zerbricht nur die unechten
und die persönlichkeitshemmenden „Einheiten“: Familie, Nation,
Konfession, Klasse. Der Reifen der größten Einheit drückt weniger
als die kleinen Reifen, er liegt derart an der Peripherie, daß er gar
nicht zu spüren ist. In ihm kann sich ein vollkommeneres, ja in seiner
Einzigartigkeit freieres Ich entwickeln. Andererseits ist kein Mensch
völlig und unüberwindbar davon ausgesperrt.

Januar-Mai 1920
(...) In den vergangenen Wochen waren die „Knaben" bzw. die
„Enkel" hier draußen zu Besuch: Káldor, Radványi, Berger. Gyuri
war hier draußen, auch Edit Rényi. Auch Fogarasi war hier. lm
Grunde genommen der ganze emigrierte Sonntag. (In ungarischen
Akten fungiert dieser „Sonntag" im übrigen als gefährlichste, ganz
besondere Verschwörung.) Es scheint so, daß auch hier die vielen
jungen Ungarn Aufmerksamkeit erregt haben. Genia sagt, man be -
obachte uns. Wir dürfen sie in Zukunft hier nicht konzentrieren. Im
übrigen weiß jeder, wer wir sind (höchstens denken sie sich mehr als
die Wahrheit). Mit dem Wanderstab in der Hand, mit dem Ranzen
auf dem Rücken müssen wir schlafen. lm Herbst müssen wir, wie es
die Gelegenheit ergibt, weiterziehen. Und das wollen wir auch. Denn

124
wenn wir hier nicht bleiben können -, auf dem Bahnhof zu warten, ist
auch nicht schön.
Die arme Anna schmerzt am meisten, daß sie ihre Gäste nicht
empfangen kann. Auch wo der Mensch ein Zelt aufschlagen kann, ist
er zuhause. Dabei war dies der letzte verbliebene Sammelplatz des
auseinandergetriebenen Sonntag. Jetzt sind wir tatsächlich verstreut.
Edith ist in Mailand, auch Antals sind in Italien. Mária G./oszthonyi/
in Villach, Fogarasi in Prag, Máli in Körtvélyes, Mannheim und
Juliska Láng in Bayern, Hauser in Italien, Tolnay, Káldor und
Lampérth in Berlin, Gyuri in Wien gefangen. Doch die Bande reißen
nicht. Damit legt sich ein starkes Netz über Europa. Natürlich müßte
man jetzt korrespondieren. Das wäre die würdige, ja, die
verpflichtende Form. Aber ich werde keine Zeit dafür haben. Ich
habe nie Zeit. Die arme Máli fällt in Verzweiflung, daß ich sie im
Stich lasse und nicht helfe, ihre Märchen und Gedichte aus ihr
hervorzuholen. (Sie sagt, dazu sei ich nötig.) Und gewiß verdiente
dies viel von meiner Zeit. Und selbst das mache ich nicht!! Jetzt
spüre ich, welche Sünde es war, daß unsere Sonntage keinen treuen
Chronisten hatten! Dann gäbe es wenigstens ein authentisches
Dokument darüber, was diese Bestien aus Ungarn vertrieben haben,
und es würde offensichtlich, warum. (Was werden wohl die beiden
Renegaten Emma Ritoók und Lajos Fülep - der jetzt in Rom das
Propagandablatt der Horthy-Regierung redigiert -- jetzt über den
„Sonntag" denken?)

26. Oktober 1920


(... ) Die einsame Máli kam mit der Idee aus Körtvélyes herauf, wir
müßten die neue Religion gründen. Denn es sei sicher, daß wir alle
schon heilige Johannesse seien, und Gyuri, der die von vielen Seiten
kommenden Fäden zusammenfassen könnte, habe jetzt keine Zeit,
weil er Weltrevolution mache. Aber vielleicht habe das auch einen
tiefen Sinn. Aber wir sollten tun, was wir tun können. Seien wir
Zeugnisse und Dokumente, was in unseren Seelen hell wurde, soll
nicht verloren gehen, denn wir sind die Luft, in der der neue Pro phet
atmen kann, wir sind die Wolke, die Spannung der Elektrizität, aus
der ihr Funke springt. (...)

125
Viele Worte fielen jetzt in Wien über die „neue Kunst", über Ex-
pressionismus und Aktivismus. Schon im Zusammenhang mit der
Kassák-Diskussion. Über die kommende proletarische Kunst. Es
würde nicht schaden, auch meine Gedanken darüber einmal gut zu -
sammenzufassen, weil ich selbst noch zu keinem endgültigen Urteil
gekommen bin. Entscheidend war nur das, was wir mit Gyuri
besprachen. Über die Expressionisten z.B. ist er mit mir gleicher
Meinung, aber auch mich sieht er zum Vergehen verurteilt. „Wir alle
(und unsere ganze Kultur) sind Platonisten. Es ist der schönste und
vornehmste Idealismus, aber er wird sterben, und es kommt etwas
ganz anderes." Er erschreckt mich nicht. Schön zu sterben ist die
schönste Aufgabe. Einen unsterblichen Tod. Was ich gesagt habe,
kann seinen Sinn verlieren, aber meines Herzens Hitze soll immer in
meinem Worte brennen und, daß ich Gott sah! Denn es ist unmög -
lich, daß hier etwas nicht ewig ist. Und das hängt gerade vom Tod ab
und vom Aufsichnehmen des Todes. Denn wer so sein gesamtes
Sosein fallen läßt, überschreitet es eben damit. Vielleicht nicht in
Zukunft. In die Ewigkeit. (. ..)

Januar-Februar 1921
Ich habe heute Máli geschrieben, alles hänge davon ab, daß wir den
Kommunismus zu einer Religion spiritualisieren. (... )
Kürzlich seufzte Káldor auf, wenn man schon die ganze Mensch heit
nicht lieben könne, sollte man wenigstens die halbe lieben kön nen.
Nicht das ist das Schlimme, daß wir in der Extensität begrenzt sind,
sondern daß unsere Intensität nicht ausreicht. Daß wir nicht einmal
einen Menschen genug lieben können. Was heißt übrigens die
Hälfte? Wo halbierst du? Heute lieben wir von jedem Menschen nur
die Hälfte, weil wir an ihm nur bestimmte Dingen lieben können,
andere nicht.
Die „Sonntage" werden wieder gehalten. Montags im Atelier Gyuri,
Révai, Lena, Káldor, Fogarasi, Gergely, auch Edith ist aus Berlin
gekommen und Máli aus Körtvélyes. Neu sind Wilde und Zoltán
Rudas, und das Ganze hat streng philosophisch-akademischen
Charakter. Die ersten waren sehr schön. Wir sind also wieder
zusammen. Diese Sekte treibt selbst die Weltrevolution nicht aus
einander.

126
Der kleine Káldor hat mir den Vorwurf gemacht, mein
kommunistischer Sketch sei Opportunismus und sollte doch die
tiefste, ernsteste Kunst sein. Dadurch kam ich sehr in Wut.
Wichtigtuerei, pedantische Kleinigkeitskrämerei. Für die
slowenischen Holzarbeiter Johann Sebastian Bach spielen, weil man
keinen Kompromiß schließen dürfe.

26. April 1921


Was ist noch inzwischen geschehen? Die auf den Montag verlegten
Sonntage. Viele schöne Gespräche. Das wäre wichtiger zu notieren.
Es geht um das Schicksal des Individualismus, über die heutige Be -
deutung der Einzelseele. Welches Verhältnis haben wir und unsere
Gedanken zu Geschichte und Partei. (...) Gespräche über neue Zeit,
neue Kunst. Die objektive Kunst, die Möglichkeit der Unper-
sönlichkeit. (...)
Radványi ist in Wien. Die Mannheims (mit Juliska) sind in Wien.
Mit Mäli zusammen. Der Plan des Briefwechsels mit Máli und eines
gemeinsamen Buches in Briefen.
Zur Zeit hatten wir sehr schöne Sonntage. (Gyuri, der kleine Gyuri,
Káldor, Fogarasi, Révai, Tolnay, Lena, Maria Lazar.) Der kleine
Káldor und auch Radványi haben sich sehr stark entwickelt. Es ist
eine tapfere und aggressive neue Generation. An diesen Sonn tagen
ist nur noch vom Problem des Kommunismus die Rede bzw. vom
Schicksal und der Bedeutung unseres ethischen Individualismus und
künstlerisch-philosophischen „Platonismus" in jener neuen Welt, die
wir haben wollen (denn sie kommt ohnehin und wird besser sein als
die jetzige), von der aber keiner von uns sagen kann, wie sie als
geistige und seelische Welt eigentlich sein wird. Letztens wurde über
die neue Kunst bzw. Literatur gesprochen. Der Protagonist -- sagt
Gyuri -, wie er sich einmal aus dem Chor heraushob, so verliert er
sich auch wieder darin. Aber - sage ich - abstrakte, flüchtige
Massenseelen kann man nicht beschreiben. Man muß trotzdem dann
an einzelnen Menschen, konkreten Figuren, plastisch darstellen: seht
her, es sind nicht „einzelne Menschen". Malen kann man nur Farben,
modellieren nur Formen. Leichter kann ich mir vorstellen, daß die
Kunst aufhört. Es gibt aber keine Kunst anderer Art. Kunstgattungen
und Stile können sich ändern. Einen entscheidenden Unterschied gibt
es aber nur zwischen dem Volkslied und den von einzelnen Menschen
geschriebenen oder gemalten Werken, nicht zwischen Protagonist

127
und Chor. Denn der Chor oder eine Massenszene, die von einem
Dichter geschrieben werden, sind nicht Geist des Volkes - wohl aber
ein das persönlichste Liebesleid besingendes Gedicht, das seit
zweihundert Jahren von Tausenden geformt wurde. Und es ist sicher,
daß es schon in tausend Jahren eine kommunistische Gesellschaft
geben wird und in ihr eine die Massen darstellende Kunst, wobei sie
noch einzelne Künstler produzieren werden. Im übrigen fürchte ich
mich auch davor nicht. Eben heute sagte ich zu Anna, daß mich
bestimmt meine Liebe zu Material und Technik auch in jene Zeit
hinüberretten würde. Ich könnte mit Vergnügen mit anderen
gemeinsam an einem Werk arbeiten. Ich spüre in Wahrheit nie -
beziehungsweise nicht oft -, daß ich ein richtiges großes Haus nach
objektiven Gesetzen erbaue, woran sieh meine Gefährten beteiligen
und wir zusammen arbeiten können. Die Kunst kann sich wandeln,
aber es bleiben Marmor und Wort und ihre uralten objektiven Gesetze,
deren Name Technik ist. Das ist die Brücke, die über jedes
geschichtsphilosophische Stadium hinwegführt, am leichtesten aber
offensichtlich in die Welt der Arbeiter.
Das andere Problem ist die individuelle Ethik (Kierkegaard); unsere
bisherige Entwicklungslinie führte uns zur Hingabe an eine Bewegung,
welche diese individuale Ethik ausschließt. Es handelt sich um zwei
Entwicklungslinien der Menschheit. Die der Evolution der Klassen
und die der Einzelseele, die auch voneinander völlig getrennte Wege
gehen können, und in uns haben sie einander gekreuzt. Aber sie sind
zwei geblieben. Wenn wir auf unsere Ethik verzichten, wird dies das
„ethischste" Handeln in diesem Falle sein. Gibt es in der Zukunft eine
Synthese? Ich glaube es.

12. Juli 1921


(... ) Über Mannheim und Hauser müßte ich schreiben. Sie zogen sich
vom Sonntag zurück, als sich dieser der kommunistischen Revolution
verpflichtete. Sie sind nervös und feige, Zauderer, Typen einer
Übergangsgeneration. Charakteristischerweise bekehrten sie sich
eineinhalb Jahre später ungefähr gleichzeitig, wie nach Canossa. Nicht
zum Kommunismus. Sondern sie sind heimatlos Verstoßene außerhalb
des Sonntag, können auch geistig ihren Platz nicht finden und können
nicht leben. Daß sie zurückkamen, hängt vermutlich auch damit
zusammen, daß sich die Weltrevolution immer weiter verzögert; es
kann einstweilen keine Rede davon sein, daß der Sonntag zu einer
ernsthaften Aktion verpflichtet werden könnte; infolgedessen ist er nun

128
schon weniger gefährlich, ist es sicherer, in unserer Nähe zu sein. Aber
auch ein tieferer Grund ist offensichtlich geworden. Heute bekommt
jede geistige Tätigkeit, die nicht irgendwelche Wurzeln in der
Bewegung besitzt, den Charakter eines anachronistischen Spiels, des
Briefmarkensammelns. Das spüren sie. Daß sie den Zug auf einer
Provinzstation verpaßt haben. Sie sind an den Straßenrand geraten.
Viel haben wir davon gesprochen, wie sieh meine Arbeit wohl damit
verknüpft. Wird sie aus der gegenwärtigen Seele der Zeit geboren? Ich
spüre, ja, obwohl ich schwerlich sagen könnte, inwiefern. Denn meine
Menschen stehen schon außerhalb und jenseits jener Gesellschaft - sie
kommt in ihrem gegenseitigen Verhältnis überhaupt nicht vor -,
welche die Revolution zu stürzen beabsichtigt. Ein utopischer Roman,
vielleicht ein „Märchen" (Gyuri sagte, gerade dieser Märchenton „rette
ihn").
Mannheim konnte wieder zu uns zurückkehren, aber Hauser wird von
niemand gebraucht. Er ist krank und elend, und man kann nicht
wissen, in welchem Moment er einen wieder aus Feigheit im Stich
läßt. Er war mit seiner Frau hier draußen, und wir haben ihm unsere
Meinung gesagt. Er war sehr traurig. Weinend sind sie weggegangen.
Wir haben sie sehr bedauert. Aber jetzt sind solche menschlichen
Beziehungen nicht möglich, die nicht zugleich Bündnisse sind.

11. März. 1922


Fogarasi zieht schon übermorgen als außenpolitischer Redakteur der
Roten Fahne nach Berlin um, und mit Vermittlung der Roten Fahne
ruft uns die ganze deutsche Bewegung, ihn, Gyuri und mich. Sie ist für
unsere Aufnahme reif' geworden, und sie hat sehr wenig Leute.( ... )
Fogarasi berichtete nach der Rückkehr von seiner Deutschlandreise, es
gebe erschreckend viele verrückt gewordene Menschen, besonders
unter den Intellektuellen der Bewegung. ln Ehren ergrauene
Logikprofessoren reisen mit Tänzerinnen durchs Land und tanzen
Weltanschauung, andere eröffnen Schulen für buddhistische Weisheit,
und sie erwarten die Erlösung von der Konzentration auf ger-manische
Heldensagen, auf Siegfrieds Nabel und sind Christianer und
Theosophen.

16. Oktober 1922


(,..) Der Expressionismus bzw. Aktivismus ist heute die Losung gegen
den Individualismus. Aber er zeigt statt der Auflösung in die Menge

129
ein zur Vielfalt zerbrochenes Ich. Statt des Ganzen zeigt er hundert
einzelne Teilempfindungen. Man könnte sagen, dies ist die Zerstörung
vor der neuen Synthese. . . . Wie die getrennten Farben kein Bild
ergehen können, weil nur ihre gegenseitige Beziehung im Raum Sinn
gibt. Auch nicht die isolierten Augenblicke des menschlichen Lebens
bedeuten jemals den Menschen. Denn nur ihre gegenseitige Beziehung
in der Zeit gibt ein sinnvolles Schicksal. (...)
Was gab es noch? In der Freien Schule wöchentliche Vorträge. Im
kleinen Zimmer des Café Olf und im Keller des Cafés zur Kli nik.
Das Thema hieß: Von der Wirklichkeit in der Kunst, es hat sich aber
bald verschoben. Das Seminar und die Diskussion ließen es
entgleiten und mein damaliger Kampfwille gegen die unter dem mo -
ralischen Prestige der Revolution eingeschmuggelten, sich als Kunst
der Zukunft verkündenden Expressionismus, Aktivismus, Dadais mus
und der liebe Gott weiß, wieviele Ismen.

130
ANNA LESZNAI: TAGEBUCH (1912-1927) 

1912
Bei H.(erbert) Bloch, ein junger Mann aus Berlin, dermaßen Tal-
mudist, daß er schon katholisch wirkt. Er trug sein gesamtes System
vor - scheußliche Kopfschmerzen -, ich habe nicht alles ver standen.
Die Kunst ist für ihn ein vorzeitiges schuldhaftes Stehenbleiben, ein
Kompromiß auf dem Weg zu Gott. Für Lukács ist sie eine
Gegenschöpfung, luziferisch, weil sie sich widersetzt. Bei Bloch,
weil sie kraftlos stehenbleibt (vor Gott). Märchen akzeptiert er nur
wie einen Urmythos als religiösen Wert. Die Kunst nennt er
abgenutzte Religion. Die Kunst stahl für sich das Ziel (Claudel), da-
bei dürfte sie doch bloß ein zu Gott führender Weg sein. Nach Bloch
gibt es religiöse Kunst, doch ist das Wissen über sie verloren
gegangen (Assyrer). (Stil als Ergebnis religiöser Sicht - visionär.)
Am Märchen würdigt er allein die unerklärlichen Elemente, die Er -
innerung Gottes. Doch wenn das auch so wäre, könnten neue Mär-
chen entstehen. Auch der Mensch erinnert sich, wenn er alt wird,
besser und mehr an seine Kindheit als in seiner Jugend. Ich empfin de
die Kunst als religiös. Folgendermaßen: Alle Dinge sind verzaubert.
Sie sind in eine Nußschale eingepreßt, sie müssen befreit werden.
Nun entsteht die Frage, ob die Form eine noch tiefere Stufe der
Einschließung oder (wie ich glaube) eine erste Stufe der Erlösung ist.
Dann ist die Kunst erlöst und schafft nicht, wie Lukács sagt, eine
Gegenwelt. Wenn die Form heilig ist (also eine Stufe Gottes
bedeutet), dann können im Märchen bzw. im Leben auch nicht alle
möglichen Umwandlungen geschehen, sondern nur in einer gewissen,
ich will einmal so sagen, vorwärtsstrebenden Richtung. (Ob wohl
auch das Leben eine Form ist?) Ist es dem Stein, der Maschine


Ausschnitte aus den handschriftlichen Tagebüchern von Anna Lesznai. Handschrif -
tenabteilung der Petőfi Irodalmi Múzeum, Budapest. 3670/43/1 -20. Übersetzt aus: A
vasárnapi kör. Dokurnreiituntok. Szerk. Karádi Éva es Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S. 102 -
114.

131
gegenüber ein Fortschritt, Mensch zu sein? Seltsam, wie schwer sich
der vom Menschen geschaffene Gegenstand einordnen läßt. Für mich
ist das Märchen religiös, weil 1. die Anerkennung der Möglichkeit
göttlicher ist als ihre Leugnung. Ich kann alles glauben, weil ich
weiß, daß Gott wollen kann, und nicht weiß, was, in welcher
Richtung er will. Mit dem Verstand weiß ich es nicht, aber mit
meinem Instinkt glaube ich es manchmal zu erahnen. Was Gott will,
das ist das Richtige. 2. ist das Märchen religiös, weil es die Welt des
schrankenlosen bzw. rein Richtigen ist. Im Märchen entscheidet
allein dies: das Richtige zu erkennen. Die individuellen Qualitäten
des Helden und die Situationen sind nebensächlich. Selbst der Held
ist nebensächlich, er vermittelt uns nur, was das Wesen des
Märchens ist, das Richtige. Wenn er es findet, siegt er, wenn er es
verfehlt, fällt er. „Märchen ist nicht die Kunst des Erfindens, sondern
des Findens." In allem ist der Wille, die Bestimmung (die Richtigkeit
Gottes) zu finden. 3. Dadurch, daß es alles (Tiere, Bäume etc.)
würdigt, es zum Träger der Wahrheit Gottes zu weihen, gibt es den
Dingen ihren ursprünglichen Wert wieder.
Nach Bloch streben Malerei
Plastik
Dom
empor. Nach Meinung der Kunsthistoriker ist der Dom das, von dem
alles seinen Anfang nimmt - ist das nicht dasselbe? Zum Dom
gehören die Malerei und die Plastik. Der Dom muß sein, er ist also in
seinem Wesen schon vollständig vorhanden. Die Seele des Menschen
hat, bis sie den Dom erbaute, die malerischen und plastischen Werte
schon aus der Nuß geschält.
Amour vocation ist Sünde, wie nach Gyuri die Kunst, ist Oppor-
tunismus, wie nach Bloch, oder ist religiös. An der Frau ist nichts
Selbstzweck, vielleicht ist die Frau deshalb religiös.
Alles, was gegen Gott geschieht, ist bis zu einem gewissen Grad
göttlich, auch hier ist Gott die Grundlage, nur eben umgekehrt. Liebe
läßt sich nicht erwidern, die Liebe geht nur durch das Objekt
hindurch zu Gott, zu ihrem Ziel, ich glaube, zu Gott. Doch wenn sie
bewußt angenommen wird, heiligt sie ihr Objekt. Es ist eine sehr
demütige Sache, der zu sein, der geliebt wird. Ein wenig Ruhe auf
dem Wege zwischen dem Liebenden und seinem Gott. (... )
Mit Gyuri gesprochen. Ornamentik - Ruhe. Märchen und
Wonne ebenfalls. Ein Ausruhen zurück ins Paradies, aber keine
bleibende Erlösung (Märchen von der Nachtigall). Warum empfinde

132
ich das Märchen und die Stickerei, die Ornamentik als frauliche
Kunstgattungen? Erinnerung und Ahnung. Gyuri: Das Märchen er-
löst (bietet den Schein der Erlösung) dadurch, daß es alles auf eine
Ebene bringt, zu einer Natur umgestaltet. Vor Gott werden die erlö -
sten Dinge so gleichwertig. Die Kunst der erlösten Dinge ist das or -
namentale Märchen. Es ist Entzücken in Gott (grenzenlose Ver -
schmelzung).
Gyuri: Die Kunst nimmt den Dingen ihr Objektsein, um ihnen
eine andere Objektexistenz zu geben, die Ornamentik nimmt ihnen
nur ihr Objektsein. Herbert: Ist das Märchen applizierte Kunst? Die
Kunst (amour vocation) erlöst die Dinge in ein neues Gefängnis.
Gyuri und Herbert - die Kunst kann nicht gänzlich von der Na-
tur abstrahiert werden, denn gerade die Spannung zwischen der Na-
tur und dem Gesetz des die Synthese schaffenden Künstlers (aus
beidem so viel als möglich zu bewahren) bringt das Kunstobjekt
hervor. Ornamentik setzt nebeneinander, auch das ist ein Ordnen, die
Kunst setzt aufeinander.

1918
Zwei extreme moralische Probleme, deren Lösung allen unseren
Handlungen den Sinn nehmen könnte: Auf einem sinkenden Schiff
ist ein Mann, dessen Bestimmung es ist, an der jenseitigen Küste
auszusteigen und dort im Interesse eines höheren Ziels ein Martyri-
um zu erleiden (folglich kann das Furchtmotiv keine Rolle spielen);
welches ist die rein moralische Pflicht des Betroffenen, wenn es im
Rettungsboot nur noch einen freien Platz gibt; einen sich mit ihm auf
dem Deck drängenden Durchschnittsmenschen (zumal einen Alten
oder seelisch Niedrigstehenden) in das Rettungsboot zu lassen oder,
ihn zurückstoßend, zu versuchen, das Boot zu erreichen?
Wenn jeder frei zwischen seinem eigenen und dem Tod eines ihm
völlig gleichwertigen fernstehenden, unbekannten Einzelnen wäh len
könnte, was wäre dann seine moralische Pflicht? (Hier entfällt das
Motiv der Brutalität und des Wertes, also das der Wahrheit.)
Meiner Meinung nach ist es ein moralisches Recht, ja, sogar eine
Verpflichtung, für solche Ziele, für die wir selbst uns opfern oder
ernsthaft aufopfern könnten, andere uns gleichrangige Einzelne
ebenfalls zu opfern. Es kann also unser Recht, ja, unsere Pflicht sein,
den Selbstwert anderer Individuen zu verletzen im Interesse höherer

133
Ziele, vorausgesetzt, das höhere Ziel ist tatsächlich eine göttliche
Verordnung.
In der anderen Frage wäre es, wie ich es empfinde, unsere Pflicht,
zumindest die Entscheidung Tür uns selbst abzulehnen und sie Gott
zu überlassen, ja, sie vielleicht auf uns zu nehmen und un ser Leben
zu opfern, wie schwer dies auch sei. Was also ist das tiefste
moralische Gesetz - höher als die Wahrheit: Wenn es die Liebe ist,
dann wird beim ersten Problem die Frage, ob man etwas Höher -
rangiges als den Selbstwert eines Menschen lieben kann? Das ist ei ne
entscheidende Frage. (.. .)
Die kürzlich diskutierte moralische Frage. Was ist das Richtige:
Wenn man einen ansteckenden Kranken, dem niemand anderes
Linderung bringen kann, in ein Haus bringt, in dem kleine Kinder
sind, für die man selbst verantwortlich ist (seien es eigene oder an -
vertraute Kinder), oder wenn man ihn auf der Straße läßt ? Wie geht
man in dem postulierten Fall ethisch vor? (... )
Gyuri meint, das Schöne und die Kunst haben nichts miteinander
zu tun, das ästhetische Erlebnis beziehe sich nur auf die Kunst. Es sei
ordnende Tätigkeit (oder wenn wir den Gesichtspunkt des Be -
trachters als solche ordnende Tätigkeit verstehen, die Anschauung
einer Zusammenhang schaffenden Aktion). Natürlich ist die Kunst
eine ordnende Tätigkeit, aber das biologisch Schöne ist ein Bruch -
stück und Symbol des göttlichen Werkes. Das biologisch Schöne ist
ein Bruchstück der göttlichen Harmonie, und als solches bedeutet,
symbolisiert der Teil das Ganze. Der Künstler erschafft eine kleine
Gegenharmonie, eine menschliche Ordnung, etwas menschlich see-
lisch Schönes. Aber in irgendeiner Form ist der Mensch das Symbol
Gottes, so ist auch der Kunstgegenstand ein Symbol der göttlichen
Harmonie. Gyuri hat recht, wenn er sagt, die Kunst bedeute das
„Luziferische", „Stehenbleiben", „Gegenschöpfung", „Scheinbe-
friedigung" und nicht Erlösung. Aber bei allem ist sie auch göttlich,
denn obwohl sie Stillstand bedeutet, bezeichnet, symbolisiert sie eine
Richtung. Durch ihr Transzendentwerden schließt sie sich wieder ans
Weltall an. Alles, was in sich geschlossen ist, wird symbolisch
(Fogarasi). Ist die Form, jede Form, der Einzelne, jede Gültigkeit,
jedes nicht Liebes-Werk nur in diesem Sinne gültig`? Ich empfinde
cs so, daß sie noch einen moralischen Wert haben (Individuum,

134
Form, Weck) - gewissermaßen muß sich das Chaos durch diese
Gestalt hindurchpressen, um in die Harmonie hineinzugelangen, in
ihr sich selbst bewußt zu werden. Mit anderen Worten, die Wegeind:
Liebe, Verschmelzung, Kunst, in mich Einverleiben und Pro-
duktivität (Form, Schaffen, Werk --- habschaften Gebären?
Individuum-Schöpfung, nicht Seelenschöpfung), die Liebe wäre die
Synthese alles dessen -- eine Verschmelzung, die das Ich-Gefühl
entwickelt und produktiv ist. Ihr Symbol ist die körperliche Liebe. In
der Verwirklichung kann man sich nur über die Produktivität
verwirklichen - auch die Liebe kann sich in der „Liebestat", das
Einverleiben in Werken verwirklichen. Eine unbedingt ethische
Stellungnahme würde heute sofort zum Martyrium führen (Gottes
wahre Liebe), aber selbst wenn nicht jeder Mensch Märtyrer wer den
kann und soll, muß das Ideal doch aufgestellt werden. Gottes wahre
Liebe, Gott auf sich nehmen, die reine Harmonie leben. In der
Verwirklichung jedoch durchleben wir eine Zeit der Teilverant-
wortung, sie zu leben ist heute die erste Pflicht. Es gibt absolut-
ästhetische Werte, jedenfalls solche, denen gegenüber nichts
Besseres geschaffen werden kann. Das drückt Gyuris Theorie des
normativen „Erlebnisses" aus. Auch ich spüre, daß jeder echte
künstlerische Wert ein gültiges Symbol der Harmonie ist. Hier gibt
es „kein-, stufenweises Erreichen", sondern nur Symbol. Gibt es
demnach noch einen Wertunterschied zwischen den Werken, die sich
selbst völlig erreicht haben, oder nicht? Eine versöhnlerische
Komposttion muß unbedingt eine ornamentale Komposition sein, da
die malerische Komposition auch Inhalte komponiert. Deshalb ist die
des! Inhalt opfernde dekorative Malerei eine Scheinkunst.
Mit Antal: Die nicht komponierte, aber Über realistischen Wert
verfugende Kunst bedeutet entwicklungsgeschichtlich mehr als die
versöhnlerische Dekorativität. Welchen Wert hat in der Kunst das
Unvollständige? Die Sünde ist hassenswert, nicht der Sünder. Ein zu
schöner Teppich mit Kunstwert stört mich, erweckt ein Gefühl des
Schmerzes in mir. Ich bin Bourgeois - ich habe viel Sinn für den
Wert eines Werkes, weniger für den der Persönlichkeit. Eine typische
„Werk"-Weltanschauung.
Lukács meint, in das „Werk"-I, eben solle das künftige Leben der
liebe hineinspielen. Hat denn aber das Werk ein Recht am Leben der

135
Liebe? In den heutigen Verwirklichungen der Liebe steht häufig die
(vielleicht jeden Einzelnen hervorhebende) Liebe ans Werk-Niveau.
Sie ist keine reine Liebe. Kann sich denn die Lieb(immer auf einen
Einzelnen richten'? Läßt sich nur der Einzelne lieben? Jawohl,
jedoch so, daß wir jeden Einzelnen und die Gesamt hei) der
Einzelnen in Harmonie in Gott lieben.
Das Märchen schenkt der Pflanze eine Seele in
Menschenskörperform, weil der Mensch vielleicht das Ziel der
Pflanze ist, wie die Seele das des Menschen.
Entwicklung ist für sich genommen nicht gut (Ervin, Fogarasi).
Ich kann Entwicklung nur auffassen als Entwicklung zu Gott hin, als
Gutes (als Seelenwanderung). Wird die Materie als Materie selig,
oder muß sie zur Seele werden? Ideenimperialismus, ich glaube, die
Ideen werden nicht selig, sondern nur die Seelen. Die Ideen können
sich nicht in Gott durch die Liebe verschmelzen wollen. Dennoch
gibt es eine Weise, wie auch die Ideen zu Harmonie gelangen. Zwar
beharrt jede Idee auf ihrem Imperialismus (wenn auch in moralischer
Gestalt), doch kommen größere Ideen, welche, den gegensätzlichen
Ideen ihren Platz zuweisend, in der Lage sind, sie zu vereinigen und
dennoch zu bewahren. Wie die Staatsgebilde. (. . . )
Zur Gyuri-Diskussion. Kann man von Entwicklung der Formen
sprechen, wenn es ewige Formen gibt? - Ich glaube an die Ent -
deckung neuer Formen (Roman), ich glaube an den Weg, auf dem die
Menschheit zu sich selbst (später zu Gott, heute noch zu sich selbst)
voranschreitet und aus sich selbst die vorhandenen Formen
herausschält. Das Leben ist die Bearbeitung eines groben Steins, in
dem unser Ich steckt. Ich glaube, die Formen sind die Etappen un-
seres Ichs. Heute - obwohl ich es als vorübergehend empfinde -
gebührt unserer noch nicht verwirklichten Seele noch das Paar See le
= Form, wir nähern uns ihr am ehesten in Formen, die erste „Form"
der Seele ist die Form.
Die Architektur ist die durch die Gesellschaft am direktesten
beeinflußte Kunst. Als Materialtransporteur (in materiellem Sinne
Holz, Stein, Technik) bergen die umgebenden Verhältnisse (der In -
halt) die Möglichkeit jeder Kunst in sich, doch können sie keinerlei
Kunst bieten. Die Literatur empfinden wir, glaube ich, deshalb als
am beeinflußbarsten, weil sehr viel, was als Literatur eine Rolle

136
spielt, „document humain" ist. Die Form als Mittel der Wirkung ist
nach Gyuri keine soziologische Kategorie - sie ist ewig menschlich.
Ich meine, es gibt keine überlebten Formen, wohl aber gab und gibt
es solche, zu denen die Seele noch nicht gelangt ist. (... )
Kodály: Nachdem sich das Gedicht vom Lied geschieden hat,
strebt es nach einer visuellen Gestalt. Welches ist der Weg? Die
strengere Differenzierung der Künste, oder gibt es eine
Kunstgattungen vereinigende, aber ein Einheitliches (nicht parallele
Kunstgattungen) ergebende Kunst, die wir anstreben? Die
klangerfüllte Kathedrale mit dem (im heilig symbolischen Sinne)
Schauspielenden Priester darin.
Kodálys Frage in seinem Vortrag: Was bringt die Gesellschaft
dazu, daß es immer weniger Schaffende und immer mehr Kunstge-
nießer gibt? Hier ist natürlich nicht von den Berufskünstlern die
Rede, deren Zahl sich vergrößert hat, sondern der Naturmensch, der
Bauer tanzt, singt, entwirft Ornamente und dichtet. Der moderne
Mensch sieht sich das alles an? Ich meine, das ist eine irrtümliche
Feststellung, aber ich muß darüber nachdenken. (... )
Hauser meint, was ich Komposition nenne, sei das Werk an sich.
Die echte Komposition ist seiner Ansicht nach nur die formale Ge -
setzmäßigkeit, nehmen wir beispielsweise die an die Fläche der
Leinwand gebundene Ordnung der formalen Erscheinungen. Meiner
Meinung nach ist sie das die Gesamtheit der formalen und viel -
schichtigen inhaltlichen Elemente zusammenfassende und zugleich
zentrifugale, andererseits zentripetale Gesetz. (... )
Im Osten ist die Identität und die Seelenwirklichkeit (Antal) so
stark, daß jede bildende Kunst ornamental bzw. durch ihre reiche
Inhaltsbeherrschung dekorativ genannt werden kann. Die Seele siegt
und schmückt sparsam. (.. .)
Mannheim: Stoff und Inhalt? Was ist moralischer: sich mit einer
leichtfertigen, kurzsichtig gutgläubigen Moral zu begnügen oder mit
unserer eigenen Unvollkommenheit zu beruhigen? Das die Kunst
projizierende metaformale Prinzip kann weder religiös noch ethisch
noch wissenschaftssuchend sein, sonst würde es eine Religion etc.
produziert haben. (... )
Gyuri. Das Ornament, die östliche Kunst supponiert nicht die
individuelle Seele, wir sind jetzt in einem Stadium der individuellen
Kunst, doch tendiert die individuelle Seele in der Harmonie in diese
Richtung, was neue gemeinsame Kunst und Ornament bedeutet (als
Entwicklungsstufe des Übergangs). Trifft sich das Märchen, das

137
Ornament irgendwo mit seinem Modell? Dort, wo beide im Unend-
lichen als Parallelen enden. Rhythmus drückt sich in (bildkünstleri -
scher etc.) Bewegung aus, natürlich läßt sich die Bewegung auch
mittels Linien wiedergeben, die Bewegung als Eroberung der Zeit,
das Gleichgewicht als Eroberung des Raumes (Vali). Ruhe und ma -
ximale Spannung bilden ein Gleichgewicht. (. . . )
Das künstlerische Erlebnis wächst nämlich immer über das Ich
hinaus, es ist von seinem Wesen her suggeriert und suggestiv,
mittelbar. Wenn es nur individuell wäre und das Individuum nicht an
der Seelenwirklichkeit der Menschheit teilnähme, wäre es nicht
mittelbar. Es ist wahr, daß es nach Gyuri nicht adäquat mittelbar ist,
es suggeriert aber ein von neuem zu durchlebendes Erlebnis, das in
seinen Wurzeln mit dem. schöpferischen Erlebnis zusammenlaufen
muß (nicht auf der Ebene des Sinnes, sondern der der Existenz). In
seiner tiefsten Schicht spricht jedes gute Werk jede Seele an, ich
würde es aber für mich wagen, das Stil zu nennen, was speziell die
Seele eines Zeitgeistes anspricht, aufgrund der ihm entsprechenden
Synthese. (...)

1919
(... ) Mein metaphysischer Grundschmerz ist die Sehnsucht, die Le -
bensbejahung, „sie leiht sich die Qual zur Freude" als Ausdrucks -
mittel. Im Grunde genommen kann ich, Gott sei Dank, in Frieden bei
Gott sein. Mannheims Grundschmerz ist der Zweifel (der Um-
gehungsweg des Intellekts), wenn er zufrieden ist und die Wand
zwischen ihm und Gott betrachtet und streichelt: das ist frivoler
Ästhetizismus. Die Freundlichkeit ist keine Maske (Károly), sondern
Bescheidenheit. Die Unfreundlichkeit ist ein Aufschrei: „Hier ist
etwas nicht in Ordnung", „Hilfe!", dieser Aufschrei darf nur bei
großer Liebe geschehen. Auf der Ebene der Innervation ist
Höflichkeit der Name der Freundlichkeit. An sich hat sie keinerlei
moralischen Wert. Höchstens die Absicht kann sie auf die moralische
Ebene erheben. Sie bedeutet kein Wesen, sondern äußere Form, kehr
Was, sondern ein Wie. Öl als Wagenschmiere. Auf der
metaphysischen Ebene ist sie Liebe.

1924-1925
Wir wuchsen in einer Zeit auf, als wir - einsame Individuen-Obe-
lisken, aus der bürgerlichen Öde herausweinend - an die „Maßlo-

138
sigkeit" glaubten, das „Absolute" als Grundlage jeder Größe po -
stulierten. Jedoch ist das Maß das Wesen und die Seinsvorausset zung
jeder verwirklichten Wirklichkeit gleichzeitig. Die Moral beruht
vollkommen auf dem „Maß". Es gibt in der Gesellschaft keinen
moralischen Sieg ohne physische Gewalt: Alles ist vom Maß ab-
hängig. R./ené/ S./pitz/ sagte: „Die Chemie gravitiert zur Physik, die
Psychologie zur Biologie", weil auch die Qualität am ehesten auf die
Quantität zurückzuführen ist. Die Quantität ist meßbar, das Maß ist
ihre Seele. Das scheint im ersten Moment die Rückkehr zu einem
monistischen Materialismus zu sein. Es würde aber bedeu ten, daß die
Seele nicht über der Materie, sondern irgendwo in der Materie, „das
Feenland hinter dem siebenfachen Hirsebrei" durch dringend, zu
finden ist. G./eorg/ L./ukács/s gnostisches „das Licht muß sich in die
Finsternis versenken" findet sich hier ebenfalls. Und er hat recht, daß
der Bürgerstolz die nahen irdischen Wirtschaftsprobleme nicht sah
und auch nicht sehen wollte und sich ohnehin in der Forderung nach
(heute noch) unerreichbaren Subtilitäten auslebte. Doch vergißt er,
daß die Erde meßbar ist. Ja, meiner Ansicht nach ist das Maß in
erster Linie sogar sozial, weil dies eine allgemein verständliche und
mitteilbare Kategorie ist. Und deshalb wird nicht „Gewalt oder
Liebe" gebraucht, sondern ein Leben des Kompromisses. Der Raum
ist nicht charakterlos. G. L. hat recht damit, daß es für die Kulturen
sehr charakteristisch sei, wohin sie ihre Götter stellten. Auf die Erde,
unter die Erde oder oben an den Himmel, wie das Christentum. Die
matrimonalen Kulturen gewiß (infolge einer Einheit der Symbole)
unter die Erde, in den Uterus, die transzendentalen Kulturen an den
Himmel. Sicher gibt es territoriale Unterschiede: Steppenbewohner
verehren und beobachten den Himmel, Ackerbauern den Boden.
Aber das hängt auch alles zusammen. Darüber müßte ich noch mit
Gyuri sprechen.
Ich glaube, wenn Gyuri den Hindus das individuelle Erleben
völlig bestreitet, irrt er; denn da es biologisch vorhanden war,
mußten auch sie für dieses körperliche Erlebnis eine magische und
eine metaphysische Entsprechung haben. Nur nahm es in ihrer
seelischen Hierarchie eine andere Stellung ein. G. glaubt, unsere
Kategorien werden sich vollkommen umgestalten. Das bezweifele
ich. Die Moral wird eine andere, aber die Sehnsucht nach
Vollkommenheit bleibt. Die Erkenntnisweise wird eine andere, aber
es bleibt ein Logik-System jenseits der Logik für die Erkenntnis. Die

139
Metaphysik ist das Erlebnis der Betroffenheit über das Leben selbst:
sie ist ewig bzw. ist die Nachricht von dieser Betroffenheit. (...)
Mit H.(erbert): Jede den Typ, die Rasse hervorhebende Darstel -
lung tendiert zur Ornamentalität, alles was das Individuum zu sehe
hervorhebt, zur Karikatur. Das ist nach H. die Diskreditierung der
Persönlichkeit. Das ist ein Irrtum, das Individuum ist ein Aufrührer;
der Aufrührer ist komisch, wenn er sehwach ist, zumal wenn ei mit
einer Hälfte seiner Persönlichkeit gegen sich selbst kämpft. doch der
starke Aufrührer kann grotesk, luziferisch sein. Der Satan ist grotesk,
aber nicht komisch, Das Individuum, das sich gegen das
Selbstbewußtsein seiner Rasse auflehnt nimmt auch seinen Typ,
seine Ornamentalität mit sich: Die Verschmelzung von Ornament
und Individuum ist das Symbol. (. . . )
Das Götzenbild war im Zeitalter der Götzen nicht Kunst (mit
Gy.). Auch ich verneine den bleibenden Charakter der ästhetischen
Kategorie. Ästhetik und Kunst im heutigen Sinne sind das Ergebnis
einer komplizierten chemischen Verbindung, das auf den Zustand
unserer Gesellschaft zurückzuführen ist. Es greift wieder in das Re -
ale ein wie in der magischen Zeit, auch wenn es dies auf andere Wei-
se tut. Doch gibt es im Menschen etwas Urbiologisches, folglich
auch Metaphysisches, eine Funktion, die zu den Dingen das hinzu-
fügt, was sie auch künstlerisch werden läßt. Großer Gy. „ist für uns
die Welt nicht sichtbar, hörbar, mit einem Wort, spürbar genug, der
Künstler übertreibt die Empfindungsfähigkeit und hebt sie hervor; zu
diesem Zweck macht er die Welt in einer Richtung spürbar, damit es
intensiver wird. Es wäre eine Einengung der künstlerischen Kraft,
wenn wir (statt Götze und Heiligenbild das Stilleben wie bei den
Modernen) nur das Sichtbare sichtbarer machen wollen. Natürlich ist
ursprünglich nicht die Schönheit das ästhetische Ziel dieses
Sinnlichwerdens - dieses Etwas, das „Ding au sich", welches wir
darstellen, in die Welt (für menschliche Sinne faßbar) hineinzu -
zwingen. Auf der Methode liegt das Hauptgewicht der Kunst, nicht
auf dem Kunstgegenstand. Die Kunst ist eine magische oder meta -
physische Methode. Kunst erlebt nur der Künstler. Doch ist in guten
Zeiten jeder Künstler, jeder Gläubige zaubert zum Götzen ein wenig
Sichtbarkeit hinzu. Jeder gute Leser ist ein „Drautleser".
Andererseits mußte jeder echte Künstler aus der allgemeinen Sehn -
sucht bilden und schöpfen. Heute, in der zerbrochenen Gesell schaft,

140
ist allein der Künstler ein Künstler, also auch er selbst bleibt eine
Halbheit. Ich fragte Gy., welches „Sein"-Element in seiner aufs
„Werden" eingestellten Weltanschauung übrigbleibt. Das „Sein", das
„Sein" der Eleaten war abstrakt, antwortet er, und das sei richtig; das
„Werden" sei heute aber konkret geworden, gegenüber dem
„Werden" Heraklits. Ich habe seine Begründung jedoch nicht völlig
verstanden. Schön sagte er, daß die Form das Prinzip des „Seins" sei,
daß es sich von seinem inneren Gehalt her ständig umgestaltet, daß
die Materie selbst fließend, das „Werden" sei, daß aber nur Formen
zu sein vermögen und sich verwirklichen könnten - also in der
Gestalt der Ewigkeit. Das sei die Dialektik, sagte er, das Ewige. Dies
erkenne ich vollkommen an, wenn aber dies ewig ist, dann muß auch
vieles andere ewig sein. Ich meine, das läßt sich allein schon aus
dieser einen These ableiten. Denn wenn jede Verwirklichung Form
ist, dann muß sie auch gemeinsamen Gesetzen unterworfen sein, und
diese Gesetze sind ewig wie die Form selbst. Außerdem ist auch
unser menschliches Denken Form, und in seinen Gesetzen, in seiner
Suche des Ziels ebenfalls ewig, und wer Ziel sagt, nimmt jede
Metaphysik auf sich, die nach Gy. das Erwachen der Form zum
Selbstbewußtsein ist: Die Form könne nur selbstbewußt sein, wenn
sie sich mit der Materie vereinigt, mit einem Wort, die Materie ihr
Erwachen zum Selbstbewußtsein ist. Das Selbstbewußtsein ist die
härteste, die göttliche Form. (. . .)

September 1927
Mannheim und Lukács debattieren über den Kommunismus; darüber,
daß der zu Ende geführte Rationalismus im K./ommunismus/
eigentlich im Gegensatz steht zu jenen organischen und dynamischen
Werten, welche die romantische Kritik verlangt und verteidigt.
L./ukács/ verneint das bzw. behauptet, daß seine Wünsche (der
Arbeit Sinn zu geben) nicht romantisch seien. Höchst weise erklärt
er, daß das Kennzeichen des Kapitalismus die bis zu den Ex tremen
geführte Rationalisierung der Teile ist, im Gegensatz zur Ir -
rationalität des Ganzen. Wenn das Ganze rationalisiert ist, dann hat
die ratio einen anderen Wert und Sinn als heute. Das verstehe ich.
Denn es ist nicht wichtig, ob etwas rational ist oder nicht, das ist nur
ein einseitiger Gesichtspunkt; ich glaube, was heute irratio nal ist,
kann gestern rational gewesen sein, und auch morgen werde ich

141
etwas anderes als rational empfinden. Die Magie war z.B. in ih rem
Zeitalter rational, und heute zieht sie wiederum in die Wissenschaft,
in die Rationalität ein. Auch das Organische, das Dynamische kann
rational sein, wenn es auch heute über die menschliche Ratio
hinausgeht. Die Ratio transzendiert den Menschen, als wäre die
menschliche Ratio nur ein laufender Faden eines über uns hin-
ausgehenden Gespinstes. Das fühle ich. Es war noch von vielem an -
deren die Rede, was ich vergessen oder nicht verstanden habe. L. hat,
was die große Linie betrifft, immer recht (bis zu einer noch zu
erwähnenden Frage), doch sind M./annheim/s Einwände auch wahr.
Die Realität hat bisher vielleicht, bisher eher M. recht gegeben. Sie
reden über die Hypertrophie der Bürokratie, über die Mechanisierung
des Lebens. Der Fabrikarbeiter beteiligt sich in der
k/ommunistischen/ Ordnung am organisatorischen Ganzen, dadurch
ist die Arbeit „an einer Schraube" nicht so gräßlich. Das ist wahr,
doch ersetzt es nicht völlig, wie ich meine, die Einheit der
bäuerlichen und handwerklichen Arbeit. Das Abstrakte statt des
Sinnlichen. Nach Lukács könne der Arbeiter im K. abwechselnd an
jeder Schraube arbeiten, auch das ersetze nicht völlig die Einheit des
Werkes, und nach K./arl/ wird sie durch diese tayloristischen
Tendenzen des K/ommunismus/ auch noch behindert. Lukács hat
meiner Meinung dennoch darin recht, daß sich in diesem ideal ver-
wirklichten K. diese Tendenzen des „organisch lebenden Menschen"
noch mit ihrem Wert einbringen werden. Andererseits hat K. recht,
wenn er an der „idealen Verwirklichung" zweifelt. Meiner Ansicht
nach, weil man es wieder aus partiellem Klasseninteresse und
Ideologie macht. Doch mag sein, daß es malgré lui gut gelingt.
Andererseits verstehe ich L.: Der Tatmensch braucht solchen abso-
luten Glauben. --.Jetzt zu meiner Sache, Nach L. ist es Mythologie,
eine nach Aufgabe der Ratio konstruierte Abrundung. Dafür gibt es
seiner Meinung nach im K. keinen Raum. Das bestreite ich, denn die
Sehnsucht nach dem Ganzen ist unser gott-menschliches Vor l -lt,
Dagegen kann diese ganze Vorstellung statisch und dynasein und sie
kann eine Synthese beider sein, eher etwas Dritr;d und Vater in einer
Person" als Synthese. Weder das r,,v !s.' ;;~s n(-,(. ,h das magische
werden .verlorengehen.

142
LAJOS FÜLEP: DIE WERTE DES LEBENS

Wenn eine spätere Zeit einmal unsere Zeit aufgrund der von ihr hin -
terlassenen Dokumente von dem Gesichtspunkt aus beurteilen wird,
was daran als Wert empfunden wurde, worauf wird sie ihr Urteil
gründen? Denn am klarsten wird die Natur einer Zeit doch dadurch
bestimmt, in welcher Weise sie bewertet, welches die geistigen oder
materiellen Werte sind, nach deren Verwirklichung sie sich sehnt
und um die sie bemüht ist. Es gibt erreichbare und unerreich bare
Werte; solche, die sich verwirklichen lassen, und solche, die ewige
Forderung bleiben, doch offenbaren die einen wie die ande ren den
Charakter des einzelnen Menschen ebenso wie den des ganzen
Zeitalters.
Welches sind nun die Zeichen, die die Bewertungsweise unserer
Zeit illustrieren, die künftigen Erinnerungen? Die Kunstwerke? Wohl
kaum. Hegel hat schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts
festgestellt, daß die Zeit der Kunst vergangen sei, und die dar-
auffolgende Periode hat dies bis heute nur bestätigt. Die Kunst ist
heute nur noch eine Lebensfrage für den Einzelmenschen, nicht für
einen größeren Komplex von Menschen; was den Ansprüchen und
der Bewertungsweise dieser Gesamtheit entsprechend zustande
kommt - öffentliche Gebäude und Denkmäler -, ist ein ab-
schreckender Beweis für die Entfremdung der Kunst von dieser ihrer
Welt. Literatur, Dichtung? Auch das ist mehr oder weniger die
Privatsache einzelner oder gewisser Gruppen. wo sich der Gemein -
schaftsgeist am besten äußert - das Theater ist auf eine schrecklich
tiefe Stufe herabgesunken. Die Religion? Auch sie ist nur noch für


Eöry Lajos (Pseudonym für Fülep Lajos): „ Az élet értékei“, Ébresztő (Budapest) 1917,
dec. 10, S. 5- 7. Neuere Ausgabe in: Fülep Lajos: A művészet forradalmától a nagy
forradalomig Cikkek, tanulmányok. Szerk. Timár Árpád, 1 - 11, Budapest 1974. 11, S. 604-
609. Übersetzt aus: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Ka rádi Éva és Vezér
Erzsébet, Budapest 1980, S. 163 - 167.

143
die Einzelnen ein Wert oder für die Massen des einfacheren Volkes;
die sogenannten gebildeten Klassen haben zumeist kaum eine Ah-
nung von der Kraft der Religion und vom religiösen Leben. Nation,
Heimat? Diese Begriffe werden gerade wieder einer Revision unter-
zogen, womit sich zeigt, daß sie ihre Spontaneität verloren haben.
Der Boden? Gerade für die gebildeteren Schichten hat er seinen frü -
heren Wert verloren. Die allgemeine Bildung? Über sie wird sehr
viel geschrieben und geredet, aber wenn wir die Institutionen be -
trachten, von denen diese Bildung geboten wird, die Schulen, wun-
dern wir uns, daß es noch eine gewisse Bildung auf der Welt gibt.
Ich glaube - und damit will ich nicht etwas Neues sagen, sondern
eine zum Gemeinplatz gewordene Wahrheit wiederholen -, nur die
sogenannten „technischen Errungenschaften" sind jene Kennzei chen,
die den Charakter dieser Zeit klar und scharf bestimmen. Wenn in
den nach uns kommenden Zeitaltern die Technik ihren ersten Platz
auf der Wertskala verlieren sollte, den sie heute besetzt hält, wenn
ihre stürmische Entwicklung infolge einer wunderlichen Wendung
stecken bliebe oder sich verlangsamte, dann würde das unsere unter
allen Perioden der Geschichte als das technische Zeit alter par
excellence erwähnt; wenn dagegen - was wahrscheinlicher ist - die
Entwicklung der Technik sich auch weiter in diesem oder noch
gesteigertem Tempo fortsetzt, wird es als die eröffnende und
vorbereitende Urzeit eines neuen Kapitels der technischen Ent-
wicklung fungieren. Aber ob nun Gipfelpunkt, Übergang oder Vor-
bereitung, in jedem Falle gebührt ihm das Attribut technisch.
So alt nun schon dieser Gemeinplatz ist, so neu ist die Erschei-
nung selbst, die er meint. In der Geschichte der Menschheit paßt sie
ohne Zweifel auf diese Zeit zum ersten Male. Dabei haben wir damit
Großes ausgesprochen, denn die Wandlung und Umgestaltung der
Werte im Laufe der Geschichte ist sehr groß. Mit der Zeit werden
aus Werten Unwerte und aus Unwerten Werte, aus Sünden Tugenden
und aus Tugenden Sünden, aus Wahrheiten Lügen und aus Irrtümern
Wahrheiten, was einmal das höchste Ideal ist, wird zu anderer Zeit
zum Gegenstand größter Verachtung, aber zwischen all diesen
Wandlungen und bis ins Extreme gehenden Gegensätzen, an denen
die Geschichte so reich ist, wurde die Technik jetzt erstmals zum
allgemeinen Charakteristikum und kennzeichnend für ein ganzes
Zeitalter.

144
Die Bewertungsweise des Griechentums drückt sich am reinsten in
seiner Kunst aus. Das bedeutet nicht, daß die Kunst der einzige Wert
wäre, den das Volk der Griechen achtet; das Griechentum mit dem
modernen Ästheten oder künstlerischen Hedonisten zu identifizieren,
wäre ein gewaltiger Irrtum und völlige geistige Blindheit.
Aber alle übrigen Werte des Griechentums, die vollkommene Har-
monie der körperlichen Existenz, der Kult der Körperformen in der
Athletik, die politische Unabhängigkeit, die Überlegenheit des Gei-
stes über die Natur, die Idealität der Weltanschauung aufgrund der
anspornenden Überzeugung von der Realexistenz der Ideen, die sich
in der Form und der Geformtheit aller Dinge zeigende Ethik, der
Schauder vor dem Chaos und der auf der erbarmungslosen, dunklen
Seite des Seins errungene Triumph und die Liebe zum reinen Sein
selbst mit allen Freuden und Schmerzen, alles mündet den noch in die
Kunst, erhält dort seine sichtbare Gestalt und erhebt sich in ihr zum
obersten Idealkomplex für das ganze Volk. - In der Vollkommenheit
des Mittelalters verkünden bis heute die Kathedralen, die nicht
Schöpfungen des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft sind, deren
Steine die Bewohner der Städte und Dörfer zusammentrugen - nicht
nur in ihren die gesamte Erkenntnis-, Gefühls- und Gedankenwelt
der Zeit enzyklopädisch umfassenden Darstellungen, sondern mit
ihrer bloßen Existenz, mit ihren Ausmaßen, damit, daß sie sich über
die Städte erheben und über ganze Gebiete herrschen, jene Werte, für
die das Herz der Zeit schlug. Die Renaissance oder die Reformation,
die Zeit Ludwigs des XIV. oder Goethes bekennen sich jeweils zu
anderen Werten, stimmen aber in einem alle überein: für keine von
ihnen war die bloße Existenz der höchste Wert. Die Existenz war für
alle nur ein Wert unter vielen, vielleicht Voraussetzung für die
anderen, die Möglichkeit, auf der das übrige aufbaut, aber keinesfalls
Endzweck. Über und jenseits der bloßen Existenz, über diese Stufe
hinaus, finden sich irgendwo zwischen den übrigen jene Werte, die
das Leben lebenswert machen.
Nun, der wahre Charakterzug unserer Zeit ist, wie es scheint,
daß sie die bloße Existenz für den höchsten Wert hält. Denn alles,
was die Technik produziert, bezweckt im Endergebnis, das Leben
annehmbarer, glatter und bequemer zu machen. Sie geht nicht über
die Ebene des Lebens hinaus, steckt nicht über dieser einen neuen
Wert oder ein neues Ideal ab, sondern ist bestrebt, das Lebensnot -

145
wendige schnell, mit möglichst wenig Mühe entsprechend den An-
sprüchen und Möglichkeiten jeder Gesellschaftsschicht hervorzu -
bringen. Der Unterschied zwischen den einzelnen Schichten ist in
dieser Hinsicht nur relativ, die wohlhabendste bemüht sich um das-
selbe wie die ärmste: die Erleichterung, die größere Annehmlichkeit
und Bequemlichkeit des Lebens. Hier ist natürlich vom Allgemeinen
die Rede, nicht vors den Ausnahmen. Wozu es sonst noch reicht, das
ist kein ausdrückliches und gemeinsames Ideal, sondern Luxus, so
etwas wie ein Ersatz und Gewürz fürs Leben, und dazu gehören die
Kunst, die Philosophie und die Religion. Wurden die
Lebensbedingungen so schwierig, daß der heutige Mensch, als er sie
hervorgebracht hatte, zu weiterem nicht mehr in der Lage war bei
seiner geistigen und seelischen Frische, seiner Kraft und seinem
Willen zur Größe? Oder wurde der Wert der bloßen Existenz so groß,
daß neben ihm alles übrige winzig wurde und verblaßte? Als hätte
sich von allem anderen außer der einen Existenz erwiesen, daß es
reine Illusion sei; vielleicht schön und gefällig, aber nicht größe rer
Opfer wert, weil eben Illusion.
Der heutige Mensch macht zweierlei: er arbeitet und ruht,
indem er sich unterhält oder nichts tut. Er arbeitet, um sich ausruhen
zu können, und ruht, um arbeiten zu können; beides zusammen
macht er, um leben zu können. Der Mensch im Mittelalter und der
Reformationszeit hat ebenfalls viel gearbeitet; das Leben war auch
damals nicht besonders leicht, ja, in vieler Beziehung schwerer als
heute, aber nach der Arbeit nahm er sich seine Biblia pauperum oder
die in seine Muttersprache übersetzte Bibel und las in ihr, was
ebenso eine Art von Arbeit ist. Selbst wenn der moderne Mensch
nicht „Freidenker" ist, lächelt er gewiß darüber. Dabei steht die Sa -
che so - und das wird auch der radikalste Freidenker kaum leug nen -,
daß die Bibel nicht nur das kanonische Buch der Gläubigen ist,
sondern eine der großartigsten dichterischen Schöpfungen der
Menschheit. Wer sie mit dem Auge und der Seele des religionslosen
Menschen, aber dennoch mit der Empfänglichkeit für dichterische
Schönheit und menschliche Weisheit liest, auch dem kann sie viel
sagen, so viel wie wenige andere Bücher in der Welt. Schließlich hat
die Menschheit nicht grundlos jahrhundertelang ihren Geist und
Geschmack daran gebildet. Dante konnte sie auswendig, Michelan-
gelo ebenfalls, und beide lassen sich wohl kaum als finstere oder

146
primitive Geister bezeichnen. Der größte und auch der kleinste Geist
fanden in ihr ihre tägliche Nahrung, sie war es, die den Gipfel des
Berges mit seinem Fuß verband. Aber damit wollen wir nicht sagen,
daß der heutige Großstadtarbeiter nach der Arbeit die Bibel
vornehmen und darin lesen solle -- umsonst würde ich das sagen. Die
Bibel wurde hier nur um des Symbols willen erwähnt. Sie sollte
illustrieren, daß es eine Zeit gab, als der Arbeiter mit Beendigung
seiner Arbeit nach der Befriedigung seiner geistigen und seelischen
Bedürfnisse verlangte und sie mit dem gleichen Mittel befriedigte, zu
dem auch die Größten griffen. Wenn die Bibel dafür heute nicht
mehr geeignet ist, wenn wir uns auf sie nur als ein Symbol berufen
können - was gibt es dann statt ihrer? Soweit wir wissen - nichts. Es
gibt nichts, weil die geistigen und seelischen Bedürfnisse aufge hört
haben. Wenn sie geblieben wären, hätten sie wohl ihre eigene Bibel
hervorgebracht, wie jedes Bedürfnis seine eigene Befriedigung
hervorbringt. Falls es auch ein solches Bedürfnis gibt, ist es doch
weder so allgemein noch so stark, daß es zu seiner Befriedigung eine
symbolisch zu nennende Schöpfung hervorbringen könnte, eine, die
den größten Geistern würdig wäre, aber auch den einfachsten etwas
von der Schönheit und dem Sinn zukommen ließe. Es reicht nicht;
was jenseits und über der bloßen Existenz ist, können wir nicht
erfassen.
Für die Schwäche muß man büßen - denn die Schwäche ist Un-
moral. Was sollen die bloße Existenz und die in ihrem Interesse ge-
schaffene Technik mit sich selbst anfangen, wenn wir ihnen kein Ziel
außer ihnen selbst setzen? Wenn wir ihnen nicht Werte setzten, für
die sie dasein können und müssen? Sie stauen sich und überströmen
die Grenzen, über die wir nicht hinausgehen wollten. Dieselbe
Technik, die die Existenz angenehm zu machen und zu glätten be -
strebt ist, bringt die Mittel der Vernichtung hervor; und dieselbe
Existenz, die nur ihre eigene Befriedigung verlangt, bringt die Ursa-
chen und Anlässe der Vernichtung hervor. Die Technik ist Materie;
die bloße Existenz ist physische Existenz. Und wenn der Mensch, der
sich als Herr der Materie fühlt, weil er mit ihr umgehen kann, sehr
viel Materie zusammenträgt und ihr huldigt, weil sie seiner
physischen Existenz Bequemlichkeit und Sicherheit bietet, dann be-
wegt sich diese Materie auf einmal allein durch ihr eigenes Gewicht,
und weil sie die in ihr aufgehäuften Werte - materielle Werte - zur

147
Geltung bringen will, und nicht sieht, wohin sie tritt, nicht sieht, daß
sie um der physischen Existenz willen in der Welt ist, überfährt sie
ihren Schöpfer mitsamt dem Ziel, das er ihr setzte. Das ist eine
schreckliche Verspottung dieser von Idealen und Illusionen freien,
sich mit dem wenigen, der bloßen Existenz begnügenden nüchternen
Menschheit. Drei Jahre sind wir all dessen Zeugen. Die Maschine ist
die Bibel des heutigen Menschen. Sie und die Exi stenz, für die sie da
wäre, sind seine größten Werte. Doch haben sie Rache an ihm geübt.
Denn wem wenig gegeben ist, dem wird auch das wenige noch
genommen. Die Menschheit, die auf das über die
bloße Existenz hinausgehende Gute verzichtet, ist gezwungen, auch
auf die Existenz zu verzichten: Sie verurteilt sich selbst zum Tode.
Denn die wahre Existenz des Menschen ist unzerstörbar, und sie ist
nicht in der Existenz - sondern jenseits von ihr.

148
ADALBERT FOGARASI: KRITIK DES
HISTORISCHEN MATERIALISMUS

Die Lehre, die als historischer Materialismus bezeichnet wird, ist


nicht eindeutig. Sie ist eine Mischung von Theorie und Wertung, von
Wissenschaft und Weltanschauung. Die Voraussetzung ihrer
Beurteilung ist eine - die verschiedenen Elemente abgrenzende -
immanente Analyse. In erkenntnistheoretischer Hinsicht sind die
philosophischen Beziehungen die wichtigsten. Für die Entstehung
des historischen Materialismus war sein Verhältnis zum Hegelianis -
mus von entscheidender Bedeutung. Während der Hegelianismus
diejenige Synthese ist, in der jede Natur- und Geisteswissenschaft
letzten Endes zur Komponente der philosophischen Systematisierung
wird, will Marx eine von jeder Philosophie freie Synthese der
geschichtlichen Welt aufbauen. Die Kritik der historischen Vernunft
lehrt uns, daß jeder solche Versuch notwendigerweise unfruchtbar
bleibt: die Analyse der Marxschen Lehre überzeugt uns ebenfalls
davon. Für die erkenntnistheoretische Kritik ist es nicht schwer
nachzuweisen, daß der sich in Marx' Formulierungen offenbarende
Determinismus, wonach die Herausbildung der ökonomischen
Produktionsverhältnisse vom menschlichen Willen ebenso
unabhängig sei wie das von ihnen bestimmte Geistes- und Kulturle-
ben, eigentlich auch eine Philosophie ist, eine bekannte Form der
dogmatischen Metaphysik. Die neueren, kritischen Richtungen des
historischen Materialismus beseitigen diese Metaphysik und weisen
nach, daß der Wert des Marxschen Grundgedankens davon völlig
unabhängig ist. Die philosophischen Beziehungen sind aber noch viel


Auszug aus dem Vortrag des Verfassers in der Ungarischen Philosophischen Gesell schaft,
17.12.1915. Fogarasi Béla: „A történelmi materiálizmus kritikája", Athenaeum (Budapest),
1916, S. 65-66. Übersetzt aus: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér
Erzsébet, Budapest 1980, S. 158- 160.

149
tiefergehend. Die ökonomischen Produktionsverhältnisse bestimmen
die Formen des politischen, sittlichen, rechtlichen, staatlichen,
künstlerischen, religiösen und philosophischen Bewußtseins - dessen
Gesamtheit Marx als Ideologie bezeichnet. Die drei Begriffe, die in
dieser Formulierung des Grundgedankens vorkommen, sind: das
Bestimmende, das Bestimmte und die Bestimmung. Von ihnen ist
aber nur der erste, der Begriff der ökonomischen Pro-
duktionsverhältnisse, eindeutig. Das Bestimmte, die „Ideologie", ist
in seiner Allgemeinheit ein allzu inhaltsloser Begriff, als daß er so
verschiedene Kultursphären, wie z.B. das Recht und die Kunst,
umschließen könnte. Die methodische Bedeutung der großen He-
gelschen Tat, der Trennung des objektiven Geistes (Recht, Staat,
Gesellschaft) vom absoluten Geist (Kunst, Religion, Philosophie),
besteht eben darin, daß diese zwei Gruppen der Bewußtseinsformen
ganz verschiedene Beziehungen zu solchen soziologischen Faktoren
haben wie die ökonomischen Faktoren im Marxschen System.
Ins Zentrum der erkenntnistheoretischen Analyse stellen wir
aber eben den Begriff der Bestimmung. In der ursprünglichen Form
des historischen Materialismus müssen wir uns ihn unter der Kate-
gorie der strengen Kausalität denken: Die ökonomischen Produk-
tionsverhältnisse bringen die Ideologie zustande und bestimmen ih re
Wandlungen. Die Lehre ist in dieser Form eine gezwungene und mit
den Tatsachen unvereinbare metaphysische Konstruktion. Nach den
heutigen philosophisch gebildeten Anhängern des Marxismus ist
dieses Verhältnis keine kausale Determinierung, sondern eine
Korrelation, und allein die Entdeckung des untrennbaren Zu-
sammenhanges zwischen den ökonomischen Faktoren und dem gei -
stigen Leben halten sie an der Lehre für neu und bedeutend. Diese
Auffassung beseitigt den unkritischen Determinismus, auf diese
Weise bleibt aber von der Theorie wenig übrig. Und wir können uns
auch nicht mit dem Begriff der Korrelation begnügen, wenn es um
die letzte Erklärung geistiger Erscheinungen geht. In der Welt des
objektiven Geistes kommen die ökonomischen Erscheinungen als
positiv bestimmende Faktoren vor, wenn auch nicht ausschließlich
als solche; in der Sphäre des absoluten Geistes jedoch nur als nega tiv
bestimmende, als hemmende, Schranken setzende, bindende
Faktoren. Im ersten Fall ist das Verhältnis mehr, im zweiten weniger
als eine Korrelation.

150
Diese Überlegungen sind auch dann gültig, wenn wir im histori -
schen Materialismus nichts anderes sehen als eine fruchtbare Me-
thode der Geschichtsschreibung, die ihre Berechtigung gerade durch
ihre Fruchtbarkeit erhält. Die riesige Bedeutung der ökonomischen
Faktoren hat Marx als erster aufgedeckt und damit der Ge-
schichtsschreibung einen neuen Arbeitsbereich zugewiesen. Der
historische Materialismus bietet der Wissenschaft keine neue Metho-
de - wer dies behauptet, ist sich über die Bedeutung des philoso-
phischen Methodenbegriffes nicht im klaren -, sondern neues Ma-
terial. Die Bereicherung an Material ist in der Geschichte des
objektiven Geistes von sehr großer Wichtigkeit. Im Bereich des
absoluten Geistes aber, wo die Geschichte selbst zum
problematischen Begriff wird, ist die immanente Entwicklung die auf
die Erscheinungen anzuwendende Kategorie. Darum müssen wir in
der Geschichte des objektiven Geistes, in der Ideengeschichte jeden
Versuch ablehnen, der das geistige Leben aus etwas anderem als ihm
selbst erklären will. Damit sind wir auch zu dem Punkt gelangt, wo
die analytische Kritik ihre Arbeit vollendet hat und ihren Platz der
schöpferischen Kritik überlassen kann, deren Grundlagen Dilthey,
Windelband und Rickert gelegt haben, die aber in ihrer Ganzheit, als
Kritik der historischen Vernunft, noch eine Zukunftsaufgabe ist.

151
KARL MANNHEIM: GEORG SIMMEL ALS
PHILOSOPH

Er war Philosoph, denn das große Sokratische Erbe, das Staunen


über die Dinge, war in ihm lebendiger als in jedem anderen seiner
Zeitgenossen, doch übertraf er seine Zeit nicht, weil die Grundskep -
sis seiner Generation auch in ihm vorhanden war und er nicht mit
seinem Glauben dem folgen konnte, was ihm schon zu sehen gege -
ben war. Dabei hat er wunderbare Dinge gesehen; was er ansah,
drehte sich um seine eigene Achse und zeigte nicht das gewohnte
starre Bild. Sein Geist schuf um jedes Problem neue Zusammen-
hänge, und man konnte eine neue gegenseitige Verwandtschaft der
Dinge ahnen. Er gehörte zu jenen, die mit der letzten Anspannung
des Gedankens fast die Wirklichkeit erreichen, weil sie aber auch an
ihre eigene Wahrheit nicht genügend glauben, in der letzten Minute
die Welt verlieren.
Hinter jedem seiner Sätze verbarg er Stücke einer neuen Meta-
physik, um diese aber niederschreiben zu können, hätte er auch an
sie glauben müssen.
Dies ist die Skepsis seines Jahrhunderts, am Anfang seiner Ent -
wicklung nahm er sie tief in sich auf, und später, als ihm schon ge-
geben war, andere Dinge zu sehen, reichen seine Jugend und seine
ursprünglichen Ansätze mit langem Arm hinter ihm her und reißen
ihn zurück, als er ansetzt, und er zweifelt, wo er glauben wollte.
Simmel philosophiert anfangs mit dem eingestandenen Bewußtsein,
daß das philosophische Begriffsbild der Wirklichkeit nur inadäquat
sein kann, die Erkenntniskategorien sind der Entwicklung unter-
worfen und wandeln sich, Wahrheit läßt sich Wahrheit gegenüber-
stellen, und unser Erkenntnisgrund (mit der Wandlung der Katego -


Mannheim Károly: „Georg Simmel mint filozófus°, lluszadik Század (Budapest), 1918, II, S.
194- 197. Übersetzt aus: A vasárnapi kör. Dokumerntumok Szerk. Karádi Éva és Vezér
Erzsébet, Budapest 1980, S. 168 - 171.

152
rien) schwindet uns ständig unter den Füßen. Er geht vom Pragma -
tismus aus und übernimmt mit der Verstärkung durch die zeitgemäße
idealistische Strömung auch deren Wahrheiten, und so unter zieht er
besonders die ursprüngliche psychologistische Konzeption der Werte
in allen seinen wichtigeren Werken einer neuen Formulie rung, bis
ihn zum Schluß nur noch ein Sprung vom konsequenten Idealismus
trennt. Dieser Sprung bedeutete aber die vollständige Revision seines
Grundansatzes, einen Neuanfang, den aber die Zeit und seine
Vergangenheit nicht mehr zulassen. Das ist die Ursache dafür, daß
sich auch noch im allerletzten Abschnitt seiner Entwicklung roh und
unausgeglichen nebeneinander idealistische und pragmatische
Formulierungen finden. Der philosophische Wahrheitsbegriff deckt -
seiner Meinung nach - nicht die Dinge, die Objektivität, er ist
andererseits aber auch nicht subjektiv und hat keine psychologische
Bedeutung, weil er eine tiefe typisch menschliche Geistigkeit
ausdrückt. (Hauptprobleme der Philosophie, S. 27) Er schwankt also
zwischen dem objektivistischen und dem psychologistisch
subjektiven Wahrheitsbegriff hin und her und gelangt in ihm bis zu
einer anthropologisch allgemeingültigen Formulierung. Diese
Entwicklung und dieses Ergebnis stehen nicht allein, den gleichen
Weg gingen im Endergebnis - auch wenn sie zu größerer Klarheit
gelangten - Windelband und Lask, auch bei ihnen bleibt immer etwas
von einer psychologistischen und anthropologischen Untermalung
vorhanden, auch bei ihnen verfälscht der Grundansatz, den sie nicht
aufgeben wollen, die saubere Formulierung der wachsenden neuen
Einsichten.
Bei Simmel jedoch war die Reinheit der letzten Aussage
niemals das Wesentlichste, er sah seine Berufung nicht in der
programmatischen Klärung allerletzter Erkenntnisse der Philosophie;
das alles waren für ihn nur Mittel, ein methodischer Unterbau, der
mehr oder weniger geändert werden kann, um sich mit desto
größerem Elan auf die unterschiedlichsten Gebiete des geistigen
Lebens zu werfen und jeden seiner Teile mit anpassungsfähiger
Aufgeschlossenheit in die Welt der Begriffe zu erheben. Gegenüber
seinen Zeitgenossen ist seine Detailvision unverhältnismäßig reich,
und an diesen Punkten erweist er sich als „idealistischer" als jene,
die nur bei der Klärung der letzten Ansätze die große idealistische
Tradition wiederbeleben konnten: Cohen hindert sein methodischer

153
Monismus, als er diese Ansätze zu einem auch die Details
umfassenden System erweitern will; Windelband, Rickert und Lask
vermögen, wenn sie auch auf der Grundlage eines richtig erkannten
methodischen Pluralismus stehen, wenn es schließlich um die Details
geht, die Besonderheiten der einzelnen geistigen Bereiche wieder nur
programmatisch zu skizzieren. Hier stehen zwei extreme Typen der
Geistigkeit einander gegenüber; den einen vertraten philosophisch
Cohen-Windelband mit ihren Schülern, den anderen zu jener Zeit
ganz allein Simmel in seiner Philosophie. Die Geistigkeit der vori gen
vermag selbst dann, wenn sie vor einem Detail steht und wenn sie
davon auch dicke Bände hindurch redet, das Allgemeine nur durch
das Einzelne hindurch zu erblicken, das Besondere wird nicht so
lebendig, daß wir seine eigene Wirklichkeit, den ganzen Reichtum
seines Inhalts bemerken könnten, weshalb der Inhalt ihrer Bücher
sich in ein paar Sätze zusammenfassen läßt; Simmel dagegen sagt in
jedem Satz Neues, jeder Nebensatz wirft ein neues Licht auf die
Dinge und erweckt eine ganze Reihe von Assoziationen, doch hebt
sich das Ganze dennoch nicht völlig hervor, aus den Teilen wird kein
System, jede Besinnung bleibt nur ein Abenteuer auf der großen
Wanderung des Denkens und steht einsam für sich.
Er hat eine ganz besondere Mentalität, und seine Sensibilität
reagiert aufhorchend auf jede Sache und jeden Gedanken. Alles be-
deutet etwas für ihn, vom Henkel eines Krugs bis zum Tod, allem
wächst neuer Sinn zu und alles weist über sich selbst hinaus. Er lebt
vollkommen in der Gegenwart, und jede ihrer tiefen Strömungen ist
ihm in der Kunst, Literatur, Ästhetik und Politik verwandt, mit den
Gärungen der Gegenwart lebt er zusammen, und durch diese hin-
durch wird die Vergangenheit für ihn sinnvoll; er muß sich nicht an-
strengen, seine Zeit zu verstehen wie die übrigen deutschen Philoso -
phen. Seine Kultur ist nicht ausschließlich historisch wie bei den
meisten heutigen deutschen Philosophen, bei denen, wenn wir nur
ihre neuen Gedanken betrachten, sich von jedem einzelnen heraus -
stellt, daß er blutlos und epigonal ist. Aus der gleichen Empfäng-
lichkeit wird verständlich, daß die Tatsache der Kultur selbst, ihr
Schicksal, ihre wichtigsten Komponenten für niemand so verständ-
lich wurden wie für ihn, der mit jedem Nerv darin lebt (Begriff und
Tragödie der Kultur). Wo die Kreuzung vielfältiger Linien zu ver-

154
stehen ist, wo sich viele verschiedene Strömungen treffen, wo Viel -
seitigkeit ein Verdienst und die Erlebnisintensität unerläßliche Vor -
aussetzung ist, dort ist Simmel fruchtbar und strömen seine Beob-
achtungen in Scharen aus seiner Feder. Besonders den tiefen typi-
schen Gesetzmäßigkeiten des seelischen Lebens vermag er mittels
feiner Analysen nachzuspüren. So schrieb er im zweiten Teil der
Philosophie des Geldes die schönsten Seiten der Sozialpsychologie
und bringt mit der gleichen psychologischen Scharfsicht auch die
seelischen Erscheinungen des moralischen Lebens an die Oberfläche
(Einleitung in die Moralwissenschaft). Er ist ein vorzüglicher
Essayist, weil zwischen seinem Talent und dieser Form eine prästa -
bilierte Harmonie besteht, ist es doch das Wesen gerade dieser lite-
rarischen Form, eine isolierte Erscheinung ebenso wie eine Indivi-
dualität so lange zu analysieren, bis sie mehr bedeutet als das Zufäl -
lige und typisch, symbolisch wird, so daß sich das Ganze des Lebens
durch sie hindurch erahnen läßt (Das Abenteuer, Goethe, Mi-
chelangelo, Rodin, Rembrandt). Als Einleitung in die Philosophie
kann man kein besseres Buch empfehlen als seine Kant-Vorlesungen
und die Hauptprobleme der Philosophie.
Es gibt kaum einen philosophischen Schriftsteller, dessen Gei -
stigkeit besser in seinem Stil zum Ausdruck käme, als Simmel. Sei ne
Schreibweise zeigt in einem neuen Querschnitt noch einmal, was der
Inhalt aussagt und was wie eine Attitüde hinter dem Inhalt für ihn so
charakteristisch ist. Man könnte es unternehmen, aufgrund eines
Satzes die ganze Struktur seiner Geistigkeit, seine theoretische
Stellungnahme zu den letzten Fragen direkt aus seinem Stil zu er -
schließen. Seine Sensibilität ist bestrebt, die Dinge mittels eines gan -
zen Stromes von Attributen, Erweiterungen, Termini technici zu
umfassen, doch am Ende des Satzes entgleitet von neuem, was an
seinem Anfang beinahe fixiert war. Seine Geistigkeit hängt ebenso
mit seiner Sensibilität wie mit seinem Relativismus, nicht glauben zu
können, zusammen. Nie überwältigt ihn sein Gegenstand ganz, er
löst sich nicht völlig im Objekt auf, denn die evidenteste Einsicht ist
von dem Gefühl begleitet, daß dies alles auch ganz anders sein
könnte, nur der Standpunkt müsse geändert werden.
Der Leser fühlt statt des Gegenstandes die Persönlichkeit des
Schriftstellers und muß sich statt der letzten Einfachheit der Aus -

155
strahlung des Glaubens mit unterhaltsamem Reichtum begnügen. Mit
seinen Schriften erweckt er in uns unendliche Sehnsucht nach der
begrifflich wahrzunehmenden Welt, ruft unseren Aufruhr gegen jede
bisherige erstarrte Formulierung hervor, um uns dann, wenn wir
diese Welt verlassen, allein zu lassen.

GEORG LUKACS: BÉLA BALÁZS, TÖDLICHE


JUGEND

Dostojewskis Romane beurteilte die Generation vor uns als chao -


tisch, ob sie nun in diesem „naturalistischen" Mangel an „Geformt
heit" etwas Begeisterndes oder etwas Zurückweisendes sah. Heute
wissen wir: Nach einer Problematik von Jahrhunderten schuf er als
erster organische und sinnliche Beziehungen, eine echte Form in der
epischen Schöpfung, und dieses unser Wissen wurde in einem Akt
mit dem Erleben der Seelenwirklichkeit als echter Wirklichkeit ge -
boren. Denn damit erfuhren wir, daß jene Klammern, die zwischen
Menschen auf der Ebene des gewöhnlichen (wenn auch formal
hochstilisierten) Lebens möglich sind - die sozialen Beziehungen, die
Beziehungen von Sympathie und Antipathie, die von „Stimmungen"
geschaffene Nähe und Ferne, aus denen als aus der ihr einzig zur
Verfügung stehenden Materie die Epik vor Dostojewski ihre Welt
erbaute -, auf der Ebene der Seelenwirklichkeit nicht als die
Prinzipien wesentlicher Zusammenhänge vorkommen können. Und
dennoch ist Dostojewskis „naturalistisches Chaos" die tiefste
Ordnung, in der es eigentlich nirgendwo und niemals einen Zufall
gibt. Myschkins und Rogoshins Begegnung im Eisenbahnwagen, der
Einbruch des Namens, dann des Bildes und schließlich der Per son


Ausschnitt aus einer Besprechung des Dramas von Béla Balázs. Lukács György: „Halálos
fiatalság", in: Balázs Béla és akiknek nem kell, Gyoma 1918, S. 80- 102. Übersetzt aus: Lukács
György, Ifjukori Művek, Szerk. Tímár Árpád, Budapest 1977, S. 683 -686.

156
Nastasja Filippownas in ihrer beider Schicksal - was ist das anderes
als die plötzliche Entfaltung ihrer beider Seelen? Und wenn
Swidrigaljow als Fortsetzung von Raskolnikows Fiebertraum zum
ersten Mal vor diesem erscheint, wenn Gruschenka, Dimitri Kara-
masows erste Geliebte, ihn nachts zu sich ruft, als sich seine Tragö -
die vollendet, wenn - aber ich kann hier nicht den ganzen Dosto-
jewski herausschreiben, sondern nur kurz das Wesentliche formu-
lieren: Dostojewskis Menschen leben ohne Distanz das Wesen ihrer
Seele. Während es das Problem der übrigen Schriftsteller, sogar auch
das Tolstois, ist, wie die Seele die Hindernisse überwinden kann, die
sie daran hindern, sich selbst zu erreichen, ja, sich auch selbst zu
erblicken, beginnt Dostojewski dort, wo sie aufhören: Er beschreibt,
wie die Seele ihr eigenes Leben führt. Das Problem hat sich
umgekehrt: Was bei den anderen Gegenstand der Sehnsucht und ein
kaum festgehaltener und sofort wieder verlorener Schatz seltener
Augenblicke seltener Ekstasen war, wurde für Dostojewskis
Menschen zum Alltagsleben. Wenn wir die Entwicklung aus der
Sicht der Wirklichkeit der Seele betrachten, dann ist Dostojewski der
erste naive Dichter - im Sinne des Schillerschen Wortgebrauchs -
nach der Sentimentalität von Jahrhunderten. Wie dieses scheinbare
„Chaos" (Chaos, weil sich alles von ihm ablöst, was als Form des
gewöhnlichen Lebens vorkommt: die Distanz bedeutenden
Hindernisse zwischen dem Menschen und seiner Seele) bei Do -
stojewski zu einer epischen Form heranwächst, könnte man ange -
messen nur in einem dicken Buch beschreiben. Hier, wo nur der
Nachweis geführt werden muß, welches die weltanschauliche Vor-
aussetzung des von uns aufgeworfenen dramatischen Stilproblems
war, genügt es wohl, eines hervorzuheben: Bei Dostojewski ist jeder
einzelne Mensch für den Charakter jedes anderen Menschen not-
wendig; er erhält also seinen Platz, sein Gewicht und seine Notwen -
digkeit in der Komposition nicht dadurch, was infolge seines Er -
scheinens mit dem anderen geschieht, sondern ausschließlich durch
jene Seite der Seele, durch jene Qualität ihrer Äußerung, deren Ma -
terialisation ohne sein Erscheinen unmöglich gewesen wäre. Un-
möglich, weil diese Eigenschaft des Betreffenden nur im Verhältnis
zu diesem Menschen existiert; sie äußert sich nicht ihm gegenüber
(denn dann könnte sie sich eventuell auch einem anderen gegenüber
äußern, und der Zusammenhang zwischen den beiden Menschen
wäre doch nur „gelegentlich"), sondern Aug in Auge nur mit ihm, sie
existiert nur in Beziehung zu ihm - als das zeitlose Wesen der

157
betreffenden Seele, als überzeitliche Verbundenheit zweier Seelen.
Deshalb können sich Dostojewskis Menschen „zufällig" begegnen:
Denn in ihrer Begegnung kommt das überzeitliche Wesen ohnehin zu
Wort, und da seine „erste" Offenbarung nicht anders geschehen kann
als in Raum und Zeit, ist es gleichgültig und vermag die ontologische
Notwendigkeit nicht zu berühren, wo und wann sie geschieht.
Erscheint doch selbst das, was mit niemand anderem zu-
sammenhängender ewiger und ureigenster Besitz einer Seele ist, so,
daß sein Erscheinen auch ein hic et nunc haben muß - doch seine
Notwendigkeit erhält es nicht von der kausalen (sozialen,
psychologischen usw.) Notwendigkeit des hic et nunc, sondern von
der ontologischen Evidenz seines Gekommenseins aus der Seele.
Doch wer nur in der Lage ist, den Kausalitäten des „Lebens" als
Notwendigem zu folgen, für den füllt sich Dostojewskis Welt mit
chaotischen, zusammenhanglosen Zufällen.
Dies ist um so mehr der Fall, als die Setzung der
Seelenwirklichkeit als einzige Wirklichkeit auch die radikale
Umkehr der soziologischen Einstellung des Menschen bedeutet: Auf
dem Niveau der Seelenwirklichkeit lösen sich alle jene Bindungen
von der Seele, die sie sonst mit ihrer gesellschaftlichen Lage, ihrer
Klasse, Abstammung usw. verknüpfen, und an ihre Stelle treten
neue, konkrete, Seele mit Seele verbindende Beziehungen. Die
Entdeckung dieser neuen Welt war Dostojewskis große Tat. Vor ihm
traten alle Figuren aller Dichter, von Homer über Shakespeare und
Goethe bis zu Tolstoi, in konkreter sozialer Gebundenheit auf, und
diese Gebundenheit blieb selbst noch im Verhältnis der Figur zum
Absoluten bis zum Ende konstitutiv: Der Weg zum Absoluten, das
vollständige Sich-selbst-Erreichen der Seele, hob jene soziale
Erscheinungsform nicht auf, in der sich die Seele für die sinnliche
Wirklichkeit inkarnierte; Lear zieht ebenso als König in das
Pantheon seiner Ewigkeit ein wie Don Quijote als Ritter, und wenn
Wilhelm Meister und Levin zur Harmonie mit Gott und der Welt
gelangen, bleibt der eine dennoch der gebildete Bürger und der
andere der begüterte Adlige selbst noch im metaphysischsten
Moment ihres Lebens. Dostojewski ist der erste, in dessen Welt die
konstitutive Bedeutung dieser Determiniertheit aufhört. Myschkin ist
so wenig Knjas wie Jepantschin General oder Rogoshin bürgerlicher
Millionär, sie sind nackte konkrete Seelen, und ihre konkrete
Beziehung zueinander verbindet sich nicht einmal mehr polemisch

158
mit dieser ihrer Erscheinungsform. Diese Attitüde kannten vor
Dostojewski nur die Mystiker, aber bei ihnen bedeutete der Akt des
Abblätterns der gesellschaftlichen Formen von der Seele zugleich die
Vernichtung jeder konkreten Form: Die Seele steht dann allein vor
Gott, und vor ihm auch nur deshalb, um sich, jede
Unterschiedlichkeit vernichtend, mit ihm zu verschmelzen. Und
deshalb - gerade deshalb - gelangten für sie die konkreten
Beziehungen der Seelen, soweit diese von ihrem Standpunkt aus
überhaupt zu sehen waren, auf eine Ebene mit den äußerlichen, den
gesellschaftlichen Beziehungen: Beide stammten aus der Maja, der
kreatürlichen Welt. Deshalb ist es nicht zufällig, daß der gleiche
indische Mystizismus, der die Bekehrung zum Ewig-Einen als das
einzig wahre und letzte Ziel des Menschseins verlangte, für das
konkrete Leben das Verbleiben in der Kaste, die strenge Erfüllung
der Kastenverpflichtung verordnet und das Streben nach Verlassen
der Kaste als größte Sünde erachtet. Bei Dostojewski ist
demgegenüber das nicht gesellschaftliche, nicht empirische Niveau
des Sich-selbst-Erreichens der Seele für die Menschen eine genauso
konkrete Verbindung miteinander wie das empirische; nur ist es eben
- um seine Worte zu benutzen - echt „lebendiges Leben" weil es die
unmittelbar gelebte Beziehung konkreter Seelen Absoluten ist.
Nicht zufällig geschah die Entdeckung dieser Wirklichkeit und
eine Ausbreitung vor uns gerade in unseren Tagen. Denn daß sich
nicht eng zum Wesen der Seele gehörenden Beziehungen von der
Seele abschälen lassen, und zwar auf eine Weise, daß sie nicht nur
die konkrete Wirklichkeit behält, sondern mehr noch auf einem
neuen Niveau in ihre wahre Heimat gelangt, hängt tief und
unmittelbar mit dem geschichtsphilosophischen Ort und der
Bedeutung der jetzt gelebten Zeit zusammen. Hier kann ich nur ganz
kurz .icn entscheidenden Punkt verweisen: Jede gebundene und ge
Periode wird dadurch charakterisiert, daß Menschen, Gruppen und
Klassen in ihr zu organischen Einheiten gegliedert ;~ivzíin: durch die
Sicherheit ihrer Überzeugungen, durch ihre ein ~Jendgültige
Überzeugung von Richtigem und Unrichtigem durch das
Zusammenlaufen der ihren Lebensrhythmus ordnen: ~n Gebote und
Verbote in einem Mittelpunkt. Mit dem Vergehen i:,id der
Degeneration des bürgerlichen Idealismus des 18. Jahrhunderts, des
Idealismus der individuellen Freiheit hörte diese Gemein„li;tit der

159
Ideologien auf, und damit waren die letzten Jahrzehnte !-~i~crrscllt
von der fieberhaften Suche nach der gemeinsamen Überzeugung oder
dem resigniert zynischen Sichabfinden mit dem hoffnungslosen
Verlust der Gemeinschaft. (Die Ideologie des Proletariats, sein
Solidaritätsgedanke, ist heute noch so abstrakt, daß sie nicht fähig ist
- über die Waffen des Klassenkampfes hinaus -, eine echte, auf alle
Lebensäußerungen wirkende Ethik zu bieten.) Aber ist es tatsächlich
unvermeidbar notwendig, daß der Standpunkt außerhalb einer
Klasse, wozu die unfruchtbar gewordene Ideologie jeden wahren und
ernsthaften Menschen zwingt, zur Romantik oder Anarchie führen
maß? Die geschichtsphilosophische Bedeutung des
Dostojewskischen Œuvres liegt eben in der Antwort darauf: zu
zeigen, daß es für den aus der Existenz innerhalb einer Klasse
ausgeschlossenen Menschen, wenn er ein wirklich wahrer Mensch ist,
auch noch einen anderen Weg gibt: sich aus jeder sozialen
Determiniertheit zu erheben und in die konkrete Wirklichkeit der
konkreten Seele zu gelangen. Und deshalb spricht, wie in Do-
stojewskis Welt die gesellschaftlichen Beziehungen hinfort nicht mehr
konstitutiv sind, diese Welt ferner nicht eine gesellschaftlich
bestimmte Gruppe von Menschen an, sondern unabhängig von jeder
gesellschaftlichen Gebundenheit jene Seelen, die diese konkrete
Seelenwirklichkeit schon gefunden haben oder sie wirklich mit der
ganzen Intensität ihrer Seele suchen.

160
VORLESUNGEN AUS DEM BEREICH DER
GEISTESWISSENSCHAFTEN

Unter diesem Titel beginnen wir eine Vorlesungsreihe, die ihre Be -


rechtigung neben den bestehenden Freien Schulen dadurch erhält,
daß sie sich von diesen unterscheiden möchte.
Unterscheiden wird sie sich von diesen vor allem im Charakter
unserer Vorlesungen, darin, daß sie nicht populär wird. Wir sind
nämlich überzeugt davon, daß jede Popularisierung die Wissenschaft
ihres Wesens entkleidet und daß jeder Gedanke nur auf dem Niveau
und in der Sprache adäquat mitteilbar ist, auf welchem und in der er
geboren wurde. Unsere Vortragenden möchten davon re den, was sie
beschäftigt, die Werkstattwärme des Denkens an jene vermittelnd,
die die Handbuch-Wissenschaft der ständigen Einlei-
tungsvorlesungen nicht mehr nötig haben.
Diese Vorlesungen werden sich aber von den schon
existierenden freien Schulen noch viel mehr in der zielbewußten
Richtungsbestimmung ihres Gegenstandskreises unterscheiden. Wir
möchten die Weltanschauung des neuen Spiritualismus und
Idealismus verbreiten und uns mit ihren Problemen beschäftigen. Wir
messen dem gerade heute große Wichtigkeit bei, da es offensichtlich
wurde, daß die europäische Kultur nach dem Positivismus des 19.
Jahrhunderts wieder eine entschiedene Wende zum metaphysischen
Idealismus genommen hat. Zur Zeit dieser unbestreitbaren
Renaissance des Spiritualismus halten wir es für wichtig, daß sich
auch unser Publikum mit den heutigen Formen dieser alten Probleme
bekannt mache, vor allem, damit es spürt, es geht nicht nur um neue
Kenntnisse, sondern vielmehr um eine neue Kultur. Um eine neue
Kultur -neu nur der gestrigen gegenüber -, deren Träger der Geistesi
vp des sich jetzt herausbildenden europäischen Menschen ist. Diese!

„Előadások a szellemi tudományok köréből". Befindet sich u.a. im Nachlaß Fülep. (MTAK-
K) M.s 4592/16-29. Übersetzt aus: A vasárapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éaa es
Vezér Erzsébet, Budapest 1980, Faksimile zwischen S. 2-11) 1

161
neue Typ verkündet dem vergehenden Materialismus gegenüber die
Wichtigkeit der Probleme der Transzendenz, dem relativistischen
Impressionismus gegenüber die eindeutige Gültigkeit der Prinzipien,
der anarchistischen Weltanschauung des „alles ist gleich" gegenüber
das Pathos der normativen Ethik. In dieser Hinsicht fühlen wir uns
mit jeder idealistischen Zeit und mit den aufrichtigen Ideali sten aller
Zeiten verwandt. Ihre schöne Tradition, die auch bei uns in Ungarn
zu finden ist, wollen wir wieder aufnehmen, bereichern und
verstärken. Wir wissen, daß die Menschen dieser wiedererwa chenden
neuen Kultur schon zahlreich sind in Europa und vielleicht auch bei
uns. Unsere Vorlesungen möchten nur dazu beitragen, daß sie sich
treffen und im Selbstbewußtsein einer neuen Generationsge-
meinschaft erstarken können.

162
JULIA LÁNG: KARL MANNHEIM, SEELE UND
KULTUR
Mit diesem kleinen Heft tritt eine Gesellschaft, die sich unlängst zur
Schule formierte, zum ersten Mal vor die Öffentlichkeit, um die Be-
strebungen und das Ziel darzulegen, in deren Zeichen sie entstand.
Es möchte das zur gegenseitigen Annäherung führende Prinzip be-
kannt machen, welches die früher getrennt voneinander arbeitenden
Mitglieder dieser Gesellschaft veranlaßt hat, ihre Arbeit in ei nem
einheitlichen Rahmen fortzusetzen und ihre Gedanken auch
öffentlich auszusprechen. Ihre innere Einheit charakterisiert der
Verfasser nicht mittels der Angabe äußerlicher Momente und Wir-
kungen, sondern er erkennt sie darin, daß sie das Wesen, die Struktur
und Geschichte der Kultur sowie ihr - Verhältnis zur Seele einheitlich
sehen. Die Demonstration dieser einheitlichen Anschauung bildet das
gegenständliche Zentrum seiner Studie im Darstellungsrahmen des
Verhältnisses von Seele und Kultur.
Er geht von Simmels Bestimmung der objektiven und subjekti -
ven Kultur aus und kommt von dort zu seinen eigenen Behauptun -
gen. Seine Hauptfrage ist: Wie subjektiviert die Seele die für sie
fremde objektive Kultur, anders formuliert, wie ist das Verhältnis der
Seele zu der sie umgebenden, geerbten, schon objektivierten Kultur.
Um dies beleuchten zu können, klärt er zunächst das Ver hältnis der
Seele zu dem von ihr selbst geschaffenen Werk. Er wen det das
Kantsche Ding an sich mit einer neuen Interpretation auf unser
Verhältnis zu uns selbst an. Werk und Seele sind zwei einander
gegenüberstehende Wirklichkeiten: Das Werk weist nur auf die Seele
hin, erreicht sie aber nicht und ist in diesem Sinne weniger als die
Seele; andererseits ist es mehr als die Seele, soweit es in seiner
Stoffgebundenheit eigene Gesetze hat. Das Werk hat eine doppelte
Mission: eine gegenüber seinem Schöpfer und eine zwischen -
menschliche Berufung, wodurch es zum Kulturobjekt wird, und als
solches zeigt es infolge der sozialen Einstellung neue, von den

Láng Julia: „Mannheim Károly, Lélek és kultura", Athenaeum, 1918, S. 159- 160, Übersetzt
aus: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S.
203-204.

163
bisherigen prinzipiell verschiedene Gesetze. Die selbständigen
Gesetzmäßigkeiten stellen das Werk in zweifache Distanz zur Seele
und bedeuten den Weg der Entfernung des „Werkes" von der es
schaffenden Seele. Die Kehrseite dessen ist die Annäherung der
rezipierenden Seele an die fremde objektive Kultur, ihre Aneignung,
kurz: die Möglichkeit der Kultur.
Diese Möglichkeit wird vom Autor aufgrund dreier allgemeiner
axiomatischer Sätze erklärt, die gleichzeitig geschichtsphilosophisch
das allgemeinste Schema der Kulturstadien bezeichnet. Der erste ist
die Geschaffenheit der menschlichen Seele nach einem Muster,
wodurch das für den einzelnen Mögliche für alle erreichbar ist.
Daraus folgt der zweite Satz: das Prinzip der Fortsetzbarkeit in
Richtung des Erlebnisses und der Gestaltung. Die zweifach gerich -
tete Entwicklung geht nicht immer parallel; das Erlebnis erschöpft
sich, die Entwicklung der Technik geht aber intensiv weiter, was ei ne
dritte, beinahe endgültige Entfernung von der Seele bedeutet. Daß
diese der Seele fremde Wirklichkeit für sie doch etwas bedeuten
kann, wird aus dem dritten Satz verständlich, wonach es zu den
Eigenschaften des Menschen gehört, die erlebnismäßig ihm völlig
entfremdete Kulturobjektivation sich noch als Form inadäquat an -
eignen zu können. Diese von der Erlebnisentfernung verursachte in-
adäquate Rezeption kann nicht nur dann erfolgen, wenn wir von ei-
ner Kulturperiode auch zeitlich getrennt sind, sondern kann sich auch
gegenüber den Fakten der uns umgebenden aktuellen Kultur
einstellen, wenn wir durch die Ahnung noch nicht zustande gekom -
mener neuer Erlebnisse von ihnen entfernt werden.

Die Kultur ergänzt auch inhaltlich die aufgrund dieser drei


Sätze formal bezeichneten Stadien. Im ersten Stadium prävaliert die
Aussage, der Inhalt: Dies charakterisiert die Epoche der religiösen
Kulturen. Im zweiten ist die Ausrichtung auf die Form stärker: Dies
sind die Zeitalter der Kunstentwicklung. Zur Zeit des Gefühls der
Getrenntheit von Form und Inhalt, im dritten Entwicklungsgebilde
klärt sich für die Theorie die Struktur der Formen, die kritische Un-
tersuchung tritt in den Vordergrund, und die Kritik sowie die analy -
sierenden Wissenschaften werden zu Schauplätzen der wertvollsten
Resultate. Damit sind wir bei dem Stadium angelangt, zu dem sich

164
diese Schule zugehörig fühlt - und in dem sie zu ihrer Hauptaufga be
kommt: der Strukturanalyse.

Die Eigenstruktur jeder Schöpfung erkennend, machen sie das


Streben nach Pluralismus zum allgemeinsten methodologischen
Prinzip ihrer Forschung. Durch dieses Prinzip werden die Mitglieder
der Gesellschaft in ihren Forschungen inhaltlich voneinander
getrennt - damit ist aber gleichzeitig auch eine Wurzel ihrer Einheit
und Zusammengehörigkeit gegeben. Mit dieser Auffassung kehren
sie zu Kant zurück, der die strukturelle Autonomie aller normativen
Wissenschaften zum ersten Male bewußt machte - und knüpfen an
Zalai an, dem die Weiterführung dieser Richtung zuzuschreiben ist.

165
ADALBERT FOGARASI: UMRISSE EINER
THEORIE DER INTERPRETATION

THEORIE DER IMMANENTEN INTERPRETATION

1. DAS PROBLEM

Das klassische Problem der neueren Erkenntnistheorie bildet das


Verhältnis des Seins zum Bewußtsein, der Realität zum Denken, der
„Außenwelt" zur „Vorstellung". Die Besinnung auf Möglichkeit und
Eigenart der mathematischen Erkenntnis, wie sie im Kritizismus
auftritt, scheint den engen Rahmen der Realerkenntnis zu sprengen;
aber auch hier wird die Reflexion in ihrer Zuspitzung auf
Möglichkeit der Naturerkenntnis auf das alte Problem der Realgel-
tung zurückgeführt.
Auch der klassische erkenntnistheoretische Zweifel beschränkt
sich trotz der ihm innewohnenden Tendenz, alles zu umfassen, le -
diglich auf das Verhältnis zwischen denkendem Subjekt und realer
Außenwelt. Es schien, als ob das einzige der Wissenschaft würdige
Ziel der Erkenntnis mit dem Ergreifen der Realität klar und deut lich
bezeichnet wäre. Wenn die allmähliche Entwicklung der Psychologie
auch die prinzipiellen Schwierigkeiten in der Bemächtigung unserer
„Innenwelt" zum Bewußtsein brachte, änderte dies an der
ursprünglichen Einstellung nur wenig: denn die Erweiterung der
Erkenntnistheorie bedeutete nur eine Ausdehnung ihres Gebiets auf
die ganze Realität. Psychisches Sein und „Außenwelt" bilden zwar

Ausschnitt aus einem größeren Manuskript von 1918. Zur deutschen Ausgabe
vorbereitete Fassung der Vorlesungen „Die Methoden der Geisteswissenschaften" an der
Freien Schule für Geisteswissenschaften. (MTAK-K) Ms 10262. Der vollständige Text
erscheint in der Reihe des Lukács-Archivs „Archivumi Füzetek Vll." in einem Band aus
den deutschen Schriften von Adalbert Fogarasi, hrsg. von Éva Karádi, Bu dapest 1986.

166
scheinbar grundverschiedene Arten des Seins, aber wenn auch an
dieser Verschiedenheit festgehalten wird, so stehen sie durch ihren
Seincharakter auf ein und demselben ontologischen Niveau. Ob die
Erlebnisse in ihrer ursprünglichen Einzigartigkeit und konkreter
Fülle ergriffen und festgehalten werden können, ob das „Erschau en"
des Bewußtseins eine tatsächliche Möglichkeit oder eine ewige
Forderung für die Erkenntnis bedeutet, das sind wichtige, ja schick-
salsschwere Fragen, die aber das Ganze des Erkenntnisproblems
nicht umspannen.
Auch die mächtige Umgestaltung, die die Gesamtlage der Philo -
sophie durch den Ausbau des Geltungsgedankens erfahren hat, üb te
auf die Erkenntnistheorie in dieser Hinsicht keinen bestimmenden
Eiafluß aus. Der Gegenstand der Erkenntnis bleibt nach wie vor
„Wirklichkeit", Sein und Gelten werden zwar scharf gesondert, aber
das Interesse der Theorie richtet sich ausschließlich auf das Problem
der Seinerkenntnis.
Ganz anders gestaltet sich aber die Lage, wenn wir das Erkennt -
nisproblem, anstatt wie bisher ausschließlich an den Naturwissen -
schaften und der Psychologie zu orientieren, mit den historischen
Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften in Zusammenhang
bringen. Hier stehen wir vor dem Tatbestand, daß theoreti sche,
ästhetische, juristische, religiöse Geltungs- und Sinngebilde zu
Gegenständen der Erkenntnis werden, und es genügt eine einzige
philosophiegeschichtliche oder kunstgeschichtliche Untersuchung
durchgeführt zu haben, um zu wissen, daß die Erkenntnis dieser
Sinngebilde keine Selbstverständlichkeit sei, daß ihre Möglichkeit
sehr wohl in Zweifel gezogen werden kann, daß wirklich objektive
und adäquate Erkenntnis bisher nur an wenigen Punkten erreicht
wurde und an vielen anderen überhaupt unerreichbar scheint.
Überall, wo historisch gegebenen Wirklichkeiten, d.h. künstleri schen
Denkmälern, Urkunden, schriftlichen Zeichen zugrunde liegende
theoretische oder atheoretische Sinngebilde zu Gegenständen der
Erkenntnis werden und wo diese Erkenntnis aus welchen Gründen
immer problematisch wird, tritt die Notwendigkeit der Interpretation
ein. Nennen wir die Erkenntnis der Sinnzusammenhänge, um ihre
Eigenart auch terminologisch zu fixieren, Verstehen, so bedeutet

167
Interpretation die Gesamtheit der das Verstehen ermöglichenden und
begründenden methodischen Verfahrensweisen.
Mit diesen lediglich andeutenden, vorläufigen und notwendig
unzureichenden Erwägungen scheint die Stelle des Interpretations-
problems im Ganzen der Erkenntnistheorie bezeichnet zu sein. Die
Geltungs- und Bedeutungstheorie versetzt uns in die Lage, die
Funktion der Interpretation in den einzelnen Geisteswissenschaften
zu begreifen und sie zugleich durch die Beziehung auf ihre wissen -
schaftstheoretische Stellung normativ zu begründen. Doch ist der
Umstand, daß die Interpretation, in der wir ein allgemeines Problem
der Erkenntnis erblicken, bisher nur in spezialwissenschaftli cher
Formulierung auftrat, viel zu auffallend, als daß wir an ihm einfach
vorübergehen können. Denn die vorige Behauptung, daß das
Interpretationsproblem in seiner erkenntnistheoretischen Bedeutung
erst seit Ausbau der Geltungsphilosophie erkannt werden konnte,
bezieht sich nur auf die begriffliche Fassung und letzte Begründung
der Sachlage. Liegt eine solche aber überall vor, wo die Erkenntnis
mit Sinngebilden zu tun hat, so müßte die Problematik der
Interpretation sich auch überall fühlbar machen. Dies ist aber
offenbar nicht der Fall. Es ergibt sich die Frage: warum kennen die
Mathematik, die Logik und andere Wissenschaften kein Interpreta-
tionsproblem und warum gibt es ein solches in den historischen
Kulturwissenschaften? Um diese Frage beantworten zu können, muß
auf die Erkennbarkeit der Sinngebilde näher eingegangen werden.

2. DER GEGENSTAND DER INTERPRETATION

Der Ausdruck „Verstehen" bildete bisher einen Sammelplatz für


Begriffe verschiedenster Herkunft und Bedeutung. Schleiermacher
hat das sprachlich-grammatische und das psychologische Verstehen
voneinander scharf gesondert und dadurch wenigstens die gröbsten
Mißverständnisse aus dem Wege geräumt. Man kann ein Gedicht
verstehen, meinte Schleiermacher, man kann es z. B. wörtlich aus
dem Griechischen übersetzen, ohne es in einem anderen Sinne ver -
standen zu haben. Dieser „andere Sinn" schmolz aber bei Schleier-
macher mit dem „Seelenleben", mit der Persönlichkeit des Verfas sers
zusammen. Und diese seine Auffassung wurde richtungsbestimmend

168
für das gesamte 19. Jahrhundert. Erst uns ist nach der logischen und
künstlerischen Überwindung des Psychologismus möglich geworden,
den dritten Begriff des Verstehens hier einzusetzen. Das Verstehen in
seiner dritten Bedeutung ist das auf Sinngebilde gerichtete, einzig
und allein um den Sinn interessierte theoretische Verhalten. Fälle ich
das Urteil „Dieser Tisch ist ein kreisförmiger", so ist das Urteil selbst
- nicht das Urteilen - ein wahrheitsgemäßes oder wahrheitswidriges
Sinngebilde. Aber der Tatbestand, auf Grund dessen ich das Urteil
gefällt habe, ist selbst kein Sinngebilde, sondern je nach unserem
erkenntnistheoretischen Standpunkte „Wirklichkeit", „Vorstellung",
oder „Empfindung". Verstehe ich aber dieses Sinngebilde, so ist der
Tatbestand der Sinnzusammenhang selbst und nicht die empfundene
Wirklichkeit. Das psychologische Verstehen einer Persönlichkeit
setzt „Gleichheit" der seelischen Prozesse voraus, fordert also die
Reproduktion gewisser Erlebnisse. Das Verstehen des Urteils setzt
nur Identität der in beiden Fällen vorkommenden Sinngebilde voraus,
ich als Verstehender habe dabei ganz andere Erlebnisse als der
Erkennende.
Die Problematik der Erkennbarkeit der Sinngebilde fällt also
mit der Problematik des psychologischen Verstehens nicht zusam-
men. Sie besteht an sich. Man wird versucht sein, den Umstand, daß
diese Problematik sich am tiefsten in den geistesgeschichtlichen
Wissenschaften geltend macht, mit dem hier auftretenden psychi -
schen Material in Zusammenhang zu bringen. Die eigentlichen Ur-
sachen liegen aber tiefer. Jedes Sinngebilde ist als Erfüllung einer
Intention aufzufassen. Wir verstehen es, indem wir die ihm inne-
wohnende Intention ergreifen. (In dieser Hinsicht weisen sprachli -
ches Verständnis und Verstehen des Sinnes dem psychologischen
Verstehen, der Einfühlung gegenüber eine Ähnlichkeit auf. In der
Sprache richtet sich aber die Intention nur auf den Ausdruck; die
Sinnesinterpretation geht um eine Schicht tiefer zurück.) Welcher
Art diese Intention sein mag, bleibt jetzt vollständig dahingestellt.
Nur so viel ist sicher: die Erkennbarkeit der Sinngebilde fällt mit der
Erkennbarkeit der Intention zusammen; sie wird problema tisch, wo
die Eindeutigkeit der Beziehung der Intention auf den erfüllten Sinn
bezweifelt werden kann. Ich verstehe ein Sinngebilde nicht, wenn ich
die Intention nicht bestimmen kann, ich mißverstehe es, wenn ich

169
ihm eine „fremde", eine „falsche" oder „ungenügende" Intention
unterschiebe. Ist aber das in Frage stehende Sinngebilde auf
mehrfache Weise zu verstehen, dann muß ich unter den sich
aufdrängenden Intentionsmöglichkeiten die „echte", die „adäquate"
auswählen, bestimmen, das Sinngebilde mit Rücksicht auf diese
Möglichkeiten deuten, auslegen.
Von hier aus ist es begreiflich, daß die Mathematik und andere
Wissenschaften scheinbar keine Interpretationsprobleme kennen. Die
strenge Eindeutigkeit der Begriffe, die in der Mathematik vor -
kommen, ermöglicht es, daß die Erkenntnis der Sinngebilde sich hier
mit einer Selbstverständlichkeit vollzieht, die wir in der Philo sophie
vergebens suchen würden. Diese Eindeutigkeit ist aber in ihrer
wahren Bedeutung ungeheuerlich überschätzt worden. Sie bedeutet
nicht, daß die in der Mathematik vorkommenden Sinngebilde in
ihrem Sinngehalt klar, widerspruchslos und eindeutig erkannt wären,
sie bedeutet lediglich die Brauchbarkeit der Begriffe und die
Möglichkeit mit ihnen operieren zu können, ohne sich um die letzten
intentionellen Sinnesmöglichkeiten überhaupt kümmern zu müssen.
Der Streit um die Grundlagen der Mathematik besteht fort, ohne daß
die Mathematik in ihrer Arbeit dadurch gestört würde. Dieser Streit
ist aber nichts anderes als ein Streit zwischen zwei
grundverschiedenen Interpretationsweisen der mathematischen
Grundbegriffe. Mathematik, Logik und Naturwissenschaften sind
Sinngebilde, die mit der Zeit in keinem Wesenszusammenhang ste -
hen. Die Wahrheiten, die die Mathematik behandelt, sind nicht nur in
ihrer Geltung zeitlos - das sind alle Wahrheiten ohne Unterschied -,
sondern auch in ihrem Bedeutungsgehalt völlig frei von jedem
Zusammenhang mit zeitlich-geschichtlichen Momenten. Die
Naturwissenschaften behandeln zum Teil zeitlich bedingte Erschei -
nungen, aber auch hier ist die Zeit kein konstitutives Element der
naturwissenschaftlichen Theorie. Daß gewisse mathematische
Wahrheiten, daß Naturgesetze in diesem oder jenem Jahrhundert
entdeckt wurden, ist für ihren Sinn von keinem Belang. Gewiß haben
diese Entdeckungen und der Umstand, daß z.B. das Mittelalter an
naturgesetzlichen Vorstellungen ärmer war als die Neuzeit, ihre
Ursachen, und sind daher in diesem Sinne nicht zufällig. Sie sind es

170
aber im Hinblick auf das geschichtsphilosophische Ganze der Gei -
stesentwicklung.
Vom Standpunkt der Geschichte der Wissenschaften ist daher
der Sinn des Fortschritts eindeutig: je früher, je besser. Wenn die
Entdeckung der Wahrheiten durch die Unzulänglichkeit der
menschlichen Erkenntnis verzögert wird, so ist das nur ein bekla-
genswerter Verlust, wenn das Genie diese Schranken des Verstandes
durchbricht, ist das Gewinn für die Wissenschaft.
Und das ist der, wenn auch nicht einzige, doch schwerwiegend -
ste Grund dafür, daß das Verstehen auf diesem Gebiete sich nicht zu
einer methodischen Form erhärten mußte. Denn unter allen * Es ist
kein Zufall, daß Russell in seinen „Princíples of Mathematics" auf Schritt und Tritt
von „Interpretation" spricht. Es kommt ihm eben auf das „what it means" an. Was
die Mathematik mit ihren Grundbegriffen eigentlich meint, ist bis auf die letzten
Jahrzehnte gar nicht erkannt worden und bildet noch jetzt den Gegenstand
schwieriger Auslegungsversuche. Elementen, die zum Aufbau der
geltenden Sinngebilde nötig sind, sind es die zeitlich, konstitutiv
bestimmten, die zur Entstehung der Problematik am meisten
beitragen. Sie hüllen die Intention in dichte Nebel ein oder umgeben
sie mit dem starren Panzer ihrer unauflösbaren Individualität. Und
wo das zeitliche Auftreten und Erleben im Aufbau der Sinngebilde
einen problematischen oder absoluten Faktor bedeutet, dort tritt auch
das Bedürfnis nach Interpretation mit unausweichbarer
Notwendigkeit hervor. Das problematische Verhältnis des
philosophischen Gedankens zu seiner „Entstehung", das
Verankertsein des Kunstwerkes in der empirisch-konkreten, der
Religion in der apriorischen Zeit stehen hier im scharfen Gegensatz
zu den zeitlos unangetasteten Gebilden der Mathematik und den
zeitlich indifferenten der empirischen Wissenschaften. Dies alles
sollte nur erwähnt werden, um die Tatsache begreiflich zu machen,
daß die Interpretation nicht als die Universalmethode für die theo-
retische Bemächtigung der Sinngebilde, sondern als das spezifische
Organ der historisch-geistigen Wissenschaften auftritt. Zwei Wege
der Analyse stehen jetzt offen: der eine geht von dem apriorischen
Begriff der Interpretation aus und sucht die klassischen Probleme
und Methoden der philosophischen, juristischen, theologischen
Hermeneutik im Rahmen einer apriorischen Typologie zu behandeln.
Der andere will in steter unmittelbarer Fühlung mit den Er gebnissen
und den geistigen Bedürfnissen der Gegenwart die Leistungen und

171
Aufgaben der Interpretation begreifen. Den zweiten Weg hat Dilthey
gewählt. Wir versuchen, den ersten zu gehen.

3. KRITIK DER PSYCHOLOGISCHEN UND


NATURALISTISCHEN INTERPRETATION

Die psychologische Interpretation ist in der Geistesgeschichte keine


selbständige Erscheinung. Sie ist die methodische Konsequenz jener
Auffassung, die in Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Religion
lediglich Produkte des Seelenlebens erblickte und sie als solche
durch Selbstbesinnung begreifen wollte. Besteht der Sinn eines
Kunstwerkes oder eines philosophischen Systems darin, daß sie
Ausdrücke, Objektivationen einer tiefen Persönlichkeit, einer großen
Seele sind, dann kann die Sinninterpretation in nichts anderem
bestehen, als in der Zurückführung dieser Gebilde auf die sie her-
vorbringenden, persönlichen Eigenschaften und Erlebnisse des
Schöpfers. Die Möglichkeit der adäquaten Erkenntnis der
Sinngebilde fällt daher mit der Erkennbarkeit des Seelenlebens
überhaupt zusammen.
Mit der Aufdeckung der verschütteten Struktur der Sinngebilde
ist der Weg für eine andere Auffassung freigeworden. Wir wissen
jetzt, daß der Sinn des Kunstwerkes ebensowenig mit der Persön-
lichkeit des Künstlers zusammenfällt, als die philosophischen Syste -
me nicht Konfessionen, sondern geltende Sinneszusammenhänge, die
Gesetze nicht das Seelenleben der Juristen, sondern geltende Normen
bedeuten wollen. Die psychologische Interpretation kann den
eigentlichen Sinn der Werke und Systeme nicht begreifen, weil sie
ihnen eine völlig fremde Intention unterschiebt oder sich mit der
Intention gar nicht befassen will. Daß die im Prinzip psychologi sche
Interpretation des XIX. Jahrhunderts den echten Sinn der
Kunstwerke, der philosophischen Systeme der Rechtsgebilde doch
oft erkannt hat, ist gewiß. In allen diesen Fällen ist sie aber ihrem
eigenen Prinzip untreu geworden. Wohlgemerkt: keine Theorie kann
uns verbieten, die Erkenntnis des Seelenlebens eines Künstlers, eines
religiösen oder philosophischen Genies zu erstreben. Nicht gegen
eine solche Zwecksetzung, sondern ausschließlich gegen ihre
Verwechslung mit den Aufgaben der sinndeutenden Interpretation
richten sich die Normen der Sinndeutung.

172
Die Zurückführung auf die Persönlichkeit ist natürlich nur eine,
wenn auch die beliebteste der Möglichkeiten, den intentionellen Sinn
aufzuheben. Methodisch mit ihr völlig äquivalent ist es, wenn man in
allen objektiven Sinnesstrukturen- Produkte der Umwelt, der
historischen Antezedentien, der soziologischen oder klimatisch-
geographischen Verhältnisse sieht. Es ist hier nicht möglich, auf die
Frage einzugehen, inwieweit alle diese Faktoren die geistigen Ob -
jektivationen kausal beeinflussen können: aber wie es auch mit dem
ursächlichen Zusammenhang oder Gesetzeszusammenhang stehe, der
intentionelle Sinn hat mit alledem nichts zu tun. Das absolute
Unverständnis gegenüber dem spezifischen Wesen von Kunst, Phi-
losophie, Recht oder Religion, das uns aus den Werken eines Taine
entgegenstarrt, rührt eben daher, daß er den Sinn des Werkes usw. in
seinem Dokumentencharakter finden wollte. Die Bedeutung dieser
Gebilde bestand für ihn und für die Zeitgenossen eben darin, daß sie
die Gefühle, die Anschauungen ihrer Zeit, die ursprünglichen
Gegebenheiten der Rasse, der Gesellschaft in charakteristischer
Weise widerspiegeln und uns dadurch die Erkenntnis ihrer Zeit
ermöglichen. Der Sinn der englischen Literatur besteht darin, daß sie
als Ganzes ein unschätzbares Spiegelbild der englischen Psyche
bietet. Taine gibt zu, die englischen Poeten, etwa Shakespeare hätten
etwas anderes im Sinne gehabt, als psychologisches Material für
Historiker künftiger Jahrhunderte zu sammeln. Dies war aber eben
ihr Irrtum. Die Intention der Künstler ist nebensächlich und mit dem
echten Sinngehalt nicht zu verwechseln. Die naivgroßartige
Konsequenz des Taineschen Denkens läßt hier die eigentlichen me-
thodischen Wurzeln dieses Interpretationstypus klarer als sonst ir -
gendwo erkennen. Die prinzipielle Umdeutung aller atheoretischen
Sinnstrukturen in theoretische Gebilde, wie sie in der „document"--
Theorie durchgeführt wird, ist die Erbsünde aller unter der Ägide der
Kulturgeschichte entstandenen Erklärungsversuche des geistigen
Lebens.
Nicht als Wahrheit oder Falschheit will die Kulturgeschichte die
philosophischen Systeme begreifen, sondern als Kulturprodukte und
nicht als die Lösung einer bestimmten Aufgabe, z.B. der
Raumdarstellung, sondern als Ausdruck der geistigen Gesamtkul tur
soll die bildende Kunst eines Zeitalters begriffen werden. Auf den

173
gemeinsamen Nenner der Kulturbedeutung gebracht, verschwinden
die spezifischen Differenzen der einzelnen Sinnesstrukturen und mit
ihnen die tiefen und echten Intentionen, deren Erkenntnis die
Aufgabe der Interpretation bilden sollte.
Doch wären alle diese prinzipiell verfehlten Versuche
unbegreiflich, wenn ihnen nicht ein berechtigtes Motiv zugrunde
läge. Daß die Interpretation des Werkes als Ausdruck von
Erlebnissen, des Systems als Spiegel der Individualität, des Gesetzes
als Produkt des Volksgeistes überhaupt möglich ist („möglich" nicht
im Kantischen, sondern im faktischen Sinne) rührt daher, daß sie
wirklich Ausdruck, Produkt und Spiegelbild sind; nur wird dadurch
ihr eigentlicher Sinn gar nicht getroffen. Die einzige Möglichkeit,
die psychologische Interpretation und die ihr typologisch verwandten
Auffassungsweisen aufrechtzuerhalten, wäre die klare und bewußte
Erkenntnis, daß mit allen diesen Auslegungen nicht der eigentliche
intentionelle Sinn erhellt wird, sondern entweder die Elemente, auf
denen sich der intentionelle Sinn aufbaut, oder die Beziehungen
dieses Sinnes zu Sinneszusammenhängen ganz anderer Struktur, zu
Kultur, Volksgeist, Individualität. Damit ist aber zugleich die Not -
wendigkeit einer originären, allein und ausschließlich auf die Inten-
tion gerichteten Interpretation zugegeben.

4. DIE IMMANENT-INTENTIONELLE INTERPRETATION

Es wurde ausgemacht, daß Notwendigkeit der Interpretation und


Problematischwerden des eindeutigen intentionellen Sinnes einen
unauflösbaren Zusammenhang bilden. Verstehendes Auslegen sei
zwar jedem Sinngebilde gegenüber, das wir überhaupt erkennen
wollen, erforderlich, doch unterscheidet sich diese Art des Verste -
hens von der wissenschaftlichen Interpretation ebenso wie z.B. die
alltägliche Beobachtung eines Ereignisses. Damit ist aber zugleich
gesagt, daß die grundverschiedenen Sinnesstrukturen der theoreti-
schen, ästhetischen, juristischen, religiösen Gebilde für die Inter-
pretation bezüglich ihrer Tragweite, aber auch ihrer Durchführbar keit
völlig verschiedene Aufgaben darstellen. Und zwar in doppeltem
Sinne. Einerseits lassen sich die verschiedenen Sinnesstrukturen in
bezug auf ihre Zusammengesetztheit und Auflösbarkeit in ihre

174
Bestandteile in eine aufsteigende Stufenfolge ordnen, die von den
verhältnismäßig einfachen und durchsichtigen Sinngebilden der rei -
nen Theorie durch die Philosophie und Kunst zur vielfach zusam -
mengesetzten und mehrschichtigen Struktur der religiösen Gebilde
führt. Andererseits ist die größere oder geringere Distanz zwischen
den theoretisch-begrifflichen Mitteln der Erkenntnis und den theo-
retischen oder atheoretischen Sinngebilden, die als Gegenstände der
Erkenntnis auftreten, für die Interpretation von konstitutiver Be-
deutung. Die Frage, „wie ist intentionelle Interpretation möglich",
muß für die Philosophie, für die Jurisprudenz und Religion einzeln
gestellt werden, und die Beantwortung wird nicht nur je nach den
einzelnen Strukturen, sondern auch je nach den spezifischen Auf-
gaben in den konkreten Fällen verschieden ausfallen.

Mit den bedeutungstheoretischen Bedingungen, die Methodik


und Möglichkeit der Interpretation determinieren, kreuzen sich die
zeitlichen Faktoren. Hier erst wird die Funktion der Interpretation im
Ganzen der Geisteswissenschaften deutlich. Hervorgerufen durch die
erschreckende Entfremdung, die zwischen Gegenwart und
Vergangenheit eingetreten ist, wird sie das Organ der Geistes-
geschichte, in der die durch Interpretation erschlossenen Sinngebilde
durch Kategorien der historischen Erkenntnis aufeinander bezogen
und zu neuen Einheiten verbunden werden. Auf dem Gebiete der
Ideengeschichte hat sich auch der große Schritt von den organi schen,
kulturgeschichtlichen, mechanischen Theorien des XIX.
Jahrhunderts zur methodisch-bewußten intentionellen
Interpretation vollzogen.
Nichts anderes bedeutet der epochemachende Versuch Aloys
Riegls, die Kunstgeschichte als Geschichte des Kunstwollens aufzu -
bauen und der ihm vorangehende Iherings, die Gesetze und Rechts-
gebilde als Äußerungen eines zwecksetzenden Wollens zu begreifen.
Hierin liegt auch die methodische Bedeutung der philosophischen
Problemgeschichte, die den intentionellen Sinn der Systeme nicht
von allen psychologischen und kulturgeschichtlichen Begleitum-
ständen, sondern einzig und allein als Problemstellung und Pro -
blemlösung begreifen will. Bei allen diesen Standpunkten kommt die
Einsicht zur Geltung, daß der Gegenstand der Geistesgeschichte nur

175
auf dem Niveau des intentionellen Sinnes zu erreichen ist. Doch
konnte sich diese tiefe und echte Wesenserkenntnis zu keiner be-
grifflichen Klarheit durchringen, solange sie die Sinnesstrukturen nur
in jener psychologischen Umhüllung sich zu eigen machen konnte,
die in den Begriffen „Wollen", „Zwecksetzung", „Problemstellung"
vorliegt. Und die Verwechslung der psychischen Aktivität mit der
Bedeutungsstruktur, der intentionellen Akte mit dem intentionellen
Sinn lag so nahe, daß psychologische und intentionelle Interpretation
selbst in der einzigen Theorie ungesondert nebeneinander stehen, die
das Wesen und die Schranken der intentionellen Interpretation tiefer
als irgendeine andere durchschaut hat. Der Begriff der
„philologischen Auslegung", wie er von Max Weber und Gustav
Radbruch gebraucht wird, umfaßt die Bedeutung der ursprünglichen
philologischen Auslegung ebenso wie jene der psychologischen
Erlebnisdeutung und der intentionellen Interpretation. Aber auch in
den ganz bestimmten speziellen und gar nicht maßgebenden Fällen,
in denen der Sinn eines Werkes sich im Erlebnis erschöpft, ist mit
der Erkenntnis dieser Erlebnisse noch nicht alles getan, da es sich ja
nicht um das Erlebnis, sondern um das Werk, also um die
Strukturfrage handelt, wie durch Veranlassung dieser zeitlichen
Erlebniswirklichkeit eine zeitlos geltende Bedeutungsstruktur, das
Werk „entstehen" konnte.
Die Erkenntnis des intentionellen Sinnes wurde möglich als
diese Loslösung des Werkes vom Erlebnis, des Systems von der
Persönlichkeit in den konkreten kunstgeschichtlichen und
philosophiegeschichtlichen Analysen sich vollzogen hat. Doch wäre
diese Lösung eine nur negative Leistung geblieben, wenn sie nicht
zugleich die Forderung einer an die Stelle der empirisch zufälligen
Beziehungen tretenden neuen, wirklich konstitutiven Verbindung
bedeutet hätte. Nach Gundolf ist dies zum ersten Male im Wilhelm
Meister geschehen: „Das ist das prinzipiell neue in der
Hamleterklärung Goethes: das erstemal wird ein Werk Shakespeares
als absolute, in sich ruhende Schöpfung, als Wirklichkeit
betrachtet . . . gerade dadurch ist Goethe zu demjenigen neuen
Prinzip der Deutung eines Werkes gekommen, welches dem
Shakespeare vielleicht am ehesten gerecht wird und in der Ästhetik
der Dichtkunst Epoche gemacht hat: dem Prinzip, Dichterwerke und

176
Dichterfiguren absolut in sich zu betrachten, anstatt ihre Bezüge
nach außen und innen und sei es zum Dichter selbst, aufzusuchen"
(Shakespeare und der deutsche Geist). Auch die intentionelle
Interpretation erfordert die Beziehung des Werkes auf den
gestaltenden Künstler, auf die Seelenwelt, auf die Persönlichkeit des
Philosophen, diese sind aber nicht als Substitute oder Äquivalente,
sondern als Korrelate des intentionellen Sinnes zu begreifen; nicht
von diesen aus führt der Weg zum Sinn, sondern das Werk, das
philosophische oder religiöse System ist die wahre Gegebenheit von
der aus der Künstler als Künstler, der Philosoph als Philosoph, der
Prophet als Prophet verstanden werden können. Der Künstler
existiert nur insofern, als er sich in Kunstwerke ausdrückt -- sagt
Gundolf - und die Seelenbiographie der „ideellen Persönlichkeit"
Kants hat bei Simmel dieselbe Bedeutung. Für die sogenannte
„menschliche Betrachtung" der Geistesgebilde muß diese Auffassung
eine Verarmung, eine gewaltsame Einengung des Gesichtskreises
bedeuten. Die Interpretation muß aber in Kunst, Wissenschaft, Recht
und Religion nicht „das menschliche" erkennen, sondern den ihnen
spezifischen, qualitativ eindeutigen Sinngehalt. Es gilt ihre
„Möglichkeit" zu prüfen. Ist der Gegenstand der intentionellen
Interpretation nicht das Erlebnis, sondern der Sinn des Erlebnisses,
so fällt damit die ganze auf das Prinzip der Homogenität des
Erkennenden und des Erkannten aufgebaute Lehre vom Verstehen.
An ihre Stelle tritt das Problem nach der Struktur der sinndeu tenden
Erkenntnis. Hat hier die Zerlegung in Inhalt und Form dieselbe
Bedeutung wie bei der Wirklichkeitserkenntnis? Besteht Wahrheit
der Erkenntnis hier auch nur in einem Zusammengehören von Inhalt
und Form, in einem „Umgoltensein des Kategorienmaterials von der
kategorialer Form" oder in dem „schlichten Ineinander von Inhalt
und Form", das intuitiv erkannt werden muß? In diesem Falle würde
an die Stelle des intuitiven psychischen Einswerdens mit dem
Gegenstand, wo nach Dilthey „Leben Leben erfaßt" eine neue Form
der Intuition treten: das schlicht-anschauliche Erkennen der
Sinngebilde und nur der Sinngebilde.
Das Orientieren der Logik der Philosophie an dem Begriff des
schlichten Ineinanders , der Phänomenologie an dem des ideativen


Siehe Georg von Lukács' gedankentiefen Nachruf an Emil Lask in den Kantstudien

177
Wesenschauens sind zwei verschiedene, doch von ähnlichen Motiven
durchsetzte Versuche, diese von allen früheren Arten des Intui-
tivismus deutlich unterschiedene Auffassung zu begründen. Das
Richtige, das ihnen zugrunde liegt, ist, daß die Erkenntnis hier kei ne
Umformung und Neuschöpfung im Kantischen Sinne, keine logische
Setzung, auch keine „selektive Synthesis" bedeuten kann. Ist das
„Schauen" nicht wörtlich gemeint, sondern gleichsam das Korrelat
adäquater und totaler Erfassung des Gegenstandes, so bedeu tet das
„schlichte Ineinander" den Sachverhalt, daß der Gegenstand der
Erkenntnis hier nicht Jene notwendige Beziehung auf die Erkenntnis
aufweist, die den Gegenstand der Wirklichkeitserkenntnis
charakterisiert, daß er also in diesem Sinne „schlicht" ist, dann hat
dieser Intuitivismus seinen guten Sinn.

Ganz anders verhält es sich aber, wenn er, gleich dem mysti-
schen Begriff der Intuition, die Absolutheit des subjektiven Verhal-
tens beim Erkennen behauptet. Eine Absolutheit, die absolute Ein -
fachheit, Ungeteiltheit und in weiterer Konsequenz Standpunktlo -
sigkeit eines Hingegebenseins des Subjekts an das Objekt bedeutet.
Nur der Gegenstand der Erkenntnis, der Sinn ist es, dem im Gegen -
satz zum Gegenstand der Wirklichkeitserkenntnis das Prädikat
„absolut" zukommt. Es gibt kein Erkennen eines Sinngebildes, das
nicht die Verschiedenheit theoretischer, ästhetischer, ethischer Sin -
nesstrukturen voraussetzt, das spezifisch individuelle Moment Jedes
Gebildes erkennen wir nur, wenn wir es von allen anderen unter -
scheiden können. Auch das Erkennen des Sinnes :setzt wie jede Er-
kenntnis, aber auch wie ,jedes echte sinnliche Schauen, eine Posi-
tion, einen Standpunkt, ein Stehen in einem System voraus. Ohne
Fragestellung keine Antwort, ohne Einstellung keine Möglichkeit des
Sehens. Und je komplizierter die Struktur des Sinngebildes, um so
notwendiger das fortschreitende gegenseitige Beziehen und
Rückbeziehen der Teile auf das Ganze, des Ganzen auf die Teile.
5. ZEIT UND IMMANENTE INTERPRETATION IN DER
GEISTESGESCHICHTE

178
Das alles ist von fundamentaler Bedeutung für das
Grundproblem der Interpretationstheorie. Denn die Möglichkeit der
Erkenntnis intentionellen Sinnes besteht für das Subjekt in der
Möglichkeit eines Standpunktes, von dem aus einerseits das
spezifisch-eigenartige, andererseits das mit anderen Intentionen
gemeinsame Moment jedes Sinngebildes bestimmt werden kann. Es
gehört zu dem innersten intentionellen Sinn jedes philosophischen
Systems, etwas Anderes zu lehren als alle anderen Systeme, und diese
erste Bedeutung kann ohne Beziehung und Vergleichung und
Entgegensetzung gar nicht erkannt werden. Der Idealismus Fichtes
kann zwar ohne jede Bezugnahme auf den Kritizismus interpretiert
werden, und es wird sich zeigen, welche ungeheure Perspektiven
eben diese Möglichkeit eröffnet: in diesem Falle haben wir es aber
nicht mit dem intentionellen Sinn zu tun, bei dem die Beziehung auf
Kant ein konstitutives Moment bedeutet. Und die Interpretation als
Erkennen bleibt ein beziehendes Erkennen auch dann, wenn das
Sinngebilde selbst von solchen Beziehungen unabhängig ist: um das
Wesen des spätrömischen Kunstwollens in seiner Eigenbedeutung zu
bestimmen, mußte Riegl die ihm zugrunde liegenden Intentionen mit
den klassisch-antiken und mit denen der modernen Kunst in
Zusammenhang bringen. Ein schlichtes Hingegebensein an die
niederländische Kunst hätte ihn nie zu den großartigen Resultaten
gebracht, die aus der Vergleichung und Entgegensetzung des
italienischen und des niederländisch-germanischen Kunstwollens,
der Prinzipien der Subordination und Koordination erwuchsen.
An dieser Stelle wird die entscheidende Funktion der
Gegenwart in der Interpretation aller zeitlich-bestimmten
Sinngebilde greifbar. Die Intentionen der Gegenwart bilden die
Grundlagen jedes echten Verständnisses, vorausgesetzt, daß sie
selbst in voller Konkretion erfaßt werden. Sollte dieser Weg zu
einem historischen Subjektivismus führen? Der Vorwurf kann die
Praxis vieler Historiker tatsächlich treffen, nicht aber den
prinzipiellen Sinn der positionsschaffenden Funktion von
Gegenwartsintentionen. Subjektivismus würde die Gleichsetzung
fremder und eigener vergangener und gegenwärtiger Problemstellung
und Problemlösung bedeuten: die Umformung der Intentionen nach

179
einem bestimmten Muster, wie es in der landläufigen Philosophie
oder Kunstgeschichte so oft der Fall war.
Die normative Bedeutung des Gegenwartsstandpunktes liegt
aber einzig und allein in der Erfüllung der Forderung, dem
beziehenden Erkennen einen festen Stützpunkt und Ausgangspunkt
zu verschaffen, an dem die Eigenbedeutung anderer Strukturen
überhaupt gemessen werden kann. Als Ausgangspunkt und
Beziehungspunkt und nur als solcher kommen die
Gegenwartsphilosophie, Gegenwartskunst, Gegenwartsrecht bei der
Interpretation historischer Geistesgebilde in Betracht. Die
strukturelle Verschiedenheit der einzelnen Sphären bedingt
selbstverständlich eine weitgehende Divergenz hinsichtlich der
heuristischen Bedeutung und der Anwendungsmöglichkeit des
Gegenwartsstandpunktes. Die Intensität, mit der dieser Standpunkt
uns undurchdringbar gewordene Komplexe, wie „spätrömische
Kunst", „mittelalterliche Philosophie", durchleuchtet, ist von vielen
anderen Nebeneinflüssen abhängig. Die prinzipielle Bedeutung aber,
die dem Verstehen der Gegenwartsintentionen bei der Ermöglichung
der Interpretation überhaupt zukommt, ist allen Sphären des Sinnes
gemeinsam.

Wenn also unserer Generation die Möglichkeit gegeben ist, in


Hegels Intentionen tiefer einzudringen, als es dem ganzen XIX.
Jahrhundert gelungen war, so wird diese Lage nicht auf positivisti -
sche Weise dadurch erklärt, daß, „nachdem Hegels Philosophie durch
viele Jahrzehnte keine Wirkung ausgeübt hatte", sie jetzt auf einmal
anfängt, die heutigen Denker „zu beeinflussen". Es handelt sich nicht
um eine solche handgreifliche Beeinflussung, deren Problematik jetzt
ganz bei Seite gelassen werden kann, sondern um den Sachverhalt,
daß wir durch unsere eigene Problemlage in eine der Hegelschen
analoge Position geraten sind, und daß die Identität dieser Position
uns ermöglicht, zu den letzten Intentionen Hegels überhaupt in
Beziehung treten zu können.
Die Verankerung in der Gegenwartsproblematik ist überhaupt
eine der wichtigsten, ja die wichtigste Voraussetzung aller Problem-
geschichte. Denn wenn die letzte Intention der problemgeschichtli-

180
chen Methode auch auf die Beziehung aller historischen Gegeben -
heiten auf die zeitlos geltenden Problemzusammenhänge gerichtet
ist, so sind diese Zusammenhänge uns nur soweit zugänglich, als sie
von dem Gegenwartsdenken erfaßt werden. Deshalb muß die kon-
sequent zu Ende gedachte Problemgeschichte von jeder Generation
neu geschrieben werden; und dieses Neu-geschrieben-werden-müs-
sen bedeutet keine „Subjektivität" wie es von einem standpunktlosen
Positivismus abgestempelt wird, sondern die einzig mögliche echte
Gewähr der jeweils erreichbaren konkreten Objektivität.

6. KATEGORIEN UND NORMEN IN DER


IMMANENTEN INTERPRETATION

Ist die durch alle zeitlich-historischen Momente geschaffene Ent-


fremdung zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf diese Weise
überwunden und ein normativer Standpunkt gewonnen, von dem aus
die Erkenntnis der Sinngebilde überhaupt möglich wird, dann setzt
die eigentliche Struktur-Analyse des Systems, des Kunstwerks ein.
Sie steht durchwegs unter der Herrschaft der großen Grundka -
tegorien aller Geistesobjektivationen, der Beziehung des Ganzen zu
seinen Teilen. Sämtliche Einzelnormen und Regeln, an deren An-
wendung das auslegende Erkennen gebunden ist, werden in ihrer
letzten Bedeutung erst verständlich, wenn sie auf ihren gemeinsa men
Ursprung zurückgeführt sich als Konsequenzen dieses Grund-
verhältnisses erweisen. Die Urnorm aller Interpretation bezieht sich
auf die Geltung der Kategorie des Ganzen selbst: jedes Sinngebilde
ist als ein Ganzes aufzufassen, das aus Teilen besteht. Das philoso -
phische System, das Kunstwerk, das Rechtsgesetz sind alle Einhei-
ten, und werden sie nicht als solche aufgefaßt, verlieren sie ihren
Sinn, sinken zu Erlebniswirklichkeiten herab. Jedes Ganze besitzt
aber den anderen gegenüber eine spezifische Struktur: das Kunst-
werk darf nicht als theoretisches System, der Zusammenhang religi-
öser Sätze nicht als Verknüpfung von Rechtssätzen ausgelegt wer-
den. Wieviel gegen diese zweite Grundform gesündigt wurde, dar-
über müssen einst in der Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts
besondere Kapitel geschrieben werden.

181
Diese universelle Anwendung der Kategorie des Ganzen ist aber
nur der Index für die verschiedensten Leistungen der interpretativen
Erkenntnis. Ich habe an anderer Stelle den Versuch gemacht, die hier
eintretenden Möglichkeiten systematisch zu ordnen und in ihren
gegenseitigen Beziehungen aufzuweisen.  Je nachdem ob die Teile
oder das Ganze Ausgangspunkt der wechselseitigen Bestimmung
sind, wechselt das konkrete Verfahren in den philosophischen,
kunsttheoretischen oder rechtsauslegenden Analysen.
Im philosophischen System, im Mikrokosmos des Kunstwerkes
und im Rechtsgesetz kristallisieren sich die Haupttypen der hier
auftretenden Sinnesstrukturen. Sie stehen als konstitutive Ganze
denjenigen Ganzen gegenüber, die durch einen ebenfalls streng nor-
mativen, aber immerhin methodologischen Gebrauch der Kategorie
des Ganzen „entstehen". Das „Werk" eines Goethe, eines Rembrandt,
„der deutsche Idealismus", die Renaissance sind Beispiele für das
durch Begriffsbildung entstandene Relationsganze. Nichts
charakterisiert den Unterschied der einzelnen Sinnesstrukturen bes ser
als der Umstand, daß dieselben geistigen „Gegebenheiten" in der
einen Sphäre als konstitutive Ganze, in der anderen nur als Tei le
eines konstitutiven Ganzen in Betracht kommen. So sind Platons
Dialoge als literarische Kunstwerke geschlossene Einheiten, Ganze,
während sie für die philosophisch-immanente Interpretation nur die
Teile eines Ganzen, des platonischen Systems bedeuten. Dagegen ist
das Lebenswerk eines Philosophen eine literaturgeschichtliche
Kategorie, die in der Geschichte der Philosophie keinen Platz haben
dürfte.
Unsere heutige vornehmlich an dem Kunstwerk und dem philo -
sophischen System orientierte Geisteshaltung, die axiomatische An -
sicht, daß jedes System und jedes Kunstwerk eine absolute ge-
schlossene Einheit darstelle, in der jeder Teil mit dem Ganzen und
allen anderen Teilen so fest und unveränderlich verbunden sei, daß
nichts daran ohne Aufhebung des Sinnes des Ganzen geändert wer-
den könne, trifft gewiß für die Idee des Systems und des Werkes zu.
Und wie jede echte Kunstschöpfung eine Paraphrase der ewigen Idee
des Kunstwerkes bedeutet, ist auch die absolut strenge Beziehung

D a s Prinzip der Ergänzung in der Geschichtslogik. Kantstudien Band XXI.

182
des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze die Hauptnorm
aller kunst- und literaturgeschichtlichen Interpretation. Entstanden
aus der vertieften Betrachtung antiker Meisterwerke ist diese
Auffassungsweise zuerst durch Friedrich Schlegel als Prinzip der
Organisation des Kunstwerkes scharf formuliert und von August
Wilhelm auf alle Gebiete der europäischen Literatur angewendet
worden. Die Höchstleistungen moderner Interpretation, wie Riegls
Rembrandtanalysen, Vosslers Analyse der Lafontaineschen Fabel Le
corbeau et le renard, Gundolfs Wahlverwandtschaften, Lukács' Don
Quixote, sie sind alle die Früchte der „vollendeten Organisation des
Kunstwerkes". Und diese heuristische Anwendung der Kategorie des
Ganzen enthält zugleich die Normen für die konkreten
Einzelanalysen in sich. Denn die letzte uns unerreichbare und einzig
immanente Gewähr für die Richtigkeit der intentionellen
Interpretation bildet immer das widerspruchslose Zusammenpassen
der Elemente, ihre funktionelle Unentbehrlichkeit und Eindeutigkeit
im Aufbau des aus diesen seinen so und so geordneten Teilen restlos
erklärbaren Ganzen.
Der erfüllte Sinn philosophischer Systemgestaltungen läßt sich
ebenfalls nur durch die Anwendung der Kategorie des Ganzen und
der Teile erfassen. Nichts anderes ist der Sinn des Begriffes System
in der Philosophie nach B. Zalai, als der „einer absolut konsequen ten
und kohärenten Durchführung eines konstitutiven Prinzips über das
Universum", in der selbstverständlich nur mit der Kategorie des
Ganzen gearbeitet werden kann. Die weitgehenden Analogien
zwischen philosophischen und künstlerischen Sinngebilden brachten
es mit sich, daß in dem System eine Art Kunstwerk gesehen wurde.
Hegels System, das sich in seiner inneren und äußeren Form wirklich
an das Kunstwerk anlehnt, wurde maßgebend für die Form System
überhaupt. Es ist kein Wunder, wenn freiere Geister des XIX.
Jahrhunderts dieser starren Architektonik müde geworden, das
System als eine der Philosophie inadäquate Form ein für allemal
auflösen wollten. Auch die Interpretation kann auf Archi tektonik und
quasikünstlerische Elemente im Aufbau des Systems nur dann
eingehen, wenn sie wirklich, wie im Hegelschen System, wirklich
zum immanenten Sinn gehören. Sonst liegt ihre Aufgabe in dem
Nachspüren der großen strukturellen Zusammenhänge, die zwischen

183
den einzelnen Hauptteilen des Systems bestehen, im Nachweise der
Widerspruchslosigkeit, eventuell in dem des Widerspruchs, der
zwischen den logischen, ethischen und metaphysischen Elementen
besteht, im Bestimmen der Priorität der Motive, die sich als letzte
treibende Kräfte der Systembildung erweisen vor anderen, die sich
als solche dem rezeptiven oder eventuell auch dem schöpferischen
Bewußtsein aufdrängen. Durch solche Motivanalyse ist es erst
möglich, hinter dem inhaltlichen den eigentlich-funktionellen Sinn
zu entdecken, der für das Ganze des Systems allein in Betracht
kommt. Die Philosophiegeschichte ist bis auf heute im großen und
ganzen eine rein referierende Darstellung des Inhalts zeitlich aufein -
anderfolgender Systeme geblieben. Die Geschichte der Motive, der
Intentionen und der ihnen entsprungenen Systemfragmente und
Mischsysteme gehört zu den großen, noch ungelösten Aufgaben
geistesgeschichtlicher Erkenntnis. Die konkrete Methodologie der
immanenten Interpretation und der an sie anschließenden Geistes
geschickte hat die weiteren Normen abzuleiten, die aus der Anwen -
dung der Kategorie des Ganzen auf die verschiedenen Sinngebilden
folgen: in dem rücksichtslosen Zu-Ende-Denken dieses Verhältnis-
ses, in seiner unendlichen Ausnützung liegt die Zukunft und der
Fortschritt der intentionellen Sinneserkenntnis.

184
ARNOLD HAUSER: VORLESUNGEN ÜBER
ÄSTHETIK
1.
Die Ästhetik als Wissenschaft existiert eigentlich nicht, weil wir kei -
ne ästhetischen Sätze besitzen, die unbedingte allgemeine Gültigkeit
hätten. Das einzige, was man vielleicht ein ästhetisches Lehrbuch
nennen kann, ist Kants „Kritik der Urteilskraft". Die Ästhetik kann
auch keine Sammlung von Regeln sein; sie ist keine praktische
Wissenschaft. Zur Beurteilung eines Werkes braucht man ebenso
Intuition wie für die Schaffung eines Werkes. Früher hat man die
Ästhetik ernsthaft so aufgefaßt wie eine Sammlung von Regeln. Das
ist aber unmöglich, weil jeder wirklich große Künstler sich neue
Gesetze schafft. Es ist wahr, daß die Ästhetik gewisse Gesetze be-
hauptet, diese entspringen aber nicht der Laune des Ästhetikers,
sondern stammen aus der Erkenntnis, daß der Künstler unter jed -
weden Umständen bei seinem Schaffen gezwungen ist, gewisse Ge -
setze einzuhalten. Die ästhetischen Gesetze haben keinen Anfang
und kein Ende, sondern eine nicht an Zeit und Anerkennung ge-
bundene Gültigkeit.
Die Ästhetik kann sich nicht an einem bestimmten Stil orientie-
ren. Die Barockarchitektur kann nicht auf dem Prinzip der Renais-
sance aufgebaut werden. Der Barock will die vereinfachten Raum -
verhältnisse der Renaissance nicht mehr. Das Hauptproblem der
Architektur ist die künstlerische Lösung des Daches und der Streben.
Die Antike will reine Einlinigkeit, ungebrochene Tendenzen, im
Barock vibriert alles, die Linien beginnen sich zu bewegen. Der
Barock und die Gotik sind eine Art „Kunstwollen". Es stehen sich
ständig zwei große Kunstrichtungen gegenüber. Einerseits die antike,


Übersetzt nach den Aufzeichnungen der Vorlesungen, die Hauser in einer Schule für
Frauenbildung Anfang 1919 gehalten hat. Aufgezeichnet und aufbewahrt von einer ehemaligen
Studentin dieser Schule und Teilnehmerin des Sonntagskreises, Piroska Buday, Frau Siminszky,
Budapest. Erstveröffentlichung.

185
romanische, die Renaissancekunst und der Klassizismus des 18.
Jahrhunderts, andererseits die Gotik, der Barock und der moderne
Impressionismus.
Obwohl die Kunststile sich voneinander trennen, gibt es in der
Kunst gewisse ewig gültige Forderungen, welchen sich auch der Stil
nicht entziehen kann. (Daß z.B. in der Bildhauerei das Prinzip der
Materialgemäßheit sich geltend macht, und in die Malerei nur das
hineinpaßt, was visuell ausdrückbar ist, das sind ewige Gesetze.)
Man muß darauf achten, daß die ewig gültigen Gesetze nicht auf ei -
nen bestimmten Stil bezogen werden. (Im 17. Jahrhundert war z.B.
die Poetik eine einseitige Ästhetik mit dem Prinzip der dreifachen
Einheit.)
Die ästhetischen Forderungen müssen alle eventuellen Kunstbe-
strebungen ermöglichen. Es gibt Gesetze in der Ästhetik, die aus der
bestimmten, vom Künstler sich selbst gesetzten Intention folgen. Die
Frage ist, ob die im Kunstwollen selbst verborgenen Bestrebungen
durchführbar sind. Aus jedem Kunstwollen folgen gewisse
eigentümliche Gesetze. Jede Intention hat selbst eine innere
Dialektik (eine Frage-Antwort-Gestalt der Gedanken).
Die Entstehung gewisser Dinge setzt die Existenz anderer Dinge
voraus. (Beim Begriff des Lichtes ist der Begriff des Dunkels vor -
ausgesetzt.) Die sich in der Barock-Kunst geltend machenden Ge -
setze werden für jeden Barock-Künstler gültig sein. In den Stilen gibt
es logische Konsequenzen, welchen sich der Künstler nicht entziehen
kann. Das Gesetz, das der Künstler übernimmt, ist mit seiner
Intention eng verknüpft. Der Maßstab des künstlerischen Werkes
kann nur eine ideelle Schöpfung des betreffenden Künstlers sein.
Auch in der Ästhetik herrscht eine dialektische Konsequenz,
diese ist aber nicht logisch geartet. Es ist Aufgabe der Kunstkritik,
den Wert eines Werkes aufgrund gewisser Prinzipien zu behaupten.
Die Aufgabe der Ästhetik ist es, die Prinzipien der ästhetischen
Weltanschauung zu entdecken und ihre Strukturen zu entwickeln.
Die Ästhetik legt fest, was Ästhetik ist und was nicht - wann ein
Gegenstand ästhetisch ist, das hat eine genaue Begrenzung. Die
ästhetische Sphäre ist keine logische Sphäre. Es müssen jene
Grundprinzipien erforscht werden, die ein ästhetisches Erlebnis

186
wirklich zu einem ästhetischen Erlebnis machen. Das Grundparadox
der Ästhetik ist, daß sie eine Wissenschaft sein soll, obwohl Kunst
und Wissenschaft zwei einander völlig ferne Welten sind. Es stehen
also zwei verschiedene Welten einander gegenüber.
Die Wissenschaft ist ein auf gewisse Begriffe reduziertes Bild
der Welt. Die Physik führt fast alles in der Welt auf den Begriff der
Bewegung zurück. Auch die Psychologie projiziert die Welt auf eine
Ebene. Innerhalb der einzelnen Wissenschaften werden die
Dinge einander ähnlich. Die Wissenschaften sind auf Begriffe
aufgebaute und nicht auf Begriffe reduzierte Welten.
Schematisch gesehen verhält es sich anders, doch haben die
Dinge ihrem Sinne nach eine Entwicklungs- und eine Bedeutungsrei-
henfolge. Sinngemäß ist die Setzung einer rein wissenschaftlichen
Ebene vorrangig.
Die Begriffe hängen innerhalb jeder Wissenschaft eng zusam-
men, und der eine erzwingt sozusagen den anderen. Der eine Begriff
determiniert den anderen, in der Wissenschaft ist System vor handen -
ein System homogener Stoffe. Die Wissenschaften haben Inhalt,
Begriff und Form: das System. Wie verhalten sich nun die Begriffe
und das System, in welchem sie stehen? Außerhalb von Systemen
stehende Begriffe haben wir nicht. Der Begriff der Geschwindigkeit
hat nur Sinn, wenn er in die Begriffe von Raum und Zeit gestellt
wird. Der Begriff der Materie hat außerhalb eines Sy stems keinen
Sinn. Der Begriff des Menschen ist sinnlos ohne System. Der Begriff
des Menschen hat einen Sinn in der Naturwissenschaft, im Recht, in
der Soziologie, der Ethik usw. In ästhetischer Sicht wird der Mensch
eine Linie.
Das System ist ein Gesichtspunkt der Welt gegenüber. Eine Be-
deutung kann dem Begriff nur das System geben, darum denkt auch
der primitivste Mensch in einem System, weil seine Gedanken
irgendwie zusammenhängen und jeder Mensch irgendein einheitli-
ches Bild von der Welt hat. Das System bedeutet die Homogenität
des Denkens überhaupt. Das Denken der Griechen ist ein diskursi ves
Denken, das der Hindu ist der Zusammenhang der Visionen. Auch
jede Kunst ist ein System, weil die ganze Welt darin enthalten ist,
und weil alles, was darin Platz findet, bestimmt ist. Die Dinge sind

187
auch in der Kunst eng verknüpft, nur nicht durch logische Ver -
bindung.

2.

Es gibt Gesetze, die zur inneren Konstruktion der betreffenden


Kunst gehören. Die allgemeinen ästhetischen Gesetze dürfen nicht zu
eng bestimmt werden, die Verallgemeinerung in der Ästhetik sollte
nicht übereilt geschehen. In der Freidenker-Epoche hat die Ästhetik
sich selbst verleugnet. Die Gesetze der Ästhetik sind Erkenntnisse
über die Struktur der Kunst, Umgrenzungen dessen, was noch zur
Kunst gerechnet werden darf.
Es herrscht eine Art Gesetzmäßigkeit auch im Abweichen der
Stile voneinander. In der Ästhetik droht die Gefahr, daß man die
Kunst, wenn man sie in ein wissenschaftliches System bringt, unter -
drücken will. Jedes Bild von der Welt ist ein System, so auch das
Kunstwerk. Jedes Moment hat seinen Platz, eine Kunst rechtfertigt
die andere und ist etwas völlig Abgeschlossenes und Ganzes. Auch
in der Kunst herrscht Homogenität.

Wie sieht das im Kunstwerk erscheinende System aus? Im


Kunstwerk folgt ein Ding aus dem anderen nach ganz anderer Ge -
setzmäßigkeit als in der Wissenschaft. In der Wissenschaft hängen
die Dinge rational zusammen, in der Kunst ist diese Folgerichtigkeit
eine ganz, andere. In der Wissenschaft geht es um Begriffe, in der
Kunst um Visionen. Der Begriff ist eine Abstraktion, in der An-
schauung geht es um das unmittelbare Erleben. In der Kunst treten
die erscheinenden Gegenstände in existentieller Realität auf. Die
Kunst ist also ein System von Anschauungen, das stimmt aber ei -
gentlich nicht, weil dadurch, daß mehrere Anschauungen in Zu-
sammenhang gebracht werden, diese ihre Frische verlieren. Die ein -
zige Anschauung, die die ganze Welt ausdrückt, ist das Kunstwerk
(van Gogh). Sogar die kompliziertesten Kompositionen bestehen aus
einer Anschauung (Barock, Rubens' Löwenjagd). Die Anschauung ist
nicht nur visuell, sondern umfaßt alles, was wir als sinnlich
empfinden. (Auch die Odyssee ist eine einzige Vision.) Es gibt
Zusammenhänge, die kein äußerer Rahmen sind, und in denen die

188
mit den gleichen Namen genannten Dinge in den verschiedenen
Systemen auch nicht dieselben sind. Die Systeme machen es mög-
lich, daß wir die Welt in gewissen Gegenständen sehen.
Gegenstand ist alles, worüber man sprechen kann (Auge, Güte).
Die verschiedenen Gegenstände entstehen aus Nicht-Gegenständen.
Wir müssen also etwas setzen, was noch nicht Gegenstand gewor den
ist, ein Gegenstand entsteht. Die Zusammenhänge sind in Raum und
Zeit gesetzt. Die Einheit des Gegenstandes ist die Kategorie, in
welche die Empfindung systematisiert und in Zusammen hang
gebracht wird. Inhärenz heißt, die Dinge in ein solches Verhältnis zu
bringen wie die Substanz und ihre Qualitäten. Zwei auf-
einanderfolgende Dinge werden als Ursache und Wirkung in Zu -
sammenhang gebracht. Gegenstandsbildung bedeutet, zwischen
Empfindungen einen Zusammenhang zustande zu bringen und den
rein subjektiven Empfindungen gewisse Objektivität zu geben. Die
Formen verschließen die Möglichkeit, die Dinge rein so sehen
zu können, wie sie sind.
Es gibt Dinge, die keine Gegenstände sind, weil sie dadurch,
daß wir über sie sprechen und unsere eigene Auffassung über sie
mitteilen, aufhören, Gegenstände zu sein. Die Formen, in welche wir
unsere Empfindungen hineinstellen, sind verschiedenen Typs, und je -
des System hat andere Arten von Kategorien. Die theoretische
Weltanschauung, Ethik, Ästhetik - in alledem kommen verschie dene
Gegenstände vor. Die menschliche Gestalt bleibt in jedweder
räumlichen Einstellung ein physischer Gegenstand, aber damit sie ein
ästhetischer Gegenstand werden kann, ist eine bestimmte Einstellung
nötig.

3.

In der Kategorie der Substanz stellen wir einen Gegenstand aus


gewissen Qualitäten zusammen. Die Kausalität: In der Kategorie der
Kausalität bringen wir die aufeinanderfolgenden Empfindungen so in
Zusammenhang, daß wir einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang
zwischen ihnen schaffen. Die Gegenstände werden in uns produziert.
Es ist die Lehre Kants, daß es nicht die Dinge sind, die unser Denken
produzieren, sondern daß die Dinge von uns produziert werden.

189
Verschiedene Gegenstandsbildungen sind möglich und sie haben
verschiedene Sphären. Die Konstruktion der physischen Wirklichkeit
ist anders als die Gegenstandsbildung, mit welcher wir unsere
ästhetische Welt gestalten.
Daß der Maler eine Figur fixiert, ist eine ästhetische Tatsache,
doch sieht der Künstler nicht den Körper, den z.B. ein Biologe sieht.
Das Bild des Alltagsmenschen vom Menschen ist ein Komplex, für
ihn ist der Mensch ein zusammengesetzter Gegenstand. Die
Menschen sehen die Dinge in der Erlebniswirklichkeit in Kom-
plexen, die aus den homogenen, einlinigen, eindeutigen Bildern zu-
sammengesetzt sind. Der Mensch, von welchem der Jurist spricht, ist
nicht derselbe, welcher lebt und ißt. Juristisch ist einer, der mor det,
ein Mörder, ethisch kann er von außerordentlicher menschlicher
Größe sein.
Ein Gegenstand kann verschiedene Bedeutungen annehmen. Die
ästhetische Gegenstandsbildung ist ein ganz neuer, von allen anderen
verschiedener Blick auf die Dinge. Von Aristoteles bis Kant war die
Hauptthese der Ästhetik die Reproduktionstheorie, wonach die
Kunst die Natur kopiere; diese These ist heute nicht mehr
stichhaltig.
Die ästhetische Gegenstandsbildung ist eine ganz besondere Ge-
staltung der Dinge, kann also keine Nachbildung der Naturgestal tung
sein. Nur die sinnliche Materie ist in den verschiedenen Gegen-
standsbildungen dieselbe. Die Kunst ist keine Kopie der Natur, und
darum ist ein absoluter Naturalismus auch nicht möglich. Die Kunst
gibt vor allem dem einen Rahmen, was sie aus der Natur her -
ausnimmt, in der Natur haben aber die Dinge eine Fortsetzung. Sogar
der naturalistische Schriftsteller wird die Ereignisse in einen
Komplex hineinstellen.
Schon die Darstellung selbst macht einen absoluten Naturalis-
mus unmöglich. Möglich ist nur ein relativer Naturalismus. Eine
künstlerische Wirkung ist nur dann ästhetisch, wenn sie auf den
Menschen eine gewisse beruhigende Wirkung ausübt. Wenn in die
ästhetische Weltanschauung etwas aus der naturwissenschaftlichen
hineingebracht wird, tritt im Werk eine störende Zweiheit auf. Dar -
um ist der übertriebene Naturalismus schlecht. Schreibt man ein
Märchen, dann ist man aus der Wirklichkeit herausgetreten, hier darf

190
also die Forderung der Wirklichkeit nicht gestellt werden. Was in der
Kunst wirklichkeitsgetreu ist, hat einen immanenten Maßstab. Die
Wahrhaftigkeit der Dinge behaupte ich nicht von außen her, sondern
habe dafür einen inneren Maßstab.
In der Renaissance genoß die Aristotelische Ästhetik großes
Ansehen, und die Aristotelische Reproduktionstheorie wurde sogar
im französischen Klassizismus übernommen (Boileau). Die
definitiven Nachahmungstheorien müssen anders beurteilt werden als
die Aussagen der Künstler über die Nachahmung der Natur, weil sie
die Dinge schon mit ästhetischen Augen sehen. Es ist wichtig, was
Platon in der Politeia über die Kunst sagt. Er sagt, daß die Kunst
schlecht sei, er mißt ihr eine gewisse Immoralität bei. Er weist darauf
hin, daß die Kunst eine diabolische Sache sei, weil sie die Wirk -
lichkeit entstellt und vom Wesen der Wirklichkeit nichts wissen
möchte. Platon war also als Philosoph gezwungen, in der Kunst et-
was Diabolisches zu finden.
In der Kunst werden nicht die Erfahrungsdinge dargestellt, wes-
halb es also unrichtig ist, die Kunst in die Erfahrungssphäre einzu -
reihen. In der Komposition eines Bildes kann etwas einem Ding nahe
stehen, obwohl es ihm physisch gar nicht nahe ist. In der Kunst
kommen andere Einheiten zustande als in der
naturwissenschaftlichen Weltanschauung. So kann es vorkommen,
daß der ästhetische Gegenstand dem empirischen nicht entspricht,
und darum kann z.B. sogar ein Torso zum ästhetischen Gegenstand
werden. Es gibt Kunstwerke, die in ihrer Torso-Gestalt schöner sind,
als sie es in ihrer vollständigen Gestalt waren, weil die Statue eine
gewisse Tektonik hat, die von zu vielen aus der vollständigen Form
austretenden Elementen gestört werden kann.

4.

Zwischen dem ästhetischen und wissenschaftlichen Verhalten


kann gar kein Zusammenhang hergestellt werden. Im Werk selbst
kommt eine Realität zustande, worin auch weniger reale Dinge
vorkommen können. Diese Irrealitäten werden aber nicht am Leben
gemessen, sondern immanent am Werk. (Im Märchen verlasse ich
z.B. die Realität völlig, weswegen darin auch alles vorkommen

191
kann.) Wenn in der Ästhetik über andersartige Gegenstände
gesprochen wird, dann bringen wir unsere Empfindungen auch in
andersartige Formen, wenn wir die Welt aus ästhetischer Sicht
betrachten. Die Empfindungen sind für alle Systematisierungen
gleich gegeben. Die Empfindungen werden aber in Zusammenhang
gebracht, und damit, daß wir einen Zusammenhang zwischen den
Empfindungen schaffen, wird auch darüber entschieden, was für ein
Gegenstand gestaltet wird.
Welche sind die Zusammenhänge der ästhetischen
Weltanschauung? Die Zusammenhänge der empirischen
Weltanschauung sind die kausalen Zusammenhänge. Auf die Frage,
welches die Kategorien der ästhetischen Weltanschauung seien,
versuchte Kant eine Antwort zu geben. Er hat nur negative
Kategorien aufgestellt. Er sagte, daß wir die Dinge durch das
Geschmacksurteil ästhetisch sehen. (Die Rose ist schön.) Welche
sind nun die Kategorien des Geschmacksurteils? Nach Kant hat das
Geschmacksurteil keine Begriffe, und das ästhetische Urteil sei
immer kontemplativ. Die ästhetische Anschauung ist nicht abstrakt,
sondern unmittelbar und tenetisch. In ästhetischer Hinsicht ist der
Mensch anschauend. In der Ästhetik geht es um individuelle
Gegenstände. Bei Kant wird das so illustriert: Wenn ich z.B. sage,
die Rose ist schön, ist das ein ästhetisches Urteil, wenn ich aber sage,
die Rosen sind schön, ist das ein logisches Urteil. Wenn ich sage, die
Rose ist schön, dann ist die Rose unmittelbar gegeben, wenn ich aber
sage, die Rosen sind schön, ist das nur eine logische Behauptung, aus
meinen einzelnen
ästhetischen Erlebnissen abgeleitet. Kant sagt also, während die
ästhetischen Urteile singulär sind, sind die logischen Urteile plural.
Ein ästhetisches Erlebnis kann ich nur vor einem gewissen Werk
stehend haben. Immer nur ein Mensch kann zum ästhetischen Ge-
genstand werden, der Mensch „an sich" kann kein ästhetischer Ge -
genstand sein.
Eine andere wichtige Kantische Behauptung ist, daß das Ge-
schmacksurteil interesselos ist. Das ästhetische Verhalten ist näm lich
unabhängig von meinem moralischen Verhalten. Das ethische
Verhalten folgt immer einem Interesse, sei dieses auch allgemein.
Vom Interesse her vergleicht Kant das Angenehme mit dem Schönen.

192
Das Schöne und das Angenehme sind ähnlich, weil beide gefal len.
Während aber das Gefallen des Angenehmen mit dem Interesse
verknüpft ist, ist das Gefallen des Schönen interesselos. (Ein vorge-
stellter Duft ist an sich nicht angenehm, während ein vorgestelltes
Bild ebenso auf mich wirkt wie das vor mir befindliche, hier ist also
zum Gefallen eine physische Verwirklichung nicht nötig.)
Die ästhetischen Gegenstände brauchen in der physischen Welt
nicht verwirklicht zu werden. Das bedeutet andererseits, daß die
ästhetische Welt eine in sich bestehende Welt ist. Der ästhetische
Gegenstand hat mit der Realität nichts zu tun. Das Angenehme än-
dert sich mit den Einzelnen. Im Bereich des ästhetischen Gefallens
gibt es diese individuelle Verschiedenheit nicht. Auch hier gibt es
Verschiedenheiten im Gefallen, diese sind aber nicht berechtigt. An
das ästhetische Urteil kann eine Forderung gestellt werden, bei den
angenehmen Dingen ist dies aber nicht statthaft. Das ästhetische
Gefallen ist ein metasubjektives Gefallen und hat einen „Erforde -
rungscharakter". Wir erfahren nur Empfindungen, die nicht wie
gewisse Realitäten gegeben sind. Die Verstandesformen, in welchen
die Empfindungen zu einem Sinn gelangen, sind die Kategorien, die
Empfindungen sind in sich immer identisch. Die Kategorien sind
immer anderer Art. Unter Geschmacksurteil versteht Kant nichts
anderes als die Kategorie der ästhetischen Gegenstände. (Wenn ich
sage, die Rosen sind schön, dann ist das kein Erlebnis, sondern eine
Behauptung, hier ziehe ich eine Folgerung.)
Ästhetisches Verhalten kann es nur gegenüber einer Sache
geben Wollen wir das ästhetische Verhalten an sich betrachten, kön-
nen wir immer nur das Verhalten des naiven Genießers als Grundlage
Bei den Behauptungen des Ästhetikers muß man sich v or den
logischen Behauptungen fürchten. Es ist die Gefahr für die Ästhetik,
daß aus den stets individuellen Anschauungen Begriffe werden, daß
der Ästhetiker zwischen den Werken Verwandtschaften zustande
bringt, die in den Werken objektiv nicht bestehen (z.B. zerstört
sozusagen die Weltanschauung des „Nathan des Wei sen" die
Sophoklessche Weltanschauung).
Wenn es in der Ästhetik nur individuelle Gegenstände gäbe,
dann wäre die Ästhetik nichts anderes als die Bewertung der einzel -
nen Werke. Es muß ein ganz einfacher Zusammenhang in den
ästhetischen Gegenständen gesucht werden, nach welchem sie ir-

193
gendwie doch zusammenhängen. Gibt es keine Kategorien, die ei-
ner von der empirischen Welt verschiedenen, anderen Art, den Din -
gen gegenüberzustehen, vorausgingen? Die physische Verwirkli -
chung ist das gewisse Interesse, an das sich die anderen Dinge
knüpfen und das in den Kategorien der Ästhetik fehlt.

Die bisherigen Behauptungen beziehen sich auf das Ganze der


ästhetischen Sphäre. Es gibt in der ästhetischen Sphäre ein Niveau,
auf dem sich alle Künste treffen. Es gibt ästhetische Kategorien, die
- von welchem Kunstwerk auch immer die Rede ist - gleich gültig
sind. Wie wird die ästhetische Sphäre auf die Künste verteilt? Fied -
ler sagt: „Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künste". Der Begriff
„Kunst" ist eine Verallgemeinerung und eine logische Abstraktion,
weil wir nur einzelnen Künsten begegnen. Innerhalb der Sphäre der
Kunst ist eine Verallgemeinerung nicht erlaubt. Mit dieser These
knüpft Fiedler bei Kant an. Fiedler hat nicht völlig recht, weil die
Dinge eine Gültigkeitsebene haben. Zuerst ist in uns die künstleri -
sche Attitüde gegeben, und danach kommen die Kunstwerke.
Zur Kunst kann man auch mittels der Systematisierung der
verschiedenen Verhalten gelangen. Eigentlich begegnet man den
einzelnen Künsten nicht. Malerei ist selbst nicht gegeben. Georg
Lukács sagt, alles sei eine logische Verallgemeinerung, was
jenseits des einzelnen Kunstwerkes liege. Sobald nicht mehr das
einzelne Kunstwerk selbst gegeben ist, muß eine logische
Abstraktion geschehen. Die Naturschönheit ist nichts anderes als
die Anwendung der künstlerischen Schönheit auf die Natur. Man
wendet die aus der Kunst gewonnenen Kategorien auf die Natur an,
deshalb kann die Naturschönheit kein spezifisches ästhetisches
Problem sein. Der Künstler sieht in die Natur immer das hinein,
was er mit ihr machen will. Er hat in die Natur schon die Prinzipien
der Kunst hineingebracht.
Die Frage ist nun, wie die einzelnen Künste sich aufteilen.
Nach welchem Prinzip geschieht die Trennung? Das ist das
Problem des Laokoon. Das Problem war zu Lessings Zeit nicht
völlig neu, weil es in der französischen und englischen Ästhetik des
15. Jahrhunderts schon mehrmals aufgeworfen worden war.

194
Lessings Haupt-problem ist, wie die bildenden Künste und die
Dichtung einander gegenüberstehen. Diese Frage hat übrigens auch
D'Alembert schon aufgeworfen. Vor dem 18. Jahrhundert hat man
dieses Problem so gelöst, daß eine Kunstgattung auf die andere
reduziert wurde. Les-sings Erörterung geht von der Laokoon-
Gruppe aus, weil sie zu seiner Zeit die Repräsentantin des
klassischen griechischen Kunstwerkes war. Laokoons Situation
wurde auch von Vergil im 11. Gesang der Äneis dargestellt.
Während Vergil den Gesamtablauf des Ereignisses beschreibt, ist in
der Laokoon-Skulptur nur ein Augenblick dargestellt. Die antiken
Helden haben auch geweint, Laokoon weint aber darum nicht, weil
der Bildhauer um „Schönheit" bemüht ist. Lessing war nämlich der
Meinung, daß die Schörnheit nur in der Skulptur wirklich erscheint.
In der Kunst hat vieles ästhetischen Wert. was nicht schön ist (z.B.
der naturalistische Roman). Würde der Held der Laokoon-Skulptur
schreien, würde dies sein Gesicht verzerren, darum hat ihn de!
Bildhauer Nicht so, darg e stellt. . Lessing sagt, der Bildhauer habe
nur einen einzigen Augenblick dargestellt, und dieser eine
Augenblick dürfe die Erregung des Helden nicht auf ihrem
Höhepunkt zeigen. Der in der Kunst gezeigte Augenblick muß
fruchtbar sein, das Vorangegangene und Darauffolgende immanent
in sich enthalten. Beschreibt der Künstler eine Leidenschaft auf
ihrem Höhepunkt, kann das keine Fortsetzung also kein
„fruchtbarer Augenblick" sein. Das allegorische Gemälde ist nichts
anderes als ein gemaltes Gedicht.
Das Gebiet der bildenden Künste ist der Raum, das der
Dichturig ist die Zeit. Der Gegenstand der bildenden Künste ist die
Sichtbarkeit der Körper, die Gegenstände der Dichtung sind die
Handlungen. Die bildende Kunst kann die Handlungen nur mit
Körpern vorstellen. Eine gute dichterische Beschreibung muß Lehn
malerisches Bild geben. Es kann etwas für den Dichter sehr
malerisch sein und für den Maler nicht, und umgekehrt. Da die
^,littet
Malerei räumlich sind kann das Bild mit ihnen nur räumliche
Dinge ausdrücken. Die Körper sind aber nicht nur räumlich,
sondern auch zeitlich. Dic Körper können in jedem Augenblick
ihres Inhal-es in eine andere Beziehung treten, in jedem Augenblick
ist ein zurückblicken und ein Vorausblicken ihres Inhaltes möglich.

195
Jeder einzelne Körper steht in einem Handlungsprozeß. Der Maler
stellt etwas Nicht-Malerisches so dar, daß er es in seine eigene
Sprache überträgt. Der Dichter verfährt ebenso. In der Dichtung gibt
es eine musikalische Färbung der Dinge, die in der Malerei nicht
wiedergegeben werden kann. Der Dichter bietet eine ganze Reihe
von Bildern.

196
GEORG LUKÁCS: NOTIZEN ZUM GEPLANTEN
DOSTOJEWSKI - BUCH
Geschichtsphilosophie der 2-ten Ethik: Vergleich von Dante und
Cervantes mit D. Die 2-te Ethik hat keine engeren Inhalte (Zusam -
menhang mit Griechentum, Hierarchie und adäquatem System).
Alles muß zerschlagen werden - wegen der Möglichkeit des Luci -
ferisch-Jehovaischen. Darum erst heute neuer Inhalt (Im Buch:
Atheismus-Kapitel vor der 2-te Ethik / . . . /) (88) Tolstoj. Kampf
gegen Christentum: gegen Transcendenz. Tod soll immanent
werden, wie in der Natur. Darum das Naturnahe als Ideal
(unchristlich) (26) Ob T's Immanenz nicht eine Selbstaufhebung
dieses Begriffes ist? Glück und Seligkeit sollen zusammenfallen.
Das Hindernis (das Unerlöste) muß in die Kultur projiciert werden
(da jede immanente Ethik eine Naturphilosophie ist: T. betrachtet
den Muschik naturphilosophisch; die Apokalyptiker die Natur
geschichtsphilosophisch-transcendierend). So muß die - irdische -
Erlösungslehre T's selbstmörderisch sein: a) sie ist Ästhetik - und
hebt die Kunst auf, b) (wichtiger) sie sieht das Transcendierende
(zur - von Glück getrennte - Seligkeit Intendierende) der Kultur
nicht: verabsolutiert die Kultur - und schafft (aus Sehnsucht nach
Glück) eine tiefe Askese / . . . / immer die Tendenz, dieses Leben,
so wie es ist, zur Vollendung zu bringen. Der Mittler: fast nur
Symbol der Transcendenz. Wenn auch das „Wandeln, die
Annäherung" etc. /.../ gesetzt wird - so ist das doch Immanenz; wie
bei dem Eros. (26)


Ausschnitte von den Aufzeichnungen aus den Jahren 1914- 1917, die als Bestandteile des
„Heidelberger Koffers" mit anderen Dokumenten der Lukács'schen Jugend periode von 1917
bis 1973 in einer Heidelberger Bank deponiert waren. Sie wurden zuerst von den Lukács-
Schülern Agnes Heller und Ferenc Fehér rekonstruiert und mit der - in Klammern nach den
einzelnen Abschnitten angegebenen - Nummerie rung versehen. Teilweise veröffentlicht in
ungarischer Übersetzung unter dem Titel „Etikai töredékek 1914- 17-ből" (Ethische
Fragmente von 1914-17) in: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér
Erzsébet, Budapest 1980, S. 1 15 -- 129.
Eine vollständige Ausgabe in der Reihe des Lukács Archivs „Aus dem Nachlaß von Georg
Lukács" ist in Vorbereitung: Georg Lukács: Dostojewski. Notizen und Entwürfe, Hrsg. v. J.C.
Nyíri, Budapest 1985.

197
Tolstoj und D: Beziehung zur Idee. D: Idee als Realität, als Funda-
ment der Realität. T: Unwichtigkeit der Ideen (der menschlich-kul-
turellen) in Beziehung zur Natur (zum Psychologischen) /. . ./

Tolstoj und D. (ad objektiver Geist und 2-te Ethik):

Hinrichtung. D. interessiert, was mit dem Hingerichteten geschieht -


wie seine Seele befruchtet wird; T. das Maschinelle, Vergewalti-
gende (das Böse), die die Hinrichtenden zur Untat treibt. (28)

Russische Schuld: ein jeder von uns ist schuldig für alle und alles auf
der Welt, das ist unanfechtbar - und nicht nur durch die allgemeine
Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Menschen auf dieser
Erde. Diese Erkenntnis ist die Krone des Lebens.

Ausweg aus der Sünde. „Mache dich .selbst für die Sünden der Men-
schen verantwortlich." (646 ff.)
Iwan über Nächstenliebe (470): das russische Problem: das Sich-
selbstabfinden der Seele ist das Finden des Anderen. Iwan / ... / der
es nicht hat (nicht an Gott glaubt) ist keine Russe (als Wertbegriff)
Isolierung als notwendige Periode (Vielleicht: Fichtes „vollendete
Sündhaftigkeit". Auch Jüdisch. Frankianer: der Messias kann nur bei
vollendeter Ketzerei kommen /.../ Es ist die Zeit D's /...i (611)
(8)

Auch für die Tiere ist Christus gekommen (Sossima 594) (12)

198
Iwan (Der Teufel) Oh viel würdest du darum geben, wenn du w ü13-
test, wozu du gehst! (1349) Ad Realität: Das letzte Schwanken des
Iwan-Typus ist: zwischen Sein und Nichtsein Gottes (sie sind Athei -
sten, die an Gott glauben/vielleicht ist Kiriloff eine Ausnahme/),
darum als Konsequenz des Nichtsein Gottes: nicht neue Moral, son -
dern: alles ist erlaubt (und müssen scheitern). Es müssen - andeu -
tungsweise - der neue, schweigende, unserer Hilfe bedürftige Gott
und seine Gläubigen (Kaljajeff), die sich auch für Atheisten halten,
geschildert werden - (Ob es nicht drei Schichten des Atheismus gibt:
1)Niels Lyhne, 2) Iwan Karamasoff, 3) Kaljajelff?) (10)

Erbsünde. Beziehung zu Jehova und Lucifer. Wir haben nicht vom


Baume der Erkenntnis gegessen. Wir müssen handeln als ob wir alles
kennen würden - und wissen nichts. /. . . / Aljoscha vergißt Dimitri
als der Staretz stirbt. (687) Was kennt also der Gute? Und Fürst
Myschkins Verhältnis zu Aglaja gehört hierher. Und doch muß dies
sowohl von seiner Blindheit wie von dem napoleonischen
Beherrschen des Lebens genau getrennt werden. (11)
Zweite Ethik als Wirklichkeit: bei D. als Leben (lebendiges Leben).
Bei Telstoj als Gefühl, Bolkonski bei Austerlitz, Ljewin, Nikolai
Rostow nach dem Kartenverlust (11 95) Darum aber a) vorüberge -
hend, b) bloß als Glück (Rückgang zur Natur - statt Überwinden der
Kultur). - In der deutschen Romantik als Gedanke: Ironie. Frivolität
darin. Hegels Scharfsinn, daß sie der Gipfelpunkt des Subjektivismus
ist, und sein Recht in der Polemik gegen sie /.../ Beziehung zum
Christentum (Gebet dem Kaiser - Kierkegaards Konservatismus).
Von der zweiten Ethik aus ist der Staat a) nichtseiend-böse (Indien -
Tolstoj), b) das sacrificio del' anima (Revolution), c) überwundene
aber seiende Wirklichkeit (wie für 1 te Ethik Natur - biologisch)./.../
(13) Die Tragik der Helden D's ist, daß zwischen Idee und Leben
doch keine praestabilisierte Harmonie ist. Entweder versagt die
Seele, oder versagt die Beziehung des Menschen zu den
Differencieren! (Beziehung zu Schiller u. Ibsen)
(186)

Gottesreich ist in euch. Die Seelensubstanz (zweite Ethik) der Welt


D's bedingt, daß der Zustand der Erlöstheit als Lebensproblem ge-
geben ist; in jeder anderen Dichtung sucht man die eigene Seele -
darum ist die empirische Welt unaufhebbar da. Bei D. ist diese nur
wie durch einen Schleier sichtbar: seine Welt ist das Chaos des ethi -

199
schen Solipsismus. Darum: Sehnsucht nach einen allgemeinen Ver-
zeihen (denn dann wäre der Solipsismus auch überwunden): man
erlebt: nur ein Schritt, nur eine Bewegung - und der Schleier fällt ;
und weil dies unmöglich ist, haßt man entweder den anderen, oder
sich, je nach dem man die Ursache empfindet. Sehr stark Hyppolit
(11 127). Als positive Weltanschauung: der verstorbene Bruder Sta -
retz Sossimas (99) Unüberwindbarkeit der sinnlosen Natur.
Christus a) als Natur (Holbein Kreuzabnahme, Idiot 11 155 ff.) b) als
Kultur: der Großinquisitor /... /
(100)
Erbsünde /. . . / was bleibt, wenn Myschkin und Aljoscha versagen?
Der Mönch und der (indische) Weise sind nicht unsere Lebensformen
- der Staretz schickt Aljoscha ins Leben. Und doch: gute Tat
(Hyppolit II 147 ff.) Jüdische Engelmythe
(100)

ATHEISMUS UND NIHILISMUS

Es gibt nur russische Atheisten, weil Gottesprobleme als Volkspro-


blem (moralisches und sociales) nur dort gibt. /... / (185)

Es gibt keinen europäischen Atheismus, nur einen russischen (und


einen Buddhistischen). Kleinheit Nietzsches in diesem Zusammen-
hang. Man müßte hier mittelalterlich argumentieren und die athe -
istischen Argumente ontologisch, physiko-teleologisch und mora-
lisch gruppieren. Wie überhaupt das ganze Problem des Atheismus
auf das Problem des Realismus centrieren (wieder mittelalterlich:
Realismus = Begriffsrealismus). Da es einen wirklichen Nominalis-
mus erst im XIX. Jahrhundert gibt (die Bedeutung Feuerbachs für
Rußland), ist der Zeitpunkt gegeben: für Westeuropa wird der
Atheismus aber nur als persönlich (egoistisch) moralisches Problem
bewußt (Niels Lyhne): es kann nur der atheistische Heldenbegriff
entstehen (den in Rußland Bazaroff repräsentiert).

200
Der ist aber ein tragisch-dramatischer Typus und führt zur Linie
Hebbel - Ibsen - Paul Ernst: wie kann man ohne Gott sterben?
(Nietzsche ist hier eine - Hebbel-Hegelsche Nebenlinie mit seinem
Übermenschen). D. fragt: wie kann man so leben? (Iwan, Aljoscha).
Oder was geschieht (kosmisch und nicht menschlich) (39)

Nihilismus: Unterschied zwischen D. und den anderen: daß N. nicht


Überzeugung sondern Erlebnis ist; darum - bis zur physischen
Veränderung Kiriloffs. Bei D. ist Gott tot - bei den anderen: ein
Irrtum aufgeklärt. Darum ist durch den Atheismus bloß bei D. etwas
geschehen. (Bazaroff, Niels Lyhne: sind wie jeder andere - nur
glauben nicht an Gott) /... / (40)

Das russische Schicksal: nicht wissen, was man tun soll (Werdender
1155) Beziehung zur 1-ten Ethik (wo alles geregelt ist). Unmöglich
keit der Rückkehr, wenn einmal verlassen. (48)

OBJEKTIVER GEIST

Ad objektiver Geist/Il/ Abneigung gegen den Socialismus und das


zukünftige (also abstrakte und nicht erlebbare) Glück aller. Das
persönliche Gutes-tun. Raskolnikoff (1446 Die ganze Beziehung zu
Marmeladoff/.../) Hier knüpft sich aber die wirkliche Dialektik an:
die eigene Seele muß geopfert werden (Raskolnikoff opfert nur
„alles" an Marmeladoffs 1338) Tolstojs Lehre vom „Reinbleiben",
Judith, Erbsünde, Christus und Judas: das alles hat aber die Realität
des objektiven Geistes (des jehovaischen Schlachtfeldes) zur
Voraussetzung (61)

Vergöttlichung des Bestehenden (Hegel) ist Aufstand gegen Gott


(Einübung 75 -76) Nominalismus des o. Geistes gegenüber (79)(60)

201
Ad objektiver Geist/1V/ Jeder Panlogist übersieht den Übergang von
formaler zur transcendentalen Logik. Dies hat zur Konse quenz, daß
er die Struktur der Sphären (immanenten Logizität/Notwendigkeit/
bei intelligibler Zufälligkeit) und deren metaphysische Folge (den
immanenten und transcendentalen Character der Gegebenheit -
darum paradoxe Beziehung zur Metaphysik selbst) übersieht. So
wird für diese der Staat (Recht, 1-te Ethik) entweder zum absoluten
Geist (deutsche Philosophie) oder zum Nichts (Indien). Dichterisch
für das erste Goethe, für das zweite Tolstoj (nur daß für T. einiges
aus dem Bereiche des objektiven Geistes /Ehe/ zur Natur wird) - Die
Möglichkeit der Erkenntnis der wahren Struktur des objektiven
Geistes muß geschichtsphilosophisch gemacht werden; hier liegt die
Bedeutung von Marx. (59)

Ad objektiver Geist /V/ Es gibt ein Dilemma der Substanzialität:


Seele oder Staat (objektiver Geist) (Entsprechende Gottesbegriffe
ausbilden!)

Hegel sieht die Substanzialität /und Sittlichkeit/ des Staates voraus:


„Es soll denn diese Abhandlung ... nichts anderes seyn, als der
Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und
darzustellen". (VIII.18)

Tolstojs Stellung zum objektiven Geist

a) Negativität des Glückes (Pierre IV 152-8)


b) Nichtigkeit der Worte - artistische Konsequenzen
c) Wesenserlebnis A) im Tode
B) in der Liebe

202
Darum: alles polemisch gestaltet. Platon Karatajew und der alte
Kosak als Episoden. Die erreichte Seele ist für T. ein Ende / Pierre
IV.242- 3 Erlebnis immer: Glück/ (oder Harmonie), es ist hier keine
Handlung mehr möglich: nur in dem Kampf mit den Mächten, die die
verdecken; erste Ethik: uneigentliche Wirkung.
(58)

Objektiver Geist /X/ Anerkennung des Jehovaischen


4 Möglichkeiten:

1) absolute Indifferenz (Orient)

2) Kritik - und Acceptierung - um Gottes Willen (unklar!):

Cristentum
3) Hegel: Das Wirkliche ist der Vernünftige

4) Credo quia absurdum: es ist positiv, wirklich - weil es


unver- nünftig ist. Historismus (Marx: Hegelkritik 1 268 ff.)
Prinzip: „die Niederträchtigkeit von Heute durch die
Niederträchtigkeit von gestern legitimieren" (Hegelkritik
1386) /... / (53)

Ad objektiver Geist /XI/ Russischer Begriff des Verbrechens


a) Verbrecher = Unglücklicher. b) Der Gesetzgeber als Verbrecher:
jedes vergossene Blut als Verbrechen (Raskolnikoff 1 422) Das ist
eine Aufhebung des objektiven Geistes: Linie Tolstoj. D's Versuche
umzudenken: Verbrechen als metaphysisch Daseiendes und eine
Evidenz im Gewissen (nur der Atheismus trübt dies: die unmögli -
chen Verbrechen Myschkins 1129) Dadurch wird ein Teil des objek -
tiven Geistes absoluter Geist - und ein Teil verschwimmt in We -

203
senslosigkeit (so wie bei Tolstoj Ehe etc. zur Natur wird)
(64)

Ad objektiver Geist Right or wrong, my country: historischer Begriff


des Heldentums: nicht das Ziel ist wichtig, sondern mein Verhalten.
Noch stärker im Vasallen: Mißbilligen und dennoch Solidarität.
(63)

Notanda /VII/ Die Kant-Fichtesche Ethik ist ihrer logischen Struktur


nach mit dem ontologischen Gottesbeweis zu ver gleichen - und
beiden ihr logisches Recht (beziehungsweise) Unrecht zuzuweisen.
(37)
REVOLUTION

Ad Revolution /I/

Revolution (Terrorismus) ist niemals realpolitisch zu beurteilen

1) äußere Paradoxie: Folge soll realpolitisch sein


2) innere Paradoxie: Begründung muß realpolitisch sein (Atheis mus,
Materialismus. D. faßt den Werchowensky-Typus nicht tief genug
auf) - Am Problem der Provokation illustrieren.

Fr. Schlegel: Revolutionär als Mystiker. Ideen 94 /. . . /

Kommunismus nur als Produktionsorganisation möglich - als sol che


notwendigerweise prosaisch, wirtschaftlich, irreligiös. (Unmög-
lichkeit des Konsumkommunismus: Kautsky 224)
Gefahr des ersten: Kompromiß und Realpolitik; des zweiten: Uto-
pismus und Insichzusammenbrechen. (Französische Revolution als
Zwischenstufe.) Beziehung zur Religion: warum Konsum religiös,

204
Produktion irreligiös. (Auch: Beziehung der 2-ten Ethik auf 1-te)
(R/a)

Revolution /III/ Ropschins Problem: Kampf der 1-ten (Rosenstern,


Ippolit) und 2-ten Ethik (Bolotow, Serjoscha) Marx: Sieg der ersten:
Kampf gegen Jehovah: die Entwicklung des revolutionären
Gedankens (Zurückweichen der Substanz). Das wahre Opfer des
Revolutionärs ist also (buchstäblich): seine Seele zu opfern: aus 2 ter
Ethik nur 1-te tun. (Marx: nicht Prophet, sondern Gelehrter). Gefahr:
Pharisäismus (Realpolitik). Im anderen Fall? ethische Romantik.

Das notwendige, aber nicht gewollte Verbrechen (Bolotow und der


Kutscher 338) - Individuelles und kollektives Verbrechen (Serjoscha
Sljoskin und der Dragoner 132). Unvermeidliche Sünde (246): man
muß, aber man darf nicht

Kampf gegen Jehova: Absolute Desillusion; jede Realisierung hält


den Kampf auf, jedes Transcendieren (auf den Parakleten) hält den
Gang auf vollendete lmmanenz (Möglichkeit der wirklichen Trans-
cendenz) auf: wirkt also Iehovaisch, ist „Opium des Volkes" (Dar um
setzt Marx Seligkeit = Glück = illusorisches Glück). Programm:
Desillusion. /.../
Beziehung zwischen Terrorist und „schnellem Heldentum" (R/b)
Ethik der Revolution

1) darf ich mich selbst opfern?

2) Judith: a) wer ist Gott?


b) was ist Tat?

Sünde evident: nur dem Töten Sünde ist, darf töten

3) die Forderung des ethischen Minimums


4) Problem der Politik: ethisch transcendieren, politisch handeln
5) abstrakte Güte (Liebe zur Menschheit: Lucifer und Paraklet.
Csernischewsky über Mitleid (Masaryk II 48)

205
6) Gewalt: ewiger Friede als Ideal; aber nur ein
wünschenswerter
Zustand darf geduldet werden. Problem: hat die äußere Gestal-
tung der Welt einen ethischen Sinn.
(Tragödie von Marx als Propheten) Stellung der Ethik zum Je
hovaischen
7) Evidenz des Glaubens a) Nicht-Wissen des Doktrinairs,
b) Wissen in Credo quia absurdum (Ketzer)
8) Zurückweichen der Substanz aus dem objektiven Geist; Weg
fall der Lüge. Michajlowskij: „Gefühl der persönlichen Verant
wortlichkeit für die eigene gesellschaftliche Stellung"
(Masaryk II 172) Daraus: Revolution als Pflicht (Marxismus)
9) Es kann ohne Sünde nicht gehandelt werden (aber auch
Nicht
handeln ist Handeln = Sünde). /Stellung/ Behauptung des Je
hovaischen (gegen Tolstoj). Die „eigene" Sünde (Opfer der
Reinheit)
10) Ganz prosaisch (Bolotow als Romantiker 232)

Uns ist nicht gegeben zu wissen (133, 247, 339) (R/c)

Kritik der 1-ten Ethik/. . ./So kommen alle Kategorien des Rechts
und der 1-sten Ethik vor (Processe: Raskolnikoff, Rogoschin, Mitja -
Verlobungen -) immer handelt es sich um anderes. Daß diese
Angelegenheiten nur Gelegenheiten sind: Quelle des Humors. Die
Tragik ist, daß die Ideenwelt der 2-ten Ethik schwankend oder trü -
gerisch sein kann: Sociologie bei D. Niemals aber nur der leisteste
Versuch gemacht, aus dem gefährlichen Abenteuer der 2-ten Ethik in
die 1-ste zurückzugehen (wie z.B. bei Ibsen). D. ist kein Revolu -
tionär, er kennt kein paradis perdu. (175)

Realität: Reflexivität der Logik: Logik des Wahnsinns (Chesterton)


nur durch die Beziehung auf die Realität ist man aus dem Wahnsinn
gerettet: der Teufel als Nichts (Raskolnikoff, I.Kar.) /Teufel als
Vater der Lüge - Myschkinsche Lehre vom Bösen als Nichtseien dem/
- Auch Psychologie ähnlich konstruiert: Hellsichtigkeit als - ethische

206
- Beziehung zur Realität. Diese ist immer transcenden tallogisch
(religiös oder ethisch), immer transcendierend: weil die Seele und
Gott die einzigen Realitäten sind - beide aber nie rein erkennbar,
sondern nur durch (2-te) Ethik erreichbar und erlebbar.
(101)

RUSSLAND UND DER WESTEN

Deutschland und Rußand II. Problem: was findet die sich errei-
chende Seele als Substanz vor?
1) Indien: Die Identität mit dem atman: Verschwinden der
Individualität
2) Deutschland: die eigene Seele - in Beziehung zu Gott

3) Rußland: die eigene Seele - in der von Gott gewollten und


er-

schaffenen Gemeinschaft der anderen Seelen.

Darum: Die Tragödie Deutschlands: es gibt nur einsame Heroen


(Goethe und Luther als Kompromisse) Ausweg: Polis (Darum:
Analogie mit Griechenland - aber mit schlechtem Gewissen: man ist
der Struktur nach Luciferisch, will aber Parakletisch werden /als
Bewußtseinsprozeß freilich: man will griechisch werden, kann es
aber nicht,/) Pflicht als Versuch, das Luciferisch-Heldenhafte auf
dem Weg der Gemeinschaft (parakletisch = brüderlich) zu über-

207
winden; aber es geht entweder zu gut, - und führt ins Jehovaische
(Hegel), oder es ist eine Resignation /.../ niemals organisch, wie in
dem reinen Luciferismus der Polis. (159)

Rußland und Westeuropa 1 -2. Ethik. K.: teleologische Suspension


des Ethischen: immer als Suspension der Pflicht der Wahrhaftigkeit
(der Offenbarung, der Allgemeinheit): die zweite Ethik führt in die
Einsamkeit, Verschlossenheit. Rußland: Welt (Staat, Gesellschaft, 1-
te Ethik) Mißverständnis, Isoliertheit, 2-te Ethik (auch Verbrechen).
Durchbruch (Suspension: Stadien 206; auch „So soll das Religiöse
die Menschen endgültig trennen, statt sie zu verbinden?" Stadien
214)

Liebe: „Solidaritätsbeziehungen" (Metaphysik)

Hebbel und Starerz Sossima: Ein Wahnsinniger, der sich einbildet,


die Sünden aller Menschen seien in ihn eingezogen und nun
müsse er morden, rauben, stehlen und alle Anderen seien rein und
tugendhaft (Tgb l 392)

Oblomow und Hjalmar: O. versinkt, weil er nur das Wesen hat,


Hj. weil er nichts vom Wesen hat. Auch Komik geschichtsphiloso-
phisch: Don Quixote: Haben des Wesens (empirisch) - Niels Lyh -
ne /... /: Lieben des Wesens. Rußland: Land des Sein und des Ha -
ben. (174)

1-TE UND 2-TE ETHIK

208
Ad Gegensatzbegriff in den praktischen Sphären der Begriff der
„Vogelfreien" im Recht. Antike Verbannung. Rechtlosigkeit der
russischen Verurteilten. 1-te Ethik: Wahrhaftigkeit: Aufhebung
des Mißverständnisses. Verhältnis in den Sphären: Leben und
nicht Konstruktion (auch das Sollen ist erlebt - Kant über
Achtung). Kampf und Konflikt in der Seele zwischen Werk und
Konvention (Glück als bloße Unmittelbarkeit; so Ehe ableiten:
Treue als Tugend der 1-ten Ethik) Übergang zur 2-ten bei
Kierkegaard: teleologische Suspension der Ethik: Incognito
(Abraham, Stadien 206) wichtig für K.: sie kann geradesogut Gut
wie Böse sein (ebd.) „Dümonisch ist jede Individualität, die ohne
Mittelbestimmung (daher die Verschlossenheit gegen lalle/
andere/n/), allein durch sich selbst in einem Verhältnis zur Idee
steht. Ist die Idee Gott, so ist die Individualität religiös; ist die
Idee das Böse, so ist sie dämonisch im engeren Sinne" (207)
(82) Beziehung dieser ästhetischen (Luciferischen) Kategorien zur
ersten Ethik: vielleicht über Materialechtheit (unjakobinische)
Gesinnung (Goethe). Wo ist die Grenze zwischen 1-te Ethik und
Luciferische Ethik: Wo fängt die 1-te Ethik an metaphysisch zu
sein? (ästhetisch: wann wird der Roman zum Epos?)
Die erreichte (luciferische) Seele kennt kein Sollen (Goethe,
Schiller, der Held, der Weise) - woher kommt in diese Welt
(Wilhelm Meister) doch der Dualismus? (83)

Notanda / IV/ Gerechtigkeit


a) Begriff der Strafe (in Zusammenhang mit
Seelenwanderung):
Abbüßen - Beinwerden.

Beziehung zur Natur: causa adequat effectum (diabolische


Ge-

fahr: Valentinianische Gnosis)


b) Wie kommt das Recht in Gerechtigkeit und Strafe: Staat
als
2-te Natur (jehovaisch) (Fatum als 3-te Natur). Alle 3
Naturbe-
griffe sind statisch, ahistorisch: Bestehen, Sein, Beharren
c) Sühne (stellvertretendes Leiden) - Unschuld / ... / ist auch
hypostasierter Rechtsbegriff: Substanzialität eines sociologi schen

209
Gebildes (Familie, Staat, etc), das durch die Schuld eines
Mitgliedes getroffen hat. Ein anderer - der die Schuld nicht zu
Stande gebracht hat - leidet und hebt sie auf; / ... /Antinomie: die
Möglichkeit der Sühne (Unschuld) setzt Substanzialität des
Individuums voraus: der Sinn der Sühne setzt Substanzialität des
Gebildes voraus. (84)

2-te Ethik: Von der Contemplation (als dauerndem Zustand) hält


nicht nur die Erbsünde, sondern auch die Solidarität, die Pflicht
der Liebe ab. (127)

Leiden: immer aus Jehovaischen Motiven: darum aufhebbar /... / -


aber bei jedem tieferen Menschen: essaistisch, man leidet nicht
wegen, sondern bei Gelegenheit von etwas. Dieses Essayistische
ist die Ahnung des wahren, Messias-rufenden Leides (das in einer
ethischen Demokratie /Aufhebung der Jehovaischen „Motive"/
erst klar zu Tage wird treten können) - Auch hier: Europa und
Bußland. Einerseits: Dante - Kierkegaard; andererseits „das Leid
auf sich nehmen"; Dmitrij geht wegen des „Kindichen" nach
Sibirien.

Das Essayistische in der platonischen Liebe als Analogie (133)

Notanda /VI/ Sündenbegriff der 2-ten Ethik - Eitelkeit (Abfallen


vom Subjekt) Frivolität (Abirren von Substanz) - Gegensatzpaare
für Recht, 1-te und 2-te Ethik feststellen sowie die Art ihres
Kontrastierens mit dem Positiven. (Bei Recht: das Übertreten ist
das Positive!) (134)

Rasumichin:sich zur Wahrheit durchlügen /.../ (136)

210
Kategorien der 2-ten Ethik / ... /
Sünde Wichtigkeit der Bestimmung „vor Gott" (Maßstab und Ziel)
Aber - ist jede Sünde „vor Gott"? Oder ist Sünde nur eine
Kategorie der 2-ten Ethik und alles andere (auf diesem Niveau)
nichtseiend? (KzT 76-77) Wenn K (78) sagt, daß diese Bestimmung
auch Mord, Diebstahl etc. umfaßt, so zieht er (vielleicht) die ganze
1-te Ethik in die 2-te (Gegenstück zu Hegel) Es käme darauf an zu
zeigen, daß die - griechische - Sünde ethisch Adiaphoron ist / ... /

Glaube ist, daß sich das Selbst, indem es es selbst ist und sein will,
durchsichtig auf Gott gründet (79) Ist dies möglich? (Wichtiger: ist
dies heute möglich?) /.../

Gegensatz zur Sünde ist Glaube. Tugend als Gegensatz ist heidnisch
(138)

Gerechtigkeit kommt nicht vor. (Aglaja und Lisa bei Dostojewsky -


Hamlet bei Polonius. Bergpredigt hebt - trotz Gegenvertretung - die
Gerechtigkeit auf, um an ihre Stelle die Güte zu setzen.) Am
schroffsten Math V 38-40, auch das „Richtet nicht" VII ff hebt die
Gerechtigkeit auf. Metaphysisch hängt das ganze Schicksal der
Theodicee (und ihres Gegenstückes) davon ab, ob der Gerechtigkeit
eine substanzielle Valenz zugesprochen werden darf /... / Beweisen,
daß nicht nur die parakletische sondern auch die Luciferische 11-te
Ethik die Gerechtigkeit transcendieren muß (der Weise, der tragische
Held, amor dei intellectualis -- unerwidert!) - Hölle als notwendige
Consequenz der Gerechtigkeit (und Prosa des Purgatoriums):
Gerechtigkeit und Erbsünde: unauflösbar: jeder mußte verdammt
werden. Praedestination: Gott als Fatum (Gnade mit Ge rechtigkeit
unvereinbar). - Strafe: Vernichtung oder Leiden des Empörers/.../

(137)

211
Notanda II
Wissen des Propheten: Das Kommen des Messias - nicht aber den
Messias selbst (Johannes läßt Christus fragen, ob er der Messias sei -
und Christus antwortet: du mußt es glauben /…/ (144)

Solidaritäts-Typen
a) Orient: der andere (die anderen: auch der Feind) bist Du;
denn
ich und Du sind eine Täuschung. /…/
b) Europa: abstrakte Brüderlichkeit: Ausweg aus der Einsam-
keit.
Der andere ist mein „Mitbürger", mein „Genosse", mein
„Compatriot" (schließt Rassen- und Klassenhaß etc. nicht aus,
fordert es sogar)
c) Rußland: der andere ist mein Bruder; wenn ich mich finde,
in
dem ich mich finde, habe ich ihn gefunden. „Ein echter, ganzer
Russe werden heißt vielleicht nur ein Bruder aller Menschen
wer-
den" (Puschkin Rede 150) (145)

212
KARL MANNHEIM: DIE GRUNDPROBLEME
DER KULTURPHILOSOPHIE 

Hegel und Marx bemühten sich, das heutzutage verkündete Selbst -


bewußtsein des Proletariats bewußt zu machen. Wir werden auch die
aktuellen Dinge aus einer gewissen Perspektive interpretieren.
Was wird aus der Kultur? Die Antworten sind gegensätzlich.
„Fortschritt" ist etwas Relatives. Das illustriert auch die Geschichte -
darum präzisieren wir diesen Begriff für die Kulturphilosophie:
Fortschritt bedeutet für die Kulturphilosophie nicht nur einen ein-
seitigen Fortschritt z.B. die Entwicklung der Technik. Schon der
Rückblick der Bibel, der Baum des Wissens um Gut und Böse ist
auch Kulturphilosophie. Die Kulturphilosophie des 18. Jahrhunderts
geht von Rousseau aus. Ihr Ausgangspunkt ist die Preisschrift von
Dijon. Ihre Fortführer sind Goethe, Schiller, Tolstoi und Nietzsche.
Ihre gegenwärtige Vertreterin ist die Heidelberger Schule mit der
Zeitschrift Logos.
Was ist Kulturphilosophie?

Philosophie bedeutet die Entdeckung des Sinnes, die Kulturphi -


losophie will den Sinn der menschlichen (Kultur) entdecken. Kul-
turgeschichte existiert neben Geschichte, weil ja nicht nur das ge -
schieht, was den Stoff der Geschichte bildet. Die Ereignisse vollzie -
hen sich auch im Menschen, nicht nur an ihm. Was geschieht, be -
deutet etwas in seiner Seele. In den Geschehnissen herrscht nicht nur
das Kausalitätsprinzip, es gibt in ihnen auch unberechenbare
Momente. Diese werden von der Kulturphilosophie untersucht, und
dazu ist auch die ihr eigene Dialektik nötig. Im Leben des Menschen


Mannheim Károly: „A kulturfilozófia alapproblémái"
Übersetzt nach den Aufzeichnungen der Vorlesungen, die Karl Mannheim an der Budapester
Universität von Mai-Juni 1919 als Professor für Kulturphilosophie ge halten hat. Aufbewahrt von
Piroska Buday, Frau Siminszky, Budapest. Erstveröffentlichung.
Die Vorlesung über das Etikett mit der Auslassung einiger Beispiele leicht gekürzt.

213
kann selbst die geringfügigste Sache auch unter den außerhalb der
Kausalität stehenden Erscheinungen entscheidend sein. Der Mensch
verleiht den Dingen Bedeutung, und wenn er sich des sen bewußt
wird, wenn da zum Gegenstand seines Denkens wird, dann
philosophiert er, Die Kulturphilosophie macht die Geschehnisse
bewußt und macht sie zur Geschichte. Die Kulturphilosophie macht
die Dinge bewußt, deren Wichtigkeit daher stammt, daß sie auf die
Seele wirken.
Was bedeutet das Wort „Kultur"? Analysieren wir seine Bedeu-
tung. Die meisten Begriffe werden nur klar, wenn sie in Korrelation zu
einem anderen gestellt werden, wie Vater - Sohn, Berg - "I-al. Die
zwei Begriffe bilden nur gemeinsam ein Ganzes. Suchen wir die Teile
der Philosophie, die korrelative Teile des Begriffes „Kultur" sind. Aus
den folgenden Korrelationen gehen die wichtigsten Bedeutungen
dieses Wortes hervor: Natur und Kultur, Zivilisation und Kultur, Seele
und Kultur.

NATUR UND KULTUR

Die zwei Begriffe sind anscheinend gegensätzlich. Kultur ist ur-


sprünglich Ackerbau, Agrikultur. 1. Natur: im naturwissenschaftlichen
Sinne organische Natur. 2. Kultur: was vom Menschen gemacht
wurde, z.B. ein Stuhl. Der Gegensatz von Kultur und Natur liegt im
Wesen der beiden. Holz und Eisen sind zwei Elemente der organischen
Natur. Das Beil ist auch Holz und Eisen in anderer Sicht. Das
bezeichnet ein Kulturobjekt, sofern es einem Zweck dient (nageln).
Ein Kulturobjekt ist also das, was der Mensch gestaltet, um die
von der Natur gegebenen Stoffe in den Dienst seiner Zwecke zu
zwingen. Das ist der Ausgangspunkt des naturalistischen Denken,.
Beim Beil als Kulturobjekt z. B. ist es nicht wichtig, daß es aus Holz
oder Eisen besteht, die Hauptsache ist, wozu es dient. Der Stein in-
teressiert mich nicht als Stein, das Holz nicht als Holz, wenn ich na -
geln möchte. Ihr Sinn wird verändert, was einzeln ist, wird in Klam -
mern gesetzt, sie kommen nur als Mittel vor. Der Gesichtspunkt der
Kultur hebt die naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte auf.
Schnitzt jemand eine Skulptur aus Holz, läßt man die Saiten er-
klingen, schreibt man ein Gedicht aus seinen Gedanken und Stim -
mungen, bringt man jedesmal Gegebenheiten im Interesse des Zie les

214
zusammen. Eigentlich ist alles der gleiche Prozeß, auch wenn die
Wertreihe, in welcher wir die natürlichen oder seelischen Gegeben-
heitert vereinigen, keine praktische, sondern eine ideelle ist. (Der Stuhl
ist ein praktisches, die Skulptur ein ideelles Ziel.) Nicht die
Hand - die Seele des Menschen ist wichtig. Das Element kann
auch ein psychisches, nicht nur ein physisches sein.
Kulturobjekt ist das, was ich in eine seine natürlichen Eigen-
tümlichkeiten ausschließende Wertreihe hineinstelle, damit es den
Werten des Schönen, Guten oder Wahren diene. Es soll mich nicht
stören, daß ich zur Entstehung des neuen Objektes die kausalen
Elemente der Natur benötige, weil ich die bisherigen doch unter -
werfe und daraus ein neuer Wert hervortritt. Die Saite muß ge spannt
werden, um einen Ton geben zu können, die Melodie baut aber nicht
mehr auf einem Naturgesetz auf. Dieselben Elemente kommen in
anderer Anordnung vor.
Die Kategorie der Natur ist die Kausalität - die der Kultur die
Wertreihe des Schönen, Guten und Wahren. Natur ist die Gegeben -
heit mit kausalen Beziehungen, Kultur - sofern diese Gegebenheiten
auf das Schöne, Gute und Wahre bezogen werden. Der Gelehrte
erfaßt z.B. den Baum (ihn betrachtend) vom ersten Standpunkt, der
Dichter - mit der Wahrnehmung sich zwar auf das Gesetzmä ßige, die
natürliche Gegebenheit stützend - aber vom Standpunkt einer neuen
Einheit, des Schönen.
Das Schöne, Wahre und Gute läßt die auf es bezogenen Elemen -
te wertvoller werden. Kant behauptete, daß die Kategorie der ge -
genständlichen Gegebenheit und die ideellen Kategorien gleichwer-
tig sind. Beide geben eine Auffassung der Form nach. Bei der er sten,
der naturwissenschaftlichen Anschauung, wird das Einzelne immer
als Teil eines Allgemeinen angesehen, die Kulturanschauung, die
Werte an die Gegebenheit knüpft, ist immer individuell.
Die Wertung der Kultur schafft eine ideelle, andere Welt für
uns. Auf der primitiven Stufe gibt es diese noch nicht. Das Tier und
der primitive Mensch fühlen sich eins mit der Natur. Wir sehen sie
immer in kulturellen Wertreihen. Wir sind selten auf dem reinen
Niveau der Empfindung: Dies ist ein mystisches Erlebnis, ein Urer -
lebnis, das aber beim Kulturmenschen sehr selten ist. Es wäre mög-
lich, wenn wir aus jeder Kulturreihe heraustreten würden. So kön nen
wir unsere Seele finden, zu ihr gelangen. Die Wirklichkeit können
wir nur unter Ausschaltung des Denkens und des Schönheitsge fühls
erreichen. Seit es Kultur gibt, sehen wir die Wirklichkeitsele mente

215
immer nur durch das Gewebe der Werte. Unser lnstinktleben erstirbt
langsam. Die Pädagogik verkündet, wir sollten weniger in-
tellektualisieren. Sie will das Naturerlebnis durch die Handfertigkeit
zurückgewinnen. Das ist nicht der richtige Weg, auch die
Handfertigkeit modifiziert bereits die Wirklichkeit der Zielvorstel-
lung entsprechend.
Seit wir uns dieser Spaltung bewußt geworden sind, wächst in
uns eine sentimentale Sehnsucht nach der Schlichtheit des instinkti-
ven Lebens. Aus den Trümmern erbauen wir als Ersatz der verlore -
nen Natur die neuen Ganzheiten im Zeichen des Schönen, Wahren
und Guten. Es ist das Versprechen der Kultur, daß sie für uns die
Natur erobert. Die Natur wird in dieser neuen Hinsicht (weil die
Werte des Schönen, Wahren und Guten aus unserer Seele stammen)
beseelt sein. Es wird aber immerfort eine Frage bleiben, ob diese re -
konstruierte, verlockender ausgedrückt, beseelte Natur uns für die
alte entschädigt.

Eine weitere Differenzierung von Natur und Kultur

Den kulturphilosophischen Begriff der Natur trennen wir von drei


Begriffen: der Landschaft, dem Erlebnis und dem Gefühl.

Natur und Landschaft

Die Landschaft ist schon ein Ergebnis der Kultur, weil es eine Ar beit
von Generationen ist, daß wir alles, was vor uns steht, als Einheit, als
Landschaft betrachten. Wir stellen sie in eine Wertreihe, die
ästhetische hinein. Der Bauer genießt die Schönheit der Land schaft
nicht.
Es gibt Daten, an welchen sich die Entdeckung gewisser Schön -
heiten knüpft. (Die Schönheit des menschlichen Körpers - Renais -
sance, Landschaftsmalerei, bürgerlicher Roman anstatt des heroi -
schen, die Erhabenheit der Leidenschaften: romantische Dichtung,
die Schönheit der kindlichen Seele . . .) So auch die Entdeckung der
Schönheit nicht nur der Natur überhaupt, sondern auch der gewisser
Landschaften.

216
Die Arten des Naturerlebens sind das Erleben durch die Kunst,
das pantheistische Erleben und das magische Erleben. Aus diesen
Erlebnissen ergibt sich nicht immer die Landschaft, besonders beim
magischen Erlebnis nicht. Es gibt noch sentimentale, romantische
u.a. Erlebnisarten. In den meisten Landschaftsbetrachtungen vereinen
und verknüpfen sich ästhetische, logische und religiöse Fär bungen.
Es ist eine pädagogische Aufgabe, dem Kind dieses Erleben
beizubringen.
Es gibt primäre und sekundäre Landschaftsbetrachtung.
Primäre, wenn ich meine primären Erlebnisse zusammenfasse.
Sekundäre, die Projizierung von Kunstformen, schon früher
gesammelten Erlebnissen. Ein Beispiel für die sekundäre
Betrachtung ist der französische Garten, der Versailles-Stil, der
gerade Kunstformen vom Gebiet der Architektur heimisch machte.
Der englische Garten wirkt dagegen durch primäre
Erlebniskategorien. Sein Ziel ist es, so zu werden, als hätte der
Mensch gar nicht eingegriffen. Ob die ersten malerischen
Darstellungen mit der ersten sekundären Naturbetrachtung
zusammenfallen, läßt sich nicht nachweisen.
Die Erlebniskategorien sind primär. Wir wählen Elemente aus,
wie bei den logischen Kategorien. So betonen und vereinigen z.B.
die romantischen, sentimentalen, pantheistischen Erlebniskategorien
jeweils andere Elemente. Stellen wir uns vor, daß wir in die Natur
gehen und eine Landschaft aufgrund erlebniskategorialer Ver erbung
auffassen. Die Formen des tatsächlich gemalten Bildes modifizieren
sich noch nach a priori ästhetischen Formen. Die beiden sind nicht
gleich. Die Erlebnisform ist primär, die ästhetische sekundär, sie
entspricht den Reminiszenzen, den Kompositionen alter Bilder. Sie
projiziert nur sekundäre Kunstgattungsformen. Das ist ein passives
Erleben, das erste ein aktives. Die beiden dürfen nicht vermischt
werden.
Was ist der Grund, daß ich dem Bild gegenüber die wirkliche
Landschaft als Natur empfinde? Folgendes: Das Gemälde, wenn es
gut ist, bindet mich in der Erlebniskategorie, oktroyiert mir die Ka -
tegorie des Schaffenden auf. Die Landschaft erlaubt die Mobilität,
die Wahl zwischen meinen vererbten Kategorien der Landschafts -
auffassung, von welchen es höchstens drei oder vier gibt.
Das Mißverständnis des Künstlers besteht in der Anwendung ei -
ner von der des Schaffenden unterschiedlichen Erlebniskategorie.
Dieses Problem hat die Ästhetik besonders lange beschäftigt. In an -

217
derer Form ausgedrückt: Ist die Natur schön, oder die durch die
Kategorie des Schönen erlebte künstlerische Schönheit? Keiner der
beiden Auffassungen ist richtig, die Lösung liegt in einer dritten.
Wenn ich es nur durch die Erlebniskategorie betrachte, gibt es ein
Gegenüber von Natur und Kunst. Das ist subjektiv. Betrachte ich die
Natur durch eine objektive Kunstgatturtgskategorie, ist in diesem
Sinne nur das Bild schön. Die primären Kategorien rufen beim *
Bizet: Naturgefühl
Bild eine subjektive psychologische Wirkung hervor. Das ist
nicht mit Recht schön. Normativ kann nur das sekundäre, durch
Kunstgattungskategorien erlebte Schöne in der Kunst mit Recht
schön genannt werden. Das Bild der Natur und die künstlerische
Darstellung kann man gleichermaßen subjektiv als schön empfinden.
Die Landschaft ist also nicht gleich der Natur. Die Kategorien der
Naturauffassung sind auch apriorisch; sie werden durch die
Erfahrung hervorgerufen, sie können aber von der Erfahrung nicht
abgeleitet werden (Kant).
Die Gegenüberstellung von Natur und Kultur steht in größter
Spannung zur Gegenüberstellung von Stoff und Form. Die uns um-
gebende, außer uns befindliche Wirklichkeit ist die auf ihre Kultur -
gestaltung wartende Materie. Wir selbst sind auch Materien der
Kultur. Das, was die deutsche Mystik „Kreatur" nennt. Unserem
Körper, unseren Sinnen, Gefühlswelt, Instinkten steht unser intelli -
gibles Leben gegenüber. Die Gegebenheit unseres Körpers ist an sich
Natur, Fremdheit, Unzugänglichkeit. Nur durch unsere Natur können
wir zu uns selbst gelangen. Oder mit der vollständigen Iden -
tifizierung, wenn ich z.B. eine Empfindung ohne Denken und Er-
kennen nur rein erlebe. Durch die Erkenntnis entfremde ich sie von
mir selbst.
Die unmittelbare Identifizierung hat keine Geschichte und keine
Fortsetzung. Sie hört auf, sie ist tierisch. Das Tier entwickelt keine
Erlebnisse, keine Arbeit in anderen Generationen weiter. Ich setze
die Erlebniskategorien früherer Generationen fort und entfalte sie
weiter. Das unmittelbare Erlebnis der Empfindungen ist wegen sei ner
Isoliertheit kein Gegenstand der Kulturphilosophie. Ist die Kul-
turkategorie, die Kulturgeschichte des Erlebens unserer Empfin-
dungen, unserer Gefühle bestimmbar? Wenn wir uns selbst zur Kul -
tur machen, ja. le geistiger der Mensch wird, desto mehr verlieren
wir aber unser ursprüngliches Selbst.

218
(10.5.1919)

Kultur ist die Sammlung gegebener Elemente in Sinnganzheiten mit


ihrer Beziehung auf absolute Werte. Die Sinnganzheiten sind das
Schöne, Wahre und Gute. Sie sind intelligibel.
Uns umgeben ganze Reihen von Gegenstandswelten, wie z.B.
die Reihe der Welt der Dinge, die Reihe der Welt der Kunst. Nehmen
wir z.B. eine gemalte Landschaft. Als Empfindung sind einige
Farbflecke gegeben. Sie wird jeweils immer etwas anders, je
nachdem in welche Kategorie ich sie hineinstelle. 1.
Gegenstandsmöglichkeit aufgrund der Substanz und Eigenschaft:
bemaltes Leinen. 2. Bei der Kategorie der Farbenharmonie ist das
Bild das Ergebnis. Daß es bemaltes Leinen ist, wird in Klammern
gesetzt. Das Bild ist ein ideales Ganzes, im Verhältnis zu welchem
die einzelnen Farben ihre Bedeutung erhalten. Ich kann auch andere
Ganzheiten nehmen. 3. Stilhistorisches Ganzes: Ich gehe vom Inhalt
des Bildes aus. Ich nehme z.B. den Barock als Ganzes - und bringe
die Elemente zu einem Ganzen, die für den Barock charakteristisch
sind. 4. OEuvre-Standpunkt, der Standpunkt des Werkes. Die
Elemente gewinnen im Verhältnis zum Gesamtwerk eines Schöpfers
ihren Sinn. (... )
Es gibt also einen Gegenstand, den ich aus unterschiedlicher
Sicht betrachte: diese Situation ist der Standpunkt der Naturalisten.
Wichtig ist, daß der Gegenstand existiert, und ich, das Psychikum,
Teile davon abstrahiere. Unser Bewußtsein ahmt die Dinge in ge -
wisser Hinsicht nach.
Nach anderer Auffassung erhält der Gegenstand nur durch die
Kategorien ein Sein, eine Gegenständlichkeit. Ohne Kategorien gibt
es ihn gar nicht. Psychologisch wende ich immer andere Objektivie -
rungen an. Zuerst kommt die psychische Betätigung der Katego rien,
dann der Gegenstand. Das ist der Standpunkt des transzendentalen
Idealismus. Die Dinge sind nicht Gegebenheiten, die wir mit dem
empirischen Verstand kopieren, sie gelangen nur durch die
Kategorien zum Sein.
Das Kulturobjekt haben wir mit Kants Methode definiert: Ver -
gegenständlichung von Elementen nach absoluten Wertgesichts-

219
punkten. Die Schwierigkeit ist, daß dadurch der Begriff der Kultur
viel zu weit wird, daß zu viele Gegenstände zu Kulturobjekten
werden. Wir verengen diese Definition mit der Korrelation Zivilisa -
tion und Kultur - in der Korrelation Seele und Kultur wird sie aber
wieder erweitert.

SEELE UND KULTUR

Bedeutung
Eine Gegebenheit: ich töte jemand. Diese Gegebenheit kann ver-
schieden betrachtet werden.
1. Von rein physiologischem Standpunkt.
2. Ein anderer Vergegenständlichungsstandpunkt ist der soziologi-
sche: ich habe es aus Selbstverteidigung getan. Jetzt ist es ein ande-
rer Gegenstand, jedes Element hat einen Sinn.
3. Ich kann es ethisch betrachten: Töten als berechtigte
Selbstverteidigung. Jetzt kommt nicht nur der soziologische
Standpunkt zum Tragen (so oder so: ein Mensch weniger), sondern
ob es erlaubt war - das ist die wichtige Frage. Es geht um einen Fall
eines
allgemeinen Gesetzes.
4. Was bedeutet diese Tat für mich? Bisher habe ich immer gedacht,
daß ich mich lieber töten lasse, statt zu töten. Ungeachtet dessen, daß
das Töten ethisch berechtigt war. Hier schaltet sich die Beziehung
zur Seele ein. Das ist etwas Neues. Jetzt will ich diesen Fall vom
Ganzen der Seele her interpretieren. Der Akt, das Töten, ist ethisch
von mir noch unabhängig. Er ist richtig oder unrichtig im absoluten
Sinne.
Hier müssen die Wörter „Sinn" und „Bedeutung" voneinander
getrennt werden. Sinn - ist eine Beziehung auf das objektive Be -
deutung - auf das subjektive Moment, eine Beziehung auf die See le.
Beim erwähnten Bild kann man den objektiven Sinn und die
subjektive Bedeutung suchen. Ein Sinnganzes besteht an sich, ohne
daß gefragt würde, was der Maler damit sagen wollte, was sich in
seiner Seele während des Schaffens abgespielt hat.


Windelband: Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus, in Logos

220
Alle Kulturobjekte können an sich Sinn haben. Derselbe Gegen-
stand ist hinsichtlich der Bedeutung subjektiv, kann also als Aus -
druck betrachtet werden. Zur Bedeutungsobjektivierung sind die
ethischen Fälle am meisten geeignet. Nur ein Sinnganzes kann be-
deutend werden. Seele kann nur durch ein Kulturobjekt ausgedrückt
werden, das Kulturobjekt ist aber ein auch an sich seiendes Ganzes.
Im geistigen Leben des Menschen ist die Bedeutungsverleihung
eine universelle Geste. Ich sage zu jemandem: Schurke. Durch die
Wahrheit ist das ein Sinnganzes. Die offene Aussage dieser Wahr heit
kann für mich charakteristisch sein. Wenn ich z.B. über densel ben
Menschen gesagt hätte, er sein ein anständiger Mensch, wird dies für
die Beurteilung meiner Person eine andere Bedeutung haben.
Hinsichtlich des reinen Sinnes würde dieser zweite Fall für mich
nichts bedeuten. Die Sinnreihe „Dieses Gesicht ist schön" kann ich
auf die Seele bezogen für unbedeutend halten, als wertlos empfinden.
Die Bedeutungsverleihung durchdringt alle unsere
Beobachtungen. Tritt jemand ein, suchen wir gleich die Seele in
seinem Blick, in seinen Gesten. Ohne dies können wir ihn gar nicht
zur Kenntnis nehmen. Die rein visuellen Momente werden oft völlig
verschoben. Es wurde einmal versucht, ein Portrait auf diese Art zu
zeichnen, und jedermann war bestürzt über das Bild. Es gibt kaum
eine ähnliche primäre Funktion der Seele wie die
Bedeutungsverleihung. Wenn ich mit jemand spreche, laufen in mir
unzählige solche Akte in einer Minute ab, wie ich den Rhythmus
seines Sprechens, seinen Blick, Tonfall, Gedankengang, seine
Wortfügung auffasse. Wenn es um einen schweren Gedanken geht,
müssen wir unsere Sinnesorgane verschließen, damit sie uns nicht
ablenken (Símmel: Soziologie).
Nicht nur die Handlungen (Sprechen, Bewegen) sind
bedeutsam, sondern auch die stehenden objektiven Dinge. Nicht nur
die Mimik, auch das ruhende Gesicht. Jedenfalls bedeutet ein
ethisches Handeln eher eine Seele als ein Portrait. Aber eine
Bedeutungsinterpretation ist auch bei einer rein objektiven, logischen
Wahrheit möglich; z.B. was sie, was ihre Aussage für die betroffene
Epoche bedeutet.
Wir befinden uns in solch bedeutender Ferne nicht nur zu ande-
ren Menschen, sondern auch zu uns selbst. Ich habe mich durch
meine Handlungen hindurch untersucht. Oder ich habe gefragt,
neugierig gewartet, wie ich handeln werde. Da wir mit uns selbst viel
zusammen sind, haben wir über uns die meisten Dokumente;

221
außerdem können wir uns in den Augenblicken der mystischen Ek -
stase ohne jede Transponierung der Sinne in Bedeutungsreihen, un -
mittelbar erleben. Das ist auch unter der Wirkung des Erlebnisses
eines literarischen Werkes möglich, das heißt aber nicht, daß ich
mich erkennen und über mich Rechenschaft ablegen könnte. Das
geschieht in gnadenvollen und außergewöhnlichen Augenblicken,
ohne praktische Resultate.
Die Mission der Kultur ist die Deutung in Sinnreihen gestellter
Elemente für uns und andere und damit die Möglichkeit des Ver kehrs
mit uns und mit anderen.
Was heißt es, Menschen zu kennen? Sie richtig zu deuten. Es ist
möglich, daß ein anderer mich besser kennt, meine wahren Mög-
lichkeiten besser sieht als ich. Das ist der größte kulturhistorische
Wert: darin liegt die Schönheit der Freundschaft, der Liebe.
Manchmal auch ihre Gefahr, wenn der Betrettende dies mißbraucht
(Dorian Gray).
Wir leben für objektive Werte, sie sind es wert, für sie zu ster-
ben, weil die Seele nur hinter ihnen zu finden ist.

(17.5.1919)

Welche neue Bedeutung ergibt sich für die Kultur, wenn sie auf die
Seele bezogen wird?
Bei der Korrelation Natur und Kultur kam der Begriff des Sin-
nes, bei der Gegenüberstellung von Seele und Kultur der Begriff der
Bedeutung vor. (Beispiel des Tötens. Es ist auch nicht richtig, daß
Sinn und Bedeutung mit demselben Wort bezeichnet werden.) Die
Bedeutung ist eine sekundäre Erscheinung, nur auf ein objektives
Wertganzes bezogen, das heißt, nur Kulturerscheinungen können auf
die Seele bezogen werden. Sie müssen zuerst zum Sinn werden, um
Bedeutung werden zu können. Wir benützen das Wort Kultur
gleicherweise zum Ausdruck ihrer Korrelation zur Natur und zur
Seele. Das ist keine Äquivokation (keine Benützung desselben Wor -
tes - hier des Wortes Kultur - in zweierlei Sinn), weil auch die Be-
deutung auf dem Sinn beruht und nur ein Plus hinzufügt. Nicht jeder
Sinn ist gleichermaßen dazu geeignet, als Bedeutung aufgefaßt zu
werden. Am meisten dazu geeignet sind 1. die Moral, 2. die Re ligion,
3. die ästhetischen Gegenstände (obwohl sie auch als Sinn

222
selbständig sind). Am fernsten davon, als Bedeutung zusammenge-
faßt zu werden, steht die rein wissenschaftliche Theorie.
Es hängt von der Persönlichkeit des Menschen ab, welche Be-
deutungen bei ihm dominieren. Der Kunsthistoriker beschreibt die
Abfolge der Werke dem Sinne nach, nicht nach der Bedeutung. Eine
Graphik Rembrandts ist auch an sich ein Ganzes, kann auch rein dem
Sinne nach aufgefaßt werden. (Sinn nicht rational verstanden.) Jetzt
beziehe ich das als Sinn zum Gegenstand gewordene Objekt, das
Bild Rembrandts und alle seine Bilder auf Rembrandts Seele. Hier
haben wir es auch mit einer Bedeutungsbeziehung zu tun, wir sahen
aber, daß das Werk auch ohnedies, auch an sich ein Ganzes ist. Der
Sinn ist eine ganz andere Vergegenständlichung als die Bedeutung.
Um meine Seele auszudrücken, brauche ich einen von mir
unabhängigen Sinn. Das ist ein großes und schweres Problem.

Ausdruck

Aus der Tatsache, daß ich weiß, jemand faßt das, was ich als Sinn
angebe, als Bedeutung auf, folgt, daß ich die Bedeutung des Betref-
fenden schon intentioniere. Dieser Ausdruck ist das Werk. Werk ist
das, bei dem die Richtung der Deutung seitens des Ausdrückenden
gegeben ist. (Das deutsche Wort „Werk" ist dafür das beste. Es ent-
hält auch die Handlung. In der Mystik wird es von Meister Eckhart
zuerst benützt. Es steht auch in der Bibel: „Ich kenne alle deine
Werke. ")
Drei Begriffe haben wir: 1. Sinn, z. Bedeutung, 3. Ausdruck.
Ich gebe z.B. Almosen, damit man sieht, wie gutherzig ich bin. Ich
bin also ein Pharisäer.
1. Ich gebe Almosen, das ist ein auf einen objektiven Wert bezoge nes
Sinnganzes.
2. Ich will für mich oder für einen anderen zum Ausdruck bringen,
daß ich gutherzig bin.
3. Seiner Bedeutung nach besagt das aber, daß ich ein Pharisäer bin.
Aus diesen drei Begriffen kann die ganze große dynamische Be -
wegung abgeleitet werden, die wir Kultur nennen. Die Menschen
bringen von ihnen unabhängige Sinnganzheiten zustande, um sich
auszudrücken. Der Ausdruck kann das bedeuten, was mit ihm in -

223
tentioniert war, aber auch etwas anderes. Verständnis, Mißver-
ständnis usw. stammen alle aus dem Entsprechen oder Nichtüber-
einstimmen dieser Begriffe. Gewisse objektive Werte haben nicht in
jeder Kultur dieselbe Bedeutung. Almosenspenden z.B. bedeutet
nicht überall zweifelsfrei eine Gutherzigkeit.

Die Stufen des Verstehens eines Werkes:

1. als Sinn
Fogarasi nennt das transzendente Interpretation. Nach Fogarasis
Vortrag ist das das Hineinstellen einer Tatsachenreihe in eine nicht
immanente, sondern in eine Sinnreihe außerhalb ihrer (z.B. Gotik -
Askese - ein Aufschwingen in den Himmel).
2. Deutung

Jede Epoche deutet das Werk anders; z.B. Winckelmann und


Burckhardt die griechische Kunst. Das ist ein sich der geschichts-
philosophischen Erklärung annähernder Prozeß.
3. (Ausdruck)

Das Schwerste ist festzustellen, was der Betreffende ausdrücken


wollte.
Die ersten zwei Fragen beziehen sich auf die Wahrheit, die
dritte auf die Tatsache. Die dritte Interpretation ist zweifach. Ob er
wohl einen objektiven oder subjektiven Wert intentionierte? Kann
sein, daß er zum ersten (zum „Sinn") nicht gelangt. Diese zwei
Unterarten sind im weiteren nicht wichtig. Von den drei
Interpretationen ist die Sinn-Interpretation die dauerhafteste. Der
Ausdruck ist nur in der gegebenen Kulturkontinuität gültig. Wenn
der Schaffende seine Seele auf nicht genügend objektive Zeichen
richtet, wenn sein Werk bekenntnishaft ist, veraltet es am
schnellsten. Bedeutungsdifferenzen sind häufig. Sinn, Bedeutung und
Ausdruck sind weder logische Termini noch bewußte Handlungen.
Das Wollen muß nicht immer als intellektueller Prozeß aufgefaßt
werden.

Beispiele für Verstehen, Mißverstehen, Wirkung (Faust II. Teil):

224
1. Der Sinn bleibt, der Ausdruck ging verloren, die Bedeutung ist
veränderlich. Negerplastik: das bildhauerische Werk ist ein Ganzes
reiner Sinnelemente.
2. Den Ausdruck kennen wir nicht, wir fühlen höchstens, wie we nig
das Werk für uns das ausdrückt, was es für den Schaffenden
ausgedrückt hat, wie sehr wir uns von seiner Kultur entfernt haben.
Wenn er z.B. einen Andacht erweckenden Gott darstellte.
3. Für uns bedeutet diese Skulptur Aberglaube. Wie verfehlt ist diese
Deutung verglichen mit ihrer ursprünglichen Bedeutung!
Von Kulturobjekten lösen wir uns nicht nur in der Zeit, sondern
auch durch räumliche Entfernungen. Die Kulturobjekte des Ostens
sind für uns z.B. schwer interpretierbar. (... )
Zur Treue der Bedeutungsinterpretation ist also auch eine Kul -
turbeziehung nötig. Hinsichtlich des Ausdrucks fasse ich z.B. ein
Bild aus dem Frühmittelalter nur ästhetisch auf, wenn ich den reli-
giösen oder ethischen Sinn nicht kenne, der ihm zugrunde liegt.
Beim wirklich Schönen ist nach Georg Lukács nicht der objektive
Wert, sondern die sinngemäße Anschauung das Erste.
Verstehen, Mißverstehen, Ausdruck führt nicht nur zu meinem
Bekanntwerden mit anderen, sondern auch mit mir selbst. Mir ist es
leichter, zu mir zu gelangen, weil ich meine Interpretation kenne.
Das ist wahr. Es ist aber auch bei unseren eigenen Objektivationen
möglich, daß die Intention des Ausdruckes nicht mit dem überein -
stimmt, was es in bezug auf mich bedeutet. (Almosengeben) Auf-
grund einer richtigen Analyse kann ich diese Disharmonie ent decken.
Man kann in solchen Fällen die raffiniertesten Gründe vor bringen,
nur um die eigene Tat zu entschuldigen. Die Bedeutung fällt aber
auch dann nicht mit dem mich und den anderen betrügenden
Ausdruck zusammen. Bei sehr wenigen Menschen gibt es darin eine
Harmonie. Das ist eine ethische Frage, die aber Tür die ganze Kultur
wichtig ist.
Gewisse Zeiten können mittels der Einheit von Bedeutung und
Ausdruck charakterisiert werden. Der griechische Tanz war seiner-
zeit z.B. schön und zugleich auch ausdrucksvoll. Heute können wir
ihn als Schönheit rezipieren, als Ausdruck ist er aber kaum rekon -
struierbar. (Kleist: Das Marionettentheater) Mit dem Dazwischen -
treten des Bewußtseins fällt der Ausdruck mit der Schönheit nicht
mehr zusammen. (... )
Die Bewußtheit ist heute eine unvermeidliche Last, ebenso die
ständige Deutung jeder Geste. Die Menschheit war gezwungen, ge-

225
wisse von der Bedeutung unabhängige Sinnganzheiten zu schaffen,
um sich von der nervenanstrengenden Arbeit der ständigen Deu tung
zu befreien.

(23.5.1919)

Das Etikett

Es gibt also Sinnganzheiten, die nichts bedeuten, nichts aus drücken.


Wie das Etikett, die Maske, die Disziplin (... ) Jedes Eti kett ist Form.
Sie steht im Vordergrund, damit die Seele en bloc werden kann. Bei
der kulturphilosophischen Interpretation ist die, Materie völlig
nebensächlich. Wenn ich jemanden ständig ironisch behandele,
entdeckt man langsam, daß dies eine Maske ist, die keine
Bedeutungsinterpretation verlangt. Die Freundlichkeit systematisch
durchgeführt, ist nur Sinn, ohne Bedeutung; die größte Schei dewand
mir gegenüber ist die Maske. Dabei kann es - ursprünglich war es das
auch - die Erlebnisform der Freundlichkeit sein. Wenn sie eine
Maske ist, gelangt die Freundlichkeit in Klammern, es bleibt nur die
Mimikreihe. Es gibt keine an sich bedeutungsvollen Dinge. Sie
müssen in Sinnreihen eintreten. Unsere Erlebnissphäre ist eng,
unsere Materie ist ungenügend, und so muß auch für ein neues
Erlebnis die alte Form benutzt werden (Freundlichkeit). Ein
Händedruck z.B. bedeutet an sich nichts. Der physische Prozeß steht
aber fast immer in Klammern. Er kann eine Maske sein, aber
dieselbe Materie, nämlich der Händedruck, kann sich mit ganz an -
deren Sinnarten verbinden.
Jeder Sinn ist auch auf Materie angewiesen. Man muß aber ei -
nen primären Sinn, der die Materie zuerst umfaßte, einen sekundären
und einen tertiären Sinn unterscheiden. (Bei der Freundlichkeit z.B.
der ursprüngliche und der Maske-Sinn.) Jeder Sinn wählt sich
Gruppen aus der Materie aus, der sekundäre Sinn beseitigt, indem er
diese primären Sinnganzheiten als Materie versteht, immer mehr
Elemente daraus, wodurch sich das Kulturobjekt immer weiter von
der Natur entfernt.
Bei der weiteren Interpretation der Kulturobjekte ist der nächste
Sinn vom ersten, dem vorangehenden völlig unabhängig, er ent -
wickelt sich nicht aus diesem. In dem Falle, daß im Restaurant der
Mann bezahlt, konnte die Herausbildung der Etikette folgenderma -

226
ßen geschehen sein: 1. Einst, in alten Zeiten, als es vielleicht noch
gar keine Restaurants gab, half der Mann der Frau in ihrer wirt -
schaftlichen Lage und zahlte. Diese Hilfe ist eine soziologische Tat -
sache, die eng mit dem privatrechtlichen Wirtschaftssystem zusam -
menhängt; heute, im kommunistischen Staat, wäre dies nicht mög -
lich. 2. Zweite Stufe: Bei der Frau zeigt sich ein Schamgefühl über
die eigene Armut. Das ist schon ein sozialpsychologischer Sinn. 3.
Es ist unangenehm geworden, daß man aus solchen Bagatellfällen
Rückschlüsse auf mich zieht, darum beseitigen wir in einer still-
schweigenden Übereinkunft den sozialpsychologischen Sinn. Damit
haben wir es zur bedeutungsfreien Etikette gemacht, daß der Mann
bezahlt.
Die höheren Formen entwickeln sich auf den geringerwertigen,
würde der historische Materialismus sagen. Wir sagen vom kultur-
philosophischen Standpunkt her nicht dasselbe. Das ist keine Ge-
schichte des Etiketts, weil sie dort anfängt, wo die Materie zum be -
deutungsfreien Sinnganzen geworden ist. Die Geschichte des Etiketts
würde von dem geschrieben, der die Geschichte des Inkognitos
schriebe. Das erwähnte Beispiel eignet sich nicht, die Herausbil dung
des Etiketts schon vor den gesellschaftlichen Konstellationen zu
demonstrieren. Ein stärker seelisches Beispiel wäre nötig, das nicht
so vielerlei Materie assoziiert. Als man die soziologische, wirt-
schaftliche Konstellation zur Etikette machte, hatte sich das Inkog -
nito schon entwickelt. Dies ist nur Korrektur des historischen Mate -
rialismus. Der historische Materialismus kann nämlich die höheren
Formen nicht zustande bringen, er kann nur den Zusammenhang der
Formen behaupten.
Das Abgleiten ist eine neue kulturphilosophische Erscheinung.
lm vorigen Beispiel gab es hierarchische Sinnreihen: wirtschaftliche,
sozialpsychologische, Etikett. Es kann vorkommen, daß das
betreffende Kulturobjekt von einer höheren Schicht in eine niedri-
gere hinabgleitet. (. . . )
So ist es, wenn jemand das Etikett zum Ausdruck seines Klas-
senhasses benützt: wenn er jemanden belächelt, weil der sich gegen
die Etikette vergeht, richtet sich sein Gefühl nicht gegen die Seele,
sondern gegen das soziale Wesen. Dabei ist die ursprüngliche Be-
deutung an die Seele, nicht an den Menschen adressiert. Ebenso lehne
ich, wenn ich jemanden ablehne, weil er einen Dialekt spricht, nicht
den einzelnen, sondern die Klasse ab. (... ) Manchmal, in ge wissen

227
Fällen gibt es auch bei der Etikette irgendeine Bedeutungsin-
terpretation. Das Ganze wird aber mit allen seinen Elementen nur in
einer einzigen Hinsicht interpretiert. Wenn ich von einem voll -
ständigen Etikett-Menschen behaupte: das ist ein höflicher Mensch.
Hier sind die Einzelheiten en bloc zusammengefaßt.
Solche en-bloc-Bedeutungen gibt es auch in der Kunst, was auch
ein Abgleiten ist. Der Petrarcismus zum Beispiel. Hier wird die Lie be
besungen. Es fehlt ihm der ständig evidente Hinweis auf die See le, die
Entfaltung aus ihr, was in den Künsten kennzeichnend ist.

Die Disziplin erfolgt dann, wenn wir uns im Interesse der Ge -


meinschaft nur en bloc ausdrücken. Im Falle der Parteidisziplin se he
ich der einzigen en-bloc-Bedeutung (Idee, politische Überzeugung)
zuliebe von mir gegebenenfalls nicht gefallenden Einzelheiten ab.
Beim Militär ist nicht einmal diese en-bloc-Bedeutung vorhan den.
Diese en-bloc-Bedeutung ist eine Kultursünde gegen die Seele, ist aber
vorläufig nicht zu vermeiden und kann unter Umständen des Zieles
wegen entschuldigt werden, wenn sie von ethischem Niveau ist und an
die Seele gerichtet ist. (. . .)
Zur Veredelung der Menschen wenden wir oft - wie auch heute --
Diktatur an, zur Verwirklichung einer diktaturfreien Diktatur. Das ist
aber immer ein zweischneidiges Schwert, und das Ergebnis ist
fragwürdig.

(30.5.1919)

Kontinuität, Überentwicklung

Die Kultur besteht nicht aus Zeichen, sondern aus sich an Sinn fü-
genden Bedeutungen. Sie hat zwei Faktoren: die Möglichkeit der
Fortsetzung und der Überentwicklung. Wie wäre das menschliche
Leben ohne sich an Sinn fügende Bedeutungen?
In einem Wells-Roman erscheint an der Stirn des Marsbewoh ners
als Zeichen das, was in seiner Seele ist. Das Zeichen hat an sich keinen
Sinn. Unter solchen Umständen wären nur einmalige Erlebnisse
möglich, man könnte sie nicht weitergeben - Verkehr, historische
Entwicklung, Kontinuität wären also unmöglich. Bei einer besonderen
Wende eines Gesprächs gibt es sogar im Schweigen Ahnungen, subtile

228
Empfindungen, die nicht in Sinnganzheiten eintauschbar sind und
darum nicht erhalten bleiben.
Die Aufgabe der Kultur ist es, aus diesen Erlebnissen Sinnganz -
heiten zu machen und sie zu bewahren, sie also in die Kultur zu
überführen (Maeterlinck, Hofmannsthal, Ady, Tagore). Das heutige
Leben nennen wir nuance-geschrieben - das konnte vereinzelt auch
früher vorkommen, aber ohne Sinnganzheiten wurde es nicht
fortgesetzt, blieb es nicht erhalten.
Aus den aus der Korrelation v on Seele und Kultur abgeleiteten
vier Begriffen: Sinn, Bedeutung, Ausdruck, /Etikett/ ergibt sich das
Problem der Kontinuität.
Um aus dem Erlebnis einen Sinn zu machen, ist zunächst ein Ge -
nie nötig, der erlebnisfähige Mensch. Den von ihm ausgedrückten Sinn
können wir dann aufgrund unserer Solidarität übernehmen und bei
unglaublicher Schnelligkeit und Kompaktheit des Übernehmens der
bisherigen Ergebnisse auf derselben Stufe fortsetzen, wo er aufgehört
hat.
Diese Traditionalität der Kultur ist ein großer Vorteil. Das über-
nommene Ergebnis können wir 1. als Sinn, 2. als Erlebnis fortset zen,
als dessen Ausdruck der Sinn auftrat. Diese zwei Entwicklungen
verlaufen nach Simmel (Philosophie des Geldes, Der Begriff der
Kultur) nicht parallel. Der Sinn lebt weiter wie ein Golem, ohne
Erlebnis, ohne Beziehung zu uns, nach den eigenen in sich gültigen
(z.B. logischen) Gesetzen des Sinnes. Was ist z.B. das Wesen der
Welt? Diese Frage entstammt ursprünglich religiösem Interesse,
entsteht nicht von selbst. Dann erkennt man den Gedanken des We -
sens, der weiterentfaltet wird und sich dabei immer mehr dem ur -
sprünglichen Beweggrund, vom Subjekt entfernt.
Die Künste, die Stile haben auch solche abgeglittenen und wei-
terentfalteten Sinnreihen unabhängig vom Ausdruck. Der erste Sinn
wurde jedenfalls vom Ausdruck geboren (aus dem Geiste der Musik:
Nietzsche).
Die Sinnreihen existieren unabhängig von uns, das heißt, wir sind
zu Dienern der Kuhur geworden, obwohl dies ursprűnglich umgekehrt
war. Auch der Kapitalismus entwickelt sich an seinen vom
menschlichen Willen unabhängigen Wegen und geht schlicijlich
zugrunde.

Sie besteht darin, daß zu jedem Sinn ein Bedeutungsausdruck


gehört, der, weil er bei vielen Menschen gleicherweise vorkommt,

229
verbindet. Die Romantik beklagt sich über Traditionslosigkeit und
will darum eine neue Mythologie schaffen, eine künstliche
Kulturtradition als Verbindung.
Der Weg der Kulturentwicklung: 1. der aus dem Geist des Aus -
druckes geborene Sinn, 2. En-bloc-Bedeutung, 3. nur Sinn. Wenn ich
zum Beispiel ein religiöses Bild nur im Blick auf die Schönheit
betrachte, ist das eine inadäquate Betrachtung. In der gesamten
Kunstgeschichte gibt es Zeiten, in denen dem Verlust des Aus-
druckes damit vorgebeugt wird, daß man von vornherein nur Sinn
schafft. Das ist der sogenannte ästhetische Kulturstandpunkt, die
Epoche des Fart pour Fart. Auch ein als Ausdruck intendiertes Werk
kann inadäquat betrachtet werden (religiöse Kunst).
Von der Kultur haben wir behauptet, daß darin Bedeutung und
Ausdruck wichtige Faktoren seien. Die Bestimmung der Kultur wird
mit der Behandlung des Verhältnisses von Kultur und Seele er-
weitert: Das Beziehen von Gegebenheiten aus Sinnganzheiten mit
Bedeutungs- und Ausdrucksfähigkeit.
Da es das Wesen der Kultur ist, immer auf die Seele hinzuwei-
sen, ist es nötig, die Seele von diesem Gesichtspunkt her zu definie -
ren. Wir werden ihre aus verschiedenen Systemen ableitbaren Be -
griffe trennen. 1. den psychischen, 2. kulturphilosophischen, 3.
mythologischen, 4. metaphysischen. Die Seele kann nie an sich
erfahren werden, nur in ihren Offenbarungen. Jedem anderen Begriff
entspricht eine von irgendeiner Kategorie erfaßbare Materie. Die
Seele kann nur rekonstruiert werden aus ihren Offenbarungen, wie
das Ganze aus seinen Teilen, wie die Ursache aus der Wirkung, wie
der Eigentümer aus seinem Eigentum. Dieser rekonstruierte
Seelenbegriff ist auch verschiedenartig, je nach welchen Objekten er
rekonstruiert wird.
Worin unterscheiden sich die das Thema der Psychologie
bildenden Seelenerscheinungen von den Seelenelementen der
Kultur? Die Psychologie behandelt die psychischen Erscheinungen
nur, insofern sie intentionelle Akte sind. Was ist eine Intention? Ich
sehe z.B. ein Bild, ich erinnere mich an es, ich möchte es haben.
Diese drei Beziehungen sind intentionelle Akte. Die Psychologie
beschäftigt sich damit nur, insofern es Sehen, Hören, Wille,
Erinnerung ist.
Die Psychologie beschäftigt sich nur mit dem Aufeinanderbezo -
gensein, nur selten mit dem Inhalt und nur, sofern man dem inten -

230
tionellen Akt einen Namen geben muß, der vom Objekt genommen
wird. Die Objekte haben besondere Gesetze.
Der Gegenstand der Kulturphilosophie ist das zum Objekt kon-
struierte Subjekt.
Die psychologische Seele ist zu den intentionellen Akten rekon -
struiert. Beim kulturphilosophischen Seelenbegriff fallen die inten -
tionellen Akte weg. Die psychologische Seele kann abnormal, aber
nie individuell sein. Die kulturphilosophische Seele kann aber auf -
grund der Verschiedenheit der Sinnganzheit immer wieder anders
rekonstruiert werden.
Zum Kulturobjekt einer Epoche (nicht in der Zeit, sondern dem
Zeitraum der spezifischen Synthese der Kulturelemente) kann ich
den Zeitgeist rekonstruieren. Die Synthese der Gesamtheit der bisher
angewandten Sinne ergibt den Geist.
Zur Serie eines als Ganzes empfundenen OEvres rekonstruieren
wir als seinen Träger die Persönlichkeit (z.B. Goethe). Die Per -
sönlichkeit Goethes existiert auch nur als etwas Rekonstruiertes. Das
Subjekt mußte ich vom Objekt her erreichen, unmittelbar konnte ich
es nicht erkennen. Darum kann ich fragen, ob der litera turhistorisch
rekonstruierte Goethe je existierte. Geist, Zeitgeist existiert ebenfalls
nur als Ergebnis eines solchen metaphysischen Verfahrens.
Auf der Stufe der Theorie -- ebenso wie bei der Natur und der
Kultur - ist die Seele mit primärer Erkenntnis nicht erkennbar, nur
aus ihrem korrelativen Begriff. Die eine ist vom anderen her er -
kennbar. Dort aus der Korrelation von Natur und Kultur, hier aus der
von Kultur und Seele.
Es gibt auch hier durch die Ekstase nicht eine Erkenntnis, son-
dern ein Erreichen der Seele ohne Vermittlung. Es gibt eine Identifi -
zierung mit uns selbst und -- das Thema beseite schiebend -- mit den
anderen. Die Aufhebung des Gegenstandserlebnisses ist selten. Das
Ereichen der Seelen der m)'stisciien Ekstase ist für die Erkenntnis
wiederum nicht zu verwerten. Der Mystiker kann nur stammeln.
Auf dem Niveau der Identifikation können wir nicht verbleiben,
darum tritt die Kultur als Vermittler ein. Vom Augenblick, von uns
selbst, von den anderen losgetrennt müssen wir durch ein Medium
verkehren. Die Resultate des rein sinnlichen Erlebens, unsere dies-
bezüglichen Fähigkeiten (die das Tier auch besitzt), können wir nicht
übergeben. Ebenso kann auch die Ekstase nicht fortgesetzt, nicht zu
einer entwicklungsgeschichtlichen Tatsache werden.

231
Wir sagten schon, daß die Natur für den Menschen verloren sei,
aus ihren Trümmern hat man, indem man sie in Sinnganzheiten zu-
sammenschloß, eine neue Welt, die Kulturwelt rekonstruiert. Au -
ßerdem weist die Kultur auf die Seele hin, wie sie auf die Natur hin -
gewiesen hat, die Seele können wir aber durch die Kultur nur mittel -
bar erreichen. Und es wird eine golemartige dritte Entwicklungsrei he
in ihr produziert. Das Erreichen der Seele ist in der Kultur un -
möglich. Worin besteht jedoch der Wert der Kultur? Dadurch, daß
ich mich an fortsetzbaren Objekten ausdrücken kann, bekomme ich
doch meine Persönlichkeit, wenn auch nur rekonstruiert. Der Mystik
zufolge gibt es in dieser rekonstruierten Persönlichkeit ein tieferes
positives Element, das es im unmittelbaren Erleben, in der
Identifikation nicht gibt, und das ist ein Gewinn.

(6.6.1919)

Die letzte Bestimmung der Kultur, die Beziehung der Gegebenhei ten
auf Sinnganzheiten mit Bedeutungs- und Ausdrucksfähigkeit, ist
subjektiv. Entweder der Schaffende oder der Rezipient ist in die
Bestimmung einbezogen. Eine objektive Definition ist jedoch nö tig.
Was an sich bedeutungs- und ausdrucksfähig ist, ist ein Kulturobjekt.
Selbst das ist nicht genügend objektv. Was ist ein objektives
Kriterium zur Unterscheidung der Kulturobjekte von den zivilisato -
rischen Objekten?

KULTUR UND ZIVILISATION

Das 19. Jahrhundert hat der Kultur mit der Entwicklung der Natur -
wissenschaften einen gewaltigen Schwung gegeben. Jemand sagte:
Es ist mehr wert, wenn ich mit den entwickelten /Verkehrs-/Mitteln
in einem Tag irgendwo hingelange - die Eindrücke stürmen in und
vor mir an einem Tag fort.
Gibt es einen Wert, auf den eine Maschinenkonstruktion bezo -
gen werden könnte?
Den einen nennen wir einen absoluten, den anderen einen eudä-
monistischen Wert. Der Maßstab dieses letzteren ist eudämonistisch,
der Wohlstand der Menschen, jener bezieht sich gar nicht auf den

232
praktischen Nutzen des Menschen. Aufgrund der Differenz der Werte
nennen wir die auf eudämonistische Werte bezogenen
Sinnganzheiten, deren Ziel es ist, dem kreatürlichen Wesen des
Menschen zu dienen, zivilisatorisch. Bei Kulturgütern werden
die Sinnganzheiten auf absolute Werte bezogen, das dient dem
intelligiblen Wesen des Menschen. (Leopold Ziegler, ein Schüler
Eduard von Hartmanns, stützt sich in vielem auf Schiller. In seinem
Werk „Das Wesen der Kultur" arbeitet er mit metaphysischer Deduk -
tion.)
Bei der Bestimmung des Kulturobjektes setzen wir
prästabilisierte Harmonie voraus - die psychologisch aber nicht
immer gegeben ist. Es kann vorkommen, daß auch ein Kulturobjekt
in eudämonistische Beziehung gelangt und umgekehrt, das rächt sich
aber.
Dem zivilisatorischen Objekt gegenüber betrachten wir eine ge-
wisse praktische Attitüde, ein praktisches Verhalten als Mittel, nicht
in seiner Wirklichkeit. Es gibt Menschen, in deren Leben dies die
einzige Attitüde ist, und eben sie nennen sich Realisten, die an deren
aber Idealisten. Indessen ist der sogenannte beste Kaufmann und
Politiker am meisten abstrakt, weil er alles nur aus eudämonistischer
Sicht betrachtet. Der Briefträger ist für ihn nur ein Mitglied einer
eudämonistischen Relationsreihe. Wie viele Kinder er hat, ob er
traurig oder fröhlich ist, interessiert ihn nicht. (Simmel: Philosophie
des Geldes.) Es ist die Gefahr der gegenwärtigen Epoche, daß das
Geld alles homogenisiert, auf den gleichen Nenner bringt. Ein
Kaufmann betrachtet ein Gemälde nur vom Gesichtspunkt des
Marktes aus. (Hegel: Wer denkt abstrakt?) Die Abstraktheit solcher
Menschen zeigt sich auf allen Gebieten. So ist die Bourgeoisie, und
sie merkt es gar nicht, weil nur das Geld vor ihr steht und nicht seine
unübersehbaren Folgen.
Historische und gesellschaftliche Verschiebung: 1. wenn wir
das Kulturprodukt einer anderen Zeit mit anderen Augen ansehen, 2.
wenn wir ein zeitgenössisches Kulturprodukt aus der Sicht einer
anderen Gesellschaftsschicht anschauen. Nach Georg Lukács gibt es
eine gewisse Beziehung, Übereinstimmung zwischen Sozial- und
Kulturschichten. In jeder Epoche gibt es einen ranghöchsten Hof,
Gesellschaftskreis, wir hoffen, daß jetzt der Proletarier dies sein
wird. Der Proletarier ist hier nicht soziologisch gesehen, sondern aus
der Sicht des progressiven Menschen.

233
Wenn eine niedrigere Gesellschaftsschicht die Kultur einer
höheren übernimmt, gelangt sie zu ihr in eine solche Beziehung wie
der noch in einer älteren Kultur Lebende zu den an der Spitze der
progressiven Kultur Stehenden. Solches Abgleiten kommt auch zwi-
schen Kultur und Zivilisation vor, z.B. im Falle der zur Ehe
gewordenen Liebe. Zunächst gleiten die sogenannten en-bloc-
Bedeutungen ab. Es gibt aber auch ein Aufsteigen im Gegensatz zu
dem Abgleiten. Das geschieht mit Einrichtungen wie Staat, Familie
usw.
Der Staat kommt in der tatsächlichen Geschichte in zwei Kon-
zeptionen vor: 1. zivilisatorisch, das Interesse des Einzelnen (in den
Vordergrund stellend), 2. der Staat als Erzieher. Hier muß er zu
absoluten Werten führen. Nach Wolff ist es die Aufgabe des Staa -
tes, /die Menschen/ vollkommener und glücklicher zu machen.
Demgegenüber soll er nach Humboldt nur zivilisatorisch sein, die
öffentliche Ordnung sichern.

Der Unterschied der beiden Auffassungen hängt mit der Tren -


nung von Recht und Ethik zusammen. Wenn wir die beiden als eins
empfinden, betrauen wir den Staat mit einer Kulturmission. Wie die
bolschewistische Staatsdiktatur. Sie zensiert und kontrolliert jetzt -
um damit zu erziehen. In der weiteren Entwicklung müßten die
Einrichtungen überflüssig werden. Die Politik strebt heute - in eine
geschichtsphilosophische Konstruktion hineingestellt - danach, jede
Politik überflüssig zu machen, weil sie nur ein zivilistori sches Objekt
ist. (Hegel) Dagegen haben auch die zivilisatorischen Erscheinungen
eine Tendenz, nämlich sich zum Selbstzweck zu entwickeln - obwohl
ihre ursprüngliche Tendenz eine andere war.
Es muß eine Revolution vorbereitet werden für den Fall, daß
sich die Einrichtungen, für welche heute gekämpft wird, zum
Selbstzweck entwickeln wollen. Das ist heute eine riesige Erzie
hungsaufgabe. Solange aber der einzelne nicht vollständig ethisch
und frei geworden ist, sind die Kulturinstitutionen unvermeidlich
notwendig, die die Untertanen mit Gewalt, mit scheinbar gewaltsa-
men Mitteln zwingen, Kulturmenschen zu werden. Solange wir nicht
in den paradiesischen Zustand gelangen, in dem es keine Insti-
tutionen mehr gibt, wird es immer Revolution geben - zur Zerstö rung
nicht der Menschen, sondern der zum Selbstzweck gewordenen
Institutionen, um neue zu schaffen. Ihre Tragik ist, daß Menschen
getötet werden müssen.

234
Die Hierarchie von Mittel und Ziel, das ist der Weg der Ge-
schichte. Generationen, welche fühlen, daß sie die beiden nur zu ih -
rem Verderben verwechseln würden, opfern sich lieber dem Ziel auf.
Sie wollen das Mittel vernichten, und weil eine Institution nur durch
Menschen umgestürzt werden kann, ist die Vernichtung der anderen
unvermeidlich. Wenn der Mensch um den Preis der Revo lution ein
neues Mittel einsetzt, gelangt er dem Ziel einen Schritt nä her. Diese
Revolution gibt es nicht nur auf sozialem Gebiet.
Auch in den Künsten kommt es zu zeitweiligen Revolutionen,
wenn ein Stil z.B. viel zu autonom wird und die Zeit nicht aus drückt.
Die Vertreter der künstlerischen Revolution greifen gleich nach ihrer
zerstörerischen Arbeit auf Traditionen zurück, weil diese auch bei
Revolutionen nicht abzuschaffen sind. Besonders nicht auf dem
Gebiet der Kunst. Auf sozialem Gebiet gibt es keine vollständige
Befreiung. In der Kunst muß aber die Tradition der Tech nik und die
der Aussage unterschieden werden. Die Angst der Konservativen
genügt nicht. Die Revolutionäre führen die Revolution der Kunst um
einer tieferen Tradition willen durch.

Das Problem der subjektiven und objektiven Kultur

Das ist schon eine differenziertere Frage. Es muß von subjektiver


und objektiver, passiver und aktiver, qualitativer und quantitativer
Kultur gesprochen werden. Wir behalten die Definition der Kultur
bei, nur die Beziehungen werden verschieden sein.

(13.6.1919)

Die subjektive Kultur kann 1. eine Klassifikation innerhalb aller


Kulturobjekte .sein. In engerem Sinne bedeuten z.B. eine erlebte
Landschaft und eine gemalte etwas ganz Verschiedenes. 2. Was et-
was für die Entwicklung unserer Seele bedeutet. Hier geht es um den
metaphysischen, ontologischen Seelenbegriff. Danach wird un-
abhängig und jenseits von jedem Kulturobjekt gefragt. Das ist die
Kultivierung.
Unsere kulturphilosophische Auffassung ist metaphysisch.

235
Der Marmor ist nur die Erscheinungsmöglichkeit eines Gedan -
kens, eines Sinnes, diese sind immanent nicht darin enthalten. Eine
Handlung ist an sich nur physischer Akt, als politischer wird sie nur
verbunden mit verschiedenen Sinnreihen realisiert. Stoff, Materie ist
natürlich auch nötig. Wenn z.B. in einem Buch ein Sinn nieder -
geschrieben ist, aber von niemanden gelesen wird, ist er für nieman -
den ein Erlebnis, ist er psychisch nicht real. Die physische Realität
ist nur ein Zeichen - wesentlich ist eine dritte Existenz. Diese be sitzt
eine andere Seinsweise.
Die physische Existenz existiert in Raum und Zeit, die psychi-
sche in der Zeit, das Kulturobjekt in der Geltung, im Sinn. Wir
können ihm seine Existenzweise nicht vorschreiben, wir lesen sie ab,
unsere bisherigen befangenen Existenzauffassungen beseite lassend.
Das Heim dieser Sinnarten ist die Geltung.
Wenn das, was in einer Skulptur erscheint, ebenso ein Sinn ist
wie das, was wir an einer Landschaft erleben, ist die Frage, worin
dennoch der Unterschied besteht. Beim einen gibt es eine konstruk-
tive Materie, beim anderen ist das Erlebnis das konstruktive Element.
Unter den subjektiven und objektiven Kulturtatsachen gibt es viele
formale Differenzierungen, mit ihnen beschäftigt sich aber die
Ästhetik. Bei der Skulptur schlägt sich der Sinn an physischer
Materie nieder, bei der erlebten Landschaft am psychischen Erleb nis.
Das letztere empfinden wir als subjektiver.
Objektive Kultur: Niederschlag der Sinnarten an nicht erlebnis-
artiger Materie (Plastik, Malerei, Musik, Philosophie - durch Be -
griffe). Das muß auch zum Erlebnis gemacht werden.
Subjektives Kulturobjekt ist das, was sich an unmittelbarer Er-
lebnismaterie niederschlägt, ohne sich vorher an physischer Materie
niederzuschlagen. Landschaftserleben, die Konzeption des Weisen,
des Heiligen - die Lebenskonzeptionen überhaupt. Obwohl sie nicht
objektiv zu sehen sind, haben sie ihre Geschichte. Sie zu schreiben
(ist schwer), weil ihre realisierten Momente nicht erstar ren, sich
nicht erhalten. Sie sind aber herauslesbar (als Objekte) in einer
Dichtung, Kunst, Musik höheren Niveaus.
Viele leben und beschreiben ihr Leben nach den Stufen historio -
graphischer Traditionen. Vom hl. Franz von Assisi hat die Welt die
Renaissance-Erlebnisform übernommen. Die Kirche versucht die
Lebensform nachahmen zu lassen. Doch sind spezielle Lebensfor men
unnachahmbar.

236
Die Geschichte des Musikspielens ist z.B. zu beobachten durch
die Vermittlung der Interpretation der Musikwerke. Nur gibt es nicht
genügend feine Kriterien dafür. Das Grammophon kann z.B. das
Klavierspielen einmal und dann von Zeit zu Zeit fixieren. Die
Geschichte des Klavierspielens ließe sich also zusammenstellen. Sie
wäre freilich unklar, aber für die Interessenten auch so wertvoll.
Neben dem liber scriptus zieht sich auch ein liber vivus hin, welches
intensiver als jenes ist. Jemand ist mangels objektiver Kulturtatsa -
chen nicht bekannt geworden, leitete aber mit dem Erleben einer
Erlebnisform, wenn er dies weitergab, doch eine große Kunst ein.
Auch die Weltanschauung ist eine erste Objektivierung grundle-
gender subjektiver Erlebniskategorien. Hier liegen die tiefsten
Triebfedern der Geschichte. Man sollte alle Formen der
Kulturgeschichte, durch die sich die Erlebnisse objektiviert haben, in
Klammern setzen, um ihr gemeinsames subjektives Urfundament
erreichen zu können. Der Mangel an Exaktheit darf uns nicht zurück -
schrecken. Man muß so viel wie möglich rekonstruieren, die mög -
lichst exakten Ausdrücke natürlich gewissenhaft anwendend.

Erlebnisformen

Die Natur stellt die Dinge indifferent nebeneinander. Das Seelenle -


ben vereinigt die Elemente durch Erlebnisformen. Der Eros bei den
Griechen z.B. bedeutet ein ewiges sich Wegsehnen. Traurigkeit,
Abenteuer, Freundschaft, Liebe fügen Erlebniselemente zum Ganzen.
Die Zeit des Auftretens und Verschwindens ist bei manchen Er -
lebnisformen sogar bestimmbar. Meine eigenen Erlebnisse muß ich
erfassen und irgendwie objektivieren, um sie vermitteln zu können.
Ich habe z.B. einen Seelenzustand - um ihn vermittelbar zu machen,
muß ich seine Elemente in Erlebnismaterie einschließen. Ein
Erlebnisstoff, der in kein objektives Sinnganzes hineinpaßt, hängt
davon ab, ob wir uns selbst bewußt werden; er geht verloren, weil
wir ihn in keinen subjektiven und objektiven Kultursinn einfügen
können. Auch hier wird immer mehr realisiert, gewinnt immer mehr
eine Erlebnisform. Das ist ein noch zu entdeckendes Amerika. Nicht
das ist die Hauptsache, daß wir ihm einen Namen geben, es in ein
logisches Sinnganzes hineinstellen. Wir haben es schon früher

237
entdeckt. Das ist schon das dritte Stadium. Wir wußten schon früher
davon, sind ihm innegeworden. Bei Sokrates die Ironie, bei Platon
der Eros, im Mittelalter die Ascedie (inneres Grübeln, Los-
gerissenheit vom Leben, auch Dante spricht darüber). (Die Askese ist
keine christliche Lebensform, in den ersten Jahrhunderten gab es sie
gar nicht, und wenn doch, dann nur als Reaktion in der der sinnlichen
Freuden überdrüssig gewordenen römischen Rasse. Der aus einem
Juden Christ Gewordene war kein Asket!)
Ein solcher ist der Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts, reali -
siert in der Comédie larmoyante und dann in Rousseaus Nouvelle
Héloise. Eine solche ist Friedrich von Schlegels neue Formulierung
der Ironie.
Abgleiten gibt es auch in den Erlebnisformen. Die Kulturphilo-
sophie muß von diesen Erlebnisformen eine Deskription geben, z.B.
von der Sentimentalität. Ihre Grundlage ist die Traurigkeit, daß ich
mich selbst als traurig betrachte. Der sentimentale Mensch ist nicht
wirklich traurig. Er genießt die Traurigkeit, versinkt nicht in ihr.
Auch die Sentimentalität ist immer anders. Wenn ich z.B. den
Zigeuner mir in die Ohren spielen lasse. Ich bin traurig, aber nicht
ich bin es. Sie kann auch historisch überholt werden, heute wird die
Sentimentalität z.B. verspottet.
Die alten Erlebnisformen genügen uns nicht mehr. Es ist eine
große Wohltat, wenn jemand Gefühlselemente in eine neue Einheit
zusammenfassen kann. Am meisten ist heute die Liebe darauf ange-
wiesen. Bisher gab es dafür zwei Formen: 1. Tristan und Isolde, 2.
das Abenteuer. Diese befriedigen uns heute nicht mehr. Wir ver -
drängen sie lieber, als sie unvollkommen auszudrücken. Goethe war
dazu fähig, neben seinen Werken auch mit seinen Erlebnisformen
den Erlebniselementen einen neuen Sinn zu verleihen. Diese
Erlebnisformen werden dann langsam sozialisiert, kommunisiert.

Lebensformen

238
Ohne diese ist das Leben ein Nacheinander unbegreiflicher
Augenblicke, ein langsames Vergehen der Tage. Bruchstückweise
sind sie bei vielen Menschen gegeben, als Ganzes aber nur bei
wenigen. Am konkretesten werden sie in den Menschenidealen
ausgedrückt, die auch ihre Geschichte haben. Humboldt erklärt in
seiner Arbeit „Über weibliche und männliche Form", was für ein
Lebensideal hinter den griechischen Göttern steckt. Das Lebensideal
der antiken Griechen ist Sokrates, das alttestamentliche ist der
gerechte Mensch, das der modernen ist Nietzsches Übermensch.
Nicht jeder Mensch realisiert das ihm am meisten entsprechende
Lebensideal und will das auch nicht.
Die Lebensformen können 1. in absolutem Sinne und 2. in ih rer
Bedeutung für den Betreffenden analysiert werden. Die Kunst
wendet diese Lebensformen an, indem sie die alten mit den gegen-
wärtigen verschmilzt.

Der Heilige - der Politiker - der Pädagoge

Heute sind diese drei Lebensformen problematisch. Wir legen nicht


die alten Konzeptionen zugrunde. Wir betrachten sie aus der Sicht
eines neuen ethischen Problems: ob es erlaubt sei, um eines guten
Ziels willen zu bösen Mitteln zu greifen?
Der Politiker glaubt nicht an Gott, er glaubt an die Geschichte.
Der Heilige glaubt an Gott, er sagt aber, daß sein Reich nicht von
dieser Welt sei. Der Pädagoge glaubt weder an Gott noch an die Ge-
schichte, sondern nur an die Kultur.
Der Heilige glaubt, daß die Verbesserung der Welt nur auf gera -
dem Wege, mit der Kraft des exemplarischen Lebens möglich sei.
Das Übel bricht aus. Der Politiker sieht das Übel, leidet an ihm, weil
er an die Geschichte glaubt, kämpft er durch Institutionen um die
Menschheit.
Der Pädagoge glaubt an die obigen zwei Weisen nicht, er glaubt
aber, daß es ein Mittel des Kampfes gegen die Institutionen gibt: die
Kultivierung, die wesentlich umgestaltende Wirkung der Kultur. Die
Geschichte kann er nicht negligieren, dem Heiligen kann er nicht
gänzlich folgen, weil er nicht an die völlig umgestaltende Kraft des
Exempels der Seele glaubt.
Theoretisch kann ich hier keines von ihnen wollen.
Ursprünglich ist es in der Tiefe der Seele. Der echte Heilige hat eine

239
Ausstrahlungskraft, er ist daran zu erkennen, wie er Obwohl und
Zwar, Vielleicht und Dennoch - nicht aber, wie er Ja oder Nein sagt.
Wer in jedem Augenblick, und nicht nur später einmal, bereit ist, für
seinen Glauben zu sterben. Wer fühlt, daß er die Traurigkeit der Welt
stärker als ihre Veränderung empfindet. Wer aber auch fühlt, daß er
zum Kampf berufen ist, wenn auch nur durch Institutionen, wenn
auch in einem Märtyrerkampf, der ist /der Politiker/.
Der Pädagoge ist resigniert, er kann die Menschen nicht mit der
Unmittelbarkeit des Heiligen anrühren, denn er weiß, daß seine Geste falsch
wäre. Er weiß aber, daß die Kunst, so hochwertig sie auch sein mag - nicht
besser macht. Und dennoch hofft er, daß die Musik der Seele irgendwie durch
sie durchbricht. Nur das ist für uns alle gegeben. Und wenn sich der Pädagoge
auch dessen bewußt ist, wenn er sich damit auch abgefunden hat, daß er das
Unendliche nicht erreichen kann, tut er mindestens so viel wie Charon, er führt
über das schwarze Wasser.

240
BÉLA BALÁZS: ÜBER LYRISCHE
SENSIBILITÄT
DIE ENTSTEHUNG DER NEUZEITLICHEN LYRIK ODER
DIE GESCHICHTE DER MENSCHLICHEN EINSAMKEIT

Das Verhältnis des Menschen zur Welt zeigt sich in den


jeweiligen Weltanschauungen und Religionen. Diese
Weltanschauungen werden von den wirtschaftlichen Verhältnissen
der Gesellschaft geformt. Hier jedoch wird von diesen
wirtschaftlichen Motiven wenig die Rede sein, da diese die Dichtung
zumeist nur indirekt, d.h. über die Weltanschauungen beeinflußen.
Besonders die Lyrik hängt direkt nur mit dem allgemeinen
Lebensgefühl zusammen, so daß sich - in Kenntnis und
Voraussetzung der wirtschaftlichen Wurzeln - allein die Wandlungen
der allgemeinen Lebensstimmung der unterschiedlichsten Zeitalter
und Gesellschaften in den Wandlungen der Lyrik zeigen, welche den
Weg der Seele zur modernen Einsamkeit angeben.
Jener Abgrund der Dualität, der Subjekt und Objekt, Seele und
Natur voneinander trennt, war in der antiken Hindu-Kultur noch
nicht vorhanden. In dem lebendigen pantheistischen Weltgefühl
konnte sich das Selbstbewußtsein als sich selbst gesondert empfin -
dendes, sich gegen die Dinge wendendes Individuum noch nicht von
dem einen Weltgeist lösen. Auch besitzt der Mensch keine Seele,
sondern die Seele manchmal einen Menschen, wenn sie in ihrem
ewigen Kreislauf dann als Illusion gelegentlich auch Menschenform
annimmt. Die Seele steht nicht der Natur gegenüber, denn alle Din ge
sind nur Farben derselben Seele. Deshalb kann die Natur auch die


Balázs Béla: „A lirai érzékenységröl" (1923). (MTAK-K) Ms
Erschienen als überarbeitete Fassung der an der Freien Schule für Geisteswissen schaften im
Jahre 1917 gehaltenen Vorlesungen in: Diogenes (Wien), 1923, No-s. 10 - 20. Ausschnitt.
Übersetzt aus: Balázs Béla: Válogatott cikkek és tanulmányok, Szerk. K. Nagy Magda,
Budapest 1968, S. 123 - 170.

241
Seele des Menschen nicht symbolisieren, nicht bedeuten. Denn in
jeder „Bedeutung" erscheint ein anderes, es handelt sich um ein
Hinausweisen über sich selbst. In dem einen und ungeteilten Welt -
geist gibt es jedoch kein „anderes" und kein „jenseits".
Dies ist eine Lebensstimmung, die die Lyrik überhaupt nicht
kannte. Ja, in der alten Sanskrit-Literatur gibt es sogar auch keinen
Unterschied zwischen Wissenschaft und Dichtung. Denn es gibt ja
noch keine zwei Standpunkte, von denen her die Welt in zweierlei
Weise gesehen werden könnte. Deshalb erscheint diese alte Dich tung
als so trocken und diese alte Wissenschaft als so farbig. Aber wenn
unsere rettungslose individualistische Sichtweise diese Schriften
auch manchmal als Poesie ansieht, findet sie doch auch nur Epik in
ihnen und nicht Lyrik. In dem unbewußten und naiven Zu -
sammenhang mit der Welt drückte sich der Dichter mit dem einfa-
chen Aussprechen der Dinge auch schon selbst aus. Und von Natur
wird zwar viel gesprochen, nie aber von den hundert verschiedenen
Verhältnissen des Dichters zu ihr. Doch beginnt eben erst damit die
Lyrik.
In der griechischen Kultur tritt die Dualität schon auf; also er -
scheint auch die Lyrik.
(Diese Entwicklung ist natürlich nicht bruchlos einlinig. Denn
teilweise wiederholt jede Kultur die Geschichte, teils nimmt sie sie
vorweg.)
Die griechische Seele besitzt schon Konturen, sie empfindet
sich schon selbst, sie hat sich schon von der unbewußten Einheit
gelöst. Die griechische Seele ist nicht mehr identisch mit der Natur -
doch ist sie noch homogen mit ihr. Denn im Weltgefühl der Griechen
ist auch die Natur Seele. Deshalb kann die Natur die Seele des
Dichters nicht symbolisieren, nicht bedeuten. Man kann auf sie nicht
subjektive Stimmungen wie auf einen leblosen Ständer aufhängen.
Sie kann nicht den Dichter bedeuten, weil sie vor allem sich selbst
bedeutet. Sie kann nicht die Farben der Dichterseele tragen, weil sie
eine sichtbare eigene Seele hat. Die Dinge können nicht symbolisch
sein, weil sie mythisch sind.
Freilich hat die spätgriechische Entwicklung schon eine
rationale tote Kruste über diese lebendige Natur gedeckt, und

242
dementsprechend erscheint in der Seele des Dichters auch eine
leichte Schicht von subjektiven Stimmungen. Noch reiner zeigt sich
diese Entwicklung in der spätrömischen Literatur. Jene Römer
glauben nicht mehr an den Mythos der Natur, und schon werden
die Idylle und die Ekloge geboren. Die Natur ist tot, und es
verlebendigt sich die Dichtung über sie. Es erscheint auch die
Sehnsucht der entfremdeten Seele: „Beatus ille . . . " Es ist die
Sehnsucht des Dichters der städtischen Kultur nach dem Dorf. Es ist
die Lyrik, aus der Distanz geboren, in der die ersten Stimmen der
losgelösten und einsamen Seele erklingen.
Im Mittelalter verschärft sich diese Dualität noch. Die Distanz
von Seele und Natur wird unüberbrückbar, weil zwischen ihnen ein
qualitativer Unterschied entsteht. Die Natur ist nicht eine andere
Seele, sondern überhaupt seelenlos. Hier ist das Gegenüber schon
rein und scharf, weil es gegnerisch ist. Und die großartige mittelal -
terliche Lyrik ist die erste in Europa, die schon über moderne Töne
verfügt.
Und dennoch! Mag auch diese Erde noch so sehr eine Öde, ein
Tränental des Dunkels sein und die irdische Natur eine hassenswer te
Fallgrube der Sünde, aus der die Seele um Erlösung schreit, so ist
diese irdische Natur dennoch der tiefé Keller jenes Bauwerkes, in
dessen Turm sich der Himmel spiegelt. Sie hat eine Beziehung zur
Seele wie das Minus zum Plus. Sie gehört in das System des einheit -
lichen Weltbildes sinnvoll hinein. Der Weg der Seele: gegnerisch,
aber nicht fremd.

Deshalb wird auch in der mittelalterlichen Lyrik die Natur nicht


symbolisch. Obwohl die Seele fremd ist auf der Erde, ist sie doch nur
verbannt und nicht heimatlos. Denn sie kennt ihre Heimat im
Himmel. Der Mensch erwartet dort die Verwirklichung seiner Seele
und muß sie nicht auf die irdischen Dinge projizieren. Deshalb sind
auch die Naturbilder der mittelalterlichen Lyrik ohne Luft und At -
mosphäre. Sofern sie überhaupt vorkommen, tragen sie eine Art
rohen Realismus an sich. Es entstehen manchmal ohne Andacht vor
der Natur, schonungslos beobachtete, trockene Bilder. Eine seelische
Perspektive hat diese Natur nicht, weil sich die Perspektive nur zum
Himmelreich hin öffnet. Doch ist dies noch weit, und der Seele

243
macht eine ewige große Distanz schon Schmerzen, und aus dieser
relativen Verlassenheit heraus ertönt die manchmal fast schon mo -
dern klingende Melodie der Einsamkeit und Sehnsucht.
Doch erst viel später, mit dem Vergehen des einheitlichen und
gemeinsamen religiösen Weltgefühls bzw. mit der Gestaltung der
kapitalistischen Gesellschaft entsteht das scharf umgrenzte indivi-
dualistische Selbstbewußtsein, die isoliert einsame Seele, die in ihrer
Lyrik immer stärker die von ihr „weg"-objektivierte, die „vcrding -
lichte" Natur spürt, in der sie sich symbolisieren kann. So wird sie
später, nur noch mit den Bildern von sich selbst umgeben wie in ei -
nem Spiegelzimmer, gänzlich einsam.


Wenn wir die neuzeitliche Lyrik insgesamt mit der alten vergleichen,
die symbolische mit der nicht-symbolischen, jene, die die See le in
den Bildern der Natur spürbar werden läßt (materialisiert), mit jener,
welche die Seele außerhalb der Natur lokalisierte, dann sehen wir
drei neue große Motive, die den Grundton der neuzeitlichen Lyrik
angeben, zur näheren Wurzel der modernen Dichtung werden und
die alle drei in der alten Lyrik überhaupt nicht vorkamen.
Diese drei Motive sind Einsamkeit, Sehnsucht und der Augen-
blick.
Diese kannte die alte Lyrik nicht, weil sie Motive sind, die nur
in einer Kultur möglich sind, die ihre Religion verloren hat. In einer
Zeit mit einem bestimmten religiösen Lebensgefühl kann die Seele
nicht einsam sein, weil sie ihrem Glauben gemäß irgendwohin ge-
hört. (Es gibt eine einzige Religion, die die Einsamkeit kennt, und
das ist der Calvinismus, charakteristischerweise die jüngste europä-
ische, die zeitgemäße Religion des anfänglichen Kapitalismus.)
In der hinduistischen Weltanschauung konnte die Einsamkeit
nicht einmal als Problem auftauchen. Die griechische Seele war der-
art von Göttern umgeben, daß das Gefühl des Nichtverstanden seins,
des Nichtgesehenwerdens auch sie nicht überkommen konnte. Sie
mochte sich unter Gegnern fühlen, doch nie unter verständnislosen
Fremden. Dabei ist nur dies die Einsamkeit. (Das trifft freilich auch
nur auf das Frühgriechentum vollständig zu. Die spätgriechische
Entwicklung zeigt schon bei Euripides viele „moderne" Motive.) Im

244
Mittelalter war die Seele zwar hier auf der Erde schon verwaist und
verbannt, aber sie kannte das kommende Reich, aus dem sie
vertrieben worden war, glaubte an es und erwartete es.
Die in der modernen Lyrik sich äußernde Seele kennt jene Hei-
mat nicht, aus der sie vertrieben wurde. Und schon die Frage der
Mignon: „Kennst Du das Land?" spricht zwar von einer wirklichen
irdischen Heimat, von Italien, dennoch klingt sie um vieles nebeli -
ger, hoffnungsloser als die gen Himmel gerichteten inbrünstigen
Lieder der mittelalterlichen Mönche.
Das eine Symptom des Herausfallens aus der kosmischen Ge-
meinschaft ist der Verlust der Religion und ein gleichzeitiges anderes
die Einsamkeit. Nun ist aber die Sehnsucht nur die Stimme dieser
Einsamkeit. Die Seele, die sich in der Fremde heimatlos fühlt, sehnt
sich nach Hause. Jede Sehnsucht ist Heimweh. Doch die alten
Kulturen waren in dieser Welt zu Hause. Auch der mittelalterliche
Christ fühlte sich nur im dunklen Vorzimmer, kannte aber die Welt
von der Hölle bis zum Himmelreich als ein Wohnungssystem, und
darin war er zu Hause. Wenn sich der mittelalterliche Christ auch
sehnte, so doch nach einem bekannten Ziel, nach einer in allen Ein -
zelheiten vorgestellten und bekannten konkreten Erlösung. Doch ist
das nicht die echte Sehnsucht, nicht der Grundton der modernen
Lyrik. Diese neuzeitliche Sehnsucht ist nicht wie ein Fluß, sich in ei -
ne bestimmte Richtung eingrabend, weil sie nicht einmal eine Rich -
tung hat, sondern sie zerfließt in der ganzen Seele und weicht deren
gesamte Welt auf. Jedes Motiv der neuzeitlichen Lyrik erhält ein
solches Kolorit der Sehnsucht. Denn diese Sehnsucht ist das Selbst-
gefühl der Einsamkeit.
Und der Augenblick? Die neuzeitliche Lyrik erhält ihren ganzen
Sinn von der großen Bedeutung des Augenblicks, von jener moder-
nen Lebensstimmung, daß ein Augenblick etwas aufleuchten lassen
kann, das den Sinn und das Glück eines ganzen Lebens in sich birgt
und dann auf ewig verlorengeht; daß in einem flüchtigen Duft mehr
enthalten ist als in langen Jahren. Es ist zur fast ausschließlichen
Berufung geworden, diese Augenblicke, diese flüchtigen Düfte ein-
zufangen.
Nun war aber gerade dieser Wert des Augenblicks in den alten
Kulturen unbekannt. Religiöse Kulturen kennen nur bleibende Werte.

245
Sub specie aeternitatum lebende Menschen nehmen den Augenblick
nicht einmal wahr. (Mit dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Formen hängt dies so zusammen, daß die alten Gesellschaf ten eine
statische Struktur besaßen. Sie wandelten sich zwar, waren aber nicht
für den Wandel eingerichtet, sondern für Beständigkeit. Es ist eine
Spezialität der kapitalistischen Gesellschaft, daß sie auch keine
Intention zur Beständigkeit hat, sondern umgekehrt, ihre Exi -
stenzbedingung die ständige Revolutionierung der Produktion ist,
und sie darin dem Läufer auf der Kugel ähnelt, der auf ihr stets lau-
fen muß, um darauf bleiben zu können.)
Für die Kunst zählt allein das direkt fühlbare Konkrete. Uns je-
doch scheinen die ewigen Dinge abstrakte Ideen zu sein. Wir emp -
finden direkt nur den Augenblick. Doch für den alten naiven Mythos-
Glauben waren die ewigen Dinge konkret.
Folglich ist auch der moderne „Augenblick" das Ergebnis der
Loslösung aus der Weltgemeinschaft, des Religionsverlustes, wes -
halb das Augenblickserlebnis auch nur eine der Erscheinungsformen
der Einsamkeit ist wie die Sehnsucht. Denn die Seele kann nicht nur
im Raum einsam sein, sondern auch in der Zeit, wenn mein jetzt
durchlebter Augenblick allein ist wie eine isolierte kleine Zeitinsel,
getrennt von meinen vergangenen und kommenden Augenblicken.
Dies ist eine viel tiefere Einsamkeit, weil sie nicht nur Fremdheit
meiner Umgebung gegenüber, sondern mir selbst, meinem eigenen
vergangenen und kommenden Selbst gegenüber bedeutet. Mein
eigenes Leben wird zum „verdinglichten" Objekt, auf das ich mit
träumerischer Verzückung blicke wie auf eine ferne Gegend im
Abenddämmer. Dies sind in der alten Lyrik nie vorkommende,
unbekannte Stimmungen.
Hierin unterscheiden sich auch das alte und das moderne
Schicksalsempfinden. Für die Alten war das Schicksal eine einfache
irrationale Gegebenheit, die erhellt werden konnte durch die
Weisheit der Wahrsager oder eine andersartige Offenbarung, aber
gerade in dem erhellten Zustand erst ihre unerbittliche volle Kraft
erhielt. Für das moderne Lebensgefühl kann das, was ich kenne,
nicht mehr über mich herrschen, und nur im Dunkel der unbekannten
Triebkräfte spüre ich den Hauch des Schicksals. In der Gültigkeit des
Augenblicks spüre ich das Schicksal am stärksten, weil ich nicht über

246
seine Grenzen sehen kann und nicht weiß, woher und warum gerade
dieses Augenblickserlebnis über mich kommt. Es ist höchstens das,
was mich mit erschauernder Insbrunst erfüllt.
Die moderne Lyrik ist also eine Lyrik der neuen Einsamkeit, de -
ren neue Erlebnisformen die Sehnsucht und der Augenblick sind.
Und die Geschichte der Lyrik ist die Geschichte der menschlichen
Einsamkeit.

LAJOS FÜLEP: KUNST UND


WELTANSCHAUUNG
Die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts führte als Abschluß
eines sehr langen historischen Prozesses die Kunst in irgend einer
Richtung an das Ende ihres Weges, wobei sie in dieser Rich tung
vergeblich versuchte, das Ende zu überwinden. Vergeblich war der
Lebenstrieb in ihr mächtig, der Trieb nach Bewegung und
Wachstum, diese letzte Grenze konnte sie nur mit unfruchtbarer
Sehnsucht überbrücken oder, anhaltend und sich an ihr stauend,
zurückströmen. Es wäre falsch, die Ursache dieses unfruchtbaren
Kampfes allein in der Kunst zu suchen. Die Grenze war nicht etwas
Zufälliges und Relatives, sondern logisch absolut, sie in dieser
Richtung zu überschreiten war ganz und gar unmöglich. Und die
Kunst ist auch dafür, wie sie ist - sei sie noch so autonom -, nicht
allein und an sich verantwortlich. Das aus der geistesgeschichtlichen
Gemeinschaft herausgerissene historische Leben der Kunst ist eine
bloße Abstraktion und produziert, wenn es sich verwirklicht, keine
autonome Kunst, sondern eine technische Meisterleistung ohne
größere Werte oder etwas blutlos Artistisches. Die Kunst als Ver -
wirklichtes ist eine in sich geschlossene - selbständige - Welt, doch
ist ihr historisches Zustandekommen nicht willkürlich und un-
abhängig von allem anderen: als Verwirklichtes ist sie sehr wohl in
sich geschlossen, als Werdendes nie für sich allein. Die verwirklichte

Fülep Lajos: „Művészet és világnézet°, Ars Una (Budapest). 1923, okt„ nov., dec. Ausschnitte.
Übersetzt aus: Fülep Lajos: Művészet és világnézet. Cikkek, tanulmányok 1920-1970. Szerk.
Timár Árpád, Budapest 1976, S. 260-309.

247
Kunst stützt sich auf nichts als sich selbst, bei der werdenden Kunst
jedoch muß alles mitwirken. Das in der modernen Kunst herrschende
Prinzip des fart pour Part hat die Tatsache, daß diese Kunst nichts
hatte, was sie trug, nicht hervorgerufen, sondern nur zum Ausdruck
gebracht. Zur Rechtfertigung des Mangels wurde jene Theorie
geschaffen, die nun gerade das Negative zum Positiven machen
wollte, die Schwäche zur Kraft und die Sünde zur Tugend. Weil wir
nichts zu sagen hatten, mußte die Art, wie wir etwas sagten,
wichtiger sein als das, was wir sagten; weil wir keine Prinzipien
hatten, mußten wir beteuern, daß auch die Kunst keine habe; weil wir
keine bis in die Tiefe unserer Seele dringende Weltanschauung
hatten, mußten wir sie auch für die Kunst rundweg verneinen.
Überhaupt mußten wir deshalb den „Inhalt" von der „Form" derart
trennen, daß der Inhalt für die Form keinerlei Sinn mehr hatte; den
Inhalt leugnend, sahen wir aber nur noch die alleräußerste Form, die
mit dem Wesen der Form viel weniger zu tun hat als der im
gewöhnlichen Sinne verstandene Inhalt. Und deshalb konnte
überhaupt nur eine solche begriffliche Konfusion von Inhalt und
Form zustande kommen, daß keines von beiden mehr das bedeute te,
was es eigentlich war. Aus der Tatsache, daß von der griechi schen
Plastik dasselbe Motiv durch Jahrhunderte hindurch geformt wurde
und die Renaissancemalerei dieselbe Madonna von Generation zu
Generation wiedergab, schlossen wir nicht, daß sich dieses
griechische Motiv und diese Madonna deshalb ständig wiederholen
können, weil sie das „Thema" dessen sind, was sich hinter ihnen
verbirgt, und daß sie sich eben deshalb wiederholen, weil sie wichtig
sind - sondern wir glaubten, weil die Kunst stets dasselbe Motiv
bearbeitete, sei es völlig gleich, welches dieses sei: die Madonna
oder der oft erwähnte Kohlkopf. Wir glaubten, das „Thema" sei al -
lein die griechische Athletengestalt oder die Jungfrau Maria mit dem
Kind, das, was wir im ersten Moment erkennen, und das übrige, wie
es geformt oder gemalt ist, das sei die Kunst, das sei die Form, und
nur das sei wichtig. Und wir sahen und verstanden nicht, daß sich in
diesem Athleten oder dieser Madonna als „Thema" dasselbe Etwas
ausspricht wie in der „Kunst" oder der „Form" und daß dieses
eigentliche Thema nicht die empirische Gegebenheit dieser Gestalt
ist, sondern das, was dieses Etwas in ihr und durch sie aussagt. Da
die Kunst wahrlich die Möglichkeit besitzt, daß die Form, zu einem
Skelett oder einer Kruste hypostasiert, sich von dem inneren Sinn,
der sie geschaffen hat, ablösen kann und, selbständig geworden,

248
weiter existiert - am Ende großer Kunstepochen, in den alten und
modernen „Akademien", jederzeit, wenn die Kunst in ihrer Dekadenz
schon den Sinn der sie zustande bringenden Wirklichkeiten verloren
hat -, machten wir (in 5- 10jährigem Wechsel) das zu unserem
Programm, über das hinaus weiteres zu schaffen wir ohnehin unfähig
waren und mit dessen Steigerung wir uns nur von der wahren Form,
der wir nachjagten, entfernen konnten.
Eigentlich kannte das fart pour Part nur das „Thema" - es mit
Recht verwerfend -, das sie in der letztlich dekadenten anekdoti schen
oder novellistischen Pseudokunst vorfand und das nun tatsächlich
nichts mehr mit bildender Kunst zu tun hat. Anderes konnte sie nicht
kennen - weil sie es selbst nicht besaß. Sie konnte in einem anderen
nicht das erkennen, was ihr fehlte. Den wahren „Inhalt" der alten
Kunst kann nur entdecken, wer ihn auch selbst besitzt. Und da sie
diesen nicht hatte, mußte sich die moderne Kunst ganz bewußt als so
besonders, als so einzigartig empfinden - so sehr sie auch bemüht
war, zu ihrer eigenen Bestätigung die Formverbindung zu willkürlich
herausgegriffenem Früheren nachzuweisen.
Die Schicksalsgeschichte des gesamten geistigen Lebens führte
die Kunst zum Part pour fart hin: zum bloß Dekorativen und zum
puren Naturalismus. Wir müssen viel tiefer unter die Oberfläche ge -
hen, an der sich bisher die Frage von „Thema" und „Form" beweg te
und zum großen Teil auch heute bewegt (in den Theorien und in der
heutigen Kunst), damit einerseits die Gründe für die Unfrucht barkeit
unserer Anstrengungen und andererseits das Verhältnis der Kunst
zum Universum des Geistes entsprechend erhellt werden. Ge steht
doch selbst der Ästhetizismus des fart pour Part von Fall zu Fall ein,
daß auch die künstlerischen Formgebungen ihre „Themen" haben -
jedoch nur in der alten Kunst! - und daß dieses oder jenes Gemälde
oder Standbild wirklich auch über seine gemalte oder polierte
Oberfläche hinaus etwas sagen will. Aber er betrachtet dies als
überholten Standpunkt und das „Thema" als Ballast, von dem die
Kunst schließlich zu ihrem Glück befreit worden sei. Es ist die
Frage, ob das Verhältnis von Kunst und Weltanschauung, das sich in
den konzedierten Kunstwerken zeigt, tatsächlich vorübergehend ist,
ob seine Zeit ablaufen kann, oder ob es zum Wesen der Kunst,
zumindest jeder großen Kunst, dazugehört. Darauf läßt sich in
verschiedener Weise antworten: rein kunstphilosophisch,

249
geschichtsphilosophisch und geistesgeschichtlich. Mit den aus der
letzteren Methode gewonnenen Gesichtspunkten möchte ich diese
Frage hier und dort berühren, denn diesmal kann es sich nicht um
mehr handeln. Also nur Gesichtspunkte und Fingerzeige - und nicht
mehr, wie es Aufgabe einer kurzen Schrift sein kann, und
möglicherweise sind auch diese so einfach und anspruchslos, daß sie
fast Allgemeinplätze sind. Doch die heutige Situation zeigt, daß sie
immer noch vonnöten sind, und besonders von jenem letzten
Gesichtspunkt her, der alle Strahlen in sich versammelt und durch
sich hindurchscheinen läßt und der - durch sein Fehlen - heute so
brennend aktuell ist: vom Gesichtspunkt das Kunst und Weltan -
schauung ineinandergebettet sind. (... )
Was weiter oben ganz allgemein über die Geformtheit von „Na -
tur", „Leben", „Mensch" usw. gesagt wurde, ist nun schon genau er
bestimmt: als in der Weltanschauung und durch sie erfolgte For-
mung. Und damit ist unser Ziel erreicht: die notwendige Korrelation
von Kunst und Weltanschauung. Wenn wir nun nicht mehr allgemein
von der „Natur", dem „Leben" usw. sprechen, sondern von konkreten
künstlerischen Inhalten, über diese oder jene Gegend, einen
Menschen, ein Ereignis, Gefühl usw., ist festzustellen, daß diese
konkreten Inhalte für uns ebensowenig in einem ungeformten
Zustand existieren wie jene Allgemeinheiten; und ihre Formen, von
denen sie Bedeutung, Sinn, ja, sogar Sein erhalten, stammen aus dem
weltanschaulichen Zusammenhang. Diese Form ist also keine
Äußerlichkeit, kein Beiwerk zum Inhalt, sondern sein Allerwichtig-
stes, sein Wesen und von ihm absolut und vollkommen untrennbar.
Es ist folglich auch nicht etwas, was man willkürlich ändern oder
dessen Inhalte man austauschen kann. Das bedeutet kurzgefaßt, daß
in dieser Form die künstlerische Form prädeterminiert ist, die
ebenfalls nicht irgendeine Äußerlichkeit, ein Beiwerk zum Inhalt ist,
übergeworfen wie ein Kostüm über einen beliebigen Körper, oder
einem Faß ähnlich, in das eine beliebige Flüssigkeit gegossen werden
kann: denn jede Änderung der Form ist zugleich auch eine Änderung
des Inhalts. Der Inhalt kann folglich für die Form nicht gleichgültig
sein, verwirklicht sie sich doch in ihm; und zwar nicht in einem von
vornherein formlosen, sondern einem geformten und
richtungsgebenden Inhalt.

250

An diesem Punkt und wenn wir diese Korrelation nun erkannt


haben, müssen wir - und das ist wichtig - unsere Ausdrucksweise
gewissermaßen rektifizieren. Mehrmals sprachen wir von der künst
lerischen Form als einer „Folgerung" aus der Weltanschauung. Dies
war nur eine heuristische Verknüpfung und diente dazu, die Suche
nach dem Wesen zu erleichtern. Nun, wo wir gefunden ha ben, was
wir suchten, die Gesetzmäßigkeit der Korrelation, können wir die
Unkorrektheit dieser Ausdrucksweise aufzeigen. Sie könnte zu dem
Irrtum führen, die Kunst in gewisser Weise als irgendeine
„Fortsetzung" der Natur zu sehen, wenn die „Natur", wie ich sie
sehe, infolge meiner Weltanschauung so ist, wie ich sie sehe, und die
künstlerische Form die direkte Folge der Weltanschauung ist. Gegen
diese naturalistische Auffassung hatten wir übrigens schon
protestiert, weil sie sich selbst widerspricht. Der wahre Sachverhalt
ist, daß die Systeme, in denen der Geist lebt, nicht ineinander über -
gehen, ja, nicht einmal unmittelbar voneinander abhängen, sondern
mittelbar, durch die Identität des in ihnen lebenden gemeinsamen
Geistes, als ob sie sich in einem imaginären Punkt, aus dem sie
hervorgehen, treffen und einander kreuzen. Anders gesagt: „Natur",
„Leben", „Mensch", Religion, Metaphysik, Ethik usw. gehen nicht in
das System, in die Sphäre der Kunst in der Weise über, wie sie in
ihrem System sind. Die Bindung zwischen ihnen schafft der Geist,
der sowohl das eine als das andere bewirkte. Die künstlerische Form
hat also insofern Gemeinsamkeit mit der natürlichen Form, als sie
das Produkt desselben Geistes ist: ihre Nähe zueinander, ihre
„Ähnlichkeit" stammt aus der Identität des Geistes. (Das
künstlerische Portrait z.B. ist nicht durch seine „Ähnlichkeit" eine
treue Kopie des „Originals" - ein ungeformtes „Original", das man
direkt kopieren könnte, gibt es, wie wir wissen, auch nicht -, sondern
weil der gleiche Geist an der Gestaltung mitwirkt, mit der ich das
„Original" auffasse, wie an der, mit der ich die Form des Portraits
schaffe; von daher kommt, daß wir eine „Stilisierung" in dem sehen,
was die Alten als vollkommenste Naturgetreuheit feierten, z.B. bei
Giotto; und wenn kommende Zeiten in der modernen Kunst einen
Wert finden werden, dann wird das wahrscheinlich nicht Naturtreue
sein, und diese Kunst wird für sie, die dann aus ei ner anderen
Weltanschauung eine andere Natur sehen werden, bei weitem nicht
so überzeugend sein wie für die heutigen Menschen.) Die scheinbare

251
direkte Gemeinschaft der Systeme ist also die Identität des Geistes in
ihnen. Wenn ich allerdings „Geist" sage, habe ich bereits
Weltanschauung gesagt, denn das ist jede Erscheinung des Geistes.
Wenn ich also sage, daß die Systeme durch die Identität des Geistes
miteinander zusammenhängen, drücke ich damit aus, daß sich die
Wurzeln ihres gegenseitigen Verhältnisses im Boden der
Weltanschauung begegnen. Genau ausgedrückt, ist die künstleri sche
Form eine Folge des Geistes bzw. seine Schöpfung; aber derselbe
Geist formt in der Weltanschauung die Welt, welche die Kunst in
ihrer Form gestaltet; und da der Geist mit der Weltanschauung
identisch ist bzw. seine gesamte Tätigkeit durch diese ausübt, kann
man sagen, daß die künstlerische Form die „Folge" der Weltan-
schauung ist. Dies ist nun keine vergebliche Haarspalterei, denn nur
auf diesem Wege bleibt die Autonomie der Kunst erhalten: Dem-
entsprechend ist es nicht immer Kunst, wenn eine Weltanschauung
„ausgedrückt wird"; andererseits ist die künstlerische Form jederzeit
ein „Ausdruck" durch die Weltanschauung hindurch. Darin bestimmt
sich die Bindung und Freiheit der Kunst: ihr ewiges Para dox. Das ist
das Verhältnis von Inhalt und Form, welches in der Kunst gar kein
Verhältnis mehr ist - der Begriff des Verhältnisses setzt noch
Unterschiede voraus -, sondern vollständige Identifizierung: die
Weltanschauung wandelt sich um in eine Form. Wenn wir von der
Weltanschauung sagten, sie sei Material, Inhalt des Kunst werkes, in
dem deren Form prädeterminiert ist, müssen wir also jetzt schon
feststellen, daß sie nicht nur dies ist, sondern auch ihre Form: Denn
in dem durchgeformten Kunstwerk trennt nur eine Analyse oder die
mechanische, handwerkliche Auffassung die Form ab wie eine von
außen zum Inhalt hinzutretende Äußerlichkeit, eine Zierde ohne
Franse. Damit gießen wir ebensowenig Wasser auf die Mühle einer
Art „inhaltlicher", didaktischer oder anekdotischer Kunst, wie wir in
unserer Angst vor ihr zum leeren Formalismus des Part pour Part
greifen müssen. Von unserem Standpunkt aus hat die eine so wenig
Sinn wie der andere. Denn nach unserem Ergebnis gibt es zwar keine
Kunst ohne Inhalt, also ohne Weltanschauung, doch muß die
Weltanschauung völlig zur Kunst, zur künstlerischen Form werden.
In der Kunst kann jedes „inhaltliche Material" nur in dem Maße
vorkommen, in dem es zur „Form", d.h. zur Kunst wurde. Der Inhalt
der Kunst ist eben die „Form", d.h., was in ihr künstlerische Form
wurde. Wo sie sich trennen, dort kann Weltanschauung vorliegen,
aber keine Kunst. (Es ist demnach eine leere Rede, die

252
Weltanschauung im Gegensatz zur Form zu fordern, womit einmal
Schluß gemacht werden muß; Weltanschauung gibt es immer; es ist
nur die Frage, welche.)
Und jetzt können wir auch schon einen anderen Ausdruck rekti-
fizieren, der dem eben Gesagten zu widersprechen scheint. Im Zu-
sammenhang mit Donatello und in anderer Beziehung mit dem
Akademismus war von der Möglichkeit die Rede, daß „die Form sich
vom Inhalt löst". Ganz offensichtlich muß dieser Ausdruck relativ
verstanden werden. Eine völlige Loslösung, somit eine Form ohne
Inhalt, gibt es nie. Wenn wir von Loslösung sprechen, bedeu tet dies,
daß irgendein Inhalt seinen Sinn verliert (aber dann eben auch die
Form); anstelle des verflüchtigten Inhalts bleibt jedoch nicht etwa
nichts, sondern ein anderer Inhalt löst ihn ab, mag er gemessen an
dem früheren auch noch so sinnlos oder mager sein, daß er fast wie
nichts erscheint; zu diesem Inhalt gehört auch eine andere Form, so
sehr sie äußerlich auch der vorigen Form ähnelt. Es wäre ein Irrtum
zu glauben, der Akademismus kranke daran, daß ent weder der Inhalt
oder die Form anders ist als die früheren, mit deren Pflege er bzw.
sie prahlt. Denn sowohl Inhalt als auch Form sind andere;
beziehungsweise ist das eine anders, weil das andere anders ist.
Beide gehören genau und untrennbar zusammen. Und dasselbe trifft
auf das L'art pour fart zu, welche die Form scheinbar deshalb vom
Inhalt unabhängig machen kann, weil dieser Inhalt - aber eben nur
dieser in der von ihm unabhängig scheinenden Form aufzutreten
vermag. Die Formstufe ist immer identisch mit der des Inhalts, und
wir haben immer genau so viel Form vor uns wie Inhalt.
Schließlich wird von hier aus, von dieser Grundlage her, über
das einzelne Kunstwerk hinaus auch die Geschichte der Kunst ver-
ständlich, die weder die Geschichte nur bloßer leerer Formen noch
künstlerischer Persönlichkeiten ist. Wir sahen, daß der gleiche Be -
griff, z.B. „Leben", „Natur", „Mensch" in der Sphäre der Reli gion,
Philosophie, Psychologie, Biologie anderes bedeutet als in der der
Kunst und wieder anderes in der des empirischen Lebens. Aber nicht
nur die Dinge ändern sich mit den Systemen und Zusammenhängen,
sondern auch die Systeme und Zusammenhänge selbst ändern sich.
Der gleiche Gegenstand oder Begriff bedeutet für uns etwas anderes
als für die Renaissance, die Gotik oder für die Griechen, denn er

253
bedeutet anderes im Zusammenhang solcher sich mit der Änderung
der Systeme herausbildenden historischen Gebilde, wie sie die
Zeitalter sind. Wie sich die Bedeutung eines Gegenstandes oder
Begriffs dementsprechend wandelt, in welchem Systemzu-
sammenhang er auftritt, so ändert er sich entsprechend der histori -
schen Wandlungen der Systeme, mit denen wir das Ganze (was da-
von für uns das „Ganze" bedeutet) der Welt und des Lebens be -
trachten und die wir als Weltanschauung bezeichnen. Die Weltan-
schauung ist der wahre historische Begriff in der Welt der Ewig-
keitswert tragenden Formen der Kunst. Deshalb ist jede Unterneh-
mung - wie scharfsinnig und haarfein analytisch sie auch sein mag -,
welche die Wandlungen der Künste, der großen Unterschiede
zwischen den Künsten oder Künstlern in erster Linie aufgrund der
Mannigfaltigkeiten der Persönlichkeiten, Temperamente usw. deu ten
will, unfruchtbar; „Persönlichkeit", „Temperament" usw. ha ben
tatsächlich Separatorfunktion, aber auch die Abweichungen selbst
werden in konkreten Inhalten ausgedrückt, in jenen, von denen die
betreffenden Persönlichkeiten erfüllt sind; und wenn irgendeine
Persönlichkeit unvergleichbar allein steht, erscheint ihre
Individualität für mich „in ihren Inhalten", also in ihrer Weltan-
schauung (die völlig für sich allein stehend individuell sein kann).
Ohne dies sind „Persönlichkeit", „Temperament" usw. (daß der
Betreffende leidenschaftlich, ungestüm, weich usw. sei) nur ein lee -
rer Rahmen, psychologische Allgemeinheiten, mittels derer sich ge-
rade die Individualität und Einmaligkeit der Persönlichkeit nicht
erfassen läßt. Was wahrhaft absondert und trennt oder was zusam -
menführt - wodurch wir einander verstehen oder nicht, das, wodurch
wir einander geistig etwas bedeuten oder nicht -, das liegt tiefer: in
unserer die Persönlichkeiten, Temperamente usw. ganz ausfüllenden
Innenwelt, unserem Glauben, unseren Überzeugungen, unserer
Weltsicht usw.
Die Wandlungen - mit einem anderen Wort, die Entwicklung -
dieses Etwas in der Sphäre der Kunst bestehen in der Wandlung des
Geistes durch das Medium der sich verändernden Weltanschauungen
hindurch zur künstlerischen Form in solchem - richtiggestellten -
Sinne, in dem die künstlerische Form die Folge der Weltanschauung
und die Wandlung und Entwicklung der Form eine Folge der

254
Wandlung und Entwicklung der Weltanschauung ist. Und die
Geschichte dieser Wandlung ist die Geschichte der Kunst.

255
GEORG LUKÁCS: DISKUSSIONSBEITRAG ÜBER
KONSERVATIVEN UND PROGRESSIVEN
IDEALISMUS

Wo wir zwischen zwei Sphären der Setzung Zusammenhänge su-


chen, ist die Klärung der Begriffe die erste Aufgabe, damit wir klar
sehen, was wir miteinander verknüpfen. Die meisten Einwände ge-
gen Fogarasis Vortrag sind auf solche begriffliche Konfusionen zu -
rückführbar. Darum müssen zwei Distinktionen scharf betont wer-
den: zunächst die völlige Unabhängigkeit der Geltung von der Me-
taphysik, zweitens die wesentliche Verschiedenheit der kontempla-
tiven Sphären (Theorie, Ästhetik) und der praktischen (Ethik, Poli -
tik). Fogarasi hat innerhalb der praktischen Sphären einen notwen -
digen Zusammenhang zwischen zwei Geltungsgebilden, zwischen
ethischem Idealismus und progressivem politischen Handeln be-
hauptet und damit - negativ - die Unabhängigkeit des letzteren von
den in den kontemplativen Sphären möglichen Stellungnahmen - von
den erkenntnistheoretischen ebenso wie von den metaphysischen.
Konkreter ausgedrückt, bedeutet dies, während sich in der ersten
Gruppe eine eindeutige Korrelation behaupten läßt, kann in allen
anderen Fällen jedem Typ des politischen Handelns (Progression,
Reaktion) der Typ einer theoretischen Stellungnahme (z.B.
immanente oder transzendente Erkenntnistheorie) hinzugefügt wer -
den, ohne daß man jemals zu einem inneren Widerspruch gelangen
würde.


Lukács György: „Hozzászólás Fogarasi Béla Konzervativ és progressziv idealizmus címú
előadásához" (1918)
Protokolle der Diskussion in der Gesellschaft für Sozialwissenschaften anläßlich des Vortrages
von Adalbert Fogarasi im März und April 1918. Erschienen mit anderen Diskussionsbeiträgen im
Band: Fogarasi Béla, Konzervatív és progressziv idealizrnus, Huszadik Század Könyvtára, 66.k.
Budapest, 1918. Übersetzt aus: Lukács György, lfjukori Művek, Szerk. Timár Árpád, Budapest
1977, S. 837-844.

256
Die Trennung der Geltung von der Metaphysik kann am ein-
fachsten so formuliert werden: Die metaphysische Setzung bedeutet
immer die Setzung eines letzten Seins, einer wirklicheren Wirklich -
keit als jede andere Wirklichkeit, während die Geltung genau von der
völligen Unabhängigkeit der Sinngebilde von aller - sei sie
physische, psychische oder metaphysische - Existenz ausgeht. Die
Wahrheit eines wahren Satzes - der am meisten handgreifliche Fall
der Geltung - ist sogar von seiner Denkbarkeit unabhängig, ge-
schweige denn, daß sie mit den realen psychischen Prozessen, inner-
halb deren er real gedacht wird, in Zusammenhang gebracht werden
dürfte. Ebenso ist das, was ein Bild zum ästhetischen Geltungs -
gebilde macht, weder die „Wirklichkeit", in welcher es erscheint (das
Leinen, die Farbe), noch der psychische Verlauf des Schaffens oder
des Genießens, sondern eine von diesen drei wesentlich ver-
schiedene, nur innerhalb der ästhetischen Sphäre adäquat interpre -
tierbare Bedeutung. Es ist natürlich möglich, diese reine Geltung des
theoretischen Gedankens, des ästhetischen Werkes oder des
ethischen Handelns außer acht zu lassen und die psychischen Pro -
zesse zu untersuchen, in deren Rahmen sie auf der Realitätsebene
erscheinen; man darf aber nicht vergessen, daß eine solche Untersu -
chung - mag sie vom Standpunkt der Psychologie einen noch so
großen Wert besitzen - die Frage der Geltung ebensowenig beant -
worten kann, wie die chemische Untersuchung der Farben eines Bil -
des nicht zu seinem Verständnis führen vermag. Eine wesentliche
Eigenart der Geltung ist also die vollständige Unabhängigkeit von
jeder Art des Seins, weswegen sie also mit der Metaphysik, für die
die Setzung des Seins eine ebenso wesentliche Eigenart ist, bei einer
nur etwas sorgfältigen Begriffsverwendung nie verwechselbar ist. Im
Gegenteil: Eine solche Trennung zeigt auch, daß jede Theorie, die
die Geltung der Geltungsgebilde nicht von jedem Sein unabhängig
macht, gegen ihren Willen zur metaphysischen Setzung gezwungen
wird: das, was sie aus der Reihe der „Seienden" für das Wesent -
lichste hält, ist sie gezwungen, dem Wesen der Sache nach, mit den
Attributen des metaphysischen Seins zu versehen. (Beispiel dafür ist
von Haeckel über Ostwald bis Mach der ganze Materialismus und
Positivismus.)
Neben dieser Unterscheidung ist der wesentliche Unterschied
zwischen den kontemplativen und praktischen Sphären das Wich -
tigste. Die Analyse dieses Unterschiedes kann natürlich nicht den
Gegenstand eines kurzen Beitrags bilden, die Aufmerksamkeit soll

257
nur auf den wesentlichen Unterschied gelenkt werden, daß während
in den kontemplativen Sphären das Objekt - hinsichtlich der Gel tung
- primär gegeben ist und der sich darauf richtende Akt des Subjektes
nur die adäquate Apperzeption des unveränderlichen Objektes
beabsichtigen kann, sich jede praktische Intention in ihrem Wesen
um die Veränderung des Objektes oder des von seiner eigenen
Zielsetzung her für sich selbst zum Objekt gewordenen Subjektes
bemüht. (Es muß vielleicht gar nicht gesagt werden, daß das
Konservieren seiner Natur nach ebenso ein Akt wie das Verändern
ist: praktisch und nicht kontemplativ; die Kontemplation bedeutet ein
Niveau der Setzung, auf dem die Veränderung des Objektes auch als
Problem noch nicht auftauchen kann.) Geltung bedeutet hier ein
Suchen, inwieweit die Handlungen - abgesehen ebenso von ihren
Ursachen und Folgen auf der Ebene der realen Welt, wie auch von
den gleichfalls realen psychischen Akten, die sie begleiten - richtig
oder unrichtig sind. Und dieser Fragestellung und damit auch der
vom Sein unabhängigen Setzung des Geltungsniveaus kann man in
den praktischen Sphären ebensowenig ausweichen wie im Bereich
der Kontemplation der Setzung der geltenden Wahrheit: Jedes
Handeln trägt - seinem Wesen und nicht seinem Dasein nach - die
Struktur des Sollens in sich.
Von dieser Behauptung her werden mehrere, oft verwirrte
Beziehungen verständlich. Zunächst, daß das Sollen seinem Wesen
nach immer transzendenter Natur ist, selbst dann, wenn seine psychi -
schen „Inhalte" auf Immanenz hinzuweisen scheinen; die Betonung
der ethischen Transzendenz bedeutet also nicht die Setzung eines
transzendenten Seins, wie viele glauben, sondern nur, daß das Sol len
als Sollen die Natur der transzendenten Norm besitzt. (Völlig
unabhängig vom Sein, auf das man seine Inhalte beziehen kann.)
Zweitens bedeutet diese Behauptung die völlige Unabhängigkeit der
ethischen Struktur von den kontemplativen Weltbildern und Stel-
lungnahmen zur Welt, mit denen die „Inhalte" des Sollens zu ver -
binden sind; das heißt, daß mit einem gewissen Weltbild Hand-
lungsnormen verschiedener Richtung und mit einer gewissen Hand-
lungsnorm verschiedene Weltbilder ohne inneren Widerspruch ver-
knüpfbar sind. Darum ist Oszkár Jászis Anmerkung nicht stichhal tig,
daß Erkenntnistheorie und Weltanschauung doch mit dem Prozeß der

258
Progression bzw. Stagnation zusammenhängen. Um die Unrichtigkeit
dieses Standpunktes an dem von ihm erwähnten Beispiel Indien zu
demonstrieren, muß hervorgehoben werden: Der nichtprogressive
Charakter der indischen Kultur steht im tiefsten Zusammenhang mit
der indischen Ethik, mit der indischen Handlungsnorm; mit der
Lehre, daß das gegenwärtige Leben für alle eine unabänderliche
Aufgabe sei, die so anzunehmen sei, wie sie ist, wo durch das strenge
Befolgen der Kastenpflichten den Akzent der höchsten Tugend, das
Heraustreten aus der Kaste den der höchsten Sünde bekommt. Diese
Ethik aber - und das weiß jeder, der die Geschichte der indischen
Philosophie ein wenig eindringlicher untersucht hat - steht im Laufe
der Entwicklung mit den verschiedensten Erkenntnistheorien und
Metaphysiken in Korrelation; weil aber die Ethik, das Sollen
dasselbe bleibt, verändert die Wandlung der Weltanschauungen vom
Rigveda bis zu Buddha und über Buddha hinaus an dem jede soziale
Progression ausschließenden Charakter der indischen Kultur nichts.
Ebenso ist der engere Zusammenhang, den Károly Schlesinger
zwischen Positivismus und Progression einerseits und transzendenter
Weltanschauung und Konservativismus andererseits nachzuweisen
versucht, nicht stichhaltig. Diesbezüglich hat Fogarasis Vortrag die
wichtigsten Beweise schon aufgezählt, hier werden vielleicht ei nige
historische Beispiele genügen. Vom antiken hedonistischen Po-
sitivismus abgesehen, dessen ethisches Wesen darin besteht, daß aus
dem Leugnen der Transzendenz auch das Leugnen jeder über das
Einzelglück hinausgehenden (transzendentalen) Zielsetzung, jedes
Sollens folgt, kann man sein Pendant in der Weltanschauung der auf
die große russische Revolution (1904- 1907) folgenden Reaktion
finden, die z.B. den Sozialismus als transzendente Metaphy sik
verwirft. (Nur als Dokument sei ein Buch wie das von Sanin er-
wähnt.) Andererseits stimmt es überhaupt nicht, daß die Setzung der
Transzendenz paralysierend auf das progressive Handeln wirken
müsse. Das tritt nur dann ein, wenn diese Setzung den Akzent des
Sollens hat, daß neben der einzigen Realität der transzendenten
Wirklichkeit das Wie der empirischen Wirklichkeit völlig indifferent
sei. Es darf aber nicht vergessen werden, daß dieselbe Setzung auch
den Imperativ zur Folge haben kann, daß die transzendente
Wirklichkeit als Aufgabe vor uns steht, die wir jetzt, gleich in die -
sem Augenblick, verwirklichen, Gottes Reich auf die Erde holen

259
müssen. (Die der Reformation folgenden Wiedertäufer-Bewegungen
sind sehr lehrreiche Beispiele für diese Möglichkeit.) Daß die
Kirchen meistens konservativer Natur sind - obwohl auch dieser
Zusammenhang nicht notwendig ist -, hat seinen Grund in der Natur
ihrer Institution und nicht in der Transzendenz ihrer Weltan -
schauung.
Der Begriff der Institution ist der Punkt, an dem - um der
schärferen Trennung der Politik und Ethik willen - Fogarasis Vortrag
mit einigen Bemerkungen ergänzt werden muß. Das Wesen des
ethischen Handelns richtet sich auf die innerliche Veränderung des
Menschen, darauf, daß die innere Intention seiner Handlungen im mer
reiner und klarer nur um der Richtigkeit willen richtig, der ethischen
Norm entsprechend werde. Demgegenüber beabsichtigt das
politische Handeln die Schaffung, Aufrechterhaltung oder Verän-
derung politischer Einrichtungen. Es gehört zum Wesen dieser Ein-
richtungen, daß sie eine von der inneren Intention unabhängige, er -
zwingbare Geltung besitzen, daß ihr Bestehen von der Entwicklung
der inneren Veränderungen der Menschen - relativ - unabhängig ist.
Diese Differenzierung ermöglicht vor allem die Widerlegung des
gegen den Idealismus am häufigsten von ihm Wohlgesinnten vorge-
brachten Argumentes, daß nämlich die viel zu hohe und mit der
Wirklichkeit in keinem Zusammenhang stehende ethische Zielset -
zung wegen ihrer von vornherein bestehenden Hoffnungslosigkeit
der Sache der Progression nicht dienen könne. Dieser Einwand ver-
mischt die ethische action directe mit der Politik. Der ethische Idea -
lismus, wenn er sich auf die Politik richtet, kann dort nichts ande res
wollen, als solche Einrichtungen zu schaffen, die dem ethischem
Ideal möglichst gut entsprechen, und jene zu beseitigen, die der
Verwirklichung des Ideals im Wege stehen. Und jede auf ethischem
Idealismus begründete Politik ist sich in jedem Augenblick dessen
bewußt, daß das, was sie erreichen kann, nur Politik ist: das heißt die
Schaffung solcher Einrichtungen, die diese Entwicklung positiv oder
negativ fördern. Das ethisch wirklich Wesentliche, die innere
Vervollkommnung, das wirklich Moralischwerden des Menschen
kann keine Politik mit sich bringen, sie kann nur die Hindernisse aus
dem Weg der Entwicklung räumen. Die ethische action directe
richtet sich dagegen unmittelbar unter Vermeidung des Umweges

260
über Politik und Einrichtungen auf die Veränderung der Seele der
Menschen. Daß dieser Weg ethisch berechtigt ist, läßt sich nicht be -
zweifeln, aber ebensowenig, daß dieser Weg nicht die einzig mögli -
che Folge des ethischen Idealismus ist und das hier behandelte Pro -
blem, den Zusammenhang zwischen ethischem Idealismus und Po-
litik, nicht berühren kann. (Daß hier sehr tiefe und wichtige Proble -
me, die der ewigen Konflikte zwischen den Sphären verborgen sind,
will diese Trennung nicht leugnen; sie hebt nur hervor, daß dies das
Wesen der hier untersuchten Frage nur dann betreffen würde, wenn
aus dem ethischen Idealismus notwendigerweise die ethische action
directe, also die Beseitigung jeder Politik, folgen würde.)
Diese Abrechnung mit der notwendigerweise nur Mittel-Funk-
tion des politischen Handelns bedeutet keineswegs einen Relativis -
mus oder ein Absinken auf das Niveau der Realpolitik. Im Gegen teil:
diese und nur diese Attitüde macht es wirklich möglich, die po -
litische und soziale Entwicklung als einen ewigen Prozeß zu sehen
und zu wollen, solange die so geschaffenen Einrichtungen nicht
ausschließlich der ethischen Höherentwicklung des Menschen die-
nen. Die erste Folge davon ist die Ewigkeit des Fortschritts: Denn
jede Institution dient bloß annähernd diesem Ziel, das nur durch das
Resultat einer von ihm unabhängigen ethischen Entwicklung
wirklich von Erfolg gekrönt werden kann. Daraus folgt aber weiter,
daß vom Standpunkt des ethischen Idealismus aus keine Einrichtung
(vom Eigentum bis zur Nation und zum Staat) einen Wert an sich
haben kann, sondern nur insofern sie dieser Entwicklung dient.
Sobald sie zum Selbstzweck wird, gleitet sie von der Geltungsebene
hinab, wird zum bloßen Seienden, das aus der Sicht des ethischen
Idealismus mit allem übrigen Seienden auf einem Niveau steht und
ist als solche nicht berechtigt, Anerkennung zu erwarten. (Diesen
Standpunkt hat Fichte als erster und mit bis heute unübertroffener
Vollkommenheit ausgeführt.) Diese Abhängigkeit der Politik von
den für sie transzendenten ethischen Normen gibt Antwort auf La jos
Füleps Frage, die Frage der Autonomie der Politik. Fülep gegenüber
muß betont werden, daß der ethische Idealismus die Auto nomie der
Politik notwendigerweise bestreitet, weil diese Autonomie die
Selbstwertigkeit von etwas bloß Seiendem (Staat, Nation) bedeuten
würde, was die Ethik nicht anerkennen darf. (Und wir sehen

261
tatsächlich, daß jede Theorie, die die Autonomie der Politik
verkündet, am Ende zum Aufgeben der Geltungsethik und zur An -
nahme einer Metaphysik gezwungen wird, in der Staat oder Nation
als letztes Seiendes, als allerwirklichste Wirklichkeit fungiert, z.B.
Hegel.) Deshalb sieht Fülep - dem Beispiel der Ranke-Schule fol -
gend - die echte Erscheinungsform der Politik in der Außenpolitik,
was vom Standpunkt einer Staatsmetaphysik her folgerichtig sein
kann, weil das „An-sich-Sein" des Staates wirklich in der Au-
ßenpolitik am reinsten zum Ausdruck kommt, aber aus der Per-
spektive der Geltung völlig unrichtig ist. Denn wenn wir die Politik
als eine menschliche Handlung bestimmt haben, die Einrichtungen
schaffen, modifizieren usw. will, dann erhält eine originelle, schöp -
ferische Funktion darin ausschließlich die Innenpolitik (zugleich
freilich auch die Funktion, welche die Heteronomität der Politik
veranschaulicht). In der Außenpolitik kommen dagegen die Institu-
tionen als Seiende vor, und ihre Erhaltung oder die Ausbreitung ih res
Herrschaftsbereiches wird zur ureigensten Aufgabe der Außen-
politik; also etwas, was am wirklichen - freilich heteronomen -
Wesen gemessen sekundär ist. Die sozialistischen Theorien, welche
die Priorität der Innenpolitik betonen, sind demzufolge dem wirkli-
chen Wesen der Politik viel näher gekommen als die deutsche Ge-
schichtsmetaphysik.
Diese wesentliche Heteronomie der Politik ist geeignet, den Ge -
gensatz von Progression und Konservativismus von einer anderen
Seite her zu beleuchten: Denn während für den ethischen Idealis mus
jede Institution nur als Mittel, als Hilfe zur Verwirklichung der
ethischen Norm einen Wert hat, ist jede die Politik als autonome
Sphäre verstehende Lehre gezwungen, den Institutionen Selbstwert
beizulegen. Damit kommt es aber durch die struktive Notwendig keit
der Lage zu einer konservativen Politik: Ziel des politischen
Handelns wird die Verteidigung der einen Selbstwert repräsentie-
renden Institution, ihre immanente Weiterentwicklung (die nicht
mehr prüft, ob die Institution noch ihrem Ziel entspricht) und die
Erweiterung ihres Machtbereiches. Jede zum Selbstwert gewordene
Einrichtung ist konservativ; aus diesem Zusammenhang läßt sich
nicht nur die reaktionäre Politik der Kirchen erklären - die so viele
mit dem angeblich notwendigen Konservativismus der transzenden -

262
ten Weltanschauung verwechseln -, sondern auch die Stagnation
ursprünglich starker progressiver Bewegungen, sobald die von ihnen
als Mittel geschaffenen Einrichtungen solche Selbstzwecklich keit
gewinnen. (Die Geschichte des deutschen Sozialismus schon vor dem
Krieg, aber insbesondere im Krieg ist ein trauriges und lehrreiches
Beispiel dafür.)
Die Hauptlehre des ethischen Idealismus ist dagegen, daß eine
Einrichtung, deren bloßes Bestehen irgendeinen Wert vertreten
würde, unvorstellbar sei. Die praktische Folge des berühmten „um so
schlimmer für die Tatsachen" ist in dieser Hinsicht eine nie zur Ruhe
kommende Forderung an die Einrichtungen, der wesentlichsten
Forderung der Ethik, der Kant-Fichteschen „Würdigkeit", der
autonomen menschlichen Würde nicht im Wege zu stehen. Eine
Forderung, gegen die sowohl die sich auf das angebliche „beglük-
kende", „Wohlstand" schaffende Wesen der Einrichtungen beru-
fenden, als auch die auf die Argumente des Traditionalismus, der
„organischen", „natürlichen" Entwicklung „ohne Sprünge" gebauten
Einwände nichtig sind, weil sie bloß von der Seinsebene stam men.
Der ethische Idealismus ist eine permanente Revolution gegen das
Sein als Sein, als ein das Ideal der Ethik nicht erreichendes Etwas,
und weil er eine permanente Revolution ist, eine absolute Re-
volution, ist er fähig, die Richtung der wirklichen, nie zum Ruhe -
punkt gelangenden, nie stagnierenden Entwicklung zu bestimmen
und ihren Gang zu regulieren.
Der häufigste Einwand gegen die Kant-Fichtesche Ethik wurde
auch in dieser Diskussion mehrmals angeführt, daß sie nämlich ab-
strakt und nur formal sei, daß sich aus ihr hinsichtlich des wirkli chen
(politischen) Handelns keine eindeutigen Folgerungen ziehen ließen.
Diese Auffassung ist aber nicht stichhaltig, wenn man über legt, daß
Ziel und Inhalt dieser „formalen" Ethik der autonome, keiner äußeren
Macht unterworfene, nur seinen eigenen Gesetzen folgende und in
dieser Autonomie nur das Gute als einzig mögliches, eindeutiges Ziel
suchende freie Wille ist. Die Setzung dieses Ideals als Ideal bedeutet
aber einen sehr konkreten Befehl - im Rahmen dieses Beitrages kann
nur auf diesen Hauptpunkt verwiesen werden -, daß jeder Mensch
sich selbst wie jeden anderen als potentiellen Verwirklicher dieses
Ideals, aber nur als solchen achten soll. Man darf also weder bei sich

263
selbst noch bei anderen eine Situation oder ein Handeln dulden (und
noch weniger hervorrufen), in der oder bei dem dieser Mensch, sei
man es selbst oder ein anderer, diese Selbständigkeit verlieren und
zum bloßen Mittel irgendeines Zusammenhanges absinken könnte.
Die progressive Kritik jeder Handlung und jeder Einrichtung kann
nicht tiefer und schöner zusammengefaßt werden als in diesem Satz:
Der Mensch darf nie, um keiner Sache willen zum bloßen Mittel
werden. Bei sorgfältigerer, ausführlicherer Darlegung, wozu hier
keine Möglichkeit besteht, würde leicht offensichtlich werden, daß es
keine konkrete Forderung in der progressiven Politik gibt, von der
nicht nachweisbar wäre, daß sie nur eine Anwendung dieses Prinzips
auf einen speziellen Fall ist. Und andererseits ließe sich auch
nachweisen, daß kein anderes allgemeines Prinzip (z.B. Glück),
sondern nur dieses „formale" dazu geeignet ist, alle progressiven
Forderungen in einem solchen einheitlichen System zu umfassen.

264
KARL MANNHEIM: ERNST BLOCH: GEIST DER
UTOPIE

Der Essay Die Gestalt der unkonstruierbaren Frage ist der Schlüssel
zu diesem schwer zugänglichen, esoterischen, in der deformierten
Sprache der dekadenten Mystik unserer Zeit geschriebenen Buch.
Von dieser unkonstruierbaren Frage ist überall darin die Rede, durch
Kunst, Literatur, Musik und Philosophie hindurch umgehen wir
immer nur das eine, und wenn wir es auch niemals erreichen, ist es
dennoch der zeitgebundene historische Wert dieses Bandes, eine
verglichen mit den heutigen Schriften überraschende Transparenz zu
besitzen und auch den Humus des metaphysischen Erlebnismaterials
durch Wörter, Esprit und Affektation hindurch zu beleuchten.
Es ist wichtig, daß in diesem Buch wieder sichtbar und in heuti -
ger Formulierung bewußt gemacht wird: Es gibt eine unkonstruier -
bare Frage, zu deren Wesen gehört, daß sie in konkreter Gestalt nie
zu erreichen ist, weil sie jedes mit dem Verstand zu verfolgende An -
schneiden eines Problems transzendiert, daß sie aber trotzdem ge-
geben ist, weil sie in jeder großen Metaphysik spürbar erscheint als
Lenker der Problembewegung, als die unerschütterliche Sehnsucht,
von der schon Platon spricht. Die Existenz dieser unkonstruierbaren
Frage erkennt die negative Theologie des Mittelalters, als sie darauf
verweist, daß es Dinge gibt, von denen wir keine adäquaten Begriffe
haben, ebenso deutet auch der Gedanke der „coincidentia
oppositorum" darauf, indem er die Erreichbarkeit des Unerreich baren
jenseits des These-Antithese-Denkens plaziert. Dies keinesfalls
Erreichbare versuchen die Bekenntnisse der Mystiker und Ekstatiker
mit der Methode des Ausschlusses zur Erscheinung zu bringen; in


Mannheim Károly: „Ernst Bloch, Geist der Utopie", Athenaewn, 1919, S. 207-212. Übersetzt
aus: A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Eva és Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S.
298-303.

265
ihnen ist nur der dorthin führende Weg beschrieben und das, was
danach kommt, und an dem zwischen beiden freigelassenen Platz
zeichnet sich zumindest der Topos des Unausdrückbaren ab.
Aber nicht nur die Mystik beschäftigt sich mit diesem
Unerreichbaren, es war Ausgangspunkt jeder großen Philosophie, ob
sie nun fragte, was das Wesen der Welt ist, oder, wer ich bin. Es ist
die Tragik der Philosophiegeschichte und häufig auch die einzelner
Denker, sich mit der konstruierbaren Frage von der
unkonstruierbaren eher zu entfernen, weil man bei Betreten des
Pfades der konkreten Formulierung gezwungen ist, die sich aus der
Formulierung ergebenden Konsequenzen zu befolgen. Wenn wir
noch dort stehen, daß wir die Frage nach dem Wesen der Welt und
uns stellen und diese Frage in ihrer Ureinfachheit rein und naiv ist,
lebt darin noch das Staunen der Bewunderung, mit der wir uns über
uns selbst bewußt werden; wenn aber diese Frage Selbstzweck wird
und wir statt dessen nach dem Wesen der Welt fragen, welches
Element alle jene Forderungen erfüllt, die aus dem Begriff des
Wesens folgen, oder wenn wir fragen, wie das Wesen beschaffen
sein muß, um erkennbar zu sein, dann haben wir die spontan
hervorquellende Verwunderung auf das im vorhinein fertige
Begriffsgleis der Lösbarkeit der Probleme verschoben, und die Frage
rollt von sich aus weiter, und wir folgen ihr dorthin, wo wir
eigentlich gar nichts mehr zu suchen haben. Im Laufe der
Problemgeschichte läßt sich beobachten, wie an die Stelle der
unbeantwortbaren Fragen solche gleiten, auf die unsere Antwort
möglich oder bereits gegeben ist. Die Fragen der Logik und der
Erkenntnistheorie lösen die reine Verwunderung ab und lassen den
früheren letzten Sinn der Frage vergessen, nur daß sie uns ihre
eigenen erreichbaren Antworten vorsetzen. So gerät dann an den
Platz unserer Gott und uns selbst suchenden Unruhe die Erkenntnis
der Welt und der Dinge.
Die Mystik ist demgegenüber immer das Gewissen der Philoso -
phie, weil sie sie dennoch stets an die letzten Fragen erinnert. Des -
halb reagiert der „Fachphilosoph" derart nervös auf sie, er spürt, daß
sie ihn an ein altes Versprechen erinnert, welches er nicht erfüllen
will. Blochs Buch hat auch diese Bedeutung, daß es diese Forderung
gegenüber der heutigen Philosophie wieder lebendig macht. Auch er
steht in dieser mystisch-esoterischen historischen Kontinuität, die

266
innerhalb der philosophischen Entwicklung immer die ana lytische
und systematisierende Richtung als lebhaftes Gewissen begleitete.
Die dieses Erlebnismaterial metaphysischer Herkunft beobach -
tende Richtung war nicht immer gleich stark, sie hatte ebenso ihre
Blüten- und Erstarrungsperioden wie die begriffsanalysierende, um
Exaktheit bemühte Strömung, und wenn sich ihr auch die letztere
Richtung - wie erwähnt - mit tiefem instinkivem Abscheu entge-
genstellte; wirken zu Zeiten der großen philosophischen Synthesen
gerade diese sich mehrenden metaphysischen Wahrnehmungen be-
fruchtend auf die systemschaffende Philosophie. Platon, der Neu-
platonismus, Augustinus, Cusanus, Spinoza, die deutsche romanti -
sche Philosophie und besonders Schelling - sie alle entstanden aus
der Begegnung und dem Aufeinanderwirken dieser beiden Strö-
mungen, in ihnen läßt sich die metaphysische Richtung von neuem
rezipieren. Auch in den typisch rationalistischen Zeitaltern stirbt
diese mystische Tendenz nicht völlig aus, sie wird nur in den Hinter-
grund verdrängt, wandelt ihre Gestalt. Im Zeitalter der Aufklärung
verflacht sie bis zur Frage nach dem Wunderbaren und Schauder -
haften, um sich dann ganz in die Frage nach der Stimmung des my -
stischen Erlebnisses zu versenken, und die Schriftsteller begnügen
sich damit, wenn wir ihren Bekenntnissen die Lyrik ihrer ekstasear-
tigen Erlebnisse abspüren können. Solche Zeiten sind die dekaden ten
Perioden der Mystik, dem Zeitgeist fehlt die echte metaphysi sche
Erlebnisfähigkeit, und auch die Besten gelangen nur bis an die
Schwelle und erblicken die Helligkeit lückenhaft und gebrochen, und
wenn es an das Schreiben, das Bekenntnis geht, sind sie ge zwungen,
die Lücken mittels aus der Zeit oder ihrem empirischen Ich
stammender Verschrobenheiten zu füllen.
Die Visionen des echten großen Mystikers sind zusammenhän-
gend, systematisch, selbst wenn sie sich mit dem dazu geeigneten
fremden System des Rationalismus nicht belegen lassen. Ihre Wahr -
nehmungen sind homogen, eine führt zur anderen hin. In der deka -
denten Periode der Mystik blitzt das echte Erlebnismaterial nur hie
und da auf, und wo es versiegt, mischt es sich mit Halbwissen,
ästhetischen Einflüssen, Esprit und Affektiertheit.
Diese dekadente Heterogenität entwickelt sich am besten im
Stil. Natürlich kann der mystische Stil nicht identisch mit dem des

267
systematisierenden Philosophen sein; wer anderes zu sagen hat, muß
anders schreiben, aber dennoch sind auch hier die Homogeneität und
die Kontinuität das Kriterium. Der mystische Stil hat ebenso seine
Tradition wie die wissenschaftliche Philosophie, und die Linie der
Tradition bricht nur dort ab, wo sich in der Kontinuität des Erleb-
nismaterials eine Lücke einstellt. Dann setzt sich, so das Erlebnis-
material ein Surrogat ist, auch der Stil aus Surrogat-Elementen zu-
sammen und läßt sich zumeist in der Sprache irgendeines dem
ursprünglichen Erlebnis völlig fremden, in der Zeit herrschenden Sti -
les vernehmen.
Blochs Buch ist ein aus unserer Zeit hervorgegangenes Beispiel
eines solchen aus der Dekadenz der Mystik entstandenen Bekennt-
nisses, und seine ganze Interessantheit und Bedeutung wie auch sei ne
Fehler lassen sich daraus ableiten. Wo auch immer wir darin le sen,
das Buch ist so etwas wie ein unterbrochenes Gespräch, dessen
einzelne Teile wir verstehen und dessen Vorbedingungen und Erleb-
nisvorläufe wir dennoch selbst erschließen müssen, weil wir den Ge-
sprächsbeginn nicht gehört haben. Hier und dort leuchtet ein über-
raschender Einblick auf und schneidet uns ins Herz, dann wieder ist
seitenlang kaum ähnliches zu spüren.

Daß dies absichtlich systemfeindlich sei - das ist nicht der Ein -
wand. Der Mystiker fühlt am tiefsten, daß die Gedankenarithmetik
oftmals eine ganz gefällige Architektur zustande bringt und dies al les
dennoch weit entfernt bleibt von der Wahrheit, vom Auszusagenden.
Das Übel bei Bloch ist nur, daß es, verzichtend auf das Ve hikel der
Logik, zum Opfer des Stils und der ästhetischen Symmetrien wird;
indem er die streng logische Verknüpfung aufgibt, vermag er das
eigenartig homogene System nicht zu erreichen, welches die
Selbsterfüllung solcher Erlebnisse ist. Seine religiöse Intention
erstickt im Ästhetizismus, und selbst seine besten Bilder sind so be-
schaffen, daß sie zwischen uns und den Dingen stehen, das Bild, die
Kopie ist schöner als das, was sie beleuchten will, unser Auge bleibt
daran haften, wir stranden im Bild und gelangen nicht zu dem Ding,
das es darstellen will. Ein Charakteristikum des dekadenten Stils ist
ebenfalls, daß seine Werte nicht organisch mit dem Auszu-
drückenden zusammenhängen; die einzelnen Qualitäten sind einer
der Sache fremden Entwicklungsreihe entliehen, es sind Werte in

268
sich selbst und nicht gemessen am Ganzen, sind keine gewachsenen
Blumen, sondern wurden von irgend jemand an den Stengel gebun -
den.
Die für die Mystiker charakteristische Maxime, ihre Neigung
zur Parabel ist auch bei ihm zu finden, und besonders liebt er die
Paradoxie. Aber sehr viele seiner Paradoxa sind in ihrem Wesen gar
keine, sondern nur in ihrer ästhetischen Struktur mit ihnen identisch.
Daß ein solches Paradoxon überrascht, liegt allein an der Umkehr der
Gedankenfolg, an einer überraschenden Gruppierung von nicht
aufeinander Bezogenem. Das Paradoxon ist hier kein orationales
Element, sondern resultiert allein aus der Ersetzung der logisch dis -
sensiven Kategorien durch ästhetische.
In seinem Stil leuchtet an den erlebniserfüllten Stellen die uralte
mystische Tradition auf, dadurch findet er die außerordentlichen,
manchmal magisch-kräftigen Worte, aber danach, unmittelbar da-
neben, an den toten Stellen, weicht der Autor in ziellose geistreiche
Bemerkungen aus. Dann benutzt er die von Börne und Heine ererb te
Sprache des deutschen Journalismus, obwohl man spürt, daß diese
Schreibweise bis sie zu Bloch gelangte, sich an Nietzsche,
Kierkegaard, Kassner und Simmel verfeinerte und ihr schließlich der
deutsche Expressionismus seinen Stempel aufdrückte.
Alle diese Fehler hängen mit seinem Zeitalter zusammen, mit
der Zeit, in der er lebt, doch gibt es darüber hinaus einen Fehler, der
ausschließlich seinem empirischen Ich entstammt, und das ist der
Umstand, daß Bloch nicht zuverlässig ist. Ebenso wie verläßliche
und nichtverläßliche Wissenschaftler existieren, gibt es verläßliche
und nichtverläßliche Ekstatiker. Das mystische Erlebnis ist eben falls
eine Art Erfahrung, auch wenn nicht jeder ihrer teilhaftig wer den
kann; auch hier kann mit bruchloser Treue Rechenschaft gegeben
werden, mit letzter Einfachheit und Wahrhaftigkeit, oder es kann
vieles als Verfälschung untergemischt werden, was nicht aus
unserem tiefsten Ich stammt.
Das größte Übel bei Bloch ist, daß sein intelligibles Ich seinem
empirischen Ich völlig fremd ist. Sein letztes Ich ist dem der Er -
wählten verwandt, während sich in seinem empirischen Ich die Dia-
lektik aufschichtet, und die Klügelei sich selbst eitel bespiegelt.

269
Manchmal denkt er den einen Gedanken nur um des Spaßes am
anderen willen, und er achtet nicht ununterbrochen auf den Sinn
jeder Rede, dann wiederum bauscht er gewissenlos reine Subtilitäten
zu einer mystischen Erfahrung auf. Schreiben kann er auch dann,
wenn ihn gar nichts treibt, und um den Mangel zu verschlei ern - sich
selbst betrügend -, wird er zum Routinier, ohne es selbst zu merken.
Und dennoch ist dieses Buch heute wichtig, weil es beweist,
daß immer noch metaphysisches Erlebnismaterial vorliegt und die
Wahrnehmung einmal vielleicht von neuem empfänglich dafür wird.
Die theoretische Philosophie ist heute wiederum dahingekommen, im
Prinzip die Metaphysik zu konzedieren. die Systeme verfügen über
den leergelassenen Platz, nur fehlt die durch Erlebnisse
hindurchdringende Erfahrung, ihn auszufüllen.
Bloch ist heute der einzige, dem die Geburt, das Leben von neu -
em zum Problem geworden ist, der Unterschiede zwischen den Göt-
tern und eine Beziehung zwischen unserem unbekannten Kern, un-
serem Körper und dem Schicksal sieht und der über den Tod und die
Liebe so sprechen kann, daß es nicht banal wird.
Solche Bücher bewahren jene Tradition und geben sie weiter,
aus deren wacher Wendung nach innen allein die neue Metaphysik
der künftigen Philosophie erwachsen kann, und wenn Blochs Buch
auch keine Ankunft ist, so doch ein gangbarer Weg, ein von Un kraut
bewachsener Pfad, der dennoch dorthin führt.

270
GYÖRGY KÁLDOR: ZIVILISATION UND
KULTUR

Ervin Szabó zum Gedächtnis


Mit dem Ausbruch des Krieges und seiner Fortsetzungsmöglichkeit
war das bewiesen worden, was die Auserwählten schon lange gese-
hen und verkündet hatten, was aber sogar die auf der höchsten ge -
sellschaftlichen und „Bildungs"stufe Stehenden nicht wußten oder
bemerken wollten: daß wir Zeugen der letzten Zuckungen einer aus -
sterbenden Kultur sind, daß die charakteristischen Formen des gei -
stigen Lebens aller Zeiten, die in der Seele verwurzelt waren, sich
desubjektivierten, zum seelenlosen Mob wurden und ihr unaufhalt -
samer Mechanismus sich schließlich selbst beseitigen wird.
Aus dem Chaos der Wahnvorstellungen, Nachplappereien und
eingewurzelten Begriffen der Vorkriegszeit muß eines besonders
hervorgehoben werden, weil wir trotz der wiederholten Analysen, die
seitdem darüber durchgeführt wurden, gerade im progressiven Lager
unter anderem bei zwei Begriffen noch immer eine fast er-
schreckende Unklarheit sehen. Diese zwei Begriffe sind Zivilisation
und Kultur. Es gibt fast keine Volksversammlung, kaum einen Be-
schluß, ein Memorandum, Programm oder eine Zielsetzung, bei de-
nen diese zwei Begriffe keine Rolle spielten; meist als identische,
austauschbare, manchmal als korrelative, manchmal als kausal ver -
bundene Begriffe. Jede sozialistische Zielsetzung ruft mit wunder-
barer Einfalt immer in brüderlichem Nebeneinander aus: Mehr Zi-
vilisation und Kultur! Und nur wer Ohren zum Hören hat, hört, daß
dies so klingt, als würde gesagt: Mehr Schuster und Lachgas! Das
Ziel dieses Artikels ist, die beiden Begriffe scharf voneinander
abzugrenzen, ihre Bedeutung zu bestimmen und ihre Rolle aus dem
Blickwinkel des Einzelnen und der Gesellschaft zu bewerten.


Káldor György: "Civilizáció és kultúra", A Probléma (Budapest) 1919, S. 2. Úber setzt aus: A
vasárnapi kör. Dokumentumok Szerk Karádi Éva es Vezér Erzsébet Budapest 1980, S. 306-308.

271
Die erste Frage: Was ist Zivilisation und was ist Kultur? Die
zweite: Sind sie genau abzugrenzen, und wenn ja, wo liegen ihre
Grenzen? Unter Kultur verstehen wir innerhalb einer Epoche und
Gemeinschaft einerseits den die Objektivationen der schaffenden
Seele erfüllenden Gemeinschaftsgeist, andererseits die gemeinsame
Determiniertheit der rezipierenden Seelen, unter Zivilisation dage-
gen die Summe von Mechanismen, wobei Ursache und Ziel der Ein -
richtung dieser Mechanismen die Vervollkommnung der Befriedi-
gung materieller Bedürfnisse ist. Mechanismen sind nicht nur Ma-
schinen, sondern auch Institutionen und Organisationen, im allge-
meinen alles, was seelenlos ist oder im Laufe der Zeit dazu wurde.
Durch diese Präzisierung wird die Antwort auf die anderen beiden
Fragen sehr erschwert, weil es mächtige Institutionen gibt, die sich
immer mehr von der Seele entfernen, andererseits ein immer noch
auszufüllender und zu beseelender Rahmen sind; die nationale Sou-
veränität des Staates wurde zum Unterdrückungsorgan der Klassen-
herrschaft des Kapitalismus, und statt das zu werden, was sie sein
sollte - das Symbol der sprachlichen, rassischen, kulturellen und
traditionellen Zusammengehörigkeit -, wurde sie zum Bündnis der
kapitalistischen Interessengruppen, das durch seinen internationa len
Charakter (viel internationaler als jenes der Arbeiterschaft) die
Unterdrückung der Nationalitäten gemeinsam mit der Klassenun-
terdrückung ermöglichte. Der Staat hat sich demnach sogar in drei
Richtungen weit von seinen seelischen Wurzeln entfernt:
1. Statt Symbol der Schicksalsgemeinschaft zu sein, wurde er zur
wirtschaftlichen Körperschaft;
2. statt der Gesamtheit der Staatsbürger wurde er zum Wohlfahrts-
institut der Ausbeuter;
3. statt zum nationalen Zusammenhalt zu werden, gestaltete er sich
zum internationalen Ausbeuterbündnis. Der wirtschaftliche Cha-
rakter der Staatsorganisation ging so tief, daß auch die Vorstellung
von der kommunistischen Staatssouveränität nur über den Klassen-
staat zu einer die Gemeinschaftsinteressen beachtenden und die
Produktionsanarchie zur vollkommensten Produktionsform um-
wandelnden Organisation zu gelangen glaubt. Die kommunistische
Staatskonzeption ist also im besten Falle eine Wirtschaftsorganisa -
tion über den Klassen, welche von der Gefahr bedroht ist, entweder
erneut zum Mob zu werden (Staatssozialismus), oder in ganz kleine
Einheiten zu zerfallen, was vielleicht automatisch zur Wiederkehr

272
der patriarchalischen Produktionsweise führt (Anachronismus).
Außer den allermeisten Fällen, wo auch schwerere Folgen eintreten
können, ist der Staat immer ein die Wohlfahrt, Bequemlichkeit und
Zivilisation einer Klasse oder der Gemeinschaft vervollkommnender
Mechanismus. Andererseits ist es unbestreitbar, daß die nationale
Staatsidee, das rassische, sprachliche, kulturelle und historische
Gemeinschaftsgefühl eine seelische Kraft ist, die sich als Ge-
schichtsfaktor nicht verleugnen läßt und Massen und Individuen
oftmals mit so moralischem Schwung zu erfüllen vermag, daß sie
zum Boden einer nationalen Kultur werden kann. Der Gegensatz
zwischen der Staatsorganisation als geschichtlicher Realität und der
Staatsidee als idealem Postulat ist letztlich die Trennwand der zivili -
satorischen und der kulturellen Kräfte in der Sphäre des objektiven
Geistes.
Auch in der Sphäre des absoluten Geistes sind die beiden
schwer zu trennen. Es läßt sich in Wirklichkeit schwer bestimmen,
ob die Objektivationen der Religion mit der Sehnsucht der
Menschenseele nach dem Absoluten wirklich zusammenfallen
(Kultur) oder nur leere Nachplappereien der Dogmen sind, die die
echten Probleme verdecken und im Endergebnis die Zivilisation, die
Bequemlichkeit, das Absinken in den materiellen Genuß ohne
Gewissensbisse vorantreiben. Es ist schwer festzustellen, wie weit
die künstlerischen Formen als die schönen Ausdrücke des Absoluten
fungieren (Kultur) und wo der ästhetische Hedonismus beginnt
(Zivilisation). (Das gleiche Schubert-Lied oder die gleiche
Beethoven-Sonate kann dem einen die Erhebung in die reine
Erlebniswelt und dem anderen das Ausruhen nach des Tages Arbeit
bedeuten.) Es ist schwer festzustellen, wie weit eine auf der
Objektivation eines ethischen Verhältnisses beruhende Institution
(Ehe) ein Ausdruck des seelischen Verhältnisses ist (Kultur) und
wann sie zum gemeinsamen Haushalt wird (Zivilisation).
Schließlich ist es schwer festzustellen, ob eine Theorie entstand,
um die objektive Wahrheit aufzudecken (Kultur) oder um zum Bei -
spiel klassenherrschaftliche Interessen zu untermauern (Zivilisation).
(Von diesem Gesichtspunkt aus ist zum Beispiel jede wissen -
schaftliche Stellungnahme eines Kapitalisten gegen den Sozialismus,
eine Lóránt-Hegedüs-Politik, verdächtig.) Wir sehen folglich:

273
Während sich Zivilisation und Kultur begrifflich scharf trennen las -
sen, sind sie in der empirischen Wirklichkeit gerade deshalb schwer
zu unterscheiden, weil auch die Kultur in jenem Augenblick zur Zi-
vilisation wird, wo die von der lebendigen Wirklichkeit der Seele
durchwärmten Formen, indem sie in den Dienst der Vervollkomm-
nung und Erleichterung der Bedürfnisbefriedigung treten, sich zur
toten Materie erniedrigen.
Wenn wir diese Überlegungen berücksichtigen, wird klar, daß
unsere Kultur eine Scheinkultur war, herabsank zur Position der
Zivilisation; und weil an die Stelle der ewigen menschlichen Ideale
Religions-, Kunst- und Moralsurrogate traten, mit denen alle diese
Faktoren die Menschheit in einen der Somnolenz eines Opiumtrau -
mes ähnelnden Zustand versetzten, wurde der Ausbruch des Krie ges,
diese schreckliche physische Erschütterung, zu einer seelischen
Betroffenheit, und mit dem Zerfall des Wahnglaubens der Schein -
künste und Scheinethiken erwachten wir zum Bewußtsein unserer
fröstelnden Nacktheit. Und nun sucht die nackte Seele ein neues
Kleid, ein wärmeres, als es das alte war. Und wenn es auch kein
Wunder ist, daß im Stadium der Suche und Gärung die Begriffe
durcheinandergebracht werden, muß dennoch eine gesunde Kultur-
bewegung sich stets darum bemühen, in erster Linie die Begriffe zu
klären, welche die Grundlage einer jederzeitigen Wiedergeburt bil -
den.

274
ADALBERT FOGARASI: VON DER ZUKUNFT
DER GEISTESWISSENSCHAFTEN 

Es hing nicht mit dem eigentlichen Wesen, sondern nur mit dem ge -
genwärtigen Stand der Geisteswissenschaften zusammen, daß der
Sozialismus die Suche der inneren Beziehungen vernachlässigt und
die Grundlagen seiner Weltanschauung ausschließlich in den Natur-
wissenschaften gesucht hat. Der Objektivität der Naturwissenschaf -
ten, ihren von Partei- und Klassenstandpunkten unabhängigen For-
schungen stand die Tatsache entgegen, daß die Philosophie, die Ge-
sellschaftswissenschaften, die Rechtsphilosophie, die politische Ge -
schichtsschreibung und die Literaturgeschichte gleicherweise be-
strebt waren, die herrschende Staatsordnung weitestgehend zu un -
terstützen. Die Theoretiker des Sozialismus haben die ganze innere
Immoralität dieser offiziellen Wissenschaft in einigen glänzenden
Analysen dargestellt, konnten aber, von den momentanen Forde-
rungen der harten Notwendigkeiten des Kampfes gebunden, das Sy -
stem der Geisteswissenschaften nicht ausbauen.
Wenn jetzt die Zeit gekommen ist, daß die Geisteswissenschaf -
ten ihren wahren Inhalt frei von jedem offiziellen Einfluß entfalten
können, dann müssen wir auf der ganzen Linie zwei Standpunkte
durchsetzen. Der eine ist: Die Geisteswissenschaften dürfen sich
nicht in eine neue offizielle Ideologie verwandeln. War die Objekti -
vität der Naturwissenschaften ein guter Verbündeter des Kommu-
nismus gewesen, werden für uns die unabhängige, autonome Philo-
sophie, Geschichtsschreibung und Werttheorie noch bessere Ver -
bündete sein. Die Ethik darf sich nicht in der Rechtfertigung des
Kommunismus erschöpfen, in der politischen Geschichtsschreibung
darf man die Bedeutung der von ökonomischen Faktoren unabhän -
gigen, nur psychologisch erklärbaren Momente neben den Grund-
wahrheiten des Marxismus nicht dämpfen. Und für die sachliche,


Fogarasi Ma: „A szellemi tudományok jövőjéről", Fáklya (Budapest). 1919, máj. 1., S. 3.

275
hochwertige Wissenschaftlichkeit der Literaturgeschichte ist es töd-
lich, wenn man das Werk nach dem in ihm zum Ausdruck kom -
menden Inhalt - z.B. dem konservativen oder progressiven Geist -
und nicht in seiner formalen Bedeutung betrachtet.
Es muß gleich gesagt werden: Diese große Gefahr droht den
Geisteswissenschaften nicht von der Seite der Philosophen und
Historiker sozialistischer Weltanschauung, sondern im Gegenteil,
seitens derer, die sich vom Geist der alten offiziellen Wissenschaft
zu befreien unfähig sind, die sich die neue Wissenschaft ebenso
vorstellen wie den alten Überbau, die ebenso unfähig sind, die Suche
nach Wahrheit jetzt als Selbstzweck zu betrachten, wie sie dazu
früher unfähig waren.
Der Kommunismus braucht aber diese ihre fragwürdige Unter-
stützung nicht: Wie seine Geisteswissenschaft, sein ganzes Geistes -
leben aussehen wird, das kann man negativ scharf und mit unwider-
sprüchlicher Eindeutigkeit bestimmen: Mit dem Abschluß des Klas -
senkampfes müssen auch die Klassenideologien aufgehoben werden.
Welche Wende aber der Geist der Wissenschaft nehmen wird, wenn
er seinen Weg frei von jedem bindenden Zwang beginnt, läßt sich im
positiven Sinne nicht bestimmen.
Die Geisteswissenschaften werden nicht von der offiziellen
Ideologie, sondern von der Philosophie gelenkt werden: von der
Philosophie, die das Verständnis des seelischen Lebens mit seinem
ganzen Reichtum umfassend mit der Aufdeckung der ewigen
logischen und ethischen Prinzipien vereinigen wird; von der
Philosophie, die die Methoden der Geisteswissenschaften einer
Analyse unterzieht und feststellt, was darin Vermutung, was
Erfahrung und was eine unvermeidliche Verknüpfung mit der
Gegenwart ist. Die neue Gesellschaft braucht eine logische und
ethische Kultur, um sich selbst, die Grundlagen der
wissenschaftlichen Organisation der Gesellschaft und ihrer ethischen
Bedeutung zu verstehen, eine psychologische Kultur, um den
Einzelnen zu lenken, erziehen und heilen zu können, eine
metaphysische Kultur, damit er ins „Reich der Freiheit" eintreten
könne, welches Marx als sein wahres Heim bestimmt hat. An der
jetzt eröffneten „Marx-Engels-Arbeiteruniversität" nimmt auch die
Philosophie ihren Platz ein, und wir glauben daran, daß dies nicht

276
vergeblich ist. Das Zusammentreffen von Philosophie und Proletariat
war nur bei der offiziellen, bestellten Philosophie der letzten
Jahrzehnte eine Unmöglichkeit. Marx hat seiner Zeit die heutige
Aufgabe gestellt, als er die Erlösung der Menschheit vom „Bündnis
der denkenden und der leidenden Menschheit" ,wartete. Und Engels
schreibt: „... die Philosophie wird vom Proletariat, das Proletariat
von der Philosophie befreit. Der Kopf der Menschheit ist die
Philosophie, ihr Herz das Proletariat."
Die Wissenschaft braucht Institutionen. Mangels leitender gro-
ßer Grundprinzipien ist es kein Wunder, daß die Organisation der
Universitätsstudien, der Museen und Bibliotheken sich teilweise
nach vor Jahrhunderten richtigen, heute aber schon sinnlosen An -
sichten richtete und teilweise der Willkür kleiner wissenschaftlicher
Oligarchen ausgeliefert war. Das Volkskommissariat für Bildungs -
wesen hat die Schritte getan - und wird darüber an dieser Stelle
demnächst berichten -, die zur Aufhebung der unerträglichsten
Unwissenschaftlichkeiten geeignet sind. Es werden wissenschaftliche
Direktorien gebildet, verläßliche wertvolle Menschen werden die
Leitung der wissenschaftlichen Gesellschaften, der Zeitschriften und
die Bestimmung des künftigen Arbeitsprogramms übernehinen. Wir
können die Bildung einer wirklichen wissenschaftlichen
Internationale glücklich erwarten, weil wir wissen, daß wir keinen
Grund haben werden, darüber zu schweigen, was hier passiert.

277
BÉLA BALÁZS: ZUR DOSTOJEWSKI-
JAHRFEIER

Wissen die Menschen überhaupt, welch großes Fest wir feiern müß -
ten, wissen sie, daß wir in Dostojewski nicht nur irgendeinen gro ßen
Romanschriftsteller zusammen mit hundert anderen verehren,
sondern unseren leiblichen Vater? Denn was heute in Europa in den
lebendigen und tätigen, den geistig produktiven und initiativen Ge -
nerationen lebt, was man heute die Psyche des modernen europäi-
schen Menschen nennen kann, das ist zum guten Teil aus Dosto -
jewskis Seele entsprungen. Wer heute über Dostojewski eine ästhe-
tische Abhandlung schreibt, weiß nicht, worüber die Rede ist. Wer
aber heute würdig über Dostojewski schreiben wollte, müßte mit ei-
nem großen Buch beginnen.
Was kann ich anderes tun, als daß ich sage, worüber in dem
großen Buch geschrieben werden könnte und sollte.
Es bestünde aus zwei Bänden. Der erste würde Dostojewskis
künstlerische Eigenheiten analysieren. Doch nicht als ästhetische
Probleme, sondern als Symptome des neuen europäischen Menschen.
Denn die Zeit ist vorüber, daß die „Schönheit" der Elfenbeinturm-
Kunst an sich selbst ihre Existenzberechtigung beweisen könnte.
Denn - und auch das müßte geschrieben werden - die Kunst kann
heute keine Trauminsel mehr sein, in sich und für sich selbst, wie,
sagen wir, die Religion an den Theologischen Fakultäten, sondern
nur wie die Religion der ersten Propheten: lebens- und
menschenerhellend. Die Existenzberechtigung der Kunst ist es eben
seit Dostojewski, daß sie nicht die Privatangelegenheit von Ästheten
ist, sondern eine tiefere und echtere Wirklichkeit zeigt als die an der
Oberfläche des Lebens sichtbaren Tatsachen und selbst als die


Balázs Béla: „Dosztojevszkij évfordulóra", Tűz, 1922. ápr. 1.-ápr. 15.-máj 1. Übersetzt aus:
Balázs Béla: Válogatott cikkek és tanulmányok, Szerk. K. Nagy Magda, Budapest 1968, S.
103 - 107.

278
Wahrheiten der Wissenschaften. (Denn es gibt Märchen, gedrängt
voll mit Wirklichkeit, und es gibt einen romantischen Naturalismus.)
Dostojewskis künstlerische Eigenheit ist die Synthese zweier
vor ihm existierender Strömungen. Ebenso wie die größten
Schöpfungen gemeinhin solche Synthesen sind: krönende Kuppeln
über einsam stehenden Pfeilern. (Kants große Tat war es, die
deutsche Metaphysik und die englische Erkenntnistheorie in ein
System einmünden zu lassen; und Goethes großes Werk, von neuem
eine Brücke zu schlagen zwischen der Natur und dem von dieser seit
langem getrennten Spiritualismus.) Was Dostojewskis große
Synthese war, zeigen die Quellen seiner Entwicklung. Zwei weit
voneinander entfernte, einen Gegensatz zueinander bildende Quellen
flossen in seiner Vision zu einem Strom zusammen. In seinen
Briefen sagte er selbst, daß Schiller auf ihn die größte Wirkung hatte.
Einer der größten Meister des Naturalismus war also Schillers
Schüler! In der Komposition seiner Romane dagegen läßt sich die
nebelige Technik der Romantik, besonders der mystischen
Erregungen E.T.A.Hoffmanns bemerken. Folglich war der
unerbittliche Beschreiber der finstersten Wirklichkeiten ein Schüler
des Märchendichters Hoffmann! Das ist die Paradoxie, die sich
ebenso in Dostojewskis Kunst findet wie in jeder großen Synthese.
Darüber könnte und müßte man vieles schreiben.
Aber wozu brauchte Dostojewski das Phantastische Hoffmanns?
Weil diese tiefe Wirklichkeit, die Dostojewski zeigt, auf der
Oberfläche des Alltagslebens nicht sichtbar ist. Weil sie zwar Natur
ist, nicht aber „natürlich". Weil er nicht die glatte Haut des Men -
schen zeigt, sondern die aufgerissenen Gedärme - ein seltener,
überraschender und unbekannter Anblick, und phantastisch wie ei ne
Hoffmannsche Gespenstergeschichte. Weil auch die Märchen farbe
des Regenbogens nur die innerste Wirklichkeit des aufgelösten
Sonnenlichtes ist. Und hier liegt das entscheidende Erlebnis des
modernen Menschen. Daß die noch nicht entdeckte echte Wirklich-
keit aufregend phantastisch für ihn ist, wie die Insel für Robinson,
als er sie das erste Mal erkundet. Ja, gewiß, wir sind Robinsone und
gleichzeitig ist es Robinsons Insel, wenn wir mit Dostojewski in un-
ser unbekanntes Selbst vordringen.
Und Schiller? Wie erhellt das berauschte Pathos seines Marquis
Posa für Dostojewski das „Dunkel der Großstadt"? Schillers Feuer

279
leuchtete nicht, sondern verbrannte den Weg. Die Kruste des grau en
Alltagslebens bedeckt die echte wahre Wirklichkeit so dick, daß
scharfe Beobachtung oder Phantasie sie nicht hätten durchdringen
können. Nur die keinen „Alltag" kennende unbändige Flamme der
Schillerschen Seele konnte sich einen Weg hindurch bahnen. Denn
bei Fürst Myschkin ist nur der Stil anders, sein Pathos ist nicht ge-
ringer als das des Marquis Posa. Und weiterhin sind zwar ihre
Sehnsüchte und Absichten unterschiedlich, doch stehen sie gleicher-
weise im Gegensatz zu dem sogenannten wirklichen Leben der
praktischen und vorsichtigen Menschen: keine Kompromisse schlie-
ßen, unerschütterlich und geradlinig, wie die schlanke Feuerzunge
und wie der Wahnsinn. Darüber müßte man vieles schreiben im er-
sten Band des Dostojewski-Buches.
Im zweiten Band wäre kaum die Rede von Kunst, Stil, Technik
usw. Er würde von der ethischen Wirkung Dostojewskis handeln.
Auch dies erhellt eine Paradoxie. Als Politiker (beispielsweise in
seinen Reden) war Dostojewski reaktionär, und den Roman Die
Dämonen schrieb er zur Verspottung der Revolutionäre. Dennoch
lasen die Revolutionäre der folgenden Generation in Rußland und
ganz Europa Dostojewskis Werke wie eine ihren Glauben bestär-
kende, ihre Kämpfe aufheizende Bibel. Also wurde und blieb Do-
stojewski, der reaktionäre Politiker, der Prophet der revolutionä ren
Ethik. Was ist die Erklärung für diese paradoxe Tatsache? Ein
Beispiel mag dies beleuchten. Dostojewski war Nationalist, war sla-
wophil und reaktionärer Gegenspieler Tolstois, der Internationalist
und Pazifist war. Tolstoi war folglich ein Gegner des türkischen
Krieges, Dostojewski trieb dazu an. Aber in Dostojewskis Kritik
über die Karenina finden sich die Gründe für seine Kriegstreiberei.
Diese unterscheiden sich freilich sehr von allen Gründen nüchterner
Politik. „Wir sind für jedes menschliche Leid verantwortlich, auch
wenn nicht wir es verursacht haben, wenn wir den Ermordeten nicht
mit unserem Handeln verteidigen würden, sind auch wir selbst
Mörder. Und die Türken morden die Christen ..." Dostojewski war in
der Politik ein naives und unwissendes, gutgläubiges Kind. Er wußte
nicht, daß der türkische Krieg nicht aus christlicher Solidarität,
sondern für imperialistische Machtziele begonnen wurde. Doch das
ist auch nicht wichtig. Seine Schlußfolgerungen sind falsch. Er führte

280
aber mit der tiefsten moralischen Wahrheit seiner Gründe ein neues
und entscheidendes Motiv in den Glauben, die Gefühlswelt und
Agitation der russischen Revolutionäre ein. Sie lernten von
Dostojewski, daß ich mich nicht damit zufrieden geben kann, selbst
„anständig" zu leben, weil ich für jede um mich her geschehende
Ungeheuerlichkeit verantwortlich bin, wenn ich sie nicht angreife.
Dieses neue Verantwortungsgefühl ist Dostojewskis Ethik, von der
jeder seiner Romane erfüllt ist, dies ist die Ethik der Revolution.
Dies ist die verantwortliche Übernahme jedes menschlichen Leides,
dies ist die neue Moral des neuen Christentums, der Glaube der
neuen - echt lebendigen - Menschengeneration. Darüber müßte man
sehr viel in dem Buch schreiben.
Und noch etwas. Seine die große Paradoxie zusammenfassenden
Synthesen sind nicht nur Kuppeln zu vergleichen, die zwei isolierte
Pfeiler überdachen, sondern auch jener tiefen Wurzel, in der die
Vielzahl der wachsenden Zweige zusammenläuft. Dostojewskis Tie fe
ist meßbar, wenn wir die einander fernstehenden Positionen sei ner
Paradoxien bis zu ihrem Zusammentreffen bringen.
Über vieles könnte und müßte man noch schreiben, damit dieses
Buch würdig wäre, die Dostojewski-Jahrfeier zu begehen. Doch mir
geht es so wie dem armen Mann, der die Speisekarte des Ban ketts
aufsagt und aus dem Schaufenster Geschenke macht, indem er sagt:
dieses und jenes würde ich dir kaufen, wenn ich Geld hätte.

281
LADISLAUS RADVÁNYI: CHILIASMUS UND
BOLSCHEWISMUS 

In dem Blick, welchen wir auf die geschichtlichen Gestaltungen des


Chiliasmus geworfen haben, sahen wir, daß alle chiliastischen Ver-
suche, die Erlösung der Erde mit bewußter menschlicher Aktion, mit
dem gegen alles Gottwidrige gerichteten Vernichtungskrieg her -
beizuführen, völlig mißlungen sind. Der Erlöser, der erwartet wurde,
um das durch Menschen begonnene Werk der Erlösungsläute rung zu
vollenden, und auf der nun geläuterten Erde sein Reich des summum
bonum zu errichten, kam nicht; die menschlichen Verwirklichungen
waren ungenügend und inadäquat; und mit dem Ausbleiben der
Parusie erschwachte bald auch der wahre religiöse und ethische Geist
der Bewegungen, so daß sie von den gegneri schen kirchlichen und
staatlichen Gewalten leicht und völlig unterdrückt werden konnten.
Doch diese äußere Unterdrückung durch feindliche Gewalten war nie
die eigentliche Ursache der Erfolglosigkeit der chiliastischen
Versuche; sie war vielmehr immer nur ein äußerer Ausdruck, nur
eine äußere Besiegelung des innern Mißlingens, des geistigen
Zusammenbruchs.
Man kann nun die Frage nach der eigentlichen, inneren Ursache
des Mißlingens der chiliastischen Versuche nicht einfach mit der
Antwort erledigen, daß sie deshalb nicht gelingen konnten, weil die
Grundbedingung ihres Erfolges, die Parusie ausblieb, weil der Erlö -
ser, der erwartet wurde, um die begonnene Erlösungsarbeit fortzu-
setzen und zu beenden, nicht kam. Gewiß war dies eine der wichtig -
sten Ursachen des Zusammenbruches der chiliastischen Bewegun-
gen; doch neben dieser schlechthin unvorsehbaren und unbeein-
flußbaren, quasi transzendent-äußeren Ursache, müssen wir noch

WeAusschnitt aus der Doktorarbeit "Der Chiliasmus" Heide lherg 1923, S. 115- 123.
Der sollständige Text erscheint in der Reihe des Lukács- Archivs „Archivumi Füzc tek VI." Hrsg. v.
Éva Gábor, Budapest 1985.

282
eine, vielleicht noch wichtigere, weil innerlich-geistige, Ursache her-
vorheben.
Diese innerlich-geistige Ursache des Mißlingens aller chiliasti -
schen Versuche liegt in einem inneren, in den eigentlichsten
Wesensgrundlagen des Chiliasmus untrennbar fußenden, unlösbaren
Widerspruch. Dies ist der Widerspruch zwischen der wesensnot-
wendigen Un- und Überempirizität der chiliastischen Erlösungspo-
stulate und der unumänderbaren Empirizität der als ihr Realisie-
rungsort geforderten irdischen Welt. Die Erlösungspostulate sind in
einer jeden Erlösungsideologie wesensnotwendigerweise unempi -
risch und überempirisch; denn die Erlösung ist doch die Realisie -
rung, die Wirklichwerdung der absoluten Werte, des summum bo-
num; also die Idee der Wirklichwerdung der Idee des Absoluten.
Doch die nichtchiliastischen Erlösungsideologien postulierten, um
diesen Widerspruch zu vermeiden, auch als Realisierungsort dieses
unempirisch-überempirischen Postulatkomplexes einen unempirisch-
überempirischen Ort: die überirdische „Erlösungswelt", das
transzendente „Jenseits", und auch als Realisationszeit die unempi-
rische, weil in utopischer Ferne liegende Zukunft. Deshalb erschien
in ihnen der vorher erwähnte Widerspruch nicht; allerdings blieb
aber in ihnen die Erlösung in der empirischen Welt eine transzen -
dente und utopische Unerreichbarkeit. Die chiliastische Religiosität
will aber die Erlösung hier und sofort, in dieser empirischen Welt
und in dieser brennend-realen Gegenwart. Der chiliastische Mensch
fordert als Realisierungsort seiner Erlösungspostulate die empirische
Welt, und als Realisierungszeit die sofortige Gegenwart. Das
summum-bonum, die Idee des absoluten Wertes, soll sich in der
Empirie verwirklichen; und deshalb erscheint hier der Gegensatz
zwischen der Un- und Überempirizität der Erlösungspostulate und
der unabwendbaren Empirizität der irdischen Welt. Einen, aus den
Grundnotwendigkeiten seines Wesens heraus unänderbar unempiri-
schen und überempirischen Postulatkomplex wollten die Chiliasten in
empirische Realität objektivieren.
Den einzigen Ausweg, der aus dieser Sachlage möglich ist; die
Herausschiebung des Realisationszeitpunktes in eine utopische Zu -
kunft, und die Postulierung einer langsam-stufenweisen Annäherung
zu dieser Vollendung, also die Auffassung der Erlösungsreali sierung
der absoluten Werte als eine regulative Idee, konnten sie nicht
wählen, denn ihr Erlösungshunger erlaubte keine Verzöge rung.

283
Deshalb gingen sie zur Aktion über, um selbst an das Werk der
Erlösung, das Werk der Realisierung der absoluten Werte her -
anzugehen. Sie wollten mit Gewalt die Gottwidrigkeiten der irdi -
schen Welt vernichten, die Sündengebundenheit der Empirie bre-
chen, um Möglichkeit zu schaffen für die Verwirklichung ihrer ab -
soluten Postulate: um das Reich der Erlösung auf der Erde zu er -
richten. Ihr Versuch ist mißlungen, denn der Gegensatz zwischen
Idee und Wirklichkeit, zwischen der Un- und Überempirizität der
Absolutheitspostulate der Erlösung und der Empirizität der irdi schen
Welt ist unaufhebbar. Die chiliastischen Versuche scheiterten, weil
sie aus der Unmöglichkeit der sofortigen Verwirklichung der
Erlösungspostulate in der empirischen Welt zu keinen der zwei
Auswegsmöglichkeiten, Kompromißmöglichkeiten, ihre Zuflucht
nahmen: weder zur Verlegung der Erlösungsverwirklichung in das
transzendente Jenseits, noch zu ihrer Verlegung in das zeitliche Jen -
seits: in die utopische Zukunft. In dem ersten Fall (bei Verlegung der
Erlösungsverwirklichung in das transzendente Jenseits) hätte ihnen
die zeitliche Nähe des Erlösungseintritts als Idee bleiben kön nen; in
dem zweiten Fall (bei Verlegung der Erlösungsverwirklichung in
eine utopische Zukunft) hätte ihnen die Empirizität der Erlösung als
Idee bleiben können, aber in beiden Fällen eben nur als Idee; denn
weder eine jenseitige Erlösung in zeitlicher Nähe noch eine irdische
Erlösung in utopischer Zukunft ist eine empirisch-faktische Realität.
Die kirchliche Erlösungsideologie nahm aus dieser Sachlage der
Unmöglichkeit der empirisch-sofortigen Verwirklichung der
Erlösung zu einer Verknüpfung beider Kompromisse, beider
Auswege, Zuflucht. Sie postuliert eine unund überempirische -
jenseitige - Erlösungswelt und setzt den Erlösungseintritt in eine
utopische Zukunft. Der Chiliasmus ist jedoch nicht auf Kompromisse
eingegangen; er nahm keine Zuflucht zu Auswegen, sondern blieb
bei seiner ursprünglichen Erlösungsidee, bei seinem ursprünglichen
Erlösungswillen. Deshalb blieb die Kirche siegreich bestehen;
dagegen scheiterten die chiliastischen Versuche völlig ergebnislos.
Und trotzdem müssen wir fragen, ob nicht doch in der Gegen-
wart oder in der Zukunft noch neue Aussichten, neue Möglichkeiten
für den chiliastischen Geist vorhanden sind. Die bisherigen chi -
liastischen Versuche sind zwar alle gescheitert, und seit der Refor -

284
mation sind nicht einmal Versuche vorgekommen; und der chiliasti-
sche Verwirklichungswille scheint wegen einem in seinem Wesen
gründenden Gegensatz überhaupt ab ovo keine Aussicht auf Erfolg
zu haben. Doch trotzdem müssen wir fragen, ob nicht etwa, durch
gewisse Änderungen in der chiliastischen Gefühlswelt, vielleicht
doch neue Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, neue, aus-
sichtsvollere Verwirklichungsmöglichkeiten für den chiliastischen
Erlösungswillen entstehen könnten, ob nicht etwa die Erfolglosigkeit
des aktiven Chiliasmus vielleicht durch ein neues Entwick -
lungsstadium der chiliastischen Religiosität überwunden werden
könnte, ebenso wie der aktive Chiliasmus manche Widersprüche des
passiven Chiliasmus überwand. Und um so mehr müssen wir diese
Frage stellen, da man neuerdings den Bolschewismus mit dem
Chiliasmus in Verbindung zu bringen pflegt, indem man in ihm eine
neue Gestaltung, ein neues Entwicklungsstadium, der chiliasitischen
Idee sieht.
Und tatsächlich scheint uns eine Möglichkeit der
Weiterentwicklung für die chiliastische Idee gegeben zu sein. Wir
sahen, daß in der passiven Periode des Chiliasmus die Menschen
alles von dem kommenden Erlöser erwarteten, ihm die
Verwirklichung der Erlösung vollkommen überlassend. In der
darauffolgenden, aktiven Periode der Entwicklung der chiliastischen
Idee übernahm der Mensch einen Teil der Erlösungsarbeit, indem er
den negativen, destruktiven Teil der Erlösungsaktion, die
Vernichtung des Bösen: die Läuterung, selbst vollbringen sollte, und
von der Gottheit nur die vollendende Beendigung seiner
Erlösungsarbeit erwartete. Was geschieht aber, was für
Möglichkeiten entstehen dann, wenn der chiliastische Mensch das
ganze Werk der Erlösung für sich vindiziert, wenn er von der
Gottheit nichts mehr erwartet, sondern die gesamte Erlösungsarbeit,
sowohl die Destruktion, die Vernichtung des Bösen, wie die
Konstruktion, die Verwirklichung des Guten, selbst vollbringen will?
Diese Änderung in der Gefühlswelt des chiliastischen Menschen
würde ganz in der Linie seiner bisherigen Entwicklung liegen, indem
sie nur die Fortsetzung jenes Prozesses der religiösen
Verselbständigung, der Aktiver- und Freier-Werdung des Menschen

Vgl. z.B. das bereits erwähnte Buch von Ernst Bloch über Thomas Münzer, wo viele
Bemerkungen auf eine chiliastische Auffassung des Bolschewismus schließen lassen.

285
in seiner Relation zu Gott bedeuten würde, in welchen der aktive
Chiliasmus nur ein weiterer Fortschritt war. Und sie wür de auch
vollkommen in der Linie dieser Tendenz der fortschreiten den
Abschwächung des religiösen Gefühles liegen, welche seit dem
Reformationszeitalter in immer größeren Schritten sich vollzieht.
Und in der Gedankenwelt des Bolschewismus können wir tatsäch lich
solche Züge finden, die einem solchen, vom religiösen Stand punkt
aus „dämonischen" „gottlosen" Chiliasmus (einem, Gott
ausschaltenden und alles nur von menschlichem Handeln erwarte-
tenden, Verwirklichen-wollen der absoluten Postulate in der gegen-
wärtigen empirischen Welt) entsprechen. Auch im Bolschewismus
handelt es sich um den Angriff einer wahrheitsbewußten Minder heit
auf die empirische Welt, um die Verwirklichung ihrer Postulate in
ihr mit Gewalt zu erzwingen.
Und trotzdem können wir in dem Bolschewismus keine
chiliastische Bewegung erblicken. Denn Gott fehlt in ihm - und einen
Chiliasmus ohne Gott können wir nicht mehr Chiliasmus nennen. Die
primär religiöse Fundiertheit, das zentrale Gerichtetsein auf Gott, die
beendende und vollendende Mitwirkung Gottes bei der Erlö-
sungsaktion, die Gottesbeherrschtheit des gewollten Erlösungsrei-
ches, kurzum: die allesbeherrschende Konstitutivität des Gottge-
fühles ist von dem Wesen des Chiliasmus untrennbar. Es ist die
hauptsächlichste Wesenseigenart des Chiliasmus, daß er Gott auf die
Erde bringen will: wie könnte er also er selbst bleiben ohne Gott?
Jenes Entwicklungsstadium des Chiliasmus, in welchem der Mensch
das ganze Werk der Erlösung selbst vollbringen zu können glaubt
und von Gott nichts mehr erwartet; jenes Verwirklichenwollen der
absoluten Werte in der empirischen Welt, welches sich nur auf
menschliches Handeln gründet, ist kein Chiliasmus mehr. Es ist nun
durchaus vorstellbar und möglich, daß der Chiliasmus im Lau fe
seiner Weiterentwicklung Gott aus seiner Gefühlswelt ausschal tet,
das heißt: daß er im Laufe seiner Entwicklung sich selbst aufhebt;
und es ist auch durchaus möglich, daß aus dieser Wesens-Um-
wandlung noch neue, ganz unerwartete und bedeutungsvolle Mög-
lichkeiten und Wirklichkeiten für den menschlichen Geist entstehen
werden; wie es auch durchaus möglich ist, daß eben der Bolschewis -
mus der Übergang zu dieser neuen Epoche ist. Doch dies alles ist
schon kein Chiliasmus mehr, sondern gehört bereits in eine ganz

286
andere Periode der Geistesentwicklung; und von seiner Darstellung
müssen wir umso mehr absehen, als dieses Neue erst jetzt in Entste-
hung begriffen ist und erst die kommenden Jahrhunderte der Ent -
wicklung des menschlichen Geistes seine Entfaltung bringen können
werden.

LAJOS FÜLEP: GEISTESGESCHICHTE


EIN BEITRAG ZUR STUDIE MIHALY BABITS'

Babits' Geistesgeschichte-Artikel wirft viele Fragen auf, es wäre


gut, sie im einzelnen zu diskutieren. Die Detailliertheit ist die Probe
auf die Prinzipien; Babits analysiert vielfach scharf und bis in Ein -
zelheiten hinein, man sollte zumindest ähnlich detailliert die ver -
wandten und abweichenden Auffassungen erörtern. Ich für meinen
Teil fasse hier in zwei Punkten kurz zusammen, was ich für beson -
ders wichtig halte. Der eine betrifft die Fragen der Geistesgeschich te
im allgemeinen, ihre wirklichen und möglichen Konsequenzen, der
andere Babits' spezifische, jedoch typische Lage.
1. Babits würdigt die Ergebnisse der Geistesgeschichte objektiv,
ja, sogar mit großer Sympathie, gleichzeitig deckt er mit der einem
Fachmann angemessenen kritischen Sicherheit die Grenzen ihrer
Geltung auf. Seine Kritik ist nicht nur vollkommen berechtigt, sie ist
auch völlig zutreffend; es kann sie jeder ohne Vorbehalt akzep tieren,
dem in der Literatur und Geschichte auch anderes von Wich tigkeit ist
als Richtungen, kollektive Erscheinungen usw.


Fülep Lajos: „Szellemtörténet", Nyugat (Budapest) 1931, S. 657-661. Übersetzt aus:
Fülep Lajos: Művészet és világnézet. Cikkek, tanulmánvok 1920- 1970. Szerk. Timár
Árpád, Budapest 1976, S. 322-328.

287
Mag jedoch diese Kritik auch noch so vorzüglich sein, müssen
wir doch davor warnen, sie auf jede Richtung und den gesamten
Bereich der Geistesgeschichte zu beziehen. Aus der geistesgeschicht -
lichen Methode folgen nicht zwingend alle jene Konsequenzen, die
Babits in der Praxis sieht und mit Sorge aufzählt. Sie gehören nicht
einmal zu ihr! Wenn sich z.B. in der Hand der Geistesgeschichtler
die Literaturgeschichte in Soziologie verwandelt, dann ergibt sich
das nicht aus der Methode selbst. (Kann man doch auf diese Weise
unter Verleugnung des eigenen Lebens und der eigenen Geschichte
des Geistes ganz gut zum Marxismus und zum „historischen Mate-
rialismus" gelangen.) Theorie und Praxis der Geistesgeschichte
stimmen in vieler Hinsicht nicht mit dem überein, was Babits' Pole -
mik ins Visier nimmt und trifft. Ohne mich hier in theoretische und
methodologische Erörterungen einlassen zu wollen, verweise ich
einfach auf einige Tatsachen im Bereich der Kunstgeschichte, wo die
Geistesgeschichte ihre bisher schönsten Ergebnisse zeitigte (teils in
ihren Spuren, mit dem Versuch, ihre Kategorien zu verwenden, doch
viel unsicherer geht die Literaturgeschichte vor).
Die Kunstgeschichte unterzog mittels der geistesgeschichtlichen
Methode, ohne dabei selbständige Forschungen durchzuführen, die
gesamte Geschichte der Kunst einer Revision, und gerade unter An -
wendung des Prinzips, das Babits für so gefährlich hält, daß man
nämlich jede Zeit mit ihrem eigenen Maßstab messen müsse, ent-
deckte sie in der Tat Zeitalter - und fügt sie als unverzichtbare
Kettenglieder in den historischen Zusammenhang ein -, die vor her,
unter Verwendung eines fremden Maßstabs, z.B. als dekadent
abgestempelt und kaum einer Beachtung gewürdigt worden waren.
Und dies bedeutet unendlich viel, einmal für die universale An-
schauung des historischen Prozesses, zum anderen für die Rehabili -
tierung künstlerischer Werte. Wir können ruhig sagen, der histori -
sche und bewertende Horizont sei vorher in Jahrhunderten nicht um
so viel erweitert worden wie jetzt in wenigen Jahrzehnten. Diese
Geistesgeschichte suchte die von Babits mißbilligte „Zeitgemäßheit"
keineswegs in der Weise, die er mit Recht scheut - ganz im
Gegenteil, sie stellte sich sowohl der herrschenden Strömung der
positivistischen Standpunktlosigkeit als auch der Anwendung alt-
eingewurzelter fremder Maßstäbe entgegen, indem sie heute schon
selbstverständlichen Grundwahrheiten zum Durchbruch verhalf, daß

288
man z. B. die Gotik nicht an der griechischen Kunst, den Ba rock
nicht an der Renaissance messen kann und umgekehrt (wie es zuvor
weit und breit Mode war; schlagen wir nur auf, was Goethe während
seiner Italienreise über Assisi schreibt); ein für alles gültiger Kanon
kann jedoch nur eine Abstraktion sein, in die alles glei cherweise
hineinpaßt, und so hört er auf, Maßstab zu sein.
Dies wurde in erster Linie durch den Eingang jenes Begriffs in
die Kunstgeschichte ermöglicht, den in Riegls Terminologie das
Wort „Kunstwollen" bezeichnet, und das bedeutet - polemisch zu -
gespitzt -, daß an der Kunst der Zeitalter (und der Einzelnen) nicht
das Entscheidende ist, was sie „konnten" (z.B. im Bereich der
„Nachahmung der Natur", der Perspektive usw.), sondern was sie
„wollten" - anders gesagt, was ihnen wichtig war, warum zwei
Zeitalter von (hypothetisch) gleicher künstlerischer Potenz den (hy-
pothetischen) identischen Gegenstand so unterschiedlich „wieder-
geben", warum die Kunst zweier Meister von (hypothetisch) gleicher
Kapazität im selben Zeitalter sich so sehr voneinander unter scheidet
usw. Sind die Gründe dafür „Rasse", Nation, Klasse, Persönlichkeit?
Möglich. Doch bevor sie so weit geht, muß die Kunstgeschichte die
Tatsache klären und als Grundlage nehmen (und dieser Grund ist,
wenn wir bei der Untersuchung der Kunst bleiben, ratio sufficiens),
daß die Geschichte der Gestaltungen und Unterschiede der Kunst,
des Werdens und Vergehens der Stile nicht die Geschichte der
Techniken, Fähigkeiten, der „optischen Entwicklung des Sehens"
usw. ist, sondern die Geschichte des sich selbst ausdrückenden und
vergegenwärtigenden Geistes, mit einem anderen Wort:
Weltanschauungsgeschichte. Das bedeutet selbstverständlich nicht,
daß wir die Kunst als ein Dokument der Weltanschauung betrachten,
sondern einfach nur, daß wir die historischen Gestaltungen der Kunst
aus weltanschaulichen Gestaltungen verstehen müssen. Und obwohl
Riegl die Konsequenzen aus seiner Methode für den Begriff der
Weltanschauung nicht selbst zog, folgen sie ebenso notwendig aus
ihr, wie sie - umgekehrt - nicht zu einer Soziologisierung führt.
Die Frage, ob Riegls Kategorien ausreichend oder mangelhaft
sind, ob seine historischen Feststellungen in allem richtig sind, ge -
hört nicht hierher - es bleibt die Tatsache, daß er eine neue Rich tung
eingeleitet hat, die nicht nur zu einer Mehrung der Kenntnisse,

289
sondern ebenso zum besseren Verständnis der Erscheinungen ver-
helfen kann, und weiterhin bleibt, daß er mit seiner Methode Zeit-
alter tatsächlich neu erschlossen hat, wie z.B. die spätrömische
Kunst. Noch vollständiger hat sich die Methode bei Dvorak ent-
wickelt, dem wir eine neue Sicht verhältnismäßig gut bekannter
Zeitalter verdanken wie das Frühchristentum oder die Gotik. Aber
dies alles sind Zeitalter. Babits fürchtet den Verlust des Einzelnen in
der Kollektivität. Es gibt Beipiele dafür - allerdings auch für das
Gegenteil, wofür ich keine Analogie aus den vorhergehenden Rich -
tungen kenne. Károly Tolnays Bruegel-Buch - das Paradigma der
rein geistesgeschichtlichen Methode - erschloß uns einen Bruegel,
den wir kannten und doch nicht kannten, und wie seltsam es auch
klingen mag, es ist Tatsache, daß die Geschichte der Kunst der Welt
seit einigen Jahren um einen der größten Künstler reicher geworden
ist, obwohl dieser fast vor vierhundert Jahren lebte und Zeit und
Möglichkeit genug war, ihn kennenzulernen. (Wir wußten, welch
vorzüglicher Graphiker und Maler er war, nicht aber, was für ein
Künstler - als wüßten wir z.B. von Bach, wie großartig seine Klavier-
und Orgelwerke sind, nicht aber, was er damit sagt.)
Nun, keiner der Erwähnten gleitet ab in die Soziologie; jeder
kann mit der geistesgeschichtlichen Methode, mit der Analyse des
Kunstwollens und des weltanschaulichen Fundaments eine ausrei
chende Erklärung der künstlerischen Eigenheiten und der histori-
schen Dynamik geben. Ihr wissenschaftliches Tun ist auf seine Wei -
se Schöpfung, das heißt Bereicherung der Welt, Weltdeutung ...
Auch Babits meint, jedes Handwerkzeug, jede Methode seien soviel
wert wie der Mensch, in dessen Hände sie geraten. Nannten wir
Werke genialer Menschen? Ja. Doch nicht ein einziges Genie hätte
mit einer anderen, früheren Methode das gleiche Ergebnis erzielen
können - auch heute nicht. Interessantes, anderes, das mag sein - aber
nicht genau dies. Und hier liegt die Betonung auf „genau dies", und
zwar besonders heute, weil es nur heute gesehen und ge tan werden
konnte.
2. Babits' Kritik, Polemik und schmerzliche Resignation resultiert
aus seiner - wenn überhaupt, dann ist dies große Wort hier am Platz -
tragischen Lage, von der ich sagte, sie sei spezifisch, doch typisch.
Sie ist typisch, weil sie die des heutigen Menschen ist, spezi fisch,

290
weil nur die einiger weniger, der Besten. Dieser Aufschrei des
eigentümlichen, selbstquälerischen Kampfes eines zweifelnden, aber
sich nach Gewißheit sehnenden Philosophen und eines produktiven
und mit einem sicheren Kanon lebenden literarischen Menschen ist
ein zutiefst menschliches Dokument, ein Zeugnis des typischen und
tiefsten Erlebnisses des heutigen Menschen. Erschütternd und
reinigend. Mit der gebotenen Kürze, jede Gefühlsresonanz
unterdrückend, stelle ich diesen sich mit immer gewaltiger
werdendem Crescendo offenbarenden Konflikt in seiner theoreti-
schen, kalten Nacktheit hier mitten zwischen die logische Abfolge
der Studie.
Sein einer Zweig ist dies: Der heutige Mensch lernte im Lichte
des Historismus die Relativität der historischen Erscheinungen (Re-
ligion, Philosophie, Moral, Kunst usw.) und - was noch wichtiger ist
- den spezifischen, durch nichts anderes zu ersetzenden Wert der
Erscheinungen kennen, der sich gerade in ihrem individuellen,
einmaligen, konkreten Charakter verbirgt; er überzeugte sich davon,
daß „für jede Zeit nur ihre eigene Wertskala richtungweisend ist",
daß die einer anderen zur Vergewaltigung, zur Verfälschung und -
was noch schlimmer ist - zum Nichterkennen, zum Ver decken der
Werte führt. Sein anderer Zweig ist dies: Er sieht die pausenlosen
Veränderungen, die „sich wandelnden Wolken", und erkennt nicht,
sucht aber hinter ihnen mit unstillbarer Sehnsucht die „ewigen
Sterne", Gesetze, Normen, den von der Zeit unabhängigen
Wertkodex, die er auf alles gleichermaßen anwenden und mit denen
er alles sicher und gültig beurteilen kann. Im ersten Falle öff net sich
vor ihm der unendliche Reichtum des Geistes und Lebens, es fehlt
aber die der gesamten Bewegtheit Sinn verleihende Leitidee - was
die beiden großen geschichtsphilosophischen Systeme des letzten
Jahrhunderts, das von Hegel und das von Marx, die preußische
Staatsidee oder der Kommunismus, als Lösung anbieten, das kann er
als Lösung nicht akzeptieren; im anderen Fall gibt es ein absolutes
Ideal und eine Norm, aber der gesamte historische Prozeß wird neben
ihnen unwesentlich, zu einem blassen Schattenbild und zur
Illustration, worin wiederum das Konkrete, Spezifische und In-
dividuelle keinen Sinn und Wert hat. Und wie vorsichtig und sach -
verständig man sich auch bemüht, die beiden Zweige des Konflikts

291
zueinander zu biegen, so daß sie zusammenlaufen, so wird der eine
durch die Berührung des anderen doch sofort gestört; was zuvor so
scharf zu sehen war, das Konkrete, verwischt sich unter dem Ideal
und verblaßt neben ihm zum Wesenlosen, zum Substanzlosen; und
was vorher so sicher und universell war, die Norm, wird durch das
Zeitliche eingeschränkt, verliert darüber hinaus seine Geltung, seine
Sicherheit läßt nach.
Ist das ein Konflikt der heutigen Zeit? Nein, er ist uralt und
taucht in jeweils anderer Form wieder auf: er ist zwischen den Elea-
ten und Heraklit vorhanden, in der Scholastik, im Spinozismus,
Kantianismus und Bergsonismus vertreten z.B. je einem seiner
Zweige. An sich ist er nicht neu, aber noch nie war er so zugespitzt
und in dem Maße sichtbar wie heute. Und daß dies so ist, muß zum
Teil der Geistesgeschichte zugeschrieben werden. Sie hat also unser
Elend noch spürbarer, vollständiger, den Konflikt noch unversöhn -
licher gemacht. Ist das ihre Schuld oder ihr Verdienst? Ich denke,
nicht das ist die Frage, sondern: Resultiert der Konflikt aus einem
Denkfehler, oder liegt er in der Natur der Dinge? Meiner Meinung
nach ist das zweite der Fall, weshalb die Annahme und das Zuende -
denken des Konfliktes ein notwendiger Akt der Erkenntnis ist. Sol -
che Konflikte, die nicht aus Denkfehlern, sondern aus der Natur der
Dinge resultieren, führen dazu, das Wesen der Dinge zu erken nen,
wenn wir sie bis zu Ende denken; deshalb sind sie fruchtbar. Deshalb
muß die Geistesgeschichte den Konflikt bis zu Ende denken, anstatt
ihn zu verdecken; und muß sehen, „was heute zu sehen ist".
Doch will eben der ringende Mensch nicht nur sehen, was heute
sichtbar, sondern was ewig ist - und den Konflikt auflösen. Ob das
möglich ist - das wiederum ist seine große Frage (Was nützt es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Scha den an
diesem Einen? - eine Variante der bekannten Frage des
Evangeliums). Auf der Ebene des Intellektualismus ist es nicht
möglich - das können wir heute, nach einer solchen Vergangenheit,
schon ohne Zögern sagen; was der Intellekt so getrennt hat, kann er
nicht wieder vereinigen. Der heutige Mensch würde sich jedoch nicht
so quälen, wenn er nicht spürte, daß irgendwo doch ir gendeine
Lösung vorhanden sein muß - in das absolut Unmögliche würde er
sich fügen, in das Vorläufige, das Übergangsmäßige nie. Wo, in

292
welcher Richtung soll er sie suchen? Wo ist das Zauberwort?
Nirgendwo. Bis zum sicheren Fundament, bis zum gewachse nen
Boden muß in entschlossenem Kampf und harter Arbeit hinab-
gegraben werden. Unserer Ansicht nach liegt dieses Fundament recht
tief, dort, wo es der Grundgedanke in Fichtes System der Sittenlehre
von 1798 über die Einheit von Glauben, Wille und Gedanke
nachgewiesen hat. Ich beeile mich hinzuzufügen, daß mir der
Wunsch nach Inauguration irgendeines Neofichteanismus auf dem
Leisten des Neokantianismus, Neohegelianismus usw. fern liegt. Das
ist auch unnötig, denn hier ist nicht die Hauptsache, wer diesen
Grundgedanken wann ausgesprochen hat und was er sonst noch sagte
- die Hauptsache ist, daß er mit dem Gedanken einen wahren
Tatbestand ausdrückte, welcher schon vorher die Grundlage war und
es immer sein wird für die Schöpfungen, das Denken, die
Philosophie und Wissenschaft aller Zeitalter, jene Tatsache näm lich,
daß die letzte Grundlage von allem, was die Ratio als Wahrheit
ausspricht, der Glauben ist.
Ob nun diese Wahrheit in Gestalt einer begründeten Theorie, ei -
nes durchformulierten Gedankens und Prinzips oder eines vielleicht
negierten, vielleicht nicht einmal vermuteten bloßen geistigen Fak-
tums auftritt, ist ganz gleichgültig - es gab nie und, das können wir
heute schon im Besitz unserer Kenntnisse sagen, kann niemals eine
philosophische Wahrheit ohne Überzeugung, ohne Mitwirkung von
Glauben und Wille geben. Die den Konflikt zur endgültigen
Zuspitzung bringende Geistesgeschichte verhilft ebenfalls zur
Erkenntnis dieser Wahrheit - und erschließt damit die Lösung der
Perspektive. Diese Lösung liegt demnach nicht vor der Aufgabe ir-
gendwo im topos noetos, sondern in der Aufgabe selbst - wir müssen
ins Wasser gehen, wenn wir schwimmen wollen.
Der erste Schritt, der aus dem Dilemma herausführt, ist jene Di-
stinktion, daß der geschichtsbetrachtende Geist etwas anderes ist als
der religiöse, philosophische, moralische, künstlerische, schöp -
ferische Geist (wobei die Nichtbeachtung dieser Distinktion zum Teil
Babits' Kritik und Konflikt auf ein Abstellgleis führte). Letzterer
fragt nicht, was andere Zeitalter wollten, sondern was er will, und
denkt in seinem Kampf um die Wahrheit nicht daran, daß seine
Apercus nach fünfzig oder hundert Jahren veraltet sein werden,

293
sondern daran, daß es seine Berufung ist, zu erkennen und zu
schaffen, was ihm eben zu sehen und zu schaffen gegeben ist. Wenn
er nur sieht, was „heute sichtbar" ist, folgt daraus nicht, daß nicht
wahr ist, was er sieht. Selbst jeder Teil der Welt des Geistes besitzt
eine gewisse Vollständigkeit, die das Ganze impliziert. Die schöpfe -
rische Zeit oder das schöpferische Individuum glaubt nicht nur an die
Geltung seiner eigenen Ideen, Normen, seines Wertkodexes, sondern
will sie auch; aufgrund dessen, was es sieht, schafft es sein eigenes
geistiges Heim, das, wenn auch nicht die totale Welt des Geistes -
was niemand gegeben ist -, so doch ein organisches und notwendiges
Glied im großen Gebäude der Wahrheit oder - statt im Raum in der
Zeit betrachtet - des Schicksals des Geistes ist. Natur- und
Geisteswissenschaft unterscheiden sich letztlich dadurch
voneinander, daß der Geist ein Schicksal, eine Geschichte hat, das
Leben des Geistes ist ein Risiko, ein Abenteuer, was gestern möglich
war, ist heute unmöglich, und umgekehrt - es ist ein Drama des
Glauben-, Wollen- und Erfassen-Könnens neben dem des Sehen-
Könnens. Es handelt sich folglich hier (wie auch in der Literatur und
der Kunst) um etwas anderes als Geschmackswandel - es handelt sich
um Weltwandel, Weltschöpfung (für den Geist wird im Glauben und
Willen die Welt mit der Erkenntnis geschaffen). Dies ist nur
aufgrund von geltend geglaubten Ideen und Normen möglich - doch
ist dabei der Glauben ebenso wichtig wie die Norm.
Auf dem Weg des schöpferischen Geistes geht der Glaubende
voran (ob nun Philosoph, Gelehrter oder Künstler) - sein erster
Maßstab ist sein Heroismus. Auch dann, wenn er zurücksieht,
überblickt er, seiner Normen gewiß, souverän die gesamte Vergan -
genheit und urteilt. Jede Zeit mißt er an ihrem eigenen Maßstab, ge-
wiß - damit aber, wie er auf die Zeit blickt oder auf welche er sieht,
urteilt er auch nach seiner eigenen Norm (wenn vielleicht auch
unbewußt). Dies ist ein zweifaches Urteil: die Zeit an ihrem eigenen
und an einem als absolut erkannten Maßstab messen. Das
unterscheidet sich ganz und gar davon, daß nur mit dem einen ge-
messen wird.
Nun wieder zurückkehrend zur Frage der Geistesgeschichte: Die
geistesgeschichtliche Anschauung verwendet in dem gleichen Maße,
wie sie sich dem religiösen, philosophischen usw. schöpferischen

294
Geist nähert, die schöpferischen Normen ihrer eigenen Überzeugung
und beurteilt in dem gleichen Maße die Zeitalter über deren Normen
hinaus auch nach ihren eigenen Normen. Auch die Geistesgeschichte
selbst ist eine Projektion, die auf ihre Deutung wartet. Aber die
„ewigen Sterne", deren Projektion sie ist, sind schon er schienen,
lenken das Schicksal. (Das spürt auch Babits. Das „du würdest nicht
suchen, wenn . . . " des Pascal.) Nicht das ist uns das Wichtige, ob
diese Sterne ewig dort oben stehen - auch die Fixsterne gehen unter,
nicht nur „Wolken" können sie verdecken -, sondern daß sie unseren
Weg erleuchten, unseren Weg, den wir in der Nacht gehen müssen.
In der Nacht, die - Babits hat recht - noch nie so dunkel war wie
heute. Nun kann aber das tiefste Elend der Geschichte des Geistes
eine Quelle seiner Würde und der Glorie sein. Es ist nicht sicher, daß
es das wird - es kann es nur werden. Am Glauben und Willen der
Zeit entscheidet es sich, und wie ihre Vorgänger wird auch sie einst
dementsprechend beurteilt werden. Damit haben wir den Beginn der
Antwort auf Babits' letzte, resignierte Frage: „Wer kennt heute einen
besseren Maßstab?"

295
FRIEDRICH ANTAL: PICASSOS WEG 
Als sich nach dem beendeten Krieg die ersten Nachrichten
darüber verbreiteten, was bis dahin im französischen künstlerischen
Leben geschehen sei, verursachte keine Kunde so große
Überraschung als die, daß Pablo Picasso, der Begründer der
kubistischen Malerei, mit dem Kubismus gebrochen habe und jetzt in
naturalistischer Manier arbeite. Dieser Frontwechsel, der schon zu
Beginn des Krieges stattgefunden hatte, führte im Lager der Kubisten
natürlich zu peinlicher Überraschung und Verwunderung. Niemand
von ihnen vermochte eine Erklärung dafür zu geben, warum ihr
Führer sie im Stich gelassen hatte. Erst kürzlich erschien Maurice
Raynals großes Buch über Picasso, das kaum über das neueste
häßliche Verhalten seines Helden spricht, ja, es fast völlig
verschweigt und eben nur resigniert zur Kenntnis nimmt („manche
Sterne in seinem Auge sind verlöscht" - sagt Raynal mit Bewegung,
aber nicht sehr überzeugend), aber überhaupt nicht auf Erklärungen
eingeht.
Dabei wäre es sinnvoll, sich mit dieser Tatsache zu befassen.
Picasso ist ein begabter Maler und ein kluger Mensch. Der von ihm
seinerzeit, 1906 und in den folgenden Jahren inaugurierte Kubismus
verursachte eine wahre Revolution in den Künsten, die Zahl seiner
Anhänger in allen Ländern war gewaltig und zur Untermaue rung
seiner Theorien entstand eine ganze Literatur. Und nun ver läßt der
„Gründer" alles, als wäre gar nichts gewesen, und arbeitet in der
Manier alter akademischer Maler nach der Natur. Wie ist das
möglich?
Wir wollen versuchen, es zu erklären.
Ich glaube, nicht nur das ist eigenartig, daß man mit einer Rich -
tung aufhören kann, sondern auch, daß man eine Richtung „grün den"
kann. Beispiele aus älteren Zeiten suchten wir dafür wohl ver
geblich. Und das ist auch natürlich. Erst wenn eine langlebige

Antal Frigyes: "Picasso útja", Tűz, 1921. nov. 15. - dec. l, S. 53 - 58. Übersetzt aus:
A vasárnapi kör. Dokumentumok. Szerk. Karádi Éva és Vezér Erzsébet, Budapest 1980, S. 328
- 334.

296
Kunsttradition zu Ende geht und ein überspannter Individualismus
existiert, ist es möglich, daß jemand eigenmächtig Kunstrichtungen
gründen kann. Um 1900 waren beide Vorbedingungen - die aus
geschichtsphilosophischer Sicht im Grunde genommen eine sind -
gegeben. Die Natur als Prozeß, der auf eine treuere und zugleich
subjektivere Wiedergabe gerichtet ist, dessen Wurzeln weit zurück-
reichen, bis in die Spätantike, bis in die Zeit des römischen Kaiser -
reiches, und dessen letzte Konsequenzen am Ende des 19. Jahrhun -
derts der Impressionismus und schließlich der Neo-Impressionismus
zogen, ging zu Ende. Tatsächlich, weiter konnte man nicht kommen
in der treuen Wiedergabe des Natureindruckes, als dies der Neo-
Impressionismus tat, der die Gegenstände mit fast wissenschaftlicher
Gründlichkeit in die reinen Grundfarben zergliederte und es dann der
Netzhaut des Betrachters überließ, die momentane Impression dort
von neuem lebendig werden zu lassen, die der Maler wiedergeben
wollte.
Der größte Teil der Maler „geriet in Verwirrung". Die begabte-
sten von ihnen sahen alle, daß etwas Neues kommen müsse. Doch
nur die wenigsten sahen zugleich, daß ein alter Maler in einer klei -
nen französischen Provinzstadt, in Aix, den Impressionismus
durchbrechend und alle seine Errungenschaften bewahrend, schon
die Grundlagen einer neuen, kompositionellen synthetischen Kunst
geschaffen hatte. Nur die wenigsten sahen, daß die neue Weg strecke
schon angegeben war, daß der beschwerliche Weg der neuen Kunst
über Cézanne verlief.
Ein großer Teil der Maler wählte viel einfachere, viel „indivi -
duellere" Wege. War doch auch schon der Impressionismus eine
Möglichkeit der Verschärfung des Individualismus und Subjektivis-
mus der Zeit gewesen, so waren dort die Künstler noch nicht an die
Tradition einer malerischen Sehweise gebunden. Jetzt jedoch, nach
dem Tode des Impressionismus, war der Weg frei für jede indivi -
duelle Eigenmächtigkeit. Ebenso wie sich jeder ein Recht heraus -
nahm, mit einem schnell zusammengeschusterten Buch eine neue
Philosophie, Religion oder neue Systeme zu schaffen, betrachtete
jeder Maler die Malerei als seine eigene Beute. Der eine stilisierte
auf ägyptische Manier, der andere imitierte die Japaner, der dritte das
Rokoko, der vierte die Gotik, der fünfte sah einfach alles grün, und
so weiter bis ins Endlose. Wenn aber das Werk bloß das Er gebnis

297
einer launenhaften Überlegung ist, wird natürlich Abwechslung zur
Notwendigkeit, und die Maler wechselten ihre labilen Richtungen so
wie ihre Hemden.
Picasso gehörte nicht zu diesen totalen Liederjanen. Anderer-
seits war er auch kein Künstler von echter Tiefe. Wenn man aber
seine ganz frühen Bilder, seine geistreichen, stark durchkomponier -
ten, ein- bis zweifigurigen etwas grotesken Bilder der Beurteilung
zugrunde legt, ließ sich Gutes von ihm erwarten. In ihnen dominier -
ten der Geist der Komödiantenbilder Daumiers und des Mardi gras
von Cézanne.
Und wahrlich, Picasso wurde nicht aus Spaß ein anderer, son-
dern aus einer berechtigten, wenn auch völlig einseitigen Einsicht
heraus. Er bemerkte, wie oberflächenhaft der Impressionismus war,
wie sehr er die Plastizität der Gegenstände vernachlässigte. Und das
ist auch tatsächlich wahr. Die impressionistischen Maler schufen, nur
um möglichst getreu und schnell ihre momentanen Eindrücke
wiedergeben zu können, absichtlich eine in Farbflecken
phosphoreszierende optische Fläche, auf der die einzelnen Gegen-
stände, ihrer wahren Körperlichkeit und ihres Volumens beraubt, nur
als watteartige Farbflecke existierten. Sie waren gleichförmig aus
Watte, gleichförmig hatten ein Haus, ein Mensch, eine Wolke keine
Körperlichkeit. Dagegen wollte Picasso den Kampf aufnehmen. In
der Sache selbst hatte er also recht, dennoch trug der Kampf die
Ursünde schon in sich: man kann einen solchen Kampf nicht
„beschließen". Es ist immer vom Übel, wenn ein Maler irgendetwas
aus intellektuellen und Erwägungsgründen tut, es ist immer ein
schlechtes Zeichen für das spontane Talent des betreffenden Malers.
Und dann noch etwas, was eng damit zusammenhängt: Wie jede auf
Überlegung beruhende Einwirkung in der Kunst war auch diese
notwendigerweise einseitig, erstreckte sich nicht über die ganze
Komplexität der Kunst. Die Malerei darf sich nicht etwas so
ausschließlich Einseitiges wie die Plastizität zum Ziel setzen, diese
kann nur eines unter den vielen Zielen sein. Picassos Malerei war ei-
ne einseitige Reaktion auf eine Konsequenz des Impressionismus.
Anfänglich begnügte sich Picasso damit, die die Gegenstände
begrenzenden Flächen zu übertreiben, und gab damit den Dingen

298
eine starke Plastizität. Später, ebenfalls zur Steigerung der Plastizi -
tät, bemühte er sich eher, die Gegenstände zu geometrischen Formen
zu vereinfachen. All das war jedoch überhaupt nicht neu. Schon seit
dem 15. Jahrhundert kommt es häufig vor, daß Maler auf den ihre
Bilder vorbereitenden Zeichnungen die Gestalten auf gerade Linien
reduzieren, um sich so besser klar werden zu können über deren
Volumen im Raum. Schon Dürer gab den Malern diesen Rat, und
Luca Cambiaso, einer der hervorragendsten Genueser Maler im 16.
Jahrhundert, hinterließ viele hundert solcher vereinfachter
Konturzeichnungen. Die gleiche Technik verwendet auch Rembrandt
bei seinen Zeichungen in seiner Spätzeit, die Figuren wirken fast wie
Würfel. Diese Zeichentechnik hängt mit einem alten Atelierbrauch
zusammen, der darin besteht, daß man jene kleinen Holz- oder
Wachsfiguren, nach denen die Maler - zur Steigerung der Plastizität
und Raumwirkung ihrer Bilder - die Skizzen fertigten, häufig zu
Polygonen vereinfachte, damit ihre Kubusform dadurch noch
offensichtlicher werde. Von Theoretikern für den Gebrauch der
Maler geschriebene Handbücher stellten solche Polygonen Figürchen
oft in verschiedenen Posen im perspektivischen Raum dar. Wenn wir
einen solchen Traktat in die Hand nehmen, z. B. die Vnnderweisung
der proportzion vnnd stellung der Possen des Nürnbergers Erhard
Schön, der mit lehrreichen Holzschnitten illustriert ist, sehen wir zu
unserem größten Erstaunen lauter Picasso-Bilder. Aber früher
betrachtete man diese Vereinfachung nie anders als ein technisches
Hilfsmittel. Der ganze Hochmut und die ganze Selbstherrlichkeit
unserer überheblichen und gleichzeitig unwissenden Zeit war
vonnöten, ein seit Jahrhunderten bekanntes technisches Hilfsmittel
als die neue Malerei vorzustellen. Aber selbst wenn das, was Picasso
machte, aus der Sicht der Weiterentwicklung der Malerei eine sehr
bescheidene Sache war, war es doch immer noch Malerei, und man
hätte auf diesem Wege zu Ergebnissen kommen können, wenn
natürlich auch nur zu technischen Detailergebnissen, die dann von
Malern mit einer Fähigkeit zu größerer Synthese hätten verwendet
werden können.
Mit der Zeit jedoch kam bei Picasso das gedankliche Element,
das schon bei Beginn vorhanden war, immer mehr zur Geltung. Je -
nen notwendigerweise in der Luft, in der Zeitstimmung liegenden

299
Gedanken, daß man die Dinge selbst wiedergeben müsse (und nicht
wie sie zufällig, in der Beleuchtung eines bestimmten Augenblickes
erscheinen, wie sie die Impressionisten wiedergaben), transponierte
Picasso in den gedanklichen und inhaltlichen Raum, indem er er-
klärte, man müsse die Dinge so wiedergeben, wie sie dann sind,
wenn wir sie umschreiten oder sie in die Hand nehmen und hin und
her wenden. Wenn er also eine Flasche malte, gab er ihre eine Hält' te
realistisch wieder, die andere im Querschnitt, und wenn er cin
Antlitz wiedergeben wollte, so gab er die eine Hälfte en face, die an -
dere im Profil, und so weiter. Und das nannten er und seine
Theoretiker-Freunde wissenschaftliche Malerei. Daß man sie aber
wissenschaftlich nennen kann, glaube ich nicht, da ja jede beliebige
geometrische Zeichnung wissenschaftlich exakter ist. Und daß sie als
Malerei keine Malerei mehr war, auch das ist sicher. Natürlich muß
das Wesen der Dinge wiedergegeben werden, aber genauso natürlich
ist, daß ein Maler nur davon ausgehen kann, was er sieht, nicht
davon, was er weiß. Den Maler darf nicht interessieren, was hinter
den abzumalenden Dingen ist, was er nicht sieht. Wenn ein Maler
einmal den Weg des „Wissens" beschritten hat, durchbricht er die
Schranken der Malerei, und dann gibt es auf diesem Weg kein Halten
mehr. Ebenso kann er auf das Bild schreiben, wo der Darge stellte
geboren wurde und welches seine Religion ist oder aus wel chem
Laden die abgemalten Äpfel stammen.
Als Picasso einmal erkannt hatte, daß man das malen müsse,
was wir von den Dingen wissen, wurde er trunken von den inhaltli-
chen Möglichkeiten seines Programms. An seine Komposition, mit
der er tatsächlich dem Impressionismus hätte er stürzen können,
dachte er längst nicht mehr. Selbst an die Plastizität nicht. Die
Echtheit, die Kubusform der Körper wollen Picasso und die übri gen
nun nur noch - ich schäme mich, dieses Wort in diesem Zu-
sammenhang niederzuschreiben, muß es aber tun, weil es die kubi-
stischen Theoretiker tausendmal gebrauchten - im metaphysischen
Sinne wiedergeben. Die dritte Dimension, von der sie ur sprünglich
ausgegangen waren, ließen sie jetzt völlig fallen. Statt dessen wollen
sie - getreu ihrer inhaltlichen Richtung - die vierte Dimension, die
Zeit, in ihren Bildern verwirklichen. Sie wollen Bergson malen, die
durée. Jetzt umschreiten sie die Dinge nicht mehr im Raum, sondern

300
in der Zeit. Picasso gelangte zur extremen Konsequenz seiner
Eigenmächtigkeit. Jetzt ist bereits alles möglich. Er will
„Weltstimmung" wiedergeben. Das Wort „Stimmung", das ich von
einem deutschen kubistischen Theoretiker, von Paul Erich Küppers,
übernehme, ist bezeichnend. War es nicht auch die Parole des
verachteten Impressionismus? - Aber die Impressionisten wa ren
wenigstens echte Maler und begnügten sich mit irdischen Stim-
mungen. Mit dem Wort „Weltstimmung" verraten die Kubisten un -
gewollt, daß das, was sie machen, im Grund genommen nichts an-
deres ist als inhaltlicher Impressionismus. Sie sind viel schlimmer als
die Impressionisten, weil sie auf ein Bild das daraufschreiben, was
die Impressionisten malten. So kommt es zu dem tragikomischen
Schauspiel, daß Picasso, der im Namen der „Gesetzmäßig keit", der
„Notwendigkeit" dem Impressionismus den Krieg erklär te, die
allerzufälligsten, unkontrollierbarsten Bilder malt. Er stellt ein
Weltchaos dar. Zwischen Naturfetzen und geometrische Zeich-
nungsdetails keilt er riesige Aufschriften ein. Er klebt die Leinwand
mit Zeitungsfetzen voll, mit Briefmarken, Briefen und Tapetenresten.
Und hier berührt er sich seltsam, aber bezeichnenderweise mit jenen
Handwerksmalern des 19. Jahrhunderts, die auf ihre unkünstlerische
Weise, aber mit ehrlicher Hingabe darum bemüht waren, die auf dem
Tisch liegende Zeitung, Banknote oder einen Brief vollkommen und
genau so wiederzugeben, daß der kleinbürgerliche Käufer des Bildes
sich mit vollem Recht daran erfreuen konnte, weil es „genauso sei
wie in der Natur". Mehr als hundert Jahre vorher schon hatte man
diese peinlichen trompe-1'oeil gemalt und sie selbstverständlich nie
für Kunst gehalten. Es ist nur völlig konsequent, wenn Guillaume
Apollinaire, einer der herausragendsten kubistischen Theoretiker (der
im übrigen noch kurz vor seinem Tod auf den letzten künstlerischen
Zug aufsprang und sich dem Dadaismus anschloß) das lob des
trompe-1'oeil singt. Der revolutionäre Kubismus ging folglich zurück
zum kindischsten Naturalismus und einem inhaltlichen,
unkünstlerischen Impressionismus. Er wurde zum Gegenteil oder zur
Karikatur alles dessen, was Picasso ursprünglich gewollt hatte.
Und das ist auch ganz natürlich. Wer einmal mit Picasso
gesprochen hat, wer die kubistischen Theoretiker las, dem kommt es
gespenstisch vor, wieviel Wahres die betreffenden auch sagen, über
ihre Weltanschauung nämlich - das Schlimme ist nur, daß man, wenn

301
man das alles bedenkt, nicht malen kann. Es schadet in Wirklichkeit
nicht, wenn jemand Bergson liest, wenn jemand zu einer neuen
idealistischen und antinaturalistischen Weltanschauung gelangt,
wenn er aber diese Weltanschauung unmittelbar auf die Leinwand
bringen will, malt er kein Bild, sondern Literatur. Und wenn jemand
absichtlich auf der Leinwand Inhalt, Worte wiedergibt, dann wird das
Bild notwendigerweise zum unkontrollierbaren Chaos, zum
Impressionismus. Und so malen die Kubisten - was das
Charakteristischste für jede inhaltliche Malerei ist - Bilder mit ge -
rade entgegengesetzter Weltanschauung, als sie mit Worten verkün-
den. Statt des Anti-Impressionismus machen .sie, wie ich schon sag-
te, inhaltlichen Impressionismus.
Wie lange Picasso wohl diesen Weg ehrlich ging, ist schwer
festzustellen. Er begann jedenfalls mit gutem Willen, obgleich in
Pariser Ateliers das Wort umging, Picasso habe den Kubismus ge-
macht, weil er sich sehr gelangweilt habe. Sein Weg bestand, wie bei
jedem Maler, der Theorien malt und sich Theorien verpflichtet, aus
einem Wechsel von Gut- und Böswilligkeit, aus ihrer Verflechtung.
Ich glaube nicht, daß man bei ihm eine scharfe Grenze zwischen
Gut- und Böswilligkeit ziehen könnte. Damit er den Glauben an den
zweifelhaften Schutz der angeblich neuen Kunst nicht verliere,
überschrie er sich fast selbst. Aber schließlich konnte das zu einför -
mig werdende Spiel ihn doch nicht auf Dauer fesseln, das Hunderte
von Dilettanten, unter der Maßgabe, daß es Kunst sei, zur einträgli -
chen Vollkommenheit entwickelten. (Denn es muß ja nicht erst ge -
sagt werden, daß die internationalen Snobs, die eine wahre Kunst
noch nie verstanden haben, die geschickt lancierten und mit einer
guten Reklame versehenen kubistischen Bilder in großer Eile kauf -
ten. Wie die Wandlung bei Picasso geschah, darüber zitiere ich Henri
Matisse, den größten heute lebenden französischen Maler, der die
Sache einem deutschen Gast, dem Kunstkritiker Otto Grau toff,
kürzlich so erklärte: „Glauben Sie, ein Künstler könne sich jahrelang
selbst etwas vorschwindeln, ohne seiner Seele damit zu schaden? In
den ersten Monaten des Krieges ist Picasso, ich will es mal so sagen,
künstlerisch zusammengebrochen. Auf einmal wurde er zum
Ingresisten. Aber damit noch nicht genug, malt er daneben auch
weiter kubistische Bilder. Leonce Rosenberg lanciert die kubi -

302
stischen, Paul Rosenberg die ingresistischen. Nun kann sich jeder
nach seinem Geschmack den Picasso heraussuchen, der ihm gefällt."
Das also ist der Kubismus, wie ihn das historische Beispiel
seines Gründers demonstrierte. Ein aus herumsuchender Verwirrung
geborenes Spiel, das der Mensch nach Lust und Laune einmal ver -
wirft, ein andermal hervorholt, aber keine Kunst. (Und dasselbe läßt
sich über sehr viele andere heutige und gestrige Richtungen sagen,
nicht nur über den Kubismus.) Die Folge des in dieser ganzen
Richtung verborgenen praktischen Impressionismus ist, daß ihr
Gründer mit einer doppelten künstlerischen Buchführung, Tür zwei
scheinbar konkurrierende, in Wahrheit natürlich einander in die
Hände spielende Kunsthändler arbeiten kann. Und weil jetzt der In -
gresismus - dieser völlig blutlose und schwache Akademismus,
dieser leere Ersatz einer modernen kompositorischen Malerei mit
gründlichem Wissen - in Paris die neueste Mode ist, arbeitet Picasso
jetzt eben so.
Picassos Prinzipienlosigkeit könnte ein Warnzeichen sein für
die nicht wenigen Gutgläubigen, die von den Theorien irregeführt
werden und Theorien malen. Den neuen Inhalt, die neue
Weltanschauung, die jetzt im Entstehen begriffen ist, kann der Maler
nur aus sich selbst schöpfend ausdrücken. Man kann Malerei nicht
von außen, eigenmächtig üben. Denn Eigenmächtigkeit ist etwas
ganz anderes als Persönlichkeit. Es ist natürlich, daß jede Kunst nur
individuell sein kann, daß nur das Individuum und dieses nur auf
seine eigene Weise schaffen kann. Das bedeutet aber nicht, es könne
tun, was es will, denn das würde bedeuten, es könnte auch Nicht-
Künstler sein. Jeder, der tatsächlich Kunst machen will, muß sich
selbst einarbeiten in jene große Wissens- und Erfahrungsmaterie,
welche die Kunst bis heute aufgehäuft hat. Und wenn er schon darin
ist, dann kann er sich darum bemühen, herauszukommen und seine
eigenen Wege zu gehen. Dann wird er mit Recht den seelenlosen Im -
pressionismus hinter sich lassen und spontan, nur dadurch, daß er ein
Künstler ist, der heute lebt, zu der neuen, auch inhaltgebenden Kunst
gelangen, die wir heute von dem Künstler alle erwarten.

303
BÉLA BALÁZS:
CHARLIE CHAPLIN, DER REVOLUTIONÄR 

Zweifellos haben wir es hier nicht nur mit einem lustigen


Clown zu tun. Zweifellos war Chaplins unerhörte Popularität nicht
nur ein Produkt der von außen kommenden Suggestion der
amerikanischen Reklame, sondern die Bewußtmachung einer
gewissen innen in den Menschen herangewachsenen
Lebensstimmung. Solch großen Erfolg als Aufklärer kann kein
anderer haben.
Chaplins Volkshumoristen-Späße sind nicht geistvoll. Ihnen
mangelt jede logische Subtilität, jede psychologische Feinheit. Er
spielt die direkte, naive Komik der einfachsten elementaren Lebens -
momente. Chaplins Gegner sind die Gegenstände. Immer hat er mit
den allergewöhnlichsten Gebrauchsgegenständen der Zivilisation
Schwierigkeiten. Die Tür und die Treppe, der Stuhl und der Teller
und allgemein jedes alltägliche Werkzeug wird für ihn zum schwie-
rigen Problem. Wie irgendein Schlemihl aus dem Urwald, so steht er
vor ihnen und handhabt, benutzt sie ganz anders als jeder normale
Stadtmensch. Chaplin ist nicht praktisch. Das ist an sich schon
Grund genug, daß die Amerikaner lachen. Aber Amerika bedeutet
heute nicht mehr allein einen Erdteil, sondern einen Lebens stil, der
beginnt, auch die europäische Zivilisation zu beherrschen. Auch bei
uns gibt es heute schon kein kläglicheres, groteskeres Wesen als
einen Menschen, der mit Gebrauchsgegenständen und Werkzeugen
nicht umgehen kann.
Einst waren die Märchen über die braven Schildbürger Aus-
druck des Bauernhumors. Es waren Geschichten über jene dummen
Bauern, die das Sonnenlicht in Säcken in die fensterlose, dunkle
Kirche bringen wollten und, damit das auf einer hohen Mauer
wachsende Gras nicht verloren ginge, einer Kuh einen Strick um den


Balázs Béla: „charlie Chaplin a forradalmár", Bécsi Magyar Újság 1923, N.100.
Übersetzt aus: Balázs Béla: Válogatott cikkék és tanulmányok ok, Szerk. K. Nagy Mag-da,
Budapest 1968, S. 291-293.

304
Hals banden und sie so hoch zogen, damit sie es dort abweide. Nun,
Chaplin als Pfandhausbesitzer untersucht die gebrachten Uh ren mit
einem Stethoskop und schneidet sie dann mit einem Büch senöffner
auf. Chaplin ist der Schildbürger des modernen Amerika. Als erster
drückt er nach dem Bauernhumor die Schildbürgerkomik der
industriellen Großstadt aus.
Chaplin ist zwar nicht praktisch, doch andererseits keineswegs
ungeschickt. Er ist ein hexenmäßig geschickter Akrobat. Deshalb
wird seine Plackerei mit den für ihn fremden Zivilisationsgegen -
ständen zu einem erregenden Kampf, einem grotesk heroischen
Duell, in dem Chaplin schließlich dennoch Sieger bleibt. Und darin
ist so etwas wie eine spöttische Empörung gegen die gesamte Ma -
schinen- und Werkzeugzivilisation enthalten. Darin verbirgt sich
Charlie Chaplins revolutionäres Wesen.
Marx charakterisiert die Kultur des Industriekapitalismus da-
durch, daß in ihr unser lebendiges menschliches Verhältnis zu den
Dingen beseitigt sei. Verdinglichung nennt Marx diesen Zustand, in
dem der Mensch nur ein Teil der Maschine, nur eine bürokratische
Formel für die Administration ist und als solcher natürlich, vor -
schriftsgemäß, richtig, wie ein Teil einer gut konstruierten Maschine
handelt. Nie kann ihm in den Sinn kommen, einmal etwas an ders zu
machen, wie auch dem seelenlosen Zahnrad nicht in den Sinn
kommen kann, sich einmal irgendwie anders zu drehen. Doch
Chaplin ist ein aufrührerisches Zahnrädchen in der mächtigen, see -
lenlosen Maschinerie der Gesellschaft! Ein groteskes Zahnrad. Ein
Don Quijote, der jene Funktionen, die jeder Mensch automatisch
erfüllt, als lebendige und neue Probleme zu lösen sucht. Dabei geht
es ihm freilich immer schlecht, oder zumindest hat er enorme
Schwierigkeiten. Und darin liegt die Tiefe der Kunst Charlie Chap-
lins, daher stammt auch die bewegende Melancholie seiner Mimik.
Es ist die verwaiste und verirrte naive Menschlichkeit einer ihr
fremden Maschinenzivilisation. Was für absurde Dummheiten dieser
ungeschickte und schlaue, traurige und freche Schlemihl der
modernen Großstadt auch immer anstellt, man hat das Gefühl, daß er
irgendwo und irgendwie dennoch recht hat.
Aber Charlie Chaplin ist nicht nur Schauspieler, sondern auch
Dichter. Und ich weiß nicht, ob er nicht als Dichter bedeutender ist.

305
Er ist Filmdichter im Sinne der Materie, also im besten Sinne des
Wortes. Er verpflanzt nicht Literatur auf den Film. Wie das frühere
Theater, das vermutlich besser als unseres war, nicht allein ein Ort
zum Spielen geschriebener Dramen, sondern, das Schauspiel im-
provisierend, aus der Schaubühne hervorgewachsen war, so er-
wachsen Chaplins Stücke aus den filmischen Möglichkeiten: aus dem
unmittelbar sichtbaren, visuellen, fotografierbaren Leben. Chaplin
kommt nicht von der „Idee" her mit einem fertig komponierten
strengen Märchen, um in dessen Formen nachträglich die dem Leben
abgelauschten feinsten Einzelheiten einzubauen, so wie man die
Bronze in eine vorher fertige leere Form gießt. Er geht von diesen
winzigen Wirklichkeitsdetails aus. Er formt sie nicht, er läßt sie nur
wachsen. Er erfüllt sie mit Seele und veredelt sie mit symbolischem
Sinn. Er dichtet nicht von oben, sich auf das Leben hinablassend
(nicht platonisch!). Nicht die Idee ist für ihn vorgegeben, sondern der
Stoff. Der Lebensstoff, dessen zum Sinn veredelnder Kunstgärtner er
ist.

306
ADALBERT FOGARASI: DIE ELTANSCHAUUNG
DER SOZIALREVOLUTIONÄRE

Im Jahre 1909 erschien in einer Moskauer Revue ein kleiner Roman


unter dem Titel: „Das fahle Roß". Das Motto ist aus der Apokalyp se:
„ . . . und siehe ein fahles Roß, und der darauf saß, dessen Na me war
der Tod, und die Hölle folgte ihm." - Der Autor: V. Rop sin, -
unbekannt - war kein anderer als B. Savinkov, Mitglied der
Sozialrevolutionären Partei. Er leitete damals die großen Attentate
auf den Polizeipräsidenten Plehwe und den Großfürsten Sergius: jetzt
organisiert er Attentate auf die Führer der Bolschewisten und ist
beinahe an allen weißgardistischen Unternehmungen gegen So-
wjetrußland beteiligt.
Der Fall Savinkov fordert eine Erklärung. Denn es handelt sich
nicht nur um das Umfallen eines einzelnen Menschen. Die Frage
liegt tiefer: wie war es möglich, daß die sozialrevolutionären Terro -
risten, damals heldenmütige Vorkämpfer der Revolution, später aus
blinder Wut und Haß gegen die Bolschewisten zu Weißgardi-
stenführern absinken konnten? Die beiden Romane Ropsins „Das
fahle Roß" und der später (auch in deutscher Übersetzung erschie -
nene) „Als war' es nie gewesen", helfen uns dieses psychologisch -
ethische Rätsel zu lösen. „Das fahle Roß" ist das Tagebuch Georgs,
des Führers einer Terroristengruppe, die von der Zentrale mit der
Ermordung eines Provinzgouverneurs beauftragt ist. Georg handelt
im Auftrag der Partei. Aber er glaubt weder an den Ruf der Partei:
Land und Freiheit! - noch an den Sinn des ganzen Kampfes. Seine
Weltanschauung unterscheidet sich positiv nicht von dem skepti-
schen Nihilismus eines Oscar Wilde. Das Leben ist ihm ein Balagan,
eine Jahrmarktsbude. Er möchte leben, „wie das Gras wächst". Die
Sehnsucht nach dem „Leben", nach der naiven Ursprünglichkeit, ist
aber nur die sentimentale Spiegelung des Abstandes, der Georg von
diesem vollen Strom des naturwüchsigen Daseins trennt. Er ist ein
Grübler mit der ganzen inneren Zerrissenheit und Problematik des

Rote Fahne (Berlin), 4. Juni 1922.

307
entwurzelten Intellektuellen. Er sucht den Sinn seines Handelns und
findet ihn nicht. Zweifel über die Nützlichkeit und Zweckmä ßigkeit
des Terrorismus befallen ihn. Und die Zweifel vermischen sich mit
ethisch-religiösen Bedenken über die Berechtigung des Terrors. Darf
man töten? Um diese Frage drehen sich die Monologe der Helden der
beiden Romane. Georg tötet den politischen Gegner, aber ohne
Glauben. Andrej Bolotov, der Held des anderen, ernsteren Romans
(„Als wär' es nie gewesen") sagt nach dem Attentat auf den
Polizeiobersten: „Nach meiner Ansicht kann man entweder immer
töten oder man kann niemals töten. Wo bleibt das Gesetz? - Im
Parteiprogramm? Bei Marx? Bei Engels? In Kant? Das ist doch alles
Unsinn . . . " Bolotov sieht in dem Töten plötzlich nur die Tatsache
des Tötens: es bleibt sich gleich, ob er den Polizei obersten töten oder
dieser ihn aufhängen läßt.
Bolotov und Georg, die Helden im Roman, ziehen aus dieser
Weltanschauung die Konsequenzen, die Romanhelden ziehen soll ten:
Georg den Selbstmord - Bolotov wird gefangen und erwartet den
Tod, ohne seine Begnadigung zu verlangen. Savinkov, der Verfasser
der Romane, bleibt aber am Leben. Und nachdem Töten und Töten
gleichwertig sind, ob der Polizeipräsident oder der Revolutionär
ermordet werden, organisiert der frühere Revolutionär jetzt Attentate
auf die Revolutionäre. Nachdem es sich herausgestellt hat, daß
zwischen der Expropriation und der Bestechung kein Unterschied ist
- denn „in beiden Fällen handelt es sich um Geld" - nimmt er das
Geld der Entente an. Es ist ja alles eins - „das ist doch alles Unsinn".
Die Psychologie der beiden Terroristenhelden enthält auf diese
Weise die Erklärung für die scheinbar unbegreifliche Tatsache, daß
die früheren Revolutionäre heute sich als Ententespitzel und Weiß -
gardistenführer herumtreiben. Aber die letzte Erklärung müßte na-
türlich nicht bei der Psychologie der Individuen stehenbleiben. Es
handelt sich nicht um Georg oder Botolov, nicht um diesen oder je -
nen lebenden oder konstruierten sozialrevolutionären Terroristen,
sondern um die weltanschaulichen Grundlagen der sozialrevolutio-
nären Gesinnung. Die Probleme dieser Menschen bewegen sich im
luftleeren, unhistorischen Raum. Für sie gibt es nur einzelne Men-
schen, es gibt keine Gesellschaft; keine Menschheit, deren Interessen
über jene der Individuen stehen würden. Darum ist der Terro rismus

308
für sie ein rein individueller Terrorismus, darum empfinden Georg
und Bolotov ihr Verhältnis zu dem Gouverneur oder dem
Polizeipräsidenten als ein persönliches Verhältnis zwischen Feind
und Feind. Von der historischen Rolle der Gewalt findet sich in die-
sen Werken kein einziges Wort. Die Helden Ropsins sind unfähig,
ihr persönliches Schicksal dem Schicksal einer Gemeinschaft unter-
zuordnen. Selbst wenn sie ihr Leben für die Revolution opfern, ist
ihnen dieses Opfer der Mittelpunkt der Ereignisse und nicht die Sa -
che selbst, um die sie kämpfen. Sie glauben an keine Partei - der
zweite Roman Savinkovs ist die Geschichte der inneren Auflösung
der Sozialrevolutionären Partei - der Parteiführer erscheint Georg als
ein kindischer alter Greis: „Ich bin nicht mit ihm, ich bin nicht mit
Vanja, nicht mit Erna. Ich bin mit niemandem" - erklärt Georg. Die
ganze Unfähigkeit der kleinbürgerlichen Intelligenz, die abstrakt
ethischen Probleme des isolierten Individuums in Probleme der
Gesellschaft historisch-dialektisch zu überführen, spiegelt sich in den
Schriften wider. Von einer sozialistischen Gesinnung, sei es im
wissenschaftlichen, sei es im menschlichen Sinne, ist hier kei ne Spur
zu finden. Es ist daher nur eine notwendige Folge dieser ganzen
Mentalität gewesen, daß der Weg der Sozialrevolutionäre im
sozialistischen Rußland entweder zur individuellen Heilssuche und
damit zur vollständigen Abkehr von jeder Politik - oder zu den
Weißgardisten führen mußte.

309
KARL MANNHEIM: ÜBER GESCHICHTE UND
KLASSENBEWUSSTSEIN

In Übereinstimmung befindet sich Dr. Mannheim mit Prof. Weber in


den folgenden Punkten:
1. In der Voraussetzung des Totalitätsbegriffs für die
Geschichte. Die Geschichtssoziologie hat sich an der Totalität zu
orientieren. Jedes geschichtliche Einzelfaktum, das im
Alltagsbewußtsein nur in seiner Isoliertheit erfaßt wird, muß als
irgendwie kohärent mit allen anderen Einzelfakten zu einer Totalität
verstanden werden. Nur das Wie dieses Zusammenhangs zur
Totalität bleibt fraglich.
2. Auch er sieht alles Bewußtsein ohne Ausnahme in den
geschichtlichen Totalitätsprozeß eingestellt.
3. Auch er sagt: Man kann Geschichte nur erkennen, wenn
man etwas von ihr will. U.zw . dies nicht normativ, sondern faktisch.
4. Zur Relativierung der Rationalität und des lntellektualismus.
Dr. Mannheim hat Prof. Weber hierin so verstanden, als habe er
gemeint, intellektuelles Denken überhaupt sei eine Eigenschaft nur
einer bestimmten Geschichtsepoche, die weder vorher noch auch
vielleicht nachher notwendig anzutreffen sein werde. (... )
Unter „lntellektualismus" versteht er eine Theorie des Denkens,
welche meint, man könne Richtigkeit auf Grund einer Denkimma -
nenz finden. Die paradigmatische Vorstellung, die einer solchen
Auffassung zugrunde liegt, sei, daß alle möglichen Wahrheiten und
Richtigkeiten, die überhaupt denkbar sind, gleichzeitig geltend wie
in einem Buch vorhanden sind, wo man ohne Anbetracht der histo-
rischen Seinssituationen mal bei Seite 200, mal bei Seite 400 nach -
schlagen kann. Anstelle dieser intellektualistischen Konzeption
würde er eine andere Auffassung des Rationalen setzen, wonach das

Protokolle der vereinigten Seminare von Alfred Weber und Karl Mannheim in Hei delberg,
Februar 1929 über das Buch von Georg Lukács Geschichte und Klassenbewufitsein.
Aufgezeichnet und aufbewahrt von Heinrich Taut (Berlin, DDR), einem ehemaligen Mannheim-
Studenten. Hier werden nur Mannheims Beiträge zur Diskussion publiziert. Der vollständige
Text im Besitz der Mannheim-Forscherin Fva Gábor (Budapest). Erstveröffentlichung.

310
im jeweiligen Zeitpunkt Denkbare mit dem Seinszustand des
denkenden historischen Subjekts innerlich verknüpft ist und nur jene
Gedanken und Wahrheiten denkbar sind, bei denen man auch
seinsmäßig hält. Das Paradigma für das Fortschreiten im Denkzu-
sammenhange sei nicht das eines Buchs, sondern am ehesten einem
Strumpf vergleichbar, wo, wenn eine Masche sich lockert, in einem
prozessualen Zusammenhang Glied für Glied sich auflockert und nur
jene Elemente in Denkbarkeit und Erkennbarkeit einbeziehbar sind,
die der sich immer mehr ausweitende Auflockerungsprozeß
(existentiell) erreicht. Die Glieder des möglichen Gedankens müssen
stets von dem existenziellen Problematischwerden her aufgespult
werden. Der Zusammenhang ist nicht ein solcher von Gedanken zu
Gedanken, sondern ist jedesmal durch eine Seinsaktualität vermittelt.
Dr. Mannheim wendet sich hiernach den von Prof. Weber auf-
geworfenen Fragen zu:
ad a) Zur Frage der universellen oder nur partiellen Geltung der
dialektischen Totalitätsauffassung der Geschichte:
Es gebe bei Lukács Stellen, an denen er behauptet, daß die zu-
greifende Kraft des Geschichtsmaterialismus sich abschwächt, je
mehr man von der kapitalistischen Epoche in die Vorzeit hinein ab-
rücke, es umgekehrt aber auch für wahrscheinlich hält, daß über den
Kapitalismus hinaus die Gültigkeit der materialistischen Ge-
schichtsdeutung aufhören wird. Dr. Mannheim seinerseits spricht der
marxistischen Geschichtsauffassung für die kapitalistische Epoche
die Präferenz der Gültigkeit zu und möchte dem Ökonomismus für
die vorkapitalistischen Epochen ebenfalls einen präferentiellen
heuristischen Wert zubilligen, weil wir infolge unserer eigenen, vor-
wiegend ökonomisch bestimmten Problemlage einen hellen Blick für
die Bedeutung des Ökonomischen in der gesamten Geschichte
bekommen haben. Wir machen durch diese Methode im Längs schnitt
durch die Geschichte gerade die Zusammenhänge sichtbar, die für
uns heute die praktisch wichtigsten sind.
ad b) Die Frage der Gültigkeit des dialektischen Denkens für den
Kosmos und die Naturerkenntnis läßt Dr. Mannheim als solche of fen
und hält sie für nicht so wichtig. (... ) Er bekennt sich zu der
Auffassung des Marxismus, der die Denkzusammenhänge als eine
Kette sieht, die ihren Ursprung immer in einer gegenwärtigen Not, in
einer geistigen, seelischen, physischen Not habe. Das Problem der

311
Gültigkeit des dialektischen Denkens für die Naturerkenntnis bilde
noch kein prinzipielles Problem, auch für den Marxismus noch nicht,
und es sei besser, die geschichtliche Reife eines Problems
abzuwarten, als vorzeitig Letztheiten aufzurichten. So hat man früher
das naturwissenschaftliche Denken zum Paradigma des Denkens
überhaupt gemacht und daran allein die Erkenntnistheorie orientiert,
aber daneben ist das seinsverbundene, das lebendige Denken
aufgekommen. Allerdings wird auch der Zeitpunkt kommen, an dem
sich diese beiden Erkenntnistheorien zur endgültigen
Auseinandersetzung gegenübertreten werden. Heute aber stehen die
geisteswissenschaftlichen Aufgaben für den Marxismus im Vorder-
grund, und für diese leiste ihm die dialektische Methode das, was sie
solle; demgegenüber bleibe das Problem der Naturerkenntnis für ihn
noch inaktuell.

ad c) Nach seiner Ansicht verhält es sich wirklich so, daß die ver -
schiedenen Klassenstandpunkte sich auch als letzte theoretisch und
immanent nicht aufeinander reduzierbare Erkenntnispositionen ge -
genüber stehen - wenn man, wie es für den Augenblick geschehen
soll, die in der Einzelforschung nötigen Verfeinerungen und Ver-
mittlungen außer acht lassen will. Dies sei zwar keine erfreuliche
Lage, aber man müsse die Tatsache der Seinsverbundenheit des
Denkens anerkennen. Der Kampf der verschiedenen Denkstandorte
sei ein Schicksal und müsse sich als solches vollziehen. Die Seins -
grundlage jedes Standpunktes forme und bestimme dessen Wollun-
gen und kategoriale Formung, so daß die Erkenntnis selbst, die er
gewinnt, nur eine relative und partikulare Gültigkeit besitze. (So
habe er die kategoriale Seinsbestimmtheit für das konservative
Denken morphologisch und historisch-soziologisch aufzuzeigen
versucht.) Der Denkstrom habe sich faktisch gespalten, aber nicht
das Proletariat allein habe, wie Lukács behauptet, die Wahrheits-
chance, sondern jeder Denkstandort habe eine solche für sein Teil.
Allerdings immer nur bis an die Schwelle der Verdeckungen, die er
in seinem Denken vollzieht, und diese Grenze liege stets an der Stel-
le seiner eigenen Grundwollungen im Sozialprozeß.
Jedoch sei gerade die wissenssoziologische Forschung, indem
sie das Faktum der Seinsgebundenheit des Denkens anerkennt und

312
dieselbe in ihrer Analyse durchleuchtet und zu jeder Erkenntnis die
ihr zugehörige soziale Gleichung hinzufügt, der Weg, der über die
vermittlungslose Getrenntheit der Denkstandpunkte zu etwas Weite-
rem hinausführe. Sie bedeute die Überwindung des Stadiums, in
welchem diese Denkstandpunkte sich im ideologischen Kampf für
einander blind und jede im Namen der alleinigen Wahrheit gegen-
übertreten. (...)
Dies führe auf die Frage nach einer Wahrheit-an-sich-Sphäre.
Aber diese gebe es faktisch nicht, und wenn sie auch hypostasiert
würde, so sei sie doch in der Realität niemals zu fassen, sie bleibe ei -
ne Fiktion. Gewiß sei die Einheit des Erkenntnisobjekts nicht ge-
sprengt, aber diese Einheit helfe zu nichts, da alle Erkenntnisweisen
dieses einen Objekts verschieden seien. Und verschieden seien doch
nicht bloß die Wollungen und Einstellungen, sondern diese Wollun -
gen formen zugleich den ganzen kategorialen Apparat des Denkens
und machen dadurch eben auch die Erkenntnis selbst zu einer seins -
verbundenen und standortmäßig verschiedenen. Diese Auffassung
bedeute aber keinen bloßen Relativismus. Sondern gerade das Fest-
halten an einer absoluten, der Seinsverbundenheit entzogenen
Wahrheitskonzeption führe angesichts der Tatsache dieser Seins-
verbundenheit aller Erkenntnis zum uferlosen Relativismus, während
das Ausgehen von dieser Tatsache vielmehr nur zu einem Rela-
tionismus der Erkenntnis führe. Freilich bedürfe es für diese Auf-
fassung einer neuen Erkenntnistheorie, welche noch nicht vorliegt.
Aber diese könne sich nicht zu einer Wahrheitskonzeption nach der
Art der früheren zurückbewegen, sondern sie müsse die Tatsache der
Seinsverbundenheit jeder Erkenntnis zuvor als Voraussetzung
geschluckt haben und gerade sie zum Ausgangspunkt machen. -
Auch hier sei wieder zu sehen, wie das Akutwerden eines Problems
vom Seinsprozeß her verursacht wird und nicht ein bloßes Fortspin -
nen bisheriger immanenter Problemketten ist. Die neue Erkennt-
nistheorie wird akut dadurch, daß wir heute faktisch auf die Tatsache
der Seinsverbundenheit der Erkenntnis gestoßen und, indem der
Seinsprozeß selbst sie uns sichtbar macht, zur Auseinanderset zung
mit ihr gezwungen werden.
Aber die Seinsverbundenheit der Erkenntnis bedeutet ja auch
nicht Irrtumsquelle, sondern im Gegenteil eine Entdeckungschance.

313
So habe der Marxismus am Denken entdeckt, was daran Kampf, der
Konservativismus, was an ihm Kontemplation ist. Aber mit dieser
Erkenntnischance sei jede Erkenntnis doch eben nur partikular
gültig. (... ) Es gibt auch für die geschichtliche Erkenntnis so etwas
wie einen consensus ex post. Was von einem bestimmten Denk -
standpunkt entdeckt wird, geht in der Auseinandersetzung des
ideologischen Kampfes auch in die anderen Denkstandpunkte ein,
wird von ihnen als ein richtiges Faktum in einem stillschweigenden
consensus anerkannt, wie z.B. die marxistische Entdeckung der
Klasse und des Klassenkampfes in die Geschichtsaspekte der libera -
len Ideologie eingedrungen ist.
ad d) und e) Zur Frage des metaintellektuellen Denkens gegenüber
dem dialektischen:
Es gibt gewiß mehrere Denkweisen nebeneinander. Aber im
ideologischen Kampf verhalten sie sich immer imperialistisch so-
wohl gegeneinander wie dem Sein gegenüber.
So kann man z.B. morphologisch vorgehen und gewisse letzte
Gestaltganzheiten herausstellen. Aber der Intellektualismus wendet
dagegen ein, ob man bei diesen stehen bleiben müsse, und er über-
wölbt nun die morphologische Sicht von seinen Fragestellungen aus.
- Oder entsprechend umgekehrt: Die Morphologie fragt, ob man bei
den letzten, von einer intellektualistischen Sicht herausge stellten
Instanzen stehenbleiben müsse, und überwölbt den Intellektualismus,
indem sie auch die Ratio als Gestalt faßt.
Der Marxismus bestreitet nicht die Möglichkeit und das Recht
morphologischer Parallelisierung und Synopsis, aber er sagt, daß das
nicht alles sei, was möglich ist. Man kann darüber hinaus weit gehend
analysieren und funktionalisieren. Und hiermit geht er bis an das
letzte noch mögliche Ende. Er muß das tun, weil er für eine
kämpfende Klasse steht, der es darauf ankommt, das Sein zu be-
herrschen. Weil er aktivistisches Denken ist, muß er intellektuali -
stisch sein. Und für diesen Aspekt hat er die maximale Wahrheits -
chance, das heißt für die Erkenntnis alles Rationalisierbaren und
Beherrschbaren in der Geschichte. Demgegenüber erkennt Dr.
Mannheim an, daß nicht alles so geartet ist, daß vielmehr die Mor-
phologie daneben ebenfalls ihre eigenste Erkenntnischance hat.
Beide Haltungen bedeuten jedoch nur Partikularaspekte, wie alle

314
Denkstandpunkte. So könne z.B. die Morphologie niemals zur pro -
letarischen Wissenschaft werden - oder höchstens später einmal -,
weil der Proletarier wegen seiner ganzen heutigen Sozialposition zu
einer solchen Sicht einfach keine „Muße", auch überhaupt nicht die
adäquate Denkstruktur und die nötigen Denkmittel habe. Die
Morphologie sei ihrem Wesen nach standortgebunden ans „Bürger-
tum", das hier die Traditionen aller jener Bewußtseinshaltungen in
sich aufnimmt und missionsmäßig weiter vererbt, die frühere Ober-
schichten, welche die Möglichkeit der Kontemplation hatten, in sich
kategorial ausgebildet haben. Wenn er das Wort „Bürgertum"
benutze, so bedeute es nicht dasselbe wie in der Sprache eines
kämpfenden Sozialisten, für den es eo ipso eine zum Untergehen
verurteilte Klasse bezeichnet, sondern einen Denkstandort, der eine
für die Zukunft nötige, durch keinen anderen Standort erfüllbare
Funktion hat. - Aber zwischen den verschiedenartigen Erkennt -
nisstandpunkten sei ein Kampf, welcher weitergehen muß, weil er für
die Erkenntnis seinen Sinn habe. Gewiß sei die Welt nicht nur
Kampf, aber sie sei auch nicht nur Gestalt, sie sei sogar vorwiegend
Klassenkampf, mehr als man zuerst glaube.
Indes befinden sich die verschiedenen Denkstandpunkte heute
doch in einer Annäherung, weil sie beginnen, sich alle gegenseitig
als bloße Partikularaspekte zu erkennen, und vor allem weil ihre ei -
gene Partikularität ihnen durchsichtig zu werden anfängt. Und eben
dies ist selber ein Produkt ihres Kampfes miteinander und ihrer
gegenseitigen Auflockerung darin. (... )
Und wenn es auch so sei, so bekenne er sich dennoch zu diesem
Intellektualismus, nicht aus Verliebtheit in die Ratio, sondern weil es
ganz sicher auch eine Hauptaufgabe unserer Zeit sei, den Intel -
lektualismus bis zu Ende durchzuführen. Gewiß hat demgegenüber
auch die Morphologie ihr Recht, darin schon, daß sie das, was der
Intellektualismus nicht erfasse, nicht verloren gehen läßt. Als Er -
gänzungsaspekte also seien Intellektualismus und Morphologie ne-
beneinander berechtigt.

315
GYÖRGY KÁLDOR: IDEOLOGIE UND UTOPIE
DAS BUCH VON KÁROLY MANNHEIM

In einer Zeit, die der Weltkrieg in ihren glaubensmäßigen Grundla -


gen erschüttert hat, mußte der Denker kommen, der diese Erschüt-
terung selbst untersucht, der die Bruchstücke unserer geistigen Welt
zusammensetzt und versucht, wie ein Kind aus Bausteinen, aus ihnen
wieder ein einheitliches Weltbild zusammenzufügen. Károly
Mannheim, der junge Sohn unserer Heimat, vor kurzem zum Pro-
fessor der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt ernannt,
gehört zu jenen Philosophen, die die Schranken und Möglichkeiten
der geistesgeschichtlichen Situation der Zeit richtig erkannt haben
und von vornherein - jedenfalls vorläufig - auf die Schaffung des
„großen Systems", des einheitlichen Weltbildes verzichten. Die
Stärke von Mannheims Buch liegt also nicht in der systematischen
Einheit seiner Gedanken, sondern in jener Intensität und Ehrlichkeit,
mit denen er sich einzelnen isolierten Fragen der Verfallszeit stellt.
Die richtige Formulierung der Fragen ist oftmals eine ebenso
wichtige, wenn nicht gar wichtigere Aufgabe in der Philosophie als
ihre Lösungsfindung. Doch hat die Art, wie Mannheim Probleme
aufwirft und Lösungstypen aufleuchten läßt, um sich danach jedoch
wieder hinter die Maske der ontologischen Neutralität
zurückzuziehen, etwas Beunruhigendes, etwas, nach dem im Leser
ein peinigender Durst zurückbleibt.
Die Arbeit erhält ihre Einheit tatsächlich dadurch, daß in der
Charakteristik sowohl der Ideologie als auch der Utopie gleicher -

Káldor György: "Ideológia és utópia. Mannheim Károly könyve", Nyugat 1930, S. 152- 153.

316
maßen von der der Wirklichkeit den Rücken zukehrenden, dennoch
aber von der Wirklichkeit abstammenden Idee die Rede ist. Der ei -
gentliche Inhalt dieses Buches ist die Wirklichkeit, die „echte", die
„wirkliche" Wirklichkeit, die „irgendwo jedem Gedanken zugrunde
liegt". Mannheim ist bemüht, den in der angenommenen Autonomie
der Sphären sich hochmütig gebenden „reinen" Gedanken oder die
im rosa Nebel kommender besserer Welten schwimmende Idee in
jedem Fall zu dieser Wirklichkeit zurückzuführen. Sein Pro blem ist
der Zusammenhang von Wirklichkeit und Geist. Insofern schöpft er
aus der Quelle jedes großen philosophischen Erlebnisses.
Aber nur insofern. Denn sehr schnell ergibt sich, daß er das gro -
ße philosophische Problem der „echten Wirklichkeit" auf den Raum
der Gesellschaft einengt, zu einer gesellschaftswissenschaftlichen
Frage konzentriert. Unbestreitbar kann man jede philosophische
Frage so aus dem Blickwinkel irgendeines speziellen Wissen-
schaftszweiges betrachten und neue Gesichtspunkte beleuchten. Das
Wissen und die Erkenntnis können genauso ihre Soziologie ha ben
wie ihre eigene Biologie oder Psychologie. Und wenn der „Ein-
zelwissenschaftler", der Erforscher einer Wissenschaft, durch seinen
eigenen Blickwinkel eingeengt die methodologische Bedeutung
seiner Spezialwissenschaft übertreibt, können wir darüber hinweg-
sehen. Wenn jedoch der Philosoph in einer speziellen Wissenschaft -
wie Mannheim in der Gesellschaftswissenschaft - wichtige me-
thodologische Gesichtspunkte entdeckt und diese fast unbemerkt zu
philosophischen Prinzipien verallgemeinert, dann ist etwas nicht in
Ordnung.
Ohne Zweifel sind die ontologischen, logischen und erkenntnis -
theoretischen Grundprinzipien auch vom Gesichtspunkt der gesell -
schaftlichen Wirklichkeit, der menschlichen Gemeinschaft (Klas sen,
Berufe, Gruppen usw.) her zu untersuchen. Doch der Umstand, daß
die Ideen - und nicht nur die gesellschaftlichen Ideen - auch ein der
Gesellschaft zugewendetes Antlitz haben, heißt noch nicht, daß ihre
Richtigkeit oder Unrichtigkeit, ihre grundlegende Form organisch
mit ihren gesellschaftlichen Funktionen zusammenhinge. Freilich
kann jede Idee eine Ideologie sein, wenn wir ihre gesellschaftliche
Funktion betrachten. Aber das Wesen, die Form, ja - wenn nicht von
ausgesprochen politisch-wirtschaftlichen Fragen die Rede ist - sogar
der Inhalt der Idee erschöpfen sich nicht in ihren gesellschaftlichen

317
Funktionen. Schließlich gelangten wir in der objektiven Logik auch
nicht deshalb bis zu jenem Punkt, an dem wir auch den Inhalt und die
Formen der Kenntnis von dem psychologischen Akt der Erkenntnis
und dem erkennenden Subjekt unterscheiden, mit anderen Worten:
die moderne Philosophie führte nicht deshalb einen jahrzehntelangen
Kampf gegen den Psychologismus, um jetzt auf einer soziologisch
genannten, doch in Wirklichkeit sozialpsychologischen Stufe wieder
zu ihm zurückzukehren.
Natürlich versucht Mannheim, diese Gefahr zu umgehen, indem
er einen ausgesprochenen Unterschied zwischen dem Begriff der
partikularen und der totalen (strukturellen) Ideologie macht und den
Begriff der totalen Ideologie in der Form zu bestimmen bemüht ist,
daß ihn der Vorwurf des Psychologismus nicht treffen kann.
Während nämlich seiner Meinung nach der partikulare Ideologie-
begriff in den Bereich der Psychologie gehört, bezieht derjenige, der
mit dem totalen Ideologiebegriff operiert, diesen nicht mehr auf
irgendein psychologisches, wirkliches Subjekt, sondern auf ein
„konstruiertes" (ein „Zurechnungssubjekt").

Hier sind wir steckengeblieben. Denn bisher hieß Mannheims


Definition: die Ideologie ist die Idee, abhängig von der wirklichen
Lage des Subjektes, das die Idee äußert. Nun jedoch taucht der Be-
griff „Zurechnungssubjekt" auf. Wozu, aus welchem Grund, mit
welchem Recht konstruieren wir dieses Subjekt? Hat vielleicht die
Idee dennoch einen Kern, der vom Subjekt und seiner wirklichen
Lage unabhängig ist? Mannheim skizziert die Entwicklung des tota-
len Ideologiebegriffs auf geistesgeschichtlicher Grundlage. Ihre erste
Form ist seiner Meinung nach das Kantsche „Bewußtsein überhaupt".
Der zweite Schritt ist die historische Formulierung des Be wußtseins,
die in den Hegelschen Begriffen Volksgeist und Welt geist Ausdruck
fand. Der „letzte und wichtigste" Schritt zum modernen totalen
Ideologiebegriff schließlich wird nach Mannheim da vollzogen, wo
als Subjekt des schon historischen Bewußtseins statt des Volkes oder
der Nation der Klassenbegriff auftaucht. Wir sind folglich beim
Begriff des „Klassenbewußtseins" angelangt, das den Kern der
gesamten Ideologienlehre darstellt: dem Grundbegriff der
marxistischen „Philosophie". Wenn wir diesen Begriff in die bishe -

318
rigen Mannheimschen Formeln einsetzen, gelangen wir zu folgen -
dem Ergebnis: Eine Idee ist die Funktion der wirklichen Lage des
Subjektes. Über die Entwicklung der Geschichte und der Gesell-
schaftswissenschaft gelangten wir dahin, das Subjektiv als Kollek tiv,
als Klasse aufzufassen. Die Idee ist folglich die Funktion der
Klassensituation. Diese unkritische Übernahme des Klassenbegriffes
von Marx und vom Neomarxismus ist der wundeste Punkt des
Mannheimschen Buches und fällt gerade bei ihm, einem Schüler
Max Webers, besonders schwer ins Gewicht.

Wir mußten die einseitigen Gesichtspunkte von Mannheims


Buch aufzeigen, wenn wir seine Werte nicht mit oberflächlichem
Lob anerkennen wollten. Von ihnen gibt es nämlich genug. Das
Problem der Ideologie selbst interessiert ihn deshalb so leiden -
schaftlich, weil die Sackgasse, in die der Neokantianismus fast die
gesamte deutsche Vorkriegsphilosophie geführt hatte, ein tiefes Er -
lebnis für ihn war. Furcht vor der in sich selbst ruhenden, trägen und
muffigen Idee, Flucht vor einer immateriellen formalen Wert -
philosophie „in die echte Wirklichkeit": diese geistige Bemühung
durchzieht das Mannheim-Buch. Diese Absicht ist anerkennens wert.
Die Seinsgebundenheit oder Seinstranszendenz des Gedankens, also
die große doppelte Einheit von Sein und Gedanken ist für die
Philosophie aller Zeiten ein erregend interessantes Thema. Es ist nur
schade, daß Mannheim im Hinblick auf irgendeine angenommene
Modernität oder „geschichtsphilosophische Aktualität" unter Sein
immer soziales Sein und unter „Standort" immer sozialen Standort
versteht. In diesem Buch, das die Gesichtspunkte des „Ganzen" und
der „Totalität" ununterbrochen betont, wird die Gebundenheit der
Idee an die Wirklichkeit oder die Loslösung von ihr allein an der
historischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit gemessen, die Natur
existiert für Mannheim gar nicht, sie ist „in Klammern gesetzt".
Um so intensiver sieht er die historische Wirklichkeit. Sein
Buch ist eine scharfe Polemik, ein ehrlicher Bruch mit jeder
statischen Wertphilosophie, mit jeder Systematisierung, die auf dem
Begriff des „Absoluten", der ewigen und unwandelbaren Ordnung
beruht. Sein Grunderlebnis ist der ewige Wandel der Wirklichkeit,
das panta rhei, in dem nur hier und da die Sehnsucht nach der

319
mystischen Ekstase, nach der Vision einer jenseits der Geschichte
existierenden Wirklichkeit durchbricht. In vielem ähnelt sein
Standpunkt dem des Historismus, wenn er sich auch gegen den
historischen Relativismus verteidigt und sich auch als
„Relationisten" bekennt. Dieser Terminus hat den Sinn, daß von der
notwendigen Bindung des Geistes an Sein und Standort her die
Totalität zu jeder Zeit nur als gegenseitige Relation der Standorte
aufzufassen ist. Wenn wir die Partialität jedes Standortes erkennen,
ist das noch kein Relativismus, sondern sogar ein Weg zur Totalität,
die aus dem dynamischen Verhältnis der Teilwirklichkeiten entsteht.
Mannheim bemüht sich, dieses Prinzip so auf das Ideologieproblem
anzuwenden, daß er den ideologischen Charakter des Denkens jeder
Klasse behauptet, im Gegensatz zu jenem Standpunkt, der sich nur
bemüht, die Ideen des sozialen Gegners als Ideologien hinzustellen.
Doch leider wirkt seine Argumentation an diesem Punkt wiederum
materiallos und rein methodologisch. Denn das Erkennen der
Ideologie als Ideologie kann nur im Zeichen der Idee geschehen. Es
ist nur dann möglich, wenn es auch eine höhere Warte und reinere
Region als den in den Dienst der Klassenargumente gestellten
Gedanken gibt. Die Relativierung der Relativität führt noch nicht
zum Absoluten, auf Deutsch: Man kann den Teufel nicht mit
Beelzebub austreiben. Das gleiche gilt auch für jenen Teil der
Erörterungen Mannheims, der die gesellschaftliche Rolle der
Intelligenz behandelt. Mannheim hält die Intelligenz für jene soziale
Schicht, deren Berufung die Vermittlung zwischen den partikularen,
seinsgebundenen Standpunkten, die Bemühung um die Synthese, um
die Suche des Ganzen ist. Doch glaubt er nicht, daß die Intelligenz
eine gesonderte Klasse ist, sondern hält sie für einen akzessorischen
Bestandteil aller Klassen. So hält er es auch nicht für möglich, daß
sich die Intelligenz gesondert organisiert, sondern nur, daß sie sich
innerhalb der Klasse und Partei um Totalität bemüht. Diese frei -
schwebende Intelligenz, die in den Klassen wurzelt, kann sich seiner
Meinung nach nicht um eine Position über den Klassen bemühen,
sondern nur um die Darstellung der Partikularität der Klassensitua -
tion, die Erweiterung des engen Rahmens ihrer Existenz. Natürlich
gelangen wir so wiederum zur Negation der Negation. Die Klassen-
intelligenz soll sich nach Enthüllung des Klassencharakters um die

320
Gemeinschaft bemühen - erklärt Mannheim und erkennt nicht, daß
das „Ganze", die „Gemeinschaft" über die Teilwirklichkeit der
Klassensituationen hinaus eine unabhängige und selbständig exi -
stierende, diese bestimmende Entität ist.
Dies alles zusammengefaßt: Mannheims Buch ist eine für den in
Philosophie und Soziologie bewanderten Leser interessante Probleme
aufwerfende, zu Widerspruch und Diskussion anregende Arbeit. Ein
Versprechen: keimende Gedanken und fruchtbare Gegensätze. Wenn
Mannheim das matte Gewand des formalen und methodologischen
Denkens, dieses bittere Erbe der deutschen Universitätsphilosophie,
von sich wirft, wird sich sein Geist interessant und frei entfalten.

321
LAJOS FÜLEP: WISSENSSOZIOLOGIE
Die Aufmerksamkeit derer, die in der verwirrenden Mannigfaltigkeit
der heutigen Geistesströmungen nach den Zügen der Hauptbe -
strebungen suchen, die in eine bestimmte Richtung weisen, soll in
wenigen Zeilen auf einen besonders aktuellen Artikel von hervorra -
gender wissenschaftlicher Bedeutung in dem wahrlich lückenfüllen -
den Handwörterbuch der Soziologie gelenkt werden, das die Ergeb-
nisse und den heutigen Standpunkt der soziologischen Wissenschaf -
ten spiegelt und jetzt in Vierkandts Redaktion in einer Ausgabe des
Stuttgarter Enke-Verlages erschienen ist. In diesem Artikel faßt un -
ser Landsmann Károly Mannheim, Soziologieprofessor der Univer-
sität Frankfurt, der herausragende Vertreter des unter dem Namen
„Wissenssoziologie" bekannten neuen Wissenschaftszweiges, in ei -
nem skizzenhaften, aber systematischen Überblick jene Gesichts-
punkte zusammen, die, aus soziologischer Sicht auf die Wissen -
schaften angewendet, eine Revision ihrer theoretischen Begründung
und im Endergebnis die Herausgestaltung einer neuen Wissen-
schaftsdisziplin und Erkenntnistheorie nötig machen. Der Artikel
enthält statt der üblichen lexikalischen Darstellungsweise der dabei
sonst zu nennenden Arbeiten die Entwicklung des eigenen Stand-
punktes und der theoretischen Überzeugung des Autors und ist da mit
nicht nur eine Information über die Probleme und Methoden der
Wissenssoziologie, sondern ihre Weiterentwicklung auf dem Wege,
auf dem das vor drei Jahren erschienene und eine ganze Lite ratur
hervorrufende Buch Ideologie und Utopie eine wichtige Zwi-
schenstation bedeutete.
Das Wesen der Wissenssoziologie läßt sich in wenigen Worten
so zusammenfassen: Wissen, Wissenschaft sind seinsverbundene
Funktionen, also keine Projektionen der apriorischen Kategorien der
autonomen geistigen Sphäre auf ihr Material, sondern stets die
Konsequenz der historisch-soziologischen Lage und Perspektive. Die
sie behandelnde Lehre, die Soziologie des Wissens, ist deshalb

Fülep Lajos: "A tudomány szociológiája", Nyugat 1932, S. 115 - 117. Übersetzt aus: Fülep
Lajos: Művészet és világnézet. Cikkek, tanulmányok 1920- 1970. Szerk. Timár Ärpád, Budapest
1976, S. 329-332.

322
einerseits Erforschung und Festlegung der die Seinsverbundenheit
des Wissens verratenden und hervorhebenden Erscheinungen, mit
anderen Worten also die phänomenologische Aufdeckung, Be-
schreibung und Strukturanalyse der Seinsverbundenheit, anderer seits
erweitert sie sich zur Erkenntnistheorie, welche die erkennt -
nistheoretische Bedeutung der Tatsache der Seinsverbundenheit be-
legt. Gemäß dieser Erkenntnistheorie entwickelt sich die Erkenntnis
nicht unter immanenten Gesetzen, wird auch nicht durch ihren Ge-
genstand bestimmt oder durch die rein logischen Möglichkeiten ge -
lenkt, auch nicht durch die innere Dialektik des Geistes getrieben,
sondern an jedem wichtigen Punkt bestimmt eine Vielfalt atheoreti -
scher Faktoren („Seinsfaktoren") ihre Entstehung und Gestaltung.
Diese die Entstehung der konkreten Wissensinhalte bestimmenden
Faktoren haben nicht einfach peripherische oder genetische Bedeu -
tung, so daß man von ihnen im Falle der fertigen Erkenntnis schon
absehen kann, sondern nehmen einen einschneidenden Einfluß auf
ihren Inhalt und ihre Form, Struktur und Geltung. Diese Faktoren,
welche die Gestaltung des Wissens so wesentlich beeinflussen und
lenken, sind nicht bloß individueller Natur (im Sinne des subjektiven
Relativismus), wurzeln folglich nicht im bewußt werdenden Willen
des denkenden Einzelnen, sondern eher im kollektiven Willen einer
auch den Einzelnen einschließenden Gruppe (Relationismus). Der
wichtigste dieser Faktoren - Generation, Beruf, Sekte usw. - ist die
gesellschaftliche Klassenschichtung, weil alle anderen sozialen
Einheiten auf den sie alle tragenden und bestimmenden Produktions-
und Herrschaftsverhältnissen beruhen.
Je mehr Leugnungen und Behauptungen, je mehr Legionen von
Fragen und Gegeneinwänden rufen sie hervor. Weil es sich aber um
einen neuen Wissenschaftszweig handelt, der sich über einige her -
ausragende spezielle Arbeiten hinaus vorerst noch in Allgemeinhei -
ten bewegt und bisher eher seine Ziele zeigte als seine Fähigkeiten -
wobei sich seine Brauchbarkeit ja doch in den Einzelheiten ent-
scheiden wird -, haben wir mit unserer kritischen Abwägung noch
Zeit. Nur zweierlei wollen wir, gerade in Mannheims Fall, bemer ken.
Ihm schwebt eine Methode zur Bestimmung der Kunststile vor, und
eine ähnliche wünscht er sich für die „Stile des Denkens" unter
Aufdeckung ihrer Beziehung zu den sozialen Triebkräften. Doch die
Bestimmung des historischen Ortes der Kunststile, an die er denkt,
ist erfolgt und konnte erfolgen mit philologischen und im manent

323
stilkritischen Methoden, die Aufdeckung ihres geistesge
schichtlichen oder sozialen Grundes folgte danach - nach Datie rung
und Attributierung -, und mußte natürlich auch folgen, weil sich ohne
sie die Gestaltung der Stile nicht verstehen läßt. Diese Reihenfolge
kann auch die Wissenssoziologie nicht umkehren; wenn sie sie
dagegen einhält, verdankt sie ihre Ergebnisse zur Hälfte einer
anderen Methode und ist gezwungen, anderen als sozialen - geistigen
und geistesgeschichtlichen - Triebkräften Raum zu geben. Weiterhin
führt das Zuendedenken der sozialen Triebkräfte auch Mannheim
zum Begriff der Marxschen Klassen- und Produktionsverhältnisse,
also zu dem, was wir mit der Marxschen Terminologie den
„historischen Materialismus" nennen. Nun hat dabei schon Marx
selbst hinsichtlich der Kunst die Zuständigkeit des historischen
Materialismus stufenweise abgewertet (er konnte es tun: je ne suis
pas marxiste!), und was nach ihm an Versuchen unter nommen
wurde, die Kapitel der Kunstgeschichte neu zu schreiben, gehört zu
den peinlichsten Erinnerungen aus dem letzten halben Jahrhundert.
Selbst die Gegner der Wissenssoziologie könnten ihr ein ähnliches
Schicksal nicht wünschen; wenn sie die Kategorien des historischen
Materialismus nicht überschreitet, werden ihre Ergebnisse noch öder
sein als auf dem Gebiet der Kunst, und zwar um so viel öder, je
unabhängiger Wissenschaft und Wahrheit, verglichen mit der Kunst,
von der sozialen Schicht sind.
Vielleicht wird aus diesen wenigen überaus lückenhaften Zeilen
schon ersichtlich, daß die Wissenssoziologie als sich verselbständi-
gender und neuentstandener Wissenschaftszweig letztlich der Un -
terbau-Überbau-Theorie und der Ideologienlehre von Marx ent-
springt, und, in ihrer gedanklich folgerichtigen Überarbeitung und
Ausweitung auf den gesamten Wissenschaftsbereich, diese Marxsche
Herkunft, in Mannheims Formulierung ganz besonders, fast überall
an sich trägt. Dies ist das Wort der Zeit. Denn wir leben nun eben in
jenem Prozeß, der - seit dem Krieg in gesteigertem Tempo - durch
Aufsaugen, Anwendung und Zurückdrängung der Marxschen Theorie
auf die ihr entsprechenden Bereiche eine kritische Arbeit an ihr
verrichtet, in dem das zu einem lebendigen Teil der Wissenschaft
gemacht wird, was der Erweiterung und Bereicherung der Sichtweise
dient, und das übrige dem Bereich der Ideologie und Propagnda

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zuweist. Europa macht jetzt Schluß mit dem „destruk tiven" Marx,
indem es seine soziologischen und geschichtswissenscll,ittlichen und
schließlich seine wissenschafts- und erkenntnistheoretischen
Konsequenzen einer kritischen Prüfung unterzieht. In Mannheims
Abhandlung erscheint das Wort Destruktion sogar zweimal - und
dabei ist tatsächlich von nicht weniger die Rede als vom Sturz eines
großen Teils der bisherigen herrschenden Richtungen, von der
Zerstörung der Grundlagen der idealistischen Wissenschaftslehren
und Erkenntnistheorien in der Weise, daß die neue Lehre ihr im
Marxschen Sinne „ideologisches" Wesen durchleuchtet und entlarvt.
Unserer Ansicht nach ist es auch vom idealistischen Standpunkt her
wünschenswert, daß diese Destruktion mittels möglichst gründlicher
Forschung bis in die Einzelheiten hinein vor sich gehen möge, denn
nur so wird deutlich, was einerseits die Philosophie bisher unkritisch
apriorisierte, und was sich andererseits nicht soziologisieren läßt.
Der Weg der Philosophie besteht nur von fern und mit Laienaugen
gesehen im Ausdenken von Theorien - eigentlich ist er ein
pausenloser Kampf um jeden Fußbreit Boden, den man ihr streitig
machen will, und gerade dieser Kampf zwingt sie dazu, immer tiefer
schürfend die Grundlagen des Denkens und Seins aufzuzeigen. In der
vorangegangenen Epoche war der Gegner der Philosophie der
Psychologismus - und sie erstand in diesem Kampf von neuem.
Zweifellos muß das europäische Denken ebenfalls durch die Periode
des Soziologismus hindurch, doch ist nicht daran zu zweifeln, daß
auch damit ein neues Zeitalter der Philosophie vorbereitet 'wird. Das
neuerliche Durchdenken und die neue Analyse der gesellschaftlichen
und historischen Erscheinungen sind schon bemerkenswert
vorangeschritten, auf jeden Fall weiter als die wissenschafts- und
erkenntnistheoretische Grundlegung. Es ist Mannheims Verdienst,
daß er letztere, zum Teil auf den Spuren Schelers, in den
Vordergrund stellt - das ist beinahe natürlich, handelt es sich doch
dabei um die für den Philosophen lebenswichtigen letzten Fragen,
und wenn Mannheim auch von der Philosophie zur Soziologie
überging, konnte er doch seine philosophische Neigung und Bildung
nicht draußen vor lassen. Mannheim begann als Philosoph, seine
erste größere Arbeit war eine erkenntnistheore tische Abhandlung
(Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (ung.) 1918) - als
glückliches Zusammentreffen ist zu werten, daß sich die beiden

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streitenden Parteien in dem europäischen Konflikt von Philosophie
und Soziologie bei ihm in einer Person treffen. Und deshalb halten
wir die Erwartung für berechtigt, mit der wir der Arbeit Mannheims
bei der Schaffung einer neuen Erkenntnistheorie, die die Feuerprobe
der Soziologie besteht, entgegensehen, und gerade in dieser Richtung
erwarten wir das meiste von ihm.

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BIOGRAPHISCHE ANMERKUNGEN
ANTAL, FRIGYES (FRIEDRICH) (1887 - 1954), Kunsthistoriker. Stu dierte in Wien bei
Wickhoff und Dvorak, promovierte 1914 über „Klassizismus, Romantik und Realismus in
der französischen Malerei". Kustos des Museums der Bildenden Künste in Budapest. Als
Mitglied des Sonntagskreises hielt er Vorlesungen und Seminare über moderne Malerei.
Zur Zeit der Räterepublik setzte er sich als führen des Mitglied des Direktoriums für Museen
und Kunst für die Sozialisierung der Kunstschätze ein und hielt Vorlesungen an der
Universität. 1919 Emigration nach Wien, später nach Berlin und London. Redakteur der
Zeitschrift Kritische Berichte zur kunstgeschichtlichen Literatur. Hauptwerke: Die f l o -
rentinische Malerei und ihr sozialer Hintergrund (1958), Hogarth (1962). BALÁZS, BÉLA
(1884- 1949), Dichter und Filmtheoretiker. Studierte in Budapest und in Berlin bei Simmel.
Seine Lyrik und sein Dramenstil standen im Mittelpunkt von literarischen Diskus sionen, in
denen Lukács als sein Verbündeter aufgetreten war. Ein Jugendfreund des Komponisten
Zoltán Kodály; Béla Bartók hat seine Oper „Blaubarts Burg" und das Tanzspiel „Der
holzgeschnitzte Prinz" nach Balázs' Libretto komponiert. Organisator des Sonntagskreises
und der Freien Schule für Geisteswissenschaften, wo er Vorlesungen über Dramaturgie
und Poetik gehalten hat. Zur Zeit der Räterepublik Leiter der Literatur- und Theaterabtei -
lung im Volkskommissariat für Unterrichtswesen. 1919 Emigration nach Wien, spáter nach
Berlin und Moskau. 1945 kehrte er nach Ungarn zurück. Hauptwerke: Der sichtbare
Mensch (1924), Der Geist des Films (1930).

FOGARASI, BÉLA (ADALBERT) (1891 - 1959) Philosoph, marxisticher Ideologe. Studien in


Budapest und Heidelberg bei Emil Lask. Anhänger von Béla Zalai, Verfasser mehrerer
logischer und philosophiehistorischer Arbeiten, Mitglied der Ungarischen Philosophischen
Gesellschaft. Teilnehmer des Sonntagskreises, hielt Vorlesungen an der Freien Schule für
Geisteswissenschaften über die Theorie des philosophischen Denkens und über die
Methoden der Geisteswissenschaften. Als Hochschullehrer war er in der Leh -
rergewerkschaft tätig, 1918 ist er Mitglied der Kommunistischen Partei geworden. Zur Zeit
der Räterepublik Leiter der Abteilung für Hochschulwesen im Volkskommissariat für
Unterrichtswesen. Emigration nach Wien, Berlin, Moskau. Mitarbeiter an Zeitschriften der
KPD und der Komintern, Mitglied der Kommunistischen Akademie.

FÜLEP, LAJOS (1885-1970), Kunsthistoriker. Als Kunstkritiker Vorkämpfer der modernen


ungarischen Kultur. Studien in Paris, Florenz und Rom. Verfasser größerer Arbeiten über
Nietzsche und Dante. Gemeinsam mit Georg Lukács Herausgeber der philosophischen
Zeitschrift A Szellem. Einflußreiches Mitglied des Sonntagskreises, an der Freien Schule
für Geisteswissenschaften hielt er Vorlesungen über das nationale Element in der Kunst.
Für die Károlyi-Regierung har er eine politische Vermittlerrolle in Ita lien angenommen. Bis
1920 Herausgeber der Zeitung L'Ungheria. Zur Zeit der Räterepublik zum Universitätspro-

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fessor ernannt, nach dem Sturz seines Lehramtes enthoben. Er wählte das innere Exil, war
zwischen 1920-1947 Pastor in einem südungarischen Dorf. Ab 1948 Professor für
Kunstgeschichte und Mitglied der Akademie in Budapest.

GYÖMRŐI EDIT (geb. 1896), Schriftstellerin, Psychoanalytikerin. Sie hat sich aus dem
Kreis aktivistischer Dichter als Freundin und Rezensentin von Anna Lesznai 1918 dem
Sonntagskreis angeschlossen. Zur Zeit der Räterepu blik war sie im Volkskommissariat für
Unterrichtswesen tätig. Emigration nach Wien und Berlin, wo sie sich psychoanalytisch
ausbildete, in den 30er Jahren war sie als Psychoanalytikerin in Budapest tätig. 1938
Emigration nach Ceylon, ab 1956 lebt sie in London. Verfasserin mehrerer Fachstudien in
deutscher und englischer Sprache.

HAUSER, ARNOLD (1892- 1978), Kunstsoziologe. Seine Laufbahn begann er als Publizist
in seiner transsylvanischen Heimatstadt, beim Temesvári Hirlap. Studien in Budapest,
Doktorarbeit über die Probleme der ästhetischen Systematisierung (1918). Mit seinem
Universitätsfreund Karl Mannheim ist er Mitglied des Sonntagskreises geworden und hielt
Vorlesungen über die nachkantische Ästhetik und über Dilettantismus an der Freien Schule
für Geisteswissenschaften. Zur Zeit der Räterepublik arbeitete er im Volks kommissariat für
Unterrichtswesen. Emigration nach Wien und London. Ab 1951 Professor für
Kunstgeschichte an der Universität Leeds. 1977 zog er nach Ungarn zurück. Werke:
Sozialgeschichte der Kunst und Literatur (1953), Philosophie der Kunstgeschichte (1959),
Der Manierismus (1964), So ziologie der Kunst (1974).

KÁLDOR, GYÖRGY (1900-1958), Publizist, Ökonom. Er ist als Schüler von Lajos Fülep
und Student an der Freien Schule für Geisteswissenschaf ten Mitglied des Sonntagskreises
geworden. 1919 emigrierte er nach Wien und Heidelberg, hier hat er seine Uni -
versitätsstudien beendet. Ab 1926 Redakteur der Pester Lloyd in Budapest. Veröffentlichte
mehrere ökonomische und politische Aufsätze in der bürger lich radikalen Zeitschrift
Századunk. Nach 1945 führender außenpolitischer Mitarbeiter des ungarischen Rund funks.
1950 nach falschen Anklagen verhaftet und verurteilt. Ab 1955 war er als Verlagslektor
tätig.

LANG, JULIA (1893-1955), Psychologin. Studierte in Budapest, war Mitarbeiterin von Géza
Révész im Psychologischen Laboratorium, sie machte mit ihm Untersuchungen über die
frühe Erkenntnis des musikalischen Talentes. Karl Mannheim hat sie während der
Studienjahre kennengelernt, sie heirateten in der Emigration. Nach Mannheims Tod war
sie als Psychoanalytikerin tätig.
LESZNAI, ANNA (1885-1966), Dichterin und Künstlerin. Sie hat sich an allen modernen
Kulturbewegungen am Anfang des Jahrhunderts in Budapest beteiligt. Sie publizierte in
der literarischen Zeitschrift Nyugat, hatte an den Ausstellungen der konstruktivistischen
Künstlergruppe „Nyolcak" (Die Acht) teilgenommen. Zwischen 1913 und 1920 war sie die
Frau des führenden bürgerlich-radikalen Politikers und Sozialwissenschaftlers Oszkár
Jászi. Als Mitglied des Sonntagskreises arbeitete sie zur Zeit der Räterepublik neben ih ren

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Freunden im Volkskommissariat für Unterrichtswesen. Nach 1919 Emi gration nach Wien,
später in die Vereinigten Staaten mit ihrem Mann, dem Graphiker Tibor Gergely, der zur
jüngeren Generation des Sonntagskreises gehörte. Der Roman über die Geschich te ihrer
Generation ist mit dem Titel Spätherbst im Eden (1965) auch in deutscher Sprache
erschienen.

LUKÁCS, GYÖRGY (GEORG) (1885- 1971), Philosoph, marxistischer Ästhetiker. Studierte


in Budapest und Berlin bei Simmel. Mit seinen Essays Die Seele und die Formen (1911)
hat er sich in Ungarn wie in Deutschland be-
kannt gemacht. Zwischen 1912 und 1917 lebte er in Heidelberg und gehörte zum Max-Weber-
Kreis. Höchste Autorität im Sonntagskreis, er hielt Vorlesungen an der Freien Schule für Gei-
steswissenschaften über Ethik und Asthetik. 1918 hat er sich der kommunistischen Bewegung
angeschlossen. Zur Zeit der Räterepublik war er Volkskommissar für Unterrichtswesen. 1919
Emigration nach Wien, später nach Berlin und Moskau. 1945 kehrte er nach Budapest zurück,
war als Kulturpolitiker, Universitätsprofessor und Mitglied der Akademie tätig. Haupt werke:
Theorie des Romans (1916), Heidelberger Ästhetik (1916-18), Taktik und Ethik (1919),
Geschichte und Klassenbewußtsein (1923), Der junge Hegel (1946), Die Zerstörung der
Vernunft (1954), Die Eigenart des Ästhetischen (1963), Zur Ontologie des gesellschaftlichen
Seins (1970).

MANNHEIM, KÁROLY (KARL) (1893-1947), Wissenssoziologe. Studierte in Budapest und Berlin.


War stark beeinflußt von Lukács und Béla Zalai. Promovierte mit einer Arbeit über
Strukturanalyse der Erkenntnistheorie (1918). Als anerkanntes Mitglied des Sonntagskreises hielt
er Vorträge an der Freien Schule für Geisteswissenschaften über logische und er-
kenntnistheoretische Probleme. Das zweite Semester wurde von seinem Vortrag „Seele und
Kultur" eingeleitet. Zur Zeit der Räterepublik wurde er zum Universitätsprofessor ernannt und
hielt kulturphilosophische Vorlesungen. 1919 Emigration nach Deutschland, wurde 1926
Privatdozent neben Alfred Weber in Heidelberg. Sein Hauptwerk Ideologie und Utopie (1929)
hatte heftige Diskussionen ausgelöst. 1930 wurde er als Professor der Soziologie nach Frankfurt
berufen, ab 1933 lebte er in London und war Professor der London School of Economics.
Auswahl aus sei nen Werken: Wissenssoziologie, Hrsg. v. K.H. Wolff, Neuwied 1964. Veröf-
fentlichungen aus seinem Nachlaß: Strukturen des Denkens; Der Konser vativismus,Frankturt
1981; 1984. MOLNÁR, ANTAL (1890- 1984), Musikwissenschaftler. Mitarbeiter von Zoltán
Kodály und Béla Bartók. Als Mitglied des Waldbauer-Quartetts und als Musiktheoretiker war er
Vorkämpfer der modernen ungarischen Musik. Zur Zeit der Räterepublik wurde er von Kodály an
die Musikakademie berufen und hatte hier mehrere Jahrzehnte hindurch seine
musikpädagogische Tätigkeit ausgeübt. Verfasser mehrerer Studien über Bartók, Kodály, einer
Soziologie der Musikgeschichte und einer zweibändigen Musikästhetik.

RADVÁNYI, LÁSZLÓ (LADISLAUS) (1900- 1978), Wirtschaftswissenschaft ler. Als Student hat er
im antimilitaristischen Galilei-Kreis teilgenommen. Als Teilnehmer der Vorlesungen an der Freien
Schule für Geisteswissenschaften wurde er in den Sonntagskreis eingeladen. Nach dem Sturz
der Räterepublik setzte er seine Studien in Heidelberg fort. Promovierte 1923 mit einer Arbeit
über den Chiliasmus. Ab 1926 lebte er in Berlin, war Leiter der Marxi stischen Arbeiterschule und
unter dem Namen Johann Lorenz Schmidt Herausgeber ihrer Zeitschrift Der Marxist. Aus der

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Emigration in Mexiko kehrte er 1952 mit seiner Frau, Anna Seghers, in die DDR zurück, und
wurde Professor an der Humboldt Universität.
SINKÓ, ERVIN (1898-1967), Schriftsteller, Essayist. Er kam 1918 aus der Batschka nach
Budapest, schloß sich einer Gruppe avantgardistischer Dichter und antimilitaristischer
Intellektueller an. Mitarbeiter der kommunistischen Zeitschrift Internacionále. Mit seinem Freund
József Révai war er gegen Lukács' Aufnahme in die KPU, wurde aber dann sein Anhänger,
Teilnehmer des Sonntagskreises, 1919 Repräsentant der „ethischen Kommunisten".
Mitglied des Budapester Arbeiterrates, Leiter der Abteilung für Weltanschauung im
Volkskommissariat für Unterrichtswesen, Kommandant der Stadt Kecskemét. Nach dem
Sturz emigrierte er nach Wien, gab eine christliche Zeitschrift mit dem Titel Testvér
(Bruder) heraus. Ab 1926 lebte er in Jugoslawien, von 1932 bis 1939 in Paris. Die Jahre
1935-37 verbrachte er in Moskau, wo er seinen Roman über die ungarische Revolution,
Optimisták (Optimisten) veröffentlichen wollte. Sein Buch über diese Erlebnisse ist auch in
deutscher Sprache erschienen: Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch (Köln 1962).
Ab 1939 lebte und wirkte er in Jugoslawien.
TOLNAY, KÁROLY (CHARLES DE) (1899- 1981), Kunsthistoriker. Als Schüler von Lajos
Fülep ist er zum Hörer an der Freien Schule für Geisteswissenschaften und zum Mitglied
des Sonntagskreises geworden. Ab 1918 studierte er in Wien bei Dvorak, wurde Vertreter
der geistesgeschichtlichen Richtung der Kunstgeschichte. Privatdozent für
Kunstgeschichte in Hamburg, emigrierte 1933 nach Paris, 1939 in die Vereinigten Staaten,
Professor der Kunstgeschichte in Princeton. 1965 kehrte er nach Europa zurück und wur de
Direktor der Casa Buonarotti in Florenz. Hauptwerke: P. Bruegel Vancien 1-11. (1935),
Hieronymus Bosch (1937), Michelangelo 1- V. (1943 - 60).

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