Sie sind auf Seite 1von 150

Jörg Zimmer

LEIBNIZ

U N D DIE FOLG E N
Die Zugangsinformationen zum eBook
finden Sie am Ende des Buchs.
Jörg Zimmer

Leibniz
und die Folgen

J. B. Metzler Verlag
Der Autor
Jörg Zimmer studierte Philosophie und Literaturwissenschaft
in Osnabrück und ist seit 1997 Professor für Philosophie an der
spanischen Universität Girona.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese P ­ ublikation
in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte biblio­
grafische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de
­abrufbar.

ISBN 978-3-476-04740-3
ISBN 978-3-476-04741-0 (eBook)

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht­


lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen G ­ renzen
des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des V ­ erlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel­
fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
­Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft


S­ pringer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de

Einbandgestaltung : Finken & Bumiller, Stuttgart unter


­ erwendung eines Gemäldes von Johann Friedrich Wentzel d. Ä.
V
(© Mauritius images/Art Collection 2/Alamy)
Typografie und Satz : Tobias Wantzen, Bremen
Druck und Bindung : Ten Brink, Meppel, Niederlande

J. B. Metzler, Stuttgart
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ­
­ein Teil von Springer N­ ature, 2018
Inhalt

Einleitung 1­
­

Leibniz im Kontext :
Das Leben eines Universal­gelehrten 7

Leibniz und das Problem der Metaphysik 31

Leibnizrezeption von der A


­ uf‌klärung
bis Hegel 57

Perspektiven auf Leibniz 95

Die Einheit in der Vielheit :


Leibniz heute 115

Literaturverzeichnis 141
Einleitung 1

Einleitung
Wie kein zweiter Denker seiner Zeit hat Leibniz eine fein ent­
wickelte Sensibilität für Schreibanlässe gehabt : Sein umfang­
reicher Briefwechsel zeigt besonders eindrücklich die Fähig­
keit, sich in Argumentation und Sprache seinem Adressaten
anzupassen. Heute würde man sagen : ihn da abzuholen, wo
er steht. In den philosophischen Hauptschriften sehen wir
eine systematisch-prinzipielle Diktion, die den umfangrei­
chen populären Schriften fehlt. Leibniz hatte allerdings den
Anspruch, dass seine an ein allgemeines Publikum sich rich­
tenden Aussagen jederzeit auch in metaphysischer Strenge
reformulierbar sein müssen. Möglichst allgemeinverständlich
sprechen, um in die Breite zu wirken, darf nicht um den Preis
eines Konsistenzverlustes geschehen. Mit diesem Methoden­
bewusstsein als philosophischer Schriftsteller und der Forde­
rung, den Elfenbeinturm der Philosophie zu verlassen, um mit
Gedanken etwas zu bewirken, legt Leibniz die Latte ziemlich
hoch, will man sich ihm auch in der Form der Darstellung an­
nähern.
Der Leser dieses Buches darf keine klassische Einführung,
also auch keinen Überblick über das Gesamtwerk erwarten. Er
wird erst recht keine akademisch monographische Darstellung
finden, sondern eher ein Portrait, wenn auch nicht in der Form
eines ausgeführten Gemäldes, sondern als Portraitzeichnung,
die mit wenigen Strichen Leibniz und sein Denken skizzieren
und charakterisieren will. Ziel ist es, Leibniz in seinem vielsei­
tigen Facettenreichtum und der systematischen Strenge seines
Grundgedankens, in der barocken Vielfalt seiner wissenschaft­
lich-technischen Interessen und der metaphysischen Einheit
seines Weltbegriffs aufscheinen zu lassen. Leibniz soll im Kon­
text seiner Zeit gezeigt werden – verbunden allerdings mit der
Frage, was in der Wirkungsgeschichte aus ihm geworden ist
2
und was er heute noch bedeuten kann. Leibniz und die Folgen,
das meint insofern zweierlei : seine Rezeptionsgeschichte und
Einleitung

seine Aktualität.
Rezeptionsverläufe haben ihre Eigendynamik. In der Wir­
kung eines klassischen Autoren tritt der historische Gehalt sei­
nes Werkes in Verbindung mit der jeweiligen Gegenwart, d. h.
er bewegt sich in ständiger Transformation und in ständigem
Perspektivwechsel durch den Lauf der Geschichte. Das kann
man sich für die Barockzeit selbst an einem schönen literari­
schen Beispiel verdeutlichen : In seiner Erzählung Das Treffen
in Telgte beschreibt Günter Grass das fiktive Treffen der deut­
schen Barockdichter in einer kleinen Stadt nahe Münster und
Osnabrück, um parallel zu den Friedensverhandlungen, die
dort am Ende des Dreißigjährigen Krieges stattfinden, über
die Zukunft der deutschen Nation zu beraten. Ein Mitglied der
Gruppe 47, die sich eben diese Frage nach dem Neubeginn in
der Nachkriegszeit der Kriegskatastrophen des 20. Jahrhun­
derts stellt, zitiert die historische Vergangenheit eines Jahrhun­
derts, die ebenfalls durch die Katastrophe eines großen Krie­
ges bestimmt gewesen ist. Es ist das Jahrhundert von L ­ eibniz,
und Grass zeichnet ein eindrückliches Bild dieser Zeit : Da
greift auch ein Dichter schon einmal zum »Degen, nannte den
seinen Federkiel« und »wollte wissen, wem er’s zuerst schrift­
lich geben solle« (Grass 1987, 14).
Es gibt also Korrespondenzen zwischen Epochen, und als
man 1946 den dreihundertsten Geburtstag von Leibniz feierte,
stand auch hier der politische, an Frieden und Interessenaus­
gleich orientierte Leibniz viel stärker im Vordergrund der Fest­
reden als jemals zuvor und danach. In veränderten Rezeptions­
kontexten bekommen die Grundgedanken eines klassischen
Autoren also in den Wandlungen der Zeitläufte neue Konno­
tationen : es finden oftmals subtile, manchmal auch ziemlich
grobe Bedeutungsverschiebungen statt. Theoretisch hat diese
zentrale Bedeutung der Nachgeschichte Walter Benjamin reflek­
3
tiert. Bezeichnenderweise in einem mit »Monadologie« über­
schriebenen Abschnitt der erkenntniskritischen Vorrede sei­

Einleitung
nes Buches zum barocken Trauerspiel spricht er von »Vor- und
Nachgeschichte« der Werke. Die Idee jedes Werkes ist Monade
und »enthält das Bild der Welt« (Benjamin 1974, 227 f.). Das
bedeutet für unseren Zusammenhang nichts Geringeres, als
Leibniz als Ausdruck seiner Welt zu verstehen. Genau das wer­
den wir im ersten und zweiten Kapitel versuchen.
Es bedeutet nach Benjamin aber auch, dass zwischen das
Werk als Ausdrucksgestalt seiner Zeit und uns die gesamte
Nach- bzw. Interpretationsgeschichte tritt. Deshalb muss man
durch Rekonstruktion dieser Rezeptionsverläufe ein Bewusst­
sein dafür entwickeln, wie diese Deutungen unser eigenes Bild
mitgeprägt haben. Ausgerechnet in einer Studie über die Über­
lieferungsgeschichte des Barockdichters Martin Opitz heißt
es dazu methodologisch sehr erhellend : »Werke, denen eine
nachhaltige Wirkungsgeschichte beschieden war, haben ihrer­
seits jene soziokulturelle Tradition mitgeprägt, die noch die
gegenwärtige Rezeption präformiert. Daraus folgt die zwin­
gende Anweisung, den Überlieferungsprozeß der Werke zu ver­-
­folgen, um die Determinanten der gegenwärtigen Aneignung
überprüfen und ggf. deren Macht brechen zu können« (­Garber
1976, 12). In diesem Sinne sind das zweite und dritte Kapitel zu
verstehen : Wir müssen die Rezeptionsgeschichte als »Folge«
wenigstens in ihren Hauptzügen kennen, um von der Gegen­
wart her ein eigenes, möglichst unverstelltes Verhältnis zu
Leibniz gewinnen zu können. Im Nachvollzug der Rezeptions­
geschichte jedoch schärft sich das Bewusstsein, dass auch die
Aktualität von Leibniz nur eine selbst wieder historisch be­
dingte Perspektive auf ihn ist.
Im Passagenwerk hat Benjamin diese notwendige und unhin­
tergehbare Perspektivität unseres Blickes auf die Überlieferung
in die treffende Metapher der Waage gefasst : »Jede geschicht­
liche Erkenntnis läßt sich im Bild einer Waage, die einsteht,
4
vergegenwärtigen und deren eine Schale mit dem Gewesnen,
deren andere mit der Erkenntnis der Gegenwart belastet ist.
Einleitung

Während auf der ersten die Tatsachen nicht unscheinbar und


nicht zahlreich genug versammelt sein können, dürfen auf der
zweiten nur wenige schwere, massive Gewichte liegen« (Ben­
jamin 1982, 585). Diesem Gedanken versuchen wir im Aufbau
der Darstellung zu folgen. Die Rekonstruktion von Werk und
Wirkung hat zwar mehr Raum, nicht aber mehr Gewicht : Die
»Nachgeschichte« wird – auch ein an Leibniz gemahnendes
Motiv im Denken Benjamins – zum »Kraftfeld« der Aneignung
eines Klassikers wie Leibniz, »indem die Aktualität in ihn hin­
einwirkt« (ebd., 587).
Die Aktualität des Denkens von Leibniz ist Gegenstand des
letzten Kapitels. Dass seine Metaphysik strikt vom Individuel­
len und seiner Perspektive auf den Zusammenhang des Gan­
zen ausgeht, macht ihn zu einem möglichen Anknüpfungs­
punkt für die heutige Zeit. Denn Leibniz denkt die ­individuelle
Substanz wesentlich in Beziehung zu den Anderen, Welt also
als Beziehungseinheit aller Wechselwirkungen der individu­
ellen Substanzen. Hier liegt das Zentrum des systematischen
Grundgedankens, der sowohl geschlossene Systematik als
auch Beliebigkeit ausschließt. Leibniz’ Aktualität besteht also
mit einem Wort darin, Vielfalt und Pluralität zu denken, ohne
Wirklichkeit ins Einzelne auseinanderfallen zu lassen. Er hat
kein durchbuchstabiertes System, aber er denkt das Fragmen­
tarische doch immer aus der Einheit eines Grundgedankens.
Tausende von Notizblättern zeigen gegenüber schmalen meta­
physischen Hauptschriften den Werkstattcharakter der Philo­
sophie von Leibniz, die sich in barocker Fülle artikuliert, aber
nie ins Einzelne verliert. Es geht darum, dem Individuellen,
seiner Kraft und den Beziehungen, in denen es steht, meta­
physischen Grundlegungsstatus für unseren Begriff von Welt
zu geben.
In der Rezeptionsgeschichte des Philosophen Leibniz hat
5
der Metaphysiker und der Logiker im Vordergrund gestanden.
Das politische Denken von Leibniz stand nur zum dreihun­

Einleitung
dertsten Geburtstag sozusagen kontingent im Vordergrund,
weil hier zwei epochale Katastrophen, das Ende des Dreißig­
jährigen Krieges bei Leibniz’ Geburt 1646 und das Ende des
Zweiten Weltkrieges zusammenfielen. Die Aktualität des poli­
tischen Denkers Leibniz ist jedoch nicht kontingent, sondern
entspringt dem Zusammenhang mit seiner Metaphysik. Und
wenn im 20. Jahrhundert die historische Korrespondenz in den
Katastrophen lag, so kann die Epochenaffinität im 21. Jahrhun­
dert darin gesehen werden, dass er eine Ordnung der ›Kompos­
sibilität‹, eine politische Einheit der Vielen zu denken gestattet.
Gerade unsere Zeit kann den politischen Denker Leibniz ent­
decken : denn sie hat das Problem, Einheit in der Vielheit poli­
tisch denken und gestalten zu müssen. Wir werden am Ende
des Buches fragen, inwiefern Leibniz’ metaphysischer Grund­
gedanke einen normativen Rahmen und also Kriterien hierfür
anbieten kann.
Denn diese Pluralität bedeutet bei Leibniz nicht Beliebig­
keit, sondern ist als ontologisches Charakteristikum der Welt
aufgefasst. Kompossibilität ist ein ontologischer Begriff, der
das zugleich Mögliche ausdrückt, also politisch gesprochen
auf eine Ordnung zielt, in der sich die individuellen Verwirk­
lichungen der Freiheit nicht ausschließen, sondern miteinan­
der existieren können. Das führt ihn unter anderem dazu, über
die klassischen Prinzipien des Naturrechts hinaus ein Prin­
zip der Solidarität zu denken : Nicht nur suum cuique tribuere und
­neminem laedere, einem Jedem das Seine geben und nieman­
den schädigen, sondern auch mit Anstand leben (honeste vivere)
in einem ganz bestimmten Sinn : Leibniz konkretisiert diese
»unsubstantiierte moralphilosophische Generalklausel« (Holz
2013, 106) sehr konkret als alios adiuvare, als Anweisung, Ande­
ren zu helfen.
Bei Leibniz ist Politik nicht, wie in der klassischen politi­
6
schen Theorie der Neuzeit, Antwort auf die Kollision von Frei­
heitsansprüchen und Einzelinteressen, sondern er geht von
Einleitung

vorn herein vom Gedanken des bonum commune, also vom Ge­
meinwohl bzw. von gemeinsamen Interessen aus. Und in der einen
Welt, in der wir heute leben, können die großen Probleme von
der Erhaltung der gemeinsamen Lebensgrundlagen bis hin
zur Lösung der globalen sozialen Frage nicht anders als durch
­Kriterien des Ausgleichs angegangen werden. Diese Idee des
Ausgleichs durch gemeinsame Interessen steht im Zentrum
des politischen Denkens von Leibniz. Ein weiteres Moment
von hoher Aktualität ist sein immer multilaterales Verständnis
internationaler Politik : Es geht um Justierungen in politischen
Konstellationen in der Einheit eines pluralen Zusammenhangs
von Kräften.
Leibniz im Kontext :
Das Leben eines Universal­
gelehrten 7

Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten


Als Gottfried Wilhelm Leibniz am 21. Juni 1646 in Leipzig das
Licht der Welt erblickte, fanden in Münster und Osnabrück
gerade die Verhandlungen zur Beendigung des Dreißigjähri­
gen Krieges statt, die dann 1648 im Westfälischen Frieden den
Schlusspunkt der wohl bis dahin größten Katastrophe in der
deutschen Geschichte setzten. Golo Mann hat diese beiden
»westfälischen Städte Münster und Osnabrück […], jene als
Residenz der Katholiken, diese der Protestanten«, als »Inseln
der Sicherheit und prassenden Wohlstandes in einem Meer
von Elend« bezeichnet (Mann 1991, 220). Leibniz wird in die
Nachkriegszeit dieses bis dahin in seinen Auswirkungen ver­
heerendsten Krieges der europäischen Geschichte hineinge­
boren : »Die Folgen waren schlimm für Millionen leidender, ge­
marterter menschlicher Individuen. Sie waren auch schlimm
für das Kollektivwesen, genannt Nation, in ihrem Zusammen­
leben und Wettkampf mit anderen Nationen« (ebd., 228).
Dieser Krieg ließ ein Deutschland zurück, das politisch zer­
stückelt, ökonomisch rückständig und konfessionell geteilt
gewesen ist und über Jahrhunderte im europäischen Vergleich
ein rückständiges Land bleiben wird. Leibniz reagierte in sei­
nem Werk und Wirken auf alle diese Grundbedingungen der
Epoche. Die »Gemeinschaft einer Vielheit von Einzelnen be­
ruht auf dem Prinzip der Friedlichkeit« (Holz 2013, 20) – die­
ser Maxime folgt Leibniz als Jurist und Diplomat und als kon­
fessionspolitischer Ireniker lebenslang. Die Einheit in Vielheit
wird der Grundgedanke seiner Philosophie sein, und als Er­
finder und Wissenschaftspolitiker wird er unermüdlich dafür
arbeiten, die Rückständigkeit Deutschlands zu überwinden.
Doch durch die Umstände dieser Zeit entstand als histo­
rische Langzeitwirkung auch das, was Helmuth Plessner so
treffend die »verspätete Nation« genannt hat. Denn durch die
8
Zerstückelung in Kleinstaaten gehörte Deutschland zu den
Ländern, »welche an der Entwicklung des modernen Staatsbe­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

wusstseins seit dem 17. Jahrhundert nicht teilgenommen ha­


ben«, sondern »durch Jahrhunderte des Partikularismus und
der halben Lösungen« sein nationales Bewusstsein erst mit der
politischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts ­gewinnen
wird (Plessner 1974, 52 f.) – mit wiederum schlimmen Folgen,
weil der Begriff ›Nation‹ dann nicht an einen politischen Be­
griff des Staates, sondern an Ideen völkischer Identität ge­
bunden ist. Diese Ideen werden bis in die Katastrophen des
20. Jahrhunderts wirken und für die Rezeptionsgeschichte von
Leibniz’ Gedanken nicht unerheblich sein.
Wissenschaftsgeschichtlich und philosophisch wurde Leib­
niz in eine Zeit hineingeboren, in der sich durch Galilei, Kep­
ler und seinen Zeitgenossen Newton ein neues naturwissen­
schaftliches Weltbild herausbildete – eine Entwicklung, auf die
Leibniz ebenso reagierte wie auf die ebenfalls im 17. Jahrhun­
dert entstehende neuzeitliche Philosophie, die in allen ihren
klassischen Ausprägungen durch den Ausgang vom Subjekt
charakterisiert ist :

»Die neuzeitliche Philosophie ist in ihren beiden großen


Entwicklungslinien, in der des Empirismus und der des
Rationalismus, gekennzeichnet durch eine Hinwendung
zum Subjekt. […] Lockes Tabula rasa ist die Tabula rasa
des Erkenntnissubjekts, Descartes’ Meditationen sind die
Selbstreflexion des einzelnen denkenden Ich. In der Leib­
niz’schen Philosophie schließlich kulminiert diese Ent­
wicklung in der Ersetzung der beiden cartesischen Substan­-
­zen oder der einen spinozistischen Substanz durch eine
Substantialisierung des Individuums.«  (Poser 2016, 15)

Im Denken von Leibniz laufen diese Entwicklungen seiner


Epoche zusammen : Er reagierte auf die Herausforderung des
9
neuen naturwissenschaftlichen Weltbildes mit der Einsicht
in die Notwendigkeit einer Einheit von Wissenschaftlichkeit

Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten


und metaphysischer Grundlegung des Weltbegriffs, und auf
die Hinwendung der modernen Philosophie zur Begründung
aus dem Subjekt mit einer philosophischen Grundkonzeption,
die dieses Subjekt nicht nur als Individuum, sondern zugleich
als repraesentatio mundi, nämlich Ausdruck des Weltganzen be­
greift – und damit darauf insistiert, dass Philosophie nicht nur
Begründung des Wissens aus dem denkenden Ich, sondern
auch die Begründung eines Begriffs von Welt sein muss.
Im Zeitalter der Wissenschaft kann die Metaphysik, die
diese Begründung leisten soll, aber nicht mehr aus den e­ wigen
Gewissheiten des vorwissenschaftlichen Weltbildes des Mit­
telalters bestehen : »Philosophische Systeme können den An­
spruch auf absolute Wahrheit nicht mehr erheben. […] Philo­-
­sophie wird zur Hypothese – und anders hat Leibniz sein System
auch nicht vorgetragen« (Holz 1992, 23). Leibniz führt also
den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mit dem spekulativen
Sinn der Philosophie zusammen, indem metaphysische Mo­
delle wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht widersprechen
dürfen. Sowohl was sein Wirken im historischen Kontext sei­
ner Zeit als auch seine Stellung in der wissenschaftlich-philo­
sophischen Situation der Epoche angeht, ist Leibniz das, was
er selbst von der Monade sagte : ein miroir vivant, ein lebendiger
Spiegel seiner Zeit, in dem sich die Widersprüche und Tenden­
zen der Moderne perspektivisch darstellen. Das macht ihn zu
einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des späten 17. und
des frühen 18. Jahrhunderts – zu der paradigmatischen Figur
der Neuzeit, die bis heute weiter wirkt und auch der Gegen­
wart noch etwas zu sagen hat.

Kindheit, Jugend und Studienzeit


10
Leibniz wurde als Sohn des Juristen und Professors für Moral­
philosophie Friedrich Leibniz geboren. Seine Mutter Catha­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

rina, vierundzwanzig Jahre jünger als ihr Mann, war ebenfalls


Tochter eines bekannten Juristen. Da Leibniz erst nach sei­
ner Jugendzeit Kopien seiner Briefe anzufertigen und eine Un­
menge von Notizzetteln anzusammeln begann, die einen gro­
ßen Teil des umfangreichen Nachlasses ausmachen, ist die
Quellenlage zu seiner Kindheit und Jugend dünn. Er hat schon
als Kind seinen Vater verloren und galt als frühreif. Schon in
der Schulzeit soll er ein lateinisches Gedicht von dreihundert
Hexametern verfasst haben. Aufgrund seiner Begabungen ließ
man ihn bereits im Kindesalter die vom Vater nachgelassene
umfangreiche Bibliothek benutzen.
1661 begann Leibniz mit noch nicht einmal fünfzehn Jahren
an der Universität Leipzig Philosophie zu studieren, unter an­
derem bei Jacob Thomasius, dessen Sohn Christian später ein
berühmter Vertreter der deutschen Frühaufklärung werden
wird. Seine Prüfung zum Baccalaureat 1663 legte Leibniz mit
einer Arbeit mit dem Titel De principio individui ab. Darin zeigte
sich schon früh die Anlage zum bedeutenden Philosophen,
denn der Grundgedanke seiner späteren Metaphysik, vom In­
dividuum auszugehen, ist schon in dieser ganz frühen Schrift
eines Siebzehnjährigen angelegt. Nach dem Baccalaureat ging
Leibniz für ein Semester nach Jena, um bei dem Mathemati­
ker Erhard Weigel zu studieren, bei dem er jedoch nicht nur
Mathematik lernte, sondern auch mit der antiken griechischen
Philosophie in Berührung kam. Beide Einflüsse werden für die
Entwicklung seines Denkens zentrale Bedeutung bekommen,
wie schon Feuerbach sehr eindringlich festgehalten hat :

»Erhard Weigel verband mit der Mathematik die pythago­


räische Philosophie und suchte den Aristoteles mit den
neuern Philosophen zu vermitteln. Ehrenvoll erwähnt sei­
ner Leibniz an mehreren Stellen seiner Schriften. Er wirkte
11
besonders anregend auf ihn und veranlaßte ihn zu e­ ignen
Gedanken, namentlich in der Mathematik, wie zur Er­

Kindheit, Jugend und Studienzeit


findung seiner binären Arithmetik. Brucker, in seiner ›Vita
Leibnitii‹, glaubt es auch diesem Manne zuschreiben zu
dürfen, daß Leibniz schon frühzeitig auf den Gedanken
kam, die alte Philosophie mit der neuern zu vermitteln.
Aber diese Idee […] muß doch zugleich als ein Grund­
eigentum Leibniz’ angesehen werden«. ­
­ (Feuerbach 1984, 15)

Hier klingt eine bedeutende Geschichte an, die uns noch be­
schäftigen wird : die Rosental-Geschichte, die Leibniz an sei­
nem Lebensabend in einem späten Brief an Nicolas Remond
mitteilt (W V, 321). Wir wollen sie an dieser Stelle noch nicht zi­
tieren, sondern vorerst nur als Hinweis auf die frühe Selbstän­
digkeit seines Denkens einführen. Der alte Leibniz erinnert
sich, wie er als Fünfzehnjähriger in dem Wäldchen Rosental
in der Nähe von Leipzig spazieren ging, um darüber nachzu­
denken, ob er in der Philosophie an den substantiellen For­
men (d. h. an Aristoteles) festhalten solle. Das wird entschei­
dend sein für die Entwicklung seiner Metaphysik. Und es ist
ein erstaunliches Zeugnis eigenständigen Denkens : denn es
bedeutet nichts weniger als gegen den antischolastischen Im­
puls einer ganzen Epoche, die den Aristotelismus für obsolet
hält, auf der Bedeutung der Tradition zu bestehen – mit gerade
fünfzehn Jahren !
Nach der Zeit in Jena kehrte Leibniz an die Universität Leip­
zig zurück und studierte fortan Jura. Dort wurde er nicht zur
Promotion angenommen, weil man ihn für zu jung dafür hielt.
Deshalb reichte er 1667 seine Dissertation zum Problem un­
lösbarer Rechtsfälle an der fränkischen Universität Altdorf ein,
wo man sie für so hervorragend hielt, dass man ihm eine Pro­
fessur anbot. Er nahm sie nicht an. Sein Leben sollte andere
Wege gehen.
12
Im Jahre 1667 lernte Leibniz den Freiherrn Johann Christian
von Boineburg kennen, der ihn zu einer Schrift über neue Me­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

thoden anregte, die Rechtswissenschaft zu lehren. Von Boine­


burg, der in kurmainzischen Diensten gestanden hatte, vermit­
telte Leibniz aufgrund dieser Schrift an den Kurfürsten Johann
Philipp von Schönborn. Der Kurfürst von Mainz war zugleich
Vorsitzender des Kurfürstenkollegiums und stellte im Heiligen
Römischen Reich Deutscher Nation den Kanzler. Schon 1670
wurde Leibniz, der in die Dienste von Schönborns getreten
war, am Kurmainzischen Revisionsgericht, das Kompetenzen
im gesamten Reichsgebiet hatte, mit der Schaffung eines kon­
fessionsübergreifenden Gesetzeswerkes beauftragt. In Mainz,
einem der drei geistlichen Kurfürstentümer, war man an der
Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen interessiert.
Diese irenische Konfessionspolitik ist ein weiteres Lebens­
thema von Leibniz, das schon in seiner Jugend angelegt war.

Produktive Jahre in Paris

Im Jahre 1672 entsandte der Kurfürst seinen inzwischen zum


Rat aufgestiegenen Juristen Leibniz in geheimer diplomati­
scher Mission nach Paris. Er sollte dort sein Consilium Aegyp­
tiacum, seinen berühmten ägyptischen Plan vortragen, um Kö­
nig Ludwig XIV. zu einem Feldzug gegen Ägypten zu bewegen.
Wir werden darauf zurückkommen. Was aber macht ein Dip­
lomat mit einem geheimen Sonderauftrag in Paris ? Er wartet
auf Gelegenheiten, in dieser Absicht immer weiter vorzudrin­
gen, und das heißt : Er hat viel Zeit. Leibniz nutzte diese Pari­
ser Zeit und die erste Reise nach London, um mit der interna­
tionalen Wissenschaft in Kontakt zu treten : »Die Begegnung
mit Männern wie Huygens, Colbert, Malbranche und Arnauld
in Paris, mit Oldenburg, Boyle und Newton ließen Leibniz den
Anschluss an die Gelehrtenrepublik finden« (Poser 2016, 19).
13
Leibniz wird in den Pariser Jahren 1675 die Grundzüge sei­
ner Infinitesimalrechnung erarbeiten. Das wird viele Jahre spä­

Produktive Jahre in Paris


ter zu einem Plagiatsvorwurf Newtons führen. Die Royal Society
entschied diesen Prioritätenstreit 1712 in London gegen ihn.
Offenbar ist Leibniz jedoch auf einem anderen Weg als New­
tons Fluxionsrechnung zu seinem Ergebnis gelangt : Heute
herrscht in der Wissenschaft Einigkeit darüber, dass Newton
und Leibniz unabhängig voneinander zu ihren die Mathema­
tik und auch Naturwissenschaft und Technik umwälzenden Er­
gebnissen gekommen sind.
Auch als Techniker trat Leibniz in Paris zuerst an die Öf­
fentlichkeit. Er hat in den Pariser Jahren seine mechanische
Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten entwickelt. Er
konnte für dieses Projekt in Paris mit bedeutenden Feinmecha­
nikern seiner Zeit zusammenarbeiten, und als er 1673 während
seiner Reise nach London die Rechenmaschine in der Royal So­
ciety vorführte, war man dort so beeindruckt, dass er in die ge­
lehrte Gesellschaft aufgenommen wurde. Technische Pro­ble­
­me jedoch blieben wie bei allen seinen Erfindungen : Wichtig
jedoch ist nicht, ob die Zehnerübertragung der Rechenma­
schine funktioniert hat oder nicht, sondern die Grundidee :
»Als junger Mann hatte Leibniz den entscheidenden Gedan­
ken, mit einer Staffelwalze das Problem des Baus einer Rechen­
maschine für alle vier Grundrechnungsarten zu lösen. […] Die
Staffelwalze fand im Übrigen bis 1957 im Bau mechanischer
Rechenmaschinen Verwendung. – Ebenso erfand Leibniz die
Dualzahlen, Grundlage jeder Computertechnologie, und ent­
warf hierfür zwei völlig verschiedene Rechenmaschinen sowie
einen Zahlenwandler von Dual- in Dezimalzahlen« (ebd., 425).
Leibniz hat durch den technischen Stand seiner Zeit bedingte
Probleme bei der Umsetzung seiner Erfindungen gehabt, die
Gedanken jedoch, die hinter diesen Erfindungen standen, wie­
sen weit über ihre Zeit hinaus ; sie waren visionär und innovativ.
Und der ägyptische Plan ? Leibniz hatte ihn in einer um­
14
fangreichen Denkschrift entwickelt. Von Boineburg hat sie
so sehr überzeugt, dass er Leibniz mit persönlichen Empfeh­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

lungsschreiben an den Ersten Minister Ludwigs XIV. versah.


Leibniz wollte den französischen König von der strategischen
Bedeutung Ägyptens für eine hegemoniale Stellung im Mit­
telmeer und für die Handelsbeziehungen zum Orient und in
den Fernen Osten überzeugen. Er dachte dabei gesamteuropä­
isch, d. h. daran, welche Konsequenzen solch eine Kräftever­
schiebung für das Gleichgewicht und den Ausgleich zwischen
den europäischen Mächten haben würde. Natürlich muss man
aus heutiger Sicht kritisieren, dass man für politische Ziele in
Europa nicht einfach vorschlagen kann, ein afrikanisches Land
zu besetzen. Aber kritische Gedanken zum Eurozentrismus la­
gen nicht im politischen Horizont des 17. Jahrhunderts, so dass
es keinen Sinn macht, Leibniz auf dieser Ebene zu kritisieren,
auch wenn man selbstverständlich heute anders darüber urtei­
len wird.
Man muss vielmehr daran denken, welcher systematisch-­
strategische Grundgedanke dem ägyptischen Plan zugrunde
liegt : Als Leibniz ihn in Paris betrieb, stand Frankreich als die
aus dem Dreißigjährigen Krieg hervorgegangene kontinen­
tale Hegemonialmacht in Europa im Begriff, Krieg gegen die
Niederlande zu führen. Leibniz wollte französische Kräfte in
Ägypten binden, um Druck von den Niederlanden zu nehmen.
Gleichzeitig bedeutete ein Engagement im Orient, Druck auf
das Osmanische Reich auszuüben, das vom Südosten her nach
Europa zu expandieren strebte. Und das wiederum bedeutete,
Druck vom Deutschen Reich zu nehmen, das er gewisserma­
ßen diplomatisch vertrat. Leibniz zeigt also, dass er durchaus
in einem sehr modernen Sinn geopolitisch denkt und nicht an
einem Einzelinteresse orientiert ist. Hinter dem ägyptischen
Plan steckt also ein Verständnis von internationaler Politik,
das wir heute multilateral nennen würden. Leibniz ging immer
von Konstellationen aus, in denen sich eine Einheit in einem
15
pluralen Zusammenhang herstellt und durch politisches Han­
deln verändert.

Produktive Jahre in Paris


Letztlich ist es sein philosophisches Grundkonzept wech­
selwirkender Kräfte, das auch hinter seinem Verständnis poli­
tischen Handelns steht :

»Der Pluralismus der Staaten und Interessen war ihm


ebenso unabdingbar wie die Mannigfaltigkeit der Substan­
zen. Wie er aber ebendiese Mannigfaltigkeit in der mate­
riellen Welt als Ordnung und Eingliederung und überge­
ordnete Strukturen zusammenzufassen unternahm, […]
so ging es ihm auch mit der Pluralität der Staaten und
­Interessen. Er wollte sie in ein solches Verhältnis zueinan­
der bringen, daß sie kompossibel werden, also sich nicht
widerstreiten, ohne doch dabei notwendig übereinzu­
stimmen. […] Die Harmonisierung der Welt zu kompossi­
blen Gliedern bedeutet nicht die Beseitigung der Vielfalt,
der differenzierten Mannigfaltigkeit ; sie erstrebt nur deren
­Integration in einer höheren Strukturiertheit. Dem ›Ägyp­
tischen Plan‹ lag also die Idee einer solchen Strukturierung
der europäischen Welt zugrunde.«  (Holz 2013, 244 f.)
Der junge Leibniz artikuliert folglich im Consilium Aegyptiacum
im Kern schon den Grundgedanken seines lebenslangen poli­
tischen Denkens und Handelns – und als solch frühes Zeug­
nis ist der Plan interessant und bedenkenswert, nicht als ein
Zeugnis für Fürstenknechtschaft und frühen Eurozentrismus
in der europäischen Moderne. Der Plan ist gescheitert, Frank­
reich führte seinen Feldzug gegen die Niederlande, und man
weiß nicht, ob die Denkschrift über den Minister Pomponne
hinaus überhaupt in die Hände Ludwigs XIV. gelangt ist. Erst
sein Nachspiel fällt Anfang des 19. Jahrhunderts in eine Zeit,
16
wo man dann tatsächlich in aller Deutlichkeit von Kolonialis­
mus sprechen muss : Napoleon war in Ägypten. Er hatte wohl
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

keine Kenntnis von Leibniz’ altem Plan, der irgendwo in den


Archiven der französischen Ministerialbürokratie der nagen­
den Kritik der Mäuse ausgesetzt war. Aber mit Napoleon in Gi­
zeh setzte sich dennoch auch unbekannterweise der Gedanke
von Leibniz durch, dass das Mittelmeer von Ägypten aus kon­
trolliert wird. Das mare nostrum ist Treffpunkt dreier Kontinente
und ein einzigartiger Raum des Austausches von Waren und
Kulturen. Noch im Bau des Suezkanals bleiben die Gedanken
von Leibniz wirklich, und das Mittelmeer ist bis heute (man
denke nur an die Migrationsproblematik) ein geopolitisches
und strategisches Problem ersten Ranges. Der ägyptische Plan
ist also mehr als ein Kuriosum, auch wenn er gescheitert ist.

Umwege nach Hannover

Noch während Leibniz sich in Paris aufhielt, starben von Boine­


burg und der Kurfürst von Mainz. Damit war Leibniz arbeits­
los. 1676 trat er in die Dienste des Welfenherzogs Johann Fried­
rich von Braunschweig-Lüneburg und reiste auf Umwegen über
London und die Niederlande in die Residenzstadt Hannover.
Leibniz war jetzt dreißig Jahre alt und sollte bis zu seinem Le­
bensende in Hannover bleiben. Er wird immer wieder aus Han­
nover ausreißen und sich auf ausgedehnte, zum Teil von sei­
nem Dienstherrn ausdrücklich verbotene Reisen begeben, um
der Enge der Provinz nach Italien, nach Wien oder nach Ber­
lin zu entkommen. Man kann sagen, dass Leibniz nicht nur auf
Umwegen in Hannover angekommen ist, sondern dass er auch
auf Umwegen in Hannover geblieben ist.
Die berühmte Geschichte des Zusammentreffens mit Spi­
noza muss an dieser Stelle erzählt werden :
17
»[Spinoza] trug die etwas abgeschabte Arbeitskleidung
eines Handwerkers, sein Teint hatte wenig vom Dun­

Umwege nach Hannover


kel der portugiesischen Juden, sondern war fahl, er sah
krank aus. […] Spinoza rückte einen Stuhl heran, man
setzte sich. Der Gastgeber betrachtete diskret den Gast
mit seinen seidenen Strümpfen, silbernen Schnallen auf
den Schuhen, der schwarzen Perücke und dem prächti­
gen Rock, der in Paris gerade Mode geworden war. Und
das, dachte er, ist nur das Reisehabit. Was Leibniz sah,
war ärmlicher Hausrat, ein Bücherregal aus Fichtenholz
stand da, ein kleiner Schreibtisch, an dem die umstürzen­
den Werke entstanden sein mussten. […] Im Nebenzim­
mer musste man wohl die Maschine dieses Linsenschlei­
fers vermuten.«  (Hirsch 2000, 99)

Es ist hier nicht der Ort, auf die philosophischen Unterschiede


dieser beiden großen Denker des 17. Jahrhunderts im Detail
einzugehen. Die stilisierte Darstellung zeigt indes sehr schön
die unterschiedlichen Lebensumstände und Charaktere : Auf
der einen Seite Spinoza, ohne Amt und Ansehen, ein Jude por­
tugiesischer Herkunft, der 1656 aus der jüdischen Gemeinde
in Amsterdam exkommuniziert und mit dem Bannfluch belegt
worden war, sich als Linsenschleifer durchs Leben schlug, aber
für seine philosophischen Schriften berühmt und auch be­
rüchtigt gewesen ist ; auf der anderen Seite Leibniz, mit philo­
sophischen Schriften noch nicht an die Öffentlichkeit getre­
ten, aber mondän und schon als junger Mann verbunden mit
der großen Welt der internationalen Politik und Wissenschaft.
Spinoza ist ein Mann von Grundsätzen, der für sein Denken
viel Unbill zu ertragen hatte. Sein System entwirft das Ganze
aus der einen Substanz. Leibniz dagegen wird eine Metaphysik­
­der Pluralität individueller Substanzen entwickeln, und das
Ganze als Wechselwirkung der Beziehungen dieser individuel­
len Substanzen denken. Er selbst entwickelt sich ganz entspre­
18
chend in einer Vielfalt verschiedener Tätigkeiten und einem
Netzwerk von Beziehungen. Unterschiedlicher könnten die
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

Charaktere und Lebensumstände nicht sein. Dennoch ist Leib­


niz eine Zeit in Den Haag geblieben. Es gibt Aufzeichnungen
von ihm aus dieser Zeit. Man soll über den ontologischen Got­
tesbeweis gesprochen haben. Der Pantheist Spinoza musste
darauf ablehnend reagieren. Leibniz löste das Problem auf ele­
gante Weise, indem er den logischen Beweis notierte und Spi­
noza schriftlich überreichte.
Der Hofrat Leibniz wird in Hannover Justitiar und Biblio­
thekar des Herzogs Johann Friedrich von Braunschweig-Lüne­
burg. Dieser Welfe war katholisch geworden, respektierte je­
doch den protestantischen Glauben seiner Untertanen und galt
überhaupt als toleranter Herrscher. Die ­konfessionspolitische
Toleranz von Leibniz stieß hier also auf fruchtbaren Boden. Zu
seinen Aufgaben gehörte nicht nur die Reform der Staatsver­
waltung, sondern bald schon auch die Verbesserung der Land­
wirtschaft und des Manufakturwesens. Unterstützung fand
Leibniz bei der Kurfürstin Sophie, der Frau Ernst Augusts, des
Nachfolgers des wenige Jahre nach Leibniz’ Ankunft verstorbe­
nen Johann Friedrich. Diese enge Verbindung dehnte sich viele
Jahre später auf die Tochter Sophies, der Kurfürstin und späte­
ren preußischen Königin Sophie Charlotte aus, mit der Leib­
niz monatelang im Schloss Charlottenburg bei Berlin zusam­
men sein wird. Durch die Theodizee wurde eine legendäre philo­
sophische Freundschaft daraus.
Zu den ebenfalls legendären Ereignissen der ersten Hanno­
veraner Jahre gehört das technische Projekt im Harzbergbau.
Zu den Leistungen des Erfinders Leibniz zählt die sogenannte
»Horizontalwindkunst«, mit der er dem Problem des Gruben­
wassers in den Minen des Harzes beikommen wollte. Vor der
Erfindung der Dampfmaschine stellte die Entwässerung der
Gruben ein bedeutendes Hindernis bei der Entwicklung des
Bergbaus dar. Im Harz trat nun ein lokales Problem hinzu : Es
19
gab nicht genug Wasser, um Pumpen über Wasserkraft betrei­
ben zu können. Um aber normale Windräder, wie sie etwa bei

Umwege nach Hannover


Mühlen eingesetzt wurden, zur Entwässerung der Gruben ein­
zusetzen, war das Windaufkommen zu unregelmäßig.
Leibniz will also eine Mühle entwickeln, die nicht vertikal
im Wind steht, sondern aus um eine senkrechte Achse sich
drehenden Flügeln besteht (wie bei einer Flügeltür). Da diese
horizontale Windkunst den Wind von allen Seiten einfangen
kann, optimiert sie die Ausnutzung des Windes. Diese Wind­
kunst hat nicht die technische Reife erreicht, um tatsächlich
eingesetzt werden zu können. Das Entscheidende ist jedoch
das Umdenken im Begriff der Technik, das Leibniz’ Experi­
menten zugrunde liegt :

»Alle diese Erfindungen lassen sich durch drei Momente


kennzeichnen : Erstens sind sie oft Bestandteil von gan­
zen, teils hochkomplexen Systemen, zweitens zielen s­ ie
­vielfach auf Automation, also Selbststeuerung, drittens
­haben sie eine deutliche Wissenschaftsimplementierung, sind
sie doch keine aus der Handwerkstradition stammen­
den Erfindungen, sondern beruhen auf sehr theoretischen
Überlegungen mathematischer, mechanischer und hydro­
mechanischer Art.«  (Poser 2016, 427)
Hervorzuheben ist also die Modernität im Denken des Tech­
nikers Leibniz : Ging es, mit Hans Blumenberg (1981) zu spre­
chen, der vormodernen Technik um eine Art Wiederholung der
Natur mit anderen Mitteln, also um ein noch mimetisches Ver­
hältnis zu ihr, geht es in der modernen Technik um inventio als
innovatives Verhältnis zur Wirklichkeit.
Bei allem, was er anfasst, ist Leibniz vielseitig. Während er
sich im Harz mit Technik befasst, schreibt er gleichzeitig seine
für die Entwicklung der Wissenschaft richtungsweisenden
Überlegungen zur Differentialrechnung nieder, die 1684 unter
20
dem Titel Nova methodus pro maximis et minimis in den Acta erudito­
rum erscheinen. Und bei allem, was Leibniz anfasst, ist er inno­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

vativ. 1685 wird der Hofrat Leibniz zum Hofhistoriographen er­


nannt, ein Meilenstein in der Entwicklung der Geschichte als
Wissenschaft. Es ist nicht nur »seine immense, überall gegen­
wärtige, bewunderungswürdige Polyhistorie« (Feuerbach 1984,
17), die das bis zu seinem Lebensende ihn begleitende Projekt
der Geschichte des Welfenhauses zu einer originären wissen­
schaftlichen Leistung macht, sondern die Wendung zu einer
methodisch und quellenkritisch gesicherten Geschichtswissenschaft.
Üblich war es zu jener Zeit, Geschichtsschreibung als Legiti­
mation fürstlicher Ansprüche zu begreifen.
Auch das macht Leibniz auf seiner Reise nach Italien (die
er eben unternimmt, um Originaldokumente zu ­konsultieren),
allerdings auf eine neue, quellenkritische Weise : Er kann die
Welfen auf ein älteres Geschlecht, die Este, ­zurückführen. Das
Entscheidende ist dabei, dass Geschichte nicht einfach ein zu
konstruierendes Verfahren für Machtansprüche legitimieren­
­de genealogische Nachweise darstellt, sondern zu einem me­
thodisch geleiteten Verfahren der Forschung wird. Die Funk­
tion des Hofhistoriographen hatte eine bedeutende politische
Dimension, weil sich aus den historischen Ergebnissen politische
Ansprüche ergaben, Historiographie also eigentlich Auftrags­
kunst war. Leibniz dagegen wollte das Verfahren wissenschaft­
lich objektivieren – und also auch die Ergebnisse unabhängig
von politischen Konsequenzen machen. Er erwies sich dabei
»als ein sehr modern denkender, die Errungenschaften der
quellenkritischen Methode der Geschichtsschreibung vorbe­
reitender Wissenschaftler« (Holz 2013, 218). Dies gelang ihm,
weil er »die Geschichtsschreibung an der Analogie der foren­
sischen Jurisprudenz orientierte« (ebd., 219), also an einer Ver­
fahrensobjektivität, die ihre Ergebnisse an Nachweise bindet.
Diese Quellenforschung war der eigentliche Anlass für die Ita­
lienreise.
21

Die Italienreise
Die Italienreise

Sein vertrautester Mitarbeiter Johann Georg Eckhard hat in sei­


ner Biographie über den Philosophen eine Anekdote wiederge­
geben, die Leibniz selbst mündlich überliefert haben muss und
ein erhellendes Charakterbild zeichnet : Von Venedig aus ging
Leibniz an Bord einer Barke, auf der er der einzige Reisende war.
Ein Sturm kommt auf, und die Matrosen führen das aufkom­
mende Unglück auf die Anwesenheit des Ketzers (nämlich Pro­
testanten) an Bord zurück. Sie beschließen, den Denker kur­
zerhand über Bord zu werfen, um das Schicksal abzuwenden.
Der Protestant Leibniz holt daraufhin einen Rosenkranz aus
seinem Gepäck und besänftigt so die Matrosen, die im Anblick
des Rosenkranzbetenden ihre frevelhafte Tat nicht mehr übers
Herz bringen. Alle sind in Mesola sicher an Land gegangen.
Die Geschichte bezeugt folglich »die Demonstration seines
überlegenen konfessionellen Pluralismus«, und mehr noch :

»In der Geschichte der Religionen gibt es nicht nur das


eindrucksvolle Faktum ihres Rigorismus und ihrer
­Märtyrer, sondern als Kontrast dazu auch, zumal in der
Annäherung an Aufklärungen, das Eindrucksvolle derer, ­
­die in ihrer Person alle Möglichkeiten solcher Aufspal­
tungen und Zersplitterungen des Menschen vereinigen
zu können glauben. Sie teilen darin die Nachsicht ihres
Vernunftgottes mit der einfallsreichen Emsigkeit der
Menschen bei der Bewerbung um dessen Gunst. Selbst
das kann man ohne Schaden für Gemüt und Vernunft
tun, zeigt der Leibniz im Seesturm mit dem Rosenkranz
in der Hand.«  (Blumenberg 1987, 14)

Diese Anekdote zeichnet einen Leibniz, der in religiösen Fra­


22
gen genug Abstand hatte, um den Ritus rational einsetzen zu
können.
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

Frömmigkeit und konfessionelle Enge waren seine Sache


nicht. Die Nachbarn im fernen Hannover nannten ihn in ihrem
plattdeutschen Idiom in lautmalerischer Nachahmung seines
Namens »Glöve nix«, weil er nicht regelmäßig mit ihnen in der
Kirche saß. Sie irrten : Er glaubte schon etwas. Sein Vernunft­
glaube war es, der ihn nicht nur erkennen ließ, dass religiöse
Bräuche eben eine bestimmte Funktion im Leben der Men­
schen haben, aber unwesentlich für die metaphysischen Fra­
gen der Religion sind, sondern auch tolerant sein ließ gegen­
über der Pluralität religiöser Riten. Das galt mit Blick auf die
interkonfessionelle Toleranz, zu deren Beförderung er auf
der Italienreise wichtige Kontakte knüpfte, aber auch für sein
interkulturelles Interesse, für das er ebenfalls in Rom entschei­
dende Impulse erhielt. Sein Engagement für China bezog das
Wissen aus den Berichten der Jesuitenmission in Peking, und
Jesuiten hatten sich im Ritenstreit (also bei der Frage, ob zum
Christentum konvertierte Chinesen an ihren Bräuchen festhal­
ten dürfen oder nicht) gegen Dominikaner und Franziskaner
für rituelle Duldsamkeit ausgesprochen, die Leibniz sich zu
eigen machte.
Leibniz war über Süddeutschland und einen Aufenthalt in
Wien nach Venedig gekommen, ließ Kutsche und Kutscher zu­
rück, um auf dem Wasser weiterzureisen. Das Gefährt muss
einmal erwähnt werden, denn Leibniz hat in seinem Leben
viel Zeit in der Kutsche verbracht, sogar eine bessere Fede­
rung für sie erfunden – vermutlich, um während der Fahrt auf
den schlechten Wegen jener Zeit besser schreiben zu können.
Die Reise ging weiter nach Rom und Neapel. Der »italienische
Frühling, die Landschaft, durch die er reiste, der Anblick des
Vesuvs, die Kunst der Renaissance, die Denkmäler der Antike,
die italienischen Menschen und ihre Sitten – davon findet sich
in seinen Briefen nichts. Es war keine deutsche Italiensehn­
23
sucht, die ihn hergeführt hatte« (Hirsch 2000, 233).
In Modena führte er den Nachweis, dass die Welfen ge­

Die Italienreise
nealogisch mit dem Geschlecht der Este zusammenhingen. In
Rom traf er den Jesuiten Claudio Filippo Grimaldi, der im Be­
griff stand, nach Peking zu reisen. Leibniz war schon lange
sehr an China interessiert gewesen und hatte einen regen Aus­
tausch mit Grimaldi über die Mission in China. Es war nämlich
nicht nur Missionseifer, der die Jesuiten motivierte, sondern
ein reges Interesse am wissenschaftlichen Austausch. Das war
es, was auch Leibniz wollte und dann in seinem vielgelesenen
Buch Novissima Sinica auch propagierte. Natürlich interessierte
sich Leibniz wie später in seiner Nachfolge auch Christian
Wolff für den konfuzianischen Rationalismus (Zimmer 2018).
Leibniz selbst nannte in den Novissima Sinica China ein Europa
des Ostens. Die Zivilisation sei an den beiden Enden Eura­
siens konzentriert und würde sich im Zusammenspiel ausbrei­
ten können. Es macht abermals keinen Sinn, Leibniz Eurozen­
trismus vorzuwerfen, weil der wie schon erwähnt alternativlos
im Geist der Epoche lag. Wichtig ist vielmehr Leibniz’ Einsicht
in die Kraft interkulturellen Austausches, von dem alle etwas
haben sollen. Ein mehr als aktueller Gedanke.
Da Leibniz in Rom diplomatisch auch seinem Ziel konfessio­
neller Versöhnung nachging, soll an dieser Stelle ­etwas Grund­-
­sätzliches dazu gesagt werden : Im Unterschied zu Hobbes, der
nach dem Prinzip bellum omnium contra omnes in der politischen
Philosophie von der Kollision von Freiheitsansprüchen ausge­
gangen war, dachte Leibniz »immer an einen Ausgleich, der
aus Vernunfteinsicht entspringen und das gemeinsame Interesse
aller Beteiligten zum Grunde haben sollte. Sein Friedensbe­
griff war nicht der eines gegenseitigen Sich-in-Schach-haltens,
sondern der einer wohl verstandenen Solidarität der Men­
schen und Staaten untereinander« (Holz 2013, 224). Diese all­
gemeine irenische Konzeption setzte Leibniz – natürlich auch,
weil Religionsfriede nach den Erfahrungen des zurückliegen­
24
den Krieges eine zentrale Forderung sein musste – konfes­
sionspolitisch um.
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

Theoria cum praxi : Das Akademieprojekt


und die späten Jahre
Die Praxis seiner Tätigkeit in vielen Wissenschaften legt nahe,
dass Leibniz ein enzyklopädisches Verständnis von Wissen­
schaft hatte, eine Vorstellung, die in der Aufklärungsphiloso­
phie des 18. Jahrhunderts Karriere machen wird (man denke
nur an das berühmte Projekt der Encyclopédie von Diderot und
d’Alembert). Leibniz war immer auch ein Wissenschaftsorgani­
sator. Im Jahre 1700 kam er an sein Ziel : Seine Sozietät und spä­
tere Preußische Akademie der Wissenschaften wurde in Ber­
lin eingerichtet. Leibniz wurde ihr erster Präsident, und man
schrieb die Leibniz’ wissenschaftliche Tätigkeit so treffend auf ­
­den Punkt bringende Formel theoria cum praxi in ihr Wappen.
Der sogenannte Philosophenkönig Friedrich II ., an dessen
reich gedecktem Tisch Voltaire später sitzen wird und dabei
vielleicht auch bei dieser Gelegenheit den leibnizianischen Op­
timismus zu verspotten weiß, hat Leibniz »eine Akademie für
sich« genannt (Poser 2016, 15). Als Wissenschaftspolitiker war
er unermüdlich : Er verfolgte ähnliche Akademieprojekte beim
Kaiser in Wien (wo es erst viel später zu einer Gründung kam)
und bei seiner Beratertätigkeit für den Zaren Peter den Großen
(die Gründung der russischen Akademie der Wissenschaften
geht auf diese Anregung von Leibniz zurück). In alldem wirkte
die Überzeugung, dass die Förderung der Wissenschaft dem
commune bonum, dem Gemeinwohl zu dienen habe.
Man stelle sich vor : Ein in Hannover in welfischen Diens­
ten stehender Hofrat wirkt zugleich als Berater des Kaisers des
Heiligen römischen Reiches deutscher Nation und des russi­
schen Zaren, der sein Reich nach Europa geöffnet hat. Dieser
25
Hofrat Leibniz hätte seine Beratertätigkeit gern auch noch auf
den Kaiser von China ausgeweitet, aber das ist nicht zustande

Theoria cum praxi : Das Akademieprojekt und die späten Jahre


gekommen, sei es, weil sein Brief den langen Weg in die verbo­
tene Stadt nicht gefunden hat oder aus anderen unbekannten
Gründen. Jedenfalls dachte er in Dimensionen, die mit Europa,
Russland und China eigentlich den eurasischen Gesamtraum
umfassten. Dass ein solches Networking, wie wir heute sagen
würden, Leibniz nicht nur Freunde, sondern auch viel Miss­
trauen eingebracht hat, ist nicht verwunderlich ; es zeigt aber
seine politische Grundhaltung, ausgleichend, austauschend
und die Wissenschaft fördernd wirken zu wollen.
Das ist der politische Hintergrund seines Akademiepro­
gramms, das er schon 1669 als junger Mann in dem Text Socie­
tas Philadelphica (Leibniz 1967, 21 ff.) entworfen hatte. Der wis­
senschaftsorganisatorische Hintergrund ist die enzyklopädi­
sche Breite seines Lebenswerkes :

»Die Detailforschungen, denen Leibniz nachging, er­


streckten sich auf fast alle Wissenschaftszweige seiner Zeit.
Er war einer der führenden Mathematiker, nicht nur des
17. und 18. Jahrhunderts, sondern überhaupt ; seine Aus­
ar­beitung der Differential- und Integralrechnung, seine
­Geo­metrie der Lage waren bahnbrechende Neuerungen,
die von den Zeitgenossen, selbst von hervorragenden wie
Huygens, noch gar nicht voll verstanden und gewürdigt
werden konnten. Aber auch als Physiker trat er hervor, den
biologischen und medizinischen Forschungen folgte er
voll Anteilnahme, in der Psychologie war er Entdecker des
Unbewußten.«  (Holz 2013, 187)

Nehmen wir als ein auch biographisch kurioses Beispiel Leib­


niz’ Verhältnis zur Medizin : Er hatte überhaupt kein Vertrauen
in die Ärzte seiner Zeit, weil sie einfach noch nicht auf dem
wissenschaftlichen Stand der Epoche waren. Als er es in jenen
26
Jahren um 1700, da er immerhin über fünfzig Jahre alt war, mit
Krankheiten zu tun bekam, entwickelte er »eine Art Anam­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

nese aus genauer Selbstbeobachtung« (Hirsch 2000, 316), die


er dann als Bericht bedeutenden Ärzten seiner Zeit zuschickte.
Er hat also nicht nur in Denkschriften den mangelhaften Zu­
stand der Medizin seiner Zeit festgestellt und versucht, sie
über schwächende dauernde Aderlässe hinaus dem naturwis­
senschaftlichen Stand der Wissenschaft anzunähern, sondern
durch eine Art Anamneseverfahren sozusagen im Selbstver­
such das vorweggenommen, was die wissenschaftliche Medi­
zin heute Differentialdiagnostik nennt.
Leibniz’ herausragende Leistungen in Mathematik, Natur­
wissenschaft und Technik fallen in seine jungen Jahre, die his­
toriographischen Arbeiten begann er als Vierzigjähriger – doch
was ist mit der Philosophie ? Die von ihm selbst veröffentlichten
philosophischen Werke, in denen das System sichtbar wird,
das hinter all den Tätigkeiten steckt und wirkt, ist ein Produkt
der reifen und der späten Jahre. Leibniz hat selbstverständ­
lich sein ganzes Leben lang philosophisch gedacht. Die erste
Darstellung seiner Philosophie, der Discours de Métaphysique, ist
1686 entstanden, aber den Zeitgenossen und der Rezeption
des 18. Jahrhunderts bis hin zur klassischen deutschen Philo­
sophie nicht zugänglich gewesen, da er erst Mitte des 19. Jahr­
hunderts veröffentlicht wurde. Das ist schon deshalb ein Pro­
blem, weil Leibniz in dieser Schrift, wie wir bald sehen w ­ erden,
den vollständigen Begriff der Substanz entwickelt, der seiner
Metaphysik zugrunde liegt. An die philosophische Öffentlich­
keit tritt Leibniz 1695 mit dem Système nouveau. Er entwickelt
kurz gefasst den Werdegang seiner Metaphysik anhand der
Substanzenlehre, den individuellen beseelten Punkten und der
prästabilierten Harmonie. Das sind die Grundprobleme seiner
Philosophie.
Weiterhin sind natürlich die umfangreichen Werke zu nen­
nen, wobei nur eines auch zu Lebzeiten publiziert wurde. Bei­
27
­de hängen biographisch mit der philosophischen ­Freundschaft
mit Sophie Charlotte zusammen. Diese hatte John Lockes Es­

Theoria cum praxi : Das Akademieprojekt und die späten Jahre


say Concerning Human Understanding gelesen, und Leibniz hat
zwischen 1701 und 1704 seine Nouveaux Essais sur l’entendement
humain als Entgegnung auf Locke, aber auch zur Verständigung
mit der preußischen Königin geschrieben. Die Schrift disku­
tiert die Psychologie und Erkenntnistheorie des Engländers
vor dem Hintergrund der Metaphysik von Leibniz und enthält
seine Theorie des aktiven Verstandes und der petites perceptions,
kleinster Wahrnehmungen, die zum ersten Mal in der Philoso­
phiegeschichte eine erste Einsicht in das Unbewusste enthal­
ten. Leibniz hielt die Veröffentlichung zurück, weil Locke in­
zwischen verstorben war (auch ein Zeichen seines rücksichts­
vollen und gütigen Umgangs mit Mitmenschen). Das Werk
erschien erst 1765, und sein durchaus rationalistisch gedach­
tes Unbewusstes geriet in vereinseitigende Rezeptionsbedin­
gungen des Sturm und Drang.
Die zweite umfangreiche, tatsächlich 1710 noch zu Lebzei­
ten publizierte und die Rezeption von Leibniz in der ersten
Hälfte des 18. Jahrhunderts prägende Schrift sind die Essais de
theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme et l’origine du mal.
Wir werden ausführlich auf dieses Buch zurückkommen, das
ebenfalls durch philosophische Gespräche mit Sophie Char­
lotte motiviert gewesen ist. Es handelt sich um eine Gelegen­
heitsschrift, in welcher Leibniz einer philosophisch Interes­
sierten – aber eben auch einem Laienpublikum überhaupt –
die Grundzüge seiner Philosophie darstellen möchte. Diese
Popularisierung ist durch die nach Leibniz’ Tod erschienene
deutsche Übersetzung von Gottsched noch verstärkt worden.
Nimmt man die beiden unmittelbar nach seinem Tod erschie­
nenen sogenannten Vermächtnisschriften hinzu (die Principes
de la nature et de la grace fondés en raison von 1718 und die Monado­
logie von 1720), die das Modell der Monaden (ein Begriff, mit
dem Leibniz’ Philosophie fortan identifiziert wird) in seiner
28
ausgereiften Form artikulieren, so hat man das Corpus von
philosophischen Schriften beisammen, die der frühen Rezep­
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universal­gelehrten

tionsgeschichte bis zur ersten Ausgabe seiner Werke durch Du­


tens 1768 zur Verfügung standen.
Um eine Darstellung dieser Philosophie bzw. des meta­
physischen Grundmodells, das der ganzen Vielseitigkeit sei­
ner verschiedenen Tätigkeiten zugrunde liegt, muss es nun
gehen. Wir haben versucht, ein Portrait dieses homo universa­
lis zu zeichnen, das diese ganze Vielfalt, die hier im Detail und
als Gesamtdarstellung nicht entwickelt werden kann, wenigs­
tens andeutet. Wie aber lässt sich der Facettenreichtum die­
ses Menschen zusammenfassend charakterisieren ? Wir spre­
chen nach der Auskunft der kritischen Edition (www.leibniz-
edition.de) von etwa 100 000 Blatt Leibniz und 15 000 Briefen,
in denen sich dieser Reichtum darlegt. So gleicht sein »Werk
einem Labyrinth, durch das der Weg nur mit einem Ariadne­
faden zu finden ist« (Holz 1992, 10).
Sein philosophischer Gestus ist nicht die akademische und
systematische Philosophie des Deutschen Idealismus, ­sondern
sein Geist ist verstreut in die Welt ; dennoch gibt es einen sys­
tematischen Gedanken, der in den Fragmenten als Ariadne­
faden anwesend ist. In der Krise und allmählichen Erholung
nach dem Dreißigjährigen Krieg wird Leibniz in der baro­
cken Vielfalt seiner Interessen und Tätigkeitsgebiete sichtbar,
und dennoch auch die Einheit von wissenschaftlicher Weltan­
schauung und metaphysischem Weltbegriff. Leibniz hat kein
durchbuchstabiertes System wie nach ihm Wolff und die klas­
sische deutsche Philosophie bis Hegel ; aber es ist ein systema­
tischer Gedanke, der sich durch das Fragmentarische seiner
Darstellungsform zieht. Der unverheiratete Leibniz war mit
der Welt vernetzt, verwoben in die Beziehungen zu ihr – und
dennoch standen, nachdem er am 14. November 1716 gestor­
ben war, offiziell nur sein Sekretär und einige Unbekannte an
seinem Grab.
29
Es ist erstaunlich, wie genau und eigentlich bis heute ­gültig
Feuerbach, der erste Philosoph nach der klassischen Rezep­

Theoria cum praxi : Das Akademieprojekt und die späten Jahre


tionsgeschichte, der ein monographisches Gesamtbild gezeich­-
­net hat, den Menschen Leibniz charakterisieren konnte : »Tä­
tigkeit ist das Wesen seines Geistes und Charakters« (Feuer­
bach 1984, 23). Und außerdem :

»Er dachte mehr relativ als absolut. Wir haben von ihm
keine unabhängige, beziehungslose, absolute Darstellung
seiner Philosophie. / Aber dessen ungeachtet ist es nicht
nötig, etwa bei Leibniz zu einer Kantischen Trennung zwi­
schen Leibniz an sich und Leibniz für uns unsere Zuflucht
zu nehmen. Ebendieser unendliche Reichtum an Bezie­
hungen ist das Wesen seines Geistes selbst ; er ist das treue
Ebenbild seiner Monade, deren Wesen es ist, alle andern
Wesen idealiter in sich zu enthalten, in sich abzuspiegeln,
mit allen Dingen in einem idealen Verkehr und Verhältnis
zu stehen.«  (Ebd., 21)

Mit diesen Worten ist nicht nur der Kern des Charakters des
Menschen Leibniz treffend wiedergegeben, sondern tatsäch­
lich auch der Kern seiner Philosophie : Kraft im unendlichen
Zusammenhang der Beziehungen, die in ihrer Totalität Welt
ausmachen.
Leibniz und das Problem
der Metaphysik 31

Leibniz und das Problem der Metaphysik


Gegenstand unserer Darstellung ist nicht die Einführung in die
Philosophie von Leibniz in dem Sinn, dass alle Hauptaspekte
seines Denkens im Zusammenhang erläutert werden, um so
einen Überblick über das Ganze dieser Philosophie zu geben.
Solche Einführungen gibt es bereits (Holz 1992, Poser 2005),
und es würde wenig Sinn machen, diesen von renommierten
Leibnizforschern von unterschiedlichen Zugängen aus durch
das Werklabyrinth Leibniz gezogenen Ariadnefäden eine wei­
tere Überblicksdarstellung zur Seite zu stellen. Vielmehr wollen
wir versuchen, ein metaphysisches Grundpro­blem zu identifi­
zieren, das sich durch die Entwicklung des Denkens von Leib­
niz durchhält und das in den verschiedenen Tätigkeitsfeldern,
die bisher skizziert worden sind, präsent ist. Es geht darum,
einen Grundgedanken auszumachen, der in dem Sinn ›Folgen‹
für das heutige Denken hat, als ihm Aktualität für die philoso­
phische Reflexion der Probleme unserer Gegenwart zukommt.
Selbstverständlich bedeutet diese Annäherung an Leibniz
nicht nur Deutung (denn auch jede noch so umfassende Ge­
samtdarstellung ist immer Interpretation ihres ­Gegenstandes),
sondern auch eine gewisse Vereinseitigung bzw. Auswahl der
Motive. So werden wir uns nur auf die Rekonstruktion des meta­
physischen Grundgedankens konzentrieren, und viele Einzel­
aspekte des Leibnizschen Denkens werden erst behandelt, wo
sie in der Rezeptionsgeschichte selbst stärker ins Licht rücken.
Das bedeutet einerseits eine gewisse Fragmentierung der phi­
losophischen Gehalte (sie kommt allerdings dem Gestus die­
ses Denkens durchaus entgegen), andererseits aber auch die für
Leibniz ebenso wesentliche Akzentuierung eines systematischen
Grundgedankens, der die vielen Aspekte durchzieht und zu­
sammenhält. Der metaphysische Kerngedanke von Leibniz be­
steht im Kontext der neuzeitlichen Philosophie darin, von der
32
Individualität des Seienden und insbesondere auch des Sub­
jekts auszugehen, es aber in einem Begriff des Weltganzen zu
Leibniz und das Problem der Metaphysik

begründen, das als Beziehungseinheit und Wechselwirkung al­


ler dieser in ihrer Tätigkeit begriffenen Einzelsubstanzen kon­
zipiert ist. Leibniz denkt also Totalität als Einheit der Vielen.
Dieses Grundproblem wollen wir am Neuen System rekons­
truieren (einfach deshalb, weil es die erste von Leibniz selbst
publizierte Darstellung seiner Philosophie ist), dann an der
Metaphysischen Abhandlung die Aspekte einholen, die bis zur Pu­
blikation dieses Textes im 19. Jahrhundert unbekannt geblie­
ben sind (vor allem der vollständige Begriff der individuellen
Substanz), um schließlich an den späten, posthum erschiene­
nen Vermächtnisschriften (Prinzipien der Natur und Monadologie)
nachzusehen, wie dieses metaphysische Konzept im Begriff
der Monade seine ausgereifte Formulierung erhält.
Für die Kontinuität des Grundgedankens steht eben die Ge­
schichte des Fünfzehnjährigen im Rosental bei Leipzig, die der
alte Leibniz in seinem Brief an Nicolas Remond vom 10. 1. 1714
erzählt :

»Schon als Kind lernte ich den Aristoteles kennen, und so­
gar die Scholastiker schreckten mich keineswegs ab ; und
das ärgert mich auch heute überhaupt nicht. Doch s­ eitdem
gaben mir Platon und auch Plotin einige Befriedigung,
ohne von anderen alten Denkern zu sprechen, die ich spä­
ter zu Rate zog. Den Trivialschulen entwachsen, verfiel
ich auf die Modernen, und ich erinnere mich, wie ich im
­Alter von 15 Jahren in einem Wäldchen bei Leipzig, ge­
nannt Rosendal, spazierenging, um darüber nachzuden­
ken, ob ich an den substantiellen Formen festhalten sollte.
[…] Schließlich gewann der Mechanismus die Oberhand
und brachte mich dazu, mich mit der Mathematik zu be­
fassen […] Doch als ich die letzten Gründe des Mechanis­
mus und der eigenen Gesetze der Bewegung suchte, war
33
ich überrascht zu sehen, daß es unmöglich war, sie in
der Mathematik zu finden, und daß man zur Metaphysik

Leibniz und das Problem der Metaphysik


zurückkehren mußte. Das führte mich zu den Entelechien
und vom Materialen zum Formalen zurück«.  (W V, 321)

An dieser Stelle zeigt sich schon die ganze Partikularität des


Leibnizschen Ansatzes in der philosophiehistorischen Grund­
konstellation der frühen Neuzeit : Im Kontext einer geistes­
geschichtlichen Situation, in der im Namen der Begründung
eines mechanischen Weltbildes und der mathematisierten Na­
turwissenschaft das klassische Erbe der Philosophie und be­
sonders des mittelalterlichen Aristotelismus zurückgewiesen
wird, liest der jugendliche Leibniz genau jene Autoren, die
der Epoche nicht mehr viel gelten – und besonders eben je­
nen Aristoteles, dem das 17. Jahrhundert besonders distan­
ziert gegenüber stand, weil man ihn mit dem scholastischen
Dogmatismus identifizierte, von dem man sich lösen wollte.
Der junge Leibniz tut das nicht in einem konservativen Gestus,
nicht im Sinne eines back to the roots und auch nicht im Sinne
der Anerkennung alter Autorität. Aber auch neue Autorität,
die eine Abwendung von der philosophischen Tradition mehr
oder weniger statuarisch verordnet, schreckt ihn nicht, von
einem eigenen Gedanken her die Verbindung zum klassischen
Denken wiederherzustellen : denn die Rückkehr zur Metaphy­
sik der substantiellen Formen geschieht aus der Einsicht in die
Grenzen des mechanischen Denkens. Es muss also metaphy­
sisch begründet werden. Die Rosental-Geschichte zieht sich
wie ein roter Faden durch die Entwicklung des Denkens von
Leibniz. Seine Philosophie steht im Zeichen einer Einheit von
wissenschaftlichem Weltbild und Metaphysik.

Das neue System


34
Leibniz hat mit dem Système nouveau, das 1695 im Journal des Sça­
vans (der ältesten wissenschaftlichen Zeitschrift Europas) in Pa­
Leibniz und das Problem der Metaphysik

ris zuerst erschien, eine erste Fassung seines philosophischen


Systems der Öffentlichkeit übergeben. Damit ist für die Inter­
pretation schon ein Rahmen vorgegeben, da dieser Publika­
tionskontext vermuten lässt, dass es Leibniz darum ging, sei­
ner Position im wissenschaftlichen und philosophischen Kon­
text seiner Zeit Profil zu geben. Dies wiederum bedeutet, dass
dieser Text sich darauf beschränkt, das Wesentliche auf den
Punkt zu bringen und Aspekte, die die metaphysische Konzep­
tion von Leibniz vielleicht vertiefen könnten, auszublenden,
um keinen Anlass für Missverständnisse zu geben. Wir werden
am Beispiel der großen Gelegenheitsschriften wie der Theodi­
zee noch sehen, wie bewusst Leibniz mit Publikationsanlässen
umging. Der angegebene Kontext jedenfalls macht das Système
nouveau zu einem besonders geeigneten Zeugnis für den Ein­
tritt in die Welt von Leibniz. Es geht darum, der »Mechanik
als ›Leitwissenschaft‹« (Holz 1992, 21) ein metaphysisches Be­
gründungskomplement zu geben – und dieses neue Begrün­
dungsverfahren gegen konkurrierende Konzepte (Metaphysik
wird im Rationalismus des 17. Jahrhunderts wesentlich zur Be­
gründung der wissenschaftlichen Weltanschauung eingesetzt)
abzugrenzen : hauptsächlich gegen Descartes, aber auch gegen
Spinoza.
Deshalb ist der Substanzbegriff, der im Zentrum des Tex­
tes steht und überhaupt den Kern der Metaphysik von ­Leibniz
darstellt, besonders geeignet, diese Unterschiede deutlich zu
machen und so die beabsichtigte Abgrenzung zu leisten. Denn
auch Descartes und Spinoza hatten ihre Metaphysik über den
Substanzbegriff formuliert : Descartes, indem er von der be­
rühmten Zweisubstanzenlehre ausging, die res cogitans und res
extensa – also denkende und ausgedehnte Substanz – nicht nur
unterschied, sondern auch radikal in einem Dualismus trenn­
­te ; und Spinoza, indem er monistisch von der einen Substanz
35
sprach, die sich auf die eine, ebenso berühmte Formel Deus sive
natura bringen ließ, also Gott und Natur pantheistisch gleich­

Das neue System


setzte, in der Denken und Ausdehnung dann zwei Attribute der
einen Substanz darstellten.
Leibniz nun geht von einem System individueller Substanzen
aus, die in ihren Beziehungen die Einheit des Ganzen bilden. Da­
mit grenzt er sich gegen den Monismus der Substanz bei Spino­-
­za ab, ohne den Gedanken der Einheit preisgeben zu müssen,
und kann mit Descartes am Ausgang vom Subjekt festhalten,
ohne es auf ein weltloses und abstraktes ›Ich denke‹ reduzieren
zu müssen. Vielmehr kann es in seiner Individualität gedacht
werden, ohne es vom Zusammenhang mit der Welt zu trennen.
Leibniz will zeigen, dass das in seiner Individualität gedachte
Subjekt durch seine wesentliche Beziehungshaftigkeit gerade
in diesem Weltganzen begründet ist.
Descartes hatte im Discours de la méthode seinen Substanz­
begriff klar umrissen : Er hält fest, »daß ich eine Substanz bin,
­deren ganzes Wesen oder deren Natur nur darin besteht, zu
denken und die zum Sein keines Ortes bedarf, noch von ir­
gendeinem materiellen Dinge abhängt, so daß dieses Ich, d. h.
die Seele, durch die ich das bin, was ich bin, völlig verschieden
ist vom Körper« (Descartes 1996, 55). Dadurch wird das cogito,
für das Descartes Begründungsstatus in Anspruch nimmt, zu
einem welt- und ortlosen ›Ich denke‹, demgegenüber Leibniz
die Einheit von Körper und Seele eines Ich vertritt, das Wirk­
lichkeit immer von einem Ort in der Welt aus perspektivisch
wahrnimmt und denkt. Das cartesianische Experiment des ra­
dikalen Zweifels stellt die Frage, was als ein Unbezweifelba­
res übrigbleibt, wenn alle Gewissheiten und selbst die Exis­
tenz der äußeren Wirklichkeit infrage gestellt worden sind. Es
bleibt nur die Evidenz, dass ich es bin, der denkt. Bewusst­
seinsimmanente Ichgewissheit wird dann zum unbezweifelba­
ren Ausgangspunkt begründeten Wissens.
Diese unwiderlegbare Gewissheit eines unbezweifelbaren
36
Prinzips der Philosophie hat jedoch Hypotheken, die benannt
werden müssen, um die Reichweite des Alternativmodells von
Leibniz und das Problem der Metaphysik

Leibniz ermessen zu können : denn weil Descartes’ Experi­


ment radikalen Zweifelns auch die Wirklichkeit der Welt be­
zweifeln muss, um dieses Prinzip gewinnen zu können, erhält
er nicht nur ein weltloses Ich zurück, sondern außerdem eine
Entzweiung von Ich und Welt, die alles Wirkliche ausschließ­
lich als vom Bewusstsein gesetzte Objektivität begreifen kann.
Wirklichkeit ist damit immer nur als Gegenstand des Denkens
und also als Gegenständlichkeit gegeben – und deshalb ist das
Korrelat der res cogitans dann auch die res extensa, das Objekt
eines Subjekts.
Mehr noch : Descartes braucht einen Gott, um der Falle
des Solipsismus, die in seinem Ansatz liegt, zu umgehen und
die Vermittlung des Ich zur Welt wiederherzustellen : Nicht die
Objektivität der Welt (um deren gesichertes wissenschaftliches
Wissen es ihm doch eigentlich geht) ist denknotwendig, son­
dern notwendig ist vielmehr die Vorstellung eines Gottes, der
kein deus malignus, kein bösartiger und täuschender Gott sein
kann und so die Brücke zwischen Ich und Welt wiederherstellt.
Weil nun aber die Klassizität des cartesianischen Ansatzes
darin besteht, die beiden Grundanliegen der Moderne – die Be­
gründung der mathematischen Naturwissenschaft und die Be­
gründung aller Weltverhältnisse aus dem Subjekt – in der Zwei­
substanzenlehre konzentriert auszudrücken, musste es Leib­
niz vor allem darum gehen, sich gegen Descartes abzugrenzen,
um eine eigene Antwort auf diese beiden philosophischen
Grundprobleme der Epoche zu geben. In einem kleinen Text
über den Begriff der Substanz, der im Umkreis des Neuen Sys­
tems steht, hat Leibniz diese kritische Distanz zu Descartes, die
sich durch sein ganzes Denken zieht, klar ausgesprochen : Er
habe zwar »einiges Hervorragendes vorgetragen«, aber fälsch­
lich »behauptet, daß die Natur der körperlichen Substanz ­
­in der Ausdehnung bestehe, und hat von der Einheit von Kör­
37
per und Seele keine stichhaltigen Begriffe gehabt, wofür der
Grund darin lag, daß er die Natur der Substanz im Ganzen

Das neue System


nicht erkannte« (W I, 197).
Genau um die hier bezeichneten Probleme geht es im Neuen
System, und das Fragment über die Substanz versäumt nicht, im
Rückgriff auf Aristoteles und seinen Begriff der Entelechie das
von Descartes nicht gesehene Wesen der Substanz anzugeben,
das in der Metaphysik von Leibniz dann entwickelt wird : Es ist
»der Begriff der Kräfte«, der »zur Erkenntnis des wahren Begriffs
der Substanz beiträgt« ; der »letzte Grund der Bewegung in der
Materie« ist nicht mechanisch zu verstehen, sondern als »ein­
geprägte Kraft, die in jedem Körper ist«. Weiter heißt es, »daß
dieses Vermögen zu handeln in jeder Substanz ist und daraus
immer irgendeine Wirksamkeit entsteht« (W I, 199). Substanz
ist also nicht träge bzw. passive Ausdehnung, s­ ondern Leibniz
bestimmt sie in Anlehnung an den Entelechiebegriff von Aris­
toteles als tätige Kraft. Diese Kraft, die in jeder individuellen
Substanz steckt, ist der Ausgangspunkt des Philosophierens
von Leibniz, und die Wechselwirkung aller dieser ­Substanzen
strukturiert das Ganze des Universums. Diesen Gedanken ent­
wickelt die Metaphysik von Leibniz in seinen Aspekten und
Konsequenzen.
Die Substanz als Kraft bildet so auch den Ausgangspunkt
des Neuen Systems. Leibniz leitet seine Ausführungen mit dem
Gedanken der Komplementarität von Wissenschaft und Meta­
physik ein. Wieder wird festgehalten, dass der physikalische
Begriff der ausgedehnten Masse durch den metaphysischen Be­
griff der Kraft ergänzt werden muss, weil es »unmöglich ist, die
Prinzipien einer wahren Einheit in der Materie allein oder in dem zu
finden, was nur passiv ist« (W I, 203 f.). Um diesen Gedanken
zu artikulieren, führt Leibniz die Unterscheidung von mathe­
matischen und metaphysischen Punkten ein : ­Erstere sind »die
äußersten Stellen des Ausgedehnten«, letztere dagegen Kraft­
punkte, die Leibniz auch ›beseelte Punkte‹ bzw. substantielle For­
38
men nennt : »So fand ich, daß ihre Natur in der Kraft besteht
und daß sich daraus etwas der Empfindung und dem Begehren
Leibniz und das Problem der Metaphysik

Analoges ergibt und daß man sie also entsprechend dem Be­
griff verstehen muß, den wir von den Seelen haben. […] Aristote­
les nennt sie die ersten Entelechien und ich nenne sie vielleicht ver­
ständlicher ursprüngliche Kräfte, die nicht nur die Wirklichkeit (den
Akt) oder die Ergänzung der Möglichkeit, sondern auch eine ur­
sprüngliche Wirksamkeit (Aktivität) enthalten« (W I, 205 f.).
Letztlich geht es also darum (das deutet der Bezug auf Aris­
toteles an), den Unterschied von toter Materie und lebendigem
Sein hervorzuheben. Wir werden später noch detaillierter se­
hen, dass Leibniz diese Lebendigkeit in ihrer graduellen Abge­
stuftheit begreift, also keine grundsätzliche Trennung von Kör­
per und Seele voraussetzt wie Descartes, sondern im Gegenteil
von ihrer untrennbaren Einheit ausgeht. Das Ich ist jedoch die
höchste Stufe des Lebendigen, weil es die reflexive Beziehung
des Lebens auf sich selbst bedeutet : »Darüber hinaus gibt es
vermittels der Seele oder Form eine wahre Einheit, die dem
entspricht, was man in uns das Ich nennt. […] Es gibt nur subs­
tantielle Atome, das heißt die wirklichen und von Teilen voll­
kommen entblößten Einheiten, die die Quellen der Tätigkei­
ten und die ersten absoluten Prinzipien der Zusammensetzung
der Dinge und gleichsam die letzten Elemente der Analyse der
substantiellen Dinge sind. Man könnte sie metaphysische Punkte
nennen : sie haben etwas Lebendiges, eine Art Perzeption, und die
mathematischen Punkte sind ihre Gesichtspunkte, um das Univer­
sum auszudrücken« (W I, 215). Weil Tätigkeit immer Wirken
auf etwas bedeutet, hat die individuelle Substanz mit der ur­
sprünglichen Kraft auch ihr Wirken auf Anderes und also die
Beziehung zum Anderen in sich. Als Perzeption bzw. Wahrnehmung
reflektiert die individuelle Substanz das Wirken Anderer auf
sich, so dass man sagen kann, dass jede Substanz die Einheit
von Wirken und Leiden, von aktiver und passiver Kraft ist. Das
Système nouveau nennt das den ›Verkehr‹, das heißt die wechsel­
39
seitige Beziehung jeder individuellen Substanz zu allen ande­
ren Substanzen. Das wesentliche In-Beziehung-Sein der Sub­

Das neue System


stanz ist folglich unmittelbar abgeleitet aus der ursprünglichen
Kraft, die sie charakterisiert.
Das Ich ist deshalb die ›wahre Einheit‹ dieses Zusammen­
hangs, weil es ihn bewusst reflektiert. Außerdem darf man
annehmen, dass Leibniz dieses Ich auch deshalb so promi­
nent hervorhebt, um seine Philosophie nachdrücklich in den
Kontext der Moderne zu stellen, die eben seit Descartes vom
denkenden Subjekt ausgeht – aber auch, um die Unterschiede
gegenüber Descartes deutlich hervortreten zu lassen. Wie ge­
sagt : Leibniz’ Ich ist kein ort- und weltloses reines cogito ohne
Verbindung zum Körper, sondern im Gegenteil reflexiver Aus­
druck der Wahrnehmung des Universums von einem bestimm­
ten Ort aus. Wenn Leibniz vom mathematischen Punkt als
›Gesichtspunkt‹ des metaphysischen Punktes spricht, meint
er damit den grundsätzlichen Perspektivismus, der in seiner
philo­sophischen Position begründet ist.
Jede Substanz spiegelt das Universum von dem Ort im Raum
aus, an dem sie sich befindet und der sie individuiert : das Uni­
versum ist ein Multiversum individueller points de vue. Der Titel
für diese Einheit des Vielen als Beziehungseinheit aller Wech­
selwirkungen der Kräfte ist bei Leibniz der Begriff der Harmo­
nie : »Das Ich, die eigentliche Einheit, ist ideeller Natur und
›spiegelt‹ in ihren Wahrnehmungen, den ›Perzeptionen‹, das
ganze Universum. […] Zugleich besteht aber das Universum
aus nichts anderem als den Monaden, sodass beide Formen
von Harmonie, die des Individuums als Einheit der Perzeptio­
nen und die der Welt als Einheit der geschaffenen Sub­stanzen,
sich wechselseitig konstituieren« (Poser 2005, 32). Der Begriff
der Monade kommt zwar im Neuen System noch nicht vor, ist
aber der Sache nach schon antizipiert. Auch die »Einheit von
Leib und Seele muss deshalb hochkomplex als eine Vielheit in
mannigfachen Bezügen zu sich und zu den anderen Individuen
40
gedacht werden« (ebd., 33).
Wenden wir uns nun dem zweiten Aspekt, dem ›Verkehr‹
Leibniz und das Problem der Metaphysik

der Substanzen zu. An dieser Stelle, der Verhältnisstruktur der


Substanzen, nämlich »hatte Descartes das Spiel […] aufgege­
ben« (W I, 217). Leibniz geht es darum, dass Handeln und Lei­
den eine Einheit bilden, die im Wesen des In-Beziehung-Seins
selbst liegt. Das Individuum empfängt nie rein passiv etwas von
außen, sondern das Empfangen ist immer von der Spontanei­
tät des Tuns begleitet. Das macht »ihren individuellen Charak­
ter« aus : »Das bewirkt nämlich, daß, da jede dieser Sub­stan­
zen das ganze Universum auf ihre Weise und gemäß einem
bestimmten Gesichtspunkt genau ausdrückt«, eine jede von ih­
nen »wie in einer Welt für sich« existiert (W I, 219). S­ päter wird
Leibniz das die so oft missverstandene ›­Fensterlosigkeit‹ der
Monade nennen : Sie meint wesentlich schon an dieser Stelle
die Einheit der individuellen Wechselwirkungs­beziehung jeder
Substanz ; sie ist Ausdruck ihrer Beziehung zum Ganzen und
Perspektive auf das Ganze.
Spontaneität im Zusammenhang der Beziehungen, die Ein­
heit von Autonomie im und Abhängigkeit vom Ganzen ist es
also, was die Individualität der Vielen ausmacht, die d ­ ieses
Ganze bilden. Das ist das Problem der Metaphysik, wie es sich
für Leibniz darstellt. Die Beziehung ist der Substanz immanent,
und bei diesem Gedanken schließt sich der Kreis der kom­
plementären Einheit von Naturwissenschaft und ­Metaphysik.
Nichts kann die »absolute Bewegung […] mathematisch be­
stimmen, weil alles sich durch Beziehungen definiert« (W I,
225). Das ist der Grundgedanke der Leibnizschen physika­
lischen Dynamik, aber eben auch seiner Metaphysik : Es ist die

»in jeder Substanz der Welt von vorn herein geregelte


gegenseitige Beziehung, die das hervorbringt, was wir
ihren Verkehr nennen, und die einzig und allein die Ver­
bindung von Seele und Körper ausmacht. […] Diese H ­ ypothese
41
ist wohl möglich. Denn warum sollte Gott nicht von vorn­
herein der Substanz eine Natur oder innere Kraft v­ erleihen

Discours de Métaphysique : Der vollständige Begriff der individuellen Substanz


können, die in ihr gemäß einer Ordnung (wie in einem
geistigen oder formalen Automaten, der aber in dem frei ist, des­
sen Teil die Vernunft ist) alles das hervorbrächte, was ihr
zustößt«.  (W I, 221)

Dieses Zitat drückt in nuce den Grundgedanken des Systems


von Leibniz aus : wechselwirkende innere Kräfte, die in ihrer Be­
ziehungseinheit eine Ordnungsstruktur bilden, die wir Totalität
nennen können. Diesem Gedanken müssen wir weiter nach­
gehen : zunächst seiner Entwicklung in den metaphysischen
Hauptschriften, dann seinem Schicksal in der Rezeptionsge­
schichte und schließlich seiner Bedeutung für die politische
Philosophie.

Discours de Métaphysique : Der vollständige


Begriff der individuellen Substanz
Etwa zehn Jahre vor dem Système nouveau hatte Leibniz 1686 im
Discours de Métaphysique die erste zusammenhängende Darstel­
lung seiner Philosophie niedergeschrieben. Diese Schrift ist,
wie gesagt, erst im 19. Jahrhundert posthum ­veröffentlicht wor­
den und war damit der gesamten Rezeption von der Aufklä­
rung bis Hegel unbekannt. Das ist deshalb besonders schade,
weil dieser Text den vollständigen Begriff der Substanz von
Leibniz enthält, der dann in den späten Vermächtnisschriften
im Begriff der Monade seine abschließende und reife Gestalt
finden wird. Es soll nun auf dieses erste Dokument des syste­
matischen Denkens bei Leibniz zurückgegangen werden, um
Elemente auszumachen, die gegenüber der sehr auf Klarheit
der Darstellung gerichteten Diktion im Neuen System zusätz­-
­liche Aspekte freilegen, die dann zur ausgereiften Gestalt des
42
Systems führen können.
Anlass der Niederschrift des Discours war Leibniz’ Ausein­
Leibniz und das Problem der Metaphysik

andersetzung mit dem der theologischen Richtung des Janse­


nismus angehörenden Philosophen Antoine Arnauld. Hinter­
grund ist die konfessionspolitische Absicht von Leibniz, eine
Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen vorzuberei­
ten. Er möchte Arnauld mit dem Discours einen Abriss seiner
metaphysischen Position geben, um die Diskussion vorzube­
reiten. Für eine eingehende und detaillierte Interpretation des
Textes, die hier nicht unsere Absicht sein kann, müsste der
umfangreiche Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld he­
rangezogen werden. Für unseren Zweck, die Rekonstruktion
des Substanzbegriffs und seiner Implikationen kann dieser As­
pekt vernachlässigt werden.
Immerhin sollte man den Entstehungshintergrund im Kopf
haben, denn er bestimmt den Argumentationsgang wesentlich
mit : Der Discours setzt nicht wie das Système nouveau mit dem
Substanzbegriff, sondern mit dem Gottesbegriff ein. Dieser
Einsatz ist für die Argumentation Arnauld gegenüber natür­
lich wesentlich, für unseren Zusammenhang jedoch können
die ersten sieben Paragraphen ausgeblendet werden. Denn
um den philosophisch-systematischen Kern des Textes freizu­
legen, muss man die Argumentation aus dem theologischen
Kontext lösen. Das heißt nicht, dass es diese Dimension nicht
gibt oder sie unwichtig wäre, sondern dass sie für die Rekons­
truktion des Substanzbegriffs nicht wesentlich ist. Auf den
von theologischen Rücksichten unabhängigen philosophischen
Gottesbegriff werden wir im Zusammenhang der späten Ver­
mächtnisschriften zurückkommen.
Der Begriff der individuellen Substanz wird eingeführt, um den
Unterschied zwischen göttlichem und geschöpflichem Han­
deln aufzuklären. Um jedoch diese Klärung leisten zu können,
muss man wissen, »was eine solche Substanz ist«. Und genau
hier kommt es zu der vollkommen neuartigen Bestimmung,
43
die Leibniz dem Substanzbegriff gibt :

Discours de Métaphysique : Der vollständige Begriff der individuellen Substanz


»Man muß also überlegen, was wahrhaft einem bestimm­
ten Subjekt zugeschrieben wird. Nun steht fest, daß jede
wahre Aussage eine Grundlage in der Natur der Sache hat,
und wenn ein Satz nicht identisch ist, das heißt, wenn
das Prädikat nicht ausdrücklich im Subjekte enthalten ist,
so muß es darin virtuell enthalten sein, und das nennen
die Philosophen in-esse (In-Sein), indem sie sagen, daß das
Prädikat im Subjekt ist. So muss der Subjektsbegriff immer
den des Prädikats in sich schließen, derart, daß derjenige,
der den Begriff des Subjekts vollständig verstünde, auch
urteilen würde, daß das Prädikat ihm zugehört. Da dies so
ist, können wir sagen, daß die Natur einer individuellen
Substanz oder eines vollständigen Wesens darin besteht,
einen so erfüllten Begriff zu haben, daß er z­ ureichend ist,
um alle Prädikate des Subjekts, dem dieser B ­ egriff zuge­
schrieben wird, zu verstehen und daraus abzuleiten.« ­
­ (W I, 75)

An dieser Stelle mag zunächst irreführend sein, dass Leibniz


seinen Gedanken in der Form eines logischen Lehrsatzes (prae­
dicatum inest subiecto) vorträgt. Eine solche logische Theorie gibt
es bei Leibniz durchaus, aber die Formel wird hier nicht als
logische, sondern als ontologische Bestimmung eingeführt –
denn Leibniz spricht ja von der Bestimmung des Wesens der
individuellen Substanz und ihrem Subjektcharakter. Sub­stanz
ist ihrer aristotelischen Grundbestimmung nach Träger von
Eigenschaften (logisch gesprochen : ›Zugrundeliegendes‹, d. h.
subiectum, dem Prädikate zukommen). Nun konnte man sehen,
dass Leibniz Substanz vom Kraftbegriff her bestimmt, also
als ein Wirken, das seine Bestimmungen aus sich selbst her­
vorbringt. Es gibt Eigenschaften, die noch nicht ausdrücklich
(will sagen : tatsächlich verwirklicht), aber sehr wohl ›virtuell‹,­
44
­ also der Möglichkeit nach im Subjekt sind. Das ›In-Sein‹ der
Prädikate meint dann in einem ontologisch strengen Sinn,
Leibniz und das Problem der Metaphysik

dass das Subjekt alles Wirkliche und Mögliche als Einheit im­
mer schon in sich enthält, weil es als Kraft Grund dieser Ein­
heit von Wirklichkeit und Möglichkeit ist.
Der vollständige Begriff der individuellen Substanz ist folg­
lich das unabgeschlossene und auch unabschließbare Ganze
wirklichen und möglichen Seins des Subjekts : ein Grenzbe­
griff für Vollkommenheit, wobei man, um Missverständnisse
zu vermeiden, sagen muss, dass Leibniz darunter immer einen
Grad der Vervollkommnung, also letztlich eine Steigerung der
eigenen Realität versteht. Mit anderen Worten : »Das Indivi­
duum ist gekennzeichnet durch seinen vollständigen Begriff der
individuellen Substanz. Dieser Begriff ›schließt alle ihre vergan­
genen, gegenwärtigen und zukünftigen Prädikate ein‹« (Poser
2005, 125).
Nun ist die individuelle Substanz auch ein In-Sein in dem
Sinn, dass sie in der Welt und ihrem Beziehungszusammen­
hang steht. Insofern bedeutet die logische Formel praedica­
tum inest subiecto in der ontologischen Übertragung des Discours
auch die These universeller Vermittlung des Individuellen mit
dem Ganzen. Jedes Einzelne drückt das Ganze aus, denn einer­
seits ist das Subjekt in der Welt (in ihr enthalten), andererseits
ist die Welt in jeder individuellen Substanz enthalten, indem
diese sie aus ihrer Perspektive darstellt und ausdrückt. Das
Ganze ist gar nicht anders gegeben als in der perspektivischen
Darstellung, der repraesentatio mundi als Ausdruck des Ganzen
in jedem seiner individuellen Teile.
Diesen Zusammenhang, dass »jede einzelne Substanz das ganze
All auf ihre Weise ausdrückt« (W I, 77), wie es in der Zusammenfas­
sung, die Leibniz für Arnauld geschrieben hat, heißt, stellt der
Fortgang der Argumentation klar : denn die angegebene Struk­
tur bedeutet, dass der Ort des Ausdrucks des Ganzen die Sub­
stanz individuiert und »es nicht wahr ist, dass zwei Substanzen
45
sich gänzlich gleichen und solo numero (allein der Zahl nach)
verschieden sind.« Und dann führt Leibniz, um diesen Zusam­

Discours de Métaphysique : Der vollständige Begriff der individuellen Substanz


menhang evident zu machen, die Spiegel-Metapher ein : »Zu­
dem ist jede Substanz wie eine ganze Welt und wie ein Spiegel
Gottes oder vielmehr des ganzen Alls, das jede auf ihre Weise
ausdrückt, etwa so, wie ein und dieselbe Stadt sich gemäß der
verschiedenen Standorte dessen, der sie betrachtet, darstellt.
So wird das All auf gewisse Weise ebenso oft vervielfältigt, wie
es Substanzen gibt« (W I, 77 f.).
Die Spiegel-Metapher wird in den späten Schriften noch ge­
nauer gefasst, nämlich im Begriff der Monade als lebendigem
Spiegel (wir kommen darauf zurück). An dieser Stelle kontu­
riert die Metapher der Stadt, auf die man aus verschiedenen
Standorten schaut, den Perspektivismus von Leibniz, der streng
metaphysisch aus dem ontologischen Grundkonzept hervor­
geht : Jedes Einzelne reflektiert das Ganze von seinem Stand­
ort in der Welt – und stellt damit eine einzigartige und unver­
wechselbare Sicht auf sie dar. Der Perspektivismus beinhaltet
jedoch noch einen anderen Aspekt des In-Seins, der zu einem
neuen Weltbegriff und einem gänzlich neuartigen Verständnis
von Totalität führt : Die Welt ist prinzipiell nie wie von außen
als Ganzes gegeben (das wäre in der Tat schlechte Metaphysik,
die Kant zurecht kritisiert hat). Sie ist immer nur aus inner­
weltlicher Perspektive gegeben, also zwar Ausdruck des Gan­
zen, aber doch nur in perspektivischer Brechung. Tota­lität wird
dann zu einem transempirischen, d. h. nicht in der Erfahrung
gegebenen, ihr aber auch nicht widersprechenden Begriff des
Ganzen als Einheit aller innerweltlichen Wechselwirkungen
dieser perspektivischen Ausdrucksformen.
Das führt Leibniz zu der schönen Formulierung, »daß jede
Substanz gleichsam eine Welt für sich ist« (W I, 95). Es ist die
Perspektive, die sie zu etwas Individuellem macht : »Obgleich
nun alle die gleichen Erscheinungen ausdrücken, sind darum
doch ihre Ausdrucksinhalte nicht vollkommen gleich, sondern
46
es genügt, daß sie proportional sind ; wie wenn mehrere Zu­
schauer glauben, dasselbe zu sehen und sich in der Tat unter­
Leibniz und das Problem der Metaphysik

einander verstehen, obwohl jeder auf seine Weise gemäß sei­


ner Perspektive spricht« (W I, 95). Das ist gegenüber der Solip­
sismusgefahr des reinen cogito bei Descartes eine Position, die
die vielen Sichtweisen in einer gemeinsamen und geteilten Welt
akzentuiert : denn im Begriff der Perspektive steckt, dass Viele
sich auf Eines beziehen. Pluralität ist nicht mit der Beliebigkeit
des Pluralismus zu verwechseln : Leibniz formuliert sehr deut­
lich, »daß das, was für den einen das Besondere, für alle das
Gemeinsame ist. Andernfalls gäbe es keine Verbindung« (W I,
97). Aber genau um diesen substantiellen Zusammenhang der
Vielen und nicht um ihre atomistische Zerstreuung geht es der
Metaphysik von Leibniz.
Ein weiteres Motiv, das gegenüber dem Neuen System im Dis­
cours pointierter ausgeführt wird, ist die essentielle Einheit von
Handeln und Leiden. Dieser Aspekt wird uns im Zusammen­
hang einer politischen Theorie der Kompossibilität in ihren
Konsequenzen am Ende dieses Buches noch eingehend be­
schäftigen. Leibniz hält fest, »daß die Substanzen sich gegen­
seitig behindern oder begrenzen, und folglich kann man in
diesem Sinne sagen, daß sie aufeinander einwirken und sozu­
sagen genötigt sind, sich einander anzupassen. Denn es kann
geschehen, daß eine Veränderung, die den Ausdrucksinhalt
der einen vermehrt, den der anderen vermindert« (W I, 101).
Diese Verschränkung von Handeln und Leiden ist ein metaphy­
sischer Grundgedanke von Leibniz, der sich aus den ­beiden
Grundaussagen über die individuelle Substanz, nämlich ihre
Bestimmung als Kraft und als In-Beziehung-Sein, notwendig
ergibt.
Josef König hat diesen Grundgedanken in folgende sehr
treffende Worte gefasst : »Der Unterschied von Tun und ­Leiden
hat seinen metaphysischen Ursprung im Tun selber« (König
1978, 38). Und zwar deshalb, weil sich die Substanzen ein­
47
schränken, indem sie alle mehr oder weniger tätig sind. Han­
deln ist Grund für Leiden, Autonomie und Abhängigkeit bil­

Discours de Métaphysique : Der vollständige Begriff der individuellen Substanz


den einen unauflösbaren Zusammenhang, der durch den Um­
stand charakterisiert ist, dass alles mit allem irgendwie in
Beziehung steht. Indem wir handeln, uns entwickeln und ver­
wirklichen, schränken wir notwendig andere Entwicklung ein.
In demselben Sinn jedoch wirkt das Handeln Anderer begren­
zend auf mich. Freiheit und Abhängigkeit sind zwei Seiten
einer Medaille – diese metaphysische Grundeinsicht von Leib­
niz wird ihn zum Begriff der Kompossibilität führen, nicht in
einem logischen Sinn (zwei Aussagen sind kompossibel, also
zugleich möglich, wenn sie sich nicht widersprechen), son­
dern als ontologische Bestimmung : Wenn alle individuellen
Substanzen wesentlich dadurch charakterisiert sind, dass sie
handeln und handelnd aufeinander wirken, muss das Handeln
möglichst so gestaltet werden, dass sie sich nicht ausschlie­
ßen, sondern zugleich handeln und sich entwickeln können.
Aus einer metaphysischen Einsicht erwächst die politisch-nor­
mative Forderung, eine Ordnung zu schaffen, die möglichst
viele Entwicklungsmöglichkeiten zugleich gestattet. Wir wer­
den darauf zurückkommen.
Leibniz hat den Zusammenhang zum Problem der Freiheit
selbst explizit gemacht :
»So schafft Gott allein die Verbindung oder Kommunika­
tion der Substanzen und durch sie geschieht es, daß die
Erscheinungen der einen mit denen der anderen sich tref­
fen und übereinstimmen und daß es folglich in u ­ nseren
Perzeptionen etwas Wirkliches gibt. […] Man sieht auch,
daß jede Substanz eine vollkommene Spontaneität hat
(die in den intelligenten Substanzen zur Freiheit wird),
daß alles, was ihr zustößt, eine Folge ihrer Idee oder ihres
Seins ist und daß nichts sie bestimmt außer Gott allein.« ­
­ (W I, 151)
48

Das Problem der Metaphysik ist die Begründung dieser Freiheit, al­
Leibniz und das Problem der Metaphysik

lerdings nicht in einem abstrakten Sinn, sondern als im Ord­


nungszusammenhang des Ganzen wohlbegründete Freiheit.
Das konstituiert den Zusammenhang von Metaphysik und Poli­
tik, dem im letzten Kapitel näher nachgegangen werden soll.

Das Konzept der Monade

Leibniz fasst in den Spätschriften alle Bestimmungen, die wir


bisher rekonstruiert haben, in dem Begriff zusammen, für den
er berühmt geworden ist : dem Begriff der Monade. Hier bekom­
men die metaphysischen Grundgedanken ihre abschließende ­
­und ausgereifte Gestalt. Zuerst nimmt Leibniz diese Identifi­
zierung von Substanz und Monade in Principes de la nature et de
la grâce, fondés en raison vor : »Die Substanz ist ein Seiendes, das
der Handlung fähig ist. Sie ist einfach oder zusammengesetzt.
Die einfache Substanz ist diejenige, die keine Teile hat. Die zusam­
mengesetzte ist die Ansammlung einfacher Substanzen oder Mo­
naden. Monas ist ein griechisches Wort, das die Einheit oder das,
was eines ist, bedeutet« (W I, 415).
Leibniz akzentuiert gegenüber den vorangegangenen
Schriften mit dem Begriff der Monade den Aspekt der Einheit,
und zwar dergestalt, dass diese Einheit gerade im Kleinsten,
Unteilbaren, Irreduziblen gesucht wird und nicht im Ganzen,
das vielmehr als aus diesen kleinsten Einheiten Zusammenge­
setztes aufgefasst wird. Die Einheit des Ganzen oder die To­
talität ist die Beziehungseinheit der Wechselwirkungen dieser
Monaden als der eigentlichen Einheiten, aus denen das Uni­
versum zusammengesetzt ist. Durch diese prinzipielle Zusam­
mengesetztheit des Naturganzen entsteht der Gedanke, durch
den Leibniz sich vom dualistischen Weltbild von Descartes ab­
grenzt : Die Natur macht keine Sprünge, alles in ihr ist gradu­
49
ell abgestuft aufgebaut, weil ursprünglich zusammengesetzt.
So wird der Geist nicht von der Natur getrennt, sondern als ihr

Das Konzept der Monade


reflexiver Ausdruck gedeutet : »Die Wesen, bei denen man sol­
che Schlußfolgerungen nicht feststellen kann, werden Tiere
genannt ; diejenigen aber, die diese notwendigen Wahrheiten
kennen, sind im eigentlichen Sinne jene, die man Vernunft­wesen
nennt, und ihre Seelen heißen Geister. Diese Seelen sind in der
Lage, reflexive Akte zu vollziehen« (W I, 423).
Auch in den Prinzipien sind es die Handlungen, die die Mo­
naden individuieren : »In der Natur ist alles angefüllt. Es gibt
überall einfache Substanzen, die tatsächlich durch eigene
Handlungen voneinander geschieden sind und die dauernd
ihre Beziehungen zueinander ändern« (W I, 417). Man sieht,
dass der Grundgedanke der individuellen Substanz, Einheit
von Handeln und Leiden in einem Beziehungsgefüge zu sein,
sich durchhält. Leibniz nennt das jetzt in den Prinzipien und
auch in der Monadologie Perzeption und Strebung, und spricht
auch direkt von ›Beziehungen‹ statt von ›Verkehr‹. Das sind je­
doch begriff‌liche Präzisierungen eines und desselben Grund­
gedankens, den Leibniz nun in eine ebenfalls sehr genaue
Metapher für dieses Ganze der Struktureinheit der Monaden
fasst. Er drückt es in dem Bild vom lebendigen Spiegel aus, näm­
lich »daß jede Monade ein lebendiger Spiegel oder mit innerer
Handlung ausgestattet ist, daß sie das Weltall gemäß ihrem
Gesichtspunkt darstellt und ebenso geregelt ist wie das All
selbst« (W I, 417).
Was bedeutet diese Rede vom lebendigen Spiegel ? Die Be­
deutung der metaphorischen Lizenz der Lebendigkeit des Spie­
gels (denn Spiegel sind ja nun eigentlich nichts Lebendiges)
gibt das Zitat selbst an : Sie besteht im inneren Handeln der
Monade. Welche Struktur jedoch bezeichnet die Rede vom Spie­
gel überhaupt ? Sie drückt ein Seinsverhältnis aus : Ein Spiegel ist
ein Seiendes, ein Ding unter anderen Dingen, das jedoch da­
durch charakterisiert ist, ein Bild des anderen Dinges in sich zu
50
tragen. Das bedeutet : Der Spiegel enthält ein Bild seines Ver­
hältnisses zum Anderen, und dieses Bild drückt das Verhältnis
Leibniz und das Problem der Metaphysik

aus, indem es den Charakter bzw. die Struktureigentümlich­


keit dieses Seinsverhältnisses zeigt bzw. sichtbar macht. Die Spie­
gelung drückt die Perspektivität des virtuellen Bildes aus, denn je­
der Spiegel spiegelt sein Anderes von dem Ort und deshalb aus
der Perspektive heraus, an dem er im Ganzen steht.
Insofern ist Leibniz’ Rede vom Spiegel eine sehr exakte
Metapher für das Ganze seines Grundgedankens : Die Monade
enthält das Ganze in der Weise eines Bildes, das ihr Verhältnis
zum Ganzen perspektivisch ausdrückt. Das ist auch der Sinn
der berühmten ›Fensterlosigkeit‹ der Monade : Die Spiegelung
bedeutet nicht die Verdoppelung einer von außen ›hereinkom­
menden‹ Realität im Spiegelbild, sondern perspektivische Re­
flexion dieses Wirklichen von einem Ort und – hier entspringt
die Relevanz der Lebendigkeit des Spiegelns – durch eine Ge­
richtetheit auf diese Wirklichkeit. In der Monadologie wird die
Metapher des lebendigen Spiegels auf ihre metaphysische Kon­
sequenz hin akzentuiert, nämlich dass der in ihr ausgespro­-
­chene Grundgedanke einen universellen Vermittlungszusam­
menhang aller mit allen bedeutet : »Diese Verknüpfung nun
oder diese Anpassung aller erschaffenen Dinge an jedes ein­
zelne von ihnen und jedes einzelnen an alle anderen bewirkt,
daß jede einfache Substanz in Beziehungen eingeht, die alle
anderen ausdrücken und daß sie folglich ein dauernder leben­
diger Spiegel des Universums ist« (W I, 465).
Die Monadologie führt diesen Begriff der Monade nochmals
aus und fügt der Spiegelmetapher, die zur Erhellung der mo­
nadischen Struktur des Weltganzen eingeführt wird, eben die­
ses Bild der Fensterlosigkeit hinzu : »Die Monaden haben keine
Fenster, durch die irgendetwas in sie hinein- oder aus ihnen
hinaustreten könnte. […] So kann weder Substanz noch Ak­
zidenz von außen in eine Monade eingehen« (W I, 441). Sie
trägt, wie schon entwickelt, nicht nur alles was sie ist in sich,
51
sondern auch alles, was ihr zustößt : denn beides resultiert aus
ihrem eigenen tätigen Streben und Wirken auf Anderes und

Das Konzept der Monade


ist so Ergebnis der Beziehungen, denen die Monade durch ihr
eigenes Handeln Struktur gibt. Anders ausgedrückt : »Das Ein­
zelseiende ist das, was es ist, nur dadurch, dass das Ganze der
Welt die notwendige und zureichende Bedingung seines ein­
zelnen Seins ist. […] Das Einzelne ist immer schon die Mani­
festation des Ganzen. Folglich bedarf es keiner Fenster, um An­
deres mit der Substanz in Beziehung zu setzen, sie ist ja selbst
dieses andere, wenn auch spiegelbildlich« (Holz 1992, 113). Mit
der Fensterlosigkeit der Monade will Leibniz sagen, dass sie
durch nichts von außen auf sie wirkendes Einzelnes und Iso­
lierbares bestimmt wird, sondern immer durch die Wechselwir­
kung mit dem Ganzen. Die Monade ist fensterloser Ausdruck­
­dieses Ganzen im perspektivischen, von ihrem individuellen
Ort aus geschehenden Wechselspiel ihres Wirkens auf den Zu­
sammenhang und ihres dadurch mitbestimmten Bewirktseins
durch diesen Zusammenhang. Das heißt, die Monade ist im­
mer schon in Verbindung und deshalb fensterlos, weil sie nicht
erst in Verbindung treten muss.
Ein wirklich gegenüber den bisher behandelten metaphy­
sischen Haupt- und Programmschriften neues Element der
­Monadologie ist die am Ende dieser Schrift entwickelte Prin­
zipienlehre. Dabei ist zu beachten, dass die Monadologie als
das philosophische Testament von Leibniz angesehen werden
muss : Beinahe telegrammartig fasst er die Grundprinzipien
seiner Philosophie zusammen. Ortega y Gasset hat in seinem
Leibnizbuch insgesamt eine Liste von zehn Prinzipien ausge­
macht (1966, 14 f.) Die Monadologie gibt lediglich die zentra­
len Prinzipien des Rationalismus von Leibniz an : das Prinzip
des Widerspruchs und des zureichenden Grundes, und wei­
ter ebenso fundamentale Grundprinzipien seiner Metaphysik,
nämlich die Unterscheidung von Tatsachenwahrheiten und
Vernunftwahrheiten und das Prinzip des Besten (W I, 453 ff.)
52
Nimmt man den ontologischen (also den philosophisch und
nicht theologisch begründeten) Gottesbegriff und die Idee der
Leibniz und das Problem der Metaphysik

universellen Harmonie hinzu, die am Ende des Textes ange­


sprochen werden, so hat man die Kernaussagen der Philoso­
phie von Leibniz beisammen.
Das Prinzip des Widerspruchs ist eine Wiederaufnahme des
Grundgedankens der aristotelischen Logik vom ausgeschlos­
senen Dritten. Wir müssen, um etwas denken zu können, die­
ses Etwas als Identität festhalten (A = A). Da man ohne dieses
Prinzip nicht denken und also auch nichts beweisen könnte, ist
es ein selber unbeweisbares Grundprinzip (wie übrigens auch
die Erfahrungsevidenz der Varietät, nämlich dass Mannigfalti­
ges von mir wahrgenommen wird). Beide Prinzipien, n ­ ämlich
dass nur Identisches wahr sein kann und dass eine Pluralität
von Erscheinungen von mir wahrgenommen wird (varia a me
percipiuntur), sind selber unbeweisbare Voraussetzungen ratio­
nalen Denkens. Ohne sie ist Erkenntnis nicht möglich. Auch
das Prinzip des zureichenden Grundes – nihil sine ratione – zielt
auf die Begründung des rationalistischen Weltbildes der Philo­
sophie : Für einen vernünftigen Begriff der Wirklichkeit muss
vorausgesetzt werden, dass nichts in der Welt grundlos ge­
schieht, d. h. potentiell alles erklärbar ist. Ohne diese Vorausset­
zung wäre es absurd, nach Erklärungen zu suchen und ­Zwecke
zu begründen. Das besagt nicht, dass wir alles wissen, son­
dern dass grundsätzlich alles dem Wissen offensteht : Dass
»Gründe uns oft nicht bekannt sein können« (W I, 453) bedeu­
tet für Leibniz eben gerade nicht, dass es Dinge gibt, die wir
nicht wissen können, sondern bezeichnet den offenen Hori­
zont des Erkenntnisprozesses.
Die Unterscheidung zwischen notwendigen Vernunftwahr­
heiten, die deduktiv eingesehen werden können, und kontin­
genten Tatsachenwahrheiten, die a posteriori der Erfahrung
entspringen, ist eine wesentliche Einsicht des Denkens von
Leibniz : »Die Vernunftwahrheiten sind notwendig und ihr
53
Gegenteil ist unmöglich, und die Tatsachenwahrheiten sind
kontingent und ihr Gegenteil ist möglich« (W I, 453). ­Leibniz

Das Konzept der Monade


nimmt hier eine mittlere Position zwischen dem Rationalis­
mus von Descartes, der nur Vernunftwahrheiten anerkennt,
und dem britischen Empirismus ein, der nur empirische Er­
kenntnisse akzeptiert. Beide Erkenntnisformen in eine wohl­
definierte Einheit zusammenzufassen (also zu unterscheiden,
aber nicht als sich ausschließende Alternativen zu trennen), ist
ein richtungsweisendes Verdienst der Metaphysik von Leibniz.
Schließlich das Prinzip des Besten, das uns sowohl im Zu­
sammenhang des Theodizeeproblems als auch in der Frage
nach der Aktualität des politischen Denkens von Leibniz’ im
Konzept der Kompossibilität noch beschäftigen wird : Dieses
Prinzip besagt, dass im Wechselspiel der Kräfte, die die Mo­
naden darstellen, sich immer die Konstellation von Verwirk­
lichungen und also die Wirklichkeit durchsetzt, die mehr Ver­
wirklichung (in Leibniz’ Terminologie : mehr Vollkommenheit)
gestattet. Kraft ist Möglichkeit, die zur Wirklichkeit drängt. Da
alle Monaden durch ihr Streben (und wir haben gesehen, dass
Handeln immer zugleich Leiden bedeutet) charakterisiert sind,
ist Wirklichkeit immer Wirklichkeit des zugleich Mög­lichen.
Denn wenn Handeln Leiden, d. h. eingeschränktes anderes
Handeln bedeutet, ist Leiden als nicht verwirklichte Möglich­
keit zu handeln definiert.
Wenn man das Prinzip des zureichenden Grundes konse­
quent zu Ende denkt, dann braucht man einen letzten Grund,
der den Nexus der Gründe zusammenhält. Wenn Leibniz
streng philosophisch spricht, dann meint Gott den letzten
Grund : »So muß der letzte Grund der Dinge in einer notwen­
digen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderun­
gen nur in eminenter Weise wie in der Quelle vorkommt, und
diese Substanz nennen wir Gott. […] Man kann auch urteilen,
daß diese höchste Substanz, die einzig, universell und not­
wendig ist, die nichts außer sich hat, was unabhängig von ihr
54
wäre und die eine einfache Folge ihres Möglichseins ist, der­
art beschaffen ist, daß sie keine Schranken haben kann und so
Leibniz und das Problem der Metaphysik

viel Realität enthält, wie irgend möglich ist« (W I, 457). Jenseits


theologischer Bestimmungen und auch Rücksichten ist Gott
streng metaphysisch gesprochen »eine infinitesimale Grenz­
funktion« (Holz 1992, 75) für das Weltganze.
Der universelle letzte Grund, von dem Leibniz spricht (und
von dem er sagt, dass wir ihn ›Gott‹ nennen), ist also synonym
mit dem Strukturganzen der Totalität : denn nicht nur Gott,
sondern auch die Welt selbst als Ganzes kann so gedacht wer­
den, dass sie nichts von ihr unabhängig Seiendes außer ihr
hat und in ihrer Realität die ›Folge ihres Möglichseins‹ ist :
»Weil außer ihm nichts sonst mehr ist, kann das unbedingte
Seiende nur ein einziges sein ; nur eines ist unbedingt, näm­
lich die Welt im ganzen« (ebd., 77). Die Pointe liegt darin, dass
Leibniz anders als Spinoza keinen Pantheismus, also metaphy­
sisch gesprochen nicht die Identität von Gott und Natur be­
hauptet, sondern deutlich macht, dass man theologisch und
philosophisch von Gott reden kann – aber wenn er philosophisch
als ›­letzter Grund‹ gefasst wird, dann ist der Bedeutungsgehalt
ontologisch synonym mit den Bestimmungsmerkmalen des
Weltganzen. Und das wiederum bedeutet : Ich kann das meta­
physische Modell von Leibniz auch ohne Gott denken.
Unabhängig davon, ob dieses Ganze Gott genannt wird oder
nicht, geht es Leibniz um ein Strukturganzes des Zusammen­
hangs der Vielen, das er ›universelle Harmonie‹ nennt : näm­
lich »daß jede Substanz genau alle anderen durch die Bezie­
hungen, die es in ihr gibt, ausdrückt«, um »so viel Mannigfal­
tigkeit wie möglich, jedoch verbunden mit der größtmöglichen
Ordnung zu erhalten« (W I, 465). Wer mag, kann diesen Ord­
nungszusammenhang Gott nennen. Aber das ist nicht denk­
notwendig, denn sie kann auch lediglich die Struktur der Be­
ziehungseinheit des Weltganzen bezeichnen.
Leibniz hat den philosophischen Grundgedanken, den wir
55
rekonstruiert haben, in einer nicht abgesandten Beilage zu
seinem Brief an Remond vom Juli 1714 zusammengefasst. Es

Das Konzept der Monade


handelt sich um eine kurze Darstellung seiner Metaphysik, die
sehr schön die Fähigkeit von Leibniz zeigt, seine Rede dem
jeweiligen Adressaten anzupassen. Alle wesentlichen Aspekte
seiner Philosophie sind in klaren Worten angesprochen :

»Ich glaube, daß das ganze Universum der Geschöpfe


nur aus einfachen Substanzen oder Monaden besteht und
aus Vereinigungen von ihnen. Diese einfachen Substan­
zen sind das, was man in uns und in den Genien Geist
und in den Tieren Seele nennt. Sie alle besitzen Vorstel­
lung [Perzep­tion] (die nichts anderes ist als Darstellung der
Vielheit in der Einheit) und das Streben [Appetition] (das
nichts anderes ist als das Streben von einer Perzeption zur
anderen), das bei den Tieren Trieb und da, wo die Perzep­
tion ein Verstehen ist, Wille genannt wird. Anderes als dies
ließe sich in den einfachen Substanzen und folglich in ­
­der ganzen Natur überhaupt nicht denken. Die Vereini­
gungen sind das, was wir Körper nennen. In dieser Masse
nennt man Materie oder leidende Kraft oder ursprüng­
lichen Widerstand das, was man in den Körpern als Pas­
sivität und überall als gleich betrachtet. Aber die aktive
ursprüngliche Kraft ist das, was man Entelechie nennen
kann, und darin ist die Masse verschieden. Indessen sind
alle diese Körper und alles, was man ihnen zuerkennt,
keine Substanzen, sondern nur wohlbegründete Erschei­
nungen, die bei verschiedenen Beobachtern verschieden
sind, die aber miteinander in Beziehung stehen und von
ein und derselben Grundlage herkommen, vergleichbar
den verschiedenen Erscheinungen ein und derselben Stadt,
die von mehreren Seiten angeschaut wird. Der Raum,
weit davon entfernt, Substanz zu sein, ist nicht einmal ein
Seiendes. Wie die Zeit ist er eine Ordnung, eine Ordnung
56
von miteinander Existierenden, wie die Zeit eine Ordnung
ist unter den Existenzen, die nicht zugleich sind.« ­
Leibniz und das Problem der Metaphysik

­ (W V, 335 f.)
Leibnizrezeption von der
Auf‌klärung bis Hegel 57

Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel


In der Mitte des 18. Jahrhunderts gab es ein Ereignis, das nicht
nur die Erde beben ließ, sondern auch viele der bis dahin gülti­
gen menschlichen Überzeugungen zutiefst erschütterte. Goe­
the hat das in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit ge­
schildert : »Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde
jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten
erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erd­
beben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und
Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken«
(Goethe 1981 a, 29). Dieses Erdbeben legte nicht nur Lissabon
in Schutt und Asche, sondern ließ den Optimismus der Epo­
che ins Wanken geraten. Die ›eingewohnte‹ Welt des Friedens
war das Jahrhundert nach dem Ende des Dreißigjährigen Krie­
ges, und man könnte mit einigem Recht hinzufügen : das Jahr­
hundert von Leibniz. Den ersten Teil dieser Zeit zwischen der
Mitte des 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts hat er selbst
mitgeprägt, und die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts
standen im Zeichen der Frühaufklärung, die in der Rezeption
den damals bekannten Werken positiv gegenüberstand.
Das Erdbeben von Lissabon jedoch zerstörte dieses Ver­
trauen in Gott und die Vorsehung, und Goethe kleidet das Er­
wachen der Epoche aus ihrem naiven Glauben sehr eindrucks­
voll in die Zweifel des jungen Menschen, der er selbst gewe­
sen war :

»Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen muß­


­te, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und
­Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung
des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte,
hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten
gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewie­
58
sen. Vergeblich suchte das junge Gemüt sich gegen diese
Eindrücke herzustellen, welches überhaupt umso weniger
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst


sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzuse­
hen habe, nicht vereinigen konnten.« (Goethe 1981 a, 30 f.)

Das Erdbeben war eine mentalitätsgeschichtliche Wasserschei­


­de des Jahrhunderts, und ganz gewiss war es auch ein Schei­
deweg in der Leibnizrezeption. Denn im Zusammenhang des
Ereignisses entstand die wohl berühmteste Kritik an Leibniz,
die Voltaire auf satirische Weise in seinem Roman Candide oder
der Optimismus vorgetragen hat. Der Roman schildert, wie der
Philosoph Pangloss allen Leiden und schlechten Erfahrungen
zum Trotz unerschütterlich an seinen metaphysischen Grund­
sätzen festhält : »Pangloss lehrte die Metaphysico-theologico-­
cosmologie. Er wies in vortreff‌licher Weise nach, dass es keine
Wirkung ohne Ursache gäbe, daß in dieser besten aller Welten
das Schloß des Herrn Baron das schönste aller Schlösser und
die Frau Baronin die beste aller Baroninnen sei« (Voltaire 1972,
10 f.). Und Candide, der treue Schüler, definiert nach einer
Reihe schlechter Erfahrungen mit der Welt den Optimismus
als »Wahnsinn, zu behaupten, daß alles gut sei, auch wenn es
einem schlecht geht« (ebd., 105). Aber Pangloss hält noch auf
der Galeere an Leibniz fest : »[D]enn schließlich bin ich Philo­
soph, und es ist mir daher unmöglich, meine Worte zu wider­
rufen, umso weniger, als ja Leibniz nicht unrecht haben kann
und es im übrigen nichts Schöneres auf der Welt gibt als die
prästabilierte Harmonie, den erfüllten Raum und die immate­
rielle Substanz« (ebd., 173 f.). Keine freundlichen Worte über
Leibniz, und kein freundlicher Blick auf die Philosophen. Aber
von Voltaire bis Kant mehren sich die kritischen Stimmen zu
Leibniz, auch wenn es nicht die einzigen sind.

59
Das Theodizeeproblem

Das Theodizeeproblem
Voltaires’ Spott bezieht sich auf die Theodizee von der Güte Gottes,
der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, und es muss
nicht betont werden, dass er den Gedanken nicht gerecht wird,
die in diesem umfangreichen Werk niedergelegt sind. Es geht
Leibniz um die Möglichkeit der Übereinstimmung des Glau­
bens mit der Vernunft, ein Problem, das die erste Abhandlung
in umfangreichen Erörterungen diskutiert. Betrachtet man die
Theodizee in einer problemgeschichtlichen Perspektive, also mit
der Frage nach der Aktualität des hier artikulierten Problems
für die heutige Zeit, gehört dieser Aspekt sicher nicht mehr
zu unseren philosophischen Grundfragen, war jedoch durch­
aus wichtig für den Kontext der Entstehung des Werks : Ein­
mal konnte eine Begründung des Glaubens aus Vernunftgrün­
den in konfessionellen Konflikten ausgleichend wirken, zum
anderen galt es, im aufkommenden Zeitalter der Aufklärung
Glaube und Vernunft kompatibel zu machen.
Heute ist das in einer Zeit, die Glauben und Wissen klar
zu unterscheiden weiß, natürlich eine obsolete Fragestellung.
Aber historisch ist diese Schrift in der frühen Aufklärung nach
dem Erscheinen 1710 und der Popularisierung durch Gott­
scheds Übersetzung ins Deutsche bis in die Mitte des Jahrhun­
derts so ungeheuer wirksam geworden, weil sie zeigte, dass die
Welt der Bibel zur neuen, wissenschaftlichen Weltanschauung
nicht im Widerspruch stehen musste. Und weiter ging es da­
rum, mit den Mitteln spekulativer Philosophie zu zeigen, wa­
rum Gott nur die beste aller möglichen Welten wählen konnte.
Hier liegt eine Frage vor, die jenseits des theologischen Hori­
zontes der Epoche als ontologisches Problem auch für unser
Philosophieren noch Aktualität besitzt.
Gleich eingangs der Vorrede macht Leibniz deutlich, worum
es ihm geht : »Zu allen Zeiten hat man die Masse der Menschen
die Gottesverehrung als in Förmlichkeiten bestehend auffassen
60
sehen : die echte Frömmigkeit, d. h. Erleuchtung und Tugend, ist
nie Erbteil der großen Zahl gewesen. […] Wie die wahre Fröm­
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

migkeit in der Gesinnung und im praktischen Handeln besteht,


so sind – dementsprechend – die Förmlichkeiten der Gottesverehrung
von zweifacher Art ; die einen laufen auf zeremonielle Handlungen,
die anderen auf Glaubenssätze hinaus« (W II. 1, 3). Die von Leib­
niz hier gleich im Eingangsstatement explizit gemachte Absicht
ist es, an die Stelle ritueller und dogmatischer Religiosität (der
gegenüber er jedoch, wie wir schon gesehen haben, sehr tole­
rant eingestellt gewesen ist) die moralische Gesinnung und das
Handeln aus Gründen zu setzen. Das machte die Theodizee dann
zur »Bibel der Aufgeklärten« (Hirsch 2000, 463).
Es geht ihm hier wie in seinen ethischen Schriften über­
haupt um sittliche Vervollkommnung des Menschen. Diese
Grundrichtung wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass
das Theodizeeproblem ontologisch die Frage nach den Moda­
litäten (Verhältnis von Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwen­
digkeit) und ethisch das Freiheitsproblem ins Zentrum des
Nachdenkens rückt. Es geht im Kern nicht darum, wie ­Voltaire
meinte, das Übel zu rechtfertigen, sondern um das Problem,
dass theologisch gesprochen Gott und philosophisch gesagt
die ontologische Theorie der Theodizee das Übel zulassen muss,
um den Freiheitsbegriff nicht aufzugeben. Im Grunde vertei­
digt Leibniz in der Theodizee den Gedanken der menschlichen
Freiheit – und auch das macht dieses Werk zu einer ›Bibel‹ der
frühen Aufklärung in Deutschland.
Um die Argumentation zusammenzufassen : Zynisch im
Sinne der Kritik Voltaires’ ist die Unterscheidung, dass Gott
das Übel nicht gewollt, sondern lediglich zugelassen habe, nur
dann, wenn man die zentrale Frage nach der Freiheit des Men­
schen dabei außer Acht lässt. Das ist ein altes Problem – schon
Augustinus bestand auf der Willensfreiheit, weil es ohne sie
keine Sünde und ohne Sünde keine Notwendigkeit der Erlö­
sung geben kann. Aber das ist nicht mehr Leibniz’ Problem.
61
Ihm geht es nicht um Erlösung, sondern um die Begründung
der menschlichen Freiheit : darum, »mit philosophischen Kate­-

Das Theodizeeproblem
­gorien in den Raum des Glaubens einzudringen und das Ver­
hältnis von Philosophie und Theologie umzukehren. Dass die
Theodizee zum Problem wird, zeigt, dass aus einer Magd der
Theologie eine mit dem Glauben rechtende Vernunft g ­ eworden
ist« (Poser 2016, 45). Und diese Freiheit impliziert ontologisch,
d. h. aus philosophischen Voraussetzungen heraus vorgetra­
gen, einen Möglichkeitsraum, der dann auch die Möglichkeit
des Übels enthalten muss.
Sich durch die vielen hundert Seiten der Schrift durchzu­
arbeiten, macht heute vielleicht nur noch für Experten Sinn.
Wer es dennoch tut, entdeckt eine für die Epoche ungewöhn­
liche Detailkenntnis scholastischer Theorien, sieht also, dass
die Intuition des jungen Leibniz im Rosental, den traditionel­
len Problembestand der Philosophie nicht einfach zur Seite zu
schieben, auch beim alten Leibniz noch wirkt. Und wer liest,
kann eine Unterscheidung am Werk sehen, die in jedem Fall
noch aktuell ist : Die Theodizee ist für die philosophische Ver­
ständigung mit Sophie Charlotte und als publiziertes Werk für
ein breites Publikum, nicht aber für die philosophische Fach­
welt geschrieben. Leibniz beansprucht jedoch, diese sozusagen­
­exoterische Form der Darstellung jederzeit streng metaphy­
sisch reformulieren und begründen zu können.
Er passt sich also in der Darstellung seinem Adressaten an :
»In der Tat ist die Darstellungsart ein Problem, das sich durch
das ganze Œuvre von Leibniz hindurchzieht. Wo er für einen
Korrespondenzpartner schreibt, nimmt er zuweilen so weitge­
hend Rücksicht auf dessen Denkweise, daß seine eigene Posi­
tion nur wie durch ein gefärbtes Glas erkennbar wird. Leib­
niz selbst hat betont, daß er für das Publikumsverständnis
›exoterisch‹ zu formulieren versuche, was in ›akroamatischer‹
Strenge (oder à la rigueur métaphysique) anders gesagt werden
müsse« (Holz 2015, 45). Hier zeigt sich ein Methodenbewusst­
62
sein als philosophischer Schriftsteller, das bis heute vorbild­
lich ist : denn wenn wir nicht im Elfenbeinturm der philosophi­
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

schen Experten unter uns bleiben wollen, sondern Philosophie


in der Öffentlichkeit wirken und praktisch etwas bewirken soll,
dann stehen wir ja noch immer vor dem Problem, philosophi­
sche Theorien und Aussagen so formulieren zu müssen, dass
ein allgemeines Publikum sie verstehen kann. Leibniz’ For­
derung nach der Rückübersetzbarkeit in die metaphysische
Strenge (und also in philosophische Begründungszusammen­
hänge) verlangt jedoch, dass eine solche allgemeinverständ­
liche Darstellung nicht um den Preis theoretischer Inkonsis­
tenz geschehen darf. Ein hochinteressantes ›Nebenproblem‹
der Theodizee.
Wenn wir nach einem philosophischen Ariadnefaden su­
chen, der uns einen (und das heißt nicht : den) Weg durch das
umfangreiche Gedankenlabyrinth der Theodizee weisen kann,
können wir das Modalitäten- und damit verbunden das Frei­
heitsproblem aufgreifen. Das hat außerdem den Vorzug, eine
philosophisch genauere Interpretation der Rede von der bes­
ten aller möglichen Welten zu eröffnen. Schon in der Vorrede
wird diese Sorge von Leibniz um eine »falsch verstandene Not­
wendigkeit« deutlich, wenn er zwischen »fatum mahumetanum,
Schicksal nach türkischer Auffassung«, das davon ausgeht,
dass wir keinen Einfluss auf den Gang der Dinge haben, und
»fatum stoicum« unterscheidet, das »die Menschen nicht […]
von der Sorge um ihre Angelegenheiten« ablenkte (W II. 1, 17).
Es geht Leibniz also ganz zentral um die Freiheit als Verant­
wortung des Menschen für diese seine Angelegenheiten. Er ar­
gumentiert ethisch und modalontologisch : So »kann man sich
die seltsamen Folgen einer schicksalsbedingten Notwendigkeit
auch in anderer Weise klarmachen, wenn man bedenkt, daß sie
die Freiheit des Willens aufheben würde, die doch für die Sitt­
lichkeit des Handelns wesentlich ist« (W II. 1, 23). Es geht da­
rum, »Grade der Notwendigkeit aufzuzeigen« (W II. 1, 25), um
63
Freiheitsspielräume zu begründen. Frei handeln heißt, nicht
oder nur teilweise von außen bedingt zu sein. Wenn wir aus der

Das Theodizeeproblem
Darstellung der Philosophie von Leibniz gelernt haben, dass
die Kräfte in Beziehungen und also Abhängigkeiten und Bedin­
gungen stehen, so sind die Grade der Notwendigkeit Grade des
Determiniertseins, das Freiheitsspielräume einschränkt, aber
nicht absolut negiert. Freies Handeln bedeutet folglich, Mög­
lichkeiten zu verwirklichen, und deshalb ist Freiheitstheorie
immer an das Modalitätenproblem gebunden : »Möglichkeit,
Wirklichkeit und Notwendigkeit müssen also in jeder Freiheits­
theorie für sich abgegrenzt und aufeinander bezogen werden«
(Poser 2016, 220).
In der Vorrede findet sich auch die berühmte Rede von der
besten aller möglichen Welten, die ebenfalls vom Modalpro­
blem her gedacht ist und die wir modalontologisch genau ver­
stehen müssen : Nämlich »daß Gott die vollkommenste aller
möglichen Welten erwählt habe und durch seine Weisheit be­
stimmt worden sei, das damit verbundene Übel zuzulassen«
bedeutet nicht eine Rechtfertigung der besten Welt, sondern
meint nur, »daß diese Welt alles in allem die beste sei, die ge­
wählt werden konnte« (W II. 1, 53). Ontologisch gesprochen :
Sie ist nicht die beste, sondern die beste der möglichen Welten,
weil nur diese und keine andere mögliche Welt Wirklichkeit
werden konnte. Leibniz nennt diese Einsicht, wie wir bei der
Darstellung seiner Philosophie gesehen haben, das ›Prinzip des
Besten‹. Die Wirklichkeit dieser Welt ist immer das Ergebnis der
Wechselwirkung aller aufeinander wirkender Kräfte – und des­
halb nicht die beste aller, sondern die beste aller möglichen Wel­
ten.
Und so hat das Übel über den theologischen Diskurs hi­
naus auch einen ontologischen Sinn : Im Gesamtzusammen­
hang der Wechselwirkungen der Kräfte sind »Handeln und Lei­
den bei den Geschöpfen immer wechselseitig« (W II. 1, 305).
Und das heißt : Wenn wir einen Begriff von Welt denken wol­
64
len, der durch den Bedingungszusammenhang des In-Bezie­
hung-Seins von allem mit allem einen Möglichkeitsraum und
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

damit Freiheit eröffnet, müssen wir das Übel in Kauf neh­


men, da wir in diesem unendlichen Zusammenhang als End­
liche nicht nur etwas tun, sondern immer auch etwas erleiden.
Leibniz spricht diesen systematischen Hintergrund zum meta­
physischen Begriff der Kraft und Entelechie selbst an (W II. 1,
335), und wir haben schon gesehen, dass aktive und passive
Kraft im metaphysischen Modell von Leibniz eine unaufheb­
bare Einheit bilden. Und in diesem Zusammenhang muss man
akzeptieren, dass Kontingenz Voraussetzung von Freiheit ist :

»Ich habe gezeigt, daß die Freiheit, wie man sie in den
Theologenschulen haben will, in der Einsicht besteht, die
eine genaue Kenntnis des Gegenstandes der B ­ etrachtung
einschließt, ferner in der Spontaneität, mit der wir uns
­entscheiden, und endlich in der Zufälligkeit, d. h. im Aus­
schluß der logischen oder metaphysischen Notwendigkeit.
Die Einsicht ist gleichsam die Seele der Freiheit, der Rest
aber nur gleichsam der Körper und die Grundlage.« ­
­ (W II. 2, 75)
Im Denken von Leibniz liegt ein sehr differenzierter Begriff
von Freiheit vor, der uns noch weiter beschäftigen wird. Es
geht nicht um den formalen und abstrakten Freiheitsbegriff
der politischen Philosophie seiner Zeit und des bürgerlichen
Zeitalters überhaupt, sondern darum, Spontaneität und Ein­
sicht in den Zusammenhang ihrer Bedingungen zu stellen,
also auch Freiheit und Abhängigkeit zusammenzudenken. Da­
mit steht der Freiheitsbegriff im Zusammenhang des ontologi­
schen Konzeptes der Kompossiblität, der der Rede von der
besten der möglichen Welten erst ihren vollen ontologischen
65
Sinn verleiht. Man darf dabei Kompossibilität nicht zu einer
nur logischen Kategorie reduzieren. Diesen logischen Sinn hat

Das Theodizeeproblem
der Begriff bei Leibniz auch : Aussagen sind logisch kompossi­
bel, also gleichzeitig möglich, wenn sie sich nicht widerspre­
chen. Als ontologische Kategorie zielt Kompossibilität jedoch
auf einen Begriff des Wirklichen, der Wirklichkeit als Einheit
des zugleich Möglichen auffasst : »Alles Mögliche strebt, weil
es möglich ist, nach Verwirklichung. Denn die Wirklichkeit
ist der Zustand, der dem Möglichen möglich ist. In-Möglich­
keit-Sein trägt die Tendenz zum Wirklich-Werden in sich. Das
ist seit Aristoteles ein der Philosophie geläufiger Gedanke, den
Leibniz, der große Philosoph der Möglichkeit, ausgereift hat.
Nun gibt es aber in einer unendlichen Welt prinzipiell unend­
lich viele Möglichkeiten, von denen sich zahlreiche gegenseitig
ausschließen. Zugleich wirklich werden kann nur, was zusam­
men möglich, kompossibel, ist« (Holz 2013, 119).
Dass Leibniz die Kompossibilität als ein ontologisches Prinzip
verstanden wissen wollte, hat er selbst in dem Satz Omne possi­
bile exigit existere ausgesprochen :

»Die absolut ersten Wahrheiten sind unter den identischen Ver­


nunftwahrheiten und unter den Tatsachenwahrheiten jene,
aus denen alle Erfahrung a priori bewiesen werden kann,
nämlich : alles Mögliche strebt nach Existenz und existiert daher,
wenn nicht etwas anderes, das auch zur Existenz strebt, es
daran hindert und mit dem ersteren unverträglich ist, wor­
aus folgt, daß immer diejenige Verbindung der Dinge exis­
tiert, in der am meisten existiert«. (W I, 177)

Das ist der volle Sinn von Leibniz Rede der besten aller mög­
lichen Welten : sie ist die optimale Ordnung des zugleich Mög­
lichen.
Nur solche Möglichkeiten können wirklich werden, die
kompatibel sind : Wenn alles Mögliche zur Verwirklichung
66
drängt und einige Möglichkeiten andere von der Verwirk­
lichung ausschließen, weil sonst alles Mögliche Wirklichkeit
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

würde und dann nicht mehr Möglichkeit wäre, dann bedeutet


Welt in ihrer Wirklichkeit immer den höchst möglichen Ver­
wirklichungsgrad von Möglichkeit, also den höchstmöglichen
Realitätsgrad, den Leibniz Vollkommenheit nennt. Die beste
Welt ist diejenige, die die größte Menge gleichzeitiger Verwirk­
lichungen möglich macht : ein Weltbegriff, dem in seiner Be­
deutung für die Gegenwart, also wie heute Welt zu denken ist,
noch nachzugehen sein wird. Nur so viel ist klar : Der philoso­
phische Gehalt der Theodizee, der über den theologischen Hori­
zont seines historischen Entstehungshintergrundes weit hin­
ausgeht, wird von der scharfen Spottkritik Voltaires’ nicht ein­
mal gesehen, geschweige denn getroffen.

Transformationen in der Aufklärung :


Wolff und Baumgarten
Die schöne Definition, die Christian Wolff der Philosophie
als Wissenschaft des Möglichen gegeben hat, macht ihn schein­
bar schon zu einem Leibnizianer. Die Frage bleibt jedoch hier
wie im Ganzen seiner Leibnizrezeption, ob Wolff dem Diffe­
renzierungsgrad des ›Metaphysikers der Möglichkeit‹ Leibniz
tatsächlich gerecht wird. Ungerecht ist jedenfalls das von Kant
bis Hegel zu hörende Urteil, das Wolff auf einen bloß dogma­
tischen Schulphilosophen reduziert. In der Lebensspanne die­
ses Mannes hat es an den deutschen Universitäten einen Schub
wissenschaftlichen Fortschritts gegeben, an dem er selbst auf
sehr verdienstvolle Weise beteiligt gewesen ist. Er hat wesent­
lichen Anteil an der Herausbildung einer deutschen National­
kultur im 18. Jahrhundert gehabt, indem er seine Philosophie
in der Muttersprache vortrug und so zum Schöpfer der deut­
schen philosophischen Terminologie wurde.
67
Auch das ist ein Vorgang, den Leibniz angeregt hatte : »Es
ist bekandt, dass die Sprach ein Spiegel des Verstandes, und

Transformationen in der Aufklärung : Wolff und Baumgarten


dass die Völcker, wenn sie den Verstand hochschwingen, auch
zugleich die Sprache wohl ausüben, welches der Griechen, Rö­
mer und Araber Beyspiele zeigen« (Leibniz 1968, 45). Leibniz’
Deutsch, etwas unbeholfen gegenüber dem geschliffenen La­
tein und dem eleganten Französisch, das man von ihm kennt,
scheint die Reformbedürftigkeit der Muttersprache geradezu
zu bezeugen, und er hat diese Notwendigkeit, Deutsch als
Sprache der Philosophie zu etablieren, ausdrücklich gefordert :
»Es ereignet sich aber einiger Abgang bey unserer Sprache in
denen Dingen, so man weder sehen noch fühlen […] ; bei
denen noch mehr abgezogenen und abgefeimten Erkäntnis­
sen, so die Liebhaber der Weissheit in ihrer Denck-Kunst, und
in der allgemeinen Lehre von den Dingen unter dem Nahmen
der Logick und Metaphysick auff die Bahne bringen« (Leibniz
1968, 46). Mit anderen Worten : Die Deutschen müssen lernen,
in ihrer Muttersprache auch abstrakte Sachverhalte angemes­
sen auszudrücken.
Wolff führte dieses Programm in der ganzen systemati­
schen Breite der Philosophie durch. Zwischen 1712 und 1723
entstanden Vernünfftige Gedancken zu allen damals wesentlichen
Bereichen der Philosophie, von Logik und Metaphysik bis hin
zur Ethik, Physik und Teleologie. Erst nachdem Wolff diese
beeindruckende Reihe deutscher Schriften publiziert hatte,
machte er sich an das lateinische Werk, das ihm dann zu euro­
päischem Ruhm verhalf. Insgesamt kann man also sagen, dass
er damit allen Disziplinen der Philosophie ihr philosophisches
Vokabular in deutscher Sprache gegeben hat, und zwar auf der
Grundlage der methodisch an der Mathematik geschulten For­
derung streng abgeleiteter, präziser Begriffsbildung. Ein nicht
geringes Verdienst, eine genaue Begriff‌lichkeit deutscher Phi­
losophiesprache ausgebildet zu haben !
Eben durch diesen Anspruch jedoch kam die schulphiloso­
68
phische Form und die durchbuchstabierte Systematik in seine
Texte, die später Gegenstand deutlicher Kritik geworden sind.
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Diese schulphilosophische Gestalt, die durch die mathema­


tisch-demonstrative Methode, jeden Begriff aus dem a­ nderen
zu entwickeln und abzuleiten, zur Form seiner Philosophie
wurde, nahm zwar viele Gedanken von Leibniz auf und ver­
arbeitete sie. In ihrer durchbuchstabierten Systemform ver­
fehlten sie jedoch den Denkgestus von Leibniz, in vielen Frag­
menten den systematischen Gedanken von den Problemen her
immer wieder aufzunehmen und neu zu durchdenken. Kants
Rede von der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie identifi­
ziert hier zwei völlig unterschiedliche Denkstile und ignoriert
die Tatsache, dass der logische Ordnungswille Wolffs die spe­
kulative Dimension der Philosophie von Leibniz verstellt oder
zumindest nicht richtig zur Geltung bringt.
Leibniz hatte Wolff zwar 1706 auf die Mathematikprofes­
sur nach Halle empfohlen, äußerte sich aber in einem Brief
an Remond nicht nur anerkennend, sondern auch zurückhal­
tend : »Herr Wolff hat sich mit einigen meiner Meinungen be­
faßt, aber da er sehr damit beschäftigt ist zu lehren, vor al­
lem die Mathematik, und da wir nicht viel an gemeinsamem
Gedankenaustausch über die Philosophie hatten, kann er von
meinen Meinungen fast nur das kennen, was ich davon veröf­
fentlicht habe. […] Wenn er etwas über die Seele geschrieben
hat, in Deutsch oder anderswie, werde ich versuchen, ihn zu
treffen, um darüber zu reden« (W V, 329 f.). Hier artikuliert sich
ein grundsätzlicher Unterschied philosophischer Charaktere :
Wolff sitzt in der Schule, lehrt und liest, während Leibniz ein
›Networker‹ und kommunizierender Mensch ist, der die Dinge
lieber ausdiskutiert als durchbuchstabiert.
Man kann diese eigenartige Einheit von inhaltlicher Nähe
und denkerischer Ferne sehr schön an zwei Schriften Chris­
tian Wolffs zeigen : Im Discursus praeliminaris seiner lateinischen
Logik findet sich eine Unterteilung der Philosophie in Ontolo­
69
gie, cosmologia generalis, psychologia rationalis und theologia natura­
lis, die genau in dieser Einteilung noch Gegenstand von Kants

Transformationen in der Aufklärung : Wolff und Baumgarten


Metaphysikkritik sein wird, indem er die Unmöglichkeit psy­
chologischer, kosmologischer und theologischer Ideen nach­
weist und also erst einmal Wolff und nicht Leibniz damit trifft.
In seiner Schrift Philosophia Prima Sive Ontologia entwickelt Wolff
eine klar leibnizianische Prinzipienlehre : Das Prinzip des Wi­
derspruchs und des zureichenden Grundes sind in den Para­
graphen 31 und 32 der Monadologie als Prinzipien jeder Ver­
nunftüberlegung festgehalten. Wolff dekliniert sie in seiner
Ontologie dann durch und stellt fest, dass diese Prinzipien die
Grundlage für die konstruktive Entfaltung des Systems bilden :
»Wer sich mit unseren Ergebnissen vertraut macht, wird dem­
nach ohne Schwierigkeiten fortschreiten können, sobald er die
Gesetze der wissenschaftlichen Methode verstanden und sie
auf die Praxis zu übertragen gelernt hat. Die folgenden philo­
sophischen Werke werden aber die Ergiebigkeit der ontologi­
schen Prinzipien deutlich bezeugen, da das dort zu Beweisen­
­de auf sie zurückgeführt wird« (Wolff 2005, 17).
Nimmt man dann noch hinzu, was diese Methode nach
Wolff verlangt, hat man den Schlüssel zu dem Transforma­
tionsprozess der Philosophie in der Hand, der zwischen Leib­
niz und Wolff stattfindet : denn diese Methode »fordert, dass
das Einzelne an dem Ort gelehrt wird, an dem es aus dem Vor­
hergehenden eingesehen und bewiesen werden kann« (ebd.,
11). An dieser Stelle zeigt sich, warum man nicht von einer
Leibniz-Wolff‌ischen Schulphilosophie sprechen kann, ohne
den Unterschied zwischen Leibniz und Wolff einzuebnen :
Wolff nimmt die Grundprinzipien auf, um eine Metaphysik
des Verstandes zu begründen und dann etwas ganz anderes
mit Leibniz’ spekulativer Metaphysik zu machen. Mit diesem
dann in der Tat schulmäßig geordnet vorgetragenen System
hat Leibniz, der seine systematischen Grundgedanken in ein
paar kurzen metaphysischen Abhandlungen vorgetragen hat
70
und sich ansonsten in einer Fülle von Denkschriften und No­
tizzetteln weiter um die Präzisierung dieser Grundgedanken
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

mühte, wenig gemein.


An einer Stelle jedoch zeigt sich Wolff als Leibnizschüler,
der verwegener ist als sein Lehrer. Leibniz legte es nie auf Kon­
flikte und Zuspitzung einer politischen Situation an – er war,
wie wir gesehen haben, durch und durch auf Ausgleich und
Versöhnung angelegt. Auch seine Arbeiten zur chinesischen
Kultur waren von diesem Geist geprägt, der in diesem Fall auf
Kulturaustausch zielte. Wolff dagegen nahm zwar das Inter­
esse für die Sinica auf (sie sollten in den Chinoiserien des Jahr­
hunderts ohnedies in Mode kommen), aber er tat es in einer so
konfrontativen Weise, dass man ihn nach seiner Prorektorats­
rede über die praktische Philosophie der Chinesen aufforderte,
Halle und Preußen bei Strafe des Stranges binnen 48 Stun­
den zu verlassen. Er hatte die Pietisten, die in Halle das Sa­
gen hatten, und ihren frömmelnden Gottesbegriff angegriffen.
Die Provokation und der Sprengstoff dieser Rede lag darin, im
Konfuzianismus eine vernunftgesteuerte Lehre zu sehen, die
die Prinzipien der Ethik ohne den Bezug auf einen Gott be­
gründen kann.
Das war nicht nur im Geist des Leibnizschen Vernunftglau­
bens geschrieben, sondern radikalisierte ihn auch und musste
bei der protestantischen Orthodoxie entsprechende Reaktio­
nen hervorrufen, die Wolff Atheismus vorwarfen. Wieder könn­-
­te der Gestus von Leibniz und Wolff nicht unterschiedlicher
sein : Leibniz der Ireniker, Wolff der aufmüpfige Aufklärer, der
sich auch durch den Galgen nicht abschrecken lässt, deutlich
zu sagen, was er denkt. Im Vorwort von 1726, als die Rede von
1721 und die Vertreibung schon einige Jahre zurückliegen und
Wolff längst im sicheren Marburg lehrt, spricht er nicht nur
von »gewisse[n] Leibnizische[n] Thesen, die in mein metaphy­
sisches System eingefügt sind« (Wolff 1985, 9), sondern auch
Klartext. Die »Chronologie der Chinesen« stand im Wider­
71
spruch zur Schöpfungschronologie der Bibel, d. h. diese Kultur
war schlicht älter als die Datierung der Schöpfung, so dass der

Transformationen in der Aufklärung : Wolff und Baumgarten


Atheismusvorwurf an Liebhaber der chinesischen Kultur sich
noch verstärkte. Das hielt Wolff nicht ab, sich zu verteidigen :

»Wenn es jemanden geben sollte, dem meine Arbeit nicht


gefällt, so bitte ich ihn, es besser zu machen. Wenn aber
jemand zu stumpfsinnig ist, als daß er die Wahrheit be­
greifen könnte, so werde ich dessen Urteil als unüberlegt
zurückweisen. Das Folgende ist nämlich weder für Dumm­
schwätzer geschrieben, noch für die Bonzen, denen die
­Aufrichtigkeit eines Konfuzius, die ich anrate, fremd ist.« ­
­ (Ebd., 11)

Das ist der lebendige, der aufrechte Wolff ganz ohne schulphi­
losophische Paragraphen, den es in seiner Bedeutung für die
deutsche Kultur immer zu ehren gilt.
Auf ganz andere Weise transformiert Baumgarten Leibniz.
Er zielt nicht in die Breite eines durchformulierten Systems,
sondern auf die systematische Zuspitzung einiger Aspekte des
Leibnizschen Denkens. Baumgarten nutzt Leibniz für die Be­
gründung der Ästhetik als philosophische Disziplin. Für diese
Aneignung ist der Begriff des analogon rationis bedeutsam, weil
in ihm eine Ähnlichkeit des sinnlich Vorrationalen mit den
Strukturen der Vernunft ausgedrückt ist. Wichtig für die Be­
gründung einer philosophischen Theorie des Ästhetischen
wird Leibniz’ Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten
und Tatsachenwahrheiten und seine Theorie des Unbewuss­
ten. Beide Theoriezusammenhänge hatten in der Schulphilo­
sophie zur Unterscheidung von oberen und unteren Erkennt­
nisvermögen geführt : Das obere bezieht sich auf apriorische
Erkenntnisstrukturen, das untere auf Erkenntnisse der sinn­
lichen Erfahrung. Baumgarten versteht diese Unterscheidung
als Aufforderung, den Bereich sinnlicher Erfahrung nicht län­
72
ger, wie bei Descartes geschehen, als bloße Quelle der Täu­
schung zu denunzieren, sondern ihren spezifischen Erkennt­
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

nischarakter aufzuklären.
Sinnlichkeit wird mit Mitteln der Leibnizschen Metaphysik
als legitimer Gegenstand philosophischer Untersuchung so­
zusagen salonfähig gemacht. Baumgarten spricht das gleich
eingangs seiner Aesthetica, die zwischen 1750 und 1758 erschie­
nen ist, deutlich aus : Möglichen Einwänden, »sinnliche Emp­
findungen, Einbildungen, Erdichtungen alle die Wirrnisse der
Gefühle und Leidenschaften seien eines Philosophen unwür­
dig«, hält er entgegen :

»Der Philosoph ist ein Mensch unter anderen Menschen,


und es ist nicht gut, wenn er glaubt, ein so bedeutender
Teil der menschlichen Erkenntnis vertrage sich nicht mit
seiner Würde. […] Die Verworrenheit ist die Mutter des
Irrtums. […] Aber sie ist eine unerläßliche Voraussetzung
für die Entdeckung der Wahrheit, da die Natur keinen
Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Den­
kens. Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgen­
röte zum Mittag. Gerade deshalb muß man sich um die
verworrene Erkenntnis bemühen, damit keine Irrtümer
entstehen«.  (Baumgarten 1988, 5)
Ex nocte per auroram meridies – das ist Leibniz. Baumgarten ver­
sucht die Dignität der Sinnlichkeit mit dessen Theorie des Un­
bewussten bzw. der Theorie graduellen Bewusstseins zu be­
gründen. Durch die Nouveaux Essais ist sie als Theorie der petites
perceptions bekannt geworden. Dieses Werk von Leibniz ist aber
erst nach dem Erscheinen der Ästhetik von Baumgarten publi­
ziert worden. Grundgedanke bei Leibniz ist es, Bewusstsein
nicht wie bei Descartes auf klare und deutliche Inhalte zu be­
schränken, sondern als durch gerichtete Aufmerksamkeit vom
Verstand selbst tätig hergestellten, klaren und deutlichen Aus­
73
schnitt aus unendlich vielen kleinen, also halb- oder unbewuss­-
­ten Wahrnehmungen unterhalb der Schwelle deutlichen Be­

Transformationen in der Aufklärung : Wolff und Baumgarten


wusstseins konstituiert zu begreifen. Leibniz ist insofern der
Vater des Unbewussten, wenn auch nicht im psychologischen
Sinn wie etwa bei Freud, sondern indem er zum ersten Mal von
Graden der Bewusstseinsintensität spricht.
Den Grundgedanken konnte Baumgarten schon der Mona­
dologie entnehmen, wo Leibniz ihn am Beispiel des Betäubt­
seins entwickelt : »Und da man sich, aus der Betäubung er­
wacht, seiner Perzeptionen bewußt wird, muß man also unmit­
telbar zuvor schon Perzeptionen gehabt haben, obgleich man
sich ihrer nicht bewußt wurde ; denn auf natürliche Weise
kann eine Perzeption nur von einer anderen Perzeption stam­
men, wie eine Bewegung auf natürliche Weise nur aus einer an­
deren Bewegung herkommen kann« (W I, 449). Und wie eine
Aufforderung zur Begründung der Ästhetik klingt der dann fol­
gende Satz : »Hätten wir in unseren Perzeptionen nichts Unter­
schiedenes und sozusagen Herausgehobenes von einer Art hö­
herem Geschmack, so wären wir, wie man daraus ersieht, im­
mer im Zustande der Betäubung.«
Mit dem monadologischen Weltmodell von Leibniz begrün­-
­det Baumgarten Ästhetik grundsätzlich als perspektivische
Wahrnehmung der Welt. Und im Kunstbegriff nimmt er Leib­
niz’ Begriff möglicher Welten auf : Er bestimmt sie als veritas he­
terocosmica, als Wahrheit anderer (möglicher) Welten (Baumgar­
ten 1988, 70). Baumgarten greift sozusagen den Gedanken auf,
dass die wirkliche Welt andere mögliche Welten ausgeschlos­
sen hat, indem diese und nicht eine andere Welt Wirklichkeit
geworden ist. Kunst bringt folglich andere mögliche Welten,
d. h. Alternativen in die sinnliche Erfahrung. Das ist ein in et­
was umständlicher, fast scholastisch anmutender lateinischer
Sprache vorgetragener sehr moderner Gedanke. Als Wissen­
schaft sinnlicher Erkenntnis wird die Ästhetik insgesamt zur
Ergänzung der Verstandeslogik : Klarheit und Deutlich­keit
74
bedeuten, wie Leibniz gezeigt hat, eine Abstraktion von der
Komplexität konfuser sinnlicher Erfahrung. Ästhetik im Sinne
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Baumgartens soll diese Erfahrung organisieren, indem sie das


sinnlich chaotisch erscheinende Mannigfaltige zu einer Ein­
heit ordnet. In diesem Sinn ist Leibniz’ Philosophie zum An­
stoß einer neuen Wissenschaft geworden.

Veränderte Rezeptionsbedingungen :
Lessing und Herder
In den 1760er Jahren verändert sich die Rezeptionssituation
grundlegend. Wer die 1768 in Genf erschienene Edition der
Opera Omnia in Händen hält, dem schlägt die Aura des Jahr­
hunderts entgegen : Der schöne, feste Ledereinband, das raue,
aber auch nach 250 Jahren noch unversehrte Papier, das Falt­
blatt mit dem Portraitstich im ersten Band, der auch die Leib­
nitii Vita von Jacob Brucker enthält, von dem das 18. Jahrhun­
dert seine philosophiehistorischen Kenntnisse über Leibniz
bezog – all das strahlt Wertschätzung für den großen Univer­
salgelehrten aus. Die Edition versammelt den damals bekann­
ten Leibniz : Schriften zur Theologie, im zweiten Band Logik
und Metaphysik, aber auch Physik, Medizin, Botanik und Na­
turgeschichte, dann mathematische Schriften, Philosophie,
Geschichte und Jurisprudenz, ja sogar philologische Schriften.
Die ganze Vielfalt eines bis dahin verstreuten Leibniz im Über­
blick einer Ausgabe – das war die große Leistung von Dutens.
Schon 1765 hatte es die von Raspe in Amsterdam und Leip­
zig herausgegebene Werkausgabe der Œuvres philosophiques ge­
geben, die erstmals die Nouveaux Essais enthielt, jene kritische
Auseinandersetzung mit John Locke, die Leibniz aus Pietät
nicht veröffentlicht hatte, weil Locke gerade gestorben war. Sie
werden jetzt im heraufkommenden Sturm und Drang auf stark
veränderte Rezeptionsbedingungen treffen. Außerdem setzte
75
in Deutschland allmählich eine Auseinandersetzung mit Spi­
noza ein, die das Leibnizbild von Lessing (1995 a) bis Goethe

Veränderte Rezeptionsbedingungen : Lessing und Herder


(1981 c) stark beeinflussen wird.
Was aber macht der selbstbewusste Aufklärer Lessing 1773
angesichts so vieler neu edierter Werke von Leibniz ? Er macht
einen Fund in der Wolfenbütteler Bibliothek, für die der Hof­
bibliothekar Leibniz selbst einmal zuständig gewesen war, und
präsentiert ihn der interessierten Öffentlichkeit. Um es kurz
zu machen : Leibniz hatte eine Schrift von Ernst Soner publizie­
ren wollen, ein heikles Unterfangen, denn Soner vertrat die he­
terodoxen Thesen der Sozinianer, einer religiösen Bewegung,
die zentrale Dogmen der Kirche wie die Göttlichkeit Christi,
Trinität, Erbsünde und die Ewigkeit der Höllenstrafen bestritt.
Leibniz hatte schon eine Vorrede dazu geschrieben, dann aber
offenbar von dem heiklen Projekt Abstand genommen. Die
Vorrede blieb in Wolfenbüttel liegen, der Nachfolger im Amt,
der Bibliothekar Lessing, findet sie auf und macht sie unter
dem Titel »Leibniz von den ewigen Strafen« in seinem Text öf­
fentlich.
Fassen wir die hoch interessante Argumentation zusam­
men : Leibniz, so Lessing, sagt in dieser Vorrede, dass Höl­
lenstrafen, wenn es sie gibt (wozu sich Leibniz eben nicht äu­
ßert) notwendig ewig sein müssen. Lessing greift auf höchst
interessante Weise die Unterscheidung von exoterischer und
akro­amatischer Rede auf, die wir aus dem Zusammenhang des
Theodizeeproblems kennen : Mit seiner Äußerung über die
ewigen Strafen tat Leibniz »nichts mehr und nichts weniger,
als was alle alten Philosophen in ihrem exoterischen Vortrage
zu tun pflegten. Er beobachtete eine Klugheit, für die freilich
unsere neuesten Philosophen viel zu weise geworden sind. Er
setzte willig sein System beiseite ; und suchte einen jeden auf
demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn
fand« (Lessing 1995 b, 89).
Und was wird akroamatisch, d. h. in metaphysischer Stren­
76
­ge, dann überhaupt aus den Höllenstrafen ? Da befand Leib­
niz Lessing zufolge, »daß sich schlechterdings nichts darüber
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

bestimmen lasse« (ebd., 91). Wenn man die Voraussetzung


von Höllenstrafen annimmt, so referiert Lessing weiter, dann
müssen sie ewig sein, weil nach dem System von Leibniz al­
les, was wir tun, unendliche Folgen hat. Lessing konstatiert
also ganz im Sinne der Theodizee eine philosophische Rationa­
lisierung theologischer Fragen. Letztlich lässt sich rational nur
die Ewigkeit der Höllenstrafen begründen, nicht aber die Frage
entscheiden, ob es solche Höllenstrafen überhaupt gibt. Den
hermeneutischen Schluss, sie als bloße Metaphorik der Bibel
gleich ganz abzuschaffen, übernimmt der streitbare Aufklärer
Lessing dann selbst : »Indem nämlich die Schrift, um die leb­
hafteste Vorstellung jener Unglückseligkeit zu erwecken, die
auf die Lasterhaften wartet, fast alle Bilder aus dem körper­
lichen Schmerze hernahm« (ebd., 98), man aber den metapho­
rischen Charakter dieser Rede missverstand, kam es zur Vor­
stellung der Hölle. Wenn diese Metaphorik durchschaut und
mit Leibniz überhaupt der nur exoterische – zugespitzt : der pä­
dagogische – Sinn der Rede von ewigen Höllenstrafen erfasst
wird, dann wird die Realität der Hölle hinfällig. Der berühmte
Herr Leibniz hilft also, die Hölle abzuschaffen.
Herder hatte mit dem Journal meiner Reise im Jahre 1769 die
Empfindsamkeit des Sturm und Drang eingeläutet. Damit ge­
riet die Theorie der kleinsten Wahrnehmungen, der petites per­
ceptions, wie es in den eben erschienenen Nouveaux Essais hieß,
in einen Kontext, der dem ursprünglich rationalistischen An­
liegen, das Vorrationale rational zu bestimmen (Baumgarten
hatte ja an einem Bereich wie der Ästhetik gezeigt, wie eine ra­
tionalistische Fortbestimmung der Thesen von Leibniz mög­
lich war), völlig fremd gegenüberstand, die Theorie jedoch
dennoch in Anspruch nahm. In der Schrift Vom Erkennen und
Empfinden der menschlichen Seele aus dem Jahre 1774 versuchte
Herder zu begründen, warum Erkennen und Empfinden nicht
77
zu trennen sind. Bis hierher entspräche das noch Leibniz’ In­
tentionen. Auch die wesentliche Einheit von Leib und Seele,

Veränderte Rezeptionsbedingungen : Lessing und Herder


die Herder vertritt, kann sich auf die Metaphysik von Leibniz
berufen, der ja selbst als Aristoteliker gegen die cartesianische
Trennung argumentiert hatte.
Das Problem beginnt an der Stelle, da Herder das Empfin­
den gegen die rationalistische Philosophie der Aufklärung in
Stellung bringt : »Vor solchem Abgrunde dunkler Empfindun­
gen, Kräfte und Reize graut nun unsrer hellen und klaren Phi­
losophie am meisten. Sie segnet sich davor als vor der Hölle
unterster Seelenkräfte und mag lieber auf dem Leibnizischen
Schachbrett mit einigen tauben Wörtern und Klassifikationen
von dunkeln und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen
[…] spielen« (Herder 1969, 17 f.). Das bezieht sich deutlich auf
Wolff oder auch Baumgarten, und wirft ihnen vor, die dunklen
Empfindungen wegrationalisiert zu haben – was so, wie wir
gesehen haben, einfach nicht stimmt. Deutlich spürbar ist je­
doch die mit Leibniz überhaupt nicht in Einklang zu bringende
Intention, die Einheit von Leib und Seele bzw. von Erkennen
und Empfinden zu romantisieren. Dieser Versuch wird deut­
lich spürbar in der Wahl der Sprache :
»Überhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt
durch unmerkliche Übergänge auf- und ineinander […]
Niemand sagte es besser als Leibniz, daß Körper als sol­
cher nur Phänomenon von Substanzen sei, wie die Milch­
straße von Sternen und die Wolke von Tropfen. Selbst die
Bewegung suchte Leibniz ja als Erscheinung eines inne­
ren Zustandes zu erklären, den wir nicht kennen, der aber
Vorstellung sein könnte, weil uns kein innerer Zustand
­bekannt ist. […] Alle Leidenschaften, ums Herz gelagert
und mancherlei Werkzeuge regend, hangen durch unsicht­
78
bare Bande zusammen und schlagen Wurzel im feinsten
Bau unsrer beseelten Fibern.«  (Ebd., 16)
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Hier zeigt sich sprachlich ein Übergang zu einem irrationalis­


tischen Blick auf Leibniz : Alles fließt (ununterscheidbar) inei­
nander, Bewegung wird zum Ausdruck von Innerlichkeit, wie
überhaupt der ganze Sprachgestus ›ums Herz gelagert‹ ist und
die Dinge so der Erkennbarkeit entzieht. Das jedoch ist zu­
verlässig nicht Leibniz : denn der hielt das Ununterschiedene
und Verworrene für unerkannt, nicht jedoch für unerkennbar.
Endgültig protoromantisch werden die petites perceptions dann
ein paar Seiten weiter : Das Denken der menschlichen Seele
»wird nur aus Empfindung, ihre Diener und Engel, Luft- und
Flammenboten strömen ihr ihre Speise zu, so wie diese nur
in ihrem Willen leben. Sie herrscht, mit Leibniz zu reden, in
einem Reich schlummernder, aber umso inniger würkenden
Wesen« (ebd., 30).
Das ist wirklich ein gutes Beispiel für die Eigendynamik von
Rezeptionsverläufen in der Geistesgeschichte : Die ursprüng­
liche Intention der Bewusstseinstheorie von Leibniz, das Un­
unterschiedene unterscheidbar, das Verworrene klar und unse­
ren Bewusstseinsbegriff weiter zu machen, wird in ihr Gegen­
teil verkehrt, nämlich ununterscheidbarer, verworrener – und
durch die Aufwertung der Empfindsamkeit wird das Feld mög­
lichen Bewusstseins sogar enger gemacht. Wäre die Schrift
von Leibniz gleich nach ihrer Niederschrift erschienen, hätte
sie am Beginn des Jahrhunderts ganz andere Rezeptionsvor­
aussetzungen gehabt und hätte nicht so ohne weiteres dazu an­
geregt, im Trüben zu fischen. Habent sua fata libelli – Bücher ha­
ben ihr Schicksal auch deshalb, weil sie durch zeitverzögertes
Erscheinen manchmal in einer Perspektive wahrgenommen
werden, die ihnen nicht gerecht wird.

79
»Betrügliche Begriffe« : Kant und die Folgen

»Betrügliche Begriffe« : Kant und die Folgen


Kant hat sich lebenslang mit Leibniz beschäftigt. Sein Erst­
lingswerk Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte,
entstanden zwischen 1746 und 1749, ist der Versuch Kants, »als
Schiedsrichter zwischen Cartesianern und Leibnizianern auf­
zutreten im Streit, wie die Größe der bewegenden Kraft zu
messen sei« (Gulyga 1985, 24). Da ist schon der vorkritische
Kant ein Vereiniger von Schulrichtungen, so wie später der
kritische Kant den Rationalismus und den Empirismus in der
Transzendentalphilosophie zu vereinigen versuchen wird : »In
dieser Schrift versucht er Descartes und Leibniz zu vereinen,
im reifen Alter tut er dies mit den philosophischen Hauptrich­
tungen« (ebd., 26). Mit einem wesentlichen Unterschied je­
doch : Der vorkritische Kant setzt sich sachlich mit konkreten
Problemen der Philosophie von Leibniz auseinander, während
Leibniz im kritischen Werk in die Mühlen der grundsätzlichen
Metaphysikkritik des ›Alleszermalmers‹ gerät.
In seinem Versuch einiger Betrachtungen über den Optimismus aus
dem Jahre 1759 (im selben Jahr war der Candide erschienen)
gibt Kant Leibniz sachgerechter wieder als Voltaire das getan
hatte : »Diese Welt sei unter allen möglichen die beste«, sie »ist
das Beste, was nur hervorzubringen möglich war« ; außerdem
sieht er mit Sympathie, dass Leibniz einem Willkürgott ent­
gegenarbeitet, der einfach nur sagt : »Es gefiel mir also, und
das ist genug« (Kant 1983 a, 587). Nach eigener Aussage befin­
det sich Kant noch ganz im ›dogmatischen Schlummer‹ sei­
ner feschen Magisterjahre, als er Leibniz fast ein wenig autori­
tär beispringt : Wenn »man mit mir einstimmig ist : Daß unter
allen möglichen Welten eine notwendig die vollkommenste
sei, so verlange ich, nicht ferner zu streiten. […] Man b ­ edienet
sich der Weltweisheit sehr schlecht, wenn man sie dazu ge­
braucht, die Grundsätze der gesunden Vernunft umzukehren«
(ebd., 592). Der gesunde Menschenverstand verlangt nach
80
dem Grundgedanken der Theodizee, und Kant stellt sich ganz
vorkritisch auf diesen Standpunkt.
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Und setzt noch eins drauf, wenn er Leibniz beinahe die Ver­
nunftkritik antizipieren lässt : Es gibt »wie Leibniz anmerkt be­
trügliche Begriffe (notiones deceptrices), von denen es schei­
net, daß man etwas durch sie denket, die aber in der Tat nichts
vorstellen« (ebd., 590). Das genau wird der Kant der Transzen­
dentalphilosophie später der Metaphysik überhaupt und na­
türlich dann auch Leibniz vorwerfen. Für den Augenblick will
er noch »einsehen lernen«, was er später kategorisch als Wis­
sen ausschließen wird : »daß das Ganze das Beste sei, und alles um
des Ganzen willen gut sei« (ebd., 594).
Nach seinem Erwachen aus dem ›dogmatischen Schlum­
mer‹ wird er Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in
der Theodizee schreiben und »die Sache Gottes […] verfechten«
dann die Sache einer »anmaßenden, hiebei aber ihre Schran­
ken verkennenden Vernunft« nennen (Kant 1983 b, 105). Eine
Rechtfertigung Gottes verlangt »Allwissenheit«, die in der er­
fahrbaren Welt der Phänomene unmöglich ist. Hier argumen­
tiert Kant ganz auf der metaphysikkritischen Linie seiner Kri­
tischen Philosophie, die einen mögliche Erfahrung überschrei­
tenden Gebrauch der Vernunftbegriffe verbietet – und also auch
die Theodizee : »daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnis­
ses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung i­ mmer kennen
mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermö­
gend sei« (ebd., 114). Will sagen : Ob Gott diese Welt wählen
musste und keine andere wählen konnte, darüber kann man
nichts wissen – aus demselben Grund jedoch müssen auch
die kritischen »Einwürfe« der Theodizeegegner scheitern, weil
auch sie »das Gegenteil nicht beweisen können« (ebd.). Also
besser gar nicht mehr darüber reden. Die Philosophie tritt in
ein Zeitalter ein, in dem sie über Vieles wird schweigen müs­
sen.
Genau auf der Schwelle vom vorkritischen Kant zu seiner
81
transzendentalen Wende setzt sich der Philosoph aus Königs­
berg mit einem Problem auseinander, bei dem Leibniz Newton

»Betrügliche Begriffe« : Kant und die Folgen


widersprochen hatte. Diese Frage nach der Relativität des Rau­
mes hatte Leibniz in seinem Briefwechsel mit Samuel Clarke,
der 1717 erschienen und deshalb der interessierten Öffentlich­
keit bekannt geworden war, diskutiert. In der Schrift Von dem
ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume aus dem Jahre
1768 wird Kant bei allem Respekt schon distanzierter : »Der be­
rühmte Leibniz besaß viel wirkliche Einsichten, wodurch er die
Wissenschaften bereicherte, aber noch viel größere Entwürfe
zu solchen, deren Ausführung die Welt von ihm vergebens er­
wartet hat« (Kant 1983 c, 993). Kant sagt hier nichts Geringeres,
als dass Leibniz den Beweis seiner gegen Newton vertretenen
These von der Relativität des Raumes schuldig geblieben sei.
Schauen wir kurz nach, was Leibniz in den Briefen an
Clarke dazu gesagt hat :

»Diese Herren halten dafür, daß der Raum ein reales abso­
lutes Seiendes ist ; das führt aber in große Schwierig­keiten.
Denn es scheint, als müsse dieses Seiende ewig und un­
endlich sein. […] Was mich anbetrifft, so habe ich mehr
als einmal betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit
für etwas rein Relatives halte, für eine Ordnung des Mit­
einanders der Existenzen, so wie die Zeit eine Ordnung
ihres Nacheinanders ist. Denn der Raum, wenn man ihn
in seiner bloßen Möglichkeit betrachtet, ist eine Ordnung
der Dinge, die zur gleichen Zeit und insofern sie zusam­
men sind existieren, ohne daß man etwas über ihre beson­
dere Art zu existieren aussagt. Und wenn man mehrere
Dinge zusammen sieht, wird man sich dieser Ordnung der
Dinge bewußt.«  (W V, 371 f.)

Leibniz versteht Raum als ordre des coexistences, also ganz im


Sinne seiner Metaphysik der Kompossibilität als eine Ordnung
82
aufeinander bezogener individueller Dinge ; er ist relativ, weil
er eine Strukturordnung darstellt, der sich durch das In-Bezie­
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

hung-Sein der Dinge konstituiert. Kant argumentiert ­dagegen


für den homogenen und absoluten Raum der neuzeit­lichen
Physik, also Newton : Später wird er in der Kritik der reinen Ver­
nunft vom Raum als einer »Anschauungsform a priori« spre­
chen und zwischen der empirischen Realität des Raumes als
Erfahrungsraum und der transzendentalen Idealität des Rau­
mes als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung unterschei­
den. Das ist auch schon in dem Aufsatz von 1768 sein Argu­
ment : Die tatsächliche Erfahrung inkongruenter Gegenstücke
wie die rechte und die linke Hand und überhaupt inkongruen­
ter Räume zeigt für Kant gerade nicht die Relativität des Rau­
mes, sondern die objektive Unabhängigkeit des Raumes als
Bedingung solcher Erscheinungen der Erfahrung. Mit einem
Wort : Der berühmte Leibniz hatte nicht begriffen, dass Raum
nicht Gegenstand, sondern Bedingung von Wahrnehmung ist,
und Kant war den ›Gegenbeweis‹ nicht schuldig geblieben.
Um den Standpunkt zusammenzufassen, den der klassi­
sche Kant der Kritik der reinen Vernunft zur Metaphysik einnimmt,
macht es Sinn, die Prolegomena heranzuziehen, weil Kant in die­
ser Schrift, die die Ergebnisse seiner Metaphysikkritik aus sei­
nem Hauptwerk zusammenfasst, ausdrücklich die Frage nach
der Möglichkeit einer künftigen Metaphysik stellt. Er wendet
die Kritik an der metaphysischen Denkweise in die positive
Frage, wie Metaphysik als Wissenschaft möglich sein könnte.
In der ganzen Anlage der Argumentation – Kritik an der psy­
chologischen Idee der Unsterblichkeit der Seele, der kosmo­
logischen Frage nach Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt,
der theologischen Idee als philosophischer Frage nach der Exis­
tenz Gottes – zeigt sich eine Orientierung Kants am Aufbau von
Christian Wolffs Schulmetaphysik. Dass Leibniz von der Kri­
tik dennoch betroffen ist, zeigt sich, wenn man Kants Haupt­
argument betrachtet, das allen Widerlegungen zugrunde liegt :
83
Vernunft soll auf einen Erfahrung konstituierenden Gebrauch
eingeschränkt und jede Metaphysik als unzulässig durchschau­

»Betrügliche Begriffe« : Kant und die Folgen


bar gemacht werden, die einen die Erfahrung überschreitenden
Gebrauch der Vernunftbegriffe macht. Die Monade ist jedoch
kein Gegenstand möglicher Erfahrung, sondern ein transempi­
rischer Modellbegriff für die Struktur des Weltganzen, das nie
in der Erfahrung gegeben sein kann.
Kant argumentiert stark zusammengefasst etwa wie folgt :
Metaphysik schließt vom Substanzcharakter der Seele auf ihre
Beharrlichkeit bzw. Unvergänglichkeit. Wenn man nun von
dem ausgeht, was der Erfahrung zugänglich ist, kann man die­
sen letzteren Schluss nicht ziehen : »Nun ist die subjektive Be­
dingung aller unserer möglichen Erfahrung das Leben : folglich­
­kann nur auf die Beharrlichkeit der Seele im Leben geschlossen
werden, denn der Tod des Menschen ist das Ende aller Erfah­
rung. […] Also kann die Beharrlichkeit der Seele nur im Leben
des Menschen (deren Beweis man uns wohl schenken wird)
aber nicht nach dem Tode (als woran uns eigentlich gelegen
ist) dargetan werden« (Kant 1983 d, 206 f.). Die Unsterblichkeit
der Seele ist erfahrungstranszendent und damit die Frage nach
ihr innerhalb der Grenzen der Vernunftkritik illegitim.
Und so weist Kant auch kosmologische Spekulationen zu­
rück : Legt man das Kriterium der Überprüfbarkeit metaphy­
sischer Aussagen an der Erfahrung zugrunde, muss man sich
schlicht eines Urteils enthalten, wenn es um die Entscheidung
geht, ob die Welt ewig sei oder einen Anfang hat. Und auch im
ontologischen Gottesbeweis wirkt diese Neigung der Vernunft,
den Rahmen der Erfahrung zu sprengen : Es sind allein logi­
sche Bestimmungen und nicht etwas an der Erfahrung Über­
prüfbares, das die Existenz Gottes aus dem Begriff seiner Voll­
kommenheit (der dann Existenz einschließen muss) ableitet,
also aus dem Hut zaubert wie der Magier das Kaninchen.
Nach Beendigung seines kritischen Geschäftes hat sich
Kant ein letztes Mal zur Metaphysik und auch zu Leibniz geäu­
84
ßert, nämlich in seiner Beantwortung der Preisfrage, die aus­
gerechnet die von Leibniz ins Leben gerufene Akademie der
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Wissenschaften in Berlin 1791 ausgesetzt hatte : Welches sind die


wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zei­
ten in Deutschland gemacht hat ? Kants Antwort lautet (wie könn­
­te es anders sein ?), dass diese Fortschritte in der Trans­zen­
den­tal­philo­sophie geschehen sind : Der Text stellt eine schöne
Zusammenfassung der Hauptthesen der Kantschen Vernunft­
kritik dar, und kommt dann auch auf die »Trüglichkeit der Ver­
suche, den Verstandesbegriffen, auch ohne Sinnlichkeit, ob­
jektive Realität zuzugestehen« (Kant 1983 e, 614) zu sprechen,
um mit dem Hinweis des Fehlens einer Einheit von Begriff und
Anschauung die gesamte Prinzipienlehre von Leibniz zu kas­
sieren : Ob diese Leibniz und Wolff zugeschriebenen Versuche
in der Metaphysik »Fortschritte derselben genannt zu werden
verdienen«, muss »dem Urteile derer anheim gestellt bleiben,
die sich darin durch große Namen nicht irre machen lassen«
(Kant 1983 e, 620). Der ›berühmte Leibniz‹ ist unter dem Ver­
dikt der Vernunftkritik an sein Ende gekommen. Wir wissen
heute, dass dem nicht so war.
»Aus jedem Kiesel Feuer schlagen« :
War Goethe ein Leibnizianer ?
Diese Frage wird in der Forschung meist negativ beantwortet.
Richtig ist daran sicher, dass das Leibnizbild der klassischen
Epoche der deutschen Kultur von der Debatte um Spinoza ge­
prägt war, die Friedrich Heinrich Jacobi 1785 mit seinem Spi­
nozabuch ausgelöst hatte. Darin schildert Jacobi sein Gespräch
mit Lessing, in dem dieser sich als Spinozist bekannt haben
sollte. In der Wiedergabe dieses Gesprächs fusionierte Lessing
85
aber auch Spinoza und Leibniz : »Ich fürchte, der [Leibniz, J. Z.]
war im Herzen selbst ein Spinozist. Ich : Reden Sie im Ernste ?

»Aus jedem Kiesel Feuer schlagen« : War Goethe ein Leibnizianer ?


Lessing : Zweifeln Sie daran im Ernste ?« Dann kommt Lessing
auf seine Hochachtung für Leibniz zu sprechen, und Jacobi
spricht die berühmt gewordenen Worte : »Ganz recht. Leibniz
mochte gern ›aus jedem Kiesel Feuer schlagen‹« (­Jacobi 2000,
29). Jacobi – und nicht Lessing ! – hat den Topos so ziemlich
festgetreten, dass Leibniz von Spinoza her zu begreifen sei.
Hinzu kommt, dass mit Jacobis Buch und der heiklen Frage
eines Bekenntnisses zum Pantheismus (was in jener Zeit so
viel wie den Vorwurf des Atheismus bedeutete) die Frage nach
Spinoza einfach stärker auf den Nägeln brannte. Es geht nicht
darum, Goethe als Leibnizianer zu deuten, sondern einfach
darum zu zeigen, dass es Motive bei Goethe gibt, die viel bes­
ser mit Leibniz als mit Spinoza begriffen werden können.
In dem Text Einwirkung der neueren Philosophie kommt der
Name ›Leibniz‹ nicht vor. Sehr wohl jedoch berichtet Goethe,
schon als Kind Jacob Bruckers Philosophiegeschichte gelesen
zu haben. Er musste also von Leibniz gehört haben. Zur Philo­
sophie im Allgemeinen fand Goethe keinen rechten Draht :
»Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ«
(Goethe 1981 d, 25). Goethe berichtet dann, dass Kants Kritik
der reinen Vernunft »völlig außerhalb meines Kreises« (ebd., 26)
und erst die Kritik der Urteilskraft mit ihrer Einheit von Ästhetik
und Naturteleologie ihm Kant nahe gebracht habe. Und genau
hier liegt der Grund für seine Annäherung an Spinoza : Es ist
die Auffassung der Natur als eines Ganzen, nicht Logik und
Metaphysik, die ihn bei seinen Exkursionen in die Philosophie
leitet.
So in der Studie nach Spinoza : »Das Unendliche aber oder die
vollständige Existenz kann von uns nicht gedacht werden. /
Wir können nur Dinge denken, die entweder beschränkt sind,
oder die sich unsere Seele beschränkt. Wir haben also inso­
fern einen Begriff vom Unendlichen, als wir uns denken kön­
86
nen, daß es eine vollständige Existenz gebe, welche außer der
Fassungskraft eines beschränkten Geistes ist. / Man kann nicht
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

sagen, daß das Unendliche Teile habe« (Goethe 1981 c, 7). Das
ist Spinoza : die eine Substanz der Natur, deren Attribute der
beschränkte Geist und die endlichen Dinge sind (also das, was
bei Descartes als res cogitans und res extensa dualistisch auseinan­
derfiel). Und Goethe sagt noch etwas Interessantes : Wir kön­
nen keine endliche Vorstellung vom Unendlichen, sehr wohl
aber einen Begriff vom Unendlichen haben. Das wäre genau das
Argument der Metaphysik gegen Kants Vernunftkritik.
Dann wird es für die Frage nach den Motiven Leibnizschen
Denkens höchst interessant : denn Goethe spricht von »den
Seelen, die eine innre Kraft haben« und davon, »daß alle leben­
dig existierende Dinge ihr Verhältnis in sich haben« (ebd., 8
und 9). Das ist mit Spinoza so nicht zu denken, sondern leibni­
zianisch : Der Schritt vom Mechanischen (das allein die Natur
Spinozas vor Augen hat) zum Lebendig-Organischen der Na­
tur ist noch von Kants Kritik der Urteilskraft her denkbar ; ›innere
Kraft‹ und das ›Verhältnis in sich haben‹ dagegen sind Grund­
gedanken von Leibniz. Es ist daher bedeutsam, dass Goethe
gerade an der systematischen Stelle, wo es ihm nicht um den
mechanischen Zusammenhang der Natur, sondern die leben­
dige Totalität des organischen Naturganzen geht, auf diese
Motive des Denkens von Leibniz zurückgreift.
Im sogenannten Urphänomen, dem zentralen Begriff von
Goethes Naturphilosophie, gibt sich das Ganze der Natur als
beschränkter Gegenstand der Anschauung. In dieser begrenz­
ten Erscheinung zeigt sich das Ganze, es geht Goethe f­ olglich
nicht um die isolierte Singularität eines Phänomens im Sinne
Kants, sondern um ein Allgemeines, das am Einzelnen er­
scheint. Das Verhältnis zwischen dem einzelnen Naturphäno­
men und dem Naturganzen wird von Goethe in der Form eines
universellen Analogieverhältnisses gedacht. Das hat er in ei­­
nem Aphorismus der Maximen und Reflexionen klar ausgespro­
87
chen : »Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden ;
daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit geson­

»Aus jedem Kiesel Feuer schlagen« : War Goethe ein Leibnizianer ?


dert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt
­alles identisch zusammen ; meidet man sie, so zerstreut sich
alles ins Unendliche« (Goethe 1981 b, 368).
Der Zusammenhang des Ganzen ist also auch hier als Ein­-
­heit von Beziehungen gedacht, und in dieser Einheit ist dann
jedes Einzelne allen anderen irgendwie ähnlich – genau so,
wie Leibniz das von den Monaden ausgeführt hatte. Goethe
versucht außerdem in dem zitierten Fragment, selbständiges
Fürsichsein und Bezogensein auf Anderes als Momente der Er­
scheinungen zu fassen : Denken in Analogien sucht die Mitte,
die weder gleichmacherisch nur Identität fixiert noch alles in
disparate Vielheit auflöst. Genau das versucht Goethe in sei­
nem naturphilosophischen Denken einzulösen. Der Name
Leibniz fällt nicht, und doch scheint das Monadenmodell am
ehesten geeignet zu sein, Goethes Intuition, dass jedes ein­
zelne Existierende ein Analogon alles Existierenden sei, in einer
philosophischen Gesamtkonzeption begründen zu können.
Leibniz steckt sogar im Faust. Ungenannt und in diesem
Fall auch nicht so deutlich sichtbar, aber dennoch begründ­
bar : Das faustische Motiv des unabschließbaren Strebens, das
Gegenstand der berühmten Wette ist (Mephistopheles be­
kommt die Seele Fausts, wenn diese sich je bei einem Erreich­
ten zufriedengibt und zum Augenblick sagt : ›Verweile doch,
du bist so schön‹), kann mit dem Begriff des Glücks von Leib­
niz mit Gewinn verglichen werden. Das Grundmotiv des Faust
findet sogar seine genaue philosophische Entsprechung bei
Leibniz : »Die Glückseligkeit besteht nicht in einem höchsten
Grade, sondern in einem ständigen Wachstum der Freuden«
(W I, 373). Leibniz artikuliert hier ein zutiefst modernes Men­
schenbild und Verständnis von Glück, das im Faust-Drama
symbolisch dargestellt ist. In den Nouveaux Essais steht ein Satz,
der sich wie ein Kommentar zur Faust-Wette liest : »weit ­davon
88
entfernt, daß man diese Unruhe als mit der Glückseligkeit unverträg­
lich erachten müsse, finde ich, daß die Unruhe wesentlich für die
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

Glückseligkeit der Geschöpfe ist, die niemals in einem voll­


kommenen Besitz besteht, der sie unempfindlich und gleich­
sam stumpf machen würde, sondern in einem dauernden und
ununterbrochenen Fortschritt zu den größten Gütern, der von
einem Begehren oder wenigstens von einer dauernden Unruhe
begleitet sein muß« (W III. 1, 291 f.). Genau das ist Thema und
Leitmotiv der Faust-Dichtung.

Leibniz im Deutschen Idealismus :


Schelling und Hegel
Auch Schelling rückt Leibniz in die Nähe zu Spinoza. Er selbst
hatte in der Entwicklung des Deutschen Idealismus zwischen
Fichtes Ich-Philosophie und Hegels Philosophie des Geistes na­
turphilosophisch argumentiert und sogar eine Zeitschrift für spe­
kulative Physik herausgegeben. Sein frühes Hauptwerk aus dem
Jahre 1800, das System des transzendentalen Idealismus, versuchte ­
­die Identität von Natur und Geist zu begründen. Dabei spielte
der Pantheismus von Spinoza eine nicht unbedeutende Rolle.
Diese Verbundenheit bleibt auch in den viel später, nämlich
1833/34 in München gehaltenen Vorlesungen zur Geschichte
der neueren Philosophie, in denen auch Leibniz zur Sprache
kommt, durchaus erhalten, obwohl die revolutionären Tage
des Deutschen Idealismus im Biedermeier gezählt sind und
nach Hegels und Goethes Tod zunächst eine Zeit ­konservativer
Erstarrung anbricht. Schelling jedoch bekundet »auch in den
Münchner Vorlesungen noch seine Neigung zum Spinozismus,
der den Pantheismus des jungen Schelling befruchtete« (Holz
2015, 76).
Nun steht Schelling zwar, was die Annäherung von Leibniz
an Spinoza angeht, ganz in der Tradition von Jacobi. Aber wie
89
so oft in Rezeptionsverläufen, bekommt die These, bei der sich
Schelling durchaus treu bleibt, in veränderten Zeitläuften einen

Leibniz im Deutschen Idealismus : Schelling und Hegel


anderen Beigeschmack : denn die Annäherung an Spinoza be­
deutet jetzt, dass Schelling Leibniz’ Gottesbegriff in dem Sinn
auffasst, als sei er »ein oberster Weltbegriff«, will sagen : »Leib­
niz galt ihm als Atheist, was auch schon Spinoza war« (ebd.,
70). In einer nachrevolutionären Zeit werden dieselben Ideen
dann nicht mehr affirmativ aufgenommen, sondern mit kriti­
scher Distanz versehen. Zunächst referiert Schelling, dass man
Leibniz fälschlich in einer stillschweigenden Gegnerschaft zu
Spinoza gesehen habe, um dann die Reihe seiner Übereinstim­
mungen mit ihm aufzumachen. Richtig sieht Schelling die Stel­
lung gegen Descartes im Leib-Seele-Problem : »Leibniz war ent­
schiedener Antidualist, Leibliches und Geistiges waren ihm
insofern eins, als er beides zuletzt auf den Begriff der Monas
zurückführte« (Schelling 1985, 468 f.). Dann aber hebt er die
Gemeinsamkeit mit Spinoza in dieser Frage heraus, was das
Problem implizit sofort auf die Frage nach dem Atheismus zu­
spitzt : denn wer die Einheit von Leib und Seele vertritt, leugnet
die Unsterblichkeit der Seele (was aber Leibniz zuverlässig so
nicht getan hatte und Schelling auch nur andeutet). Spinoza ist
dann in dieser Hinsicht der konsequentere Denker, und Schel­
ling kann »den Leibnizianismus zunächst nur als einen verküm­
merten Spinozismus« ansehen (ebd., 470).
In dem konservativen Kontext der Münchener Vorlesungen
und der Epoche nach dem Wiener Kongress bekommen sol­
che Aussagen, die auch positiv aufgenommen werden könnten
(und im Fall Spinozas in besseren Tagen von Schelling ja auch
positiv aufgenommen worden waren) einen diskreditierenden,
verdächtigenden Unterton, der in Zeiten des Nachtwächter­
staates nicht einmal offen ausgesprochen werden muss. Leib­
niz als einer der herausragenden Vertreter aufgeklärten Geis­
tes in Deutschland wird unter den Verdacht gestellt, ein ­Atheist
wie Spinoza gewesen zu sein.
90
Entsprechend folgerichtig ist dann die Aufnahme des ro­
mantisierenden Topos der schlafenden Monaden, die wir
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

schon von Herder kennen :

»so müssen wir wenigstens eine verdienstliche Seite des­


selben rühmen, diese nämlich, daß er sich nicht begnügte,
von den Dingen immer nur in abstracto, ohne Rücksicht
ihrer Unterschiede und Abstufungen, zu reden. Leibniz zu­
erst nannte die Welt der unorganischen und insgemein
todt genannten Körper eine schlafende Monadenwelt ; die
Seele der Pflanzen und Thiere war ihm die bloß träumende
Monas, die vernünftige Seele erst die wachende. Obwohl
er diese Abstufung bloß bildlich ausgedrückt hat, soll sie
ihm doch nicht übersehen werden, sie war der erste An­
fang, das Eine Wesen der Natur in der nothwendigen Stu­
fenfolge seines zu-sich-selbst-Kommens zu betrachten,
und kann insofern gelten als der erste Keim späterer, le­
bendigerer Entwicklung. Diese Seite ist noch die schönste
und beste der Leibnizischen Lehre«.  (Ebd., 470)

Hier zeigt sich sehr klar die Dialektik von Rezeptions­verläufen,


aber auch die Subtilität der Bedeutungsverschiebungen, die
dabei stattfinden : Schelling argumentiert als der Philosoph
der Identitätsphilosophie und ihrer Einheit von Natur und
Geist, der er gewesen ist. Er nimmt Leibniz als Vor­reiter da­
für in Anspruch, sagt also, dass er die bei Leibniz vorhande­
nen Metaphern aufgenommen hat und es besser macht. Das
Ganze geschieht indes auf eine Weise, die selbst wieder auf die
Nachtmetaphorik einer schlafend-träumenden ›Mondwelt‹ der
Romantik anspielt. Irrationalisierungen eines Rationalisten :
»Gewiss ist Leibnizens Geist weiter, als er zu erkennen gab. Er
war gleichsam mit einem magischen Blick begabt, einem Blick,
dem jeder Gegenstand, auf den er sich heftete, wie von selbst
sich aufschloß« (ebd., 475). Das ›Schönste‹ der Leibnizschen
91
Lehre ist also eigentlich identisch mit dem ›Besten‹ der Lehre
Schellings.

Leibniz im Deutschen Idealismus : Schelling und Hegel


Noch ein Aspekt macht die Darstellung Schellings hoch
interessant : die Entdeckung Leibnizens als historische Figur.
Das 18. Jahrhundert setzte sich mit den Argumenten von Leib­
niz beinahe zeitgenössisch auseinander, hatte keine histori­
sche Distanz zu ihm und reflektierte noch nicht auf seine histo­
rische Stellung und Funktion. Schelling ist sich im geschichts­
bewussten 19. Jahrhundert dieser historischen Bedeutung
jedoch bewusst : »wenn er mit so großen Eigenschaften nicht
das alles leistete, das er leisten konnte, so muß man die un­
überwindliche Erstorbenheit seiner Zeit in Betracht ziehen, je­
ner traurigen Zeit, die in Deutschland unmittelbar auf die Zer­
rüttungen des 30‑jährigen Krieges folgte.« Durch diese histori­
sche Leistung wird er »immer ein Stolz der deutschen Nation
bleiben« ; und es ist »sein mehr vermittelnder als revolutionä­
rer Geist«, der ihn zu diesem Vorbild der Kulturnation befähigt
(ebd.). Das ist richtig dargestellt und doch irgendwie falsch. In
den Verwerfungen und Teilungen der deutschen Geschichte ist
Sprache und Kultur das kontinuierliche, auch das Einheit stif­
tende Element. Falsch wird es im Kontext und seinen Konno­
tationen : Schelling spricht vom ›vermittelnden‹ Leibniz nicht
in einer unter dem Friedensgebot stehenden Nachkriegszeit,
sondern in einer nachrevolutionären, restaurativen Zeit eines
erwachenden Nationalismus, der sicher nicht den Intentionen
von Leibniz entsprach, aber jetzt dafür instrumentalisiert wer­
den soll.
Perspektiven eröffnen bestimmte Einblicke, aber sie bedeu­
ten immer auch Scheuklappen. Hegel sieht Leibniz in vielerlei
Hinsicht richtig, z. B. seine »Geschäftigkeit«, die sich in ver­
schiedenen Wissenschaften »herumgetrieben« hat (Hegel 1971,
234 und 236). Er ist nah dran am dialektischen Leibniz – und
doch nicht bereit, zuzugreifen. So widerspricht er der in sei­
ner Zeit verbreiteten Ansicht, Leibniz von Spinoza her zu ver­
92
stehen : »Leibniz […] stellt dem Spinoza die unendliche Viel­
heit der Individuen entgegen« (ebd., 197). In der E ­ nzyklopädie
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel

nannte er die Metaphysik »das unbefangene Verfahren«, das »den


Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt,
das, was die Objekte wahrhaft sind, vor das Bewußtsein ge­
bracht werde« (Hegel 1970, 93). Das gab Kant gegen die ›vorma­
lige‹ Metaphysik recht, wo er recht hatte, d. h. in der ­Kritik an
der Naivität des Standpunktes aller V­ erstandesmetaphysik, die
darin einem philosophisch unreflektierten Verfahren gleich­
kommt : »Alle anfängliche Philosophie, alle Wissenschaf­ten,
ja selbst das tägliche Tun und Treiben des Bewußtseins lebt in
diesem Glauben« (ebd.).
Hegels eigentliche Frage an Leibniz jedoch ist, wie er das
unendliche Ganze denkt. Und hebt zunächst hervor, dass es
bei ihm genau darum geht : Leibniz »behauptete das Denken
gegen das englische Wahrnehmen […] Spinoza ist die allge­
meine, eine Substanz. Bei Locke sahen wir die endlichen Be­
stimmungen als Grundlage. Das Grundprinzip des Leibniz ist
das Individuelle« (Hegel 1971, 233). Es geht also darum, ­dieses
Individuelle zum Prinzip der Begründung des Ganzen zu ma­
chen. Und da wirft Hegel Leibniz vor, in dieser Angelegenheit
nicht systematisch genug zu sein : Seine Philosophie ist we­
niger ein »philosophisches System«, sondern vielmehr »eine
Hypothese«. Es handelt sich um »Gedanken, die übrigens oh­
ne Konsequenz des Begriffs im ganzen erzählungsweise vor­
getragen werden«. Leibniz’ Philosophie ist dann lediglich »ein
metaphysischer Roman« (ebd., 238). Genau das, was uns Heu­
tigen Leibniz so nahe sein lässt, der hypothetische und auch
fragmentarische Vortrag, eben die Offenheit seiner Gedanken,
wird dem geschlossenen Systematiker Hegel zu einem Mangel :
»Seine Philosophie ist daher ganz in kleinen Broschüren, Brie­
fen, Antworten zu Einwürfen zerstreut ; wir finden schlechthin
kein ausgearbeitetes systematisches Ganzes. Das Werk, das
etwa so aussieht, seine Théodicée, das berühmteste beim Publi­
93
kum, ist eine populäre Schrift« und »für uns nicht mehr recht
genießbar« (ebd., 236). Hegel trägt also seinen eigenen, sys­

Leibniz im Deutschen Idealismus : Schelling und Hegel


tematisch-geschlossenen Philosophiebegriff an Leibniz heran.
Dabei nennt seine philosophiehistorische Darstellung alle
wesentlichen Elemente von Leibniz’ Denken, die Hegel zu
einem dialektischen Verständnis hätten führen können : zu­
nächst »die sehr wichtige Bestimmung«, dass »in der Substanz
selbst« die »Negativität« enthalten ist (ebd., 242). Das bedeutet
in der Sprache Hegels : Die individuelle Substanz hat das Ver­
hältnis zu Anderem in sich. Weiter spricht er von der »Sponta­
neität der Monade« und dass Veränderung auf ihrer Tätigkeit
beruht (ebd., 243). Er sieht sehr genau, dass Leibniz die prästa­
bilierte Harmonie als Einheit der Beziehungen begreift (­alles
Elemente dialektischen Denkens) – und beklagt dann, dass er
sie »als eine begriffslose Beziehung« auffasst (ebd., 250). An
diesem Punkt allerdings kommt ein wesentlicher Unterschied
zwischen Hegel und Leibniz zum Ausdruck : Hegel denkt Be­
ziehungen immer in der Form des Begriffs, während Leibniz’
System Welt als Einheit wirklicher Verhältnisse begreift.
Sogar den Perspektivismus, den wir herausgearbeitet ha­
ben, nimmt Hegel durchaus wahr : »Aus einem Sandkörnchen
könnte das ganze Universum in seiner ganzen Entwicklung be­
griffen werden, wenn wir das Sandkörnchen ganz erkennten.
[…] So hat oder ist also jede Monade die Vorstellung des gan­
zen Universums, d. h. eben sie ist Vorstellung überhaupt, aber
zugleich eine bestimmte, wodurch sie diese Monade ist, Vor­
stellung nach ihrer besonderen Lage und Umständen« (ebd.,
253). Hegel sieht die Pointe der Philosophie von Leibniz sehr
genau – und verstellt sich ihr im Namen des Begriffs, also einer
geschlossenen Begriffsdialektik, die Leibniz »nicht auszufüh­
ren gewußt« (ebd.). Wir möchten schon annehmen, dass er sie
so nicht ausführen wollte.

94
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
Perspektiven auf Leibniz 95

Perspektiven auf Leibniz


Als in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Hannover das Wohn­
haus von Leibniz abgerissen wurde, bekam Karl Marx von
seinem Freund Kugelmann ein paar Fetzen Tapete aus Leib­
niz’ Arbeitszimmer nach London geschickt, die sich im Ab­
raum gefunden hatten. Marx hat sie sich eingerahmt und in
seinem Arbeitszimmer aufgehängt. Die schöne Geschichte
ist überliefert, weil Marx sie in einem Brief an Engels erzählt
hat, nicht ohne hinzuzufügen : »You know my admiration for
Leibniz« (vgl. Holz 2015, 55 f.). Ein schönes Bild für Rezeption :
gerahmte Fragmente. Ein erhellendes Bild für Marx, der sich
schon sehr früh Exzerpte zu Leibniz gemacht hatte (Marx 1976,
183 ff.). Ein treffendes Bild auch für das Verhältnis des Jahrhun­
derts zur Überlieferung : Abrisse sorgen für ein Bedürfnis nach
Aufbewahrung.
Genau das geschieht auch mit dem Erbe von Leibniz. Denn
in der nachklassischen Zeit schieden sich, wie in so vieler an­
derer Hinsicht auch, die Geister in der Leibnizrezeption. Auf
der einen Seite haben wir Ludwig Feuerbach, der in der philo­
sophiehistorischen Nachfolge Hegels mit seiner monographi­
schen Darstellung von Leibniz im 19. Jahrhundert die begin­
nende wissenschaftliche Beschäftigung mit seiner Philosophie
repräsentiert. Hinter dieser intensiven Beschäftigung steckt
selbstverständlich sein eigener philosophischer Ansatz, der
die spekulative Philosophietradition von Spinoza über Leibniz
bis Hegel als transformierte Theologie bzw. in Vernunft ver­
wandelten Gott versteht : »Es ist daher eine innere, eine heilige
Notwendigkeit, daß das von der Vernunft unterschiedene Wesen
der Vernunft endlich mit der Vernunft identifiziert, das göttliche
Wesen also als das Wesen der Vernunft erkannt, verwirklicht und
vergegenwärtigt werde. Auf dieser Notwendigkeit beruht die
hohe geschichtliche Bedeutung der spekulativen Philosophie« (Feuer­
96
bach 1982, 266 f.). So kann Feuerbach dann Leibniz als Vorläu­
fer seines Materialismus deuten (ebd., 275). Sein Verdienst je­
Perspektiven auf Leibniz

doch ist eine gründliche monographische Darstellung, die die


›hohe geschichtliche Bedeutung‹ herausarbeiten soll.
Auf der anderen Seite kann exemplarisch Arthur Schopen­
hauer genannt werden, der das Unverständnis der Epoche
Leibniz gegenüber artikuliert. Er weist die positive Aneignung
Leibnizens durch die Deutschen Idealisten zurück : Diese woll­
ten »in den verschlammten Kanal des alten Dogmatismus«
­zurück »und lustig in den Tag hinein […] fabeln über ihre be­
kannten, ihnen anempfohlenen Lieblingsmaterien […] Da­
her stammt auch die, seit einigen Jahren sich überall kund­
gebende, affektirte Veneration und Anpreisung des Leibnitz,
den sie gern Kanten gleichstellen, ja über ihn erheben, indem
sie mitunter ihn den größten aller deutschen Philosophen
zu nennen dreist genug sind. Nun aber ist, gegen Kant gehalten,
Leibnitz ein erbärmlich kleines Licht« (Schopenhauer 1988 a,
180 f.). Diese herabwürdigende Sprache spricht für sich selbst.
Schopenhauer kann nur schimpfen ȟber Leibnitzens System
[…], dessen zu seiner Zeit ausgebreiteter Ruhm und hohes An­
sehen einen Beleg dazu giebt, daß das Absurde am leichtesten
in der Welt Glück macht« (Schopenhauer 1988 b, 14). Dieser
Vorwurf fiel alsbald auf seinen Urheber zurück, als plötzlich
›ausgebreiteter Ruhm‹ über den Philosophen Schopenhauer
kam, der in Frankfurt an seinem Salonfenster den auf die Bar­
rikadenkämpfer für die erste deutsche Demokratie schießen­
den Soldaten sein Opernglas reichte.
Das 19. Jahrhundert war in seinem Verhältnis zu Leibniz an­
sonsten unspektakulär. Aber in seiner philologischen Emsig­
keit war es sehr wichtig für die Entwicklung im 20. Jahrhun­
dert, weil erst die allmähliche Herstellung einer angemessenen
Quellenlage das Puzzle ›Leibniz‹ zusammenzusetzen begann.
Das ermöglichte dann auch verschiedene Perspektiven auf sein
Werk, weil es durch eine umfassende Edition in seinem Facet­
97
tenreichtum sichtbar gemacht werden konnte. Für die Rezep­
tionsverläufe klassischer Autoren ist die Geschichte ihrer Edi­

Perspektiven auf Leibniz


tion deshalb immer von herausragender Bedeutung. Im Falle
Leibniz trifft das umso mehr zu, als sein Werk ein Puzzle von
sehr vielen kleinen Teilen ist. Im Unterschied etwa zu den Philoso­
phien der klassischen Zeit zwischen Kant und Hegel, wo es im­
mer systematische Hauptwerke gab, die vielleicht nicht alle Fa­
cetten, aber doch den wesentlichen Gedanken breit entwickelt
sichtbar machten, gab es von Leibniz nur wenige Hauptschrif­
ten und ein populäres Werk, das eher als Rezeptionssperre ge­
wirkt hatte.
Die große Aktualität von Leibniz und sein Reiz für unser
Denken heute bestehen aber gerade darin, dass er den systema­
tischen Gehalt seines Denkens in der fragmentarischen Form
von Entwürfen immer wieder neu durchdenkt. Leibniz denkt
wie in einer Werkstatt – die auf Tausenden von Zetteln zum
Wiederaufgreifen abgelegten Gedanken und der Austausch da­
rüber in Briefen jedoch blieben dem Verständnis und der Aus­
legung von Leibniz lange Zeit verschlossen. Genau diese Si­
tuation begann sich mit der eigentlichen Editionsgeschichte
im 19. Jahrhundert zu verändern : Die von Gerhardt von 1875
bis 1890 besorgte Ausgabe der Philosophischen Schriften ist nach
wie vor die Standardausgabe für die philosophische Leibniz­
forschung.
Die Gesamtausgabe der Sämtlichen Schriften und Briefe setzt
seit 1923 das Puzzle zusammen und bewegt das entstehende
Gesamtbild sozusagen durch das 20. Jahrhundert : Die Edition
wurde in der Weimarer Republik bei der Preußischen Akade­
mie der Wissenschaften begonnen, in der DDR als Akademie­
ausgabe weitergeführt und nach 1990 durch die Berlin-Bran­
denburgische und die Göttinger Akademie der Wissenschaften
fortgesetzt. An ihr sind das Leibniz-Archiv in Hannover, die
Leibniz-Forschungsstelle in Münster und die Leibniz-Arbeits­
stelle in Berlin beteiligt. Ein großes Unternehmen, das noch
98
lange nicht abgeschlossen ist. Deshalb ist die zweisprachige
Studienausgabe der Philosophischen Schriften, die seit 1959 bei der
Perspektiven auf Leibniz

Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erschienen


ist, für den allgemeinen Studiengebrauch sehr nützlich : Unter
anderem auch, da man unter den Rezeptionsbedingungen des
21. Jahrhunderts nicht mehr ohne weiteres voraussetzen kann,
dass ein allgemein interessierter Leser Lateinisch und Franzö­
sisch liest.
Es ist unmöglich, in dieser kurzen Darstellung einen Über­
blick über die intensive und weit gefächerte Leibnizforschung
zu geben, die auf der Grundlage der wichtigen Editionen ent­
standen ist. In seiner Einleitung zu so einem Forschungsüber­
blick schreibt Albert Heinekamp sehr treffend : »Man schafft
Leibniz ohne Unterlaß neu« (Heinekamp/Schupp 1988, 3).
Eine maßgebliche neue Entwicklung des Leibnizbildes jedoch
bringt das 20. Jahrhundert mit der Entdeckung des Logikers
Leibniz durch Bertrand Russell und Louis Couturat. Es entwi­
ckeln sich systematische Perspektiven auf Leibniz : Ernst C
­ assirer
entdeckt den Bewusstseinsphilosophen Leibniz und Hans
Heinz Holz den Dialektiker.
Es scheint, als wolle die Rezeption im 20. Jahrhundert den
Perspektivismus bestätigen, den Leibniz selbst philosophisch
begründet hatte. Der besagt unter anderem, dass – hermeneu­
tische Strenge vorausgesetzt – keine Position ganz irren, aber
auch keine ausschließlich das Recht auf ihrer Seite haben kann.
Perspektiven beleuchten Aspekte und stellen etwas am Gegen­
stand der Interpretation scharf, verlieren jedoch auch ande­
res aus dem Blick. Auf diese Interpretationsperspektiven trifft
wahrscheinlich zu, was Leibniz von den metaphysischen Mo­
dellen sagte : Sie sind Hypothesen, und diejenige ist überzeu­
gender, die mehr Aspekte von Leibniz zu erklären vermag. Die
Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieser Perspektiven zu diskutie­
ren, verlangt eine Ausführlichkeit der Erörterung, die in unse­
rem Zusammenhang nicht zu leisten ist. Man muss diese ver­
99
schiedenen Perspektiven des 20. Jahrhunderts aber immerhin
kurz charakterisieren und rekonstruieren, um die Frage nach

Die Aktualität des Logikers Leibniz : Bertrand Russell


»Leibniz heute«, also seiner Bedeutung für die Zukunft im
21. Jahrhundert genauer fassen zu können.

Die Aktualität des Logikers Leibniz :


Bertrand Russell
Fast ein halbes Jahrhundert nach seiner bahnbrechenden Stu­
die über Leibniz behandelte Russell ihn 1945 aus der Perspek­
tive des Philosophiehistorikers, die aber wiederum nichts wei­
ter als den systematischen Blick des Logikers Russell auf Leib­
niz pointiert zum Ausdruck brachte. Russell unterschied eine
populäre exoterische Lehre, die im theologischen und meta­
physischen Werk artikuliert ist, das Leibniz selbst für die Publi­
kation bestimmt hat, von einer esoterischen Lehre, die er von
der Veröffentlichung ausgenommen hatte und nun durch die
neuen Editionen ans Licht kam : die Lehre des Logikers Leib­
niz. Diese Geheimlehre, von der man nicht recht versteht, wa­
rum Leibniz sie zurückgehalten haben sollte, zeigte das We­
sentliche : »Leibniz war von der Bedeutung der Logik, und zwar
nicht nur in ihrem eigenen Bereich, sondern auch als Grund­
lage der Metaphysik, fest überzeugt. Er arbeitete an einer ma­
thematischen Logik, die ungeheuer wichtig geworden wäre,
wenn er sie veröffentlicht hätte« (Russell 2012, 600).
Sie hätte »Denken durch Rechnen ersetzt«. Diese Charak­
terisierung macht Leibniz zum Vorläufer der mathematischen
Logik als Grundlage der Philosophie überhaupt (denn sie gilt
nicht nur wie in der traditionellen Philosophie ›in ihrem eige­
nen Bereich‹, sondern als Grundlage des Denkens überhaupt).
Russell hält diese Interpretation konsequent durch, indem er
die Metaphysik in der Logik begründet sieht (und nicht, was
doch immerhin auch denkbar ist, die Form der Logik aus dem
100
metaphysischen Konzept hervorgehen lässt) : »Der Begriff der
Substanz […] ist aus der logischen Kategorie von Subjekt und
Perspektiven auf Leibniz

Prädikat abgeleitet« (ebd., 599). Russell nimmt also ›perspek­


tivisch‹ Leibniz für seinen eigenen programmatischen Ansatz
einer auf mathematischer Logik beruhenden Philosophie in
Anspruch : »In seinem der Öffentlichkeit verschlossenen Den­
ken stellt Leibniz das beste Beispiel eines Philosophen dar, der
die Logik als Schlüssel für die Metaphysik verwendet« (ebd.,
603).
Diese Sichtweise stilisiert die Entdeckung des Logikers
Leibniz, welche ohne Zweifel ein bedeutendes Verdienst dar­
stellt. In A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz (1900) ent­
wickelt Russell den Logiker Leibniz aus dem Discours de Méta­
physique und dem in diesen Kontext gehörenden Briefwechsel
mit Arnauld. Immer wieder ist hervorgehoben worden, dass
Russell Leibniz’ Beitrag zur Logik der relationalen Aussagen
entdeckt habe. Aber gerade an diesem tatsächlich sehr wichti­
gen Problem, ob die Relationen dem Subjekt äußerlich und zu­
fällig sind oder ihm wesentlich angehören (wir haben gesehen,
wie wichtig diese Frage in Leibniz’ Metaphysik ist), zeigt sich,
wie schwierig es ist, die Frage nach dem Verhältnis von Lo­
gik und Metaphysik zu klären. Es entstehen Fragen nach dem
ontologischen Status, also nach der Wirklichkeit von Relatio­
nen. Haben sie der Substanz gegenüber eine geringere Rea­
lität ? Fügt der Geist die Relationen hinzu oder ›sind‹ sie etwas ?
Leibniz hatte ja in seiner metaphysischen Konzeption das Ver­
hältnis in den Begriff der Substanz aufgenommen.
Es scheint also schwierig, die Metaphysik von Leibniz um­
standslos aus der Logik abzuleiten. Denn metaphysische Aus­
sagen sind ontologische Aussagen, also Aussagen über die
Verfasstheit der Wirklichkeit, während die Logik den formalen
­Charakter von Aussagen prüft und bestimmt. Sobald die Lo­
gik als das Grundlegende gilt, wird eine Gleichförmigkeit von
Denken und Sein vorausgesetzt, obwohl sie zur Entscheidung
101
der Frage allererst begründet werden müsste. Wir lassen also die
Frage als Frage stehen – und danken Russell, dass er das Pro­

Die Aktualität des Logikers Leibniz : Bertrand Russell


blem einer Logik der Relation gestellt hat. Kurz nach ihm hat
auch Louis Couturat (1901) die Bedeutung der Logik im Den­
ken von Leibniz unterstrichen. Er hat weniger eigene systema­
tische Voraussetzungen als Russell an ihn herangetragen und
argumentiert historischer ; aber auch Couturat kommt zu dem
Ergebnis, die Metaphysik aus der Logik herzuleiten : »Die Mo­
nade ist das zur Substanz erhobene logische Subjekt ; ihre Attri­
bute werden die dem Wesen der Substanz ›inhärierenden‹ Ak­
zidentien« (Couturat 1988, 61).
Der wegweisende Aspekt von Leibniz’ Beitrag zur Logik ist
tatsächlich, wie von Russell hervorgehoben, der Versuch, sie
zu formalisieren bzw. sie zu einem System symbolischer Zeichen
zu machen. Die characteristica universalis, ein Projekt, das Leib­
niz sein Leben lang beschäftigte, stellt den Versuch dar, ein
Verzeichnis aller Grundbegriffe des Denkens zu erstellen und
ihre Kombinationen durch symbolische Ausdrücke notierbar
zu machen. Leibniz schreibt dazu : »es müßte sich, meinte ich,
eine Art Alphabet der menschlichen Gedanken ausdenken und
durch die Verknüpfung seiner Buchstaben und die Analyse der
Wörter, die sich aus ihnen zusammensetzen, alles andere ent­
decken und beurteilen lassen« (W IV, 47). Die Idee bei der Sa­
che besteht darin, »daß mit Hilfe der Zahlen, der Zeichen und
einer Art neuen Sprache […] sämtliche Begriffe und Dinge in
gehörige Ordnung gebracht werden sollten«. In dieser characte­
ristica universalis sollen »zugleich die Kunst des Auffindens und
der Beurteilung enthalten« sein (W IV, 43).
Man würde dadurch »ein neues Instrument besitzen, wel­
ches das Leistungsvermögen des Geistes weit mehr erhöhen
wird als optische Gläser die Sehschärfe der Augen fördern«
(W IV, 53). Damit ist tatsächlich das Verfahren einer mathe­
matischen Logik und ihrer Symbolsprache antizipiert. Aber
die characteristica universalis ist zugleich mehr : Geht man von
102
der philosophischen Voraussetzung von Leibniz aus, die Wirk­
lichkeit als Einheit aller Beziehungen und Wechselwirkungs­
Perspektiven auf Leibniz

verhältnisse der individuellen Vielen zu verstehen, wird eine


Funktion der allgemeinen Charakteristik als Symbolsprache
deutlich, die über Formalisierbarkeit des Denkens hinaus­
geht – denn sie ermöglicht ja dem Grundgedanken nach, Ver­
bindungen aufzudecken und erfassbar zu machen. Das meint die
Rede vom Leistungsvermögen, das größer ist als das der Linse
beim Sehen : Die characteristica vergrößert nicht einen Gegen­
stand bzw. Ausschnitt aus der Wirklichkeit, sondern sie mul­
tipliziert die Erfassbarkeit von Beziehungen im Gesamtzusam­
menhang. An dieser Stelle zeigt sich, dass nicht notwendig
immer die Logik der Zeichen zur Metaphysik, sondern auch
umgekehrt ein metaphysisches Problem zur Entdeckung neuer
Denkformen führen kann.
Das bedeutet nicht, dass Russells Argumentation völlig
falsch, sondern dass sie einseitig ist. Denn das von Leibniz an­
gedachte System der Zeichensprache soll ein leistungsfähiges
Verfahren der ars combinatoria sein : Unter der Voraussetzung,
dass Leibniz Welt als komplexe und sich in ihrer Komplexi­
tät steigernde und reorganisierende Beziehungseinheit Vieler
versteht, muss Veränderung durch Rekombination der Vielen
entstehen, die in Beziehung sind. Die Ordnung der Begriffe
muss sich also an diese sich ständig reorganisierende Ord­
nung der Dinge durch neue Kombinationen angleichen. Ein
Aspekt der Formalisierung und Symbolisierung durch Zeichen
ist also, diese neue Sprache aufgrund der Größe ihrer Aufgabe
leistungsfähiger zu machen. Leibniz setzte große Hoffnungen
in die characteristica universalis. Ob ein solches Projekt, Grund­
begriffe zusammenzustellen, deren Kombinatorik alle Verän­
derungen der Wirklichkeit ausdrücken und abbildbar machen
würde, tatsächlich gelingen könnte, muss mit Fragezeichen
versehen werden. Diese Kombinatorik entspräche einem rie­
sigen ›Welt-Computer‹.
103

Ernst Cassirer und die ›Falten des Bewusstseins ‹


Ernst Cassirer und die ›Falten des Bewusstseins ‹

In der Leibnizforschung ist immer wieder festgestellt worden,


dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Weichen gestellt wurden.
Einmal aufgrund der Entdeckung des Logikers durch Russell
und Couturat, dann aber auch durch die umfangreiche Mono­
graphie Ernst Cassirers aus dem Jahre 1902. Oft wird dann be­
tont, dass auch Cassirer von der Logik ausgehe, um Leibniz
zu interpretieren. Das ist nur richtig, wenn man das ganz an­
dere Verständnis von Logik im Blick hat, das der Neukantia­
ner Cassirer bei seinen Untersuchungen zugrunde legt. In der
Nachfolge Kants ist Logik transzendental, d. h. sie untersucht
die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Im Neukan­
tianismus wird diese kritische Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit von Wissen dann zu einem philosophischen
Programm transzendentaler Begründung der Wissenschaften.
Und genau aus dieser Perspektive nähert sich Cassirer Leibniz.
Das Buch Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen
artikuliert schon im Titel das Programm : die Einheit von Meta­
physik und Wissenschaft bei Leibniz nachzuzeichnen. Die ge­
samte Einleitung ist Descartes gewidmet, denn dieser hat »die
unlösliche gegenseitige Beziehung philosophischen und wis­
senschaftlichen Denkens« (Cassirer 1902/1980, 3) zur Grund­
lage neuzeitlicher Philosophie gemacht. Das ist der grundsätz­
lich richtige Rahmen, in den Cassirer seine Leibnizdeutung
stellt. Das Problem beginnt, wenn er viele Seiten lang Des­
cartes fast transzendentalphilosophisch interpretiert (beinahe
als Vorläufer Kants), indem er seine Philosophie als erkenntnis­
kritische Begründung von Mathematik und Naturwissenschaf­
ten deutet und dann auch Leibniz in dieser Richtung versteht.
Es ist ja völlig zweifelsfrei, dass die neuzeitliche Metaphysik
Begründung der Wissenschaft ist – aber man sollte nicht vor­
104
schnell diese verschiedenen Formen der Begründung wissen­
schaftlichen Denkens und der Verhältnisbestimmung von Phi­
Perspektiven auf Leibniz

losophie und Wissenschaft bei den klassischen Philosophen


des 17. Jahrhunderts von den Voraussetzungen einer transzen­
dentalen Logik her bzw. im Falle des Neukantianismus einer
transzendentalen Wissenschaftstheorie beurteilen. Das ver­
engt den Blick auf die Unterschiede.
Die Darstellung von Leibniz’ Metaphysik beginnt dann
auch folgerichtig mit dem »Problem des Bewußtseins« (ebd.,
355). Die Darstellung des Begriffs des Bewusstseins bei Leib­
niz ist ganz und gar von Kant geprägt : »Die Bezogenheit eines
mannigfachen Inhalts auf eine Einheit, die ihn ausdrückt und
darstellt, ist das konstitutive Moment in Leibniz’ Definition
des Bewußtseins. In diesem reinen Relationscharakter er­
schöpft sich jegliches ›Sein‹, das wir dem Begriff beilegen kön­
nen.« Und deutlicher noch : »Das Ich ist zunächst seiner allge­
meinsten Bedeutung nach lediglich der Ausdruck einer Rela­
tionsgrundlage, die allem Sein vorangeht« (ebd., 356 und 358).
An diese Perspektive auf die Metaphysik von Leibniz sind Fra­
gen zu richten : Ist es sinnvoll, sie vom Begriff des Bewusst­
seins her zu verstehen, da doch das Bewusstsein bei Leibniz
im Unterschied zu Kant nicht, mit einer Unterscheidung Cas­
sirers zu sprechen, eine Funktion darstellt, sondern in substan­
tiellen Verhältnissen steht. Diese Beziehungsstruktur ist vorran­
gig, und Bewusstsein steht ihr nicht konstituierend gegenüber,
sondern steht in ihr und drückt sie aus.
Sicher ist Bewusstsein bei Leibniz zentral, da nur durch das
Bewusstsein die Beziehungen zu sich kommen können. Da­rauf
beruft sich Cassirer etwa, wenn er Leibniz’ Begriff der Apper­
zeption kantianisch liest : Bei Leibniz wird »das Rüstzeug für
Kants Begriff der ›Apperzeption‹ bereitet«. Und so wird er zum
Vorläufer Kants : »In Leibniz’ Analyse des Bewußtseinsbegriffs
entstand das Material der Probleme, deren formale Bewälti­
gung und deren einheitliches Lösungsprinzip erst im kriti­
105
schen Idealismus erreicht wird« (ebd., 370 f.). Die Spontanei­
tät des Bewusstseins, die bei Leibniz aus dem Zusammenspiel

Ernst Cassirer und die ›Falten des Bewusstseins ‹


von aktiver und passiver Kraft zu verstehen ist, wird in die Nähe
eines transzendentalen, d. h. formalen Prinzips für Bewusst­
seinstätigkeit gerückt. Es ist dasselbe Problem, das wir schon
bei Russell sahen : Etwas Richtiges wird gesehen, aber von den
eigenen systematischen Voraussetzungen her einseitig in eine
Richtung zugespitzt, von der zumindest fraglich bleibt, ob sie
ihrem Untersuchungsgegenstand gerecht wird.
Eine intensive Auseinandersetzung um das Bewusstseins­
problem findet bei Leibniz in den Nouveaux Essais statt, einem
Werk, das Cassirer nicht zufällig übersetzt hat. Auch in der Ein­
leitung zu dieser Übersetzung liest er Leibniz’ Auseinander­
setzung mit Locke durch die Brille Kants, wenn er als Thema
des Buches die »Frage nach dem Ursprung und der Gültigkeit
unserer Erkenntnis« (Cassirer 1971, IX) festhält. In seiner Aus­
einandersetzung mit Locke geht es Leibniz aber nicht um lo­
gische Identität des ›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen
begleiten können muss (das ist Kants Definition der transzen­
dentalen Apperzeption), sondern darum, Bewusstsein als et­
was Graduelles aufzufassen, nämlich
»daß es in jedem Augenblick in uns eine unendliche
Menge von Perzeptionen ohne bewußte Wahrnehmung
und Reflexion gibt, d. h. Veränderungen in der Seele selbst,
deren wir uns nicht bewußt werden, weil diese Eindrü­
cke zu gering und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind,
sodaß sie im einzelnen keine hinreichenden Unterschei­
dungsmerkmale aufweisen. Nichtsdestoweniger können
sie zusammen mit anderen ihre Wirkung tun und sich
­insgesamt wenigstens in verworrener Weise zur Wahrneh­
mung bringen. So führt die Gewohnheit dazu, auf die
106
­Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalles nicht mehr
zu achten, wenn wir eine Zeitlang ganz nahe dabei ge­
Perspektiven auf Leibniz

wohnt haben.«  (W III. 1, XXI)

Leibniz will eben Lockes Empirismus der Wahrnehmung nicht


mit dem abstrakten Rationalismus des cogito von Descartes
beikommen (auch nicht in einer logisch raffinierteren Form,
die das Argument in Kants transzendentaler Apperzeption
annimmt), sondern weist auf die Eingelassenheit bewussten
Seins in Verhältnisse hin, die es umgeben, um auf den eigent­
lichen Kern der Bestimmung von Bewusstsein zu kommen :
Die Zustände, die von Unbewusstem über Halbbewusstes bis
hin zu einem klaren Vorstellungsinhalt reichen, haben ihren
Grund in der tätigen Gerichtetheit allen Bewusstseins, und eben
in dieser von Aristoteles herkommenden Theorie des aktiven
Intellektes besteht Leibniz’ Hauptargument gegen den passi­
ven Verstand der tabula rasa bei Locke, nach der sich die Ein­
drücke wie auf eine leere Wachstafel dem Verstand einprägen.
In dieser Akzentuierung des Bewusstseins als einer Tätigkeit
liegt natürlich das eingeschränkte Recht von Cassirers Inter­
pretation ; aber die einseitige Auslegung dieser Tätigkeit als ein
quasi vorweggenommenes transzendentales Prinzip verdeckt
die nicht unerheblichen Unterschiede zwischen Leibniz’ und
Kants Blick auf das menschliche Bewusstsein.
Es geht Leibniz nämlich nicht um logische Identität des Ich,
sondern darum zu zeigen, dass es sich durch seine Selbsttä­
tigkeit individuiert. Die Tätigkeit des Bewusstseins besteht da­
rin, sich durch Aufmerksamkeit bestimmte Wahrnehmungen
zu vergegenwärtigen (was auch bedeutet, andere Wahrneh­
mungen teilweise oder ganz auszublenden). Bewusstsein ist
also das Vermögen, die Sinneseindrücke aktiv zu organisieren.
Die Seele ist nicht, wie Lockes’ Metapher von der Wachstafel
unterstellt, die Summe ihrer Eindrücke von Wirklichkeit, son­
dern eine Konfiguration aus diesen Eindrücken und ihres ge­
107
richteten, das Sinnesmaterial organisierenden Strebens. Diese
Einheit von empfangenden und tätigenden Elementen heißt

Ernst Cassirer und die ›Falten des Bewusstseins ‹


bei Leibniz Apperzeption und individuiert Bewusstsein. Das ist
etwas ganz anderes als bei Kant, der das empirische Ich bei
Grundlegungsfragen aus der Betrachtung ausschließt und nur
die logische Identität des Ich als dann transzendentale Apper­
zeption gelten lässt.
Die Unterscheidung von passivem und aktivem Verstand
geht auf Aristoteles zurück (Aristoteles 2016, 167 ff.). Aristote­
les spricht von einem leidenden, d. h. Eindrücke ­empfangenen
Verstand und – wir geben hier frei formuliert den griechischen
Wortlaut wieder – einem alles hervorbringenden Verstand. Diese
Unterscheidung macht Leibniz gegen Locke geltend : »Man
wird mir jenes von den Philosophen anerkannte Axiom ent­
gegenhalten, daß nichts in der Seele ist, das nicht von den Sinnen
stammt. Aber man muß die Seele selbst und ihre Affektionen
davon ausnehmen. Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu,
excipe : nisi intellectus ipse« (W III. 1, 101 f.).
In diesem lateinischen Satz kristallisiert sich das hoch ak­
tuelle Grundargument, das Leibniz dem Empirismus Lockes
entgegensetzt : Nichts ist im Verstand, was nicht vorher in
den Sinnen gewesen ist – außer eben der Verstand (und seine
›alles hervorbringende‹ Tätigkeit) selbst. In seiner eigenen Tä­
tigkeit strukturiert das Bewusstsein sich selbst an der Wirklich­
keit und wird so zu einer individuellen Identität mit einer Ge­
schichte : »Man kann sogar sagen, daß vermöge dieser klei­
nen Perzeptionen die Gegenwart mit der Zukunft schwanger
geht und mit der Vergangenheit beladen ist, daß alles mit­
einander zusammenstimmt. […] Diese unmerklichen Perzep­
tionen bezeichnen auch und konstituieren das identische Indi­
viduum« (W III. 1, XXV ). Das Bewusstsein fasst diese Perzep­
tionen in die Einheit einer Apperzeption zusammen, indem es
sie organisiert. Das hat, wie gesagt, nichts mit Kant zu tun, der
die Identität nur als logische Identität des ›Ich denke‹ kennt,
108
nicht aber als individuelle Wirklichkeit von zusammenhän­
genden Vorstellungsinhalten mit einer zusammenhängenden Ge­-
Perspektiven auf Leibniz

­schichte.
Leibniz hat dafür eine schöne und berühmt gewordene
Metapher : die Falten des Bewusstseins. Die Falte ist nicht ein­
fach, wie eine postmoderne Interpretation nahelegen möchte,
ein Charakteristikum der Epoche des Barock (Deleuze 2000),
sondern hat einen wohldefinierten Sinn in Leibniz’ bewusst­
seinstheoretischer Argumentation, denn es ist die Gegenme­
tapher zur Wachstafel von Locke : Leibniz setzt voraus, dass es
in einem dunklen Zimmer

»als Bildfläche eine Leinwand gäbe, die jedoch nicht ganz


eben, sondern durch Falten aufgegliedert wäre, die die
­eingeborenen Kenntnisse darstellen sollen : daß ­darüber
hinaus diese Leinwand oder Membran, wenn man sie
­ausspannt, eine Art Elastizität oder Wirkungskraft hätte
und daß ihr sogar eine gewisse Tätigkeit oder Reaktion
eignete, die sich sowohl nach den alten Falten als auch
nach den aus den Eindrücken der Bilder hervorgegange­
nen neuen richtet. Und diese Tätigkeit würde in bestimm­
ten Schwingungen und Wellenbewegungen bestehen,
wie man sie an einer ausgespannten Saite wahrnimmt,
wenn man sie berührt, derart, daß sie gewissermaßen
einen musikalischen Ton hervorbringt. Denn wir empfan­
gen nicht allein die Bilder und Spuren im Gehirn, sondern
formen daraus auch neue, wenn wir die komplexen Ideen
ins Auge fassen. So muß die Leinwand, die unser Gehirn
­darstellt, aktiv und elastisch sein.«  (W III. 1, 181)

In diesem Zitat ist das Wesentliche von Leibniz’ Argumenta­


tion zusammengefasst : Bewusstsein ist elastische Tätigkeit,
und seine Falten entstehen durch seine eigene Tätigkeit. Da­
durch bildet das Bewusstsein die Struktur, durch die alles Wei­
109
tere wahrgenommen wird, und das heißt : Das Bewusstsein re­
strukturiert sich im Fortgang seiner Tätigkeit und hat somit eine

Ernst Cassirer und die ›Falten des Bewusstseins ‹


Geschichte, die es nicht hinter sich lassen kann, weil sie in
die Strukturiertheit eingegangen ist, die aber doch durch wei­
tere gerichtete Tätigkeit weiter verändert werden kann. Das
Bild der Schwingung schließlich hat den metaphorisch ge­
nauen Sinn, dass Bewusstsein nicht nur – wie der Druck auf die
Saite – etwas erleidet, sondern zugleich aus diesem äußeren
Druck heraus in seine Umgebung hineinwirkt (in diesem Fall
hineinschwingt oder -klingt). Die Elastizität der Saite in die­
sem Wechselspiel ist es, was Leibniz gegen die völlig mecha­
nisch und einseitig gedachte Verhältnisbestimmung von Sein
und Bewusstsein bei Locke geltend machen will. Mit dieser
Auffassung des Bewusstseins als Falte könnte die gegenwär­
tige Hirnforschung und Kognitionswissenschaft sicher mehr
anfangen, da ja heute wissenschaftlich gesichert ist, dass die
Struktur des Gehirns aus seiner Tätigkeit und Wechselwirkung
mit der Umgebung gebildet wird, weil in dieser Wechselwir­
kung die neuronalen Verbindungen entstehen, die jeden von
uns zu dem machen, was wir sind.
Zu Cassirers Vereinnahmung von Leibniz’ Gedanken für
eine transzendentale Auffassung des Bewusstseins muss man sa­
gen, dass sie nur einen Aspekt für sich verbuchen kann : die
Spontaneität oder freie Tätigkeit des Bewusstseins. Diese
Spontaneität ist bei Kant als die wesentliche Funktion von Be­
wusstsein überhaupt festgehalten. Schon der Umstand, dass
sie bei Leibniz nicht wie bei Kant als ein abstraktes Prinzip des
›Ich denke‹, sondern als eine Tätigkeit an einem Anderen verstan­
den ist, führt eher zum Hegel der Phänomenologie des Geistes –
einem Buch, das auch die Entwicklung des Bewusstseins an
der Wirklichkeit und nicht eine ihr bloß gegenüberstehende
Spontaneität zum Thema hat. Die Metapher von den Falten
des Bewusstseins verweist ohnehin darauf, dass das Bewusst­
sein wesentlich durch die Entwicklung am Anderen hervorge­
110
bracht wird : Es ist eine individuell gebildete Struktur des Wahr­
nehmens und Denkens. Wie sich das Leben eines alt geworde­
Perspektiven auf Leibniz

nen Menschen in den Falten seines Gesichtes zum Ausdruck


bringt, sind die Falten des Bewusstseins ein Bild für die Struk­
tur menschlicher Erfahrung.

Hans Heinz Holz und die Entdeckung


des Dialektikers Leibniz
Die Monographie von Hans Heinz Holz über Leibniz, die wir
in der überarbeiteten und stark erweiterten Fassung aus dem
Jahr 2013 schon zitiert haben, ist zuerst 1958 ­erschienen. Das
ist wichtig festzuhalten, um den historischen Kontext die­
ser ›Perspektive‹ auf Leibniz richtig zu verstehen. Im Jahr
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte man 1946 den
300. Geburtstag von Leibniz in vielen akademischen Veran­
staltungen und Publikationen gewürdigt. Der Zufall des Jah­
restages brachte, mit Walter Benjamins berühmten Ausdruck
zu sprechen, die »Jetztzeitlichkeit« Leibnizens ans Licht. Auch
sein Denken geriet in die Nachkriegszeit nach einem katastro­
phalen Jahrhundertkrieg. 1946 galt er als der Denker des Frie­
dens und wurde allgemein politischer wahrgenommen als zu­
vor und auch danach.
In diese Zeit fällt die Beschäftigung von Holz mit Leibniz.
Er entwickelt gegen den Strich der allgemeinen Tendenz des
metaphysikkritischen Zeitgeistes eine metaphysische und zu­
gleich politische Interpretation der Philosophie von Leibniz. Das
ist insofern eine weitere Perspektive auf Leibniz, als sie vom sys­
tematischen Ausgangspunkt der Dialektik her Leibniz beleuch­
tet. Die philosophiehistorische Einordnung Leibnizens in eine
Problemgeschichte der Dialektik (Holz 2011) sprengt den Rah­
men dieses Buches. Wir wollen nur den Grundgedanken nach­
zeichnen, wo sich Leibniz’ Metaphysik der Beziehungseinheit
111
der Vielen mit Grundaussagen der Dialektik berührt.
Grundthese ist die Einheit von Substanzaspekt und Struk­

Hans Heinz Holz und die Entdeckung des Dialektikers Leibniz


turaspekt im Monadenmodell :

»Leibniz faßt das Wesen der ›Struktur‹ (wenn auch die­


ser Terminus bei ihm noch nicht auftaucht) viel radikaler
als es die modernen ›Strukturtheoretiker‹ vermögen, de­
ren Strukturbegriff aus isolierten ontischen Teilzusammen­-
­hängen erwachsen ist. Sein Strukturbegriff (als ›substan­
tielle Form‹ bezeichnet, wie wir gleich des näheren s­ ehen
werden) besagt nämlich, daß alle Verhältnisse, in die
Seiendes eingeht, gerade dieses Seiende erst sein lassen,
und daß diese Form der Verhältnisse die Einheit des Seins
ist. […] Denn alles Seiende ist eben schon in übergeord­
nete Strukturen eingefügt und nur innerhalb ihrer über­
haupt existent. Der oberste konkrete Strukturbegriff ist
dann Welt, wobei Welt nichts anderes ist als der Inbegriff
aller wirklichen und möglichen wechselseitigen Bedin­
gungen und Beziehungen, die innerweltlich Seiendes mit­
einander verbinden und es seinem Wesen nach bestim­
men.«  (Holz 2013, 41 f.)
Die Einheit von Substanz und Struktur als Kernthese bedeutet
nichts Geringeres, als Leibniz zu einem Klassiker der Dialektik
zu machen. Denn dass Relationen dem Seienden nicht zufäl­
lig und äußerlich, sondern ihm wesentlich sind, ist eine onto­­-
­logische Grundthese dialektischen Denkens. Mit anderen
Worten : Die Relationalität wird intrinsisch in den Begriff des
Seins aufgenommen. Daher meint die Rede von der Struktur
auch nicht Strukturalismus (in dem Sinn, dass in dieser Denk­
richtung die Struktur eines Wirklichkeitsbereichs – etwa die
Sprache – auf die Beschreibung von Wirklichkeit überhaupt
112
ausgedehnt wird), sondern ist der Titel für die Einheit von Be­
ziehungen, in der jedes einzelne Seiende immer schon steht.
Perspektiven auf Leibniz

Struktur wird damit zu einer allgemeinen ontologischen Be­


stimmung für eine Wirklichkeit, die vom Einzelnen, substan­
tiell Individuellen ausgeht und gleichzeitig über ihre wechsel­
seitigen Beziehungen verstanden wird.
Das ist nur scheinbar ein Widerspruch : Zwar versteht die
traditionelle Terminologie unter Substanz das Beständige,
Selbständige und Fürsichseiende, wohingegen eine Beziehung
immer auch eine Abhängigkeit ausdrückt. Struktur dagegen
kommt terminologisch ursprünglich als structura aus dem rö­
mischen Bauwesen und bedeutet den Aufbau eines Gebäudes,
also etwas aus Teilen Zusammengesetztes. Das Substantielle
(die Pluralität der vielen Einzelseienden) ist jedoch nur ein,
wenn auch wesentlicher Aspekt des Seins, das Wirklichkeit erst
in den Zusammenhängen der Beziehungseinheit bekommt,
die als Struktur den anderen Aspekt ausmacht.
Holz formuliert das so : »Das sich Strukturierende ist auch
das Strukturierte, in jedem Falle nämlich die Welt im ­Ganzen.
Für diesen komplizierten Sachverhalt bietet sich Leibniz der
Substanzbegriff an, den er, begriff‌lich abgewandelt, seiner
Ontologie zugrunde legte. Substanz ist das, was als stoff‌liches
Gliedstück in die Struktur eingeht, zugleich aber auch das,
was als Totalität der Gliedschaften selbst Struktureinheit ist«
(ebd., 42). Die »Gesamtheit der Substanzen befindet sich in
allseitigem Abhängigkeitsverhältnis voneinander«, und diese
Struktur »verbürgt die Substanzialität der Welt als Einheit die­
ser Beziehungen« (ebd., 43). Die hier zum Ausdruck gebrachte
Einheit von individueller Selbständigkeit und wechselseitiger
Abhängigkeit im Zusammenhang des Ganzen ist tatsächlich,
wie wir oben gesehen haben, ein Grundgedanke der Metaphy­
sik von Leibniz. Indem hier Totalität als Beziehungseinheit von
allem mit allem ausgesagt ist, trifft sich diese Metaphysik mit
einem Grundanliegen der Dialektik.
113
Nun war aber Dialektik bisher (in der Antike durch die spät-
und neuplatonische Tradition) und nach Leibniz auch bei He­

Hans Heinz Holz und die Entdeckung des Dialektikers Leibniz


gel noch ausschließlich als Begriffsdialektik vorgetragen worden.
Holz versucht nun, die Philosophie von Leibniz für eine realon­
tologische Theorie der Dialektik in Anspruch zu nehmen. Mit Leib­
niz kann man das Ganze als Beziehungseinheit nicht nur lo­
gisch-begriff‌lich ausdrücken, sondern von Seinsverhältnissen
sprechen : »Indem sich die Monade nicht nur als perceptio, son­
dern auch als appetitus […] bestimmt, entbindet sich auf dem
Boden des Struktur-Substanz-Verhältnisses eine Dialektik«,
die das Weltganze als »Wechselverhältnis von Wirken und Be­
wirktsein der Einzelsubstanzen« versteht (ebd., 53 f.).
Wir können auch in diesem Fall nicht in eine Diskussion
eintreten, ob eine solche Position legitimierbar ist oder nicht.
Wohl aber lässt sich festhalten, dass Holz im Unterschied zu
Russell und Cassirer nicht einen Teilbereich der Philosophie
von Leibniz nutzt, um das Ganze seiner Konzeption zu inter­
pretieren, sondern von dem Grundansatz und Kern der Meta­
physik von Leibniz im Ganzen ausgeht und ihn erst dann vor die
Folie dialektischer Denkstrukturen hält. Das macht die Posi­
tionen unterscheidbar, und es trägt Leibniz’ ontologischem
Grundanliegen Rechnung, Welt als Beziehungseinheit einer
Pluralität substantieller Individuen zu verstehen.
Die Einheit in der Vielheit :
Leibniz heute 115

Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute


Bei der Frage nach den Folgen, die Leibniz über seine Rezep­
tion vom 18. bis zum 20. Jahrhundert hinaus auch noch für
unsere Zeit im 21. Jahrhundert hat, könnte man schnelle Ant­
worten suchen und zum Beispiel sagen : Der Mathematiker
Leibniz ist als Erfinder der binären Arithmetik einer der geis­
tigen Väter der Informatik und damit des Computerzeitalters,
in dem wir leben. Das ist sicher nicht falsch, greift aber den­
noch zu kurz. Wir haben außerdem ja schon gesehen, dass
wissenschaftliche Entdeckungen, die nicht wie in den Geistes-
oder Gesellschaftswissenschaften als Theorie klar einem Na­
men zugeordnet werden können, durchaus auf verschiedenen
Wegen zum selben Ergebnis führen können. Der Prioritäten­
streit zwischen Leibniz und Newton in der Frage der Urheber­
schaft der Infinitesimalrechnung ist ein herausragendes Bei­
spiel dafür. Es wäre wohl auch ohne Leibniz zur Entwicklung
der Computertechnologie gekommen. Anders als bei Klassi­
kern wie etwa Marx oder Nietzsche, die durch ihre Gedanken
über die Philosophie und die Wissenschaft hinaus direkten Ein­
fluss auf gesellschaftliche Bewegungen und kulturelle Entwick­
lungen gehabt haben, wirken klassische Denker wie Leibniz,
die eher Entwicklungen innerhalb der Grenzen ihrer Wissen­
schaften beeinflusst haben, viel indirekter und vermittelter. Es
ist daher schwer zu sagen, welche Folgen Leibniz für die Wirk­
lichkeit im 21. Jahrhundert gehabt hat.
Ein anderes, noch gar nicht genanntes Beispiel : ­Leibniz
kann als früher Entdecker des Versicherungswesens angesehen
werden. Die Brandkasse von Hannover ist zwar erst 1750 ge­
gründet worden, ging aber auf Ideen und mathematische Mo­
dellberechnungen von Leibniz zurück, die er übrigens auch bei
Überlegungen zu einer Pensionskasse angestellt hat. Er hatte
den Gedanken einer Feuer-Assekuranz in einer Denkschrift­
116
­an Herzog Ernst August entwickelt, aber man war seinen zu­
kunftsweisenden Vorstellungen wie so oft auch in dieser An­
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

gelegenheit nicht gefolgt. So interessant diese Anekdote auch


sein mag, sie trifft dasselbe Argument wie bei der Computer­
technik : Es wäre sicher auch ohne Leibniz zur Gründung von
Versicherungen gekommen.
Allerdings gibt es in diesem Fall einen philosophischen As­
pekt, der nachdenkenswert erscheint : denn Leibniz’ politische
Philosophie ergänzt die sonst in der politischen ­Theorie sei­
nes Jahrhunderts grundlegenden Prinzipien wie Selbsterhal­
tung und Freiheit als Verfolgung des Eigeninteresses durch die
Idee der Solidarität und des Gemeinwohls, die eben einer So­
lidargemeinschaft Versicherter zugrunde liegt. Nicht im Sinne
einer Folge, sehr wohl jedoch im Sinne der normativen Bedeu­
tung des philosophisch begründeten politischen Grundmo­
dells von Leibniz für unsere Zeit kann man daher von der Ak­
tualität des Leibnizschen Denkens für die Probleme im 21. Jahr­
hundert sprechen : seine Insistenz auf der Einheit in der Vielheit
und seine Vorstellung einer Ordnung der Kompossibilität in die­
ser Pluralität können Kriterien für das politische Denken unse­
rer Zeit geben. Abschließend fragen wir deshalb nicht so sehr
nach den Folgen, sondern vielmehr nach der Aktualität von
Leibniz’ Philosophieverständnis und des Konzepts des Politi­-
­schen, das sich aus ihm ergibt. Wir müssen heute ausgehen
von der Pluralität der Vielen und zugleich das Ganze denken,
weil mehr denn je alles mit allem zusammenhängt und von­
einander abhängig ist. Das einzige philosophische System,
das diese Einheit zu denken erlaubt, ist in der Metaphysik von
Leibniz niedergelegt.

Die Philosophie als eigene Theorieform

In gewisser Hinsicht könnte man die Geschichte der neuzeit­


117
lichen Philosophie aus der Perspektive ihrer Kompetenzverlus­
­te schreiben : Am Anfang der neuen Zeit verließ sie die Physik

Die Philosophie als eigene Theorieform


bzw. die mathematisch verstandene Naturwissenschaft, und
Metaphysik als Disziplin der Philosophie war nicht mehr Kos­
mologie und Naturphilosophie, keine Summa mehr, die über
Gott und den ordo der Welt nachdachte, sondern sie wurde
zu einer Disziplin der Erkenntnisbegründung. Das war schon
ein Schritt der Selbstbeschränkung der Philosophie auf einen
Theorietypus, der sich am Vorbild wissenschaftlichen Wissens
orientierte. Im Zuge der rasanten Erfolgsgeschichte der Einzel­
wissenschaften setzte sich die Geschichte dieser Kompetenz­
verluste fort : Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist die
Moderne ein Beschleunigungsprozess zunehmender Spezia­
lisierung des Wissens, philosophiegeschichtlich ein Prozess
zunehmender Auslagerungen von Wissensbereichen aus der
integralen Perspektive der Philosophie ; das setzt sich fort bis
zur Psychologie im frühen 20. Jahrhundert.
Die Frage an die Philosophie muss in der heutigen Zeit also
lauten : Was bleibt ihr an eigenen Kompetenzen, die ihr von
den Einzelwissenschaften nicht streitig gemacht werden kön­
nen ? Wie bestimmt sie ihr Verhältnis zu den Wissenschaften ?
Im 20. Jahrhundert war ihre Antwort, philosophische Begrün­
dung wissenschaftlichen Wissens zu werden : Erkenntnistheo­
rie, Wissenschaftstheorie, logische Analyse der Sprache, über­
haupt Metatheorie der Einzelwissenschaften, eine k­ ritische Re­
flexion also der in verschiedenen Bereichen der ­Wissenschaft
unterschiedlichen Bedingungen der Möglichkeit des Wissens.
Das ist eine unbestreitbar wichtige Funktion der Philosophie
im Zeitalter der Wissenschaft. Sie hat jedoch dazu geführt,
dass sich die Form philosophischen Wissens den Wissensfor­
men der Wissenschaft immer stärker assimiliert hat. Eine legi­
time Frage ist jedoch, ob es genuin philosophische Fragestel­
lungen gibt, die von einzelwissenschaftlichen Verfahren gar
nicht beantwortet werden können.
118
Ein solches Problem ist die Frage nach dem Gesamtzusam­
menhang, danach also, was der Fragmentierung des Wissens
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

notwendig verloren gehen muss, aber auch nicht einfach ad


acta gelegt werden kann – denn wir leben ja in einer Welt, und
gerade heute im global vernetzten 21. Jahrhundert in einer Welt
immer enger geknüpfter Beziehungen und Wechselwirkungs­
verhältnisse. Unter anderem können wir auf eine philosophi­
sche Kompetenz integrierenden und im Zusammenhang begrün­
denden Wissens deshalb nicht verzichten, weil sie Vorausset­
zung für unsere Orientierung in der Wirklichkeit ist.
Genau hierfür steht Leibniz Pate. Die offensichtliche Aktu­
alität seines Philosophieverständnisses ist schon in der Rosen­
tal-Anekdote präsent : Leibniz schildert, wie er sich bemüht,
sich der neuen mechanischen Leitwissenschaft anzumessen,
dabei aber auf Fragen stößt, die mit den Methoden der Wissen­
schaft nicht beantwortet werden können, sondern einen Re­
kurs auf die Metaphysik und die traditionelle klassische Philo­
sophie notwendig machen. Wissenschaft und Metaphysik müs­-
­sen für Leibniz in ihrer Komplementarität gesehen werden. Er
ist ja Wissenschaftler, aber er sieht, dass es sich beim wissen­
schaftlichen Erklären und beim philosophischen Begründen um
verschiedene Theorieformen handelt. Im Unterschied zur ge­
schlossenen Systemform im späteren Deutschen Idealismus
ist Leibniz deshalb für die Gegenwart so anschlussfähig und
aktuell, weil er aus der Wissenschaft kommt und die spekula­
tive Systemform bei ihm nicht geschlossen durchkonstruiert
ist, sondern aus dem wissenschaftlichen Problembestand he­
raus als offene Hypothese verstanden wird. Leibniz’ Beispiel zeigt,
dass philosophische Aussagen den Ergebnissen der Wissen­
schaften nicht widersprechen dürfen – und seine Metaphysik
zeigt zugleich, dass philosophisches Denken nicht erklärende,
sondern durch die das Viele integrierende Kraft eines Grundge­
dankens begründende Aussagen macht.
Deshalb kann man das im 20. Jahrhundert so verbreitet ge­
119
wesene Metaphysikverbot durchaus infrage stellen und fragen :
Leben wir wirklich in einem Zeitalter ›nachmetaphysischen

Die Philosophie als eigene Theorieform


Denkens‹, wie Habermas das ausgedrückt hat ? Kant hatte zwar
mit großem Einfluss auf die vergangenen beiden Jahrhunderte
den Gebrauch der Vernunft auf Gegenstände eingeschränkt,
die uns in der Erfahrung gegeben sind. Aber er hatte auch ge­
sehen, dass die Vernunft über diesen Bereich der Einzelerfah­
rungen hinaus durch Fragen ›belästigt‹ wird, die sie zwar nicht
wissenschaftlich beantworten, aber auch nicht ›abweisen‹
kann. Eine dieser Fragen ist das Ganze der Erfahrung oder die Ein­
heit der Erfahrungen : »Obgleich aber ein absolutes Ganzes der
Erfahrung unmöglich ist, so ist doch die Idee eines Ganzen der
Erkenntnis nach Prinzipien überhaupt dasjenige, was ihr allein
eine Art von Einheit, nämlich die von einem System, verschaf­
fen kann, ohne die unser Erkenntnis nichts als Stückwerk ist«
(Kant 1983 d, 238). Philosophie im Sinne einer systematischen
Theorieform ist dann Begründung dieser Einheit.
Dieses Problembewusstsein Kants für die Unabweisbarkeit­
­metaphysischen Fragens fehlt offenbar Habermas, wenn er eine
Epoche ›nachmetaphysischen Denkens‹ einläutet und »das phi­
losophische Denken« umstandslos »dem exemplarischen An­
spruch der Wissenschaften« beugt (Habermas 1988, 14). Wer
sich mit dem Denken von Leibniz vertraut gemacht hat, wird
die Kennzeichnung der Metaphysik als ›emphatische‹ Theorie
kaum teilen können, und auch die grundsätzliche politische
Identifizierung metaphysischen Denkens mit einer »Restaura­
tionswelle« (ebd., 17) ist kurzsichtig und vor diesem Hinter­
grund kaum haltbar. Habermas statuiert : »Erst unter den Prä­
missen eines unaufgeregt nachmetaphysischen Denkens zer­
fällt dieser emphatische Begriff von Theorie, der nicht nur die
Welt der Menschen, sondern auch die Natur aus inneren Struk­
turen verständlich machen sollte. Fortan entschied die Verfah­
rensrationalität des wissenschaftlichen Vorgehens darüber,
ob ein Satz überhaupt wahr oder falsch sein kann« (ebd., 14).­
120
­Niemand will heute zur vormaligen metaphysischen Denkwei­
­se zurückkehren. Habermas fehlt jedoch jegliches Problem­
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

bewusstsein dafür, dass es Fragen gibt, die von methodisch


geleiteter Forschung nicht einmal gestellt, geschweige denn
beantwortet werden können. Will man solche Fragen nicht re­
ligiösem Glauben überlassen, sondern auf ihrer rationalen Be­
handelbarkeit bestehen, wird man nicht umhinkommen, auch
in der Zukunft auf Strukturen der Vernunft einer genuin philo­
sophischen Theorieform zurückzugreifen.
Niemand will die Leistungen einzelwissenschaftlicher Ver­
fahrensrationalität bestreiten. Wird sie jedoch zur einzigen
Theorieform statuiert, bedeutet dies eine Ausgrenzung von
Fragen, die auf den Zusammenhang des Ganzen, das ›Ganze
der Erfahrung‹ zielen. Leibniz’ Beispiel hält uns doch deutlich
vor Augen, dass man der wissenschaftlichen Verpflichtung
auf methodische Sicherung des Wissens durchaus verpflich­
tet sein kann, ohne auf metaphysisches Fragen zu verzichten.
Es war der Entdecker der Infinitesimalrechnung und der Erfin­
der einer Rechenmaschine und der Horizontalwindkraft, der
die radikale philosophische Frage stellte : »warum gibt es über­
haupt etwas und nicht nichts ?« (W I, 427). Leibniz zeigt uns, dass
man das Ganze zwar nicht wissen, aber sehr wohl denken kann
und sogar denken muss, wenn man ein kohärentes Weltbild er­
arbeiten will. Er zeigt uns außerdem, dass ein Grundgedanke
wie das monadologische Weltmodell eine integrierende Funk­
tion selbst für das einzelwissenschaftliche Denken haben kann.
Philosophie hat diese integrierende ­Orientierungsfunktion,
indem sie Modelle entwickelt, den Zusammenhang des Wirk­
lichen zu denken. Das steht nicht im Gegensatz zu Erfahrungs­
wissen, sondern ergänzt es. Nur ein Begriff von Welt eröffnet
Horizonte, in denen die Erfahrungsbereiche nicht fragmenta­
risch gegeneinander abgegrenzt, sondern aufeinander bezogen
sind und in einen übergreifenden Zusammenhang eingetragen
werden können. Indem die philosophische Theorieform die
121
Einheit des Vielen denkt, bekommt sie eine heuristische Funk­
tion für die Wissenschaft, aber auch für den praktischen Um­

Die Aktualität des Freiheitsbegriffs


gang des Menschen mit seiner Wirklichkeit. Wir haben doch
gesehen, wie das Problembewusstsein von Leibniz für wissen­
schaftliche, technische und politische Fragen von seiner phi­
losophischen Grundposition her bestimmt gewesen ist. Die
Aktualität des Philosophiebegriffs von Leibniz besteht darin,
die eine Welt als Einheit der Vielen denken zu können. Nicht
gegen, aber doch im Unterschied zum akkumulierten Einzel­
wissen muss Philosophie ein ›integrierendes Denken‹ sein, das
in der durch die digitale Revolution und die durch sie poten­
zierten Globalisierungsprozesse Orientierung gestattet. Wir
leben wie nie zuvor in einer Welt. Und wir leben zugleich in
einer Welt, von der wir durch die fortschreitende Spezialisie­
rung des Wissens keinen integralen Begriff mehr haben. Das
macht Leibniz’ Philosophie zu einem Anknüpfungspunkt für
das Denken im 21. Jahrhundert.

Die Aktualität des Freiheitsbegriffs

Freiheit wird im Kontext der neuzeitlichen Philosophie als die


Fähigkeit verstanden, sich selbständig und unabhängig zu be­
wegen bzw. zu bestimmen. Man muss folglich zwischen ne­
gativer Freiheit (als Unabhängigkeit von etwas) und positiver
Freiheit (im Sinne der Fähigkeit zu etwas) unterscheiden. Bei
der negativen Freiheit geht es um äußere Bedingungen, die ge­
geben sein müssen, damit selbstbestimmt gehandelt werden
kann, während die positive Freiheit zu etwas auf die inneren
Bedingungen des Handelnden selbst reflektiert. Frei ist nur,
wer wählen kann, und das heißt auf beiden Bedeutungsebenen
gesprochen : Äußere Bedingungen dürfen die Wahl nicht ver­
stellen, und der Mensch muss die Fähigkeit besitzen, Entschei­
dungen zu treffen. Metaphysisch ins Grundsätzliche gewendet
122
läuft diese Fragestellung auf das Problem der Willensfreiheit
hinaus, die letztlich die Frage nach objektiven Bedingungen
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

des Handelns zugunsten des Gedankens einer absoluten Frei­


heit, die im Willen selbst liegt, zurückdrängt. Diese metaphy­
sische Idee des freien Willens geht in der Philosophie auf Au­
gustinus zurück und wird in der Neuzeit zunächst allgemein
von Descartes, dann in der Ethik klassisch von Kant vertre­
ten : Der moralische Wert unserer Handlungen besteht, so die
Quintessenz des kategorischen Imperativs, allein in der auto­
nomen Selbstbestimmung des Willens als unbedingtem Be­
stimmungsgrund der Person, die ohne Ansehung äußerer Be­
dingungen geschehen muss.
In Leibniz’ Jahrhundert war es Hobbes, der in einer für die
politische Philosophie grundlegenden Weise versucht hatte,
einen Freiheitsbegriff zu formulieren, der ohne metaphysische
Voraussetzungen auszukommen beanspruchte. Freiheit ist im
Wesentlichen die negative Freiheit einer Abwesenheit von phy­
sischem Zwang (was tatsächlich sowohl physikalisch als auch
politisch gemeint sein kann) : »Freiheit bedeutet genau genom­
men das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand
äußere Bewegungshindernisse verstehe. […] Und nach dieser
genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist
ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund sei­
ner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend
auszuführen. Werden aber die Wörter frei und Freiheit auf andere
Dinge als auf Körper angewandt, so werden sie mißbraucht,
denn was nicht bewegt werden kann, kann auch nicht gehin­
dert werden« (Hobbes 1984, 163). Das ist frühneuzeitlicher
mechanischer Materialismus, der für den Empirismus und die
analytische Philosophie traditionsbildend geworden ist.
Seine politische Konsequenz ist, »daß die Menschen in allen­
­vom Gesetz nicht geregelten Gebieten die Freiheit besitzen,
das zu tun, was sie auf Grund ihrer eigenen Vernunft für das
Vorteilhafteste halten« (ebd., 165). Freiheit ist Abwesenheit von
123
Zwang, und es ist für die Auffassung des Politischen wesent­
lich, dass die Frage nach der positiven Bestimmung der Frei­

Die Aktualität des Freiheitsbegriffs


heit (nach ihren Voraussetzungen und Kriterien) ausgeblen­det
wird : Das Politische ist der Rahmen, innerhalb dessen jeder
Einzelne eigennützig tun und lassen kann, was er will. Fügt
man diesem Gedanken noch die heute sehr verbreitete Ma­
xime eines minimalen Staates hinzu, hat man die neoliberale
Idee des möglichst ungehinderten privaten Egoismus.
Leibniz wendet sich gegen beide Vereinseitigungen in der
Freiheitstheorie : gegen die abstrakte, weil von allen Bedingun­
gen absehende Metaphysik absoluter Willensfreiheit ebenso
wie gegen den ausschließlich negativen Begriff der Freiheit als
Abwesenheit hindernder Bedingungen. Das Kapitel 21 der Nou­
veaux Essais steht unter dem Titel »Möglichkeit und Freiheit«
und stellt eine sehr differenzierte Rekonstruktion der Bedin­
gungen und der Grade der Freiheit dar. Das beginnt schon da­
mit, dass der französische Text drei Worte für verschiedene
Bedeutungsebenen des Zusammenhangs von Möglichkeit und
Freiheit kennt : possibilité meint formale Möglichkeit, puissance
die im Seienden passiv vorhandene reale Möglichkeit, und fa­
culté schließlich Möglichkeit als aktives Vermögen (W III. 1, 241).
Genau diese Unterscheidungen trifft Leibniz auch für
den Freiheitsbegriff : Es gibt formale Freiheit, reale Freiheits­
grade in einem objektiven Bedingungszusammenhang – und
schließlich die aktive Freiheit als Fähigkeit, etwas zu tun. Ge­
nau diese Ebenen legt das Kapitel über die Freiheit auseinan­
der, und wieder beginnt Leibniz seine Abhandlung mit einem
Bezug auf Aristoteles : »Man kann so sagen, daß die (reale) Mög­
lichkeit [puissance, J. Z.] im allgemeinen die Möglichkeit [possibi­
lité, J. Z.] der Veränderung ist« (W III. 1, 243). Und die aktive
Möglichkeit nennt er dann gleich im Anschluss »Vermögen« ( fa­
culté  ), also das, was als Verwirklichung der Möglichkeit Verän­
derung bewirkt.
Ganz deutlich weist Leibniz Metaphysik an genau der Stelle
124
zurück, wo Kant sie später fast einzig noch akzeptieren wird :
bei der Frage nach der Willensfreiheit. Denn hier geht es um
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

schlechte, nämlich abstrakt gestellte Fragen : »Man hat guten


Grund, sich über die seltsame Weise der Menschen zu wun­
dern, die sich mit der Behandlung mißverstandener Fragen
quälen. Sie suchen, was sie wissen und wissen nicht, was sie suchen«
(W III. 1, 267).
Wer nach Willensfreiheit fragt, weiß im Grunde schon,
dass er frei ist. Was er nicht weiß : Diese Freiheit erfasst und
verwirklicht sich nicht in abstrakten Prinzipien, sondern im
konkreten Beziehungsgeflecht der Bedingungen und Möglich­
keiten, in denen das menschliche Vermögen freien Handelns
steht. In diesem Zusammenhang wirft Leibniz eine sehr be­
deutsame Frage auf, nämlich »ob es eine wirkliche Unterschei­
dung zwischen der Seele und ihrem Vermögen gebe« (W III. 1,
253). Es macht keinen Sinn, nach einem an sich seienden We­
sen der Seele zu fragen : sie ist, was sie kann und was sie macht.
Das steht selbstverständlich gedanklich im Zusammenhang
der Metaphysik der Kraftpunkte : Das Wesen der Substanz ist
Kraft – und als bewusstes Vermögen ist diese Kraft freies Han­
deln der Seele. Wird ihre Kraftäußerung eingeschränkt, so lei­
det die Seele. Sie ist jedoch nichts an sich selbst, sondern im­
mer ihr Vermögen, das unter ganz bestimmten Bedingungen
steht.
Es ist erstaunlich, wie metaphysikkritisch der Metaphysiker
Leibniz in der Freiheitstheorie sein kann : »Mir scheint, daß
in eigentlicher Rede die Notwendigkeit nicht dem Willen, son­
dern der Kontingenz entgegengesetzt werden sollte […] Man
sollte die Notwendigkeit nicht mit der Bestimmtheit (Deter­
mination) verwechseln, denn es gibt nicht weniger Zusam­
menhang oder Bestimmung unter den Gedanken als unter
den Bewegungen (da bestimmt sein etwas ganz anderes ist
als mit Zwang genötigt oder gestoßen zu werden)« (W III. 1,
263). Hier wird die Wendung gegen die Willensmetaphysik und
125
gegen Hobbes explizit : Den Metaphysikern des Willens hält er
vor, ungenau mit den Begriffen umzugehen und so eine fal­

Die Aktualität des Freiheitsbegriffs


sche Alternative zwischen absoluter Freiheit und Determinis­
mus aufzumachen ; und in unüberhörbarer Anspielung auf die
Position von Hobbes macht er klar, dass Bestimmung nicht mit
mechanischer Determination verwechselt werden darf (was
Hobbes aber tut, wenn er die Freiheit von der Bewegung der
Körper her denkt). Diese reflektierte Selbstbestimmung in Be­
dingungsverhältnissen aber ist die mittlere Position von Leib­
niz, mit der er sich gegen die genannten Einseitigkeiten in der
Freiheitstheorie abgrenzt.
Leibniz hat seine differenzierte Konzeption in wenigen Zei­
len zusammengefasst :

»Der Begriff der Freiheit ist sehr zweideutig. Es gibt eine ju­
ristische und eine faktische Freiheit. Rechtlich ist der Sklave
nicht frei und ein Untertan nicht ganz frei, aber ein A ­ rmer
ist so frei wie ein Reicher. Die faktische Freiheit besteht
entweder in der Möglichkeit zu wollen, was man soll, oder
in der Möglichkeit zu tun, was man will. Sie sprechen
von der Handlungsfreiheit, und diese hat ihre Grade und Ver­
schiedenheiten. Im allgemeinen ist der, der über die größe­
ren Mittel verfügt, auch freier zu tun, was er will.« ­
­ (W III. 1, 255)
Hier ist die Unterscheidung von formaler und realer Freiheit fest­
gehalten : Sklave und Leibeigener sind formal, d. h. juristisch
gegenüber ihren Herren unfrei ; im Unterschied zur Sklaven­
haltergesellschaft und dem Feudalismus dagegen sind in der
bürgerlichen Gesellschaft der Arme und der Reiche formal
gleich frei. Diese juristische Auffassung abstrahiert jedoch von
den Unterschieden in der realen Freiheit, die an die Gegeben­
heit von Möglichkeiten und Bedingungen geknüpft ist. Da ist
der Reiche dann freier als der Arme.
Die theoretische Ausdifferenzierung der realen Freiheitsspiel­
126
räume geschieht ganz aristotelisch über den Begriff der Freiwil­
ligkeit. Aristoteles verwendet im dritten Buch der Nikomachi­
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

schen Ethik Freiheit und Freiwilligkeit beinahe synonym : Unfrei­


willig ist etwas, das gewaltsam oder ohne Wissen geschieht,
freiwillig dagegen ist eine Handlung, deren Ursprung im han­
delnden Individuum selbst liegt. Das Kriterium für Freiheit ist
bei Aristoteles die Möglichkeit, in Situationen zu entscheiden.
Damit stellt Aristoteles das Freiheitsproblem in den Zusam­
menhang mit Möglichkeit : denn Situationen sind Bedingungs­
konstellationen, in denen durch Entscheidungen Möglichkei­
ten gewählt werden (Aristoteles 1984, 99 ff.).
Diesen intrinsischen Zusammenhang von Möglichkeit und
Freiheit nimmt Leibniz auf. Er erörtert es an einem Beispiel :
Ein Mensch wird schlafend in ein Zimmer getragen, das dann
hinter ihm verschlossen wird. Dort befindet sich eine Person,
die er schon lange treffen wollte. Er wacht auf und wird jetzt
freiwillig in dem Zimmer bleiben, obwohl er nicht die Freiheit
hat, es zu verlassen (W III. 1, 257 f.). Er ist von den objektiven Be­
dingungen her unfrei, wird aber von der subjektiven Motivation
her freiwillig bleiben. Es geht letztlich um diese Unterschei­
dung von subjektiven und objektiven Momenten einer Situa­
tion, in der Spielräume der Freiheit ausgemacht werden kön­
nen. Letztlich geht es Leibniz darum zu zeigen, dass Freiheit
und Abhängigkeit zwei Seiten einer Medaille sind.
Das Eine sind die Grade der Freiheit in Bezug auf die ob­
jektiven Bedingungen in den Verhältnissen, in denen ein Mehr
oder Weniger an Entscheidungsfreiheit liegt. Die andere Seite
von Leibniz’ Konzeption der Freiheit ist das menschliche
Selbstverhältnis, betrifft also die subjektiven Bedingungen der
Wahl einer Handlung. Hier kommt die Theorie der petites per­
ceptions wieder zum Tragen : denn wenn Freiwilligkeit an Be­
wusstsein geknüpft ist, dieses Bewusstsein jedoch sowohl von
äußeren Umständen als auch von inneren Antrieben (Begier­
den, Neigungen, Motiven aller Art) ein nur graduelles und nie
127
ein absolutes Bewusstsein ist und sein kann, so ist keine Ent­
scheidung ganz frei : »Oft lässt uns eine unmerkliche Perzep­

Die Aktualität des Freiheitsbegriffs


tion, die man nicht unterscheiden noch entwirren kann, eher
zur einen als zur anderen Seite neigen, ohne dass man einen
Grund dafür angeben könnte« (W III. 1, 277).
Freiheit liegt für Leibniz im Streben nach einem höheren
Grad der Bewusstheit im Handeln. Solange wir im Unbewuss­
ten oder Halbbewussten der dunklen Wahrnehmungen verhar­
ren, bleibt alle Rede von Freiheit ein »Papageiengeschwätz«,
denn »die schönsten moralischen Vorschriften mit den bes­
ten Regeln der Klugheit machen nur Eindruck auf eine Seele,
die dafür empfänglich ist« (W III. 1, 285). Frei werden wir folg­
lich in dem Maß, als unser Verhältnis zur äußeren Wirklichkeit
und unser Selbstverhältnis bewusster und reflektierter werden.
Es geht Leibniz nicht darum, »moralische Vorschriften zu ma­
chen und zu lehren«, sondern um Bildung zu einem reflektier­
ten, von der Vernunft geleiteten Verhältnis zur äußeren und in­
neren Wirklichkeit, »indem man sich die Gewohnheit erwirbt,
gemäß der Vernunft zu handeln« (W III. 1, 289).
Freiheit ist also immer etwas Vermitteltes und nie abso­
lut : »Die Seele hat die Kraft, die Befriedigung einzelner ihrer
Begierden aufzuschieben und ist folglich frei, sie nacheinan­
der zu erwägen und zu vergleichen. Darin besteht die Freiheit
des Menschen« (W III. 1, 307). Diese Fähigkeit wird Hegel spä­
ter ›zweite Natur‹ nennen : die Fähigkeit des Menschen, seine
Bedürfnisse durch Kultur vermittelt zu befriedigen und damit
nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich frei zu ge­
stalten. Leibniz hat für diesen Unterschied der reflektierten
Wirklichkeit des Menschen zur mechanischen Natur ein sehr
treffendes Bild gefunden : »Die Strebungen sind wie die Ten­
denz des Steines, der immer auf dem geradesten, nicht aber
immer auf den besten Wegen zur Mitte der Erde hin sich be­
wegt, da er nicht vorhersehen kann, daß er auf Felsen treffen
kann, an denen er zerschellen wird, während er sich mit mehr
128
Erfolg seinem Ziele genähert hätte, wenn er über Geist und
Mittel verfügen würde, einen Umweg zu machen« (W III. 1,
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

293). Freiheit ist diese Fähigkeit des Menschen, Umwege zu


gehen.
Eine ausdifferenzierte Theorie der Freiheit ist Vorausset­
zung für Politik als Ordnung der Kompossibilität : Das Inein­
andergreifen von Ansprüchen subjektiver Selbstbestimmung
und einer komplexen Struktur der Bedingungen und Möglich­
keiten in der Beziehungseinheit des Ganzen ist Gegenstand
des Politischen. Die Aktualität des Freiheitsbegriffs von Leib­
niz besteht darin, über einen nur formalen Begriff der Freiheit,
der heute den politischen Diskurs bestimmt, die Komplexi­
tät der materialen Pluralität individueller Freiheitsbestrebun­
gen als Verhältnisstruktur denken zu können. Mit einem Wort :
Leibniz kann die Vielen denken, ohne ihren Zusammenhang
im Ganzen auszublenden. Seine Metaphysik gestattet, diese
beiden Momente als Ordnung zu denken. Das verleiht seiner
Philosophie in der globalisierten Welt von heute, in der es im­
mer schwieriger wird, politische Antworten auf die Herausfor­
derungen der Zeit zu finden, große Aktualität.
Metaphysik und Politik :
Die Ordnung der Kompossibilität
Das politische Denken von Leibniz war nicht, wie beim Klassi­
ker der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts, Thomas
Hobbes, an einer politischen, d. h. staatlichen Ordnung inter­
essiert, die das egoistische Eigeninteresse begrenzte, um es zu
sichern und möglich zu machen. Er ging nicht von der Konkur­
renz Einzelner aus, wo nach der berühmten Formel homo homini
lupus jeder jedem ein Wolf ist. Er setzte nicht den Krieg aller
129
gegen alle (bellum omnium contra omnes) voraus, sondern zielte
auf eine Ordnung, die sich am commune bonum, dem Gemein­

Metaphysik und Politik : Die Ordnung der Kompossibilität


wohl bzw. den gemeinsamen Interessen der Menschen, orien­
tierte.
Die Originalität seines Ansatzes besteht nun darin, dass
die Alternative zum liberalen Verständnis der Gesellschaft
nicht die Unterordnung individueller Ansprüche unter eine
wie auch immer näher definierte Gemeinschaft ist. Vielmehr
geht Leibniz grundsätzlich von der faktischen Pluralität indi­
vidueller Verwirklichungsbestrebungen aus, und eine politi­
sche Ordnung der Kompossibilität besteht für ihn gerade da­
rin, diese individuellen Ansprüche nicht nur formaliter zu re­
gulieren, um sie dann als Eigennutz freizusetzen, sondern
materialiter so zu vermitteln, dass möglichst viele dieser indivi­
duellen Kräfte sich zugleich weiterentwickeln können. Das ge­
schieht auf der Grundlage des Gedankens, die gemeinsamen
Interessen zu fördern und solche Eigeninteressen, die andere
Verwirklichungen ausschließen, zugunsten des Gemeinwohls
zu begrenzen. Die Pluralität der Interessen muss politisch so
ins Verhältnis gesetzt werden, dass sie kompossibel werden,
also vielleicht nicht übereinstimmen, aber koexistieren kön­
nen. Es braucht kaum betont zu werden, welche Aktualität ein
solcher Ansatz in einer Gegenwart hat, in der eine Gesellschaft
des Eigennutzes global große und empörende Unterschiede
in der Verteilung der Möglichkeiten von Entwicklung und eine
fortgeschrittene Zerstörung der gemeinsamen Lebensgrund­
lagen hervorgebracht hat.
Die metaphysische Voraussetzung dieser politischen
Grundposition ist in dem Satz Omne possibile exigit existere aus­
gesprochen : Alles Mögliche strebt nach Existenz (bzw. d­ anach,
sich zu verwirklichen oder zu entwickeln). Dieses ontologi­
sche Grundprinzip rechnet Leibniz unter die absolut ersten
Wahrheiten, ähnlich dem Satz vom Widerspruch oder dem der
Varietät, die wir als Grundvoraussetzungen der Logik bereits
130
kennengelernt haben. Ohne sie kann nicht gedacht werden,
und deshalb können und müssen sie nicht bewiesen werden.
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

Bei dem genannten ontologischen Grundsatz verhält es sich


ähnlich : Ohne dieses Prinzip, dass Mögliches zur Wirklichkeit
strebt, kann man weder die Existenz noch die Koexistenz von
Wirklichkeiten denken (und folglich auch keine Gesellschaft,
denn sie besteht immer aus koexistierenden Individuen, deren
Ansprüche vermittelt werden müssen) :

»Dieser Satz : Alles Mögliche strebt nach Existenz kann


a posteriori belegt werden, wenn man setzt, daß e­ twas
existiert. Denn entweder existiert alles, und dann wird
­alles Mögliche so sehr zur Existenz streben, daß es auch
existiert, oder etwas existiert nicht ; alsdann muß ein
Grund angegeben werden, warum etwas vor a­ nderen
­existiert. Dieser kann aber nicht anders angegeben wer­
den als durch den allgemeinen Wesens- oder Möglich­
keitsgrund, gesetzt, das Mögliche strebe seiner N ­ atur nach
und im besonderen im Verhältnis zu seiner Möglichkeit
und entsprechend dem Grade seines Wesens zur E ­ xistenz.
Wenn nicht in der Natur des Wesens selbst irgendeine
­Tendenz zu existieren wäre, so würde nichts existieren«. ­
­ (W I, 177)
So wird das ontologische zu einem politischen Konzept der
Kompossibilität. Ausgangspunkt ist für Leibniz grundsätzlich
die Realität und Legitimität individueller Kräfte, die in ihrer
Verwirklichung und Entwicklung solange wirken, bis sie durch
andere Kräfte begrenzt werden. Politisches Handeln besteht
innerhalb dieses Grundkonzeptes darin, Unverträglichkeiten
zu minimieren und Kompossibiltät zu fördern, also eine Ord­
nung zu schaffen, in der am meisten unterschiedliche Wirk­
lichkeiten zugleich existieren können.
Schon der Discours de Métaphysique hatte, wie wir bereits ge­
131
sehen haben, den metaphysischen Grundgedanken ausge­
sprochen, der für das politische Denken von Leibniz leitend

Metaphysik und Politik : Die Ordnung der Kompossibilität


wird, nämlich dass die Substanzen sich gegenseitig behindern
oder begrenzen, aufeinander wirken und sich gegenseitig ein­
schränken. Wenn man weiter davon ausgeht, dass das Indivi­
duum wesentlich Handeln ist, bedeutet dies, dass diejenige in­
dividuelle Substanz, die »ihr Vermögen ausübt […] handelt, und
diejenige, die zu einem geringeren Grad übergeht, ihre Schwä­
che kenntlich macht und leidet« (W I, 101).
Politik muss sich also auf eine Ordnung richten, die Hand­
lungsfähigkeit fördert und Leiden mindert. Gerade indem der
metaphysische Gedanke der Kompossibilität ja impliziert, dass
immer mehr Wirklichkeit (mehr Verwirklichung von Möglich­
keiten und mehr Beziehungen bzw. Wechselwirkungen zwi­
schen den Individuen) entsteht, weist Leibniz selber auf das
Problem hin, mit dem sich politisches Handeln konfrontiert
sieht : Da der entstehende Ordnungszusammenhang tenden­
ziell immer komplexer wird, werden die politischen Antwor­
ten entsprechend schwieriger.
Aber auch dieses Problem einer notwendigen Komplexi­
tätssteigerung der Wirklichkeit reflektiert Leibniz sowohl
metaphysisch als auch politisch im Begriff des Fortschritts. Im
Unterschied zum Fortschrittsbegriff der bürgerlichen Philo­
sophie des späteren 18. Jahrhunderts, der bei Kant und später
Hegel klassisch entwickelt wird, fasst Leibniz Fortschritt nicht
als lineare Entwicklung in der Zeit, also als geschichtliche Be­
wegung auf einen Endzweck hin, sondern als Realitätssteige­
rung des Ganzen in der Simultaneität der Gegenwart (Zimmer
1999). Folgt man dem Grundgedanken von Leibniz, dass Han­
deln und Leiden, also Mehrung und Minderung der Wirklich­
keiten, ineinandergreifen, muss es in der Gesamtwirklichkeit
Auf- und Abstieg, also Fortschritte und Rückschritte geben.
Die eigentliche Frage ist für Leibniz nicht, ob es in Teilen des
Ganzen eine fortschrittliche Entwicklung gibt, sondern wie
132
der Fortschritt des Ganzen (also die Steigerung von Realität
und Komplexität im Ganzen) gedacht werden kann.
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

Er gibt darauf in dem Fragment De progressu in infinitum eine


Antwort : »Ich sage daher, daß der Anstieg das Wahre ist, wenn
jetzt ein Punkt angenommen werden kann, unter den nicht
weiter abgestiegen werden kann und wenn man nach irgendei­
ner Zeit, wie lang sie auch immer sein möge, zu einem höheren
Punkte gelangt, unter den nicht weiter abgestiegen wird« (W I,
369). Man kann sich diesen Gedanken im Bild einer Spirale ver­
anschaulichen (im Unterschied zur Linie, die die Bindung des
Fortschrittsgedankens an den Zeitverlauf akzentuiert) : Rück­
schritte (der Bogen, den die Bewegung der Spirale rückwärts
beschreibt) kommen nicht auf einen vergangenen Punkt zu­
rück, sondern sind eine Rückkehr zum Ausgangspunkt auf hö­
herem Niveau. Leibniz denkt statt einer einfachen Linearität
des Fortschritts (ein Gedanke, von dem wir inzwischen wohl
wissen, dass er obsolet geworden ist) also die Integration des
Rückschritts in die Fortentwicklung. Relative Rückschritte ge­
hen ein in den Spielraum neuer Möglichkeiten.
Wie ist das möglich ? Leibniz denkt die Irreversibilität der
Steigerung ausschließlich im Bereich des Wissens, also da, wo
hinter eine Veränderung nicht zurückgefallen werden kann.
Notwendigen Fortschritt (also Zunahme von Kraft und Wir­
kung) gibt es nur im Wissen, denn im Wissen nimmt die Welt
an Vermögen, d. h. an Wirkungsmöglichkeiten zu, »weil die
Seelen durch alles Vergangene beeinflußt werden« und auf die­
­se Weise in jede Gegenwart »alle früheren Tätigkeiten einbezo­
gen sind« (W I, 371). Es ist die Reflexion der Erfahrungen, die
auch etwas Gescheitertes zu einem Fortschritt machen kann.
Nur in diesem Sinn reflektierter Wirklichkeit ist jede Gegen­
wart dann ein Punkt in der Zeit, hinter den nicht zurückgefallen
werden kann, weil er Vermehrung von Wirkungsmöglichkeiten
und eine Steigerung der Komplexität des Wirklichen ­bedeutet.
Es ist also wieder der metaphysische Grundgedanke, der
133
den Fortschrittsbegriff strukturiert. Im Wissen und der Re­
flexion koinzidieren Bewirktsein durch die Beziehungseinheit

Metaphysik und Politik : Die Ordnung der Kompossibilität


des Ganzen und Wirken auf dieses Ganze. Das bedeutet in je­
dem Fall eine Steigerung von Möglichkeiten, eine höher struk­
turierte Kompossibilität. Das ist auch ein politisch äußerst
interessanter Gedanke : Im Unterschied zur klassischen Ge­
schichtsphilosophie, die Fortschritt immer als Überwindung
eines als rückschrittlich Gedachten versteht und sozusagen ›zu­
rücklässt‹, geht Leibniz von einer Integration des Vergangenen in
die Gegenwart und also auch in die Gestaltung zukünftiger Ent­
wicklungsperspektiven aus. Das ist in einer globalen Welt von
höchster Aktualität. Denn wir leben zwar in einer Epoche, in
der ein Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit (die sogenannte
westliche Welt) weiter entwickelt ist als andere, aber zugleich
alle Entwicklungstempi und -modi in einer Welt zusammenge­
schlossen sind. Das heißt : Wir leben, um mit dem Ausdruck
Ernst Blochs zu sprechen, in einer Welt der ›Ungleichzeitigkeit‹
historischer Entwicklung, in der verschiedene historische Zei­
ten in der Simultaneität der Gegenwart koexistieren.
Man kann hier auch von »Zeitschichten« in der Gegenwart
sprechen (Koselleck 2003). Dieser Wirklichkeit verschiedener,
in der Gegenwart koexistierender Entwicklungsstände wird
der Fortschrittsbegriff von Leibniz viel besser gerecht als der
klassische, weil er die Frage nach dem Fortschritt am Krite­
rium der Entwicklungsmöglichkeit aller Teile des Ganzen misst.
Ordnung der Kompossibilität als Maßstab politischen Denkens
und Handelns bedeutet, solche Bedingungen der Wechselwir­
kung der individuellen Kräfte zu schaffen, unter denen sich
eine maximale Vielfalt koexistierender Möglichkeiten entwi­
ckeln kann. Einer Ordnung der Kompossibilität geht es darum,
es an der Entwicklung gehinderten Kräften zu ermöglichen,
mehr Wirklichkeit zu gewinnen als sie bisher hatten. Es geht
um Ausgleich : Solches Handeln zu begrenzen, das mehr Ent­
wicklungsmöglichkeiten einschränkt als freisetzt. Die Bezie­
134
hungen zwischen den Individuen sollen so eingerichtet werden,
dass mehr Möglichkeiten kompatibel sind und also zugleich
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

Wirklichkeit werden können (vgl. Bou Mas 2007). Politisch ge­


sprochen meint diese Aussage die hoch aktuelle Forderung,
einer Weltordnung näher zu kommen, in der sich die Unter­
schiede in der Entwicklung nachhaltig angleichen können.
Leibniz denkt, um ein signifikantes Beispiel zu nennen,
das Verhältnis von Herr und Knecht aus genau dieser Perspek­
tive : Der Knecht ist deshalb Knecht (abhängig vom Herrn und
daher unselbständig), weil seine Fähigkeiten nicht ausrei­
chend entwickelt sind, um selbständig zu sein. Ganz im Sinne
der Aufklärung bindet er dann die Möglichkeit der Aufhe­
bung der Knechtschaft an die »Erziehung des Menschen«, d. h.
an die »Ausbildung seiner Fähigkeiten bis hin zur vollkom­
menen Selbständigkeit« (Holz 2015, 143). So sehr dieser Ge­
danke auch historisch aus der Aufklärung kommen mag : Das
Recht auf Bildung im Bereich des Individuellen hat bis heute
seine eigentliche Wirkung im gesellschaftlichen Zusammen­
hang. Denn die Entwicklung der Fähigkeiten bedeutet Entfal­
tung eines Möglichkeitspotentials, das gesellschaftliche Ent­
wicklung als kompossible – und das heißt : Unterschiede an­
gleichende Steigerung der Wirklichkeit, also die zunehmende
Verwirklichung der Menschen impliziert. Leibniz will die Plu­
ralität individueller Wirklichkeiten in der Einheit ihrer Bezie­
hungen so gestalten, dass immer mehr ihr innewohnende
Möglichkeiten freigesetzt werden können : In einem »Über die
öffentliche Glückseligkeit« überschriebenen Fragment heißt
es dazu : »Man muß dafür sorgen, daß die Menschen klug,
mit Tugend begabt, mit einer Fülle von Vermögen ausgestat­
tet sind, damit sie das Beste wissen, wollen und tun können«
(Leibniz 1967, 134).
Man sieht, dass sich aus Leibniz’ metaphysischen Grund­
gedanken normative und handlungsleitende Konsequenzen
ergeben : Kompossibilität als politischer Begriff fordert, dass
135
die Verwirklichung von Möglichkeiten so gestaltet werden soll,
dass sie eine maximale Entwicklung der Menschen erlaubt –

Metaphysik und Politik : Die Ordnung der Kompossibilität


und solche Handlungen vermieden werden müssen, die viele
andere Möglichkeiten von der Verwirklichung ausschließen.
Leibniz bietet klare Definitionen für diesen Grundgedanken
an : »Zu unterlassen ist eine Handlung, durch deren Setzung mit
aller Wahrscheinlichkeit in der Gesellschaft mehr Schlechtes
als Gutes herbeigeführt wird.« Und weiter : »Gut für die Gesell­
schaft ist dasjenige, was dem einen mehr an Gutem als dem an­
deren an Schlechtem zufügt« (ebd., 131).
In De Jure et Justitia sagt Leibniz, dass dasjenige richtig ist,
»was in Summa das beste ist, wenn wir das allgemeine Wohl
betrachten« (zit. nach Holz 2015, 149). Gerechtigkeit nennt er
»geordnete Nächstenliebe oder die Tugend, die in der Neigung
des Menschen zu seinem Mitmenschen die Vernunft wahrt«
(Leibniz 1967, 130). Der Begriff der Gerechtigkeit hat also fol­
gende Bestimmungsmerkmale : Es geht nicht nur um eine per­
sönliche Haltung wie Nächstenliebe oder Tugend, sondern
auch um eine gesellschaftliche Ordnung. Diese Ordnung muss
nach vernünftigen Prinzipien strukturiert werden, nämlich die
gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen so zu gestalten,
dass nach dem Prinzip der Kompossibilität optimale Entfal­
tungsmöglichkeiten und größtmögliche Vielfalt verwirklich­
ten Lebens entstehen können.
Schlusswort : »Der Platz des Anderen«

Es gibt ein beeindruckendes Dokument für den Charakter und


die Denkweise, die Leibniz’ Haltung prägen : Es ist mit »Der
Platz des anderen« überschrieben und macht Empathiefähig­
keit zur wünschenswerten Grundlage individuellen und ge­
sellschaftlichen Handelns : »Der Platz des anderen ist in der Poli­
tik wie in der Moral der wahre Gesichtspunkt.« Und dies so­
wohl, um die Pflichten gegen die Mitmenschen zu erkennen,
als auch im Sinne einer politischen Klugheitsregel, »um die
136
Ansichten zu erkennen, die unser Nachbar gegen uns haben
kann. Man dringt nie besser in sie ein, als wenn man sich an
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

seine Stelle versetzt. […] Diese Fiktion stachelt unsere Gedan­


ken an und hat mir mehr als einmal dazu gedient, genau das
vorauszusehen, was sich später ereignete« (ebd., 136).
Interessant ist weiter die feine Unterscheidung, die Leibniz’
Ansatz zwischen der Empathie als Moralprinzip, als politischer
Klugheitsregel und als Mitgefühl für die Situation des Anderen
ins Spiel bringt.

»So kann man sagen, daß der Platz des anderen in der
­Moral und in der Politik ein geeigneter Ort ist, um uns
Überlegungen entdecken zu lassen, zu denen wir ohne
diese Mittel nicht gekommen wären, und daß uns a­ lles,
was wir ungerecht finden würden, wenn wir an der ­
­Stelle des anderen wären, der Ungerechtigkeit verdäch­
tig erscheinen sollte. Und sogar alles, was wir nicht
­wünschen würden, wenn wir an der Stelle des a­ nderen
­wären, sollte uns innehalten lassen, um es reiflicher
zu unter­suchen. Der Sinn des Prinzips meint dann : tue
oder ­verweigere nicht leichthin das, wovon du wün­
schen würdest, daß man es dir tut oder dir nicht verwei­
gert. Denke reiflicher darüber nach, nachdem du dich
an die Stelle des anderen versetzt hast, was dir zu geeig­
neten Erwägungen Anlaß geben wird, um die Folgen ­
­dessen besser zu e­ rkennen, was du tust.«  (Ebd., 137)

Dieses Prinzip der Empathie kann als Konsequenz aus dem


metaphysischen Grundgedanken der Philosophie von Leibniz
angesehen werden : Sein Perspektivismus legt nahe, sich an die
Stelle des Anderen zu versetzen, weil er das Bewusstsein dafür
schärft, dass unser Standpunkt – anders als der archimedische
Punkt des cartesischen cogito – kein absoluter Ausgangspunkt
ist, der die Welt aus den Angeln heben kann, sondern in ihr si­
137
tuiert ist und durch die Bezogenheit auf Andere auch abhängig
und bedingt ist. Das ist auch wichtig für eine Kultur der Aus­

Schlusswort : »Der Platz des Anderen«


einandersetzung (und Leibniz stand direkt oder durch Brief­
wechsel ständig in Diskussionszusammenhängen) : Sie ver­
langt Offenheit für Differenzierungen durch Einwände, und
Voraussetzung für ein gutes Gespräch ist die Einsicht, dass
man nicht ganz und gar recht hat und sogar in der verzerrten
Perspektive eines Anderen noch etwas stecken kann, das einen
Realitäts- und somit einen Wahrheitsgehalt hat.
Das Prinzip der Empathie geht aber auch aus der metaphy­
sischen Voraussetzung hervor, dass Sein wesentlich In-Bezie­
hung-Sein ist : Wer Wirklichkeit als Einheit von Beziehungen in
einer Pluralität der Individuen denkt, wird nicht nur von sich
selbst her denken, und auch nicht nur für sich selbst entschei­
den, sondern die Perspektive des Anderen und seine Bedürf­
nisse in sein Denken einbeziehen – als Klugheitsregel, weil
er sich selbst in Beziehung zu und Abhängigkeit von Anderen
weiß, aber auch, weil das grundsätzliche Wissen, dass die Si­
tuation des Anderen nicht nur von seinem eigenen, sondern
auch von meinem Tun abhängt, diese Haltung sittlich zwin­
gend verlangt. So wie die Liberalität Leibnizens nicht mit Li­
beralismus verwechselt werden darf, ist auch seine Grundein­
sicht in die Relativität menschlichen Tuns und Lassens nicht
identisch mit philosophischem Relativismus.
Die Dialektik schließlich des intrinsischen Zusammen­
hangs von Handeln und Leiden, wie sie in der Metaphysik von
Leibniz ausgesprochen ist, sensibilisiert ihn zu empathischem
Mitgefühl – denn sie bedeutet ein Bewusstsein der Notwen­
digkeit und der Unausweichlichkeit des Leidens. Die Kehrseite
meines Handelns ist fremdes Leiden, meine Freiheit ist Ab­
hängigkeit des Anderen, aber eben auch umgekehrt : Das Tun
des Anderen schränkt mein Handeln und also meine Freiheit
ein. Der »Platz des Anderen« bedeutet einen Perspektivwech­
sel, der diesen Zusammenhang bewusst werden lässt. Er zeigt
138
jedoch auch, dass das Problem die moralische, d. h. individu­
elle Ebene voraussetzt, aber zugleich auch überschreitet : denn
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute

der Zusammenhang dieses Geflechts von Beziehungen muss


über das Subjektive hinaus auf einer objektiven Ebene geord­
net werden, nämlich im Sinne einer Ordnung der Kompossi­
bilität in einer Weise, die Entwicklung optimiert und Leiden
­minimiert. Der »Platz des Anderen« artikuliert somit allgemein­-
­gültige Maximen politischen Handelns, die unabhängig von
politischen Überzeugungen gelten (obgleich sie einige politi­
sche Optionen, nämlich solche rücksichtslosen Eigeninteres­
ses, eindeutig ausschließen).
Wir leben in einer Welt, in der die akkumulierte Kraft des
Eigeninteresses die Kräfte der Vielen an ihrer Entwicklung hin­
dert. Wir leben in einer neoliberalen Welt, in der das von Leib­
niz so stark gemachte Prinzip des Vorrangs gemeinsamer Inter­
essen gegenüber dem Einzelinteresse zurückgedrängt ist. Wir
leben weiter in einer Welt fehlender Empathie für das gestei­
gerte Leiden, die verhinderte Entfaltung, und fehlender Ein­
sicht auch in die Notwendigkeit ausgleichender Entwicklung.
Wir leben in einer Welt der in ihre Konsequenzen getriebenen
Moderne, und Leibniz hat vor ihr gewarnt : Gegen den cartesia­
nischen Rationalismus hat er die Abkopplung des Menschen
vom Naturzusammenhang kritisiert, und schon im Rosen­
tal hat der junge Leibniz die Grenzen (und also die Gefah­
ren) einer Verabsolutierung des wissenschaftlich-technischen
Weltbildes gesehen. Es ist faszinierend, wie sich der ganze Fa­
cettenreichtum seines Denkens von einem Grundgedanken her
strukturiert und organisiert. Leibniz’ Beispiel zeigt, wie produk­
tiv und nötig Metaphysik sein kann. Die ganz und gar nicht
wissenschafts- und technikfeindliche Einsicht, dass man den
Zusammenhang von Natur und Mensch denken muss, führt ihn
zur Metaphysik zurück. Wirklichkeit ist eine Konstellation von
Möglichkeiten, die sich dauernd in neuen Ordnungen restruk­
turiert. Ontologisch gesehen bedeutet dies eine Tendenz zur
139
Steigerung der Wirklichkeit und ihrer Komplexität.
Gegenüber dem Metaphysiker, Mathematiker, Wissen­

Schlusswort : »Der Platz des Anderen«


schaftler und Techniker jedoch hat der politische Denker Leib­
niz überwiegend im Hintergrund gestanden. In der Mitte des
20. Jahrhunderts gab es durch die Affinität zweier epochaler
Kriegskatastrophen die Anknüpfung an den Friedensdenker
Leibniz. Im 21. Jahrhundert gilt es nun, die politischen Konse­
quenzen des ontologischen Grundgedankens der Kompossibi­
lität neu zu entdecken. Denn Leibniz fordert, Entwicklung we­
sentlich von zwei Kriterien her zu denken und ordnungspoli­
tisch zu gestalten : mehr individuelle Möglichkeitspotenziale auf
der Grundlage gemeinsamer Interessen zu entfalten. Das wiede­
rum betrifft die beiden großen Herausforderungen unseres
Jahrhunderts : die globale soziale Frage, ohne deren Lösung sich
die individuellen Potenziale nicht entfalten können, und das
globale gesellschaftliche Naturverhältnis, das in seiner gegen­
wärtigen Form durch die ökologische Krise die gemeinsamen
Lebensgrundlagen zerstört. Leibniz’ Metaphysik ist durch und
durch vom Grundgedanken nachhaltiger Entwicklung geprägt
und gibt der Notwendigkeit, unserer Welt eine gerechtere Ord­
nung zu geben, noch immer gültige Grundprinzipien.
Literaturverzeichnis 141

Literaturverzeichnis
Dieses Verzeichnis stellt keine Auswahlbibliographie zu Leib­
niz dar, sondern gibt ausschließlich konsultierte bzw. zitierte
Titel wieder. Zitiert wird, soweit in Einzelfällen nicht anders
ausgewiesen, die zweisprachige Studienausgabe der Werke
von Leibniz (2013) als »W« unter Angabe des Bandes in römi­
schen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern. Diese Ausgabe
ist seitenidentisch mit den älteren Auflagen der zweisprachi­
gen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, so dass
auch diese zum Nachlesen genutzt werden können. Alle Titel
anderer Autoren werden im laufenden Text unter Angabe des
Namens, Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl zitiert.

Leibniz-Editionen in chronologischer Reihenfolge

Leibniz, Gottfried Wilhelm : Opera omnia. Ed. L. Dutens.


Genf 1768.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Leibnitz deutsche Schriften.
Hg. von G. E. Guhrauer. Berlin 1838–1840.
Leibniz, Die philosophischen Schriften. Ed. C. I. Gerhardt,
Berlin und Halle 1875–1890.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Opuscules et fragments inédits.
Éd. Louis Couturat. Paris 1903.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Hauptschriften zur Grundlegung
der Philosophie. Übers. von A. Buchenau und Ernst Cassi­
rer. 2 Bde. Leipzig (später Hamburg) 1906.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Sämtliche Schriften und Briefe.
Hg. von der Preußischen (später Deutschen, heute Berlin-­
Brandenburgischen) Akademie der Wissenschaften.
Darmstadt/Leipzig/Berlin 1923 ff. (die sog. Akademie­
ausgabe).
142
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Textes inédits d’après les manu­
scrits de la Bibliothèque provinciale de Hanovre. Publiés
Literaturverzeichnis

et annotés par G. Grua. 2 Bde. Paris 1948.


Leibniz, Gottfried Wilhelm : Philosophische S­ chriften.
Hg. von W. von Engelhardt, H. H. Holz, H. Herring
und W. Wiater. Darmstadt 1959 ff. (diese zweisprachige
Studien­ausgabe ist als »Werke« 2013 wieder aufgelegt
­worden und wird im laufenden Text als »W« zitiert).
Leibniz Gottfried Wilhelm : Politische Schriften. Hg. und
eingeleitet von Hans Heinz Holz. 2 Bde. Frankfurt a. M.
1966/1967.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Unvorgreiff‌liche Gedancken,
­betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen
Sprache. In : Albrecht Schöne (Hg.) : Das Zeitalter des
­Barock. Texte und Zeugnisse. München 1968, 45–51.
Leibniz, Gottfried Wilhelm : Novissima Sinica. Das Neueste
von China. München 2011.

Weitere Literatur

Aiton, Eric J. : Leibniz. Cambridge 1985.


Antoine, Annette/Annette von Boetticher : Leibniz für Kinder.
Hildesheim/Zürich/New York 2016.
Aristoteles : Die Nikomachische Ethik. München 1984.
Aristoteles : De anima/Über die Seele. Griechisch und
Deutsch. Übers. mit Einleitung und Kommentar von
­Thomas Buchheim. Darmstadt 2016.
Baumgarten, Alexander Gottlieb : Metaphysica. In : Texte zur
Grundlegung der Ästhetik. Hamburg 1983.
Baumgarten, Alexander Gottlieb : Theoretische Ästhetik.
Hamburg 1988.
Benjamin, Walter : Ursprung des deutschen Trauerspiels. In :
Ders. : Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1974,
143
203–409.
Benjamin, Walter : Das Passagenwerk. In : Ders. : Gesammelte

Literaturverzeichnis
Schriften. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1982.
Blumenberg, Hans : »Nachahmung der Natur«. Zur Vorge­
schichte der Idee des schöpferischen Menschen. In : Ders. :
Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine
Rede. Stuttgart 1981, 55–103.
Blumenberg, Hans : Die Sorge geht über den Fluss. Frankfurt
a. M. 1987.
Bou Mas, Francesc Xavier : Systematisches Denken und Poli­
tik. Zur Leibniz-Interpretation von Hans Heinz Holz.
In : Christoph Hubig/Jörg Zimmer (Hg.) : Unterschied und
Widerspruch. Perspektiven auf das Werk von Hans Heinz
Holz. Köln 2007.
Cassirer, Ernst : Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen
Grundlagen. Marburg 1902 (Reprint Hildesheim/New York
1980).
Cassirer, Ernst : Einleitung. In : G. W. Leibniz : Neue Abhand­
lungen über den menschlichen Verstand. Übers., ein­
geleitet und erläutert von Ernst Cassirer. Hamburg 1971,
IX–XXIX .
Couturat, Louis : La logique de Leibniz. Paris 1901.
Couturat, Louis : Über Leibniz’ Metaphysik. In : Heinekamp/
Schupp 1988, 57–80.
Deleuze, Gilles : Die Falte. Leibniz und der Barock. Frankfurt
a. M. 2000.
Descartes, René : Von der Methode richtigen Vernunftge­
brauchs und der wissenschaftlichen Forschung. In :
Ders. : Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg
1996.
Feuerbach, Ludwig : Grundsätze der Philosophie der Zukunft.
In : Ders. : Gesammelte Werke. Hg. von Werner Schuffen­
hauer. Bd. 2. Berlin 1982, 264–341.
Feuerbach, Ludwig : Geschichte der neuern Philosophie. Dar­
144
stellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philo­
sophie. In : Ders. : Gesammelte Werke. Hg. von Werner
Literaturverzeichnis

Schuffenhauer. Bd. 3. Berlin 1984.


Garber, Klaus : Martin Opitz – »der Vater der deutschen Dich­
tung«. Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte
der Germanistik. Stuttgart 1976.
Goethe, Johann Wolfgang von : Aus meinem Leben. Dichtung
und Wahrheit. In : Hamburger Ausgabe. Hg. von Erich
Trunz. Bd. 9. München 1981 a.
Goethe, Johann Wolfgang von : Maximen und Reflexionen.
In : Hamburger Ausgabe. Bd. 12. Hg. von Erich Trunz.
München 1981 b.
Goethe, Johann Wolfgang von : Studie nach Spinoza. In :
Hamburger Ausgabe. Bd. 13. Hg. von Erich Trunz. Mün­
chen 1981 c.
Goethe, Johann Wolfgang von : Einwirkung der neueren
Philo­sophie. In : Hamburger Ausgabe. Bd. 13. Hg. von
Erich Trunz. 1981 d.
Grass, Günter : Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung.
In : Ders. : Werkausgabe in 10 Bänden. Bd. 6. Darmstadt/­
Neuwied 1987.
Gulyga, Arsenij : Immanuel Kant. Frankfurt a. M. 1985.
Gurwitsch, Aron : Leibniz. Philosophie des Panlogismus.
­Berlin/New York 1974.
Habermas, Jürgen : Nachmetaphysisches Denken. Philo­
sophische Aufsätze. Frankfurt a. M. 1988.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich : Enzyklopädie der philo­
sophischen Wissenschaften. In : Ders. : Werke in zwanzig
Bänden. Bd. 8. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel. Frankfurt a. M. 1970.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich : Vorlesungen über die Ge­
schichte der Philosophie III . In : Ders. : Werke in z­ wanzig
Bänden. Bd. 20. Hg. von Eva Moldenhauer und Karl
­Markus Michel. Frankfurt a. M. 1971.
145
Heinekamp, Albert/Schupp, Franz (Hg.) : Leibniz’ Logik
und Metaphysik. Wege der Forschung. Bd. CCCXXVIII .

Literaturverzeichnis
­Darmstadt 1988.
Herder, Johann Gottfried : Vom Erkennen und Empfinden
der menschlichen Seele. In : Ders. : Werke in fünf Bänden.
Bd. 3. Berlin/Weimar 1969.
Hirsch, Eike Christian : Der berühmte Herr Leibniz. Eine
­Biographie. München 2000.
Hobbes, Thomas : Leviathan. Frankfurt a. M. 1984.
Holz, Hans Heinz : Gottfried Wilhelm Leibniz. Frankfurt
a. M./New York 1992.
Holz, Hans Heinz : Dialektik. Problemgeschichte von der
­Antike bis zur Gegenwart. Bd. III . Darmstadt 2011,
363–580.
Holz, Hans Heinz : Leibniz. Das Lebenswerk eines Universal­
gelehrten. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Jörg
Zimmer. Darmstadt 2013.
Holz, Hans Heinz : Leibniz in der Rezeption der klassischen
deutschen Philosophie. Hg. und mit einem Nachwort
­versehen von Jörg Zimmer. Darmstadt 2015.
Huber, Kurt : Leibniz. München 1951.
Jacobi, Friedrich Heinrich : Über die Lehre des Spinoza
in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Hamburg
2000.
Kant, Immanuel : Versuch einiger Betrachtungen über den
Optimismus. In : Ders. : Werke. Hg. von Wilhelm Weische­
del. Bd. 2. Darmstadt 1983 a.
Kant, Immanuel : Über das Misslingen aller philosophischen
Versuche in der Theodizee. In : Ders. : Werke. Hg. von
­Wilhelm Weischedel. Bd. 9. Darmstadt 1983 b.
Kant, Immanuel : Von dem ersten Grunde des U ­ nterschiedes
der Gegenden im Raume. In : Ders. : Werke. Hg. von
­Wilhelm Weischedel. Bd. 2. Darmstadt 1983 c.
Kant, Immanuel : Prolegomena zu einer jeden Künftigen
146
Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können.
In : Ders. : Werke. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 5.
Literaturverzeichnis

Darmstadt 1983 d.
Kant, Immanuel : Über die von der königlichen Akademie
der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 a­ usgesetzte
Preisfrage : Welches sind die Fortschritte, die die Meta­
physik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in D ­ eutschland
gemacht hat ? In : Ders. : Werke. Hg. von Wilhelm
­Weischedel. Bd. 5. Darmstadt 1983 e.
König, Josef : Das System von Leibniz. In : Ders. : Vorträge
und Aufsätze. Hg. von Günter Patzig. Freiburg/München
1978.
Koselleck, Reinhart : Zeitschichten. Studien zur Historik.
Frankfurt a. M. 2003.
Lessing, Gotthold Ephraim : Durch Spinoza ist Leibniz nur
auf die Spur der vorherbestimmten Harmonie gekommen.
In : Ders. : Werke. Bd. 3. München 1995 a.
Lessing, Gotthold Ephraim : Leibniz von den ewigen Strafen.
In : Ders. : Werke. Bd. 3. München 1995 b.
Mahnke, Dietrich : Leibnizens Synthese von Universalmathe­
matik und Individualmetaphysik. Stuttgart-Bad Cannstatt
1964.
Mann, Golo : Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges.
In : Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte.
Hg. von Golo Mann und August Nitschke. Bd. 7. Frankfurt
a. M./Berlin 1991, 133–230.
Marx, Karl : Exzerpte aus Leibniz’ Werken. In : MEGA IV/1.
Berlin 1976.
Ortega y Gasset, José : Der Prinzipienbegriff bei Leibniz und
die Entwicklung der Deduktionstheorie. München 1966.
Plessner, Helmuth : Die verspätete Nation. Über die politische
Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Frankfurt a. M. 1974.
Poser, Hans : Gottfried Wilhelm Leibniz zur Einführung.
Hamburg 2005.
147
Poser, Hans : Leibniz’ Philosophie. Über die Einheit von
Metaphysik und Wissenschaft. Hg. von Wenchao Li.

Literaturverzeichnis
Darmstadt 2016.
Russell, Bertrand : A Critical Exposition of the Philosophy of
Leibniz. Cambridge 1900.
Russell, Bertrand : Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusam­
menhang mit der politischen und sozialen Entwicklung.
Köln 2012.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von : Zur Geschichte
der neueren Philosophie. Münchener Vorlesungen. In :
Ders. : Ausgewählte Schriften. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1985,
417–616.
Schopenhauer, Arthur : Über den Willen in der Natur.
In : Ders. : Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letz­
ter Hand hg. von Ludger Lütkehaus. Bd. 3. Zürich 1988 a,
169–321.
Schopenhauer, Arthur : Parerga und Paralipomena : kleine
philosophische Schriften. In : Ders. : Werke in fünf Bänden.
Nach den Ausgaben letzter Hand hg. von Ludger Lütke­
haus. Bd. 4. Zürich 1988 b.
Spinoza, Benedictus de : Die Ethik. Lateinisch und Deutsch.
Stuttgart 1977.
Spinoza, Baruch de : Theologisch-politischer Traktat.
­Hamburg 1994.
Voltaire : Candide oder der Optimismus. Mit Zeichnungen
von Paul Klee. Frankfurt a. M. 1972.
Wolff, Christian : Rede über die praktische Philosophie der
Chinesen. Übers., eingeleitet und hg. von Michael Alb­
recht. Hamburg 1985.
Wolff, Christian : Erste Philosophie oder Ontologie. Übers.
und hg. von Dirk Effertz. Hamburg 2005.
Zimmer, Jörg : Fortschritt als Ordnung der Kompossibilität.
Gedanken über Leibniz und geschichtsphilosophische
Probleme unserer Zeit. In : Topos. Internationale Beiträge
148
zur dialektischen Theorie 13/14 (1999), 39–59.
Zimmer, Jörg : »Jedes Existierende ist ein Analogon alles Exis­
Literaturverzeichnis

tierenden«. Philosophische Grundlagen der symbolischen


Weltanschauung Goethes. In : Domenico Losurdo/André
Tosel (Hg.) : Die Idee der historischen Epoche. Frankfurt
a. M. u. a. 2004, 117–127.
Zimmer, Jörg : Vorwort. In : Gottfried Wilhelm Leibniz : Werke.
Bd. 1. Darmstadt 2013, VII –XIX .
Zimmer, Jörg : Christian Wolffs Chinarezeption und das Pro­
blem philosophischer Interkulturalität. In : Philipp Rich­
ter/Jan Müller/Michael Nerurka (Hg.) : Möglichkeiten der
Reflexion. Festschrift für Christoph Hubig. Baden Baden
2018, 75–87.

Das könnte Ihnen auch gefallen