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LEIBNIZ
U N D DIE FOLG E N
Die Zugangsinformationen zum eBook
finden Sie am Ende des Buchs.
Jörg Zimmer
Leibniz
und die Folgen
J. B. Metzler Verlag
Der Autor
Jörg Zimmer studierte Philosophie und Literaturwissenschaft
in Osnabrück und ist seit 1997 Professor für Philosophie an der
spanischen Universität Girona.
ISBN 978-3-476-04740-3
ISBN 978-3-476-04741-0 (eBook)
J. B. Metzler, Stuttgart
© Springer-Verlag GmbH Deutschland,
ein Teil von Springer N ature, 2018
Inhalt
Einleitung 1
Leibniz im Kontext :
Das Leben eines Universalgelehrten 7
Literaturverzeichnis 141
Einleitung 1
Einleitung
Wie kein zweiter Denker seiner Zeit hat Leibniz eine fein ent
wickelte Sensibilität für Schreibanlässe gehabt : Sein umfang
reicher Briefwechsel zeigt besonders eindrücklich die Fähig
keit, sich in Argumentation und Sprache seinem Adressaten
anzupassen. Heute würde man sagen : ihn da abzuholen, wo
er steht. In den philosophischen Hauptschriften sehen wir
eine systematisch-prinzipielle Diktion, die den umfangrei
chen populären Schriften fehlt. Leibniz hatte allerdings den
Anspruch, dass seine an ein allgemeines Publikum sich rich
tenden Aussagen jederzeit auch in metaphysischer Strenge
reformulierbar sein müssen. Möglichst allgemeinverständlich
sprechen, um in die Breite zu wirken, darf nicht um den Preis
eines Konsistenzverlustes geschehen. Mit diesem Methoden
bewusstsein als philosophischer Schriftsteller und der Forde
rung, den Elfenbeinturm der Philosophie zu verlassen, um mit
Gedanken etwas zu bewirken, legt Leibniz die Latte ziemlich
hoch, will man sich ihm auch in der Form der Darstellung an
nähern.
Der Leser dieses Buches darf keine klassische Einführung,
also auch keinen Überblick über das Gesamtwerk erwarten. Er
wird erst recht keine akademisch monographische Darstellung
finden, sondern eher ein Portrait, wenn auch nicht in der Form
eines ausgeführten Gemäldes, sondern als Portraitzeichnung,
die mit wenigen Strichen Leibniz und sein Denken skizzieren
und charakterisieren will. Ziel ist es, Leibniz in seinem vielsei
tigen Facettenreichtum und der systematischen Strenge seines
Grundgedankens, in der barocken Vielfalt seiner wissenschaft
lich-technischen Interessen und der metaphysischen Einheit
seines Weltbegriffs aufscheinen zu lassen. Leibniz soll im Kon
text seiner Zeit gezeigt werden – verbunden allerdings mit der
Frage, was in der Wirkungsgeschichte aus ihm geworden ist
2
und was er heute noch bedeuten kann. Leibniz und die Folgen,
das meint insofern zweierlei : seine Rezeptionsgeschichte und
Einleitung
seine Aktualität.
Rezeptionsverläufe haben ihre Eigendynamik. In der Wir
kung eines klassischen Autoren tritt der historische Gehalt sei
nes Werkes in Verbindung mit der jeweiligen Gegenwart, d. h.
er bewegt sich in ständiger Transformation und in ständigem
Perspektivwechsel durch den Lauf der Geschichte. Das kann
man sich für die Barockzeit selbst an einem schönen literari
schen Beispiel verdeutlichen : In seiner Erzählung Das Treffen
in Telgte beschreibt Günter Grass das fiktive Treffen der deut
schen Barockdichter in einer kleinen Stadt nahe Münster und
Osnabrück, um parallel zu den Friedensverhandlungen, die
dort am Ende des Dreißigjährigen Krieges stattfinden, über
die Zukunft der deutschen Nation zu beraten. Ein Mitglied der
Gruppe 47, die sich eben diese Frage nach dem Neubeginn in
der Nachkriegszeit der Kriegskatastrophen des 20. Jahrhun
derts stellt, zitiert die historische Vergangenheit eines Jahrhun
derts, die ebenfalls durch die Katastrophe eines großen Krie
ges bestimmt gewesen ist. Es ist das Jahrhundert von L eibniz,
und Grass zeichnet ein eindrückliches Bild dieser Zeit : Da
greift auch ein Dichter schon einmal zum »Degen, nannte den
seinen Federkiel« und »wollte wissen, wem er’s zuerst schrift
lich geben solle« (Grass 1987, 14).
Es gibt also Korrespondenzen zwischen Epochen, und als
man 1946 den dreihundertsten Geburtstag von Leibniz feierte,
stand auch hier der politische, an Frieden und Interessenaus
gleich orientierte Leibniz viel stärker im Vordergrund der Fest
reden als jemals zuvor und danach. In veränderten Rezeptions
kontexten bekommen die Grundgedanken eines klassischen
Autoren also in den Wandlungen der Zeitläufte neue Konno
tationen : es finden oftmals subtile, manchmal auch ziemlich
grobe Bedeutungsverschiebungen statt. Theoretisch hat diese
zentrale Bedeutung der Nachgeschichte Walter Benjamin reflek
3
tiert. Bezeichnenderweise in einem mit »Monadologie« über
schriebenen Abschnitt der erkenntniskritischen Vorrede sei
Einleitung
nes Buches zum barocken Trauerspiel spricht er von »Vor- und
Nachgeschichte« der Werke. Die Idee jedes Werkes ist Monade
und »enthält das Bild der Welt« (Benjamin 1974, 227 f.). Das
bedeutet für unseren Zusammenhang nichts Geringeres, als
Leibniz als Ausdruck seiner Welt zu verstehen. Genau das wer
den wir im ersten und zweiten Kapitel versuchen.
Es bedeutet nach Benjamin aber auch, dass zwischen das
Werk als Ausdrucksgestalt seiner Zeit und uns die gesamte
Nach- bzw. Interpretationsgeschichte tritt. Deshalb muss man
durch Rekonstruktion dieser Rezeptionsverläufe ein Bewusst
sein dafür entwickeln, wie diese Deutungen unser eigenes Bild
mitgeprägt haben. Ausgerechnet in einer Studie über die Über
lieferungsgeschichte des Barockdichters Martin Opitz heißt
es dazu methodologisch sehr erhellend : »Werke, denen eine
nachhaltige Wirkungsgeschichte beschieden war, haben ihrer
seits jene soziokulturelle Tradition mitgeprägt, die noch die
gegenwärtige Rezeption präformiert. Daraus folgt die zwin
gende Anweisung, den Überlieferungsprozeß der Werke zu ver-
folgen, um die Determinanten der gegenwärtigen Aneignung
überprüfen und ggf. deren Macht brechen zu können« (Garber
1976, 12). In diesem Sinne sind das zweite und dritte Kapitel zu
verstehen : Wir müssen die Rezeptionsgeschichte als »Folge«
wenigstens in ihren Hauptzügen kennen, um von der Gegen
wart her ein eigenes, möglichst unverstelltes Verhältnis zu
Leibniz gewinnen zu können. Im Nachvollzug der Rezeptions
geschichte jedoch schärft sich das Bewusstsein, dass auch die
Aktualität von Leibniz nur eine selbst wieder historisch be
dingte Perspektive auf ihn ist.
Im Passagenwerk hat Benjamin diese notwendige und unhin
tergehbare Perspektivität unseres Blickes auf die Überlieferung
in die treffende Metapher der Waage gefasst : »Jede geschicht
liche Erkenntnis läßt sich im Bild einer Waage, die einsteht,
4
vergegenwärtigen und deren eine Schale mit dem Gewesnen,
deren andere mit der Erkenntnis der Gegenwart belastet ist.
Einleitung
Einleitung
dertsten Geburtstag sozusagen kontingent im Vordergrund,
weil hier zwei epochale Katastrophen, das Ende des Dreißig
jährigen Krieges bei Leibniz’ Geburt 1646 und das Ende des
Zweiten Weltkrieges zusammenfielen. Die Aktualität des poli
tischen Denkers Leibniz ist jedoch nicht kontingent, sondern
entspringt dem Zusammenhang mit seiner Metaphysik. Und
wenn im 20. Jahrhundert die historische Korrespondenz in den
Katastrophen lag, so kann die Epochenaffinität im 21. Jahrhun
dert darin gesehen werden, dass er eine Ordnung der ›Kompos
sibilität‹, eine politische Einheit der Vielen zu denken gestattet.
Gerade unsere Zeit kann den politischen Denker Leibniz ent
decken : denn sie hat das Problem, Einheit in der Vielheit poli
tisch denken und gestalten zu müssen. Wir werden am Ende
des Buches fragen, inwiefern Leibniz’ metaphysischer Grund
gedanke einen normativen Rahmen und also Kriterien hierfür
anbieten kann.
Denn diese Pluralität bedeutet bei Leibniz nicht Beliebig
keit, sondern ist als ontologisches Charakteristikum der Welt
aufgefasst. Kompossibilität ist ein ontologischer Begriff, der
das zugleich Mögliche ausdrückt, also politisch gesprochen
auf eine Ordnung zielt, in der sich die individuellen Verwirk
lichungen der Freiheit nicht ausschließen, sondern miteinan
der existieren können. Das führt ihn unter anderem dazu, über
die klassischen Prinzipien des Naturrechts hinaus ein Prin
zip der Solidarität zu denken : Nicht nur suum cuique tribuere und
neminem laedere, einem Jedem das Seine geben und nieman
den schädigen, sondern auch mit Anstand leben (honeste vivere)
in einem ganz bestimmten Sinn : Leibniz konkretisiert diese
»unsubstantiierte moralphilosophische Generalklausel« (Holz
2013, 106) sehr konkret als alios adiuvare, als Anweisung, Ande
ren zu helfen.
Bei Leibniz ist Politik nicht, wie in der klassischen politi
6
schen Theorie der Neuzeit, Antwort auf die Kollision von Frei
heitsansprüchen und Einzelinteressen, sondern er geht von
Einleitung
vorn herein vom Gedanken des bonum commune, also vom Ge
meinwohl bzw. von gemeinsamen Interessen aus. Und in der einen
Welt, in der wir heute leben, können die großen Probleme von
der Erhaltung der gemeinsamen Lebensgrundlagen bis hin
zur Lösung der globalen sozialen Frage nicht anders als durch
Kriterien des Ausgleichs angegangen werden. Diese Idee des
Ausgleichs durch gemeinsame Interessen steht im Zentrum
des politischen Denkens von Leibniz. Ein weiteres Moment
von hoher Aktualität ist sein immer multilaterales Verständnis
internationaler Politik : Es geht um Justierungen in politischen
Konstellationen in der Einheit eines pluralen Zusammenhangs
von Kräften.
Leibniz im Kontext :
Das Leben eines Universal
gelehrten 7
Hier klingt eine bedeutende Geschichte an, die uns noch be
schäftigen wird : die Rosental-Geschichte, die Leibniz an sei
nem Lebensabend in einem späten Brief an Nicolas Remond
mitteilt (W V, 321). Wir wollen sie an dieser Stelle noch nicht zi
tieren, sondern vorerst nur als Hinweis auf die frühe Selbstän
digkeit seines Denkens einführen. Der alte Leibniz erinnert
sich, wie er als Fünfzehnjähriger in dem Wäldchen Rosental
in der Nähe von Leipzig spazieren ging, um darüber nachzu
denken, ob er in der Philosophie an den substantiellen For
men (d. h. an Aristoteles) festhalten solle. Das wird entschei
dend sein für die Entwicklung seiner Metaphysik. Und es ist
ein erstaunliches Zeugnis eigenständigen Denkens : denn es
bedeutet nichts weniger als gegen den antischolastischen Im
puls einer ganzen Epoche, die den Aristotelismus für obsolet
hält, auf der Bedeutung der Tradition zu bestehen – mit gerade
fünfzehn Jahren !
Nach der Zeit in Jena kehrte Leibniz an die Universität Leip
zig zurück und studierte fortan Jura. Dort wurde er nicht zur
Promotion angenommen, weil man ihn für zu jung dafür hielt.
Deshalb reichte er 1667 seine Dissertation zum Problem un
lösbarer Rechtsfälle an der fränkischen Universität Altdorf ein,
wo man sie für so hervorragend hielt, dass man ihm eine Pro
fessur anbot. Er nahm sie nicht an. Sein Leben sollte andere
Wege gehen.
12
Im Jahre 1667 lernte Leibniz den Freiherrn Johann Christian
von Boineburg kennen, der ihn zu einer Schrift über neue Me
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universalgelehrten
Die Italienreise
Die Italienreise
Die Italienreise
nealogisch mit dem Geschlecht der Este zusammenhingen. In
Rom traf er den Jesuiten Claudio Filippo Grimaldi, der im Be
griff stand, nach Peking zu reisen. Leibniz war schon lange
sehr an China interessiert gewesen und hatte einen regen Aus
tausch mit Grimaldi über die Mission in China. Es war nämlich
nicht nur Missionseifer, der die Jesuiten motivierte, sondern
ein reges Interesse am wissenschaftlichen Austausch. Das war
es, was auch Leibniz wollte und dann in seinem vielgelesenen
Buch Novissima Sinica auch propagierte. Natürlich interessierte
sich Leibniz wie später in seiner Nachfolge auch Christian
Wolff für den konfuzianischen Rationalismus (Zimmer 2018).
Leibniz selbst nannte in den Novissima Sinica China ein Europa
des Ostens. Die Zivilisation sei an den beiden Enden Eura
siens konzentriert und würde sich im Zusammenspiel ausbrei
ten können. Es macht abermals keinen Sinn, Leibniz Eurozen
trismus vorzuwerfen, weil der wie schon erwähnt alternativlos
im Geist der Epoche lag. Wichtig ist vielmehr Leibniz’ Einsicht
in die Kraft interkulturellen Austausches, von dem alle etwas
haben sollen. Ein mehr als aktueller Gedanke.
Da Leibniz in Rom diplomatisch auch seinem Ziel konfessio
neller Versöhnung nachging, soll an dieser Stelle etwas Grund-
sätzliches dazu gesagt werden : Im Unterschied zu Hobbes, der
nach dem Prinzip bellum omnium contra omnes in der politischen
Philosophie von der Kollision von Freiheitsansprüchen ausge
gangen war, dachte Leibniz »immer an einen Ausgleich, der
aus Vernunfteinsicht entspringen und das gemeinsame Interesse
aller Beteiligten zum Grunde haben sollte. Sein Friedensbe
griff war nicht der eines gegenseitigen Sich-in-Schach-haltens,
sondern der einer wohl verstandenen Solidarität der Men
schen und Staaten untereinander« (Holz 2013, 224). Diese all
gemeine irenische Konzeption setzte Leibniz – natürlich auch,
weil Religionsfriede nach den Erfahrungen des zurückliegen
24
den Krieges eine zentrale Forderung sein musste – konfes
sionspolitisch um.
Leibniz im Kontext : Das Leben eines Universalgelehrten
»Er dachte mehr relativ als absolut. Wir haben von ihm
keine unabhängige, beziehungslose, absolute Darstellung
seiner Philosophie. / Aber dessen ungeachtet ist es nicht
nötig, etwa bei Leibniz zu einer Kantischen Trennung zwi
schen Leibniz an sich und Leibniz für uns unsere Zuflucht
zu nehmen. Ebendieser unendliche Reichtum an Bezie
hungen ist das Wesen seines Geistes selbst ; er ist das treue
Ebenbild seiner Monade, deren Wesen es ist, alle andern
Wesen idealiter in sich zu enthalten, in sich abzuspiegeln,
mit allen Dingen in einem idealen Verkehr und Verhältnis
zu stehen.« (Ebd., 21)
Mit diesen Worten ist nicht nur der Kern des Charakters des
Menschen Leibniz treffend wiedergegeben, sondern tatsäch
lich auch der Kern seiner Philosophie : Kraft im unendlichen
Zusammenhang der Beziehungen, die in ihrer Totalität Welt
ausmachen.
Leibniz und das Problem
der Metaphysik 31
»Schon als Kind lernte ich den Aristoteles kennen, und so
gar die Scholastiker schreckten mich keineswegs ab ; und
das ärgert mich auch heute überhaupt nicht. Doch s eitdem
gaben mir Platon und auch Plotin einige Befriedigung,
ohne von anderen alten Denkern zu sprechen, die ich spä
ter zu Rate zog. Den Trivialschulen entwachsen, verfiel
ich auf die Modernen, und ich erinnere mich, wie ich im
Alter von 15 Jahren in einem Wäldchen bei Leipzig, ge
nannt Rosendal, spazierenging, um darüber nachzuden
ken, ob ich an den substantiellen Formen festhalten sollte.
[…] Schließlich gewann der Mechanismus die Oberhand
und brachte mich dazu, mich mit der Mathematik zu be
fassen […] Doch als ich die letzten Gründe des Mechanis
mus und der eigenen Gesetze der Bewegung suchte, war
33
ich überrascht zu sehen, daß es unmöglich war, sie in
der Mathematik zu finden, und daß man zur Metaphysik
Analoges ergibt und daß man sie also entsprechend dem Be
griff verstehen muß, den wir von den Seelen haben. […] Aristote
les nennt sie die ersten Entelechien und ich nenne sie vielleicht ver
ständlicher ursprüngliche Kräfte, die nicht nur die Wirklichkeit (den
Akt) oder die Ergänzung der Möglichkeit, sondern auch eine ur
sprüngliche Wirksamkeit (Aktivität) enthalten« (W I, 205 f.).
Letztlich geht es also darum (das deutet der Bezug auf Aris
toteles an), den Unterschied von toter Materie und lebendigem
Sein hervorzuheben. Wir werden später noch detaillierter se
hen, dass Leibniz diese Lebendigkeit in ihrer graduellen Abge
stuftheit begreift, also keine grundsätzliche Trennung von Kör
per und Seele voraussetzt wie Descartes, sondern im Gegenteil
von ihrer untrennbaren Einheit ausgeht. Das Ich ist jedoch die
höchste Stufe des Lebendigen, weil es die reflexive Beziehung
des Lebens auf sich selbst bedeutet : »Darüber hinaus gibt es
vermittels der Seele oder Form eine wahre Einheit, die dem
entspricht, was man in uns das Ich nennt. […] Es gibt nur subs
tantielle Atome, das heißt die wirklichen und von Teilen voll
kommen entblößten Einheiten, die die Quellen der Tätigkei
ten und die ersten absoluten Prinzipien der Zusammensetzung
der Dinge und gleichsam die letzten Elemente der Analyse der
substantiellen Dinge sind. Man könnte sie metaphysische Punkte
nennen : sie haben etwas Lebendiges, eine Art Perzeption, und die
mathematischen Punkte sind ihre Gesichtspunkte, um das Univer
sum auszudrücken« (W I, 215). Weil Tätigkeit immer Wirken
auf etwas bedeutet, hat die individuelle Substanz mit der ur
sprünglichen Kraft auch ihr Wirken auf Anderes und also die
Beziehung zum Anderen in sich. Als Perzeption bzw. Wahrnehmung
reflektiert die individuelle Substanz das Wirken Anderer auf
sich, so dass man sagen kann, dass jede Substanz die Einheit
von Wirken und Leiden, von aktiver und passiver Kraft ist. Das
Système nouveau nennt das den ›Verkehr‹, das heißt die wechsel
39
seitige Beziehung jeder individuellen Substanz zu allen ande
ren Substanzen. Das wesentliche In-Beziehung-Sein der Sub
dass das Subjekt alles Wirkliche und Mögliche als Einheit im
mer schon in sich enthält, weil es als Kraft Grund dieser Ein
heit von Wirklichkeit und Möglichkeit ist.
Der vollständige Begriff der individuellen Substanz ist folg
lich das unabgeschlossene und auch unabschließbare Ganze
wirklichen und möglichen Seins des Subjekts : ein Grenzbe
griff für Vollkommenheit, wobei man, um Missverständnisse
zu vermeiden, sagen muss, dass Leibniz darunter immer einen
Grad der Vervollkommnung, also letztlich eine Steigerung der
eigenen Realität versteht. Mit anderen Worten : »Das Indivi
duum ist gekennzeichnet durch seinen vollständigen Begriff der
individuellen Substanz. Dieser Begriff ›schließt alle ihre vergan
genen, gegenwärtigen und zukünftigen Prädikate ein‹« (Poser
2005, 125).
Nun ist die individuelle Substanz auch ein In-Sein in dem
Sinn, dass sie in der Welt und ihrem Beziehungszusammen
hang steht. Insofern bedeutet die logische Formel praedica
tum inest subiecto in der ontologischen Übertragung des Discours
auch die These universeller Vermittlung des Individuellen mit
dem Ganzen. Jedes Einzelne drückt das Ganze aus, denn einer
seits ist das Subjekt in der Welt (in ihr enthalten), andererseits
ist die Welt in jeder individuellen Substanz enthalten, indem
diese sie aus ihrer Perspektive darstellt und ausdrückt. Das
Ganze ist gar nicht anders gegeben als in der perspektivischen
Darstellung, der repraesentatio mundi als Ausdruck des Ganzen
in jedem seiner individuellen Teile.
Diesen Zusammenhang, dass »jede einzelne Substanz das ganze
All auf ihre Weise ausdrückt« (W I, 77), wie es in der Zusammenfas
sung, die Leibniz für Arnauld geschrieben hat, heißt, stellt der
Fortgang der Argumentation klar : denn die angegebene Struk
tur bedeutet, dass der Ort des Ausdrucks des Ganzen die Sub
stanz individuiert und »es nicht wahr ist, dass zwei Substanzen
45
sich gänzlich gleichen und solo numero (allein der Zahl nach)
verschieden sind.« Und dann führt Leibniz, um diesen Zusam
Das Problem der Metaphysik ist die Begründung dieser Freiheit, al
Leibniz und das Problem der Metaphysik
(W V, 335 f.)
Leibnizrezeption von der
Aufklärung bis Hegel 57
59
Das Theodizeeproblem
Das Theodizeeproblem
Voltaires’ Spott bezieht sich auf die Theodizee von der Güte Gottes,
der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, und es muss
nicht betont werden, dass er den Gedanken nicht gerecht wird,
die in diesem umfangreichen Werk niedergelegt sind. Es geht
Leibniz um die Möglichkeit der Übereinstimmung des Glau
bens mit der Vernunft, ein Problem, das die erste Abhandlung
in umfangreichen Erörterungen diskutiert. Betrachtet man die
Theodizee in einer problemgeschichtlichen Perspektive, also mit
der Frage nach der Aktualität des hier artikulierten Problems
für die heutige Zeit, gehört dieser Aspekt sicher nicht mehr
zu unseren philosophischen Grundfragen, war jedoch durch
aus wichtig für den Kontext der Entstehung des Werks : Ein
mal konnte eine Begründung des Glaubens aus Vernunftgrün
den in konfessionellen Konflikten ausgleichend wirken, zum
anderen galt es, im aufkommenden Zeitalter der Aufklärung
Glaube und Vernunft kompatibel zu machen.
Heute ist das in einer Zeit, die Glauben und Wissen klar
zu unterscheiden weiß, natürlich eine obsolete Fragestellung.
Aber historisch ist diese Schrift in der frühen Aufklärung nach
dem Erscheinen 1710 und der Popularisierung durch Gott
scheds Übersetzung ins Deutsche bis in die Mitte des Jahrhun
derts so ungeheuer wirksam geworden, weil sie zeigte, dass die
Welt der Bibel zur neuen, wissenschaftlichen Weltanschauung
nicht im Widerspruch stehen musste. Und weiter ging es da
rum, mit den Mitteln spekulativer Philosophie zu zeigen, wa
rum Gott nur die beste aller möglichen Welten wählen konnte.
Hier liegt eine Frage vor, die jenseits des theologischen Hori
zontes der Epoche als ontologisches Problem auch für unser
Philosophieren noch Aktualität besitzt.
Gleich eingangs der Vorrede macht Leibniz deutlich, worum
es ihm geht : »Zu allen Zeiten hat man die Masse der Menschen
die Gottesverehrung als in Förmlichkeiten bestehend auffassen
60
sehen : die echte Frömmigkeit, d. h. Erleuchtung und Tugend, ist
nie Erbteil der großen Zahl gewesen. […] Wie die wahre Fröm
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
Das Theodizeeproblem
gorien in den Raum des Glaubens einzudringen und das Ver
hältnis von Philosophie und Theologie umzukehren. Dass die
Theodizee zum Problem wird, zeigt, dass aus einer Magd der
Theologie eine mit dem Glauben rechtende Vernunft g eworden
ist« (Poser 2016, 45). Und diese Freiheit impliziert ontologisch,
d. h. aus philosophischen Voraussetzungen heraus vorgetra
gen, einen Möglichkeitsraum, der dann auch die Möglichkeit
des Übels enthalten muss.
Sich durch die vielen hundert Seiten der Schrift durchzu
arbeiten, macht heute vielleicht nur noch für Experten Sinn.
Wer es dennoch tut, entdeckt eine für die Epoche ungewöhn
liche Detailkenntnis scholastischer Theorien, sieht also, dass
die Intuition des jungen Leibniz im Rosental, den traditionel
len Problembestand der Philosophie nicht einfach zur Seite zu
schieben, auch beim alten Leibniz noch wirkt. Und wer liest,
kann eine Unterscheidung am Werk sehen, die in jedem Fall
noch aktuell ist : Die Theodizee ist für die philosophische Ver
ständigung mit Sophie Charlotte und als publiziertes Werk für
ein breites Publikum, nicht aber für die philosophische Fach
welt geschrieben. Leibniz beansprucht jedoch, diese sozusagen
exoterische Form der Darstellung jederzeit streng metaphy
sisch reformulieren und begründen zu können.
Er passt sich also in der Darstellung seinem Adressaten an :
»In der Tat ist die Darstellungsart ein Problem, das sich durch
das ganze Œuvre von Leibniz hindurchzieht. Wo er für einen
Korrespondenzpartner schreibt, nimmt er zuweilen so weitge
hend Rücksicht auf dessen Denkweise, daß seine eigene Posi
tion nur wie durch ein gefärbtes Glas erkennbar wird. Leib
niz selbst hat betont, daß er für das Publikumsverständnis
›exoterisch‹ zu formulieren versuche, was in ›akroamatischer‹
Strenge (oder à la rigueur métaphysique) anders gesagt werden
müsse« (Holz 2015, 45). Hier zeigt sich ein Methodenbewusst
62
sein als philosophischer Schriftsteller, das bis heute vorbild
lich ist : denn wenn wir nicht im Elfenbeinturm der philosophi
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
Das Theodizeeproblem
Darstellung der Philosophie von Leibniz gelernt haben, dass
die Kräfte in Beziehungen und also Abhängigkeiten und Bedin
gungen stehen, so sind die Grade der Notwendigkeit Grade des
Determiniertseins, das Freiheitsspielräume einschränkt, aber
nicht absolut negiert. Freies Handeln bedeutet folglich, Mög
lichkeiten zu verwirklichen, und deshalb ist Freiheitstheorie
immer an das Modalitätenproblem gebunden : »Möglichkeit,
Wirklichkeit und Notwendigkeit müssen also in jeder Freiheits
theorie für sich abgegrenzt und aufeinander bezogen werden«
(Poser 2016, 220).
In der Vorrede findet sich auch die berühmte Rede von der
besten aller möglichen Welten, die ebenfalls vom Modalpro
blem her gedacht ist und die wir modalontologisch genau ver
stehen müssen : Nämlich »daß Gott die vollkommenste aller
möglichen Welten erwählt habe und durch seine Weisheit be
stimmt worden sei, das damit verbundene Übel zuzulassen«
bedeutet nicht eine Rechtfertigung der besten Welt, sondern
meint nur, »daß diese Welt alles in allem die beste sei, die ge
wählt werden konnte« (W II. 1, 53). Ontologisch gesprochen :
Sie ist nicht die beste, sondern die beste der möglichen Welten,
weil nur diese und keine andere mögliche Welt Wirklichkeit
werden konnte. Leibniz nennt diese Einsicht, wie wir bei der
Darstellung seiner Philosophie gesehen haben, das ›Prinzip des
Besten‹. Die Wirklichkeit dieser Welt ist immer das Ergebnis der
Wechselwirkung aller aufeinander wirkender Kräfte – und des
halb nicht die beste aller, sondern die beste aller möglichen Wel
ten.
Und so hat das Übel über den theologischen Diskurs hi
naus auch einen ontologischen Sinn : Im Gesamtzusammen
hang der Wechselwirkungen der Kräfte sind »Handeln und Lei
den bei den Geschöpfen immer wechselseitig« (W II. 1, 305).
Und das heißt : Wenn wir einen Begriff von Welt denken wol
64
len, der durch den Bedingungszusammenhang des In-Bezie
hung-Seins von allem mit allem einen Möglichkeitsraum und
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
»Ich habe gezeigt, daß die Freiheit, wie man sie in den
Theologenschulen haben will, in der Einsicht besteht, die
eine genaue Kenntnis des Gegenstandes der B etrachtung
einschließt, ferner in der Spontaneität, mit der wir uns
entscheiden, und endlich in der Zufälligkeit, d. h. im Aus
schluß der logischen oder metaphysischen Notwendigkeit.
Die Einsicht ist gleichsam die Seele der Freiheit, der Rest
aber nur gleichsam der Körper und die Grundlage.«
(W II. 2, 75)
Im Denken von Leibniz liegt ein sehr differenzierter Begriff
von Freiheit vor, der uns noch weiter beschäftigen wird. Es
geht nicht um den formalen und abstrakten Freiheitsbegriff
der politischen Philosophie seiner Zeit und des bürgerlichen
Zeitalters überhaupt, sondern darum, Spontaneität und Ein
sicht in den Zusammenhang ihrer Bedingungen zu stellen,
also auch Freiheit und Abhängigkeit zusammenzudenken. Da
mit steht der Freiheitsbegriff im Zusammenhang des ontologi
schen Konzeptes der Kompossiblität, der der Rede von der
besten der möglichen Welten erst ihren vollen ontologischen
65
Sinn verleiht. Man darf dabei Kompossibilität nicht zu einer
nur logischen Kategorie reduzieren. Diesen logischen Sinn hat
Das Theodizeeproblem
der Begriff bei Leibniz auch : Aussagen sind logisch kompossi
bel, also gleichzeitig möglich, wenn sie sich nicht widerspre
chen. Als ontologische Kategorie zielt Kompossibilität jedoch
auf einen Begriff des Wirklichen, der Wirklichkeit als Einheit
des zugleich Möglichen auffasst : »Alles Mögliche strebt, weil
es möglich ist, nach Verwirklichung. Denn die Wirklichkeit
ist der Zustand, der dem Möglichen möglich ist. In-Möglich
keit-Sein trägt die Tendenz zum Wirklich-Werden in sich. Das
ist seit Aristoteles ein der Philosophie geläufiger Gedanke, den
Leibniz, der große Philosoph der Möglichkeit, ausgereift hat.
Nun gibt es aber in einer unendlichen Welt prinzipiell unend
lich viele Möglichkeiten, von denen sich zahlreiche gegenseitig
ausschließen. Zugleich wirklich werden kann nur, was zusam
men möglich, kompossibel, ist« (Holz 2013, 119).
Dass Leibniz die Kompossibilität als ein ontologisches Prinzip
verstanden wissen wollte, hat er selbst in dem Satz Omne possi
bile exigit existere ausgesprochen :
Das ist der volle Sinn von Leibniz Rede der besten aller mög
lichen Welten : sie ist die optimale Ordnung des zugleich Mög
lichen.
Nur solche Möglichkeiten können wirklich werden, die
kompatibel sind : Wenn alles Mögliche zur Verwirklichung
66
drängt und einige Möglichkeiten andere von der Verwirk
lichung ausschließen, weil sonst alles Mögliche Wirklichkeit
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
Das ist der lebendige, der aufrechte Wolff ganz ohne schulphi
losophische Paragraphen, den es in seiner Bedeutung für die
deutsche Kultur immer zu ehren gilt.
Auf ganz andere Weise transformiert Baumgarten Leibniz.
Er zielt nicht in die Breite eines durchformulierten Systems,
sondern auf die systematische Zuspitzung einiger Aspekte des
Leibnizschen Denkens. Baumgarten nutzt Leibniz für die Be
gründung der Ästhetik als philosophische Disziplin. Für diese
Aneignung ist der Begriff des analogon rationis bedeutsam, weil
in ihm eine Ähnlichkeit des sinnlich Vorrationalen mit den
Strukturen der Vernunft ausgedrückt ist. Wichtig für die Be
gründung einer philosophischen Theorie des Ästhetischen
wird Leibniz’ Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten
und Tatsachenwahrheiten und seine Theorie des Unbewuss
ten. Beide Theoriezusammenhänge hatten in der Schulphilo
sophie zur Unterscheidung von oberen und unteren Erkennt
nisvermögen geführt : Das obere bezieht sich auf apriorische
Erkenntnisstrukturen, das untere auf Erkenntnisse der sinn
lichen Erfahrung. Baumgarten versteht diese Unterscheidung
als Aufforderung, den Bereich sinnlicher Erfahrung nicht län
72
ger, wie bei Descartes geschehen, als bloße Quelle der Täu
schung zu denunzieren, sondern ihren spezifischen Erkennt
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
nischarakter aufzuklären.
Sinnlichkeit wird mit Mitteln der Leibnizschen Metaphysik
als legitimer Gegenstand philosophischer Untersuchung so
zusagen salonfähig gemacht. Baumgarten spricht das gleich
eingangs seiner Aesthetica, die zwischen 1750 und 1758 erschie
nen ist, deutlich aus : Möglichen Einwänden, »sinnliche Emp
findungen, Einbildungen, Erdichtungen alle die Wirrnisse der
Gefühle und Leidenschaften seien eines Philosophen unwür
dig«, hält er entgegen :
Veränderte Rezeptionsbedingungen :
Lessing und Herder
In den 1760er Jahren verändert sich die Rezeptionssituation
grundlegend. Wer die 1768 in Genf erschienene Edition der
Opera Omnia in Händen hält, dem schlägt die Aura des Jahr
hunderts entgegen : Der schöne, feste Ledereinband, das raue,
aber auch nach 250 Jahren noch unversehrte Papier, das Falt
blatt mit dem Portraitstich im ersten Band, der auch die Leib
nitii Vita von Jacob Brucker enthält, von dem das 18. Jahrhun
dert seine philosophiehistorischen Kenntnisse über Leibniz
bezog – all das strahlt Wertschätzung für den großen Univer
salgelehrten aus. Die Edition versammelt den damals bekann
ten Leibniz : Schriften zur Theologie, im zweiten Band Logik
und Metaphysik, aber auch Physik, Medizin, Botanik und Na
turgeschichte, dann mathematische Schriften, Philosophie,
Geschichte und Jurisprudenz, ja sogar philologische Schriften.
Die ganze Vielfalt eines bis dahin verstreuten Leibniz im Über
blick einer Ausgabe – das war die große Leistung von Dutens.
Schon 1765 hatte es die von Raspe in Amsterdam und Leip
zig herausgegebene Werkausgabe der Œuvres philosophiques ge
geben, die erstmals die Nouveaux Essais enthielt, jene kritische
Auseinandersetzung mit John Locke, die Leibniz aus Pietät
nicht veröffentlicht hatte, weil Locke gerade gestorben war. Sie
werden jetzt im heraufkommenden Sturm und Drang auf stark
veränderte Rezeptionsbedingungen treffen. Außerdem setzte
75
in Deutschland allmählich eine Auseinandersetzung mit Spi
noza ein, die das Leibnizbild von Lessing (1995 a) bis Goethe
79
»Betrügliche Begriffe« : Kant und die Folgen
Und setzt noch eins drauf, wenn er Leibniz beinahe die Ver
nunftkritik antizipieren lässt : Es gibt »wie Leibniz anmerkt be
trügliche Begriffe (notiones deceptrices), von denen es schei
net, daß man etwas durch sie denket, die aber in der Tat nichts
vorstellen« (ebd., 590). Das genau wird der Kant der Transzen
dentalphilosophie später der Metaphysik überhaupt und na
türlich dann auch Leibniz vorwerfen. Für den Augenblick will
er noch »einsehen lernen«, was er später kategorisch als Wis
sen ausschließen wird : »daß das Ganze das Beste sei, und alles um
des Ganzen willen gut sei« (ebd., 594).
Nach seinem Erwachen aus dem ›dogmatischen Schlum
mer‹ wird er Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in
der Theodizee schreiben und »die Sache Gottes […] verfechten«
dann die Sache einer »anmaßenden, hiebei aber ihre Schran
ken verkennenden Vernunft« nennen (Kant 1983 b, 105). Eine
Rechtfertigung Gottes verlangt »Allwissenheit«, die in der er
fahrbaren Welt der Phänomene unmöglich ist. Hier argumen
tiert Kant ganz auf der metaphysikkritischen Linie seiner Kri
tischen Philosophie, die einen mögliche Erfahrung überschrei
tenden Gebrauch der Vernunftbegriffe verbietet – und also auch
die Theodizee : »daß unsre Vernunft zur Einsicht des Verhältnis
ses, in welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung i mmer kennen
mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermö
gend sei« (ebd., 114). Will sagen : Ob Gott diese Welt wählen
musste und keine andere wählen konnte, darüber kann man
nichts wissen – aus demselben Grund jedoch müssen auch
die kritischen »Einwürfe« der Theodizeegegner scheitern, weil
auch sie »das Gegenteil nicht beweisen können« (ebd.). Also
besser gar nicht mehr darüber reden. Die Philosophie tritt in
ein Zeitalter ein, in dem sie über Vieles wird schweigen müs
sen.
Genau auf der Schwelle vom vorkritischen Kant zu seiner
81
transzendentalen Wende setzt sich der Philosoph aus Königs
berg mit einem Problem auseinander, bei dem Leibniz Newton
»Diese Herren halten dafür, daß der Raum ein reales abso
lutes Seiendes ist ; das führt aber in große Schwierigkeiten.
Denn es scheint, als müsse dieses Seiende ewig und un
endlich sein. […] Was mich anbetrifft, so habe ich mehr
als einmal betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit
für etwas rein Relatives halte, für eine Ordnung des Mit
einanders der Existenzen, so wie die Zeit eine Ordnung
ihres Nacheinanders ist. Denn der Raum, wenn man ihn
in seiner bloßen Möglichkeit betrachtet, ist eine Ordnung
der Dinge, die zur gleichen Zeit und insofern sie zusam
men sind existieren, ohne daß man etwas über ihre beson
dere Art zu existieren aussagt. Und wenn man mehrere
Dinge zusammen sieht, wird man sich dieser Ordnung der
Dinge bewußt.« (W V, 371 f.)
sagen, daß das Unendliche Teile habe« (Goethe 1981 c, 7). Das
ist Spinoza : die eine Substanz der Natur, deren Attribute der
beschränkte Geist und die endlichen Dinge sind (also das, was
bei Descartes als res cogitans und res extensa dualistisch auseinan
derfiel). Und Goethe sagt noch etwas Interessantes : Wir kön
nen keine endliche Vorstellung vom Unendlichen, sehr wohl
aber einen Begriff vom Unendlichen haben. Das wäre genau das
Argument der Metaphysik gegen Kants Vernunftkritik.
Dann wird es für die Frage nach den Motiven Leibnizschen
Denkens höchst interessant : denn Goethe spricht von »den
Seelen, die eine innre Kraft haben« und davon, »daß alle leben
dig existierende Dinge ihr Verhältnis in sich haben« (ebd., 8
und 9). Das ist mit Spinoza so nicht zu denken, sondern leibni
zianisch : Der Schritt vom Mechanischen (das allein die Natur
Spinozas vor Augen hat) zum Lebendig-Organischen der Na
tur ist noch von Kants Kritik der Urteilskraft her denkbar ; ›innere
Kraft‹ und das ›Verhältnis in sich haben‹ dagegen sind Grund
gedanken von Leibniz. Es ist daher bedeutsam, dass Goethe
gerade an der systematischen Stelle, wo es ihm nicht um den
mechanischen Zusammenhang der Natur, sondern die leben
dige Totalität des organischen Naturganzen geht, auf diese
Motive des Denkens von Leibniz zurückgreift.
Im sogenannten Urphänomen, dem zentralen Begriff von
Goethes Naturphilosophie, gibt sich das Ganze der Natur als
beschränkter Gegenstand der Anschauung. In dieser begrenz
ten Erscheinung zeigt sich das Ganze, es geht Goethe f olglich
nicht um die isolierte Singularität eines Phänomens im Sinne
Kants, sondern um ein Allgemeines, das am Einzelnen er
scheint. Das Verhältnis zwischen dem einzelnen Naturphäno
men und dem Naturganzen wird von Goethe in der Form eines
universellen Analogieverhältnisses gedacht. Das hat er in ei
nem Aphorismus der Maximen und Reflexionen klar ausgespro
87
chen : »Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden ;
daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit geson
94
Leibnizrezeption von der Aufklärung bis Hegel
Perspektiven auf Leibniz 95
schichte.
Leibniz hat dafür eine schöne und berühmt gewordene
Metapher : die Falten des Bewusstseins. Die Falte ist nicht ein
fach, wie eine postmoderne Interpretation nahelegen möchte,
ein Charakteristikum der Epoche des Barock (Deleuze 2000),
sondern hat einen wohldefinierten Sinn in Leibniz’ bewusst
seinstheoretischer Argumentation, denn es ist die Gegenme
tapher zur Wachstafel von Locke : Leibniz setzt voraus, dass es
in einem dunklen Zimmer
»Der Begriff der Freiheit ist sehr zweideutig. Es gibt eine ju
ristische und eine faktische Freiheit. Rechtlich ist der Sklave
nicht frei und ein Untertan nicht ganz frei, aber ein A rmer
ist so frei wie ein Reicher. Die faktische Freiheit besteht
entweder in der Möglichkeit zu wollen, was man soll, oder
in der Möglichkeit zu tun, was man will. Sie sprechen
von der Handlungsfreiheit, und diese hat ihre Grade und Ver
schiedenheiten. Im allgemeinen ist der, der über die größe
ren Mittel verfügt, auch freier zu tun, was er will.«
(W III. 1, 255)
Hier ist die Unterscheidung von formaler und realer Freiheit fest
gehalten : Sklave und Leibeigener sind formal, d. h. juristisch
gegenüber ihren Herren unfrei ; im Unterschied zur Sklaven
haltergesellschaft und dem Feudalismus dagegen sind in der
bürgerlichen Gesellschaft der Arme und der Reiche formal
gleich frei. Diese juristische Auffassung abstrahiert jedoch von
den Unterschieden in der realen Freiheit, die an die Gegeben
heit von Möglichkeiten und Bedingungen geknüpft ist. Da ist
der Reiche dann freier als der Arme.
Die theoretische Ausdifferenzierung der realen Freiheitsspiel
126
räume geschieht ganz aristotelisch über den Begriff der Freiwil
ligkeit. Aristoteles verwendet im dritten Buch der Nikomachi
Die Einheit in der Vielheit : Leibniz heute
»So kann man sagen, daß der Platz des anderen in der
Moral und in der Politik ein geeigneter Ort ist, um uns
Überlegungen entdecken zu lassen, zu denen wir ohne
diese Mittel nicht gekommen wären, und daß uns a lles,
was wir ungerecht finden würden, wenn wir an der
Stelle des anderen wären, der Ungerechtigkeit verdäch
tig erscheinen sollte. Und sogar alles, was wir nicht
wünschen würden, wenn wir an der Stelle des a nderen
wären, sollte uns innehalten lassen, um es reiflicher
zu untersuchen. Der Sinn des Prinzips meint dann : tue
oder verweigere nicht leichthin das, wovon du wün
schen würdest, daß man es dir tut oder dir nicht verwei
gert. Denke reiflicher darüber nach, nachdem du dich
an die Stelle des anderen versetzt hast, was dir zu geeig
neten Erwägungen Anlaß geben wird, um die Folgen
dessen besser zu e rkennen, was du tust.« (Ebd., 137)
Literaturverzeichnis
Dieses Verzeichnis stellt keine Auswahlbibliographie zu Leib
niz dar, sondern gibt ausschließlich konsultierte bzw. zitierte
Titel wieder. Zitiert wird, soweit in Einzelfällen nicht anders
ausgewiesen, die zweisprachige Studienausgabe der Werke
von Leibniz (2013) als »W« unter Angabe des Bandes in römi
schen und der Seitenzahl in arabischen Ziffern. Diese Ausgabe
ist seitenidentisch mit den älteren Auflagen der zweisprachi
gen Ausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, so dass
auch diese zum Nachlesen genutzt werden können. Alle Titel
anderer Autoren werden im laufenden Text unter Angabe des
Namens, Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl zitiert.
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