Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
MEISTER ECKHART
Gedanken zu seinen Gedanken
1
Meister Eckhart als Aristoteliker, in: Philosophisches Jahr-
buch 69 (1961) 64-74, wieder in: B. Weite, Auf der Spur des Ewi-
gen (Freiburg i. Br. 1965) 197-210; Besprechung von:
Sh. Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur
Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre
Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus (Güters-
loh 1965), in: Theologische Revue 63 ( 1967) 86-89; Der mysti-
sche Weg des Meister Eckhart und sein spekulativer Hintergrund,
in: Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, hrsg. von
U. Kern (München 1980) 97-102, wieder in: Gespräch mit Mei-
ster Eckhart, hrsg. von U. Kern u. a. (Berlin 1982) 30-34. - Zu
Weites wissenschaftlichem Werk vgl. K. Hemmerle (Hrsg.), fra-
gend und lehrend den Glauben weit machen. Zum Werk Bernhard
Weites anläßlich seines 80. Geburtstages (Freiburg i. Br. 1987).
2
Weite (1980) wie Anm. 1, 97.
1
dieser Auffassung - so zutreffend sie im einzelnen sein
mag - ist mit dem Verweis auf den Neuplatonismus der
deutschen Dominikanerschule, wie sie sich im Anschluß
an das Denken Alberts des Großen legitimierte, mit
Recht Kritik geübt worden 3 • Die neueste Eckhartfor-
schung sieht die Filiationen der Denk- und Überliefe-
rungszusammenhänge heute komplexer. Da Weites
Zugang zu Meister Eckhart aber letztlich kein histori-
scher, sondern ein aktuell-heutiger ist, behält seine syste-
matische und eminent denkerische Eckhart-Deutung
ihren heuristischen Wert. Der Untertitel des hier neu
vorgelegten Bandes „ Gedanken zu seinen Gedanken"
muß ganz ernst genommen werden: Es handelt sich um
_Gedanken eines Denkenden, der sich auf die Sache Mei-
ster Eckharts einläßt und dabei sowohl dessen wichtigste
Gedanken und Gedankenmotive wie auch die zu deren
Deutung erforderliche Methode entdeckt und vorstellt.
Die drei Eckharts eigenem Denken korrespondieren-
den, aber auch interpretatorisch bedeutsamen Ebenen,
die in diesem Vorgehen sichtbar werden, geben den
sachgemäß methodologischen Bezugsrahmen dieser Deu -
tung ab. In der Tat läßt sich Meister Eckharts Werk
nicht angemessen deuten ohne Rekurs auf seine meta-
physisch-spekulativen, mystischen (d. h. auf den religiö-
sen Vollzug gerichteten) und seine - beide vorgenannten
Dimensionen umfassenden - theologischen Aussageebe-
nen. Diese integrative Deutungsperspektive erlaubt Wei-
te, daß Eckhartsche Denken in seinem konsequenten
Ausgerichtetsein auf das dunkle Licht der Gottheit, in
seiner Bezogenheit auf die Wahrnehmungsinstanz im
Menschen, den Seelengrund oder das Seelenfünklein
3
Zum Beispiel B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität
und Einheit (Hamburg 1983) 10, 59, 117, 134.
2
und schließlich in seinem Ausgriff auf die Welt des
gesamten Kosmos als auf einen Bereich, der einheitlich
und unvordenklich im dunklen Licht der Gottheit sich
einbefaßt findet. Die Denkkategorien, die in solchem
Denken sich als einzig tragfähig erweisen, sind solche
nicht der statischen Benennung, sondern solche des
dynamischen Vollzugs. Wie kein anderer Eckhartfor-
scher hat Weite auf der Einheit zwischen Gott und
Mensch als auf einer Einheit des Vollzugs, der dynami-
schen Beziehung bestanden. Eckharts elastische Meta-
phorik für den Seelenfunken signalisiert an sich schon
eine solche Dynamik der lebendigen Einheit zwischen
Mensch und Gott; am Interpreten liegt es, sie wahrzu-
nehmen.
Gleichwohl - wenn Weite den Bezug zwischen
Mensch und Gott als eine unvordenklich einheitliche
Vollzugseinheit denkt, dann ist und bleibt der Weg dazu
ein Weg nicht des indistinkten Gefühls, sondern des
strengen Denkens. Das bezeugte Martin Heidegger - ein
Denker, auf den sich Weite mit Vorliebe bezieht, mit
dem er auch eingestandenermaßen über Eckhart aus-
führlich gesprochen hat - mit Nachdruck, wenn er mit
Blick auf Meister Eckhart festhielt, daß zur großen
Mystik „die äußerste Schärfe und Tiefe des Gedankens"
gehörte 4 •
Wenn W elte Gedanken zu den Gedanken Meister
Eckharts vorlegt, so geschieht dies im Vertrauen auf die
Tragfähigkeit des Denkens im Spiel der Vollzugsheit
zwischen Mensch und Gott, die als eine Äußerungsform
der Wahrheit selbst erfahrbar werden kann und darf.
Gleichzeitig mit dieser Begründung der mystischen
4
Zitiert bei Weite (1980) wie Anm. 1, 102 (Der Satz vom Grund
[Pfullingen 19 5 7] 71 ).
3
Erfahrung Gottes in der Offenheit des menschlichen
Intellekts gewinnt Wehes Eckhartdeutung eine Öffnung
der Perspektive auf die Erfahrung des Absoluten in östli-
chen Religionen und Weltanschauungen. Seine Bezug-
nahmen auf den Zen-Buddhismus erfolgen zu Recht und
mit tiefem Gespür für dessen Auffassung einer gnaden-
haft plötzlichen Durchbruchsmöglichkeit aus dem
Bereich des Kontingenten hinein ins „fruchtbare Nichts"
(englische Mystik) des alles bedingenden Absoluten5.
5
Vgl. auch A. M. Haas, Das Ereignis des Wortes: Sprachliche Ver-
fahren bei Meister Eckhart und im Zen-Buddhismus, in: ders., Gott-
leiden Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter
(Frankfurt a. M. 1989) 201-240, 431--447; B. Weite, Das Licht des
Nichts. Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung (Düsseldorf
1980) 59 f.
4
Inhalt
Vorbemerkung 9
Einleitung . . . 11
§ 1. Von der Sache, über die nachzudenken sein wird,
und von der ihr angemessenen Methode des Denkens . 11
1. Die Ebene der Metaphysik . . . . . . . . 11
2. Die Ebene des religiösen Vollzugs 12
3. Der Zusammenhang der beiden Ebenen .... 14
4. Die theologische Ebene und der Zusammenhang des
Ganzen .............. . 18
5. Das Zeugnis der Wirkungsgeschichte 21
6. Die Sache, über die nachzudenken ist . . . . . . 22
7. Gedanken zu den Gedanken . . . . . ... 24
8. Bemerkungen zur neueren Eckbart-Literatur 28
Erster Teil
Der Weg ins dunkle Licht der Gottheit 31
§ 2. Die Abgeschiedenheit . . . . . . . 31
1. Die Struktur der Abgeschiedenheit 31
2. Die Eigenschaft . . . . . 33
3. Das Seinlassen . . . . . . . 36
4. Husserl und Heidegger ... 38
5. Der spekulative Hintergrund . . . . 39
§ 3. Die Abgeschiedenheit und Gott als die Wahrheit . 45
1. Gott als die Wahrheit . . . . . . . . . . . . 46
2. Das Seinlassen und die Wahrheit . . . . 47
3. Der Begriff der Wahrheit . . . . 47
5
4. Die ewige Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5. Die neu platonische und thomanische Tradition dazu 54
6. Die Abgeschiedenheit und die Wahrheit 55
7. Die Spekulation und die Unmittelbarkeit 56
§ 4. Gott als die Gutheit . . . . . . . . . 57
1. Stellen im Eckhartsehen Text . . . . . . . . . . . . 58
2. Erläuterung des hier vorliegenden Begriffs der Gutheit 59
3. Die absolute Gutheit . . . . . . . . . . . . . . . . 62
4. Der metaphysische Begriff der Gutheit und die Un-
mittelbarkeit der Begegnung . . . . . . . . . . . . 65
5. Der metaphysische Begriff der Gutheit . . . . . . . 67
§ 5. Das Sein und das Eine als die Grundlage von Wahr-
heit und Gutheit und die Trinität . . . . . . . . . . . 68
§ 6. Auf dem Weg zur Überwindung der Metaphysik . 72
1. Überwindung von Wahrheit und Gutheit als Gedan-
ken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
2. Die Sache mit dem Intelligere in den Pariser Quaestio-
nen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
§ 7. Der Durchbruch: Gott als das Nichts der Abgeschie-
denheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
1. Entscheidende Texte des Meisters Eckhart . . . . . 85
2. Verschwinden auch der Subjektivität . . . . . . . . 90
3. Traditionszeugen für diese Überwindung der Meta-
physik: die christlichen Neuplatoniker und Thomas
von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4. Analogien aus dem Bereich des Zen-Buddhismus 105
§ 8. Die Sache mit der Identität . . . . . . . . . . 110
1. Eckhartsche Texte zur Identität . . . . . . . . . 110
2. Der Unterschied zwischen der Identität des Ge-
schehens und der Identität des Bestandes in der Tradi-
tion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
3. Die Identität des Geschehens und die Aufhebung der
Subjekt-Objekt-Differenz . . . . . . . . . . . . . . 120
§ 9. Abwandlungen der Identität . . . . . . . . . . . 121
1. Allgemeine Grundlage der Identität .des Geschehens 123
2. Das Bild des Spiegels und die zwei Seiten des Spiegels 126
6
3. Das Modell der Vaterschaft und der Sohnschaft . . 129
4. Sohnschaft und Vaterschaft im Verhältnis des ab-
geschiedenen Menschen zu Gott 130
5. Die Sache mit der Dankbarkeit . . . 133
6. Die Gerechtigkeit und der Gerechte 139
Zweiter Teil
Der Seelengrund als Voraussetzung des Weges ins
dunkle Licht der Gottheit . . . . . . . . . . . . . . 145
§ 10. Der Seelengrund und das Ungeschaffene in ihm 145
1. Die Voraussetzung des Vollzuges . . . . . . . . . . 145
2. Texte über den Grund der Seele . . . . . . . . . . 146
3. Erläuterung der Struktur des menschlichen Geistes . 150
4. Die thomasische Analogie zu dieser Lehre Augustins 163
5. Der Zusammenhang der Lehre vom Ungeschaffenen
in der Seele und der Lehre von der Abgeschiedenheit 169
6. Die buddhistische Analogie . . . . . . . . . . . . . 172
Dritter Teil
Die Vision der Welt im dunklen Licht der Gottheit 175
§ 11. Die Dinge der Welt in Gott . . . . . 175
1. Mensch und Welt . . . . . . . . . . . . 175
2. Die Welt als Kreatur in ihrer Nichtigkeit . . . . 176
3. Die Welt als Kreatur in ihrer Göttlichkeit 182
4. Die mögliche Erfahrung der Göttl~chkeit der Welt . 184
5. Der Zusammenhang von vita contemplativa und vita
activa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
6. Die buddhistische Analogie . . . . . . . . . . . . . 192
§ 12. Das Unvordenkliche der Welt . . . . . . . . . . 196
1. Der Lauf der Welt und die Gestalt der Welt von Gott
zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
2. Die Stille des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . 197
§ 13. Der Ursprung der Welt aus dem Unvordenklichen
und die ursprüngliche Gestalt der Welt als Einheit 203
1. Der Ursprung als dialektisches Geben 204
2. Die Einheit als Fülle . . . . . . . . 209
3. Der Mensch als der Ort der Einheit 215
7
§ 14. Die Uneinheit der Welt, das Übel und die Sünde 221
1. Die Uneinheit in der Einheit als Grund des Übels und
des Bösen . . . . . . . . . . 223
2. Das Übel und der Schmerz . . . . . . . . . . . 226
3. Das Böse und die Sünde . . . . . . . . . . . . 230
§ 15. Das Eilen der Welt ins dunkle Licht Gottes . 23 7
1. Die finale Dynamik als Seinsweise der Welt 23 8
2. Deutung der kosmischen Dynamik und ihrer Stufen 241
3. Das letzte Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . 263
8
Vorbemerkung
9
Auf diesem Hintergrund habe ich mich dann darange-
macht, dieses Buch zu schreiben. Ich habe dazu neu und
mit aller Sammlung, deren ich fähig war, über diese Sache
nachgedacht. Vielleicht bin ich in einigen Punkten weiter-
gekommen als früher.
Ich habe vielen guten helfenden Menschen zu danken,
Lebenden und Toten.
Ich danke besonders herzlich Herrn Wolfgang Schnei-
der für das Lesen der Korrekturen.
10
Einleitung
11
Gegenstand und Methode des Vorhabens einleitend ge-
nauer dargelegt werden. Dies soll unter zwei Gesichts-
punkten geschehen. Einmal geht es darum zu zeigen, wel-
ches im Sinne des Meisters Eckhart seine wichtigsten
Gedanken sind. Dies ist nämlich angesichts der Literatur
nicht ohne weiteres eindeutig. Und es gilt im Zusammen-
hang damit auch zu zeigen, welche Eckhartsehen Gedan-
ken hinsichtlich der Wirkungsgeschichte, die sie ausgelöst
haben und noch weiter auslösen, und also hinsichtlich der
möglichen gegenwärtigen aktuellen Bedeutung, die wich-
tigsten sind.
Und weiter gilt es, auf die besondere Methode einzuge-
hen, mit der ich diese mir am wichtigsten scheinenden Ge-
danken des Meisters Eckhart behandeln möchte.
12
keiten dann etwas Originelles hervor. Diese Metaphysik
teilt die Eigentümlichkeiten der abendländischen Meta-
physik überhaupt, nämlich mit abstrakten und formalen
Gedankenfiguren ihre Sache so vor-zustellen, daß sie vor
dem Betrachtenden in klaren Umrissen stehenbleibt, ohne
jedoch den Betrachter unmittelbar zu verändern.
Die metaphysische Ebene wird bei Meister Eckhart
überwiegend in seinen lateinischen Werken entfaltet.
Diese lateinischen Schriften, und damit der Schwerpunkt
der Gedankenmetaphysik des Meisters, waren lange Zeit
verschollen. Heinrich Denifle hat 1886 einen großen Teil
von ihnen neu zugänglich gemacht, und seither beschäfti-
gen sie alle, die sich um den Meister Eckhart kümmern,
in ganz besonderem Maß 2. Seither ist in der Tat ein neues
Bild des Gedankens Eckharts entstanden. Es wurde immer
deutlicher, daß man ohne den Rückgriff auf den lateini-
schen Metaphysiker Eckhart auch seine deutschen Werke
nicht mehr zulänglich erklären kann 3 •
2
H. Denifle, Meister Eckharts lateinische Schriften und die
Grundanschauung seiner Lehre, in: Archiv für Literatur und Kir-
chengeschichte des Mittelalters, 2. Band (Berlin 1886).
3
Es sei auf einige wichtige Veröffentlichungen hingewiesen, die sich
mit der vor allem lateinisch belegten Metaphysik des Meister Eck-
hart beschäftigen: G. Stephenson, Gottheit und Gott in der spekula-
tiven Mystik Meister Eckharts (Diss. Phil. Bonn 1954); J. Kopper,
Die Metaphysik Meister Eckharts (Saarbrücken 1955). A. Dempf,
Meister Eckhart (Freiburg i. Br. 1960); ders., Meister Eckhart als
Mystiker und Metaphysiker, in: Der beständige Aufbruch (Nürn-
berg 1960) 171-178; V. Lossky, Theologie Negative et Connais-
sance de Dieu chez Maitre Eckhart, in: Etudes de philosophie medie-
vale, Band 58 (Paris 1960). E. von Bracken, Meister Eckhart;
Legende und Wirklichkeit (Meisenheim am Glan 1972); H. Fischer,
Meister Eckhart (Freiburg i.Br. - München 1974); K. Albert, Mei-
ster Eckharts These vom Sein; Untersuchungen zur Metaphysik des
Opus Tripartitum (Saarbrücken 1976).
13
2. Die Ebene des religiösen Vollzugs
14
hend, sich entfaltet und nur von ihm her zulänglich ver-
standen werden kann. Die metaphysische Theorie bildet
also so etwas wie ein gedankliches Fundament für die Ent-
faltung des Lebens. Aber dieses Leben entfaltet sich dann
von dieser Grundlage aus reich und oft überraschend und
in paradoxen und dialektischen Formulierungen und geht
damit weit über die theoretische Vorzeichnung hinaus.
Auch bleibt die Differenz zwischen den beiden Ebenen,
die gleichwohl aufeinander bezogen bleiben, bestehen.
Für das Bestehen dieser Differenz ist es zum Beispiel kenn-
zeichnend, den allgemeinen Prolog zum Opus tripartitum
zu betrachten, wie dies H. Fischer in seinem Buch mit
Recht vorschlägt. Dort gibt der Meister Eckhart 14 philo-
sophische Grundworte an. Diese bilden eine Art Grundriß
der hier geplanten metaphysischen Systematik 4. Hier wird
in der Tat deutlich, daß der Meister Eckhart durchaus
schulmäßig die Grundworte und die ·Grundbegriffe der
Philosophie als Metaphysiker darlegte und aus diesem
Grundriß ein reich entfaltetes metaphysisches System ent-
wickelte. Geht man nun diesen Grundriß durch, so sieht
man sofort, daß darin die eigentlichen Leit- und Grundbe-
griffe der deutschen Predigten gerade nicht enthalten sind.
Namentlich muß auffallen, daß der Grundbegriff der Ab-
geschiedenheit unter diesen metaphysischen Grundbe-
griffen überhaupt nicht vorkommt. Er würde auch nicht
in diesen Zusammenhang passen, von anderen Grundbe-
griffen spezifischer Art der deutschen Predigten ganz ab-
gesehen. Das Grundwort von der Abgeschiedenheit und
seine Synonyme eröffnen ja jeweils das ganze Geschehen,
das durch die Predigt in Gang gebracht werden soll. Es
gehört grundlegend in den Zusammenhang, in welchem
4
LW I, 149, 8-11; H. Fischer, Meister Eckhart (Freiburg i. Br. -
München 1974) 36ff.
15
es um das vollzogene Leben geht. Dieses Grundwort
taucht aber kennzeichnenderweise dort nicht auf, wo es
primär um die Theorie der Metaphysik geht. So bleiben
die beiden Bereiche unterschieden, wenngleich sie, wie wir
schon sahen, nicht zu trennen sind.
Diese Differenz zeigt sich auch in dem vom Meister
Eckhart überlieferten Wort: Ein Lebemeister sei mehr als
Tausende Lesemeister 5 •
Der Ausdruck Lesemeister meint offenbar den Meister
der akademischen Vorlesung, d. h. den Meister der theo-
retischen Metaphysik. Der Lebemeister deutet auf den
Meister, der Leben lehrt, Leben mit Gott im Umkreis der
Welt. Leben wird aber vor allem gelehrt in der Predigt und
in der Ermahnung. So deutet dieses Doppelwort vom Le-
semeister und Lebemeister auf die zwei qualitativ ver-
schiedenen Sprach- und Denkebenen hin, die wir vorhin
angedeutet haben. Der Meister war sich bewußt, in bei-
dem Meister zu sein. Er war sich auch bewußt, daß das
zwei verschiedene Dinge sind, und er war sich vor allem
dessen bewußt, daß die Sache des Lebemeisters die bei
weitem wichtigere Sache ist. Die Theorie durfte zwar die-
sem Wort gemäß nicht vernachlässigt werden. Aber die
Formung des Lebens und seiner Erfahrungen war das
weitaus Wichtigere für ihn. Sie war sein eigentliches An-
liegen.
Dem entspricht ganz die literarische Erscheinung seiner
Werke. Seine metaphysischen Theorien sind sehr bedeu-
tend. Aber seine lebendigsten Gedanken entwickelte der
Meister in seinen Predigten und Traktaten, dort ist er am
bewegtesten und freiesten, am subtilsten und geheimnis-
vollsten, wo er Leben lehren will und nicht nur Wissen.
Dort entwickelt er das, was man Mystik nennen kann,
16
jene Art von Mystik, von der Heidegger gesagt hat, zu ihr
gehöre die äußerste Schärfe und Tiefe des Denkens 6 •
Darum soll in folgendem vor allem von Dingen die
Rede sein, die am deutlichsten in den deutschen Predigten
und Traktaten formuliert sind. Wir wollen uns mit ihnen
freilich so beschäftigen, daß der theoretische Hintergrund
mit sichtbar wird. Wir wollen also diesen, und damit vor
allem die lateinischen Werke, reichlich mit heranziehen.
Wir wollen uns mit dem ganzen Eckhart beschäftigen.
Aber der theoretische Hintergrund soll nicht um seiner
selbst willen behandelt werden, sondern nur zu dem
Zweck, die Lebensgestalt besser zu verstehen samt dem
aus ihr sich ergebenden Gottes- und Weltverständnis. Dies
ist im Sinne des Meisters, wie mir scheint, das Wichtigste.
Unter den deutschen Werken wird zudem eine Gruppe
von Predigten für uns von besonderer und ausgezeichneter
Bedeutung sein. Es sind jene, die in seinem Prozeß eine
Rolle spielten. Sie sind als eine Gruppe von 16 Predigten
im ersten Band der kritischen Ausgabe der deutschen
Werke vorgelegt worden. In ihnen bezeugt sich am klar-
sten und kühnsten jener Durchbruch, um den es dem Mei-
ster am meisten ging und dessen Verständnis wir vor allem
fördern wollen. Sie sind zugleich die mißverständlichsten
und verwirrendsten. Eben deswegen sind sie ja auch durch
die Dokumente des Prozesses bezeugt.
Diese thematische Konzentration dürfte also durchaus
im Sinn des Meisters liegen. Hier liegt das für ihn eigent-
lich Wichtige. So sehr, daß man annehmen darf, daß er
auch in seinen theoretischen spekulativen Entwürfen letz-
ten Endes gerade darauf zielte, wiewohl diese sich zu-
nächst in einem ganz anderen Horizont bewegen. Darum
hat wahrscheinlich schon Otto Karrer richtig gesehen,
6
M. Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen 1957) 71.
17
wenn er sagt, daß es auch in den spekulativen lateinischen
Schriften stehe, der Prediger und der Seelsorger sei der,
der spekuliert 7 • Ich glaube, daß dieses nicht nur auf die
deutschen Predigten und Traktate bezogen werden darf,
sondern auf das wirkliche Ganze des mehrschichtigen
Werkes des Meisters.
7
0. Karrer, Meister Eckhart; Das System seiner religiösen Lehren
und seiner Lebensweisheit (München 1926) 20. Vgl. dazu auch ].
Kopper, Die Metaphysik Meister Eckharts, 38 u. 39, wo Kopper
darauf hinweist, daß es einmal das die Ordnung der Dinge aufwei-
sende Denken gibt, das gleichsam den Vorhof zur vollen Wahrheit
darstellt, daneben aber steht die Verkündigung der Predigt. überdies
hat J. Quint darauf hingewiesen, daß die Gottesgeburt in der Seele
als lebendiges Geschehen „die bindende und orientierende Mitte des
Ganzen ist" (J. Quint, DPT, a. a. 0. 22; vgl. auch 27f.)
18
daß die Differenz zwischen der christlichen Lehre einer-
seits und der philosophischen spekulativen Denkweise
andererseits und schließlich der Übersetzung des einen wie
des anderen in eine Lebensform dem Meister durchaus
bewußt war. Die drei sich voneinander unterscheidenden
Ebenen sollten ebenso unterschieden wie aufeinander be-
zogen bleiben.
Von der Auslegung der Heiligen Schrift als Wort Gottes
in ihrem Verhältnis zur spekulativen Philosophie sagt der
Meister Eckhart dies ausdrücklich in der Einleitung zum
lateinischen Johanneskommentar. Dort lesen wir: ,,In cu-
ius verbi expositione (sc. in principio erat verbum) et
aliorum, quae sequuntur, intentio est auctoris, sicut in
omnibus suis editionibus, ea quae sacra asserit fides chri-
stiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per ra-
tiones naturales philosophorum." 8
Eckhart beruft sich für das so ausgedrückte Programm
einmal auf die Schrift, nämlich auf die Stelle Röm 1, 20
und dann auf Augustin, wo dieser sagt, er habe in platoni-
schen Büchern den Satz gelesen: ,,Im Anfang war das
Wort, und dazu einen großen Teil dieses ersten Kapitels
des Johannes. " 9
Dieses sehr programmatische Wort belehrt uns also
darüber, daß der Meister Eckbart die philosophischen Er-
wägungen, wie er sie aus den großen Autoren gelernt hat,
soweit wie möglich zur Interpretation seiner theologi-
schen Grundlagen heranziehen will. Wir haben also noch
einmal das klassische „Fides quaerens intellectum" in ei-
8
LW III, 4,4ff. ,,Wie in allen seinen Werken hat der Verfasser bei
der Auslegung dieses Wortes und der folgenden die Absicht, die
Lehre des heiligen christlichen Glaubens und der Schrift beider
Testamente auszulegen durch die natürlichen Gründe der Philoso-
phen."
9
Vgl. Augustinus, Conf. VII, c. 9.13.
19
gentümlicher Ausformung vor uns. Es muß gedacht wer-
den, wenn das Wort Gottes klarwerden soll. Dies nicht
tun zu wollen, wäre, wie der Meister sagt, ein Anzeichen
von Trägheit und Nachlässigkeit 10 •
Die Lehre der Heiligen Schrift und der Glaube der Kir-
che sollen also nicht einfach objektiv bestehenbleiben, sie
müssen vielmehr hinsichtlich des Sinnes, den sie aussagen
wollen, mit Hilfe philosophisch durchdachter Begriffe in-
terpretiert werden.
Aber auch dabei soll der geistige Prozeß nicht stehen-
bleiben. Dies muß zwar geschehen, aber das, auf was es
dann ankommt, ist das vollzogene religiöse Leben, das aus
dem recht verstandenen Wort Gottes hervorgehen soll. Es
ist der Zielpunkt und zugleich die Mitte des ganzen Bezie-
hungsgefüges, in ihm scheinen alle drei Schichten ineinan-
der, also auch die philosophische Theorie wie die theolo-
gischen Vorgegebenheiten. Jedoch so, daß einerseits die
philosophische Theorie die theoretische Grundlage der
religiösen Lebensgestalt bildet und zugleich das Instru-
ment der Interpretation der Heiligen Schrift und daß an-
dererseits die Lehre der Kirche und das Wort der Heiligen
Schrift dabei beständig die Orientierung bieten. Aber in
der eigentlichen Mitte, in der sich alle diese geistigen Ebe-
nen treffen, entfaltet der Meister seine stärkste Kraft. In
ihr liegt das Außerordentliche und das Unvergeßliche
und zugleich das am meisten Mißverständliche an ihm.
Darum ist die wichtigste Sache, um die sich das Ganze
dieser weitausgreifenden Gedanken dreht, die besondere
religiöse Lebensform, die er beschreibt und zu der er auf-
ruft, und die zu ihr gehörige neue und außerordentliche
Erfahrung von Gott und Welt. Davon soll also in diesem
Buch die Rede sein.
10
Vgl. LW III, 307,2-3.
20
S". Das Zeugnis der Wirkungsgeschichte
11
Eine Zusammenstellung wichtiger Stellen bei F. von Baader fin-
den sich in Franz von Baader, Sämtliche Werke hrsg. von F. Hoff-
mann (Leipzig 1860) (Neudruck Ahlen 1963) Band 16, 150.
12
Zu Hegel vgl. H. Nohl, Hegels theologische Jugendschriften
(Tübingen 1907) 367 und Vorlesungen über die Philosophie der
Religion', 'Begriff der Religion', hrsg. von G. Lasson, Phil. Bibi. 59
(Hamburg 1966) 257.
13
Vgl. K. Jaspers, Von der Wahrheit (München 1947) 897ff.
14
Vgl. M.Heidegger, Der Feldweg (Frankfurt a.M. 1963) 4 und
M. Heidegger, Der Satz vom Grund (Pfullingen 1957) 71. Eine rei-
che Dokumentation ·über die Wirkungsgeschichte findet man in: J.
Koch, Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum
im 14. und 15. Jahrhundert, und bei Ingeborg Degenhardt unter
dem Titel: Studien zum Wandel des Eckhartbildes (Leiden 1967).
21
ster Linie von der metaphysischen Begrifflichkeit des Mei-
ster aus, wenn sie auch damit zu tun hat.
Diese Wirkungsgeschichte geht bis in die Gegenwart
weiter. Meister Eckhart beschäftigt auch heute keines-
wegs nur die Fachleute. Und dies in Ost und West und
besonders in Japan. Und es sind die deutschen Predigten
und Traktate, besonders in der so verdienstvollen hoch-
deutschen Ausgabe von Josef Quint, die bei vielen interes-
sierten Leuten in allen Ländern ausgesprochenes Interesse
finden.
Besonders muß darauf hingewiesen werden, daß der
Meister Eckhart im Bereich des japanischen Buddhismus
große Aufmerksamkeit gefunden hat. Und dies alles geht
besonders von den deutschen Predigten und Traktaten
aus.
Dies ist ein zusätzlicher Beweis dafür, daß in diesen
deutschen Predigten und Traktaten zwar nicht der ganze
Eckhart enthalten ist, wohl aber die Mitte des Ganzen und
darum das Wichtigste und am dauerndsten Lebendige des
Ganzen, das, von dem auch alles andere erst seinen eigent-
lichen Sinn bekommt, das auch, was das Unergründlichste
des Meisters ist, das, um dessentwillen man mit ihm nie
fertig sein wird und um dessentwillen er immer wieder zu
neuer Aktualität erwacht.
22
(hen Daseins. Dieses Dasein ist zu fassen als ein Gesche-
hen oder als ein Vollzug. Die Weise dieses Vollzuges, auf
die es hier ankommt, ist aber sehr verschieden von der
gewöhnlichen Weise. Darum wird sie zuerst als Abge-
schiedenheit erläutert.
Es geht von da aus dann weiter und vor allem darum,
in dieser Weise des Daseins das lebendige Geheimnis, das
wir Gott nennen, zu berühren, so, daß eine lebendig zu
vollziehende Gotteserfahrung möglich wird. Sie kann
dargestellt werden als Dasein im weiselosen Gott oder im
dunklen Licht der Gottheit. Bei dieser Weise der Gotteser-
fahrung wird es entscheidend sein, daß die metaphysi-
schen Bestimmungen Gottes zwar zunächst in den Blick
genommen werden, aber dann in immer weiter fortschrei-
tenden Schritten überwunden werden in das dunkle Licht
des weiselosen Gottes hinein.
Weil aber menschliches Dasein seinen Ort oder sein Da
zunächst in der Welt hat, so gehört zu diesem Dasein auch
ein bestimmtes religiöses Verständnis der Welt. Dies ist
zuletzt darzustellen. So wird schließlich der Blick frei wer-
den auf das Ganze des Daseins in der Welt im dunklen
Licht der Gottheit.
Von dieser zentralen „Sache" oder diesem zentralen
Gedanken des Meisters Eckhart soll also gesprochen wer-
den.
Am Schluß und sozusagen als Anhang wollen wir dann
noch darauf eingehen, warum dieser kühne Gedanke von
Anfang an,Mißverständnissen ausgesetzt war und warum
es zu dem Prozeß des Meisters Eckhart kam.
Unsere Belege werden wir in erster Linie aus der zweit-
genannten Schicht der Texte des Meisters Eckhart bezie-
hen, nämlich aus seinen deutschen Predigten und Trakta-
ten. Aber wir ziehen die gedanklich-metaphysischen
Anteile mit heran, soweit sie zur Aufhellung des Lebens-
23
vollzugs dienen. Wir beziehen uns auch immer wieder auf
die dritte, die theologische Ebene dort, wo die Sache es
erfordert. Aber wir wollen keine selbständigen theologi-
schen Erörterungen anstellen.
Wir werden auch immer wieder traditionsgeschichtli-
ches Gedankenmaterial zur Erläuterung des Meisters
Eckhart heranziehen. Davon soll nachher noch des nähe-
ren die Rede sein.
24
daß wir es schließlich selber behutsam in eigene Worte
fassen können.
Das heißt aber: Wir verstehen Denken als Phänomeno-
logie, das heißt als ein Freilegen und Bergen des sich selber
Zeigenden.
Dieses Freilegen und Bergen ist keineswegs eine leichte
Sache. Und schon gar nicht bei Meister Eckhart. Der Mei-
ster spricht in Rätseln und Paradoxen, die zunächst mehr
zu verhüllen als zu zeigen scheinen. Und der Mißverständ-
nisse sind viele, wie die Rezeptionsgeschichte der Gedan-
ken des Meisters Eckhart von Anfang bis heute gezeigt
hat. Wir werden also sehr sorgfältig zu denken haben.
Weil wir dabei frei und selber denken wollen, werden
wir manchmal auch über das hinaus denken, was der Text
uns zu denken unmittelbar vorschlägt. Und wir werden
es manchmal in Beziehung sehen zu manchen Denkerfah-
rungen, die wir inzwischen gemacht haben. Und so wird
man es diesem Denken anmerken können und sollen, daß
es inzwischen durch Kant und durch Hegel und durch
Husserl und durch Heidegger und durch manche andere
Denkerfahrungen hindurchgegangen ist. Man wird ihm
auch die modernen Welterfahrungen anmerken, die mo-
derne kritische Rationalität ebenso wie die moderne Nähe
des europäischen Denkens zum asiatischen.
Das alles wird also hineinspielen, und es gehört mit zu
dem freien denkenden Gespräch mit den Gedanken des
Meisters, das wir beginnen wollen. Immer soll es dabei
um die Sacheund die Sachverhaltegehen, die der Meister
gesehen und auf eine so außerordentliche Weise ausge-
sprochen hat.
Weil wir die Sache des Meisters als eine möglicherweise
heutige und aktuelle behandeln wollen, darum wollen wir
uns auch nicht allein an die Fachleute wenden, vielmehr
ebenso an die breite Schicht der Interessierten in allen
25
Ständen und in allen Ländern. Dies ist, wie mir scheint,
durchaus geboten, wenn man unter heutigen Umständen
einen Gedanken zur Sache des Meisters Eckhart vorlegen
will.
Aus diesem Grund werden wir zwar die zahlreichen
Zitate in den Ursprachen zitieren, eine Ausnahme von
dieser Regel machen wir aber bei jenen deutschen Predig-
ten, die noch nicht in der kritischen Ausgabe erschienen
sind. Wir zitieren sie nicht nach dem mittelhochdeutschen
Text, den man in der Ausgabe von „Pfeiffer" findet, son-
dern nach dem neuhochdeutschen Text, den Josef Quint
in der kleinen Ausgabe der deutschen Predigt~n und
Traktate bietet (= DPT). Dies deswegen, weil Quint einen
zuverlässigeren und kritisch besser gesicherten Text bietet.
Wir geben aber allen fremdsprachlichen Texten jeweils
eine Übersetzung (in den Anmerkungen) bei. Dies gilt ins-
besondere auch für die mittelhochdeutschen Texte. Denn
es darf nicht ohne weiteres angenommen werden, daß ein
moderner Leser bei ihnen nicht manchmal Mißverständ-
nissen erliegt. Darum hat ja auch die große kritische Aus-
gabe wohlweislich hochdeutsche Übersetzungen beigege-
ben. Wir werden uns dieser Übersetzungen bedienen,
jedoch in freier Weise.
Da wir also angesichts dessen, was der Meister sagt,
ein heutiges Denken in Gang bringen möchten, versuchen
wir uns dabei auch sonst im modernen Welthorizont zu
bewegen. Dazu gehört insbesondere, daß wir auch auf die
Analogien des Meisters Eckbart zum buddhistisch-japa-
nischen Denken an den gehörigen Stellen aufmerksam
machen wollen 15 •
15 Vgl. G. Stephenson, Gottheit und Gott in der spekulativen
Mystik Meister Eckharts. Dort findet man ergänzend dazu viele
Hinweise auf die Analogien in den Upanishaden und bei Lao Tse.
Vgl. dort bes. 100.
26
Unser Ziel ist also, das wird man nun erkennen, nicht
eigentlich ein historisches. Zwar wollen wir von histori-
schen Texten des Meisters ausgehen, und wir sind froh
und dankbar, daß sie nun zum größten Teil in einer kriti-
schen Ausgabe vorliegen. Aber was uns interessiert, ist
wirklich die Sache, die in diesen Texten zur Sprache
kommt.
Wir machen aus diesem Grund auch keine eigenen
ideen- und traditionsgeschichtlichen Untersuchungen.
Diese wären zwar sehr interessant. Wir müssen auch in
einigen Punkten darauf eingehen. Denn die Sache, die der
Meister Eckhart vorträgt, zeigt sich immer wieder selber
als eigentümlich von geschichtlichen Traditionsströmen
her mitbedingt. Darum müssen wir auch traditionsge-
schichtliches Material zur Aufhellung dieser Sache beizie-
hen. Wir werden uns z.B. des öfteren auf Texte des Tho-
mas von Aquin beziehen zur Erläuterung dessen, was der
Meister Eckhart sagt. Aber auch auf andere Texte, beson-
ders aus der augustinisch-neuplatonischen Tradition. Alle
diese Gedanken sind für den Meister Eckhart bedeutsam.
Aber die historischen Abhängigkeiten und Zusammen-
hänge sollen uns dazu dienen, eine Reihe schwieriger
Texte und Wortfügungen des Meisters Eckhart aufzuhel-
len. Bei vielen rätselhaften Äußerungen des Meisters hilft
es oft, auf jene Stimmen der Tradition ein wenig einzuge-
hen, die hintendranstehen.
Also geht es uns beim Erwägen des traditionsgeschicht-
lichen Zusammenhangs nur um die deutlichere Einsicht
in die Sache des Meisters Eckhart.
27
8. Bemerkungen zur neueren Eckhart-Literatur
28
Die andere Gruppe der neueren Untersuchungen zu
Meister Eckhart beschäftigt sich überwiegend mit den
Gedanken seiner Metaphysik, die mit Vorzug, wenn auch
nicht ausschließlich, in den lateinischen Schriften des
Meisters enthalten sind. Und wo in der Literatur auch die
deutschen Schriften herangezogen werden, was häufig der
Fall ist, werden sie zumeist auch metaphysisch dargestellt
mit einem häufig ideengeschichtlichen Einschlag. Wir ha-
ben auf eine wichtige Gruppe dieser Schriften bereits hin-
gewiesen 18 •
In besonderer Weise wurden in diesem Zusammenhang
die Probleme der Eckhartsehen Analogielehre behandelt,
die zum Teil von Thomas übernommen ist, aber sich in
der weiteren Entfaltung markant von ihm unterscheidet.
Besonders Franz Hof hat sich eingehend damit beschäf-
tigt, und er sieht in der Eckhartsehen Analogielehre die
Grundformel für das ganze Denken des Meisters 19 •
Diese metaphysischen Zusammenhänge, und beson-
ders die Erörterungen über die Analogie, sind auch für uns
von hohem Interesse. Aber sie sind nicht das, was wir als
die eigentliche Mitte betrachten, um die ~s hier gehen soll.
Wir werden zwar auf die hier geäußerten Gedanken an
manchen Stellen einzugehen haben, bisweilen auch kri-
tisch. Aber wir wollen die Analogiediskussion nicht wei-
terführen und alle gedanklichen und metaphysischen Pro-
bleme nur so weit behandeln, als es notwendig ist, um
jenen Daseinsvollzug und jene Gottes- und Welterfahrung
zu erläutern, um die es uns gehen soll.
18 Vgl. oben S. 13 Anm. 3.
19 H. Hof, Scintilla animae (Lund 1952). Vgl. dazu auch J. Koch,
Zur Analogielehre Meister Eckharts (Darmstadt 1964); ]. Kopper,
Die Metaphysik Meister Eckharts (Saarbrücken 1955); D. Mieth,
Die Einheit von Vita activa und Vita cotemplativa (Regensburg
1969) 134.
29
Darum darf ich es, wie ich glaube, wagen, auch ange-
sichts der zahlreichen Untersuchungen zum Meister Eck-
hart noch meinen eigenen Gedanken unter meinen eigenen
Gesichtspunkten und mit meiner eigenen Methode darzu-
legen.
30
Erster Teil
Der Weg ins dunkle Licht
der Gottheit
§ 2. Die Abgeschiedenheit
31
suam." 1 In der Auslegung dieses Satzes kommt es darauf
an, daß Jesus, das heißt Gott, in ein Burgstädtchen, das
heißt in den Geist des Menschen, eintrete. Damit dieses
Entscheidende geschehen könne, dazu ist nach der Ausle-
gung unseres Textes von seiten des Menschen vor allem
notwendig, daß dieser mulier sei, nämlich „juncvrouwe",
wie der Meister übersetzt. Das, was eine Jungfrau zur
Jungfrau macht, ist aber die Ledigkeit. Dafür kann man
im Sinne unseres Textes auch sagen die Abgeschiedenheit
oder die Freiheit. Der Test ist also so zu lesen: Der Mensch
im Stande der Abgeschiedenheit kann Gott in seinem Geist
empfangen.
Und darum wird nun zuerst in unserem Text der Stand
der Abgeschiedenheit erörtert.
Es wird gesagt: ,,Juncvrouwe ist alsö vil gesprochen als
ein mensche, der von allen vremden bilden ledic ist, alsö
ledic, als er was, dö er niht enwas." 2 Darin liegt eine Wei-
sung: Wir sollen so ledig sein, wie wir waren, da wir noch
nicht waren. Da wir noch in unserem ersten im Geheimnis
geborgenen Ursprung ruhten, in dem geheimnisvollen
,,Noch nicht", aus dem wir alle kommen.
Wie können wir aber nun, da wir einmal da sind in un-
serer Welt, in diese Ursprünglichkeit zurückkehren? Der
Text unserer Predigt stellt sich diese Frage gleichfalls, und
er gibt darauf auch eine Antwort: ,, Waere ich alsö ver-
nünftic, daz alliu bilde vernünfticliche in mir stüenden,
diu alle menschen ie enpfiengen und diu in gote selber sint,
waere ich der ane eigenschaft, daz ich enkeinez mit eigen-
32
'"·haft haete begriffen in tuonne noch in läzenne, mit vor
11rn:hmit nach, ... in der wärheit sö waere ich juncvrouwe
.111c hindernisse aller bilde als gewaerliche, als ich was, dö
2. Die Eigenschaft
Was ist diesem Satz gemäß Abgeschiedenheit? Um das zu
verstehen, muß zuerst gesagt werden, was der Mensch ist.
Er ist gemäß diesem Satz Vernunft. Und Vernunft ist wei-
tl'rhin Innestehen von Bildern. Die Bilder sind alles das,
was sich dem Menschen entgegenbildet und ihn anblickt, .
so daß der Mensch damit zu tun bekommt. Sie sind die
Welt, in der und mit der die Menschen leben.
Der Mensch, so verstanden, ist also kein isoliertes Sub-
jekt und kein verschlossener Innenraum. Er ist Offenheit
des Lebens mit offenen Bildern, das heißt mit den ihm of-
fenen und ihn anblickenden Gebilden, Gestalten und Din-
gen der Welt. Der Mensch ist ein offenes Beziehungsge-
fiige, zu dem die Bilder der Welt ursprünglich gehören.
Mit Bildern leben oder der Bilder innesein oder Bilder ha-
ben, alles das ist also das gleiche wie Dasein oder Leben
in der Welt.
Nun wird aber ein Unterschied gemacht. Man kann der
Bilder innesein „mit Eigenschaft" und auch „ohne Eigen-
schaft". Das ist der für unseren Text grundlegende Unter-
33
schied. Man spürt, daß das Wort „Eigenschaft" hier in
einem besonderen Sinn gebraucht ist, der sich unterschei-
det von dem uns geläufigen.
Wir haben die Bilder, das heißt die Gebilde unserer
Welt mit „Eigenschaft", wenn wir sie uns zueignen durch
unsere Tätigkeit und sie dann als unser Eigentum betrach-
ten. Wenn wir sie begreifen und uns zustellen im Begriff,
in dem wir sie dann zu eigen haben. Wenn wir über sie
verfügen zu unseren eigenen Zwecken und sie so zu Mit-
teln unserer Absichten machen. Wenn wir uns selbst
durchsetzen im ganzen Bereich der Welt, so daß unsere
Welt dann schließlich nur noch unser eigenes Gemächte
ist, eine zweite künstliche Welt, in der wir nur unseren
eigenen Gedanken und unseren eigenen Absichten begeg-
nen. Wir nehmen dann die Bilder der Welt für uns in An-
spruch, und wir entfalten unsere Verfügungsmacht über
sie zu unseren Zwecken, Sorgen und Zielen.
Das scheint auf das hinauszulaufen, was Heidegger das
vorstellende, feststellende und sicherstellende Denken
nennt 4 •
Daraus entsteht Herrschaft, letzten Endes Weltherr-
schaft. Sie bringt den Menschen viele Vorteile. Aber dar-
aus entsteht auch Bindung und also Unfreiheit. Der
Mensch fixiert sich auf der Bahn solcher Weltherrschaft
immer mehr in seine begreiflichen und verfüglichen Ge-
bilde. Er bindet sich selber, und er wird auch gebunden
von den rationalen Systemen, die er selber entworfen hat,
so, daß er ihnen schließlich nicht mehr entgehen kann,
auch dort nicht, wo er es gerne möchte. Er ist gefesselt
an die „Eigenschaft" und darin unfrei.
4 Vgl. vor allem die Abhandlungen „Die Frage nach der Technik"
und „Wissenschaft und Besinnung", in: M. Heidegger, Vorträge und
Aufsätze (Pfullingen 1978 4 ) 9ff. bzw. 4lff.
34
Unsere Predigt spricht in ihrem Zusammenhang von
diesem Sachverhalt. Sie ist nicht so arglos, wie sie scheint.
Allerdings scheint es für die Predigt eine Möglichkeit
zu sein, der aber eine andere gegenübersteht. Man kann
die Bilder auch haben ohne Eigenschaft. Inzwischen aber
ist die Welt der „Eigenschaft" zu einem Weltschicksal ge-
worden. Und so ist das Haben der Bilder mit Eigenschaft
beinahe eine geschickhafte Notwendigkeit. Und es
scheint, daß wir gefesselt und gebunden sind in jenen Zu-
sammenhang hinein, den Adorno und Horkheimer die
,,Dialektik der Aufklärung" genannt haben 5 •
Aber es gilt festzuhalten, daß es doch die Möglichkeit
der Alternative gibt, den anderen Weg. Nur ist er für uns
mühsamer zu suchen und zu finden als zur Zeit des Mei-
sters Eckhart. Ihm jedenfalls und doch wohl auch uns
kommt es vor allem darauf an, daß der Mensch frei werde
und ledig und daß er also die Fessel der „Eigenschaft"
ganz von sich ablöse. Dies bedeutet nicht weniger als eine
grundlegende Umstellung des ganzen menschlichen Da-
seins in der Welt, und damit all des menschlichen Um-
gangs mit seiner Welt.
Diese Umstellung tritt zunächst als eine negative Bewe-
gung auf. Der Mensch muß zunächst negativ abwerfen,
was ihn positiv bindet.
Die Negativität der Abgeschiedenheit zeigt sich beson-
ders prägnant in der berühmten Predigt über den Text
„Beati pauperes spiritu" 6 • Darin heißt es, der Mensch
müsse arm sein, und es wird die Negativität der Armut so
erläutert: Das ist ein armer Mensch, der nichts will und
nichts weiß und nichts hat. Wollen, Wissen und Haben sind
5
M. Horkheimer - Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung
(Deutsche Ausgabe, Frankfurt a. M. 1969).
6
DPT, 303ff.
35
nach diesem Text die Grundweisen des Daseins in der Welt
mit Eigenschaft. Denn der Wille ist, sich selber Wollen in
allem, was er will, das Wissen ist, sich selber Versichern in
allem, was gewußt wird, und das Haben ist das sich alles
zueignende Verfügen über alles. Es geht also in diesen
Weisen je eigentümlich immer wieder um das Eine, näm-
lich das Eigene des Menschen, um jenes Wollen, Wissen
und Haben, das ihn selber reich macht.
Aber er soll arm werden und soll darum in einer zu-
nächst negativen Bewegung den Willen und das Wissen
und das Haben von sich tun.
Und in der Predigt Nr. 6 gibt der Meister sogar den
Rat, der Mensch solle dem Nichts gleich werden 7• Das
ist die schärfste negative Formulierung. Sie will offenbar
sagen: Der Mensch soll dieses werden: nichts wollen,
nichts wissen, nichts haben. Er soll ganz still werden.
Soll demnach das Dasein des Menschen in der Welt
ausgelöscht werden? Das gerade nicht. Aber es soll umge-
wandelt werden, und dazu gehört als Einsatz das Nega-
tive.
3. Das Seinlassen
7
DW I, 107,5.
36
Der Gedanke der Empfänglichkeit spielt in unserer Pre-
digt eine große Rolle, die mit dem Bilde von der Jungfrau
und ihrer Ledigkeit zusammenhängt. Jungfräulichkeit
und Ledigkeit heißt Empfängnisbereitschaft. Das bedeutet
in unserem Zusammenhang: Der ganz frei und ganz still
Gewordene, der ganz offen Gewordene ist bereit, jeden
Ruf und jedes Zeichen anzunehmen.
Das kann man auch das Wesen des reinen Seinlassens
nennen. Von dem ganz still Gewordenen kann man sagen,
er läßt alles sein, wie es ist und was es ist. Dadurch kann
er mit allem auf eine neue und ganz verwandelte Art ver-
bunden sein. Alles darf für ihn und vor ihm frei sich ent-
falten, ohne daß er ihm noch dreinreden wollte. Die Weite
der Welt ist ihrer eigenen Ursprünglichkeit freigegeben.
Wo ich solchermaßen still und offen bin und alles sein
lasse, berühre ich auch alles und gönne ich alles allem.
Ich bin in meiner Stille und freien Weite eins mit der stillen
und freien Weite der Welt. Darum heißt es an unserer
Stelle in der Predigt vom Eintritt Jesu in das Burgstädtlein
nicht etwa, der Mensch solle alle Bilder abschaffen, wohl
aber, er solle ihrer innesein ohne Eigenschaft. Er soll also
nicht weltlos werden. Aber indem er sich selbst verwan-
delt, darf sich ihm auch seine Welt verwandeln. Indem er
selbst frei und weit wird, wird ihm auch die Welt frei und
weit. Er gewinnt sie neu auf verwandelte Art.
Darum kann es an einer anderen Stelle heißen: ,,Er
soll nichts wollen und nichts wissen " 8 • Er soll aus dem
Nichts wollen und nichts wissen und nichts haben und
so die freie Weite eröffnen, in der alles sein darf, was es
ist, und alles sich auf neue Weise schenkt9.
8 DW I, 182, lOf.
9
Vgl. D. Mieth, Die Einheit von Vita activa und Vita contempla-
tiva, a. a. 0. 199: ,,Die Freiheit von den Dingen erweist sich so als
Freiheit zu den Dingen."
37
4. Husserl und Heidegger
38
Aber die Verwandtschaft des Ansatzes in der Gelassen-
heit oder in der Abgeschiedenheit ist doch nicht eine
Gleichheit des Ziels. Sie gilt, insofern die Abgeschieden-
heit die Welt in ihren Ursprüngen freilegt. Das ist so bei
Meister Eckbart und zugleich so bei Husserl und Heideg-
ger. Aber gleichzeitig strebt der Meister Eckhart von die-
sem Ansatz aus noch viel weiter, nämlich in die Dimension
des Religiösen, in die Dimension Gottes. Aber die Weise,
wie von diesem Ansatz aus der Zugang zu Gott freigelegt
wird und wie Gott also erscheint, kann um dieses Ansatzes
willen phänomenologisch verstanden werden. Darum ge-
winnt Gott hier eine eigentümliche Gestalt, die sich von
der üblichen metaphysischen Theorie und ihren Begriffen
stark unterscheidet. Deswegen kann man nach Heidegger
von Meister Eckhart viel Gutes lernen. Von dem Eigen-
tümlichen des Meisters, der die uns bekannte Phänome-
nologie überschreitet, ist im folgenden eigens zu sprechen.
39
Dieser Hintergrund wird besonders deutlich an einer
Stelle aus dem „Buch der göttlichen Tröstung": ,,Die mei-
ster sprechent: haete daz ouge dekeine varwe in im, dä
ez bekennet, ez enbekente weder die varwe, die es haete
noch die, der ez niht enhaete; wan ez aber blöz ist aller
varwen, dä von bekennet ez alle varwe." 15 Die Stelle hat
mehrere Parallelen, besonders auch in den lateinischen
Werken, so etwa in dem Sermo 38, Nr. 384: ,, ... non co-
loratum recipit omnem colorem. " 16 Dieser Gedanke geht
direkt auf einen aristotelischen Gedanken zurück. Dieser
lautet in der lateinischen Fassung, die dem Meister vor-
lag: ,,est autem coloris susceptivum, quod sine colore." 17
Die Meister, die Eckhart an der angedeuteten Stelle aus
dem Buch der Tröstung sprechen läßt, sind also Aristo-
teles und dessen mittelalterliche Kommentatoren, vor
allem Thomas von Aquin' 8 •
Was bedeutet der Gedanke der Sache nach? Das Auge
ist verstanden als der Gesichtssinn, das Vermögen zu se-
hen. Es wird hier als Modell aller aufnehmenden Vermö-
gen überhaupt betrachtet. Darum sagt Thomas an der ge-
nannten Stelle: ,, ... omne, quod est in potentia ad aliquid
et receptivum eius, caret eo, ad quod est in potentia et
cuius est receptivum." 19
40
Sofern das Sehvermögen so betrachtet wird, als würde
es in sich selber bestehen und sich auf sich selber beziehen,
und sofern man es in dieser Betrachtung mit der Vorstel-
lung der Farbe verbindet, ergibt sich ein Sehen, das in sich
selber gefärbt und also getrübt ist. Ein solches Sehen aber
ist gemindert in seiner Fähigkeit, das Farbige der Welt
aufzunehmen. Es ist in dem Maße gemindert, in welchem
Maß es selber von Farbe erfüllt ist.
Nur insofern das Auge in sich selber und für sich selber
nichts ist und sich nicht auf sich selber bezieht, nur inso-
fern es reine Offenheit und Klarheit und Bereitschaft ist
für sein anderes, nur insofern es in diesem Sinne „Nichts"
ist, vermag es wirklich die Erscheinungen der Weltzuse-
hen. Dies ist ein klarer phänomenologischer Befund.
Dieses Modell wird aber nun in erster Linie auf das be-
zogen, was die mittelalterlichen Meister intellectus nen-
nen, den Geist oder die Vernunft, oder, wie es gelegentlich
auch heißt, die höchste Kraft der Seele. Dieser Bezug des
Modells auf den Intellekt liegt schon bei Aristoteles vor
und dann auch bei Thomas 20 • So ist es auch bei Meister
Eckhart.
So sagte er im lateinischen Genesis-Kommentar: ,,Intel-
lectus enim, in quantum intellectus, est similitudo totius
entis, in se continens universitatem entium, non hoc aut
illud cum praecisione." 21
Im Zusammenhang damit wird Moses Maimonides zi-
tiert.
für etwas, entbehrt dessen, für das es in der Möglichkeit ist und des-
sen es empfänglich ist."
20 Vgl. den Kommentar des Thomas, wo auf den entsprechenden
alles Seienden und umfaßt in sich alles Seiende in einem, nicht nur
dies oder jenes einzeln genommen."
41
Er steht hier in einer klaren Tradition. Was man am
Modell des Auges lernen kann, soll helfen, die „höchste
Kraft der Seele" zu verstehen.
Nur muß man, um die Übertragung des Modells auf
das eingentlich Gemeinte vollziehen zu können, auch den
Unterschied im Auge behalten zwischen dem Gesichtssinn
und der Vernunft, dem intellectus. Der Gesichtssinn ist,
in sich selber betrachtet, nichts, das heißt reine Offenheit.
Dies jedoch nur in einem bestimmten Bereich, nämlich
dem des Sichtbaren. Mit anderen Bereichen, z.B. dem des
Hörbaren, hat dieses Nichts als schauende Offenheit
nichts zu tun. Darum ist es eine begrenzte Offenheit und
ein begrenztes Nichts.
Der intellectus aber ist unbegrenzte Offenheit. Das
Wort meint jenen Zug in unserem Dasein, der es aus-
macht, daß wir bei keiner Grenze des Wissens zufrieden
sind und über jede Grenze hinaus streben, der es auch aus-
macht, daß das Undenkbare für uns wirklich undenkbar
ist, wieviel des Unbegreiflichen es auch geben mag, der
es endlich ausmacht, daß wir bei keinem begrenzten Glück
auf die Dauer stehenbleiben mögen. Wir leben so in der
Tat über jede Grenze hinaus. Wir leben im Unbegrenzten
einer grenzenlosen Offenheit.
Dieser Umstand bringt es nun mit sich, daß der Bereich
des intellectus seinerseits durch schlechthin unbegrenzte
Offenheit zu kennzeichnen ist. Betrachtet man ihn also als
auf ihn selbst bezogen, so zeigt er schlechthin keinerlei Be-
stimmung, und er ist in dieser Betrachtung das schlechthin
unbegrenzte Nichts. Freilich ein lebendiges Nichts. Es
vollbringt lebendig die Offenheit. Denn gerade weil der
Geist Nichts ist, hindert ihn auch nichts, für alles lebendig
offen zu sein. Er ist reine Helle, von nichts getrübt.
Natürlich schließt dies nicht aus, daß sekundär eine
Menge von Trübungen und Verwirrungen sich in ihm
42
breitmachen können. Aber daß wir diese als solche zu er-
kennen vermögen, ist wiederum ein Indiz dafür, daß sie
nicht primär sind.
Der Meister Eckhart spricht z.B. in der Predigt 11 über
den Text „Impletum est tempus Elisabet" von drei Weisen
der Erkenntnis, nämlich der Sinnlichkeit, dem Verstand
und der Vernunft. Und er sagt zu dieser dritten Kraft:
„Disiu kraft enhat mit nihte niht gemeine; si machet von
nihte iht und al." 22 Und im lateinischen Johanneskom-
mentar lesen wir dazu: ,,Intellectus autem abstrahit ab hie
et nunc et secundum genus suum nulli nihil habet com-
mune, impermixtus est, separatus est." 23 An dieser Stelle
wird auch die Herkunft des Gedankens bezeichnet: aus
dem dritten Buch über die Seele 24 • Es ist natürlich das
dritte Buch des Aristoteles über die Seele gemeint.
Aristoteles zitiert für die Unvermischtheit oder die reine
Helle der höchsten Kraft Anaxagoras 25 • Es steht also eine
sehr alte Tradition hinter dieser Einsicht.
Bei Aristoteles steht in diesem Zusammenhang auch die
vielzitierte Stelle von der Tafel, auf der nichts geschrieben
ist, auf die aber deswegen alles geschrieben werden
kann 26 •
Natürlich kennt auch Thomas von Aquin diesen Zu-
sammenhang, und so spricht er ebenfalls von der unge-
mischten Natur des intellectus und davon, daß dieser, weil
22 DW I, 182, lOf. ,,Diese Kraft hat mit Nichts nichts gemein; sie
macht von Nichts etwas und alles."
23 LW III, 265, 12-266, 1. ,,Der Intellekt sieht ab vom Hier und
Jetzt, und nach seiner Art hat er mit Nichts nichts gemein, er ist
unvermischt und geschieden."
24 Vgl. a. a. 0. 266, 1.
25
Aristoteles, De an. III, t. 12 (Gamma, c. 4. 429 d. 23); und a. a. 0.
t. 4 und 6 (429 a und 18.24) und weiter t. 7 (429 b 5).
26 Vgl. a.a.O. t. 7 (429b - 430a).
43
er alles erkennen kann, keinerlei eigene Bestimmung in
sich hat und in diesem Sinne „Nichts" ist: ,,Sie ... intellec-
tus, si haberet aliquam naturam determinatam, illa natura
connaturalis sibi prohiberet eum a cognitione aliarum na-
turarum." 27 Der Geist hat also nach diesem Ansatz kei-
nerlei ihm eigentümliche Bestimmung, und er ist in diesem
Sinne wirklich das reine Nichts, das heißt die reine und
unbegrenzte Offenheit.
Und dies entspricht ja auch durchaus dem phänomena-
len Befund. Einmal deswegen, weil, wie schon angemerkt,
unser Erkennen und Denken und das mit ihm verbundene
Wollen alle Grenzen überschreitet, andererseits aber auch
deswegen, weil - wenn wir etwas erkennen - wir uns
nicht beim Erkennen selber aufhalten. Wir sind dann viel-
mehr die reine Durchsicht zur Sache hin, um die es geht,
und sind wirklich nichts für uns selber. Das Nichts ist
selbst die Offenheit.
Man sieht die Traditionslinie, in der der Meister Eck-
hart steht. Und im Zusammenhang damit sieht man aller-
dings auch sein Besonderes. Er hat aus der theoretischen
Einsicht eine Lebensregel gemacht, eine Weisung zur Um-
wendung des ganzen Daseins in der Welt. So wird das Ab-
strakte auf einmal lebendig. Der Meister Eckhart weiß
wohl, daß die reine Helle seines Geistes vom Menschen
oft blockiert wird durch die Bindung, in der der Mensch
sich bindet an sein Etwas oder an bestimmte Bereiche sei-
nes Etwas. Dann wird der Mensch vielleicht nichts ande-
res mehr in Betracht ziehen und so begrenzt sein. Und
dann ist der Mensch auch selber etwas. Man kann ihn be-
stimmen hinsichtlich des Umfangs seiner Gedanken oder
44
seines Wissens. Und dann hat er sein Wißbares „mit
Eigenschaft". Allerdings wird er darin nie auf die Dauer
zufrieden sein können und wird unablässig versuchen, das
,,Haben der Bilder" und das Verfügen über sie immer wei-
ter zu treiben. Die Unbegrenztheit des intellectus macht
sich doch immer noch bemerkbar, gerade auch dort, wo
der Mensch sich selbst begrenzt hat. Und wie oft auch die
reine Helle getrübt und verwirrt sein mag, im Grunde
bleibt sie doch bestehen.
Und so ist es also durchaus sinnvoll und steht auch auf
einer durchaus verständlichen theoretischen Basis, wenn
der Meister mahnt, sich von aller „Eigenschaft" frei und
ledig zu machen und dadurch in die reine Ursprünglichkeit
zurückzukehren, die zugleich alles oder die Welt in die
reine Ursprünglichkeit ihres Erscheinens zurückbringt.
45
1. Gott als die Wahrheit
wahr, aber es ist nicht die Wahrheit. Aber das Wahre ist wahr durch
die Wahrheit."
3 Vgl. die an der o.g. Stelle Anm. 1 angegebenen deutschen und la-
46
Uns interessiert hier zunächst nur die Tatsache, daß der
Meister Gott die Wahrheit selbst nennt oder die Wahrheit
selbst Gott. Und wir fragen: Wie kann man dies verste-
hen? Und wir wollen auch fragen: Wieso geht dies auf in
der Abgeschiedenheit?
47
Darum läuft diese Betrachtung von Wahrheit auf die alte
Formel hinaus: Die Wahrheit sei die Übereinstimmung des
Denkens (bzw. des Satzes) mit der Sache (bzw. mit dem
Sein). Die Wahrheit ist dann, wie die klassische Formel
lautet, ,,adaequatio intellectus et rei".
Es ist nicht zu bezweif ein, daß diese Auffassung von
Wahrheit richtig ist. Aber es ist sehr zu fragen, ob sie ge-
nügend ist und ob man mit ihr wirklich auf den Grund
der Wahrheit kommt.
Die genannten richtigen Bestimmungen sind ja alle so
etwas wie Vergleiche. Vergleichen kann man aber nur das,
was gegeben ist. Also muß für die hier geforderte ad-
aequatio sowohl die Sache gegeben sein wie der intellec-
tus, das heißt der Gedanke oder der Satz, der die Sache
erfaßt. Also ist, damit diese Bestimmung der Wahrheit
möglich werde, zuvor schon die Sache gegeben. Sonst
könnte man doch nie sagen, die Aussage stimme mit ihr
überein.
Somit gibt es zunächst die Gegebenheit oder die Er-
scheinung oder die Phänomenalität der Sache selbst. Sie
zeigt sich zuvor selber als das, was sie in Wahrheit ist. Die
wahren Sätze setzen, um möglich zu sein, diese ursprüng-
lichere Wahrheit voraus, jene, kraft derer sich die Sache
selber zeigt als das, was sie ist. Die Sätze oder die Begriffe
fassen dann nur in ihre Form oder in ihren Begriff, was
diese ursprüngliche Wahrheit schon zeigte, und machen
sie sich zu eigen. Damit gehören die Begriffe und die Sätze
in den Bereich der Eigenschaft im Sinne des Meisters Eck-
hart.
Das reine Gewärtigen des anfänglichen Sich-Zeigens
der Sache ist ein anderer Zugang zu einer anderen Wahr-
heit, nämlich der des Seins des Seienden selber. Die Sätze
sind nicht wahr, weil wir sie sagen oder denken oder set-
zen, sondern weil die Sache so ist, wie wir sie denken. Die
48
Sache ist nicht so, weil wir sie sehen, sondern wir sehen
sie, weil sie sich in ihrer Wahrheit zeigt. Hier kommen
wir auf einen ursprünglicheren Boden von Wahrheit
gegenüber der „veritas adaequatio intellectus et rei",
nämlich auf den, in dem sich die Sache selber zeigt als das,
was sie ist, oder als das, was sie in Wahrheit ist. So ist
die Wahrheit ein Zug der Sachen selber, und diese Wahr-
heit ist primär gegenüber der Wahrheit wahrer Sätze.
Ist so die anfänglichere Wahrheit das Sich-Zeigen oder
das Auf gehen des Seienden in seinem Sein, dann gehört
sie zwar nicht mehr zur Eigenschaft. Wohl aber scheint
sie noch zur Zerstreuung zu gehören. Denn sie scheint nun
zerstreut zu sein in die Vielheit des Seienden, in die Menge
der Sachen.
Von dieser Wahrheit spricht Thomas von Aquin als der
fundierenden Wahrheit: ,,In quo verum fundatur" 4, und
er zitiert dazu Augustin: ,,Verum est id quod est." 5 Das,
was ist, ist also selber das Wahre.
4
Th. v. Aquin, De Ver. 1, 1. ,,Das, worin das Wahre begründet
ist."
5
Augustinus, Soliloquium c.5. ,,Wahr ist das, was ist."
49
kommen wir auf eine dritte Ebene von Wahrheit, die ei-
gentlich die am meisten primäre ist, nämlich die schlecht-
hin ursprüngliche.
Diese Differenz tritt dann deutlich hervor, wenn wir
bedenken, daß ja z.B. die wahre Sache eine ganz flüchtige
Sache sein kann, ein Blatt etwa, das über die Straße wir-
belt. Dann kann man sagen: Das ist wahr, diese Bewegung
des Blattes. Aber indem_man dies sagt, tritt hervor, daß
man damit eine Wahrheit berührt, die nicht ebenso flüch-
tig ist wie in diesem Fall die flüchtige Sache. Die Wahrheit
der Sache ist nicht flüchtig. Denn es wird immer und zu
jeder Zeit wahr sein, daß sich dieses Seiende in diesem
Augenblick so bewegte. Die Wahrheit der Sache hat gar
r-iichtszu tun mit der Flüchtigkeit der Dinge und mit der
Flüchtigkeit der Zeit. Sie ist, was sie ist. Die wahren Dinge
stehen nicht fest, wohl aber ihre Wahrheit. Sie ist zeitlos
und umfaßt alles Zeitliche.
Diese Wahrheit, die alles Seiende umfaßt und zugleich
sich von allem Seienden unterscheidet, ist auch immer
schon mehr als nur die Wahrheit eines einzelnen Seienden
oder eines einzelnen Zustandes. Vielmehr umfaßt sie als
die eine und einfache Wahrheit alles Seiende in seiner
Wahrheit. Sie ist immer schon allumfassende Sammlung.
Woher käme es sonst, daß es kein einzelnes Wahres gibt,
das sich nicht allen möglichen Seienden im gesamten Uni-
versum gegenüber als das Wahre bewährte? Woher
kommt diese Übereinstimmung eines jeden Wahren mit
allem Wahren? Nur von der alles umfassenden Wahrheit.
Wird diese also im Ernste berührt, so wird mit der Eigen-
schaft auch die Zerstreuung schließlich überwunden.
Betrachtet man nun das alles überwaltende Walten die-
ser ersten Wahrheit, dann wird man zuerst erblicken, daß
sie alles lichtet und eröffnet als das, was es ist. Ihr eignet
ein lichtendes und eröffnendes Wesen. Woher käme es
50
sonst, daß wir uns denkend und erkennend in allen Berei-
chen des Seienden bewegen können? Alles ist grundsätz-
lich als das, was es ist, gelichtet. Es mag zwar das einzelne
zeitweise oder für lange verdunkelt und verborgen sein.
Aber dann ist wiederum die Verdunkelung und Verber-
gung selber in der Weise gelichtet, daß sie wahrgenommen
werden kann. Und außerdem bezweifeln wir auch in die-
sem Falle nicht, daß das Dunkle und Verborgene ist, was
es in Wahrheit ist, und daß man es also grundsätzlich er-
kennen und im Denken erfassen kann, wenn es irgend ge-
lingt, die Dunkelheit der Verbergung zu durchdringen.
Das lichtende Wesen der Wahrheit ist in diesem funda-
mentalen Sinne unbegrenzt und alles umfassend.
Die Wahrheit in diesem Verstande hat auch den eigen-
tümlichen Zug, daß sie alles Seiende in seinem Sein bef e-
stigt. Darum zitiert Thomas von Aquin an der oben ge-
nannten Stelle auch Avicenna mit dem Satz: ,,Veritas
cuiuslibet rei est proprietas sui esse, quod stabilitum est
rei." Das Seiende ist in seiner Wahrheit fest. Es ist befe-
stigt, zu sein, was es ist, und dies in der Weise, daß kein
möglicher Gedanke und kein möglicher Einfluß von ir-
gendwoher es darin wankend machen kann. Was in
Wahrheit ist, ist zugleich so fest, daß es auch in jeder Hin-
sicht sich durchhält. Dies ist, im Grunde genommen, der
Sinn des Identitätssatzes. Man sollte ihn nicht als eine
bloße Formalität ansehen. Man sollte sich eher wundern
darüber, daß das Seiende in seiner Wahrheit so fest ist.
Es ist befestigt durch die Wahrheit.
Erst recht kann auch kein Wunsch die Wahrheit des
Wahren ändern. Denn wir mögen wünschen, was wir
wollen, es ist doch in Wahrheit, wie es ist. Und es hat voll-
ends keinen Zweck, mit der Wahrheit handeln zu wollen,
ihr also etwas anzubieten, damit sie nicht wahr sein lasse,
was doch wahr ist. Die Wahrheit läßt nicht mit sich han-
51
dein. In diesem Sinne ist sie das schlechthin Befestigende
des Seins alles Seienden.
So zeigt sich immer deutlicher die merkwürdige Diffe-
renz zwischen der Wahrheit und dem Wahren, die jedoch
gleichwohl untrennbar verbunden sind. Es gibt vieles
Wahre, aber es gibt nur eine Wahrheit. Das viele Wahre
ist zerstreut und schwankend und flüchtig. Aber die
Wahrheit, die auch die Wahrheit des zerstreuten und
schwankenden und flüchtigen Seienden ist, ist fest und be-
ständig.
Diese Wahrheit begründet und umfängt, sammelt und
offenbart, befestigt und bestätigt das viele Wahre. Deswe-
gen ist das viele Wahre zwar wahr, aber es ist doch nicht
die Wahrheit selbst. Es vermag sich auch nicht durch ei-
gene Kraft in seiner Wahrheit zu halten. Denn seine eigene
Kraft ist flüchtig und vergänglich mit der Zeit. Das Sei-
ende kann das Zeitlose nicht festhalten.
So wird die Wahrheit in diesem primären Sinne offen-
bar als das Licht und die Macht, als das, was von sich
her alles in seiner Wahrheit festhält und für jegliches Den-
ken offenbar macht.
Betrachtet man die Wahrheit in diesem Zusammen-
hang als die Wahrheit selbst, dann ist sie die lautlose
Macht, die alles ins Eine sammelt und umfängt, denn alles
ist wahr durch die Wahrheit. Sie offenbart sich auch als
die Macht, die zwar alles bestimmt, aber von nichts be-
stimmt wird. Denn alles, was ist, ist in Wahrheit, was es
ist. Aber ob etwas ist oder ob am Ende einmal gar nichts
mehr ist: Auf jeden Fall ist in Wahrheit, was ist, und ist
gegebenenfalls auch in Wahrheit nicht, was nicht ist. Die
Wahrheit selbst ist also durchaus nicht abhängig davon,
was ist, und sogar auch nicht davon, ob irgendwo etwas
ist. In jedem möglichen Fall ist in Wahrheit, was ist, und
auch in Wahrheit, was nicht ist. Sie ist in ihrer innersten
52
Natur unabhängig vom Bestand des Seienden. Sie ist auf
eine unbedingte Weise sie selbst. Sie umfängt und umgreift
allerdings alles Seiende.
Aber sie umfängt und umgreift nicht nur das tatsächlich
Seiende, sie übergreift es auch. Ihre Weite wird auch durch
den größten denkbaren Umfang des Wahren nicht ausge-
schöpft. Sie ist in ihrem umgreif enden und sammelnden
Wesen schlechthin unbegrenzt oder unendlich.
Und da sie von keinem Seienden und auch von keinem
Denken abhängig ist, zeigt sie sich als unbedingt. Was in
Wahrheit ist, ist dies unabhängig von jedem Interesse oder
von jedem Einfluß irgendeines denkbaren Seienden. Und
unabhängig auch davon, ob ein Gedanke dies denkt oder
nicht. Wohl aber verpflichtet die Wahrheit selbst jedes
Seiende und insbesondere jedes Denken, und auch dies
wiederum unbedingt. Denn jedes Seiende, und besonders
jedes seiende Denken, ist schlechthin verpflichtet anzuer-
kennen, was in Wahrheit ist. Es kann unter keiner Bedin-
gung mit seinem eigenen Wesen übereinstimmen, es sei
denn unter der Bedingung, daß es die Wahrheit aner-
kenne. Die Wahrheit waltet als sie selber, und das heißt
als unbedingte Bedingung des Seienden und allen Den-
kens.
Diese Wahrheit ist zugleich transzendental und tran-
szendent. Sie ist transzendental, weil sie alles Wahre als
solches möglich macht und umfängt. Und sie ist transzen-
dent, weil sie alles dies übersteigt. Daher hat sie Tho-
mas von Aquin des öfteren die prima veritas genannt, die
erste Wahrheit oder die Wahrheit im Ursprung schlecht-
hin6. Thomas meint mit dem Ausdruck prima veritas na-
6
Vgl. Th. v. Aquin, S. Th. I, 88, 3, ad. 1 „In luce primae veritatis
omnia intelligimus et iudicamus ... " ,,Im Licht der ersten Wahrheit
erkennen und beurteilen wir alles."
53
türlich Gott. Und dies ist auch verständlich. Denn, was
alles sammelt, umgreift und übergreift in unendlicher und
unbedingter Mächtigkeit, dürfen wir Gott nennen. Gott
ist das aus sich selbst waltende Unbedingte und Unend-
liche. In diesem Sinn ist „die Wahrheit selbst" Gott, und
Gott ist „die Wahrheit selbst".
7
Vgl. an der genannten Stelle im Corpus Articuli (ed. Marietti,
Turin) 266.
54
inconmutabilem. " 8 Das Wort vidi - ich sah - besagt of-
fenbar Unmittelbarkeit. Und Augustin nennt wenige Zei-
len später das, was er sagt, ausdrücklich die Wahrheit:
„ Qui novit veritatem, novit eam, et qui novit eam, novit
aeternitatem. Caritas novit eam. 0 aeterna veritas et vera
caritas et cara aeternitas ! Tu es deus meus." 9 Diese Stelle
ist für das Verständnis des Meisters Eckhart besonders
wichtig, weil in ihr die Unmittelbarkeit des geistigen Se-
hens der göttlichen Wahrheit betont ist, wie das der Mei-
ster Eckhart auf seine Weise auch tut.
So zeigt sich denn in der Wahrheit selbst die alles um-
fassende und versammelnde, alles eröffnende und lich-
tende, alles Zeitliche zeitlos umfangende, unendliche und
unbedingte Mächtigkeit, die Mächtigkeit Gottes.
55
daß der abgeschiedene Mensch, der alles sein läßt und al-
les in seiner Wahrheit annimmt, auf eine ausgezeichnete
Weise eins wird mit der Wahrheit selbst, die Gott ist.
56
§ 4. Gott als die Gutheit
1
Vgl. Th. v. Aquin, De ver. I, 1 c p.
2
LW IV, 322, 12f.: ,,Das Seiende, das Eine, das Gute, sind allum-
fassende oder transzendente Bestimmungen."
3
Vgl. H. Hof, Scintilla animae, 211. ,
4
Eine genauere Darlegung der Eckhartsehen Transzendentalien-
Philosophie findet man bei H. Fischer, Meister Eckhart, 83 - 79.
Noch ausführlicher findet sich eine Diskussion der Eckhartsehen
Transzendentalienlehre bei K. Albert, Meister Eckharts These vom
Sein.
57
durch die Abgeschiedenheit eröffnet wird. Wir versuchen,
dies zunächst noch für die Gutheit darzustellen.
Wenn das Ewige im Sinne der ersten und ewigen Wahr-
heit durch die Abgeschiedenheit berührt werden kann,
dann muß angenommen werden, daß es in analogem Sinn
auch als bonitas berührt werden kann und daß also die
Gutheit gleichfalls ein Name für Gott sein kann, so wie
er in der Abgeschiedenheit berührt wird.
58
Und was speziell die Gutheit angeht, so wird z.B. in
der Deutschen Predigt Nr. 27 gesagt: ,,diu güete ist got." 7
Ähnlich heißt es im Kommentar zum Buch der Weisheit:
„Caritas, amor boni absolute, deus est." 8
59
Dieses Gut-sein-Sollen oder dieses Bejaht-werden-Sol-
len betrifft durchaus das Sein dessen, was ist. Eben indem
es ist, wie es ist, sollte es gut sein. Das Sein des Seienden
selber ist in diesem Sinn die Betroffenheit von Gutsein
mindestens in der Form des Sollens. Darum ist das Seiende
auch nichtig, solange es dieses Maß und dieses Sollen nicht
erfüllen kann. Darum spricht unsere Sprache dann vom
Seienden als einem Nichtigen.
Und eben dies ist das Gute auch am Schlechten, daß
es unweigerlich unter der Macht und unter dem Maß des
Gut-sein-Sollens steht und daß man also niemals sagen
kann, es sei gleichgültig, ob es gut oder schlecht sei.
Das Gutsein betrifft in dieser Form also das Sein des
Seienden gerade auch dann, wenn es nicht oder nicht ganz
gut ist.
Ja man kann noch mehr sagen. Man kann sagen: Das
Sein des Seienden könnte gar nicht sein, wenn es nicht
auch in seinem Bestand und nicht nur in seinem es betref-
fenden Sollen wenigstens etwas von Gutsein hätte oder
etwas von Bejaht-werden-Können. Die schlechten Zu-
stände in der Gesellschaft können nicht sein und nicht be-
stehen, wenn sie nicht als gute bejaht würden von einem
menschlichen kollektiven Willen, der freilich dann seiner-
seits nicht gut ist. Der Bestand ist nur oder besteht nur
durch einen ihn bejahenden Willen, und ohne diesen
würde er nicht mehr bestehen können und zerfallen. In
diesem Sinne gehört auch zum Bestand des Seienden, daß
es bejaht wird als das Gute, wenn auch unter Umständen
f äl schl iehe rw eise.
Weil dies auch fälschlicherweise möglich ist, so kann
man wahrnehmen, daß auch ein solcher bejahender Wille
selber wieder ebenso wie das bejahte Seiende unter einem
höheren Sollen steht. Der Wille sollte gut sein, und also
nicht so, wie er vielleicht in Wirklichkeit ist, nämlich viel-
60
leicht schlecht, herrschsüchtig, machtsüchtig usw. Aber es
bleibt auch in diesem Zusammenhang, daß auch das
Schlechte nur ist oder besteht, indem es, wenn auch
fälschlicherweise, als das Gute bejaht wird.
In diesem Sinne kann und muß man auch heute den
alten Satz wieder anerkennen: Das Sein des Seienden ist
das Gutsein, ,,ens et bonum convertuntur". Es steht zwar,
soweit wir sehen können, immer in der Differenz zwischen
dem, was es ist, und dem, was es sein sollte. Aber diese
Differenz liegt nicht außerhalb des Seins des Seienden, sie
ist vielmehr das Sein des Seienden selbst.
Aber aus diesem merkwürdigen Umstand der Differenz
folgt dann: Kein Sein des Seienden, soweit wir wahrneh-
men können, sei es nun ein Ding oder ein gesellschaftlicher
Zustand, ist ganz und nur gut. Es ist zwar gut, aber es
steht zugleich in der Differenz zu seinem Gutsein. Das
heißt aber jetzt: Es gibt kein Sein des Seienden, das nicht
von der Nichtigkeit berüht oder gemindert wäre. Es gibt
im Seienden der Welt nicht das reine Sein, das gar keine
Nichtigkeit an sich hätte, und also nicht die reine Gutheit,
die nicht etwas von Nicht-Gutem an sich hätte. Es gibt
nicht das Gutsein ohne diese Differenz. Darum ist die be-
stimmte Negation der Kritischen Theorie immer möglich.
Aber gleichzeitig zeigt sich, daß wir immer auf der Su-
che nach dem reinen Sein, und damit nach der reinen Gut-
heit, sind, ohne dieses und diese freilich jemals in dieser
Welt finden zu können. Das Sein alles Seienden, und damit
die Gutheit alles Guten, ist uns etwas wie ein Zeiger, der
über das Sein alles Seienden hinauszeigt in eine Heimat
von Sein und Gutsein, die wir noch nie gefunden haben.
Oder zeigt sich nicht auch dieses Ziel, diese Heimat,
dieses reine und erfüllte Sein und Gutsein verstohlen darin
an?
61
3. Die absolute Gutheit
62
Weise aus, und das ist dann das jeweils relativ geltende
Gute. Diese Relativität, diese Bedingtheit des geltenden
Guten ist jeweils von mannigfaltigen Umständen teils per-
sönlicher, teils gesellschaftlicher und geschichtlicher Art.
Indessen kann niemand im Ernst daran zweifeln, daß alle
diese Entwürfe und Verfassungen selber immer wieder
unter dem Gericht des unbedingten Gutseins stehen, das
in seiner Unbedingtheit nicht mit sich handeln läßt. Sonst
wäre es nicht verständlich, daß alle diese Entwürfe immer
wieder kritisiert werden können und müssen und daß das
reine Gutsein nie ganz in den Griff des Menschen kommt,
obwohl es sich immer wieder als Forderung und Heraus-
forderung bemerkbar macht.
Das Gutsein zeigt sich also in diesem Sinne als unend-
lich und unbedingt, und da es allem Seienden und auch
allen seienden Entwürfen vorausgeht und sie überwaltet,
zeigt es darin, daß es nur in sich selbst gründet. Es ist in
sich selbst gründende unendliche und unbedingte Mäch-
tigkeit des reinen, in keiner Differenz stehenden Gutseins.
Dies darf man Gott nennen.
In diesem Sinne zeigt sich also in der Tat gerade in jener
Differenz und Negativität, die wir an allem bloß seienden
Guten wahrnahmen, Gott als die unbedingte Gutheit an.
Darum konnte der Meister Eckhart mit Recht sagen:
„diu güete ist got." 9 Er ist als die reine Gutheit das in allen
Bejahungen implizit Bejahte und in allen Verneinungen
implizit Gesuchte.
Das hier zutage tretende Verhältnis des begrenzten
Gutseienden zum reinen und unbegrenzten Gutsein wird
von Meister Eckhart mehrmals durch ein Augustinuszitat
zum Ausdruck gebracht, das er z.B. im Buch der göttli-
chen Tröstung so wiedergibt: ,,Sant Augustinus sprichet:
9
DW II, 43,2. ,,Die Gutheit ist Gott."
63
hebe uf diz und daz guet, sö blibet h1ter güete in ir selber
swebende in siner blözen wite: daz ist got." 10 Die Stelle
wird auch in den lateinischen Werken des Meisters ähn-
lich zitiert 11 • Dies und das Gute: Das sind diesem Zitat
gemäß die in ihrer Zerstreuung erscheinenden·Güter des
Seienden dieser Welt, und man kann darunter auch fassen
die zerstreuten und unterschiedlichen Meinungen und
Haltungen der Menschen. Diese sollen also aufgehoben
werden. Dies darf so verstanden werden: Deren Zer-
streutheit und Begrenztheit sollen fallengelassen werden.
Und es soll zugleich emporgehoben werden, was gut daran
ist, zu dem Prinzip des reinen Gutseins, das sich darin in
Abschattung bemerkbar macht, das aber, alles umfassend,
doch frei ist von aller Zerstreuung und Begrenzung und
von aller Bedingtheit durch endliche Umstände. Es ist lau-
tere Gutheit, also befreit von aller Vermischung mit Ne-
gativem und Nichtigem. Und es schwebt in ihm selber,
es ist nicht im Denken der Menschen gegründet und nicht
im Seienden der Welt, obwohl es sich im einen wie im an-
deren bemerkbar macht und das eine wie das andere be-
ansprucht. Es ist schwebend in ihm selber, in seiner bloßen
Weite. Die bloße Weite ist das, an das kein Gedanke her-
anreicht und das weiter ist als alle Gedanken. Das ist Gott.
10
DW V, 25, 1 ff: ,,Hebe auf dies und das Gute, so bleibt lautere
Güte, schwebend in ihr selber, in seiner bloßen Weite: Das ist Gott."
Vgl. Augustinus, De Trinitate L 8, C 3, N 4.
11 Vgl. DW V. 78, Anm. 70.
64
4. Der metaphysische Begriff der Gutheit
und die Unmittelbarkeit der Begegnung
65
Es ist freilich keine Bejahung als Behauptung. Denn in
der Behauptung steckte ja wieder Eigenschaft. Es ist damit
auch kein Gutsein, in dem sich das Subjekt bloß durch
seine Behauptung bestätigen wollte. Die Abgeschiedenheit
ist vielmehr die reine und selbstlose Offenheit, die alles
allem gönnt. Darin ist sie ein Element von reiner und
selbstloser Liebe. Ihr ist als solcher das Gutsein selbst ge-
genwärtig, das in allem leuchtet und das zugleich alles un-
ausdenkbar übertrifft, die lautere Gutheit also, die in sich
selber schwebt in ihrer bloßen, das heißt unbedeckten und
unverstellten Weite.
Freilich wird man dann die Frage stellen, wie der sol-
chermaßen Abgeschiedene sich dann verhalte zu dem
Schlechten und Bösen in der Welt. Und es wird sich viel-
leicht der Verdacht erheben, die Abgeschiedenheit laufe
dermaßen auf ein fragwürdiges Sich-alles-Gut-sein-Las-
sen hinaus, das im Widerspruch stünde zu den realen
Widersprüchen und Schlechtigkeiten dieser Welt.
Doch dazu ist zu sagen: Abgeschiedenheit ist offen für
die Wahrheit selber, und darin für die Wahrheit alles
Wahren. Und damit auch dafür, daß das Böse in Wahrheit
böse ist. Sie vertuscht also nichts.
Aber sie gibt sich hin an das Einfache und Reine der
Gutheit selbst, und damit an das, was sogar das Schlechte
und Böse zuletzt und im ganzen ins Gute aufheben kann,
in die Gerechtigkeit und in die immer mögliche Versöh-
nung. Die Abgeschiedenheit läßt in diesem besonderen
Sinn das Ganze gut sein, ohne sich zu täuschen über das
Schlechte, Böse und Tragische, das im einzelnen überall
darin ist. So lebt in der Stille der Abgeschiedenheit ein ver-
schwiegener Glaube, daß trotz allem Schlechten das
Ganze gut sei, weil das, was alles umfängt, gut ist.
Darum ist die Abgeschiedenheit auch offen und bereit
für das Gute im Bösen, dem Rechnung tragend, daß nichts
66
so böse sein kann, daß nicht doch ein freilich verleugneter
Same des Guten in ihm lebte 12 •
Könnte aus einer solchen Verfassung nicht eine neue
f rcie furchtlose und stille Bereitschaft erwachsen, das Böse
aus seiner Verstrickung zu befreien? Wäre eine solche freie
und gelöste Bereitschaft nicht die echte Form der Haltung,
die sich alles gut sein läßt? Sie wäre dann nichts weniger
als eine unverantwortbare Gleichgültigkeit allem gegen-
über.
So darf es dabei bleiben: Die Abgeschiedenheit führt
in die freie Weite der Begegnung nicht nur mit der ersten
Wahrheit alles Wahren, sondern auch mit der freien Weite
des reinen in sich selbst schwebenden göttlichen Gutseins,
von dem her alles gut ist, insofern es vom Guten getroffen
ist.
67
eine Station auf einem Weg, der dann weiterführt und in
dessen Verlauf alle metaphysischen Begriffe wieder auf ge-
hoben werden. Auch die Gutheit ist wie die Wahrheit zu-
letzt doch nur ein vorläufiger Begriff von Gott für den
Meister Eckhart.
Darin liegt die innere Spannung in den Gedanken des
Meisters Eckhart über Gott und die Welt. Was zuerst er-
scheint und in allem Ernst erörtert wird, wird später doch
auch wieder auf gehoben. Auf gehoben werden zuletzt und
im ganzen die metaphysischen Formen des Denkens.
Dieser dramatische Prozeßgeht in Stufen vor sich. Wir
wollen eine wichtige Stufe im nächsten Abschnitt bespre-
chen.
68
er jenes Sein, das alles nur Faktische und alles faktisch
Mügliche umfaßt und übersteigt und rein aus sich selber
n·ines Sein ist. Die Überlegungen, die wir über die Wahr-
heit und über die Gutheit angestellt haben, haben dies
m itsehen lassen.
Eckhart hat die These „esse est deus" ausführlich be-
handelt und begründet, vor allem in dem Prolog zum
( )pus tripartitum, LW I, 3 8 ff, und ähnlich in dem Prolo-
gus in opus propositionum, LW I, 166 ff. Er hat in beiden
Abhandlungen die übrigen klassischen Transzendenta-
licn, vor allem unum, verum bonum mitbehandelt 1 •
Bisweilen aber geht bei ihm der Begriff des unum un-
mittelbar in den Begriff des esse ein. Dann haben wir drei
oberste Begriffe, die alles Seiende kennzeichnen und die,
in ihrer vollkommenen Reinheit betrachtet, zu Namen
c;ottes werden können.
Darum kann das Wort Sein oder esse schließlich in glei-
cher Weise eine Gottesname werden wie die Worte veritas
Wahrheit und bonitas Gutheit. Und es entsteht unter die-
sen drei Begriffen sogar eine bestimmte Ordnung. Das
Sein gehört an die erste Stelle, die Wahrheit an die zweite,
die beide verbindende Gutheit an die dritte. Dieser so ge-
artete Ternar wird mit dem theologischen Gedanken der
Trinität zusammen gesehen und als die begriffliche Expli-
kation dieser theologischen Ide.e betrachtet.
Die Folge davon ist, daß die entsprechenden drei tran-
szendentalen Bestimmungen bei der Kreatur, also beim
Seienden,auch als ein Widerschein der göttlichen Trinität
gesehen werden können. Eine besonders deutliche Stelle
zu diesem Zusammenhang lesen wir im Johannes-Korn-
69
mentar Nr. 360. ,,Propter quod in creaturis ens respon-
dens patri, verum respondens filio, bonum respondens
appropriate spiritui sancto convertuntur et unum sunt,
distincta sola ratione." 2
In der Tat kann man von allem Seienden sagen, daß
es sei, daß es wahr sei und daß es gut sei, jedenfalls in
dem Sinn, den wir erläutert haben. Diese drei Bestimmun-
gen sind so untereinander vertauschbar. Und dieser Ter-
nar von drei Bestimmungen wird also nun zu einem Reflex
der göttlichen Trinität. Er wird ihr zugeordnet und appro-
priiert, wie der Meister vorsichtig und korrekt sagt. Jener
Trinität also, in der die Personen nur durch ihre Relation
zueinander, aber nicht durch ihr Wesen, unterschieden
werden 3 •
Daraus ergibt sich dann die weitere Konsequenz, daß
der Blick auch fallen kann auf die in allen begrifflichen
und theologisch-relationalen Unterscheidungen eine We-
senheit. Dann tritt das Moment des unum wieder hervor,
jedoch ohne die trinitarisch-ternarische Struktur zu stören
oder zu verwirren.
Darum fährt unsere Stelle wie folgt fort: ,,Et hoc fortas-
sis est <ratio>quod li unum, quod similiter cum ente, vero
et bono convertitur, non sie personam aliquam appro-
priate respicit, sed continet unitatem, secundum illud
2 LW III, 305, lff. ,,Deshalb sind das Seiende, das dem Vater ent-
spricht, das Wahre, das dem Sohn entspricht, und das Gute, das dem
Heiligen Geist entsprechend zugeordnet wird, in den Geschöpfen
miteinander vertauschbar und sind eins, nur dem Begriff nach unter-
schieden."
3 Der Gedanke, daß sich in allem Seienden das trinitarische göttliche
70
Hoethii De trinitate: ,Substantia continet unitatem, rela-
t io vero multiplicat trinitatem'." 4
Man erhält auf diese Weise einen Grundbegriff der Ein-
hci t, welche Einheit sich in ein relationales Leben der gött-
1ichen Dreiheit entfaltet und gerade in dieser Entfaltung
~ich als Einheit vollzieht.
Hat dieses komplexe Begriffsgefüge aber noch etwas
mit der Gotteserfahrung in der Abgeschiedenheit zu tun?
Hat man hier nicht vielmehr reine theologisch-metaphy-
sische Spekulation? Es mag so scheinen. Aber wir werden
sehen, wie das Leben und der lebendige Vollzug der Abge-
schiedenheit in diese Begrifflichkeit eindringen und sie zu
einem selbstlebendigen Leben aufschmelzen, das alle Be-
grifflichkeit schließlich hinter sich läßt und das doch nicht
aufhört, sich in ihr zu spiegeln.
Schon bei unseren Überlegungen über die erste göttliche
Wahrheit machten wir eine ähnliche Beobachtung.
Wahrheit, Gutheit und schließlich auch das Sein: Das
sind metaphysische Begriffe. Diese haben ihr Gewicht und
ihre Geltung auch und gerade im Rahmen des Denkens
des Meisters Eckhart.
Aber es ist doch kein Zufall, daß im Rahmen der Be-
sprechung der Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart die
Gutheit zwar vorkommt, aber doch nicht mit besonderer
Betonung. Und daß der Begriff des Seins und der Einheit
in höchst eigentümlicher Bedeutung in diesem Zusam-
menhang vorkommt. Im ganzen ist jedenfalls zu sehen:
Diese metaphysische Begrifflichkeitdes Seins, der Wahr-
4
LW III, 305,4ff. ,,Und das ist vielleicht der Grund dafür, daß der
Ausdruck ,eins', der in gleicher Weise mit ,Sein' ,wahr' ,gut' ver-
tauschbar ist, in dieser Weise der Zueignung sich nicht auf eine ein-
zelne Person bezieht, sondern die Einheit wahrt, nach dem Wort des
Boethius in dem Buch über die Dreifaltigkeit: ,Die Wesenheit wahrt
die Einheit, die Beziehung aber entfaltet die Dreiheit.'"
71
heit und der Gutheit wird zwar in allem Ernst entworfen,
aber im Rahmen der Erörterungen, die sich aus der Abge-
schiedenheit ergeben, doch nur als eine Station auf einem
Weg, der dann weiterführt und in dessen Verlauf alle me-
taphysischen Begriffe auch wieder aufgehoben werden.
Sie sind für den Meister Eckbart notwendige, aber zuletzt
doch auch nur vorläufige Begriffe.
Was zuerst erscheint und mit großem Ernst erörtert
wird, wird später doch auch wieder aufgehoben. Aufge-
hoben werden zuletzt und im ganzen alle metaphysischen
Formen des Denkens. Sie werden aber gleichzeitig auch
bewahrt als der Spiegel ihrer eigenen Aufhebung.
Dieser dramatische Prozeß geht in Stufen vor sich. Wir
wollen eine wichtige Stufe im nächsten Abschnitt bespre-
chen.
Die reine erste ewige Wahrheit und die reine erste ewige
Gutheit sowie schließlich das reine Sein, das scheinen die
obersten Worte zu sein, die man philosophisch gebrau-
chen kann, um Gott zu benennen. Aber der Meister führt
uns doch noch weiter und noch höher hinauf. Wahrheit
und Gutheit und auch Sein sind als oberste Worte auch
Gedanken. Den Zusammenhang der Gedanken und des-
sen, was in ihnen gedacht wird, kann man Metaphysik
nennen, also das System der Gedanken. Der Meister führt
uns schließlich über die Gedanken und über das System
der Gedanken und in diesem Sinne über die Metaphysik
hinaus, obwohl er die höchsten metaphysischen Gedan-
ken zunächst selber entworfen hat.
72
Wahrheit und Gutheit und Sein können, so haben wir
,u sehen versucht, berührt werden in der Abgeschieden-
lll·it. Aber der Meister tut es nur andeutungsweise. Denn
~erade die Abgeschiedenheit soll über die Gedanken dieser
Art und damit über den Bereich der Metaphysik hinaus-
hihren.
Diese Art der Überwindung der Metaphysik wird zu-
n~ichstselber durch Denken von Gedanken eingeleitet und
vollzieht sich dementsprechend in Stufen. Wir suchen
l·inigen dieser einleitenden Wege und Stufen zur Überwin-
dung der Metaphysik nachzudenken.
1
DWI, 361, 6 ff. ,,St. Paulus sagt: ,Ein Gott'. Eines ist etwas Lautere-
rcs als Gutheit und Wahrheit. Gutheit und Wahrheit legen nichts
zu, sie legen wohl in Gedanken zu; wenn es gedacht wird, da legt
es zu. Eins dagegen legt nichts zu, dort wo er ( = Gott) in sich selber
ist, ehe er ausfließt in den Sohn und in den hl. Geist. Darum sprach
er: ,Freund, zieh höher hinauf.' Ein Meister sagt: ,Eins ist ein Vernei-
nen des Verneinens.'"
73
worfen und erläutert wurden, wieder aufgelöst werden 2 •
Was wird uns in diesem Text gesagt? Zuerst: Gutheit und
Wahrheit fügen nichts hinzu. Denn was ist, ist eben, inso-
fern es ist, wahr und gut in dem Sinn, den wir besprochen
haben. Sie fügen also an sich oder von der Sache her nichts
hinzu. Und dies gilt entsprechend auch von der obersten
und reinsten Gutheit und Wahrheit, um die es vor allem
geht. .
Aber in unserem Text wird dazu sofort etwas Weiteres
gesagt. Nämlich, daß diese Bestimmungen doch etwas
hinzufügen, nämlich durch die Form des Gedankens der
Gutheit und der Wahrheit. Und dies wird noch einmal be-
tont: Wenn das Reinste und Höchste durch einen Gedan-
ken bedacht wird, dann fügt der Gedanke etwas hinzu.
Der Gedanke legt die Wahrheit und die Gutheit je eigens
heraus. Der Gedanke als gedachter sondert also das Mo-
ment der Wahrheit und der Gutheit ab und stellt diese ge-
sonderten Momente eigens und für sich vor. In dieser
Vorstellung des Gedankens entstehen dann Beziehungen
der Negation. Das eine Gedachte ist nicht das andere Ge-
dachte, und es ist der Form seines Gedankens nach auch
nicht das, von dem diese Momente gedacht und ausgesagt
werden, nämlich der Gutheit selber. Denn die Momente
werden ja unterschieden und herausgelegt. Analoges
könnte gewiß auch vom Gedanken des Seins gesagt wer-
den, insofern es ein eigener Gedanke ist. Da dieser Ge-
danke aber anfänglicher ist als der der Wahrheit und Gut-
heit, wird er in unserem Zusammenhang nicht genannt.
Es entstehen zusätzlich zu diesen Negationen durch das
Denken solcher Gedanken auch Negationen im Bereiche
74
des Verhältnisses des Denkens zu seinem Gedachten. Frei-
lich werden diese Negationen zumeist nicht eigens be-
dacht. Aber der Gedanke legt als solcher eine Differenz
zwischen dem Denkenden und sein Gedachtes. Er stellt
dieses von sich weg in die Distanz und sieht in solchem
Von-sich-weg-Stellen ab von den Bezügen, die zwischen
hciden walten mögen. Da, an dem einen Ort im Raume
des Gedankens, steht das Gedachte, und da, an einem an-
deren Ort, stehe ich, der Denkende, und diese Distanz ist
zugleich eine Negation. Der eine Ort ist nicht der andere.
Von den Bezügen, die diesen Raum der Negation ausfüllen
könnten, seien es Bezüge der Liebe oder des Hasses, wird
nicht mehr gesprochen.
Der Gedanke stellt das Gedachte so vor sich hin. Er ist
also Vor-stellung. Er stellt es aber eben dadurch auch auf
eine besondere Weise sich zu. Er be-greift es und macht
es sich in solchem Begreifen verfügbar. So wird das Ge-
dachte ob-jectum, und der Denkende wird in der sachli-
chen Distanz zu ihm, es begreifend und über es verfügend,
sub-jectum. Es tritt der Subjekt-Objekt-Gegensatz auf.
Der Meister Eckhart hatte keinen Anlaß, dieses letztere
besonders zu bedenken. Aber wir haben in der heutigen
Zeit um so mehr Anlaß, darüber nachzudenken dort, wo
der Meister Eckhart das Stichwort „Gedanke" nennt und
sich so merkwürdig davon distanziert. Denn wir leben
heute in einer ungeheueren Welt wissenschaftlicher
Objektivität. Und darum haben wir vermutlich so große
Schwierigkeiten,in eine lebendige Beziehungzu dem zu
treten, das nie im angedeuteten Sinn ein Objekt werden
kann: zum lebendigen Gott.
Für den Meister Eckhart sind die Bestimmungen Gut-
heit und Wahrheit aber doch Gedanken von der Art, daß
sie jeweils eine Differenz oder, wie er sagt, ein Zulegen
in den Zusammenhang bringen, und eben dies soll, nach-
75
dem es zuerst aufgestellt wurde, wieder aufgehoben wer-
den. Die gesonderten Bestimmungen Wahrheit und Gut-
heit werden wieder eingeschmolzen. Aber worein werden
sie eingeschmolzen? In das, was nun „Eins" genannt wird.
Mit diesem Wort wird offenbar das bedacht, was rein mit
sich eins ist und worin also keinerlei Sonderungen mehr
sind, keine ablösbaren Bestimmungen. Reinheit des un-
unterschiedenen Lebens, und gerade darum Reinheit des
unendlichen und unbedingten Lebens. Es ist, so wird hier
gedacht, eins mit sich selbst sogar in seinem anderen,
nämlich im Seienden der Welt. Gewiß bleibt da der Unter-
schied vom Seienden dieser Welt her gesehen. Aber das
reine Eine bleibt auch in diesem sich Unterscheiden im
schöpferischen Hervorgehenlassen des Seienden der Welt
rein mit sich eins ohne alle Verwirrung und Spaltung. Da-
von ist später noch besonders zu reden. Aber hier schon
ist klar, daß die Eins hier keine Zahleneinheit meint. Was
es aber meint, kann fast nur negativ ausgesprochen wer-
den: Es ist ohne alle Sonderung, ohne alle Differenz, ohne
alle Negativität.
Darum wird auch an dieser einzigen Stelle in den Deut-
schen Werken die Formel vom „Versagen des Versagens"
oder, wie es im Lateinischen heißt, ,,von der negatio nega-
tionis" gebraucht, und zwar unter Berufung auf einen
Meister. Der Meister ist offenbar Thomas von Aquin 3 • Es
ist in diesem Zusammenhang interessant zu beobachten,
daß Josef Quint zu der Formel eine ganze Reihe von Pa-
rallelstellenaus den lateinischenWerken des Meisters an-
führen kann 4 • Hier ragt ganz offenbar die Spekulation,
die in den lateinischen Werken vor allem ausgesprochen
76
ist, auf eine besonders merkwürdige Weise in die Predigt
herein.
Das Versagen des Versagens ist deswegen eine so tref-
fende Formel, weil wir in unserem Denken von den ge-
trennten und vereinzelten und endlichen und darin nega-
tiven Momenten der Welt herkommen. Deren Schatten
geht mit uns gerade auch dort, wo wir über alles Endliche
und Negative hinauszudenken versuchen. So muß solches
Denken immer wieder das Negative, das sich ständig neu
einstellt, negieren, um das zu berühren, was in keiner
Weise mehr negativ ist, und es muß diese negatio, diese
Negation der Negation, durchführen, weil das, um was
es geht, von sich her alles Negative, alle Spaltung und Son-
derung und Endlichkeit von sich weist. Was in der Nega-
tion der Negation schließlich das Positive bleibt, ist kaum
noch mit sondernden Worten zu sagen und mit sondern-
den Begriffen zu denken. Es trägt in unserem Kontext nur
noch den scheuen Namen „Eins".
Darum lesen wir im Johanneskommentar Nr. 207: ,,Et
propter hoc ipsi (sc. Deo) nulla privatio aut negatio con-
venit, sed propria est sibi, et sibi soli, negatio negationis,
quae est medulla et apex purissimae affirmationis ... " 5
Wenn die Negation der Negation das Mark und der Gipfel
der reinsten Affirmation ist, dann bleibt für diese reinste
Affirmation eigentlich nur nichts zu sagen übrig. Aber an
der Stelle, von der wir ausgingen, wird das scheue und
hohe Wort „Eins" gesagt. In sein Licht hinein sind Wahr-
heit und Gutheit verschwunden. Nicht als ob diese ße„
stimmungen unwahr geworden wären. Aber sie haben
77
nichts Gesondertes mehr zu bedeuten. Und so bleibt nur
das reine Eins übrig.
An der verwandten Stelle in der deutschen Predigt 23 6 ,
die wir oben schon zitiert haben, tritt neben das Eins auf
eine gewisse Weise noch das Sein, das der Meister Eckhart
„Wesen" nennt. Es ist das esse der lateinischen Texte. Wir
beobachten aber in diesem Zusammenhang das Merk-
würdige, daß von der thomasischen Transzendentalien-
lehre in der Weise Gebrauch gemacht wird, daß das esse
und das unum gleichsam hierarchisch abgestuft sind und
tief er und höher angesetzt werden gegenüber dem verum
und dem bonum. Aber in unserem Zusammenhang kann
doch, ähnlich wie von Eins noch die Rede war, auch von
Sein noch die Rede sein. Denn was bleibt in der Negation
der Negation, das darf man auch das reine Sein nennen,
das mit allem Nicht-Sein und mit allem Nichtig-Sein
nichts mehr zu tun hat und darum auch nicht mit aller
Sonderung und Zusammensetzung. Es ist das reine Sein.
Und indem es rein ist, ist es zugleich reine Einheit. So wer-
den beide, Einheit und Sein, zu scheuen und hohen Na-
men, die zunächst allein noch stehenbleiben können.
Hier wird die Metaphysik also insofern aufgehoben, als
der Gedanke der Wahrheit und der Gutheit als ein jeweils
sondernder und gesonderter Gedanke aufgegeben wird,
damit aber auch jene Art von Objektivität, die mit solchen
Gedanken notwendig verbunden ist. Diese wird aufgege-
ben freilich nicht zugunsten einer unverbindlichen Sub-
jektivität, vielmehr zugunsten einer gesteigerten Strenge
des Gedankens.
Freilich bleibt noch ein Rest des Gedankens zurück,
und damit ein Rest von Metaphysik. Es bleiben die Ge-
danken der Einheit und des Seins zurück, und diese Ge-
6 Vgl. DW I, 400,2ff.
78
danken werden sogar theoretisch expliziert durch die
~roße Formel der Negation der Negation. Damit ist wie
111 einem scheuen Rest noch etwas im Denken hin- und
Dieser Weg und die Tendenz des Denkens, auf ihm zuletzt
bis ans Ende zu gehen, taucht auch sonst bei dem Meister
auf. Sie ist meines Erachtens in den Pariser Quaestionen
deutlich zu bemerken. Darum wollen wir noch kurz auf
79
diese eingehen 7. Im dritten Argument der Pariser Quae-
stionen entwickelt Eckhart den Gedanken, daß in Gott
das Erkennen die Grundlage des Seins sei und nicht umge-
kehrt: ,,Tertio ostendo quod non ita videtur mihi modo,
ut quia sit, ideo intelligat, sed quia intelligit, ideo est, ita
quod deus est intellectus et intelligere et est ipsum intelli-
gere fundamentum ipsius esse." 8 Was ist hier gesagt? Der
Gedanke stößt sich vom Sein als der primären Bestim-
mung Gottes ab. Sein aber ist in diesem Falle prägnant
als das Sein des Seienden gedacht, wie Joachim Kopper
mit Recht bemerkt hat 9. Daß es sich um das Sein des Sei-
enden handelt, geht auch aus dem kennzeichnenden Zitat
aus dem Liber de causis hervor, das hier auftaucht: ,,prima
rerum creatarum est esse." 10
Was ist aber das Sein des Seienden? Es ist das Sein des
Faktischen und so Faktizität. Es findet sich im Sein des
Seienden de facto vor, und diese Vorfindlichkeit geht dem
seienden Seinsvollzug voraus und gibt ihm den Spielraum
80
seiner Möglichkeiten vor. Wir können nichts dafür, daß
wir als Menschen da sind, wir finden uns vor, und auf-
grund dieser Vorfindlichkeit oder Faktizität können wir
uns dann entfalten. So aber zeigt das Sein des Seienden
diese zwei Seiten: die Vorfindlichkeit oder Faktizität ei-
nerseits und aufgrund dieser dann den Spielraum des
Selbstvollzuges. Der Satz „Ich bin" heißt also dieses dop-
pelte in einem: Ich bin schon de facto da, und ich bin,
indem ich mich mir voraus entwerfe und vollziehe und
so durch mich lebe. Weil unser Selbstvollzug diesen Spiel-
raum der Möglichkeit vorfindet als einen begrenzten und
hestimmten, kann er dann auch bestimmt werden im Ge-
danken, und auch dieses Bestimmt-werden-Können ge-
hört schließlich als drittes Moment zum Sein des Seienden.
Ein anderer kann zu uns sagen: Du bist ein Mensch, und
er bestimmt uns dadurch. Und darin liegt zugleich der An-
fang möglicher Metaphysik in dem Sinn, den wir vorhin
erörtert haben.
Auch das unlebendige Seiende um uns herum denken
wir uns in diesem Modell. Es ist zuerst de facto da, seinem
eigenen Vollzug voraus, und es ist dann es selbst, sich
selbst gleichsam vollbringend und ereignend, und es ist
darum bestimmt und bestimmbar als das, was es ist, als
das Vor-liegende oder Vor-handene. Es ist als das in die-
sem Sinne Seiende möglicher Gegenstand des bestimmen-
den Denkens und schließlich der Metaphysik.
Diese Verhältnisse mit dem Sein des Seienden deuten
sich sprachlich dadurch an, daß wir vom Seindes Seienden
sprechen und in solcher Sprache das Sein zum Seienden
hinzufügen als ihm zu-kommend. Die Sprache spricht so
das Bewußtsein einer Differenz aus im Sein des Seienden.
In dieser Differenz gründen alle angedeuteten Momente
hinsichtlich des Seins des Seienden.
Weil Sein des Seienden so verstanden werden muß, setzt
81
in unserem Text eine Bewegung ein, die den ganzen Hori-
zont dieses Seins des Seienden, und damit der Bestimmung
des Bestimmbaren, zu überwinden sucht. Dies wird hier
durchgeführt mit Hilfe des Begriffes intelligere. Wie ist in-
telligere hier gedacht? Als ein Vollzug oder ein Geschehen
oder ein Leben, aber als ein Vollzug und ein Geschehen,
das völlig frei ist vom Sein des Seienden und von der Be-
stimmung des Bestimmbaren. Als ein lichtendes Gesche-
hen, das überall mit sich gleich und mit sich eins ist und
das keine undurchdringbare Faktizität in sich vorfindet,
der reine Abgrund des lichtenden Lebens, dem nichts ent-
gegensteht und der nichts außer sich hat und der also auch
im möglichen anderen rein mit sich eins ist, der Abgrund
eines lichtenden Geschehens, das keine Bestimmung hat.
Denn jede Bestimmung wäre Grenze und Negativität oder
Trennung. Also kann, was hier durch das Wort intelligere
angezielt wird, auch nicht mehr in einem bestimmenden
und behauptenden Gedanken gedacht werden.
Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft im Rahmen
seiner Kritik der Gottesbeweise den als seiend angesetzten
Gott sich selber fragen lassen: Aber woher bin ich denn?
Und er hat hinzugefügt: ,,Hier sinkt alles unter uns, und
die größte Vollkommenheit wie die kleinste schwebt ohne
Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es nichts
kostet, die eine wie die andere ohne die mindeste Hinder-
nis verschwinden zu lassen." 11 Diese Schwierigkeit, die
Kant untersucht, kommt offensichtlich daher, daß hier
Gott als ein seiendes Wesen angesetzt ist und es daher mit
seiner Faktizität zu tun bekommt. In unserem Eckhart-
Text hingegen wird gerade versucht, über diese Faktizität
des Seins des Seienden hinaus zu denken, und deswegen
wird hier der Seinsbegriff entweder verlassen oder doch
82
.,ls sekundär gekennzeichnet gegenüber dem Begriff des
rl'i ncn intelligere.
Es ist von hohem Interesse, daß der Meister Eckhart
111diesem Zusammenhang Aristoteles zitiert: ,,Sicut enim
dicit Aristoteles quod oportet visum esse abscolorem, ut
ornnem colorem videat, et intellectum non esse formarum
11aturalium, ut omnes intelligat, sie etiam ego <nego>ipsi
dco ipsum esse et talia, ut sit causa omnis esse et omnia
prachabeat." 12 Wir kennen diesen Gedanken schon von
dl'r Besprechung der Abgeschiedenheit her. Der Gesichts-
sinn muß an sich selber ganz frei sein von Farben, um offen
1.u sein für alle Farben, und der Geist muß ganz frei sein
von allen Formen und Bestimmungen, und in diesem Sinne
von allem Sein des Seienden, um für alles offen zu sein.
Die Negationen, die hier auftauchen - keine Farbe, keine
Form - tendieren offensichtlich zu einer reinen Negativi-
tiit als reiner Negation der Negation, einer Negativität,
in der alle Bestimmungen und Festlegungen vergehen im
unbegreiflichen Abgrund des lichtenden Selbstvollzuges,
der hier intelligere genannt wird.
Ich frage mich daher, ob hier wirklich der Anfang der
neuzeitlichen Subjektivität liegt, wie Walter Schulz in sei-
nem wichtigen Buch zu denken vorgeschlagen hat 13 • Denn
zu dieser Subjektivität im neuzeitlichen Sinn gehört gerade
11
LW V, 47, 15 ff. ,,Wie Aristoteles sagt: Der Gesichtssinn muß
ohne Farbe sein, damit er alle Farbe sähe; und das Denkvermögen
muß ohne alle natürlichen Formen sein, damit es alle denken könne,
und so bestreite ich auch Gottes selber das Sein und ähnliches, damit
l'r sein könne die Ursache alles Seins und alles voraus habe."
1.1 W. Schulz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik (Pfullingen
1957). Vgl. dazu: K. Flasch,Zum Ursprung der neuzeitlichen Philo-
sophie im späten Mittelalter; Neue Texte und Perspektiven, in: Phi-
losophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 85. Jg. (1978) 1-18.
Flasch zeigt, daß in diese Linie vor allem noch D. v. Freiberg einzu-
reihen ist.
83
das Sichvorfinden als Sub-jektivität und das Sichgegen-
überstellen des anderen als des Objektes. Es scheint mir,
daß wir von alledem auch beim Meister Eckhart der Pari-
ser Quaestionen sehr weit entfernt sind. Freilich mag unter
gewissen geschichtlichen Bedingungen, die hier jedoch of-
fenbar noch nicht vorliegen, aus dem reinen intelligere
sich so etwas wie Subjektivität entfalten können.
Wohl aber sind wir hier wiederum auf einem Weg zur
Überwindung der Metaphysik als eines Systems von
objektiven Gedanken. Diese zergehen nämlich in dem hier
vorgeschlagenen Gedanken im reinen Licht, dem der
Mensch im Schweigen der selbstlosen Abgeschiedenheit
begegnen kann. Freilich wird auch dieser Versuch zur
Überwindung der Metaphysik noch mit Mitteln der Me-
taphysik durchgeführt, nämlich mit Hilfe des Begriffes in-
telligere. Aber gerade mit diesem Begriff geht das Denken
wieder an die äußerste Grenze des Denkbaren und des Be-
greifbaren. Der Grundimpuls des Meisters ist schon am
Werk.
Und es bleibt bemerkenswert, daß dieser Grundimpuls
zur Überwindung der Metaphysik als des vorstellenden
Denkens von der Metaphysik selber her sich nachdrück-
lich im Denken des Meisters bemerkbar macht. Er bleibt
der Grundimpuls des ganzen Eckhartsehen Denkens. Der
Gedanke ist so streng gedacht, daß er über den Gedanken
als Gedanken schließlich hinausdrängt.
84
\ 7. Der Durchbruch:
Gott als das Nichts der Abgeschiedenheit
.1b,er guot ist, si ennimet niht got, als er diu wärheit ist:
,i gründet und suochet vort und nimet got in siner einunge
und in siner einoede; si nimet got in siner wüestunge und
111 sinem eigenen grunde." 2
1
DW I, 122,6H. ,,Das Erkennen bricht durch di~ Wahrheit und
<~utheit hindurch und wirft sich auf das reine Sein und erfaßt Gott
hlof~, wie er ohne Namen ist."
1 DW I, 171, 12ff. ,,Ich habe von einer Kraft in der Seele gespro-
l·hen; in ihrem ersten Ausbruche erfaßt sie Gott nicht, sofern er gut
1,t, sie erfaßt Gott auch nicht, sofern er die Wahrheit ist; sie dringt
85
Auch hier haben wir den Durchbruch durch Wahrheit
und Gutheit, und einen Augenblick taucht noch einmal
das Wort Einung oder Einheit auf. Aber es löst sich sofort
als ein bestimmtes Wort auch wieder auf zugunsten der
Bildworte von der Einöde und von der Wüste. Einöde und
Wüste sind Gegenden, in denen nichts zu sehen ist. Keine
Bestimmung, kein Begriff, kein Name. Unendliche Weite,
nichts. Dieses Nichts ist aber zu sehen, das heißt zu erfah-
ren als die reine und unermeßliche Weite. In diesem Zu-
sammenhang taucht auch das Wort Finsternis auf 3 • Auch
die Finsternis ist eine Ortschaft, in der nichts zu sehen ist.
Wenn alle Begriffe, Gedanken und Formen verlassen
werden, bleibt schließlich dieses Nichts übrig. Und in der
Tat fällt dann auch dieses Wort. Es ist das Entscheidende.
So z.B. in der Predigt Nr. 23. Diese Stelle ist besonders
interessant, weil sie vom Begriff Wahrheit ausgeht und
diesen Begriff als Namen für Gott zuerst bejaht und dann
mit Lebhaftigkeit verneint: ,,Ist wesen wärheit? Der des
manigen meister vrägete, er spraeche: 'Jä!' Der mich sel-
ber gevräget haete, ich haete gesprochen: 'Jä!' Aber nfi
spriche ich: 'Nein!' wan wärheit ist auch zuogeleget." 4
Es kann also nach dieser Stelle unter einem Gesichtspunkt
von Gott gesagt werden: Er ist Sein und Wahrheit. Der
Gesichtspunkt ist der der begrifflich sich fassenden Meta-
physik. Sie wird als Möglichkeit aufrechterhalten. Aber
sie wird im selben Moment auch überschritten. Und zwar
bis auf den Grund und sucht weiter und erfaßt Gott in seiner Einheit
und in seiner Einöde; sie erfaßt Gott in seiner Wüste und in seinem
eigenen Grund."
3 Vgl. Predigt 22 (DW I, 389, 7).
86
aus Gründen, die in dieser Metaphysik selber liegen. Im
Durchbruch dieses Überschritts ergibt sich eine neue, um-
gekehrte Perspektive. Auch Wahrheit ist hinzugelegt. Sie
ist also sekundär. So kann und muß ihr Begriff schließlich
überschritten und durch ihn durchgebrochen werden.
Wenige Zeilen später heißt es darum in dem Text unserer
Predigt: ,,Und enist er noch güete noch wesen noch war-
heit noch ein, waz ist er denne? Er ist nihtes niht, er enist
weder diz noch daz." 5 In diesem Satz werden nicht nur
die Begriffe Wahrheit und Gutheit weggeschoben, son-
dern auch die letzten der Transzendentalien, die noch eine
Zeitlang stehengeblieben waren als letzte Zeichen auf dem
Weg über alle Begriffe hinaus: Sein und Eins, und es bleibt
nur übrig: nichtes Nicht. Die reine Negativität.
Ähnlich heißt es in der Predigt Nr. 6, und zwar im aus-
drücklichen Bezug auf die Abgeschiedenheit: ,,Die niht
glich sint, die sint aleine gote glich. Götlich wesen enist
niht glich, in im enist noch bilde noch forme." 6
Hier werden alle Begriffe ganz verlassen, auch die aller-
letzten, und es bleibt nur das Nichts zurück.
Hier wird nicht mehr „etwas" gedacht. Hier versinkt
der Mensch, der ganz abgeschieden geworden ist und der
in diesem Sinne nichts geworden ist, nichts denken, nichts
wollen, nichts haben, der reine Stille und Leere und Of-
fenheit ist: er versinkt in die Weite und Stille des Nichts,
die von keinem Etwas mehr getrübt ist. Hier ist die Meta-
physik als ein Gebäude von Gedanken ganz verlassen.
5 DW I, 402, 1 ff. ,,Wenn er nun weder Güte noch Sein noch Wahr-
heit noch Eins ist, was ist er dann? Er ist gar nichts, er ist weder
dies noch das."
6 DW I, 107, 5. ,,Die nichts gleich sind, die allein sind Gott gleich.
Göttliches Wesen ist nicht gleich, in ihm gibt es weder Bild noch
Form."
87
Wir müssen aber in diesem Zusammenhang darauf
achten, daß dieses Nichts zu erfahren durchaus eine Er-
fahrung ist und vielleicht sogar die äußerste und höchste,
die der Mensch zu machen vermag. Nur ein Sehender
kann die Finsternis sehen, das Nichts des Sehens. Und nur
ein Erfahrender kann das Nichts erfahren, nur ein Abge-
schiedener. Es zeigt sich selbst. Es ist das reine Phänomen
für den Menschen, der in der großen Epoche der Abge-
schiedenheit lebt. Nichts wird mehr darein geredet dem,
was sich selber zeigt, alle menschlichen Behauptungen, ja
sogar alle menschlichen Gedanken sind ganz versunken.
Es ist nur noch die reine Weite da, die ungeheuere Stille,
Nichts.
Auch der Name „Gott" ist verschwunden und versun-
ken. Es bedarf keines Namens mehr vor der leisen und
übermächtigen reinen Gegenwart. Und doch ist der Abge-
schiedene dessen gewiß, daß er vor dem steht, der dort,
wo noch Namen benötigt werden, Gott genannt wird.
Und in der berühmten Predigt über den Text„Beati pau-
peres spiritu" lesen wir: ,,Darum bitten wir Gott, daß wir
»Gottes« ledig werden." 7 Nämlich Gottes als eines Ge-
dankens, eines Begriffes, eines Wortes, eines Namens. Vor
der reinen Gegenwart versinkt alles das, und es bedarf
dessen nicht mehr. Und diese reine Gegenwart wird als
viel kostbarer erfahren als alle Worte, auch kostbarer, als
was das Wort Gott je vermitteln kann 8 •
Diese Erfahrung ist in ihrer Stille so stark, daß der Mei-
ster Eckhart vor ihr die alten metaphysischen Bestimmun-
gen bisweilen mit Heftigkeit von sich tut. Die berühmteste
7
DPT, 305.
8 Es gibt bei Meister Eckhart auch noch eine andere Bedeutung des
Gedankens, Gottes durch Gott ledig zu werden. Siehe dazu unten
S. 235ff.
88
Stelle dafür findet sich in der Predigt Nr. 9: ,,Got enist
guot noch bezzer noch allerbeste. Wer dä spraeche, daz
got guot waere, der taete im als unrehte, als ob er die sun-
nen swarz hieze." 9 Diese Zeile spricht von der Stärke der
Erfahrung des Nichts her als des Abgrundes der Gottheit.
Nur von daher ist sie zu verstehen. Sie ist überschwenglich
und doch genau. überschwenglich, weil in dieser Zeile al-
les, was Menschen sonst als gut und göttlich halten, weg-
geworfen wird vor der einzigen Erfahrung des dunklen
Lichtes des Nichts. Und sie ist genau, weil der Meister ge-
nau sieht, daß das, was Menschen gut nennen oder besser
oder das Beste, daß das alles sehr begrenzte und relative
Begriffe sind. Auch der Superlativ ist ja nur ein relativer
Superlativ. Aber alles Relative muß versagen und verge-
hen vor jener Erfahrung, die das Unbegrenzte und
schlechthin übertreffende als das Nichts berührt. Ganz
1
9
DW I, 148, 5 ff. ,,Gott ist nicht gut noch besser noch allerbest.
Wer das sagte ,Gott ist gut', der täte ihm ebenso unrecht, wie wenn
er die Sonne schwarz nennen würde."
10
Man findet die Belegstellen dazu in DW I, 148 Anm. 3.
89
2. Verschwinden auch der Subjektivität
90
gleichfalls schon genannten Predigt über den Text Beati
pauperes spiritu. Wenn dort gesagt wird, das sei ein armer
Mensch, ,,der nichts will und nichts weiß und nichts
hat" 13 , so heißt ja auch dies, der Mensch solle nicht auf
seiner Willentlichkeit und dadurch auf sich selbst beste-
hen. Und im Sinne dieser Überwindung der Subjektivität
als Willentlichkeit wird gesagt: ,,Solange ihr den Willen
habt, den Willen Gottes zu erfüllen ... , solange seid ihr
nicht richtig arm." 14 Und das Analoge gilt von der im
Wissen sich vollziehenden Selbstversicherung und voll-
ends von dem Haben. Denn solange der Mensch noch sich
selbst hat und so an sich selbst festhält, solange mag er
wohl, wie unser Text sagt, so etwas wie eine Stätte für
das Wirken Gottes sein 15 • Aber als Stätte ist da noch et-
was, was Gott gegenübersteht. Und eben dies soll über-
wunden werden. Die Subjektivität muß ganz verschwin-
den, zusammen mit dem Verschwinden der
16
Objektivität • Beides ist zumal verschwunden zugunsten
reiner Gegenwart, einer Gegenwart, die nicht mehr den
Unterschied enthält zwischen dem Gegenwartenden und
dem, dem es gegenwartet.
13 14 DPT, 304.
DPT, 302. 15 Vgl. a. a. 0. 308.
16
Im Blick darauf bedarf auch die Bemerkung in dem „Feldwegge-
spräch" bei „Zur Erörterung der Gelassenheit" von Martin Heideg-
ger einer Korrektur. Denn dort wird davon gesprochen „daß auch
die Gelassenheit noch innerhalb des Willensbereiches gedacht wer-
den kann, wie dies bei älteren Meistern des Denkens, z.B. dem Mei-
ster Eckhart geschieht" (M. Heidegger, Gelassenheit [Pfullingen
1959] 35/36). Tatsächlich bewegt sich die Erörterung der Gelassen-
heit oder der Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart an den
verschiedensten Stellen ausdrücklich aus dem Bereich des Willens
hinaus - im Zusammenhang bei Heidegger kann man auf ein ande-
res Wort von ihm hinweisen aus dem „Gespräch von der Sprache",
in: Unterwegs zur Sprache (Pfullingen 1959) 100.
91
Vermutlich liegt dieselbe Weise der Überwindung der
Subjekt-Objekt-Struktur auch dem merkwürdigen Satz
aus der Predigt 22 zugrunde, in dem von dem letzten Ende
der Versenkung in die Gottheit die Rede ist. Der entschei-
dende Satz lautet: ,,Ez ist diu verborgen vinsternisse der
ewigen gotheit und ist unbekant und wart nie bekant und
enwirt niemer bekant. Got blibet dä in im selber unbe-
kant." 17 Hier ist das Wort „unbekant" wichtig. Wenn man
unter Bekennen oder Erkennen versteht: etwas als etwas
erkennen, dann liegt in diesem Begriff von Erkenntnis
schon die Subjekt-Objekt-Struktur „I eh erkenne etwas als
etwas". Wo diese Struktur aber verschwindet, da ver-
schwindet Erkenntnis in diesem Sinne. Aber nicht in ein
leeres Nichts. Vielmehr in die leise Fülle ungeteilter Ge-
genwart. Und in diesem Sinne ist dann nkht nur Gott für
den Menschen unbekannt, sondern er bleibt auch in ihm
selber unbekannt, wie es hier heißt. Denn auch in ihm sel-
ber ist Gott letzten Endes jenseits oder diesseits aller Tren-
nung und Zerreißung in Subjekt und Objekt ungetrennte
Ruhe, ungetrenntes Licht.
Hier ist vielleicht gerade das Urbild aller Überwindung
der Subjekt-Objekt-Spannung in Gott selber entworfen,
und von daher wäre dann auch die Überwindung dieser
ganzen Struktur im abgeschiedenen Menschen zu verste-
hen, der reine Gegenwart der namenlosen Gottheit ge-
worden ist.
Es sei erlaubt, diesen Zusammenhang an einem bild-
haften Modell zu erläutern.
Was geschieht, wenn ein Mensch auf einen hohen Berg
17 DW I, 389, ?ff. ,,Es ist die verborgene Finsternis der ewigen Gott-
heit und ist unbekannt und ward nie bekannt und wird niemals be-
kannt. Gott bleibt da in ihm selber unbekannt."
92
,teigt? Wie verhält er sich zu der Erde und zu dem Him-
mel?
Ein solcher Mensch wird zuerst jene Ortschaften hinter
,ich lassen, in denen die Menschen gewöhnlich sich auf-
halten und in denen sie sich gewöhnlich bewegen. Er ent-
fernt sich von diesem Bereich. Aber indem er sich entfernt,
wird sein Horizont nicht kleiner, sondern größer. Er ver-
lit'rt zwar etwas an unmittelbarer, behandelbarer Nähe,
aher er gewinnt die Weite des Blickes, die umfassendere
und auch erfüllendere Gegenwart. Er macht so auf seine
Weise aus Nichts vieles, ja alles, das große Umfassen.
Auf den Himmel hat er vielleicht bis jetzt gar nicht acht
gegeben. Aber nun nähert sich dieses weite Licht. Ist dieser
Mensch schließlich auf dem Gipfel angelangt, dann ver-
bindet ihn ja nur noch weniges, vielleicht ein schmaler
(;rat mit der alten Erde. Und dann wird er den weitesten
Horizont über die Erde um sich haben und zugleich die
größte Nähe zum Licht des Himmels. Ist ihm dies bis jetzt
nicht oder wenig auf gefallen, dann überfällt es ihn jetzt
mit seiner Weite, seiner Nähe, seiner einzigen Größe: das
in sich und aus sich Leuchtende, das sich und alles um-
fangt und allem sein gelichtetes Da gewährt.
Manchmal mag dieses Licht des Himmels freilich vom
Dunst und Gewölk verhüllt sein, gleichsam von den Aus-
d iinstungen der Erde, aber bisweilen gibt es auch eine
Stunde, wo auch diese Ausdünstungen ganz vergangen
sind. Dann sieht unserer Wanderer über sich und um sich
und über der Erde nur reines Licht, reine Weite. Es ist
nichts darin, kein Nebel, kein Dunst, keine Wolke. Und
gerade dieses Nichts ist die Reinheit und Vollkommenheit
dieser Weite des lichten und lichtenden Himmels.
Man kann dabei auch beobachten, daß das Licht des
lichten Himmels in diesem Fall höchster Reinheit dunkel
t'rscheint. Denn das, was uns hell erscheint, sind ja nur
93
die Brechungen des Lichtes von den Trübungen, die die
Luft erfüllen. Das reine Licht, das sich an nichts mehr
bricht, wird immer ähnlicher der reinen Finsternis.
Und es mag dann wohl sein, daß es die Seligkeit eines
solchen Menschen ausmachen kann, in die unendliche
Weite des reinen und dunklen Lichtes sich zu versenken.
Und es kann dann weiter wohl sein, daß er in einem
solchen Sichversenken den Berg, der ihn noch trägt, und
sich selber vergißt. Und dann sind auf einmal nicht mehr
zwei Größen für ihn da, der schauende und sich versen-
kende Mensch auf der einen Seite und die angeschaute
Weite des dunklen Lichtes auf der anderen. Vielmehr ist
nur noch eines da: reine Weite, bloße Präsenz dieses Einen
der reinen Weite. Und gerade darin kann reinstes Glück
sem.
Dies ist ein Modell, das uns vielleicht ein wenig an-
schaulich machen kann, was der Meister uns zudenkt, in-
dem er uns zumutet, in der Abgeschiedenheit und in der
Versenkung in den dunklen Abgrund der Unendlichkeit
Gottes uns selbst und alle Differenz zu überwinden und
zu vergessen und gerade darin das reinste Glück zu finden.
Was uns der Meister hier schildert und nahelegt, die völ-
lige Aufhebung von Subjektivität und Objektivität in der
Versenkung des Abgeschiedenen in das Geheimnis Gottes,
hat eine alte Tradition. Es wird dem Verständnis dienen,
wenn wir auf diese Tradition in einigen Zügen eingehen.
Offenbar ist der Zusammenhang mit jener Art von ne-
gativer Theologie, wie sie besonders bei Dionys dem
94
P,t·uJ-Areopagiten vorliegt, dem damals hochangesehe-
m·n christlichen Neuplatoniker. In dessen Schrift über die
t<,,ttlichen Namen (De divinis nominibus), also gerade da,
wo l'S um das Nennen Gottes geht, lesen wir im Kap. 1, 7,
.,l,o in den einleitenden Expositionen von dem vouc; av611-
" ,~ t\·ui A6yoc;äpp11-roc;,
das heißt dem nichtdenkenden Den-
kt·n und dem nichtsagenden Wort, es fallen Ausdrücke wie
.,logia und anoesia und dann anonymia, also nichts spre-
dll'll und nichts denken und nichts nennen. Mit solchen
Ausdrücken wird offenbar das Etwas-Denken, das Auf-
,tdlcn und Vorstellen von Begriffen ganz ausgelöscht. Die
Subjektivität verschwindet. Und ebenso auch die
<lhjektivität. Von dem Geheimnis, das der solchermaßen
~ichts-Denkende berührt, wird daher in unserem Zu-
,ammenhang gesagt, es sei ,,µ11öv, roc;na011c;oucriac; tnt-
1\1:tva", Nichts seiend und wie jenseits aller Seiendheit.
Wir sind also an einem Ort jenseits alles dessen, was man
als seiend denken, vorstellen und in seiner Seiendheit be-
~rcifen kann 18 • Dieser Ansatz bei Pseudo-Dionysios weist
wahrscheinlich auf weitere ältere christliche Vertreter der
negativen Theologie zurück. Unter ihnen darf besonders
(;regorvon Nyssa genannt werden mit seinem Gedanken,
daf~,,der Gesuchte (Gott) alle Erkenntnis übersteigt, wie
durch Finsternis durch seine Unbegreiflichkeit auf allen
Seiten abgeschlossen" 19 •
Hinter den Gedanken des Meisters Eckhart steht also
l'ine große ältere Tradition.
95
Vor allem aber muß darauf hingewiesen werden, daß
der Meister Eckhart hier auch in einem nahen Kontakt
steht mit dem mittelalterlichen theologischen Aristotelis-
mus, vor allem mit Thomas von Aquin, dessen Denken er
auf seine Weise übernimmt.
Dies wird besonders offenbar an einer Stelle aus der Pre-
digt 9 über den Text „Quasi stella matutina". Dort lesen
wir: ,,Kleine meister lesent in der schuole, daz alliu wesen
sin geteilet in zehen wise, und die selben sprechent sie gote
zemäle abe." 20 Hier ist Bezug genommen auf die klassische
Lehre von den zehn aristotelischen Kategorien. Der
Meister Eckhart kommt auch sonst bisweilen, besonders
ausdrücklich in den lateinischen Werken, auf diese Lehre
zurück 2 1 •
Daß die zehn Weisen oder die zehn Kategorien auf Gott
nicht anwendbar seien, dieser Satz spielt nun auch bei
Thomas eine grundlegende Rolle in seiner Gotteslehre. Er
widmet diesem Gedanken eingehende Abhandlungen so-
wohl in der Summe wider die Heiden 22 wie in der theolo-
gischen Summe 23 •
Was ist der Sache nach gemeint? Die zehn Kategorien
beanspruchen seit Aristoteles die Weisen vollständig auf-
zuzählen, in dem einem Seienden Sein zukommen kann
und in denen es also als etwas, das „ist", angesprochen
und bestimmt werden kann. Denn die Aussagen: ,,Etwas
ist" oder „etwas ist dies und das" sagen ja in jedem Fall:
Einern Etwas kommt Sein zu auf diese oder jene Weise.
445,6).
22 Vgl. Th. v. Aquin, S. c. gent. I, 25.
2 3 Vgl. Th. v. Aquin, S. Th. I, 3,5.
96
1>er Sinn des „ist", sei es als Prädikat oder als Kopula ge-
braucht, ist auf jeden Fall der des Zukommens von Sein
zu Seiendem als dem, was ein Seiendes als solches konsti-
tuiert.
Sagt man also, wie Thomas es tut und ebenso auch der
Meister Eckhart, Gott falle unter keine der Kategorien,
so heißt dies sagen: Gott „ist" nicht, jedenfalls sofern man
das Wort „ist" im strengen und genauen Sinn versteht.
Daß Gott unter keine der Kategorien fällt, wird bei
Thomas auch ausdrücklich von der Kategorie der Sub-
stanz gesagt 24 • Freilich redet er trotzdem dann doch oft
von der göttlichen Substanz.
Beim Meister Eckhart sind die Dinge insofern kompli-
ziert, als Eckhart vor allem im Exodus-Kommentar Gott
L'inige Male ausdrücklich die Kategorie der Substanz zu-
schreibt: ,,in deo est unicum praedicamentum, scilicet
substantia, qua est, qua potens est, qua sapiens est, qua
honus est et huiusmodi, quae in creaturis pertinent ad
praedicamenta novem accidentis." 25
Der Meister scheint sich also zu widersprechen. Aber
der Widerspruch ist nur scheinbar. Denn Eckhart betont
im selben Text: ,,veritas praedicationis respondet prima
et per se non tarn rebus quam rerum conceptionibus et
modis significandi." 26 Und dies wird ein wenig später so
präzisiert: ,,In his ... propositionibus (sc. de Deo) est duo
considerare, scilicet ipsas perfectiones signif icatas, puta
97
bonitatem, veritatem, vitam, intelligere et huiusmodi; et
sie sunt compactae et verae. Est etiam considerare in tali-
bus modum significandi; et sie incompactae sunt, quod
ait Dionysius. " 27
Das heif~t also: Die Aussagewahrheit entspricht zuerst
und durch sich nicht so sehr den Dingen selber als unseren
Begriffen der Dinge, unserer Weise, sie zu bezeichnen. So-
fern man also von Gott auf der Ebene der Aussage-Wahr-
heit spricht, solange man also von ihm Aussagen macht,
solange man sich demgemäß in der Ebene einer Begriffs-
metaphysik bewegt, ist es durchaus sinnvoll, ja unver-
meidlich, von ihm wie von einer Substanz zu sprechen,
einem in sich stehenden Seienden als Träger dessen, was
man von ihm aussagt. Dies ist also in diesem Rahmen eine
unvermeidliche Weise, von Gott zu denken und zu spre-
chen. Aber diese Aussagen betreffen als Aussageweisen
_doch nicht direkt die „Sache", das heißt Gott. Das, was
also solche Sätze eigentlich meinen, worauf sie letzten En-
des zielen, die ipsa perfectio significata, die bezeichnete
Vollendung selber, liegt jenseits dieser Aussageweisen.
Daher darf und soll man von der „Substanz" Gottes
reden und ihn also mit dieser Kategorie ansprechen, so-
lange man sich in der Sprache der Aussagesätze und der
setzenden Begriffe bewegt. Man muß aber diese zunächst
unvermeidliche Rede und die ihr entsprechende Vorstel-
lungsweise verlassen, sobald man den kühnen Versuch
macht, sich Gott selbst zu nähern. Dann kommt man
nämlich zu dem „weiselosen" Gott, der auch die letzte
98
«><krdie erste der Kategorien, nämlich die der Substanz,
hinter sich gelassen hat. Dann kommt man also zu jener
negativen Theologie, wie sie Dionysius der Pseud-Areo-
pagit vertritt, auf den der Meister Eckhart hier Bezug
nimmt.
Diese Annäherung an den weiselosen Gott ist aber das,
.1ufwas es dem Meister am meisten ankommt und was
ihm am wichtigsten ist. Darum ist in seinem Sinn die Rede
von der göttlichen Substanz zwar möglich und in der da-
1.ugehörigen Denkweise unvermeidlich, aber sie ist vor-
ti uf ig, und man muß schließlich die höhere Ebene, die
auch eine höhere Ebene des Denkens ist, gewinnen. Dann
verblaßt und erlischt, was früher sinnvoll war und für viele
andere Zusammenhänge weiter sinnvoll bleibt.
Denifle hat seinerzeit einen Satz aus dem Liber proposi-
tionum abgedruckt, der dieses Problem in einem einzigen
Satz zusammenfaßt und die Auslegung bestätigt, die wir
versucht haben. Wir lesen da: ,,Li ego (sc. in dem bibli-
schen Satz ego sum qui sum) non substantiam signat, quae
sit in genere substantiae, sed quid altius et per consequens
purius, includens perfectionem omnium generum." 28
In diesem interessanten Satz wird also der Begriff der
Substanz in doppelter Weise aufgefaßt. Es gibt die Sub-
stanz in der Weise oder der Kategorie der Substanz, also
die Substanz als die Form eines Aussagesatzes. Aber das-
selbe Wort kann auch anders gebraucht werden, und die-
ser andere Gebrauch tritt hier ein. Dann wird unter dem
Wort Substanz etwas gedacht, was überhaupt nicht mehr
in die Form eines Aussagesatzes paßt, etwas, von dem man
28
Denifle, Meister Eckharts Lateinische Schriften, 438: ,,Das Wort
,ich' (in dem biblischen Satz: Ich bin, der ich bin) bezeichnet nicht
die Substanz in der Weise der Substanz, sondern etwas Höheres und
Reineres, das die Vollendung aller Weisen in sich einschließt."
99
also im strengen Sinne nicht mehr in der Form des „ist"
etwas aussagen kann. Etwas, was in diesem Sinne „nichts"
ist. Denn dann wird ja das Genus der Substanz nicht mehr
als Genus oder als Kategorie aufrechterhalten, und damit
dann überhaupt keine Kategorie mehr. Hier ist deutlich,
warum der Meister Eckhart mit Thomas von Aquin sagen
kann, Gott falle überhaupt unter keine Kategorie, auch
nicht die der Substanz, und warum er doch an charakte-
ristischen Stellen von der Substanz Gottes spricht.
Bei Thomas finden wir im übrigen durchaus ähnliche
Verhältnisse. Wie wir schon gesehen haben, verteidigt er
den Satz ,deus non est in genere', Gott fällt nicht unter
eine Kategorie. Verteidigt ihn im ganzen und insbesondere
hinsichtlich der Kategorie der Substanz. Und doch spricht
er immer wieder von der Substanz Gottes. Dies ist gewiß
auch bei ihm keine bloße Nachlässigkeit. Aber bei Meister
Eckhart findet sich ein eher noch mehr durchreflektiertes
Bewußtsein der Gründe dieser scheinbaren Zweigleisig-
keit und Spannung im Gebrauch des Begriffs Substanz 29 •
Die Rede, Gott falle nicht unter eine Kategorie, kann
also in der Tat durch den Ausdruck ersetzt werden: Gott
ist „nichts" gleich, was der Meister Eckbart ja ausdrück-
lich sagt. Thomas seinerseits hütet sich freilich, dies zu sa-
gen und diese Konsequenz aus seinem Ansatz zu ziehen.
Dies ist für Thomas ebenso charakteristisch, wie es für
den Meister Eckbart charakteristisch ist, die äußerste
Konsequenz aus diesem Ansatz zu ziehen.
Aber Thomas steht vom Ansatz des Gedankens her in
guter Übereinstimmung mit dem Gedanken des Meisters
29
Insofern ist die Anm. 5 von J. Quint (DW I, 147) zwar durchaus
richtig, insofern sie sich auf die dort angeführte Stelle des Meisters
Eckhart aus seinem Exodus-Kommentar bezieht. Sie ist aber im
Sinne der obigen Darlegungen zu ergänzen.
100
Eckhart. Darum kann Thomas ja auch durchaus konse-
quent sagen: ,,de deo scire non possumus quid sit." 30 Dies
steht in der Einleitung und also als eine Art Überschrift
oder Leitwort über den langen Ausführungen der philoso-
phischen Gotteslehre. Und so steht Thomas in dieser Sa-
che auch in guter Übereinstimmung mit Pseudo-Dionys,
den er ebenso wie der Meister Eckhart oft anführt und
den er kommentiert hat.
Was das erörterte Verhältnis der Kategorien zu dem
Begriff Gottes angeht, so läßt sich dieses Verhältnis aber
noch schärfer fassen, wenn man die kategoriale Form der
Aussagesätze vergleicht mit ihrem Inhalt, der bisweilen
durchaus überkategorial ist.
In der aristotelischen Tradition des Mittelalters gibt es
ja neben den zehn Weisen oder den zehn Kategorien noch
die transzendentalen Bestimmungen, von denen wir einige
besprochen haben, die Bestimmungen des Seins und der
Einheit und der Wahrheit und der Gutheit zumal. Von ih-
nen wird gesagt, daß sie alle Weisen oder genera umfassen
und überschreiten. Sie werden daher mit Vorzug Gott zu-
gesprochen, sowohl von Thomas von Aquin wie von Mei-
ster Eckhart, jedenfalls in jenen Zusammenhängen, in
welchem er sich innerhalb des metaphysischen Denkens
bewegt. Von da aus kann dann gesagt werden: Gott ist
das Sein selbst, Gott ist die Einheit selbst, Gott ist die
Wahrheit selbst, Gott ist die Gutheit selbst und ähnliches.
Solche Sätze finden sich reichlich bei Thomas von Aquin,
und sie finden sich auch - wie wir sahen - bei Meister
Eckhart.
Untersucht man solche Sätze aber genau, dann erkennt
man eine eigentümliche Spannung in ihnen. An der Stelle
30 Th. v. Aquin, S.Th. I, 3 introd. ,,Von Gott können wir nicht sa-
gen, was er ist."
101
ihres Prädikats steht jeweils eine transzendentale Bestim-
mung, eine Bestimmung, die alle Endlichkeit umfaßt und
überschreitet und die also über alle Kategorien hinaus-
geht. An der Stelle ihres Subjekts steht der Ausdruck Gott.
Und beide werden durch die Copula „ist" zusammenge-
faßt. Das „Ist" aber heißt, wie wir sahen: Sein kommt zu
oder wird hinzugefügt. Und zwar jeweils in einer be-
stimmten Weise der Hinzufügung. Damit stehen wir also,
was die Form solcher Sätze angeht, im Zusammenhang
der genera oder der Weisen. Wir schreiben der Form nach
Sein und alles andere, was dazugehört, Gott zu. Wir haben
also transzendentale Bestimmungen, aber eine kategoriale
Form. Wir suchen der Sache nach etwas zu sagen, was
der Form widerstreitet, in der wir es sagen. Der Satz „Gott
ist das Sein" klingt der Form nach nicht anders als der
Satz: ,,Dieser ist ein Mensch." Wiewohl er eigentlich auf
etwas ganz anderes abzielt.
Was die Form solcher Sätze angeht, so denken und sa-
gen sie etwas als etwas, das heißt, sie stellen ein Objekt
im Denken und für dieses auf. Und darin stellt ja auch
der Denkende sich selbst und sein eigenes Wissen auf. So
entsteht wie selbstverständlich die Unterscheidung zwi-
schen Subjekt und Objekt.
Und weil sie der Form nach kategorial sind, darum
kann sich ja hier auch ganz leicht die erste und wichtigste
der Kategorien, nämlich die Kategorie der Substanz, ein-
führen, wie es bei Thomas und auch bei Meister Eckhart
geschieht.
Was solche Sätze aber eigentlich sagen wollen, geht
doch über alles derartige weit hinaus und in den weitesten
Abgrund des Seins selbst. Dies ist die Spannung, die in
solchen Sätzen steckt.
Solange man sich innerhalb des metaphysischen Den-
kens und seiner Traditionen bewegt, sind solche span-
102
nungsreichen Sätze freilich unver~eidlich. Darum hat
nicht nur Thomas von Aquin von ihnen reichlich Ge-
brauch gemacht, sondern auch der Meister Eckhart dort,
wo er sich mit seinen Gedanken in der Ebene der Meta-
physik bewegt, wie es vor allem in den lateinischen Wer-
ken geschieht. Aber für den Meister Eckhart ist es charak-
teristisch, daß er an den entscheidenden Stellen, vor allem
der deutschen Werke, dieser Spannung konsequent Rech-
nung trägt und daß er schließlich solche Sätze ganz über-
windet zugunsten einer reinen und ungeteilten Gegenwart
Jes unausdenkbaren und damit dem Nichts gleichenden
( ;oues. Er erreicht damit eine durchaus neue Ebene den-
kender Erfahrung.
überblickt man diese Zusammenhänge bei Thomas
und dem Meister Eckhart, dann erkennt man leicht: Die
Ansätze sind bei Meister Eckhart gleich wie bei Thomas.
Auf dem Grund dieser Gemeinsamkeit der Ansätze
sieht man aber auch die Differenz zwischen diesen beiden
großen Denkern. Thomas hat offenbar aus grundsätzli-
chen Erwägungen heraus aus seinen kühnen Ansätzen nie
die äußerste Konsequenz gezogen. Er hat darum eine be-
grifflich reich entwickelte Gotteslehre theoretischer Art
entwickelt. Er nahm dadurch bewußt teil an der Glau-
bensgemeinschaft seiner Zeit und an der Weise, wie sich
diese im Denken und in der Sprache artikulierte. Er ist
dadurch der Hauptvertreter einer langhin wirkenden
Schule geworden.
Der Meister Eckhart hat diese Gemeinschaft des Den-
kens und der Sprache, die Gemeinschaft einer begrifflich
entwickelten Metaphysik auch beachtet, wie wir schon
sahen, und er hat sich, und dies am meisten in seinen latei-
nischen Werken, mit Meisterschaft in ihrer Ebene bewegt.
Aber er ist nicht dabei geblieben wie Thomas. Er hat viel-
mehr an wichtigen Stellen seines Werkes in der Weiterent-
103
wicklung der Ansätze, die er durchaus mit Thomas teilt,
diese Ebene überschritten und hat Äußerstes gewagt. Und
er hat, und auch darin unterscheidet er sich von Thomas,
auch die Ebene des bloß Theoretischen überschritten und
eine lebendige Grundhaltung des menschlichen Daseins
erläutert und zu ihr aufgerufen, die seinen kühnen, aber
konsequenten Ansichten entsprach. Er ist mit seinen Ge-
danken, soweit sie diesem doppelten Durchbruch ange-
hören, der Lebemeister geworden.
Aber er kam dadurch in Konflikt mit den maßgeblichen
Denk- und Sprachweisen in der Kirche seiner Zeit. Daraus
ist im Grunde sein Prozeß zu erklären. Wir werden noch
auf diesen zurückkommen 3 1• Es ist daher kein Zufall, daß
die Zeugnisse dieses Durchbruchs sich besonders im er-
sten Band der großen Ausgabe der Deutschen Werke sam-
meln. In ihm werden ja jene Predigten wiedergegeben, die
durch die Dokumente des Prozesses gesichert sind. Es sind
jene, die durch die Metaphysik durchbrechen, sei diese
nun gelehrter oder mehr volkstümlicher Art, und die eine
neue Ebene erreichen, die von der damals in der Christen-
heit herrschenden Weise des Denkens aus nur schwer oder
gar nicht verstanden werden konnte. Aber für uns hat sie
gerade deswegen eine große Bedeutung, weil für uns die
metaphysische Denkweise nicht mehr selbstverständlich
ist.
31
Was Thomas angeht, bin ich auf diese Zusammenhänge näher
eingegangen in zwei Aufsätzen in dem Band „Zeit und Geheimnis"
(Freiburg i. Br. 1975): Thomas von Aquin und Heideggers Gedanke
von der Seinsgeschichte, 203-218; und: Bemerkungen zum Gottes-
begriff des Thomas von Aquin, 219-277.
104
4. Analogien aus dem Bereich des Zen-Buddhismus
105
gewiß nicht einfach dasselbe sein. Aber doch eben etwas
Analoges.
Ich weise zur Begründung auf drei Texte hin, die mir
in deutscher Übersetzung zugänglich sind und die alle drei
aus primären QuelJen des Zen-Buddhismus stammen.
Im Bi-Yän-Lu wird eine Sammlung des klassischen
chinesischen Koans geboten. Das erste Beispiel dieser
Sammlung wird in der Überlieferung dem Bodhidharma
zugeschrieben, dem ältesten der sogenannten chinesischen
Patriarchen. Von ihm wird berichtet, daß er im 5. Jahr-
hundert nach Christus aus Indien nach China gekommen
sei und die Gedanken Buddhas nach China gebracht habe.
Von Bodhidharma gibt es ein seit alters überliefertes
Koan, eine kurze Geschichte oder ein kurzes Gespräch.
Es lautet in der Übersetzung von Wilhelm Gundert so:
,,Wu-di von liang fragte den Großmeister Bodhi-
dharma:
Welches ist der höchste Sinn der heiligen Wahrheit:
Bodhidharma sagte: Offene Weite - Nichts von heilig.
Der Kaiser fragte weiter: Wer ist das uns Gegenüber?
Bodhidharma erwiderte: Ich weiß es nicht." 33
Das ist im Grunde das ganze Gespräch. Offene Weite,
nichts von heilig, heißt es hier. Das Prädikat „heilig" wird
negiert und aufgehoben, gleichsam als letzte Erinnerung
an eine sprachliche Tradition, die überschritten werden
soll. Was übrigbleibt, wird in der deutschen Wendung mit
„offene Weite" wiedergegeben. Man könnte vielleicht
auch sagen: grenzenloser Abgrund. Die Worte sind weit-
gehend analog denen von der Einöde und der Wüste, die
wir von Meister Eckhart her kennen. Die Erfahrungen
scheinen analog zu sein.
106
Es ist auch auf die Wendung zu achten, die in der Frage
des Kaisers liegt: Wer ist uns gegenüber? Und die darauf
tolgcnde Antwort: Ich weiß es nicht. Im Wissen haben wir
1111rncretwas gegenüber. Das eine liegt dem anderen
~cgcnüber, das Subjekt dem Objekt. Aber dieses Gegen-
uhcr soll nach Bodhidharma verschwunden sein und ver-
,rhwinden. Und damit das Wissen. So scheint mir dieses
Wort „Ich weiß es nicht" deutbar zu sein im Lichte der
(;cdanken, die uns der Meister Eckhart nahegelegt hat.
Ich möchte auf ein zweites Zeugnis hinweisen, das ich
dem Buche „Zen" von Heinrich Dumoulin entnommen
habe. Hier wird ein Text des großen japanischen Denkers
Hakuin wiedergegeben, der als Vater des neueren japani-
schen Buddhismus gilt und um 1700 gelebt hat. Von ihm
gibt Dumoulin folgende Zeilen wieder:
„Wenn du zum wahren Nicht-Ich gelangen willst, mußt
du über dem Abgrund die Hände loslassen ... Was bedeu-
tet es, über dem Abgrund die Hände loslassen? - Ein
Mann ging in die Irre und gelangte an einen Ort, den noch
kein Menschenfuß betreten hatte. Vor ihm gähnte jäh bo-
denlos der Abgrund. Seine Füße standen auf schlüpfrigem
Feldmoos, kein sicherer Halt bot sich. Er konnte weder
voranschreiten noch zurückweichen: Da wartet nur allein
der Tod. Wenig Hilfe bieten ihm ein Rebzweig, den er mit
der linken Hand faßt, und eine Ranke, die seine Rechte
ergreift, sein Leben hängt wie an einem Faden. Läßt er
plötzlich beide Hände los, so wird sein dürres Gebein ganz
zunichte.
Genauso ist es mit dem Übenden. Ausschließlich ein
Koan-Beispiel verfolgend, kommt er dahin, daß sein Geist
wie tot, sein Wille wie erloschen ist, weite Leere über ei-
nem steilen, tiefen Abgrund, kein Halt für Hände und
Füße. Alle Gedanken schwinden, in der Brust steigt heiß
die Angst auf. Da plötzlich zerbricht mit dem Koan zu-
107
gleich Geist und Leib. Dieser heißt der Augenblick des
Loslassens über dem Abgrund. Beim plötzlichen Aufleben
ist es, wie wenn einer Wasser trinkt und selber kalt und
warm weiß: Die große Freude wallt auf. Dies heißt Wie-
dergeburt (im reinen Land)." 34
Bei dieser Geschichte ist bemerkenswert, daß vom Los-
lassen der Hände die Rede ist, das heißt von dem sich völ-
ligen Überlassen. Und daß vom Abgrund die Rede ist, der
zunächst Angst macht. Es ist aber an der Geschichte deut-
lich, daß der Abgrund kein leeres Nichts ist. Wie könnte
sonst sich dort die Wiedergeburt ereignen, wie könnte
sonst dort die große Freude aufwallen? Es ist auch kenn-
zeichnend an der Geschichte, daß in ihr gesagt wird, der
Geist werde wie tot und der Wille wie erloschen. Alles dies
sind wiederum Gedanken, die uns von dem Meister Eck-
hart her verständlich werden können. Die Analogie liegt
auf der Hand.
Es sei ein drittes Beispiel angeführt. Es stammt aus der
Geschichte „Der Ochse und sein Hirte" und ist eine Ge-
schichte aus dem alten China. Auf dem Titelblatt lesen
wir: Der Ochs und sein Hirte; eine altchinesische Zen-Ge-
schichte, erläutert von Meister Daizohkutsu R._Ohtsu mit
japanischen Bildern aus dem 15. Jahrhundert, übers. von
Koichi Tsujimura und Hartmut Buchner. An der entschei-
denden Stelle dieser Gedichtfolge, nämlich im 8. Stück, ist
etwas wie ein kleines Lied wiedergegeben. Es lautet:
108
Wie könnte der Schnee auf der rötlichen Flamme
des brennenden Herdes verweilen?
Erst wenn ein Mensch in diesen Ort gelangt ist,
kann er den alten Meistern entsprechen. " 35
Was soll das heißen? Peitsche und Zügel sind die Werk-
1n1ge, mit denen Menschen sich einen Ochsen gefügig
machen können. Es ist ein Bild für das, was der Meister
Fckhart Eigentum nennt. Sich die Welt gefügig machen
durch Gedanken oder durch Taten. Indem Peitsche und
/iigel, das heißt eine bestimmte menschliche Haltung,
verschwunden sind, verschwindet auch der Ochse und
,ci n Hirt. Der Hirte ist offenbar der Mensch, also der
Münch oder Suchende. Der Ochse ist das Geheimnis, das
11ur im Bilde angedeutet wird. Der Hirte ist verschwunden.
Fr hat seiner selbst vergessen. Der Ochse ist gleichfalls
vl·rschwunden; er hat keinen Namen, kein Bild, kein Wort
mehr. Was übrigbleibt, wird geschildert als weiter, blauer
1Iimmel, leuchtende Unendlichkeit, in die kein Wort
rcicht, sie zu ermessen. Deswegen bleiben die Worte zu-
riick. Und dann der merkwürdige Vers: ,,Wie könnte der
Schnee auf der rötlichen Flamme des brennenden Herdes
verweilen?" Was sagt dieser Vers? Vorhin war vom Wort
die Rede; Schnee ist vielleicht so etwas wie „Wort", und
Schnee vergeht auf der rötlichen Flamme, das heißt viel-
ll'icht: Auf der lautlosen Flamme, die sonst auch blauer
1Iimmel genannt wird, zergehen alle Worte. Auch dies ist
eine offensichtliche Analogie zu dem, was der Meister
Fckhart zu denken und nicht nur zu denken, sondern zu
vollziehen vorschlägt, wenn auch sprachlich ganz anders
~daßt und sichtbar aus einer anderen Tradition gespeist.
1)ie Übersetzer Tsujimura und Buchner haben nicht um-
''\ Koichi Tsujimura/ H. Buchnen (Hrsg.), Der Ochs und sein Hirte,
Pfullingen, 2 1973, 41.
109
sonst gelegentlich Eckhartsche Vokabularien zu ihrer
Übersetzung herangezogen.
Es scheint mir von großer Bedeutung, daß hier aus von-
einander ganz unabhängigen Ursprüngen, die geschicht-
lich und räumlich weit auseinanderliegen, analoge Bewe-
gungen des Geistes erscheinen. In einer Zeit, in der die
Kulturen mehr und mehr zusammenrücken, ist es wichtig
zu sehen, daß sich solche Ursprünge ganz unabhängig
voneinander gleichsam zuwinken können und daß Analo-
gien sich andeuten, denen weiter nachzudenken sein wird.
Vielleicht darf man den Meister Eckhart mit seiner
kühnen Überwindung der Metaphysik auch als eine aus-
gestreckte Hand zu einer fernen Kultur und ihren höch-
sten Gedanken verstehen. Dann könnte er eine neue und
große Bedeutung haben für das Selbstverständnis der
Menschheit heute.
110
Diese Identitätsaussagen haben schon immer Aufsehen
und Anstoß erregt. Man glaubte und glaubt immer noch
lll wissen, was Identität sei. Und so urteilt man bisweilen
,rhnell. Aber weiß man wirklich, was Identität ist? Und
1st es ausgemacht, daß das Wort Identität immer densel-
ben Sinn habe?
Sehen wir näher zu, was uns der Meister zur Sache mit
der Identität sagt. In der Predigt 6 über den Text „Iusti
vivent in aeternum" stehen die wichtigsten Äußerungen
dazu. Da ist z.B. von der Verwandlung des Brotes in den
l,eib des Herrn im eucharistischen Sakrament die Rede,
und dann heißt es: ,,Waz in daz ander verwandelt wirt,
daz wirt ein mit im. Alsö wirde ich gewandelt in in, daz
er würket mich sin wesen ein unglich." 1 Die Stelle hat ver-
ständlicherweise lateinische Parallelen in den Dokumen-
ten des Prozesses des Meisters Eckhart. Denn natürlich
hat diese scharfe Identitätsaussage Befremden erregt.
Was ist aber hier gemeint? Offenbar ist ein Geschehen
gemeint: Etwas war, wird und geschieht. Und es kann kein
anderes Geschehen gemeint sein als jenes, in dem der Ab-
geschiedene sich selbst vergißt und in den namenlosen
Abgrund der Gottheit hineinsinkt. Der Bezug zur Trans-
substantiation in der Eucharistie gibt nur das Stichwort
von der Wandlung an, erklärt aber sonst nicht viel. Dage-
gen sind die Worte „ein, unglich" von entscheidender Be-
deutung. Sie schließen die Deutung der „Wandlung" als
einer bloßen Angleichung aus. Um gleich sein zu können,
bedarf es mindestens zweier nicht identischer Gegeben-
heiten, also mehrerer Unterschiedener. Aber hier ist wirk-
lich von Einheit im Sinne von Selbigkeit die Rede. Darum
1
DW I, 111, 5 ff. ,,Was in das andere verwandelt wird, das wird
eins mit ihm. So werde ich gewandelt in ihn (in Gott), daß er mich
wirkt als sein Wesen, als eins nicht gleich."
111
heißt es: ein, unglkh. Es ist von eigentlicher Identität die
Rede.
Aber dabei dürfen wir nicht stehenbleiben. Es muß
vielmehr weiter gefragt werden: Was ist das für eine Iden-
tität? Jedenfalls eine, die aus zwei nicht Identischen ent-
steht bzw. entstanden ist. Und mehr noch: eine Identität,
die, auch wenn sie entstanden ist, so waltet, daß die zwei
bisher getrennten Gegebenheiten zwar vereinigt sind, daß
beide aber in ihrer Einheit eine verschiedene Rolle spielen
und so die Verschiedenheit nicht ausgelöscht wird. Sonst
könnte nicht gesagt werden: Er wirkt mich, also Identität
des Nichtidentischen. Die Rätsel dieser Identität werden
immer größer.
Einen entscheidenden Hinweis zur Lösung dieses Rät-
sels der Identität können wir in der Predigt 12 über den
Text „Qui audit me" finden. ,,Sol min ouge sehen die
varwe, sö muoz ez ledic sin aller varwe. Sihe ich bläwe
oder wize varwe, diu gesiht mines ougen, daz da sihet die
varwe, daz selbe, daz da sihet, daz ist daz selbe, daz da
gesehen wirt mit dem ougen." 2
112
Diese Zusammenstellung zeigt, daß es sich um ein
durchgehendes Grundmotiv des Denkens von Meister
Ft:khart handelt, das vor allem in seinen lateinischen Wer-
kl'n fest verwurzelt ist und offenbar von da in die deut-
'l'hcn Werke bedeutungsvoll hineinragt. Es wird aus die-
'l'f Zusammenstellung auch sichtbar, daß der Gedanke
mit dem Auge und der Farbe in unmittelbarer Verbindung
•-achtmit dem Gedanken der Abgeschiedenheit. Das Auge
111uß bloß und ledig sein, so wie der Abgeschiedene bloß
und ledig sein muß. Wir kommen also hier auf die gleiche
Sache zurück, die wir bei der Besprechung der Abgeschie-
denheit schon vor uns hatten 3 • Doch hat sich jetzt ein
neuer Gesichtspunkt ergeben, eben der der Identität.
Was ist hier gedacht? Es ist zunächst an das Auge ge-
dacht, und zwar an das Auge im Geschehen des Sehens
selber. In jenem Geschehen also, in dem das gesehene Far-
bige gleichfalls im Geschehen seines Gesehenwerdens auf-
leuchtet. Geschieht Sehen, so geschieht Gegenwart des
(;esehenen und nichts sonst. Denn das Sehen, indem es
geschieht, sieht nichts anderes, insbesondere auch nicht
sich selbst. In diesem Sinne kann man sagen: Das Gesche-
hen des Sehens und weniger noch das sehende Auge sind
in diesem Geschehen gar nicht da. Und umgekehrt: Das
( ;esehenwerden, indem es geschieht, ist nur das Gesche-
hen der Gegenwärtigkeit des Gesehenen, nichts sonst.
Beides aber sind nur die je umgekehrten Seiten eines einzi-
gen Geschehens. Sehen und Gesehenwerden ist so ein ein-
ziger Vorgang, den man allerdings von verschiedenen
,,Nach dem Philosophen selbst sind der Sinn und das sinnlich Wahr-
nehmbare im Vollzug dasselbe. Denn durch dasselbe geschieht es,
daß das Sehen wirklich sieht und das Sichtbare wirklich gesehen
wird."
' Vgl. oben S. 40f. bzw. S. 45ff.
113
Seiten betrachten oder durchlaufen kann. Es ergibt sich
also aus dem Phänomen selbst, aus dem, was sich hier sel-
ber zeigt, eine Identität des Geschehens zwischen Seien-
den, die, betrachtet man sie je für sich und getrennt vom
Geschehen, durchaus verschieden sind und auch verschie-
den bleiben. Das als Seinsbestand Nichtidentische wird im
Geschehen des Sehens identisch.
Man kann das auch so sagen: Es gibt im Vorgang des
Sehens keine zwei Bilder, etwa eines, in dem sich die gese-
hene Sache erbildet, und ein anderes, in dem sie im Auge
abgebildet wird. Wie sollte man diese zwei Bilder, wenn
es sich so verhielte, je vergleichen können? Es gibt viel-
mehr nur ein Bild, wenn man schon von Bild reden will:
Das Sich-Erbilden des Gesehenen, eben dasselbe, was ge-
sehen wird. Was das Sehen erfüllt und es bestimmt, ist
eben das Gesehene und nichts anderes.
Von dieser Identität des Geschehens also ist die Rede,
und zwar unter ausdrücklicher Abhebung von der Nicht-
identität des je in sich bestehenden Seienden.
Wir können auch, einem Sprachgebrauch des Meisters
Eckhart folgend, von der Selbigkeit des Gewirkes spre-
chen4. Das Wort Gewirke bedeutet dann die Versamm-
lung ins Selbe eines Wirkens von zwei Seiten her, einem
Wirkenden und einem Gewirkten.
Von diesem Modell des sinnlichen Sehens aus wird nun
klar, inwiefern gesagt werden kann, der Abgeschiedene,
der sich in Gottes stille Wüste versenkt, sei eins mit ihm
geworden. In der Tat: Es geschieht nur eines in ihm. Aber
diese Identität des Geschehens oder des Gewirkes ist ge-
rade nicht Identität des Bestandes. Darum bleibt auch in
unserem Fall der Unterschied zwischen Gott und Ge-
schöpf durchaus erhalten, und von einem Pantheismus im
4
Vgl. DW I, 114.
114
vulgären Sinn des Wortes kann keine Rede sein, wohl aber
von einem In-eins-Schlag ins Selbe des einen Geschehens.
Wir haben also hier zwar eine echte und eigentliche
Identität vor uns, aber eine solche von durchaus anderer
Art als das, was wir sonst und für gewöhnlich Identität
nennen, wenn wir uns an der äußerlichen Vorhandenheit
des Seienden ausrichten. Es ist jene Art von Identität, die
gerade die Identität des Nichtidentischen ist. Sie löscht
diese Nichtidentität nicht aus, im Gegenteil, sie macht
J iese erst möglich.
Darauf darf noch hingewiesen werden. Denn wie soll,
um noch einmal von unserem Modell aus zu argumentie-
ren, ein Mensch sein Sehen und seinen sehenden Sinn von
seinem Gesehenen unterscheiden, wenn nicht beide ein-
mal zusammengekommen sind in der Einheit eines Ge-
schehens? Wären sie nicht zusammengekommen, so
könnten sie auch nicht unterschieden werden. Wer wohl
irgend zwei Dinge oder Seinsbestände unterscheiden will,
der muß sie zunächst in einem Wissen und also in einer
umfassenden Einheit vor sich haben. So läßt sich sagen:
Die Identität des Geschehens oder des Gewirkes hebt
die Nichtidentität des Bestehens so wenig auf, daß sie
vielmehr diese Nichtidentität als Unterscheidung erst
ermöglicht. Sie ist kein fern liegender Gedanke. Dieser
Gedanke hat nur die Schwierigkeit an sich, daß uns
manchmal das am fernsten ist, was uns unmittelbar vor
Augen liegt 5 •
115
2. Der Unterschied zwischen der Identität
des Geschehens und der Identität des Bestandes
in der Tradition
116
d,·, Aussehenden betont, sofern beide in ihrem „Im-Wir-
~,·11-Sein"betrachtet werden. Aber es ist die Einheit des
l lntl'rschiedenen und unterschieden Bleibenden, was so-
fort an den Tag kommt, sobald dieses in seinem Für-sich-
'u:111betrachtet wird. Schon bei Aristoteles wird also der
l lnterschied gemacht zwischen der Einheit und Selbigkeit
dl's Vollzuges und der Nichteinheit und Nichtselbigkeit
dl's rür-sich-Seins. Es ist der Unterschied, den wir auch
lwi Meister Eckhart antreffen.
Charakteristisch bei Aristoteles ist aber dann, daß diese
Art der Selbigkeit des Nichtselbigen besonders dort ent-
dn~kt wird, wo die Ebene des nous, des Geistes, erreicht
wird. Dieser Gedanke findet dort erst für Aristoteles seine
l 1gcntliche Höhe. In De anima lesen wir: ,,6 voü; tcniv
0
, A.a.O. 431b,17.
117
bleiben nicht-identisch. Wiederum haben wir also die
Identität des Nichtidentischen, und die Sache der Identität
spielt sich auf durchaus verschiedenen Ebenen ab, die aber
miteinander kommunizieren.
Dieses Philosophumenon ist von den mittelalterlichen
Aristotelikern im vollen Maß übernommen worden, of-
fenbar um seiner Jahrtausende überdauernden Überzeu-
gungskraft willen. Dies sieht man wiederum am besten
bei Thomas von Aquin. In seinem Kommentar zu den
aristotelischen Büchern De anima lesen wir, nachdem
zuerst vom Gesichtssinn die Rede war: ,,actus cuiuslibet
sensus est unum et idem subjecto cum actu sensibilis, sed
ratione non est unum." 8 Dies kann man so übersetzen:
Der Vollzug eines jeden Sinnes ist einer und derselbe mit
dem Vollzug des Erscheinenden für den Sinn hinsichtlich
dessen, was zugrunde liegt. Aber hinsichtlich der Hinsicht
ist er nicht einer. Wieder also ist von der Identität des
Vollzuges die Rede, und wieder ist sie die Identität des
Nichtidentischen, wenn man nämlich auf das Sehen einer-
seits und auf das Gesehene andererseits auch gesondert
hinsieht. Dann sind sie freilich nicht identisch.
Und auch hier ist wieder das Analoge vom Intellectus,
vom Geist zu lesen. Thomas interpretiert den aus Aristo-
teles zitierten Satz „intellectum in actu et intelligens in
actu sunt unum" 9 , indem er sagt: ,,species ... rei intellec-
tae in actu est species ipsius intellectus" 10 • Das heißt, das
Aussehen der eingesehenen Sache im Vollzug ist das Aus-
sehen des Einsehens selbst. Und dies bedeutet: Es ist im
Vollzug des Einsehens nichts anderes zu sehen als das
Aussehen der Sache. Beides fällt ins Eine des Vollzugs.
8
Th v. Aquin, Comm. in lib. de an, L III, lec 2, Nr. 590.
9
Wir übersetzen: ,,Das Eingesehene im Vollzug und das Einsehen
im Vollzug sind eines."
10 Vgl. a. a. 0. L III lec. 9, Nr. 724.
118
l>icser Gedanke ist für Thomas so fundamental wie für
Mcister Eckhart. Er ist für ihn keineswegs nur beiläufig.
Man kann sogar sagen, daß er dem Ganzen seines Sy-
,tl'mentwurfs zugrunde liegt. Das sieht man besonders
dl'utlich, wenn man die Einteilung des gesamten Seins
hest, wie sie Thomas in De anima vornimmt. Dort lesen
wir: ,, ... secundum esse materiale ... unaquaeque res est
hoc solum quod est, sicut hie lapis non est aliud quam
hie lapis. Secundum vero esse immateriale, quod est am-
plum et quodammodo infinitum ... res non solum est id
quod est, sed etiam quodammodo alia." 11 Das heißt also:
1)as materielle Sein etwa des Steines ist von sich selber her
auf sich selber beschränkt und daher nur auf sich selber
bezogen und ist in diesem Sinne nur, was es ist. Das imma-
tl'rielle Sein hingegen ist geweitet über die Grenzen seines
l'igenen Seins hinaus, so daß es auch „quodammodo" ist,
was es nicht ist. Hier ist die Identität mit dem Nichtidenti-
"chen in einer scharfen dialektischen Form ausgespro-
rhcn) und sie ist mit dem Modus des Seins verbunden, aus
dem je ein eigentümlicher Modus der Identität hervorgeht.
l)iese Modi sind wiederum mit den grundlegenden Cha-
rakteristiken der Materialität bzw. Immaterialität zusam-
mengebracht. Daraus ergeben sich für Thomas die ober-
sten Gesichtspunkte der Einteilung des Seins des Seienden
im Ganzen. Das heißt aber: Die Differenz in der Weise
Jcr Identität, und insbesondere das Erscheinen der Identi-
tät des Vollzugs, also der Identität auch mit dem Nicht-
idcntischen, liegt dem ganzen Systementwurfzugrunde. So
grundlegend ist dieser Gedanke für Thomas von Aquin.
11
Vgl. a. a. 0. L II, lec. 5, Nr. 238 „Gemäß dem materiellen Sein
1st eine jegliche Sache nur das, was sie ist, wie dieser Stein nichts
.,nderes ist als dieser Stein. Gemäß jedoch dem immaterialen Sein,
das weit und auf eine gewisse Weise unbegrenzt ist, ist die Sache
nicht nur das, was sie ist, sondern auch auf gewisse Weise anderes."
119
3. Die Identität des Geschehens
und die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Differenz
120
K'''nie auf das mögliche Verhältnis des lebendigen Men-
,, hcn zum lebendigen Gott bezogen. Er hat an der vorher
,111ertenStelle zwar von der quodammodo, das heißt auf
.:rwisse Weise ins Unendliche sich weitenden Weite des
lntcllcctus gesprochen. Aber daß er deswegen mit dieser
1111l'ndlichenWeite sich in die lebendige Unendlichkeit
\Trscnken könnte und im Vollzuge mit dieser dann eins
werde, davon lesen wir freilich bei Thomas nichts, wohl
.,her bei Meister Eckhart. Thomas war dafür viel zu vor-
,1d1tig. Er hat die kühnsten Konsequenzen aus seinen ei-
~t·ncn Voraussetzungen mit Bedacht nicht ausgesprochen,
wie dies der Meister Eckhart seinerseits beständig tut. Die
Ansätze bei Thomas sind gleich kühn und weittragend,
.,ha in der Durchführung derselben blieb er offenbar ganz
lwwußt im Rahmen dessen, was in der Kirche ohne An-
,tof~ zu sagen möglich war.
Der Meister Eckhart aber hat daraus die äußerste Kon-
"'quenz gezogen. Er ist damit angestoßen. Aber gerade
von diesem Zusammengehen mit den Ansätzen bei Tho-
mas von Aquin und über Thomas mit Aristoteles kann
man zeigen, daß er in dieser Sache nicht unrecht hatte,
~,her allerdings etwas weiter dachte bis zum äußersten
dessen, was schon lange in der anerkannten Welt des Den-
kl'ns ausgesprochen war.
1)ic Identität des bloß vorhandenen und bloß auf sich be-
1.ogenen Seins des Seienden ist starr. Sie läßt keine Ab-
wandlungen und Bewegungen zu. Die Dinge, unter diesem
Aspekt betrachtet, sind einfach, was sie sind, und damit
ist dann schon alles gesagt und nichts mehr dazuzusagen.
121
Die Identität des Geschehens, auf die wir jetzt gekom-
men sind, eröffnet demgegenüber so etwas wie einen wei-
ten Spielraum von Möglichkeiten. Sie umfaßt viele mög-
liche Gestalten und Stufen des Seins und zeigt sich dann
immer wieder in neuer Form. Als die Identität des Nicht-
identischen faßt sie, um bei diesem Beispiel zu bleiben, das
Sehende und das Gesehene in das Sehen zusammen, und
dies hat dann zur Folge, daß diese zusammenfassende
Identität von einem Pol zum anderen oder auch umge-
kehrt durchlaufen werden kann und daß demgegenüber
das zusammenfassende Sehen verschieden entwickelt und
abgewandelt werden kann. So ergibt sich ein weiter Spiel-
raum von lebendig sich abwandelnden Möglichkeiten im
Lichte der einen alles zusammenfassenden Identität des
Geschehens.
Dies macht sich auch in dem Gedanken des Meisters
Eckhart bemerkbar, und zwar auf verschiedene Weise.
Einmal dadurch, daß er für diese Identität auch ganz all-
gemeine und unspezifische Begriffe vorschlägt wie die des
Werdens und der Bewegung. Dadurch wird der Spielraum
dieser Identität erheblich ausgeweitet. Denn das Unspezi-
fische wie das Werden und die Bewegung umfaßt alles
Mögliche. So weit bewegt sich Eckhart auch noch ganz
im Boden überlieferter aristotelischer Philosophumena.
Aber dann geht er noch weiter und zeigt, daß es im leben-
digen Vollzug dieser Identität selber verschiedene Gestal-
ten und Vollzüge gibt. Und schließlich legt er ein Modell
der so sich ergebenden Abwandlungen der Identität vor,
das er aus dem Verhältnis der Gerechtigkeit zum Gerech-
ten entwickelt. Dies soll im folgenden dargelegt werden.
122
I. Al/gemeine Grundlage der Identität des Geschehens
1
DW I, 114, 2ff. ,,Das Wirken und das Werden ist Eines. Wenn
der Zimmermann nicht wirkt, wird auch das Haus nicht. Wenn die
Axt ruht, ruht auch das Werden."
2 Ebd. ,,Gott und ich, wir sind Eins in diesem Gewirke; er wirkt
123
Abgeschiedenen bezogen heißt das: Gott wirkt seine stille
große Gegenwart in mir, und ich werde das Da dieser Ge-
genwart. In dem „Gewirke", das heißt in dem In-eins-
Schlag des Wirkens und des Werdens, geschieht das eine
Geschehen der Gegenwart. Aber dieses Eine kann von
zwei Seiten betrachtet werden, von der des Wirkens und
von der des Werdens. Und diese zwei Seiten weisen auf
die Verschiedenheit dessen, der wirkt, Gottes, hin und
dessen, an dem und in dem gewirkt wird. Also ist durch
die Identität des „Gewirkes" der Unterschied und die
Nichtidentität der Beteiligten nicht aufgehoben. Ja man
kann auch hier, in dieser allgemeineren Formulierung,
wieder sagen: Aus dieser Identität des „Gewirkes" ent-
steht erst das Unterschiedene und sein Unterscheiden. So-
lange der Zimmermann das zu bauende Haus erst im
Geiste hat, ist der Unterschied zwischen Haus und Zimer-
mann noch nicht deutlich. Wenn er aber im Vollzug des
Bauens eins wird mit dem Geschehen des Gebautwerdens,
dann tritt aus dieser Identität das andere als anderes erst
heraus.
Da aber die Sache der Identität hier nun in den Gedan-
ken des Wirkens und des Werdens gefaßt ist und das Wir-
ken und das Werden sehr unspezifische und allgemeine
Bestimmungen sind, so läßt dieser Gedanke nun in dieser
Form auch noch weitere Möglichkeiten offen, und also
weitere Auslegungen als nur die, die sich auf die Abge-
schiedenheit beziehen. Man braucht nur daran zu denken,
daß Gott nicht nur die Abgeschiedenheit, sondern
schlechthin alles wirkt und daß das Sein alles Seienden in
seinem Werden oder Gewordensein als ein Werk Gottes
auf gefaßt werden kann und daß überdies Gott ein jedes
auf seine Weise wirkt, dann erkennt man die große
Spannweite der Möglichkeiten der Abwandlungen dieser
nun so gefaßten Identität. Sie verdankt sich der unspezifi-
124
sehen und also alles umfassenden Weite der hier ge-
hrauchten Bestimmungen.
Auch diese weitere Fassung des Identitätsgedankens ist
schon vorgebildet im älteren mittelalterlichen Aristotelis-
m us und auch bei Aristoteles selbst.
So lesen wir bei Thomas:,, ... Unus motus secundum
substantiam est actus utriusque (sc. moventis et moti), sed
differt ratione." 3 Das heißt: ,,Eine Bewegung gemäß dem,
was hier zugrunde liegt, ist der Vollzug des Bewegenden
und des Bewegten. Aber es ist ein Unterschied in der Hin-
sicht." Denn wenn ein Bewegendes ein Bewegtes bewegt,
entsteht nur eine Bewegung. Und diese eine Bewegung ist
das je aktuelle Sein sowohl des Bewegenden wie auch des
Bewegten. Und Bewegung ist hier in einem sehr allgemei-
nen und grundsätzlichen Sinne zu nehmen, es wird in un-
serem Kontext ausdrücklich identifiziert mit dem Be-
griffspaar actio und passio, es fällt also dem Sinne nach
zusammen mit dem Wirken und dem Leiden. Das Leiden
kann aber auch als Werden verstanden werden. So haben
wir denselben Gedanken in derselben allgemeinen Fas-
sung wie bei Meister Eckhart.
Er ist bei Thomas wie bei Eckhart direkt aus Ari-
stoteles übernommen: ,,µia,; aµq>otv tvtpyEta" (nämlich
4
tOO KlVll'tlKOO KCll 'tOÜ KtVE'tOÜ).
Auch hier hat man also schon die sehr weiten und allge-
meinen Fassungen der Identität des Geschehens, die viele
Variationen und Anwendungen ermöglichen. Der Meister
Eckhart fußt auch hier auf einer guten und bewährten
Tradition. Er hat daraus die erstaunlichsten Konsequen-
125
zen gezogen bezüglich des Verhältnisses des Menschen,
ja schließlich des Seienden überhaupt zu Gott, und darin
ist er allerdings über seine Vorlage weit hinausgegangen.
5
Vgl. die Parallelen, die Quint anführt in DW I, 154, lff u. Anm.
1; 259, lff. und Anm.1; ferner 266, 2ff. und Anm.1; dazu LW
IV, 35,5-15.
6 DW I, 265, 9 ff. ,,Ein jegliches Bild hat zwei Eigenschaften. Das
eine ist, daß es von dem, dessen Bild es ist, sein Sein unmittelbar
empfängt, ober den Willen, denn es hat einen natürlichen Ausgang
und dringt aus der Natur wie der Ast aus dem Baum."
126
l'twas oder jemand abzubilden, zeigt nichts als das Antlitz
des Abgebildeten. Schaut man in den Spiegel, so sieht man
nicht den Spiegel oder das Glas, jedenfalls dann nicht,
wenn der Spiegel gut ist. Es zeigt sich nur das gespiegelte
und abgebildete Antlitz, und dieses Zeigen ist das ganze
Sein des Spiegels, insofern er Spiegel ist. Dies ist sein We-
sen oder sein Sein, wie der Meister sagt: Zeigen des Antlit-
zes des Gespiegelten. Das Antlitz ist aber nicht Sein des
Spiegels, sondern das Sein dessen, der sich spiegelt. In die-
sem Sinne nimmt der Spiegel in der Tat sein Wesen, näm-
lich das Zeigen des Antlitzes, von seinem anderen, von
dem nämlich, dessen Bild er wiedergibt.
Dieses Nehmen des Seins von anderen geschieht dabei
,,ohne Mittel" und oberhalb des Willens. Es geschieht ein-
fach dadurch, daß das Antlitz es selbst ist und sich als es
selbst zeigt, nicht aber dadurch, daß es etwa etwas Beson-
deres täte, daß es also willentlich und willkürlich zu sei-
nem Sein etwas hinzufügte. Und es erscheint dann das
Antlitz im Spiegel auch ohne Mittel. Nirgends ist etwas
von einem Mittel oder einer Vermittlung zu sehen; es gibt
in diesem Vorgang nichts dergleichen.
Es ist für den Phänomenbestand sehr kennzeichnend,
daß wir diesen Zusammenhang auch bei anderen Bildern
beobachten, sofern es ihr Wesen ist, etwas oder jemanden
abzubilden. Die Sprache mit ihren Gewohnheiten folgt
auch hier genau dem Phänomen. Wenn uns etwa ein Photo
~czeigt wird von bekannten Personen, dann pflegen wir
zu fragen: Wer ist das? Oder wir sagen darauf blickend:
1)as ist der und der, und niemand fragt: Was ist das, und
niemand erwartet darauf die Antwort: Das ist Papier, das
auf eine bestimmte Weise beschichtet und belichtet ist, es
sl'i denn, er sei aus dem Gebrauch dieses Gegenstandes
als Bild ganz ausgestiegen. Aber die Sprache tut das nicht.
lJnd achten wir darauf: Die Sprachgewohnheit folgt auch
127
darin genau dem Phänomen, daß gesagt wird: Das ist der
und der. Das Sein, das in einem solchen Satz de·m Bilde
zugeschrieben wird, ist gerade nicht das Sein des Bildes,
sondern das des Abgebildeten. Also haben wir hier wie-
derum die Identität des Nichtidentischen. Das Bild ist, was
es auch - anders betrachtet - nicht ist. Auch dies ist, wie
man sieht, eine Identität des Geschehens.
Es kommt aber nun dazu, daß diese Identität des Ge-
schehens auf der einen Seite hin als ein Ursprungsgesche-
hen sichtbar wird, das Bild entspringt aus dem Abgebilde-
ten und erbildet sich von daher im Abbildenden.
Aber dieses Ursprungsgeschehen hat ja noch eine an-
dere und die erste ergänzende Seite. An einer späteren
Stelle in derselben Predigt 16d lesen wir: ,,daz bilde enist
sin selbes niht, noch enist im selber niht." 7 Diese Doppe-
lung wird im Zusammenhang mehrere Male wiederholt.
Was sagt sie? ,,Es ist sin selbes niht" ist offenbar ein geni-
tivus originis. Der Ursprung des Bildes, das, von woher
das Bild ist, was es ist, liegt im anderen seiner. Aber zu
diesem Genitiv des Ursprungs tritt in einer auffallenden
Parallelität ein Dativ. Es ist ihm selber nicht, das heißt,
es zeigt sich und gibt sich nicht ihm selbst. Es zeigt sich
und gibt sich dem, der es anschaut und den es, sofern es
ein Spiegel ist, abbildet. Das Bild ist nicht nur von seinem
anderen her, was es ist, es ist auch auf sein anderes zu
und für sein anderes das, was es ist. Die Bewegung des
Ursprungs kehrt sich darin um. Das Bild, indem es sich
zum Anschauenden hinwendet und für ihn da ist, wird
selber ein Ursprung, aber nun in der umgekehrten Rich-
tung: vom Bild zu dem hin, der es anschaut und den es
zuerst abgebildet hat. Beides aber sind dynamische
7
A. a. 0. 269, 2-3. ,,Das Bild ist nicht seiner selbst, und es ist auch
nicht für sich selbst."
128
Aspekte des einen Identitätsgeschehens. Es geht von einem
Pol aus und erbildet sich im anderen. Und es blickt dann
vom anderen weg und gibt sich wieder dem einen.
So entfaltet sich das Geschehen der Identität in einer
zweifachen Bewegung, darin beide Seiten einander zuge-
ordnet sind und einander durchdringen.
Und wenn man diesen In-eins-Schlag und dieses sich
begegnende Durchdringen eigens benennen will, geson-
dert von dem ersten und dem zweiten Pol, so entsteht eine
triadische Gestalt, in die sich die eine Identität des Ge-
schehens hier entfaltet und in der sie aus dieser Entfaltung
sich wieder zur Einheit zusammenfügt.
Von diesem Modell her kommt man nun leicht auf das
andere und höhere Modell der Vaterschaft und der Sohn-
'-Chaft. Die beiden Modelle scheinen bisweilen ineinander
1111Text des Meisters Eckhart. Die Worte von der Vater-
schaft und der Sohnschaft leuchten aber auch voraus in
die höchsten Geheimnisse der christlichen Trinitätslehre.
Wenn das Bild dem gehört, von dem es seinen Ursprung
nimmt und den es abbildet, dann kann dieser, eben weil
l'r der Ursprung ist, auch als der Vater des Bildes betrach-
tet werden. Und das Bild und Ebenbild ist dann nichts als
das Ebenbild des Vaters und so dessen Sohn, der von ihm
her ist, was er ist. Und da der so sich konstituierende Sohn,
das Ebenbild, dann zum ersten Ursprung, dem Vater, zu-
rtickblickt und zurückleuchtet und sich so verbindet mit
wner Bewegung, die vom „Vater" herkommt, so entsteht
cine Art Trinität lebendiger Vollzüge, aber in all diesem lebt
11id1tsals die eine, freilich sich entfaltende Identität des
<;l'schehens.
129
4. Sohnschaft und Vaterschaft im Verhältnis
des abgeschiedenen Menschen zu Gott
130
",nst ist nichts in ihm. So ist er das Bild Gottes, das heißt
d.1,,worin er erscheint. Aber das Bild kommt nur von Gott
twr. Es hat seinen Ursprung nur dort. Es ist ein gerichtetes
llrsprungsgeschehen in der ungeteilten Einheit der Ge-
>trnwart. In dieser Gegenwart ist phänomenal keine Ver-
rmttlung da, kein Zwischengedanke, der gleichsam ne-
ll<·nhcrliefeund Gott der Seele reichte. Es ist vielmehr reine
und ungeteilte und in diesem Sinn unvermittelte Gegen-
wart.
Weil aber dieses Geschehen ein Ursprungsgeschehen
"r, in welchem Gott als der Ursprung den Menschen be-
ruhrt und sich ihm zeigt, kann dies auch Vaterschaft ge-
11.111nt werden. Der Mensch empfängt das, was er nun ist,
11.imlichGegenwart Gottes, ganz vom Vater, und so emp-
Ungt er sich vom Vater. Und da der Vater in diesem Ver-
h~iltnis aus sich herausscheint und -leuchtet in der Stille
dl·rAbgeschiedenheit, kann dies auch Sohn genannt wer-
dl·n, das heißt der, der vom Vater her ist, was er ist.
Und deswegen kann auch der Mensch in diesem Zu-
,.,mmenhang Sohn genannt werden, denn er ist ja nun,
11.Khdem er sich selbst und alles andere vergessen hat,
111rhtsanderes mehr als dieses offene Sein vom Vater her.
1)cshalb kann der Meister Eckhart in unserer Predigt
4 mit der ihm eigenen Kühnheit sagen: ,,Da der vater sinen
\llll in mir gebirt, da bin ich der selbe sun und niht ein
.111dcr;wir sin wol ein ander an menschheit, aber da bin
1\·h der selbe sun und niht ein ander." 10
1)as sind aufs neue erstaunliche und kühne Identitäts-
formeln. Aber sie lassen sich deuten aufgrund der Gedan-
~l·n, die wir erwogen haben. Der Mensch in seiner Abge-
"' A. a. 0. 72, 14-73,2 „Wo der Vater seinen Sohn in mir gebiert,
,l.1 hin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer; wir sind wohl ver-
,, htl·dcn im Menschsein, dort aber bin ich derselbe Sohn und nicht
n11 .rnderer."
131
schiedenheit ist reines Erscheinen des Vaters. Als
Erscheinen erscheint der Vater als Bild und Ebenbild. Und
das heißt: Erscheinen im anderen seiner. Als Ebenbild ist
dieser Sohn der, der vom Vater her ist, was er ist. Aber
auch der Mensch ist nun der Sohn und derselbe Sohn.
Denn im lebendigen Geschehen dieses Vollzuges ist er
nicht mehr er selbst, er hat sich selbst vergessen, er ist nur
noch reine Gegenwart des ewigen Geheimnisses selbst,
und so derselbe Sohn, nämlich wenn dieses Wort „er ist"
heißt: er vollzieht in stiller, lebendiger Versenkung. Er ist
im Sinne dieses Vollzuges „gleichen Wesens mit dem Va-
ter".
Aber freilich ist diese Einheit und Identität im Vollzug
zugleich Nichteinheit und Nichtidentität im Bestand.
Darum sagt unser Text: Wir sind wohl verschieden an
Menschsein (oder an Menschheit), aber „da" bin ich der-
selbe Sohn. Der Unterschied wird nicht ausgelöscht. Inso-
fern ich dieser Mensch bin, bin ich ein anderer, ja ein ganz
anderer als Gott, aber „da", und das heißt: Im Vollzug
der Abgeschiedenheit und der Präsenz bin ich nichts ande-
res mehr. Denn was sich in diesem „da" zeigt und er-
scheint und vollzogen wird und in diesem Sinne des Sich-
Zeigens und Erscheinens und Vollziehens „ist", ist gerade
nicht das Menschsein oder die Menschheit. In diesem
Sinne „ist" dieser Mensch wirklich der Sohn und derselbe
Sohn, das heilst der ganz Geöffnete, ganz Zugewandte,
ganz von seinem anderen Erfüllte, nur noch von daher Le-
bende.
Die kühnen Worte bleiben zwar kühn, ja anstößig.
Aber sie sind von der Sache her, um die es geht, verständ-
lich.
132
~. Die Sache mit der Dankbarkeit
11
A. a. 0. 27, 1-6. ,,Wenn nun der Mensch immerfort Jungfrau
w~irc, so käme keine Frucht von ihm. Soll er fruchtbar werden, so
"' t·s notwendig, daß er Weib sei ... Daß der Mensch Gott in sich
rmpfängt, das ist gut, und in dieser Empfänglichkeit ist er Jungfrau.
1bf~ aber Gott fruchtbar in ihm werde, das ist besser."
133
dankbaerkeit, da er gote widergebirt Jesum in daz veter-
liche herze." 12
Was ist die „wiedergebärende Dankbarkeit"? Der
Dank entspringt aus dem, der beschenkt wurde, und er
gilt dem Schenkenden. Er ist eine Bewegung vom Be-
schenkten zum Schenkenden. Und was entspringt in dieser
Bewegung vom Beschenkten zum Schenkenden hin? Was
sagt er etwa zu ihm? Sagt er nicht vielleicht: Das also hast
du mir gegeben, du bist so gut! In solcher Rede hat er es
zwar mit der Gabe, aber nicht mit der Gabe allein zu tun.
Vielmehr mit dem Geben des Gebenden. Und vor allem
damit, daß dieser so ist, wie er ist, so gut. Dessen Sein
als das Gut-Sein des Gebenden geht nun aus dem Herzen
und aus dem Mund des Beschenkten hervor und geht, so
hervorgehend, dem Schenkenden selber wieder entgegen.
Der Gebende selber leuchtet in solchen Worten aus dem
Beschenkten und strahlt ihm selber wiederum entgegen.
Und dieses Widerstrahlen ist erfüllt von den freudigen und
liebenden Empfindungen des Beschenkten. Es geschieht
also eigentlich nichts Neues und doch etwas Neues. Nichts
Neues, denn nur das, was schon da ist, der Schenkende
in seiner Güte, wird im Dank vollzogen. Es ist aber doch
etwas Neues, denn er wird nun vom Beschenkten aus voll-
zogen, aus ihm geht er nun hervor, er „gebiert" ihn, und
in diesem Hervorgang und dieser Geburt ist er erfüllt von
freudigen und liebenden Empfindungen.
Diese „Wiedergeburt" entsteht aus dem Herzen des Be-
schenkten aber nicht zufällig. Sie entsteht vielmehr dar-
aus, daß er zuerst „empfangen~' hat, nämlich den Ein-
12 Ebd. 6-9. ,,Denn Fruchtbarkeit der Gabe, das ist alleine Dank-
barkeit für die Gabe, und da ist der Geist Weib in der wiedergebä-
renden Dankbarkeit, weil er Jesum wiedergebiert in das väterliche
Herz."
134
,lruck des in der Gabe sich selbst an ihn Verschenkenden.
/.ucrst wurde er ja erfüllt von dieser schenkenden Güte.
Also kann man auch sagen: Das „Wiedergebären" geht
.ms dem „Ebenbild" des Schenkenden im Beschenkten
tu·rvor, daraus, daß der Schenkende in seiner Güte leuch-
1,·t im Herzen und im Geist des Beschenkten und diesen
K~•nzerfüllt.
Der Vorgang ist, wie man sieht, analog dem beim Spie-
Kl'ihild. Dieses kommt, wie wir sahen, nicht vom Spiegel,
\ondern von dem Antlitz, das sich darin zeigt, aber dieses
\picgelbild des sich Zeigenden weist wieder zurück und
lt·uchtet wieder zurück auf den, der im Spiegel sich zeigte.
Nur ist im lebendigen Herzen und Geist des Menschen
,owohl dieses Empfangen wie das ihm entsprechende
W icdergebären etwas Lebendiges, und es ist so erfüllt von
dem ganzen Reichtum des menschlichen und geistigen
Lebens.
Eben dieser Austausch nun, dieser Widerschein, dieses
Wiedergebären soll sich nun aus dem abgeschiedenen
Menschen erheben. Er ist versunken in Gott und so eins
mit Gott, indem er in seiner Versunkenheit Gott empfing
und dessen Bild wurde. Aber aus dieser Versunkenheit soll
sich nun der lebendige Widerschein, der lebendige Wi-
derklang erheben, der Dank: ,,Daß du so gut bist, daß du
so groß bist!" Die Größe Gottes soll widerscheinen und
widerklingen aus dem selbstvergessenen Herzen des von
( ;ott Erfüllten. Und all dies wird erfüllt sein von Dank
und Lob und Liebe.Vielleichtwird der so durchgebildete
Mensch gar nichts ausdrücklich sagen, vielleicht wird alles
im Schweigen geschehen. Aber dann vielleicht in um so
größerer Dichte und Fülle. Und auf diese Weise wird Gott
,clbst aus dem Herzen des von Gott so tief Berührten her-
vorgehen, wiederum Gott entgegen. Und so gebiert er also
<;ott aus der lebendigen Fruchtbarkeit dessen, was Gott
135
ihm geschenkt hat, dessen Ebenbild, Jesus genannt, m
dessen väterliches Herz.
Wir sehen: Der In-eins-Schlag von Gott und Mensch,
diese lebendige Identität entfaltet sich nun in einer dop-
pelten Bewegung, deren beide Züge einander entsprechen
und einander durchdringen.
Darum kann es im weiteren Fortgang dieser Predigt
heißen: ,,Diu selbe kraft, dar abe ich gesprochen hän, dä
got inne ist blüejende und grüenende mit aller siner gotheit
und der geist in gote, in dirre selber kraft ist der vater ge-
bernde sinen eingebornen sun als gewaerliche als in im
selber, wan er waerliche lebet in dirre kraft, und der geist
gebirt mit dem vater den selben eingebornen sun und sich
selber den selben sun und ist der selbe sun in disem liehte
und ist diu wärheit." 13
Von dieser höchst konzentrierten und darum schwieri-
gen Stelle hat Eckhart später in der Rechtfertigungsschrift
selber gesagt: ,,In hoc sermone multa sunt obscura et du-
bia." 14 Sie dürfte aber deutbar sein im Lichte dessen, was
wir oben erwogen haben.
Wir müssen dabei nur bedenken, daß das, was hier
Geist oder Kraft genannt wird, jenen Grund im Menschen
bezeichnet, in dem Gott für den Abgeschiedenen erschei-
nen kann. Von diesem Grund oder von dieser Kraft wird
später noch eigens zu sprechen sein. In diesem menschli-
13
A. a. 0. 40, 4--41, ,,Jene nämliche Kraft, von der ich gesprochen
habe, darin Gott grünend und blühend ist mit seiner ganzen Gottheit
und der Geist in Gott, in derselben Kraft gebiert der Vater seinen
eingeborenen Sohn so wahrhaft wie in sich selber, denn er lebt wirk-
lich in dieser Kraft, und der Geist gebiert mit dem Vater denselben
eingeborenen Sohn und sich selbst als denselben Sohn und ist der-
selbe Sohn in diesem Lichte und ist die Wahrheit."
14 RS § 2,4 art. 13. zitiert nach Thery, 204. ,,In dieser Predigt ist
136
, hl'11 Grund grünt und blüht Gott, das heißt, er ist lebendig
d.1ri n gegenwärtig, er erbildet sein Ebenbild, seine Er-
\\ hl'inung darin, und so wird der Mensch zum Ebenbild
oder zum Spiegelbild Gottes. Er wird in diesem Sinne der
.,\ohn Gottes", und dieser selbe Sohn wird zuerst vom
Vater geboren, das heißt, er geht aus dem ewigen Ur-
,prung auf im Herzen des ihm offenen Menschen. Aber
.,,u.:hder Geist des Menschen, der von Gott berührt ist,
~d,icrt mit dem Vater denselben Sohn, das heißt, er läßt
1111dankbaren Lob wiederum aus seinem eigenen Grund
'" Eine ähnliche Stelle findet sich in DW II, 306, lOff in der Predigt
·1.! ,,Adulescens, tibi dico: surge".
137
Nichtidentischen zunächst wieder auseinandernimmt und
dann das Geschehen ihres In-eins-Schlags wieder geson-
dert betrachtet. In diesem Sinne lesen wir im Buch der
göttlichen Tröstung: ,,Ein ist begin äne allen begin. Glich-
nisse ist begin von dem einen aleine und nimet, daz ez ist
und daz ez begin ist, von dem und in dem einen. Minne
hat von ir nature, daz si vliuzet und urspringet von zwein
als ein. Ein als ein engibt niht minne, zwei als zwei engibt
niht minne; zwei als ein gibet von nöt natiurliche willicli-
che, hitzige minne." 16
An dieser Stelle lesen wir das Wort Minne an dem Ort,
an dem wir in der Predigt 2 Dankbarkeit gelesen haben.
In der Tat kann das eine Wort durch das andere ersetzt
werden. Denn der lebendige Dank ist liebender Dank, und
die lebendige Liebe ist dankbare Liebe. Also können wir
diese Stelle von unserem Zusammenhang her lesen.
Dann werden in ihr zunächst die Termini wieder aus-
einandergenommen und sozusagen gezählt: Eins, zwei.
Aber das isolierte Eins ist ein abstraktes Eins, das das Le-
ben der Liebe oder des Dankes nicht hergibt. Die abstrakte
Zwei, deren jede Einheit für sich betrachtet werden kann,
ergibt auch nicht das Leben der Liebe, Wohl aber ergibt
sich dieses Leben, wenn der erste göttliche Ursprung, der
keinen Ursprung hat, sein Ebenbild oder sein Gleichnis
erbildet im Geist des Menschen. Dann empfängt der
Mensch, die Nummer Zwei in diesem so betrachteten Ge-
schehen, dieses, daß er ist und daß er Bild ist von der großen
Eins Gottes. Er empfängt aber auch, daß er seinerseits die-
16 DW V, 30, 13-18 „Eins ist Beginn ohne allen Beginn. Gleichheit
ist Beginn von dem Einen allein und nimmt dies, daß es ist und daß
es Beginn ist, von dem und in dem Einen. Liebe hat von ihrer Natur,
daß sie fließt und entspringt von zweien als eins. Eins als eins ergibt
nicht Liebe, zwei als zwei ergibt nicht Liebe, zwei als eins gibt not-
wendig natürliche und freiwillige und heiße Liebe."
138
,•., Ursprung und Beginn ist: in der dankbaren Liebe und
,Irr hl·hcnden Dankbarkeit. Und dann entsteht aus der
/w,·1 cinc neue Eins, nicht zwar die isolierte und abstrakte
1 mlwit, wie sie zuvor erwogen wurde, sondern die Einheit
"'' ,wcien, die gegenseitige Liebe, in der beide Ursprünge
• u·da in eins schlagen.
/.jhft man auch diese Liebe, so ist sie das dritte Element
,,rhl'n dem ersten und zweiten und aus ihnen und in ihnen,
und so bildet sich ein Ternar.
1>aaber dieses Leben, dessen Darstellung dieser Ternar
1e·111 kann, ebenso das Leben ist, in dem Gott und der
11
Man vergleiche dazu besonders Stellen aus dem Johanneskom-
ml'ntar wie z.B. LW III, 133, 9 ff.
1
" Vgl. die Stellen bei LW III, 13, Anm. 1.
139
bezeichnen. Im Buch der göttlichen Tröstung steht aus-
drücklich, daß alles, was gesprochen wurde von dem Gu-
ten und von der Güte, auf gleiche Weise gilt von dem
Wahren und von der Wahrheit, von dem Gerechten und
von der Gerechtigkeit, von dem Weisen und von der
Weisheit, von Gottes Sohn und von Gott dem Vater. Von
allem, was von Gott geboren ist 19 • Das Modell des Ge-
rechten und der Gerechtigkeit kommt in dieser Aufzäh-
lung gleichfalls vor, und in diesem Modell wird also ge-
mäß dem zitierten Satz der ganze zentrale und umfassende
Gedanke zusammengefaßt. Das Modell selber dürfte auf
Augustin zurückgehen, und im Rahmen der augustini-
schen Erörterungen weist der Meister überdies ausdrück-
lich darauf hin, daß er sich, um diese Zusammenhänge
zu erläutern, an die platonischen Schriften hielt 20 • Das
Problem, das in der gedanklichen Figur vom Gerechten
und von der Gerechtigkeit steckt, ist darum mit Recht von
vielen Eckhart-Interpreten als zentral angesehen wor-
den 21 • Das Modell vom Gerechten und der Gerechtigkeit
·schildert das Verhältnis des Vaters zum Sohne in der gött-
lichen Trinität. Aber ebenso auch das Verhältnis des ab-
geschiedenen Menschen, der auf seine Weise Sohn und
Bild Gottes geworden ist, zum göttlichen Ursprung. Hier
spiegelt sich also die Entfaltung der lebendigen Identität
bei von Bracken, Meister Eckhart als Philosoph, und bei H. Ebeling,
Meister Eckharts Mystik, wird das behandelt. Spezielle Studien dar-
über gibt es von Bindschedler, Meister Eckharts Lehre von der
Gerechtigkeit, und von H. Pietsch, Meister Eckharts Lehre vom
Gerechten. Von unseren bisher erläuterten Zusammenhängen her
ergeben sich indessen, wie mir scheint, neue und umfassende
Gesichtspunkte zur Deutung dieses Gedankens.
140
• ,un Mannigfaltigkeit der Bezüge. Sie spielt sich in ei-
.. , ~frtyphysik gemäß der platonisch-augustinischen
i: - l,1111011. Dieser Gedanke ist aber jetzt angereichert
'o,,h wnc mächtige Bewegung, die wir als Überschreitung
~., ~frtaphysik betrachtet haben.
\\'u• 1st in diesem Modell von der Gerechtigkeit und
,. '" <,l·rcchten gedacht? Der Gerechte ist gedacht, inso-
'•," er gerecht ist und also nicht insofern er auch noch
·••""' hcs andere ist. Und die Gerechtigkeit ist gedacht und
• ..t,I auch erfahren als eine ursprüngliche Mächtigkeit,
,lu· ,1d1 im Menschen geltend macht, indem sie richtet.
1t«·under Mensch wird gemäß der Gerechtigkeit gerichtet
uml t111dctsich immer schon so gerichtet. Gerechtigkeit
... c-111cm solchen Verstande ist also nicht die der gesetzten
un,Ivon Menschenhand entworfenen Rechtsordnung, sie
,,, \·tdmehr erfahren als eine stille und mächtige Größe,
.m da auch jede menschliche Ordnung immer wieder ge-
111r,,l·nund oft genug verworfen werden muß. Sie ist et-
".,, l Jnbedingtes, das allem Bedingten immer wieder neu
,,·111 Maß vorgibt, ohne je rein erreicht werden zu können.
" 1.W III, 13, 4 f. ,,Erstens steht fest, daß der Gerechte als solcher
111dl'r Gerechtigkeit selber ist. Wie könnte er nämlich gerecht sein,
"·rnn er außerhalb der Gerechtigkeit wäre und getrennt von der
c ,c·n·chtigkeit draußen stünde?"
141
Und so ist der Abgeschiedene erfüllt und getragen und be-
lebt vom stillen göttlichen Licht. Dieses In-Sein ist einr
Weise des Eins-Seins.
Im dritten Satz dieses Zusammenhangs heißt es: ,,iustus
verbum est iustitiae, quo iustitia seipsum dicit et manife-
stat." 23 Die Gerechtigkeit erscheint im Gerechten wie das
Antlitz im Spiegel, wie der Vater im Sohn, wie Gott in
dem Geist des in ihn versenkten Menschen.
Im fünften Satz lesen wir dann in der Tat: ,,iustus pro-
cedens et genitus a iustitia hoc ipso ab illa distinguitur." 2 ➔
Er ist ganz von der Gerechtigkeit her, was er ist. Daher
kann er der Sohn genannt werden. Und darum heißt es
auch im sechsten Satz: ,,iustus est proles et filius iusti-
tiae." 25 Diese Sohnschaft bedeutet aber ein Doppeltes:
Der Gerechte ist eben dadurch verschieden von dem gött-
lichen Ursprung der Gerechtigkeit. Er ist nicht selber der
Ursprung der Gerechtigkeit. Eben durch den Hervorgang,
das Erzeugen, wird ein Unterschied gesetzt. Aber anderer-
seits ist das Unterschiedene seiner Natur nach das gleiche.
Es ist Unterschiedenheit in der Nichtunterschiedenheit.
Und der Mensch, der von Gott her ist, was er ist, ist
nicht Gott, aber er ist das Bild oder die Erscheinung oder
das Wort oder der Sohn Gottes und insofern von gleicher
Natur 26 • Aber dieser Unterschied, diese Nicht-Identität,
die zugleich Gleichheit bedeutet, wird dann auch wieder
und aus ihr geboren, wird eben dadurch von ihr unterschieden."
25 Ebd. 11. ,,Der Gerechte ist Sproß und Sohn der Gerechtigkeit."
26 Hier wird, wie man sieht, um des Zusammenhangs willen von
Gleichheit gesprochen, obwohl dieser Begriff an anderer Stelle, wie
wir gesehen haben, abgelehnt wurde. Es kommt jeweils auf den
Zusammenhang an.
142
.1.-
~ 11,l"haufgehoben. Dies ist das überraschende in
1 .. h,lgc von Sätzen. Im zwölften, nahe am eindrucks-
,,,
143
cipium sine principio«, vita, lux est." 29 Das Leuchtende
der Gerechtigkeit geht jetzt von ihm selber aus. Er hat im
Vollzug sein Woher hinter sich gelassen. Es ist zwar immer
sein Woher. Aber es ist nun so mit ihm eins geworden,
daß er im Vollzug rein von sich aus, als „principium sine
principio", als Ursprung ohne Ursprung, leben kann und
soll.
Und auch gerade dies kann wieder gelesen werden als
Modell des abgeschiedenen und in Gott versunkenen
Menschen. Er ist gewiß zuerst von Gott her bestimmt als
das, was er ist. Aber zuletzt erwacht das Leben aus ihm
selbst und von selbst und ohne Willentlichkeit und Will-
kür, und er gebiert aus sich in dankbarem Lob Gott zurück
in das Herz Gottes.
So spiegelt sich in der merkwürdigen metaphysischen
Sprache dieses Stückes noch einmal der ganze Reichtum
der Auseinanderfaltung der Identität des Geschehens, in
dem der abgeschiedene Mensch eins ist und doch ver-
schieden von Gott. Von ihm her lebend und zugleich von
sich aus auf ihn hin. Es erscheint wieder der zweifache,
von beiden Seiten sich durchdringende Lebensstrom, in
dem das Verschiedene, ohne seine Verschiedenheit zu ver-
lieren, in eins schlägt. Und der Hintergrund ist wieder die
theologische Idee der Trinität.
In dieser platonisch-metaphysischen Darstellung ge-
winnt das, was wir vorher in anderer Gestalt zu erkennen
suchten, neue Farben und neue Lichter. Und wir sehen da-
bei, daß der Meister ungescheuthin und her geht zwischen
den metaphysischen Denkformen und seiner kühnen
Überwindung aller Metaphysik. Und er umkreist dabei
immer nur das Eine, um das es ihm überall geht.
29 LW III, 17, 1 f. ,,Der Gerechte in der Gerechtigkeit als seinem
Ursprung ist eben dadurch, daß er ungezeugt ist, ein Ursprung ohne
Ursprung, er ist Leben und Licht."
144
l1i'eiter Teil
1kr Seelengrund als
.
Voraussetzung des Weges ins
,lu n kle Licht der Gottheit
145
Vorliegens ist es ihm dann auch möglich, sich in seinem
Vollzug über sich hinaus zu öffnen. Davon haben wir frü-
her schon in anderem Zusammenhang gesprochen 1•
Wollen wir also den Menschen ganz verstehen, dann
müssen wir ihn auch in seinem Schon-Sein oder in seinem
Sich-Vorliegen betrachten. Dieses erscheint dann im Hin-
tergrund und im Untergrund des Vollzugsgeschehens als
dessen verborgene Ermöglichung. Weil wir schon so sind,
wie wir sind, können wir uns dann schließlich auch so ver-
halten, daß wir uns ganz über uns hinaus öffnen in den
stillen Abgrund Gottes. Im Schon-Sein also liegt die Wur-
zel der Möglichkeit des Vollzuges und damit alles dessen,
was wir bisher betrachtet haben. Es erscheint ein schon
gegebener Hintergrund und Wurzelgrund, der dies alles
möglich macht.
Diesem Wurzelgrund gilt es im folgenden nachzuden-
ken.
146
1 111nder wichtigsten Texte für den Gedanken des See-
.. ol(rnru.h:sfinden wir in der Predigt 2 über den Text „In-
"' o II fl'sus in quoddam castellum". Da lesen wir: ,,Ich
,.,. " 11ndnwilen gesprochen, ez si ein kraft in dem geiste,
1•., ,, .1lll'ine vri. Underwilen han ich gesprochen, ez si ein
i.u• ,tt· des geistes; underwilen hän ich gesprochen, ez si
.... lal'ht des geistes; underwilen hän ich gesprochen, ez
„ .-111 vünkelin. Ich spriche aber nfi.:ez enistweder diz noch
,l.u ~ 11m:hdenne ist ez ein waz, daz ist hoeher hoben diz
.,rnldaz dan der himel ob der erde. Dar umbe nenne ich
, , ,11·1 in einer edelerr wise dan ich ez ie genante, und ez
~ .. u~l'llt der edelkeit und der wise und ist dar enboben.
1 , l\t von allen namen vri und von allen formen blöz, Iedic
,a,ulvri zemäle, als got ledic und vri ist in im selber." 3
147
In diesem Text bemerken wir wiederum einen Über-
gang und einen Durchbruch. Es ist zunächst die Rede von
etwas im Geiste des Menschen, das frei sei. Was das aber
heißen soll, wird zunächst und vorläufig durch eine Reihe
von Bildworten erklärt. Dieses Freie wird eine Hut ge-
nannt. Im lateinischen Text der Rechtf ertigungsschrift
steht dafür „custodia" 4 • Das ist also beide Male ein be-
wachter oder ein behüteter Raum. Das Wort steht neben
dem ähnlichen Ausdruck „castellum", das der Meister
Eckhart gewöhnlich mit bürgelin wiedergibt. Auch das
Kastell oder die kleine Burg ist ein fester Platz, in den man
nicht eindringen kann. Es ist in diesen Bildern also davon
die Rede, es gäbe im menschlichen Geist immer schon ei-
nen Bereich, der so behütet oder befestigt sei, daß man
nicht in ihn eindringen könne.
Zu diesem ersten Bildwort gesellen sich dann andere,
die vom Licht sprechen oder vom Fünklein. Das Licht
leuchtet oder macht hell. Leuchtet es gar über die Mauern
des Kastells hinaus? Es ist gar so, daß man zwar nicht in
das Kastell hineingelangen kann, daß aber immer etwas
daraus herausdringt und herausleuchtet? Und wenn dieses
Licht ein kleiner Funke ist, ein Fünklein, dann erscheint
es konzentriert auf einen Punkt, von dem es aus ins Weite
leuchtet. Was ist das für ein Licht?
Jedenfalls erscheint in diesen Bildern sowohl etwas
Verschlossenes wie etwas Weites. Was mag es bedeuten?
Aber in der zweiten und entscheidenden Stufe unseres
Textes werden die Bildworte wieder abgestoßen. Und mit
ihnen sollen offenbar auch alle Begriffe abgestoßen wer-
den, alles, woran man sich halten kann, alles dies und das.
Und dieser Abstoß wird dann sogar rhetorisch gesteigert:
Das, um was es sich hier handelt, sei höher über allem
4
Vgl. II. 8 art. 51. zitiert nach Thery, 243.
148
.1,n und das als der Himmel über der Erde. Wir kennen
um· .1hnliche, alle Bestimmungen überschreitende Bewe-
~•rn~,rhon von der Überlegung über das Begreifen Gottes.
l l1n ahcr wird nun Analoges von der geheimnisvollen
.. , .,tt im Geiste gesagt, die zugleich verschlossen und weit
tin •tt11ct ist. Und schließlich bleibt auch von dieser Kraft
lur dtl' Aussage nur etwas Negatives übrig. Es ist von allen
'\.amen frei und von allen Formen bloß. Wenn man also
au nllt·rcr, das heißt eigentlicherer Weise davon sprechen
"111,dann kann man offenbar gar nichts Positives mehr
,l.1\·011 sagen. Man kann das Geheimnisvolle nur noch
utl<·rdiese Negativität hinweg scheu berühren, ohne es
,lod1 hcgreifen zu können.
1>it·sc edlere oder eigentlichere Rede über das Höchste
,In menschlichen Geistes wird aber dann doch noch ein-
m ., I ins Positive gewendet: Das höchste Geheimnis, das
1111( ;eist des Menschen immer schon vorliegt, sei, wie es
lu·lf,t, ,,ledig und frei, wie Gott ledig und frei ist in ihm
"·lhl'r''. Dieses Geheimnis hat also seine besondere Bezie-
t11111gzu Gott. Ja, es wird im weiteren Verlauf unseres
1,·xtcs gesagt, daß „Gott darin grüne und blühe mit aller
,t·111t·r Gottheit" 5 und daß „der Vater darin seinen einge-
he,rcncn Sohn gebiert wie in ihm selber" 6, das heißt also,
d.,f; Gott immer schon aufgeht und erscheint, selbst na-
rm·nlos, in der namenlosen obersten Kraft des menschli-
' lwn Geistes.
1)as sind erstaunliche Dinge, und sie haben immer
,rhon Erstaunen erregt. Aber wir wollen doch zusehen,
••h sich nicht vielleicht doch so etwas selber zeige in unse-
n·m wirklichen Leben und gar als dessen immer schon
\·orlicgende Voraussetzung. Im Sinne eines solchen Zuse-
149
hens auf ein sich selber Zeigendes, also in einem phäno-
menologischen Sinne, wollen wir versuchen, diese
merkwürdigen Aussagen des Meisters zu verifizieren.
150
M•·~rniiber.Und gewiß können andere über mich Aussa-
1r11machen, und ich selbst kann es auch. Aber ich gehe
""· ht in ihnen auf. Ich behalte ja die Freiheit, allen Aussa-
.c,·11
gl'genüber zu fragen: Ist es auch so? Also bin ich nicht
nnf ach unter solche Aussagen und Urteile gefallen.
<~l'wiß kann ich auf vielfache Weise zum Objekt von
1:rrl"ilcnoder Maßnahmen anderer oder auch von Urteilen
,ttll·r Maßnahmen meiner selbst werden. Solche Urteile
1111d Maßnahmen und alle Formen der Objektivierung
~ormcn günstigenfalls sogar richtig sein. Aber es zeigt sich,
d.,f, ich im innersten Kern meines Lebens nicht davon be-
troffen bin und all dem frei gegenüberstehe. Denn ich
k.11111 mir ja in jedem Falle überlegen: Sind diese Urteile
r1rhtig? Oder wie soll ich mich zu diesen Maßnahmen
,rdlcn? Und so ist der innerste Kern, das Ich meines Le-
l'<·ns, gerade nicht zum Objekt geworden, wie sehr auch
manches, was sonst noch zu ihm gehört, zu einem solchen
.ct·worden sein mag. Der innerste Kern bleibt immer .11 lcr
( >hjcktivierung gegenüber frei.
Am meisten erfährt dies der, der sich selbst zu
, ,hjcktivieren sucht. Er kann es etwa mit der Frage, die
n an sich selbst richtet: Wer oder was bin ich eigentlich?
Alu:h auf eine solche Frage ist eine Reihe richtiger Anwor-
rt·n möglich. Aber dann ist immer das Ich, das frägt oder
urteilt, in Differenz zu dem Ich, das befragt wird oder be-
urteilt wird. Es bleibt die Differenz zwischen dem Ich, das
hlickt, und jenem Ich, das ich als meinen Gegenstand vor
mir habe und auf das ich blicke. Das Ich als Objekt wird
.also nie zum Ich als Subjekt, es bleibt immer im Hinter-
~~rnnd und läßt sich so schlechterdings nicht und nie
,,hjcktivieren.
Haben wir nicht hier so etwas wie ein Kastell, eine See-
ll'nhurg, die sich nicht aufbrechen läßt? In der Tat, hier
h.1hcnwir etwas, das bleibt, lebendig wie es ist, doch fest
151
und unangreifbar in sich. Es ist in der Tat von allen Namen
frei, von allen Formen bloß, wie der Meister Eckhart sagt
und jenseits von allem dies und das, das heißt von aller
Objektivation. Was der Meister sagt, entspricht wiederum
genau dem Phänomen, das wir wahrnehmen können.
b) Indes ist dies gewiß nicht der einzige und wahr-
scheinlich nicht einmal der erste Sinn dieser Ausdrücke
des Meisters Eckhart. Versuchen wir also von diesem An-
satz aus weiterzudenken. Wenn es in dem angedeuteten
Sinn so etwas wie ein Kastell des menschlichen. Geistes
gibt, das sich jedem objektivierenden Zugriff entzieht, so
hindert dies jedenfalls nicht, daß es von diesem Kastell aus
nicht stets einen Ausgriff gäbe ins Weite der Welt. Wir
haben schon die Stelle aus dem De-anima-Kommentar des
Thomas von Aquin zitiert, wo Thomas sagt: ,,Secundum
esse immateriale, quod est amplum et quodammodo infi-
nitum, res non solum est id quod est, sed est quodammodo
alia." 7 Hier ist von der Weiträumigkeit des Lebens des
Geistig-Seienden die Rede. Und tatsächlich ist der Mensch
in seinem Leben immer schon über sich draußen, in der
Weite der Welt, mit seinen Fragen und seinen Gedanken
und seinen Sorgen und seinen Unternehmungen. Er ist
wirklich In-der-Welt-sein, wie Heidegger gesagt hat 8 •
Die Nichtobjektivierbarkeit seines Ich-Seins entspricht
der Weite, ja der Grenzenlosigkeit seines In-der-Welt-
seins. Denn eben weil der Mensch so fest in sich gegründet
ist, ist er allem gewachsen. Er kann frei über sich hinaus-
gehen in die grenzenlose Weite der Welt, ohne doch sich
zu verlieren. Man kann das „Kastell" des unobjektivier-
7
Th. v. Aquin, Comm. in lib. de an, II, 5, Nr. 283 „Gemäß dem
immateriellen Sein, das weit und auf eine gewisse Weise unendlich
ist, ist die Sache nicht nur das, was sie ist, sondern sie ist auch auf
eine gewisse Weise anderes."
8
Vgl. etwa M. Heidegger, Sein und Zeit (Halle 5 1941) 52ff.
152
1 .,,-11111-sich-Seins als einen Reflex der grenzenlosen
• • 11t· des In-der-Welt-Seins betrachten.
1••nl'" 1n-der-Welt-Sein kann man mit dem Bildwort
t~, 11111kl'ns oder des Fünkleins bezeichnen. Oder auch
..~.,,km Bildwort des Lichtes. Licht ist das, was sehen läßt.
i", ~knsch öffnet sich so in die Weite der Welt, daß die-
•• , ''" h-Üff nen ein Erhellen ist. Es erscheinen nun die Ge-
.. ,h,·11der Welt, mit denen wir es je zu tun haben, und
, ,. l.1,,l·n sich sehen, indem wir uns öffnen in die Weite
,. , Wdt hinein. Die Sonne für sich allein würde nichts
. , tu·llt·noder sehen lassen, wenn es nicht einen Sehenden
".alte-. l'incn, der in der Weise des Sehens über sich hinaus
◄,, und der eben dadurch das physikalische Licht der
\4,1111l" l'rst aufleuchten läßt und mit ihm die ganze Welt.
1hn ~iIt natürlich nicht vom Gesichtssinn allein, sondern
,,t1e·ralle Sinne hinweg und hinaus, gerade auch vom
M•·•,n~l'll Sehen, vom Denken und von allen Implikatio-
•w· 11, 111 Jenen das Denken erscheint.
1>.,sLicht des Denkens leuchtet so, daß die Gestalten
,In Wdt erscheinen. Sie erscheinen nicht bloß an sich. Sie
• , \\ hl'i nen vielmehr und leuchten in eins mit dem Sich-
1 "htl'll der verschiedenen Weisen unseres In-der-Welt-
\,•111, und unseres Umgangs mit der Welt. Sie lassen sich
,.·tu-11 als das Erstrebte, das Besorgte, das Bearbeitete usw.,
,,. ,·111smit dem Sich-sehen-Lassen unseres Strebens, Sor-
ttrn, und Arbeitens usw.
\o geht in der Tat von dem unaufbrechbaren Punkt,
\oll diesem „Kastell" hellmachendesLicht aus und eröff-
•u·t die Weite der Welt. Und mit und in diesem Licht gehen
"·ar "dber aus in die Weite der Welt, und die Welt entsteht
.allnl'rst dadurch als eine gelichtete, mit der wir es zu tun
h.1lw11.
l lnd dies ist zugleich die andere Seite der Sache. Auch
,11"Welt geht ja auf. Das Scheinen des Lichtes in diesem
153
Auf gehen scheint nicht bloß von uns aus zu gehen, es
scheint ebenso den Gestalten der Welt zuzugehören, und
beide Seiten gehören offenbar zusammen.
c) Hier müssen wir fragen: In welchem Sinn geht dieses
Licht von uns aus? Jedenfalls nicht in dem Sinne, als hät-
ten wir es selbst gemacht. Es ist über uns gekommen, es
ist uns geschenkt, und es ist mit uns erschienen und gehört
so zu uns. Aber es gehört auch den Gestalten der Welt
zu, denn sie erscheinen in ihm, aber auch sie haben dieses
Licht nicht gemacht, sie zeigen sich bloß in ihm. Also ist
es nicht das Letzte zu sagen, das Licht, das alles erscheinen
macht, gehe von uns oder auch es gehe von der Welt aus.
Wie ist das eigentlich?
Wir können es das Licht der Wahrheit nennen, insofern
wir Wahrheit verstehen als das Sich-Zeigen dessen, was
ist als das, was es ist. Damit kommen wir auf den Begriff
der Wahrheit zurück, den wir oben 9 schon einmal erörtert
haben. Aber jetzt leitet uns dafür eine andere Hinsicht.
Das Merkwürdige nämlich an dem uns in gewisser
Weise zugehörenden Licht der Wahrheit ist dieses, daß es
weiter reicht als die Grenzen unseres Erkennens und unse-
res Verfügens und weiter sogar als die Grenzen unseres
Lebens. Insofern kann man sagen, es ist unser und doch
nicht unser. Es kommt mit uns und ist doch nicht von uns
abhängig. Dieses Weiterreichen sieht man zum Beispiel
daran, daß, sobald wir an Grenzen des Erkennens stoßen,
wir regelmäßig auch weiterfragen: Was steckt dahinter?
Werden wir das, was dahintersteckt, nicht eines Tages
auch noch herausbekommen? Das heißt, wir bewegen uns
mindestens fragend und in einem fragenden Denken in ei-
nem Spielraum, der über die Grenze hinausgeht, an die
wir gestoßen sind. Es hat sich für uns jeweils ein weiterer
9 Vgl. S. 49ff.
154
M.rnm aufgetan oder gelichtet, ein Raum weiteren mögli-
• hc·11Erscheinens von Wahrem in seiner Wahrheit, auch
-. ,·1111dieser weitere Raum sich zunächst für das Erkennen
, pn rt. Ja, es zeigt sich sogar, daß wir jede mögliche
c ,rl'nzc dieser Art auch überschreiten oder mindestens
uhrr"'chreiten können und uns also nicht einfach mit ihr
,uf ncdengeben. Es ist in der Tat keine Grenze denkbar,
uhn die wir nicht auch hinaus denken könnten und dann
,u,ht auch tatsächhch hinaus dächten. Der gelichtete
k.rnm für das Denken, der Raum möglicher Wahrheit und
.t.,mit der Raum der Wahrheit überhaupt ist also grund-
,.11,lich unbegrenzt, mag er auch von noch so vielen fakti-
h hcn Grenzen unseres Vermögens durchzogen sein.
twu, was ist und ist auch in Wahrheit nicht, was nicht ist.
llarin zeigt sich der Raum des Lichtes der Wahrheit als
,, ·hlcchthin unbegrenzt. Und so, in dieser Unbegrenztheit
l<-uchtetes uns immer schon vor und ein.
Wir Menschen bewegen uns in diesem uns eröffneten
1 1t.:htfreilich mit begrenzten Schritten. Aber dieser lich-
tt·rn.lcRaum ist uns so zugetan und eröffnet, daß wir uns
d.,rin frei bewegen können. Eben deswegen können wir
.alleGrenzen überschreiten, und wir tun es ja auch. Auch
1mHandeln und Verfügen über die Welt bewegen wir uns
155
in diesem unbegrenzten Licht-Raum. Und darum pflegen
wir auch in dieser Hinsicht über alle Grenzen hinaus zu
handeln oder mindestens hinaus zu planen oder hinaus
zu wünschen oder hinaus zu sorgen oder wie immer.
Das Merkwürdigste daran ist, daß dieses Licht der
Wahrheit zwar uns zugetan ist und mit uns in die Welt
kam und so uns zugehört, daß es sich aber gleichzeitig für
uns zeigt als von uns ganz unabhängig. Denn es zeigt sich
uns ja, daß in Wahrheit ist, was immer ist, unabhängig
davon, ob wir selber sind und uns dem Seienden unserer
Welt zuwenden oder ob wir auch nicht oder nicht mehr
da sind. Der Satz: Es ist in Wahrheit, was ist, bleibt zwar,
wenn wir nicht mehr da sind, als ein Satz, den jemand
ausspricht, nicht mehr bestehen. Aber sein Sinn bleibt be-
stehen, dies leuchtet uns doch ein. Er bleibt wahr. Und
so zeigt das Licht der Wahrheit schließlich, daß es nur in
sich selbst gründet und darin schlechterdings unabhängig
ist von allem, was ist, daß es aber alles umfaßt. Gewiß,
dieses Licht läßt uns dies sehen, und es ist in diesem Sinne
uns zugehörig. Aber sein lichtendes Wesen erschöpft sich
nicht darin. Es leuchtet aus sich selbst für uns, aber zu-
gleich und unabhängig davon für alle Wesen, die denken
können, nach allen Richtungen. Und damit zugleich un-
abhängig von unserer faktischen Existenz.
Ja schließlich sogar unabhängig von der faktischen
Existenz irgendeines faktischen Seienden und Wahren
überhaupt. Nur sein Äußeres, dieses, daß solche Sätze
ausgesprochen und gedacht werden können, braucht fak-
tische Existenz, aber das Innere dieser Sätze, ihr Sinn, das,
was sie eigentlich sagen wollen, das, was in ihnen eigent-
lich uns aufgeht, zeigt sich als schlechterdings oder absolut
unabhängig.
Diese Absolutheit zeigt sich ja, wie wir früher schon
gesehen haben, auch positiv an in der absoluten Bindung
156
.•'41Vrrpflichtung, die, von der so verstandenen Wahrheit
•~••~c·hcnd,sich jedem möglichen Denken auferlegt, das
•·· t, ,r~l'ndwie einem Wahren zuwenden will. Kein mögli-
h~·\ 1h-n ken kann in seiner eigenen Ordnung sein, ohne
•·•· \\'.1hrheit des Wahren anzuerkennen. Wir können uns
~.tt11rl1rhwünschen, daß etwas anderes wahr wäre, als
• .n 111 Wirklichkeit wahr ist. Und unsere faktischen Ge-
.1.... ~,·11werden nicht selten von solchen Wünschen beein-
''-•"'- Aber es ist uns· klar, daß das nichts ändert an der
\\ .ahrhcit des Wahren und auch nichts an unserer Ver-
1•tlh htung, diese denkend oder wie immer anzuerkennen.
1, •.- Nichtanerkennung der Wahrheit verdirbt mit der
\1 .1hrhcit auch das Denken selbst in seiner ihm wesentli-
. h,·11( )rdnung.
1>t·mnach haben wir es mit dieser aus sich selbst leuch-
,..udcn Wahrheit mit einer Größe zu tun, die jedem Men-
,, lw11sich eröffnet und ihn in Anspruch nimmt, die aber
u hlc.-chthinnur in sich selbst gründet und aus sich selbst
tu·r ., us alles Seiende um greift und auch unendlich über-
~r C'1ft.
d) Dazu ist noch hinzuzufügen, daß diese in sich selbst
ttr-undcnde, unbedingte und unendliche Macht der Wahr-
hc·uden Menschen zwar immer beansprucht, aber niemals
Htll ihm im Denken oder in sonstigen Maßnahmen abso-
157
das Ganze und das Wahre und die Wahrheit selbst begrif-
fen, dann würden sie in diesem Gedanken erstarren, und
er würde selber verderben. Selbst der umfassendste Ge-
danke, der bis jetzt gedacht worden ist, nämlich der He-
gels, verdirbt, wenn er als das eine und endgültige System
des Ganzen und für immer gedacht wird, dem nichts hin-
zuzufügen wäre. Hier ist immer wieder Skepsis am Platze
und immer wieder Kritik, und sie müssen jeden Gedanken
immer wieder weitertreiben und jede beanspruchte End-
gültigkeit wieder aufbrechen.
Darin aber zeigt sich an, daß das Ganze und Eine und
Unendliche der Wahrheit alles Wahren jenseits aller
menschlichen Begriffe liegt. Wohl nimmt es alle menschli-
chen Begriffe beständig in Anspruch. Aber es läßt sich
nicht durchdringen, erobern und in Besitz nehmen. Die
unendliche und unbedingte Wahrheit alles Wahren ist
auch wie ein Kastell, auch sie, und sie vor allem, strahlt
aus und herrscht. Aber man kann es nicht in Besitz neh-
men. Und doch leuchtet sie uns immer schon und immer
wieder neu voraus.
Als das Nicht alles Begreifens und Aussagens kann es
auch wie „nichts" erscheinen. Insofern kann man schließ-
lich auch sagen: Es ist nicht die Wahrheit und jenseits der
Wahrheit, insofern nämlich Wahrheit als die von uns zu
denkende und von uns gedachte vorgestellt wird. Es ist
das in der Ferne und doch allgegenwärtig leuchtende Ge-
heimnis.
Es ist offenbar, daß es das göttliche Geheimnis ist, in
dem alle Wahrheit in ihrem verborgenen Grunde ruht und
von dem alles ausgeht und ausstrahlt. Und es erscheint
nun als das, was allen Gedanken zuvor immer schon im
Geist des Menschen leuchtet und alle Schritte der Gedan-
ken und alles, was sich daran anschließen mag, ermöglicht
und beleuchtet. Denn alle Gedanken und alles weitere
158
• ~111 ,., dadurch ermöglicht und erhellt, was uns immer
,..tu•n.1ufgegangen ist und immer wieder neu aufgeht: daß
• .ahrh.1ft ist, was ist, und darin die unbedingte Wahrheit
•••. lrud1tend am bedingten Seienden. Dieses Geheimnis
...tt• 1111Grund und an der Spitze jedes menschlichen Ge-
.1,u~c.·ns.
l>1rs ist das eigentliche Kastell, von dem der Meister
J , ~ h.,rt spricht. Und jenes andere Kastell, von dem wir
",lu·sl'r Betrachtung ausgingen, jenes undurchdringliche
'4 lh,tsl'in, zeigt sich in diesem Licht als der Spiegel und
.1., Hrl'nnpunkt, der ist, was er ist, nämlich Spiegel und
lh.-unpunkt von daher, daß ihm das unergründliche Ge-
lw·1mnisder unbedingten Wahrheit immer schon sich er-
ulllll't hat, sich ihm zugeschickt hat und ihm so etwas mit-
,.-,r1lt hat von seiner eigenen Undurchdringlichkeit. Denn
... , .uk deswegen ist der Mensch in jeder Hinsicht er selbst,
„r,I l'r vom Ewigen, was alle Hinsichten umgreift und
11mfaf~t, berührt und in sein Wesen gerufen ist.
1-'.sist nun auch offensichtlich, daß dieses Licht der er-
•••· 11 Wahrheit, wie der Meister Eckhart an mehreren Stel-
le·1, ,agt, ,,unerschaffen und unerschaffbar" ist 10. Denn
\ • u1 wem sollte dieses Nicht-Erschaffbare erschaffen
"ordcn sein? Das Erschaffende müßte ja dann vor und
,..,f,c.·rder erschaffenen Wahrheit gewesen sein, also nicht
~·.1hrund nicht seiend. Dies ist ein offenbarer Ungedanke.
Wir könnten eine ähnliche Überlegung anstellen, aus-
K,·hc:ndvon der Gutheit des Guten. Wir weisen dafür auf
.l.1, hin, was wir dazu früher schon gesagt haben 11, und
.1111.:hdavon können wir sagen: Würde uns im unscheinba-
r ,·11 ersten Licht nicht aufgehen, was ist, und würde uns
111
1>icscr Ausdruck findet sich in den Deutschen Predigten des öfte-
,. 11, ,o DW I, 220,5; 380,Sf.; 88,6. und bes. DW II, 418, 1 f.
159
darin nicht zugleich in allem etwas leuchten, was Glück
und Erfüllung verheißt und in diesem Sinne gut ist, so
würden wir niemals in den Gang unseres Strebens und
Vollbringens und unseres ganzen Lebens kommen kön-
nen.
So läßt sich also in der Tat zeigen, daß Gott als der ge-
heimnisvolle Grund der ersten Wahrheit und der ersten
Gutheit immer schon im Geist des Menschen leuchtet, ob
dieser daran denke oder nicht. In der Tat ist da im Leben
unseres Geistes etwas, das ist „ledig und frei, wie Gott
selber ledig und frei ist in ihm selber" 12 •
Darum lesen wir auch im weiteren Fortgang unserer
Predigt 2, von der wir ausgingen: ,,Diu selbe kraft, dar
abe ich gesprochen han, da got inne ist blüjende und grüe-
nende mit aller siner gotheit und der geist in gote." 13
Das Grünen und Blühen kann man so verstehen, daß
dieses in seiner äußersten Spitze immer unfaßliche Ge-
heimnis alles Denken und Verstehen und in diesem Sinne
alle Wahrheit und auch alles Streben und Vollbringen und
in diesem Sinne alle Gutheit von sich ausgehen läßt.
Es läßt sich dieser Zusammenhang auch wieder trinita-
risch deuten. Denn das in seinem Innersten Unfaßliche,
das doch immer in unserem Geiste leuchtet und uns an-
zieht, kann als unerschaffener Ursprung ohne Ursprung
oder als Vater verstanden werden, die unerschaffene
Wahrheit als hervorgehend von ihm, und damit als Sohn,
und die Gutheit als das, was aus beidem entspringt, und
damit als Heiliger Geist. So öfters bei Meister Eckhart.
Darum ist an unserer Stelle in der Predigt 2 davon die
Rede, daß in dieser Kraft der menschlichen Seele der Vater
12 Vgl. DW I, 40,2f.
13 A. a. 0. 40, 4-41, 1„Dieselbe Kraft, von der ich gesprochen habe,
darin blüht und grünt Gott mit aller seiner Gottheit."
160
•• ,nc·11l'ingeborenen Sohn gebiert und der Geist mit dem
\ ,urr dl'nselben eingeborenen Sohn gebiert 14 •
1>c-rMeister ist öfters und unter immer wieder anderen
'I c·udungen auf diese Sache zu sprechen gekommen, vor
.11,·m111den deutschen Werken. So kann er in der Predigt
1 ! uhc:r den Text „Qui audit me" besonders kennzeich-
""'11,I,agen: ,,als ich mer gesprochen hän, daz etwaz in
,'4·, ,,·ll' ist, daz gote alsö sippe ist, daz ez ein ist und niht
•,.ff llll't." tS
'• V~I. a. a. 0. 41, lff. Vgl. dazu bes. auch die Predigt 7 „Populi
• 111," ( DW I, 123, 6 ff) und die Predigt 18 „Adolescens, tibi dico:
161
Aussagen noch besser und noch genauer zu verstehen. Ge-
hen wir darum noch kurz darauf ein.
In der Predigerkirche in Köln hat der Meister am 13.
Februar 1327 einiges über diesen Punkt zu seiner Vertei-
digung seinen Gegnern gegenüber gesagt. Da lesen wir:
,,Nec unquam dixi, quod sciam, quod aliquid sit in anima,
quod sit aliquid animae, quod sit increatum et increabile,
quia tune anima esset peciata ex creato et increato, cuius
oppositum scripsi et docui ... " 16 Das Entscheidende die-
ses Satzes ist zunächst der Zusatz: ,,Quod sit aliquid ani-
mae." Er bedeutet entweder, daß etwas Ungeschaffenes
der Seele zu eigen sei, über das sie verfügen könnte, oder
es heißt: Es ist ein Teil der Seele, die dann, wie es ja nach-
her ausdrücklich heißt, zusammengesetzt zu denken wäre
aus Teilen, von denen der eine erschaffen und der andere
unerschaffen wäre, analog wie ein körperliches Ding aus
unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt ist.
Im 4. Artikel des Gutachtens von Avignon ist wiederum
von dem increatum et increabile in der Seele die Rede,
nämlich dem Intellectus, wie es hier heißt. Und es ist als
Antwort Eckharts der Satz wiedergegeben: ,,Istum arti-
culum negat, quia ut dicit, stultum est sentire, quod anima
sit peciata ex creato et increato." 17 Eckhart verneint dem-
16 „Auch habe ich niemals gesagt, soviel ich weiß, noch gedacht,
daß etwas in der Seele sei, das etwas der Seele wäre, das ungeschaffen
und unerschaffbar ist, denn dann wäre die Seele zusammengestückt
aus Geschaffenem und Ungeschaffenem, und ich habe das Gegenteil
davon geschrieben und gelehrt", zitiert nach H. Denifle, Akten zum
Prozeß des Meisters Eckhart in Archiv für Literatur- und Kirchenge-
schichte des Mittelalters, 2. Bd. (Berlin 1886) (Neudruck Graz 1956)
632.
17 Zitiert nach F. Pelster, Ein Gutachten aus dem Ekkehart-Prozefs
in Avignon, in: Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theolo-
gie des Mittelalters, Suppl. Bd. 3, 2. Halbbd. Aus der Geisteswelt
162
··., h, jemals so etwas gesagt zu haben, obwohl er doch
•·•"' iihnlich Klingendes gesagt hat.
Aha in der Tat: Von einer Zusammenstückung der
·.. •·lc-.1us einem geschaffenen und einem ungeschaffenen
c nl wollte er nie etwas wissen. Die Offenheit des mensch-
., t""n(;cistes über sich selbst hinaus ins Unendliche und
,lu Hereinscheinen des ungeschaffenen Lichtes in diese
• tffrnhcit hinein ist etwas ganz anderes als ein äußerliches
/ u,.1m rncnsetzen von gesondert zu fassenden Stücken.
I·r hatte sich also gerade in dieser Sache gegen grobe
\I 11\vl·rständnisse zu wehren, Mißverständnisse freilich,
,IM· dilmals wie heute vom gängigen Verständnishorizont
... , 11.1hcliegenmögen. Aber durch diese notwendige Ab-
1rr111ungpräzisiert sich der Gedanke selber.
163
wies er ausdrücklich auf seine Übereinstimmung in dieser
Lehre mit Thomas von Aquin hin. Er sagte im Blick auf
seine Gegner: ,, ... obiciunt tamquam haeretice quae ma-
nifeste ponit sanctus Thomas ... " 19 Er war sich des Zu-
sammenhangs mit einer bestimmten und anerkannten
Lehrtradition wohl bewußt.
Sehen wir daher bei Thomas nach, den auch für ihn
wichtigsten Zeugen dieser Lehrüberlieferung.
In der theologischen Summe lesen wir: ,, ... in luce pri-
mae veritatis omnia intelligimus et iudicamus, inquantum
ipsum lumen intellectus nostri . . . nihil aliud est quam
quaedam impressio veritatis primae." 20 Mit der ersten
Wahrheit ist natürlich Gott gemeint. Und es ist kenn-
zeichnend, daß Thomas sich in diesem Artikel, wie die
Gegenargumente klar zeigen, ausdrücklich mit Augustin
auseinandersetzt. So scheint der andere große Traditions-
zeuge hier herein. Thomas läßt die Augustinische These
im ganzen Umfang des zitierten Satzes gelten und korri-
giert sie nur insofern, als er darauf hinweist, daß dieses
„Licht" oder dieser „Eindruck der ersten Wahrheit" nicht
das Ersterkannte für uns sei, wohl aber das „quo intelligi-
tur", das, wodurch erkannt wird. In dieser Weise spricht
er von der ersten und damit also ungeschaffenen und gött-
lichen Wahrheit, und er gebraucht den starken Ausdruck,
daß unser Geist selber nichts anderes sei als ein Eindruck
dieser ersten Wahrheit.
Lesen wir als Ergänzung dazu noch eine andere Stelle
aus der theologischen Summe. Thomas schreibt: ,,ab ipso
19 Ebd.: ,,Sie werfen mir als häretisch vor, was offenbar der hl. Tho-
mas lehrt."
20
Th. v. Aquin, S. th. I, q. 88. a 3 ad 1 „Im Licht der ersten Wahrheit
erkennen wir alles und beurteilen wir alles, da ja das Licht selber
unseres Geistes nichts anderes ist als irgendein Eindruck der ersten
Wahrheit."
164
,,, 1ko) anima humana lumen intellectuale participat,
,....und um illud Psalmi 4, 6: Signatum est super nos lumen
•••'"'" tui, Domine." 21 An diesen Stellen, denen viele ähn-
~ .. tw· h I nzuzufügen wären, ist von dem „Licht" unseres
~.,,.,,,., d ic Rede, von dem also, das hell macht und sehen
U11l lnd es wird mit Nachdruck gesagt, dieses sei „nichts
1
" \ .1. 0. I, q. 79, a.4 „Von Gott selber her ist die menschliche Seele
•• ilh.,tt des geistigen Lichtes gemäß dem Wort des 4. Psalmes: ,Ge-
•• , , l111ct ist über uns das Licht deines Antlitzes, o Herr'."
165
hier der Unterschied zwischen dem, was sich teilgibt, und
dem, was teilnimmt, durchaus gewahrt, aber zugleich be-
obachten wir auch hier wieder die Überwindung dieses
Unterschiedes: Das Ungeschaffene scheint so ins Geschaf-
fene des menschlichen Geistes, daß es das Leben seines
Lebens ist.
Hier erscheint also klar die Lehre vom ungeschaffenen
Grund oder vom ungeschaff enen Licht oder von der unge-
schaffenen Spitze des Geistes.
Thomas hat, wie wir sahen, auch nicht verfehlt hinzu-
zufügen, daß dieses Licht zwar immer schon uns erreicht
hat, daß es aber von uns nicht erreicht werden kann.
„Quoad nos", das heißt im Blick auf uns selber, können
wir uns kein unmittelbares und vollständiges Erkennen
:Gottes zutrauen. Er ist das, was uns immer voranleuchtet,
]aber von uns nie begriffen werden kann.
Aber könnte es dann nicht jenseits aller Begriffe und
damit jenseits aller begrifflichen Metaphysik erfahren
werden? Thomas hat davon nicht gesprochen. Aber der
Meister Eckbart hat gerade auch in diese Richtung An-
sätze bei Thomas weitergedacht.
Er konnte sich dafür vor allem auch auf Augustinus bc-
ruf en. Thomas steht mit seiner Lehre von der impressio
und participatio, wie wir schon gesehen haben, in engem
Kontakt und auch in einer gewissen behutsamen Überein-
stimmung mit Augustin. Seine Gedanken können
ideengeschichtlich verstanden werden als eine augustini-
sche und damit christlich-neuplatonische Interpretation
einer aristotelischen Gedankenvorlage, nämlich dem ari-
stotelischen Gedanken vom noiis als einem „abgetrennten
und unleidenden und unvermischten" 22 , ja einem göttli-
chen 23 •
166
1,..1,unser Gedanke auf eine mögliche Erfahrung ver-
•• ,,r und auf einer Erfahrungsgrundlage beruht, wird in
J._, 1.lt besonders deutlich bei Augustin. Die wichtigste
•••·llc-dafiir sind immer noch die Confessiones, wo Augu-
....,. hn.dueibt, daß er „eintrat in sein Innerstes" 24 und
,.•,, n da, im Innersten, etwas „gesehen", das heißt erfah-
·• "· h.u (vidi). Er beschreibt das Sehende und das Gese-
"• nc·. l las Sehende nennt er „irgendein Auge meiner
~, lc-"H (,,qualicumque oculo animae meae"), also ein
, • ,h,,rgenes und unbenennbares Sehvermögen des Gei-
'"" lind das Gesehene, immer noch in den weiten
.,.,1e•nraum des Geistes, wird zunächst der Lage nach be-
•··l,r1rhl'n: ,,Supra eundem oculum animae meae, supra
"'\•·t11l·m meam. " 26 Also gibt es im Inneren des lebendigen
, .-t~n, Jcs Geistes ein Oberes, ein Leitendes, ein Richten-
,'4,. das diesem lebendigen Innenraum der Seele ebenso
u111·orJnetist, wie es ihm auch übergeordnet und allen
w ,,~n Begriffen entrückt ist. Es wird hier gleichfalls ge-
'"''" "': ,,Lucem inconmutabilem" 27 , unwandelbares
~ "hr, Jas ewige, das unerschaffene. Und dieses Licht wird
.••, h weiter genannt: ,,Qui novit veritatem novit eam, et
~ .., novit eam, novit aeternitatem." 28 Es ist das Licht der
".ahrhl·it, das von aller Zeit frei und über alle Zeit erha-
,...,. und ewig ist. Denn die Wahrheit alles Wahren ist er-
•••l'«·ntiher alle Zeit und ist ungeschaffen und ewig. Und
167
sie umfängt und übergreift, wie wir schon öfters gesehc11
haben, alles Wahre.
Dies ist eine lebendige Schilderung einer möglichen Er
fahrung dessen, was in der Seele ist und in ihr, aber doch
auch über ihr, dessen, was in dieser Stellung die Seele erst
zu dem gemacht hat und immerfort macht, was sie ist.
Es leuchtet in ihr ewiges und also göttliches Licht.
Augustin schreibt weiter dazu - auch darin sehr ge-
nau-, daß er dies zwar sah, daß es sich ihm eröffnete,
daß es sich seiner Erfahrung zusprach, aber daß er sich
nicht von sich aus darin festhalten konnte: ,,aciem figen·
non evalui et repercussa infirmitate redditus solitis 0011
mecum ferebam nisi amantem memoriam ... " 29
Das heißt, diese Erfahrung ist zwar eine Möglichkeit,
denn immer schon liegt ihr Grund vor uns in uns, immer
schon gibt sich das unwandelbare Licht, aber von uns aus
können wir es nicht festmachen in zupackenden Begriffen
und nicht wie einen Besitz mit uns herumtragen, über den
wir verfügen könnten.
Hier haben wir eine klassische Formulierung des Eck-
hartsehen Gedankens vom Ungeschaffenen in der Seele.
Hier wird uns bestätigt, daß diese Rede auf wirklichen Er-
fahrungen beruhen kann, hier wird uns auch gezeigt, da{~
dieses Geheimnis zu uns gehört, indem es unser ganzes
geistiges Leben durch seinen „Eindruck" ermöglicht und
in Gang setzt und in diesem Sinne mit uns eins ist. Es wird
aber auch sichtbar, daß es gleichzeitig das ganz andere
Unser ist, das schlechthinnige „Darüber", das wir nicht
begreifen und nicht in Besitz nehmen können.
29
A. a. 0. VII, c. 17, 23 „Die Spitze meines Geistes vermochte ich
da nicht festzumachen, und zurückgestoßen durch meine Schwäche,
wurde ich dem Gewohnten wiedergegeben, und ich trug nichts mehr
mit mir weiter als ein liebendes Gedenken".
168
1,,r<;cdanke des Meisters Eckhart ist also gut begrün-
~ • 111dt·r anerkannten Tradition. Und man darf hinzufü-
..," dt·swegen, weil er gut begründet ist in der Sache, das
L„ 11\ran der möglichen Erfahrung. Bei Eckhart erneuert
,.., '"· h und gewinnt neue Farben und Lichter. Aber was
ti, nc·uglänzt und leuchtet, ist nur das alte Wahre. Freilich
• ., d it·scs Wahre in seiner neuen Gestalt mißverständlich
, 1 111l\t auch mißverstanden worden. Aber der Meister
1• •••r recht, wenn er sich zu seiner Verteidigung auf die
1„ w.,hrten und älteren Lehrer berief.
169
mit den Menschen erst zur vollen Integration zu führen,
zur Erfahrung dessen, was in ihm immer schon angelegt
war. Man darf dafür auch an das unruhige Herz des Au-
gustin erinnern. Es ist unruhig, weil es immer schon vo11
Gott gerührt und gezogen ist, und darum kann es nicht
ruhen, das heißt mit sich selbst einig sein, bis es ruht i 11
Gott. Diese alte Erfahrung hat sich bei Meister Eckhart
erneuert und hat bei ihm eine neue und große Gestalt ge-
wonnen.
Darum ist es auch gut augustinisch, wenn Eckhart dar-
auf hinweist, Gott sei der Seele näher, als diese sich selber
ist 30 • Und es ist ganz konsequent, wenn der Meister den
Weg der Vereinigung mit Gott unter dem anmutigen Bild
des Weines im Keller darstellt. In derselben Predigt lesen
wir ja ein wenig später von dem Menschen, der von in-
wendigen Dingen nichts versteht und so nicht weiß, was
Gott ist, er sei, wie es da heißt, ,,Als ein man, hat er wi n
in sinem keller und enhaete er sin niht getrunken noch
versuochet sö enweiz er niht, daz er guot ist" 31 • Der Wein
Gottes ist immer schon im Keller oder in der Tiefe der
Seele, jenseits des oberflächlichen Betriebes. Aber es
kommt darauf an, daß der Mensch in diesen Keller hinab-
steige, daß er im Vollzug seines Lebens einhole, was schon
verborgen in ihm ist. In diesem Gleichnis ist also der innere
Zusammenhang zwischen dem ungeschaffenen Grund der
Seele und dem Vollzug der Abgeschiedenheit auf eine be-
sonders schöne Weise ausgesprochen.
Dieser Zusammenhang ist auch auf klassische Weise
genannt in dem berühmten Satz: ,,Daz ouge, dä inne ich
170
••• ,1hc, daz ist daz selbe ouge, da inne mich got sihet." 32
1,,nrr Satz steht zwar im Zusammenhang der Bespre-
' tumg der Identität des Vollzuges zwischen Sehen und
• ,c·,<·hl·nem.Er geht aber über diesen Zusammenhang
lun.,us. Er weist auf das Auge als das schon im Menschen
\'url1l'gcnde, weil ihm aus seinem Ursprung Mitgegebene
'""· So sagt der Satz: Weil Gott mich immer schon ange-
hl" kt hat, weil dieser sein Blick immer schon die Helle
,,u•lfll'S Geistes bestimmt, darum kann und soll auch ich
•.h11.rnhlicken. Mein zu Gott blickender Geist ist so im
1·,,prung der Blick, mit dem Gott mich immer schon an-
91d,l1l'kt und erleuchtet hat. Bin ich in der Abgeschieden-
,..-,, ( ;ottes inne, so vollziehe ich, was ich bin, denn ich
hm 1111 Innersten und Höchsten dieses: von Gott ange-
ht1t kt zu sein.
\c, higt sich alles zusammen: der Gott und der Mensch,
,rn,I1111Menschen das, was er von Gott her schon ist, und
tl.a,, was er selber vollziehen kann und vollziehen soll.
1kgcl hat den letztgenannten Satz aufgrund einer Mit-
tnlu ng von Franz von Baader in seiner Religionsphiloso-
l'h•<·zitiert 33 • Freilich hat sich der Gedanke bei diesem
11l't·rgang von Eckhart zu Hegel und dessen kühnen Ent-
" urkn gewandelt. Aber es könnte doch auch sein, daß
\ n11 Meister Eckhart her Licht auf den Gedanken Hegels
Lalh.
1>t·rGedanke, daß ich im Gang in das Geheimnis Gottes
,ur Wurzel und zum Grunde meiner selbst zurückkehre,
,,, 111gewandelter Form auch von Karl Jaspers ausgespro-
. h,·11worden, indem er, nach Kierkegaard, formuliert:
• · l>W 1, 201,5 f. aus der Predigt 12 „Qui audit me": ,,Das Auge,
• 11 1111 1l'h Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem Gott mich sieht."
· c, W. F. Hegel, Begriff der Religion, hrsg. v. G. Lassan, (Harn-
.,,►'·· ;\Jachdruck 1966) 257.
171
„Existenz ist das Selbstsein, das sich zu sich selbst und
darin zu der Transzendenz verhält." 34 Wichtig ist für uns
dabei, daß auch hier der unlösbare Zusammenhang zwi-
schen der entscheidenden Form des Selbstseins und dem
Transzendieren in jenes Geheimnis, das bei Jaspers den
Titel Transzendenz trägt, festgehalten ist. Dieser Gedanke
bewährt sich über all die tiefen Veränderungen hinweg,
die er und die ihm zugrunde liegende Erfahrung in einer
so langen Geschichte durchgemacht hat.
172
c,ortl'S in der Abgeschiedenheit bei Meister Eckhart ent-
1pr1tht. Wir lesen: ,,Im Augenblick, da der Hirt die
\11mmc hört, springt er jäh zurück und trifft im Erblicken
,Irr, l Jrsprung. Die schwindenden Sinne sind in gelassenem
t 111klangmit diesem Ursprung beruhigt." 35 Dies ist of-
trnhar das Einswerden oder der Einklang mit dem, was
tun „Ursprung" genannt wird.
Ahcr dann ist es erstaunlich, daß es am Ende dieses kur-
"" Stiickes heißt: ,,Wenn der Hirt die Augen weit auf-
,, hbgt und schaut, dann erblickt er nichts anderes als sich
w·lhst." 36 Das darf man doch wohl so verstehen: Er ist
"·lhst schon in Einklang mit dem Ursprung, ohne es viel-
lt-1thtzu wissen und zu merken. Wenn er aber dann im
<,l.,l'hehen der Erleuchtung den Ursprung, den geheim-
111wollenOchsen, einholt, da holt er sich selbst ein, das,
w.,s er, ohne es zu wissen, schon war. So ist der Ursprung
lrrn, und der Hirte muß ihn erst suchen. Aber er ist auch
,o nahe, daß er das Selbst seiner selbst genannt werden
k.rnnoder nach Augustin: ,,Vita animae meae" 37 , das Le-
l'<·n meines Lebens.
Natürlich ist auch hier nicht - sowenig wie bei Meister
l "-khart - die Rede davon, daß das, was man erblickt,
wt·nn man sich selber erblickt, auf eine schematische und
.rnf,crliche Weise einfach dasselbe sei, wie der Ursprung.
Wohl aber, daß es von ihm schon angeblickt und durch
d 1l·scnBlick in sein Wesen gerufen ist.
1)as zweite Beispiel entnehmen wir dem altchinesischen
1\1-Yän-Lu.Als siebtes Koan dieser Sammlung lesen wir:
..Fin Mönch befragte Fa-Yän mit folgenden Worten:
" Der Ochs und sein Hirte, übersetzt von K. Tsujimura und H.
Hu"-hr1er(Pfullingen 2 1973) 21
'" Ebd.
" Augustinus, Confessiones, III, c. 6, 10.
173
Hui-tschau hat mit dem Ehrwürdigen etwas zu bespre-
chen: Was ist es mit Buddha? Fa-Yän erwiderte: Du bist
Hui-tschau." 38 Dies ist das ganze Koan. Was will es sa-
gen? Offenbar dieses: Willst du zur Erleuchtung kommen,
zur Buddhanatur, zum Aufgang des Ursprungs, dann
kehre bei dem ein, was du selber bist. Denn du trägst das
Geheimnis in dir selber und hast es nur noch nicht ent-
deckt.
Daß dies die richtige Interpretation ist, wird bestätigt
durch die gleichfalls altchinesische, aber etwas jüngere
„Erläuterung des Beispiels". Da lesen wir: ,,Die Knaben
Bing und Ding kommen daher und fragen nach Feuer." 39
Die Knaben Bing und Ding sind das Yang-Yin-Paar, das
heißt das Feuerelement des Kosmos. Es ist töricht, das soll
gesagt werden, wenn das Feuer nach Feuer frägt. Und so
ist es töricht, wenn Hui-tschau nach der Buddhanatur
frägt. Damit will offenbar gesagt sein: Die Erleuchtung
ruht schon im Grund der Seele. Sie ist das Feuer, das da
brennt. Man braucht also nicht weit herum danach zu fra-
gen, man braucht nur ernstlich Einkehr zu halten im eige-
nen Grund, um des Geheimnisses innezuwe.rden, in jenem
Grund, der schon immer gelegt ist.
Es ist bedenkenswert, daß an so verschiedenen Stellen
der Erde und ganz unabhängig voneinander analoge Er-
fahrungen gemacht worden sind. Sie winken einander aus
weiter Entfernung zu und bestätigen und ermutigen ein-
ander, und so mag von beiden Seiten her ein Licht auf je
die andere Seite fallen.
174
l>ritter Teil
1>ic Vision der Welt
1111 dunklen Licht der Gottheit
1kr Meister Eckhart lehrt zuerst, daß wir uns in Gott ver-
,r,1 kcn sollen. Er zeigt dann, daß wir dies nur können,
""'il wir immer schon und vor allen unseren Bemühungen
\ 011 Gott berührt sind und er als das unerschaffene Licht
'"· h uns eröffnet hat. So entwickelt sich ein bestimmtes
rrhgiöses Verständnis dessen, was der Mensch ist.
175
Der Meister Eckhart weiß das wohl. Darum entwickelt
er auch ein ganz bestimmtes religiöses Verständnis der
Welt und der Dinge in der Welt. Dieses verhält sich kom-
plementär zu seinem religiösen Verständnis dessen, was
der Mensch ist.
Natürlich bedarf es dazu einiger gedanklicher Mühe,
und damit auch einiger Metaphysik, wie diese schon not-
wendig war, um das ungeschaffene Licht im Menschen
zu denken und auszusagen. Aber auch gerade diese Ele-
mente von Metaphysik sind geprägt von jener Überwin-
dung der Metaphysik, von der wir zu sprechen hatten.
Bei dieser Erörterung der Welt zeigt sich, daß die Abge-
schiedenheit, über die wir nachdachten, keine Weltlosig-
keit ist. Wäre sie es, dann wäre ja von der Welt weiter
nicht mehr zu reden. Aber Eckhart redet von der Welt.
Die Abgeschiedenheit macht nicht weltlos, sondern welt-
frei. Frei von der Welt und frei in der Welt und frei für
die Welt. Und also ist der Mensch gerade auch in der Ab-
geschiedenheit immer noch „In-der-Welt-sein", wenn
auch freilich nun auf eine neue Weise.
Darum bedarf es einer Deutung der Welt und der Dinge
in der Welt.
176
~cn, denn es scheint doch offenkundig, daß sie nicht
, sind. Die anderen Aussagen aber scheinen zuviel
~l·n, denn es ist doch nicht weniger offenkundig, daß
"ht Gott sind. Aber sehen wir genauer und bedachter
,·.1suns der Meister in diesem Zusammenhang sagen
·r Text sagt, kein Sein haben. Was heißt aber Sein „ha-
,? Es heißt: Sein zu eigen haben oder als Eigentum
:11.Und ein Ding hat Sein als sein Eigentum, wenn es
t·s Sein aus eigener Kraft hat und aus eigener Kraft
W 1,69, 8-70,3: ,,Alle Kreaturen sind ein reines Nichts. Ich sage
1, daf~sie klein seien oder etwas seien. Sie sind ein reines Nichts.
kl'in Sein hat, das ist Nichts. Alle Kreaturen haben kein Sein,
1hr Sein hängt an der Gegenwärtigkeit Gottes."
1d1 diese berühmte These ist des öfteren erläutert worden je
dl·m Interpretationsstandpunkt, den die Autoren einnehmen.
vor allem: A. Haas, Wege und Grenzen der mystischen Erfah-
nach der deutschen Mystik, a. a. 0. bes. 64. Haas verweist in
111 Zusammenhang auf D. Mieth, Die Einheit von Vita activa
Vua contemplativa, a. a. 0. 136 und auf H. Hof, Scintilla ani-
.,. a. 0. 112-120. Zu vergleichen ist auch J.Kopper, Die Meta-
1kdes Meisters Eckhart, a. a. 0. bes. 33 und 45 sowie W. Bange,
rt·r Eckharts Lehre vom göttlichen und geschöpflichen Sein,
) .
177
festhält. Und so verstehen wir in der Tat zumeist und zu-
nächst das Sein des Seienden: Hat es nicht selbst das Sein,
und hält es sich nicht selbst aufrecht?
Dieses Verständnis von „Sein haben" wird nun in unse-
rem Text als bloßer Schein entlarvt. Das Seiende der Krea-
tur hat nicht die Kraft, selbst und aus eigener Kraft sei 11
Sein festzuhalten und aufzustellen. Und im Hinblick auf
ein solches Seinverständnis, wie sehr es sich auch aufdrän--
gen mag, muß gesagt werden: Die Kreaturen sind ein rei-
nes Nichts, sie „haben" kein Sein, und sie stellen es nicht
aus eigener Kraft auf und halten es nicht aus eigener Kraft
fest; nichts dergleichen ist wahr.
Das Sein der Kreatur hängt vielmehr ganz an der Ge
genwärtigkeit Gottes und nur an dieser Gegenwärtigkeit
Gottes. Es ist gerade nicht die eigene Sache der Kreatur,
sondern die Sache Gottes und wird nicht von der Kreatur
selbst erstellt, sondern von Gott. Und dieses Sein wird
auch nicht von der Kreatur selbst festgehalten, sondern
nur von Gott. Es trägt sich nicht selbst und steht nicht
selbst, es ist ganz und vollständig Sache der wirksamen
Gegenwart Gottes. Gott allein ist es, der Sein gewährt
aus seinem unergründlichen Ursprung. Abgesehen von
diesem Gewähren und Geben oder von diesem gewähr-
ten und gegebenen Sein, das die Kreatur ständig aus der
schöpferischen Fruchtbarkeit Gottes empfängt, hat dir
Kreatur kein Sein und ist in diesem Sinne nichts. Sie ver-
mag ihr eigenes Sein, nämlich daß sie ist und wie sie ist,
in keiner Weise, und sie „hat" es also nicht.
Hier haben wir deutlich den Gedanken der „Creatio
continua". Unaufhörlich strömt alles Sein alles Seienden
aus dem Abgrund Gottes.
Diesen Gedanken lesen wir auch in den lateinischen
Werken des Meisters. So im Kommentar zum Buch der
Weisheit: ,,omms creatura, quamvis perfectissima, et
178
..,11111111c- quia non continue et semper actu - accipit esse
• ~Ir•,,t·t suum esse est in continuo fluxu et fieri." 3 Das
t,••ur Sein der Kreatur ist also nur das Hervorfließen und
• ,rdt·11 von Gott her, und dies in einer ständigen Bewe-
•••"K· l Jnd so ist die Kreatur von sich selbst her nichts,
.....1 ,1t· kann von sich selbst her ihr Sein in keiner Weise
, • 11h.,lrl'n: ,,non continue".
179
im eigentlichen Sinne zusprechen. Und das Seiende der
Welt „hat" dieses, daß es ist, nicht von sich her. Ver
steht man also unter Sein „Sein haben von sich her", wir
es landläufig ist und wie wir es vorhin besprochen haben,
dann ist Sein dem Seienden der Welt oder den Dingen der
Welt überhaupt nicht zuzuschreiben. Dann sind sie als< 1
nichts. Und der Grund dafür ist der, daß alles Seiende vo11
Gott unmittelbar sein Sein empfängt und alles, was dazu
gehört. Und daß das Seiende der Welt gerade dieses oder
jenes ist, fügt seinem Sein, und das heißt seinem Empfan-
gen des Seins, nichts mehr hinzu. Und so ist also das Sein
des Seienden, oder das Sein der Dinge im ganzen und auch
das Sein jedes einzelnen Seienden oder jedes einzelnen
Dings überhaupt nicht dessen Sein. Aber dadurch wird,
wie unser Text abschließend sagt, das Sein der Dinge die-
sen nicht weggenommen, sondern erst eigentlich f estgc-
macht. Dies bestätigt sich darin, daß das Sein der Dinge
für uns nie endgültig feststellbar ist. Die Pascalsche Skep-
sis in bezug auf die endgültige Feststellbarkeit des Seins
der Dinge tritt gerade dann verstärkt in Kraft, wenn man
sich der Dinge mit Hilfe moderner empirischer und ratio-
naler Methoden bemächtigen will. Man kommt damit in
ein zuletzt bodenloses Fragen ohne Ende. Und so bleibt
das Sein der Dinge gerade auch unter diesem Gesichts-
punkt nicht stehen, aber es bleibt stehen, wenn es in Gott
festgemacht ist und aus Gottes Händen angenommen
wird.
In der Erklärung des Buches Genesis lesen wir dazu:
,, ... creatura habet esse suum, et suum esse sive sibi esse
das' ganz und gar nichts zu der Seiendheit, Einheit, Wahrheit oder
Gutheit hinzu über seiend, eins, wahr und gut. Mit dieser Deutung
zerstören wir aber nicht das Sein der Dinge, sondern wir stellen es
fest."
180
- •• ih l"lpcre esse, sie deo esse est dare esse." 5 In diesem
•• • w I rd zwar zuerst gesagt, die Kreatur habe ihr Sein.
: • • ,rd aber dann hinzugefügt, dieses Haben sei kein Ha-
1·•"und das Sein als das ihre sei gar nicht das ihre, denn
i •., \c·111sei ganz und gar „Sein-empfangen", es ströme un-
•.,.fhorlichzu von dem des gebenden Gottes. Dabei dürfen
• ., twachten, daß das empfangene Sein und das gegebene
·...'" 11urein Sein ist. Das, was Gott gibt, ist dasselbe, was
1.,.. Kreatur empfängt: Sein.
1,.,, Sein der Kreatur geht also in keiner Weise von der
• ,, ..u ur aus, und die Kreatur „hat" es also nicht. Es geht
t:•111 und nur von Gott aus. Er ist der alles Gewährende,
.a.-,t Jrhcber und der Herr des Ganzen des Seins der Krea-
,,u hrs, denn alles, was sie ist, ist sie vom wirkenden Gott
lw-r.
1>l'r Satz, alle Kreatur sei ein lauteres Nichts, ist also
~uudie Konsequenzeines zu Ende gedachten Schöpfungs-
' A..1. 0., 77, ?ff: ,,Die Kreatur hat ihr Sein, und ihr Sein oder ihr
1 .. , ,Kh-Sein ist ,Sein-empfangen', und so ist für Gott das Sein:
•.. 111 gt'hcn'."
• l»W 114,4f.: ,,Gott und ich, wir sind Eins in diesem Gewirke, er
.- u k,, und ich werde." Vgl. oben S. 123 f.
181
begriffs. Er sagt eigentlich nur: Alle Kreaturen sind ga, 11
und gar Kreaturen und sonst nichts 7 •
Darum kann in der Predigt 4 in dem Text, von dc,11
wir ausgingen, gesagt werden: ,,Kerte sich got ab allrn
creaturen einen ougenblik, sö würden si ze nihte." 8
7
H. Hof hat dieses göttliche „Geben" des Seins von der Analogir
her gedeutet. Mir scheint es angemessener, umgekehrt die Analogir
vom „Geben" her zu deuten.
8 DW I, 70,3 f.: ,,Wenn sich Gott einen Augenblick von allen Kn-;1
182
1>a,·l)inge werden nach diesem Satz reiner Gott, sie
,,.tunn-kcn göttlich, und Gott erbildet sich in ihnen. Dieses
c ,ouwcrden der Dinge" scheint hier zunächst an die
\ nt.1,sung des Menschen gebunden. Aber auch dieser
\ .-rf.1,stmg liegt ja nach unserem Meister zugrunde, was
rnu ( ~ott her so ist, wie es ist.
l lnd warum? Das Sein der Dinge entspringt, wie wir
„ 1e·tu-nhaben, ganz und gar und beständig aus Gott. Das
•111,pringenlassende Leben Gottes selber entfaltet sich
.1,0 111den Dingen. Das Leben Gottes aber ist Gott selber.
, ,..1 ,o kann man sagen: Es entfaltet sich Gott selber in
,k·u Dingen. Er erbildet sich, seine Gedanken, seine Ur-
•1•rungskraft in den Dingen. So sind sie „lauter Gott", das
lw-11\1( ;ottes Wirken und Scheinen. Natürlich handelt es
u, h hci den hier begegnenden Identitätsaussagen wie-
,k rurn um jene Identität des Geschehens oder des Gewir-
•n, von der wir schon viel zu sprechen hatten. Sie hebt
,kn ontischen Unterschied zwischen Gott und den Ge-
•~hopfen nicht auf, sie begründet ihn vielmehr. Denn in-
.1.-111 (;ott wirkt und er sich in seinem Wirken entfaltet,
••·t1l l r ja gerade das andere Sein als das andere und bringt
0
183
In ihnen strahlt das unaufhörlich von Gott ausgehendr
Leben, also Gottes Lichtglanz, Gottes Bild. Diese Bi]d
schaft der Dinge, daß sie Bild Gottes sind und Gottes Lc
ben ausstrahlen, ist also nicht etwas, was zu den Dingc11
äußerlich hinzukäme, und schon gar nicht etwas, was blol,
an sie hingedacht oder hinempfunden wäre. Es ist viel
mehr das Sein selbst der Dinge, das, was sie eigentlich und
wesentlich und im ganzen zu dem macht, was sie sind.
In diesem Sinne sind alle Dinge lauterer Gott und als<,
viel mehr als sie selbst, und dies entspricht vollkommen
dem, daß sie aus sich selbst nichts sind, also viel weniger
als sie selbst.
Am Menschen aber liegt es dann, dieses Geheimnis der
Dinge zu entdecken und ihm gemäß zu leben im Umgang
mit den Dingen der Welt.
184
•~,,,h .,hsurd, in den Dingen den göttlichen Gott erfah-
,. .. ,u wollen.
\hc·r 1st es nicht möglich, daß wir uns von der Zwangs-
,,.",,, haft solcher herrschender Vorstellungen ganz frei-
···., lu·11?Und solches Freimachen hieße dann zugleich
, ., h ,1l'h freimachen von allem verfügenden Wollen und
1~,.,111 ihm gehörenden Formen des Vorstellens. Es hieße
. fi• ntl1rh: Abschied nehmen von all dem, was wir bei der
1 ~ .. ,,nung der Abgeschiedenheit das „Eigentum" ge-
. mnt haben.
1,,ncr Abschied, diese Abgeschiedenheit, nun im An-
.-"' tu der Dinge betrachtet, ist so, daß aus ihr positiv
, ... \1.umen oder eine Verwunderung entspringen kann.
• .,._. ,tatmende Verwunderung darüber, daß überhaupt
•'* .a, 1st und nicht nichts. Eine staunende Verwunderung
.1u II hc:r, daß gerade dies ist, dieser Ba um, dieser Berg,
.,••.,,. Brücke, dieser Mensch. Und eine staunende Ver-
• umll·nmg endlich darüber, daß dieses gerade so ist, wie
. • "'' und nicht ganz anders oder überhaupt nicht.
In l'incr solchen staunenden Verwunderung werden die
; ••n~l·selber wunderbar. Es wird das reine Wunder, daß
, , d1(·s gibt und daß es mich so anblickt und wie es dies
,.,t,, und wie es mich anblickt.
f.1,dit Dinge werden unendlich wunderbar, in aller ih-
,,, .mf~cren Endlichkeit. Es wird für die mögliche Erfah-
'""~ offenbar, daß das Wunder des Wunderbaren nie
•11,,uschöpfen ist. Alle endlichen Antworten auf mögliche
•·•ullKhe
Warumfragenwerden an kein Ende kommen. Sie
alle das Wunder nicht ausschöpfen, sie können
•, •lllll'll
185
den man auch beiziehen mag, es wird nie das Wunder dn
Wunderbaren erschöpfen. So leuchtet unendliches Ge
heimnis aus dem Wunderbaren, zu dem die Dinge für sol
ehe Erfahrung geworden sind.
Diese mögliche Erfahrung verläßt dabei das Ding nicht,
auf das sie sich bezieht und das vor ihr sich erhebt als da"
Wunderbare. Es ist nicht wunderbar von einem äußerlich
außer ihm liegenden anderen her. Das Wunder des Wun-
derbaren leuchtet vielmehr aus den Dingen selbst. Abc r
andererseits ist es auch unendlich verschieden von dem
bloßen äußeren Bestand des Dings. Es ist wie das Glänzen
aus seiner unausschöpfbaren Tiefe.
So leuchtet aus dem Ding Unendliches und Wunderba-
res so, daß es mir, dem erfahrenden Menschen, ganz nahe
kommt als das für mich unendlich Kostbare und das
unendlich Gegönnte und zugleich als das unendlich Ferne,
weil Unausschöpfliche und nie zu Begreifende.
So leuchtet, solche Erfahrung vorausgesetzt, etwas
Göttliches aus dem Ding selbst als seine eigene Tiefe und
sein eigenes Geheimnis. Göttliches als das unendlich
Wunderbare, das zugleich in seiner Nähe das Herz be-
rührt und das uns in seiner Unfaßbarkeit zugleich er-
schreckt.
Das ist eine mögliche Erfahrung mit den Dingen der
Welt. Innerhalb ihrer blickt man nicht von den Dingen
der Welt weg. Man kann vielmehr in den Dingen selbst
das Licht des Göttlichen, ja schließlich des göttlichen Got-
tes wahrnehmen. Und dann sind in der Tat die Dinge
nichts, nämlich nichts für sich, dann aber nichts anderes
als das Leuchten des wunderbaren Gottes, wie der Meister
Eckhart sagt.
Diese Erfahrung ist möglich. Das wird nicht zu leugnen
sein. Sie ist gewiß nicht alltäglich und schon gar nicht im
alltäglichen Sinne unserer Welt notwendig. Aber schon als
186
.....llfh:hc Erfahrung bestätigt sie den Gedanken, den der
"'"'In Eckhart vorträgt, daß die Dinge der Welt zugleich
.,,.. hh sind und zugleich die Erscheinung des Lebens Got-
..., 1kr Gedanke des Meisters erweist sich so als von ganz
., ..lc-n· r Art als eine bloße Konstruktion.
•' V~I. vor allem D. Mieth, Die Einheit von Vita activa und Vita
. u111t·rnplativain den deutschen Predigten und Tractaten Meister
I, ~ harts und Johannes Taulers, a. a. 0. Bei D. Mieth spielt die lnter-
1•rr1Jtion dieser Predigt die zentrale und entscheidende Rolle. Dies
,11.a~l'ine gewisse Engführung sein. Aber Mieth zeigt richtig, daß
,hc·,,·Predigten nur auf dem Hintergrund des ganzen Gedankens des
\tr,,tcrs zulänglich zu verstehen sind. Vgl. auch Shizuteru Ueda,
l >.1,,,Nichts" bei Meister Eckbart und im Zen-Buddhismus, unter
t.n, ,11dcrerBerücksichtigung des Grenzbereiches von Theologie und
l'hilosophie a. a. 0.
187
sprach: ,,du stäst bi den dingen, und diu dinc enstänt nih,
in dir; und die stänt mit sorgen, die äne hindernisse sta11r
in all irm gewerbe. Die stänt ane hindernisse, die alliu iri 11
werk rihtent ordentliche nach dem bilde des ewigen lieh
tes; und die liute stänt bi den dingen und niht in dc11
dingen. Sie stänt vil nähe und enhänt es niht minne r,
dan ob sie stüenden dort oben an dem umberinge drr
ewicheit." 14
Wir versuchen, diese wichtige Stelle zu interpretieren.
Da heißt es zuerst: ,,Du stehst bei den Dingen, und dit·
Dinge stehen nicht in dir." Dies ist eine Art Leitwort. Dir
Dinge stehen nicht in dir, sie haben dich nicht besetzt, und
indem sie dich nicht besetzt haben, gehst du nicht auf i11
ihrer Behauptung und in den gängigen Theorien über sie.
Du bist frei ihnen gegenüber, du stehst bei den Dingen.
Indem du frei bist, stehst du auch „ohne Hindernis in a 11
ihrem Gewerbe". Die Worte „ohne Hindernis" erinnern
an die Lehre von der Abgeschiedenheit. Was nicht mehr
gehindert wird, ist die Freiheit des Menschen für die
Dinge, was nicht gehindert wird, ist aber auch und mehr
noch die Freiheit des Menschen für das Scheinen Gottes
in den Dingen. Sogar die Sorgen, die in diesem Satz ge-
nannt werden, können diese Freiheit von allem Hindernis
nicht mehr behindern. Und so wird der Umgang mit den
Dingen nicht zu einem „Werk", sondern zu einem „Ge-
werbe", wie unser Text sagt. Hier wird offenbar ein Un-
terschied signalisiert in der Weise des Umgangs mit den
14
DW III 485,2-7: ,,Du stehst bei den Dingen, nicht stehen die
Dinge in dir. Die aber stehen mit Sorgen, die ohne Hindernis stehen
in all ihrem ,Gewerbe'. Ohne Hindernis stehen die, die all ihr Werk
ordentlich richten nach dem Bild des ewigen Lichtes; und diese Leute
stehen bei den Dingen und nicht in den Dingen. Sie stehen ganz nahe
und haben es nicht weniger, als wenn sie dort oben stünden im
Umkreis der Ewigkeit."
188
..,,. 11 ''. l) as, was hier Werk genannt wird, ist das Sich-
..,•• llr11 der Dinge zur eigenen Verfügung und zur eige-
,,,.., '4·1h,thestätigung. Was aber ist das „Gewerbe"? Wir
,, "'"'• 11 vl'rsuchen, dieses Wort ursprünglich zu hören. Es
.... ,... , r111 Zusammen, einen Einklang. Dies zeigt die Vor-
.,,ul ,(heint.
\c, ist also Martha hier verstanden als der Mensch, der
~n,hcrciten und sorgsamen Umgang mit den Dingen Gott
' \ >f zu diesem Unterschied D. Mieth, a. a. 0., 202.
189
nahe ist und diese Nähe auch erfährt und lebt und der
von daher die rechte Ordnung auch seines Lebens in dr11
Dingen und mit den Dingen empfängt.
In diesem Zusammenhang ist es wohl notwendig, norh
den Begriff des „Mittels" zu besprechen, der von unserc111
Text eingeführt wird. Wir lesen nämlich da als Interpreu
tion des Ausdrucks „nahe" folgendes: ,, ... wan alle cre~1
turen die mittelnt. Mittel ist zwivalt. Einez ist, äne d~1,
ich in got niht komen enmac: daz ist werk und gewerhr
in der zit, und daz enminnert niht ewige saelde .... Da,
ander mittel daz ist: blöz sin des selben. Wan dar umhr
sin wir gesetzet in die zit, daz wir von zitlichem vernünfti
gen gewerbe gote naeher und glicher werden." 16
In diesem Text ist das zweifache Mitteln der Kreatur
zu erläutern. Ich vermute, daß das zweifache Mitteln hin
nach dem aristotelischen Begriff des metaxy entworfen ist.
Dann ist es zwar ein Dazwischen, aber nicht ein Trennen
des 17 • Bei Aristoteles wird der Begriff des Mittels oder de,
metaxy vor allem verhandelt bei der Besprechung de,
Verhältnisses des Sehens zum Gesehenen, aber auch bei
den anderen sinnlichen Tätigkeiten 18 •
Dieses metaxy oder Mittel ist das, was zwischen dem
Gesehenen und dem sehenden Auge liegt. Es ist der für
das Sehen durchlässige Raum. Dieses Mittel kann nach
zwei Seiten betrachtet werden. Einmal ist es das andere
16 DW III, 485, 7-14: ,,Ganz nahe, sage ich, denn alle Kreaturrn
,mitteln'. Das Mittel ist zweifältig. Das eine ist, ohne das ich nicht
in Gott kommen mag, das ist Werk und Gewerbe in der Zeit, und
das mindert die Seligkeit nicht ... Das andere ,Mittel' ist dies: f m
zu sein von demselben. Denn dazu sind wir in die Zeit gestellt, dal,
wir durch vernünftiges Wirken in der Zeit Gott näher kommen und
ähnlicher werden."
17 So J. Quint in seiner Übersetzung DW III, 594.
18 Vgl. vor allem Aristoteles, De an. II, 7, 419a, 19f.
190
,.,., c,nc.·hcnen und des Sehenden, gleichsam ein drittes
• •• ., ,.wischen ihnen und so von beidem verschieden
,.....1 IM·1desmiteinander vermittelnd. Nach der anderen
,.. , •r .1ha ist es sozusagen gar nichts. Es macht sich selbst
a,• ,,Ir nicht geltend, sondern ist nur die Vermittlung. Es
.... nh hts als die Möglichkeit des Scheinens des einen für
191
mag 19 • Die Lust und die Süße sind offenbar Empfindun
gen des Subjekts; dies empfindet sich selbst darin lustvoll,
und gerade darauf soll es nach unserem Meister nicht an
kommen, wie angenehm solches auch sein mag.
Die Stelle unterstreicht so von neuem, was wir früher
schon bei der Besprechung der Abgeschiedenheit bemerk
ten: Sie sei auch der Abschied von aller Subjektivität und
habe mit ihr nichts Wesentliches zu tun.
So führt diese Erfahrung, daß Gott in allen Dingen der
Welt scheint, in der Tat zu einer Überwindung des Unter-
schiedes zwischen Vita contemplativa und Vita activa, wir
D. Mieth richtig gesehen hat 2°.Die richtige Grundeinstel-
lung vorausgesetzt, ist der Mensch im einen wie dem an-
deren in der Nähe und in der Berührung mit Gott.
192
lu.ldhismus andererseits erläutert, also nicht im
1uf den Meister Eckhart. Aber das eine Verhältnis
doch dem anderen, wie man gleich sehen wird.
ll"scrAbhandlung erwähnt Tsujimura ein Koan, das
11tct: ,,Einmal fragte ein Mönch den Meister
10-dschou: ,Welchen Sinnes ist der erste Patriarch
I>harma nach China gekommen?' Darauf antwor-
>srhao-dschou: ,Zypresse im Garten.' Der Mönch
· weiter: ,Meister - bitte zeige nicht mit Hilfe eines
11standes!' Dschao-dschou sagte: ,Ich zeige nicht mit
c:ines Gegenstandes.' Dann fragte der Mönch erneut:
. hcn Sinnes ist der erste Patriarch Bodhi Dharma
China gekommen?' Dschao-dschou antwortete:
rt·ssc im Garten'." 22
, ~cht in diesem Stück, wie Tsujimura dazu erläutert,
.llt· erste und letzte Wahrheit des Zen-Buddhismus.
t·s geht eben deswegen auch darum, daß wir im An-
~ der Zypresse im Garten uns von „allem Vorstellen,
,tdlcn, Nachstellen, Verstellen, Handeln, Machen,
kn ... ablösen" 23 • So hört die Zypresse auf, ein Ge-
,tand zu sein. Es geht darum, daß für den solcherma-
~anz gelassenen Menschen die Dinge selbst sich selbst
.r~cnständlich zeigen, und indem sie sich selbst so zei-
. ,.eigen sie auch „den Boden, auf dem wir leben und
hcn" 24, wie hier nach Heidegger gesagt wird. Im blü-
1,kn Baum oder in der Zypresse im Garten begegnet
1 ;cheimnis des Buddha, das heißt der „Bereich der
(
,hrheit" 25 •
Auf denselben Zusammenhang weist auch Shizuteru
11.,hin 26 • Er zitiert Eckhart: ,,Wer ein Stück Holz in
193
göttlichem Lichte sieht, dem erscheint es als ein Engel. 1111
Holze leuchtet ihm engelhaft das göttliche Licht." 27 Ur1d
Ueda vergleicht dazu einen Spruch aus dem Zen-Buddhi,
mus: ,,Die Berge als Berge, Wasser als Wasser, Langr,
lang, Kurzes kurz." 28 Das heißt offenbar: Indem man ei 11
fach die Dinge nennt als das, was sie sind, und indem ma11
sie einfach sich zeigen läßt als das, was sie sind, begegncr
in ihnen das Geheimnis der nie genannten Wahrheit, al
lerdings nur für den, der angesichts der Dinge zur Er
leuchtung gekommen ist.
Von daher lassen sich auch eine ganze Reihe der Koa11,
deuten, die in der schon genannten Sammlung Bi-yän-lu 2 • 1
27 Ebd. 28 Ebd.
29 Vgl. Bi-yän-Lu, a. a. 0.
30 Ebd.
194
Wir wollen auch beachten, daß wir hier nun schon zum
,hlfll'll Mal Anlaß fanden, zen-buddhistische Analogien
,,. lktracht zu ziehen. Zum ersten Mal war es bei der Be-
•prn·hung der Überwindung aller Metaphysik in der Ver-
w·ukungins weiselose Geheimnis. Das zweite Mal bei der
~,prcchung des ungeschaffenen Lichtes im Grunde der
\c·dt·. Und nun zum dritten Mal, wo es darum geht, in
,lc·n l )ingen das höchste und immer unaussprechliche Ge-
hc·u1111is zu erkennen. Das sind drei untereinander zusam-
"''"nh~ingende Angelpunkte im Denken des Meisters Eck-
h.artund auch im Denken der buddhistischen Meister.
Alt.osind hier an zwei weit auseinander liegenden Punkten
,IN Erde und der Geschichte der Menschen ganz unab-
h.mgig voneinander weitgehend analoge Strukturen des
l~nkcns und des Erfahrens an den Tag getreten. Und so
,IJrf man annehmen, daß hier in beiden Fällen eine Struk-
1ur~anzheit erscheint, die nicht irgendeiner Willkür des
1>rnkcns entspringt, die vielmehr vorgebildet ist in den
<,rundverhältnissen, in denen der Mensch und das Den-
~rn des Menschen sich immer schon finden. Nur so
,, hcint es erklärbar, daß weitgehend analoge Strukturen
unabhängig voneinander in der Geschichte der Menschen
twrvorgetreten sind dort, wo die Voraussetzungen dafür
~r~cben waren.
Dann wäre der Meister Eckbart ein Zeuge eines allen
Ml'nschem im Grunde Gemeinsamen, mag es auch nur
,rltcn im Offenen der Geschichte erschienen sein. Und
d.11111hätte dieses Einanderzuwinken über den Abstand
dl·r Kulturen hinweg einen tiefen Grund.
Dies zu bedenken ist um so bedeutsamer in einer Zeit
wil' der unsrigen, in der die Menschheit immer mehr zu
,·mer Welt wird und darum auch immer mehr die Vielfalt
der kulturellen Ursprünge und Traditionen hervortritt. Es
~~1lt,
in dieser Pluralität die Zeichen der Einheit wahrzu-
195
nehmen und womöglich weiterzubilden. Der Meister
Eckhart ist mit seinem Gedanken ein solches Zeichen.
196
lncn Momenten wieder Gott entgegen. In dieser Ge-
und diesem Lauf tritt aber dann das Böse als eine
nhafte Störung auf. Freilich als eine Störung, die das
1Jkonzept und das Ziel des Ganzen nicht stören kann.
ir wollen diese abschließende Vision des Ganzen in
lncn Schritten mitzudenken suchen.
>enken herausfordert.
1von spricht der Meister zum Beispiel in der Predigt
,er den Text „Ave gratia plena". Er spricht von „dem
>rgenen vinsternisse der ewigen verborgenheit, inne-
nde in dem ersten beginne der ersten h1terkeit, diu
r ein vülle aller h1terkeit" 2 • Hier rührt der Meister
111 das allem menschlichen Denken Verborgene und
>gene.Auch das Wort von der Finsternis verweist auf
L'rgung und Entzug. Das solchermaßen in seine Fin-
is Verborgene und Entzogene bleibt in ihm selber und
t sich dem Denken nicht aus. So ist es „inneblei-
,1,. Aber es ist ein Ewiges, denn was niemand denken
197
denn es ist durch nichts gestört noch störbar, durch nichts
verwirrt und gemindert. Es ist vollkommene Stille und
lautere Ruhe und Klarheit in ihm selbst. Der Anfang vor
allem Anfang. Eigentlich kann nichts über diese verbor-
gene Finsternis gesagt werden. Denn sie ruht und leuchtet
jenseits aller Sagbarkeit und Denkbarkeit. Und doch ge-
denkt das Denken gerade dessen, was ihm auf jede Weise
verborgen bleibt.
In der Stille dieses Anfangs ist, wie der Meister sagt,
Gott nicht Gott, da ist er, was er ist. Er bedarf keines Prä-
dikates, auch nicht dessen, daß er Gott ist. Er erhebt sich
auch nicht als Gott über irgend etwas anderes. Er ist das
stille und unbegrenzte und unvordenkliche Licht, das ru-
hig mit sich eins ist 3 •
Gleichwohl aber wird des öfteren davon gesprochen,
daß in dieser Stille und in diesem lebenden Grunde, in dem
Gott noch nicht Gott ist, immer schon die Welt oder das
Universum lebte. Da nämlich, wie wir schon sahen, die
Welt erfahren ist als beständig aus der Unergründlichkeit
Gottes herausfließend und da das Prinzip gilt: ,,produc-
tum sive procedens ab aliquo prius est in illo" 4, so ergibt
sich der Gedanke, daß die ganze Schöpfung immer schon
in ihrem stillen und unausdenklichen Grunde war. Davon
spricht ein Satz in der Predigt 9 „Quasi stella matutina",
er lautet wie folgt: ,,In gote sint aller dinge bilde glich;
aber sie sint unglicher dinge bilde. Der hoehste engel und
diu sele und diu mücke hänt ein glich bilde in gote." 5 Und
3 Vgl. die Predigt 32 über den Text „Beati pauperes spiritu" in:
DPT, 305.
4 LW III, 5, 10: ,,Das von einem Hervorgebrachte oder aus ihm
Hervorgehende ist vorher in ihm."
5 DW I, 148, 1 ff: ,,In Gott sind aller Dinge Bilder gleich, aber sie
sind Bilder ungleicher Dinge. Der höchste Engel und die Seele und
die Mücke haben ein gleiches Bild in Gott."
198
,l.arum heißt es in der Predigt 12 über den Text „Qui audit
111,•":,,Der eine vliegen nimet in gote, diu ist edeler in gote
,l.m der hoehste engel an im selber si. N fi sint alliu dinc
,tlil"hin gote und sint got selber." 6
Was ist hier gedacht? Es ist der kühne Versuch gemacht,
,11,·Vielfältigkeit der Gestalt und der Welt aus ihrem völlig
rmfachen Ursprung und in ihm zu denken. So muß das
V1dc als eines und das Ungleiche und Unterschiedene als
ttlt·i(h und ununterschieden erscheinen.
l Jm dieses Paradox zu denken, das von den hier vorlie-
ttrndcn Voraussetzungen aus unvermeidlich ist, wird
rr~t·lmäßig ein bestimmtes Modell herangezogen, nämlich
,l.,sder Produktivität des künstlerischen Geistes. So lesen
wir im Johanneskommentar: ,,Arca enim in mente artifi-
' ,~ non est arca, sed est vita et intelligere artificis, ipsius
\Onceptio actualis." 7 Dieses Denkmodell ist überzeugend.
Fs ist geeignet, das Paradox der „gleichen Ungleichheit"
111l'rklären. Denn in der Tat, wenn wir an einen produkti-
vrn Künstler denken, dann denken wir ihn in seiner Pro-
,lu ktivität voll von Möglichkeit und Mächtigkeit. Denn
wir denken ja, daß er alles mögliche machen kann. Diese
Müglichkeit und Mächtigkeit kann als Bild des möglichen
V1t·lcnverstanden werden, das er machen kann. Denn die-
,t·s ist ihm ja gegenwärtig und zeigt sich ihm.
Ehe aber diese Möglichkeit und Mächtigkeit nach
Juf~cn produktiv wurde, lebte sie auch schon im Geist des
Künstlers. Die Truhe lebte schon in ihm, und da war sie
durchaus die zu produzierende Truhe, und es war doch
" A. a. 0., 199, 5-8: ,,Nimmt man eine Fliege in Gott, so ist die edler
111( ;ott als der höchste Engel an ihm selber ist. Nun sind alle Dinge
111 ( ;ott gleich und sind Gott selbst."
' I.W III, 8, 1 f.: ,,Die Truhe im Geist des Künstlers ist keine Truhe,
··•,11dcrnLeben und Denken des Künstlers, sein lebendiger Entwurf."
199
auch nicht die Truhe, nämlich nicht in ihrer äußeren Weisr
des Daseins. Sie war vielmehr ein Moment im lebendigen
Leben des Künstlers in sich selber und bei sich selber.
Und man darf dazu sagen: Je vollkommener die künst-
lerische Produktivität ist und je stärker und mächtiger in
ihrem inneren Leben, um so ruhiger kann sie sein. Desto
weniger hat sie es nötig, hin und her zu laufen, um nach
verschiedenen Möglichkeiten zu suchen und zu greifen.
Um so ruhiger und ungeteilter ist also diese Produktivität
in ihr selbst. Sie ist unverwirrt mit sich eins.
Denkt man von diesem Modell her an die Produktivität
Gottes in jenem unvordenklichen Anfang, in dem sie noch
nicht aus sich herausgetreten ist, dann versteht man leicht,
daß gesagt wird, die Bilder der vielen ungleichen mögl i-
chen Dinge seien „im Anfang" alle gleich, sie seien näm-
lich das eine und ungeteilte und ruhige Leben des ewigen
Anfangs. Und wenn sie so Leben und Denken sind in dem
unvordenklichen Gott, dann sind sie als solches eins mit
seinem unergründlichen Sein, sie sind Gott selber. Und sie
sind gleichwohl die produktive Möglichkeit des anderen
Gottes. Die Fliege und die Menschenseele und der Engel,
sie ruhen noch in diesem unergründlichen Licht, in dem
kein Schatten ist. Und sie sind darin alle das gleiche, das
Leben Gottes.
Darum kann man auch sagen: Hier ist nicht nur Gott
nicht Gott, hier ist auch die Kreatur nicht die Kreatur. Sie
ist noch das Leben im unergründlichen Anfang.
Dieser Gedanke nimmt bisweilen eine sehr persönliche
Wendung an, er bezieht sich auf den Menschen, er bezieht
sich auf mich. So lesen wir in der schon angeführten Pre-
digt 22 über den Text „Ave gratia plena" von der verbor-
genen Finsternis Gottes, da er noch nicht Gott ist: ,,Hie
han ich ewigliche geruowet und geslaf en in der verborge-
nen bekantnisse des ewigen vaters, inneblibende unge-
200
•1uod1cn." 8 Die Ruhe und der Schlaf deuten eine Weise
1k, \l'ins an, in der der Mensch ist, der er ist, und doch
••h hr rntfaltet ist als der, der er ist. Er ist noch „unausge-
201
Lauterkeit und Freiheit. Hier hat die Abgeschiedenheit ih
ren tiefsten Ort, im Ganzen nämlich dieser großen Visio11
von Gott und Welt, um die es hier geht.
Daß die ganze Schöpfung und damit auch jede,
Mensch ursprünglich in Gott geruht haben und mit Got
tes ruhigem schöpferischem Licht eins gewesen sind, die1.i
ist ein Gedanke, der beim Meister Eckhart nicht neu war.
Er hat ihn in Entwicklung alter Vorbilder nur mit größe-
rer Farbigkeit vorgetragen.
Aber wir lesen schon ähnliches bei Thomas von Aquin,
und zwar bezeichnenderweise gerade dort, wo er sich a11
Dionysios, den Pseud-Areopagiten anschließt wie etwa i11
der theologischen Summe. Dort finden wir den Satz:
,,quae sunt diversa et opposita in seipsis, in Deo praeexi-
stunt ut unum, absque detrimento simplicitatis ipsius." 1·'
Hier haben wir offenbar den gleichen Gedanken wie bei
Meister Eckhart: Die ganze Welt in ihrer Verschiedenheit
und Fülle existiert voraus als das eine lebendige Leben
Gottes.
Natürlich finden wir diesen Gedanken auch bei Augu-
stin. Das Modell des schöpferischen Geistes, in dem alles,
was aus ihm hervorgehen kann, schon voraus als Geist
und Leben ist, dürfte direkt auf eine Anregung von Augu-
stin zurückgehen. Dort können wir ja auch das Beispiel
von der Truhe finden: ,,Arca in opere non est vita, arca
in arte vita est; quia vivit anima artificis, ubi sunt ista om-
202
'"", a ntequam proferantur." 13 Wir haben das gleiche
\todcll, wir haben die Präexistenz, und die Präexistenz
111 das reine Leben des Künstlers im Gegensatz zu dem
•ul,crcn Bestand im äußeren Werk.
lkr Meister Eckhart bewegt sich also auch hier, wie
... oft, auf einer guten alten Tradition. Sie ist vertrauens-
wurdig,weil das Modell, das hier immer wieder zu Rate
ar,ogcn wird, sachlich überzeugend ist. Diese sachliche
An~t.·messenheitwar es offenbar, die den Gedanken durch
,mt· so lange Tradition hin bei den bedeutendsten Den-
~rrn immer wieder lebendig werden ließ. Der Meister
I·, khart steht mit seinem Gedanken von dem Unvordenk-
11,hl'n der Welt auf einem guten Boden.
' 1)1l·srn und die aus diesem folgenden Gedanken über das Verhält-
''" dl's Absoluten zur Welt hat später Nikolaus von Kues ähnlich
.-d.1d1t. Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Visio absoluta; Reflexion als
t .,undzug des göttlichen Prinzips bei Nikolaus Cusanus; Sitzungs-
hr r "· ht der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philoso-
1•tmd1-Historische Klasse. Jg. 1978, 1. Abhandlung (Heidelberg
1'' '8) hes. 10. Hier findet man auch Belege für die neuplatonischen
,.,.,1aristotelischen Vorlagen dieses Gedankens.
203
1. Der Ursprung als dialektisches Geben
2
DW I, 73, 12f.: ,,Gottes Natur ist es, daß er gebe, und sein Wesen
schwebt daran, daß er uns gebe, da wir unten sind." Vgl. DW I,
65, 7.
3 LW I, 77,8f. ,,Gott ist das Geben des Seins." Vgl. o. S. 180ff.
204
.md grundlosem Grund: seinen Überschuß zu entwerfen
-~l,·r mit sich selbst gleich zu sein gerade in der Lust zu
M"llll'r Selbstüberschreitung.
• 1>WI, 259, 8-11: ,,Das, was dort ausgeht, ist das, was darin bleibt,
1111d dasselbe, was darin bleibt, ist das, was ausgeht."
205
dere von dem Ausgang der Schöpfung aus Gott verstande, 1
werden darf.
Das Ausgehen ist das Gehen zum Anderen, es ist al"
solches das schöpferische Hervorbringen des Anderen ufäl
eben damit das schöpferische Hervorbringen der Dif fr
renz zwischen Schöpfer und Geschöpf. Aber dieses Her
vorbringen der Differenz ist zugleich die reine Selbigkei t,
das „Darinbleiben", denn Gott bleibt gerade darin ruh if,
mit sich eins. So ist das Andere, die Welt, sowohl das An
dere Gottes als auch das Nicht-Andere.
Dieses Paradox läßt sich durchaus verstehen von dem
Modell der künstlerischen Produktivität. Denn auch die-
ser geht es ja darum, das Andere als das für sich beste-
hende Werk zu schaffen, das in seinem Für-sich-Bestehe11
dann nicht identisch ist mit dem hervorbringenden Künst-
ler. Allein diese Nicht-Identität steht nicht bloß äußerlich
als bloß anderes neben der Identität des hervorbringende11
Künstlers. Denn wer die Idee hat, etwas hervorzubringen,
der „ist" im Akt des Hervorbringens diese Idee, und ge-
rade in ihr ist er mit sich eins. Aber gerade diese Idee, in
der er mit sich eins ist, ist ja die Idee, etwas Anderes her-
vorzubringen. Darum ist der Hervorbringende, sofern er
seine Idee „ist", auch und gerade in dem hervorgebrachten
Anderen mit sich eins und identisch. Darum ist der Künst-
ler nur darin „zufrieden", das heißt mit sich eins, daß er
sein Werk als das ihm gegenüber Andere hervorgebracht
hat. Denn das ist ja gerade das, was er im Sinn hatte und
noch hat, das, von dem man sagen kann: ,,quod intus ma-
net": etwas zu machen, was außerhalb seines Sinnes steht.
So ist es das wirklich Andere und zugleich auch das
Nicht-Andere.
Dementsprechend wird hier der Ursprung der Schöp-
fung aus dem unvordenklichen Grunde gedacht. Es wird
gedacht, daß es die Natur des schöpferischen Gottes ist,
206
"' "geben", das heißt etwas wirklich Anderes sein zu las-
~" und gerade darin mit sich identisch zu sein. Diese so
... ,l.1chte Andersheit mindert nicht die Identität, sondern
ur l·rfiillt sie gerade. Denn dort, wo reine Produktivität
•.ahl't, ist sie erst voll mit sich eins in dem Augenblick,
,n dt·m das Andere wirklich hervorgegangen und wirklich
srlungen ist, nämlich in der „Ausführung", das heißt in
,IrrHerausführung des Anderen und Äußeren aus dem
\c-lhl'n und Inneren.
So ist die Identität des Schöpfers mit sich selbst in sei-
nrm Geschöpf der Grund der wirklichen Andersheit oder
,Irr Nicht-Identität, und die Nicht-Identität der Schöp-
hmg gegen den Schöpfer ist von der Identität bestimmt
und durchstimmt.
Wenn man dies in der schlichten Sprache der Religion
u~cn will, dann kann man einfach sagen: das Andere
( ,c,t tcs, die Schöpfung, ist gerade das, was Gott als
Andcres wollte und worin er sich gefällt.
Von diesem Verständnis der Welt als Schöpfung her
,uu.i nun weitere merkwürdige Aussagen des Meisters
,-rrständlich. Denn nun läßt sich das dialektische Verhält-
'"' auseinandernehmen, und nun können seine auseinan-
,lrrgcnommenen Seiten je getrennt betrachtet werden.
t lnJ dann zeigt sich die Dialektik sowohl auf der einen
w1<.·auf der anderen Seite.
So kann denn einerseits von Gott im Hinblick auf die
Wdt gesagt werden: ,,der alle die werlt naeme mit gote,
,Irr cnhaete niht me, dan ob er got aleine haete." 5 Gott
und die Welt sind nicht mehr als Gott allein, weil Gott
1.1~crade in seinem Anderen ruhig und unverwirrt mit sich
,tl(·ntisch ist. In einem solchen Satz ist dann freilich nur
• l>W I, 70,4f.: ,,Wer alle Welt nähme mit Gott, der hätte nicht
nu·hr, als wenn er Gott allein hätte."
207
die eine Seite der Schöpfungsdialektik zur Aussage ge-
kommen, aber noch nicht die andere. Wollte man die an-
dere hinzufügen, was der hier herrschenden Logik ent-
sprechen würde, dann müßte man dazusagen: Er hätte
nicht mehr, und er hätte doch gerade mehr. Denn, indem
Gott die Welt schuf, ist er doch aus sich herausgegangen
und hat sein Anderes, seinen Überschuß, sein Mehr her-
vorgebracht. So ist das Andere nicht mehr als Gott und
gerade so auch wirklich mehr.
Auf der Seite der Welt erscheint diese selbe Dialektik
noch einmal in anderer Gestalt, nämlich so, daß die Welt
aus diesem Hervorgang heraus sie selbst wird, selbständi-
ges Geschöpf, und daß sie nun selbst die Welt bleibt. Sie
steht als das selbständige Andere Gottes Gott gegenüber.
In diesem Gegenüberstehen aber wird nicht nur die Welt
erst Welt, sondern auch Gott erst Gott. Denn nun erhebt
er sich als der ganz Andere, der Erhabene und der Hohe
über die Welt, und in diesem sich Erheben ist er erst Gott
als Gott. Vorher war er, wie wir sahen, nicht Gott als Gott,
da war er, was er war. Also entspringen im einen Sprung
des Ursprungs die Welt als Welt und Gott als Gott 6 •
6 Vgl. die schon zitierte Stelle aus der Predigt 32 „Beati pauperes
spiritu" in DPT, 305, vgl. o. S. 198. - Zur Frage des „Entstehens"
von Gott als Gott ist vor allem G. Stephenson, Gottheit und Gott
in der spekulativen Mystik, a. a. 0. zu vergleichen. Wenn Stephenson
freilich von dem unpersonalen Grund spricht, aus dem Gott als Wir-
kender erst hervortritt, so dürfte dies doch zu metaphysisch gedacht
sein. Nirgends ist bei Eckhart von einem unpersonal an sich beste-
henden Grund die Rede, es ist aber wohl davon die Rede, daß die
Personalität nicht hervortritt oder nicht erscheint, ehe Gott für sein
Anderes erscheint. Schließlich ist ja sogar bei uns Menschen biswei-
len die Personalität im schweigenden, aber hellen Bei-sich-Sein oder
auch im schweigenden, aber hellen Beim-Anderen-Sein wie aufgelöst
in eben dieses lebendige Schweigen. Man kann aber deswegen doch
nicht von einem unpersonalen Grund reden.
208
Andererseits ist die Welt aber von daher nicht nur das
Audcre Gottes. Sie ist vielmehr als der Gedanke Gottes
.rnd1das, was Gott selber gedacht hat und denkt und den-
lf rn.list. Sie läßt also das Leben Gottes im Anderen Gottes
rr,rhcinen. Dies ist nicht nur das Andere, sondern es ist
,tasErscheinen des Nicht-Anderen im Anderen, und diese
l>1alcktik wird durch den Gedanken zum Ausdruck ge-
hr~tcht, daß die Welt wesentlich Bild Gottes ist. Diese Ei-
ttrntümlichkeit, Bild Gottes zu sein, kommt nicht äußer-
l1d1zu ihrem Sein dazu, es ist vielmehr das eigentliche
Wc:scn ihres Seins, Gott erscheinen zu lassen im Anderen
<~ottes, so wie ein Bild den Abgebildeten erscheinen läßt
11uJ doch das Andere des Abgebildeten ist.
209
„Got hat alle viillede als ein. " 9 Die Fülle umfaßt alles, aber
ohne jede Negation, so daß in ihrem Alles das Eine nicht
das Andere wäre, vielmehr alles ist in der Fülle als reine
Einheit.
Geht nun diese erste und ursprünglichste Einheit über
sich hinaus in das ihr Andere, um die Welt schöpferisch
hervorzubringen, dann wird, wie wir sahen, die Welt das
Bild Gottes, die Erscheinung dessen, was Gott ist im An-
deren Gottes, das als ein Anderes nicht Gott ist. Das hat
aber, sofern Gott als die Einheit der Fülle gedacht wird,
die Folge, daß auch die Welt als eine Einheit der Fülle er-
scheint, jedoch dadurch verändert, daß die Einheit hier
nicht nur als Einheit erscheint und daß das Bild Gottes
sich also auseinanderlegt in Raum und Zeit als den Di-
mensionen des Seienden innerhalb deren immer das Eine
nicht das Andere ist.
So tritt in diesen Dimensionen die Negation auf und
scheidet das Eine vom Anderen, das es nicht ist. Und es
wird auch geschieden der eine Zustand von dem ihm fol-
genden und dem ihm vorausgehenden, die er beide nicht
ist. So erscheint die Welt als das Viele im Raum und als
das Werdende in der Zeit. Dies ist durch die Negation und
ihre Dimensionen bedingt. So ist das Viele u_nddas Wer-
dende der Welt das eigentliche Zeichen ihrer Andersheit
gegenüber der Fülle der Einheit, die in Gott gesammelt
ist.
Darum lesen wir: ,,Alle creaturen hänt ein versagen an
in selben; einiu versaget, daz si diu ander niht ensi." 10 Und
auch von dem Werden der Kreatur lesen wir ähnliches:
,,Allez, daz got ie geschuof, daz schuof er in wandelunge.
210
All1t1 dinc, sö sie geschaffen werdent, sö tragent sie uf irm
, 1u:kc, daz si sich wandelnt." 11
1)ie Ausbreitung der Welt in Raum und Zeit, in vielfäl-
11,tr Verschiedenheit und beständige Wandlung wird also
\'rr"tanden als das Eindringen der Negation in das ur-
•rrli nglich rein positive Sein, und damit als das eigentliche
\1r~el der Andersheit in dem, was das Andere ist gegen-
utwr seinem göttlichen Ursprung.
Aher diese Andersheit, diese Nicht-Identität ist ja zu-
telri(h, wie wir sahen, die Identität in der Nicht-Identität,
und dies erscheint nun innerhalb der geschaffenen Welt
.al,die Einheit in der Nicht-Einheit.
lJnd tatsächlich ist ja alle Verschiedenheit des Einen
~t·~enüber dem Anderen nur verständlich, wenn die bei-
,lrn Verschiedenen nicht nur in sich selbst eins sind, son-
,lt·rnwenn sie auch zusammen eins sind, einmal zwei.
lknn sie könnten ja gar nicht voneinander unterschieden
,t·in, wenn sie nicht beieinander wären, also die beiden
Krgcneinander Anderen in eins gesammelt und so beisam-
111<.'nwären. Die Vielheit ist also nur als die Einheit einer
Vielheit zu denken.
Und dies gilt für jegliche Vielheit oder Menge, die
kleinste oder auch die größte. Die größte Vielheit aber ist
die totale, die ganze Welt. Warum reden wir überhaupt
von einer Welt, die alles, auch noch das fremdeste um-
faf~t?
Dasselbe gilt für die Verschiedenheit des Werdens und
dt•rWandlung in der Zeit. Es wäre keine Wandlung und
k<.'in
Werden, wenn nicht die verschiedenen Momente der
Wandlung beieinander blieben, so daß man, im einen
11
DW I, 357, toff.: ,,Alles, was Gott je schuf, schuf er in Wandlung.
Allc Dinge tragen, so sie geschaffen werden, dieses auf ihrem Rücken,
daf~sie sich wandeln." Ähnlich LW V, 21, 1-10; LW I, 234, 7-12.
211
bleibend, vom einen zum anderen hinüberblicken und
hinübergehen kann. Wäre diese Einheit im Wandel nicht,
wären die Momente des Wandels nur verschieden, dann
wären sie auch nicht mehr verschieden. Denn die Ver-
schiedenheit ist ja immer noch eine Beziehung vom Einen
zum Anderen. Würde diese Beziehung ganz aufhören,
dann würde jedes Moment nur noch es selbst sein ohne
jede Beziehung zu einem Anderen, und so gäbe es nur be-
ziehungslose Punkte ohne jeden Zusammenhang und mit-
hin kein Werden. Denn das Werden ist ja gerade der Zu-
sammenhang der Momente.
Mit anderen Worten: Gerade das Auseinandersein im
Raum oder in der Zeit ist nicht denkbar ohne ein dieses
gründende Beieinander, in dem alle Momente ins Eine ge-
sammelt bleiben.
Also ist die Einheit die Grundlage aller Vielheit und da-
mit aller Negativität in den vielfältigen Erscheinungen und
im weiträumigen Wandel der Welt.
Darum kann man auch alles mit einem Wort nennen:
Sein. Alles, was irgendwo in den weiten Räumen dessen,
was wir Universum nennen, ist, das ist, und alles, was in
den nicht weniger weiträumigen kosmischen Zeiträumen
geschehen sein mag und geschehen wird, ist gleichfalls,
und also kann man mit diesem einen Wort „Sein", das
wir in der Abwandlung „Ist" einem jeden zuschreiben
können, schlechthin alles versammeln. Die Vielheit kann
noch so groß sein und in sich noch so sehr verschieden,
sie kann schlechterdings nicht aus der alles umfassenden
Einheit des Seins herausfallen.
Was dieses Verhältnis der Vielheit zu der sie gründen-
den Einheit angeht, so finden wir dazu interessante Stellen
im Kommentar zum Weisheitsbuch. Dort lesen wir:
„unum se toto descendit in omnia, quae citra sunt, quae
multa sunt, quae numerata sunt. In quibus singulis ipsum
212
01111111non dividitur, sed manens unum incorruptum pro-
h111dit omnem numerum et sua unitate informat." 12 Hier
,,, .,lso darauf aufmerksam gemacht, daß vieles nur sein
~ .11111,weil es ein Vieles ist und weil jedes einzelne des Vie-
lr11wiederum Eines ist. Und so bleibt das Eine unzerstört
,l.a, Eine gerade auch im Vielen oder Nicht-Einen. Das
VH·ll'und Nicht-Eine hat gerade vom Einen her sowohl
Al,( ;anzes wie in jedem einzelnen seine Form, das heißt
,l.1,, was es zu dem macht, was es ist.
Von daher also wird die Vielheit und die Fülle der Welt
\rrstanden. Von der unzerstörbaren Einheit in der Fülle
.rnrhdie unzerstörbare Einheit und Fülle der Welt. Und
n wird gedacht, daß diese unzerstörbare Einheit in der
Vat"lhcitund der Fülle das Bild Gottes ist, des Einen, und
,war im Anderen seiner. Um dieser Bildschaft willen ist
1,1 das Andere Gottes, nämlich die Welt, auch das Nicht-
:\ndcre, in dem der eine Gott selber erscheint im Ande-
rrn seiner. Er erscheint in der Einheit der Welt.
1)iese Dialektik der Einheit in der Verschiedenheit wird
.aha noch um eine Stufe weitergeführt, indem die Einheit
und die Nicht-Einheit oder Vielheit durchaus in eins ge-
d~Kht werden müssen. Dann ist die Vielheit oder die
~ i(ht-Einheit gerade die Erscheinung des Reichtums oder
d,·r fülle jener gottgeborenen Einheit, als die die Schöp-
hmg hervortritt. Und so betrachtet, ist also die Einheit um
,o größer, je reicher sie auch in die Nicht-Einheit entfaltet
11 1.W II, 485, 9 ff.: ,,Das Eine steigt als Ganzes herab in die Vielen,
,lll· diesseits sind, die Viele sind, die Gezählte sind. In allen einzelnen
\-011 J iesen wird das Eine nicht geteilt, sondern, als Eines unverletzt
hh·1hcnd,gießt es alle Zahl aus und gibt ihnen allen durch seine Ein-
twit die Form." Vgl. hierzu LW IV, 266, 8 f.: ,,unum descendit in
um11iaet singula, manens semper unum et divisa uniens (das Eine
,1,·1gtherab in alle und in jedes Einzelne, immer Eins bleibend und
,l.1, Geteilte einend."
213
ist, denn gerade in diesem Reichtum der Entfaltung zeig,
sich die Fülle der Einheit. Darum ist die ganze Welt u111
so mehr Einheit, je mehr sie Fülle ist, und um so mehr
Fülle, je mehr sie Einheit ist. Und darum ist auch jede~
einzelne Geschaffene um so vollkommener, je reicher n
in seiner Differenziertheit und damit in seiner Vielfalt i~,
und je reiner es andererseits in dieser Differenzierung i11
seine Einheit gesammelt bleibt. Jedes einzelne Geschöpf
steht um so höher in der Gesamtordnung des Kosmos, jr
stärker seine Einheit ist und je reicher seine Entfaltung i11
die Vielheit zugleich. Und je höher ein Geschöpf steht, um
so vollkommener erstrahlt in ihm die Einheit Gottes, dir
eine Einheit der Fülle ist.
Diesen Gedanken hat der Meister Eckhart vor allem i111
lateinischen Genesiskommentar entwickelt. Da lesen wir:
„ab uno uniformiter se habente semper unum procedit
immediate. Sed hoc unum est ipsum totum universum,
quod a deo procedit, unum quidem in multis partibus uni
versi; sicut deus ipse producens est unus sive unum sim-
plex in esse, vivere et intelligere et operari, copiosius ta-
rnen secundum rationes ideales." 13
An dieser Stelle ist also von der Einheit Gottes die Rede,
die doch überreicher Reichtum ist, und von dem Univer-
sum de·r Welt, was ganz entsprechend ein Eines ist, aber
in dem Reichtum seiner Teile. Eben deswegen wird es ei11
Uni-versum genannt, das heißt ein „Ins Eine Gewandtes'~.
Freilich mit dem Unterschied gegen Gott, daß in Gott zu-
erst die Einh~it ins Auge fällt und der Reichtum der Ideen,
214
heißt der Möglichkeitsgründe für die Vielgestalt des
;crsums, darin verborgen und wie aufgelöst sind, im
,1crsum aber steht der Reichtum seiner Vielgestalt im
Jcrgrund als auseinandergelegter Reichtum,. und die
1cit ist eher verborgen. Aber das Universum ist gerade
L"rgleichwohl waltenden Einheit seiner Mannigfaltig-
das Spiegelbild des einen Gottes in seiner Fülle.
iicser Gedanke wird auf der folgenden Seite des Gene-
t>mmentars insofern noch ein Stück weitergeführt, als
gerade diese Gottesbildschaft des Universums be-
1 t wird. Da lesen wir: ,,Secundo notandum quod uni-
um sive mundus, quanto est perfectius, tanto esse
n est simplicius et partes suae plurae et in plura di-
ctae." 14 Hier haben wir also den Gedanken, daß mit
1 Reichtum der Entfaltung die Einheit nicht abnimmt
lcr Zerstreuung, vielmehr zunimmt und sich immer
1rsammelt. Und der Kontext belehrt uns darüber, daß
es Prinzip ebenso für das Ganze des Universums gilt
für seine einzelnen Teile und Erscheinungen.
215
sie auch in der Welt selber als einem Bild Gottes im Andc
ren Gottes erscheine.
Nun bietet der Meister Eckhart in der Tat an einigen
Stellen einen Gedanken dazu. Er sagt, der Mensch sei eben
derart, daß in ihm die Einheit der vielgestaltigen Welt er-
scheine in der Welt und in ihm eben damit auch deren
Gottebenbildlichkeit hervortrete.
Der Meister Eckhart sagt in dem Kontext der Ausle-
gung des Buches Genesis, auf die wir vorhin schon hinge-
wiesen haben, der Mensch sei unter allen materiellen Ge-
schöpfen deswegen das vornehmste, weil in ihm die größte
Einheit in der größeren Mannigfaltigkeit sei. Und darum
sei er auch das klarste Bild Gottes, der die Einheit der Fülle
ist. Wir lesen: ,,inter omnes formas materiae anima ratio-
nalis est perfectior et ob hoc in esse et substantia simplicior
et in potentiis multiplicior ... " 15
Die Formgründe der Materie sind das, was das mate-
riell Seiende zu dem macht, was es ist, also im Falle des
Menschen das, was den Menschen zum Menschen macht.
Der Mensch ragt aber über alles materiell Seiende her-
vor, weil er, wie gesagt wird, sowohl einfacher und in hö-
herem Maß in sich selbst gesammelt ist als alles andere,
wie er andererseits auch reicher ist als alles andere in der
Entfaltung seiner Fähigkeiten und Vermögen. Man muß
auf die hier auftretenden Komparative achten. Diese wei-
sen sowohl auf die Verbindung des Menschen mit allem
übrigen Seienden, wie sie andererseits eine Hervorhebung
seiner aus diesem größeren Zusammenhang bedeuten.
Das Prinzip aber, das wir von der Schöpfung im ganzen
216
hrr schon kennen, erreicht also im Menschen seine Spitze
111,wrhalbder materiell bestimmten Welt. Wir werden uns
h(·1der im Menschen gesteigerten Einheit gewiß an das
rrnmcrn, was wir früher über den ungeschaffenen Grund
,Irr Seele zu sagen fanden. Der Reichtum der Entfaltung
mtt aber hier hinzu, der Reichtum der Fähigkeiten und
Vamögen, und damit ein Gedanke, der ins Kosmologi-
'" hc weist, in die Vielfalt der Erscheinungen. Der Mensch
"' zugleich das am höchsten Eine und das am meisten
V1dfältige im ganzen Kreis der Schöpfung und in dieser
t linsicht die Spitze der Schöpfung.
Dieser Gedanke wird noch entscheidender und auch
110..:hüberraschender ausgedrückt in der uns nun schon
lwkannten Predigt über den Text „Unus deus et pater om-
nmm". Da lesen wir gegen Ende der Predigt: ,,Ein meister
,prichet: got meinet in allen sinen werken alliu dinc. Diu
,rk ist alliu dinc ... Got ist allez und ist ein." 16 In diesen
lirl'i kurzen Sätzen ist Unergründliches gesagt. Zum er-
,rt·n: Gott meint in seinen Werken alle Dinge. Das heißt,
<;ott hat alles als Eines, alles als ein Universum, als einen
,usammenstimmenden Zusammenhang geschaffen. Dar-
um gehört alles zusammen zu einer Welt. Aber über-
' .1schenderweise heißt es dann in der nächsten Zeile: Die
\,•de ist alle Dinge. Das ist offenbar ein freies Zitat aus
Aristoteles 17 • Aber was bedeutet es in unserem Zusam-
flll"nhang? Mit Seele ist wiederum das gemeint, was den
\knschen zum Menschen macht. Mit dem Satz, daß die
\t dc alle Dinge ist, ist vor allemgemeint, daß der Mensch,
1
'" DW I, 370, 1-4: ,,Ein Meister spricht: Gott meint in allen seinen
Wl'rken alle Dinge. Die Seele ist alle Dinge ... Gott ist Alles und ist
1 111<.·s."Der in diesem Satz gemeinte Meister konnte bis jetzt nicht
1d,·11tif
iziert werden.
' Vgl. Aristoteles, De an. III, c, 8,431 b.
1
217
ihm kommt so alles und das Ganze zu sich. Dadurch, daf~
dieser Satz in Parallele gesetzt ist zu dem anderen Sat:1.,
der sagt, daß Gott in allem alles meint, wird angedeutet,
daß im Menschen das, was Gott mit der Schöpfung meintl'
und meint, nämlich alles und das Ganze als eines, zu sich
kommt und daß also die Welt insofern das Ebenbild Got-
tes ist, als der Mensch alles und das Ganze als eines um -
faßt. Er erscheint sozusagen als die Parallele Gottes in der
Welt. Er läßt so für sich und für das Ganze den umfassen-
den Gedanken Gottes und damit Gott selbst in der Welt
erscheinen, Gott, der auch als Schöpfer von allem alles
ist, in dem er alles erkennt und trägt und gewährt in sei-
nem Sein, und zwar alles als eines.
Wir werden versuchen, diesen Gedanken über die Stel-
lung des Menschen im Ganzen der Schöpfung ein wenig
zu entfalten. Denken wir nämlich an die Schöpfung oder
an den materiellen Kosmos und abstrahieren wir einmal
vom Menschen und allem, was dem Menschen ähnlich ist,
so müssen wir sagen, daß der so betrachtete Kosmos in
seinem Sein und in seinem Zusammensein mit allem ver-
deckt ist. Die Sonne und die Gestirne wissen nicht um sich
und ebensowenig um das, womit sie, sei es durch Strah-
lung, sei es durch Gravitationskräfte oder durch was im-
mer in Beziehung stehen. Ihr Sein und ihre Einheit ist für
sie selbst verdeckt, so sehr, daß man sogar sagen kann:
Sie sind für sich gar nicht da, noch sind sie füreinander
da.
Bei den belebten Geschöpfen, den Pflanzen und mehr
noch den Tieren ist es anders. Sie sind auf eine gewisse
Weise bei sich und vollziehen sich selbst auf eine gewisse
Weise. Und sie haben mannigfaltige Beziehungen zuein-
ander. Aber sie haben nur begrenzte Horizonte. Was jen-
seit, dieser ihrer Horizonte liegt, ist für sie wie gar nicht
da„ Sie kümmern sich nicht darum, und es macht für ihren
218
\c-lhstvollzug nichts aus, ob es überhaupt noch Wesen jen-
wus ihres eigenen Welthorizontes gibt oder nicht.
Ahcr für den Menschen ist grundsätzlich das Sein des
\c•al·nden im ganzen aufgedeckt, für ihn steht alles im
l 1rht, alles betrifft ihn, und alles beschäftigt ihn. Er lebt
111 l'inem Horizont, der grundsätzlich nichts ausschließt
uml der grundsätzlich alles einschließt. Menschen sind als
,lrnkcnde und auch als handelnde Wesen grundsätzlich
( >ffl'nheit für alles. Sie „sind" in diesem Sinne Alles. Ihre
Welt ist wirklich die ganze Welt.
Sd bst eine so endgültige Grenze wie der Tod betrifft
drn Menschen doch so, daß er darüber nachdenkt und
,l.avon beunruhigt wird und eben darin über die Grenze
h111ausblickt. Und selbst eine so schwer überwindliche
<~ rt'nze des Menschen wie die seiner gesellschaftlichen und
t(t·schichtlichen Verfassung ist gewiß so, daß sie die Mög-
lKhkeiten des Menschen bestimmt und damit begrenzt.
,,, denkt und handelt der Mensch immer gemäß den Be-
,l111gungen seiner gesellschaftlich-geschichtlichen Welt.
1krcn Denk- und Sprechweise hält er für selbstverständ-
llrh. Aber andererseits ist es doch so, daß die Menschen
Juch ihre geschichtliche Welt als eine unter anderen mög-
llrhcn Welten erkennen können und tatsächlich auch ge-
lnnt haben, sie so zu erkennen. Und dies zeigt wiederum,
d.1f~ihre Welt im Grunde doch die ganze Welt ist, die in
ihrer Ganzheit alle einzelnen geschichtlichen Welten um-
t.1fk
l)er Mensch ist also im Kreise der gesamten Schöpfung
dadurch ausgezeichnet, daß diese gesamte Schöpfung in
ihm erst ihr offenes Dasein bekommt. Er ist so durch sein
ht.·sonderes Wesen, durch seine „Seele", die Stätte des Da-
'l·ins von allem. Und nicht nur von allem in der Zerstreu-
ung, sondern auch von allem zusammen. In ihm wird in-
11nhalb der Welt die Welt erst Welt, ein Uni-versum.
219
Als Bestätigung dafür darf auf das berühmte Fragment
783 der Pensees von Pascal hingewiesen werden. Dort le-
sen wir: ,,Alle körperlichen Dinge, das Firmament, die
Sterne, die Erde und ihre Königreiche sind nichts wert,
nicht das geringste im Vergleich mit den Geistern." 18 Und
warum ist das so? ,,Der Geist kennt alles und sich und
der Körper nichts" (,,car il connait tous cela et soi, et le
corps rien"). 19 Der Körper hat also keinen Horizont und
keine Welt. Aber das, was bei Pascal „esprit" genannt
wird, der Geist des Menschen oder der geistige Mensch,
kennt alles und sich.
So sind in der Tat im Menschen alle Dinge da und alle
Dinge eine Einheit. Er ist in diesem Sinn das Band der
Schöpfung und das Siegel ihrer Einheit. Und mehr noch:
Er ist eben dadurch auch das Band, das Schöpfer und Ge-
schöpf verbindet. Er ist das bevorzugte Ebenbild Gottes.
Denn in ihm und durch ihn ist das ganze Universum Eben-
bild Gottes. Er ist der Spiegel, in dem die schöpferische
Macht Gottes, die alle Welt trägt und belebt, sich sammelt
und aus dem sie zurückstrahlt zu ihrem Ursprung.
Dies ist die besondere Stellung des Menschen im Gan-
zen des als Schöpfung verstandenen Kosmos, wie sie in
den Sätzen der Predigt 21 zum Ausdruck kommt. Es sind
wenige, aber überaus prägnante Sätze:
,,got meinet in allen sinen werken alliu dinc.
Diu sele ist alliu dinc ...
Got ist allez und ist eins." 20
220
\ 14. Die Uneinheit der Welt, das Übel
und die Sünde
Wenn so der Mensch das Band der Schöpfung und das
Sil'gel ihrer Einheit ist, dann erhebt sich allerdings eine
,rhwerwiegende Frage: Wieso ist dann der, in dem alles
t'in Universum ist, unter sich selber so sehr uneins? Und
früher: Warum ist er auch oft genug uneins mit der Natur
,o, daß diese ihn in Gestalt von mancherlei Unglück und
Krankheit schlägt? Und schließlich: Warum ist er so häu-
fig auch uneins mit Gott und sagt sich gar von ihm los?
Srheint es nicht, daß dort, wo die höchste Einheit der
Srhöpfung untereinander und der Schöpfung mit Gott
~tuftritt, daß gerade dort auch die schärfsten Formen der
Ncgativität auftreten?
In der Tat, so ist es. Die Negativität, die das Universum
kennzeichnet, die Tatsache, daß das Eine nicht das Andere
1st und der eine Moment nicht der andere, wird im Men-
schen qualitativ gesteigert und nimmt in ihm ganz neue
und außerhalb des Menschen nicht bekannte Formen an.
Es sind die Formen des Übels und des Bösen und der zum
Bösen gehörenden Gottlosigkeit. Im Übel ist nicht nur das
Eine nicht das Andere, in ihm bedroht vielmehr das Eine
das Sein des Anderen und verneint es im Sinne einer Schä-
digung oder gar einer Zerstörung. Im Bösen ist der eine
Mensch der Zerstörer der Rechte und Ansprüche und
Freiheiten des anderen Menschen und dies in verschiede-
nen Formen der Unterdrückung, der Treulosigkeit, des
Verrates usw. Und versteht man das Böse religiös, dann
steckt im Bösen auch eine aktive Negation Gottes als des
11iiters der Rechte der Menschen. Die Negativität nimmt
also eine Art von Positivität an, sie greift das Nicht-Iden-
t ische positiv an, sie greift in dessen Sein ein, sie schädigt
und sie stört es, soweit es möglich ist.
221
Diese besondere Erscheinung der Negativität ist in der
modernen Welt so scharf hervorgetreten, daß die „nega-
tive Dialektik" auftrat, jener Gedanke, der fordert, immer
das Negative als die Gestalt des Unrechts und der Unter-
drückung freizulegen im konkreten Gang der menschli-
chen Geschichte und es seiner Bosheit und Negativität zu
überführen, der sich aber weigert, das Gute, das zu ver-
wirklichen wäre, positiv zu bestimmen 1 • Es bleibt für die-
ses Denken ein immer gesuchtes und nie gefundenes, und
darum bleibt die Dialektik negativ. So sehr überwiegt für
dieses Denken das qualifizierte Negative als das Böse im
konkreten Lauf der menschlichen Geschichte.
Der Meister Eckhart kannte dieses Problem der negati-
ven Dialektik noch nicht in dieser Schärfe. Er hatte dazu
noch keinen Anlaß. Er hat aber auch keine Theorien ent-
wickelt über den Grund der Möglichkeit des Bösen, wie
es später Schelling und Kierkegaard getan haben. Aber
zwei Dinge sind bei ihm zu dieser Sache bemerkenswert.
Einmal läßt sich von seinen Ansätzen her, wenn man seine
gedanklichen Linien verlängert, wenigstens der Grundriß
einer Theorie entwerfen, die das Böse und das Übel erklä-
ren kann. Und zweitens und vor allem sieht der Meister
wohl die Tatsache des Übels und des Bösen, und er hält
Winke bereit, wie wir am besten mit dieser bedrückenden
Tatsache fertig werden können, Winke, die erstaunlich
genug sind und über die es sich sehr lohnt nachzudenken.
Auf beides wollen wir in Kürze eingehen.
222
I /)ie Uneinheit in der Einheit
,1/s Grund des Übels und des Bösen
223
tische dem Menschen gegenüber den Menschen schädigt
und ihn so verneint in seinem Selbstsein und seinem
Selbstseinwollen im anderen seiner.
Diese Dialektik erscheint noch schärfer im Verhältnis
des Menschen zu anderen Menschen. Auch und gerade
in dieser Hinsicht ist der Mensch alles, indem er den ande-
ren gegenüber so mit sich eins zu sein trachtet, daß er auch
mit allen anderen eins sein will und so auf eine gewisse
Weise alle sein will. Aber alle anderen wollen dasselbe.
So erscheint dieses „Alle-sein-Wollen" in der Zerstreuung
der vielen, die alle jeder für sich alle sein wollen. Daraus
ergibt sich aber eine Zweideutigkeit und eine Verwirrung
im Selbstvollzug der Menschen. Denn der Mensch ist sich
der anderen nicht sicher. Will er also in den anderen mit
sich eins sein, so kann er ihnen zwar vertrauen, aber doch
nur mit der Angst, es könnte auch schlecht ausgehen, weil
er des anderen nicht sicher sein kann. Aus dieser Verwir-
rung der Angst kann der Wille entspringen, sich selbst
durchsetzen und sichern zu wollen, gerade den anderen
gegenüber. Aber der andere hat mir gegenüber dieselbe
Angst, und so stoßen dann von verschiedenen Punkten die
Bemühungen, sich selbst durchsetzen zu wollen dem an-
deren gegenüber, zusammen, und es entsteht Streit. Im
Streit bestreitet der eine dem anderen das Recht, auf seine
Weise er selbst zu sein dem je anderen gegenüber. Und
aus solchem Streit entsteht dieses, daß der eine dem ande-
ren Böses zufügt, nämlich Gewalt, daß er in seine Sphäre
eingreift und diese übermächtigt, so gut er kann. Es ent-
steht zum mindesten als Möglichkeit, aber in aller Regel
auch als Wirklichkeit aus der Vervielfältigung des Mit-
sich-eins-sein-Wollens im Alles-sein-Wollen. Wenn alle
dies wollen, dann stoßen ihre Willen auf einander und
werden böse gegeneinander.
Diese Überlegung ist noch einmal um eine Stufe zu ver-
224
schärfen. Dann nämlich, wenn wir den Eckhartsehen Ge-
danken hinzunehmen, daß der Mensch einerseits das An-
dere Gottes ist, daß er andererseits aber auch auf eine
ausgezeichnete Weise mit Gott eins ist. Diese Dialektik des
zugleich Eins-Seins und Anders-Seins hat für den Selbst-
vollzug des Menschen die Folge, daß er unsicher wird hin-
sichtlich des Absoluten oder Gottes. Ohne Gott kann er
nach diesem Ansatz nicht er selbst sein. Da aber Gott ge-
rade auch das Andere seiner ist, muß er, um in seinem
Anderen im höchsten Sinne er selbst sein zu können, sich
selbst auf geben in das ganz Andere hinein, das er nicht
in seiner Macht und Kontrolle haben kann. Davor aber
hat er Angst. Aus der Angst, sich nicht an das Fremde und
Unbekannte wegzugeben, kann er darauf kommen, das
nicht zu tun. Dann muß er aber sich selbst wollen in sich
selbst und durch sich selbst. Und dies im Bereiche des
Endlichen, das ihm zur Verfügung steht. Aber die bloße
Endlichkeit genügt ihm auch nicht, denn er ist ja von der
Unendlichkeit Gottes geprägt und kann dieses Gepräge
nicht loswerden. Also muß er nun versuchen, mit seinem
endlichen Willen unendlich oder absolut sein zu wollen,
sozusagen Gott sein zu wollen. Und diese verkehrte end-
liche Unendlichkeit und relative Absolutheit wird er allen
Menschen gegenüber und allen Dingen gegenüber zur
Geltung zu bringen suchen, er wird also wiederum Alles
sein wollen und das Absolute sein wollen, gerade im Los-
lassen des wahren Absoluten. Und daraus wird er
in eine zerstörerische Bekämpfung aller anderen Rechte
und Freiheiten ausbrechen. Diese verkehrte Verabsolutie-
rung des Willens macht erst das eigentlich Böse im Bösen
aus. Sie ist zugleich die absolute Verkehrung der Einheit mit
Gott und so die schärfste U neinhei t.
Sie ist deutbar aus dem Eckhartsehen Prinzip, daß der
Mensch zugleich der am meisten Andere Gottes und der
225
am meisten mit Gott Verbundene ist. Gerade die größte
Einheit mit Gott und mit dem Ganzen des Universums ist
also auch der Grund der Möglichkeit der schärfsten Zer-
reißung2.
226
,·1nc vordringlich wichtige Betrachtungsweise ist, wird
man auch nicht bestreiten können.
Wie soll der Mensch, vor Gott stehend, mit dem Leid
und mit der Sünde fertig werden? Darüber fand der Mei-
,rt·r Eckhart besonderen Anlaß, im Buch der göttlichen
l'röstung zu sprechen, denn da ging es ja wirklich um die
l'rüstung des Leides und auch um die Sache mit der Sünde.
Vom Leiden lesen wir eine Stelle, die den Grundgedan-
kl'n des Meisters sehr konzentriert angibt: ,,Ze dem drit-
rt·n male spriche ich: daz got mit uns ist in lidenne, daz
1st, daz er mit uns lidet selbe." 3
Man sieht an dieser Stelle gleich, daß das Leiden durch
den Gedanken an Gott nicht aus der Welt geschafft wird.
Aber der Gedanke hilft auf andere Weise, nämlich da-
durch, daß Gott selbst mit dem Leidenden ist und daß er
mit ihm mitleidet. Das ist der entscheidende Trost, den
der Meister gibt.
In der Tat ist der Gedanke, daß Gott mit-leidet, von
den Voraussetzungen des Meisters au_snotwendig. Denn
insofern das Leiden etwas ist, also positiv ist in seiner Ne-
~ativität, und insofern Gott alledem, was ist, sein Sein ge-
währt, so ist der Gedanke konsequent, daß Gott auch in
der Positivität des Leidens lebendig und Sein gewährend
ist. Er wäre aber nicht lebendig und Sein gewährend darin,
wenn nicht das Leiden auch in ihm selbst als Leiden lebte.
So leidet Gott mit mit dem leidenden Menschen.
Doch ist dieser Gedanke dialektisch zu verstehen. Denn
das Leiden ist ja doch zuerst negativ und dann erst positiv.
Das Leiden ist negativ vom Leidenden her gesehen das,
was er nicht will. Und wenn also Gott mit ihm geht im
Leiden und damit in diesem Nicht-Wollen, dann will auch
1
DW V, 51, 4f.: ,,Zum dritten Mal sage ich: daß Gott mit uns
ist im Leiden, das bedeutet: Er leidet selber mit uns."
227
Gott das Leiden als Leiden nicht, er will nicht das Leidrn
des Menschen, und er will auch nicht sein eigenes Mit
Leiden. Aber andererseits wird gedacht, daß Gott gerade
auch in der Schärfe dieser Negativität als dieses Nicht
Wollens ungestört mit sich einig ist. Er vermag diese Nr
gativität positiv. Es ist gedacht, daß er wirklich leidet mit
dem Leidenden, aber daß dieses wirkliche Leiden zugleich
auf gehoben ist in der Freude seines ungestörten und u 11
verwirrten Mit-sich-eins-Seins. So ist es für Gott „Leid
ohne Leid" 4 •
Aus diesem Gedanken folgt weiter, daß Gott das Nega-
tive ins Positive wenden wird, daß er also im Mit-Leiden
für den Leidenden den größeren Trost erweckt und ihm
in der Führung seines Lebens durch das Leiden sein Gutes
als das gesteigerte Gute heraufführen wird, als Zuwachs
an Kraft, an Lauterkeit, und damit sogar auch an Glück.
Denn das Glück aus dem Unglück, die Positivität, die aus
der Negativität sich erhebt, ist höheres Glück und höhere
Positivität als das einfache Glück. Und es gehört für den
Meister Eckhart zur Größe Gottes, in seiner lebendigen
Gegenwart im Leiden dieses aufzuheben in die je größere
und leuchtendere Positivität. So ist Gott im Leiden erfah-
ren als der Mit-Leidende, der Tröstende, und der gerade
dadurch das je höhere Gut Bereitende.
Man mag zum Verständnis dieses Gedankens an die
Rolle der Dissonanz in einer musikalischen Abfolge den-
ken. Erhebt sich die Konsonanz aus der Spannung der
Dissonanz, dann strahlt diese Dissonanz höher und reiner,
als wenn sie bloß positiv erklänge, und in dieser gesteiger-
ten Höhe und Reinheit ihres Strahlens bewahrt sie zu-
gleich die Kraft der Dissonanz, die sie in sich auf gehoben
hat.
4 DW V, 22, 11.
228
Dies ist der Gedanke des Meisters Eckhart zum großen
Thema des Leidens. überlegt man sich diesen Zusammen-
hang von heutigen Gesichtspunkten aus, so wird man fra-
Kt·n,ob dieser Gedanke heute noch angehe oder gar ge-
nüge. Heute, wo so große Leiden gelitten wurden und
noch gelitten werden und wo immer wieder viele Men-
\l·hen im Zusammenstoß der Machtinteressen unter
ükonomischen und politischen Ideologien auf schreck-
liche Weise zermalmt werden und wo alles dies allen
Menschen bekannt wird.
Aber anderseits muß darauf hingewiesen werden, daß
auch in Auschwitz gebetet worden ist. Die darin sich ge-
währende Erfahrung der Nähe Gottes im Leiden hat dieses
zwar nicht weggenommen. Aber sie hat das Herz doch
gestärkt und mit Hoffnung erfüllt über Leben und Tod,
und das ist gewiß nicht nichts.
Und wenn man sagt, der Kampf gegen das Leiden sei
wichtiger als die Stärkung des Herzens, so muß darauf ge-
antwortet werden, daß der Kampf gegen das Leiden in der
Tat wichtig ist und daß dieser Kampf auch in vielen Fällen
erfolgreich sein kann.
Zum Beispiel in der Medizin, aber auch in einer Suche
nach einer gerechteren sozialen Ordnung kann manches
Leiden überwunden werden. Aber was dabei nicht über-
sehen werden darf, ist die Tatsache, daß der Mensch im-
mer ein leidender Mensch bleiben wird und daß der nach
allen Bemühungen übrigbleibende Rest des Leidens nach
allen Bemühungen gegen dieses doch der wichtigere Teil
des Leidens der Menschen ist. Und zur Bewältigung dieses
Leidens, das nicht von der Menschheit hinwegzunehmen
ist, hat der Meister Eckhart doch wohl einen der größten
Gedanken beigesteuert. Er kann das Herz des immer wie-
der leidenden Menschen stärken.
229
3. Das Böse und die Sünde
230
An dieser Stelle wird zunächst auf fallen, daß gesagt
wird, Gott wolle auf eine gewisse Weise, daß ich Sünde
getan habe. Das widerspricht durchaus der gängigen Vor-
stellung vom Verhältnis Gottes zur Sünde des Menschen.
Um dies zu verstehen, ist es zunächst gut, daran zu denken,
daß hier von der Sünde im Perfekt die Rede ist. Es ist zu-
nächst nicht davon die Rede, Gott wolle, daß ich Sünde
tue. Aber wenn ich sie getan habe, dann ist dies meine
Wahrheit, daß ich ein Sünder und also in der Unwahrheit
bin. Und weder ich noch irgend jemand kann das so Ge-
schehene ungeschehen machen. Es ist, was ist, und auch
ich bin, was ich bin: ein Sünder. Meine Sünde ist meine
Wahrheit. Die Wahrheit aber ist im letzten Betracht die
ewige Wahrheit: Gott. So bin ich darin eins mit Gott, daß
ich ein Sünder und als Sünder uneins bin mit Gott.
Dieser Gedanke kann auch durch den Gedanken an den
Willen Gottes zum Ausdruck gebracht werden. Dann
kann es heißen: Gott will, daß ich Sünde getan habe. Denn
er will meine Wahrheit: daß ich ein Sünder bin. Gott will
und wahrt die Wahrheit dieser Unwahrheit.
Dieser Gedanke ist, wie man sieht, wiederum eminent
dialektisch. Denn er schließt als positiver Gedanke den
negativen Gedanken ein, daß Gott die Sünde nicht will.
Und in diesem Falle tritt sogar ein absolutes Moment in
diesem Nicht-Wollen auf. Gott ist auf eine absolute, das
heißt göttliche Weise, gegen die Sünde. Er ist in diesem
Sinne ihr Richter. Aber er ist ebenso auf eine absolute und
göttliche Weise eins mit der Wahrheit selbst, die alles
Wahre umfaßt und darin auch dieses Wahre, daß ich ein
Sünder bin. Also ist er ebenso eins mit meiner Sünde als
willen geschieden sein, und so ist allein rechte Reue meiner Sünde;
so ist mir die Sünde leid ohne Leid, wie Gott alles Böse leid ist ohne
Leid." Vgl. dazu auch Reden der Unterweisung 12, DW V, 233, 4ff.
231
uneins. In diesem Sinne wird hier gesagt, Gott habe gc
wollt, daß ich ein Sünder bin, das heißt das, was er auch
absolut nicht gewollt hat. Darum spricht der Meister Eck-
hart in unserem Satz davon, Gott habe „auf eine gewisse
Weise" gewollt, daß ich Sünden getan habe. Die gewisse
Weise ist die der äußersten Dialektik, die wir betrachtet
haben.
Aber dazu kommt noch ein weiteres. Nicht nur die
Sünde, die ich getan habe, will Gott „auf eine gewisse
Weise". Es geht vielmehr schließlich doch auch um die
Sünde, die geschieht, um die Aktualität der Sünde. Diese
Aktualität ist zwar aktuell negativ, sie ist die Negation des
Willens Gottes und darum auch der Würde des Menschen.
Aber dieses Negative der Sünde ist doch auch positiv
darin, daß in der Sünde etwas geschieht. Und der Wille,
der böse ist, will gerade dieses Böse, und als so gewolltes
ist es auch für ihn ein wiederum positives Etwas. Darum
ist das Böse, das geschieht, wirklich etwas und nicht ein-
fach nichts. Gerade diese Positivität des Negativen ist das
Sündige am Bösen.
Indem aber das Böse, das geschieht, etwas ist, und so-
fern man daran denkt, daß Gott alles, was ist und was
etwas ist, in seinem Sein trägt, so muß gedacht werden,
daß er auch das Geschehen der Sünde trägt, insofern es
etwas Positives ist, wenngleich er sie zugleich verneint und
richtet, insofern sie negativ ist.
Aber von daher ist dann der Gedanke nicht zu vermei-
den, daß Gott auch im Geschehen der Sünde beim Sünder
ist, und so also seine Sünde nicht ein rein zufälliger Unfall
seiner fehlbaren Freiheit ist. Dieser Gedanke ist freilich
nur zu ertragen, wenn gleichzeitig sein Gegensatz fest im
Auge behalten wird: daß Gott gegen die Sünde und den
Sünder ist und ihn richtet. Er ist also beides zugleich: so-
wohl gegen den Sünder wie mit dem Sünder.
232
Auch dieser Gedanke läßt im Sinne des Meisters Eck-
hart noch einmal eine Steigerung und Vertiefung zu.
N~imlich dadurch, daß gedacht wird, daß die Sünde als
Jcr größte Gegensatz zu Gott und darum als die äußerste
Ncgativität zugleich der Punkt ist, an dem die überflie-
fknde und auch noch das Äußerste überwindende Positi-
vität Gottes am höchsten sich entfaltet. Darum wird ge-
dacht, gerade die Sünde zu überwinden, sei der höchste
Triumph und die höchste „Lust" Gottes.
Davon lesen wir in der Predigt 4 „Omne datum opti-
mum": ,,Got engibet niht sö gerne sö gröze gäbe. Ich
sprach einest an dirre stat, daz got joch gerner vergibet
gröze sünde dan kleine. Und sö sie ie groezer sint, sö er
sie ie gerner vergibet und sneller ... Wan sin nature swebet
dar an, daz er gröziu dinc gebe." 6
Dies ist die Logik des großmütigen Herzens. Es ist die-
selbe Logik, die dem biblischen Wort zugrunde liegt, daß
im Himmel mehr Freude sei über einen Sünder, der Buße
tut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht
bedürfen. Diese Logik widerspricht dem durchschnittli-
chen Ordnungsbewußtsein. Aber sie entspricht doch auch
schon der Weise, wie auch wir Menschen handeln dann,
wenn wir leidenschaftlich von etwas bewegt sind und es
vermögen. Wer leidenschaftlich für den Sport begeistert
ist, der wird sich gerade mit Vorliebe das Allerschwierigste
aussuchen, um sein Können, aber auch seine Begeisterung
für die Sache zu bewähren. Das Schwierigste und in die-
sem Sinne Negativste wird ihm das Liebste sein. Der
Künstler, etwa der Musiker, der für seine Sache begeistert
6 DW I, 65, 3-7: ,,Gott gibt nichts so gerne wie große Gabe. Ich
sagte einst von dieser Stätte: daß Gott sogar lieber große Sünde ver-
gibt als kleine. Und je größer sie sind, um so lieber und schneller
vergibt er sie ... denn seine Natur hängt daran, daß er große Dinge
gebe."
233
ist und der sie auch vermag, sucht sich die alleranspruch~
vollsten Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks, und
er geht am allerliebsten ins Alleräußerste und Gewagtestr.
Näher noch ist das Modell der Liebe, das des öfteren dar-
gestellt worden ist. Wenn nämlich der Fall auftritt, daf;
die Liebenden einander etwas zu vergeben haben, dann
ist etwas Hinderndes und also etwas Negatives zwischen
sie getreten. Wo dieses Negative und dieses Hindernis aber
wirklich verarbeitet wurde und also die Vergebung im
Ernst geschah, wird die Liebe dadurch nicht kleiner wer-
den, sie wird daraus vielmehr mit gestärkter Kraft und
größerem Glanz hervorgehen. Die Negativität bleibt dabei
erhalten, aber sie wird auf gehoben in die größere Liebe.
Von solchen Modellen her dürfte hier gedacht sein. Es
ist an Gottes Herz gedacht nach der Analogie eines
menschlichen Herzens, das in der Fülle seiner Kraft und
seiner Begeisterung lebt. So ist es dann Gottes Natur, also
das, was frei aus seinem Innersten kommt, große Gabe
lieber zu geben als kleine und mehr Freude zu haben an
der Überwindung des äußersten Widerspruchs als am
glatten und ebenen Lauf der Welt. Von daher gesehen ist
es die größte „Freude" Gottes, das größte Hindernis, das
größte Widergöttliche zu überwinden und aufzuheben in
den reinen Glanz der göttlichen Gerechtigkeit und der
göttlichen Liebe. Durch eine solche Aufhebung wird Gott
also am meisten eins mit sich selbst, indem er gerade sein
äußerstes Anderes umfaßt und umfängt und in der Kraft
seiner Gerechtigkeit richtet und in der noch größeren
Kraft seiner Liebe versöhnt. Und so gewiß das Widergött-
liche der Sünde widergöttlich ist und gerade als solches
richtend von Gott bestätigt wird, so gewiß wird gerade
es in dem Triumph der reinen göttlichen Identität mit sich
selber aufgehoben in der möglichen Versöhnung. Die
höchste Identität ist die mit dem am schärfsten Nichtiden-
234
111d1enund ganz Anderen. Und so ist es zu verstehen, daß
(iott im Blick auf die Sünde der sündigen Menschen „Leid
ohne Leid" hat.
Von diesem Gesichtspunkt her werden dann auch die
Aussagen aus dem Buch der göttlichen Tröstung deutlich.
f.s wird deutlich, wieso Gott „auf eine gewisse Weise" die
Stinde will. Es ist ja nicht so, daß er sie schlechthin will,
wie wir gesehen haben. Denn er will sie ja auch nicht, in-
1ofcrn sie böse und Sünde und wider Gott ist. Aber er will
,ic zugleich, insofern sie ist, insofern sie etwas Positives
1st und insofern sie den Menschen demütigt und Gott er-
hüht und ihm den Spielraum ausgezeichneter Großmütig-
kcit eröffnet. Und gerade darin ist sie, recht betrachtet,
auch ein Weg zum Guten.
Dementsprechend soll der Mensch sich zu seiner Sünde
verhalten. Er soll nicht wollen, daß er sie nicht getan hat,
denn er soll ja nicht wollen, daß nicht ist, was doch ist.
Denn dadurch würde er ja gegen das Sein und gegen die
Wahrheit und damit gegen Gott wollen. Das heißt, er soll
seine Sündigkeit annehmen als seine Wahrheit, in der Gott
auf eine besondere Weise mit ihm ist.
Dies heißt aber nicht, er soll sie überhaupt nicht be-
reuen. Er soll vielmehr durch die Reue auf die Seite Gottes
treten in dieser Sache, insofern er die Sünde nicht will. So
wird er im Schmerz der Sünde mit Gott eins sein, der sie
auch nicht will. Und er soll in diese Reue auch wissen,
daß er durch seine Sünde von Gott gesondert ist und etwas
Ernstes zwischen ihm und Gott steht. In diesem Sinne soll
er nun Gottes durch Gott entbehren und von Gott durch
Gott gesondert sein. Dies heißt gleichzeitig, daß er zu sei-
nem Sündigsein stehen und es annehmen soll und darin
seine Sonderung von Gott annehmen soll. Und gerade
darin soll er auch mit Gott eins sein.
Dieses Thema, Gottes durch Gott ledig zu sein, begeg-
235
nete uns ja schon in anderem Zusammenhang 7. Hier aber
fällt darauf ein neues Licht, und es bekommt eine neue
Schärfe. Denn hier geht es um die angemessene Überwin-
dung des Bösen, das als eine dunkle Macht im Herzen des
Menschen steckt, um seine Überwindung in Wahrhaftig-
keit und im Vertrauen auf Gott. Denn der Mensch soJI
ja diese Sache mit seiner Sünde Gott anheimstellen im
Glauben und im Vertrauen, und er soll so daran glauben,
daß es Gott erfreue, ihm zu vergeben. Er soll auch glauben
und vertrauen darauf, daß Gott diese Sünde, dieses Fer-
nesein von Gott zu einem Weg des größeren Guten und
der höheren Einheit mit Gott machen kann und will. Und
so wird auch sein Schmerz der Reue auf gehoben sein in
das reuelose und leidlose Ja zur eigenen Wahrheit und zu
Gott, der Wahrheit alles Wahren, der den für ihn Bereiten
auch und gerade auf dem Wege der Sünde und ihrer
Demütigung weiter und höher führt. So wird auch er Leid
ohne Leid haben können, wie Gott durch ihn Leid ohne
Leid hat. Und so wird der Mensch in der Tat erneuert und
bekehrt und zu einem höheren Guten gewendet werden,
ohne daß er etwas zu verdrängen braucht.
Man wird nicht sagen können, daß in diesem großarti-
gen Gedanken das Problem der Sünde und des Bösen ganz
aufgelöst ist. Vielleicht sind auch die äußersten Gestalten
des Bösen noch ferne, die uns in unserer Zeit begegnet
sind. Und es ist auch seltsam, daß der Gedanke des Ge-
richtes in den Worten des Meisters keine große Rolle
spielt. Es wird zwar gewiß nicht geleugnet, sondern vor-
ausgesetzt. Aber daß es in der Negation der Verwerfung
endigen könne, dies ist offenbar nicht in Betracht gezogen.
Man darf dies als einseitig empfinden. Man muß aber
auch daran denken, daß dies wohl deswegen geschieht,
236
w,·ilder Meister ja zum Menschen schreibt und spricht,
J1r den Willen Gottes erfüllen wollen, und nicht zu sol-
"·ht·n,die sich in der Sünde verhärtet haben. Er setzt den
t(UtcnWillen im Grunde auch des Sünders voraus und will
diesen guten Willen aufklären und ermutigen, zu sich
"clbst zu stehen, und den quälenden Zwang zur Verdrän-
KUng ihm ersparen. Auf diese Weise wird die Dialektik
Jcs guten Willens und des Glaubens angesichts der Sünde
letzten Endes immer positiv. Es ist schließlich doch immer
„Leid ohne Leid", wie negativ diese Dialektik auch auf
Jen ersten Blick sein mag. Darin liegt, wie mir scheint,
die Größe dieses Gedankens.
Nach der Vision der Welt, die der Meister Eckhart ent-
wirft, ist diese Welt als das Uni-versum und ist alles, was
es umfaßt, aus Gott und in Gott. Und dieses Sein aus Gott
und Sein in Gott ist nach dem Meister so stark, daß es
auch die äußerste Differenz zu Gott, nämlich das Böse und
die Sünde, umfaßt.
Dieser Gedanke vollendet sich aber in einem letzten
großen Gedanken, nämlich dem, daß die Welt auch von
ihrem innersten Sein her zu Gott hin ist und daß also eine
Dynamik in ihr lebt, die sie Gott zu und ihm entgegen-
treibt, dem Gott entgegen, aus dessen Herz sie stammt.
Das Universum ist ja, wie wir gesehen haben, nach dem
Meister Eckhart eins mit Gott so, daß es gleichzeitig auch
ganz von ihm verschieden ist. Darum legt sich die Einheit
auch so auseinander, daß sie sich in einen Lauf von Gott
zu Gott auseinanderlegt, in eine kreisförmige Bewegung
237
des zuerst Sichunterscheidens und Anders-Werdens, de"
sen ganzes Leben aber dann darin besteht, diesen Unter
schied und diese Andersheit wieder aufzuheben in die
reine Einheit.
238
achtet werden, jedoch ein solcher, der nicht am fertig
, drnkenden Seienden äußerlich nur ansetzte, sondern
ein Zug, der das Sein selbst des Seienden als eines Be-
ten allererst konstituiert. Dieser konstituierende dy-
ische Zug wird dann so gedeutet, daß das, was von
cn bewegt und von außen zieht, Gott selber ist. Darum
nn der Meister sagen: ,,Aller Kreaturen Sein und Leben
ngt daran, daß sie Gott suchen und ihm nachjagen." 3
icr wird ganz deutlich, daß diese Dynamik mit dem Sein
d Leben des Seienden selbst verbunden gedacht ist und
aßes also zugleich von innen aufbricht nach außen und
1ugleichvon außen ein Zug ist, der ins Innere greift. Und
eaist weiter deutlich, daß dieses so zugleich von innen und
auffonaufbrechende Leben auf Gott hin zielt. Auch hier
darf man wieder an den aristotelischen Gedanken von
Gott als dem ersten unbewegten Beweger des Ganzen
denken 4.
Die ganze Schöpfung wird also im Ganzen wie in jedem
ihrer Teile verstanden als eine bewegte, und zwar so, daß
diese Bewegung alle Geschöpfe treibt über sich hinaus ei-
nem Ziele zu. Das Ziel aber ist Gott. Die Bewegung be-
wegt jedes einzelne, und sie bewegt auch das Ganze als
ein Universum. Dieses Ganze wird von seiner innersten
Konstitution her über sich selber hinausgetrieben in jenes
Telos hinein, das wie der Ursprung so auch das Ende in
allem ist. Es handelt sich um einen universalen Gedanken.
Die Kreaturen haben also nach Eckbart dies an sich,
daß ihr Sein in ihrem jeweiligen Stand nicht vollständig
ist und daß sie also, um im vollen Sinn sein zu können,
über sich hinaus getrieben werden. Sie haben also ein Stre-
3 DPT, 351, 6 f., Pfeiffer Nr. XCI, 299 f. in der Predigt „Laudate
coeli".
4
Vgl. Aristoteles, VIII Phys. 6,259, a 30.
239
ben über ihren jeweiligen Stand hinaus nach dem Sein als
einem erfüllten oder nach einem erfüllten Einssein mit sich
selbst. So ist vermutlich das Eine zu verstehen, von dem
das Buch der göttlichen Tröstung spricht: ,,Ze ein locket
und ziuhet got. Ein suochent alle creatfiren, joch die ni-
dersten creatfiren so suchent ein, und daz ein bevindent
die obersten; gezogen über nature und überbildet suo-
chent sie ein in einem, ein in im selben" 5 •
Das Thema von der Einheit kennen wir schon. Aber
hier erscheint es dynamisch. Die Kreatur muß das, was
sie im Augenblick ist, überschreiten, um diese Einheit erst
zu finden. Sie wird zu diesem überschritt gezogen wie von
ferne, und es treibt sie zugleich ihre eigene Natur dazu
an. Die Einheit aber, die hier zieht und zu der die Kreatur
von innen her treibt, ist Gott oder doch die Ähnlichkeit
und das Bild Gottes. Denn nur in Gott ist die lebendige
Einheit vollkommen.
Darum lesen wir in der Predigt 40 über den Text „Mo-
dicum et iam non videbitis me": ,,Wisset, alle Kreaturen
jagen und wirken von Natur aus zu dem Ende, Gott gleich
zu werden. Der (gestirnte) Himmel liefe nimmer um, jagte
oder suchte er nicht nach Gott oder einem Gleichnis Got-
tes. Wäre Gott nicht in allen Dingen, die Natur wirkte
noch begehrte nichts in irgendwelchen Dingen; denn sei
es dir lieb oder leid, du wissest es oder wissest es nicht:
heimlich im Innersten sucht und strebt die Natur nach
Gott." 6
Hier ist ausdrücklich gesagt, dieser Zug finde sich nicht
240
nur beim Menschen, sondern auch beim Umlauf des Him-
mds und überhaupt bei allen Dingen. Allerdings darf man
J;1hciauf den Unterschied achten, der hier angedeutet ist:
1>~1s Jagen geht einmal zu Gott selber und dann zu einem
( ;lcichnis Gottes. Das Gleichnis ist nicht Gott, aber es ist
rinc Weise der Gegenwart Gottes. Zum Gleichnis, so dür-
frn wir dies verstehen, streben die unvernünftigen Dinge.
Zu Gott als Gott streben die vernünftigen Wesen, die
Menschen. Der allgemeine Zug, der das ganze Universum
durchzieht, hat demnach Stufen und Grade. In der oben
zitierten Stelle aus dem Buch der göttlichen Tröstung ist
dieser Unterschied gleichfalls gemacht. Die Kreaturen su-
chen alle das Eine, so heißt es dort, aber die obersten
Kreaturen, nämlich die vernünftigen, nehmen dieses Su-
chen und dieses Eine auch wahr oder können es jedenfalls
wahrnehmen.
An was ist hier gedacht? Es ist die alte und auch heute
noch nicht überholte Beobachtung gemacht, daß alles be-
wegt ist, alles in einem Lauf ist, das U nlebendige ebenso
wie das Lebendige und die unvernünftige Kreatur ebenso
wie die vernünftige.
Dieser Lauf kann gedeutet werden als ein Treiben von
innen und ein Gezogenwerden von außen.
So laufen die Gestirne. Es liegt in ihrer Natur, daß sie
laufen. Und wohin laufen sie, wohin treibt es sie? Es treibt
sie dazu, immer mehr eins zu werden, und zwar eins in
der Unterscheidung oder in der Ausbreitung. So laufen sie
im Spiel der auseinandertreibenden und der ihnen entge-
gengesetzten, der zusammenziehenden Kräfte. Und da-
durch kommen Bahnen des Laufes zustande, die der ein-
241
fachen und vollkommenen Linie des Kreises angenähert
sind. Und es kommt aus demselben Zusammenspiel
der auseinandertreibenden und der zusammenziehenden
Kräfte die dynamische Annäherung an die Kugelgesta1t
für die einzelnen Himmelskörper zustande. Nur in solchen
Gestalten und Bahnen sind sie im Gleichgewicht und in
diesem Sinne eins mit sich selbst, so zwar, daß sie nach
diesem Gleichgewicht oder dieser Einheit ständig unter-
wegs sind.
Das so ausgerichtete Unterwegssein darf aber gedeutet
werden als das Unterwegs zur vollkommenen Einheit im
Reichtum der vollkommenen Entfaltung. Und dies wie-
derum darf gedeutet werden als der Widerschein oder das
Gleichnis Gottes in der Natur. Und in diesem Sinne kann
man dann wirklich sagen: Der gestirnte Himmel liefe nicht
um, jagte oder suchte er nicht nach Gott oder einem
Gleichnis Gottes.
Dasselbe beobachten wir in einem um eine qualitative
Stufe höheren Grad bei den lebendigen Wesen, den Pflan-
zen und den Tieren. Auch ihr Sein und Leben ist ein stän-
diges Sichbewegen. Und diese beständige Bewegung hat
den Sinn, die leb~ndige Einheit des Lebendigen mit sich
selbst immer neu zu integrieren und zu steigern in der
Auseinandersetzung mit dem Nicht-Einen oder dem An-
deren der Umwelt. Und es darf weiter gedeutet werden
als Laufen zu einem Einswerden mit dem Nicht-Einen
oder dem Anderen in der Zukunft und der Folge der Ge-
nerationen. Also werden alle Lebensbewegungen und da-
mit das ganze Leben des Lebendigen in Gang gehalten
durch das Streben nach vollkommener Einheit mit sich im
Umfassen von vielen anderen seiner. Dieser Zug zur voll-
kommenen Einheit wird aber in diesem Bereich nicht mehr
nur passiv vollzogen, vielmehr lebendig aus innerer Spon-
taneität vollbracht. So haben wir hier eine höhere Form
242
de-,Strebens nach Einheit. Und diese darf wiederum ge-
dC'utctwerden als ein Leuchten der vollkommenen Einheit
( iottcs in seinem Gleichnis der lebendigen Natur.
Hätte der Meister den Gedanken der Entwicklung der
hmnen des Lebendigen schon denken können, dann hätte
rr von seinen Ansätzen aus leicht auf einen Entwurf wie
Jrn von Pierre Teilhard de Chardin kommen können,
nämlichdaß ein Zug zu höheren Formen der Einheit das
J'ilnzeUniversum von Anfang an bewegt, von den Bewe-
KUngender elementaren Urmaterie empor zur Ausbildung
Jrr Makromoleküle und von da der Mikroorganismen
und weiter zur Entfaltung und Verzweigung der Formen
Jcs Lebendigen und noch einmal weiter empor zur Homi-
nisation und zur Entfaltung der Noosphäre, das heißt der
Sphäre des Geistes. Und innerhalb dieser noch einmal
weiter empor dem geheimnisvollen Punkt Omega entge-
gen, dem göttlichen, der der äußerste ist und der doch von
Anfang an das Ganze und jeden Teil in Bewegung hält 7 •
Dieser Gedanke liegt ganz in der Linie des von Meister
Eckhart Gedachten.
Die entscheidende Stufe erreicht diese Dynamik des
kosmischen Jagens nach Gott im Menschen. Wiederum
also ist der Mensch verstanden als der Ort im Ganzen des
Weltgeschehens, an dem dieses Geschehen zu sich selbst
kommt. Im Menschen „weiß" das ganze Universum um
sein Sein und um sein Jagen und Streben. Im Menschen
wird es auch sichtbar, daß es sich dabei ja nicht nur um
ein Streben nach einem Gleichnis Gottes handelt, sondern
um ein Streben nach Gott selber.
Woran kann man dies erkennen? Daran, daß alle Men-
schen einen Zug haben danach, glücklich zu werden. Es
7
Vgl. P. Teilhard de Chardin, <Euvres 1. Le phenomene humain.
(Paris 1955).
243
lebt in ihnen etwas, das sie treibt und zieht in allem, wa"
sie tun, glücklich zu werden. Was ist aber das Glück dn
Menschen? Formal kann man sagen: Es ist der Zustand
ihres Lebens, in dem alle ihre Bedürfnisse und Wünsche
befriedigt sind und ihnen nichts mehr fehlt. Solange ihnen
aber noch etwas fehlt, sind sie offenbar nicht ganz mit sich
eins. Darum kann das Glück, nach dem sie streben und
das sie zieht, auch als die vollendete Einheit des Menschen
mit sich selbst verstanden werden.
Worin besteht aber hinsichtlich des Inhalts diese voll-
endete Einheit oder dieses Glück? Es scheint in allem, was
ist, zu winken, aber in nichts, was ist, sich zu erfüllen.
Menschen treibt es offenbar dazu, vieles haben, vieles be-
nutzen, vieles genießen zu wollen. Es treibt sie auch dazu,
vieles wissen zu wollen. Und sie scheinen im ganzen mit
diesem Streben nach dem vielen an kein Ende kommen
zu können. Je mehr Macht oder Besitz die Menschen ha-
ben, um so mehr wünschen sie noch dazu. Und je mehr
sie wissen, desto mehr wollen sie noch dazu wissen. Und
zufrieden und glücklich sind sie auf diesem ganzen Wege
niemals ganz. Und wo immer sie auf eine Grenze des Wis-
sens oder des Besitzes oder der Macht stoßen, da zieht und
treibt sie etwas, diese Grenze, wenn irgend möglich, zu
überschreiten.
Man kann die ganze Geschichte der Menschen verste-
hen als den immer neuen Versuch, umfassende Zustände
der Gerechtigkeit, des Friedens und damit des Glückes zu
entfalten. Dieser Zug treibt offenbar das ganze Getriebe
der Geschichte. Aber es ist gleichfalls offenbar, daß die
wirklich vollendete Gerechtigkeit, der wirklich vollendete
Friede und das wirklich vollendete Glück nie ganz erreicht
werden. Immer bleibt etwas und zumeist sogar vieles zu
wünschen übrig. Wenn es nicht so wäre, würde die Ge-
schichte ja stehenbleiben in einem vollendeten Zustand,
244
Jrr nicht mehr weiterzugehen bräuchte. Aber dies ist noch
n1rmals eingetreten und tritt offenbar auch niemals ein.
Auch aller Streit der Menschen ist immer und für alle
,tn·itcnden Parteien angetrieben von dem Streben nach
1&rüf~crerMacht und nach größerer Gerechtigkeit und so-
-..r auch nach Einheit. Denn jeder der Streitenden will ja,
1«>gut es geht, mit seinem Gegner fertig werden und so
mit ihm eins werden, notfalls durch Gewalt, und er will
dadurchdas, was er unter Gerechtigkeit versteht, als die
allumfassende Gerechtigkeit durchsetzen, und damit als
Jie Einheit mit sich selbst. Er muß dabei freilich wieder
jrncGrenze erfahren, die in seiner Gewaltsamkeit und da-
mit in der Bestreitung der Ansprüche seines Gegners lie-
gen.
Aus alle dem kann man erkennen, daß die Menschen
in der Tat immer getrieben sind, nach einem Glück und
nach einer Einheit mit sich selbst zu jagen, die ihnen in
allem winkt und sich für sie doch in nichts vollendet.
Möchten also die Menschen nicht im Grunde allwis-
send sein über alle Grenzen hinaus und allmächtig über
alle Grenzen hinaus und mit allen Menschen einig und im
Frieden über alle Grenzen und Spaltungen hinaus? Treibt
es sie nicht dazu, mit Gott selber eins sein zu wollen, dem
über alle Grenzen hinaus Allmächtigen und Allwissenden
und alles und alle Umfassenden? Ist nicht die alte Formel
Augustins von der Unruhe des Menschenherzens immer
noch eine gute Formel für das, was ebenso jeden einzelnen
Menschen bei jedem Schritt seines Lebens antreibt, wie
für das, was die Geschichte im ganzen treibt und in Un-
ruhe hält: ,,inquietum est cor nostrum, donec quiescat in
te ?" 8 In der Tat, so ist es.
8
Augustin, Confessiones I, 1, 1, ed. N. Scutella (Leipzig 1934 ). ,,Un-
ruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir."
245
Und selbst noch im Bösen, das der Mensch immer wie-
der tut, will er groß und mächtig und gottgleich sein, wenn
auch auf eine verkehrte Weise. Die ungeheuere Dynamik
des allgegenwärtigen Zuges zum Göttlichen und zu Gott
wird durch das Böse zwar verkehrt, aber nicht ausge-
löscht. Er macht im Gegenteil das Böse erst möglich als
die verkehrte Verabsolutierung und damit Vergöttlichung
des endlichen Willens.
Und man darf hinzufügen: Weiß sich der Mensch in
dieser ganzen ungeheuren und aus allen Verwirrungen
sich immer wieder neu erhebenden und ihn treibenden
Unruhe nach dem göttlichen Glück nicht im Grunde soli-
darisch mit allen Menschen, mit der ganzen Geschichte
und schließlich sogar mit dem ganzen Universum? Warum
interessieren ihn denn alle Menschen auch in den größten
Entfernungen des Raumes und der Zeit? Warum interes-
sieren ihn die entferntesten Sterne und die unzugänglich-
sten Elementarteilchen? Warum frägt er bisweilen nach
dem Sinn nicht nur seines eigenen Lebens, sondern des Le-
bens der Menschen überhaupt, und auch nach dem Sinn
des ungeheuren und geheimnisvollen Getriebes, das wir
den Kosmos oder das Universum nennen? Ja der Mensch
ist in dieser Sache wirklich die Stimme und der Wortführer
der ganzen Geschichte des ganzen Universums. In ihm
kommt das Ganze zu sich in seiner ungeheuren Unruhe
und Bewegung.
Und dem Menschen kann es vollends deutlich werden,
daß diesesganze Getriebe bewegt ist von einem göttlichen
und ewigen Glück, von einer göttlichen und ewigen Ge-
rechtigkeit, von einem göttlichen und ewigen Frieden, der
alles und alle umfaßt und zugleich alles und alle unendlich
übertrifft.
In diesem Sinne laufen alle Kreaturen in sich und in der
Vermittlung des Menschen zu Gott, der ewigen Liebe.
246
Davon hat auch Dante gesprochen. Nachdem er das
ht·ure Getriebe der Geschichte der Menschen und das
hl'ure Drama von Himmel und Hölle und Fegfeuer
·hlaufen hat, wurde ihm deutlich, in welchem Zug al-
Jacszusammenhängt:
„t'amor ehe muove il sole e l'altre stelle." 9 Die Sonne
die Sterne vertreten hier das Ganze. Und die Liebe
die göttliche oder ewige Liebe, insofern sie mit ihrem
'16rhcn und innerlichen Bewegen das Ganze in Bewegung
·"lt.
Natürlich kommt es dann immer noch darauf an, daß
drrMensch das, was, ohne daß er dies selbst erdacht hätte,
In ihm lebt und treibt, auch ausdrücklich erkenne und
ausdrücklich ergreife. Dies ist freilich niemals selbstver-
11ändlich, und hier sind nicht nur Verletzungen und Ver-
drängungen überall zu beobachten, sondern auch die
Khlimmsten Verkehrungen. Der Meister Eckhart möchte
durchseine Überlegungen aber dazu verhelfen, daß wir
uns über diese Rolle im Kosmos und über diesen Zug zum
F.wigen klarwerden.
'' ,,Die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt."
247
auch Gott selber erst ruht. In dem Sinne nämlich, daß die
ganze „Absicht" des Hervorgehenlassens der Schöpfung
dann erst erreicht ist.
In der Predigt 22 über den Text „Ave gratia plena"
sagte der Meister am Ende: ,,der erste begin ist durch des
lesten endes willen. Ja, got der ruowet selbe niht da, da
er ist der erste begin; er ruowet da, da er ist ein ende und
ein raste alles wesens, niht daz diz wesen ze nihte werde,
mer: ez wirt da vor volbraht in sinem lesten ende nach
siner hoehsten volkomenheit. Waz ist daz leste ende? Ez
ist diu verborgen vinsternisse der ewigen gotheit ... " 10
10 DW I, 389, 3-7: ,,Der erste Beginn ist um des letzten Endes wil-
len. Ja, Gott ruht selber nicht da, wo er der erste Beginn ist. Er ruht
da, wo er ein Ende ist und eine Rast alles Seins; nicht als ob dieses
Sein zunichte werde, vielmehr wird es vollendet in seinem letzten
Ende nach seiner höchsten Vollkommenheit. Was ist das letzte
Ende? Es ist die verborgene Finsternis der ewigen Gottheit".
248
Anhang
249
mäßig gut unterrichtet durch Abschriften der Protokolle
der Verhandlungen in Köln und der Vorhaltungen so-
wohl, die in diesem Prozeß gegen den Meister erhoben
worden sind, wie auch seiner eingehenden und wiederhol-
ten Verteidigung. Das wichtigste Dokument aus diesem
Zusammenhang ist die sogenannte Rechtfertigungsschrift
des Meisters. In ihr geht er sehr eingehend auf alles das
ein, was ihm vorgeworfen wurde 2 • Aus den Verhandlun-
gen in Avignon ist uns das von der päpstlichen Kommis-
sion verfaßte „Gutachten" erhalten 3 • Dieses Gutachten
liegt offenbar der päpstlichen Urkunde vom 27. März
1329 zugrunde.
Wir gehen hier nicht im einzelnen auf den geschichtli-
chen Ablauf dieses Prozesses ein 4 •
Was uns hier interessiert, ist die Frage: Wie kommt es
zu diesem Widerspruch des christlichen Lehrbewußtseins
einerseits und der Lehre des Meisters andererseits, der ja
gleichfalls das volle Bewußtsein hatte, sich im Raum der
kirchlichen Lehre zu bewegen? Und eine sorgfältige Prü-
fung seines Werkes zeigt in der Tat, daß er die christliche
Lehre in der Form, die sie zu seiner Zeit gewonnen hatte,
in vollem Umfang akzeptierte und voraussetzte, sowohl
die Trinitätslehre wie die Schöpfungslehre wie den Ge-
250
danken der Menschwerdung wie die Heilsbedeutung des
Kreuzes und der Auferstehung. Wir sind in unseren Erwä-
~ungen auf diesen für ihn wichtigen Rahmen seines ge-
-.amten Denkens nicht im einzelnen eingegangen. Daß er
an der Interpretation der Heilsereignisse bevorzugt deren
rwige Seite sah und deren Reflex in dieser Welt in dem
( ;cdanken der kontinuierlichen und immer wieder sich er-
neuernden Inkarnation, der Allgegenwart und der ständi-
gen ereignishaften Erneuerung der Inkarnation und daß
bei ihm das einmalige geschichtliche Faktum der Inkarna-
tion und des Kreuzes und der Auferstehung als solches
weniger betont ist, das darf man als Einseitigkeit empfin-
den 5.
Besonders vom heutigen Standpunkt aus erscheint dies
einseitig, denn für uns steht ja durchaus das Geschicht-
liche der Heilstatsachen im Vordergrund. Aber diese ge-
schichtliche Seite wurde ja vom Meister Eckhart auch
nicht geleugnet, sie wurde nur interpretiert als der Aus-
gangspunkt einer allgemeinen Heilswirksamkeit Gottes.
Dies dürfte nicht in einem wirklichen Widerspruch zur
kirchlichen Lehre stehen.
Der Meister Eckhart hat dann weiter in der Interpreta-
tion der christlichen Heilsbotschaft einen Gedankenzug
entfaltet und eine Bewegung in Gang gebracht, die einzig-
5 Vgl. hierzu D. Mieth, Die Einheit von Vita activa und Vita con-
templativa in den Deutschen Predigten und Traktaten Meister Eck-
harts und bei Johannes Tauler (Regensburg 1969) a. 132. In den
beiden Untersuchungen von B. Weiss, Die Heilsgeschichte bei Mei-
ster Eckhart und von E. Wink/er, Exegetische Methoden bei Meister
Eckhart, wird dem Meister das heilsgeschichtliche Interesse abge-
sprochen. Hier ist zweifellos etwas Richtiges gesehen, was die Ten-
denz des Eckhartsehen Gedankens angeht. Aber man darf darüber
doch nicht vergessen, daß der Meister durchaus an den heilsge-
schichtlichen Tatsachen festhält.
251
artig und in vielem herausfordernd war, die aber, wie wir
glauben gezeigt zu haben, bei sachlicher Erläuterung
durchaus in keinem Punkt dem Glauben widerspricht.
Worin lag also der kritische Punkt seines Prozesses und
seines Zusammenstoßes mit der kirchlichen Autorität?
Dies läßt sich, wie mir scheint, am besten erläutern mit
Hilfe der Sprachspieltheorie des späten Wittgenstein.
Wittgenstein hat in den „Philosophischen Untersuchun-
gen" darauf aufmerksam gemacht, daß dasselbe Wort
oder derselbe Satz, wenn diese in verschiedenen Sprach-
spielen gebraucht werden, eine ganz verschiedene Bedeu-
tung haben können. 6 Er hat weiter darauf hingewiesen,
daß diese Sprachspiele nicht absolut fest, vielmehr va-
riabel sind. Daraus folgt, konsequent gedacht, daß die Be-
deutung der Worte und der Sätze im einen Sprachspiel
richtig, in dem anderen Sprachspiel falsch oder sinnlos
sein kann, auch wenn es sich um dieselben Worte und
Sätze handelt. So kommt es jeweils auf den Gebrauch der
Worte und Sätze und damit auf das Sprachspiel an, in dem
sie vorkommen. Von daher entscheidet sich, was mit die-
sen Worten und Sätzen eigentlich gesagt sein will.
In Nr. 23 der „Philosophischen Untersuchungen" von
L. Wittgenstein lesen wir: ,,Wie viele Arten der Sätze gibt
es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt
unzählige solcher Arten, unzählige verschiedene Arten der
Verwendung alles dessen, was wir „Zeichen", ,,Worte",
,,Sätze" nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Fe-
stes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der
Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entste-
hen, und andere veralten und werden vergessen." 7 Diese
6
Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Frankfurt
a. M. 1967) Nr. 23/27.
7
A. a. 0. Nr. 23.
252
lkohachtung der verschiedenen Arten der Verwendung
c,c.krdes Gebrauches von Worten und Sätzen in den ver-
u·hicdenen Sprachspielen kann man dahin erweitern, daß
man darauf hinweist, daß sich im geschichtlichen Leben
,ll'rSprache bestimmte Gebrauchsformen und bestimmte
Muster von Sprachspielen als weithin herrschende her-
.ausbilden, so daß dann durch eine lange Zeit hin in der
Regel Worte und Sätze auf eine ganz bestimmte Weise ge-
hraucht werden. Man beobachtet auch, daß diese herr-
,chend werdenden Gebrauchsformen und Sprachspiele
hisweilen bestimmten Schichten der Bevölkerung beson-
ders eigen sind und anderen weniger. Nimmt man dies an,
dann kann man versuchen, das Grundmuster und den
Grundansatz solcher jeweils in einem bestimmten Raum
herrschenden Sprachspiele aufzuklären, von denen aus
dann viele ihrer Eigentümlichkeiten verständlich wer-
den.
Ausgehend von diesem Gedanken, kann man nun im
Blick auf den Prozeß des Meisters Eckhart sagen: Bei sei-
nen Gegnern und Kritikern war ein ganz bestimmtes Ge-
brauchsmuster und also eine bestimmte Weise des
Sprachspiels herrschend geworden. Wir können es das
Sprachspiel der gegenständlichen Verein/achung nennen.
Beim Meister Eckhart aber brach ein vollständig anderer
Gebrauch der Sprache sich Bahn. Man kann sein Sprach-
spiel das Spiel der dialektisch gefaßten Erfahrung und ih-
rer leidenschaftlichen Aussprache nennen. Wenn nun
Sätze aus dem Sprachspiel und der Sprachebene des Mei-
sters Eckhart von der anderen Ebene aus und im Rahmen
des anderen Sprachspiels verstanden werden, dann müs-
sen sich auf dieser Ebene des Verstehens Widersprüche er-
geben, Häresien, Unsinn. Aber dieselben Sätze können in
ihrem eigenen Sprachspiel durchaus sinnvoll und wahr
sem.
253
In der Verurteilungsbulle Johannes' XXII. wird darauf
hingewiesen, der Meister habe seine Lehre hauptsächlich
vor dem einfachen Volk vorgetragen. Damit ist auf eine
bestimmte Schicht der Gesellschaft, näher des Kirchen-
volkes, hingewiesen, mit welchem sich die Bulle und alle,
die in dem Prozeß als Berater und Gutachter gegen Eck-
hart auftreten, identifizierten. Das einfache Kirchenvolk
hatte seine eigenen Sprachspiele, seine Weise des Ge-
brauchs von Worten und Sätzen. Es hatte diese durchaus
zu Recht. Es war eine Art ordinary language des Kirchen-
volkes.
Wir haben die Weise dieses Sprachspiels die der gegen-
ständlichen Vereinfachung genannt. Das soll bedeuten:
Von dieser Ebene des Sprachgebrauches her ist jeder Ge-
genstand fest und klar in sich geschlossen und als solcher
mit sich identisch, er ist, was er ist. Und auch dieser Identi-
tätssatz ist völlig eindeutig. So ist z.B. der Mensch, von
daher gesehen, als ein geschlossenes Ding, das seine festen
Bestandteile hat, aus dem es besteht. Und ähnlich wird
dann auch von Gott gedacht. Die Einfachheit dieses Denk-
und Sprachtypus drückt sich vor allem im einfachen Ge-
brauch des Identitätssatzes aus. Jedes ist, was es ist, und
nicht, was es nicht ist, und weiter ist darüber nichts zu
sagen. Also sind einfache Aussagen möglich, die auf ein-
fache Weise wahr oder falsch sind. Und dies gilt insbeson-
dere auch im ethischen Zusammenhang. Es gibt das Gute,
und es ist gut, und es gibt das Böse, und es ist bös, und
damit ist auch diese Sache im wesentlichen geklärt. Zwi-
schenüberlegungen gibt es dann nicht mehr.
Daraus ergibt sich ein sehr durchsichtiger und klarer
Sprachgebrauch, der außerordentlich einleuchtend ist und
der bald ganz selbstverständlich erscheint. Diese Weise
des Sprachgebrauchs wird mit eben dieser Selbstverständ-
lichkeit auch alles, was in seinem Bereich auftritt, z.B. die
254
Lehre des Meisters Eckhart, nach seiner Weise verstehen.
Dies scheint das ganz Natürliche zu sein für die meisten
Menschen, für das Volk der Kirche.
Von dieser Ebene aus betrachtet aber, wird aus dem
Gedanken des Meisters von der Ewigkeit der Welt in Gott
die Aussage, die Welt als Ding für sich sei so ewig und
so ursprünglich wie Gott selber, der ja in diesem Rahmen
gleichfalls als ein Seiendes für sich vorgestellt wird. Dies
ist aber widersprüchlich und gegen den Glauben 8 • Aus
dem Gedanken, daß der Mensch in der Abgeschiedenheit
eins werde mit Gott, wird der Gedanke, daß dieses in sich
stehende Ding, der Mensch, durch eine Art Zauber ver-
wandelt wird in das höchste Seiende, was wiederum wi-
dersprüchlich und gegen den Glauben ist 9 • Aus dem Ge-
danken des Ungeschaffenen in der Seele wird der
Gedanke, daß ein Stück Seele Gott sei, was wiederum ab-
surd und gegen den Glauben ist 10 • Aus dem Gedanken,
daß das Böse auch von der Güte Gottes durchstrahlt ist,
wird der Gedanke, daß das Böse nicht mehr das Böse sei,
sondern gut genannt werde, was wiederum ein Wider-
spruch und gegen den Glauben ist 11 • Aus dem Gedanken,
die Kreaturen seien ein reines Nichts, wird der Gedanke,
sie seien überhaupt nicht, was aller Erfahrung wider-
spricht 12 • Aus dem Gedanken, Gott sei reine Einheit ohne
Unterschied, wird die Leugnung der Trinität 13 • Und aus
dem Gedanken, man dürfe Gott nicht gut nennen, wird
eine schlichte Leugnung der einfach verstandenen Güte
bulle.
11 Satz 4, 5, 6, 14 u. 15 der Verurteilungsbulle.
255
Gottes. 14 Und so geht es durch die ganze Reihe der verur-
teilenden Sätze. Die Verurteilenden haben von ihrem
Standpunkt aus wirklichen Unsinn und wirkliches Ärger-
nis für den Glauben in diesen Sätzen gesehen, und also
von ihrem Standpunkt aus mit Recht verurteilt. Und dies
um so mehr, als sich die Verurteilenden in diesem Ver-
ständnis gemäß diesem Sprachspiel solidarisch wußten
mit dem Kirchenvolk, und eigentlich nicht nur mit dem
einfachen Volk. In diesem Bereich drohte von den Sätzen
des Meisters Eckhart her eine kaum zu vermeidende Ver-
wirrung, und vor solcher Verwirrung durfte und mußte
das Kirchenvolk geschützt werden. Darin liegt die Be-
rechtigung von Prozeß und Verurteilung des Meisters.
Nur betrifft diese nicht das, was er in seiner eigenen
Weise des Sprachgebrauchs gesagt hat, vielmehr das, wie
dies erschienen war innerhalb der ganz anderen Sprach-
ebene, von der aus er beurteilt wurde. Verurteilt wurde
also eigentlich nicht das, was der Meister Eckhart wirklich
gesagt hat, vielmehr das, was die Verurteilenden und mit
ihnen viele andere sich dabei gedacht und was sie verstan-
den hatten. Darum kann man sagen: Die Verurteilung
kam gar nicht an das heran, was der Meister selber gesagt
hatte, wohl aber betraf sie eine mögliche Wirkung des
Meisters unter den zahlreichen Menschen, die ganz anders
zu denken und zu sprechen gewohnt waren. Sie betraf ei-
gentlich ein Mißverständnis des Meisters, aber ein solches,
das eine gewisse geschichtliche Notwendigkeit hatte und
so unvermeidlich war.
Der Meister Eckhart selber bewegte sich in einem ganz
anderen Sprachspiel, in einer anderen Grundweise des
Denkens und des Sprechens. Dieses Sprachspiel war das
der dialektisch gefügten Erfahrung und der daraus her-
14
Satz 2 der zusätzlichen Sätze der Bulle.
256
vorgehenden leidenschaftlichen Verkündigung. Er stellt,
wie wir gesehen haben, kaum Gegenstände vor, er be-
schreibt Erfahrungen und führt zu ihnen hin. Und die
Sprechweise dieser Erfahrungen und dieses Weges artiku-
liert sich .wie von selbst in den hochentwickelten Formen
dialektischen Denkens, die die Überlieferung zur Verfü-
gung stellte. Und sie sprach sich, eben weil es wirkliche
Erfahrung war, mit Leidenschaft aus, und diese Leiden-
schaft findet ja regelmäßig gerade im Dialektischen und
im Paradox seinen angemessensten Ausdruck, ja sie stei-
gert diese Momente womöglich noch. Aber gerade so, in
dem scheinbaren Unsinn des Paradoxes, entspricht diese
Redeweise genau dem, was da erfahren war und was und
wie es zu sagen war.
Machen wir ein Beispiel. Wenn ein junger Mann von
seinem Mädchen sagt, es sei das schönste, das je gelebt
habe und je leben werde, dann kann ein solcher Satz
durchaus genau sein, indem er nämlich genau seiner Er-
fahrung und der dazu gehörigen Leidenschaft angemessen
ist und diese so beschreibt, wie sie wirklich ist. Der Satz
beschreibt genau, was der junge Mann empfindet. Aber
das in diesem Sinn Genaue ist zugleich Unsinn, wenn es
afa nüchterne Sachinformation verstanden wird.
Darum konnte auch der Meister Eckhart sagen, die
Seele werde eins mit Gott und nicht nur vereint, weil für
diese Erfahrung nichts anderes mehr da war als Gott.
Darum konnte er sagen, Gott sei auch nicht gut, weil für
die Sprache der Leidenschaft auch das Wort gut noch zu
gering und zu irdisch ist, um das Höchste sagen zu kön-
nen. Darum war für ihn das Böse auch nicht in jeder Hin-
sicht das Böse, es war es zwar, aber es war ihm zugleich
durchdrungen von der Größe und von der Großmütigkeit
Gottes. Darum konnte er sagen, daß in der Offenheit der
Vernunft über sich selbst hinaus ins Unbedingte und Un-
257
geschaffene der Wahrheit eben dies Unbedingte und Un-
geschaffene zur Vernunft gehört, wenn auch nicht als ein
Teil eines in sich geschlossenen Dings. Und vieles dieser
Art.
Die Differenz dieser Sprachspiele und Sprachebenen ist
durchaus empfunden worden; vor allem vom Meister
Eckhart, wie seine Rechtfertigungsschrift zeigt, aber in ei-
nem gewissen Maß auch von seinen Gegnern. In der
Rechtfertigungsschrift hat der Meister des öfteren darauf
hingewiesen, daß das, was er gesagt hatte und was man
ihm vorwarf, irrtümlich sei „sicut sonat", wie es klingt.
Wie es nämlich klingt für ein Sprachverständnis, das
selbstverständlich scheint und doch der Sache nicht ange-
messen ist 15 • An mehreren Stellen der Rechtfertigungs-
schrift hat er den Unterschied der Sprachebenen ganz aus-
drücklich gemacht. Er hat gesagt, daß die Dinge, die ihm
vorgeworfen wurden, ,,falsi sunt et erronei in sensu, quo
ipsos accipiunt qui illos obiciunt. Si autem sane intelligan-
tur et pie pulchram et utilem continent veritatem fid~i et
morum instructionem." 16
Öfters hat der Meister auch darauf hingewiesen, daß
es sich um eine Emphatica locutio handelt, also um eine
Redeweise der Leidenschaft. Diese darf also nicht als
bloße Sachinformation genommen werden, wenn sich
nicht Unsinn ergeben soll 17 •
Er suchte auch seinen Partnern in diesem Streit entge-
genzukommen, indem er ihnen Erklärungen anbot, von
258
denen er glauben durfte, sie seien auch von ihrer Ver-
ständnisebene aus verständlich.
Auch seine Gegenseite machte einige Versuche, die Dif-
ferenz der Sprache und der Verständnisebene zu über-
brücken. Sie gab ihm mehrmals Gelegenheit zu ausführli-
chen Erklärungen. Und es ist in diesem Zusammenhang
bemerkenswert, daß sogar in der Verurteilungsbulle vom
27. 3. 1329 immerhin von 11 der inkriminierten Sätze ge-
sagt wurde, sie würden zwar allzu schlecht klingen und
seien sehr gewagt und der Häresie verdächtig, ,,licet cum
multis expositionibus et suppletionibus sensum catholi-
cum formari valeant vel habere" 18 • Das darf man von der
gegnerischen Sprachebene aus als einen Versuch verste-
hen, dort, wo es einigermaßen möglich erschien, einen mit
dem Glauben übereinstimmenden Sinn nicht auszuschlie-
ßen, wenn auch zu dessen Gewinnung Hilfskonstruktio-
nen gedanklicher Art für notwendig erachtet wurden.
Hier scheint mir deutlich, daß die Differenz der Sprach-
ebenen empfunden wurde und daß man einige Versuche
machte, sie zu überwinden.
Aber im ganzen ist diese angestrebte Überwindung
nicht gelungen, und so kam es zur Verurteilung.
Indessen hat die weitere Geschichte gezeigt, daß die
Verurteilung zwar im Rahmen der damals und auch wei-
ter in der Kirche üblichen ordinary language rezipiert
wurde. Aber sie hat keineswegs ein besonderes Aufsehen
erregt und jedenfalls der Wirkung des Meisters keinen
ernstlichen Abbruch zuzufügen vermocht. Alle die, die in
die wirkliche Nähe des Gedankens des Meisters gelangten,
in die Nähe jener Ebene, von der aus man ihn verstehen
konnte, wurden immer wieder aufs neue bewegt von sei-
18 Ed. H. Denifle, 639: ,,Wenn sie auch mit vielen Erklärungen und
Ergänzungen einen katholischen Sinn bilden oder haben können."
259
nen kühnen Gedanken. Und was er sagte, hat immer wie-
der und bis heute die Gedanken vieler Menschen erregt
und beunruhigt und ihnen, und unter diesen einige der
größten Geister unserer Geschichte, immer wieder zu
denken gegeben. Immer wieder hat so der Meister Reich-
tümer zu verschenken.
Die beste Erläuterung dieser Zusammenhänge hat der
Meister Eckhart am Ende der schon mehrfach erwähnten
Predigt über den Text „Beati pauperes spiritu" gegeben.
Dort lesen wir Sätze, die eigentlich für das ganze Werk
des Meisters gelten: ,,Wer diese Rede nicht versteht, der
bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der
Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, so lange wird er
diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte
Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes
unmittelbar." 19
Dieses Wort tröstet die, die nicht mitkommen können,
weil sie auf einer anderen und für sie vielleicht unvermeid-
lichen Sprach- und Verständnisebene leben. Und es stellt
die entscheidende Forderung auf, nämlich die, man müsse
dieser Wahrheit „gleichen", um sie zu verstehen. Das
heißt also, man müsse ein anderer werden als der, der man
gewöhnlich und unmittelbar ist. Man müsse die Form des
ganzen menschlichen Daseins so verändern und umstel-
len, daß Erfahrungen möglich werden, die ganz anders
sind und ganz anders gesagt sein wollen als die alltägli-
chen. Man müsse so an den Punkt gelangen, an dem die
Wahrheit selbst zu sprechen beginnt. Wo sie also zum
Phänomen wird, zu dem, was sich selbst zeigt und offen-
bart. Alle äußerliche Gegenständlichkeit und alle einfa-
chen Rechenregeln des Denkens helfen dann nicht mehr
weiter und sind unnütz. Denn in einer solchen Gegen-
19
DPT, 309, 8-12; Pfeiffer LXXXVII, 280ff.
260
ständlichkeit und einer solchen Denkweise werden Ge-
genstände ja nur vor-gestellt, und der Mensch selbst
braucht sich nicht zu verändern.
Es ist kein Zweifel, daß Eckhart dieser Wahrheit wirk-
lich glich und daß sie sich ihm unverhüllt als sie selber
zeigte. Darum sagte er am Ende der Predigt „lntravit Jesus
in quoddam castellum": ,,Möhtet ir gemerken mit minem
herzen, ir verstüendet wol, waz ich spriche, wan ez ist wär
und diu wärheit sprichet ez selbe." 20
Er beruft sich auf sein Herz, die ursprüngliche Stätte
der Erfahrung. Dort hat die Wahrheit selbst gesprochen,
das heißt, sie hat sich selbst enthüllt, wenngleich in einer
für viele verwirrenden Form.
Und von daher kommt es auch, daß er sagen mußte,
was er sagte. Auch auf die Gefahr der Mißverständnisse
hin. Er mußte für lange und bis heute und weiter die
Denkenden beunruhigen. In der Predigt 26 lesen wir am
Ende: ,,Wer diese Predigt verstanden hat, dem vergönne
ich sie wohl. Wäre hier niemand gewesen, ich hätte sie
diesem Opferstock predigen müssen. " 21 •
Dieses Müssen, dieses Sendungsbewußtsein erfließt aus
der Tiefe der Erfahrung. Diese Erfahrung selber aber fließt
aus dem, daß der Erfahrende dieser Wahrheit selber gleich
geworden ist.
Unsere Überlegungen wollten helfen, an diesen Punkt
hinzuführen, wo auch wir vielleicht dieser Wahrheit
„gleich" werden können. Und eben dadurch wollten sie
helfen, daß die Wahrheit selber aus dem Wort des Mei-
sters unverhüllt, das heißt als sie selber aufgehe.
20
DW I, 41, 5-7: ,,Könntet ihr erkennen mit meinem Herzen, ihr
verständet wohl, was ich sage; denn es ist wahr und die Wahrheit
sagt es selber."
21
DPT 273, 29-31; Pfeif/er Nr. LVI S. 179 ff.
261
Literaturverzeichnis
I. Textausgaben
(mit Angaben über die gebrauchten Abkürzungen)
263
Bayer, H., Mystische Ethik und empraktische Denkform. Zur
Begriffswelt Meister Eckharts, in: Deutsche Vierteljahresschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50, (1976)
377-405 und ebd. 411-413.
Beierwaltes, W., Platonismus und Idealismus (Frankfurt a. M.
1972).
-, Visio absoluta; Reflexion als Grundzug des göttlichen Prinzips
bei Nicolaus Cusanus. Sitzungsberichte der Heidelberger Aka-
demie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Jg.
1978. 1. Abt. (Heidelberg 1978).
Benz, E., Mystik als Seinerfüllung bei Meister Eckhart, in: Sinn und
Sein. Ein philosophisches Symposion. Hrsg. von R. Wisser (Tü-
bingen 1960) 399-415.
Bindschedler, M., Meister Eckharts Lehre von der Gerechtigkeit, in:
Studia Philosophica. Jahrbuch der schweizerischen philosophi-
schen Gesellschaft 13 (1953) 58-98.
-, Die unzeitgebundene Fruchtbarkeit in der Mystik Meister Eck-
harts, in: J. Quint anläßlich seines 65. Geburtstages überreicht,
hrsg. von H. Moser, R. Schützeichel, H. Stackmann (Bonn 1964).
Bouyer, L., Mystique, essai sur l'histoire d'un mot, Supplement a
la vie spirituelle 9 (1949) 3-23.
Bracken, E. von, Meister Eckhart und Fichte (Würzburg 1943).
-, Meister Eckhart als Philosoph, in: Deutsche Vierteljahresschrift
für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 24 (1950) 32-52.
-, Meister Eckhart: Legende und Wirklichkeit. Beiträge zu einem
neuen Eckhartbild (Monographien zur philosophischen For-
schung, Bd. 85) (Meisenheim am Glan 1972).
Caputo, J. D., Meister Eckhart and the later Heidegger, in: The
Journal of the History of Philosophy XII, 4 (October 1974)
479-94, und XIII, 1 (January 1975) 61-80.
-, The poverty of thougth: A reflection on Heidegger and Eckhart,
in: Listening. Journal of Religion and Culture. Vol. 12, Nr. 3 1977
(River Forest Ill., USA).
Cognet, L., Introduction aux mystiques rheno-flamands (Paris
1968), deutsche Übersetzung in Vorbereitung (Freiburg i. Br.
1980).
Degenhardt, Ingeborg, Studien zum Wandel des Eckhartbildes (Lei-
den 1967).
Dempf, A., Meister Eckhart. Eine Einführung in sein Werk (Leipzig
1934).
-, Meister Eckhart (Freiburg i. Br. 1960).
264
-, Meister Eckhart als Mystiker und Metaphysiker, in: Der bestän-
dige Aufbruch. Festschrift für E. Pryzwara, hrsg. von S. Beim
(Nürnberg 1960) 171-178.
Denifle, H., Meister Eckharts lateinische Schriften und die Grund-
anschauung seiner Lehre (Archiv für Kirchen- und Literaturge-
schichte des Mittelalters, Bd. II, 417-615) (Freiburg i. Br. 1886).
-, Die deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur
Deutung ihrer Lehre. Aus dem literarischen Nachlaß, hrsg. von
0. Spieß (Freiburg/Schweiz 1951).
Ebeling, H., Meister Eckharts Mystik. Studien zu den Geisteskämp-
fen um die Wende des 13. Jahrhunderts (Forschungen zur Kir-
chen- und Geistesgeschichte, hrsg. von E. Seeberg, W. Weber,
R. Holtzmann, Bd. 21) (Stuttgart 1941).
Fischer, H., Meister Eckhart. Einführung in sein philosophisches
Denken (Freiburg - München 1974).
Flasch, K., Einleitung zu: Dietrich von Freiberg, Schriften zur Intel-
lekttheorie. Mit einer Einleitung, hrsg. von K. Flasch (Hamburg
1977).
-, Zum Ursprung der neuzeitlichen Philosophie im späten Mittelal-
ter. Philosoph. Jahrbuch der Görresgesellschaft (1978).
Haas, A. M., Nim din selbes war. Studien zu der Lehre von der
Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, J. Tauler und H. Seuse,
(Freiburg/Schweiz 1971).
-, Maitre Eckhart dans le miroir de l'ideologie marxiste, in: La vie
spirituelle (Paris, Januar 1971) 62-78.
-, Die Problematik von Sprache und Erfahrung in der deutschen
Mystik, in: W. Beierwaltes, H. Urs von Balthasar, A. M. Haas,
Grundfragen der Mystik (Einsiedeln 1974).
-, Wege und Grenzen der mystischen Erfahrung nach der deutschen
Mystik, in: Mystische Erfahrung, die Grenzen menschlichen Erle-
bens (Freiburg i. Br. 1976).
-, Transzendenzerfahrung in der Sicht Meister Eckharts unter be-
sonderer Berücksichtigung des „Buchs der göttlichen Tröstung",
in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 25. Bd.
(1978) H~ 1-2, 56-77.
-, Meister Eckhart. Zu seinem 650. Todesjahr, in: Neue Zürcher
Zeitung (29.9.1978) 35/36.
Heer, F., Meister Eckhart, Predigten und Schriften. Ausgewählt und
eingeleitet von F. Heer (Hamburg - Frankfurt 1956).
Hödl, L., Metaphysik und Mystik im Denken des Meisters Eckhart,
in: Zeitschrift für katholische Theologie 82 (1960) 257-274.
265
Hof, H., Scintilla animae. Eine Studie zu einem Grundbegriff in
Meister Eckharts Philosophie mit besonderer Berücksichtigung
des Verhältnisses zur neuplatonischen und thomistischen An-
schauung (Lund 1952).
Imbach, R., Deus est intelligere. Das Verhältnis vom Sein und Den-
ken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas
von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts
(Freiburg/Schweiz 1976).
Karrer, 0., Meister Eckhart; Das System seiner religiösen Lehre und
Lebensweisheit (München 1926).
-, Das Göttliche in der Seele bei Meister Eckhart (Würzburg 1928).
Koch, J ., Zur Analogielehre Meister Eckharts, in: Melanges offerts
a Etienne Gilson. (Etudes de philosophie medievale. Hors ~erie)
(Paris - Toronto 1960) 327-350.
-, Eckharts Weiterwirken im deutsch-niederländischen Raum im
14. und 15. Jahrhundert, in: La Mystique Rhenane (Paris 1963).
-, Zur Analogielehre Meister Eckharts (Abhandlungen der Bayeri-
schen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse München)
(Darmstadt 1964).
-, Grundgedanken der deutschen Predigten, in: Nix-Öchslin
(Hrsg.), Meister Eckhart, der Prediger (Freiburg i. Br. 1960)
25-72.
-, Die theologische Arbeitsweise Meister Eckharts in den lateini-
schen Werken, in: Miscellanea mediaevalia 7 (1970) 50-75.
Kopper, J., Die Metaphysik des Meisters Eckhart (Saarbrücken
1955).
-, Die Analyse der Sohnesgeburt bei Meister Eckhart (Kant-Studien
57) (1966) 100-112.
Kunisch, H., Meister Eckhart, Offenbarung und Gehorsam. Mittei-
lungen des Grabmann-Institutes der Universität München (Mün-
chen 1962).
Liebeschütz, H., Mittelalterlicher Platonismus bei Johannes Eriu-
gena und Meister Eckhart, in: Archiv für Kulturgeschichte 5 6
(1974) 241-269.
Lücker, Maria Alberta, Meister Eckhart und die Devotio moderna
(Leiden 1950).
Lossky, V., Theologie Negative et connaissance de Dieu chez Maitre
Eckhart (Etudes de philosophie medievale, Bd. 58) (Paris 1960).
Meerpohl, F. M., Meister Eckharts Lehre vom Seelenfünklein
(Würzburg 1926).
Mieth, D., Die Einheit von Vita activa und Vita contemplativa in
266
den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei
Johannes Tauler (Regensburg 1969).
Moser, D.-R., Paralipomena zu Hans Bayers Studie „Mystische
Ethik und empraktische Denkform. Zur Begriffswelt Meister
Eckharts", in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissen-
schaft und Geistesgeschichte 50. (1976) 406-410.
Müller, M., Das Seelenfünklein in Meister Eckharts Lehrsystem
(Mönchengladbach 1935).
Nambara, M., Die Idee des absoluten Nichts in der deutschen
Mystik und ihre Entsprechungen im Buddhismus, in: Archiv für
Begriffsgeschichte, Band 6 (Bonn 1960).
Nix, Udo M. - Öchslin, Raphael (Hrsg.), Meister Eckhart, der Pre-
diger. Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr (Freiburg i. Br. 1960).
Oltmanns, K., Meister Eckhart (Frankfurt a. M. 1935).
Piesch, H., Meister Eckharts Lehre vom Gerechten (Festschrift der
Nationalbibliothek Wien) (Wien 1926) 617-630.
Quint, J., Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eck-
harts (Bonn 1932).
Pahnke, M., Eckehartstudien (Beilage zum 38. Jahresbericht des
Gymnasiums Neuhaldensleben) (1913).
-, Meister Eckeharts Lehre von der Geburt Gottes im Gerechten,
in: Archiv für Religionswissenschaft, Bd. XXIII. (1925) 15-24,
Piesch, H., Meister Eckharts Ethik (Luzern 1935). [252-264.
-, Der Aufstieg des Menschen zu Gott nach der Predigt „ Vom edlen
Menschen", in: U. Nix - R. Öchslin (Hrsg.), Meister Eckhart, der
Prediger, Festschrift zum Eckhart-Gedenkjahr (Freiburg i. Br.
1960).
Preradovic, Gisela von, Überlegungen zu Geburt und generatio bei
Meister Eckhart, in: Recherches Germaniques, no 5 (Straßburg
1975) 1-11.
Schneider, Theophora, Der intellektuelle Wortschatz Meister Eck-
harts, in: Neue deutsche Forschungen (Berlin 1935).
Schürmann, R., Maitre Eckhartexperten itineraire, in: La vie spiri-
tuelle (Paris, Januar 1971) 20-35.
-, Maitre Eckhart ou la joie errante (Paris 7 cl 972).
Soudek, E., Meister Eckhart (Sammlung Metzler, Band 120) (Stutt-
gart 1973 ).
Stephenson, G., Gottheit und Gott in der spekulativen Mystik Mei-
ster Eckharts (Diss. Phil. Bonn 1954 ).
Suzuki, D. T., Christian and Buddhist. The Eastern and Western
Way (Collier Books) (New York 1962).
267
Thery, G., Contribution a l'histoire de proces d'Eckhart, in: La vie
spirituelle, Supplement (1924 und 1926) (Paris).
Ueda, Shizuteru, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch
zur Gottheit (Gütersloh 1965).
-, Das ,Nichts' bei Meister Eckhart und im Zen-Buddhismus, unter
besonderer Berücksichtigung des Grenzbereichs von Theologie
und Philosophie, in: Transzendenz und Immanenz. Hrsg. von
D. Papenfuss und J. Söring (Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz
1978).
Vanderbroucke, F., Actualite du Maitre Eckhart, in: La vie spiritu-
elle (Paris, Januar 1971) 7-19.
Waldenfels, H., Absolutes Nichts, Zur Grundlegung des Dialogs
zwischen Buddhismus und Christentum (Freiburg i. Br. 1976).
Weiss, B., Die Heilsgeschichte bei Meister Eckhart. (Diss. Mainz
1965).
Weiß, K., Meister Eckharts Stellung innerhalb der theologischen
Entwicklung des Spätmittelalters. Studien der Luther-Akademie,
Neue Folge, Heft 1 (Berlin 1953).
Weite, B., Meister Eckhart als Aristoteliker, in: Philos. Jahrbuch der
Görresgesellschaft, 69. Jg. (München 1961) 64-74.
Wentzlaff-Eggebert, Fr. W., Deutsche Mystik zwischen Mittelalter
und Neuzeit (Berlin 2 1947).
Winckler, E., Exegetische Methoden bei Meister Eckhart (Tübingen
1965) bes. S. 69.
Zapf, J., Die Funktion der Paradoxie im Denken und sprachlichen
Ausdruck bei Meister Eckhart (Diss. Köln 1966).
268