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Welt und
Unendlichkeit
Zum Problem
phänomenologischer
Metaphysik
Der Autor:
László Tengelyi (1954–2014) war Professor am Philosophischen Semi-
nar der Bergischen Universität Wuppertal und Vorsitzender des dorti-
gen Instituts für phänomenologische Forschung. Buchveröffentlichun-
gen: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (München 1998), L’expérience
retrouvée (Paris 2006), Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im
Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2007), Neue
Phänomenologie in Frankreich (Ko-Autor: Hans-Dieter Gondek;
Frankfurt a. M. 2011); L’expérience de la singularité (Paris 2014).
László Tengelyi
Welt und
Unendlichkeit
Zum Problem
phänomenologischer
Metaphysik
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
5
Inhalt
6
Inhalt
7
Inhalt
8
Inhalt
9
Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591
10
»ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν […].
ὅταν γὰρ ἂν αὐτὸν νοήσῃς οἷον ἢ νοῦν ἢ θεόν, πλέον ἐστί […]«.
»Man muss ihn [sc. den Uranfang] auch als unendlich auffassen […].
Denn wenn Du ihn dir als Geist oder Gott denkst, ist er mehr […].«
Mit Aristoteles wurde die Metaphysik für mehr als zwei Jahrtausende
zur Grunddisziplin der Philosophie. Sie machte zwar erhebliche Wand-
lungen durch und wurde zumindest zweimal – bei Duns Scotus und bei
Descartes – sogar auf völlig neue Grundlagen versetzt, aber sie be-
stimmte bis ins 18. Jahrhundert hinein das philosophische Denken. Im
Zeitalter der Aufklärung wandten sich manche Denker – besonders in
Frankreich und in England – von ihr ab oder betrachteten sie, wie
Hume, mit begründeten Zweifeln. Aber erst mit Kant wurde sie ein
anhaltend beunruhigendes Problem.
Es handelt sich um ein Problem, das mittlerweile verschiedene Ge-
stalten annahm, aber bis heute nicht gelöst oder bewältigt wurde. Von
Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer bis Bergson und Whitehead
gab es eine ganze Reihe von Denkern, die es zu lösen oder zu bewältigen
suchten, aber immer wieder attestiert man ihren groß angelegten Ver-
suchen ein Gepräge von metaphysics-fiction.
Nietzsche trat einer Metaphysik, die sich nach ihm allzu sehr am
Christentum orientierte, ausdrücklich als Gottloser und Antimetaphy-
siker entgegen. 1 Seitdem gilt jede Metaphysik, die sich als Sachwalterin
von Ideen wie Unsterblichkeit, (intelligibler) Freiheit und Gott versteht
– selbst wenn sie, wie etwa Kants Metaphysik der Sittlichkeit, in diesen
Ideen nichts als Gegenstände bloßer »Postulate« sieht –, als »traditio-
nell«. Diese – in unseren Tagen durchaus verbreitete – Bezeichnung
spricht dafür, dass die Zeit, in der wir leben, als »(nach)nietzscheanisch«
zu kennzeichnen ist.
Antimetaphysische Tendenzen wurden in den beiden vorherr-
1
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral [Nietzsche’s Werke, Großoktav-Aus-
gabe, Bd. VII], Leipzig: Kröner 1910, S. 470 (= Kritische Studienausgabe, hg. von Gior-
gio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bände, Berlin, New York und München: Walter de
Gruyter und Deutscher Taschenbuchverlag 1988, Bd. V, S. 401).
13
Einleitung
14
Einleitung
15
Einleitung
16
Einleitung
Die Abteilungen A und B des dritten Teils sind auch dadurch miteinan-
der verbunden, dass in ihnen – im Anschluss an den letzten Paragra-
3
Das letztere Thema wird hier ausgeklammert, da es in der französischsprachigen Auf-
satzsammlung L’expérience de la singularité (Paris: Hermann 2014) ausführlicher erör-
tert wird.
17
Einleitung
4
Klaus Held, »Husserls phänomenologische Gegenwartsdiagnose im Vergleich mit Hei-
degger«, in: Gerhard Funke (Hg.), Husserl-Symposion Mainz 27. 6./4. 7. 1988, Mainz:
Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Wiesbaden und Stuttgart: Franz Steiner
1989, S. 33–50, hier: S. 35.
5
Ebd.
6
Ebd., S. 40.
7 Ebd., S. 35.
18
Einleitung
8
Klaus Held, »Die Endlichkeit der Welt. Phänomenologie im Übergang von Husserl zu
Heidegger«, in: Beate Niemeyer und Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit.
Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, Würzburg: Königshau-
sen & Neumann 1992, S. 130–145, hier: S. 145.
19
Einleitung
Der Titel Welt und Unendlichkeit deutet darüber hinaus auch noch
einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Ganzen und dem Un-
endlichen an. Es soll damit an eine grundlegende Unterscheidung von
Levinas angeknüpft werden, die in der Gestalt einer »Antinomie von
Totalität und Unendlichkeit« merkwürdigerweise beinahe gleichzeitig
auch bei Adorno 9 auftaucht. Es ist bemerkenswert, dass im Anschluss
an Levinas (wenn auch nicht ohne Kritik an ihm) und im Ausgang von
seiner responsiven Phänomenologie neuerdings auch Bernhard Wal-
denfels eine positive Anknüpfungsmöglichkeit an die Idee des Unend-
lichen gefunden hat. 10
Die Rede von einer »phänomenologischen Metaphysik« klingt in
einem Zeitalter, das nicht müde wird, eine »Überwindung der Metaphy-
sik« und sogar ein »nachmetaphysisches Denken« zu fordern, unzeit-
gemäß und deshalb herausfordernd. Freilich wird auch im vorliegenden
Buch davon ausgegangen, dass Metaphysik als Ontotheologie, wie man
es in einem bestimmten Idiom zu sagen pflegt, »nicht mehr möglich«
sei. Es soll aber gezeigt werden, dass die Phänomenologie einen neuen
Typ der Metaphysik ermöglicht, der sich mit keiner Ontotheologie ver-
bindet. Man darf nicht vergessen, dass die Aufgabe einer Ȇberwin-
dung der Metaphysik« bei Heidegger nach einer Periode eigens ange-
strebter Metaphysik vor allem aus der Hoffnung auf einen »anderen
Anfang« erwuchs. Ob sie sich von dieser Hoffnung überhaupt trennen
lässt, steht dahin. Jürgen Habermas gründete seine neuerdings wieder
erhobene Forderung nach einem »nachmetaphysischen Denken« 11 ur-
sprünglich einerseits auf einen »Paradigmenwechsel vom Bewusstsein
zur sprachlichen Verständigung«, 12 andererseits aber auch auf seine
Überzeugung, wir seien philosophisch »immer noch Zeitgenossen der
Junghegelianer«. 13 Nun ist die sprachliche Wende der Philosophie heute
für das Denken in keiner ihrer mannigfaltigen Gestalten mehr bestim-
9
Theodor Wiesengrund Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft 1994, S. 37.
10
Bernhard Waldenfels, »Aporien des Unendlichen«, in: Brachtendorf, Johannes, Möl-
lenbeck, Thomas, Nickel, Gregor und Schaede, Stephan (Hg.), Unendlichkeit. Interdis-
ziplinäre Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 3–22, hier besonders S. 18 f.
11 Siehe Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Ber-
20
Einleitung
mend; selbst die analytische Philosophie hat von ihr weitgehend Ab-
stand genommen. Dagegen dürfte eine tragfähige Bewusstseinsphiloso-
phie wieder ein Desiderat der Zeit sein. Was aber die These unserer
philosophischen Zeitgenossenschaft mit Hegel, Marx und den Jung-
hegelianern betrifft, so sei nur an Adorno erinnert, der sich ebenfalls
als Zeitgenosse der Junghegelianer verstand (so schwer er sich manch-
mal mit diesem Selbstverständnis auch tat 14), darüber aber doch nicht
die Tatsache aus den Augen verlor, dass die »Träger philosophischer
Moderne« Denker sind, die nicht in der Nachfolge von Hegel stehen
und erheblich später als die Junghegelianer auf die Bühne treten: näm-
lich Bergson und Husserl 15 – denen man in der Neuen Welt allenfalls
noch William James (nicht so sehr als Pragmatisten überhaupt, sondern
mehr noch als den Verfasser der Essays in Radical Empiricism) zur
Seite stellen könnte. Diese Ansicht über die Träger philosophischer Mo-
derne ist für das gegenwärtige Buch grundlegend: Es versucht, sich vor
allem in die Traditionslinie einzuschreiben, die von Husserl ausgeht und
mittlerweile auch in Bergsons Heimat auf markante Weise weitergezo-
gen wird. All diese Bemerkungen laufen aber eigentlich auf eine einzige
Einsicht hinaus: Streben wir keinen radikalen Bruch mit der Vergan-
genheit an, der die Philosophie im bisherigen Sinne des Wortes auf-
heben oder auch vollenden und verwirklichen sollte, so verzichten wir
auf nichts anderes als auf uneingelöste Versprechen, die ihr wahres Ge-
sicht in den Kataklysmen des vergangenen – aber leider noch immer
nicht ganz hinter uns gelassenen – Jahrhunderts gezeigt haben.16
14
Vgl. dazu Theodor Wiesengrund Adorno, Ontologie und Dialektik (1960/61), hg. von
Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 22008 (12002), S. 332 f. und Adorno,
Negative Dialektik, S. 146 f.
15
Theodor Wiesengrund Adorno, Vorlesungen über Negative Dialektik [Nachgelassene
Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 16], hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 2003, S. 229; vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 20. Siehe dazu aus-
führlicher vom Vf. »Negative Dialektik als geistige Erfahrung? Zu Adornos Auseinan-
dersetzung mit Phänomenologie und Ontologie«, in: Phänomenologische Forschungen
(2012), S. 47–65.
16
Mit vollem Recht sagt Vincent Descombes Folgendes: »Que signifie en effet ce renvoi
de la métaphysique à un passé révolu ? Il signifie que le philosophe s’accorde à lui-même
une dispense de répondre à certaines questions. Il est dispensé de métaphysique, comme
le lycéen souffrant est dispensé de gymnastique.« (Vincent Descombes, »Latences de
métaphysique«, in: Un siècle de philosophie 1900–2000, Paris: Gallimard/Centre Pom-
pidou 2000, S. 11–52, hier: S. 13).
21
Erster Teil:
Metaphysik und Ontotheologie
Grundtypen der Metaphysik in der
französischen Philosophiegeschichtsschreibung
der letzten Jahrzehnte
1
Jean-Luc Marion, »Entretien du 3 décembre 1999«, in: Dominique Janicaud, Heidegger
en France, Bd. II: Entretiens, Paris: A. Michel 2001, S. 217.
2
Ebd., S. 215. Der Vortrag wurde unter dem Titel »L’onto-théo-logie de Descartes« ge-
halten.
3
Ebd., S. 215. Vgl. Olivier Boulnois, Être et représentation. Une généalogie de la méta-
physique à l’époque de Duns Scot (XIII–XIVe siècles), Paris: PUF 1999; Vincent Carraud,
Causa sive Ratio. La raison de la cause de Suarez à Leibniz, Paris: PUF 2002; Jean-
Christophe Bardout, Malebranche et la métaphysique, Paris: PUF 1999.
25
Grundtypen der Metaphysik
ein ganzes Buch über Descartes erwachsen. 4 In der gleichen Zeit arbei-
tete Courtine an seinem Promotionsprojekt, aus dem am Ende des Jahr-
zehnts zunächst eine größere Buchveröffentlichung hervorging: Die
Kapitel über Francisco Suárez wurden selbstständig herausgegeben. 5
Andere Teile des ursprünglichen Forschungsvorhabens wurden erst
vor Kurzem veröffentlicht. 6 Brague publizierte sein Werk über die Fra-
ge nach der Welt bei Aristoteles im Jahre 1988. 7 Die von Marion er-
wähnten Nachfolger – Olivier Boulnois, Vincent Carraud und Jean-
Christophe Bardout – haben ihre bisher wichtigsten Arbeiten etwa ein
Jahrzehnt später verfasst.
In einem Gespräch mit Janicaud verweist Courtine darauf, dass im
Hintergrund der neuen Richtung französischer Philosophiegeschichts-
schreibung ein erstrangiger Aristoteles-Forscher, Pierre Aubenque,
stand, der als Leiter des nach Léon Robin benannten Zentrums für an-
tike Philosophie an der Pariser Sorbonne eine Werkstatt für Metaphy-
sikforschung eingerichtet hat. Courtine und Brague haben sich als
Schüler von Aubenque an der Arbeit dieser Werkstatt intensiv beteiligt,
aber auch Marion hat die Veranstaltungen des Centre Léon Robin re-
gelmäßig besucht.
Die sich von Aubenque bis zu Boulnois, Carraud und Bardout ent-
faltende Forschungsrichtung hat am Ende mehr geleistet, als sie ur-
sprünglich vorhatte. Sie machte deutlich, dass die ontotheologische Ver-
fassung zwar nicht als erschöpfende Wesensbestimmung der
traditionellen Metaphysik gelten kann, sich aber auch nicht allein dazu
eignet, als Leitfaden zu Untersuchungen über einzelne Autoren und
Schulen verwendet zu werden, sondern zugleich dazu dienen kann, als
Brennpunkt einer typologischen Vielfalt die traditionelle Metaphysik
zu charakterisieren. Im Folgenden soll der Beitrag der erwähnten For-
schungsrichtung zu einer derartigen Typologie herausgestellt werden.
Zu dieser Aufgabenbestimmung gehören zwei präzisierende Be-
merkungen. Einerseits soll keineswegs der Eindruck erweckt werden,
als sei der Ausgang von Heideggers Idee einer ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik in der französischen Philosophiegeschichts-
4
Jean-Luc Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, Paris: PUF 1986.
5 Jean-François Courtine, Suarez et le système métaphysique, Paris: PUF 1990.
6
Jean-François Courtine, L’invention de l’analogie. Métaphysique et ontothéologie, Pa-
ris: Vrin 2005. Vgl. auch Jean-François Courtine, Les catégories de l’être. Études de phi-
losophie ancienne et médiévale, Paris: PUF 2003.
7 Rémi Brague, Aristote et la question du monde, Paris: PUF 1988.
26
Grundtypen der Metaphysik
27
Grundtypen der Metaphysik
sich dabei um eine zwar vermittelte, dafür aber tief prägende Wirkung
von Heideggers Idee der Metaphysik. Diese Wirkung war umso un-
widerstehlicher, als Beaufret nicht von Heidegger selbst sprach, sondern
dessen Idee der Metaphysik selbstständig auf die Philosophiegeschichte
anwandte. Wir wollen uns im Folgenden deutlich machen, wie die bei-
den Adepten dieses Erbe von Beaufret angetreten und wie sie es ihren
eigenen Nachfolgern weitergegeben haben.
Diese Aufgabe macht allerdings zuvor einen Rückgang auf Hei-
deggers Texte über die ontotheologische Verfassung der Metaphysik
erforderlich.
28
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
11
Siehe Martin Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], hg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2006, S. 51–79.
Einzelausgabe: M. Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart, Klett-Cotta, 122002
(11957).
12
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie [Gesamtausgabe,
Bd. 22], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1926, hg. von Franz-Karl Blust, Frank-
furt am Main: Klostermann 1993, S. 149; vgl. S. 286–288.
29
Grundtypen der Metaphysik
13 Ebd., S. 149.
14
Siehe zum Beispiel Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Ge-
samtausgabe, Bd. 24], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1927, hg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 21989 (11975), S. 38 und
S. 111.
15
Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz
[Gesamtausgabe, Bd. 26], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1928, hg. von Klaus
Held, Frankfurt am Main: Klostermann 21990 (11978), S. 202; vgl. S. 12 f., S. 199 und
S. 229.
16 Ebd., S. 199–202.
17
Paul Natorp, »Thema und Disposition der aristotelischen Metaphysik«, in: Philoso-
phische Monatshefte 24, S. 37–65 und S. 540–574, hier: S. 49.
18
Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin:
Weidemann 1923.
30
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
31
Grundtypen der Metaphysik
20
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsam-
keit [Gesamtausgabe, Bd. 29/30], Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1929/1930, hg.
von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 21992 (11983),
S. 38 f.
21
Ebd., S. 39.
22
Ebd., S. 46.
23
Ebd.
24 Ebd., S. 47.
32
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
beiden Begriffe von φύσιϚ den anderen verdrängt, sondern daß sich
beide nebeneinander erhalten.« 25 Die beiden Begriffe schreiben zwei
verschiedene Fragerichtungen vor, die aber gleich wesentlich sind und
zusammen das bilden, was Heidegger jetzt als »eigentliche Philosophie«
oder auch als »eigentliches Philosophieren« bezeichnet. Es heißt: »Diese
beiden Bedeutungen des Fragens, beschlossen in der einheitlichen Be-
deutung von φύσιϚ, werden von Aristoteles ausdrücklich zusammen-
geschlossen. […] Eigentliches Philosophieren ist das Fragen nach der
φύσιϚ in dieser doppelten Bedeutung: das Fragen nach dem Seienden
im Ganzen und in eins damit das Fragen nach dem Sein.« 26
Heidegger schwebt in der Periode zwischen 1928 und 1930 eine
Philosophie vor, die aus Fundamentalontologie und Metontologie be-
steht. Die Fundamentalontologie antwortet auf die Frage nach dem
Sein, die Metontologie auf die Frage nach dem Seienden im Ganzen.
Die beiden Forschungsrichtungen machen zusammen die Metaphysik
aus. Sie legen damit den Sinn des eigentlichen Philosophierens fest.
Erst auf Grund der so verstandenen Metaphysik können wir uns
nach Heidegger ein Bild von der Ersten Philosophie machen, die Aris-
toteles ursprünglich im Auge hatte. Wir müssen dabei deutlich sehen,
dass die Erste Philosophie bei Aristoteles durchaus an die Physik als
eine Lehre von der φύσιϚ gebunden bleibt, wenn sie auch nicht die
Natur im Sinne eines gesonderten Bezirks des Seienden, sondern einer-
seits die Natur als das Seiende im Ganzen, andererseits die Natur als die
Natur des Seienden zum Gegenstand hat.
Auf Heideggers Versuch, die Fundamentalontologie durch eine
Metontologie zu ergänzen, kommen wir im zweiten Teil der vorliegen-
den Untersuchung zurück. Hier soll nur noch darauf hingewiesen wer-
den, dass Heideggers eigener Entwurf der Metaphysik zwar in der
»seinsgeschichtlichen« Periode hinter dem Versuch, die Metaphysik zu
überwinden – oder auch zu »verwinden« –, deutlich zurücktreten, aber
niemals völlig verschwinden wird. Dass dabei die Kontinuität mit dem
Grundgedanken der Vorlesung von 1929/1930 erhalten bleibt, kann vor
allem durch eine Stelle des im Jahre 1939 geschriebenen Aufsatzes
»Vom Wesen und Begriff der ΦύσιϚ. Aristoteles, Physik, B 1« 27 belegt
werden. Hier ist davon die Rede, dass die Unterscheidung von Natur
25
Ebd.
26
Ebd., S. 50.
27 Martin Heidegger, »Vom Wesen und Begriff der ΦύσιϚ. Aristoteles, Physik, B 1«, in:
33
Grundtypen der Metaphysik
Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frank-
furt am Main: Klostermann 1976, S. 239–301.
28 Ebd., S. 241.
29
Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3],
hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1991, S. 7.
30
Für Belege dazu siehe Courtine, Inventio analogiae, S. 84, Anm. 1.
31 Pierre Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, Paris: PUF 1962, S. 23.
34
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
32
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 7.
33
Jaeger, Aristoteles, S. 404.
34
Es ist Hans Reiner später gelungen, diese Hypothese durch indirekte Schlüsse aus den
Quellen zu erhärten und damit die Legende vom bibliothekarischen Ursprung der Meta-
physik als solche zu enthüllen. Aubenque stützt sich bereits auf seine einschlägigen Auf-
sätze. Siehe Hans Reiner, »Die Entstehung und die ursprüngliche Bedeutung des Na-
mens Metaphysik«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8 (1954), S. 210–237;
wieder abgedruckt in: Fritz-Peter Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristote-
les, Wege der Forschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 139–
174; weiterhin: »Die Entstehung der Lehre vom bibliothekarischen Ursprung des Na-
mens ›Metaphysik‹«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 9 (1955), S. 77–99.
35 Vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos [Opera, hg. von Hermann Mut-
35
Grundtypen der Metaphysik
schmann, 3 Bände, Leipzig, Teubner 1912–1954; Nachdruck: Opera, hg. von Jürgen
Mau, 4 Bände, Berlin und New York: Walter de Grunyter 2011], Bd. II, Buch VII,
Kap. 16; dt. Gegen die Dogmatiker. Adversus Mathematicos libri 7–11, übersetzt von
Hansueli Fluckiger, Sankt Augustin: Academia, 1998, S. 19.
36
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 29/30], S. 54.
37 Ebd., S. 58.
38
Ebd., S. 58–60.
39
Ebd., S. 59.
40
Ebd., S. 60.
41 Ebd., S. 66.
36
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
42
Ebd., S. 64.
43 Ebd., S. 65.
37
Grundtypen der Metaphysik
44
Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes [Gesamtausgabe, Bd. 32],
Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1930/1931, hg. von Ingtraud Görland, Frankfurt
am Main: Klostermann 1988, S. 141.
45
Ebd., S. 183.
46
Ebd., S. 209.
47
Ebd., S. 183.
48 Ebd.
38
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
49
Martin Heidegger, Holzwege [Gesamtausgabe, Bd. 5], hg. von Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 179; vgl. S. 186 f.
50
Heidegger, »Einleitung zu: ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe,
Bd. 9], S. 379.
51 Ebd., S. 378.
52
Ebd., S. 379.
53
Ebd., S. 370.
54
Ebd.
55 Ebd., S. 379.
39
Grundtypen der Metaphysik
56
Ebd.
57
Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? [Gesamtausgabe, Bd. 11], hg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2006, S. 3–26.
58
Martin Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], hg. von Petra Jae-
ger, Frankfurt am Main: Klostermann 1997. Möglicherweise kündigt bereits die Vor-
lesung von 1951/1952 unter dem Titel Was heißt Denken? diese späteste Phase von
Heideggers Überlegungen zur Metaphysik an.
59
Siehe Heidegger, Identität und Differenz, [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 46: »Einkehr
unseres Denkens in jenes Einfache, das wir im strengen Wortsinne das Ereignis nennen«.
60
Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], hg. von Fried-
rich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2007, S. 30.
61
Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 63.
62 Ebd.
40
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
63
Ebd., S. 65.
64
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 165.
65
Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 64.
66 Ebd., S. 58 und öfters.
67
Ebd., S. 60.
68
Ebd., S. 71.
69
Ebd., S. 71, Anm. 93.
70 Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 27.
41
Grundtypen der Metaphysik
zum Beispiel der Ausdruck »Sein gedacht aus der Differenz« 71 zu ver-
stehen.
In der Metaphysik nimmt der Unterschied von Sein und Seiendem
nach Heidegger eine besondere Gestalt an. Die Metaphysik ergreift eine
bestimmte Möglichkeit, das Sein als Grund zu verstehen, indem sie das
Sein zu ergründen und zu begründen sucht. Dabei geht sie von vorn-
herein davon aus, dass überall dort, wo es ein Sein gibt, auch ein Grund
vorhanden ist. Insofern entspricht die Metaphysik dem Sein als λόγοϚ;
aber sie entspricht ihm anders als ein anfängliches Denken – wie etwa
das von Heraklit. Die Metaphysik begreift das Sein keineswegs unmit-
telbar als ein »versammelndes Vorliegenlassen«. Sie kann vielmehr als
ein eigentümliches Unterfangen gesehen werden, als ein »Gründen«
eigener Art, das »vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht
und ihn schließlich zur Rede stellt«. 72 Sie fasst dabei einerseits das Sein
im Sinne der Gesamtheit allgemeiner Seinscharaktere des Seienden als
den Grund auf, auf dem das Seiende als solches jeweils schon steht, und
sie bindet andererseits das Sein des Seienden an Gründe, die eine Suche
nach einem ausgezeichneten Seienden als höchstem Grund oder auch
als erster Ursache erforderlich machen. Der Versuch der Metaphysik,
das Sein zu ergründen und zu begründen, gibt daher einem doppelten
Gründungs- oder Begründungszusammenhang Raum: Einerseits
»gründet das Sein das Seiende«, andererseits »begründet das Seiende
als das Seiendste das Sein«. 73 Den »Unter-Schied« zwischen Sein und
Seiendem, der aus Gründung und Begründung erwächst, fasst Heideg-
ger zugleich als »Austrag«. 74 Er fügt hinzu: »Das Gründen selber er-
scheint innerhalb der Lichtung des Austrags als etwas, das ist, was somit
selber, als Seiendes, die entsprechende Begründung durch Seiendes, d. h.
die Verursachung und zwar die durch die höchste Ursache verlangt.« 75
Damit ist bereits ein Kreislauf von Gründen und Begründen ange-
deutet.
Zum Austrag kommt dabei das, was im Text »onto-theo-logische
Verfassung der Metaphysik« heißt: »Denkt die Metaphysik das Seiende
im Hinblick auf seinen jedem Seienden als solchem gemeinsamen
42
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
Grund, dann ist sie Logik als Onto-Logik. Denkt die Metaphysik das
Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf das höchste, alles
begründende Seiende, dann ist sie Logik als Theologik.« 76 Logik ist aber
die Metaphysik unter allen Umständen, da sie (wenn auch nur auf eine
bestimmte Weise) dem Sein als λόγοϚ entspricht.
Dieser Austrag des Unter-Schiedes – und damit die Entstehung der
ontotheologischen Verfassung der Metaphysik selbst – muss als eine
Folge des Ereignisses begriffen werden. Gemeint ist letztlich das Ereig-
nis des Erscheinens des Erscheinenden als solchen. Heidegger versteht
aber dieses Ereignis als ein Offenbarungsgeschehen, in dem sich die
gestiftete Unverborgenheit des Seienden mit einem Entzug und einer
gewissen Verbergung des Seins verbindet. Die Zusammengehörigkeit
von Unverborgenheit und Verbergung ist ein wesentlicher Bestandteil
des Ereignisdenkens. Es kommen aber noch weitere Bestandteile hinzu:
allen voran der Gedanke, dass beim Erscheinen des Erscheinenden die
Initiative nicht dem Denken, sondern dem Sein gehört; es handelt sich
mithin um ein Offenbarungsgeschehen, das dem Denken widerfährt.
Die »Entbergung« des Seins ist also keineswegs das Werk des mensch-
lichen Daseins; das Sein »entbirgt« sich von selbst. Weiterhin nimmt
die Zusammengehörigkeit von Unverborgenheit und Verbergung nach
Heidegger verschiedene Gestalten an, die je eine Epoche des Denkens
bestimmen. Was unverborgen zutage tritt und was verborgen bleibt,
ändert sich dabei von Epoche zu Epoche; aber ein Entzug, ein Ansich-
halten des Seins ist für jede Epoche konstitutiv. Daher versucht Hei-
degger, das Phänomen einer Epoche des Denkens aus der jeweiligen
ἐποχή (Ansichhalten) des Seins zu verstehen. Aus diesem Zusammen-
hang zwischen Seinsentzug und Denkepoche ergibt sich der grundsätz-
lich epochale Charakter des Ereignisses.
Diese Gedanken drücken sich im zweiten Teil von Identität und
Differenz so aus, dass das Sein als eine »entbergende Überkommnis«
und das Seiende als eine »in die Unverborgenheit sich bergende An-
kunft« gefasst werden kann. 77 Der Unterschied von Sein und Seiendem
bestimmt sich dementsprechend als ein Unter-Schied von Überkomm-
nis und Ankunft. Zum Austrag kommt dabei ein bestimmter Vertei-
lungszusammenhang von Unverborgenheit und Verbergung. So wird
hier die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik als eine Folge
76
Ebd., S. 76.
77 Ebd., S. 71 und öfters.
43
Grundtypen der Metaphysik
78
Ebd., S. 57.
79
Ebd., S. 75.
80
Ebd., S. 64.
81 Ebd., S. 67.
44
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.« 82 Aus
dieser Bemerkung verstehen wir erst, was Heidegger in seiner Holz-
wege-Abhandlung über »Hegels Begriff der Erfahrung« mit dem Wort
»Theiologie« meinte. Er wollte damit andeuten, dass der Gott der Me-
taphysik keineswegs mit dem »göttlichen Gott« zusammenfällt und
dass ebendeshalb ein Denken, das sich einem methodologischen Athe-
ismus verschreibt, dem »göttlichen Gott« näher bleiben kann. 83
Damit dürfte Heideggers Auseinandersetzung mit der ontotheo-
logischen Verfassung der Metaphysik ihren Grundlinien nach deutlich
geworden sein. Im Rückblick auf das Dargestellte können wir fest-
stellen, dass Heidegger sich – im Gegensatz zu Natorp – nicht damit
begnügte, eine doppelsinnige Auffassung von der Metaphysik bei Aris-
toteles herauszustellen, sondern sich dazu entschloss, nach der einheit-
lichen Grundlage dieser doppelsinnigen Auffassung zu forschen. Er
fasste dabei wiederholt eine Metaphysik ins Auge, die im wesentlichen
Sinne Physik blieb, und versuchte, seine Fundamentalontologie durch
eine Metontologie zu ergänzen, um das Seiende nicht nur als solches,
sondern auch im Ganzen zu erfassen. Letztlich blieb er jedoch die Aus-
arbeitung dieses Entwurfs einer neuen Metaphysik schuldig. Nur in
kritischer Umwendung verwirklichte er sein ursprüngliches Anliegen,
indem er die Zusammengehörigkeit der Wissenschaft vom Sein und der
Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden aus einem sei-
nes Erachtens für die gesamte Metaphysik charakteristischen Zirkel von
Gründen und Begründen ableitete. Damit konnte er am Ende eines lan-
gen Weges den Eindruck haben, es habe sich ihm »in der Onto-Theo-
Logie die noch ungedachte Einheit des Wesens der Metaphysik ge-
zeigt«. 84
82
Ebd., S. 77.
83
Ebd.
84 Ebd., S. 63.
45
Grundtypen der Metaphysik
85
Ebd., S. 64.
86 Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 383. Siehe Philip Merlan, From
Platonism to Neoplatonism, Den Haag: Martinus Nijhoff 1954, und Joseph Owens, The
Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto: The Pontifical Institute of
Mediaeval Studies 1951.
87 Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 417, Anm.; vgl. S. 279 und S. 371.
46
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
88
Brague, Aristote et la question du monde, S. 110; Courtine, Les catégories de l’être,
S. 192.
89
Aristoteles, Metaphysik, Griechisch–Deutsch, griechischer Text in der Edition von
Wilhelm Christ, Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, 2 Bände, hg.
von Horst Seidl, Hamburg: Meiner 1989, 1991, Γ 2, 1004 b 6. Zitiert wird die deutsche
Übersetzung in dieser Ausgabe (unter Angabe der Bekker-Zahlen), aber auch die grie-
chischen Texteditionen von Werner Jaeger und von William David Ross werden berück-
sichtigt. Siehe Aristotelis Metaphysica, hg. Werner Jaeger, Oxford: Oxford University
Press 1957, und Aristotle’s Metaphysics, hg. von William David Ross, 2 Bände (mit
Kommentar), Oxford: Clarendon Press 1924.
90 Aristoteles, Metaphysik, Γ 1, 1003 a 21–22.
47
Grundtypen der Metaphysik
48
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
92
Ebd., Ε 1, 1026 a 13–16.
93
Ebd., Ε 1, 1026 a 19.
94 Ebd., Ζ 1, 1028 a 2–4.
95
Francisco Suárez, Disputationes metaphysicae [Opera omnia, Bd. 25 und Bd. 26], hg.
von Charles Berton, Paris: Vivès 1856–1861 (Nachdruck: Hildesheim: Olms 1965), pars
I, disp. I, sect. 2., art. 25. Vgl. Francisco Suárez, Disputes métaphysiques I–II–III, über-
setzt von Jean-Paul Coujou, Paris: Vrin 1998, S. 93.
49
Grundtypen der Metaphysik
garten hinein durchhält. In dieser Periode wird das Seiende als Seiendes
– unter dem Namen ens commune – als der Gegenstand einer metaphy-
sica generalis, das ausgezeichnete und erstrangige Seiende dagegen –
unter dem Namen ens summum oder auch primum – als der Gegen-
stand einer metaphysica specialis aufgefasst. Seit dem 17. Jahrhundert
wird die erste Disziplin auch als Ontologie bezeichnet; die zweite Unter-
suchungsrichtung trägt nach wie vor den Namen Theologie. So können
wir leicht den Eindruck haben, es liege in der aristotelischen Doppel-
bestimmung der Metaphysik bereits der Ursprung dessen, was Kant
unter dem Namen »Ontotheologie« bekämpfen wird. In Wahrheit ist
es jedoch abwegig, diese spätere Disziplinenteilung der Metaphysik auf
Aristoteles zurückzuprojizieren. 96
Es gilt vielmehr an dem festzuhalten, was wir im griechischen Text
selbst finden. Aristoteles scheint sich auf die Schwierigkeit einer Dop-
pelbestimmung der von ihm gesuchten Wissenschaft schon selbst zu
besinnen, indem er im ersten Kapitel des sechsten Buches der Metaphy-
sik die Frage stellt, »ob die erste Philosophie allgemein ist oder auf eine
einzelne Gattung und einzelne Natur geht«. 97 Nur dass seine Antwort
auf diese Frage rätselhaft bleibt. Wie er sagt, ist die Erste Philosophie
»eine allgemeine, insofern sie die erste ist […]«: καθόλου οὕτωϚ ὅτι
πρώτη. 98 Rätselhaft ist diese Antwort vor allem deshalb, weil sie nicht
deutlich macht, wie eine Betrachtung über das selbstständig existieren-
de, dabei aber unbewegliche Wesen zugleich eine allgemeine Sicht auf
das Seiende als Seiendes bestimmen könnte. Vielleicht wäre diese Ver-
bindung einleuchtender, wenn Aristoteles in dem von ihm im zwölften
Buch der Metaphysik beschriebenen Gott den Urheber des Seienden als
Seienden sähe. Dem Aristoteles ist aber die Idee eines Schöpfergottes
selbst in der Gestalt des platonischen Werkmeisters völlig fremd geblie-
ben. Zwar spricht er von einem »Ersten Beweger«, aber er lässt keinen
Zweifel darüber aufkommen, dass dieser Beweger nicht als wirkende
Ursache, sondern nur als Zweckursache – nämlich als Gegenstand der
Liebe oder des Begehrens – bewegt: κινεῖ δὲ ὡϚ ἐρώμενον. 99 Das ist der
Grund dafür, dass der aristotelischen Metaphysik eine ontotheologische
Verfassung im Sinne von Heidegger abgesprochen werden muss. Es
96
Siehe die Vorbehalte von Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 416 f.
97
Aristoteles, Metaphysik, Ε 1, 1026 a 24–25.
98
Ebd., Ε 1, 1026 a 30–31.
99 Ebd., Λ 7, 1072 b 3.
50
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
deutet sich zwar bei Aristoteles so etwas wie ein Kreislauf von Gründen
und Begründen an, aber dieser Kreislauf bleibt unabgeschlossen.
Diese Unabgeschlossenheit wird selbst von denjenigen bezeugt, die
Aristoteles im Licht späterer Metaphysikentwürfe betrachten. Owens
greift notgedrungen zu der Annahme, dass der uns überlieferte Text
der Metaphysik unvollständig sei: Nichts Geringeres fehle als gerade
die »Vollendung der Lehre«; 100 das Verhältnis zwischen dem ersten Sei-
enden und dem Seienden als Seiendem bedürfe ebendeshalb einer nach-
träglichen Rekonstruktion. 101 Merlan versucht, dem Text der aristote-
lischen Metaphysik ein »Ableitungssystem« abzugewinnen, 102 wie wir
es aus der platonischen und der neuplatonischen Tradition kennen. 103 Er
sieht sich jedoch darauf angewiesen, als Belegstellen Texte zu verwen-
den, in denen sich Aristoteles mit den Platonikern Speusippos und Xe-
nokrates auseinandersetzt. Die Versicherung, dass Aristoteles einen
ähnlichen Metaphysikentwurf im Sinne habe wie seine Schulgefährten
aus der Akademie, bleibt dabei unausgewiesen.
Aubenque setzt diesen Deutungsversuchen eine Auffassung ge-
genüber, die den Akzent auf den aporetischen Charakter des aristote-
lischen Denkens setzt.
100
Owens The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, S. 298.
101
Ebd., S. 289.
102
Merlan, From Platonism to Neoplatonism, S. 167 f.
103 Hans-Joachim Krämer, der den Ansatz von Philip Merlan weiterentwickelt, meint
bereits in der ungeschriebenen Lehre von Platon ein derartiges Ableitungssystem ent-
decken zu können. Siehe zum Beispiel: Hans-Joachim Krämer, »Die platonische Akade-
mie und das Problem einer systematischen Interpretation der Philosophie Platons«, in:
Kant-Studien 55 (1964), S. 69–101, hier: S. 88.
51
Grundtypen der Metaphysik
nicht auch als eine Denkschwierigkeit, als eine zentrale Aporie auf-
gefasst werden, die zwar keine endgültige Auflösung zulässt, aber
durchaus nach angemessenem Umgang und methodischer Behand-
lungsweise verlangt? Das ist die Frage, die sich Aubenque stellt. Er be-
tont, dass Aristoteles die Metaphysik in der Regel nur als die gesuchte
Wissenschaft erwähnt – und damit wohl eine niemals zum Abschluss
kommende Suche meint. So heißt es an einer – auch von Heidegger –
immer wieder zitierten Stelle: »Und die Frage, welche von alters her so
gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels
[ἀπορούμενον] ist, die Frage, was das Seiende ist, bedeutet nichts ande-
res als, was das Wesen ist.« 104
Die Metaphysik bei Aristoteles ist nach Aubenque weniger eine
wohletablierte Disziplin der Philosophie unter anderen Disziplinen als
vielmehr eine namenlos bleibende und immer nur gesuchte Wissen-
schaft, die sich um eine grundlegende Denkschwierigkeit dreht. Sie ent-
wickelt aber einen methodischen Umgang mit dieser Schwierigkeit: Sie
ringt ihr Fragen ab, die sie erörtern und auch beantworten kann, ohne
allerdings die zentrale Aporie damit restlos aufzulösen. Aubenque ver-
steht demnach die Metaphysik in ihrer ursprünglichen Form als eine
aporetische Wissenschaft; er greift auch das Aristoteleswort diapore-
matisch auf, 105 um den methodischen Charakter des aporetischen Vor-
gehens nur noch deutlicher hervorzuheben. 106
Brague und Courtine stützen sich auf die Ergebnisse von Auben-
ques Untersuchung, indem sie die Aporie von Allgemeinheit und Erst-
rangigkeit als die zentrale Grundstruktur der aristotelischen Metaphy-
sik bestimmen. Sie wählen die griechischen Termini, die der Text des
Aristoteles zur Bezeichnung der genannten Denkschwierigkeit anbietet
(katholou für »allgemein« und protologisch für »ersttheoretisch«), um
diese Grundstruktur begrifflich festzulegen.
Aubenque wartet auch mit einer Erklärung für den notwendig
aporetischen Charakter der aristotelischen Metaphysik auf. Diese Erklä-
rung hängt damit zusammen, dass Aristoteles die von ihm gesuchte
104
Aristoteles, Metaphysik, Z 1, 1028 b 1–3.
105
Ebd., B 1, 995 a 24–995 b 4 (Zusammenhang von ἀπορεῖν, διαπορεῖν und εὐπο-
ρεῖν).
106
Siehe dazu Pierre Aubenque, »Sur la notion aristotélicienne d’aporie«, in: Suzanne
Mansion (Hg.), Aristote et les problèmes de méthode. Communications présentées au
Symposium Aristotelicum tenu à Louvain du 24 août au 1er septembre 1960, Louvain-
la-Neuve: Centre de Wulf-Mansion 21980 (11961), S. 3–19.
52
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
107
Ebd., A 2, 982 b 8–9.
108
Ebd., A 2, 983 a 6–10.
109 Ebd., A 2, 982 b 28–29.
53
Grundtypen der Metaphysik
110
Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 410.
111 Ebd., S. 372.
54
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
55
Grundtypen der Metaphysik
erkennbaren Dinge nach der Physik an die Reihe komme und in diesem
nicht mehr »bibliothekarischen«, sondern »taktischen« – weil durch die
Ordnung (τάξιϚ) der Erkennbarkeit bestimmten – Sinne als Postphysik
zu verstehen sei. Courtine sieht aber deutlich, dass die so verstandene
Postphysik notwendig eine Transphysik voraussetzt. In der Tat ist die
Metaphysik in der Ordnung der an sich am leichtesten erkennbaren
Dinge nach Alexander – wie auch nach Aubenque – eine Theorie des
ersten Seienden und der ersten Gründe, also eine Weisheit im Sinne
einer göttlichen Wissenschaft vom Göttlichen. Damit werden aber Phy-
sik und Metaphysik bei Alexander – und auch bei Aubenque – anders
voneinander unterschieden als bei Aristoteles selbst. Auch Aristoteles
trennt zwar im sechsten Buch (E) der Metaphysik die Erste Philosophie
als Theologie von der Physik als Zweiter Philosophie, und auch er
schreibt schon der so verstandenen Ersten Philosophie eine gewisse All-
gemeinheit zu. Aber die Identität der Allgemeinheit der Ersten Philoso-
phie mit der Allgemeinheit der namenlosen und unablässig gesuchten
Wissenschaft, von der im vierten Buch (Γ) der Metaphysik ausdrück-
lich die Rede ist und zu der die meisten Untersuchungen der Schriften-
sammlung Beiträge leisten, bleibt bei Aristoteles selbst fragwürdig. Da-
rin liegt gerade die zentrale Aporie der aristotelischen Metaphysik, die
Aubenque so meisterhaft nachgezeichnet hatte und der Brague und
Courtine dann durch den Begriff einer katholou-protologischen Grund-
struktur Rechnung trugen. Alexander von Aphrodisias setzt jedoch die
Erste Philosophie mit der gesuchten Wissenschaft von vornherein
gleich. Damit theologisiert er die aristotelische Metaphysik an einem
entscheidenden Punkt. 113 Aubenque selbst bleibt vor dem Einwand
einer Theologisierung der aristotelischen Metaphysik nur deshalb be-
wahrt, weil er von einer uns unmöglichen Theologie spricht.
Alexander von Aphrodisias steht mit dieser Auffassung am Beginn
eines Prozesses, der die gesamte Spätantike umfasst und dann – nach
einer langen Pause – erst in der mittelalterlichen Hochscholastik zur
Vollendung gelangt. Das Endergebnis dieses Prozesses ist eine Meta-
physik, der unzweifelhaft eine ontotheologische Verfassung im Sinne
von Heidegger zukommt. Courtine verschreibt sich der Forschungs-
hypothese, dass diese mehr als ein Jahrtausend lang dauernde Heraus-
bildung der Ontotheologie mit der »Erfindung der Analogie als Ana-
56
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
114
Ebd., S. 204.
115
Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der
Kraft [Gesamtausgabe, Bd. 33], Freiburger Vorlesung, Sommersemster 1931, hg. von
Heinrich Hüni, Frankfurt am Main: Klostermann 21990 (11981), S. 42–48.
116
Ebd., S. 46.
117
Pierre Aubenque, »Les origines de la doctrine de l’analogie de l’être. Sur l’histoire
d’un contresens«, in: Les études philosophiques, 1/1978, S. 3–12.
118 Siehe den Aufsatz »La critique heideggérienne de l’analogia entis«, in: Courtine, Les
57
Grundtypen der Metaphysik
1. Zunächst ist alles, was zu einer der Kategorien gehört, ein Seien-
des, gleichviel, ob es ein selbstständig existierendes Wesen (»Sub-
stanz«) ist oder etwas an einem selbstständig existierenden Wesen
nur Mitvorhandenes wie etwa eine Qualität, eine Quantität, eine
Relation, ein Ort oder eine Zeit, ein Tun oder ein Erleiden, eine
Haltung oder auch eine Lage.
2. Aber damit ist die Bedeutungsvielfalt des Seienden keineswegs er-
schöpft. Das Seiende umfasst ebenso das dem Vermögen nach und
das der wirklichen Tätigkeit nach Seiende.
3. Mit dem Seienden kann darüber hinaus das Wahre, Wahrseiende
gemeint sein; das Falsche gilt dann als das Nicht-Seiende.
4. Ein Seiendes ist selbst noch das Zufällige (das »Akzidentelle« im
Sinne des sich gerade so und so Ergebenden; zufällig in diesem
Sinne ist zum Beispiel, dass ein Weißhaariger gebildet – und nicht
vielmehr ungebildet – ist).
121
Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1003 a 33.
122
Zur folgenden Auflistung siehe ebd., E 2, 1026 a 33–1026 b 2.
123
Ebd., Γ 2, 1003 a 33–34.
124 Ebd., Γ 2, 1003 b 6–10.
58
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
59
Grundtypen der Metaphysik
und Mensch […], und das Eine ist nicht etwas verschiedenes außer dem
Seienden.« 129 Gehört Seiendes zu jeder Kategorie, so trifft dasselbe auch
auf das Eine zu: Eines ist in jeder Kategorie zu finden. Daher ist nicht
nur das Seiende, sondern auch das Eine transkategorial; es übersteigt
die Kategorien und ist ebendeshalb, genau so wie das Seiende, trans-
zendent(al).
Im dritten Buch (B) der Metaphysik führt Aristoteles auch ein
gesondertes Argument an, um deutlich zu machen, dass weder das Sei-
ende noch das Eine Gattung sein kann. »[…] die Artunterschiede jeder
Gattung müssen notwendig sein, und jeder muß einer sein; unmöglich
aber können die Arten einer Gattung von den zugehörigen Artunter-
schieden, noch die Gattung, abgesehen von ihren Arten, von den Art-
unterschieden ausgesagt werden, woraus sich ergibt, daß, sofern das
Eine und das Seiende Gattungen sind, kein Artunterschied ein Seiendes
oder ein Eines sein kann.« 130 Aristoteles stützt sich hier auf den – an
anderer Stelle 131 näher begründeten – Gedanken, dass weder die Art
noch die Gattung vom Artunterschied – oder artbildenden Unterschied
– ausgesagt werden kann; so kann zum Beispiel weder die Art
»Mensch« noch die Gattung »Lebewesen« vom Artunterschied »ver-
nünftig« ausgesagt werden. In der Tat kann zum Beispiel die Behaup-
tung »Vernünftig – oder das Vernünftige, also das, was vernünftig ist –
ist (der) Mensch« nicht einwandfrei aufgestellt werden, weil der Art-
unterschied »vernünftig« umfangweiter ist als die Art »Mensch« (auch
andere Lebewesen, zum Beispiel Götter, können vernünftig sein). Aber
auch die Aussage »Vernünftig – oder das Vernünftige, also das, was
vernünftig ist – ist (das) Lebewesen« muss als unrichtig angesehen wer-
den – zumindest wenn der Artunterschied »vernünftig« unabhängig
von den Arten der Gattung »Lebewesen« gebraucht wird und nicht ein-
fach zu einer (etwas unbeholfenen) Bezeichnung einer dieser Arten
dient –, weil sie den Anschein erweckt, als sei der artbildende Unter-
schied »vernünftig« selbst nur eine Art der Gattung »Lebewesen«. Das
Seiende und das Eine müssen aber jedem denkbaren Artunterschied
60
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
zukommen; sie können daher keine Arten und auch keine Gattungen
sein. Sie erweisen sich vielmehr als transgenerisch.
Aus diesem wichtigen Unterschied zu Platons Lehre vom Seienden
im Sophistes ergibt sich jedoch eine Grundschwierigkeit, die dem aris-
totelischen Ansatz eigentümlich ist: Die Bedeutungseinheit des Seien-
den ist nicht nur von jeder bloßen Namensgleichheit (Homonymie) zu
trennen, sondern sie drückt auch nicht etwa eine Gattungsgleichheit des
Bezeichneten aus (beruht also auch nicht auf Synonymie im Sinne der
aristotelischen Schrift über die Kategorien). 132 Da »Homonymie« im
mittelalterlichen Latein später als aequivocatio, »Synonymie« dagegen
als univocatio oder auch als univocitas wiedergegeben wurde, können
wir auch behaupten, dass Aristoteles – im Gegensatz zu dem (allerdings
erst noch tastenden) Versuch von Platon im Sophistes – die Univozität
des Seienden bestreitet oder auch entschieden leugnet. Gibt es jedoch
ein Drittes zwischen Homonymie und Synonymie, aequivocatio und
univocatio? Gibt es eine transgenerische Einheit, die sich doch von einer
bloßen Namensgleichheit unverwechselbar unterscheidet?
Deutet etwa die »Beziehung auf Eines und eine einzige Natur« ein
derartiges Drittes an? Aristoteles führt auch zwei – in der Tradition
immer wieder neu erörterte – Beispiele an, um diese (»fokale«) Verbin-
dungsart zu kennzeichnen: Demnach wird »alles, was gesund genannt
wird, auf Gesundheit hin ausgesagt […], indem es dieselbe erhält oder
hervorbringt, oder ein Anzeichen derselben, oder sie aufzunehmen fä-
hig ist«; 133 auf ähnliche Weise heißt etwas »ärztlich« auch nur »in Be-
ziehung auf die Arzneikunde, entweder weil es die Arzneikunde besitzt
oder zu ihr wohl befähigt oder ein Werk derselben ist […].« 134 Aber
diese Beispiele können für sich allein eine begriffliche Untersuchung
über die transgenerische Bedeutungseinheit des Seienden nicht erset-
zen. Indes führt Aristoteles eine derartige Untersuchung nicht durch;
er sagt nirgendwo, in welchem Sinne die »Beziehung auf Eines und eine
einzige Natur« ein Drittes zwischen Homonymie und Synonymie be-
stimmen könnte und sollte. Er begnügt sich damit, das Verhältnis des
132
Aristoteles, Categoriae et Liber de interpretatione, cap. 1, 1 a 6–12, hg. von L. Minio-
Paluello, Oxford: Oxford University Press 1947; dt. Die Kategorien, griechisch–deutsche
zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Ingo W. Rath, Stuttgart: Reclam 1998, Kap. 1,
S. 6 f.
133
Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1003 a 34–1003 b 1.
134 Ebd., Γ 2, 1003 b 1–3.
61
Grundtypen der Metaphysik
135
Ebd., Z 5, 1031 a 1–14.
136
Ebd., H 2, 1042 b 10–11.
137 Aristoteles, Metaphysik, Δ 6, 1016 b 31–35.
62
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
138
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [Commentaria
in Aristotelem Graeca (weiterhin abgekürzt als »CAG«), 23 Bände, Berlin: Georg Reimer
1882–1909, Bd. I], hg. von Michael Hayduck, Berlin: Georg Reimer 1891, S. 244, Zeilen
15–20; vgl. Alexander of Aphrodisias, On Aristotle Metaphysics 4, übersetzt von Arthur
Madigan, London: Duckworth 1993, S. 18.
139
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1004 a 25: »[…] πάντα πρὸϚ τὸ πρῶτον ἀναφέ-
ρεται […]«.
140
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [CAG, Bd. I],
S. 245, Zeilen 3–5; eng. S. 19.
63
Grundtypen der Metaphysik
ersten Seienden erhält jedes andere Seiende ein Sein, das »seinem We-
sen, seiner Aufnahmefähigkeit, seiner Empfangsbereitschaft« gemäß
ist. 141 Von einer Analogie des Seins ist dabei noch nicht ausdrücklich
die Rede, aber der Sache nach geht es bereits um eine Verhältnisgleich-
heit unter den Seienden: Das Sein des einen Seienden verhält sich zu
seinem eigenen Wesen so, wie sich das Sein des anderen Seienden zu
dessen Wesen verhält.
Diese Auffassung von der Bedeutungseinheit des Seienden ist be-
reits bei Alexander von Aphrodisias zugleich ein entscheidender Schritt
auf dem Weg zur Ontotheologie. Die ersttheoretische Interpretation des
Allgemeinen schließt den bei Aristoteles sich gerade eben andeutenden
Kreislauf von Gründen und Begründen beinahe schon ab. 142 Zwar ver-
steht Alexander von Aphrodisias unter dem ersten Seienden zunächst
nur das selbstständig existierende Wesen als solches. Aber er fasst dieses
erste Seiende bereits als »Grund und Ursache des Seins« (ἀρχή τε και
αἰτία τοῦ εἶναι) aller anderen Seienden auf. 143 Zur vollwertigen onto-
theologischen Verfassung fehlt nur noch eine Verbindung zwischen den
sinnlich wahrnehmbaren, beweglichen (veränderlichen), daher auch
vergänglichen Wesen (Substanzen) und dem übersinnlichen, unbeweg-
lichen, unvergänglichen Wesen (der göttlichen Substanz). Aristoteles
betrachtet den Unterschied zwischen dem Vergänglichen und dem Un-
vergänglichen nicht etwa als einen Gegensatz zwischen zwei Arten
einer gemeinsamen Gattung, sondern als einen Unterschied – oder auch
Gegensatz – zwischen zwei verschiedenen Gattungen. 144 Daher hat bei
Aristoteles die Bedeutungseinheit des Terminus »Wesen« (oder »Sub-
stanz«) ihrerseits auch schon einen transgenerischen Zug. Dieser Um-
stand ebnet den Weg zu einer Gleichsetzung von zwei verschiedenen
Verhältnissen. Vielleicht sollte man dabei statt von Gleichsetzung eher
nur von einer Angleichung sprechen: Das Verhältnis zwischen dem un-
vergänglichen Wesen und den vergänglichen Wesen wird dem Verhält-
nis zwischen dem selbstständig existierenden Wesen überhaupt und
den übrigen Kategorien sowie dem Vermögen und der wirklichen Tätig-
keit angeglichen. Diese Angleichung ist bei Alexander von Aphrodisias
64
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
gewiss noch keine vollendete Tatsache, aber wir finden bei ihm bereits
eine deutliche Parallele zwischen den beiden Verhältnissen. 145
Diese Parallele hat zugleich zur Folge, dass bei dem »Kommenta-
tor«, wie er in der Spätantike genannt wird, nicht allein die von Aristo-
teles gesuchte allgemeine Wissenschaft den Charakter einer Wissen-
schaft vom Ersten annimmt, sondern zugleich die von Aristoteles als
Theologie verstandene Erste Philosophie eine eigentümliche Allgemein-
heit erhält. Denn sie handelt nicht nur vom unbeweglichen und unver-
gänglichen Wesen, sondern auch von allen anderen Wesen, insofern das
Sein dieser Wesen vom ersten Wesen abhängig ist. 146 Durch diese Be-
tonung der eigentümlichen Allgemeinheitsdimension, die der aristote-
lischen Ersten Philosophie zukommt, bringt bereits Alexander von
Aphrodisias die »katholou-protologische Zirkularität« beinahe zur
Vollendung. 147
Courtine zeigt, wie die von Alexander von Aphrodisias begonnene
Arbeit besonders von den Ammonios-Schülern Asklepios von Tralleis
und Johannes Philoponos in der Spätantike weitergeführt wird. Ammo-
nios Hermeiou, der ungefähr von 440 bis 520 lebte, lernte bei Proklos in
Athen Philosophie, bevor er in Alexandrien seine Schule gegründet
hatte. 148 Asklepios von Tralleis stützt sich in seinem Metaphysik-Kom-
mentar nicht allein auf Alexander von Aphrodisias und Ammonios Her-
meiou, sondern auch auf den Lehrer von Proklos, Syrianos, der in sei-
nem eigenen Metaphysik-Kommentar die aristotelische »Beziehung
auf Eines und eine einzige Natur« bereits ganz in die Nähe der Syno-
nymie, also der Gattungsgemeinsamkeit gebracht hatte.149 Asklepios
von Tralleis hat das Verhältnis des übersinnlichen Wesens zu den sinn-
lich wahrnehmbaren Wesen dem Verhältnis des selbstständig existie-
renden Wesens überhaupt zu den übrigen Kategorien sowie zum Ver-
mögen und der wirklichen Tätigkeit bereits restlos angeglichen. Er
kennt nur noch ein »ausgezeichnetes Seiendes« (τὸ κυρίωϚ ὄν), das
145
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [CAG, Bd. I],
S. 266, Zeilen 8–14; eng. S. 45.
146
Ebd.
147
Courtine, Les catégories de l’être, S. 203 f.
148 Zu Ammonios Hermeiou und seiner Schule siehe Klaus Kremer, Der Metaphysik-
65
Grundtypen der Metaphysik
150
Asclepii Commentaria in Aristotelis Metaphysica [CAG, Bd. VI/2], hg. von Michael
Hayduck, Berlin: Georg Reimer 1888, S. 227, Zeilen 2–6.
151
Courtine, Les catégories de l’être, S. 208 f.
152 Johannes Philoponos: De aeternitate mundi – Über die Ewigkeit der Welt, griechisch–
deutsche zweisprachige Ausgabe, 5 Bände, übersetzt und eingeleitet von Clemens Schol-
ten, Turnhout: Brepols Publishers 2011, Fünfter Teilband, S. 1384 f. (Unter Berufung auf
die entsprechende Stelle in der Ausgabe von Hugo Rabe aus dem Jahre 1899 (S. 568,
Z. 9 f.), zitiert Courtine den Text in folgender Gestalt: τῇ τῶν ὄντων ἀναλογίᾳ).
66
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
153
Thomas von Aquin, De veritate, qu. 2, a. 11 [Quaestiones disputatae, Bd. I, Turin:
Marietti 1964], S, 51.
154
Alain de Libera, »Les sources gréco-arabes de la théorie médiévale de l’analogie de
l’être«, in: Les études philosophiques (3–4/1989), S. 319–346, und »Archéologie et re-
construction. Sur la méthode en histoire de la philosophie médiévale«, in: Un siècle de
philosophie 1900–2000, S. 552–587.
155
Harry Austryn Wolfson, »The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy
and Maimonides«, in: Harvard Theological Review 31 (1938), S. 151–173 (wieder abge-
druckt in: H. A. Wolfson, Studies in the History of Philosophy and Religion, hg. von
I. Twersky und Georges H. Williams, Cambridge (Mass.): Harvard University Press
1979).
156 Courtine, Inventio analogiae, S. 250–258.
67
Grundtypen der Metaphysik
157
Thomas von Aquin, In quattuor libros Sententiarum, liber I, dist. 3, qu. 1, a. 3 [Opera
omnia, hg. von Roberto Busa, Stuttgart und Bad Cannstatt: Frommann–Holzboog 1980,
Bd. I], S. 11.
158
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 44, a. 3, 5 Bände, Turin: Marietti und
London: Burns and Oates 1895, Bd. I, S. 302.
159
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 44, a. 1, Bd. I, S. 299; vgl. auch Thomas
von Aquin, Summa contra Gentiles, II, 15, Turin: Marietti und London: Burns and Oates
1901, S. 97–99.
160
Étienne Gilson, L’être et l’essence, Paris: Vrin 42000 (11948), S. 105 f. und 119.
161
Étienne Gilson, »Notes pour l’histoire de la cause efficiente«, in: Études Médiévales,
Paris: Vrin 1983, S. 167–191.
162 Courtine, Inventio analogiae, S. 281.
68
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
163
Ebd., S. 279 und S. 301. Vgl. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique,
S. 278 f. und S. 285 f.
164
Siehe Courtine, Inventio analogiae, S. 294–305.
165
Suárez, Disputationes metaphysicae, XXVIII, 3, 15. (Dieses Werk von Suárez wurde
im Jahre 1597 zum ersten Mal veröffentlicht.)
166
Thommaso de Vio (»Il Gaetano«), De nominum analogia, hg. von P. N. Zammit,
Rome: Institutum Angelicum 1952, Cap. II, § 8. (Diese kleine Abhandlung ist zum ersten
Mal im Jahre 1498 erschienen.)
167 Courtine, Inventio analogiae, S. 338.
69
Grundtypen der Metaphysik
dem Kardinal Gaetan. Dieser Gedanke zeugt aber bei beiden Autoren
von einem scotistischen Einfluss. 168 Wir werden sehen, dass auch die
ontotheologische Verfassung der Metaphysik erst unter den veränder-
ten Denkbedingungen zur Vollendung gelangt, die mit dem scotisti-
schen Neubeginn der Metaphysik vorherrschend werden.
Die Auseinandersetzung von Suárez mit dem Kardinal Gaetan
zeigt, wie sich die beiden Gegner gleichermaßen von Thomas von
Aquin entfernen. Die spätscholastische Lehre von der Analogie des
Seins in ihren beiden Hauptversionen (analogia attributionis intrinseca
vs. analogia attributionis extrinseca) ist ein Beispiel für ein »dunkles
Gesetz« 169 der Philosophiegeschichte: Sobald eine Idee vollständig ent-
faltet und festgelegt wird, so dass sie als ein fertig vorliegendes Lehr-
stück in einer Schultradition weitergegeben werden kann, büßt sie ihr
eigentliches Anregungspotential ein. Die Vorgeschichte dieser Lehre bei
den griechischen Aristoteles-Kommentatoren und ihre erste Ausarbei-
tung bei Thomas von Aquin macht dagegen deutlich, wie ein Gedanke
bereits eine, wie Courtine sagt, »topische« Wirkung entfalten kann,
bevor er als socher ausgesprochen, systematisch gegliedert und formel-
haft festgehalten wird. 170 Das Wort »topisch« verweist hier auf eine
»Topik« oder »Topologie«, die vermutlich im Sinne von Heideggers
»Topologie des Seyns« zu verstehen ist. 171 Es handelt sich dabei um eine
168
Ebd., S. 337. Im Falle des Kardinals Gaetan dürfte dieser Einfluss durch zeitgenössi-
sche Scotisten wie Antonius Trombetta vermittelt worden sein. Courtine hebt den Ein-
fluss von Duns Scotus auf Suárez hervor. Er beruft sich dabei auf die verwandten Be-
strebungen von Honnefelder (Scientia transcendens, S. 217–247) und von Walter
Hoeres (»Francis Suarez and the Teaching of John Duns Scot on Univocatio entis«, in:
John K. Ryan und Bernardine M. Bonansea (Hg.), John Duns Scotus 1265–1965, Wa-
shington: The Catholic University of America Press 1965, S. 263–290), aber er verweist
auch auf Rolf Darges Buch Suárez’ transzendentale Seinsauslegung und die Metaphy-
siktradition (Leiden und Boston: Brill 2004), in dem diese Interpretationsrichtung gerade
in Frage gestellt wird. Vgl. auch Rolf Darge, »Die Grundlegung einer allgemeinen Theo-
rie der transzendentalen Eigenschaften des Seienden bei F. Suárez«, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 54 (2000), S. 341–364.
169
Courtine, Les catégories de l’être, S. 211.
170
Ebd., S. 210.
171
Siehe Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens 1910–1976 [Gesamtaus-
gabe, Bd. 13], hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main: Klostermann 1983,
S. 84, ein Ausdruck, zu dem Otto Pöggeler – im Ausgang vom Motiv der »Erörterung«
in Unterwegs zur Sprache und anderen Texten – eine höchst eigenständige Interpreta-
tion vorgelegt hat. Siehe Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen,
Neske 21983 (11963), S. 280–299.
70
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
176
Ebd., S. 361.
177
Ebd., S. 13.
178
Emmanuel Levinas, »Humanisme et an-archie«, in: Humanisme de l’autre homme,
Paris: Fata Morgana 1972, S. 76; dt. Humanismus des anderen Menschen, übersetzt von
71
Grundtypen der Metaphysik
ter zieht Courtine nur die letzte Konsequenz aus dieser scharfsinnigen
Beobachtung, indem er das »Ende der Metaphysik« für beendet erklärt.
Der lange Weg zur Ontotheologie ist nicht der einzige Weg, der von der
Antike zum Mittelalter führt. Die bereits mit Parmenides und dann erst
recht mit Platon anhebende, aber von Plotin später in erheblichem Ma-
ße radikalisierte Besinnung auf das Eine steht am Ursprung einer Geis-
tesströmung, die sich der aristotelischen Tradition der Metaphysik –
trotz aller Verbindung oder sogar Verflechtung mit ihr – niemals restlos
einfügt. Die platonisch-plotinische Lehre vom Einen – die »Henologie«
– markiert einen Sonderweg, der in der Tradition – wie in Deutschland
besonders Werner Beierwaltes und seine Schüler darauf hingewiesen
haben – bis zu Schelling und Hegel immer wieder betreten wird. 179
Der Sonderwegcharakter der platonisch-plotinischen Henologie
hängt damit zusammen, dass das Eine in diesem Denkanasatz höher
gestellt ist als das Seiende als Seiendes. Am Ende des sechsten Buches
der Politeia spricht schon Platon davon, dass die Idee des Guten »jenseits
des Seins« (ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ) angesiedelt sei. 180 Aus Platons »un-
geschriebener Lehre«, mit der sich im vergangenen Jahrhundert von
Léon Robin und Julius Stenzel bis zu Hans Joachim Krämer, Konrad
Gaiser, Thomas Szlezák und Jens Halfwassen eine ganze Reihe hervor-
ragender Forscher eingehend beschäftigt hat, geht zugleich hervor, dass
hier das »Gute« vielleicht nur ein anderes Wort für die Bezeichnung des
»Einen« ist, dem – zusammen mit der »unbestimmten Zweiheit« (ἀό-
ριστοϚ δυάϚ) – in Platons prinzipientheoretischer Spekulation tatsäch-
lich die Hauptrolle zukommt. Nach den Forschungen von Hans-Joachim
Ludwig Wenzel, Hamburg: Meiner 1989, S. 64 (geänderte Übersetzung). Ich danke mei-
ner Mitarbeiterin, Frau Dr. Inga Römer, dafür, dass sie mich auf diese Stelle bei Levinas
aufmerksam gemacht hat.
179
Siehe Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main: Kloster-
mann 22004 (11972); ders., Identität und Differenz, Frankfurt am Main: Klostermann
2
2011 (11980); weiterhin Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Platonismus. Unter-
suchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und ge-
schichtlicher Deutung [Hegel-Studien, Beiheft 40], Hamburg: Meiner 2005.
180
Platon, Politeia, 509 b [Opera, Bd. IV] (= Res publica, hg. von Karl Friedrich Her-
mann, Leipzig: Teubner 1906, S. 199); dt. Der Staat, übersetzt von Karl Vretska, Stutt-
gart: Reclam 2003, S. 323.
72
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
Die Einsicht in die Jenseitigkeit des Einen gründet sich auf die Logik der
platonischen »Teilhaberelation« (μέθεξιϚ, μετοχή). Es lohnt sich, auf
diesen Zusammenhang kurz einzugehen, um deutlich zu machen, dass
die zentrale These der platonisch-plotinischen Henologie keineswegs
einfach aus einer geistigen Schau oder einer unio mystica erwächst,
sondern sich durchaus als Ergebnis vernünftig nachvollziehbarer Über-
legungen begreifen lässt.
Platon versteht unter einer »Idee« bekanntlich eine übersinnliche
Einheit »über« einer Vielheit sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen,
die – wie er sagt – an ihr »teilhaben«. Es gibt schöne Gesichter, aber es
gibt auch schöne Landschaften. Nach der platonischen Logik können
Gesichter und Landschaften deshalb trotz all ihrer Verschiedenheit glei-
chermaßen »schön« genannt werden, weil sie an der einzigen Idee des
Schönen teilhaben.
Dagegen wird diese Idee nicht aus demselben Grund als »schön« –
oder vielmehr als »das« Schöne – bezeichnet. Das »Selbstschöne« (τὸ
αὐτόκαλον), wie es in der platonischen Tradition heißt, ist seinerseits
nicht durch Teilhabe am Schönen schön, sondern weil es das Schöne
selbst ist. Der so genannten »Selbstprädikation« – also der Behauptung,
die Idee des Schönen sei schön, die Idee des Guten sei gut usw. –, die
nach dem Zeugnis des Platonischen Parmenides früh schon als Einwand
181
Vgl. Hans-Joachim Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, Amsterdam: Grüner
1967 (11964).
2
73
Grundtypen der Metaphysik
182
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer, Oxford: Ox-
ford University Press 1977], V 1, 4, 34–40; dt.: Ausgewählte Schriften, übersetzt von
Christian Tornau, Stuttgart: Reclam 2001, S. 88.
74
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
Vielfalt seiner Inhalte Eines sein, weil es zugleich an dem Einen selbst
teilhat. Ein Ganzes wird also immer nur durch Teilhabe als Eines be-
zeichnet. Dagegen wird das Eine als solches oder das Selbsteine (τὸ αὐ-
τόεν) keineswegs durch Teilhabe als Eines – oder vielmehr als »das«
Eine – charakterisiert; wie Plotin sagt: »nicht so, dass es noch etwas
anderes und außerdem eins ist«. 183 Ebendeshalb kann das Selbsteine
unmöglich als eine Einheit von Vielem – und daher auch nicht als Ganz-
heit, Gesamtheit oder Totalität – aufgefasst werden. Nach Plotin zieht
Platon in der Ersten Hypothese des Parmenides gerade diesen Schluss,
indem er dem Einen alle Vielheit abspricht.
Was das »Gute« betrifft, so ist es nur ein anderer Name für das
Eine: »So daß das Gute ihm [dem Einen] nicht erst zukommt – es ist es
ja selber.« 184 Das Eine wird als das »Gute« bezeichnet, wenn es nicht in
sich selbst, sondern nur in Bezug auf das aus ihm Hervorgehende und
daher nach ihm Kommende – das heißt in Bezug auf den Geist, die Seele
und die sinnlich wahrnehmbare Welt – betrachtet wird.
Aus diesen Überlegungen geht deutlich hervor, dass sich die Ein-
sicht in die Jenseitigkeit des Einen bei Plotin, ja, wohl auch schon bei
Platon, aus der Logik der Teilhaberelation ergibt: Wie etwa die Dividie-
rungsfunktion in der Arithmetik bei der Null eine Singularitätsstelle
hat, so hat die Teilhaberelation in der platonischen Logik eine Singula-
ritätsstelle beim Einen. Diese Singularitätsstelle ergibt sich nicht etwa
daraus, dass das Eine im Sinne der platonischen »Selbstprädikation«
von vornherein selbst als »Eines« bezeichnet wird und daher nicht mehr
als »Vieles« angesprochen werden kann. Eine solche Begründung wäre
im Sinne der platonischen Logik gar nicht stichhaltig. Denn ein Ganzes
wird auch als »Eines« bezeichnet, es kann aber gleichwohl zugleich als
»Vieles« angesprochen werden. Das trifft sogar auf den Geist zu, den
Plotin mit der Totalität des wahrhaft Seienden (der Gesamtheit der Ide-
enmannigfaltigkeit) gleichsetzt. Eine Singularitätsstelle der Teilhabe-
relation ergibt sich in der platonischen Logik vielmehr deshalb beim
Einen, weil das Selbsteine – im Gegensatz zu jedem Ganzen und aller
Gesamtheit oder Totalität – nicht durch Teilhabe am Einen »Eines«
heißt – »nicht so, dass es noch etwas anderes und außerdem eins ist« –,
183
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 5, 32–
33; dt. S. 69.
184
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 29–
30; dt. S. 71.
75
Grundtypen der Metaphysik
sondern weil es sich vom Einen selbst nicht unterscheidet, vielmehr mit
ihm restlos zusammenfällt. Diese Erkenntnis führt dazu, dass das
Selbsteine bereits bei Platon von allen anderen Ideen abgesondert und
als erster Anfang und Ursprung in einem »prinzipientheoretischen Ab-
leitungssystem«, wie man es seit Philip Merlans From Platonism to
Neoplatonism bezeichnet, angesiedelt wird.
Aber nicht Platon, sondern erst Plotin wird darauf aufmerksam,
dass infolgedessen dem Einen alle Bestimmtheit und jede eindeutig um-
rissene Gestalt notwendig abgeht, so dass es überhaupt nicht mehr als
»Idee« gelten kann, da »Idee (ἰδέα)« im platonischen Sprachgebrauch
nichts anderes bedeutet als eben nur »Form (εἶδοϚ)«. Dagegen wird das
Eine in den Enneaden ausdrücklich als »formlos (ἀνείδεον)« angespro-
chen, wenn freilich auch nicht in demselben Sinne wie die Materie, die
deshalb formlos ist, weil es ihr an Form mangelt, wogegen das Eine als
der Ursprung von Form und Gestalt zu gelten hat. 185 Besonders tief-
sinnig sind die Betrachtungen, die Plotin in seinem Werk der Form-
losigkeit des Einen widmet. 186 Sie verbinden sich mit dem Gedanken,
dass das Eine, so wie es jenseits des Seins angesiedelt ist, »unendlich«
ist. 187 Freilich wird das Eine wiederum nicht in demselben Sinne als
»unendlich« (ἄπειρον) angesprochen wie die Materie, die nur deshalb
nicht endlich ist, weil sie jeglicher Bestimmtheit und Begrenzung (πέ-
ραϚ) bar und beraubt ist. Die Unendlichkeit des Einen wird dagegen
nicht als Mangel an allem bestimmten und begrenzten Sein, sondern
als Überschuss gegenüber der Seinstotalität – und auch nur in Abhe-
bung von ihr – greifbar. Wir wollen das so verstandene Unendliche – im
Gegensatz zum »Privativ-Unendlichen« der Materie – als das »Diakri-
tisch-Unendliche« bezeichnen. Zum ersten Mal in der gesamten Tradi-
tion kommt damit bei Plotin die Einsicht in den Unterschied zwischen
Unendlichkeit und Seinstotalität auf.
Es ist daher kein Wunder, wenn in der platonisch-plotinischen He-
nologie immer wieder eine Alternative zu aller Seinsmetaphysik ge-
sehen wird. Auch im französischen Forschungskontext der letzten Jahr-
zehnte ist das der Fall.
185
Siehe Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 7,
32, 9–10; dt. S. 292 f.
186
Vgl. Plotinus, Enn., [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 7,
32–36 und VI, 9, 7; dt. S. 292–300 und S. 72–74.
187
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–
12; V 5, 10, 22–11, 5; VI 5, 9, 36–37 und 12, 5; dt. S. 70; S. 201 f.; S. 137.
76
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
Pierre Aubenque geht in einem Vortragtext aus dem Jahre 1969 so weit,
die Henologie nicht allein als eine Ȇberwindung der klassischen grie-
chischen Ontologie« aufzufassen, sondern sogar der ontotheologischen
Verfassung der Metaphysik gegenüberzustellen. 188 Aristoteles habe – so
meint er – seine Betrachtungen über das Seiende als Seiendes auf eine
Theorie des selbstständig existierenden Wesens, der »Substanz« (οὐ-
σία) zugespitzt und sei dabei von vornherein dazu geneigt gewesen,
als Substanz in erster Linie das beharrliche »Substrat« (ὑποκείμενον)
von Veränderungen gelten zu lassen. 189 Er habe damit – sagt Aubenque
im Anschluss an Heidegger – die bereits in ihrer Geltung eingeschränk-
te Substanzmetaphysik (die »Ousiologie«) durch eine weitere Ein-
schränkung in eine Lehre von der »ständigen Anwesenheit« oder »Ge-
genwärtigkeit« (also in eine »Parousiologie«) verwandelt und sei damit
vom uneingeschränkten Allgemeinheitsanspruch seiner Besinnung auf
das Seiende als Seiendes abgekommen. 190 Dieser Tendenz trete nun die
plotinische Henologie entgegen, indem sie die platonische Denkfigur
ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ aufgreift und das Eine dem substantiellen Sub-
stratsein gegenüberstellt. 191
In diesem Vortragstext stützt sich Aubenque bereits auf ein For-
schungsergebnis von Pierre Hadot, der in einem anonymen – von ihm
selbst aber dem Porphyrios zugeschriebenen – Kommentar über Platons
Parmenides eine deutliche Unterscheidung zwischen dem (sprachlich
durch den substantivierten Infinitiv τὸ εἶναι ausgedrückten) Seinsvor-
gang oder Seinsvollzug (αὐτὸ τὸ ἐνεργεῖν καθαρόν, […] αὐτὸ τὸ εἶ-
ναι τὸ πρὸ τοῦ ὄντοϚ) und dem Sein oder der Seiendheit des substan-
tiellen Seienden (οὐσία) entdeckt hat. 192 Diese Unterscheidung wurde
übrigens, wie Hadot ebenfalls gezeigt hat, von Marius Victorinus in
188
Pierre Aubenque, »Plotin et le dépassement de l’ontologie grecque«, in: Le néoplato-
nisme, Colloque international du CNRS, Paris: Éditions du CNRS 1971, S. 101–109,
hier: S. 104.
189 Ebd., S. 103 (unter Berufung auf Aristoteles, Metaphysica, Z 3, 1029 a 1).
190
Ebd., S. 104.
191
Ebd., S. 101 f.
192
Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus, Paris: Études Augustiniennes 1968, Bd. II,
S. 104.
77
Grundtypen der Metaphysik
193 Siehe Boethius, Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint cum non sint sub-
stantialia bona (= De hebdomadibus), in: The Theological Tractates, Loeb Classical Li-
brary, hg. von H. F. Stewart und E. K. Rand, Cambridge (Mass.) und London: Harvard
University Press 1918, S. 38–51. Diese Schrift dreht sich um eine Unterscheidung zwi-
schen dem »Sein selbst (ipsum esse)« und »dem, was ist (id, quod est)«.
194
Siehe Pierre Hadot, Plotin, Porphyre. Études néoplatoniciennes, Paris: Les belles let-
tres 2000, S. 81 und 121 f. Vgl. Pierre Hadot, »Forma essendi. Interprétation philologique
et interprétation philosophique d’une formule de Boèce«, in: Les Études classiques 38
(1970), S. 143–156.
195 Hadot, Plotin, Porphyre. Études néoplatoniciennes, S. 81 f.
196
Im Umkreis von Werner Beierwaltes wurde dies auch in Deutschland oft betont.
Siehe etwa Christoph Horn, Plotin über Sein, Zahl und Einheit. Eine Studie zu den
systematischen Grundlagen der Enneaden, Stuttgart und Leipzig: Teubner 1995, S. 13 f.
197 Pierre Aubenque, »Plotin et le dépassement de l’ontologie grecque«, S. 107 f.
78
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
198
Reiner Schürmann, »L’hénologie comme dépassement de la métaphysique«, in: Les
études philosophiques 3/1982, S. 331–350.
199
Ebd., S. 335.
200
Vgl. ebd., S. 334.
201
Ebd., S. 337.
202 Ebd., S. 338 f.
79
Grundtypen der Metaphysik
abgekartete Spiel zwischen dem, was Erstes ist, und dem, was als Grund
fungiert.« 203 Damit schien er das gesamte »Ableitungssystem« in Frage
zu stellen, innerhalb dessen sich die Henologie als Prinzipientheorie
von Anfang an bewegt hatte.
Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit diesem gedankenrei-
chen, aber unleugbar verstiegenen Unterfangen ließ gleichwohl eine
Zeit lang auf sich warten. Schließlich unterzog der kanadische Forscher
Jean-Marc Narbonne, heute Professor an der Université Laval in Qué-
bec, damals gerade Humboldt-Stipendiat bei Werner Beierwaltes in
München, Schürmanns Thesen am Ende der 1990er Jahre einer einge-
henden, aber umsichtigen und keineswegs verständnislosen Kritik. Er
veröffentlichte zunächst einen Aufsatz über dieses Thema, 204 um dann
den gesamten zweiten Teil seines Buches Hénologie, ontologie et Ereig-
nis den Grundfragen zu widmen, die aus seiner Auseinandersetzung
mit Schürmann erwachsen waren. 205 Auch in seiner späteren Abhand-
lung Lévinas et l’héritage grec kam er auf manche Probleme zurück, die
mit diesen Grundfragen zusammenhingen. 206
Wie es nicht anders geschehen konnte, gelangte er zur Einsicht,
dass die platonisch-plotinische Henologie keine Überwindung der Me-
taphysik als solcher anzeigt, sondern vielmehr selbst nur Metaphysik –
wenn keine Seinsmetaphysik, so doch eine »Einheitsmetaphysik« 207 –
ist, die das Erste durchaus als Uranfang eines umfassenden Begrün-
dungszusammenhangs und damit als »Grund« oder »Anfangsgrund«
(ἀρχή) ansetzt. 208 Ähnlich wie Brague und Courtine der aristotelischen
Metaphysik schrieb er der platonisch-plotinischen Einheitsmetaphysik
80
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
209
Narbonne, Hénologie, ontologie et Ereignis (Plotin–Proclus–Heidegger), S. 244–277.
210
Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 165.
211
Schürmann, »L’hénologie comme dépassement de la métaphysique«, S. 335.
212 Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 164.
213
Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologi-
schen Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel: Verlag für Recht und Gesell-
schaft 1955, S. 59 f.
214 Pierre Hadot, »Heidegger et Plotin«, in: Critique 145 (1959), S. 539–556.
81
Grundtypen der Metaphysik
Vordergrund stellt 215 und die henologische Differenz als einen Unter-
schied zwischen Unendlichkeit und Seinstotalität zu begreifen sucht. Er
knüpft damit an einen Gedankengang von John Rist an. 216 Narbonne
betont, dass Plotin mit dem Unendlichen keineswegs etwa das Unbe-
stimmt-Unbegrenzte (l’indéfini) meint, sondern durchaus das Positiv-
Unendliche (le positivement infini) erfasst. 217 Zugleich hebt er hervor,
dass dieses Positiv-Unendliche für Plotin kein Gott ist. 218 Es heißt ja an
einer Schlüsselstelle der Enneaden, die der gegenwärtigen Abhandlung
als Motto vorangestellt wurde: »Man muss ihn [sc. den Uranfang] auch
als unendlich auffassen […]. Denn wenn Du ihn dir als Geist oder Gott
denkst, ist er mehr […].« 219 Narbonne setzt noch hinzu: »In der Sprache
von Levinas könnte man sagen: Das Unendliche durchbricht hier end-
gültig den Horizont der Totalität.« 220
Dieser Hinweis auf Levinas sollte keineswegs den Verdacht er-
regen, Narbonne verstehe Plotin genauso nur von einem zeitgenössi-
schen Denker her, wie Schürmann ihn von Heidegger her zu verstehen
suchte. Denn in der Abhandlung Lévinas et l’héritage grec stellt Nar-
bonne die Unterschiede zwischen Plotin und Levinas in aller Deut-
lichkeit heraus. Er macht insbesondere darauf aufmerksam, dass »das
(neu-)platonische Jenseits des Seins kein anders als Sein geschieht
ist«, 221 dass also Levinas einen ganz anderen »Transzendenztyp« im
Auge hat als Plotin. 222
Aber mit seiner eigentümlichen Anknüpfung an Platon hat Plotin
eine Geistesströmung in der Tradition begründet, deren Auswirkungen
selbst heute noch spürbar sind. Levinas ist ein Denker in unserem Zeit-
alter, der von der Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ auf eine besonders ori-
215 Vgl. Wayne Hankey, Cent ans de néoplatonisme en France. Une brève histoire phi-
losophique, in: Jean-Marc Narbonne, Lévinas et l’héritage grec, suivi par Wayne Hankey,
Cents ans de néoplatonisme en France. Une brève histoire philosophique, traduit de
l’anglais par Martin Achard et Jean-Marc Narbonne [Collection Zétésis], Paris und Qé-
bec: Vrin und Presses de l’Université Laval 2004, S. 123–258, hier: S. 251.
216
John M. Rist, The Road to Reality, Cambridge: Cambridge University Press 1967,
S. 24 f.
217
Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 165.
218
Ebd., S. 166.
219 Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–
82
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur
223
Raimund Klibansky, The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle
Ages, London: Warburg Institute 1939.
83
Grundtypen der Metaphysik
224
Alain de Libera, La philosophie médiévale, Bücherreihe »Que sais-je ?«, Paris: PUF
2
1992 (11988), S. 72 f.; dt.: Die mittelalterliche Philosophie, übersetzt von Therese Schwa-
ger, München: Fink 2005, S. 80 f.
84
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
ger Fassung erschien, 225 deutlich gezeigt. Der Gedanke, dass Duns Sco-
tus eine Wende in der Geschichte der Metaphysik herbeigeführt hat,
setzte sich in den letzten Jahrzehnten vollends durch. Die von Carolus
Balić seit dem Anfang der 1950er Jahre geleitete Werkedition spielte in
diesem Prozess eine grundlegende Rolle. Die jahrzehntelange Arbeit an
der Editio Vaticana führte zu bedeutsamen Ergebnissen: Nennenswert
ist nicht allein die kritische Ausgabe der Grundtexte (besonders des
Hauptwerks, der Ordinatio, früher auch als Opus Oxoniense bezeich-
net), sondern auch die Entdeckung bis dahin nicht veröffentlichter au-
thentischer Werke (Lectura, Reportatio Parisiana examinata) sowie die
Entfernung inauthentischer Schriften aus dem Textkorpus des Autors.
Im Jubiläumsjahr 1965 erschien ein englischsprachiger Sammelband, 226
der mit Beiträgen von so ausgezeichneten Philosophiehistorikern wie
Allan B. Wolter, Walter Hoeres und anderen gleichsam den Auftakt
zur Neuorientierung der Scotus-Forschung gab. In früheren Zeiten
ging es oft nur darum, die franziskanische Tradition gegen den damals
vorherrschenden Neothomismus zu verteidigen oder die Verträglich-
keit beider Richtungen miteinander herauszustellen. 227 Gewiss bleibt
der Unterschied zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus auch
für die neueren Untersuchungen grundlegend, aber die Gegenüberstel-
lung der beiden Denker ist nunmehr von keinem apologetischen Inte-
resse getragen. In der neuorientierten Forschung wird seit der Habilita-
tionschrift von Albert Zimmermann, die unter dem Titel Ontologie
oder Metaphysik? im Jahre 1965 zum ersten Mal veröffentlicht wur-
de, 228 der Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik in der Scho-
lastik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In dieser Diskussion war
aber der eigentliche Gegner – oder auch Dialogpartner – von Duns Sco-
tus, wie übrigens schon Gilson bemerkte, 229 gar nicht Thomas von
225
Étienne Gilson, Being and Some Philosophers, Toronto: Pontifical Institute of Medie-
val Studies 21952 (11949).
226
John K. Ryan und Bernardine M. Bonansea (Hg.), John Duns Scotus 1265–1965,
Washington: The Catholic University of America Press 1965.
227
Vgl. dazu Ludger Honnefelder, »Metaphysik und Ethik bei Johannes Duns Scotus:
Forschungsergebnisse und –Perspektiven. Eine Einführung«, in: Ludger Honnefelder,
Rega Wood und Mechthild Dreyer (Hg.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics,
Leiden, New York und Köln: Brill 1996, S. 1–33, hier S. 4 f.
228
Albert Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegen-
stand der Metaphysik im 13. Und 14. Jahrhundert, Köln und Leiden: Brill 1965.
229
Étienne Gilson, Jean Duns Scot. Introductions à ses positions fondamentales, Paris:
Vrin 21962 (11952), S. 10; dt. Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken
85
Grundtypen der Metaphysik
Aquin, sondern vor allem Heinrich von Gent, der doctor solemnis, der
an der in erster Linie von Duns Scotus herbeigeführten Umwälzung der
Metaphysik bereits als Wegbereiter beteiligt war. 230
Neben Honnefelders Arbeiten trugen wohl Courtines Unter-
suchungen das Meiste dazu bei, die scotistische Revolution der Meta-
physik in ihrer ganzen Tragweite zu beleuchten. In seinem Suárez-Buch
setzte sich der französische Forscher zum Zweck, den »Augenblick Suá-
rez« in einer historischen Formation der Metaphysik zu »situieren«, 231
die sich von Duns Scotus durch den lutheranisch inspirierten Deutsch-
Aristotelismus des 17. Jahrhunderts hindurch bis zu Wolff und Baum-
garten erstreckte. Damit führte er das von Gilson in L’être et l’essence
skizzierte Forschungsvorhaben in seiner ganzen Breite weiter. Die von
Gilson stammende Charakterisierung der Lehre von Duns Scotus und
seiner Nachfolger als »Essentialismus« betrachtete er jedoch mit Vor-
behalten; er fand die sich im Gefolge von Gilson immer mehr verbrei-
tende Gegenüberstellung von »Philosophien des Daseins« (philosophies
de l’existence) und »Philosophien des Wesens« (philosophies de l’essen-
ce) »zu bequem«, »zu kurz greifend«, ja sogar »trügerisch«. 232 Deshalb
versuchte er neue Grundzüge der von Duns Scotus und Suárez gepräg-
ten Gestalt der Metaphysik herauszustellen, ohne sie allerdings in einer
griffigen Formel zusammenzufassen, die an die Stelle von Gilsons »Es-
sentialismus« hätte treten können.
Olivier Boulnois sieht sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
dazu genötigt, in dieser Richtung um der typologischen Präzision wil-
len einen weiteren Schritt zu tun. Im Anschluss an Brague und Courti-
ne geht er davon aus, dass die aristotelische Metaphysik durch die ka-
tholou-protologische Grundstruktur gekennzeichnet werden kann.
Ebenfalls im Einvernehmen mit Courtine 233 und zugleich im Einklang
mit Marion 234 versucht er zu zeigen, dass diese Struktur selbst noch bei
seiner Lehre, übersetzt von Werner Detloff, Düsseldorf: Schwann 1959, S. 10 f. Vgl. Oli-
vier Boulnois, »Analogie et univocité selon Duns Scot: la double déstruction«, in: Les
études philosophiques 3–4/1989, S. 347–369, hier: S. 348.
230
Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und
Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert«, S. 177.
231 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 5; vgl. S. 406.
232
Ebd., S. 379; vgl. S. 187–189 und S. 287.
233
Ebd., S. 75–99.
234
Jean-Luc Marion, »Saint Thomas d’Aquin et l’ontothéologie«, in: Revue Thomiste,
Band XCI/1 (1995): Saint Thomas et l’ontothéologie, S. 31–66.
86
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
Thomas von Aquin in voller Geltung bleibt. Erst die nächste Generation
der Hochscholastik erarbeitet seiner Meinung nach einen neuen Grund-
typ der Metaphysik, der sich zugleich mit einer ontotheologischen Ver-
fassung in vollem Sinne des Wortes verbindet. Der einflussreichste
Denker dieser Generation ist in der Tat kein anderer als eben Johannes
Duns Scotus, wenn auch Denker wie Siger von Brabant oder Heinrich
von Gent und andere 235 an der Erneuerung der von Aristoteles geerbten
Disziplin auf ihre Weise beteiligt sind. Im abschließenden Teil seines
Buches Être et représentation und in verschiedenen Aufsätzen macht
es sich Boulnois nun zur Aufgabe, sich einen Weg zur umfassenden
Charakterisierung des neu aufkommenden Grundtyps anzubahnen, so
wie dieser die Forschungsrichtung und den Aufbau der Metaphysik
über Suárez bis zu Wolff und Baumgarten bestimmen sollte. Wir wol-
len ihm nun auf diesem Weg ein Stück weit folgen. Zuvor werfen wir
jedoch einen Blick auf Thomas von Aquin.
Der Gegenstand der Metaphysik ist nach Thomas von Aquin das Seien-
de im Allgemeinen (ens commune). Es handelt sich dabei allerdings nur
um das endliche und geschaffene Seiende. Das Sein Gottes bleibt dage-
gen dem Verstand unzugänglich, und in seiner Unbegreiflichkeit kann
es auch kein eigentlicher Gegenstand der Metaphysik sein. Thomas von
Aquin sagt in seinem Kommentar über die Abhandlung De causis aus-
drücklich: »Man nennt ›Seiendes‹ das, was auf endliche Weise am Sein
teilhat, und dies ist unserem Verstand angemessen […]. Daher kann
nur das durch unseren Verstand erfasst werden, was eine am Sein teil-
habende Wesenheit hat; die Wesenheit Gottes ist dagegen das Sein
selbst, sie geht folglich über den Verstand hinaus.« 236
Aus diesen Zeilen geht zugleich hervor, worauf Thomas von Aquin
235
In eine Gruppe mit Duns Scotus gehören nach Albert Zimmermann Denker wie
Augustinus Triumphus von Ancona, Petrus von Alvernia (Pierre d’Auvergne), Johannes
Quidort von Paris, Alexander von Alexandrien, Antonius Andreas sowie mehrere ano-
nyme Autoren (darunter möglicherweise Petrus von Trebes oder de Trabibus), deren
einschlägige Texte im ersten Teil des Buches Ontologie oder Metaphysik? zugänglich
gemacht werden.
236 Thomas von Aquin, In librum de Causis, VI 6, 175, Turin: Marietti 1955, S. 47.
87
Grundtypen der Metaphysik
die Überzeugung gründet, das Sein Gottes sei dem Verstand unzugäng-
lich. Bei einem endlichen und geschaffenen Seienden sind Sein und We-
sen(heit) voneinander getrennt; dagegen ist das Wesen Gottes identisch
mit seinem Seinsakt (actus essendi). Dieses In-eins-fallen von Sein und
Wesen geht jedoch über den Verstand hinaus; es ist im höchsten Maße
unbegreiflich. Daraus folgt zugleich, dass bei Thomas von Aquin nur der
Weg der Analogie (via analogiae) zur Erkenntnis Gottes führen kann.
Aber selbst wenn sich die Lehre vom Seienden im Allgemeinen
notwendig auf das endliche und geschaffene Seiende beschränkt, ist die
Metaphysik keineswegs mit der Physik gleichzusetzen. Denn sie be-
zieht sich auch auf die von der Materie und der Stofflichkeit getrennten
Seienden wie Gott und die reinen Intelligenzen (die »Engel«). Die Me-
taphysik bleibt bei Thomas von Aquin irreduzibel auf die allgemeine
Wissenschaft vom Seienden; sie umfasst vielmehr auch die Erste Phi-
losophie. Auch die aristotelische Formel, der zufolge die Erste Philoso-
phie gerade deshalb einen Anspruch auf Allgemeinheit erhebt, »weil sie
die erste ist«, bleibt bei Thomas von Aquin in voller Geltung. Diese
Formel erhält bei ihm einen erst recht einleuchtenden Sinn, da sich die
christliche Schöpfungsidee in seiner neuen Auffassung von Gott als
wirkender Ursache des Seins aller anderen Seienden ausprägt. Der
Kreationismus verleiht der katholou-protologischen Grundstruktur
eine Durchsichtigkeit, die ihr in der aporetisch-diaporematischen Meta-
physik des Aristoteles abging. Er schließt den Kreislauf von Gründen
und Begründen beinahe völlig ab. Die Entstehung einer ontotheologi-
schen Verfassung der Metaphysik steht nunmehr unmittelbar bevor.
Gleichwohl gibt es bei Thomas von Aquin noch keine ontotheolo-
gische Verfassung der Metaphysik. Denn wie kommt der Gott bei ihm
in die Philosophie? Keineswegs etwa als Gegenstand der Metaphysik.
Die Metaphysik bezieht sich zwar auf Gott, aber sie macht ihn nicht
zum Gegenstand. Sie deutet auf Gott hin, indem sie gleichsam über sich
hinausweist. Sie macht nur das Seiende im Allgemeinen zum Gegen-
stand, und das heißt: sie befasst sich nur mit dem endlichen und ge-
schaffenen Seienden; aber Gott als die wirkende Ursache des Seins die-
ses Seienden wird dabei notgedrungen mitberücksichtigt. Es heißt:
»Das Seiende im Allgemeinen selbst stammt vom ersten Seienden, das
Gott ist [Ipsum esse commune est ex primo ente, quod est Deus]«. 237
237
Thomas von Aquin, In librum beati Dionysii De divinis nominibus, V 2, 660, Turin:
Marietti 1965, S. 245.
88
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
Boulnois zeigt, wie der vom Erzbischof Tempier im Jahre 1270 und im
Jahre 1277 verurteilte Lehrmeister, Siger von Brabant, der übrigens
nach der Verurteilung seiner Ansichten dazu gezwungen wurde, die
Sorbonne – und sogar Paris – zu verlassen, als Erster das von Thomas
von Aquin erarbeitete Gleichgewichtssystem aus den Fugen gebracht
hatte, indem er Gott nicht mehr nur als die wirkende Ursache des Seins
aller Seienden, sondern zugleich als das erste Seiende aufgefasst hatte.
238
In dieser Eigentümlichkeit sieht auch Courtine den wichtigsten Grund für eine Ge-
genüberstellung der thomistischen und der scotistisch-suárezischen Metaphysikforma-
tion. (Siehe Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 209; vgl. S. 148,
S. 245, S. 264 f., S. 339.) Es handelt sich dabei um eine Entgegensetzung, die letztlich
auf Albert Zimmermanns Werk Ontologie oder Metaphysik? zurückgeht. Unter den
Denkansätzen, die im 13. und im 14. Jahrhundert das Seiende als Seiendes zum Gegen-
stand der Metaphysik machen, setzt Zimmermann denjenigen, die mit Albertus Magnus
und Thomas von Aquin Gott als »Ursache« oder »Prinzip« dieses Gegenstandes bestim-
men, diejenigen entgegen, die Gott mit Siger von Brabant, Heinrich von Gent und vor
allem mit Duns Scotus als »Teil« dieses Gegenstandes betrachten. (Siehe Zimmermann,
Ontologie oder Metaphysik?, S. 180 f. und S. 202 f.)
239 Boulnois, Être et représentation, S. 462.
89
Grundtypen der Metaphysik
90
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
und nicht vielmehr nichts?« – aus untersuchte. 241 Er zeigte, dass sich die
Vorgeschichte dieser Frage über Schelling und Leibniz hinaus bis zu
Siger von Brabant zurückverfolgen lässt, der sie in seinem Metaphy-
sik-Kommentar auf folgende Weise stellt:
»Wenn man […] fragt, warum es eher überhaupt etwas gibt als nichts (quare
est magis aliquid in rerum natura quam nihil), und wenn sich diese Frage im
Bereich der verursachten Dinge bewegt, so muss man antworten: Es gibt ja ein
erstes Bewegendes und eine erste unveränderliche Ursache. Wenn man dage-
gen die Gesamtheit alles Seienden zum Gegenstande der Frage macht, warum
es in ihr überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, so kann man keine
Ursache dafür angeben; denn diese Frage ist mit der Frage identisch, warum
überhaupt Gott ist und nicht vielmehr nicht. Für Gottes Dasein gibt es aber
keine Ursache.« 242
Man sieht hier, wie die Metaphysik als sich zunehmend verselbststän-
digende Allgemeinwissenschaft vor der Heidegger’schen »Grundfrage«
zurückweicht – oder vielmehr haltmacht, um nur noch ratlos dazuste-
hen. Bei dem theologisch orientierten Thomas von Aquin bleibt dage-
gen – so Zimmermann 243 – durchaus Raum für eine Frage, die über das
Seiende im Ganzen hinauszielt; denn für ihn ist Gott »über allem, was
existiert, insofern er sein Sein selbst ist (supra omne existens, inquan-
tum est suum esse).« 244
Am Maßstab der Heidegger’schen »Grundfrage« gemessen erwei-
sen sich theologisch inspirierte Denker wie Augustinus, Bonaventura,
Thomas von Aquin oder Eckhart in mancher Hinsicht als tiefer, radi-
kaler, mit einem Wort: als metaphysischer, denn die Vertreter auto-
nomer und systematischer Metaphysik. Auf dieses Paradox wurde be-
reits Courtine aufmerksam, indem er zeigte, wie die von Duns Scotus
und Suárez entscheidend beeinflusste Metaphysikformation sich vor
dieser Grundfrage gleichsam »in Sicherheit brachte«. 245 In einem be-
merkenswerten Aufsatz geht Boulnois ausdrücklich auf die Antritts-
241
Albert Zimmermann, »Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, in: Ar-
chiv für Geschichte der Philosophie 47 (1967), S. 141–156.
242
Siger von Brabant, Quaestiones in Metaphysicam, IV [Philosophes Médiévaux,
Bd. I], hg. von Cornelia Andrea Graiff, Louvain: Éditions de l’Institut Supérieur de Phi-
losophie 1948, S. 147; die deutsche Übersetzung der angeführten Zeilen stammt von
Albert Zimmermann (»Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, S. 148).
243
Zimmermann, »Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, S. 153 f.
244
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 12, a. 1, ad 3, Bd. I, S. 63.
245 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 292; vgl. S. 276–292.
91
Grundtypen der Metaphysik
246
Olivier Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la méta-
physique«, in: Quaestio. Annuario di storia della metafisica 1 (2001), S. 379–406, hier:
S. 398 f. und Anm. 70.
247
Siehe Boulnois, Être et représentation, S. 464.
248
Vgl. Ernst Vollrath, »Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis
und eine Metaphysica specialis«, Zeitschrift für philosophische Forschung, XVI, 2, 1962,
S. 258–284.
249
Dieser Ausdruck, den Courtine und Boulnois wiederholt verwenden, stammt ur-
sprünglich von Zimmermann. (Siehe Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?,
S. 216.)
92
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
Duns Scotus setzt sich der Idee einer Analogie des Seins entgegen. Er
behauptet, dass »Gott nicht nur in einem ihm und dem Geschöpf ge-
meinsamen analogen, sondern univoken Begriff erfasst wird.« 250 Er
setzt hinzu, dass der univoke Begriff des Seienden im Allgemeinen »das
erste adäquate Objekt für unseren Intellekt« sei. 251
Bei Duns Scotus gibt es damit einen eigentümlichen Gegenstand
der allgemeinen Metaphysik, der sich vom ersten Seienden unterschei-
det. Dieser Gegenstand ist das Seiende als solches, nunmehr als ein
Begriff aufgefasst, der sich auf den Schöpfergott und sein Geschöpf auf
univoke Weise, also in derselben Bedeutung, beziehen lässt. Dieser Be-
griff ermöglicht eine neue Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen
und dem Ersten. Die katholou-protologische Grundstruktur hört auf,
den Aufbau der Metaphysik zu bestimmen. Denn die allgemeine Meta-
physik ist nicht mehr deshalb allgemein, »weil sie die erste ist«. Diese
aristotelische Formel büßt nunmehr ihre Gültigkeit ein. Der Gedanke
einer Univozität des Seienden erschließt eine neue Möglichkeit, die All-
gemeinheit der Metaphysik zu begründen. Von nun an ist es der ein-
fache und einheitliche Begriff des Seienden, der den Anspruch der Me-
taphysik auf uneingeschränkte Allgemeinheit rechtfertigt.
250
Johannes Duns Scotus, Lectura in librum primum Sententiarum, Dist. 3, qu. 2, a. 21
[Opera omnia, hg. von Carolus Balić, Civitas Vaticana 1950, Bände XVI–XXI, hier:
Bd. XVI], S. 232 (auch enthalten in: Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden.
Texte zur Metaphysik, lateinisch–deutsche Ausgabe, hg. und übersetzt von Tobias Hoff-
mann, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2002, S. 13). Vgl. Ordinatio I, Dist. 3, qu. 2,
26 [Opera omnia, hg. von Carolus Balić, Civitas Vaticana 1950, Bände I–XV (bisher sind
die Bände I–XIII erschienen), hier: Bd. III], S. 18 (auch enthalten in der französischen
Übersetzung von Olivier Boulnois in: Duns Scot, Sur la connaissance de Dieu et l’uni-
vocité de l’étant, übersetzt und kommentiert von Olivier Boulnois, Paris: PUF 1988,
S. 94).
251
Ebd., Lectura I, Dist. 3, pars 1, qu. 2, 99 [Opera omnia, Bd. XVI], S. 261 f.; dt. S. 61;
Ordinatio I, Dist. 3, qu. 2, 137 [Opera omnia, Bd. III], S. 85 f.; fr. S. 141.
93
Grundtypen der Metaphysik
Duns Scotus geht davon aus, dass unser Verstand nicht allein das
Vermögen hat, das sinnlich Wahrnehmbare und das Endliche zu erken-
nen, sondern auch das Vermögen, sich zu einem Begriff zu erheben, der
das Sinnliche und das Übersinnliche sowie das Endliche und das Unend-
liche gleichermaßen umfasst. Die Idee einer Univozität des Seienden
macht es möglich, den Begriff des Seienden als einen transgenerischen
oder transzendentalen Begriff eindeutig zu bestimmen. Denn der An-
nahme nach bezieht sich dieser Begriff auf univoke Weise, also in der-
selben Bedeutung, auf die Gattung des Sinnlichen und Endlichen und
auf die Gattung des Übersinnlichen und Unendlichen; er überschreitet
also den Unterschied der beiden Gattungen. Daraus folgt, dass die all-
gemeine Metaphysik, die Duns Scotus im Auge hat, eine transgeneri-
sche oder auch transzendentale Wissenschaft vom Seienden ist: scientia
transcendens. Es entsteht hier diejenige Wissenschaft, die Kant als die
»Transzendental-Philosophie der Alten« bezeichnen wird. 252 Es ist letzt-
lich die Transzendentalität des Seienden, die es ermöglicht, die All-
gemeinheit der allgemeinen Metaphysik neu zu begründen.
252
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [Gesammelte Schriften, Akademie-Aus-
gabe, Bd. IV: Ausgabe »A«: Berlin: Georg Reimer 1911, S. 1–252; Bd. III: Ausgabe »B«,
Georg Reimer 1904], hier: B 113. Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendental-
philosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1970; Giorgio Tonelli, »Das Wiederaufleben der
deutsch-aristotelischen Terminologie bei Kant während der Entstehung der KrV«, in:
Archiv für Begriffsgeschichte IX (1964), S. 233–242.
253 Boulnois, Être et représentation, S. 508.
94
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
95
Grundtypen der Metaphysik
mand betont diesen Unterschied so sehr wie Duns Scotus. Ihn bewegen
dazu wohl vor allem theologische Gründe, aber dieser Unterschied
verleiht der Metaphysik als scientia transcendens gleichwohl eine Un-
abhängigkeit von der Offenbarungstheologie und damit eine Eigenstän-
digkeit, die sie bei früheren Denkern – Thomas von Aquin nicht aus-
genommen – noch keineswegs besaß.
Darin liegt ein Paradox, das in Honnefelders Rede von einer »theo-
logisch motivierten« Verwissenschaftlichung der Metaphysik beson-
ders deutlich zum Ausdruck kommt. 254 Zu diesem Paradox gehört, dass
die Eigenständigkeit der Metaphysik im Mittelalter tatsächlich eher aus
der theologisch motivierten Avicennainterpretation von Heinrich von
Gent, Duns Scotus und anderer erwächst als aus der durch Theologie-
doktoren und kirchliche Amtsträger verpönten Aristotelesauslegung
der »Averroisten«, obgleich die von Averroes beeinflussten Aristoteli-
ker der Pariser Artistenfakultät – darunter allen voran Siger von Bra-
bant und Boethius von Dacien – in der Lebensform des Philosophen den
besten Stand sahen, der dem Menschen überhaupt möglich ist, und
damit die Würde philosophischer Existenz höher stellten als die der
Kleriker und der Ordensbrüder. 255 Die Eigenständigkeit der Metaphysik
scheint in den Augen von Duns Scotus aber selbst dann von großer
Wichtigkeit zu sein, wenn er der Metaphysik letztlich genauso eine
theologische Ausrichtung zuerkennt wie die meisten seiner Vorgänger.
Denn selbst wenn es der Metaphysik nicht weniger darauf ankommt,
Gott zu erkennen, als der Theologie, bleiben die beiden Wissenschaften
254
Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und
Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert«, S. 169: »Ver-
wissenschaftlichung der Metaphysik« und S. 171: »der (theologisch motivierte) Rekurs
auf die aristotelische Wissenschaftstheorie […] im Gefolge Avicennas«. Vgl. ebd., S. 167:
»Was die lateinischen Autoren gegenüber der theologischen Deutung der Metaphysik
Distanz nehmen lässt, ist der sie verbindende christliche Glaube.«
255
Siehe Georg Wieland, »Der Mendikantenstreit und die Grenzen von Theologie und
Philosophie«, in: Marteen Hoenen, Josef Schneider und Georg Wieland (Hg.), Philoso-
phy and Learning. Universities in the Middle Ages, Leiden: Brill 1995, S. 17–28, hier:
S. 28. Nach der bekannten Hypothese von Alain de Libera fand der von Averroes beein-
flusste Aristotelismus der Artistenfakultät außerhalb der Universität, von der er nach der
Verurteilung durch den Bischof Tempier verbannt wurde, einerseits in Dantes »aristote-
lischem Humanismus«, andererseits aber – wiederum nur paradoxerweise – auch in dem
durchaus theologisch inspirierten Denken von Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart
und Berthold von Moosburg eine Fortsetzung. Siehe dazu Alain de Libera, Penser au
Moyen Âge, Paris: Seuil 1991, dt. Denken im Mittelalter, übersetzt von Andreas Knop,
München: Fink 2003.
96
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
256
Boulnois, Être et représentation, S. 508.
257 Ebd., S. 513.
97
Grundtypen der Metaphysik
Faden, der das Allgemeine an das Erste band, und ordnet – gerade um-
gekehrt – das Erste dem Allgemeinen unter. Ich schlage vor, das Ergeb-
nis dieser Umwandlung, das die aristotelische Katholou-Protologie er-
setzt, ganz einfach als Katholou-Tinologie zu bezeichnen.« 258
Nach Boulnois’ Ansicht ist es gerade diese Umwandlung der aris-
totelischen Katholou-Protologie in eine Katholou-Tinologie, die zur
Heraufkunft einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
führt. – a) Das Wort »Ontotheologie« soll dabei zunächst im Sinne
von Kant verstanden werden; in dieser Bedeutung steht es der »Physi-
kotheologie« gegenüber. Ein erster Aspekt der genannten Umwandlung
besteht in der Tat darin, dass jede Physikotheologie aristotelischen Ur-
sprungs mit Argwohn betrachtet und in Frage gestellt wird. Gewiss
kann die Erfahrung, die man von der Bewegung in der Welt hat, zur
Annahme eines Ersten Bewegers Anlass geben, aber sie erweist sich als
völlig kraftlos gegenüber einem Einwand, der zum ersten Mal von
Heinrich von Gent, dem bereits erwähnten Zeitgenossen und Gegner
von Duns Scotus, gegen die aristotelische Beweisführung erhoben wur-
de: Der Hinweis auf die Erfahrung der Bewegung ist offenbar unzu-
länglich, um zu beweisen, dass der Erste Beweger wahrhaft Gott ist. 259
Daraus geht deutlich hervor, dass ein Gottesbeweis, der a posteriori
angelegt ist, also im Ausgang von der erfahrenen Welt zu Gott gelangt,
solange nichts beweist, als er sich nicht mit einem ganz anders angeleg-
ten Gedankengang verbindet – nämlich mit einem Gedankengang, der
sich zur Aufgabe macht, das Wesen Gottes im Ausgang von den dis-
junktiven Transzendentalien a priori zu konstruieren. Diese Konstruk-
tion gehört selbst dann in den Kontext einer Ontotheologie (im kanti-
schen Sinne des Wortes), wenn Duns Scotus das so genannte
ontologische Argument von Anselm von Canterbury nicht übernimmt.
– b) Aber auch im Sinne von Heidegger kommt bei Duns Scotus und
seinen Zeitgenossen eine ontotheologische Verfassung der Metaphysik
auf. Denn die Umwandlung der Katholou-Protologie in eine Katholou-
Tinologie geht damit einher, dass Gott als erstes Seiendes in den all-
gemeinen Begriff des Seienden eingeschlossen und zum Gegenstand
einer besonderen Wissenschaft innerhalb der allgemeinen Wissenschaft
vom Seienden als solchem gemacht wird. Das ist der entscheidende
Schritt zur Ontotheologie im Sinne von Heidegger. Bei einer Struktur
258
Ebd., S. 514.
259 Ebd., S. 511.
98
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
der Metaphysik, die offen für eine sich von ihr unterscheidende Offen-
barungstheologie bleibt, wie dies bei Thomas von Aquin der Fall ist,
kann nämlich der Kreis von Gründen und Begründen nicht geschlossen
werden.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass
keineswegs jede Metaphysik durch eine ontotheologische Verfassung
charakterisiert ist. Diese Verfassung ist der Metaphysik vielmehr nur
während einer bestimmten Epoche des europäischen Denkens eigen-
tümlich. Allerdings dauert diese Epoche beinahe ein halbes Jahrtausend
lang. Sie beginnt mit Duns Scotus und Heinrich von Gent und erstreckt
sich über die Spätscholastik von Francisco Suárez und anderen bis zur
Zeit der deutschen Schulphilosophie und der vorkritischen Periode von
Immanuel Kants Denken. 260
Mit dem Gedanken der Katholou-Tinologie gibt uns Boulnois eine
griffige Formel an die Hand, die durchaus geeignet ist, Gilsons Idee von
»Essentialismus« berichtigend zu ersetzen. Er geht damit ein Stück wei-
ter auf dem Weg, den bereits Courtine in seinem Suárez-Buch betreten
hat. Es ist nicht uninteressant zu wissen, dass der Terminus Tinologie
seinen Ursprung einem »glücklichen Vorschlag (heureuse suggestion)«
von Pierre Aubenque zu verdanken hat.261 Auch diese Tatsache deutet
auf die Einheitlichkeit und die innere Kohärenz der metaphysiktypo-
logischen Forschungsinitiative in Frankreich hin.
Zusammenfassend seien hier vier Merkmale hervorgehoben, die
nach Boulnois zur näheren Kennzeichnung der ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik dienen können:
260
Ebd., S. 515.
261 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 536.
99
Grundtypen der Metaphysik
262
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 405.
100
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
Behauptet de Libera nicht ohne Grund, dass Heidegger sich mit seiner
Auffassung von der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik von
vornherein im Rahmen der scotistischen Avicennainterpretation be-
wegt, ohne der von Averroes beeinflussten Tradition der Aristoteles-
auslegung oder auch nur der von Albertus Magnus und Thomas von
Aquin vertretenen Avicennadeutung Rechnung zu tragen, so rührt dies
nach Boulnois vor allem daher, dass Heidegger den Einfluss der ara-
bischen Philosophie auf die peripatetische Metaphysik des Mittelalters
nicht hinreichend beachtet. In Anknüpfung an eine Avicennastelle be-
tont Boulnois mit vollem Recht, dass die Sprache des Seins keineswegs
allein Griechisch und Lateinisch, sondern auch Arabisch und Persisch
ist. 263 Dagegen geht Heidegger davon aus, dass bereits die Übersetzung
griechischer Grundworte der Metaphysik ins Lateinische – durch Cice-
ro, Seneca, Marius Victorinus, Augustinus und andere bis hin zu Boe-
thius – im Zeichen eines »Wesenswandels der Wahrheit« 264 und damit
zugleich im Zeichen eines »Abfalls« vom griechischen Urspung steht. 265
263
Ebd., S. 405 und Anm. 91. Rémi Brague hebt darüber hinaus die Rolle jüdischer
Übersetzer in der Vermittlung der Metaphysik der Araber für die westliche Welt hervor.
Er weist auf die Tatsache hin, dass manche dieser Texte nicht allein ins Lateinische, son-
dern auch ins Hebräische übersetzt wurden. In diesem Sinne lässt sich hinzufügen: Die
Sprache des Seins war im Mittelalter auch Hebräisch. (Siehe Rémi Brague, Au moyen du
Moyen Âge. Philosophies médiévales en chrétienté, judaisme et islam [Champs Essais],
Paris: Flammarion 2006, S. 314 f. und S. 322 f.)
264
Martin Heidegger, Parmenides [Gesamtausgabe, Bd. 54], hg. von Manfred S. Frings,
Frankfurt am Main: Klostermann 1982, S. 62 f. und S. 72–79.
265 Ebd., S. 79.
101
Grundtypen der Metaphysik
266
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 390–393.
267
Ebd., S. 392.
268 Ebd., S. 406. Es ist lohnenswert hervorzuheben, dass Paul Ricœur ähnliche Einwände
gegen Heideggers Kritik der Ontotheologie erhebt. Siehe André LaCocque und Paul
Ricœur, Penser la Bible, Paris: Seuil 1998, S. 365. (Ich danke der Pariser und Wuppertaler
Doktorandin, Frau Veronika Cibotaru, dafür, dass sie mich auf diese Stelle aufmerksam
machte.)
102
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
269
Martin Heidegger, Frühe Schriften [Gesamtausgabe, Bd. 1], hg. von Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Frankfurt am Main, Klostermann 1978, S. 283.
270
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 108–171.
271
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 69–84.
272
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 397.
103
Grundtypen der Metaphysik
blind für den Einfluss der arabischen Philosophie auf die peripatetische
Metaphysik des Mittelalters ist. Nur deshalb kann er der Metaphysik im
Ganzen eine allumfassende Wesenseinheit zuschreiben, ohne dessen in-
ne zu werden, dass er sich mit seiner Idee einer ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik von vornherein nur im Rahmen einer be-
stimmten Avicennainterpretation bewegt.
Nach Boulnois ist eine »Historisierung« der Ontotheologie dazu
berufen, diesem Missstand abzuhelfen. Zugleich ist sie nach ihm auch
dazu geeignet, das heuristische Potential von Heideggers Idee einer on-
totheologischen Verfassung der Metaphysik zu bewahren oder sogar
voll auszuschöpfen. Auf diese Weise verbindet sich die Kritik hier mit
einem letztlich doch affirmativen Verhältnis zum Heidegger’schen Er-
be. Diese Ambivalenz ist nicht allein für Boulnois selbst, sondern mehr
oder weniger für eine ganze Reihe französischer Philosophiehistoriker
von Marion, Courtine und Brague bis zu Carraud und Bardout charak-
teristisch. Mit diesem zwiespältigen Verhältnis zu Heidegger hängen
die methodologischen Eigentümlichkeiten zusammen, die der metaphy-
siktypologischen Forschungsinitiative in Frankreich anhaften.
Forscher wie Courtine oder Boulnois sind zwar weit davon entfernt,
eine »Seynsgeschichte« im Sinne von Heideggers mittlerer Periode zu
betreiben, aber sie weichen in ihren Methoden von der traditionellen
Philosophiegeschichtsschreibung ebenfalls ab. Wird der Tatsache dieser
Abweichung nicht Rechnung getragen, so kann sich der Ausdruck
»Historisierung« der Ontotheologie leicht als irreführend erweisen.
Um uns ein Bild von den methodologischen Voraussetzungen zu
machen, die der metaphysiktypologischen Forschungsinitiative in
Frankreich eigentümlich sind, wollen wir auf Courtines Werk Suarez
et le système de la métaphysique, in dem diese Voraussetzungen beson-
ders deutlich werden, etwas ausführlicher eingehen. In diesem Buch
wird eine »doppelte, auf ein Vorher und ein Nachher spannungsvoll
bezogene Lesart (une double lecture, distendue selon un avant et un
après)« praktiziert. 273 Das Thema des Buches ist die Wende, die Suárez
104
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
105
Grundtypen der Metaphysik
279
Ebd., S. 431.
280 Ebd., S. 137.
281
Ebd.
282
Ebd., S. 173.
283
Ebd., S. 209.
284 Ebd., S. 167.
106
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
285
Ebd.
286
Étienne Gilson, Philosophie au Moyen Âge. Des origines patristiques à la fin du XIVe
siècle, Paris: Payot 21962 (11922), S. 632.
107
Grundtypen der Metaphysik
Wenn Courtine bei Suárez, ja eigentlich auch schon bei Duns Scotus
eine Tendenz zur Tinologie entdeckt, 287 so nimmt er damit einen Stand-
punkt ein, der durchaus im Sinne seiner geschichtlichen Philosophie
verstanden werden muss. Zimmermanns Frage »Ontologie oder Meta-
physik?« entscheidet er, indem er zu zeigen versucht, wie aus der Me-
taphysik Ontologie wird. Er setzt hinzu, dass die entstehende Ontologie
von vornherein dazu neigt, das Sein auf Gegenständlichkeit (auf ein
esse objectivum) und damit das Seiende als Seiendes auf ein bloß Denk-
bares (auf ein intelligibile oder cogitabile) zu reduzieren. Er erblickt in
der aufkeimenden Ontologie einen Hang dazu, sich als eine die Logik
und die Ontologie gleichermaßen umfassende oder miteinander sogar
gleichsetzende Lehre, mithin als eine »Onto-Logik«, zu begreifen, und
er verbindet diesen Hang zugleich mit einer Anlage der neuen Meta-
physikformation zur Gliederung in eine metaphysica generalis und
eine metaphysica specialis. All diese Behauptungen versteht Courtine
streng im Sinne einer metaphysiktypologischen Tendenzanalyse, so
wie sie sich auf seine »doppelte Lesart« stützt.
Es entgeht ihm natürlich nicht, dass dem Seienden als Seiendem
nicht nur bei Suárez, sondern auch schon bei Heinrich von Gent und bei
Duns Scotus eine »Gültigkeit« oder »Festigkeit« (ratitudo) 288 zukommt,
die es von bloßen Gedankendingen unterscheidet. 289 Courtine weiß
ebenfalls, dass Suárez nicht etwa das Etwas überhaupt, sondern die
»reale Wesenheit (essentia realis)« als eigentümlichen Gegenstand
(»Subjekt«) der Metaphysik bezeichnet und ihr durchaus eine »Eig-
nung zum Sein (aptitudo ad existendum)« zuschreibt. 290 Auch die ver-
schiedenen Phasen, in denen sich die Zweiteilung der Metaphysik in
eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis mit zu-
nehmender Deutlichkeit durchsetzt, verliert er keineswegs aus den Au-
gen. 291 Mit besonderem Nachdruck betont er den Unterschied zwischen
287
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 268 und S. 288 f.
288
Siehe dazu Ludger Honnefelder, »Die Lehre von der doppelten ratitudo entis und ihre
Bedeutung für die Metaphysik des Johannes Duns Scotus«, in: Deus et Homo ad mentem
I. Duns Scoti. Acta Tertii Congressus Scotistici Internationalis, 28. Sept.–2. Oct. 1970,
Rom: Societas Internationalis Scotistica 1972, S. 661–671.
289
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 183–185 und S. 290 f.
290
Ebd., S. 290 f.
291 Vgl. ebd., S. 268 und besonders S. 333 f.
108
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
292
Ebd., S. 394–401.
293
Ebd., S. 428–430.
294
Rolf Darge, »›Ens inquantum ens‹. Die Erklärung des Subjekts der Metaphysik bei
F. Suarez«, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 66, 2 (1999), S. 335–
361, hier: S. 340–349.
295
Ebd., S. 346.
296
Rolf Darge, Suárez’ transzendentale Seinsauslegung und die Metaphysiktradition,
Leiden und Boston: Brill 2004, S. 18: »Eine zentrale Stelle in dieser ganzen Deutung
nimmt die Annahme ein, daß der metaphysisch maßgebliche Begriff des Seienden oder
des Dings gemäß Suárez keine Hinordnung auf die denkunabhängige Existenz ein-
schließt […].«
297
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 194. Die einschlägige Textstelle
(zusammen mit einem von Suárez auf Lateinisch zitierten Satz) lautet im französischen
Original wie folgt: »Mais la réal-ité de l’essentia realis ne s’en réfère pas moins à la réalité
effective de l’ex-sistentia realis; c’est tourné vers cette effectivité ou cette effectuation
possible que l’objectivité devient pleinement réale: ›esse essentiae non potest concipi ut
reale, nisi saltem aptitudine includat ordinem ad existentiam‹. [Suárez, Disputationes
109
Grundtypen der Metaphysik
metaphysicae, VI, 5, 3.] L’être essentiel est donc ordonné à l’existence comme au terme
ultime qui mesure toute réalité […].«
298
Ebd., S. 188 f.
299 Von anderen Kritikpunkten, die Rolf Darge in seiner Habilitationsschrift und seinem
110
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
von Courtine und Boulnois auch das Erbe des Strukturalismus an. Des-
halb gehört im Buch Suarez et le système de la métaphysique zur Ent-
faltung des Gedankens einer tinologischen Grundtendenz der scotis-
tisch-suárezianischen Metaphysikformation nicht allein ein Rückblick
auf Duns Scotus, Heinrich von Gent und andere Autoren der Hoch-
scholastik 300 sowie ein Vorblick auf Clemens Timpler und Johannes
Clauberg, auf Christian Wolff und Alexander Baumgarten und sogar
auf Immanuel Kant, 301 sondern auch ein kontrastiver Seitenblick auf
Bonaventura, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Meister Eck-
hart. 302
Der Kontrast zu einer abweichenden Metaphysikformation dient
bei Courtine dazu, den gemeinsamen Problemhintergrund sichtbar zu
machen, vor dem die Unterschiede zwischen der scotistischen Epoche,
der suárezianischen Wende und der deutschen Schulphilosophie auf-
gewiesen werden können. Für diese Unterschiede sind ausschließlich
die Tatsachen unmittelbarer Textinterpretation relevant. Anders steht
es jedoch mit der Erfassung des gemeinsamen Problemhintergrunds.
Für sie sind die komplexeren Tatsachen bestimmend, an die sich die
metaphysiktypologische Tendenzanalyse hält.
Auf dieser Ebene erhalten auch philosophische Überlegungen eine
Rolle in der historischen Erörterung. In philosophischer Hinsicht orien-
tiert sich Courtine – und mit ihm auch die meisten anderen Vertreter
der metaphysiktypologischen Forschungsinitiative in Frankreich – ganz
und gar an der Phänomenologie. Im Gegensatz zu Honnefelder geht er
daher nicht etwa vom Grundproblem einer theologisch motivierten Ver-
wissenschaftlichung der Metaphysik, sondern – wie bereits Zimmer-
mann vor ihm in seiner Antrittsvorlesung – von der Heidegger’schen
»Grundfrage der Metaphysik« aus. Ähnlich wie bereits Zimmermann
findet er, dass die ontologisch angelegte Metaphysik viel weniger mit
dieser Grundfrage zurechtkommt als die ihr gegenüberstehende Meta-
physikformation. Dieses Urteil begründet seine Rede vom »›nihilisti-
schen‹ Hintergrund« des gesamten Forschungsvorhabens der Onto-
logie. 303 Gleichwohl geht er davon aus, dass keine Metaphysikformation
der Grundfrage der Metaphysik ausweichen kann: »Jede Metaphysik,
300
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 157–194 und S. 276 f.
301
Ebd., S. 248–263.
302
Ebd., S. 272–276 und 280–285.
303 Ebd., S. 258.
111
Grundtypen der Metaphysik
die diesen Namen verdient, ist eine These über das Sein, aber diese
These ist gleichsam im Verborgenen (comme en sous-œuvre) von einer
These über das Nichts begleitet […]«. 304 Deshalb schreibt er Suárez eine
– vom spanischen Denker allerdings nur stillschweigend vertretene –
»These über das Nichts« zu, in der er zugleich den »blinden Fleck (point
aveugle)« der scotistisch-suárezianischen Metaphysikformation er-
kennt. 305
Courtine leitet weiterhin die Bestimmung des Seins als Gegen-
ständlichkeit aus einer Tendenz zum Repräsentationalismus ab, die er
bereits bei Duns Scotus entdeckt, um sie dann in einer detailreichen
Analyse von Petrus Aureolus bis zu Wilhelm von Occham weiterzuver-
folgen. 306 Er zeigt, dass die Umwandlung der aristotelischen φαντασία
in eine repraesentatio die unmittelbare Fühlung mit dem Erscheinen
des Erscheinenden aufhebt und sogar einen »vollständigen Entzug der
Gegenwärtigkeit als Erscheinens (retrait complet de la présence comme
manifestation)« zur Folge hat. 307 Hier wird die phänomenologische In-
spiration von Courtines metaphysiktypologischen Forschungen offen-
sichtlich. Es stellt sich zugleich heraus, dass der scotistisch-suárezia-
nischen Metaphysikformation bei ihm keineswegs allein Bonaventura,
Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Meister Eckhart gegenüber-
steht, sondern ursprünglicher noch Aristoteles (und zwar gleichsam als
Protophänomenologe).
Dass philosophische Überlegungen in der Erfassung des gemein-
samen Problemhintergrunds verschiedener Grundlehren eine Rolle
erhalten, bedeutet nicht, dass die Ergebnisse einer metaphysiktypologi-
schen Tendenzanalyse deshalb nur noch als »idealtypische Konstruktio-
nen« gelten könnten. In Wahrheit sind sie keine bloßen Konstruktionen,
weil sie von Textinterpretationen getragen sind und auch im Ganzen
jeweils in Textinterpretationen verankert werden. Von Textinterpreta-
tionen getragen: sowohl das Vorher und Nachher der doppelten Lesart
als auch der Kontrast zu abweichenden Metaphysikformationen werden
durch strenge Textinterpretationen belegt. In Textinterpretationen ver-
ankert: Selbst noch die komplexen Tatsachen einer metaphysiktypo-
logischen Tendenzanalyse bedürfen obendrein jeweils zumindest einer
304
Ebd., S. 257.
305
Ebd.
306
Ebd., S. 157–182.
307 Ebd., S. 162.
112
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur
308
Ebd., S. 167–170.
309
Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, Text Nr. 8, S. 56–71. Siehe dazu Zim-
mermanns Analyse des Textes ebd., S. 292–314.
310
Albert Zimmermann, »Analogie und univoke Bedeutung des Terminus ›ens‹ nach
einem anonymen Metaphysik-Kommentar des 14. Jahrhunderts«, in: Deus et Homo ad
mentem I. Duns Scoti. Acta Tertii Congressus Scotistici Internationalis, 28. Sept.–2. Oct.
1970, Rom: Societas Internationalis Scotistica 1972, S. 723–730, hier: S. 725.
311
Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, S. 60.
312
Ebd., S. 57 f.
313 Ebd.
113
Grundtypen der Metaphysik
114
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
319
Vgl. René Descartes, Méditations métaphysiques, übersetzt ins Französische von
L. Ch. d’Albert Duc de Luynes und C. Clerselier [Œuvres, hg. von Ch. Adam und P. Tan-
nery, Bd. I-XI, hier: Bd. IX], Paris: Vrin 1996, S. 1–253.
320
René Descartes, Lettre CCXVI (Brief vom 11. November 1640 an Mersenne) [Œuv-
res, Bd. III], S. 239; vgl. Lettre CCXIV (Brief vom 11. November 1640 an Mersenne),
S. 235.
321 Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 37.
115
Grundtypen der Metaphysik
ren Worten, die spezielle Metaphysik. Marion stellt heraus, dass dieser
Sprachgebrauch von Descartes eine Vorgeschichte bei dem spanischen
Jesuiten Benedito Pereira (1535–1610) hat, der das Verhältnis der bei-
den Termini zum ersten Mal umgekehrt hatte. 322 Wichtiger noch ist
allerdings, dass Descartes auch mit den von ihm erwähnten »ersten
Dingen« etwas Neues meint.
Das Wort »Erstes« bezieht sich im Cartesianismus nicht mehr auf die
Ordnung des Seins, sondern auf die Ordnung der Erkenntnis. Unter
dem Titel »Erste Philosophie« entwickelt Descartes eine »epistemische
Protologie« 323 oder auch eine »allgemeine Protologie der Evident-
machung«. 324 Die Erste Philosophie, die er im Auge hat, ist ebendeshalb
alles andere als eine allgemeine Wissenschaft vom Seienden als Seien-
dem. Descartes kümmert sich nicht um »den Gegenstand der metaphy-
sica – die Erörterung des Begriffs des Seienden, so wie sie bald schon
von der ontologia gefordert werden soll«. 325 Er verlangt geradezu »ei-
nen Verzicht auf die Philosophie als Ontologie«. 326 Sein Ansatz mündet
in ein »Nichts von Ontologie« ein. 327 Deshalb spricht Marion von einer
»grauen Ontologie« bei ihm. 328 Man könnte sogar auf die Idee verfallen,
Descartes’ Erste Philosophie der metaphysischen Tradition zu ent-
ziehen.
Es wäre allerdings voreilig, so vorzugehen. Der Terminus »Onto-
logie« taucht ja nicht allein zu Lebzeiten von Descartes auf, sondern er
wird geradezu von einem Cartesianer, Johannes Clauberg, wenn auch
nicht geprägt, so doch – im Anschluss an das im Jahre 1613 in Frankfurt
veröffentlichte Lexicon philosophicum von Goclenius (alias Rudolf Gö-
ckel) 329 – in seinem Werk von 1647 Elementa philosophiae sive Onto-
322
Ebd., S. 47.
323
Ebd., S. 55.
324
Ebd., S. 59.
325 Ebd., S. 78.
326
Ebd., S. 82.
327
Ebd., S. 88.
328
Jean-Luc Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes, Paris: Vrin 42000 (11975).
329 Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 29.
116
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
sophia (der Titel geht weiter: Metaphysica, sed aptius Ontologia vel
scientia Catholica, eine allgemeine Wissenschaft et Philosophia univer-
salis) zum ersten Mal systematisch verwendet. 330 Wie ist es jedoch
möglich, dass Clauberg eine Ontologie auf cartesianischen Grundlagen
aufbaut, wenn Descartes’ Philosophie mit Ontologie nichts zu tun hat?
Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in dem Um-
stand, dass die Ontologie von Clauberg – wie auch die seiner Nachfolger
bis zur Zeit von Kant – das Seiende nicht etwa von diesem selbst her
betrachtet, sondern vielmehr nur im Ausgang von der cogitatio, und
das heißt: es bloß als ein ens cogitabile auffasst. Sie betrachtet also das
Seiende lediglich als ein Denkobjekt, mithin als etwas Begriffenes, Vor-
gestelltes, bereits zum Gegenstand Gemachtes – und gerade nicht als
Seiendes schlechthin.331 Man kann daher sagen, dass erst die Abwen-
dung von der Ordnung des Seins und die Hinwendung zur Ordnung
der Erkenntnis im Cartesianismus die Ausarbeitung einer ausdrück-
lichen Ontologie als einer Wissenschaft vom Seienden als reinem Denk-
objekt im Sinne eines ens cogitabile ermöglicht. Damit wird allerdings
nur die bereits seit Duns Scotus lebendige und mit Suárez auch schon
vorherrschend gewordene Tendenz zu einer Tinologie weiter verstärkt –
oder, besser gesagt, auf eine höhere Stufe gehoben. Nicht allein bei
Clauberg, sondern auch bei Descartes selbst wird diese Tendenz deut-
lich. Schon Descartes betrachtet ja das Seiende gemäß dem »Modus
vorgestellter Objektivität«. 332
Die Bestimmung des Seienden (ens) als Gedachtes oder als Denkobjekt
(cogitatum) ist bei Descartes das Kernstück einer Verfassung, die sich
sehr wohl als »ontotheologisch« qualifizieren lässt. Das Denken (cogi-
tatio) ist dabei der Grund des Seins jedes Seienden als eines Denk-
objekts. Das Denken zeichnet zugleich ein Seiendes als das erste in der
Ordnung der Erkenntnis aus. Bei diesem ausgezeichneten Seienden
handelt es sich allerdings nicht um Gott, sondern um das Ich, das ego.
330
Ebd., S. 80 und S. 89.
331
Ebd., S. 90.
332 Ebd., S. 85.
117
Grundtypen der Metaphysik
Bei Descartes bestimmt das »ich bin« (sum) den ersten und ausgezeich-
neten Sinn des Seins. Das »ich bin« begründet seinerseits wiederum das
Denken (cogitatio). Damit ist der Kreis von Gründen und Begründen
geschlossen: Die cogitatio gründet das Sein des ens als ens cogitatum,
indem es zugleich das ego in seinem erstpersonalen Sein (sum) als ers-
tes Seiendes in der Ordnung der Erkenntnis auszeichnet; das sum des
ego begründet wiederum die cogitatio.
Allein dies ist nicht die einzige ontotheologische Struktur, die man
bei Descartes findet. In seiner Ersten Philosophie kommt es vielmehr zu
einer Verdopplung der ontotheologischen Verfassung. Darin sieht Ma-
rion die Grundeigentümlichkeit der cartesianischen Ersten Philosophie.
Die zweite Struktur, die ebenfalls als ontotheologisch qualifiziert wer-
den kann, ergibt sich aus der Bestimmung des Seienden als eines ver-
ursachten Seienden (ens causatum). Descartes formuliert wiederholt
das Prinzip der Kausalität (oder in einer ersten Fassung auch schon den
»Satz vom Grund«, der später von Leibniz in seiner vollendeten Form
ausgesprochen werden soll). An einer Stelle behauptet Descartes, dass
»es keine Sache gibt, bei der es nicht statthaft wäre, zu fragen, warum
sie existiert, oder auch nach ihrer wirkenden Ursache zu forschen
[…]«. 333 An anderer Stelle setzt er hinzu: »Denn bei Gott selbst kann
man hiernach fragen, nicht weil er einer Ursache bedürfte, um zu exis-
tieren, sondern weil die Unermeßlichkeit seiner Natur die Ursache oder
der Grund [causa sive ratio] ist, weswegen er keiner Ursache bedarf, um
zu existieren.« 334 Aus diesen Überlegungen zieht Descartes den Schluss,
dass Gott als »Ursache seiner selbst« (causa sui) zu begreifen sei. 335
Dieser bisher für eine Ungereimtheit gehaltenen Vorstellung verleiht
nun der Hinweis auf die Unermesslichkeit von Gottes Natur einen
nachvollziehbaren Sinn. Damit zeichnet sich vor unseren Augen eine
ontotheologische Verfassung ab, die durch die folgenden vier Merkmale
gekennzeichnet werden kann:
333
Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 108; dt. Medita-
tionen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwi-
derungen, übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg: Meiner 1994 (Nachdruck der Aus-
gabe von 1913), S. 97. Vgl. auf Französisch: René Descartes, Méditations métaphysiques,
traduction par Claude Clerselier de 1661 publiée et légèrement modifiée par Michelle
Beyssade et Jean-Marie Beyssade, Paris, Flammarion, 1979, S. 214.
334
Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], 164 f.; dt. S. 149; fr.
S. 263.
335 Ebd., Bd. VII, S. 109; dt. S. 98; fr. S. 215.
118
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
Damit ist der Kreislauf von Gründen und Begründen auch hier ab-
geschlossen. Zum ersten Mal ist dabei die Rede von »Begründen« wahr-
haft einschlägig. In den frühneuzeitlichen Metaphysikentwürfen er-
weist sich der Kausalzusammenhang immer deutlicher als ein Begrün-
dungszusammenhang. Denn den Urhebern dieser Metaphysikentwürfe
– den Denkern des neuzeitlichen Rationalismus – kommt es nicht so
sehr auf die Erfassung von Kraftäußerung, Verursachung und Wir-
kungsmächtigkeit als vielmehr auf die Herausstellung von Begreiflich-
keit und vernünftiger Erklärbarkeit an. Ein Wesen, das als Ursache sei-
ner selbst (causa sui) bestimmt werden kann, ist verständlicherweise
durch eine Kausalität gekennzeichnet, die mit den wirkenden Ursachen
der endlichen Dinge kaum etwas zu tun hat. 336 Es ist daher kein Wun-
der, dass in diesem Zusammenhang bereits Descartes von »Ursache oder
Grund« (causa sive ratio) spricht und dabei im lateinischen Originaltext
nicht etwa das exklusive, ausschließende aut, sondern das konzessive,
zulassende oder sogar eine Gleichsetzung andeutende sive (»oder
auch«) gebraucht. Die Ursache, die für Gottes Existenz überhaupt in
Betracht kommt, ist eher ein Vernunftgrund als eine wirkende Ursache;
er ist eigentlich nur eine Erklärung dafür, warum hier ein Hinweis auf
eine wirkende Ursache notwendig fehl am Platze ist.
Gleichwohl bleibt dieser Vernunftgrund bei Descartes irreduzibel
etwa auf das Argument, dem zufolge die Existenz Gottes aus seiner
Wesenheit folgt. Diesen auf Anselm von Canterbury zurückgehenden
»ontologischen Gottesbeweis« bringt zwar – in veränderter Gestalt –
gerade die cartesianische Erste Philosophie wieder in Umlauf, aber bei
Descartes selbst dient er keineswegs unmittelbar dazu, die Bestimmung
von Gott als Ursache seiner selbst zu begründen. Der Vernunftgrund,
der in den Antworten auf die Einwände gegen die Meditationen über
die Erste Philosophie angeführt wird, hängt vielmehr mit der Uner-
119
Grundtypen der Metaphysik
messlichkeit von Gottes Natur zusammen, die zwar keine wirkende Ur-
sache ist, aber dennoch in eine Analogie 337 mit der Wirkungsmächtig-
keit der wirkenden Ursache gebracht werden kann: »Denn wenngleich
es nicht nötig ist, zu sagen, daß er [nämlich Gott] die wirkende Ursache
seiner selbst ist, um nicht über Worte zu streiten, so ist es doch, weil wir
wahrnehmen, daß das, was durch sich ist, d. h. was keine von sich ver-
schiedene Ursache hat, nicht durch ein Nichts, sondern durch die reale
Unermeßlichkeit seiner Macht ist, für uns durchaus statthaft zu den-
ken, daß er in gewisser Weise mit Bezug auf sich selbst dieselbe Rolle
spielt wie die wirkende Ursache in Bezug auf ihre Wirkung, und daß er
demnach positiv durch sich selbst ist.« 338
Aus diesen Zeilen geht deutlich hervor, dass Descartes dem gött-
lichen Wesen ein in sich gegründetes Durch-sich-selbst-sein – also eine
positive Aseität – zuschreibt (und nicht etwa eine bloß negative Aseität,
ein Eben-nur-nicht-von-Anderem-sein oder eine Non-Abalienität). Er
stützt sich dabei auf die Idee einer Unermesslichkeit von Gottes Macht.
Darüber hinaus stellt er eine Analogie zwischen der unermesslichen
Macht Gottes und der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache heraus,
indem er betont, dass sich Gott zu sich selbst ähnlich verhält wie die
wirkende Ursache zu ihrer Wirkung. In seinen Antworten auf die Ein-
wände von Antoine Arnauld, einem entschiedenen Gegner der Analo-
gie zwischen der unermesslichen Macht Gottes und der Wirkungs-
macht der wirkenden Ursache, besteht Descartes durchaus darauf, dass
die Unermesslichkeit von Gottes Macht eine »positive Ursache« ist, die
»durch Analogie mit der wirkenden verglichen werden kann« 339 und
dass »alle diese Ausdrucksweisen, die von der Analogie mit der wirken-
den Ursache entlehnt sind, […] sehr notwendig [sind], um das natür-
liche Licht derart zu lenken, daß wir diese Dinge deutlich bemerken
[…]«. 340 Er setzt präzisierend noch hinzu, dass er sich der Analogie mit
der wirkenden Ursache bedient hat, »um das zu erklären, was zur For-
malursache, d. h. zur Wesenheit Gottes selbst gehört«. 341
337
Marion zeigt in einer gesonderten Untersuchung, welche Rolle die Analogie in der
Cartesischen Lehre von Gott spielt. Siehe Jean-Luc Marion, Sur la théologie blanche de
Descartes, Paris: PUF 21991 (11981).
338 Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 110 f.; dt. S. 99 f.;
fr. S. 216.
339
Ebd., Bd. VII, S. 240; dt. S. 217; fr. S. 328.
340
Ebd., Bd. VII, S. 241; dt. S. 218; fr. S. 328 f.
341 Ebd., Bd. VII, S. 241; dt. S. 219; fr. S. 329.
120
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
342
Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 121.
343
Ebd.
344 Ebd., S. 136.
121
Grundtypen der Metaphysik
Nicht allein Descartes, sondern auch Spinoza fasst Gott als Ursache sei-
ner selbst (causa sui) auf. Er verwendet ebenfalls die Formel causa seu
ratio (»Ursache oder auch Grund«), und zwar vor allem in seinem zwei-
ten Beweis der Existenz Gottes. 345 In diesem Text formuliert er auch ein
Kausalitätsprinzip (oder auch einen Satz vom Grund). Das sind wichtige
Übereinstimmungen mit Descartes; aber auch die Unterschiede sind
unverkennbar.
1. Ursache oder Grund. Wie wir gesehen haben, sucht Descartes den
Umstand, dass Gott keiner wirkenden Ursache bedarf, um zu exis-
tieren, auf einen Vernunftgrund zurückzuführen, der sich durchaus
in eine Analogie mit der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache
bringen lässt. Ein Äquivalent zu diesem Rückgriff auf die Idee der
345
Baruch Spinoza, Die Ethik, Lateinisch-Deutsch mit der revidierten Übersetzung von
Jakob Stern, Stuttgart: Reclam 1984, Teil I, Lehrsatz 11, Anderer Beweis.
122
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
Analogie gibt es bei Spinoza nicht. In der Ethik wird die wirkende
Ursache durch die formale Ursache (die Wesenheit) ersetzt; die
Existenz Gottes folgt – im Sinne des ontologischen Arguments –
einfach aus dessen Wesen. Das Wort »folgt« verweist dabei nicht
etwa auf eine ursächliche Erzeugung, sondern auf eine logische
Schlussbeziehung. Zwar erzeugt bei Spinoza die genetische Defi-
nition das Definiendum, aber die Erzeugung nimmt auch hier die
Form deduktiver Ableitung an. Es ist gewiss wahr, dass dem Begriff
der »Macht« Gottes (potentia Dei) wie auch dem des Strebens nach
Selbsterhaltung (conatus sese conservandi) eine grundlegende
Rolle in der Ethik zukommt, aber Spinoza lässt sich eher durch
eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Handeln als durch
eine Vorstellung von der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache
überhaupt dazu hinleiten, diese dynamischen Begriffe zu bilden.
2. Gott als Ursache seiner selbst. Das Gesagte verbindet sich bei Spi-
noza mit einem Funktionswechsel der Idee von causa sui. Es ist
nicht mehr die Unermesslichkeit von Gottes Macht, die sich in
dieser Idee ausdrückt, sondern einzig und allein das ontologische
Argument, das die Existenz Gottes aus seinem Wesen ableitet. 346
Mit einer wirkenden Ursache hat dieses Argument nichts zu tun;
es handelt sich dabei vielmehr um einen bloßen Vernunftgrund.
Der Zusammenhang zwischen dem Wesen und der Existenz Gottes
ist bei Spinoza ein Zusammenhang formaler Rationalität; er ist
vernunftmäßig, ohne wirkungsmächtig zu sein. In der Ethik »wird
die Ursache im Ausgang von der als Formalität verstandenen Ra-
tionalität gedacht – die Wirkungsmächtigkeit ist dabei nur die äu-
ßerliche Doublette der Formalität.« 347 Noch wichtiger ist aber, dass
in der Ethik die formal-rationale Ursächlichkeit, die charakteris-
tisch für Gott als Ursache seiner selbst ist, darüber hinaus als das
Muster aller Ursächlichkeit gilt. Bei Descartes war Gott als Ursache
seiner selbst ein äußerster Grenzfall; er allein war causa sui. Da-
gegen ist bei Spinoza die Kausalität, die der causa sui eigentümlich
ist, geradezu die eigentliche Kausalität in aller Kausalität. Daraus
folgt – im Gegensatz zu Descartes’ Rückgriff auf die Idee der Ana-
logie – eine »Univozität« der Ursache: »[…] in dem Sinne, in wel-
chem Gott die Ursache seiner selbst heißt, muss er auch die Ur-
346
Carraud, Causa sive ratio, S. 320.
347 Ebd., S. 324.
123
Grundtypen der Metaphysik
sache aller Dinge heißen […].« 348 Diese Univozität der Kausal-
beziehung – bemerkt dazu Carraud – ist jedoch im Grunde keine
andere als die Univozität der Rationalität.
3. Satz vom Grund. In dem zweiten Beweis von Gottes Existenz, der
zum Lehrsatz 11 des ersten Teiles der Ethik gehört, formuliert Spi-
noza das Prinzip der Kausalität (oder auch den Satz vom Grund).
Diese Formulierung enthält manche Eigentümlichkeiten, die von
Carraud deutlich herausgestellt werden. Es heißt bei Spinoza:
»Von jedem Ding muß eine Ursache oder ein Grund angegeben
werden, sowohl warum es existiert als auch warum es nicht exis-
tiert. Wenn z. B. ein Dreieck existiert, so muß es auch einen Grund
oder eine Ursache geben, warum es existiert. Existiert es aber
nicht, so muß es ebenfalls einen Grund oder eine Ursache geben,
welche hindert, daß es existiert, oder welche seine Existenz auf-
hebt.« 349 Was leitet Spinoza dazu hin, nicht allein die Existenz,
sondern auch die Nicht-Existenz der Dinge begründen zu wollen?
Es ist nicht leicht, auf diese Frage eine eindeutige Antwort zu ge-
ben. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um eine eigentümliche
Formulierung des Satzes vom Grund; von einer Begründung der
Nicht-Existenz ist weder bei Descartes noch bei Leibniz die Rede.
Carraud ist der Ansicht, dass diese merkwürdige Formulierung des
Satzes vom Grund verrät, in welchem eigentümlichen Sinne Spi-
noza diesen Satz versteht. Tatsächlich scheint der Satz vom Grund
in dieser Spinozanischen Formulierung einen bloßen Mangel an
verhindernden oder vereitelnden Gründen anzudeuten. 350 Zu der-
artigen Gründen gehört sicherlich an erster Stelle der Wider-
spruch, aber es legen sich der Entstehung der Dinge oft auch Hin-
dernisse faktisch-empirischer Natur in den Weg. Diese negative
Bestimmung des Grundes lässt die eigentliche Wirkungsweise der
wirkenden Ursache völlig im Dunklen.
348
Spinoza, Ethik, Teil I, Lehrsatz 25, Anmerkung.
349
Ebd., Teil I, Lehrsatz 25, Anderer Beweis.
350
Carraud nennt daher den Satz vom Grund in seiner Spinozanischen Fassung »princi-
pe de non-raison contrariante« (Carraud, Causa sive ratio, S. 327).
124
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
Leibniz versucht die wirkende Ursache mit der formalen Ursache und
der Zweckursache in einem System von harmonia praestabilita zu ver-
einen. Er unterscheidet dabei bekanntlich zwei Ebenen: Hinter den Er-
scheinungen der Natur verbirgt sich bei ihm die Ebene metaphysischer
Substanzen, die er als »Monaden« bezeichnet. Die Ebene der Erschei-
nungen ist das Wirkungsfeld der wirkenden Ursachen; die Ebene der
Monaden ist dagegen das Reich der formalen Ursachen (Wesenheiten)
und der Zweckursachen. Aber bereits das Wort »Erscheinung« deutet
einen Rangunterschied zwischen den beiden Ebenen oder Reichen an.
Das Reich der wirkenden Ursachen wird von Leibniz dem Reich der
formalen Ursachen und der Zweckursachen untergeordnet.
Diese Unterordnung wird durch eine besondere Auffassung von
der Wirkungsweise der wirkenden Ursachen ermöglicht. Den cartesia-
nischen Grundsatz, dem zufolge die Ursache mindestens so viel Realität
(Sachhaltigkeit) enthält wie die Wirkung – und aus dem wegen des
Wörtchens »mindestens« folgt, dass die Ursache auch mehr Realität
enthalten kann als die Wirkung –, ersetzt er durch ein Prinzip der strik-
ten Gleichwertigkeit oder Gleichmächtigkeit von Ursache und Wir-
kung. Dieses Prinzip macht es möglich, die Gesamtursache einer Sache
mit der Totalität der Bedingungen ihrer Existenz gleichzusetzen. Car-
raud zeigt, welche Konsequenzen diese Vorstellung von Ursache und
125
Grundtypen der Metaphysik
Wirkung nach sich zieht. Dass die Existenz der Sache durch ihre Ge-
samtursache realiter erzeugt wird, kann nunmehr völlig unbeachtet
bleiben; erwogen werden ja nur noch die Bedingungen, die erfüllt sein
müssen, damit die Sache in die Existenz tritt. Die Gesamtheit dieser
Bedingungen kann als ein zureichender Grund dieser Existenz betrach-
tet werden. Der zureichende Grund ist aber ein reiner Vernunftgrund.
Das hat zur Folge, dass Leibniz die Wirkmächtigkeit der wirkenden Ur-
sache nicht mehr braucht, um von der Existenz der Wirkung Rechen-
schaft zu geben: Der Vernunftgrund ist für sich allein zureichend. 354
Das Prinzip der Kausalität kann bei Leibniz ebendeshalb eindeuti-
ger noch als bei Descartes oder Spinoza in einen Satz vom Grund ver-
wandelt werden. Bereits Schopenhauer sah deutlich, dass sich die euro-
päische Philosophie seit Platon und Aristoteles auf die Überzeugung
gestützt hatte, alles habe seine Ursache oder auch seinen Grund. 355
Gleichwohl wurde der Satz vom Grund – im Gegensatz etwa zum be-
reits von Platon und besonders von Aristoteles ausgesprochenen Satz
vom Widerspruch – erst spät (nämlich von Leibniz) ausdrücklich for-
muliert. Heidegger spricht daher von einer »Incubationszeit« des Satzes
vom Grund. 356 Es handelt sich aber keineswegs bloß darum, dass Leib-
niz – im Anschluss an Descartes und Spinoza – ein seit mehr als zwei
Jahrtausenden bekanntes Kausalitätsprinzip endlich in eindeutige Wor-
te fasst. Vielmehr drückt der nunmehr allgemein formulierte Satz vom
Grund eine ganz eigentümliche – nämlich rein rationalistische – Auf-
fassung vom Prinzip der Kausalität aus.
Leibniz vereint das Reich der wirkenden Ursachen mit dem Reich
der formalen Ursachen und der Zweckursachen, indem er Gott als »den
letzten Grund der Dinge« (ultima ratio rerum) bestimmt. Es heißt in
der Monadologie: »So muß der letzte Grund der Dinge in einer not-
wendigen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderungen
nur in eminenter Weise wie in der Quelle vorkommt, und diese Sub-
stanz nennen wir Gott.«357
354
Ebd., S. 409.
355
Arthur Schopenhauer, Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde [Sämmtliche Werke, Bd. I], hg. von Julius Frauenstädt, Leipzig: Brockhaus 1873,
S. 6 f.
356
Martin Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], hg. von Petra
Jaeger, Frankfurt am Main: Klostermann 1997, S. 4 f., S. 80–82 und S. 95 f.
357
Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la philosophie ou Monadologie, § 38, in:
Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grâce – Principes de la phi-
126
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
Wie verhält sich jedoch dieser letzte Grund der Dinge zu deren
Existenz? Zwei wichtige Texte können wir vornehmlich heranziehen,
um diese Frage zu beantworten: einerseits den kleinen Aufsatz De re-
rum originatione radicali (1697), andererseits die von Heidegger im
zweiten Band seines Buches über Nietzsche veröffentlichten 24 Sätze 358
(die übrigens von Louis Couturat unter dem Titel Résumé de métaphy-
sique herausgegeben wurden). 359 Wir können diesen Texten – mit
einem Ausdruck von Jean Beaufret – eine »allgemeine Dynamisierung
der Wesenheiten in Richtung Existenz« entnehmen. 360 In der Tat
schreibt Leibniz in den 24 Sätzen dem Wesen ein »Streben nach Exis-
tenz« (conatus ad Existentiam) zu. 361 In De rerum originatione radicali
spricht er davon, dass die Wesenheit von sich aus nach der Existenz
drängt (essentiam per se tendere ad existentiam) und dass sie durch
»eine Forderung, zu existieren« (praetensionem ad existendum) ge-
kennzeichnet ist. 362 Carraud fasst diese Gedanken in die Formel »Macht
der Möglichkeit«. 363 Um die Schöpfung der Welt zu beschreiben, geht
Leibniz von einem uranfänglichen Wettstreit aus, an dem sich die ein-
zelnen Möglichkeiten je nach dem in ihnen enthaltenen Realitätsgrad
beteiligen.
Dabei haben die Möglichkeiten bereits eine gewisse Realität (ha-
bent realitatem) in Gott. Den Schöpfergott fasst Leibniz als das »Mög-
liche par excellence« 364 auf. Er fügt aber hinzu, dass Gott gleichzeitig
losophie ou Monadologie, hg. von André Robinet, Paris: PUF 31986 (11954), S. 93; dt. in:
Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz
Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–
Deutsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 455 f.
358
Martin Heidegger, Nietzsche II [Gesamtausgabe, Bd. 6.2], hg. von Brigitte Schillbach,
Frankfurt am Main: Klostermann 1997, S. 414–416.
359
Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules et fragments, hg. von Louis Couturat, Hildes-
heim: Olms 1966 (unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1903), S. 533–535.
360
Jean Beaufret, Leçons de philosophie, édition établie par Philippe Fouillaron, Paris:
Seuil, 1998, Bd. I, S. 252.
361
Heidegger, Nietzsche II [Gesamtausgabe, Bd. 6.2], S. 414.
362
Gottfried Wilhelm Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Opuscula philoso-
phica selecta, hg. von Paul Schrecker, Paris: Vrin 1966, S. 87 (vgl. Gottfried Wilhelm
Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, Berlin 1890, Nach-
druck: Hildesheim: Olms 1965, S. 303); dt. »Über den ersten Ursprung der Dinge«, Fünf
Schriften zur Logik und Metaphysik, übersetzt und hg. von H. Herring, Stuttgart: Re-
clam 1995, S. 37.
363
Carraud, Causa sive ratio, S. 482.
364 Ebd., S. 485.
127
Grundtypen der Metaphysik
»der Grund für sein eigenes Existieren« ist (sibi ipsi ratio est existen-
di). 365 Das ist die Leibniz’sche Formel für Gott als causa sui.
Welche Möglichkeiten gewinnen nun in dem uranfänglichen
Wettkampf der Wesenheiten die Oberhand? Darüber entscheidet nach
Leibniz keineswegs etwa die Willkür des Schöpfergottes, sondern viel-
mehr ein Optimierungsprinzip, das zur Folge hat, »daß aus den unend-
lich vielen Verbindungen des Möglichen und den unendlich vielen
möglichen Reihen diejenige existiert, durch die das meiste an Wesen-
heit oder Möglichkeit zum Dasein gebracht wird.« 366 Das ist der Kern
des Leibniz’schen Gedankens, dass sich in der Gestalt der wirklichen
Welt die beste aller möglichen Welten verwirklicht hat.
Das von Leibniz formulierte Optimierungsprinzip klingt wie ein
mathematischer Grundsatz. Daher finden wir in dem kleinen Aufsatz
De rerum originatione radicali – wie auch in anderen Schriften – aus-
drückliche Hinweise auf eine »göttliche Mathematik«. 367 In den Augen
von Leibniz ist die Schöpfung ein göttlicher Denkprozess, der den Re-
geln der Mathematik folgt. Es heißt daher an einer Stelle: »Während
Gott rechnet und das Denken ausübt, entsteht die Welt« (Cum Deus
calculat et cogitationem exercet, fit mundus). 368
Diese Überlegungen machen »den Vorrang des Grundes gegen-
über der Ursache« 369 bei Leibniz augenscheinlich. Zugleich zeugen sie
von einer gewissen Umwandlung der ontotheologischen Verfassung,
für die das Sein jedes Seienden als verursachtes Seiendes kennzeich-
nend ist. Denn bei Leibniz dreht sich diese Struktur um den Begriff
einer durch die Wesenheiten geforderten und erstrebten Existenz. 370
Der Drang des Möglichen nach Verwirklichung bestimmt hier den Sinn
des Seins; er »gründet«, mit anderen Worten, das Sein jedes Seienden.
Dabei ist das Seiende nichts anderes als das Mögliche, das bereits als
solches in Gott eine Realität hat, aber darüber hinaus auch noch die
Gestalt des Wirklichen annimmt, gesetzt allerdings, dass es in eine
Rechnung (oder Kalkulation) Gottes Eingang findet. Dadurch erweist
365
Ebd., S. 472.
366
Ebd., S. 87 (vgl. Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 303); dt.
S. 37.
367 Ebd., S. 88 (vgl. Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 304), dt.
S. 38.
368
Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 191.
369
Carraud, Causa sive ratio, S. 483.
370 Ebd., S. 491.
128
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund
sich jedes Seiende als ein durch den letzten Grund der Dinge verursach-
tes – oder vielmehr »begründetes« – Seiendes (ens causatum). Man
achte aber auch darauf, dass der Eingang in den göttlichen Denkprozess
dem Wirklichen von vornherein das Gepräge eines gedachten Seienden
oder eines Denkobjekts (ens cogitatum oder cogitabile) aufdrückt. Auf
diese Weise verschränken und verflechten sich bei Leibniz bis zur Un-
unterscheidbarkeit die beiden ontotheologischen Strukturen, die uns
bei Descartes noch in trennbarer Form begegnet waren.
Für diese grandiose Konzeption muss aber auch Leibniz mit einem
nur allzu abstrakten Begriff des Seienden zahlen. Dem Seienden kommt
ja bei ihm, selbst wenn es wirklich wird, lediglich ein Sein zu, das sich
durch kein inneres Kriterium vom Sein des Möglichen unterscheiden
lässt. Daher bleibt das Seiende auch bei Leibniz und – wie wir hinzu-
fügen können – seinen Nachfolgern aus der deutschen Aufklärungszeit
ein Etwas überhaupt, kaum mehr als nichts. Daraus wird ersichtlich,
dass die katholou-tinologische Grundstruktur auch unter der Vorherr-
schaft epistemischer Protologie erhalten bleibt. Kant wird der erste sein,
der sich gegen sie wendet.
129
Grundtypen der Metaphysik
Kant ist ohne Zweifel der erste große Kritiker der ontotheologischen
Tradition. Unter Ontotheologie versteht er eine apriorische Lehre von
dem Seienden, das alle Sachhaltigkeit (Realität) in einem Höchstmaß in
sich vereinigt. So verstanden nimmt Gott als das erste und höchste Sei-
ende die Gestalt des »transzendentalen Ideals der Vernunft« an. Die
Analyse, der dieses Ideal in der Kritik der reinen Vernunft unterzogen
wird, markiert einen deutlichen Bruch mit der ontotheologischen Tra-
dition. Deshalb darf sie in unseren Überlegungen über das Verhältnis
von Metaphysik und Ontotheologie nicht außer Acht bleiben.
Der Bruch mit der Ontotheologie ist ein integrierender Bestandteil
der »Revolution der Denkart«, die Kants Kritik der reinen Vernunft
herbeiführt. Diese Revolution eröffnet bis dahin ungeahnte Denkmög-
lichkeiten, die sich einem »transzendentalphilosophischen« Ansatz in
einem völlig neuen Sinne des Wortes einfügen. Von phänomenologisch
eingestellten Forschern in der französischen Philosophiegeschichts-
schreibung der letzten Jahrzehnte wie Marc Richir und Jean-Luc Ma-
rion wurden allerdings gewisse Zweideutigkeiten in diesem Ansatz ent-
deckt, die einen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit erheben. Die
Einwände der beiden Denker richten sich gegen den charakteristischen
Begriff einer »Möglichkeit der Erfahrung« oder auch einer »möglichen
Erfahrung« bei Kant. 371
In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant, wie die »Vernunft«
versucht, »ein jedes Ding so vor[zustellen], wie es von dem Anteil, den
es an [der] gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Wirklichkeit ablei-
te«. 372 In diesem Versuch der »Vernunft« können wir mit Richir das
Kernanliegen derjenigen Metaphysik erkennen, die Kant wegen ihres
371 In dem zusammen mit Hans-Dieter Gondek verfassten Buch Neue Phänomenologie
in Frankreich (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011) habe ich diese Themen bereits kurz
gestreift. Manche inhaltliche Überschneidungen mit dieser Darstellung lassen sich im
Folgenden nicht vermeiden.
372 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 572/B 600.
130
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
131
Grundtypen der Metaphysik
373
Ebd., A 572/B 600.
374
Ebd., A 573/B 601.
375 Ebd., A 572/B 600.
132
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
Möglichkeit« 376 oder des »Inbegriffs aller Möglichkeit« 377. Diese Idee
setzt allerdings eine vollständige Analyse der Begriffe voraus. Wir
finden, wie Kant sagt, dass die Idee der gesamten Möglichkeit, »als Ur-
begriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, die als abgeleitet durch
andere schon gegeben sind, oder nebeneinander nicht stehen kön-
nen […]«. 378 Das Zusammenbestehen der Prädikate in der Gesamtheit
aller Möglichkeiten ist nur dann gesichert, wenn alle Prädikate, die eine
ausdrückliche Verneinung oder auch nur einen verborgenen Mangel
ausdrücken, entfernt werden. Wenn wir uns vorstellen, dass eine voll-
ständige Analyse der Begriffe durchgeführt, alle zusammengesetzten
Prädikate auf einfache zurückgeführt und alle ausdrücklich oder unaus-
drücklich negativen Prädikate von unserer Sammlung ausgeschlossen
wurden, so erhalten wir eine bestimmte Menge positiver Prädikate, die
voneinander unabhängig sind und nicht mehr einen Mangel oder ein
Nichtsein, sondern lauter sachhaltige Merkmale der Dinge ausdrücken.
Kant ist mit der metaphysischen Tradition völlig in Einklang, wenn er
den Gehalt derartiger Merkmale als »Realität (Sachheit)« bezeichnet. 379
Die Bedeutung dieses Terminus hat – im Gegensatz zum heute vorherr-
schend gewordenen Sprachgebrauch – mit Realität im Sinne von Wirk-
lichkeit nichts zu tun. Vielmehr ist mit dem Wort Realität einzig und
allein Sachhaltigkeit und damit gerade nicht Wirklichkeit, sondern viel-
mehr ein Stück Möglichkeit gemeint. Der »Inbegriff aller Möglichkeit«
ist nichts anderes als die Gesamtheit aller Sachhaltigkeit oder auch »das
All der Realität (omnitudo realitatis)«. 380 Es ist nun nicht mehr schwie-
rig zu begreifen, warum das All der Realität als eine Bedingung der
Möglichkeit für die Erfahrung der Dinge bezeichnet werden kann. Kant
sagt: »[…] die Realitäten enthalten die Data und sozusagen die Materie
oder den transzendentalen Inhalt zu der Möglichkeit und durchgängi-
gen Bestimmung aller Dinge«. 381 Er setzt hinzu, dass das All der Reali-
tät ebendeshalb der durchgängigen Bestimmung aller Dinge als »ein
transzendentales Substratum zugrunde gelegt wird, welches gleichsam
den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle möglichen Prädikate der Dinge
376
Ebd.
377 Ebd., A 573/B 601.
378
Ebd., A 573 f./B 601 f.
379
Ebd., A 574/B 602.
380
Ebd., A 574 f./B 602 f.
381 Ebd., A 575/B 603.
133
Grundtypen der Metaphysik
382 Ebd.
383
Ebd., A 578 f./B 606 f.
384
Ebd., A 580/B 680.
385
Ebd., A 632/B 660.
386 Ebd., A 578/B 606.
134
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
diesen Fortgang genau ins Auge und entdeckt in ihm bei näherem Zu-
sehen drei Denkschritte, die er ohne Ausnahme fragwürdig findet:
»Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße
Vorstellung ist, zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hy-
postasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft
zur Vollendung der Einheit, personifiziert […]«. 387 Die Denkoperation
der Personifizierung legt dem Verständnis dieser Stelle keine Schwie-
rigkeit in den Weg. Der Begriff der Hypostasierung ist ebenfalls ohne
Weiteres verständlich: In der Gestalt des transzendentalen Ideals wird
die Idee der Gesamtheit der Realität (omnitudo realitatis) für ein seien-
des Wesen (ens realissimum) ausgegeben. Was ist aber mit »Realisie-
rung« gemeint? Kant verwendet dieses Wort auch an einer weiteren
Stelle. Er macht deutlich, dass wir nur deshalb den Schritt vom All der
Realität zum allerrealsten Wesen vollziehen können, weil wir »das
Mannigfaltige unserer Idee in einem Ideale, als einem besonderen We-
sen, zusammenfassen und realisieren, wozu wir keine Befugnis ha-
ben […].« 388 Diese Texstelle zeigt, dass eigentlich nicht das Ideal des
allerrealsten Wesens, sondern vielmehr die Idee eines Alls der Realität
»realisiert« wird, um dann in der Gestalt des Ideals auch hypostasiert
und sogar personifiziert zu werden. Es wird, mit anderen Worten, im
Grunde nur die Gesamtheit aller Möglichkeiten – oder auch die »ge-
samte Möglichkeit« – »realisiert«. In dieser Realisierung der gesamten
Möglichkeit entdeckt Kant den ersten und entscheidenden Schritt auf
einem Weg, der schließlich zur »Erdichtung« 389 des transzendentalen
Ideals und zum Blendwerk der Ontotheologie führt. Den Begriff »Rea-
lisierung« bestimmt er jedoch nicht näher.
Es ist ein Verdienst von Richir, die Bedeutung einer Realisierung der
gesamten Möglichkeit für Kants Kritik der spekulativen Metaphysik
deutlich erkannt zu haben. Diese Erkenntnis bliebe aber leer, wenn der
Begriff »Realisierung« dabei nicht näher bestimmt würde. Daher hebt
387
Ebd., A 583, Anm./B 611, Anm.
388
Ebd., A 580/B 608.
389 Ebd.
135
Grundtypen der Metaphysik
Richir hervor, dass mit der Gesamtheit aller Möglichkeiten nichts mehr
als eine bloße »Möglichkeit der Möglichkeiten« gemeint sein kann. 390
Die Realisierung der gesamten Möglichkeit erfolgt dann, wenn diese
Möglichkeit der Möglichkeiten – sozusagen eine Möglichkeit zweiter
Ordnung – ihrerseits »zum Objekt gemacht« und als eine eigenständige
Wirklichkeit gesetzt wird. Mit einer Verwirklichung einzelner Möglich-
keiten hat diese Realisierung der gesamten Möglichkeit nichts zu tun.
Wenn die Möglichkeit der Möglichkeiten als eine eigenständige Wirk-
lichkeit gesetzt wird, so werden dadurch die einzelnen Möglichkeiten
nicht in Wirklichkeiten verwandelt, sondern sie bleiben eben nur Mög-
lichkeiten und werden gerade als solche (nämlich als Möglichkeiten)
realisiert. Beim Verständnis dieser verwickelten Zusammenhänge kann
ein Hinweis auf den bereits mehfach herangezogenen Aufsatz De rerum
origine radicali hilfreich sein. In diesem Aufsatz hatte bereits Leibniz
das – nach ihm im Lateinischen »barbarisch« (oder »ungebildet«) klin-
gende – Wort »realisare« gebraucht, und zwar um die Existenz der Ge-
samtheit der Möglichkeiten in Gott zu bezeichnen. 391 Nach Richirs
Deutung besteht nun die von Kant erwähnte »transzendentale Subrep-
tion« gerade darin, dass die bloße Möglichkeit der Möglichkeiten auf
eine ähnliche Weise als eine eigenständige Wirklichkeit aufgefasst wird.
Die »Erdichtung« ergibt sich demnach aus der »Verwandlung der Mög-
lichkeiten aller Dinge in reelle Bedingungen […] ihrer durchgängigen
Bestimmung«. 392 Das ist der genaue Sinn von »Realisierung« in der
Kritik der reinen Vernunft.
Kant betont, dass das Ideal des allerrealsten Wesens »auf einer na-
türlichen und nicht bloß willkürlichen Idee« beruht. 393 Es handelt sich
dabei offenbar um die Idee eines Alls der Realität, also der Gesamtheit
aller Möglichkeiten. An dieser Idee ist also nach Kant nicht zu rütteln.
Warum wird jedoch die Idee der gesamten Möglichkeit in ein erschli-
chenes Ideal verwandelt? Kant sieht es durchaus als seine Aufgabe an,
dem Grund dieses verhängnisvollen Denkschritts nachzugehen. Daher
fragt er: »wie kommt die Vernunft dazu, alle Möglichkeit der Dinge als
abgeleitet von einer einzigen, die zugrunde liegt, nämlich der der
136
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
394 Ebd.
395
Ebd., A 582/B 610.
396
Ebd.
397
Ebd.
398 Ebd.
137
Grundtypen der Metaphysik
vollständig aufgedeckt. Aus ihr folgt zugleich, dass mit dem »Inbegriff
aller empirischen Realität« nicht etwa eine kollektive, sondern eine dis-
tributive Einheit gemeint ist. Die Realität – im Sinne von Sachhaltigkeit
– ist in der Erfahrung überallhin zerstreut, nicht in ein Ganzes versam-
melt. Gleichwohl betrachtet Kant die »einige allbefassende Erfahrung«
noch immer als ein All der Realität und als einen »Vorrat des Stoffes«,
aus dem »alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden kön-
nen«. Richir trennt die beiden größeren Komponenten dieser komple-
xen Vorstellung voneinander: Der Ausdruck »Vorrat des Stoffes« ver-
weist nach ihm noch auf eine bloße »Möglichkeit der Möglichkeiten«;
dagegen erweckt der Gedanke, dass aus diesem Vorrat »alle möglichen
Prädikate der Dinge genommen werden können«, den Verdacht, dass
diese Möglichkeit in der transzendentalen Analytik am Ende doch »rea-
lisiert« wird. Die Erfahrung kann uns mit keinem Prädikat bekannt-
machen, das nicht immer schon in dieser Sammlung aller möglichen
Prädikate enthalten wäre.
Richir und Marion entwickeln Denkansätze, die innerhalb der
Neuen Phänomenologie in Frankreich einander in mehrfacher Hinsicht
entgegengesetzt sind. Gleichwohl formuliert Marion Argumente gegen
Kants transzendentalen Möglichkeitsbegriff, die den gerade dargestell-
ten Bedenken von Richir durchaus ähnlich sind.
In Étant donné befasst sich Marion nicht unmittelbar mit Kants
Analyse des transzendentalen Ideals. Er interessiert sich vielmehr nur
für das Schicksal des Satzes vom Grund in der Kritik der reinen Ver-
nunft. Aber genauso wie Richir befasst er sich dabei in erster Linie mit
Kants Begriff möglicher Erfahrung. Er erhebt wichtige Einwände gegen
diesen Begriff.
Man findet die einschlägigen Ausführungen von Marion am Be-
ginn des vierten Teils von Étant donné. Es wird hier das erste »Postulat
des empirischen Denkens überhaupt« aus der Kritik der reinen Ver-
nunft zitiert: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der
Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.« 399
Der Hinweis auf die Anschauung verbindet die Möglichkeit der Dinge
mit ihrem Erscheinen, ihrer Phänomenalität. Marion stellt die Frage:
»Sollten wir daraus den Schluss ziehen, dass der erscheinende Gegen-
stand seine Möglichkeit geltend macht, statt sie ihren Bedingungen zu
138
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
unterwerfen?« 400 Er bezieht diese Frage auf die Kritik der reinen Ver-
nunft, und in Bezug auf dieses Werk ist seine Antwort verneinend: »Die
Möglichkeit folgt nicht aus dem erscheinenden Gegenstand, sondern,
im Gegenteil, aus den Bedingungen, die für jeden erscheinenden Ge-
genstand gesetzt sind.« 401 Denn es ist bei Kant nicht etwa der erschei-
nende Gegenstand, mit dem die Möglichkeit übereinstimmt, sondern
die »formalen Bedingungen der Erfahrung«, die ihrerseits »durch die
Erkenntnisvermögen bestimmt werden, nicht aber durch das Vermögen
des phänomenalen Gegenstands der Erfahrung, zu erscheinen. 402
Marion fügt hinzu: »Die Möglichkeit – und daher auch die Unmöglich-
keit – wird durch das ›Vermögen, zu erkennen,‹ festgelegt, das heißt:
durch das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff in einem end-
lichen Geist.« 403
Nach Marion bleibt Kant gerade in dieser Hinsicht derjenigen Auf-
fassung von der Möglichkeit verhaftet, die von Leibniz entwickelt wor-
den war. In einem seiner späten Werke hatte Leibniz deutlich gemacht,
dass nach ihm »nichts ohne zureichenden Grund geschieht, das heißt,
daß nichts geschieht, ohne daß es dem, der die Dinge genügend kennt,
möglich wäre, einen Grund anzugeben, der zureicht, um zu bestimmen,
warum es so und nichts anders ist«. 404 Daraus folgt aber, dass nichts
geschieht, nichts sich ereignet und nichts erscheint, ohne seine eigene
Möglichkeit angesichts des so formulierten Satzes vom zureichenden
Grunde beweisen oder bezeugen zu können. Die so verstandene Mög-
lichkeit ist durch zwei Grundzüge gekennzeichnet:
1. Sie geht dem, was sie eigentlich erst möglich macht, paradoxerwei-
se voraus, das heißt: sie geht dem Erscheinen des erscheinenden
Gegenstands voraus, indem sie diesem Erscheinen eine Bedingung
auferlegt.
2. Die Bedingung, an die die so verstandene Möglichkeit das Erschei-
nen des erscheinenden Gegenstandes bindet, ist keine andere als
400
Jean-Luc Marion, Étant donné, Paris, PUF, 1997, S. 253.
401
Ebd.
402
Ebd., S. 254.
403 Ebd.
404
Leibniz, Principe de la Nature et de la Grâce, § 7, hg. von André Robinet, S. 45; dt. »In
der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und der Gnade«, in: Philosophische
Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/
Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–Deutsch, S. 427.
139
Grundtypen der Metaphysik
die des »Vermögens, zu erkennen,« das hier als ein Vermögen, den
zureichenden Grund des Erscheinens zu erkennen, näher be-
stimmt wird.
Diese Grundzüge der Möglichkeit sind nach Marion Leibniz und Kant –
trotz aller Unterschiede ihrer jeweiligen Ansätze – gemeinsam. Es heißt
in Étant donné: »Im Bereich der metaphysischen Denkart (en régime
métaphysique) gehört die Möglichkeit des Erscheinens niemals dem
Erscheinenden und die Phänomenalität niemals dem Phänomen zu.« 405
Verbleibt also Kants Transzendentalphilosophie innerhalb des Be-
reichs der metaphysischen Denkart? Allem Anschein nach will Marion
gerade dies andeuten. Gewiss macht Kant vom Satz vom zureichenden
Grunde keinen Gebrauch. Er ersetzt das Leibniz’sche Prinzip durch
einen anderen Grundsatz, den er als den obersten Grundsatz aller syn-
thetischen Urteile bezeichnet und dem Satz vom Widerspruch als dem
obersten Grundsatz aller analytischen Urteile gegenüberstellt. Kants
oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile ist an den Gesichtspunkt
einer »Möglichkeit der Erfahrung« gebunden 406 und unterscheidet sich
ebendeshalb ganz offensichtlich vom Leibniz’schen Satz vom zurei-
chenden Grunde, aber er spielt bei Kant nach Marion eine ähnliche
Rolle wie der Satz vom zureichenden Grunde bei Leibniz, indem er das
Erscheinen des Erscheinenden der Bedingung des Vermögens zu erken-
nen unterwirft. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht
der wohlbekannten Behauptung der Kritik der reinen Vernunft zu: »die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich
Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […].« 407
Diese Behauptung, die als ein Folgesatz des obersten Grundsatzes aller
synthetischen Urteile aufgefasst werden kann, zeigt, wie in der Kritik
der reinen Vernunft die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung den Gegenständen der Erfahrung auferlegt werden. Damit
wird die Möglichkeit, dass die Erfahrung etwas völlig Unvorherseh-
bares und Unerwartetes mit sich bringen könnte, von vornherein aus-
geschlossen. Deshalb sagt Marion: »Kant führt das von Leibniz gestif-
tete Erscheinen unter Bedingung weiter, indem er es auf eine andere
Ebene versetzt. Ja, er radikalisiert es sogar. Denn Leibniz setzte den Satz
405
Marion, Étant donné, S. 255.
406
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 156/B 195.
407 Ebd., A 158/B 197.
140
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
vom zureichenden Grunde unter die Ägide ›des letzten Grundes aller
Dinge, den […] wir Gott nennen‹ ; 408 Kant dagegen schreibt ihn der
transzendentalen Apperzeption, also der Endlichkeit zu.« 409 Daraus
folgt, dass die Möglichkeit des Erscheinens nicht durch das Erscheinen-
de selbst begründet wird, sondern durch das Vermögen, zu erkennen,
und durch die beiden obersten Grundsätze, die zu diesem Vermögen
gehören. Deshalb erscheinen bei Kant »die erscheinenden Gegenstände
nur unter Bedingung, entfremdet wie sie sich selber sind durch ihre
ihnen auferlegte Phänomenalität.« 410
408
Leibniz, Principes de la philosophie ou Monadologie, § 38, S. 93.
409
Marion, Étant donné, S. 256 f.
410 Marion, Étant donné, S. 257.
141
Grundtypen der Metaphysik
142
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
143
Grundtypen der Metaphysik
417 Das ist insbesondere das Grundmotiv von Jean-François Courtines Untersuchungen
über den späten Schelling seit der Mitte der 1970er Jahre. Siehe Courtine, Extase de la
raison, S. 163 und S. 197; zur Formel »erste entscheidende Überwindung der ontotheo-
logisch verfassten Metaphysik (premier dépassement décisif de la métaphysique dans sa
constitution ontothéologique) siehe ebd., S. 10. Es handelt sich um ein Grundmotiv, das
Courtine auch in seiner vor Kurzem veröffentlichten Aufsatzsammlung Schelling entre
temps et éternité. Histoire et préhistoire de la conscience (Paris: Vrin 2012) weiterführt
(siehe besonders S. 59 und S. 81).
418
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie
[Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart und Augsburg:
Cotta 1860 ff., Abteilung I, Bd. X], S. 125 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg.
von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. IV, S. 541).
419
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen
144
Kants Kritik spekulativer Metaphysik
145
Grundtypen der Metaphysik
»Alles hat seinen zureichenden Grund«. 425 Hegel weist diesem von
Leibniz stammenden Grundsatz einen vornehmen Platz in seiner Wis-
senschaft der Logik zu: Er betrachtet ihn als eine Reflexionsbestim-
mung des Denkens, die zugleich einen Grundzug des Seins ausdrückt.
Bald fügt er jedoch hinzu: »Wenn […] auch gesagt wurde, was existiert,
hat einen Grund und ist bedingt, so müßte auch ebenso gesagt werden:
es hat keinen Grund und ist unbedingt.« 426 Demnach wird das Existie-
rende in einem gewissen Sinne als »das Grundlose« 427 bestimmt.
Es ist keine leichte Aufgabe, die Bedeutung dieser Bestimmung zu
entschlüsseln. Gewiss ist es offenkundig, dass Hegel in der Wissen-
schaft der Logik nicht allein die »Grundgesetze unseres Denkens« zu
erfassen sucht, sondern darüber hinaus einen »ontologischen An-
spruch« erhebt; deshalb bezeichnet er den »Anfang« der gedanklichen
Bewegung, die er darstellt, als Sein. 428 Es liegt jedoch in diesem Anfang
nur dann das Prinzip der logischen Entwicklung, »wenn er gedacht
wird«, 429 wenn er also von vornherein als ein »Reflexionsausdruck«
gelten kann. 430 Wie kommt aber das logische Denken dazu, einen onto-
logischen Anspruch zu erheben, wenn es das Sein von Anfang an bloß
als gedachtes Sein begreift? Wie kommt also die Reflexion dazu, gleich-
sam ihr Anderes von sich aus zu erfassen?
Zur Kennzeichnung der Hegel’schen Lösung dieses Problems kann
die von Christa Hackenesch geprägte Formel »Logik der Andersheit«
dienen. Wir können diesen Gedanken vielleicht auf folgende Weise auf
unser Grundproblem beziehen: Hegel gelingt es, selbst noch im gedach-
ten Sein das Andere des Denkens zu erfassen, das heißt einen Weg von
der Reflexion zu deren Anderem zu finden, weil er in der Identität des
425
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II [Werke in zwanzig Bän-
den, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 6], Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1969, S. 82.
426
Ebd., S. 125.
427 Ebd., S. 123.
428
Christa Hackenesch, Die Logik der Andersheit, Frankfurt am Main: Athenäum 1987,
S. 276.
429
Ebd., S. 274.
430 Ebd., S. 273 f.
146
Der Grund und das Grundlose bei Hegel
gedachten Seins mit sich selbst bereits die Differenz von Denken und
Sein mitdenkt.
Trifft diese Deutung zu, so erhält die terminologische Unterschei-
dung zwischen Sein und Existenz, so wie sie in der Wissenschaft der
Logik vollzogen wird, eine besondere Bedeutung. Denn die Differenz
zwischen Denken und Sein, die im Anfang der logischen Entwicklung
noch verborgen bleibt, tritt auf der Ebene der Existenz offen zutage.
Dass gerade das Existierende als das Grundlose bezeichnet wird, ist ein
Beleg für diese Behauptung. Die Grundlosigkeit ist nämlich nichts an-
deres als das Hauptmerkmal eines Seins, das nicht darin aufgeht, ge-
dacht zu werden und als bloßer Reflexionsausdruck zu gelten.
Trotz der Tatsache, dass Kant in seiner groß angelegten Auseinan-
dersetzung mit dem transzendentalen Ideal die Vorstellung von einer
»Realisierung« der Gesamtheit aller Möglichkeiten in dem Urwesen
mittlerweile einer grundsätzlichen Kritik unterzogen hat, knüpft Hegel
aufs Engste an Leibniz und seinen Satz vom zureichenden Grunde an;
aber seine »Logik der Andersheit« bringt es mit sich, dass diese An-
knüpfung keine eindeutige Weiterführung der Grundtendenz bedeutet,
die uns bei den Denkern des neuzeitlichen Rationalismus entgegen-
getreten ist. Der Umstand, dass die Wissenschaft der Logik das »Exis-
tierende« einerseits zwar aus seinem Grund hervorgehen lässt, anderer-
seits aber dennoch zugleich als das Grundlose bestimmt, genügt, die
Annahme eines bruchlosen Zusammenhangs zwischen Leibniz und He-
gel in zweifelhaftem Licht erscheinen zu lassen. Dieser Eindruck ver-
stärkt sich nur noch mehr, wenn wir der Frage nachgehen, wozu diese
grundsätzliche Bestimmung in der Entwicklung des Existenzbegriffs
verwendet wird.
Diese Entwicklung wird als eine Dialektik von Wesen und Existenz
begreiflich. Die treibende Kraft dieser Dialektik ist das »Pathos der Dar-
stellung«. 431 Was zum Wesen eines Dinges gehört, muss in die Existenz
treten, es muss erscheinen, es muss sich Gestalt geben. Hegels Polemik
gegen jede Vorstellung von einem Inneren, das sich im Äußeren nicht
auszudrücken vermag, verleiht dem Gedankengang seine Brisanz und
seine Eigendynamik.
431
Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch u. a., Hegels ›En-
zyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). Ein Kommentar zum System-
grundriß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 115.
147
Grundtypen der Metaphysik
432
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 201.
433
Ebd., S. 208: »Die reale Wirklichkeit als solche ist zunächst das Ding von vielen Ei-
genschaften, die existierende Welt […].«
434 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissen-
schaften (1830) [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel, Bd. 8], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 288: »Prozeß der Wirklichkeit«.
435
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 220.
436 Ebd., S. 224.
148
Der Grund und das Grundlose bei Hegel
handen sind, so tritt sie in die Existenz.« 437 Dieser Satz, der auf der
Leibniz’schen Gleichsetzung der Gesamtursache eines Dinges mit der
Totalität der Bedingungen für dessen Existenz beruht, bleibt für Hegel
in seinen Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit geradezu leitend.
Nur dass nunmehr die Bedingungen einer Sache in der Kategorie der
realen Möglichkeit zusammengefasst werden. 438 Die reale Möglichkeit
ist eine Möglichkeit, die in der Gestalt wirklich existierender Bedingun-
gen vorhanden ist. Dem gerade angeführten Satz entspricht auf der
Reflexionsstufe der Gesamtwirklichkeit die Behauptung, dass reale
Möglichkeit und reale Notwendigkeit nur scheinbar unterschieden sind:
»Was […] real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter die-
sen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfol-
gen.« 439 Nicolai Hartmann wird diese Einsicht im zweiten Band seiner
vierbändigen Ontologie als ein Zeichen für die »Härte des Realen« 440
deuten. Im Realen ist nichts möglich, was nicht wirklich würde, und ist
nichts wirklich, was – unter den gegebenen Bedingungen und Umstän-
den – nicht auch schon notwendig wäre. 441
Anders als bei Nicolai Hartmann verbindet sich bei Hegel diese
Auffassung von der realen Möglichkeit jedoch mit der Einsicht, dass
das Existierende trotz seiner Bedingtheit durch die Gesamtheit der Um-
stände, die einen zureichenden Grund seiner Existenz abgeben, in
einem bestimmten Sinne dennoch das Grundlose bleibt. In den Betrach-
tungen über die Gesamtwirklichkeit nimmt das Grundlose der Existenz
die Bedeutung des Zufälligen an. 442 Hegel sagt: »Das Zufällige ist ein
Wirkliches, das zugleich nur als möglich bestimmt, dessen Anderes oder
Gegenteil ebenso sehr ist.« 443 Der Sinn dieser Bestimmung ist einleuch-
tend: Das Zufällige ist zwar ein Wirkliches, aber dieses Wirkliche hat
nur als Verwirklichung der einen der Möglichkeiten zu gelten, die im
gegebenen Fall in Betracht gezogen werden konnten; deshalb kann das
Andere oder das Gegenteil dieses Wirklichen – anderswo oder zu ande-
437
Ebd., S. 122.
438
Ebd., S. 208.
439
Ebd., S. 211.
440
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin: Walter de Gruyter 1938,
S. 132.
441
Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 21935 [11926],
S. 599: »Es gibt kein ontologisch ›zufälliges‹ Wirkliches.«
442
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 206 f.
443 Ebd., S. 205.
149
Grundtypen der Metaphysik
rer Zeit – gleichfalls wirklich sein. Daraus zieht Hegel den Schluss:
»Diese Wirklichkeit ist daher bloßes Sein oder Existenz […].« 444 Gleich-
wohl unterscheidet er die Zufälligkeit vom bloßen Sein und selbst von
der bloßen Existenz insofern, als er ihr den »Wert […] der Möglichkeit«
zuschreibt. 445 Im Gegensatz zum bloßen Dasein, das dem Denken von
vornherein als das Andere der Reflexion begegnet und das ebendeshalb
näher als die Existenz im Sinne des Gegenteils des Wesens bestimmt
werden kann, wird die zufällige Wirklichkeit als Möglichkeit begreif-
lich. Sie wird daher nicht nur überhaupt im Verhältnis zu begründen-
den Instanzen gedacht, sondern von vornherein auf die Totalität ihrer
Bedingungen bezogen. Nur dass in dieser Reflexion zugleich ihre
Grundlosigkeit zutage tritt, indem sich die innere Zufälligkeit dieses
Bedingungsganzen enthüllt.
Diese Behauptung ist allerdings erläuterungsbedürftig. Hegel ent-
wickelt in seinen Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit eine ei-
gentümliche Auffassung von der Zufälligkeit. Die Ansicht von Spinoza,
der zufolge nur das als zufällig gelten kann, dessen Ursachen nicht voll-
ständig bekannt sind, teilt er mitnichten. Er hält die Zufälligkeit nicht
für eine erkenntnistheoretische, sondern für eine logisch-ontologische
Kategorie. Gleichwohl geht er aber davon aus, dass dem Zufälligen die
Totalität seiner Bedingungen den Charakter des Realmöglichen – und
damit zugleich des Realnotwendigen – aufdrückt. Seiner Ansicht nach
hat das Zufällige ebendeshalb seinen – zureichenden – Grund. Im
Unterschied zu Aristoteles betont Hegel nicht einmal, dass erst die
Überkreuzung verschiedener und ungleichartiger Kausalketten dem
Zufälligen ein Existenzrecht verschafft. Vielmehr entnimmt er der aris-
totelischen Auffassung vom Zufälligen eine Voraussetzung, die von
Aristoteles selbst nicht hervorgehoben wird. Er stützt sich auf den Ge-
danken einer Wesensverschiedenheit der Bedingungen, die in ihrer Ge-
samtheit dem Zufälligen seinen zureichenden Grund geben. Es handelt
sich dabei um Bedingungen, die zwar tatsächlich gerade beisammen
sind, aber ihrer Natur nach keineswegs notwendig zusammengehören.
Was sich aus der Totalität derartiger Bedingungen ergibt, tritt zwar
notwendig in die Existenz, bleibt aber in einem bestimmten Sinne den-
noch zufällig. Gewiss hat das so verstandene Zufällige seinen (zu-
reichenden) Grund. Die vorhandene Totalität seiner Bedingungen ist ja
444
Ebd.
445 Ebd.
150
Der Grund und das Grundlose bei Hegel
nichts anderes als eben dieser Grund. Gleichwohl kann es als das Grund-
lose bezeichnet werden, weil seine Bedingungen keine naturgemäße –
und eben deshalb auch keine begrifflich erfasste – Zusammengehörigkeit
aufweisen, sondern eben nur eine – manchmal öfters vorkommende,
manchmal aber seltene oder sogar einmalige – Konstellation bilden.
Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass die Zufälligkeit
durchaus mit der Notwendigkeit zusammenbestehen kann. Diese Fest-
stellung gilt zunächst für die reale Notwendigkeit, die jeweils »relativ«
auf die Totalität der Bedingungen ist. Das wird von Hegel eindeutig
ausgesprochen: »[…] die Notwendigkeit hat sich noch nicht aus sich
selbst zur Zufälligkeit bestimmt«, 446 sagt er, und er fügt hinzu: »In der
Tat ist somit die reale Notwendigkeit an sich auch Zufälligkeit«. 447
Nicht anders steht es jedoch mit derjenigen Notwendigkeit, die den Ge-
samtprozess der Wirklichkeit oder den Weltlauf als solchen kennzeich-
net und die von Hegel als »absolute Notwendigkeit« bezeichnet wird. Es
handelt sich dabei um eine »blinde« Notwendigkeit, die voneinander
unabhängige, »freie« Wirklichkeiten miteinander verbindet und eben-
deshalb eine unaufhebbare Zufälligkeit bei sich führt. 448
Die Frage, ob bei Hegel die Zufälligkeit nicht am Ende doch über-
wunden wird, stellt sich erst, wenn das Verhältnis von Notwendigkeit
und Freiheit bedacht wird. Bekanntlich folgt Hegel denjenigen Denkern
– und unter ihnen vor allem Spinoza –, die diese Begriffe einander nicht
gegenüberstellen, sondern miteinander zu vereinigen suchen. Am Ende
der Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit wird ausdrücklich be-
hauptet, dass nicht allein die Notwendigkeit, sondern auch die Zufällig-
keit »zur Freiheit [wird]«. 449 Bedeutet das nicht etwa, dass Notwendig-
keit und Zufälligkeit in der Freiheit gleichermaßen aufgehoben werden?
Gewiss ist die Antwort auf diese Frage alles andere als unumstrit-
ten. Zumindest ist es aber nicht unmöglich, an der Notwendigkeit der
Zufälligkeit für diejenige Freiheit festzuhalten, die Hegel im Auge hat.
In der Wissenschaft der Logik geht es um Freiheit im Sinne eines Bei-
sich-selbst-seins im Anderssein.
Nicht zu Unrecht betont nun etwa Bernard Mabille in seinem Buch
über Hegel, dem er den Untertitel L’épreuve de la contingence gibt, dass
446
Ebd., S. 212.
447
Ebd.
448
Ebd., S. 215 f.
449 Ebd., S. 239.
151
Grundtypen der Metaphysik
450
Bernard Mabille, Hegel. L’épreuve de la contingence, Paris: Aubier 1999, S. 237.
451
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig
Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III], S. 432: »[…] das
Wissen ist selbst […] das allgemeine Selbst, das Selbst ebenso seiner als des Gegenstan-
des, und als allgemeines die in sich zurückkehrende Einheit dieser Bewegung. – Hiermit
ist der Geist als absolute Freiheit vorhanden […].« Vgl. S. 436: »Furie des Verschwin-
dens«; S. 439: »der reine Schrecken des Negativen«.
452
Drüe, Gethmann-Siefert, Hackenesch u. a., Hegels ›Enzyklopädie der philosophi-
schen Wissenschaften‹ (1830), S. 112: »Identität ist hier […] nicht als Möglichkeits-
bedingung von Unterschiedenheit gedacht, sondern umgekehrt. Und dies beschreibt ein
grundsätzliches Charakteristikum des Hegelschen Denkens.«
453
Mabille, Hegel. L’épreuve de la contingence, S. 239: »La liberté est assomption de la
contingence, la contingence est l’épreuve de la liberté.«
152
Der Grund und das Grundlose bei Hegel
kens; es erweist sich nicht als das Scheitern der Reflexion, sondern viel-
mehr als deren Ausdruck. 454 Das ist der Grund dafür, dass bei Hegel das
grundlos Existierende – im Gegensatz zum späten Schelling – nicht
etwa den »wahren Abgrund für die menschliche Vernunft« andeutet, 455
sondern den Gegenstand einer grundlegenden Vernunftdialektik bildet.
Allerdings bleibt dabei zu fragen, ob diese Vernunftdialektik als die
wahre Auflösung einer philosophischen Grundschwierigkeit oder aber
lediglich als der erste Ausdruck einer echten philosophischen Verlegen-
heit zu gelten hat. Wenn darüber ein Zweifel aufkommt, 456 so deshalb,
weil Hegel hier einen Versuch macht, selbst noch das Andere der phi-
losophischen Reflexion in diese Reflexion einzuholen, ohne dabei am
Grundcharakter seiner Reflexionsart etwas zu ändern. Daraus folgt
aber, wie Klaus Kaehler treffend sagt, eine »unaufhebbare ontologische
Ambivalenz«: »Das Subjekt ist […] jedesmal ebenso bei sich wie außer
sich, mit einer begriffslosen Äußerlichkeit kontaminiert.«457 Deshalb
stellt sich jedoch die Frage: Muss sich die philosophische Reflexion nicht
in ihrem Inneren wandeln, um ihr Anderes in sich aufnehmen zu kön-
nen?
454 Vgl. ebd., S. 227: »La thèse contingente n’est pas l’échec de la reflexion mais son
expression.«
455
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 163 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 765).
456
In Bezug auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre prägt Courtine
einmal eine Formel, die man mutatis mutandis wohl auch auf die Wissenschaft der Logik
anwenden könnte: »[…] le ›sans-fond‹ (Grundlose) n’est pas un défi à l’entreprise de la
fondation (Grundlegung) mais sa plus extrême exaltation« (»das ›Grundlose‹ ist nicht so
sehr eine Herausforderung für das Unternehmen der Grundlegung als vielmehr ihre
äußerste Steigerung«).
457
Klaus Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezen-
trierung, Freiburg und München: Alber 2010, S. 690.
153
Grundtypen der Metaphysik
458
Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Opuscula philosophica selecta, S. 86
(vgl. Die philosophischen Schriften, Bd. VII, S. 302); dt. S. 36.
459
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 604.
460
Ebd., A 609.
461 Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Da-
seins Gottes [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. II, Berlin: Georg Reimer
1912, S. 63–163], hier: S. 157 f.
462
Ebd., A 605–608.
463 Vgl. ebd., A 632.
154
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis ver-
schwinden zu lassen.« 464
In diesem großartigen Text, dem aus der frühen Neuzeit allenfalls Pas-
cals Betrachtungen über die »beiden Unendlichkeiten« und den Men-
schen als »ein Mittelding zwischen Nichts und All« 465 zur Seite stellen
lassen, geht es nur vordergründig um die Idee einer unbedingten Not-
wendigkeit. Das notwendige Wesen wird ja von vornherein vor dem
Hintergrund der Dinge gesehen, deren letzter Träger es sein soll. In
der Besinnung auf das notwendige Wesen als den Träger aller Dinge
drückt sich aber zugleich eine grundlegende – oder vielmehr abgründi-
ge – Kontingenzerfahrung, eine Erfahrung mit der letzthinnigen Zufäl-
ligkeit der Welt aus. Das ist der Grundzug der angeführten Zeilen, auf
den Schelling in erster Linie achtet. In dieser Zusammengehörigkeit des
notwendig Seienden – und das heißt zugleich: des grundlos Existieren-
den – mit der Zufälligkeit der Welt sieht er, genauso wie Kant, die größ-
te Erprobung der Vernunft – eine wahre épreuve de la contingence.
Wohl aus diesem Grund führt er die zitierte Stelle in Gänze an, um
aus ihr dann – deutlicher noch als Kant selbst – den Schluss zu ziehen,
dass sich die Vernunft dieser Erprobung nicht nur nicht entziehen kann,
sondern sich ihr auch nicht entziehen darf.
Zunächst bemerkt er zum angeführten Kant-Zitat: »Aber eben
dasjenige in Gott, vermöge dessen er das grundlos Existierende ist,
nennt Kant den Abgrund für die menschliche Vernunft; was ist dieß
anders als das, wovor die Vernunft stille steht, von dem sie verschlun-
gen wird, dem gegenüber sie zunächst nichts mehr ist, nichts ver-
mag?« 466 An anderer Stelle sagt er: »Das bloß – das nur Existierende
ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte,
niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem
die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der
Möglichkeit, der Potenz zu thun; wo also diese ausgeschlossen ist, hat
464
Ebd., A 613.
465
Blaise Pascal, Pensées, hg. von Léon Brunschvicg, Édition Livre de poche, Paris: Li-
brairie générale française 1972, Nr. 72, S. 25–36; dt. Gedanken, in: Schriften zur Religi-
on, übersetzt von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes Verlag 1982, S. 101–109.
466
Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-
phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 164 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 766).
155
Grundtypen der Metaphysik
das Denken keine Gewalt.« 467 Aber von der positiven Philosophie, die
sich – im Gegensatz zur negativen – nicht mit bloßen Gedankendingen
begnügen soll, erwartet Schelling gerade, dass sie auf dieses bloß oder
nur Existierende eingeht – oder dass sie vielmehr geradezu von ihm
ausgeht. Diese Erwartung stellt jedoch die Vernunft auf eine harte Pro-
be. Denn: »Das bloß Seyende ist das Seyn, in dem […] alle Idee, d. h. alle
Potenz, ausgeschlossen ist. Wir werden es also nur die umgekehrte Idee
nennen können, die Idee, in welcher die Vernunft außer sich gesetzt
ist.« 468 Es wird, mit anderen Worten, der Vernunft nichts Geringeres
zugemutet, als dass sie »absolut ekstatisch« wird. 469
Schelling lässt allerdings keinen Zweifel darüber aufkommen, dass
er damit wirklich nur eine Probe oder Erprobung im Auge hat, keines-
wegs aber eine Kapitulation der Vernunft vor dem grundlos Existieren-
den meint. Deshalb sagt er: »Die positive Philosophie geht von dem aus,
was schlechterdings außer der Vernunft [ist], aber die Vernunft unter-
wirft sich diesem nur, um unmittelbar wieder in ihre Rechte zu tre-
ten.« 470 Sicherlich will Schelling über die »reinrationale Philosophie«,
in der er eine bloß negative Philosophie erkennt, hinausgehen, aber er
redet keinem Irrationalismus das Wort. Selbst in seiner Spätphilosophie
führt er vielmehr das Erbe von Kants Vernunftkritik weiter. 471
467
Ebd., S. 161 (= S. 763). Zu diesen und ähnlichen Textstellen siehe den klassischen
Aufsatz von Luigi Pareyson »Lo stupore della ragione in Schelling«, in: Romanticismo,
Esistenzialismo, Ontologia della libertà, Mailand: Mursino 1979, S. 137–180; wieder
abgedruckt unter dem Titel »Lo stupore della ragione e angoscia di fronte all’essere«, in:
Luigi Pareyson, Ontologia della libertà, Mailand: Einaudi 42012 (11995), S. 385–437.
468
Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-
phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 162 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 764).
469
Ebd., S. 163 (= S. 765). Im Hinblick auf diesen und ähnliche Gedanken gibt Courtine
seinen Essais sur Schelling den Titel Extase de la raison (vgl. dort S. 285 f. und S. 308–
311).
470 Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-
phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 171 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 773).
471 Hutter, Geschichtliche Vernunft, S. 301.
156
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
472
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. 4], S. 337 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. 5,
S. 779).
473
Ebd.
474
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 125 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 541)
475 Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
157
Grundtypen der Metaphysik
158
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
Sein nur als Sein eines unvordenklich Existierenden selber den Charak-
ter des Unvordenklichen haben kann. Mit dem Versuch, das Unvor-
denkliche als den Anfang des Denkens herauszustellen, zielt er daher
auf nichts Geringeres ab als auf eine Aufhebung der »ehemaligen« oder
»vormaligen Metaphysik«. 479
Bei diesem Versuch kommt alles darauf an, der Wirklichkeit ihr
Eigengewicht zurückzugeben. Vor allem dieses Anliegen bewegt Schel-
ling dazu, das Unvordenkliche als den Anfang des Denkens zu bestim-
men. In diesem Sinne sagt er: »Was zur Wirklichkeit gelangen soll,
muß auch gleich von der Wirklichkeit ausgehen, und zwar von der rei-
nen Wirklichkeit, also von der Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vo-
rausgeht.« 480 Vom unvordenklich Existierenden kann aber tatsächlich
behauptet werden, dass in ihm »der Actus aller Potenz zuvorkom-
me«. 481 In seiner Spätphilosophie gelangt Schelling zur Einsicht, dass
dem All der Realität notwendig nur der Status einer Möglichkeit der
Möglichkeiten zukommt, und er zieht aus dieser Einsicht den Schluss,
dass die a priori erfassten, im Gedanken vorweggenommenen, deshalb
aber eben nur rein gedanklich umrissenen Möglichkeiten auch in ihrer
Gesamtheit nur ein mögliches Seiendes bestimmen, ohne uns einen
tatsächlichen Zugang zum Wirklichen zu verschaffen. Deshalb fordert
er als Ausgangspunkt der positiven Philosophie von vornherein eine
Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vorausgeht oder einen »Actus«, der
aller »Potenz« zuvorkommt. Er fasst damit eine Existenz ins Auge, die
der Essenz vorhergeht. In diesem Sinne sagt er: »[…] das Sein ist hier
prius, das Wesen posterius«. 482 Dieser Ansatz deutet einen entscheiden-
den Bruch mit der ontotheologischen Tradition an, die von Duns Scotus
bis zu Leibniz, Wolff and Baumgarten gerade darum bemüht war, das
Wirkliche aus der Gesamtheit des Möglichen abzuleiten.
An diesem Punkt wird besonders deutlich, wie Schelling das Erbe
der kantischen Vernunftkritik weiterführt. Mit den gerade erwähnten
Gedanken findet er zu einer Grundtendenz zurück, die sich in Kants
anhaltender Besinnung auf das Sein als bloß logisches, nicht reales Prä-
479
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 168 und S. 169 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bän-
den, Bd. V, S. 770 und S. 771).
480
Ebd., S. 162 (= S. 764).
481
Ebd.
482 Ebd., S. 761 (= Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. 3, S. 159).
159
Grundtypen der Metaphysik
dikat früh schon bemerkbar machte. Bereits in dem kleinen Werk Der
einzig mögliche Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes
steht fest, dass ein Denken ohne immer schon vorausgesetztes Sein gar
nicht möglich ist: »Wenn nun alles Dasein aufgehoben wird, so ist
nichts schlechthin gesetzt, es ist überhaupt gar nichts gegeben, kein
Materiale zu irgend etwas Denklichem, und alle Möglichkeit fällt gänz-
lich weg.« 483 Daraus folgt auch ein Vorrang des Wirklichen gegenüber
dem Möglichen: »Es ist zwar kein innerer Widerspruch in der Vernei-
nung aller Existenz. […] Allein daß irgend eine Möglichkeit sei und
doch gar nichts Wirkliches, das widerspricht sich, weil, wenn nichts
existiert, auch nichts gegeben ist, das da denklich wäre, und man sich
selbst widerstreitet, wenn man gleichwohl will, daß etwas möglich
sei.« 484 Diese Einsichten leiten Kant bereits in der vorkritischen Periode
zu einer Ablehnung des von ihm später als »ontologisch« bezeichneten
Gottesbeweises hin. Eine Zeit lang ist er aber noch darum bemüht, an
die Stelle des verworfenen Cartesianischen Arguments gerade auf
Grund dieser Einsichten einen anders angelegten, aber ebenfalls aprio-
rischen Gottesbeweis treten zu lassen. Er versucht zu zeigen, dass ein
notwendiges Wesen existieren muss, damit es überhaupt etwas zu den-
ken gibt, oder, wie er sich in seiner lateinisch verfassten Habilitations-
schrift Principiorum primorum metaphysicae cognitionis nova diluci-
datio früher schon ausgedrückt hat, »ut sit in genere, quod cogitari
possit«. 485 Wenn er in der kritischen Periode auch von diesem »einzig
möglichen Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes« Ab-
stand nimmt, so nicht deshalb, als ob er die Erkenntnis einer Abhängig-
keit des Denkens vom Sein und einer Vorrangstellung des Wirklichen
gegenüber dem Möglichen nunmehr preisgeben wollte, sondern weil er
zur weiteren Einsicht kommt, dass die Existenz eines notwendigen Sei-
enden nur dann mit der Existenz Gottes gleichgesetzt werden kann,
wenn dieses Seiende nicht – distributiv – in der Erfahrung gesucht,
sondern – kollektiv – in der Idee eines »allerrealsten Wesens« zusam-
mengefasst wird. Das so verstandene transzendentale Ideal unterwirft
er in der Kritik der reinen Vernunft einer grundsätzlichen Kritik.
483 Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes
[Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. II], S. 78.
484
Ebd.
485
Kant, Principiorum primorum metaphysicae cognitionis nova dilucidatio, [Gesam-
melte Schriften, Bd. I], S. 395.
160
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
486
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 161, Anm. (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden,
Bd. V, S. 763, Anm.).
487
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 155.
488
Ebd., S. 156.
489 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
161
Grundtypen der Metaphysik
492Ebd.
493
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen
Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 302 (= Ausgewählte Schriften in
sechs Bänden, Bd. V, S. 312).
162
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
494
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 165 f. (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 762 f.). Vgl. Courtine, L’extase de la raison, S. 301.
495
Étienne Gilson, L’esprit de la philosophie médiévale, Paris: Vrin 21948 (11932), S. 50,
Anm. 1.
496
Courtine, L’extase de la raison, S. 204.
497 Ebd., S. 166; vgl. S. 197.
163
Grundtypen der Metaphysik
Das können wir auch deutlicher sehen, wenn wir auf das Verhält-
nis zwischen dem notwendig Seienden und Gott etwas näher eingehen.
In der Wissenschaft der Logik versteht Hegel das reine Sein, in dem er
den Anfang der Philosophie entdeckt, von vornherein als eine Wesens-
bestimmung des immer schon zugrunde liegenden Satzsubjekts Gott.
Auch die weiteren Kategorien seiner Logik gelten in seinen Augen nur
als so viele Prädikate desselben Satzsubjekts, das – nach der in der Phä-
nomenologie des Geistes dargelegten Lehre vom »philosophischen
Satz« 498 – im »begreifenden«, »spekulativen« Denken (anders als im
»räsonnierenden«) allerdings »nicht ein ruhendes Subjekt [ist], das un-
bewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine
Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff«. 499 Gewiss ist dieser
Unterschied zwischen dem räsonnierenden und dem spekulativen Den-
ken von entscheidender Wichtigkeit, da in der spekulativen Darstellung
das Satzsubjekt letztlich »nur die dialektische Bewegung, dieser sich
selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang« ist. 500
Aber selbst das ändert nichts daran, dass die Wissenschaft der Logik –
zumindest der Grundintention ihres Verfassers nach – von Anfang an
und bis ins Letzte hinein »die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geis-
tes ist.« 501 Aus dieser Grundintention der Wissenschaft der Logik geht
deutlich hervor, in welchem Sinne man in Bezug auf Hegel von einer
Rückkehr zur Ontotheologie sprechen muss.
Dagegen fasst Schelling das unvordenklich Existierende zwar auch
als das notwendig Seiende auf, aber es liegt ihm fern, es von vornherein
mit Gott gleichzusetzen. Vielmehr begreift er es – mit einem seit seiner
Münchener Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie immer
wieder verwendeten Terminus – als das »blind« Seiende, als das »blind«
498
Siehe Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, Bd. III], S. 57–
63.
499 Ebd., S. 57.
500
Ebd., S. 61.
501
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I [Werke in zwanzig Bän-
den, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5], Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1969], S. 44.
164
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
502
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 19–22 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 435–438); siehe
ebenfalls Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmt-
liche Werke, Abteilung II, Bd. IV, S. 338 und S. 347] (= Ausgewählte Schriften in sechs
Bänden, Bd. V, S. 780 und S. 789).
503
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 338 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 780).
504
Ebd., S. 339 (= S. 781).
505
Ebd., S. 345 (= S. 787).
506
Marquet (Liberté et existence, S. 546–549) unterscheidet drei Darstellungen. Zu der
hier an erster Stelle genannten Darstellung siehe Schelling, Andere Deduktion der Prin-
zipien der positiven Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 345–356
(= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 787–S. 798), zu der an zweiter Stel-
le genannten ebd., S. 338–344 (= S. 780–786) und zu der an dritter Stelle genannten
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philosophie
der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 204–239 (in
den Ausgewählten Schriften nicht enthalten).
507
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 348 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 790).
165
Grundtypen der Metaphysik
Philosophie der Offenbarung ist mit großem Nachdruck von der Zufäl-
ligkeit des notwendig Seienden die Rede: »[…] eben dem zufällig Sey-
enden wird sein Seyn zur Nothwendigkeit, d. h. es ist das nicht mehr
nicht seyn Könnende, in diesem Sinn also das nothwendig Seyende«. 508
Es kann hinzugefügt werden, dass keine dieser Deduktionen die der
Ontotheologie eigentümliche Gleichsetzung von Gott und Sein in ihre
Rechte wieder einsetzt. Denn es geht Schelling in seiner positiven Phi-
losophie keineswegs darum, Gott als dem »nothwendig nothwendig
Existierenden« doch eine notwendige Existenz im Sinne des ontologi-
schen Gottesbeweises zukommen zu lassen, sondern vielmehr darum,
ihn als den »Herrn des Seyns« 509 zu begreifen, der »überseyend« 510,
»über jede Art des Seyns hinaus« 511 und »frei gegen das Seyn« 512 ist.
Alles kommt hier, mit anderen Worten, darauf an, »jene absolute, jene
transzendente, überschwengliche Freiheit« 513 des Überseyenden auf-
zuweisen, die dessen Verhältnis zum unvordenklichen Sein und zu sei-
ner eigenen Existenz kennzeichnet.
In seiner späten Vorlesung über die »reinrationale Philosophie«
weist Schelling darauf hin, dass die positive Philosophie keine bloß
theoretische Betrachtung ist, sondern notwendig aus einem »prakti-
schen Antrieb« erwächst: Sie ist von einem »Willen« getragen. 514 Aus
508
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 208.
509
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 350 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 792); siehe auch Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites
Buch: »Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung
der reinrationalen Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 566 (= Ausgewähl-
te Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 576).
510
Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus [Sämmtliche Werke, Abtei-
lung I, Bd. X], S. 260 (in den Ausgewählten Schriften nicht enthalten).
511
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
512
Ebd., S. 208; siehe bereits Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie
[Sämmtliche Werke, Abteilung I, Bd. X], S. 22 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bän-
den, Bd. IV, S. 438)
513
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
514
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen
Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 565 (= Ausgewählte Schriften in
sechs Bänden, Bd. V, S. 575).
166
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie
einer anderen Stelle wird klar, worauf sich dieser Wille richtet: »Freiheit
ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache
aller Dinge.« 515
Es besteht keine apriorische Garantie dafür, dass dieser Wille sei-
nen Zweck erreicht. Der Beweis, dass der Herr des Seins dem unvor-
denklich Existierenden den Charakter blinder Zufälligkeit nehmen
kann, muss a posteriori erbracht werden. Deshalb lässt sich Schelling
auf eine Analyse von Mythologie und Offenbarung unter Heranzie-
hung religionshistorischer Quellentexte ein. Schreibt er doch keine
bloße Religionsgeschichte, so deshalb, weil er die Erörterung des Ge-
schichtsprozesses auf eine Phänomenologie des religiösen Bewusstseins
und des erscheinenden Gottes gründet.
Nicht ohne Grund haben wir in unserer Darstellung den Akzent
auf eine Begriffskette gelegt, die uns zunächst vom grundlos Existieren-
den zum unvordenklichen Sein, dann vom unvordenklich Existierenden
zum blind Seienden und schließlich vom blindlings Seienden zum zu-
fällig notwendig Existierenden geführt hat. Schelling hebt selbst die
Bedeutung dieser Begriffe hervor, indem er behauptet: »Ohne das vo-
rausgesetzte unvordenkliche, d. h. (nach der früheren Erklärung) zufäl-
lig-notwendige, insofern blinde Sein – könnte Gott gar nicht Gott sein;
denn er könnte nicht das Überseyende, nicht Herr des Seyns, also über-
haupt nicht der Herr seyn, als welchen wir ihn doch wollen müssen,
wenn wir ihn überhaupt wollen: – aber die Gottheit dieses a priori Sey-
enden läßt sich allerdings nur a posteriori beweisen.« 516
… wenn wir ihn überhaupt wollen: aus diesem Halbsatz wird
deutlich, dass nicht allein die Vorstellung von einem »unvordenk-
lichen«, »zufällig-notwendigen« und insofern »blinden« Sein eine fun-
damentale Zufälligkeitserfahrung ausdrückt, sondern auch der Wille,
der das gesamte Unternehmen der positiven Philosophie trägt, mit Zu-
fälligkeit behaftet ist. Selbst wenn er da ist und selbst wenn sogar der
aposteriorische Beweis, den die positive Philosophie zu erbringen hat,
tatsächlich gelingt (was ja nach Schelling letztlich von der Geschichte
selbst abhängt), bleibt unser Bewusstsein von Gott als dem Herrn des
515 Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
516
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 350 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 792).
167
Grundtypen der Metaphysik
Seins an »Faktizität« 517 und »Kontingenz« 518 gebunden. Das ist die Ein-
sicht, mit der Schelling Kants Kritik des transzendentalen Ideals und des
ontologischen Gottesbeweises weiter radikalisiert. Unabhängig davon,
ob der Wille zu einem lebendigen Gott bewahrt bleibt, oder aber Gott
nunmehr für tot erklärt wird, deutet diese Einsicht für sich allein schon
eine neue Epoche des philosophischen Denkens an: die Epoche, die wir –
im weitesten Sinne des Wortes – als die unsrige bezeichnen können.
517
Richir, L’expérience du penser, S. 153.
518 Ebd., S. 163.
168
Zweiter Teil:
Phänomenologie und Metaphysik
Metaphysik zufälliger Faktizität bei
Husserl, Heidegger und in der
französischen Phänomenologie
Niemand hat so deutlich wie Kant gezeigt, dass die Metaphysik – anders
als die Logik – nicht etwa bloß formale, sondern sachhaltige Behaup-
tungen aufstellt, die aber – ähnlich wie die Aussagen der Logik – eine
gewisse Notwendigkeit mit sich führen. Da er Notwendigkeit mit
Apriorizität gleichsetzte, konnte er daraus bereits den Schluss ziehen,
dass sich die Metaphysik nicht weniger von den Erfahrungswissen-
schaften unterscheidet als von der Logik. Diese doppelte Abgrenzung
der Metaphysik von Logik und Erfahrungswissenschaften nötigte Kant
dazu, nach einer apriorischen, gleichwohl aber nicht bloß logischen,
sondern realen Notwendigkeit zu forschen. Eine derartige Notwendig-
keit schrieb er denjenigen Grundsätzen zu, in denen er die Bedingungen
für die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt entdeckte. Die Gesamt-
heit dieser Grundsätze und ihre systematische Behandlung bildete den
Kern dessen, was nunmehr als ›Transzendentalphilosophie‹ (in einem
völlig neuen Sinne) bezeichnet wurde. Kant ließ diese neu entwickelte
Disziplin an die Stelle der traditionellen Metaphysik treten, der er das
Vermögen, eine apriorische Realnotwendigkeit aufzuweisen, schlicht-
weg absprach.
In den letzten Jahrzehnten wurde jedoch eine der grundlegenden
Voraussetzungen von Kants Gedankengang in Frage gestellt. Es handelt
sich um die Gleichsetzung von Apriorizität und Notwendigkeit. Einer
der Begründer moderner Modallogik, Saul Aron Kripke, machte deut-
lich, dass ein Erfahrungssatz (also eine aposteriorische Aussage) unter
manchen Umständen durchaus einen Anspruch auf Notwendigkeit er-
heben kann. 1 Unter Notwendigkeit können wir nämlich nicht allein
eine ›epistemische‹ Notwendigkeit, das heißt die Unwiderlegbarkeit
1
Saul A. Kripke, Naming and Necessity, Cambridge (Mass.): Harvard University Press
1980, S. 38: »I will argue below […] that necessary a posteriori truths […] exist.« Vgl.
ebd., S. 110: »One might very well discover essence empirically.«
171
Metaphysik zufälliger Faktizität
2
Vgl. ebd., S. 35: »[…] what I am concerned with here is a notion which is not a notion
of epistemology but of metaphysics, in some (I hope) nonpejorative sense. […] It’s cer-
tainly a philosophical thesis and not a matter of obvious definitional equivalence, either
that everything a priori is necessary or that everything necessary is a priori. Both con-
cepts may be vague. That may be a problem. But at any rate they are dealing with two
different domains, two different areas, the epistemological and the metaphysical.«
3
Nicolai Hartmanns Werk Möglichkeit und Wirklichkeit wurde bereits zitiert. Siehe
Jules Vuillemin, Nécessité et contingence, Paris: Minuit 2004; auf English: Necessity
and Contingency, Stanford: California University Press 1996.
172
Metaphysik zufälliger Faktizität
Kants Kritik der Metaphysik gewappnet ist. Seit langem ahnt man, dass
die Argumente, die in der Kritik der reinen Vernunft gegen die traditio-
nelle Metaphysik angeführt werden, nicht auf jede mögliche Metaphy-
sik angewandt werden können. Aber erst heute können wir mit Genau-
igkeit feststellen, dass sie sich gegen die katholou-tinologische Tradition
richten.
Kant hatte vor allem die deutsche Schulphilosophie von Christian
Wolff und Alexander Baumgarten im Auge, als er diese Argumente
formulierte. Man weiß aber nicht erst seit Ludger Honnefelders Scien-
tia transcendens, sondern zumindest bereits seit Étienne Gilsons L’être
et l’essence, wie sehr diese Schulphilosophie von derjenigen Wende der
Metaphysik abhängig war, die vor allem von Johannes Duns Scotus am
Ende des 13. und am Beginn des 14. Jahrhunderts herbeigeführt worden
war.
Aus unserem Überblick über die verschiedenen Grundtypen der
Metaphysik geht jedoch deutlich hervor, dass keineswegs alle Metaphy-
sik durch die kathoulou-tinologische Verfassung bestimmt ist. Zum
Beispiel ist die aristotelische Ontologie mit ihrer katholou-protologi-
schen Grundstruktur von einer Tinologie scotistischer Prägung weit
entfernt. Sie schreibt ja dem selbstständig existierenden Seienden eine
lebendige Wirklichkeit (ἐνέργεια) und eine inhärente Vollendung (ἐν-
τελέχεια) zu. Dabei bestimmen die Nachwirkungen des aristotelischen
Musters die spätere Geschichte der Metaphysik bis in die Scholastik des
13. Jahrhunderts hinein.
Es lohnt sich, die Frage nach einer nicht-apriorischen Realnotwen-
digkeit zunächst im Rückblick auf Aristoteles zu untersuchen, bevor die
Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik erwogen wird.
Vieles hängt nämlich davon ab, ob wir den Unterschied der phänome-
nologischen Idee einer Notwendigkeit des Faktischen vom aristote-
lischen Begriff einer hypothetischen Notwendigkeit des Wirklichen
deutlich herausstellen können. Deshalb wird in dieser Einleitung zur
Metaphysik bei Husserl, Heidegger und ihren französischen Nachfol-
gern nochmals kurz auf die aristotelischen Anfänge zurückgegriffen.
Unsere Überblicksdarstellung zeigte, wie rätselhaft der aristote-
lische Anspruch auf eine Allgemeinheit der Ersten Philosophie in der
metaphysischen Tradition geblieben ist. Gleichwohl ist es nicht unmög-
lich, dieses Rätsel aufzulösen. Allerdings gibt uns die aristotelische Leh-
re vom selbstständig existierenden Wesen den Schlüssel dazu noch
nicht an die Hand. Erst die Anwendung der Begriffe ›Möglichkeit‹ und
173
Metaphysik zufälliger Faktizität
›Wirklichkeit‹ auf dieses Wesen führt uns weiter. Lesen wir das neunte
Buch der Metaphysik mit voller Aufmerksamkeit, so fällt uns sogleich
auf, dass Aristoteles die Wirklichkeit (ἐνέργεια) nicht allein der Mög-
lichkeit oder dem Vermögen (δύναμιϚ) gegenüberstellt, sondern auch
von der Bewegung (κίνησιϚ) aufs Schärfste abhebt. Die Unterschei-
dung der Wirklichkeit von der Bewegung ist deshalb überraschend, weil
die Bewegung andernorts – so etwa im dritten Buch der Physik, aber
auch im elften Buch der Metaphysik – ausdrücklich als eine Art »Wirk-
lichkeit« bestimmt wird, wenn auch nur als »die Wirklichkeit des Mög-
lichen, insofern es möglich ist«.4 Hier wird der Ausdruck ›Wirklichkeit‹
offenbar in einer erweiterten Bedeutung verwendet, so dass er selbst
noch die Bewegung umfassen kann. Aber gerade die aus dieser Bedeu-
tungserweiterung hervorgehende Bestimmung der Bewegung macht
verständlich, warum die Wirklichkeit im engeren Sinne des Wortes
von der Bewegung unterschieden werden muss. Denn als die Wirklich-
keit des Möglichen, insofern es möglich ist, ist die Bewegung noch nicht
die vollendete Verwirklichung (ἐντελέχεια) des Möglichen; sie ist viel-
mehr erst unterwegs zu dieser Verwirklichung. Deshalb sagt Aristote-
les: »Jede Bewegung ist […] unvollendet, z. B. Abmagerung, Lernen,
Gehen, Bauen.« 5 Dagegen trägt die Wirklichkeit im engeren Sinne des
Wortes die vollendete Verwirklichung des Möglichen in sich. Aristote-
les verwendet eine Eigentümlichkeit der griechischen Sprache dazu,
diese innere Vollendung des Wirklichen anzudeuten. Das Perfekt hat
im Griechischen – ähnlich übrigens wie im Englischen – das Eigentüm-
liche, das in der Gegenwart fortbestehende Ergebnis einer vergangenen
Handlung – oder eines vergangenen Geschehens überhaupt – aus-
zudrücken. So kann man von jemandem sagen: »[…] er sieht und hat
zugleich (immer schon) gesehen; er überlegt und hat zugleich (immer
schon) überlegt; er denkt und hat zugleich (immer schon) gedacht«;
ebenso: »[…] er lebt gut und hat zugleich gut gelebt; er ist glücklich
und ist zugleich (immer schon) glücklich gewesen«. 6 Das in diesen Aus-
drücken im griechischen Original jeweils an zweiter Stelle verwendete
Perfekt zeigt die innere Vollendung einer Tätigkeit oder eines Zustandes
an. Es macht zugleich deutlich, dass es sich dabei um eine innere Voll-
endung handelt, die auf einer gewissen Selbstperpetuierung beruht. Bei
4
Ebd., Κ 9, 1065 b 16–17. Vgl. Aristoteles, Physik, Γ 1, 201 a 10–11 and 201 b 4–5.
5
Ebd., Θ 6, 1048 b 29–30.
6 Ebd., Θ 6, 1048 b 23–24 und 25–26.
174
Metaphysik zufälliger Faktizität
7
Ebd., Θ 6, 1048 b 30–33.
8 Vgl. ebd., Z 17.
9
Ebd., Θ 8, 10450 b 14. Aristoteles verwendet dieses Wort allerdings im Plural, weil er in
strenger Allgemeinheit von dem spricht, was auch immer ein notwendig Seiendes ist.
Diese Bedeutungsnuance des griechischen Plurals wird in der deutschen Übersetzung zu
Recht mit dem Singular wiedergegeben.
175
Metaphysik zufälliger Faktizität
10
Ebd., Θ 8, 10450 b 28–29.
11
Aristoteles, De caelo, Buch I, Kap. 12, 283 b 9–10.
12
Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 281; siehe auch S. 147.
13 Aristoteles, De interpretatione, Kap. 9, 19 a 23–24.
176
Metaphysik zufälliger Faktizität
dem Satz, dass das Seiende dann notwendig ist, wenn es überhaupt ist,
und dem Satz, dass alles Seiende notwendig ist. 14
Diejenige Notwendigkeit, die dem Seienden deshalb zugeschrieben
wird, weil es wirklich ist, ihm aber auch nur solange zugeschrieben
werden kann, als es wirklich ist, wird oft als ›hypothetische‹ (das heißt
durch eine Annahme bedingte) Notwendigkeit bezeichnet.15 Ihr steht
die ›schlechthinnige‹ oder ›absolute‹ Notwendigkeit gegenüber, die uns
allerdings lediglich aus der Logik bekannt ist.
Mit hypothetischer Notwendigkeit ist offensichtlich eine nicht-
apriorische Realnotwendigkeit, eine Notwendigkeit des Faktischen ge-
meint. Aus dem Zusammenhang unserer Betrachtungen geht deutlich
hervor, dass der Gedanke einer hypothetischen Notwendigkeit alles
Wirklichen gleichsam der Schlussstein derjenigen Wissenschaft ist, die
Aristoteles in den unter dem Titel Metaphysik vereinigten Unter-
suchungen ständig im Auge hat. Dieser Gedanke ist das fehlende Glied
in derjenigen Kette, die in dieser Wissenschaft das Allgemeine mit dem
Ersten, also die Betrachtung über das Seiende als Seiendes mit der
Theorie des unbewegten, unveränderlichen und daher notwendigen
Wesens verbindet.
Was soll jedoch unter einer hypothetischen Notwendigkeit alles
Wirklichen genauer verstanden werden? Da Aristoteles davon ausgeht,
dass alles seine Ursache hat, wäre es naheliegend, darunter einen kau-
salen Determinismus zu verstehen. Allein eine derartige Deutung wäre
14
Ebd., 19 a 25–27.
15
Es gibt Autoren, die diesen Terminus im Anschluss an die Kapitel 8 und 9 des zweiten
Buches der Physik von Aristoteles für teleologische Kontexte vorbehalten wollen, in
denen die Bedingung der Notwendigkeit ein bestimmter Zweck ist. In allgemeinerem
Sinne wird dann der Terminus »bedingte« oder auch »relative« Notwendigkeit ge-
braucht. Richard Sorabji scheint den Ausdruck »eingeschränkte Notwendigkeit« (quali-
fied necessity) zu bevorzugen (siehe Richard Sorabji, Necessity, Cause and Blame. Per-
spectives on Aristotle’s Theory, Chicago: The University of Chicago Press 1980, S. 21 f.).
Es gibt aber zumindest eine deutliche Stelle im aristotelischen Textkorpus, an der die
Unterscheidung zwischen ἐξ ὑποθέσεωϚ und ἁπλῶϚ außerhalb jeglichen teleologischen
Kontexts auf die Notwendigkeit angewandt wird (siehe Aristoteles, De caelo, Buch I,
Kap. 12, 281 b 5–8). Weiterhin stellt Alexander von Aphrodisias im Hinblick auf die
gerade zitierte Stelle De interpretatione, Kap. 9, 19 a 25–27 der ἁπλῶϚ-Notwendigkeit
wiederum nur eine ἐξ ὑποθέσεωϚ-Notwendigkeit gegenüber. Diese beiden Tatsachen
reichen dazu hin, einen allgemeinen Gebrauch des Ausdrucks »hypothetische Notwen-
digkeit« zu rechtfertigen. Siehe dazu Richard Gaskin, Aristotle and Diodorus Cronus on
the Metaphysics of the Future, New York und Berlin: Walter de Gruyter 1995, S. 115,
Anm. 4.
177
Metaphysik zufälliger Faktizität
178
Metaphysik zufälliger Faktizität
179
Metaphysik zufälliger Faktizität
180
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
keiten‹ der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E., wofern sie
recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine gro-
ße Wahrheit«. 21 Im Einklang mit dieser Überzeugung wird der trans-
zendentalen Phänomenologie die Aufgabe zugewiesen, durch eidetische
Überlegungen die Möglichkeiten zu bestimmen, aus denen die Wirk-
lichkeiten abgeleitet und begriffen werden können. Noch in den Carte-
sianischen Meditationen heißt es zur Begründung dieser Ansicht: »Alle
Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft
ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft
rekurrieren muß, um letztlich eben prinzipiell begründet zu werden; –
nur daß die apriorische Wissenschaft keine naive sein darf, sondern aus
letzten transzendental-phänomenologischen Quellen entsprungen […]
sein muß.« 22
Iso Kern weist jedoch mit vollem Recht darauf hin, dass diese Auf-
fassung später von Husserl selbst ergänzt, ja sogar revidiert wird. 23 Be-
reits Anfang der 1920er Jahre stellt sich heraus, dass Husserls Idee der
Metaphysik sich in einer eidetisch-phänomenologischen Interpretation
der Tatsachenwissenschaften keineswegs erschöpft. In einer Beilage zur
Vorlesung über Erste Philosophie wird auf die »Irrationalität des trans-
zendentalen Faktums« hingewiesen; sie wird als der Hauptgegenstand
einer »Metaphysik in einem neuen Sinn« bezeichnet. 24 Die Erkenntnis
der Irrationalität aller Weltrationalität führt zu einer deutlichen Er-
weiterung der Metaphysik als Grundwissenschaft der Wirklichkeit.
Auf ähnliche Weise werden in den Cartesianischen Meditationen »die
Probleme der zufälligen Faktizität« als Probleme der Metaphysik er-
wähnt. 25 Damit sind hier Probleme »des Todes, des Schicksals«, aber
auch Probleme der »Möglichkeit eines ›echten‹ menschlichen Lebens«
und Probleme »des ›Sinnes‹ der Geschichte«, überhaupt »die ethisch-
religiösen Probleme« gemeint. 26
21
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], hg. von Karl Schumann, Den Haag:
M. Nijhoff 1976, S. 178.
22
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 160.
23
Rudolf Bernet, Iso Kern und Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines
Denkens, Hamburg: Meiner 1989, Kap. 10, S. 211 f. – Siehe auch: Iso Kern, Idee und
Methode der Philosophie, Berlin: Walter de Gruyter, 1975, S. 333 ff.
24
Edmund Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil: Kritische Ideengeschichte [Husserlia-
na, Bd. VII], hg. von Rudolf Boehm, Den Haag: M. Nijhoff 1956, S. 187 f., Anm. 1
25
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 160.
26 Ebd.
181
Metaphysik zufälliger Faktizität
Es wird deutlich, dass zwar im Falle der Dinge der Welt »die Möglich-
keiten den Wirklichkeiten vorher[gehen]«, aber dieses Verhältnis sich
im Falle des transzendentalen Ich notwendig umkehrt. 27 Das jeweilige
Ich erweist sich als »ein absolutes, undurchstreichbares Faktum«, 28 und
das Eidos stellt sich zugleich als von diesem Faktum abhängig heraus.
Husserl sagt: Das jeweilige Ich, diese »Monade«, »kann sich selbst als
anders seiend denken, aber ist sich selbst absolut als seiend gegeben. Die
Setzung ihres Andersseins setzt die Setzung ihres Seins voraus.« 29 Da-
raus zieht Husserl den Schluss: »Insofern ist die Essenz jeder Monade
von der monadischen Existenz unabtrennbar.« 30 Oder noch eindeutiger:
»Alle monadischen Möglichkeiten sind daseinsrelativ zu den mona-
dischen Wirklichkeiten.« 31
Iso Kern wird auf diese Änderung im Denken von Husserl auf-
merksam. Er meint aber, sie vollziehe sich erst in der Zeit nach der
Abfassung der Cartesianischen Meditationen, und er stützt sich tat-
sächlich auf Forschungsmanuskripte aus den dreißiger Jahren, um sie
aufzuweisen. Die Sachlage ist jedoch verwickelter. Die Feststellungen,
die über das Verhältnis von Eidos und Faktum gerade angeführt wur-
den, stammen aus Forschungstexten, die im Jahre 1922 entstanden sind.
In der Tat geraten Husserls Gedanken über die Metaphysik der Faktizi-
tät bereits Anfang der zwanziger Jahre in Fluss. Es ist ein Verdienst von
27
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–
1928 [Husserliana, Bd. XIV], hg. von I. Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 159.
28
Ebd, S. 155.
29
Ebd, S. 154.
30
Ebd.
31 Ebd, S. 155.
182
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
32
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–1928 [Hus-
serliana, Bd. XIV], S. 151–160.
33
Marc Richir, Phantasia, imagination, affectivité, Grenoble: Millon 2004, S. 93–102.
34
Ludwig Landgrebe, »Phänomenologische Bewußtseinsanalyse und Metaphysik«, ent-
halten bereits in der Aufsatzsammlung Phänomenologie und Metaphysik, Hamburg:
Marion von Schröter Verlag 1949; neu abgedruckt in: Der Weg der Phänomenologie,
Gütersloh: Gerd Mohn 1963, S. 75–110.
35
Edmund Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen
Reduktion [Husserliana, Bd. VIII], hg. von R. Boehm, Den Haag: M. Nijhoff 1959,
S. 497–506.
36
Ludwig Landgrebe, »Meditation über Husserls Wort ›Die Geschichte ist das große
Faktum des absoluten Seins‹« (1974), in: Faktizität und Individuation. Studien zu den
Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg: Meiner 1982, S. 38–57, hier besonders:
S. 39 und S. 43 f.
37 Klaus Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendenta-
len Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik [Phaenome-
nologica, Bd. 23], Den Haag: Martinus Nijhoff 1966, S. 178; vgl. S. 147 f.
38
Stefano Micali, Überschüsse der Erfahrung. Grenzdimensionen des Ich nach Husserl
[Phaenomenologica, Bd. 186], Dordrecht: Springer 2008.
183
Metaphysik zufälliger Faktizität
39
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935
[Husserliana, Bd. XV], hg. von Iso Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 385 (Text
Nr. 22).
40 Ebd, S. 386 (Text Nr. 22).
184
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
41
Ebd, S. 366 (Text Nr. 21).
42
Ebd, S. 371 (Text Nr. 21).
43 Ebd, S. 381 (Text Nr. 22) und S. 593–597 (Text Nr. 34).
185
Metaphysik zufälliger Faktizität
Gott, die der neuzeitlichen Metaphysik eigentümlich ist und selbst noch
an Kants transzendentaler Dialektik ihre Spuren hinterlässt, wird durch
die phänomenologische Erkenntnis, dass sich das Ichsubjekt, wie Eduard
Marbach in Anlehnung an ein Forschungsmanuskript von Husserl sagt,
in eine Vielheit spaltet, von Grund auf verändert, wenn nicht sogar
gesprengt. 44 Die Entdeckung der zentralen Bedeutung des Verhältnisses
zwischen dem Ich und dem Anderen führt bei Husserl zu einer völlig
neuen Grundstruktur, die alle phänomenologischen Untersuchungen
bedingt.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Husserl mit der egologi-
schen Einbettung seiner Phänomenologie jemals bricht. Selbst noch in
den Cartesianischen Meditationen, also in einem Werk, das der Ana-
lyse der Fremderfahrung einen durchaus zentralen Platz einräumt, wird
behauptet, dass »die Welt ein egologisches Universalproblem« ist 45, und
es wird hinzugefügt, dass sich die Phänomenologie der Selbstkonstitu-
tion des Ego mit der Phänomenologie überhaupt« deckt. 46 Das Cogito
bleibt nach wie vor der Ausgangspunkt der Husserl’schen Phänomeno-
logie, aber es wird weit über seine cartesianischen Grenzen hinaus-
getrieben. Die Urtatsachen, die Husserl numehr im Auge hat, verwei-
sen auf Faktizitätsstrukturen, die sich mit dem Cogito verbinden und
ihm einen unverlierbaren Hinweis auf Welthabe, Leiblichkeit, Intersub-
jektivität und Geschichtlichkeit einprägen. In ihnen kommt das zum
Ausdruck, was man mit Eugen Fink als eine »immenente Selbstüber-
schreitung der Egologie« bei Husserl bezeichnen könnte. 47 Es heißt in
einem der späten C-Manuskripte: »So wie ich mein Sein ständig habe
und mit allem, was ich bin, so habe ich aber darin impliziert die Ande-
ren […].« 48
Es zeichnen sich damit vor unseren Augen die Umrisse einer Me-
taphysik ab, in der die Dreierstruktur von Ich, Welt und Gott durch eine
Viererstruktur von Ichsubjekt, Welthabe, intentionales Ineinander und
44
Eduard Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, Den Haag:
M. Nijhoff, 1974, S. 79 f. (Marbach stützt sich hier auf ein unveröffentlichtes Manuskript
Husserls.)
45
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 55.
46 Ebd., S. 70.
47
Vgl. dazu Natalia Petrillo, Die immenente Selbstüberschreitung der Egologie in der
Philosophie Edmund Husserls (Diss. Wuppertal), Würzburg: Ergon 2009.
48
Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution. Die C-Manuskripte [Husserlia-
na, Materialien, Bd. VIII], hg. von Dieter Lohmar, Dordrecht: Springer 2006, S. 13 f.
186
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
187
Metaphysik zufälliger Faktizität
ten führen, weil sie ihre Behauptungen über das jeweils Gegebene
und Ausweisbare weit hinausspannen. Die Phänomenologie weist
dieses spekulative Verfahren notwendig zurück.
4. Deshalb verzichtet Husserl auch darauf, in der einmaligen und un-
wiederholbaren Geschichte, die er in seinen späten Jahren immer
wieder zur Sprache bringt, etwa mit Kant auch nur nach dem Aus-
druck eines ›Naturzwecks‹ zu forschen. Was er unter Geschichtste-
leologie versteht, unterscheidet sich von der Idee eines Natur-
zwecks nicht nur darin, dass es mit der Natur nichts zu tun hat.
Darüber hinaus handelt es sich bei Husserl immer nur um Zweck-
mäßigkeiten, die keineswegs im Voraus feststehen, sondern jeweils
aus in sich selbst zufälligen Urstiftungen erwachsen.
Es bietet sich eine Antwort auf die gerade gestellte Frage an, die sich
unmittelbar auf das Cogito bezieht. In den Ideen I stellt Husserl fest,
dass dem sum im Satz cogito, ergo sum »die Notwendigkeit eines Fak-
tums« zukommt. 49 Drei Jahrzehnte später, in Das Sein und das Nichts,
49
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], S. 98.
188
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
wird Sartre auf diese Stelle der Ideen I aufmerksam, und er gibt den
husserlschen Ausdruck im Französischen als nécessité de fait wieder.
Bei beiden Denkern steht die faktische Notwendigkeit jeglicher We-
sensnotwendigkeit – also jeder Besonderung einer eidetischen Gesetz-
mäßigkeit – gegenüber, und bei beiden Denkern drückt sie eine unauf-
hebbare Kontingenz oder, wie Husserl sagt, etwas ›Urzufälliges‹ aus.50
Die von Husserl herausgestellten und im Anschluss an ihn von Sartre
gleichfalls beschriebenen Urtatsachen unterscheiden sich nun von ge-
wöhnlichen Tatsachen gerade dadurch, dass sie eine faktische Notwen-
digkeit mit sich führen, die als solche ihre Urzufälligkeit keineswegs
ausschließt, sondern vielmehr gerade bestätigt. Deshalb verwendet
Husserl den Terminus »Urtatsache« und das Wort »Urnotwendigkeit«
als gleichbedeutende – oder zumindest einander implizierende – Aus-
drücke, indem er an einer bereits angeführten Stelle sagt: »Wir kom-
men auf letzte ›Tatsachen‹ – Urtatsachen, auf letzte Notwendigkeiten,
Urnotwendigkeiten.« 51
Nicht anders als die hypothetische Notwendigkeit des Aristoteles
ist diese faktische Notwendigkeit eine bedingte Notwendigkeit. Es han-
delt sich dabei allerdings nicht etwa um eine Bedingtheit durch eine
allumfassende Kette von Ursachen. Die faktische Notwendigkeit der
Phänomenologie hat es mit der hypothetischen Notwendigkeit des
Aristoteles gemeinsam, dass sie keineswegs an einen kausalen Determi-
nismus gebunden ist. Beide Grundansätze beruhen vielmehr auf einer
Notwendigkeit, die einfach durch eine Tatsache bedingt ist. Doch ist die
Faktizitätsabhängigkeit der Notwendigkeit in den beiden Fällen keines-
wegs von der gleichen Natur.
Die Tatsache, von der bei Aristoteles die hypothetische Notwen-
digkeit abhängig ist, drückt die faktische Existenz des Wirklichen als
solchen aus. Solange das Wirkliche als die vollendete Verwirklichung
des Möglichen überhaupt ist – oder besteht –, ist es zugleich notwendig.
Bei Aristoteles verleiht diese Notwendigkeit der Wirklichkeit des Ein-
zelwesens ein Eigengewicht. Es handelt sich um ein Eigengewicht, das
auf dem Vermögen lebendiger Selbstperpetuierung beruht – ein Ver-
mögen, das allerdings nicht ohne die – uns nicht mehr einleuchtende –
50
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935
[Husserliana, Bd. XV], S. 386.
51 Ebd., S. 385.
189
Metaphysik zufälliger Faktizität
52
Dieser Terminus wird hier in dem Sinn verwendet, den Jaakko Hintikka ihm in seinem
Aufsatz über das Cartesianische Cogito gab. Siehe Jaakko Hintikka, »Cogito, ergo sum:
Inference or Performance?«, in: The Philosophical Review 71 (1/1962), S. 3–32, hier:
S. 12.
190
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
einer Metaphysik der Faktizität auch auf die metaphysica generalis aus-
zudehnen.
53
Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Molden-
hauer und Karl-Markus Michel, Bd. III], S. 80.
54
Vgl. William James, Essays in Radical Empiricism, Mineola, New York: Dover 2003
(11912).
191
Metaphysik zufälliger Faktizität
55
Marion, Étant donné, S. 246.
56
Ebd., S. 315 und S. 367: »à contre-courant de l’intention«.
57
Ebd., S. 367.
58
Vgl. Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-délà de l’essence, Édition »Livre de
poche«, Dordrecht, Boston und London: Kluwer 1990; S. 61 und S. 67; dt. Jenseits des
Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg/München:
Alber 1992, S. 115 und S. 125.
59
Vgl. Michel Henry, Phénoménologie matérielle, Paris: PUF 1990, S. 36.
60 Marion, Étant donné, S. 367.
192
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
61
Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis [Husserliana, Bd. XI], hg. von
Margot Fleischer, Den Haag: M. Nijhoff 1966, S. 151.
62 Ebd.
193
Metaphysik zufälliger Faktizität
194
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
Diese Arbeit, die hier allerdings nur den Hauptlinien nach umrissen
werden kann, wird notwendig mit der Kategorie der Wirklichkeit be-
gonnen. Man erinnert sich, wie bereits Husserl zu der Einsicht gelangte,
dass die Wirklichkeit in ihrer faktischen Erkenntniskontingenz nicht
etwa auf Grund vorhergehender Möglichkeiten einsichtig wird, son-
dern vielmehr allen erkannten oder auch nur erwogenen Möglichkeiten
vorhergeht. Damit erreicht die Phänomenologie den Reflexionsstand
im Kategorienproblem, der beim späten Schelling aus Hegels metaphy-
sischer Logik zum ersten Mal herausführte. In der Philosophie der My-
thologie und der Offenbarung ist von einer Wirklichkeit die Rede, die
sich nicht durch das Denken vorwegnehmen, verfügbar machen und
vereinnahmen lässt; im Gegenteil, sie zwingt sich als etwas Unumgeh-
bares dem Denken auf. In der Geschichte der phänomenologischen Be-
wegung tritt uns dieser Wirklichkeitsbegriff in immer neueren Gestal-
ten entgegen. Mit Recht behauptet Karl Löwith in seinem Buch Von
Hegel zu Nietzsche: »Das Problem des Seins ist in der Gegenbewegung
zu Hegel schon bei Schelling an jenen Punkt gelangt, wo es Heidegger
wieder aufnahm.« 63 Aber auch in der französischen Phänomenologie
wird deutlich gesehen, dass sich die Wirklichkeit geradezu im Gegenzug
zu vorgefassten Möglichkeiten einstellt. Es genügt hier, auf Levinas
hinzuweisen, der die Gegenwart als »das ›Wirkliche‹« bestimmt, »das
dem Möglichen vorausgeht und es überrascht«. 64
Diese radikale Änderung im Verhältnis von Möglichkeit und
Wirklichkeit verwandelt die Konstellation der traditionellen Kategorien
von Grund auf. Schon deshalb, weil sie allen weiteren Grundbestim-
63
Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neun-
zehnten Jahrhunderts, Stuttgart: Kohlhammer 41958 [11941], S. 133.
64 Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 58; dt. S. 84.
195
Metaphysik zufälliger Faktizität
65
Eugen Fink, Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1959, S. 220.
66 Edmund Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale
Phänomenologie [Husserliana, Bd. VI], hg. von Walter Biemel, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1976, S. 112 f. und S. 145 f.
67
Fink, Alles und Nichts, S. 196.
68 Edmund Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer
196
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) [Husserliana, Bd. XXXIX], hg. von
Rochus Sowa, Dordrecht: Springer 2008, S. 246.
69
Siehe Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Tübingen: Niemeyer 1980, Bände
I-II/1–2, hier: Bd. II/2, S. 42.
70 Fink, Alles und Nichts, S. 239.
197
Metaphysik zufälliger Faktizität
198
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
wir gesehen haben, ist selbst die traditionelle Metaphysik darum be-
müht, die Urtatsachen durch eigenartige kausale Erklärungen auf hö-
here Ursachen zurückzuführen. Einzig und allein die Phänomenologie
zielt auf eine andersartige – nämlich deskriptive und erfahrungsanalyti-
sche – Verstehbarkeit ab. Sie bricht deshalb mit dem Streben nach kau-
saler Erklärung, weil sie das Erscheinende in seinem Erscheinen als ein
Ereignis begreift, das sich von selbst einstellt und dabei etwas Unvor-
hersehbares und Unerwartetes mit sich bringt. Ein derartiges Ereignis
macht aber nur in einem ausgezeichneten Fall deutlich, was es mit den
Ursachen überhaupt auf sich hat. Wir müssen nicht notwendig so weit
gehen, mit Heidegger und Fink ein ›Weltspiel‹ anzunehmen, das – wie
die Rose bei Angelus Silesius – ohne Warum ist, um behaupten zu
können, dass ein unvorhersehbares und unerwartetes Ereignis niemals
eine adäquate Ursache hat. 71 Wir können darunter mit dem hervor-
ragenden Historiker François Furet einfach den Satz verstehen: »Je fol-
genreicher ein Ereignis ist, desto weniger ist es möglich, es im Ausgang
von seinen Ursachen zu denken.« 72 Es gehört zur Begriffsbestimmung
des Ereignisses, dass in ihm etwas Neues von selbst aufkommt. Dieses
Von-sich-selbst-Sein – Aseität – des Ereignisses hat aber zur Folge, dass
immer nur im Ausgang von den Wirkungen nach den Ursachen gesucht
und geforscht werden kann. Die Suche nach den Ursachen bleibt eine
Angelegenheit der reflektierenden Urteilskraft, die vom Besonderen
und Bedingten ausgeht, um das Allgemeine und das Unbedingte aus-
findig zu machen. Diese Gangrichtung lässt sich zwar innerhalb einzel-
ner Teilbereiche umkehren. Im Ganzen all dieser Teilbereiche ist jedoch
eine derartige Umkehrung der Gangrichtung, wie bereits Kant gezeigt
hat, nicht möglich.
Deshalb kann den vielfältigen Versuchen, aus ersten Ursachen die
Urtatsachen abzuleiten, die jede phänomenologisch begründete Unter-
suchung bedingen, der Charakter ›metaphysischer Abenteuer‹ und
›spekulativer Überschwenglichkeiten‹ niemals abgestreift werden. Da-
raus ersieht man, in welchem Sinne die traditionelle Metaphysik mit
Husserl als eine phänomenologisch ›naive‹ Metaphysik beschrieben
werden kann. Nur eine phänomenologisch ›naive‹ Metaphysik kann
den Anspruch erheben, das Seiende als Seiendes kategorial zu erfassen.
71
Vgl. Marion, Étant donné, S. 235.
72
François Furet, Le passé d’une illusion, Paris: Robert Laffont et Calmann-Lévy 1995,
S. 49. Zitiert auch von Marion; siehe Étant donné, S. 236.
199
Metaphysik zufälliger Faktizität
73
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch, [Husserliana, Bd. III/1], S. 120.
74 Ebd.
200
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
75
Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs [Gesamtausgabe,
Bd. 20], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1925, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt
am Main: Klostermann 1979, S. 145.
76
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Drittes Buch [Husserliana, Bd. V], hg. von Marly Biemel, Den Haag: Mar-
tinus Nijhoff 1971.
77
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe
zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logi-
schen Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], hg. von Ullrich Melle,
Dordrecht, Boston und London: Kluwer 2002.
78
Rudolf Bernet, Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques, Paris: PUF
2004, Kap. V, S. 143–168, hier: S. 147.
201
Metaphysik zufälliger Faktizität
79
Ebd., S. 146.
80
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], S. 87.
202
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
81
Ebd.
82
Ebd., S. 78 f.
83 Ebd., S. 81.
84
Ebd., S. 84 f.
85
Ebd., S. 88.
86
Ebd., S. 93.
87 Ebd., S. 97.
203
Metaphysik zufälliger Faktizität
88
Ebd., S. 98.
89 Ebd., S. 105.
90
Ebd., S. 104.
91
Ebd.
92
Ebd.
93 Ebd., S. 98.
204
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
94
Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921)
[Husserliana, Bd. XXXVI], hg. von Robin D. Rollinger in Verbindung mit Rochus Sowa,
Dordrecht, Boston und London: Kluwer 2003, S. 73.
205
Metaphysik zufälliger Faktizität
95
Ebd., S. 74.
96
Ebd., S. 113.
97 Ebd., S. 75.
206
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
Phantasie, wie aus manchen Texten aus dem Band XXIII der Husserlia-
na-Reihe hervorgeht, ein Phantasie-Ich mit Phantasieleib; gleichwohl
setzen sie kein aktuelles Bewusstsein und kein wirkliches Ich voraus.
Denn das Phantasie-Ich ist nicht identisch mit dem wirklichen Ich. An-
hand des Beispiels mit der Nixe wird das besonders deutlich gezeigt:
Mir, »dem jetzt aktuell lebendigen, in diesem Zimmer seienden Ich« –
sagt Husserl – »steht z. B. die fingierte Nixe nicht wirklich gegenüber;
mir, diesem faktischen Ich, wendet sie nicht ihr liebliches Gesicht und
dann stolz den Rücken zu usw. Was sich mir, dem faktischen Ich, zu-
wendet, sich von Seiten, in Orientierungen darstellt, das sind die wirk-
lichen Dinge meiner wirklichen Umgebung. Aber könnte man sagen:
›Ich bin insofern dabei, als ich mich in den Phantasieraum, in die Phan-
tasielandschaft, in der die Phantasienixe sich zeigt, hineinphantasiere?‹
Das mag sein. Aber damit gebe ich meine aktuelle Existenz auf und bin
nicht mehr wirkliches Ich.« 98 Husserl stützt sich in diesem Gedanken-
gang offensichtlich auf seine Einsicht in den Widerstreit zwischen
Wahrnehmung und Phantasie, wie er sie bereits in seiner Vorlesung
von 1904/05 über »Phantasie und Bildbewusstsein« dargelegt hat. Aus
diesem Widerstreit zieht er den Schluss, dass die sich abschattenden
Phantasiegegenstände ein Ich voraussetzen, das mit dem wirklichen
Ich nicht identisch ist.
Die Analyse der Phantasie gehört deshalb wesensmäßig zum Hus-
serl’schen Beweis des transzendentalen Idealismus, weil sie deutlich
macht, dass im Reich idealer Möglichkeiten gleichwertige Einstimmig-
keitssysteme nebeneinander bestehen können, ohne dass dabei eines
dieser Systeme vor den anderen ausgezeichnet werden könnte. Ideale
Möglichkeiten sind gleich möglich, selbst wenn sie einander ausschlie-
ßen. 99 Anders verhält es sich mit der realen Möglichkeit: Sie schließt
alle Einstimmigkeitssysteme aus, die mit ihr nicht zusammenbestehen
können. Sie kann daher als die Realisierung einer idealen Möglichkeit
unter Hintansetzung aller anderen aufgefasst werden. Was bestimmt
jedoch, welche der idealen Möglichkeiten als »realisiert« angesehen
werden muss?
Diese Frage leitet uns von den Phantasiegegenständen zu den real
existierenden Dingen hinüber. Denn es gibt nach Husserl letztlich nur
eine Antwort auf sie: Das Ding, wie es an sich selbst, vollständig und
98
Ebd., S. 113.
99 Ebd., S. 75.
207
Metaphysik zufälliger Faktizität
allseitig, bestimmt ist, gibt uns gleichsam die Richtschnur an die Hand,
mit der wir aus der Gesamtheit ideal gleich möglicher Einstimmigkeits-
systeme das einzige Einstimmigkeitssystem auswählen können, das mit
diesem Ding als realisiert zu gelten hat. Der Sinn dieser Antwort kann
leicht verdeutlicht werden: Wäre der Zentaur kein Phantasiegebilde,
sondern ein real existierendes Wesen, so wäre die Frage nach seiner
Haarfarbe wie auch nach seiner Ein- oder Zweiäugigkeit an sich immer
schon entschieden.
Allerdings taucht hier sofort ein Einwand auf: Wie davon die Rede
war, zeigt sich uns ein real existierendes Ding gerade niemals so, wie es
an sich selbst, vollständig und allseitig, bestimmt ist, sondern es schattet
sich ab, das heißt es stellt sich in verschiedenen Anblicken dar, und es
erscheint dabei immer nur unter einem seiner Aspekte. Nach Husserl
ändert diese Tatsache jedoch nichts daran, dass die vollständige und all-
seitige, in diesem Sinne adäquate, Gegebenheit des Dinges eine Idee im
Kant’schen Sinn ist, der in unserer Erfahrung durchaus eine regulative
Funktion zukommt. Zu dieser Idee gehört aber auch die Überzeugung,
dass das Ding an sich selbst vollständig und allseitig bestimmt ist.
Bekanntlich bringt Husserl das Ding an sich als Idee im Kant’schen
Sinn auch im ersten Band der Ideen zur Sprache. Es handelt sich dabei
um die Idee einer allseitig unendlichen Abschattungsmannigfaltigkeit,
die als ein bestimmtes Einstimmigkeitssystem zum jeweiligen Ding in
seiner – letztlich einmaligen und unwiederholbaren – Einzelexistenz
gehört. Zu Recht weist Rudolf Bernet darauf hin, dass eine Idee im
Kant’schen Sinne kein Eidos, also kein allgemeines Wesen ist, sondern
die Idee eines Einzeldinges. 100 Nicht allein die Entwürfe zur Umarbei-
tung der VI. Logischen Untersuchung, sondern auch die im Band
XXXVI der Husserliana-Reihe versammelten Texte bestätigen diese
Unterscheidung zwischen Eidos und Idee im Kant’schen Sinn. So sagt
Husserl etwa Folgendes: »[…] die Existenz des Dinges ist für das aktu-
elle Bewusstsein immerfort eine Idee, aber eine Idee nicht im Sinn eines
rein idealen Seins, wie einer Zahl, einer Spezies, sondern eine Idee (eine
mehrdimensionale) im Kant’schen Sinn […].« 101
Dass die Einzelexistenz eines realen Dinges eine Idee im
Kant’schen Sinn ist, kann geradezu als der Kerngedanke von Husserls
100
Bernet, Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques, S. 161.
101
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Hus-
serliana, Bd. XXXVI], S. 77.
208
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
102
Ebd.
103 Ebd.
209
Metaphysik zufälliger Faktizität
streichbar. Es ist notwendiges Sein. Das Sein der Welt ist zufällig, es ist
so, dass überhaupt keine Welt sein müsste.« 104
Gleichzeitig kommen aber auch ganz neue Gesichtspunkte auf.
Aus dem Beweis des transzendentalen Idealismus werden immer mehr
Konsequenzen gezogen, die einerseits die Leiblichkeit, andererseits die
Intersubjektivität betreffen. Einerseits wählt Husserl schon im Text 6
zum Ausdruck des transzendentalen Idealismus der Phänomenologie
eine Formel, die ein inkarniertes Bewusstsein impliziert: »Jedes Ding
liegt a priori in der Umgebung eines aktuellen Ich.« 105 Das Wort »Um-
gebung« deutet an, dass die raumzeitlichen Dinge ein Ich voraussetzen,
das im Orientierungszentrum seiner Umwelt steht und ebendeshalb
leiblich bestimmt sein muss. Andererseits verweist die grundsätzlich
ins Unendliche fortschreitende Erfahrungserkenntnis der Welt, auf die
eine Idee im Kant’schen Sinn als regulative Idee hindeutet, von vorn-
herein auf eine intersubjektive Erkenntnisgemeinschaft. Beide Kon-
sequenzen, die sich übrigens bereits in den Entwürfen zur Umarbei-
tung der VI. Logischen Untersuchung anmelden, werden im Text
Nr. 7, der aus dem Jahre 1914 oder 1915 stammt, neu behandelt. 106
Husserl begnügt sich hier jedoch auch nicht damit, die beiden Ge-
sichtspunkte der Leiblichkeit und der Intersubjektivität geltend zu
machen. Er geht noch weiter, indem er den Sinn des transzendental-
phänomenologischen Idealismus in ein ganz neues Licht stellt. »Das
geforderte wirklich existierende Subjekt der Erkenntnis ist nicht gefor-
dert als aktuell erkennendes […]« – behauptet er zunächst, aber diese
Behauptung ist noch nicht besonders überraschend. Von großer Trag-
weite ist dagegen, was hinzugesetzt wird: »Es ist auch nicht gefordert
ein solches Subjekt für die ganze unendliche Zeit des Weltdaseins.« 107
Husserl führt diesen Gedanken auf folgende Weise aus: »Eine bloß
materielle Welt als Unterstufe und als Anfangsstrecke der Dauer der
Welt genügt den Bedingungen der Erkennbarkeit, wenn eine Subjekti-
vität existiert, die vernunftgemäß durch Erfahrung und Denken diese
Welt konstituiert, die seine gegenwärtige Umwelt ist, und dann ver-
nunftgemäß rückwärts konstituieren kann die vorangegangenen Welt-
104
Ebd., S. 111; vgl. S. 124: »Die Welt braucht eben nicht zu sein.«
105
Ebd., S. 114.
106
Ebd., S. 132–140.
107 Ebd., S. 140.
210
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
211
Metaphysik zufälliger Faktizität
212
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
cher, wenn wir uns Husserls Rückgang auf die Erfahrung in der Lebens-
welt vergegenwärtigen.
113
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 135.
213
Metaphysik zufälliger Faktizität
114
Ebd., S. 129.
115
Ebd.
116
Ebd., S. 128.
117 Ebd.
214
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
118
Ebd., S. 375.
119 Ebd., S. 386.
215
Metaphysik zufälliger Faktizität
120
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübin-
gen 41975 (11960), S. 338.
121 Husserl, Analysen zur passiven Synthesis [Husserliana, Bd. XI], S. 121.
216
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
»Eins deutet auf das andere – obschon noch nicht ein eigentliches Ver-
hältnis der Anzeige und Bezeichnung vorliegt.« 122 Dieser Verweisungs-
zusammenhang, der noch kein Verhältnis zwischen Zeichen und Be-
zeichnetem ist, deutet sich uns – als »aufmerkenden Ich[en]« – von
sich aus an; er fällt uns plötzlich auf und fällt damit in unser Bewusst-
sein erstmalig ein. Die Passivität lebensweltlicher Erfahrung teilt diesen
Grundzug mit der von Husserl erörterten passiven Synthesis. Aber die-
ser gemeinsame Grundzug darf uns über einen grundlegenden Unter-
schied nicht hinwegtäuschen. Der Verweisungszusammenhang, den
Husserl an der gerade angeführten Stelle beschreibt, bietet sich von
vornherein dazu an, durch eine aktive Intentionalität erfasst zu werden.
Sobald er ins Bewusstsein eingefallen ist, entpuppt er sich als vollwerti-
ge Intentionalität. Deshalb kann er durch das Bewusstsein ohne Schwie-
rigkeiten in ein Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem umge-
wandelt werden. Anders steht es mit der Tendenz, die sich in einem
spontanen Sinnbildungsvorgang geltend macht. Sie ist nicht nur keine
Vorform der Bewusstseinsintentionalität, sondern sie lässt sich nicht
einmal als ein feststehender Verweisungszusammenhang begreifen. Es
handelt sich nämlich um eine Tendenz, der keine eindeutige Zielrich-
tung zugeschrieben werden kann. Nicht umsonst betont Husserl in sei-
nen späten Texten so sehr die methodische Bedeutung der Rückfrage.
Erst von einer bereits etablierten – oder, wie Husserl mit Vorliebe sagt,
»sedimentierten« – Urstiftung her eröffnet sich ein Rückweg zu einem
ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang. Die Urstiftung ist aber
ein kreativer Akt, der durch einen Sprung über den Abgrund hinweg
einen neuen Sinn erzeugt. Deshalb zeichnet sich die Tendenz, die den
ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang durchdringt, immer nur
im Nachhinein eindeutig ab.
Diese wesenhafte Nachträglichkeit, die das methodische Verfahren
der Rückfrage notwendig macht, verleiht der lebensweltlichen Erfah-
rung zugleich den Charakter wohlverstandener Geschichtlichkeit. Mit
diesem Terminus ist hier allerdings nicht etwa die Zugehörigkeit zur
Weltgeschichte gemeint, sondern der Charakter spontanen Sinngesche-
hens. Gemeint ist damit eine Sinngenese, die sich auf eine Sinngebung
durch das intentionale Bewusstsein nicht zurückführen lässt. In seiner
122
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 121.
217
Metaphysik zufälliger Faktizität
218
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
219
Metaphysik zufälliger Faktizität
129 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 112 f. und S. 145 f.
130
Ebd., S. 146.
131
Ebd., S. 146.
132 Ebd.
220
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
frage verbunden, das über sie selbst hinausgeht: Nachdem der Unter-
schied zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein phänome-
nologisch herausgestellt wurde, wird auf den ontologischen Unter-
schied, der ihn bedingt, zurückgegangen oder zurückgegriffen.
Damit zeichnen sich vor unseren Augen die Umrisse einer, wie
man sagen könnte, regressiven oder, besser noch, rekursiven Ontologie
ab. Mit dem Wort »rekursiv« soll hier einzig und allein diejenige Eigen-
tümlichkeit dieser Ontologie bezeichnet werden, dass sie sich aus einer
Rückfrage von den korrelativen Bewusstseinsweisen her ergibt. Von
einer Rückkehr zur traditionellen Ontologie, die in der zunächst von
Duns Scotus und dann von Francisco Suárez stark beeinflussten Über-
lieferung immer deutlicher zu einer Tinologie geworden ist, kann in der
Krisis-Abhandlung natürlich keine Rede sein. Wieweit Husserls Stu-
dium von Heideggers Fundamentalontologie an seiner Rede von einer
»Differenz der Seinsweisen« eine Spur hinterlassen hat, ist nicht leicht
zu entscheiden.
Die Bestimmung des Unterschieds in der Seinsweise von Ding und
Welt ist allerdings eben nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer
rekursiven Ontologie der Lebenswelt. Husserl deutet weitere Schritte
an, indem er hervorhebt, dass die lebensweltliche Erfahrung ihre eigen-
tümlichen Kategorien hat.
133
Ebd., S. 142.
134
Ebd.
135 Ebd.
221
Metaphysik zufälliger Faktizität
222
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
223
Metaphysik zufälliger Faktizität
und Gehirn für sich bestehen könnte. Sie nimmt keinen objektivisti-
schen Standpunkt ein, sondern sie betrachtet das Bewusstsein als eine
Urtatsache der immer nur subjektiven und relativen Erfahrung, die für
die Lebenswelt bezeichnend ist. Die Gegenüberstellung von Phänome-
nologie und Naturalismus ist daher schief. In Wahrheit besteht das Ver-
hältnis beider darin, dass der Naturalismus als eine naive Metaphysik
der Naturwissenschaften die Urtatsachen, von denen die Phänomenolo-
gie als rekursive Ontologie der Lebenswelt ausgeht, wegzuerklären
sucht. Ebendeshalb bekämpft Husserl den naturalistischen Objektivis-
mus nicht so, wie man einen Standpunkt bekämpft, der seinem eigenen
Standpunkt entgegengesetzt ist. Vielmehr hinterfragt er ihn, indem er
auf die Urtatsachen lebensweltlicher Erfahrung zurückgreift, die der
Urstiftung objektiver Wissenschaften unaufhebbar zugrunde liegen.
Die rekursive Ontologie der Lebenswelt, die sich auf diese Urtat-
sachen gründet, bringt eine Umwandlung und Erneuerung der trans-
zendentalen Phänomenologie mit sich, ohne ihren Grundsätzen zu wi-
dersprechen. Husserl behauptet zwar ausdrücklich, dass die allgemeine
Struktur der Lebenswelt bereits in der natürlichen Einstellung zum Ge-
genstand eingehender Untersuchungen gemacht werden kann. 142 Damit
ist jedoch keineswegs gesagt, dass die lebensweltliche Ontologie nicht
ebenso wohl – oder viel besser noch – auf dem Boden der phänomeno-
logischen Einstellung bearbeitet werden könnte. Gerade das Gegenteil
trifft zu. Husserl behauptet zwar, dass die Lebenswelt in der Epoché »in
das bloße transzendentale ›Phänomen‹« verwandelt wird, aber er fügt
hinzu: »Sie bleibt dabei in ihrem eigenen Wesen, was sie war […].« 143
Es heißt weiter im Text: »Innerhalb der Epoché steht es uns frei, kon-
sequent unseren Blick ausschließlich auf diese Lebenswelt bzw. ihre
apriorischen Formen zu richten […].« 144
Gleichwohl eröffnet die Kategorialanalyse lebensweltlicher Erfah-
rung eine neue Dimension innerhalb der Phänomenologie. Es handelt
sich um eine Dimension, die sich auf die Dimension intentionaler Kor-
relationsbetrachtung nicht reduzieren lässt. Das wird besonders deut-
lich, wenn wir bedenken, wie sich die Kategorialanalyse lebenswelt-
licher Erfahrung zu den objektiven Wissenschaften verhält. Husserl
greift auf seine Unterscheidung zwischen lebensweltlichem und objek-
142
Ebd., S. 176.
143
Ebd., S. 177.
144 Ebd.
224
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
145
Ebd., S. 143.
146 Ebd., S. 24; vgl. S. 30.
225
Metaphysik zufälliger Faktizität
226
Husserls Metaphysik der Urtatsachen
227
Metaphysik zufälliger Faktizität
Nach der Veröffentlichung der ersten Hälfte von Sein und Zeit arbeitet
Heidegger noch jahrelang an dem Forschungsvorhaben weiter, aus dem
sein Hauptwerk erwachsen ist. Die Universitätsvorlesungen, die er im
Jahre 1927 in Marburg hält, sind vom Anliegen getragen, das dritte
Kapitel des ersten Teil von Sein und Zeit voll auszuarbeiten 148 (oder in
neuer Fassung vorzulegen 149) bzw. den zweiten Teil des Werkes, die
Destruktion der traditionellen Ontologie – und dabei vor allem den
Kant-Teil 150 – zu entwerfen. Die Weiterführung der Arbeit lässt aber
den ursprünglichen Entwurf keineswegs unverändert.
Von der im Wintersemester 1927/1928 gehaltenen Kant-Vor-
lesung an macht sich bei Heidegger ein neues Interesse an der Meta-
physik bemerkbar. Deshalb forscht er in der Kritik der reinen Vernunft
nach den Spuren einer »Grundlegung der Metaphysik«. 151 Bereits zu
dieser Zeit verbindet sich das Problem der Metaphysik mit dem der
Anthropologie. 152 Die Verflechtung dieser beiden Tendenzen führt zu
einer »Metaphysik des Daseins«, die es sich zur Aufgabe macht, »die
Metaphysik der Endlichkeit im Menschen« auszuarbeiten. 153
Allerdings handelt es sich bei den bisher erwähnten Änderungen
eher nur um Akzentverschiebungen, die den Grundintentionen von
Sein und Zeit keineswegs zuwiderlaufen. Im Jahre 1928 gerät aber
148
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 321–470.
149 Ende 1926 hat Heidegger eine erste Fassung dieses Kapitels Karl Jaspers zur Lektüre
übergeben; wir wissen nicht, welchen Umfang dieser Text hatte. Siehe Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie«. Zur »zweiten
Hälfte« von »Sein und Zeit«, Frankfurt am Main: Klostermann 1991, S. 13 f., und Theo-
dore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley, London, Los Angeles:
University of California Press 1993 (paperback edition: 1995), S. 485 und S. 489.
150
Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen von Kants Kritik der reinen
Vernunft, [Gesamtausgabe, Bd. 25], Marburger Vorlesung, Wintersemester 1927/1928,
hg. von Ingtraud Görland, Frankfurt am Main: Klostermann 21987 (11977).
151 Ebd., S. 57–68.
152
Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Gesamtausgabe,
Bd. 26], S. 9–47.
153
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 204–
246.
228
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Von 1928 an sieht Heidegger deutlich, dass die von ihm gesuchte Me-
taphysik sich nicht auf eine Untersuchung über das Seiende als Seiendes
154
Dieser Umbruch ist weitgehend durch die Schwierigkeiten motiviert, zu denen Hei-
deggers Versuch, die Temporalität des Seins zu thematisieren, in der Vorlesung Die
Grundprobleme der Phänomenologie geführt hat. Siehe dazu Inga Römer, Das Zeitden-
ken bei Husserl, Heidegger und Ricœur (Diss. Wuppertal) [Phaenomenologica, Bd. 196],
Dordrecht: Springer 2010, S. 211–214.
155
Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 22],
S. 106.
156
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30].
229
Metaphysik zufälliger Faktizität
oder, anders gesagt, über das Sein des Seienden reduzieren lässt. Er
kommt zu der Einsicht, dass die Metaphysik auch eine weitere Frage
zu stellen hat, die sich zwar ebenfalls auf das Seiende bezieht, aber doch
nicht das Seiende als solches, sondern eher das Seiende im Ganzen be-
trifft. Es handelt sich um eine Totalität des Seienden, die Heidegger als
Welt versteht. Das ist der Grund dafür, dass von der letzten Marburger
Vorlesung und dem Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« 157 an die Frage
nach der Welt für Heidegger ebenso wichtig wird wie die Frage nach
dem Sein. Die von ihm gesuchte Metaphysik erweist sich damit als
zweiachsig: Die eine der beiden Achsen ist in ihr durch den Begriff Sein,
die andere durch den Begriff Welt markiert. Das Sein bleibt nach wie
vor Sache der Fundamentalontologie; die Erforschung der Welt wird
dagegen der Metontologie anheimgestellt.
Dass es sich hier um eine bedeutende Änderung handelt, wird aus
einem Vergleich der letzten Marburger Vorlesung mit der um ein Jahr
früher gehaltenen Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
besonders deutlich. In der früheren Vorlesung heißt es: »Das Sein ist
das echte und einzige Thema der Philosophie.« 158 Dagegen behauptet
Heidegger in der letzten Marburger Vorlesung, in der die Idee von Met-
ontologie entworfen wird, dass »es bei der ontologischen Grundfrage
der Philosophie irgendwie zugleich um das Ganze des Seienden […]
geht […]«. 159
Was bedeutet der ungewöhnliche Ausdruck »Metontologie«? Das
Präfix »Met(a)-« verweist hier nicht etwa auf eine Metawissenschaft. Es
geht keineswegs um eine Untersuchung über die formale Struktur aller
möglichen Ontologie. Der Terminus »Metontologie« deutet bei Hei-
degger vielmehr auf einen »Umschlag« (μεταβολή) der Fundamen-
talontologie hin. Das Präfix »Met(a)-« macht, mit anderen Worten,
deutlich, dass zur Fundamentalontologie eine »Tendenz« zu »einer ur-
sprünglichen metaphysischen Verwandlung« 160 gehört. Es handelt sich
dabei um »die innere Notwendigkeit, daß Ontologie dahin zurück-
schlägt, von wo es ausgegangen war«. 161 Gemeint ist das »Urphänomen
157
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 123–175.
158 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 15.
159
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 21.
160
Ebd., S. 199.
161 Ebd.
230
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
162
Ebd.
163
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 22.
164 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
231
Metaphysik zufälliger Faktizität
168
Ebd., S. 201.
169
Ebd., S. 199 f.
170
Ebd., S. 200.
171
Ebd., S. 200.
172 Ebd., S. 201.
173
Ebd., S. 201.
174
Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 327 f.
175 »Vom Wesen der Wahrheit«, Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9], S. 177–202.
232
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Gemeint ist damit, dass Heidegger eine Kehre im Auge hat, die im
Grunde von vornherein geeignet ist, zu einem ›Ereignisdenken‹ hinü-
berzuleiten, dass aber in der Epoche zwischen 1927 und 1930 diese
Möglichkeit nicht ergriffen wird. Deshalb kommt Heidegger in der
zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch nicht auf die Idee, gerade den
»transzendentalen« Charakter der Fundamentalontologie 176 in Frage
zu stellen; vielmehr bleibt er zu dieser Zeit einem nach wie vor trans-
zendentalphilosophisch zu nennenden Ansatz verpflichtet. Er entdeckt
nun in der gesamten Geschichte der Philosophie – also nicht nur in der
Neuzeit – einen »Zug auf das ›Subjekt‹« 177 und stützt sich umso mehr
auf diese Tendenz, als er gleichzeitig davon überzeugt ist, dass das Sub-
jekt, das Ich, das Bewusstsein, die Person in der Metaphysik »gerade
nicht in Frage gestellt wird« 178, das heißt: in seinem Sein ohne nähere
Bestimmung bleibt. Es kommt hinzu, dass Heidegger gegen Ende der
1920er Jahre der Freiheit des Daseins überhaupt und insbesondere des-
sen »Weltentwurf« 179, den er in der letzten Marburger Vorlesung mit
der Tätigkeit der »transzendentalen produktiven Einbildungskraft« bei
Kant vergleicht, eine grundlegende Bedeutung beimisst und dabei gera-
dezu von einer »ursprünglichen Produktivität des ›Subjekts‹« spricht. 180
Wenn wir nur auf diese beiden Grundzüge achten, so sind wir versucht,
Heideggers Denken in der Periode von 1927 bis 1930 als eine vollendete
Metaphysik der Subjektivität zu kennzeichnen.
Allein eine derartige Kennzeichnung wäre oberflächlich und in
ihrer Oberflächlichkeit irreführend. Von dem Gedanken der Metonto-
logie nähren sich in Wahrheit keineswegs Tendenzen, die zu einer Me-
taphysik der Subjektivität drängen. Im Gegenteil, die Idee der Meton-
tologie markiert vielmehr einen Bruch mit derartigen Tendenzen,
indem sie den jeweils kontingenten Faktizitätscharakter des Faktums
von Seinsverstehen herausstellt. Im Jahre 1928 entwirft Heidegger eine
zweigeteilte Metaphysik, in der die Metontologie die Fundamentalon-
tologie auf die Grundlage ursprünglicher Tatsachen versetzt. Wenn in
176
Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 379.
177
Ebd., S. 444: »Zug auf das »Subjekt««.
178 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
233
Metaphysik zufälliger Faktizität
dieser Periode der Begriff des Grundes eine zentrale Rolle in Heideggers
Denken spielt, so nur deshalb, weil Heidegger – im Gegenzug zu einer
sich auf Aristoteles berufenden Tradition – zeigen möchte, dass die ur-
sprünglichen Tatsachen der Metaphysik nicht auf erste Ursachen und
Prinzipien zurückgeführt werden können. Die Bestimmung der Freiheit
als »Grund des Grundes« 181 drückt gewiss eine Steigerung und Erhö-
hung der Metaphysik der Freiheit aus, wobei unter Freiheit eine Trans-
zendenz im Sinne einer Selbstüberschreitung des Daseins zu einer Welt
hin verstanden wird. Aber die Bedeutung der angeführten Formel geht
darin noch nicht auf. Der Ausdruck »Grund des Grundes« verweist
ebenfalls auf die Abgründigkeit aller Gründung des Seienden im Gan-
zen. Denn die Freiheit als Grund des Grundes ist betonterweise ein Ab-
Grund. 182 Es geht bei Heidegger darum, alle Gründung des Seienden im
Ganzen auf die Freiheit zurückzuführen, die ihrerseits ihres Grundes
niemals mächtig werden kann.
Daher nimmt Heidegger in unserer Epoche eine durchaus kritische
Einstellung gegenüber der metaphysischen Tradition ein. Was er ver-
wirft, ist die Gründung – oder auch Begründung – des Seienden im
Ganzen durch erste Ursachen und Prinzipien. In dieser Hinsicht weist
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik eine deut-
liche Parallele mit Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf. Aber
Heideggers kritische Einstellung gegenüber der Überlieferung verbin-
det sich in unserer Epoche noch nicht mit dem Bestreben, die Metaphy-
sik zu »überwinden«. Gewiss geht es ihm nicht einfach darum, die me-
taphysische Tradition zu berichtigen oder zurechtzurücken, sondern
darum, sie auf die ihr zugrunde liegenden Erfahrungen hin abzubauen;
aber dieser Abbau – die »Destruktion« der traditionellen Ontologie –
dient zu unserer Zeit eindeutig dem Aufbau einer neuen Metaphysik.
Dieses trotz allem im Ganzen doch affirmative Verhältnis zur Metaphy-
sik als solcher ist ein Unterscheidungsmerkmal unserer Epoche im Le-
benswerk von Heidegger. Deshalb können wir den Zeitraum von 1927
und 1930 als Heideggers »metaphysische Periode« bezeichnen.
Selbst an die aristotelische Doppelbestimmung der Metaphysik
versucht Heidegger in dieser Periode in positiver Entsprechung anzu-
181
Ebd., S. 277 und Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamt-
ausgabe, Bd. 9], S. 174.
182
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 174. Vgl. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 93.
234
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
183
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 13.
184
Ebd., S. 211, Anm.
185
Heidegger, »Phänomenologie und Theologie«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe,
Bd. 9], S. 45–67.
186
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 177 und S. 211, Anm. Vgl. Dominique Janicaud, La phénomé-
nologie éclatée, Paris, Éd. de l’éclat, 1998, S. 43 und öfters (»athéisme méthodologique«)
und Marion, Étant donné, S. 57 (»athéisme de méthode«).
187
Über die zugrunde liegende Astralreligion siehe Aubenque, Le problème de l’être
chez Aristote, S. 335–355.
188
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 13.
189
Ebd.
190 Vgl. Aristoteles, De mundo, 391 a 25–391 b 4 [Opera, hg. von Immanuel Bekker,
235
Metaphysik zufälliger Faktizität
noch hinzu, dass die Philosophie als Theologie lediglich die Welt (κόσ-
μοϚ) betrachte. 191
In den Jahren zwischen 1928 und 1930 geht vom neu entdeckten
Gesichtspunkt der Metontologie ein Anstoß zur Ausarbeitung eines
Metaphysikentwurfs aus, der nicht bekannt genug ist, obgleich er heute
durchaus einen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit erhebt – viel-
leicht mehr noch als der fundamentalontologische Ansatz von Sein
und Zeit. Im Mittelpunkt dieses Entwurfs steht das, was Heidegger im
letzten Kapitel seiner Vorlesung von 1929/1930 über Die Grundbegriffe
der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit als das Grundgesche-
hen der Weltbildung beschreibt.
Der Weg, der zur Erfassung dieses Grundgeschehens führt, wird
durch neue Einsichten bestimmt, die sich auf vier Themenbereiche
beziehen: Es ändert sich erstens das Verhältnis von Philosophie und
Wissenschaft; zweitens wird die Philosophie in ihrem Verhältnis zur
Weltanschauung neu begriffen; drittens wandelt sich Heideggers Auf-
fassung von der Wahrheit; viertens wird ein anthropologischer Zugang
zur Metaphysik des Daseins gewonnen, der schließlich zur These führt:
»Der Mensch ist weltbildend« 192 oder, genauer, »das Da-sein im Men-
schen ist weltbildend«. 193 Im Folgenden sollen die Änderungen in die-
sen vier Themenbereichen kurz zusammengefasst werden.
Berlin: Georg Reimer, Nachdruck: Walter de Gruyter 1970, 5 Bände, Bd. I, S. 390–401];
dt. Über die Welt, übersetzt von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 22005 (11991),
S. 3 f.
191 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
236
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
immer nur auf Seiendes beziehen. Anders gesagt, zielt die Philosophie
auf ontologische, die Einzelwissenschaften zielen dagegen auf ontische
Wahrheit ab. Dieser klare Unterschied wird auch dadurch nicht verdun-
kelt, dass sich die Einzelwissenschaften notwendig auf regionale Onto-
logien gründen: Sie schneiden sich einen bestimmten Bereich des Sei-
enden aus dem Weltganzen heraus, indem sie den Seinsrahmen des sie
gerade interessierenden Seienden durch ihre Grundbegriffe abstecken.
Deshalb stehen nach Heidegger selbst noch die positiven, empirischen
Wissenschaften letztlich auf apriorischen Grundlagen.
Diese Konzeption, die bereits in Sein und Zeit entworfen wurde,
wird in der Freiburger Vorlesung Einleitung in die Philosophie aus dem
Wintersemester 1928/1929 auf bedeutende Weise weiterentwickelt, in-
dem ein neuer Begriff des Mathematischen geprägt wird, der übrigens
nunmehr erhalten bleibt und auch in späteren Werken wiederkehrt. Es
heißt in dieser Vorlesung: »Die moderne Physik ist mathematisch, weil
in gewisser Weise das Apriori bestimmt ist. Jedes Experiment (zusam-
men mit den darin benutzten Meßinstrumenten) wird angesetzt und
gedeutet im Lichte einer vorgängigen Bestimmung des Seins des Seien-
den.« 194 Oder an einer anderen Stelle: »Die mathematische Physik ist
deswegen eine echte Wissenschaft geworden, weil sie durch den Cha-
rakter des Mathematischen im voraus die Seinsverfassung dessen be-
stimmt, was zu einem Naturding gehört.« 195
Wie wenig jedoch die Absteckung eines Seinsrahmens durch ein-
zelwissenschaftliche Grundbegriffe die philosophische Bestimmung des
Seins überhaupt und im Allgemeinen entbehrlich macht, zeigt sich nach
Heidegger daran, dass die Einzelwissenschaften von Zeit zu Zeit in
Krisen geraten. In diesen Krisen wird deutlich, dass die regionalen On-
tologien, die den Einzelwissenschaften zugrunde liegen, in sich selbst
undurchsichtig und in ihrem Zusammenhang miteinander unüber-
sichtlich sind. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Philosophie, die
Grundbegriffe der Einzelwissenschaften ontologisch zu prüfen und
den Zusammenhang der einzelnen Seinsregionen aus der allgemeinen
Idee von Sein überhaupt abzuleiten. Diese Aufgabe fällt in Sein und
Zeit der Fundamentalontologie zu. Sie kann nur noch deutlicher formu-
194
Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], Freiburger
Vorlesung, Wintersemester 1928/1929, hg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel,
Frankfurt am Main: Klostermann 1976, S. 187.
195 Ebd., S. 188.
237
Metaphysik zufälliger Faktizität
196
Ebd., S. 14.
197 Ebd.
198
Ebd.
199
Ebd., S. 16.
200
Ebd., S. 17.
201 Ebd., S. 219.
238
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Der Gedanke, die Philosophie sei nur eine besondere Spielart der Welt-
anschauung, tauchte gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die Verwen-
dung des Wortes »Weltanschauung« konnte zu dieser Zeit bereits auf
eine Vergangenheit von mehr als hundert Jahren zurückblicken. Ver-
mutlich hat Kant in der Kritik der Urteilskraft dieses Wort zum ersten
Mal gebraucht, und zwar im Sinne einer Betrachtung der sinnlich ge-
gebenen Welt oder auch der Natur. 202 Ähnlich wird das Wort von Goe-
the und Alexander von Humboldt gebraucht. Es wird dann von Schel-
ling und den Romantikern aufgegriffen. Aber auch Hegel verwendet es:
Wohlbekannt ist zum Beispiel der Begriff einer »moralischen Welt-
anschauung« aus der Phänomenologie des Geistes. Zu dieser Zeit ist
jedoch niemandem eingefallen, die Philosophie als Weltanschauung zu
begreifen. Eine Schlüsselrolle in der Entstehung dieser Auffassung wird
später Wilhelm Dilthey zufallen, der nicht allein existentialistisch ge-
sinnte Denker wie Karl Jaspers, sondern auch die frühen Vertreter der
Phänomenologie, unter ihnen Husserl und Heidegger selbst, stark be-
einflusst.
Im Gegensatz zu Jaspers eignen sich jedoch die frühen Vertreter
der Phänomenologie die Dilthey’sche Ansicht über das Verhältnis von
Philosophie und Weltanschauung keineswegs an. Husserl kommt zu
der Einsicht, dass Weltanschauungsphilosophien zwar existieren, aber
die eigentliche Bestimmung der Philosophie keineswegs erfüllen. In den
1920er Jahren strebt Heidegger gleichfalls danach, sein philosophisches
Unterfangen von jeder Weltanschauung abzugrenzen. Das Problem der
Weltanschauung taucht bereits in der Vorlesung auf, die Heidegger als
Privatdozent an der Freiburger Universität im Kriegsnotsemester 1919
gehalten hat. Es entsteht hier allerdings kein Zweifel darüber, dass nach
Heidegger »die Ausbildung einer Weltanschauung in keiner Weise,
auch nicht als Grenzaufgabe, zur Philosophie gehört […]«. 203 In den
Vorlesungen aus der Marburger Periode (1923–1928) arbeitet Heideg-
ger bereits an der Fundamentalontologie, die er von den ontischen Wis-
202 Eine kurze begriffsgeschichtliche Übersicht findet man in: Heidegger, Die Grundpro-
bleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 5 f. und in: Heidegger, Einlei-
tung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 230.
203
Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 56/57],
hg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt am Main: Klostermann 1987, S. 12.
239
Metaphysik zufälliger Faktizität
204
Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs [Gesamtausgabe, Bd. 20],
S. 22.
205
Ebd.
206
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 3.
207 Ebd., S. 13.
208
Ebd., S. 16.
209
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 22.
210 Ebd.
240
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
burg hält. Zum ersten Mal wird in dieser Vorlesung der Philosophie der
wissenschaftliche Charakter abgesprochen. Damit wird zwar die Entfer-
nung von der Husserl’schen Idee der Philosophie als strenger Wissen-
schaft offensichtlich, aber es folgt daraus nicht, dass Heidegger sich
nunmehr als Anhänger der Weltanschauungsphilosophie verstünde.
Auch in der Freiburger Vorlesung von 1928/1929 behauptet er unmiss-
verständlich: Es kann »nicht Aufgabe und Ziel der Philosophie sein,
eine Weltanschauung auszubilden […]«. 211 In Wahrheit wird er die Phi-
losophie selbst noch auf den Blättern der zwischen 1936 und 1938 ent-
stehenden Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) der Weltanschau-
ung schroff gegenüberstellen. 212
Aber die Idee von Metontologie stellt mit ihrer Ausrichtung auf
die Frage nach der Welt nunmehr auch das Problem der Weltanschau-
ung in ein neues Licht. Heidegger vertritt in der Vorlesung von 1928/29
die Ansicht, das Philosophieren als solches sei von einer bestimmten
Weltanschauung getragen. Gemeint ist eine Weltanschauung, die aus
einem radikalen Bruch mit dem »mythischen Denken« hervorgeht.
Die mythische Lebensweise setzt nach Heidegger, der sich dabei stark
auf den zweiten Band von Cassirers Philosophie der symbolischen For-
men stützt, 213 ein bestimmtes In-der-Welt-sein und damit ein bestimm-
tes Verhältnis des Daseins zu andersartigen Seienden voraus. Diejenige
Grundeinstellung, die ursprünglich für das mythische Denken charak-
teristisch ist, aber im religiösen Glauben auch nach dem Zusammen-
bruch mythischer Welten erhalten bleibt, kennzeichnet Heidegger
durch ein Streben nach Bergung oder Geborgenheit. Das Philosophie-
ren bricht nach ihm von vornherein mit dieser Bestrebung. Mit der
Geburt der Philosophie ändert sich daher das In-der-Welt-sein und da-
mit das Verhalten des Daseins zu andersartigen Seienden. Man könnte
sagen: Es entsteht eine neue metontologische Grundeinstellung, die al-
lererst so etwas wie Wissenschaft möglich macht; 214 denn im mythi-
schen Denken hatte die Wissenschaft keinen Platz. 215 Im Hinblick auf
211
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 379.
212
Siehe Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [Gesamtausgabe,
Bd. 65], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann
1989, S. 36–41.
213
Vgl. Heidegger, »Besprechung von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen For-
men, 2. Teil: Das mythische Denken (1925)« [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 255–270.
214
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 370.
215 Ebd., S. 362.: »Das mythische Dasein hat keine Wissenschaft […].«
241
Metaphysik zufälliger Faktizität
216
Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921) [Husserliana, Bd. XXV], hg.
von Th. Nenon und H. R. Sepp, Dordrecht: M. Nijhoff 1987, S. 328.
242
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Der dritte Themenbereich, in dem eine neue Einsicht aufkommt, ist der
des Wahrheitsproblems. Die Frage nach der Wahrheit steht von früh
auf im Mittelpunkt von Heideggers Denken. Im Rückgriff auf Aristote-
les und die griechische Philosophie versucht er dabei, Edmund Husserls
phänomenologischen Wahrheitsbegriff in kritischer Aneignung weiter-
zuführen. Sein Anliegen ist es, zu zeigen, dass der ursprüngliche Ort
der Wahrheit nicht die Aussage ist. Im Anschluss an den griechischen
Begriff von ἀλήθεια fasst er die vorprädikative Wahrheit als Unverbor-
genheit auf. In ähnlicher Bedeutung verwendet er auch den Terminus
Offenbarkeit. Ansatzweise ordnet er dabei den verschiedenen Seinswei-
sen bereits in Sein und Zeit verschiedene Begriffe vorprädikativer
Wahrheit zu. So unterscheidet er etwa die Erschlossenheit des Daseins
von der Entdecktheit von Vorhandenem und Zuhandenem. In § 44 von
Sein und Zeit nehmen diese Überlegungen eine feste Gestalt an.
Der Gedanke einer vorprädikativen Wahrheit ist in vollem Ein-
klang mit Heideggers Bestimmung des Phänomens. Besteht der Satz
zu Recht, dem zufolge das Phänomen das Sich-von-ihm-selbst-her-Zei-
gende ist, so ist das Phänomen von vornherein durch eine Unverbor-
genheit oder Offenbarkeit gekennzeichnet. Allerdings kann die Offen-
barkeit des Phänomens verdeckt bleiben oder verstellt werden. In
diesem Sinne heißt es in Sein und Zeit: »Verdecktheit ist der Gegen-
begriff zu ›Phänomen‹.«217 Das Phänomen des Seins ist nach Heidegger
erst recht verdeckt und verstellt. Das ist der Grund dafür, dass sich die
phänomenologische Ontologie dem Ansatz von Sein und Zeit zufolge
keineswegs auf eine Beschreibung und Zergliederung des Phänomens
217 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 151979 (11927), S. 36.
243
Metaphysik zufälliger Faktizität
218
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 29.
219
Vgl. z. B. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leib-
niz [Gesamtausgabe, Bd. 26], S. 158.
244
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
220
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 207.
221
Ebd., S. 83.
222 Ebd., S. 82.
223
Ebd., S. 82.
224
Ebd., S. 83.
225
Ebd., S. 84.
226 Ebd., S. 120.
245
Metaphysik zufälliger Faktizität
einer geteilten Wahrheit ist ohne Zweifel eine Neuigkeit in der Lehre
von der Unverborgenheit, aber es kommt ihr eher noch ein Ergänzungs-
charakter zu. Dagegen formuliert Heidegger in der Vorlesung Die
Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit aus
dem Wintersemester 1929/30 eine Selbstkritik über seine frühere
Wahrheitsauffassung. Diese Selbstkritik erwächst aus einer neuen Ein-
sicht ins Verhältnis von Wahrheit und Freiheit.
Im Folgenden sollen diese beiden Änderungen am Wahrheits-
begriff von Sein und Zeit näher betrachtet werden. Unsere Überlegun-
gen verbleiben dabei innerhalb der Grenzen von Heideggers metaphy-
sischer Periode (1927–1930).
Schon in Sein und Zeit geht Heidegger davon aus, dass dem Dasein das
Mitsein als Existenzial zugehört. 227 Demnach ist das Sein des Daseins
von vornherein ein Mitsein mit Anderen. Heidegger sagt: »Mitsein ist
eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins; Mitdasein charakterisiert das
Dasein Anderer, sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt freigege-
ben ist.« 228 Die Vereinzelung, von der in Sein und Zeit häufig die Rede
ist, hat nichts mit der Solipsismusgefahr zu tun, die das »abgekapselte«,
»weltlose« Subjekt der neuzeitlichen Philosophie ständig bedroht hat.
Denn es handelt sich um eine Vereinzelung, die das Mitsein des Daseins
mit Anderen – und damit auch das Mitdasein Anderer – voraussetzt.
Heidegger deutet darüber hinaus einen Unterschied zwischen existen-
zialem Mitsein und faktischem Miteinandersein an. 229 Er lässt keinen
Zweifel darüber aufkommen, dass mit einem fehlenden Miteinander-
sein kein Mangel an Mitsein verbunden ist. Es heißt: »Auch das Allein-
sein des Daseins ist Mitsein in der Welt.« 230
Gleichwohl wurde dem Verfasser von Sein und Zeit bereis unmit-
telbar nach dem Erscheinen seines Werkes vorgeworfen, er habe das
Dasein in seiner Vereinzelung isoliert und sein Verhältnis zum Anderen
nicht in gehörigem Maße zum Gegenstand seiner Untersuchungen ge-
227
Heidegger, Sein und Zeit, S. 120.
228
Ebd., S. 121.
229
Ebd., S. 118 f.
230 Ebd., S. 120.
246
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
231
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 172.
232
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935 [Hus-
serliana, Bd. XV], S. 339: »Die Zeit meines strömenden Lebens und die meines Nachbarn
ist also abgrundtief geschieden, und selbst dieses Wort sagt noch in seiner Bildlichkeit zu
wenig.«
233 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Gallimard, Paris 1943, S. 361; dt. Das Sein und
das Nichts, übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1991. (Die Seitenzahlen der ersten französischen Ausgabe, die zitiert wird, sind
in der deutschen Übersetzung am Rande verzeichnet.)
234 Levinas, Autrement qu’être ou au–délà de l’essence, S. 182; dt. S. 255.
247
Metaphysik zufälliger Faktizität
235
Ebd., S. 199; dt. S. 278.
236
Jean Nabert, Essai sur le mal, Paris: Aubier 1955, S. 115.
237
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 91.
238 Ebd., S. 86.
248
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
249
Metaphysik zufälliger Faktizität
sein. Demnach ist auch jedes Alleinsein ein Miteinandersein […].« 244
Wie man sich erinnert, hieß es früher in Sein und Zeit, »Alleinsein des
Daseins« sei »Mitsein in der Welt«; jetzt wird das Alleinsein geradezu
als eine bestimmte Form des Miteinanderseins aufgefasst. Der Grund
dieser Änderung ergibt sich aus der metontologischen Sichtweise, die
Heidegger sich in seiner metaphysischen Periode aneignet. Nunmehr
geht es bei Heidegger nicht nur um eine Transzendenz zum Sein hin
(wie noch in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927), sondern ebenso sehr – oder mehr
noch – um eine Transzendenz zur Welt hin. Diese letztere Transzendenz
– der Überstieg über das Seiende zur Welt hin – wird terminologisch als
»Weltbildung« bezeichnet. Die Metaphysik des Daseins ist nichts ande-
res als gerade eine Lehre vom weltbildenden Charakter des Menschen.
Das Seinsverständnis, das im Mittelpunkt der Fundamentalontologie
von Sein und Zeit stand, wird vom Gesichtspunkt der Metontologie
aus nur noch als eine Vorbedingung für die Weltbildung des Daseins
mitberücksichtigt. Die Frage nach der Wahrheit verbindet sich ebenfalls
mit der Idee von Weltbildung. Daher wird die Wahrheit in unserer Pe-
riode vorrangig als eine vorprädikative Offenbarkeit der Welt verstan-
den. Aus dem weltbildenden Charakter des Daseins im Menschen folgt
jedoch, dass dem Selbst und dem Anderen immer schon eine ganze Welt
gemeinsam ist. Daher kommt nunmehr nicht allein ein Mitsein des
Daseins mit Anderen als Existenzial in Betracht, sondern auch ein Mit-
einandersein, das aus der Gemeinsamkeit der Welt erwächst, kann
immer schon vorausgesetzt werden.
Das ist der Hintergrund, vor dem die Idee einer von uns allen ge-
teilten Wahrheit verständlich wird. Für Heidegger bedeutet die Ge-
meinsamkeit der Welt nichts anderes als die gemeinsame – weil jedem
einzelnen Dasein zugängliche – Offenbarkeit der Welt. Heidegger sieht
deutlich, dass es keine Wahrheit im vollen Sinne des Wortes ohne die
Möglichkeit gemeinsamer Teilhabe an ihr gibt. Daraus folgt für ihn,
dass wir uns immer schon in die Wahrheit als Unverborgenheit oder
Offenbarkeit teilen.
Heidegger verwendet den merkwürdigen Ausdruck »Sichteilen in
die Wahrheit«, um die Idee einer gemeinsamen Teilhabe an der Wahr-
heit vor Missverständnissen zu schützen. Wir können Teilhaber an
einem Ding sein, indem wir es unter uns verteilen. Dabei wird das Ding
250
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
in Stücke zerteilt. 245 Bei der Wahrheit handelt es sich jedoch um eine
Teilhabe, die den Dingen nichts anhaben kann. Das will Heidegger be-
tonen, indem er das Sichteilen in die Wahrheit als ein »Seinlassen der
Dinge« 246 bestimmt. Er sagt:
»Wir fragen nach einer Teilhabe am Seienden, bei der wir uns in etwas teilen,
was dem Seienden zukommt, ohne daß am Seienden etwas dabei in Verlust
gerät und geändert wird. Worin teilen wir uns in dieser merkwürdigen Teil-
habe am Seienden? Wir teilen uns in seine Unverborgenheit, seine Wahrheit.
Nur sofern wir uns in die Unverborgenheit des Seienden teilen, können wir
es, das Seiende, so sein lassen, wie es sich bekundet.« 247
Damit findet Heidegger zugleich den Schlüssel zum Verständnis eines
immer schon gegebenen Miteinanderseins. Leitend für den Gedanken-
gang ist nach wie vor die Überzeugung, die an einer Stelle auf folgende
Weise festgehalten wird: »Immer […] ist das Sein bei Gemeinsamem
wesentlich für das Miteinander.« 248 Mit der Wahrheit als Unverborgen-
heit oder Offenbarkeit der Welt, in die wir uns teilen, ist das Gemein-
same, Selbige gefunden, zu dem wir uns auf je verschiedene Weise ver-
halten. Aus diesem Gemeinsamen, Selbigen erwächst ein ursprüng-
liches Miteinander, das nach Heidegger eine »Gemeinschaft von
Ichen« überhaupt erst ermöglicht. 249
Allerdings dürfen wir in der von uns behandelten Epoche die Welt,
um deren Unverborgenheit oder Offenbarkeit es sich handelt, niemals
aus dem Zusammenhang herauslösen, in dem sie mit der Weltbildung
des Daseins steht. Zum ursprünglichen Plan, dem die Freiburger Vor-
lesung aus dem Wintersemester 1928/29 folgt, gehört eine Auseinan-
dersetzung mit dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte. Selbst
wenn diese Auseinandersetzung am Ende aus Zeitgründen nicht statt-
findet, bildet sie den gedanklichen Horizont der Untersuchungen, die
der Frage nach der Wahrheit gewidmet sind. Deshalb dürfen wir anneh-
men, dass Heidegger nicht nur die einzige Welt als solche, sondern je-
weils auch eine geschichtliche Welt im Auge hat, wenn er von der
Wahrheit als Unverborgenheit oder Offenbarkeit der Welt redet. Das
Gemeinsame, Selbige, das ein ursprüngliches Miteinander konstituiert,
251
Metaphysik zufälliger Faktizität
250
Ebd., S. 144.
251
Ebd., S. 145.
252
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–1928 [Hus-
serliana, Bd. XIV], S. 260.
252
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
253
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 488.
253
Metaphysik zufälliger Faktizität
254
Martin Heidegger, Platon: Sophistes [Gesamtausgabe, Bd. 19], Marburger Vor-
lesung, Wintersemester 1924/1925, hg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt am Main:
Klostermann 1992., S. 410 f. und S. 559–562.
255 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit [Gesamtausgabe, Bd. 21],
254
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
258
Heidegger, Platon: Sophistes [Gesamtausgabe, Bd. 19], S. 560: »Vor allem ist das
positive Verständnis der Negation wichtig für diejenige Forschung, die primär und einzig
nur in Aufweisungen sich bewegt. In der phänomenologischen Forschung selbst be-
kommt die Negation eine ausgezeichnete Stellung: die Negation in dem Sinne, daß sie
vollzogen wird innerhalb der vorgängigen Aneignung und Aufdeckung eines Sach-
bestandes.«
259
Heidegger, Sein und Zeit, S. 285 f. – Das ist die eine der beiden Stellen, die Heidegger
in seiner Selbstkritik von 1929/30 als eine Ausnahme von der gerade entdeckten Täu-
schung erwähnt.
260
Ebd., S. 222. – Hier finden wir die andere Stelle, die Heidegger in seiner Selbstkritik
von 1929/30 von der neu entdeckten Täuschung ausnimmt. Es heißt hier: »Der volle
existenzial-ontologische Sinn des Satzes: ›Dasein ist in der Wahrheit‹ sagt gleichur-
sprünglich mit: ›Dasein ist in der Unwahrheit‹.«
255
Metaphysik zufälliger Faktizität
liche Einsicht trägt als Grundmotiv die Kritik, die Ernst Tugendhat am
Ende der sechziger Jahre am phänomenologischen Wahrheitsbegriff
von Heidegger üben wird. 261 Der wohl durchaus berechtigten Forde-
rung, die diese Kritik animiert, trägt aber die Vorlesung von 1929/1930,
die Tugendhat Ende der 1960er Jahre natürlich noch nicht kennen
konnte, weitgehend Rechnung. Es heißt im Text dieser Vorlesung:
»Um aber über Angemessenheit dessen, was der λόγοϚ aufweisend sagt, bzw.
über Unangemessenheit zu entscheiden, genauer, um überhaupt in diesem
›entweder-oder‹ sich verhalten zu können, muß der redend aussagende
Mensch im vorhinein einen Spielraum haben für das vergleichende Hin-her
des ›entweder-oder‹, der Wahrheit oder Falschheit, und zwar einen Spielraum,
innerhalb dessen schon das Seiende selbst, darüber es auszusagen gilt, offen-
bar ist.« 262
Das Urteil kann jedoch nur dann einen Spielraum für das vergleichende
Hin und Her des Entweder-Oder, der Wahrheit oder Falschheit haben,
wenn der urteilende Mensch über das Seiende und sein Sein hinaus-
gehen kann. Daraus erhellt sich der eigentliche Sinn von Metontologie.
Mit Metontologie ist eine neuartige Transzendenz gemeint, ein Über-
stieg über das Seiende, aber nicht zum Sein hin, sondern zur Welt hin.
261
In Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin: Walter de Gruyter 1970)
sagt Ernst Tugendhat: »Bei Heidegger […] fehlt […] die Unterscheidung zwischen dem
faktischen Akt des Entdeckens und dem Entdecken in specie. Indem sich der Mangel
dieser Unterscheidung mit der Zweideutigkeit im Begriff des Entdeckens verbindet, er-
gibt sich eine Auffassung, der zufolge die Wahrheit nicht ein angemessenes Aufzeigen
von einem unangemessenen unterscheidet, sondern ein aufgezeigtes Seiendes von einem
verborgenen. Das Seiende wird wahr, wenn es faktisch aufgezeigt wird.« (S. 344.) Im
Aufsatz »Heideggers Idee von Wahrheit« zieht er daraus besonders deutlich die Kon-
sequenzen: »Der spezifische Sinn von Wahrheit geht im Entdecken als Apophansis
gleichsam unter. Und auch die Unwahrheit im spezifischen Sinn wird von Heidegger
zwar nicht einfach ausgelassen, aber sowohl in ›Sein und Zeit‹ wie in ›Vom Wesen der
Wahrheit‹ erst nachträglich berücksichtigt, so daß der Gegensatz zu ihr für den Sinn der
Wahrheit nicht mehr wesentlich werden kann und sie nun statt dessen in die Wahrheit
selbst mitaufgenommen wird […]. Das spezifische Wahrheitsproblem wird übergangen,
aber nicht so, daß es einfach beiseite gelassen würde und damit offen bliebe. Indem
Heidegger vielmehr am Wort Wahrheit gerade festhält, aber seinen Sinn verschiebt […],
läßt sich nicht einmal mehr sehen, daß hier etwas übergangen wurde.« (Ernst Tugendhat,
»Heideggers Idee von Wahrheit«, in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur
Deutung seines Werks, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 286–297, hier:
S. 293.)
262
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 493.
256
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Der Unterschied besteht darin, dass die Welt im Gegensatz zum Sein
einen Spielraum für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit
eröffnet.
Erst an diesem Punkt wird uns klar, dass Heidegger in seiner me-
taphysischen Periode mit Welt nicht mehr dasselbe meint wie in Sein
und Zeit. Die Verweisungszusammenhänge der jeweils gerade begeg-
nenden Seienden reichen nunmehr in der Tat keineswegs aus, um die
Weltstruktur – die »Weltlichkeit« – der Welt festzulegen. Solange die
Welt mit der Gesamtheit dieser Verweisungszusammenhänge gleichge-
setzt wurde, war keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Sein
und Welt möglich. Tatsächlich war Welt in Sein und Zeit ein Existenzial
des Daseins, das heißt eine der fundamentalen Existenzbestimmungen;
sie gehörte also zum Seinsbestand des Daseins. Dagegen beruht die Idee
von Metontologie von vornherein auf einer Unterscheidung zwischen
Sein und Welt. Diese Unterscheidung wird in der Periode von 1927 bis
1930 dadurch möglich, dass die Welt nunmehr als ein Spielraum für das
Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit begriffen wird.
Der neue Ansatz ist offenbar erläuterungsbedürftig, aber Heideg-
ger bleibt in der Vorlesung von 1929/30 jede Erläuterung schuldig. Wir
sind daher weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Um den neuen
Ansatz, der aus der Selbstkritik von Heidegger erwächst, fassbar und
begreiflich zu machen, müssen wir davon ausgehen, dass dieser Ansatz
den Sinn falscher Aussagesätze und die Rolle verneinender wahrer Ur-
teile in ein neues Licht stellt. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Deu-
tung ergibt sich daraus, dass Heidegger in dieser Periode seines Den-
kens den Begriff der Welt an den jeweiligen Weltentwurf des Daseins
zurückbindet. Wenn wir diese beiden Anhaltspunkte mit der Idee eines
Spielraums für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit ver-
binden, können wir den positiven Grundgedanken, der Heideggers
Selbstkritik zugrunde liegt, in folgenden Schritten rekonstruieren:
257
Metaphysik zufälliger Faktizität
258
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
Aus dieser verwandelten Sicht heraus zeigt sich das Urteil nicht mehr
als ein bloßer Ausdruck unmittelbar vernommener Offenbarkeit, son-
dern als eine Stellungnahme zum unmittelbar Vernommenen. Diese
Stellungnahme setzt die Freiheit – oder, genauer, ein Freisein – des Das-
eins voraus, das in der verwandelten Wahrheitsauffassung nicht mehr
außer Acht gelassen werden darf. Tatsächlich behauptet Heidegger in
der Vorlesung von 1929/30, dass die Wahrheit »in einem Freisein für
das Seiende als solches« gründet. 263 Wir müssen deutlich sehen, dass
dieses Freisein für das Seiende jede unmittelbare Gebundenheit an das
Seiende ausschließt. Das Dasein bleibt keineswegs dem Seienden ver-
haftet; es geht vielmehr über das Seiende hinaus, um aus der Welt als
einem Spielraum für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit
auf es zurückzukommen. Es handelt sich deshalb um eine Grundeinstel-
lung, die sich durch das Seiende binden lässt und die sich selbst damit
eine Verbindlichkeit auferlegt. So heißt es in der Vorlesung von 1929/
1930: »Dieses in allem aussagenden Verhalten, es gründend, geschehen-
de Sichentgegenhalten – entgegen einem Bindenden – nennen wir ein
Grundverhalten: das Freisein in einem ursprünglichen Sinne.« 264
Die Berücksichtigung dieses Verhaltens verwandelt Heideggers
Wahrheitsauffassung von Grund auf. Die Unverborgenheit und Offen-
barkeit des Seienden gilt nunmehr keineswegs von vornherein als
Wahrheit. Sie nimmt vielmehr erst dadurch die Gestalt von Wahrheit
an, dass sich ein Freisein für das Seiende als solches ausprägt, ein Frei-
sein, das sich binden lässt und sich selbst damit eine Verbindlichkeit
auferlegt.
263
Ebd., S. 492.
264 Ebd., S. 497.
259
Metaphysik zufälliger Faktizität
265
Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die phi-
losophische Problemlage der Gegenwart [Gesamtausgabe, Bd. 28], Freiburger Vor-
lesung, Sommersemester 1929, hg. von Claudius Strube, Frankfurt am Main: Kloster-
mann 1997, S. 10–47.
260
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
266
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 514.
267
Ebd.
268 Ebd., S. 403.
261
Metaphysik zufälliger Faktizität
heit und der Kampf um eine Haltung inmitten des Seienden im Ganzen
eine Vorbedingung dafür, dass die Ergebnisse der Einzelwissenschaften
für das Grundgeschehen der Weltbildung maßgebend werden. Darüber
hinaus setzt der Prozess menschlicher Weltbildung nach Heidegger die
Verbindlichkeit der Wahrheit voraus. Welt ist für ihn nicht allein ein
Totalitätsbegriff, sondern sie schließt auch den Gedanken der Zugäng-
lichkeit und der Offenbarkeit des Seienden in sich. Sie ist, mit anderen
Worten, nicht so sehr das Seiende im Ganzen, sondern vielmehr die
Unverborgenheit des Seienden im Ganzen. Allein die Unverborgenheit
und Offenbarkeit des Seienden nimmt erst dadurch die Gestalt von
Wahrheit an, dass sich ein Freisein für das Seiende ausprägt, das sich
binden lässt und sich selbst damit eine Verbindlichkeit auferlegt.
Die verwandelte Wahrheitsauffassung ist wohl der Grund dafür,
dass Heidegger bereits in seiner letzten Marburger Vorlesung behaup-
tet, »die Frage der Ethik« lasse sich nicht in der Fundamentalontologie,
sondern erst in der Metontologie stellen. 269 Das Wort »Ethik« meint an
dieser Stelle offenbar nicht etwa eine Theorie der Sittlichkeit als eines
gesellschaftlichen Regelsystems, sondern eine Reflexion über die Mög-
lichkeiten, eine denkerische Haltung inmitten der Offenbarkeit des
Seienden im Ganzen zu entwickeln. Aber nicht nur die den Einzelwis-
senschaften zugrunde liegenden regionalen Ontologien und die Welt-
anschauungen mythisch-religiöser oder auch philosophisch-wissen-
schaftlicher Prägung spielen eine Rolle im Grundgeschehen mensch-
licher Weltbildung, und es kommt zu ihnen auch nicht nur eine Ethik
denkerischer Haltung in der Lichtung der Welt mit hinzu, sondern die
fundamentalontologische Fragestellung gelangt ebenfalls nur »im Zu-
sammenhang des Weltproblems« zu »ihrer klaren Problematik«. 270
Nirgendwo ist Heidegger so nahe daran, die echte Grundlage einer
nicht-traditionellen Metaphysik zu entdecken, als in dieser Auseinan-
dersetzung mit dem Grundgeschehen der Weltbildung im Dasein des
Menschen. Der metontologische Entwurf, der in den Jahren 1928–1930
entfaltet wird, bringt keine Abwendung von den Wissenschaften mit
sich, sondern er versucht lediglich, ihren Beitrag zum Prozess mensch-
licher Weltbildung in ein größeres Ganzes einfügen. Das Bild von die-
269
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 199.
270
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 521 f.
262
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik
sem Ganzen ist zu dieser Zeit zwar gewiss nicht vollständig, aber es
kann im Rückblick durch Bereiche ergänzt werden, mit denen sich Hei-
degger erst später eingehend befassen wird. Der weltbildenden Rolle
von Kunst und Dichtung, von der in unserer Epoche nur selten die Rede
ist, wird er ja bereits in den nachfolgenden Jahren Rechnung tragen.
Das darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heid-
eggers metontologische Grundlegung der Metaphysik von einer eigen-
tümlichen Brüchigkeit gezeichnet ist. Der Grund dieser Brüchigkeit
liegt ohne Zweifel in der »Kehre«, aus der das metontologische An-
liegen überhaupt erst erwächst, die aber über die transzendentale Fun-
dierung der Metontologie mit einer gewissen Notwendigkeit hinaus-
treibt. Sie treibt zu einem Ereignisdenken hin, das ohne Zweifel seine
innere Berechtigung hat. Das Missliche daran ist jedoch, dass dieses
Ereignisdenken für mehrere Jahrzehnte in den Dienst eines seins-
geschichtlichen Vorhabens tritt, das sich trotz großartiger Detailsein-
sichten im Ganzen doch in eine gefährliche Nähe zu einer traditionellen
Geschichtsmetaphysik begibt. Erst in einer allerletzten Phase seiner
Laufbahn – etwa von 1955 an – gelangt Heidegger zu einem ernüchter-
ten und geläuterten Ereignisdenken, das von der Überwindung der Me-
taphysik ablässt und sich in einer Rückkehr zur Phänomenologie den
Sachen selbst zuwendet.
263
Metaphysik zufälliger Faktizität
Die meisten Tendenzen, die von Husserl und Heidegger entwickelt wur-
den, leben in der französischen Phänomenologie so oder auch so fort.
Das ist der Fall auch mit der Idee einer phänomenologischen Metaphy-
sik zufälliger Faktizität. Allerdings ist Jean-Paul Sartre bisher beinahe
der einzige Denker, der Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf-
gegriffen und weitergeführt hat. Dieser Umstand ist Maurice Merleau-
Ponty in seiner Auseinandersetzung mit Sartres phänomenologischer
Ontologie merkwürdigerweise völlig entgangen. Emmanuel Levinas
betritt dann einen neuen Weg, indem er die Ethik als Erste Philosophie
bestimmt und eine Metaphysik des Unendlichen entwickelt. Die Den-
ker der Neuen Phänomenologie in Frankreich führen die bis dahin ent-
wickelten Tendenzen verschiedentlich weiter. Jean-Luc Marion ver-
spricht sich von der Phänomenologie eine andere Erste Philosophie.
Ohne sich auf Husserls Metaphysik der Urtatsachen zu stützen, kommt
er von sich aus zu der Einsicht, dass sich das Erscheinen des Erscheinen-
den als eine vollendete Tatsache (fait accompli) begreifen lässt. Nicht
ohne Argwohn betrachtet Marc Richir diesen Ansatz. Er setzt sich dem
Grundanliegen von Marion, alles Gegebene als eine Gabe zu verstehen,
aufs Entschiedenste entgegen und versucht, das phänomenologische
Feld in seiner unbestimmten Unendlichkeit zu begreifen. Er knüpft da-
mit an die Levinas’sche Idee des Unendlichen an, ohne jedoch den Ge-
danken einer Ethik als Erster Philosophie zu teilen.
Im Folgenden sollen diese Bestrebungen etwas eingehender dar-
gestellt werden. Zuerst wollen wir uns die Auseinandersetzung von
Merleau-Ponty mit Sartre näher ansehen, weil sie dazu beigetragen hat,
dass Sartres bedeutungsvoller Rückgang auf Husserls Metaphysik der
Urtatsachen aus dem Blickfeld französischer Phänomenologen ver-
drängt wurde. An zweiter Stelle befassen wir uns dann mit der Levi-
nas’schen Idee einer Erfahrung des Unendlichen. Schließlich werfen wir
einen Blick auf die Denker der Neuen Phänomenologie in Frankreich.
264
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
265
Metaphysik zufälliger Faktizität
271
Edmund Husserl, Méditations cartésiennes, übersetzt von Gabrielle Peiffer und Em-
manuel Levinas, Paris: Vrin 1996, S. 250.
272
Sartre, L’être et le néant, S. 124 f.
273
Ebd., S. 34.
274
Ebd.
275 Ebd., S. 124.
266
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
gener Grund ist, zur Faktizität, lässt sich korrekt bezeichnen: die Not-
wendigkeit eines Faktums. Und eben diese Notwendigkeit eines Fak-
tums erfassen Descartes und Husserl als die Evidenz des Cogito konsti-
tuierend.« 276
Ebenso wenig wie Husserl bleibt aber Sartre bei der faktischen
Notwendigkeit des Cogito stehen. Er übernimmt von Heidegger den
Begriff des In-der-Welt-seins, um behaupten zu können: »Ohne Welt
keine Selbstheit, keine Person; ohne die Selbstheit, ohne die Person
keine Welt.« 277 Noch wichtiger ist aber, dass Sartre den Gedanken einer
faktischen Notwendigkeit auch auf das Verhältnis des Selbst zu den
Anderen ausdehnt. Hier sieht er sich erst recht dazu genötigt, auf Hus-
serls Metaphysik der Urtatsachen zurückzugreifen und sie weiter-
zuführen.
Wie sehr Sartre die Begegnung mit dem Anderen – trotz sach-
naher Beschreibungen – missdeutet und verzeichnet, ist freilich längst
schon bekannt. Das berühmte Kapitel über den Blick erwächst zwar aus
einem Bruch mit einem bloß erkenntnistheoretischen (oder auch kon-
stitutionsanalytischen) Ansatz zur Phänomenologie der Intersubjekti-
vität, aber es stützt sich seltsamerweise dennoch überall auf den diesem
Ansatz eigentümlichen Grunddualismus von Subjekt und Objekt.
Immer wieder ist in diesem Kapitel davon die Rede, dass der Blick des
Anderen das Selbst zum Objekt macht, vergegenständlicht oder auch
verdinglicht. Der Husserl’sche Gedanke eines intentionalen Ineinander,
den Merleau-Ponty später gleichsam mit treffsicherer Wahlverwandt-
schaft aufgreifen wird, dringt zu Sartre nicht durch. Daraus ergeben
sich Mangelhaftigkeiten in der phänomenologischen Analyse, der die
Begegnung mit dem Anderen in Das Sein und das Nichts unterzogen
wird. Nur dass Sartre am Ende des Kapitels über den Blick einen deut-
lichen Unterschied zwischen phänomenologischer Ontologie und Me-
taphysik macht. Von den Mangelhaftigkeiten der phänomenologischen
Ontologie ist die Metaphysik nicht notwendig betroffen.
Die Metaphysik, wie Sartre sie versteht, dreht sich um Urtat-
sachen. Als eine Urtatsache wird in Das Sein und das Nichts die be-
rühmte séparation, die »ontologische Trennung« der Bewusstseine be-
handelt. 278 Gemeint ist damit die Urtatsache einer unüberschreitbaren
276
Ebd., S. 126.
277
Ebd., S. 149.
278 Ebd., S. 299.
267
Metaphysik zufälliger Faktizität
279
Ebd., S. 300.
280
Ebd.
281
Ebd., S. 358 f.
282 Ebd., S. 358.
268
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
283
Ebd., S. 361.
284
Ebd., S. 362 (siehe den letzten Absatz auf dieser Seite).
285
Ebd., S. 363.
286 Ebd., S. 342.
269
Metaphysik zufälliger Faktizität
287
Ebd., S. 342 f.
288 Ebd., S. 343.
289
Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Gallimard, Paris 1964, S. 41; dt.: Das
Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels,
München: Fink 1986. (In der deutschen Übersetzung sind die Seitenzahlen der französi-
schen Originalausgabe verzeichnet.)
270
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
290
Einige Stellen dazu: Sartre, L’être et le néant, S. 129 Anm.; S. 223 f.; S. 269 f.; S. 288;
S. 343.
291
Ebd., S. 224.
292 Ebd., S. 131.
271
Metaphysik zufälliger Faktizität
hält sich von sich aus zum Anderen, sondern auch der Andere verhält
sich von sich aus zu ihm.
Merleau-Ponty versäumt nicht, auf die Bedeutung dieser Philoso-
phie interner Negation hinzuweisen. Wir können uns hier damit be-
gnügen, einen einzigen Aspekt seines durchaus differenzierten Urteils
hervorzuheben: »Für die Reflexionsphilosophie ist es eine unlösbare
Schwierigkeit zu verstehen, wie ein konstituierendes Bewußtsein ein
anderes setzen kann, das seinesgleichen und doch ebenfalls konstituie-
rend sein soll […]. Für eine Philosophie des Negativen gehört es dage-
gen zur Definition des ipse selbst, daß er einer tatsächlichen Situation
angehört oder eine solche aufrechterhält als seine Verbindung zum
Sein. Dieses Außen bestätigt ihn einerseits in seiner Partikularität,
macht ihn selbst als partielles Seiendes dem Blick des Anderen sichtbar
und verbindet ihn andererseits zugleich mit dem Ganzen des Seins. Was
für die Reflexionsphilosophie Stein des Anstoßes war, wird vom Stand-
punkt der Negativität aus zum Prinzip einer Lösung.« 293
Gleichzeitig wird Merleau-Ponty jedoch auf eine merkwürdige
»Ambivalenz« 294 aufmerksam, die aus der Theorie interner Negation
folgt: Die Philosophie des Negativen schlägt dialektisch in eine Philoso-
phie positiven Seins um. Wie Merleau-Ponty selbst sagt: »Es gibt eine
Falle im Denken des Negativen […]. Ein negativistisches Denken fällt
zusammen mit einem positivistischen Denken […].« 295 In Das Sicht-
bare und das Unsichtbare wird diese Behauptung aus Sartres Lehre
vom Seinsmangel abgeleitet. Merleau-Ponty führt eine Stelle aus Das
Sein und das Nichts an, die er in dieser Hinsicht besonders aufschluss-
reich findet. Sartre sagt an dieser Stelle: »In dem Maß […], wie das
Sein, dem etwas mangelt, nicht das ist, was ihm mangelt, erfassen wir
in ihm eine Negation. Aber wenn diese Negation sich nicht in reine
Exteriorität auflösen soll – und mit ihr jede Negationsmöglichkeit im
allgemeinen –, liegt ihre Grundlage in der Notwendigkeit für das Sein,
dem etwas mangelt, das zu sein, was ihm mangelt. Die Grundlage der
Negation ist also Negation der Negation.« 296 Hier appelliert Sartre
selbst an die Dialektik, indem er die interne Negation auf eine Negation
der Negation gründet. Damit kehrt sich jedoch die Philosophie des Ne-
293
Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 90 f.
294
Ebd., S. 103; S. 105; S. 119 und öfters.
295
Ebd., S. 96 f.
296 Sartre, L’être et le néant, S. 248 f. Vgl. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 80.
272
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
297
Siehe M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 80 f.
298
Ebd., S. 128.
299
Ebd., S. 127.
300 Ebd., S. 105.
273
Metaphysik zufälliger Faktizität
eine Gegenabstraktion«, aber »es nähert sich nicht dem Konkreten«. 301
Angesichts abstrakter Idealisierungsprodukte erhebt sich aber immer
die phänomenologische Frage nach einer ermöglichenden Erfahrungs-
grundlage.
Wie wird diese Frage von Merleau-Ponty beantwortet? Welche Er-
fahrung liegt den Idealisierungsprodukten »An-sich-sein« und »Für-
sich-sein« zugrunde? Es heißt dazu in Das Sichtbare und das Unsicht-
bare: »Sie sind sicherlich der Ausdruck der Erfahrung des Sehens; das
Sehen ist Panorama […]. […] Das Sein ist in seiner ganzen Ausdehnung
von einem Sehen des Seins eingefaßt, das nicht ein Sein, sondern ein
Nicht-Sein ist.« 302 In diesem Zusammenhang könnte der Gesichtssinn
durch kein anderes Wahrnehmungsorgan ersetzt werden. Nur das Se-
hen ist Panorama; einzig und allein der Gesichtssinn täuscht die Mög-
lichkeit eines »Überflugs« (survol) vor. Das Verdienst von Merleau-
Ponty besteht aber nicht darin, diese Eigentümlichkeit des Sehens he-
rausgestellt zu haben; sie war ja seit alters her bekannt. Sein eigentliches
Verdienst liegt vielmehr darin, gezeigt zu haben, dass Panorama nur das
Sehen eines Sehenden ist, der »sich zum Seher« (visionnaire) macht
und dabei »vergißt, dass er einen Leib hat«. 303 Denn bin ich als Sehender
leibhaft in einer Situation da, so ist mein Sehen in dieser Situation kei-
neswegs einfach Nichten. Wie Merleau-Ponty sagt, »ziehen die Dinge
meinen Blick an, und mein Blick liebkost die Dinge, er vermählt sich mit
ihren Umrissen, mit ihren Erhebungen (reliefs), und wir erahnen zwi-
schen ihm und ihnen eine geheime Komplizenschaft.« 304
Es deutet sich in diesen Worten – mit einem Terminus, der von
Rudolf Bernet geprägt wurde – eine »Phänomenologie des Blicks« an,
die über die entsprechenden Erörterungen von Sartre weit hinausgeht.
Der Unterschied ergibt sich daraus, dass sich Merleau-Ponty in seiner
Analyse des Blicks der bereits erwähnten »Aufforderung zur Revision
unserer Ontologie, zur Überprüfung der Begriffe ›Subjekt‹ und ›Ob-
jekt‹« stellt. Nehme ich diese Aufforderung ernst – meint er –, so muss
ich mich fragen, »ob jede Beziehung von mir zum Sein, bis hin zum
Sehen und zum Sprechen, nicht ein eingefleischter Bezug ist, ein Bezug
zum Fleisch der Welt, in dem das ›reine‹ Sein nur am Horizont auf-
301
Ebd., S. 97.
302
Ebd., S. 105 f.
303
Ebd., S. 108.
304 Ebd., S. 107.
274
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
scheint […].« 305 Damit ist ein Ansatz angedeutet, der – im Gegensatz
zur Herangehensweise von Sartre in Das Sein und das Nichts – nicht
von einer schroffen Entgegensetzung, sondern von einer »Verflech-
tung« – oder auch von einem »Chiasmus« – von Subjekt und Objekt
ausgeht.
Merleau-Ponty stützt sich auf diese Idee einer Verflechtung von
Subjekt und Objekt, um der »schlechten« Dialektik, die er bei Sartre
entdeckt, eine »gute« Dialektik gegenüberzustellen. Er sagt: »Eine Auf-
gabe der Dialektik – als einem Denken von der Situation her, einem
Denken, das zum Sein Kontakt hält – besteht darin, falsche Evidenzen
zu erschüttern, von der Seinserfahrung abgeschnittene und entleerte
Bedeutungen aufzudecken und sich selbst zu kritisieren, wenn sie selbst
zu einer solchen wird.« 306 Dieser Hinweis auf eine Selbstkritik der Dia-
lektik erübrigt sich keineswegs. Merleau-Ponty weiß ja, dass eine
»schlechte« Dialektik gerade deshalb so genannt werden muss, weil sie
sich auf abstrakte Idealisierungen, das heißt aber: auf »von der Seins-
erfahrung abgeschnittene und entleerte Bedeutungen« festlegt. Daher
bedarf die wohlverstandene Dialektik einer ständigen Selbstkritik: Sie
muss gegen ihre eigene Neigung, sich in abstrakten Idealisierungen zu
verlieren, einen unaufhörlichen Kampf führen. Aus dem Gesagten folgt
bereits, dass es »keine gute Dialektik außer der Hyperdialektik« gibt. 307
Unter Hyperdialektik versteht Merleau-Ponty ein Denken, das einer
These nicht etwa in abstracto eine Antithese gegenüberstellt, um von
dem antithetischen Konflikt zwischen beiden – gleichfalls nur in abs-
tracto – zu einer Synthese weiterzuschreiten, sondern das von vorn-
herein weiß, dass »jede These eine Idealisierung darstellt«, die über-
wunden werden muss, damit ein »rohes oder wildes Sein«, in dem »die
Bedeutung immer nur als Tendenz vorhanden ist«, zurückerobert wer-
den kann. 308 In diesem Bereich anfänglicher Sinntendenzen ohne ver-
festigte Bedeutungen ist es nicht erlaubt, »den einen Begriff als positi-
ven und den anderen als negativen zu definieren«, und erst recht nicht,
»einen dritten Begriff als die absolute Aufhebung des Negativen durch
sich selbst anzusetzen«. 309 Es handelt sich infolgedessen um eine »Dia-
275
Metaphysik zufälliger Faktizität
lektik ohne Synthese« 310, die den konkreten Verflechtungen von an-
fänglichen Sinngebilden nachgeht, ohne sie in einer höherstufigen Ein-
heit aufzulösen.
Aus Das Sichtbare und das Unsichtbare geht deutlich hervor, wa-
rum im Bereich des rohen oder wilden Seins eine synthetische Einheit
undenkbar bleibt. Der Grund liegt in dem, was Merleau-Ponty als
»Hiatus« im Chiasmus bezeichnet. 311 Der Chiasmus von Subjekt und
Objekt oder auch von Leib und Fleisch bleibt mit einem unaufhebbaren
Hiatus behaftet; das Sehende und das Sichtbare, das Berührende und
das Berührte verflechten sich, ohne jemals miteinander zusammen-
zufallen. Merleau-Ponty erläutert diese Beobachtung anhand des bei
Husserl entlehnten Beispiels, auf das er sich in der Analyse des Chias-
mus immer wieder stützt. Wenn ich zunächst mit der rechten Hand die
linke berühre, dann aber wiederum mit der berührten linken die berüh-
rende rechte betaste, so scheint die Umkehrbarkeit des Verhältnisses
zwischen den beiden Händen sozusagen ad oculos bewiesen zu sein.
Merleau-Ponty stellt jedoch fest, dass »es sich um eine immerzu bevor-
stehende und niemals tatsächlich verwirklichte Reversibilität han-
delt«. 312 Es kommt – so setzt er hinzu – »niemals zu einer Koinzidenz«
zwischen Berührendem und Berührtem: »entweder wird meine rechte
Hand wirklich zur berührten Hand, doch dann wird ihr Zugriff auf die
Welt unterbrochen, – oder aber sie bewahrt diesen, doch dann berühre
ich nicht wirklich sie, sondern betaste nur ihre äußere Hülle mit meiner
linken Hand.« 313 Dieses Dilemma macht deutlich, dass »der Hiatus zwi-
schen meiner rechten berührten und meiner rechten berührenden
Hand« unaufhebbar bleibt: Das Berührende kann als Berührendes nie-
mals berührt werden.
Die Einsicht in diese Nicht-Koinzidenz in der Verflechtung gibt der
Idee einer Dialektik ohne Synthese einen unmittelbar einleuchtenden
Sinn. Von einer Deckungsgleichheit zwischen Sehendem und Sicht-
barem, Berührendem und Berührbarem kann keine Rede sein; ebendes-
halb ist auch eine synthetische Einheit von Subjekt und Objekt nicht
möglich. Die Lehre vom Hiatus im Chiasmus ist daher von grundlegen-
der Bedeutung für Merleau-Pontys gesamte Spätphilosophie. Nur dass
310
Ebd.
311
Ebd., S. 195.
312
Ebd., S. 194.
313 Ebd. (Die Übersetzung wurde leicht geändert.)
276
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
314
Jacques Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris: Galilée 2000, S. 72, S. 217 f.; dt.
Berühren, Jean-Luc Nancy, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Berlin: Brinkmann &
Bose 2007, S. 270.
315 Ebd.
277
Metaphysik zufälliger Faktizität
278
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
recht in dem, was er von den metaphysischen Fragen sagt, die jeweils
danach verlangen, die Notwendigkeit eines Faktums herauszustellen,
ohne sie mit einer Wesensnotwendigkeit, das heißt der eidetischen Be-
sonderung eines Wesensgesetzes, zu vermengen. Außer Husserl hat
niemand so deutlich gesehen wie der Verfasser von Das Sein und das
Nichts, dass die Aufgabe der wohlverstandenen Metaphysik nicht etwa
darin besteht, die Urtatsachen unseres Daseins – selbst um den Preis
spekulativer Überschwänglichkeiten – wegzuerklären, sondern einzig
und allein darin, sie als Urtatsachen zu enthüllen und in ihrer faktischen
Notwendigkeit zu durchleuchten. Sicherlich könnte man diese Aufgabe
ausführlicher erörtern, als Sartre dies tut. So könnte man etwa mit Ni-
colai Hartmann, der mit der Methode der aristotelischen Schriften über
das Seiende als Seiendes eng vertraut war, den aporetischen Charakter
der phänomenologisch angelegten Metaphysik betonen. Mit Husserl
selbst könnte man hinzufügen, dass sich eine phänomenologische Me-
taphysik notwendig mit einer Ontologie der Lebenswelt verbindet, da
die Urtatsachen, die sie herauszustellen hat, nichts anderes sind als eben
nur die notwendigen Möglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Erfah-
rung, die selbst dann noch die Grundpfeiler unseres Daseins bleiben,
wenn sie in den abstrakten Idealisierungen der Wissenschaften über-
schritten werden können. Sartre hat aus der Idee einer phänomenologi-
schen Metaphysik gewiss nicht alle Konsequenzen gezogen, aber Eines
wurde bisher von niemandem so deutlich gesehen wie von ihm: die
Tatsache, dass eine phänomenologische Ontologie in der Luft schwebt,
solange sie nicht in einer Metaphysik der Urtatsachen verankert wird.
317
Emmanuel Levinas, »La ruine de la représentation«, in: En découvrant l’existence
avec Husserl et Heidegger, Paris: Vrin 1974, S. 125–135, hier: S. 133; dt. »Der Untergang
der Vorstellung«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und
279
Metaphysik zufälliger Faktizität
Sozialphilosophie, hg. und übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg und
München: Alber 1983, S. 120–139, hier: S. 134.
318
Ebd., S. 134; dt. S. 136 (geänderte Übersetzung).
319
Levinas, »La philosophie et l’idée de l’infini«, in: En découvrant l’existence avec Hus-
serl et Heidegger, S. 165–186, hier: S. 172; dt. »Die Philosophie und die Idee des Unend-
lichen«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphi-
losophie, S. 185–208, hier: S. 196.
320
Levinas, »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heideg-
ger, S. 187–202, hier: S. 196; dt. »Die Spur des Anderen«, in: Die Spur des Anderen.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, S. 209–235, hier: S. 225.
280
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
lität, 321 und er versucht zu zeigen, dass die Erfahrung des Unendlichen
geradezu »das Gegenteil der Intentionalität« deutlich werden lässt. 322
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er auch dem Unendlichen
selbst einen überphänomenalen Charakter zuschreibt. Er behauptet,
dass das Unendliche in seiner eigenen Idee zwar in Erscheinung tritt,
aber nur ohne zu erscheinen. Diese paradoxe Weise, »in Erscheinung zu
treten, ohne zu erscheinen« – im französischen Originaltext: »se mani-
fester sans se manifester« – steht bei Levinas dem Erscheinen oder
Sich-Zeigen des Phänomens gegenüber und charakterisiert im Gegen-
satz zum Phänomen das, was in einem der berühmten Aufsätze aus den
1960er Jahren als »Rätsel« (énigme) bezeichnet wird. 323 In dieser Be-
griffsbildung gelangt die Tendenz, Hyperphänomene oder Nicht-Phä-
nomene zu thematisieren, zur vollen Geltung. Gleichwohl geht es Le-
vinas darum, diese Hyperphänomene oder Nicht-Phänomene in ihrer
paradoxen Weise, in Erscheinung zu treten, zu erfassen. Der beim spä-
ten Heidegger entlehnte Ausdruck »Phänomenologie des Unscheinba-
ren«, den Dominique Janicaud als Erster mit der Vorgehensweise von
Levinas in Verbindung brachte, hat deshalb sein Treffendes. Die The-
matisierung der verschiedenen »Rätsel« erschöpft sich keineswegs da-
rin, etwas Nicht-Erscheinendes, Erfahrungstranszendentes und deshalb
phänomenologisch nicht Greifbares zur Sprache zu bringen. Es kommt
dabei vielmehr gerade darauf an, die außerordentlichen Erscheinungs-
weisen ausfindig zu machen, in denen sich das Nicht-Erscheinende, Er-
fahrungstranszendente und deshalb phänomenologisch unmittelbar
nicht Greifbare auf mittelbare Weise bekundet und damit phänomeno-
logisch doch fassbar wird. Wird das Unendliche als »Rätsel« begriffen,
so wird ihm eine Erfahrungstranszendenz zugeschrieben, die zwar jede
gewöhnliche Phänomenalisierung ausschließt, gleichwohl aber eine pa-
radoxe Weise, in Erscheinung zu treten, ohne zu erscheinen, zulässt.
Im Hinblick auf diese paradoxe Selbstoffenbarung spricht Levinas
geradezu von einer Erfahrung des Unendlichen. Er macht deutlich, in
welchem Sinne dieser Ausdruck genommen werden kann. Zunächst
stellt er fest: »Freilich kann die Beziehung mit dem Unendlichen nicht
321
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 80 f.; dt. S. 114 f.
322 Ebd., S. 90; dt. S. 128 f.
323
Siehe Levinas, »Énigme et phénomène«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et
Heidegger, S. 203–215, hier: S. 209; dt. »Rätsel und Phänomen«, in: Die Spur des Ande-
ren. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, S. 236–260, hier:
S. 246.
281
Metaphysik zufälliger Faktizität
324
Emmanuel Levinas, Totalité et Infini, Édition »Livre de poche«, Dordrecht, Boston
und London: Kluwer 1994, S. 10; dt. Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolf-
gang Nikolaus Krewani, Freiburg und München: Alber 1987, S. 26.
325
Ebd.
326
Ebd.
327 Levinas, »Énigme et phénomène«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et
282
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
Ordnung zu ersetzen: »Die Störung ist eine Bewegung, die nicht ir-
gendeine feste Ordnung im Konflikt oder in Übereinstimmung mit
einer gegebenen Ordnung voraussetzt; sie ist vielmehr eine Bewegung,
die die Bedeutung, die sie brachte, schon mit sich fortträgt. Die Störung
stört die Ordnung, ohne sie ernsthaft zu verwirren.« 329 Deshalb ver-
weist die Störung auf eine Transzendenz, die der Einbildungskraft und
der Meinung keinen Anhaltspunkt bietet. Sie deutet eben nur Bruch-
stellen in der gegebenen Ordnung von Sein und Seiendem an, ohne
dabei eine andersartige Ordnung greifbar zu machen.
In seinem Aufsatz über »Rätsel und Phänomen« führt Levinas eine
ganze Reihe von Beispielen an, um verständlich zu machen, was er mit
»Störung« meint. Eines dieser Beispiele lautet wie folgt: »Ein Unbe-
kannter hat an meiner Türe geläutet und meine Arbeit unterbrochen.« 330
Dieses Beispiel wird im Text auch ein zweites Mal erwähnt, dabei aber
leicht umgewandelt: »Es hat geklingelt, aber niemand ist an der Tür. Hat
es geklingelt?« 331 Damit wird eine Situation umrissen, die den Grund-
zug dessen greifbar macht, was Levinas »Störung« nennt: Die Störung
tritt in die gegebene Ordnung »auf so subtile Weise ein, dass sie sich
schon zurückgezogen hat, es sei denn, wir hielten sie fest.« 332
Doch ist das wichtigste Beispiel einer Störung dann gegeben, wenn
ein Antlitz uns begegnet. »Die Nacktheit des Antlitzes, das mir ent-
gegentritt, sich ausdrückt: Sie unterbricht die Ordnung.« 333 Das Antlitz
offenbart sich von Angesicht zu Angesicht, aber es tritt in Erscheinung,
ohne zu erscheinen. Das Antlitz ist kein sichtbares Gesicht. Es erscheint
nicht wie ein Phänomen, es zeigt sich nicht, es wird nicht sichtbar. Nach
Levinas ist es durchaus einer »Epiphanie« 334 fähig, aber es entzieht sich
jeder Phänomenalisierung; es bleibt ebendeshalb ein Rätsel. In Totalität
und Unendlichkeit heißt es: »Die Epiphanie des Antlitzes ist ethisch.« 335
Levinas hat dabei eine Ethik im Auge, die über jede Phänomenologie
hinausgeht und an die Stelle der Metaphysik oder der Ersten Philoso-
phie tritt. 336
329
Ebd., S. 208; dt. S. 245 (geänderte Übersetzung).
330
Ebd., S. 206; dt. S. 241.
331
Ebd., S. 208; dt. S. 245.
332 Ebd.
333
Ebd., S. 207 f.; dt. S. 244.
334
Levinas, Totalité et Infini, S. 73; dt. S. 103.
335
Ebd., S. 218; dt. S. 286.
336 Ebd., S. 340; dt. S. 442.
283
Metaphysik zufälliger Faktizität
2. Die Spur. Es ist erst die Idee einer Spur, die verständlich macht,
wie das Antlitz trotz seiner Selbstoffenbarung in einer Epiphanie letzt-
lich doch ein Rätsel bleibt. In Jenseits des Seins, oder anders als Sein
geschieht sagt Levinas: »Die Enthüllung des Gesichts [oder des Antlit-
zes] ist Nacktheit – Un-Form – Selbstaufgabe, Altern, Sterben; nackter
als die Nacktheit: Armut, runzelige Haut; runzelige Haut: Spur ihrer
selbst.« 337 Die Spur verweist hier auf eine unvordenkliche Vergangen-
heit, die als solche niemals gegenwärtig war. 338
Es ist aber mit dieser »Diachronie« nicht etwa der Einbruch einer
anderen Zeit in die Zeit der Uhren gemeint. Der Hinweis auf eine un-
vordenkliche Vergangenheit begründet keine neue Ordnung, er bleibt
vielmehr nur eine »unaufhebbare Störung« der bestehenden Ord-
nung. 339 Als eine unaufhebbare Störung muss man auch den »ethischen
Widerstand« ansehen, der vom Antlitz ausgeht und nach Levinas »die
Dimension des Unendlichen selbst öffnet«. 340 Es handelt sich ja nicht
um einen tatsächlichen Widerstand, da sich der ethische Widerstand
des Antlitzes keinem Kräfteverhältnis einfügt. »Der ›Widerstand‹ des
Anderen tut mir keine Gewalt an […].« 341 Zwar erweist er sich als die
Quelle eines Gebots – »Du sollst nicht töten« –, aber dieses Gebot selbst
hat auch nur den Charakter einer unbehebbaren Störung – eben einer
»An-archie des Guten«. 342 Anders als Kant den kategorischen Impera-
tiv, denkt Levinas dieses Gebot keineswegs etwa als das Gesetz einer
moralischen Ordnung, eines »Reichs der Sitten«. Deshalb heißt es in
Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht: »Die im Antlitz vo-
rübergehende oder vergangene Spur ist nicht die Abwesenheit eines
Noch-nicht-Offenbarten, sondern die An-archie dessen, was niemals
gegenwärtig gewesen ist – eines Unendlichen, das im Antlitz des Ande-
ren gebietet und das sich – wie ein ausgeschlossenes Drittes – nicht
anzielen lässt.« 343 Die unvordenkliche Vergangenheit, die auf der runz-
337
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 141; dt. S. 199.
338
Levinas, »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heideg-
ger, S. 198; dt. S. 229.
339
Ebd., S. 198; dt. S. 228 (geänderte Übersetzung).
340
Levinas, »La philosophie et l’idée de l’infini«, in: En découvrant l’existence avec Hus-
serl et Heidegger, S. 173; dt. S. 199. Vgl. ebd.: »Der ethische Widerstand ist die An-
wesenheit des Unendlichen.«
341
Levinas, Totalité et Infini, S. 215; dt. S. 283.
342
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 120; dt. S. 170.
343 Ebd., S. 155; dt. 217 f. (geänderte Übersetzung).
284
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
ligen Haut eine Spur hinterlassen hat, kann nicht erzählt, ja sie kann
nicht einmal bezeichnet werden; man kann sie nicht zum Gegenstand
intentionaler Akte machen. Sie offenbart sich vielmehr, indem sie die
Intentionalität »umkehrt« und indem sie damit die gegebene Ordnung
von Sein und Seiendem »auf eine nicht wieder gutzumachende Weise«
stört. 344 Ist die Spur ein Zeichen, so ist sie ein außerordentliches Zei-
chen: »Ihr Bedeuten ist unabhängig von jeder Intention, ein Zeichen zu
geben, und unabhängig von jedem Entwurf, dessen Intention dieses
Bedeuten wäre.« 345 Daraus zieht Levinas noch einen letzten Schluss:
»Sein auf die Weise des Eine-Spur-Hinterlassens ist Vorbeigehen, Auf-
brechen, Sich-Ablösen.« 346
Im Ausgang von den beiden Begriffen »Störung« und »Spur« ver-
sucht Levinas, das Unendliche als einen Überschuss zu denken, der sich
niemals handfest machen lässt, sich vielmehr jedem Zugriff entzieht,
aber als unaufhebbare Störung dennoch in die Erscheinung tritt, wenn
auch ohne zu erscheinen, indem es in der Ordnung von Sein und Sei-
endem eine Spur hinterlässt. Das Unendliche erweist sich auf diese
Weise als ein Absolutes, das aber nur deshalb »absolut« ist, weil es sich
– im Sinne des französischen Verbs s’absoudre – aus seiner Beziehung
mit dem erfahrenden Bewusstsein herauslöst.
Das so verstandene Absolute wird bei Levinas zum Thema einer
quasi-theologischen Betrachtung, die einen Bruch mit der gesamten
Tradition ontotheologischer Spekulation markiert. Der Grundbegriff
dieser quasi-theologischen Betrachtung ist der der Illeität, die zum ers-
ten Mal in dem Aufsatz »Die Spur des Anderen« zur Sprache gebracht
wird. Dieser Begriff ist ein deutliches Zeugnis für das Anliegen, eine
Alternative zur Ontotheologie ausfindig zu machen. Er deutet weder
auf einen Gott hin, der in seiner Seinsmächtigkeit die Welt beherrscht,
noch auf einen Gott, der, jenseits des Seins angesiedelt, als ein Du an-
geredet werden könnte. Er stützt sich vielmehr ausschließlich auf eine
Spur des Unendlichen, das sich aus seiner Beziehung mit dem Denken
herauslöst, sich aber dennoch als eine unaufhebbare Störung in ihm
offenbar macht. Diesem Unendlichen kommt eine Transzendenz zu,
die mit einem Jenseits im gewöhnlichen Sinne des Wortes nichts zu
tun hat: die Transzendenz des durch Denken nicht Einholbaren, doch
344
Ebd., S. 200; dt. S. 231.
345
Ebd., S. 199; dt. S. 231.
346 Ebd., S. 200; dt. S. 231.
285
Metaphysik zufälliger Faktizität
Dominique Janicaud hat früh schon deutlich gesehen, dass sich die neu-
artigen Untersuchungen von Levinas dazu eigneten, eine »Wende« in
der französischen Phänomenologie herbeizuführen. 347 Es ist ihm auch
nicht entgangen, dass parallel zu Levinas andere einflussreiche Denker
– so allen voran Michel Henry, aber bis zu einem gewissen Grad auch
der späte Merleau-Ponty – ebenfalls danach gestrebt hatten, die phäno-
menologische Methode auf »unsichtbare« und im eigentlichen Sinne
des Wortes gar nicht erscheinende, sich aber mittelbar anzeigende Hy-
perphänomene oder Nicht-Phänomene (wie das »Leben« oder »das
Fleisch«) auszudehnen. Dieser phénoménologie de l’inapparent, die er
mit Heideggers »Phänomenologie des Unscheinbaren« in Verbindung
brachte, trat Janicaud in polemischer Absicht entgegen, indem er neben
Levinas und Henry auch jüngere Denker wie Jean-Luc Marion und
Jean-Louis Chrétien suaviter in modo, fortiter in re angriff, sie als nos
nouveaux théologiens (»unsere neuen Theologen«) bezeichnete und
ihnen zunächst vor allem Paul Ricœur, später aber auch Marc Richir
gegenüberstellte. Janicaud hatte freilich noch nicht die nötige Distanz,
um zu erkennen, dass der von Levinas mit besonderer Einprägsamkeit
vertretene Neuansatz seit dem Beginn der achtziger Jahre nicht allein
von den Anhängern einer phénoménologie de l’inapparent, sondern,
wenngleich auf andere Weise, auch von ihren – vermeintlichen oder
wirklichen – Gegnern weitergeführt wurde. Als Beleg für diese Beob-
achtung soll hier nur ein kurzer Text von Marc Richir angeführt wer-
den, der unter dem Titel »Phénomène et Infini« 348 einer leidenschaft-
lichen, wenn auch durchaus verehrungsgsvollen Auseinandersetzung
mit Levinas gewidmet ist. Dieser Text ist in demselben Jahr erschienen
347
Dominique Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Com-
bas: Éd. de l’éclat 1991; vgl. Dominique Janicaud, La phénoménologie éclatée, Paris: Éd.
de l’éclat 1998.
348
Marc Richir, »Phénomène et Infini«, in: Cahiers de l’Herne, Nr. 60: Emmanuel Lévi-
nas, hg. von Catherine Chalier und Miguel Abensour, Paris: Éditions de l’Herne 1991,
S. 241–261.
286
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
349
Ebd., S. 258.
350
Ebd., S. 259; vgl. S. 256: »l’infini absolument infini« (»das absolut unendliche Un-
endliche«).
351 Ebd., S. 256.
352
Ebd., S. 246.
353
Ebd.
354
Ebd., S. 245.
355 Ebd.
287
Metaphysik zufälliger Faktizität
356
Ebd., S. 244.
357 Ebd.
288
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
289
Metaphysik zufälliger Faktizität
Apeiron auf das phänomenologische Feld, das er als eine Sphäre der
»nicht-physikalischen Physis« 363 betrachtet.
Auch wir werden uns im Folgenden damit begnügen, das Unend-
liche der Welt zum Gegenstand unserer Erörterungen zu machen. Al-
lerdings soll damit die Entscheidung über den Sinn und die Recht-
mäßigkeit des Levinas’schen Anspruchs, die Ethik als Erste Philosophie
und als Metaphysik ausgewiesen zu haben, keineswegs gefallen sein.
Auf jeden Fall wirft die Frage nach der Selbstheit als Einzigkeit das Pro-
blem einer phänomenologischen Ethik auf, ob diese als Erste Philoso-
phie bzw. als Metaphysik bestimmt werden kann oder nicht.
Neben Marc Richir hat ohne Zweifel Jean-Luc Marion das Meiste dafür
getan, das Verhältnis der Phänomenologie zur Metaphysik in neuem
Licht erscheinen zu lassen. Von ihm stammt der Gedanke, dass die Phä-
nomenologie als »eine andere Erste Philosophie« aufgefasst werden
könnte. 364 Was aber noch mehr ins Gewicht fällt, ist, dass er im dritten
Teil von Étant donné 365 gezeigt hat, wie sich die Kategorien wandeln,
sobald sie nicht mehr – wie bei Aristoteles – auf das Seiende als Seiendes
und auch nicht – wie bei Kant – auf das gegenständliche Korrelat des
»Ich denke« bezogen, sondern auf das Erscheinen des Erscheinenden
übertragen werden. 366 Dabei hat Marion auch völlig neuartige Katego-
rien entwickelt, um das Phänomen als ein Ereignis darstellen zu kön-
290
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
nen, das dem Subjekt von selbst widerfährt und es vor die »vollendete
Tatsache« (fait accompli) seiner Gegebenheit stellt. 367 Zu diesen letzte-
ren Kategorien gehören in Étant donné die »Anamorphose« 368 und die
»Zufuhr« (arrivage) 369 des Erscheinens.
Im Buch Neue Phänomenologie in Frankreich wurde dieser span-
nende Versuch, eine phänomenologische Kategorialanalyse zu begrün-
den, ausführlich dargestellt. 370 Diese Darstellung bleibt hier voraus-
gesetzt. Im letzten Kapitel seines neuen Werkes Certitudes négatives
legt Marion jedoch eine verwandelte Auffassung von der Ereignishaf-
tigkeit des Phänomens vor. 371 Es ist lohnenswert, auf diesen Text ein-
zugehen, weil er einer phänomenologischen Kategorialanalyse – zu-
mindest auf den ersten Blick – den Boden zu entziehen scheint.
Marion teilt jetzt die Phänomene in zwei Arten ein, indem er Ge-
genstände und Ereignisse einander gegenüberstellt. Unter Gegenstän-
den versteht er allen voran die »anschauungsarmen« Phänomene von
Logik und Mathematik.372 Er charakterisiert diese Phänomene so, wie
Descartes die Objekte der Mathesis Universalis charakterisiert hat:
nämlich durch Begriffe wie ordo und mensura, also durch Ordnungs-
formen und Messzahlen oder auch durch »Modelle« und »Parame-
ter«. 373 Aber zu den Gegenständen rechnet er auch die »gewöhnlichen«
Phänomene der Naturwissenschaften und der industriellen Technik, 374
die übrigens im Rahmen einer Mathesis Universalis oder, richtiger, der
»mathematisierenden Umdeutung der Natur«, von der Husserl in der
Krisis-Abhandlung spricht, 375 ebenfalls durch Modelle und Parameter
gekennzeichnet werden können. Die Gegenstände sind diejenigen Phä-
nomene, denen Kant in seiner Transzendentalphilosophie auf Grund
einer Analyse subjektiver Erkenntnisvermögen Bedingungen a priori
auferlegt und die ebendeshalb von vornherein als gegenständliche Kor-
relate des »Ich denke«, des Selbstbewusstseins, der transzendentalen
Apperzeption zu gelten haben. Auf die so verstandenen Gegenstände
367
Ebd., § 15, S. 197–212, hier: S. 199.
368
Ebd., S. 184.
369
Ebd., S. 187.
370
Gondek und Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 227–238.
371 Jean-Luc Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010, S. 243–308.
372
Ebd., S. 252 und S. 301, Anm. 1.
373
Ebd., S. 257.
374
Ebd., S. 301, Anm. 1.
375 Ebd., S. 271, Anm. 2.
291
Metaphysik zufälliger Faktizität
376
Ebd., S. 255–269.
377
Ebd., S. 301, Anm. 1.
378
Ebd., S. 302.
379
Ebd., S. 252.
380
Ebd., S. 260, Zeilen 9–10: der Ausdruck »par contraposition«; S. 279, Zeilen 9–10: das
Kant-Zitat.
381
Ebd., S. 286 und S. 288.
382
Charles Baudelaire, Les fleurs du mal – Die Blumen des Bösen, französisch-deutsche
zweisprachige Ausgabe, dt. von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam
1993, S. 192 f.
383
Marion, Certitudes négatives, S. 283–291.
384
Ebd., S. 287.
385 Ebd., S. 290.
292
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie
zu, der das Subjekt zu einem »Ergebenen« (adonné) 386 macht. Aber eine
verwandelte Anwendung von Kategorien wie Substantialität oder Kau-
salität auf das Ereignis zieht er gar nicht mehr in Erwägung; vielmehr
behauptet er ausdrücklich: »Ein Ereignis widerspricht […] umso mehr
diesen Kategorien, als es sich einstellt, indem es von selbst aufkommt
und sich zuträgt.« 387
Aber selbst diese scheinbar völlig eindeutige Aussage schließt ein
andersartiges Verständnis nicht ganz aus. Vielleicht fasst Marion in
Certitudes négatives die Kategorien enger auf als in Étant donné, indem
er mit ihnen nur Kants reine Verstandesbegriffe a priori in ihrer ur-
sprünglichen Fassung meint. Dass sich die so verstandenen Kategorien
nur auf die gegenständlichen Korrelate des »Ich denke« anwenden las-
sen, leuchtet natürlich ein. Daraus folgt aber nicht, dass diese Begriffe
auch auf geeignete Weise umgewandelt und neu gefasst nicht auf Ereig-
nisse angewandt werden können.
Eine gewisse Zweideutigkeit entsteht auch dadurch, dass Marion in
Certitudes négatives das Ereignis nicht allein als eine dem Gegenstand
entgegengesetzte Art des Phänomens, sondern auch als einen Grund-
zug aller Phänomene überhaupt betrachtet. Demnach sind jedoch alle
Phänomene, auch die anschauungsarmen und die gewöhnlichen, die
zusamengefasst »Gegenstände« heißen, durch eine fundamentale Er-
eignishaftigkeit charakterisiert. Bei näherem Zusehen enthüllt sich da-
mit der vermeintliche Wesensunterschied zwischen Gegenstand und
Ereignis als ein bloß gradueller Unterschied innerhalb einer zugrunde
liegenden Einheit des Phänomenbestands. 388 Damit taucht jedoch die
Frage auf, ob tatsächlich die Abhängigkeit von den Kategorien über-
haupt und nicht vielmehr nur die Abhängigkeit von einem bestimmten
Typ von Kategorien die Gegenstände von allen anderen Phänomenen
unterscheidet.
In Certitudes négatives scheint Marion einen Weg betreten zu ha-
ben, der zu einer Radikalisierung seiner phénoménologie de l’inappa-
rent führt. 389 Die Radikalisierung, die er nunmehr anstrebt, richtet sich
vor allem gegen die »mathematisierende Umwandlung der Natur«, die
in der Person von Descartes ihren ersten philosophischen Fürsprecher
386
Ebd., S. 288.
387
Ebd., S. 292.
388
Ebd., S. 307.
389 Ebd., S. 296. Hier wird die phénoménologie de l’inapparent ausdrücklich erwähnt.
293
Metaphysik zufälliger Faktizität
gefunden hatte und die in Kants Lehre von den Kategorien nur eine
tiefere philosophische Begründung erhielt. Deshalb fordert Marion in
seinem neuen Buch von der Phänomenologie einen entschiedeneren
Bruch mit dieser Lehre als in seinem früheren Werk. Demgegenüber
soll in den folgenden Untersuchungen, die dem methodologischen
Transzendentalismus von Husserls Phänomenologie verpflichtet blei-
ben und daher auch das Erbe von Kants kritischer Transzendentalphi-
losophie unter veränderten Bedingungen weiterzuführen suchen, der
Idee einer phänomenologischen Kategorialanalyse, wie sie von Marion
in Étant donné entworfen wurde, zumindest die Rolle eines entfernten
Leitbilds keineswegs abgesprochen werden.
294
Dritter Teil:
Phänomenologische Metaphysik
Die Welt und ihr Unendliches
Mit einer Metaphysik, die grundlegende Tatsachen von Leben und Welt
aus ersten Ursachen und Prinzipien abzuleiten sucht, lässt sich die phä-
nomenologische Denkrichtung nicht vereinbaren. Sie lehnt aber deswe-
gen keineswegs jegliche Metaphysik ab. Unsere Überblicksdarstellung
hat gezeigt, dass im letzen Jahrhundert verschiedene Ansätze zu einer
phänomenologischen Metaphysik zufälliger Faktizität zum Vorschein
gekommen sind. Husserl legte eine nicht-traditionelle Metaphysik von
Urtatsachen vor. Er fasste dabei Urtatsachen ins Auge, die sich im Ge-
gensatz zu gewöhnlichen Tatsachen durch eine faktische Notwendigkeit
– die ›Notwendigkeit eines Faktums‹ – kennzeichnen ließen. In Husserls
Deutung von Urtatsachen als ›Urnotwendigkeiten‹ zeichnete sich die
Möglichkeit einer Metaphysik ab, die gegen Kants Kritik spekulativer
Metaphysik gewappnet war. Dieser Ansatz wurde zwar beinahe aus-
schließlich von Sartre produktiv weitergeführt, aber es haben sich in
der phänomenologischen Tradition verwandte Bestrebungen gemeldet.
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik wies Paral-
lelen zu Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf. Darüber hinaus
zeichnete sie sich durch ihre Orientierung an einem neuartigen Welt-
begriff aus. In der französischen Phänomenologie versuchte Marion,
eine andere Erste Philosophie auf der ›vollendeten Tatsache‹ des Er-
scheinens des jeweils Erscheinenden aufzubauen. Denker wie Levinas
oder Richir schlugen dagegen eine andere Richtung ein, indem sie – in
je verschiedener Weise – das Unendliche auf einem phänomenologi-
schen Zugangsweg zu verdeutlichen suchten.
Im Rückblick auf diese Ansätze fällt auf, dass sich die phänomeno-
logische Metaphysik bei manchen Autoren auf die grundlegendsten
Tatsachen des bewussten Lebens in der Welt richtet, bei anderen Auto-
ren dagegen sich vorwiegend um das Unendliche dreht. Es handelt sich
dabei allerdings nicht etwa um einander ausschließende Auffassungen,
sondern eher nur um Akzentverschiebungen und unterschiedliche Ge-
297
Die Welt und ihr Unendliches
wichtungen. Bei einem Autoren wie Husserl, der die gesamte Philoso-
phie umfassend neu gestaltet, stehen beide Grundthemen im Mittel-
punkt eingehender Betrachtungen. Laut Krisis-Abhandlung gehört ja
die ›raumzeitliche Unendlichkeit‹ wesenhaft zur kategorialen Struktur
der Lebenswelt. Heideggers Metontologie befasst sich zwar ausschließ-
lich mit Weltbildung und Weltentwurf, und seine Metaphysik des Da-
seins wird als eine ›Metaphysik der Endlichkeit im Menschen‹ be-
stimmt. Gleichwohl findet sich am Ende von Kant und das Problem
der Metaphysik ein Hinweis von grundlegender Bedeutung auf das Un-
endliche.1 Auf der anderen Seite verbinden sich die Überlegungen zum
Unendlichen bei Levinas oder auch bei Richir durchaus mit einer Phä-
nomenologie des bewussten Lebens in der Welt.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die beiden Un-
tersuchungsrichtungen keineswegs ausschließen, vielmehr einander
geradezu gegenseitig fordern. Es tritt uns damit ein eigentümlich phä-
nomenologischer Doppelbegriff der Metaphysik entgegen. Wir können
behaupten, dass die phänomenologische Metaphysik zwei Unter-
suchungsrichtungen umfasst: Der Schlüsselbegriff der ersten Unter-
suchungsrichtung ist die Welt, der der anderen dagegen ist das Unend-
liche. Mit der doppelten Bestimmung traditioneller Metaphysik als
Ontologie und als Theologie haben diese beiden Untersuchungsrich-
tungen phänomenologischer Metaphysik allerdings wenig zu tun. Die
Phänomenologie des bewussten Lebens in der Welt gehört mit ihren
Faktizitätsstrukturen – wie Husserl sagen würde: ihren ›metaphysi-
schen Urtatsachen‹ – keineswegs im Ganzen in eine Ontologie (auch
nicht in eine existenzialanalytisch angelegte Fundamentalontologie),
sondern letztlich in eine ›Ontik‹ jenseits der Ontologie; sie hat deshalb,
um mit Heidegger zu reden, einen ›metontologischen‹ Charakter. Auf
der anderen Seite lässt sich der phänomenologische Zugangsweg zum
Unendlichen keineswegs in eine Theologie einfügen, auch nicht in eine
rein metaphysische Ontotheologie, obgleich sie sozusagen einen ›meta-
theologischen‹ Grundzug aufweist, indem sie einen nicht-theologischen
Ursprung aller Theologie andeutet.
Die kategoriale Grunddualität der Welt und des Unendlichen hat in
der phänomenologischen Metaphysik keineswegs die Struktur einer
Entgegensetzung. Das Unendliche bildet keinen Gegensatz zur Welt;
1 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 246.
298
Die Welt und ihr Unendliches
299
Die Welt und ihr Unendliches
2 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 31988 (11969) S. 48 f.
300
Die Welt und ihr Unendliches
3
Vgl. vom Vf. Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München: Fink 1998, Einleitung II.
3: »Die diakritische Methode«.
4
Maurice Merleau-Ponty, »De Mauss à Claude Lévi-Strauss«, in: Éloge de la philoso-
phie et autres essais, Paris: Gallimard 1960, S. S. 123–142, hier: S. 134; dt. »Von Mauss
zu Claude Levi-Strauss«, in: Alexandre Métraux und Bernhard Waldenfels (Hg.), Leib-
haftige Verrnunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München: Fink 1986, S. 13–28,
hier: S. 21.
5
Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 270, dt. S. 276.
6 Ebd., S. 287, dt. S. 296.
301
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
303
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
sondern immer nur der Möglichkeit nach gegeben. Die Kritik der reinen
Vernunft kennt kein Aktual-Unendliches, sondern nur ein Potential-
Unendliches. Das Unendliche bleibt in ihr eine bloße Idee, der kein Ge-
genstand, nicht einmal ein rein gedachter (Noumenon), entspricht.
Denn als kosmologische Idee, als ›Weltbegriff‹ ist das Unendliche vom
All der Erscheinungen untrennbar. Man kann ebenfalls sagen, dass sich
das Unendliche in der Kritik der reinen Vernunft nicht als ein ›konsti-
tutives‹, sondern als ein ›regulatives Prinzip‹ der Erfahrung erweist. 1 Es
handelt sich dabei um »ein Prinzipium der Vernunft, welches als Regel
postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll[,] und nicht anti-
zipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist«. 2 Die
»kopernikanische Wende«, die der Kant’sche Kritizismus in der Meta-
physik herbeiführt, bleibt daher in gewissem Sinne eine Wende zur
Endlichkeit hin. Aber ohne dieses regulative Prinzip könnte das All der
Erscheinungen nicht als Welt verstanden werden. Als Welt bezeichnet
Kant das All der Erscheinungen in der Tat nur insofern, als es offen für
das Unendliche ist. Der Idee des Unendlichen misst daher bereits die
Kritik der reinen Vernunft die allergrößte Bedeutung bei. In der Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten sieht Kant in der Tatsache, dass der
Mensch eine Idee vom Unendlichen hat, darüber hinaus einen Beleg
dafür, dass der Mensch – wie jedes vernünftige Wesen – nur »unter
der Idee der Freiheit« handeln kann und deshalb das Sittengesetz der
Freiheit notwendig als für sich selbst gültig anerkennt. 3
Allerdings richtet Kant in der Kritik der reinen Vernunft sein Au-
genmerk nur nebenbei auf den strukturellen Unterschied von Ding und
Welt. Sein vornehmliches Interesse gilt vielmehr dem Gegensatz von
Erscheinung und Ding an sich. Er zeigt, dass die Welt als das All der
Erscheinungen »weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich
endliches Ganzes [existiert]«. 4 Dabei hebt er eigens hervor, dass sich
diese Schlussfolgerung nicht allein aus der ersten Antinomie ergibt,
1
Vgl. vom Vf., Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl
und seinen Nachfolgern [Phaenomenologica, Bd. 180], Dordrecht: Springer 2007, Ab-
schnitt IV. 1, S. 71.
2
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 509.
3 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften,
304
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
sondern auch auf die drei anderen zutrifft: »Was hier von der ersten
kosmologischen Idee […] gesagt worden, gilt auch von den übrigen.« 5
Die Welt existiert aber nach Kant deshalb weder als ein an sich unend-
liches noch als ein an sich endliches Ganzes, weil sie gar nicht an sich
existiert. Dass die Welt als offenes Ganzes »ein Ding an sich selbst sei«,
wird in der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich verneint. 6 Gerade
deshalb kommt ihr keines der beiden, einander kontradiktorisch ent-
gegengesetzten Prädikate ›endlich‹ und ›unendlich‹ zu.
Kant erkennt zwar den Unterschied von Ding und Welt deutlich,
misst aber dieser Einsicht keinen Eigenwert bei. Er verspricht sich von
ihr nur eine Bestätigung seiner Lehre von dem Unterschied zwischen
Erscheinung und Ding an sich. Dass von der Welt einander kontradik-
torisch entgegengesetzte Prädikate verneint werden müssen, beweist in
seinen Augen eindeutig, dass die Welt nichts anderes als das All der
Erscheinungen ist und dass »Erscheinungen überhaupt außer unseren
Vorstellungen nichts sind«. 7
Erst in der Phänomenologie wird die Bedeutung des Unterschiedes
von Ding und Welt ganz deutlich. Husserl und Heidegger beteiligen
sich gleichermaßen an der phänomenologischen Klärung des Welt-
begriffs. Im Folgenden stützen wir uns vor allem auf Husserls Einsich-
ten ins Verhältnis von Wahrnehmungsding und Welthorizont, aber wir
versuchen in unseren Überlegungen auch den Konsequenzen von Hei-
deggers metontologischer Wende Rechnung zu tragen.
5
Ebd., A 505.
6
Ebd., A 504.
7 Ebd., A 506.
305
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
306
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
8
Descartes, Mediationes de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 29.
9
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 25.
10 Michel Henry, Généalogie de la psychanalyse, Paris: PUF 1985, S. 19.
307
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
Marc Richir: »Das Cartesianische Cogito ist leibhaftig […]«. 11 Bei ihm
bleibt aber die Leiblichkeit mit der Körperlichkeit untrennbar verbun-
den und sprengt daher den Cartesianischen Rahmen, in dem sie thema-
tisiert wurde.
Diese Behauptungen sind nicht als Ansätze zu einer Descartes-In-
terpretation zu verstehen. Sie sind vielmehr Versuche, das Cartesia-
nische Cogito nachzuvollziehen und es im Nachvollzug denkerisch an-
ders zu begreifen – ja, anders zu erfahren – als Descartes. Das ändert
aber nichts daran, dass der Befund sinnlichen Erscheinens in der Carte-
sischen Lehre vom Cogito mit eingeschlossen ist.
Mit der theoretischen Substruktion, die bei Descartes zur meta-
physischen Auswertung dieses Befundes dient, ist der Befund selbst
insofern nicht in Einklang, als das Ereignis des Erscheinens nach einem
weltoffenen Subjekt verlangt, das keineswegs die Gestalt einer nur allzu
selbstmächtigen und selbstgenügsamen Ichsubstanz annehmen kann.
In den 1920er Jahren – besonders nach der Veröffentlichung von Sein
und Zeit – spricht Heidegger wiederholt davon, dass wir in der gesam-
ten Philosophiegeschichte einen »Zug auf das ›Subjekt‹« 12 entdecken
können. Er macht deutlich, dass die Subjektivität in der Gestalt subjek-
tiver Vermögen wie Logos, Nous, Psyché usw. schon in den vermeint-
lich rein gegenständlich orientierten Epochen der Philosophiegeschichte
– so in der Antike und im Mittelalter – gegenwärtig war. 13 Mit vollem
Recht fügt er aber hinzu, dass die Subjektivität in diesen Epochen nie-
mals zum eigentlichen Thema der Philosophie gemacht wurde und dass
sich die Sachlage nicht einmal in der Neuzeit änderte. »Denn« – so heißt
es in der Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/1930 –
»das Ich, das Bewußtsein, die Person wird so in die Metaphysik hinein-
genommen, daß dieses Ich gerade nicht in Frage gestellt wird.« 14 Diese
Bemerkung trifft auf das Ich des Cartesischen Cogito erst recht zu.
Auch in der Phänomenologie hat es lange gedauert, bis das Subjekt
dem Ereignis des Erscheinens entsprechend und ihm angemessen er-
11
Richir, Phantasia, imagination, affectivité, S. 257 und S. 259. Vgl. Marc Richir, Médi-
tations phénoménologiques, Grenoble: Millon 1992, S. 81; dt. Phänomenologische Me-
ditationen, übersetzt von Jürgen Trinks, Wien: Turia & Kant 2001, S. 87.
12 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 444.
13
Ebd., S. 104 und S. 155.
14
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 84.
308
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
fasst wurde. Aber bereits bei Husserl hat die Intentionalität dem trans-
zendentalen Ich einen Weltbezug verliehen. Heute sehen wir, wie wenig
Heidegger recht hatte, als er gegen Husserl den Einwand erhob, dieser
sei der neuzeitlichen Annahme eines abgekapselten Ichsubjekts verhaf-
tet geblieben. In Wahrheit ging es schon Husserl darum, das Subjekt in
seiner Offenheit für das Erscheinen des Erscheinenden zu erfassen und
dabei das All der Erscheinungen als Welt zu begreifen. Er stützte sich
dabei auf seine Abschattungslehre, die er während der Ausarbeitung der
Ideen I im Jahre 1912 zum ersten Mal mit der Idee eines Erfahrungs-
horizonts verband.
309
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
15
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome-
nologie [Husserliana, Bd. VI], S. 165.
310
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
nen, den Begriff der Welt zu bestimmen. Zur Welt gelangen wir jeweils
nur von einem Ding her, indem wir von der unmittelbaren Umgebung
dieses Dinges zu seinen immer entfernteren Umgebungen weitergehen.
Die Welt kann auf Grund derartiger Überlegungen als die Gesamt-
umgebung eines Dinges aufgefasst werden. Allerdings handelt es sich
auch diesmal um eine grobe, nur in einer ersten Annäherung gültige
Definition. Es muss mit beachtet werden, dass wir, von welchem Ding
auch immer wir ausgehen, notwendig dieselbe Gesamtumgebung ab-
schreiten. Anders gesagt, gelangen wir von jedem Ding her zu dersel-
ben Welt. Von dieser Beobachtung können wir Gebrauch machen, in-
dem wir die Welt mit Husserl als den ›Universalhorizont‹ der Dinge
bestimmen. Das Wort Universalhorizont meint nicht einfach ›Gesamt-
horizont‹, sondern setzt zugleich voraus, dass ein und derselbe Gesamt-
horizont zu allen Dingen gehört. Wie wir weiter unten (in Abschnitt 4
dieses Kapitels) sehen werden, setzt die Idee eines allgemeinsamen Er-
fahrungshorizonts allerdings die Einstimmigkeit der Erfahrung voraus.
Die unter 1 und 2 angeführten Verweisungszusammenhänge tra-
gen zur näheren Ausarbeitung der den Grundlinien nach bereits umris-
senen Auffassung von Ding und Welt bei. Wir müssen auch deutlich
sehen, dass die unter 1 und 3 erfassten Verweisungszusammenhänge
miteinander zusammengehören, weil sie zusammen das Ding mit all
seinen Teilen, Momenten und Abschattungen kennzeichnen, und dass
andererseits die unter 2 und 4 erfassten Verweisungszusammenhänge
voneinander ebenfalls untrennbar sind, weil sie die gesamte – nähere
und entferntere – Umgebung des so bestimmten Dinges umreißen.
Es gilt dabei, den Unterschied zwischen dem Ding und seiner Um-
gebung richtig zu begreifen. Gewiss besteht die Umgebung des Dinges
selber nur aus Dingen. Gleichwohl geht sie in der Gesamtheit der sie
konstituierenden Dinge keineswegs auf. Denn auch die sie konstituie-
renden Dinge haben ihre jeweilige Umgebung. Zwar bestehen diese
Umgebungen wieder nur aus Dingen, aber auch sie gehen in der Ge-
samtheit der sie konstituierenden Dinge nicht auf. Denn auch die sie
konstituierenden Dinge haben ihre jeweilige Umgebung. So geht es
ins Unendliche. Bei jedem Schritt kann dieselbe Überlegung wiederholt
und dieselbe Unterscheidung wieder geltend gemacht werden. Die
Gleichsetzung der Umgebung des Dinges mit der Gesamtheit der sie
bildenden Dinge führt zu einem unendlichen Regress. Daraus kann der
Schluss gezogen werden, dass diese Gleichsetzung einen groben Denk-
fehler darstellt, der für die natürliche Einstellung des Alltagslebens al-
311
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
312
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
Husserl knüpft an die Kritik der reinen Vernunft an, wenn er von einer
»Idee im Kant’schen Sinn« spricht. Die Anknüpfung an Kant geht in der
Phänomenologie allerdings mit einer bedeutungsvollen Abweichung
von Kant einher, indem nunmehr nicht erst die Welt, sondern bereits
das Ding selbst in seiner vollständigen Gegebenheit als eine Idee im
Kant’schen Sinn gekennzeichnet wird. Genauer gesagt ist es die »Wirk-
lichkeit« des Wahrnehmungsdinges, die von Husserl als eine »›Idee‹ in
Kant’schem Sinn« bezeichnet wird. 16 In dieser Bestimmung zeichnet
sich eine facettenreiche Auffassung vom Einzelding und der Gesamt-
welt ab. Es lohnt sich, die verschiedenen Aspekte dieser Auffassung
auseinanderzuhalten.
1. Die Idee im Kant’schen Sinn als regulative Idee. Beginnen wir
mit einer Bemerkung, die sich auf den Ausdruck »Idee im Kant’schen
Sinn« bezieht. Bei Husserl ist mit diesem Ausdruck die Idee eines mög-
lichen, aber im Voraus niemals vollständig bestimmten »Wahrneh-
mungsverlaufs« gemeint, der seinerseits bis ins Unendliche hinein »er-
weiterungsfähig« bleibt. 17 Es handelt sich dabei betonterweise um eine
»regulative Idee«, 18 die als solche dem Gang der Erfahrung eine Regel
vorschreibt. Jeder Anblick eines Dinges, jede Dingabschattung zeichnet
die Möglichkeit weiterer Anblicke vor, so dass die Erfahrung durch ein
motiviertes Eindringen in die sich jeweils neu erschließenden Horizonte
immer weitergeführt werden kann. Der Gedanke einer regulativen Idee
markiert aber erst einen ersten Aspekt der phänomenologischen Auf-
fassung vom Ding.
2. Die Wirklichkeit eines Dinges als Idee im Kant’schen Sinn. Der
Ausdruck »Wirklichkeit eines Dinges« deutet einen zweiten Aspekt von
Husserl’s Konzeption an. Er hängt mit einem Ergebnis phänomenologi-
scher Wahrnehmungsanalyse zusammen, das in sich selbst zweischich-
16
Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband: Erster Teil: Entwürfe zur Um-
arbeitung der VI. Logischen Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der
Logischen Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 197.
17
Ebd., S. 197: »Danach ist Wirklichkeit eines Dinges eine ›Idee‹ in Kant’schem Sinn,
Korrelat der ›Idee‹ eines ›gewissen‹, aber im voraus nie vollbestimmten, vielmehr unend-
lich vieldeutigen Wahrnehmungsverlaufs, eines ins Unendliche erweiterungsfähi-
gen […].«
18
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Husser-
liana, Bd. XXXVI], S. 77.
313
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
tig ist: Einerseits wird Husserl darauf aufmerksam, dass der jeweilige
Anblick eines Dinges keine unfehlbare Garantie für die Existenz des
gerade gemeinten Dinges bietet; andererseits sieht er aber deutlich, dass
in der Dingwahrnehmung das wahrgenommene Ding selbst in seiner
leibhaftigen Gegenwart gegeben ist, woraus zugleich folgt, dass in der
Dingwahrnehmung das tatsächlich wahrgenommene Ding an sich
selbst auch dann vorhanden ist, wenn es falsch charakterisiert oder so-
gar falsch identifiziert wird. Selbst wenn das tatsächlich wahrgenom-
mene Ding in manchen Fällen seiner wahren Natur nach unbekannt
bleibt, ist es irreführend, es aus diesem Grund als ein bloßes X aufzufas-
sen. Selbst wenn es verkannt wird, ist es deshalb an sich selbst noch
keineswegs unbestimmt. Vielmehr kann man annehmen, dass es an sich
selbst vollständig bestimmt sei. Husserl versucht nun, von der Vorhan-
denheit dieses an sich selbst vollständig bestimmten, obgleich gegebe-
nenfalls unbekannt bleibenden Dinges in der Dingwahrnehmung phä-
nomenologisch Rechenschaft zu geben, indem er die Wirklichkeit dieses
Dinges als eine Idee im Kant’schen Sinn zu begreifen sucht. Der Aus-
druck »Wirklichkeit eines Dinges« verweist dabei nicht mehr auf einen
bloß möglichen Wahrnehmungsverlauf, sondern auf einen wirklichen
Erfahrungsgang, der dem an sich selbst immer schon vollständig be-
stimmten Ding einzig entspricht. Husserl sagt: »Nur aktuelle Erfah-
rung kann sozusagen aus den unendlich vielen und unendlich vieldeu-
tigen bloßen Möglichkeiten die eine, einzige Wirklichkeit ›des‹ Dinges,
des ›an sich‹ völlig bestimmten, herausschneiden.« 19 Da in der Phäno-
menologie nicht etwa die Welt überhaupt, sondern das Einzelding in
seiner Wirklichkeit als Idee im Kant’schen Sinn bestimmt wird, wird
hier dieser Idee neben ihrer regulativen Funktion auch eine konstitutive
– weil wirklichkeitskonstituierende oder, näher, dingkonstituierende –
Rolle zugewiesen. In seiner späteren Entwicklung wird Husserl in dem
Gedanken einer vollständigen Bestimmtheit des Dinges ein Problem
entdecken, das ihn dazu hinleiten wird, dem Unendlichen eine eigen-
tümliche »Offenheit« zuzuerkennen. Im Gegensatz zu Kant wird er
jedoch das zwar immer nur unvollständig, aber in der Wahrnehmung
jeweils leibhaftig gegebene Ding niemals einfach in eine ins Unendliche
erweiterungsfähige (also bloß potential unendliche) Reihe von Erschei-
19
Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe zur Um-
arbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Un-
tersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 198.
314
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
20
Siehe dazu vom Vf. »Nicolai Hartmanns Umkehrung von Kants kopernikanischer
Tat«, in: Mario Egger (Hg.), Philosophie nach Kant. Neue Wege zum Verständnis von
Kants Transzendental- und Moralphilosophie, Berlin und Boston: Walter de Gruyter
2014, S. 655–672.
21
Diesen grundlegenden Unterschied zwischen Kant und Husserl scheint Andrea Alto-
brando in seiner vor Kurzem veröffentlichten Darstellung des Unendlichen bei Husserl
übersehen zu haben. Seine Polemik gegen das Aktual-Unendliche trifft deshalb nicht ins
Ziel, weil er darunter von vornherein eine »thematische Vollständigkeit« oder »thema-
tische Wirklichkeit« (pienezza tematica; pienezza, o attualità tematica) versteht. (Siehe
Andrea Altobrando, Esperienza e Infinito. Contributo per una fenomenologia dell’idea di
infinito a partire da Husserl, Trento: Pubblicazioni di Verifiche 2013, S. 183–205, hier
besonders S. 185 und S. 188.) Diese Auffassung beruht jedoch auf einem Fehlschluss.
Husserl fasst die Idee des Unendlichen zwar als eine Idee adäquater Dinggegebenheit
auf, aber die eigentümliche Einsichtigkeit, die er dieser Idee zuschreibt, betrachtet er
natürlich als eine immer nur inadäquate Evidenz und hält damit von dieser Evidenz jede
Vorstellung einer »thematischen Vollständigkeit« oder »thematischen Wirklichkeit«
fern. Seine Lehre läuft gerade auf die Einsicht hinaus, dass in der Erfahrung die – dem
Ding allerdings von vornherein zugeschriebene – vollständige Wirklichkeit immer nur
auf unvollständige Weise thematisiert werden kann. Der Fehlschluss ergibt sich aus der
Vermengung einer Idee adäquater Dinggebenheit mit einer Idee, in der diese Dinggeben-
heit auf adäquate Weise thematisch wird.
315
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
nicht im Sinn eines rein idealen Seins, wie einer Zahl, einer Spezies,
sondern eine Idee (eine mehrdimensionale) im Kant’schen Sinn, eine
regulative Idee […].« 22 Das Wesen oder das Eidos ist ein allgemeiner
oder abstrakter Gegenstand (eben wie eine Zahl oder eine Spezies); da-
gegen ist die Idee im Kant’schen Sinn, so wie Husserl sie versteht, die
Idee einer Einzelwirklichkeit. 23
4. Das Ding an sich als Idee im Kant’schen Sinn. Auf einen vierten
Aspekt von Husserls Überlegungen verweist die Gleichsetzung des Ein-
zeldinges in seiner Wirklichkeit mit dem, was man in der Tradition seit
Kant als das »Ding an sich selbst« bezeichnet. 24 Husserl fasst das Ding,
so wie es an sich selbst vollständig bestimmt ist, allerdings anders auf
als Kant das Ding an sich. Er versteht darunter ein »Erscheinungskon-
tinuum«, dem, wie er hervorhebt, eine »allseitige Unendlichkeit« zu-
kommt. 25 An die Stelle der Kant’schen Gegenüberstellung von Erschei-
nung und Ding an sich tritt damit bei ihm der Gegensatz endlicher
Dingabschattung und unendlichem Abschattungskontinuum.
5. Die Einsichtigkeit der Idee im Kant’schen Sinn. Als fünfter As-
pekt der phänomenologischen Auffassung vom Ding kann hervorge-
hoben werden, dass Husserl der Idee vom Unendlichen eine Einsichtig-
keit oder, anders gesagt, eine Evidenz zuschreibt. Er sieht zwar deutlich,
dass ein allseitig unendliches Erscheinungskontinuum in der Erfahrung
niemals vollständig gegeben sein kann, aber er hält dennoch daran fest,
dass »die Idee dieses Kontinuums und die Idee der durch dasselbe vor-
gebildeten vollkommenen Gegebenheit einsichtig vor[liegt]«. 26 Nach
Husserl kommt der Idee des Aktual-Unendlichen eine unmittelbare
Evidenz zu, selbst wenn es sich dabei um eine Evidenz handelt, die sich
natürlich niemals auf alle einzelnen Elemente der jeweils in Rede ste-
22
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Husser-
liana, Bd. XXXVI], S. 77.
23
Vgl. Bernet, Conscience et existence, Kap. V, S. 143–168, hier: S. 161: »l’idée d’une
réalité particulière«.
24
Ebd., S. 161: »L’Idée au sens kantien est […] l’idée de la chose-en-soi […].« Vgl. Ru-
dolf Bernet, La vie du sujet, Paris: PUF 1994, S. 130: »La chose-en-soi n’est pas donnée
sous la forme d’un objet réel, mais d’une idée.« Vgl. weiterhin Bernet, Kern und Mar-
bach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, S. 117: »Das Ding-an-sich wird nun
also als eine Idee gefaßt, und zwar als eine regulative Idee […]«; S. 120: »[…] das voll-
bestimmte Ding-an-sich ist […] eine Kantische Idee.«
25
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, III/1], § 143, S. 331.
26 Ebd.
316
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
317
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
27
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 47.
28
Ebd.
29 Bernet, La vie du sujet, S. 99 f.
318
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
319
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
320
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
30
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, III/1], § 143, S. 331.
31
Ebd., § 150, S. 351.
32
Siehe vom Vf., Erfahrung und Ausdruck, Kapitel IV, Abschnitt 2.
33
Edmund Husserl, Ding und Raum [Husserliana, Bd. XVI], hg. von Ulrich Claesges,
Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 114 f. – Vgl. Bernet, »Finitude et téléologie de la
321
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
perception«, in: La vie du sujet, S. 133: »[…] ce qui est gagné en intuitivité par une
apparence est perdu par une autre […].«
34
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], § 150, S. 103.
35
Ebd., S. 104.
36 Ebd., S. 105.
322
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
37
Edmund Husserl, Erste Philosophie, Zweiter Teil [Husserliana, Bd. VIII], S. 50.
38
Ebd.
39
Ebd.
40 Ebd.
323
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
324
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont
dem transzendentalen Ich oder dem Bewusstsein und der Welt fest-
gehalten. Die Sachlage ändert sich jedoch in manchen Forschungstex-
ten, die in dem von Rochus Sowa herausgegebenen Husserliana-Band
über die Lebenswelt veröffentlicht wurden. Wie bereits an früherer
Stelle erwähnt, geht Husserl nunmehr davon aus, dass sich die Erfah-
rung der Welt in jeder Dingerfahrung als unmodalisierbar erweist. Aus
dieser Beobachtung zieht er jetzt einen Schluss, der jeden grundsätzli-
chen Unterschied zwischen dem Sein des Bewusstseins und der Existenz
der Welt aufhebt: »Apodiktisch ist die Gewissheit vom Sein der Welt als
Welt […].« 42 Er setzt sogar hinzu: »Es ist, genau überlegt, für das Ich,
das in dieser Weise Weltbewusstsein hat, schlechthin unmöglich, sich
die Welt als nichtseiend vorzustellen […].« 43 Damit sieht Husserl ein,
dass der Existenz der Welt genauso die ›Notwendigkeit eines Faktums‹
zukommt wie dem Cogito. Die Gewissheit vom Sein der Welt ist eben-
deshalb genauso apodiktisch wie die Gewissheit vom Sein des jeweiligen
Ich. Damit entfällt die Annahme einer seinsmäßigen Abhängigkeit der
Welt vom Bewusstsein. Die Gewissheit vom Sein der Welt erweist sich
als genauso apodiktisch wie die Gewissheit vom Sein des jeweiligen Ich.
Ebendeshalb melden sich jedoch nicht zufällig immer gewisse Ein-
stimmigkeitstendenzen in der Erfahrung. Es handelt sich zwar um blo-
ße Tendenzen, die ihre Natur abrupt ändern oder auch ganz wegbleiben
können. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass sich derartige Einstim-
migkeitstendenzen in der Erfahrung immer wieder geltend machen.
Stets bringen wir an die Erfahrung ›die Zumutung, ihre Dingsetzungen
einstimmig durchzuhalten‹, heran, und auch nicht vergebens bringen
wir diese Zumutung an sie heran. Wir sind überzeugt davon, dass die
Erfahrung uns eine Dingwelt zugänglich machen wird. Diese Überzeu-
gung ist eine unbezweifelbare Gewissheit in uns geworden, eine Ge-
wissheit, die mit ebenso viel Recht ›apodiktisch‹ genannt werden kann
wie unsere Gewissheit vom Sein unseres Ich.
Im Gegensatz zu Kant meint aber Husserl keineswegs, dass wir
diese apodiktisch gewisse Überzeugung etwa aus dem bloßen Selbst-
bewusstsein (der transzendentalen Apperzeption) schöpfen. Er glaubt
nicht, dass sie durch einen Beweis (eine transzendentale Deduktion im
Sinne Kants) erhärtet werden kann. An und für sich könnte es durchaus
42
Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstituti-
on. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) [Husserliana, Bd. XXXIX], S. 256.
43 Ibidem.
325
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
326
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
327
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
sie aber auch der Zwang, die Kategorien als Formen des reinen Denkens
von den Formen der reinen Anschauung zu unterscheiden.
Für die Phänomenologie sind Raum und Zeit ebendeshalb Erfah-
rungskategorien unter anderen Erfahrungskategorien. Merkwürdiger-
weise nennt Husserl die raumzeitliche Unendlichkeit ebenfalls unter
den Kategorien lebensweltlicher Erfahrung. Allerdings lassen diese Er-
fahrungskategorien für sich allein das Ding in der Welt noch unterbe-
stimmt. Einem raumzeitlichen Gebilde in der Unendlichkeit der Welt
fehlt noch das eigentlich Dinghafte. Das Fehlende ist wohl vor allem
die Stofflichkeit, die Materialität, die Sinnlichkeit oder – wie Deleuzia-
ner sagen würden – die Intensität, mit einem Wort das, was das Ding zu
einem Korrelat leiblicher Erfahrung macht. Im Folgenden soll dafür der
Terminus ›Leibhaftigkeit‹ verwendet werden.
Zusammen mit der Leibhaftigkeit bilden Räumlichkeit, Zeitlich-
keit, raumzeitliche Endlichkeit und raumzeitliche Unendlichkeit ein ka-
tegoriales Netzwerk, dem wir die Bestimmung eines Dinges als das Er-
scheinende in seinem Erscheinen zu verdanken haben. Daher können
Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Endlichkeit, Unendlichkeit und Leibhaftig-
keit unter dem Namen ›Erscheinungskategorien‹ von anderen Er-
fahrungskategorien abgehoben werden. Ohne die Leibhaftigkeit be-
stimmen die übrigen Erscheinungskategorien das Ding allerdings nur
so, dass es von einem bloßen »Schema« oder »Phantom« – einem
Dingphantom oder einem Phantomding – noch gar nicht unterschieden
werden kann. 45
Eine vollständige Aufzählung der Erscheinungskategorien streben
wir damit nicht an. Das kategoriale Netzwerk der Erscheinungskatego-
rien kann selbstverständlich ohne Weiteres verfeinert werden. Es kann
zum Beispiel die raumzeitliche Größe oder die qualitative Beschaffen-
heit des Erscheinenden in seinem Erscheinen zum Gegenstand eigen-
ständiger Analyse gemacht werden. Derartige Verfeinerungsmöglich-
keiten eines kategorialen Netzwerks können in einer ausführlicheren
Kategorialanalyse von Ding und Welt sinnvoll ergriffen werden. Hier
kommt es aber auf solche Verfeinerungen zunächst nicht an. Es geht im
Folgenden nur darum, die Gruppe der Erscheinungskategorien von
einer anderen Gruppe der Erfahrungskategorien pauschal zu unter-
45
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], hg. von Marly Biemel, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1952, S. 36–41.
328
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
46
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 178.
47
Ebd., A 179.
48
Ebd., B 202.
49 Ebd., A 658 f.
329
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
50 Siehe Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte
330
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
malen Theorie des Etwas überhaupt, also von einer bestimmten ›Tino-
logie‹ zu sprechen.
Von Metakategorien wird im Folgenden nicht thematisch die Rede
sein. Hier begnügen wir uns mit einigen Bemerkungen zu den Erfah-
rungskategorien. Es soll dabei einerseits am Beispiel von Raum und
Zeit, andererseits am Beispiel von Kausalität und Handlungsteleologie
deutlich gemacht werden, in welchem Sinne die Erfahrungskategorien
Einstimmigkeitstendenzen ausdrücken.
Kant hat mit Nachdruck betont, dass es nur einen Raum und eine Zeit
gibt. Wie es an einer klassisch gewordenen Stelle der Transzendentalen
Ästhetik heißt, »kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und
wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile
desselben alleinigen Raumes.« 51 Kant setzt hinzu: »Die Teile können
auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen
Bestandteile, (daraus seine Zusammensetzung möglich sei), vorher-
gehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das
Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen
überhaupt beruht lediglich auf Einschränkungen.« 52 In Bezug auf die
Zeit entspricht diesen Hinweisen nur ein einziger Satz: »Verschiedene
Zeiten sind nur Teile ebenderselben Zeit.« 53 Allerdings wird noch her-
vorgehoben, dass »alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschrän-
kungen einer einigen zugrunde liegenden Zeit möglich sei«. 54
Für Kant sind die zuletzt angeführten Züge Indizien dafür, dass die
Zeit – ähnlich wie der Raum – keine diskursive Vorstellung, kein all-
gemeiner Begriff, sondern »eine reine Form der sinnlichen Anschau-
ung« ist, 55 die allerdings auch zum Gegenstand einer »formalen An-
schauung« gemacht werden kann. 56 In der Kritik der reinen Vernunft
folgt daraus bereits die Doppelthese von der »empirischen Realität« und
51
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 25.
52 Ebd.
53
Ebd., A 31 f.
54
Ebd., A 32.
55
Ebd., A 31.
56 Ebd., B 160, Anm.
331
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
57
Ebd., besonders A 27 f. und 35 f.
58
Ebd., A 26.
59 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 126.
332
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
mit meiner oder einer gleichen Originalsphäre, darunter mit den räum-
lichen Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind,
sondern, näher besehen, mit solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit
haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre.« 60 Ich erfahre also
das andere Ich, »wie wenn ich dort wäre«, 61 »wie wenn ich dort anstelle
des fremden Leibkörpers stünde«. 62
Den Worten »wie wenn …« haftet hier, wie wir von Klaus Held
seit Langem wissen, eine unabstreifbare Zweideutigkeit an. 63 Sie drü-
cken eine Möglichkeit, eine Potentialität, also ein Wenn aus, da ich mich
tatsächlich dorthin begeben kann, wo sich in diesem Augenblick das
andere Ich aufhält. Sie drücken aber auch eine Unmöglichkeit, eine Ir-
realität, mithin ein bloßes Als-ob, aus, da gerade das Mitdasein – die
Koexistenz – des Anderen mein gleichzeitiges Dortsein grundsätzlich
ausschließt. Aus dieser Irrealität folgt, dass meine Raumerfahrung mit
der Raumerfahrung des Anderen niemals zusammenfallen kann. Der
Raum ist genauso perspektivisch gegeben wie das Erscheinende im
Raum. Deshalb kann der eine einige Raum, von dem Kant spricht, phä-
nomenologisch betrachtet nur eine Einstimmigkeitstendenz verschiede-
ner Raumerfahrungen ausdrücken. Aber die Irrealität gehört hier mit
der Potentialität zusammen. Aus der Potentialität folgt jedoch, dass ich
die Raumerfahrung des Anderen als ein »Modifikat« 64 meiner eigenen
Raumerfahrung verstehen kann. Demnach drückt der eine einige Raum
eine Einstimmigkeitstendenz aus, die nicht einfach als empirische Tat-
sache festgestellt wird, sondern als Erwartung von vornherein ein un-
abdingbarer Bestandteil aller Raumerfahrung ist.
Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine Einstimmigkeitsten-
denz, der eine faktische Notwendigkeit, die Notwendigkeit eines Fak-
tums, zukommt. Das ist gerade die Notwendigkeit, die in einer phäno-
menologischen Metaphysik zufälliger Faktizität an die Stelle der
60
Ebd., S. 120.
61
Ebd., S. 122.
62
Ebd., S. 126.
63
K. Held, »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen
Transzendentalphilosophie«. In: Ulrich Claesges und Klaus Held (Hg.), Perspektiven
transzendentalphänomenologischer Forschung, Den Haag: Martinus Nijhoff 1972,
S. 3–60, hier: S. 35: »Das ›wie wenn‹ ist die doppeldeutige Verquickung eines die Irreali-
tät anzeigenden ›wie‹ (im Sinne von ›als ob‹) mit einem ›wenn‹ von temporaler Bedeu-
tung.«
64 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 119: »mein Modifikat, anderes Ich«.
333
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
334
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
65
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Erster Teil: 1905–1920
[Husserliana, Bd. XIII], hg. von Iso Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 189.
66
Ebd., S. 190.
67
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935 [Hus-
serliana, Bd. XV], S. 191.
68 Ebd., S. 74.
335
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
69
Ebd., S. 340.
70
Ebd., S. 334.
71 Heidegger, Sein und Zeit, S. 377.
72
Ebd., S. 371.
73
Ebd., S. 419.
74
Ebd.
75 Ebd., S. 334.
336
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
Wir fassen die Kausalität als Horizontskategorie auf, die den Fortgang
von einer Erscheinung zur anderen in der Erfahrung vorzeichnet. Von
anderen Vorzeichnungsstrukturen unterscheidet sie sich dadurch, dass
ihr eine faktische Notwendigkeit, eine Notwendigkeit des Faktums, zu-
kommt.
Bei der Kausalität taucht mit vollem Recht die Frage auf, ob sich ihr
Anwendungsbereich nicht etwa auf alle möglichen Erscheinungen er-
streckt. Können wir behaupten, dass alles, was uns erscheint, eine Ur-
sache hat? Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir genauer beden-
ken, was mit Kausalität gemeint ist.
76 Ebd., S. 422.
337
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
77
Hermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin: Weid-
mannsche Buchhandlung 1956, Bd. I, S. 162: αἰὼν παῖϚ ἐστι παίζων, πεσσεύων· παι-
δὸϚ ἡ βασιληίη. (»Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine
setzt: Knabenregiment.«)
78
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 53–73. Heidegger zitiert
und analysiert aus dem Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius das Gedicht
338
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
»Ohne Warum« (Erstes Buch, Nr. 289): »Die Ros’ ist ohne Warum; sie blühet, weil sie
blühet, / Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.«
79
Ebd., S. 169.
80 Ebd.
81
Ebd., S. 161.
82
Ebd.
83
Ebd., S. 149.
84 Ebd., S. 155.
339
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
85
Ebd., S. 156.
86
Ebd., S. 155.
87
Ebd., S. 42.
88
Ebd., S. 31.
89 Ebd.
90
Ebd., S. 51.
91
Ebd., S. 30.
92
Ebd., S. 22; vgl. S. 51 und 151.
93 Ebd., S. 22.
340
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
Rolle der Axiome darin aufgeht, daß sie als Annahmen und Festsetzun-
gen den Aufbau eines widerspruchsfreien Systems von Sätzen sicher-
stellen. Der axiomatische Charakter der Axiome besteht ausschließlich
in dieser Rolle der Ausschaltung von Widersprüchen und der Sicherung
gegen sie.« 94
Heidegger, der sich in den Jahren 1911 und 1912 dem Studium der
Mathematik an der Freiburger Universität widmete, 95 hat hier wohl den
Entwicklungsgang der exakten Wissenschaften am Ende des 19. Jahr-
hunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Auge.
Neben der Herausbildung der – von ihm nur als ›Logistik‹ bezeichneten
– symbolischen Logik durch Gottlob Frege, Bertrand Russell, Alfred
North Whitehead und andere meint er vermutlich vor allem die Axio-
matisierung der von Georg Cantor entwickelten Mengenlehre durch
Ernst Zermelo und Adolf (oder Abraham) Fraenkel. Denn nach der Ent-
deckung der mengentheorischen Antinomien kommt den von Zermelo
und Fraenkel formulierten Axiomen die ›Rolle der Ausschaltung von
Widerspüchen und der Sicherung gegen sie‹ am offenkundigsten zu.
Wohl denkt Heidegger jedoch auch allgemeiner an das von David Hil-
bert und seinen Mitarbeitern entworfene Programm der Axiomatisie-
rung der Disziplinen exakter Forschung.
Denkt man über Heideggers Feststellungen nach, so darf man
nicht unbeachtet lassen, dass der Zweck des von David Hilbert ent-
wickelten Formalismus in der mathematischen Grundlagenforschung
keineswegs überhaupt die »axiomatische Sicherung des rechnenden
Denkens« war, sondern, spezifischer, die axiomatische Sicherung der
spekulativsten mathematischen Theorie aller Zeiten, nämlich der Can-
tor’schen Lehre vom Transfiniten. Oft wird folgender Ausspruch von
Hilbert zitiert: »Niemand kann uns aus dem Paradies verbannen, das
Cantor uns geschaffen hat.« 96
Es fällt hier weiterhin auf, dass die Bedeutung der von Kurt Gödel
im Jahre 1931 aufgestellten und bewiesenen Sätze über Vollständigkeit
94
Ebd., S. 30.
95
Martin Heidegger, »Lebenslauf (Zur Habilitation 1915)«, in: Reden und andere Zeug-
nisse eines Lebenswegs (1910–1976) [Gesamtausgabe, Bd. 16], hg. von Hermann Hei-
degger, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, S. 38.
96
David Hilbert, »On the Infinite« (1925), in: Jean van Heijenoort, From Frege to Gödel,
Cambridge [Mass.] und London: Harvard University Press 1967, S. 367–392, hier:
S. 376.
341
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
97
Siehe Kurt Gödel, »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und
verwandter Systeme I«, Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173–198.
98
Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, S. 253.
99
Die Rede von »mechanischen Regeln« der Ableitung (siehe Gödel, »Über formal un-
entscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, S. 173) wird
im Aufsatz durch die Einführung des Begriffs (primitiv) rekursiver Funktionen präzisiert
(siehe ebd., S. 190). In einer Anmerkung zur autorisierten englischen Übersetzung seines
zitierten Artikels schreibt Gödel: »[The] characteristic property [of ›formal systems‹] is
that reasoning in them, in principle, can be completely replaced by mechanical devices.«
Ein Hinweis von Gödel auf das Werk von Alan M. Turing lässt keinen Zweifel darüber
aufkommen, dass es sich dabei um mechanische Verfahrensweisen handelt, die in ein
Programm »elektronischer Denk- und Rechenmaschinen« integriert werden können.
(Siehe Kurt Gödel, »On Formally Undecidable Propositions of Principia Mathematica
and Related Systems I«, in: van Heijenoort, From Frege to Gödel, S. 596–616, hier:
S. 616.)
342
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
nicht ein für alle Mal, aber er engt den mit ihm verbundenen Erwar-
tungsraum drastisch ein und löst daher eine gewisse Neuorientierung
der mathematischen Grundlagenforschung in den nachfolgenden Jahr-
zehnten aus. Es stellt sich deutlich heraus, dass die Arbeit des Mathe-
matikers sich durch die Leistung ›elektronischer Denk- und Rechen-
maschinen‹ zwar erleichtern, aber grundsätzlich niemals ersetzen lässt.
Es wird klar, dass die Mathematik nicht auf mechanisch anwendbare
Techniken reduziert werden kann. Sie bleibt vielmehr schöpferisch.
Damit wird dem kritischen Einwand, der von Heidegger gegen die
Wissenschaft erhoben wurde, sie denke nicht, 100 bis zu einem gewissen
Grad der Boden entzogen. Natürlich hängt alles davon ab, wie man
diesen berühmten Satz von Heidegger genau versteht. Gewiss wird er
nicht in jeder möglichen Interpretation hinfällig. Aber seine unmittel-
bare Plausibilität büßt er ein. Es ist bemerkenswert, dass der von Sartre
hochgeschätzte Leuvener Philosoph Jean Ladrière nahezu gleichzeitig
mit Heideggers Vorlesung ein umfachreiches Buch über die philosophi-
sche Bedeutung der Gödel-Sätze und verwandter Theoreme schreibt, in
dem er ausdrücklich behauptet: »Es gibt mehr im [mathematischen]
Denken, als das, was sich in die exakten Grenzen des Kalküls einschlie-
ßen lässt.« 101
Deshalb kann aber Heideggers Kritik an der ratio und dem Ratio-
nalismus keineswegs ohne Vorbehalt hingenommen werden. Auch der
rationalistisch angelegte Satz vom Grund darf nicht pauschal verworfen
werden. Das ist gewiss auch nicht die Absicht von Heidegger. Aber der
Vorlesungstext Der Satz vom Grund zeigt nicht einmal, wie sich etwa
ein Ursachenbegriff mit der Einsicht in die Grundlosigkeit des Welt-
spiels überhaupt in Einklang bringen lässt. Dafür ist die Trennung der
kausalen Abhängigkeitsrelation vom logischen Ableitungszusammen-
hang wohl eine unerläßliche Bedingung. Insofern ist der Richtungssinn
der zunächst von Hegel und dann von Heidegger vorgebrachten Kritik
am Leibniz’schen Satz vom zureichenden Grunde gewiss zu billigen.
Der Anspruch auf eine totale Rationalisierung des Kausalitätsverhält-
100
Martin Heidegger, Was heißt Denken? [Gesamtausgabe, Bd. 8], hg. von Paola-Ludo-
vika Coriando, Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 9. Vgl. auch Martin Heidegger,
Vorträge und Aufsätze [Gesamtausgabe, Bd. 7], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herr-
mann, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, S. 60–62.
101
Jean Ladrière, Les limitations internes des formalismes. Étude sur la signification du
théorème de Gödel et des théorèmes apparentés dans la théorie des fondements des
mathématiques, Louvain: Nauwelaerts und Paris: Gauthier-Villars 1957, S. 413.
343
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
102
Vgl. Michael Tooley, »Causation and Supervenience«, in: Michael J. Loux und
Dean W. Zimmerman (Hg.), The Oxford Handbook of Metaphysics, Oxford: Oxford
University Press 2003, S. 386–434; Michael J. Loux, Metaphysics. A Contemporary In-
troduction, New York und London: Routledge 32006 (11998), S. 187–204; E. J. Lowe, A
Survey of Metaphysics, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 137–232. Siehe auch
folgende Textsammlung: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, Oxford: Ox-
ford University Press 1993.
344
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
103
David Hume, A Treatise of Human Nature, London: Penguin 1984 (erste Auflage:
1739 und 1740), Erstes Buch, Teil III, Kap. 6, S. 141 f.; dt. Traktat über die menshcliche
Natur, übersetzt von Th. Lipps, hg. von R. Brandt, 2 Bände, Hamburg: Meiner 1989,
Bd. I, S. 123.
345
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
346
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
am meisten gefährdeten Viertel der Stadt (vor allem das ninth ward)
verheerte. Dabei können wir die Naturgesetze, die bei einer derartigen
Katastrophe eine Rolle spielten, in den meisten Fällen gar nicht genau
angeben. Es ist aber noch wichtiger, dass wir in den lebensweltlichen
Kausalerklärungen einzelne Begebenheiten miteinander verbinden, die
als solche durch kein covering law miteinander verbunden werden kön-
nen. Es gibt kein wissenschaftliches Gesetz, das einen Wirbelsturm un-
mittelbar mit einem Stadviertel verbindet. Das ändert aber nichts daran,
dass unsere Erklärung der Zerstörung von New Orleans durch den Hin-
weis auf den Wirbelsturm Katrina in sich selbst stichhaltig und keines-
wegs etwa ergänzungsbedürftig ist.
Diese Zusammenhänge wurden in den 1960er Jahren auch von
analytischen Philosophen erkannt. Besonders ausgereifte Ausführun-
gen findet man zu diesem Thema bei Donald Davidson, der – im An-
schluss an ältere Untersuchungen von Curt John Ducasse 104 – hervor-
hebt, dass »singuläre Kausalaussagen kein Gesetz implizieren« und dass
wir sogar »imstande sind zu wissen, daß sie wahr sind, ohne ein rele-
vantes Gesetz zu kennen«. 105 Er bemerkt ebenfalls, dass wir das Ereig-
nis, dessen Erklärung wir von Anderen fordern, oft in Begriffen be-
schreiben, »die unter kein vollständig entwickeltes Gesetz fallen«. 106
Diese Bemerkung bezieht sich auf Fälle wie den des in unserem Beispiel
erwähnten Kausalzusammenhangs zwischen einem Wirbelsturm und
einem Stadtviertel. Allerdings setzt Davidson hinzu, dass wir eine sin-
guläre Kausalaussage oft deshalb akzeptieren, weil »wir Grund zur An-
nahme haben, daß ein allgemeines Gesetz existiert, obwohl wir nicht
wissen, wie es lautet«. 107
Mehrere Denker haben es sich zur Aufgabe gemacht, Humes re-
duktive Analyse des Vorgangs von Verursachung weiterzuführen, ohne
sich dabei unmittelbar auf ein allgemeines Gesetz oder eine gesetzes-
artige Regelmäßigkeit zu berufen. In seinem Aufsatz über »Causes and
Conditionals« aus dem Jahre 1965 hat John L. Mackie versucht, den
104
Siehe besonders Curt John Ducasse, »On the Nature and the Observability of the
Causal Relation«, in: The Journal of Philosophy 23 (1926), S. 57–68, wieder abgedruckt
in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 125–136.
105 Donald Davidson, Essays on Actions and Events, Oxford: Clarendon Press 22001
(11980), S. 160; dt. Donald Davidson, Handlung und Ereignis, übersetzt von Joachim
Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 229.
106
Ebd., S. 159, dt. S. 228.
107 Ebd., S. 160; dt. S. 228 f.
347
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
108 Siehe John Leslie Mackie, »Causes and Conditionals«, in: American Philosophical
Quarterly 2 (1965), S. 245–264; unter Weglassung der Abschnitte 5–7 wieder abge-
druckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 33–55.
109
David Kellog Lewis, »Causation«, in: Journal of Philosophy 70 (1973), S. 556–567;
wieder abgedruckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 193–204.
348
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
110
David Hume, Enquiries concerning the Human Understanding and concerning the
Principles of Morals, reprinted from the 1777 edition and edited by L. A. Selby-Bigge,
Oxford: Clarendon Press 1972, S. 76; dt. Eine Untersuchung über den menschlichen
Verstand, übersetzt von Raoul Richter, hg. von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2007, S. 92 f.
111
Saul A. Kripke, »Semantical Considerations on Modal Logic«, in: Acta Philosophica
Fennica 16 (1963), S. 83–94, wieder abgedruckt in: Leonard Linsky, Reference and Mo-
dality, Oxford: Oxford University Press 1971, S. 63–72. Vgl. Jaakko Hintikka, »Modality
and Quantification«, in: Theoria 27 (1961), S. 119–128.
112
Robert C. Stalnaker, »Theory of Conditionals«, in: Nicolas Rescher (Hg.), Studies in
Logical Theory, Oxford: Basil Blackwell 1968, S. 98–112.
113 Lewis, Counterfactuals, Oxford: Basil Blackwell 42005 (11973), S. 50.
349
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
114
David Kellog Lewis, »Causation«, in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causa-
tion, S. 197.
350
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
115
David Kellog Lewis, On the Plurality of Worlds, Oxford: Basil Blackwell 22001
(11986).
351
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
352
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
353
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
354
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
116
Siehe die kritischen Schriften dieser Autoren in: Ernest Sosa und Michael Tooley
(Hg.), Causation, S. 205–233.
117
Jaegwon Kim, »Causes and Counterfactuals«, in: Journal of Philosophy 70 (1973),
S. 570–572; wieder abgedruckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation,
S. 205–207.
118 Michael Tooley, »Causation: Reductionism versus Realism«, in: Philosophy and Phe-
355
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
nomenological Research, 50, Supplement (Fall 1990), S. 215–236; wieder abgedruckt in:
Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 172–192.
119 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 192.
356
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
le unterhalb folgt auf die Wahrnehmung der Stelle oberhalb dem Laufe
des Flusses, und es ist unmöglich, daß in der Apprehension dieser Er-
scheinung das Schiff zuerst unterhalb, nachher aber oberhalb des
Stroms wahrgenommen werden sollte.« 120 Hier verläuft die Synthesis
der Apprehension nicht frei und in beliebiger Richtung, sondern auf
eine gebundene Weise. Sie zeigt eine merkwürdige Unumkehrbarkeit.
Diese Irreversibilität der Apprehension bringt eine Einstimmigkeit in
die Erfahrung der Geschehnisse, weil die »Nötigung«, 121 der das Stre-
ben nach beliebigen Auffassungswegen weichen muss, dazu angelegt
ist, »die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig
zu machen«. 122
Kant deutet hier eine Einstimmigkeitsansicht der Kausalität an, die
er allerdings von vornherein mit einem regelmäßigkeitstheoretischen
Ansatz verbindet. Dieser Ansatz verlangt danach, die Notwendigkeit in
der Verbindung der Vorstellungen auf eine Regel zurückzuführen, nach
der das, was gerade geschieht, auf etwas Vorhergehendes folgt. »Wenn
wir also erfahren« – so Kant –, »daß irgend etwas geschieht, so setzen
wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach
einer Regel folgt.« 123 Mit Regeln der Kausalität sind empirische Natur-
gesetze gemeint. Kant verschreibt sich damit einer nomologischen Kau-
salitätsauffassung. Wir haben jedoch bereits gesehen, dass eine derartige
Auffassung zu kurz greift: Das Verhältnis zwischen Ursache und Wir-
kung kann sehr wohl zwischen einzelnen Ereignissen bestehen, die sich
durch keine Regel im Sinne eines Naturgesetzes miteinander unmittel-
bar verbinden lassen. Das ist sogar der Typ der Kausalität, der in der
Lebenswelt – im Gegensatz zu den Wissenschaften – vorherrschend ist.
Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus, die sich vornehmlich
auf die lebensweltliche Erfahrung stützt, erweist sich der regelmäßig-
keitstheoretische Ansatz ebendeshalb als revisionsbedürftig. Die Ein-
stimmigkeitsansicht der Kausalität, die Kant allerdings eben nur andeu-
tet, ist dagegen durchaus geeignet, in einer phänomenologischen
Analyse des Verhältnisses von Ursache und Wirkung aufgegriffen und
weitergeführt zu werden. Was ist jedoch überhaupt mit einer Einstim-
migkeit in der Erfahrung kausaler Vorgänge gemeint?
120
Ebd.
121
Ebd., A 196 f.
122
Ebd., A 197.
123 Ebd., A 195.
357
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
124
Ebd., A 194.
125
Ebd., A 202.
126 Ebd., A 156.
358
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
127
Vgl. vom Vf. Erfahrung und Ausdruck, S. 22.
128
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe,
Bd. V], Berlin: G. Reimer 1913, S. 165–486, hier: S. 212 und S. 214.
359
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
360
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
129
Immanuel Kant, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften,
Akademie-Ausgabe, Bd. XX], Berlin: Walter de Gruyter 1942, S. 214.
130 Ebd., S. 249.
361
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
wird im endgültigen Text der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft be-
hoben. Der Preis dieser Eindeutigkeit ist aber, dass dem nicht nur vom
ästhetischen, sondern auch vom teleologischen Gebrauch unterschiede-
nen logischen Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft nicht mehr das
gleiche Gewicht zukommt wie in der ersten Textfassung.
Die Aufgabe, der Möglichkeit begrifflich bestimmten Erfahrungs-
denkens nachzuforschen, schließt in der Ersten Einleitung zur Kritik der
Urteilskraft die Frage in sich, ob »die Natur zu jedem Objekte noch viele
andere als Gegenstände der Vergleichung, die mit ihm in der Form
Manches gemein haben, aufzuzeigen habe« und ob »das Mannigfaltige,
in Gattungen und Arten eingeteilt, es möglich macht, alle vorkommen-
de Naturformen durch Vergleichung auf Begriffe (von mehrerer oder
minderer Allgemeinheit) zu bringen«, 131 also, mit einem Wort, ob »sich
zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen«. 132
Gleichzeitig zieht Kant aus der Entwicklung der neuzeitlichen Natur-
wissenschaft die Lehre, dass sich die Frage nach empirischen Begriffen
nicht von der Frage nach empirischen Gesetzen trennen lässt. Wir kön-
nen den Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empi-
rischen Gesetzen an einem Beispiel verdeutlichen. 133 Haben wir einen
Begriff mechanischer Bewegung, der sich ebenso sehr auf die Himmels-
körper wie auf irdische Phänomene anwenden lässt, so deshalb, weil das
Newton’sche Gravitationsgesetz die Kepler’schen Gesetze planetari-
scher Bewegungen mit dem Galilei’schen Gesetz des freien Falles unter
irdischen Bedingungen vereinigt. Kant lässt sich durch dieses und ähn-
liche Beispiele einer Vereinigung scheinbar völlig verschieden gearteter
Naturgesetze zu der Annahme hinführen, es sei »eine subjektiv not-
wendige transzendentale Voraussetzung«, dass die Natur »sich, durch
die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfah-
rung als einem empirischen System qualifiziere«. 134 Diese Annahme
eines »Systems nach empirischen Gesetzen« 135 bezeichnet Kant als das
131
Ebd., S. 211 f., Anm.
132
Ebd., S. 211.
133
Siehe dazu vom Vf., »Erfahrung und Ausdruck bei Kant«, in: Heinrich Hüni und
Peter Trawny (Hg.), Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin: Dun-
cker & Humblot 2002, S. 609–622, hier S. 616 f.
134
Kant, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. XX], S. 209.
135 Ebd., S. 203.
362
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
136
Ebd., S. 209.
137 Ebd., S. 205.
363
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
364
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
141
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 230.
142 Ducasse, »On the Nature and the Observability of the Causal Relation«, in: Ernest
365
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
Kant fasst die Freiheit des Willens als eine Kausalität eigener Art auf,
die sich von aller Naturkausalität unterscheidet. Er versteht den Willen
als eine Ursache, die – im Gegensatz zu den Naturursachen – »von
selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache voran-
geschickt werden dürfe«, 144 die also das Vermögen hat, »eine Reihe von
Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« 145 und damit eine Kausal-
kette in der Welt »von sich aus« – sponte sua – zu initiieren. Deshalb
bezeichnet er die »Kausalität aus Freiheit« auch als »Spontaneität«. 146
Mit dieser Idee des »Selbstanfangenkönnens« verbindet sich bei
Kant die feste Überzeugung, dass die Freiheit des Willens nur dann
möglich ist, wenn sie der Naturkausalität nicht in die Quere kommt.
Nach dieser – »kompatibilistisch« zu nennenden – Ansicht ist jede
menschliche Handlung zweifach determiniert: einerseits durch die Na-
tur, andererseits durch die Freiheit oder, näher betrachtet, einerseits
durch »sinnliche Antriebe« 147 (die jeweiligen »Neigungen«, diese »ha-
bituellen Begierden« 148), andererseits durch den vernunftgeleiteten
Willen. Die beiden Determinationslinien überschneiden sich nicht, son-
dern laufen parallel zueinander. Die These einer derartigen Parallelität
zwischen Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität kann jedoch nur
dann aufrechterhalten werden, wenn man die Freiheit als eine »intelli-
gible Ursache« 149 auffasst und mit ihr zugleich eine »intelligible Na-
tur« 150 voraussetzt (oder zumindest als »Postulat« fordert). Darauf ver-
weist in der Kritik der reinen Vernunft der berühmte Satz: »Denn sind
Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.« 151
Vor dieser Konsequenz weicht Kant nicht zurück, weil er davon aus-
geht, dass der Mensch sich von vornherein als »zu beiden Welten ge-
hörig« 152 betrachtet.
144
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 533.
145
Ebd., A 534.
146
Ebd., A 533.
147
Ebd., A 534.
148
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe,
Bd. VI], Berlin: Georg Reimer 1907, S. 203–493], hier: S. 212.
149 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 537.
150
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. V], Berlin: G. Reimer 1913, S. 48.
151
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 536.
152 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 87.
366
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
153
Zur folgenden Darstellung dieser Grundzüge siehe vom Vf. »Action and Selfhood. A
Narrative Interpretation«, in: Dan Zahavi (Hg.), The Oxford Handbook of Phenomeno-
logy, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 265–286; »Narratives Handlungsver-
ständnis«, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin:
Akademie-Verlag 2007, S. 61–73; und besonders »Betrachtungen über die Handlungs-
freiheit und die Selbstheit des Handelnden«, in: M. Pfeifer et S. Rapic (Hg.), Das Selbst
und sein Anderes. Festschrift für Klaus Erich Kaehler, Freiburg und München: Alber
2009, S. 245–258.
154 Siehe dazu vom Vf. die französischsprachige Aufsatzsammlung L’expérience de la
367
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
368
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
Mal feststeht, sondern sich ändert, bleibt er auch nicht derselbe, der er
ursprünglich war. Durch seinen Racheakt wird Oidipus zugleich Vater-
mörder. Der Handelnde macht eine Erfahrung mit seiner Handlung,
indem ihm die ungewollten Konsequenzen seiner Handlung widerfah-
ren. Die Handlung lässt sich schon deshalb nicht einfach als ein ge-
wöhnliches Ereignis unter anderen Ereignissen der Welt auffassen, weil
sie sich zugleich einem Erfahrungszusammenhang einfügt, der sie auf
den Handelnden zurückbezieht.
Der Handelnde handelt, er tut seine Tat, aber die unbeabsichtigten
Folgen seiner Handlung widerfahren ihm und werden von ihm erlitten.
Da diese Folgen auf den Sinn seiner ursprünglichen Handlung mit-
bestimmend einwirken, erleidet er in gewissem Sinne sogar seine eige-
ne Tat. Das Handeln ist infolgedessen ebenso sehr Erleiden wie Tun;
ebenso sehr passio wie actio.
Damit sind einige Grundzüge des Handelns zusammengefasst, die
den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt werden sollen. Es ist
nicht schwer zu sehen, dass sich aus diesen Zügen manche Schlüsse
ergeben, die ein Licht auf die Freiheit des Handelnden werfen.
159
Siehe Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der
neuesten Experiemente, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.
369
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
160
Eliezer J. Sternberg, My Brain Made Me Do It. The Rise of Neuroscience and the
Threat of Moral Responsibility, Amherst, N. Y.: Prometheus Books 2010, S. 84.
161 Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 150.
370
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
371
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
168
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
[Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12],
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 43.
372
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
373
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
1929 erschienen ist, geht der Zusammenhang zwischen Hegels Auffassung von der Te-
leologie und Hartmanns Freiheitsbegriff deutlich hervor: »In der Lehre von der ›List der
Vernunft‹ spricht sich ein grundlegendes Seinsgesetz aus, welches man als Gesetz der
Überlegenheit oder ›Freiheit‹ jedes höheren Gebildes gegen das niedere bezeichnen
kann.« (Nicolai Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin: Walter
de Gruyter 21960 [11923–1929], S. 474).
174
Hartmann, Ethik, S. 602.
175
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 212.
176
Hartmann, Ethik, S. 609.
177 Ebd., S. 601.
374
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
178
Ebd., S. 591.
179 Spinoza, Die Ethik, Erster Teil, Anhang, S. 99.
375
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
liche Trieb selbst […]«. 180 Damit wird die Zweckursache (causa finalis)
nicht nur, wie schon bei Descartes, von der Naturforschung aus-
geschlossen, sondern auch im Falle menschlichen Handelns auf eine
wirkende Naturursache (nämlich auf den – von der durch Bewusstsein
begleiteten Begierde unterschiedenen 181 – Trieb) reduziert. Dieser re-
duktiven Tendenz tritt Kant entgegen, indem er die Heterogenität der
beiden Determinationstypen durch einen Hinweis auf den Unterschied
von Sein und Sollen zu begründen sucht.
Es heißt in der Kritik der reinen Vernunft: »Das Sollen drückt eine
Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der
ganzen Natur sonst nicht vorkommt.« 182 Nach dem Zeugnis dieser
Textstelle erkennt Kant im Sollen in der Tat den Träger einer besonde-
ren »Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit den Gründen« und
damit eines von der Naturkausalität verschiedenen, ihr ungleichartigen,
ihr gegenüber heterogenen Determinationstyps. Wir müssen deutlich
sehen, dass er mit Sollensdetermination nicht allein die Bestimmung
der Handlung durch moralische Pflichtvorstellungen meint. In der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sagt er ja ausdrücklich: »Alle
Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt […].« 183 Dieser Satz
bezieht sich ebenso auf die »hypothetischen« Imperative wie auf den
»kategorischen« Imperativ; 184 er betrifft also gleichermaßen die »Re-
geln der Geschicklichkeit«, die »Rathschläge der Klugheit« und die
»Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit«. 185 Er umfasst also alle Arten der
Handlungsteleologie, die Kant voneinander unterscheidet.
Heute sehen wir allerdings deutlich, zu welchen Schwierigkeiten
dieser Sollensbegriff in der Verhältnisbestimmung von Freiheit und
Naturkausalität führt. Nach Kant nimmt die Notwendigkeit und Ver-
knüpfung mit Gründen bei einem endlichen Wesen wie dem Menschen,
bei dem »die Handlungen, die objektiv als nothwendig erkannt werden,
subjektiv zufällig« sind, 186 zwangsläufig die Gestalt einer bloßen »Nö-
180
Ebd., Vierter Teil, Vorwort, S. 439.
181
Ebd., Dritter Teil, Lehrsatz 9, Anmerkung: »Die Begierde [cupiditas] ist ein Trieb
[appetitus] mit dem Bewußtsein desselben.«
182
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 547.
183 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften, Akademie-
376
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
thigung« an, die der vernunftgeleitete Wille auf die Sinnlichkeit des
Handelnden ausübt. 187 Damit ist ein Grundansatz bestimmt, der zur
Folge hat, dass der Mensch von vornherein in ein Kontrastverhältnis
mit einem Wesen gebracht wird, bei dem »die Vernunft den Willen
unausbleiblich bestimmt«. 188 Im Ausgang von dieser vollkommen ver-
nunftgemäßen Willensbestimmung kann aber die Freiheit des end-
lichen vernünftigen Wesens »Mensch« nur noch auf privative Weise
bestimmt werden. Es entsteht der Eindruck, als mache sich die Sollens-
determination bei einem reinen Vernunftwesen – genauso wie die Na-
turkausalität – als ein streng gesetzmäßiger Ablauf geltend, nur dass sie
bei dem Menschen auf den Widerstand sinnlicher Antriebe stoße und
deshalb die abgeschwächte Wirkungsform einer bloßen Nötigung an-
nehme.
Aus dieser privativen Zugangsweise erwächst eine Lehre von der
Sollensnötigung, die nur die Freiheit im Sinne einer Selbstgesetz-
gebung der allgemeinen Vernunft, nicht aber die persönliche Freiheit
des Einzelmenschen zu erfassen und zu begründen vermag. Eine wei-
tere Konsequenz des privativen Verfahrens ergibt sich daraus, dass der
Wille bei einem reinen Vernunftwesen »ein Vermögen [ist], nur dasje-
nige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als
praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt.« 189 Ist nun der Mensch nur
in dem Maße frei, in dem er selbst ein vernünftiges Wesen ist, so kann
auch seiner Freiheit nur in der Entstehung des Guten eine Rolle zuge-
wiesen werden, nicht aber in der Entstehung des Bösen. Mit der letzte-
ren Konsequenz ringt bereits Kant in seiner Abhandlung über das Ra-
dikalböse, die als erster Teil seines Alterswerks Die Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft bekannt geworden ist. Im Anschluss
an diese Abhandlung tritt dann Schelling in seinen Untersuchungen
über das Wesen der menschlichen Freiheit gegen die genannte Kon-
sequenz auf, indem er ausdrücklich »ein Vermögen des Guten und des
Bösen« 190 zur Sprache bringt. Gegen die erstere Konsequenz werden
187
Ebd.
188
Ebd., S. 412.
189
Ebd.
190 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, in:
Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg: Cotta
1856–1861, Bd. VII, S. 352. Die Seitenzahlen dieser Ausgabe sind in den heute gebräuch-
licheren Ausgaben von Horst Fuhrmanns (Stuttgart: Reclam 1964) und von Thomas
Buchheim (Hamburg: Meiner 1997) ebenfalls angegeben.
377
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
etwa ein Jahrhundert später Denker wie Max Scheler, Edmund Husserl
und Nicolai Hartmann ihren (je anders verstandenen) ethischen Per-
sonalismus ins Feld führen.
Hartmann wird dabei im Anschluss an Hegel auch noch eine dritte
Konsequenz von Kants universalistisch geprägtem Rationalismus an-
greifen. Nach Kant »ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlich-
keiten gar nicht denkbar«: obligationes non colliduntur. 191 Im Gegen-
satz dazu richtete Hegel bereits in seinem Naturrechtsaufsatz von 1804
auf eine »Tragödie im Sittlichen« sein Augenmerk. 192 Auch später ver-
lor er das Phänomen einer Pflichtenkollision keineswegs aus den Au-
gen. 193 Hartmann schlägt sich in dieser Streitfrage auf Hegels Seite. In
seiner Ethik wird geradezu ein »unverwischbarer Sollenskonflikt« zum
Thema. 194 Diese veränderte Stellungnahme zur Möglichkeit einander
widerstreitender Verbindlichkeiten leitet Hartmann letztlich dazu hin,
der Selbstbestimmung des Willens »den Sinn einer Entscheidung« 195
zuzuschreiben und die nunmehr betonterweise persönliche Freiheit
des Einzelmenschen als eine »Freiheit des Für und Wider« 196, als ein
»Für-und-wider-Können« 197 und damit als eine echte »Wahlfreiheit« 198
zu begreifen.
Von Kants ursprünglichem Ansatz sind wir damit zwar weit, aber
in einer bestimmten Hinsicht vielleicht doch nicht weit genug entfernt.
Denn ähnlich wie Kant gleicht auch Hartmann die Sollensdeterminati-
on insofern der Naturkausalität an, als er in ihr eine strenge Gesetzlich-
keit zu entdecken sucht. So sagt er: »Das Verdienst Kants besteht […]
darin, gezeigt zu haben, daß der wahre Sinn der ethischen Freiheit nicht
der einer negativen Wahlfreiheit ist, sondern positive Freiheit unter
einer Gesetzlichkeit sui generis, die der Kausalität autonom gegenüber-
191
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 224.
192
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ȇber die verschiedenen Behandlungsarten des Na-
turrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positi-
ven Rechtswissenschaften«, in: Jenaer Schriften [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva
Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. II], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970,
S. 434–530, hier: S. 495 f.
193
Siehe z. B. Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, hg. von
Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III], S. 343 f.
194 Hartmann, Ethik, S. 684.
195
Ebd., S. 708.
196
Ebd., S. 626; vgl. ebd., S. 708–713.
197
Ebd., S. 709.
198 Ebd., S. 710.
378
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
tritt und sich dennoch ihrem die reale Welt beherrschenden Gefüge
einfügt, ohne es dabei zu zerreißen.« 199 Allerdings erkennt Hartmann
deutlich, dass die Sollensforderungen dieser Erwartung für sich allein
nicht entsprechen können. Denn von ihnen allein »geht überhaupt kein
Determinismus aus«; vielmehr besteht unter ihnen »ein deutlicher In-
determinismus«. 200 Deshalb fasst Hartmann diese Forderungen als Sol-
lenstendenzen auf, die zwar eine Ausrichtung auf die Bestimmung des
Willens zeigen, aber nur dann ans Ziel kommen, wenn die persönliche
Freiheit ihnen in ihrer Selbstbestimmung von sich aus einen Platz ein-
räumt. Demnach sind die Sollensforderungen letztlich doch auf eine
persönliche Freiheit angewiesen, die unabhängig von ihnen darüber
entscheidet, ob sie sich durch sie leiten lässt oder nicht. Mit dieser Auf-
fassung kehrt Hartmann zum Gedanken einer Wahlfreiheit zurück, die
zwar gewiss nicht identisch mit dem aus Descartes’ Meditationen über
die Erste Philosophie bekannten liberum arbitrium indifferentiae ist,
aber vor dem Hintergrund der gerade angeführten Einverständniserklä-
rung mit Kants Ablehnung der negativen Wahlfreiheit doch alles an-
dere als selbstverständlich ist. Die von Hartmann ins Auge gefasste
Freiheit des Für und Wider kann der Unbestimmtheit und der Gesetz-
losigkeit sicherlich nicht bezichtigt werden, weil sie im Augenblick der
getroffenen Entscheidung ein Komplementärverhältnis mit der jeweils
bevorzugten Sollensforderung eingeht und so zu voller Bestimmtheit
und Entschiedenheit gelangt. Gleichwohl bleibt sie selbst in Hartmanns
eigenen Augen durch eine unaufhebbare Spannung charakterisiert, weil
sie einerseits auf Sollensforderungen als nichtkausale Determinanten
angewiesen ist, andererseits aber dennoch als eine »Potenz der Person,
der Sollensforderung auch ablehnend entgegenzutreten«, auftritt. 201
Aus dieser Spannung wird in der Ethik geradezu eine Antinomie – die
so genannte »Sollensantinomie« – abgeleitet, die Hartmann allerdings
für auflösbar erklärt.
Näher besehen rührt aber diese Schwierigkeit daher, dass selbst
Hartmann noch die Sollensdetermination in eine Parallele zur Natur-
kausalität zu bringen sucht. Wie Kant versteht er sie als einen streng
gesetzmäßigen Ablauf, der »unausbleiblich« den Willen bestimmt. Er
weicht von der kantischen Vorlage nur darin ab, dass er diese unaus-
199
Ebd., S. 596.
200
Ebd., S. 701; vgl. S. 711: »Indeterminismus der Werte«.
201 Ebd., S. 704 f.
379
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
380
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
203
Hartmann, Ethik, S. 712 f.
204
Ebd., S. 713.
205 Waldenfels, Antwortregister, S. 356; vgl. S. 582.
381
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
206
Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, Akademie-
Ausgabe, Bd. VIII, Berlin und Leipzig: W. de Gruyter 1923, S. 423–430.
207 Vgl. vom Vf. Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, S. 364.
382
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
383
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
384
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
209
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 277, und »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamt-
ausgabe, Bd. 9], S. 174 f.
210
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 280.
211
Aristoteles, Metaphysik, Δ 1, 1013 a 17–23.
212
Schopenhauer, Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
[Sämmtliche Werke, Bd. I].
213
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 137.
214
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 165.
385
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
215
Ebd., S. 166–168.
216 Ebd., S. 168.
217
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 238.
218
Ebd., S. 212.
219 Ebd., S. 241.
386
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
ist«. 220 Bei einem Wesen, das in seinem In-der-Welt-sein inmitten des
Seienden existiert und durch eine Eingenommenheit im Seienden ge-
kennzeichnet ist, verbindet sich die Transzendenz zur Welt daher not-
wendig mit einem »Offensein für das Seiende«. 221 Von hier aus führt
bereits ein unmittelbarer Weg dazu, die Freiheit als »das Seinlassen des
Seienden« zu bestimmen. 222 Nur in ihrer Verbindung mit diesem Of-
fensein für das Seiende kann die Freiheit als Transzendenz der Grund
aller Gründungszusammenhänge genannt werden.
Heidegger betont, dass damit Freiheit nicht mehr einfach als Spon-
taneität verstanden wird. 223 Aber es liegt ihm fern, auf das Selbstanfan-
genkönnen als Bestimmung der Freiheit völlig verzichten zu wollen.
Was er zeigen will, ist nur, dass die Spontaneität in der als Transzendenz
verstandenen Freiheit gründet: »Nur weil diese [die Freiheit] die Trans-
zendenz ausmacht, kann sie sich im existierenden Dasein als eine aus-
gezeichnete Art der Kausalität bekunden.« 224
Wir müssen diesen Zusammenhang zwischen Spontaneität und
Transzendenz im Auge behalten, um Heideggers Auseinandersetzung
mit Kant in seiner Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit
richtig zu verstehen. In dieser Vorlesung wird die grundlegende Frage
gestellt: »Ist Freiheit ein Problem der Kausalität, oder ist Kausalität ein
Problem der Freiheit?« 225 Diese Umkehrformel täuscht jedoch eine grö-
ßere Entfernung zwischen Kant und Heidegger vor, als tatsächlich be-
steht. In Wahrheit will Heidegger die Bestimmung der Freiheit als
Spontaneität durch den Begriff der Transzendenz eher neu begründen
als ersetzen. Er knüpft durchaus positiv an den »kosmologischen« Cha-
220 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
S. 164.
225
Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philoso-
phie [Gesamtausgabe, Bd. 31], Freiburger Vorlesung, Sommersemester 1930, hg. von
Hartmut Tietjen, Frankfurt am Main: Klostermann 21994 (11982), S. 157.
387
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
rakter von Kants transzendentaler Freiheitsidee an. 226 Auch von sich aus
behauptet er ja: »Das Freiheitsproblem gehört zum Weltproblem.« 227
Selbst zu Kants Idee der Autonomie findet er von seinem eigenen Frei-
heitsbegriff her Zugang, indem er sich auf den gerade angeführten Ge-
danken einer »ursprünglichen Bindung« stützt:
»Gegenstehenlassen von etwas als Gegebenes, grundsätzlich: Offenbarkeit
von Seiendem in der Verbindlichkeit seines So- und Daßseins, wird nur da
möglich, wo das Verhalten zu Seiendem als solchem den Grundzug hat, daß
es dem, was möglicherweise, ob in theoretischer oder praktischer Erkenntnis,
oder sonstwie offenbar wird, im vorhinein Verbindlichkeit zugesteht. Vorgän-
giges Zugestehen von Verbindlichkeit aber ist ursprüngliches Sichbinden,
Bindung als für sich verbindlich sein lassen, d. h. kantisch, sich ein Gesetz
geben.« 228
Die eigentliche Streitfrage, um die sich die Auseinandersetzung von
Heidegger mit Kant dreht, betrifft weder die Bestimmung der transzen-
dentalen Freiheit als Selbstanfangenkönnen (Spontaneität) noch die
Bestimmung der praktischen Freiheit als Selbstgesetzgebung (Auto-
nomie); beiden Bestimmungen kann Heidegger ja wichtige Anhalts-
punkte zu seiner eigenen Auffassung abgewinnen. Sie betrifft vielmehr
das, was wir als die Vorstellung einer Parallelität zwischen Naturkausa-
lität und Freiheit gekennzeichnet haben. Nach Heidegger verleitet der
Versuch, die Freiheit als eine kosmologische Idee zu begreifen, Kant in
der Kritik der reinen Vernunft dazu, von der Freiheit einen »transzen-
dentalen Naturbegriff« 229 zu bilden: »Freiheit ist nichts anderes als die
absolut gedachte Naturkausalität bzw., wie Kant selbst ganz zutreffend
sagt, ein Naturbegriff, der die Erfahrung als ganze transzendiert. Da-
durch verliert er nicht den Grundcharakter eines Naturbegriffes, son-
dern dieser Charakter bleibt erhalten und wird gerade ins Unbedingte
erweitert und gesteigert.« 230
Man könnte das Vorgehen, das zu diesem transzendentalen Natur-
begriff der Freiheit führt, in drei Schritte gliedern: In einem ersten
Schritt wird die Welt auf die rein physikalisch verstandene, von Kausal-
ketten durchdrungene Natur reduziert; in einem zweiten Schritt wird
226
Ebd., S. 208 f.
227 Ebd., S. 226.
228
Ebd., S. 302 f.
229
Ebd., S. 238.
230
Ebd., S. 214 f. unter Hinweis u. a. auf eine Stelle, an der Kant selbst den Terminus
»transzendentaler Naturbegriff« verwendet (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 420).
388
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
231
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken,
Frankfurt am Main: Klostermann 1981, S. 11; vgl. auch S. 97, auf der die von Heidegger
unter Bezugnahme auf Kant verwendete Wendung »ursprüngliche Produktivität des
›Subjekts‹« angeführt wird (siehe Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik
im Ausgang von Leibniz [Gesamtausgabe, Bd. 26], S. 272).
232
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst, S. 100: »[…] das Geschehen löst die pro-
duktive Subjektivität sich zeitigenden Daseins auf.«
233
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 279.
389
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
sonbestimmungen, bildet sich hier ein erster Riß.« 234 Denn: »Mit der
stärkeren Betonung der Endlichkeit des Daseins kommt hier wieder das
Moment der Befindlichkeit zur Geltung […].« 235 Auch Heidegger selbst
wird zur Zeit der Abfassung der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereig-
nis) im Rückblick auf die Jahre nach der Veröffentlichung von Sein und
Zeit dem Text »Vom Wesen des Grundes« eine gewisse Sonderstellung
einräumen. 236 Aber gerade die Bestimmung der Freiheit als der Grund
des Grundes scheint dieser Einschätzung – zumindest auf den ersten
Blick – eher zu widersprechen. Wird denn dem Dasein damit, dass seine
Freiheit als der Grund aller Gründungszusammenhänge bezeichnet
wird, nicht etwa tatsächlich ein überaus hohes Maß an »transzenden-
taler Produktivität« zugeschrieben?
»Als dieser Grund aber ist die Freiheit« – so behauptet Heidegger
am Ende des Aufsatzes »Vom Wesen des Grundes« – »der Ab-grund des
Daseins.« 237 Als Grund aller Gründungszusammenhänge ist also die
Freiheit ihrerseits alles andere als eine selbstmächtige Gründungs-
instanz. Zwar ohne den Ausdruck »Abgrund« zu verwenden, aber doch
formuliert Heidegger in seiner Vorlesung Metaphysische Anfangs-
gründe der Logik im Ausgang von Leibniz einen ähnlichen Gedanken,
indem er »die Ohnmacht [des Daseins] gegenüber dem Seienden« be-
tont und die »Freiheit zum Grunde« als »die Bedingung der Möglich-
keit seiner [des Daseins] Ohnmacht« bezeichnet. 238 In dieser Hinsicht
weist also die Leibniz-Vorlesung von 1928 bereits in dieselbe Richtung
wie ein Jahr später der Aufsatz »Vom Wesen des Grundes«. Dazu
kommt, dass Heidegger in seiner metaphysischen Periode die Freiheit
zwar als »eine Bedingung der Möglichkeit für die Offenbarkeit des
Seins von Seiendem« bestimmt, sie aber natürlich niemals als eine Be-
dingung der Möglichkeit für das Seiende als solches oder die in ihm
eingeschlossenen Strukturzusammenhänge betrachtet. Wenn man be-
haupten kann, dass nach Heidegger die Naturkausalität mit der Freiheit
234
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst, S. 96.
235
Ebd.
236
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [Gesamtausgabe, Bd. 65], S. 451.
Zur Analyse dieser Textstelle siehe François Jaran, La métaphysique du Dasein. Heideg-
ger et la possibilité de la métaphysique (1927–1930), Bukarest: Zeta Books 2010, S. 325.
237
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 174.
238
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 279.
390
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
in die Welt kommt, dann nur unter der Bedingung, dass dabei »Welt
als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« 239 gilt. Nur als
»das Wesen der Wahrheit« 240 ist die Freiheit zugleich der Grund des
Grundes.
Das sind eindeutige Äußerungen, die dem Einwand, Heidegger
habe in seiner metaphysischen Periode die transzendentale Produktivi-
tät des Daseins einseitig und übermäßig betont, mit vollem Recht ent-
gegengehalten werden können. Gleichwohl ist es unleugbar, dass die
Analyse des Grundes in dieser Periode an einem Mangel krankt, der
sich in dem irreführenden Charakter der Bestimmung der Freiheit als
»Grund des Grundes« auswirkt. Heideggers eigene Selbstkritik in der
späten Vorlesung Der Satz vom Grund macht diesen Mangel spürbar.
Sie richtet sich gegen den Aufsatz »Vom Wesen des Grundes«, in dem
die Freiheit nicht nur als »der Grund des Grundes«, sondern auch als
»der Ursprung des Satzes vom Grunde« bezeichnet wird. 241 In der spä-
ten Vorlesung schreibt nun Heidegger dem Satz vom Grund eine Macht
– oder auch ein »Machtendes« – zu und stellt die Frage: »Haben wir, die
wir jetzt hier sind, dieses Machtende des großmächtigen Satzes vom
Grund schon gespürt, gar eigens erfahren und vollends hinreichend
bedacht?« 242 Das haben – so lautet die Antwort – nicht einmal diejeni-
gen getan, »die sich hin und wieder schon Gedanken über das ›Wesen
des Grundes‹ gemacht haben.« 243 An einer weiteren Stelle führt Hei-
degger das »Machtende« des Satzes vom Grund auf einen »Anspruch
auf Begründung« zurück, indem er hinzufügt: »Dieser Anspruch
spricht aber im Grund selbst […].« 244 Wir können daraus den Schluss
ziehen, dass die Freiheit auch als »der Ursprung des Satzes vom Grund«
– und überhaupt als »der Grund des Grundes« – in Wahrheit immer
bereits einem Anspruch entspricht, der nicht aus ihr selbst stammt.
Trifft die Aussage zu, dass der Mensch als Warum-Frager nach Grün-
den sucht, Gründe erforscht, Gründe für seine Entscheidungen anführt
239
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 507.
240
Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 186.
241 Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 172.
242
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 37.
243
Ebd.
244 Ebd., S. 42.
391
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
392
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
245
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.
246 Ebd.
393
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
gen der Möglichkeit für die Weltwirklichkeit sind, ebenfalls eine fak-
tische Notwendigkeit zukommen.
Als Gesamtausdruck aller Einstimmigkeitstendenzen schließt die
Wirklichkeit der Welt allerdings weitere Urtatsachen in sich. Die Ein-
stimmigkeitstendenzen der Erfahrung sind von vornherein Bedingun-
gen der Möglichkeit für eine intersubjektive Wirklichkeit der Welt, und
als Tendenzen zeichnen sie einen geschichtlichen Gang der Erfahrung
vor. Intersubjektivität und Geschichtlichkeit sind somit als Urtatsachen
in der Urtatsache der Weltwirklichkeit impliziert. Es bleibt jedoch zu
fragen, wie sich die Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung zum
Cogito als Urtatsache verhalten.
Die Antwort ergibt sich daraus, dass die faktische Notwendigkeit
der Weltwirklichkeit eine vollzugsbedingte, performative Notwendig-
keit ist. Der methodologische Transzendentalismus der Phänomeno-
logie bringt den Ausgang vom Cogito mit sich, obwohl die Analyse
der cartesischen Formel videre videor deutlich gezeigt hat, dass sich
der Ausgang vom Cogito dabei als ein Rückgang auf den eigentlichen
Anfang des Philosophierens, nämlich auf die Urtatsache sinnlichen Er-
scheinens, enthüllt. Dem Vollzug von Selbstbewusstsein und Selbst-
besinnung kommt selbst dann eine grundlegende Rolle zu, wenn sich
herausstellt, dass dieser Vollzug immer schon vom Widerfahrnis des
Erscheinens getragen ist.
Scheinbar ist es von hier aus nur noch ein Schritt zur Behauptung,
die Möglichkeit von Selbstbewusstsein und Selbstbesinnung mache die
Einstimmigkeit der Erfahrung von vornherein notwendig. Kants trans-
zendentaler Deduktion der Kategorien liegt gerade dieser Gedanke zu-
grunde. Zur Bezeichnung von Selbstbewusstsein und Selbstbesinnung
wird dabei in der Kritik der reinen Vernunft der von Leibniz stammende
Ausdruck ›Apperzeption‹ gebraucht. Mit diesem Ausdruck heißt es in
der zweiten Auflage des Werkes: »[…] nur dadurch, dass ich ein Man-
nigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden
kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen
Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apper-
zeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen
möglich.« 247 Dieser Satz ist der Ausgangspunkt eines recht verschlun-
genen Beweisgangs, der die Möglichkeit der analytischen Einheit der
Apperzeption –, das heißt der »durchgängige[n] Identität seiner
394
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
248
Ebd., A 116.
249
Ebd., A 107.
250 Ebd., A 107.
251
Ebd., B 155.
252
Ebd., B 154.
253
Ebd., B 154 f.
254 Ebd., B 155.
395
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
396
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
397
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
398
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
261
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 8.
262
Ebd., S. 7.
263 Ebd., S. 6.
399
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
264
Ebd., S. 27.
265
Ebd., S. 183.
266
Ebd.
267 Ebd., S. 183 f.
400
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
268
Ebd., S. 65.
269
Ebd., S. 75.
270
Ebd., S. 66; vgl. S. 74.
271 Ebd., S. 77.
272
Ebd., S. 75.
273
Ebd., S. 49.
274
Ebd., S. 125.
275 Ebd., S. 132.
401
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
zusammen. Reale Eigenschaften sind eo ipso kausale.« 276 Die Idee sub-
stantieller Realität ist also die »Idee einer strengen Identität in absolut
bestimmten und eindeutigen Abhängigkeiten der Kausalität […]«. 277
Aus der Zurückführung bloß subjektiver Erscheinungen auf rein kau-
sale Eigenschaften ergibt sich die einzigartige Bedeutung naturwissen-
schaftlicher Objektivierung. Der Idee substantieller Realität nach ist das
Ding, dem eine strenge Identität »nach festen Kausalgesetzen« 278 zu-
kommt, nichts anderes als das Ding selbst, so wie es an sich ist und nicht
wie es uns in der lebensweltlichen Erfahrung bloß erscheint.
In der Krisis-Abhandlung wird Husserl das System rein kausaler
Eigenschaften, mit dem die mathematische Naturwissenschaft die Din-
ge der Welt ausstattet, als ein »Ideenkleid« auffassen, das – auf die Na-
tur übertragen – dazu führt, dass »wir für wahres Sein nehmen, was
eine Methode ist […].« 279 Galilei – und der gesamten, von Galilei be-
gründeten Forschungstradition exakter Naturwissenschaft – wird er da-
mit einen mathematisierenden Platonismus im Sinne eines eigentümli-
chen Begriffsrealismus, einer Hypostasierung mathematischer Begriffe
als physikalische Realitäten vorwerfen. Dagegen betrachtet er in Ideen
II den Entwurf substantieller Realität in den exakten Naturwissenschaf-
ten noch ohne Vorbehalte. Er ist sogar davon überzeugt, dass dieser
Entwurf auch auf das Seelische ausgedehnt werden kann. Nach Husserl
ist die Seele von vornherein leiblich bedingt. In ihrer Einheit mit dem
Leib kann sie aber als ein Naturobjekt aufgefasst werden. Sie hat »psy-
chophysische Eigenschaften«, 280 die ähnlich erforscht werden können
wie die physikalischen Eigenschaften der Naturdinge. Folglich ist eine
naturwissenschaftliche Psychologie in Husserls Augen kein Ding der
Unmöglichkeit; innerhalb gewisser Grenzen hat sie sogar eine unbe-
streitbare Berechtigung. In diesem Zusammenhang wird in Ideen II
auch »die rechtmäßige ›Naturalisierung‹ des Bewußtseins« 281 zur Spra-
che gebracht. Ebendeshalb kann aber die Idee substantieller Realität als
276
Ebd., S. 45.
277
Ebd., S. 49.
278
Ebd.
279 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie, S. 52.
280
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
losophie, Zweites Buch, S. 127.
281 Ebd., S. 168.
402
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
282
Ebd., S. 125.
283
Ebd., S. 139.
284
Ebd.
285 Ebd., S. 126.
403
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
286
Ebd., S. 59.
287 Ebd., S. 34.
404
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
288
Ebd., S. 126–131.
289
Vgl. ebd., S. 123.
290
Ebd., S. 132.
291 Ebd.
405
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
mich nicht, auch nicht in unbewußter Weise.« 292 Mit einem Wort: Die
Motivation »spielt sich zwischen Ich und intentionalem Objekt ab.« 293
– c) Dazu kommt, dass die Seele »prinzipiell nicht unverändert bleiben
[kann]«, 294 so dass ihr Sein – im Gegensatz zum Sein bloß materieller
Dinge – eigentlich kein »verharrendes Sein« und damit letztlich auch
keine »substantielle Realität« genannt werden kann. Denn: »Das See-
lenleben ist nach Wesensnotwendigkeit ein Fluß […]«. 295 – d) Die Seele
unterscheidet sich vom materiellen Naturobjekt als räumlich aus-
gedehntem Ding (res extensa) auch darin, dass sie sich nicht in Stücke
(selbstständige Teile) zerlegen, sondern nur in Momente (unselbststän-
dige Teile) gliedern lässt; sie ist also – im Gegensatz zum physika-
lischen Ding – eine »unzerstückbare Einheit«. 296 – e) Im Gegensatz zu
materiellen Dingen, die »geschichtslose Realitäten« sind, hat die Seele
schließlich immer »eine Geschichte«, weil sie ein Fluss einmaliger, un-
wiederholbarer Erlebnisse ist, so dass ihre Realität »in denselben Ge-
samtzustand nicht zurückkehren« kann. 297
Aus dieser Übersicht zieht Husserl den Schluss, dass es über die
physikalische und die animalische Natur hinaus noch eine weitere Rea-
litätsstufe gibt, die aber erst in einem Übergang von der naturalistischen
zur personalistischen Einstellung greifbar wird. Er bezeichnet diese
Realitätsstufe als »persönliche ›Realität‹«, 298 indem er »das Ich als per-
sönlich-reale Einheit« 299 vom menschlichen (bzw. animalischen) Sub-
jekt als konkreter Einheit von Leib und Seele abhebt. Er fasst die Person
als das »spezifisch geistige Ich« 300 auf und macht damit einen Unter-
schied zwischen dem »Menschen als Natur« und dem »Menschen als
Geist«. 301 Indes hebt er hervor: »Aber auch als Geist, mich und andere
nicht als Natur auffassend und setzend, finde ich mich und andere in
der räumlichen und zeitlichen Welt.« 302 Die geistige Subjektivität be-
greift er eben nur als eine »Stufe« oder »Schicht« im Menschen – näm-
292
Ebd., S. 231.
293
Ebd., S. 216.
294
Ebd., S. 133.
295
Ebd.
296
Ebd., 133 f.
297
Ebd., S. 137.
298 Ebd., S. 250, Anm.
299
Ebd., S. 252.
300
Ebd., S. 276.
301
Ebd., S. 143.
302 Ebd., S. 202.
406
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
lich als »die Schicht des intellectus agens, des freien Ich als Ich der freien
Akte«. 303 Er fügt aber hinzu: »Jeder Geist hat eine ›Naturseite.‹ Das ist
eben der Untergrund der Subjektivität […].« 304 Die Person bestimmt er
weiterhin auch als »das Subjekt, das ›selbst-verantwortlich‹ ist«. 305 Hier
klingt Ethisches an. Dass Husserl nicht nur von Geist, sondern auch von
Person und Persönlichkeit spricht, ist wohl nicht unabhängig von dem
ethischen Personalismus, den Max Scheler in dem zweiten Band seines
Formalismusbuches ausgearbeitet hat und dem Husserl in seinen etwas
später, am Anfang der 1920er Jahre gehaltenen Vorlesungen über Ethik
viel abgewinnen kann. Aber dem Verfasser der Ideen II geht es in erster
Linie doch nicht um die Verantwortung und die Moral, sondern um die
Ontologie. Worauf es ihm eigentlich ankommt, ist die »persönliche
›Realität‹« als »intersubjektive Realitätsform«. 306
Wir stoßen hier auf eine neue Realitätsidee, die – ähnlich wie die
Idee substantieller Realität – einer Auseinandersetzung mit den Einzel-
wissenschaften zu verdanken ist. Nur dass diesmal nicht die Realitäts-
voraussetzung der Naturwissenschaften, sondern – im Anschluss an
Wilhelm Dilthey 307 – die ontologische Basis der Geisteswissenschaften
erforscht wird. Wie Husserl anzeigt, haben es auch diese Wissenschaf-
ten mit einer Realitätsform zu tun, die »nicht direkt erfahrbar«, also
keine bloße Erlebniswirklichkeit, »keine immanente Form« ist und
ebendeshalb auch als eine Form »der intersubjektiven Objektivität« be-
griffen werden kann. 308
Damit erweist sich die Objektivität als ein genereller Grundzug
jeder Einzelwissenschaft. Denn jede Einzelwissenschaft geht über den
Bereich des direkt Erfahrbaren hinaus. Gerade dadurch unterscheidet
sie sich von der phänomenologisch angelegten Philosophie, die überall
die Möglichkeit eines Rückgangs auf das direkt Erfahrbare sucht. Die so
verstandene Objektivität ist aber keineswegs notwendig das Ergebnis
derjenigen Objektivierung, die für die Naturwissenschaften charakte-
ristisch ist. Die Geisteswissenschaften beruhen nach Husserl auf einer
»Objektivierung höherer Stufe«, 309 die mit der Annahme rein kausaler
303
Ebd., S. 276.
304
Ebd., S. 279.
305 Ebd., S. 257.
306
Ebd., S. 200.
307
Ebd., S. 172.
308
Ebd., S. 200.
309 Ebd., S. 244.
407
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
310
Ebd., S. 171.
311 Ebd., S. 209.
408
Erfahrungskategorien von Ding und Welt
312
Ebd., S. 210.
313 Ebd.
409
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
den. Diese Vorgehensweise bietet sich deshalb an, weil sich dem aller-
letzten Paragraphen von Ideen II ein Beweisgrund für die transzenden-
tale Option entnehmen lässt, die von Husserls momentaner Argumen-
tationsstrategie getrennt und ebenfalls in verallgemeinerter Gestalt
gefasst werden kann.
410
Agonale Weltentwürfe
314
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 505 (in der ersten Auflage wird das Wort »Gan-
zes« allerdings in der Gestalt »Ganze« verwendet; die Stelle wird in der zweiten Auflage
berichtigt).
315
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], § 143, S. 331.
316 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.
411
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
geben sie zugleich Anlass zur Entstehung immer wieder neuer Weltent-
würfe. Es liegt wohl keine Übertreibung in der Behauptung, dass der
letzte Grund der Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur überhaupt
kein anderer ist als eben die Verschränkung von Endlichkeit und Un-
endlichkeit in der paradoxen Struktur der Weltentwürfe.
Die folgenden Ausführungen gelten einem Widerstreit heute
möglicher Weltentwürfe. Es soll dabei zuerst ein Weltentwurf skizziert
werden, den wir nicht mehr einfach als methodologischen, sondern,
gezielter, als metontologischen Transzendentalismus bezeichnen kön-
nen. In einem zweiten Schritt kann dann gezeigt werden, wie diesem
Weltentwurf in unserer Zeit ein naturalistischer Autarkismus mit einer
gewissen Notwendigkeit entgegentritt. In einem dritten Schritt folgen
schließlich einige Überlegungen zu diesem Widerstreit, die uns eine
Gelegenheit geben werden, auf den letzten Paragraphen von Husserls
Ideen II zurückzugreifen. Wir versuchen, diesem Text einen Beweis-
grund für die transzendentale Option in verallgemeinerter Gestalt zu
entnehmen.
1. Metontologischer Transzendentalismus
317
Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. XVIII, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1928], S. 18 (Aufzeichnung
Nr. 4880).
412
Agonale Weltentwürfe
318
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 110.
319
Ebd., A 105.
320 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), hg. von
413
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
mehr ist sie eine in sich zufällige Urtatsache, die als solche grundsätz-
lich, aus welcher Instanz auch immer, unableitbar bleibt. Eine gewisse
Notwendigkeit – nämlich die »Notwendigkeit eines Faktums« – kommt
dieser Urtatsache nur deshalb zu, weil sie eine unerlässliche Bedingung
der Welt ist. Aber bei Husserl ist die Welt wiederum kein notwendiges
Seiendes, kein ens necessarium, sondern ebenfalls nur eine in sich zu-
fällige Urtatsache: »Weltfaktum«. Was den Idealismuseinwand betrifft,
so verhält es sich damit deshalb weniger einfach, weil sich Husserl auch
noch in späten und spätesten Texten – wie etwa dem Nachwort zu den
Ideen aus dem Jahre 1930 – eindeutig zum transzendentalen Idealismus
bekennt. Aber schon einige Jahre nach der Abfassung der Ideen versteht
er darunter eigentlich einen bloß methodologischen Transzendentalis-
mus, der, wie gesehen, im gewöhnlichen Sinne des Wortes gar nicht als
Idealismus bezeichnet werden kann, da er nur eine rückläufige Konsti-
tution vorangegangener Weltstrecken durch das gegenwärtige Be-
wusstsein erforderlich macht und damit eine bloß materielle Welt »als
Unterstufe und als Anfangsstrecke der Dauer der Welt« ohne Subjekt,
Geist und Bewusstsein sehr wohl zulassen kann. 322
Aber sicherlich können wir der Gefahr von Subjektivismus und
Idealismus in noch erheblicherem Maße vorbeugen, wenn wir die
Transzendentalphilosophie gar nicht aus einer Wende vom Objekt zum
Subjekt hin, sondern aus der Transzendenz im Sinne eines Überstiegs
über die Einzeldinge zur Welt hin ableiten. Die Subjektivität wird da-
durch nicht ausgeklammert, aber sie wird auch nicht der Objektivität
gegenübergestellt. Ein derartiger Versuch wurde von Heidegger in sei-
ner metaphysischen Periode zwischen 1927 und 1930 unternommen.
In dem Vorlesungstext Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927 leitet Heidegger die Transzendenz noch
aus der damals zum ersten Mal ausdrücklich erfassten »ontologischen
Differenz« 323 ab: »Wir übersteigen das Seiende, um zum Sein zu gelan-
gen. Bei diesem Überstieg versteigen wir uns nicht wiederum zu einem
Seienden, das etwa hinter dem bekannten Seienden läge als irgendeine
Hinterwelt.« 324 Diese Auffassung bleibt jedoch nicht lange erhalten.
Kaum ein Jahr später, im Vorlesungstext Metaphysische Anfangsgrün-
de der Logik im Ausgang von Leibniz aus dem Sommersemester 1928,
322
Vgl. weiter oben, Zweiter Teil, Kap. I, 4 c.
323
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 33.
324 Ebd., S. 23.
414
Agonale Weltentwürfe
wird die Metaphysik bereits, wie wir weiter oben 325 gesehen haben, in
zwei Teildisziplinen oder Untersuchungsbereiche, Fundamentalontolo-
gie und Metontologie, gegliedert. Damit ändert sich Heideggers Begriff
der Transzendenz: Das Wohin der Transzendenz wird nunmehr nicht
als Sein, sondern als Welt bezeichnet. 326
Die Bedeutung des metontologischen Ansatzes tritt deutlicher zu-
tage, wenn wir bedenken, wie bei Heidegger die beiden Leitbegriffe Sein
und Welt langsam voneinander getrennt werden und wie sich ihr Un-
terschied als ein diakritischer erweist. In Sein und Zeit wird die Welt
noch als Existenzial verstanden. Sie gehört damit zum Sein. Die spärli-
chen Hinweise auf einen andersartigen Weltbegriff, die bereits in Sein
und Zeit enthalten sind, zeigen sich erst nachträglich – vom Gesichts-
punkt der Metontologie aus – in ihrer ganzen Tragweite. Als Existenzial
bleibt die Welt ›subjektiv‹. Heidegger setzt jedoch hinzu: »Diese ›sub-
jektive‹ Welt aber ist dann als zeitlich-transzendente ›objektiver‹ als
jedes mögliche ›Objekt‹.« 327 Eine ähnlich klingende Behauptung über
die Weltzeit haben wir bereits in anderem Zusammenhang herange-
zogen. An diesen Stellen zeichnet sich eine Weltauffassung ab, die eine
gleichzeitige Überwindung von Subjektivismus und Objektivismus in
der Metaphysik verspricht. Aber selbst dieses Versprechen wird erst im
Nachhinein – vom metontologischen Ansatz her – überhaupt als Ver-
sprechen vernehmbar.
In der metontologisch angelegten Metaphysik wird das Seiende
auf die Welt hin überstiegen. Es wird damit gerade nicht als ein an sich
seiendes Ding, sondern vielmehr als ein Ding in der Welt gefasst. Allem
Anschein nach kann die aristotelische Formel vom Seienden als Seien-
dem sinngemäß nur in einer Substanzontologie ihre Erfüllung finden.
Die scotistische Lehre vom univoken Seienden zeichnet zwar einen an-
deren Weg zum Verständnis dieser Formel vor, aber der so vorgezeich-
nete Weg mündet, wenn auch nicht unbedingt bei Duns Scotus selbst,
so zumindest bei vielen seiner Nachfolger bis hin zu Christian Wolff
und Alexander Baumgarten, in eine bloße Lehre vom Etwas überhaupt
(also in eine »Tinologie«) ein, der ein unmittelbarer Bezug auf das
Wirklichsein fehlt. Der metontologische Ansatz deutet dagegen eine
325
Vgl. Zweiter Teil, Kap. II.
326
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 212.
327 Heidegger, Sein und Zeit, S. 366.
415
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
328
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 212.
329
Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik: Welt–Endlichkeit–Einsamkeit [Gesamt-
ausgabe, Bd. 29/30], S. 514. Vgl. weiter oben, Zweiter Teil, Kap. II, 5.
416
Agonale Weltentwürfe
das Seiende zur Welt hin ergibt. 330 Er drückt damit eine wesenhafte
Grundtendenz der Phänomenologie vielleicht noch deutlicher aus als
Husserl in seinem Rückgang auf die Lebenswelt. Denn daraus wird klar,
dass zum Transzendentalismus der Phänomenologie keineswegs allein
ein Ausgang vom Cogito, vom Bewusstsein, von der Subjektivität ge-
hört, sondern ebenfalls – oder mehr noch – eine metontologische Trans-
zendenz, also ein Übergang vom Ding zur Welt. Gemeint ist dabei ein
Übergang, der ganz allgemein schon als Weltbildung in Kunst, Mythos,
Religion und Kultur überhaupt vonstatten geht, aber spezieller noch als
Weltentwurf von Philosophie und Wissenschaft getragen ist.
Gleichwohl soll der Terminus »metontologisch« weiterhin nicht
einfach als die Bezeichnung einer metaphysischen »Ontik« im Sinne
von Heidegger verstanden werden. Denn es wird im Folgenden ein Ver-
such unternommen, den metontologischen Transzendentalismus radi-
kaler zu fassen, indem ein weiterer diakritischer Unterschied, nämlich
die grundlegende Differenz zwischen Totalität und Unendlichkeit, mit
beachtet wird. Die Einbeziehung dieses Gesichtspunkts in die metonto-
logischen Untersuchungen verbietet es nunmehr, die Welt auf Hei-
degger’sche Art als das »Seiende im Ganzen« zu bestimmen, da sie
durch eine Unendlichkeit charakterisiert ist, die ihr, wie wir sehen wer-
den, eine unaufhebbare Offenheit zukommen lässt, so dass sie auf kei-
nen Fall mit dem jeweiligen Seinsganzen gleichgesetzt und als eine ge-
schlossene Seinstotalität aufgefasst werden kann. Diese Einsicht
begründet eine Abweichung von Heideggers ursprünglichem Verständ-
nis der Metontologie, selbst wenn sie den metontologischen Charakter
des Übergangs vom Ding zur Welt eigentlich nur bestätigt oder sogar
verstärkt. Denn die Unterscheidung zwischen Totalität und Unendlich-
keit macht erst recht begreiflich, warum die Metontologie notwendig
über jegliche Ontologie hinausgehen muss. Der Grund liegt nämlich
darin, dass die metontologische Transzendenz über die jeweilige Seins-
totalität hinaus ins Unendliche führt.
An dem metontologischen Transzendentalismus in diesem radika-
lisierten Sinne des Wortes wird im Folgenden selbst noch Heideggers
330
In dem Vorlesungstext Die Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommer-
semester 1927 spricht Heidegger wiederholt und durchaus einvernehmlich von einem
›Rückgang auf das Subjekt‹ und entdeckt ihn nicht erst in der neuzeitlichen Philosophie,
sondern bereits in der griechischen Metaphysik (vgl. Gesamtausgabe, Bd. 24, S. 103,
S. 155, S. 220 und S. 444). Erst in der metontologischen Periode bringt er jedoch die
Subjektivität des wohlverstandenen Subjekts in Zusammenhang mit der Weltbildung.
417
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
331
Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 23.
332
Ebd., S. 24.
333 Marion, Étant donné, S. 58.
418
Agonale Weltentwürfe
Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass die Festlegung »Sein als das
Ereignis« 334 zu kurz greift. Das Unendliche als Denkinhalt – als das Zu-
Denkende – weist über diese Festlegung hinaus. Auch ihm kommt ein
deutlicher Widerfahrnischarakter und damit eine gewisse Ereignis-
haftigkeit zu (selbst wenn es natürlich keine »Begebenheit«, kein »Ge-
schehen« in der Welt ist).
Der Gedanke einer metontologischen Transzendenz im Sinne eines
Übergangs vom Ding zur – wohlverstandenen – Welt gibt der plato-
nisch-neuplatonischen Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ eine neue Aktua-
lität. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Heidegger in seiner Spätzeit –
etwa mit seiner Rede von einem Verschwinden des Seins im Ereignis 335
und einer Einkehr des Denkens in das Ereignis 336 – eigentlich das Glei-
che meinte. Sollte das der Fall gewesen sein, so konnte er in seiner von
Olivier Boulnois erwähnten »Neuplatonismusvergessenheit« für diese
Gedanken nicht den philosophisch unmissverständlichen Ausdruck
finden.
Zur hier angestrebten Radikalisierung des metontologischen
Transzendentalismus finden sich bei Husserl, der in Anknüpfung von
Georg Cantors Mengentheorie eine eigenständige Philosophie des Un-
endlichen entwickelt hat, mehr Anhaltspunkte als bei Heidegger. Auch
aus diesem Grunde soll der Terminus »metontologisch« im Folgenden
nicht als ein spezieller Hinweis auf Heideggers metaphysische Periode,
sondern eher als die Bezeichnung einer radikalisierten Fassung des me-
thodologischen Transzendentalismus verstanden werden, der für die
Phänomenologie auch schon in ihrer Husserl’schen Version charakte-
ristisch war.
Auch dem so verstandenen Transzendentalismus tritt der Natura-
lismus mit einer gewissen Notwendigkeit entgegen. Aber er verschreibt
sich dabei nicht etwa einem Objektivismus im Allgemeinen, sondern er
nimmt selbst die Gestalt eines Weltentwurfs an. Es handelt sich dabei
um einen Weltentwurf, der aus dem Glauben an eine in sich geschlos-
sene Selbstgenügsamkeit der Natur erwächst.
334
Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 26.
335
Ebd., S. 27.
336 Vgl. ebd., S. 44, S. 50 und S. 59.
419
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
2. Naturalistischer Autarkismus
337
Alfred North Whitehead, The Concept of Nature. The Tarner Lectures Delivered in
Trinity College, November 1919, Minneapolis: Filiquarian Publishing LLC/Qontro o. J.,
S. 9.
338 Ebd., S. 8.
420
Agonale Weltentwürfe
als auch gegenüber dem Denken, das die Gegenstände der sinnlichen
Wahrnehmung erfasst und bedenkt, auf diese Weise selbstgenügsam
oder in sich geschlossen, mit einem Wort: autark ist.
Zur Eigentümlichkeit dieses Naturbegriffs gehört, dass Whitehead
die Zweiteilung der Natur in sinnlich-qualitative Erscheinungen und in
abstrakt-quantitative Ereignisse von der Hand weist. »Für die Natur-
philosophie« – sagt er – »ist alles Wahrgenommene in der Natur. Wir
dürfen nicht aussuchen und auswählen. Für uns soll das rote Glühen
des Sonnenuntergangs ebenso sehr Teil der Natur sein wie die Moleküle
und die elektrischen Wellen, mit deren Hilfe Wissenschaftler dieses
Phänomen erklären.« 339 So zeichnet sich vor uns das Bild eines ge-
schlossenen Ganzen ab, das von umfassenden Beziehungen zwischen
Ereignissen durchzogen ist, ohne jedoch irgendwelche Hinweise auf
Bewusstsein, Denken, Geist zu enthalten und auch ohne Anknüpfungs-
punkte für ethische oder ästhetische Werte zu bieten, die nach White-
head immer nur die »selbstbewusste Tätigkeit« mit der Natur verbinden
kann. 340
Wie jeder naturalistisch angelegte Weltentwurf muss auch dieser
Begriff der Natur als Träger bisher uneingelöster Versprechen betrach-
tet werden. Wie Pierre Kerszberg mit vollem Recht hervorhebt, bleibt
es »eine Wette, zu wissen, ob es eine hinreichende Kohärenz zwischen
einerseits der wahrgenommenen Wärme und Röte des Feuers und an-
dererseits der Bewegung der Moleküle, der durch sie abgegebenen
Strahlungsenergie und dem Verhalten des erwärmten Körpers gibt«. 341
Doch hat der von Whitehead ausgearbeitete Begriff der Natur das Ver-
dienst, deutlich gemacht zu haben, wie die Naturwissenschaften in
ihrem eigenen Bereich grundsätzlich davon absehen, dass sie sich stän-
dig auf Wahrnehmungen und Gedanken eines mit Geist, Denken und
Selbstbewusstsein ausgestatteten Wesens stützen, das sich nicht allein
mit Naturforschung befasst, sondern sich darüber hinaus etwa auch
noch zu ›ethischen und ästhetischen Werten‹ verhält.
Ein weiterer Versuch, den Glauben der Naturwissenschaften an
das in sich geschlossene Ganze der Natur philosophisch zu begreifen,
stammt von Wilfried Sellars, der diesem Glauben allerdings auch
Schranken zu setzen sucht. In einem bemerkenswerten Aufsatz, der
339
Ebd., S. 21.
340
Ebd., S. 9.
341 Pierre Kerszberg, L’ombre de la nature, Paris: Cerf 2009, S. 165.
421
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
342
Wilfried Sellars, »Philosophy and the Scientific Image of Man«, in: Science, Percepti-
on and Reality, London: Routledge and Kegan Paul und New York: The Humanities
Press 1963, S. 1–40.
343
Ebd., S. 20.
344
Ebd.
345 Ebd.
422
Agonale Weltentwürfe
Menschen, weil sie einen Anspruch darauf erhebt, ein »in sich vollstän-
diges Bild« von der Welt zu bieten. 346
Ähnlich wie Whitehead hebt Sellars hier hervor, dass die Wissen-
schaft ihren Gegenstand als ein in sich geschlossenes Ganzes versteht.
Deshalb kann aber ihrem Realitätsanspruch keine Kritik etwas anhaben,
die ihr nur ihre Abhängigkeit von der Welt des ›ausgebildeten gesunden
Menschenverstandes‹ vorhält. Sicherlich kann man etwa mit George
Edward Moore dafür argumentieren, dass Tische und Stühle, so wie
wir sie aus unserem Alltagsleben kennen, als solche gar nicht aus Ele-
mentarteilchen bestehen können, die sich der Wahrnehmbarkeit grund-
sätzlich entziehen, weil Gegenstände des Alltagslebens notwendig
immer nur wahrnehmbare Eigenschaften und wahrnehmbare Bestand-
teile haben können. Aber ein derartiges Argument setzt den begriff-
lichen Gesamtrahmen voraus, der unserer alltäglichen Auffassung von
Tischen und Stühlen zugrunde liegt, ohne zu begreifen, dass es gerade
dieser Gesamtrahmen ist, den das wissenschaftliche Bild der Dinge und
des Menschen in Frage stellt und außer Spiel zu setzen sucht. 347
Sellars ist der Philosophie von Immanuel Kant zu sehr verbunden,
um die Ersetzung des offensichtlichen Bildes durch das wissenschaftli-
che ohne Weiteres zu befürworten. Er lässt sich vielmehr durch die Idee
leiten, dass die Welt des ›ausgebildeten gesunden Menschenverstandes‹
vor allem eine Welt von Personen ist, die ihre Absichten frei verfolgen
und dabei bindenden Sollensansprüchen zu entsprechen suchen. 348 Kein
wissenschaftliches Bild der Dinge und des Menschen kann und darf
nach Sellars diese Welt der Personen jemals verdrängen. Das bedeutet
aber nicht, dass der Anspruch des offensichtlichen Bildes der Dinge und
des Menschen, zu bestimmen, was wirklich ist und was nicht, der He-
rausforderung durch die Wissenschaft standhalten könnte.
Mit Whitehead und Sellars haben wir zwei Denker ausgewählt, die
einem naturalistischen Realismus das Wort reden. Beide gehen dabei
auf äußerst differenzierte Weise ans Werk. Sie vertreten keinen vor-
schnellen Reduktionismus. Vielmehr schützen sie geradezu die Sphäre
ethischer und ästhetischer Werte bzw. die Welt freier Entscheidungen
und bindender Sollensansprüche vor naturalistischen Angriffen. Aber
dem Realitätsanspruch der Naturwissenschaft versuchen sie vielleicht
346
Ebd.
347
Ebd., S. 27.
348 Ebd., S. 39 f.
423
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
349
David J. Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Ox-
ford, New York u. a.: Oxford University Press 1996, S. 125.
350
Ebd.
351 Siehe zum Beispiel Daniel Dennett, Consciousness Explained, New York, Boston and
424
Agonale Weltentwürfe
Struktur« geben muss. 355 Was er damit zu zeigen sucht, ist, dass die
phänomenologische Dimension des Erlebens und Erfahrens der Wirk-
lichkeit letztlich in eine naturalistische Gesamtansicht der Welt inte-
griert werden kann. Wie Whitehead und Sellars bleibt auch Chalmers
der Annahme verhaftet, dass die Natur eine geschlossene und gleich-
artige (homogene) Totalität ist, die durch Selbstgenügsamkeit gekenn-
zeichnet ist.
Es ist nicht schwer, in dem ›naturalistischen Autarkismus‹, wie wir
diese Einstellung bezeichnen können, einen Weltentwurf zu erkennen,
der dem metontologischen Transzendentalismus der Phänomenologie
antinomisch gegenübersteht.
Das Ding in der Welt ist und bleibt Träger agonaler Weltentwürfe. Es
wäre dem gewiss nicht so, wenn der Welthorizont je vollständig ent-
faltet werden könnte. Aber dieser Konditionalsatz drückt nicht Poten-
tialität, sondern Irrealität aus. Der Unterschied zwischen dem erschei-
nenden Ding und dem Welthorizont gehört zur unaufhebbaren Grund-
struktur der Erfahrung.
Durch den Realitätsanspruch ihrer postulierten Entitäten streitet
die Wissenschaft der Lebenswelt das Recht ab, das Ding in der Welt
ontologisch zu bestimmen. Durch ihren Anspruch auf erscheinungs-
mäßige Ausweisbarkeit streitet aber die lebensweltliche Erfahrung der
Wissenschaft genauso das Recht ab, ein Ansichsein anzunehmen, das
mit der Erscheinungswelt unmittelbar nichts mehr zu tun hat.
Sellars betont, dass der Tradition der Philosophie – im Sinne von
philosophia perennis – das offensichtliche Bild der Dinge und des Men-
schen zugrunde liegt. In seiner Gegenwartszeit betrachtet er nicht allein
die gesamte ›kontinentale‹ Philosophie als eine Weiterführung der so
verstandenen philosophia perennis, sondern auch erhebliche Teile der
analytischen Philosophie, vor allem die von Ludwig Wittgenstein, Gil-
bert Ryle, John Langshaw Austin, Peter Frederic Strawson und anderen
initiierte ordinary language philosophy. Gleichwohl wäre es irrefüh-
rend und vereinfachend, den gerade beschriebenen Konflikt zwischen
425
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
426
Agonale Weltentwürfe
wenn wir behaupten, dass die eigentliche Antinomie zwischen dem na-
turalistischen Autarkismus und dem metontologischen Transzendenta-
lismus besteht. Der Welt als Natur im Sinne eines in sich geschlossenen
und selbstgenügsamen Ganzen steht die Idee der Transzendenz im Sin-
ne eines Überstiegs über die Einzeldinge zur Welt hin gegenüber. Das
sind die beiden Weltentwürfe, die in ihrem Wettstreit oder Wettkampf
(ἀγών) das neuzeitliche Denken bis heute bestimmen. Wir behalten uns
das Recht vor, hier nicht überhaupt von rivalisierenden, sondern eher
von agonalen Weltentwürfen zu sprechen, weil wir einen Wettstreit
oder Wettkampf (ἀγών) meinen, der – wie man mit Kant sagen könnte
– aus einer »Antinomie der reinen Vernunft« erwächst.
Das Verhältnis von metontologischem Transzendentalismus und
naturalistischem Autarkismus wäre nicht antinomisch, wenn sich nicht
beide Weltentwürfe auf völlig zutreffende Grundeinsichten stützen
könnten. Aber gerade das ist der Fall. Der metontologische Transzen-
dentalismus macht die Beobachtung geltend, dass jeder Weltentwurf als
solcher ein weltbildendes Wesen mit Geist, Bewusstsein und Subjekti-
vität voraussetzt, das nicht etwa einer überschaubaren Umweltlichkeit
verhaftet bleibt, sondern die Einzeldinge zur Welt hin zu übersteigen
vermag. Sieht man von diesem Wesen bei der Erklärung der Natur-
begegebenheiten ein für alle Mal ab, so verschanzt oder verfängt man
sich in einer Einseitigkeit, die sich bei näherem Zusehen als eine meta-
physische Verstocktheit herausstellt. Der naturalistische Autarkismus
führt jedoch eine nicht weniger zutreffende Grundeinsicht gegen diesen
Einwand ins Feld, indem er darauf hinweist, dass es eine in sich ge-
schlossene Natur bereits vor der Entstehung eines weltbildenden We-
sens mit Geist, Bewusstsein und Subjektivität gegeben hat und das Er-
scheinen eines derartigen Wesens auf der Weltbühne sinnvoll gerade
nur als eine Begebenheit innerhalb der in sich auch weiterhin geschlos-
senen Natur verständlich gemacht werden kann. Hält man diese Grund-
einsicht nicht in Ehren, so verfällt man einer metaphysischen Verstie-
genheit, die Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen zugrunde
richtet.
Eine endgültige Auflösung dieser Antinomie ist wohl schon des-
halb keineswegs in Sicht, weil der naturalistische Autarkismus, wie er-
wähnt, bisher uneingelöste Versprechen in sich schließt, von denen nie-
mand wissen kann, ob sie jemals eingelöst werden können. Niemand
weiß ja, ob und wie Geist, Bewusstsein, Subjektivität, Transzendenz
und Geschichtlichkeit aus einer in sich geschlossenen Natur begriffen
427
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
356
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 299.
357 Ebd., S. 298.
428
Agonale Weltentwürfe
sich indes keineswegs von selbst, dass ein Einzelding, so wie es sich in
der Erfahrung tatsächlich darstellt, durch eine substantielle Identität im
Sinne wesenhaften Soseins charakterisiert werden könnte. Vom Ge-
sichtspunkt der phänomenologischen Zugangsart zum Ding in der Welt
erweist sich die Annahme substantieller Identität erst recht als zweifel-
haft. Husserl formuliert diesen Zweifel, indem er zugleich eine Alterna-
tive zu jeder Substanzontologie dieser Art deutlich macht:
»Aber hat jedes Ding (oder, was hier dasselbe sagt, hat irgendeins) überhaupt
ein solches Eigenwesen? Oder ist das Ding sozusagen immer auf dem Marsch,
ist es gar nicht in dieser reinen Objektivität zu fassen, vielmehr vermöge sei-
ner Beziehung zur Subjektivität prinzipiell nur ein relativ Identisches, etwas,
das nicht im voraus sein Wesen hat, bzw. hat als ein ein für allemal erfaßbares,
sondern ein offenes Wesen hat, das immer wieder je nach den konstitutiven
Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften annehmen kann?« 358
Der Gedanke eines »offenen Wesens« taucht hier allem Anschein nach
neu auf. In Ideen II führt dieser Gedanke zu nichts Geringerem als zu
einer Erschütterung und einer verwandelnden Neufassung der phäno-
menologischen Bestimmung des Dinges als ein allseitig unendliches Er-
scheinungskontinuum. In der Tat wirft Husserl jetzt die Frage auf: »Be-
sagt die ›Unendlichkeit‹ der Welt statt einer transfiniten Unendlichkeit
(als ob die Welt ein in sich fertig seiendes, ein allumfassendes Ding oder
abgeschlossenes Kollektivum von Dingen wäre, das aber eine Unend-
lichkeit von Dingen in sich enthalte), besagt sie nicht vielmehr eine
›Offenheit‹ ?« 359
Man muss deutlich sehen, dass die Idee einer »offenen« (und nicht
bloß transfiniten) »Unendlichkeit der Welt« im Mittelpunkt von Hus-
serls Argument für die transzendentale Option steht, und zwar so wie
sie sich mit der Idee eines »offenen Wesens« der Einzeldinge verbindet.
Es handelt sich um ein Argument, dem selbst dann ein unmissverständ-
lich metontologischer Charakter zugeschrieben werden kann, wenn der
Terminus ›Metontologie‹ nicht von Husserl, sondern von Heidegger
stammt. Das muss deshalb betont werden, weil die metontologische
Tragweite des Arguments im Text von Ideen II nicht deutlich genug
zutage tritt. Sie wird vielmehr durch eine Strategie verdeckt oder ver-
dunkelt, die subjektivistische und idealistische Einschläge zeigt. Das ist
einer der Gründe dafür, dass diesem Argument das ihm durchaus ge-
358
Ebd., S. 299.
359 Ebd.
429
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
360
Ebd.
361
Ebd., S. 299 f.
362 Ebd., S. 297.
430
Agonale Weltentwürfe
363
Ebd., S. 299.
364 Siehe weiter unten, Dritter Teil, Abteilung B, Kap. IV, 5.
431
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit
zweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie […].« 365 Der
Philosophie kommt nach dieser Auffassung die Aufgabe zu, festgeron-
nene Entgegensetzungen im geistigen Leben aufzuspüren und aufzulö-
sen: »Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen
verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wech-
selwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das
Bedürfnis der Philosophie.« 366 Hegel setzt hinzu: »Solche festgeworde-
ne Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft.« 367
Was kann aber die Philosophie tun, wenn es ihr nicht vergönnt ist,
die Gegensätze, auf die sie stößt, aufzuheben und miteinander zu ver-
einigen? Vielleicht ist sie selbst dann nicht einfach dazu verurteilt, sich
für eine der rivalisierenden Positionen zu entscheiden, sondern sie kann
sich auf ein Denken der Antinomie selbst einstellen. Beinahe Kants ge-
samte denkerische Laufbahn liefert dazu ein Muster. Auf keinen Fall
dürfen nach diesem Philosophieverständnis unaufgehobene Gegensätze
aus den Augen verloren werden. Es ist deshalb zwar unerlässlich, aber
nicht hinreichend, eine Wahl zwischen agonalen Weltentwürfen zu
treffen und die Arbeit am gewählten Weltentwurf weiterzuführen. Es
ist ebenfalls nötig, mit dem gegnerischen Weltentwurf in ständiger
Fühlung zu bleiben und mit ihm, wenn auch auf Distanz, unablässig
zu verkehren. Damit, dass ein transzendentalphilosophisch und phäno-
menologisch angelegtes Denken die Wissenschaft als einen bloßen Wis-
senschaftsbetrieb abtut und die technische Zivilisation als Gestell
brandmarkt, ist der Sache des metontologischen Transzendentalismus
kaum gedient. Was verlangt ist, geht über eine bloße Achtung vor der
geistigen Leistung, die selbst in als unheimlich beurteilten Weltentwür-
fen noch Ausdruck finden kann, deutlich hinaus. Mit einem Wort, das
der an der Johns Hopkins University in Baltimore lehrende Politikwis-
senschaftler William Connolly für seine Haltung in einer Auseinander-
setzung mit Charles Taylors katholisch gefärbter philosophischer
Grundeinstellung 368 geprägt hat, könnte man von einem ›agonalen Res-
365
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Prin-
zips der Philosophie«, in: Jenaer Schriften [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Mol-
denhauer und Karl Markus Michel, Bd. II], S. 9–138, hier: S. 20.
366
Ebd., S. 22.
367
Ebd., S. 21.
368
Vgl. dazu neuerdings Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge (Massachusetts) und
London (England): The Belknap Press of Harvard University Press 2007.
432
Agonale Weltentwürfe
pekt‹ 369 sprechen. Dieser Begriff mutet dem Philosophen zu, sich auf
gegnerische Weltentwürfe einzulassen, sei es auch nur, um die Arbeit
am eigenen Weltentwurf auf eine höhere Stufe zu erheben. Connolly
sagt: »[…] agonaler Respekt bedeutet eine Beziehung respektvoller Ver-
bundenheit über die Unterschiede und über den Wettstreit hinweg, eine
Beziehung, worin der aktive intellektuelle Wettbewerb durch die wech-
selseitige Einsicht in die grundsätzliche Bestreitbarkeit der von jedem
Teilnehmer vorgebrachten Darstellung aufgefangen wird. Agonaler
Respekt stärkt eher die Verbindungen, statt sie zu schwächen, weil er
keinen positiven Fundus an Gemeinsamkeiten als seine einzige Grund-
lage erfordert. Die Verbindung kann auch aus dem Schatten des Un-
durchdringlichen erwachsen, den die Erfahrung des Anderen für Sie
wie auch umgekehrt für ihn in sich schließt.« 370
In diesem agonalen Respekt könnte man geradezu die erwünschte
›Grundbefindlichkeit‹ der Philosophie in unserer von antinomischen
Gegensätzen markierten Epoche erkennen.
369
William E. Connolly, »Catholicism and Philosophy. A Nontheistic Appreciation«, in:
Ruth Abbey (Hg.), Charles Taylor, Cambridge: Cambridge University Press 2004,
S. 166–186, hier S. 167. Auf diese Auseinandersetzung hat mich ein Kollege und Freund
aus Kanada, Prof. em. Dr. Bela Egyed (Carleton University, Toronto, und Concordia Uni-
versity, Montreal) aufmerksam gemacht.
370
Ebd.: »[…] agonistic respect means a relation of respectful connection across diffe-
rence and competition, one in which active intellectual competition is chastened by reci-
procal appreciation of the deep contestability of the projection each partisan makes into
being. Agonistic respect strengthens rather than weakens the connections because it does
not require a positive fund of commonality as its only base. The connection can also grow
out of the shadow of opacity the experience of the other presents to you and you to him.«
(Die deutsche Übersetzung dieses Zitats ist die Arbeit von Hans-Dieter Gondek.)
433
B. Das Unendliche der Welt
435
B. Das Unendliche der Welt
1
Adolf Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Georg Cantor, Gesammelte Abhand-
lungen, hg. von E. Zermelo, Hildesheim: Olms 1962 (reprographischer Nachdruck der
Erstausgabe von 1932), S. 452–483, hier S. 477. Der hier neben Husserl erwähnte Her-
mann Schwarz (1864–1951) studierte Mathematik und Philosophie in Halle. Später wur-
de er Professor für Philosophie zunächst in Marburg, dann in Greifswald. Bereits im
Jahre 1923 trat er der NSDAP bei und verschrieb sich von dieser Zeit an ganz dem, was
er »nationalsozialistische Weltanschauung« nannte.
436
B. Das Unendliche der Welt
Philosophie der Arithmetik ist ein Beleg für Husserls Vertrautheit mit
Cantors grundlegenden Schriften zur Mengenlehre. In Cantors Leben
war der Zeitraum zwischen 1886 und 1901 vom Gesichtspunkt der Ma-
thematik aus zwar nicht die schöpferischste Periode (als solche wird der
Zeitraum zwischen 1871 und 1884 betrachtet), aber gerade in diesen
Jahren errang die Auseinandersetzung mit der philosophischen Traditi-
on und besonders mit der metaphysischen Deutung des Unendlichen
ein überwiegendes Gewicht in seiner Tätigkeit. Mit vollem Recht sagt
Fraenkel:
»Namentlich in den aus den 80er Jahren stammenden Aufsätzen […] kommt
eine ganz erstaunliche Vertrautheit Cantors mit der philosophischen Literatur
zutage, und zwar nicht nur mit weiten Teilen der zeitgenössischen und etwas
älteren Schriften, sondern auch mit den philosophischen Klassikern der frü-
heren Jahrhunderte und bemerkenswerterweise speziell mit den wichtigeren
philosophisch-theologischen Autoren der Scholastik sowie mit Aristoteles.
Ein so tiefgehendes, fast überall auf die Quellen zurückgreifendes, aber auch
die Literatur zweiter Hand in reichem Maße heranziehendes Studium von
Vertretern der älteren griechischen Atomistik und ihren Gegnern, von Plato
und Aristoteles, von Augustin und anderen Kirchenvätern, von Boëthius,
Thomas von Aquino und vielen anderen Scholastikern, von Nicolaus Cusanus
und Giordano Bruno, von Descartes, Spinoza, Locke, Leibniz, Kant und Fries
wird auch vor einem halben Jahrhundert eine seltene Ausnahme gewesen sein
bei einem Forscher, dessen Fachgebiet nicht die Philosophie selbst ist.« 2
Dass der Begründer der Phänomenologie in seiner Jugendzeit mit dem
Urheber der Mengenlehre nicht nur in freundschaftlicher Beziehung
stand, sondern auch einen Ideenaustausch führte, und dass nicht allein
Husserl ein tiefgehendes Interesse an der Mathematik, sondern gleich-
zeitig auch Cantor ein ebenso tiefgehendes Interesse an der Philosophie
hatte, sind weitere Gründe, die für die Wahl der anfänglichen Mengen-
lehre als Dialogpartnerin phänomenologischer Metaphysik sprechen.
Es kann jedoch auch noch ein vierter Grund genannt werden. Es handelt
sich darum, dass einer der wenigen Versuche, eine phänomenologische
Zugangsart zu den exakten Wissenschaften zu finden, im Bereich der
Mengenlehre zu besonders nennenswerten Ergebnissen geführt hat.
Am Anfang der 1980er Jahre fühlte sich Marc Richir als ausgebildeter
Physiker dazu berufen, sich mit dem mengentheoretischen Zahlbegriff
auseinanderzusetzen. Zwar ging er dabei mit dem späten Husserl davon
437
B. Das Unendliche der Welt
3
Marc Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-
rie des ensembles«, in: Études phénoménologiques 3 (1986), S. 83–115, S. 87.
438
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
Georg Cantor ist sich von Früh auf bewusst, eine Theorie entwickelt
zu haben, der innerhalb der Mathematik schon deshalb eine grund-
legende Bedeutung zukommt, weil sie »die Gebiete der Arithmetik,
der Funktionenlehre und der Geometrie zu einer höheren Einheit zu-
sammen[faßt]«. 4 Bald erhebt er aber auch philosophische Ansprüche.
Er tritt dem bekannten Satz aristotelisch-scholastischer Provenienz
entgegen, dem zufolge infinitum actu non datur. 5 Er will, mit anderen
Worten, durch seine mathematische Theorie ȟberendliche[r] Zah-
len«6 die Existenz des Aktual-Unendlichen bewiesen haben. Seitdem
sieht sich jeder philosophische Grundansatz vor die Aufgabe gestellt,
diese Grundthese der Mengenlehre zu bedenken.
Macht man sich mit Cantors gelehrten Betrachtungen über die Ge-
schichte der Philosophie des Unendlichen vertraut, so sieht man so-
gleich, dass der Begriff des Aktual-Unendlichen eine Zweideutigkeit in
sich birgt. Es gab sehr wohl Denker, die Gott unendlich nannten und
dabei ein Aktual-Unendliches meinten. Cantor sieht sie deshalb aber
noch nicht als seine Vorläufer an. Ihm kommt es darauf an, einen ak-
tual-unendlichen Bereich aufzuweisen, der durch Zahlen bestimmbar
ist. Deshalb unterscheidet er zwischen dem Transfiniten, das er als
etwas »Vermehrbares« – und daher auch als etwas zahlenmäßig Be-
stimmbares – betrachtet und dem Absoluten, das er dagegen als etwas
»Unvermehrbares« ansieht. 7 Was das Transfinite betrifft, so hält er
4
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 3
(1882), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 152.
5
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 174.
6
Ebd., S. 176.
7
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 405. – Vgl. Cantor, »Über die verschiedenen Standpunkte in bezug auf
das aktuelle Unendliche« (1885), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 375.
439
B. Das Unendliche der Welt
8
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 417.
9
Ebd., S. 379.
10
Ebd., S. 378.
11
Ebd.
12
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 205, Anm. 2.
13
Ebd.
14
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte
Abhandlungen, S. 405.
440
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
15
Vgl. dazu Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Georg Cantor, Gesammelte Ab-
handlungen, S. 481: »Das religiöse Interesse Cantors tritt vielfach in den Abhandlungen
philosophischen Einschlags […] hervor […]. Von Vaters Seite her jüdischer Abstam-
mung, selbst in der evangelischen Konfession erzogen, welcher der Vater schon vor der
Geburt des Sohnes angehörte, schließlich durch die katholische Atmosphäre der mütter-
lichen Familie stark beeinflußt, teilte er keineswegs das Los vieler, für die solche Über-
schneidungen sich zu weitgehender Gleichgültigkeit in der religiösen Sphäre auswir-
ken […].«
16
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 182.
17 Ebd., S. 181.
441
B. Das Unendliche der Welt
18
Ebd.
19
Ebd., S. 177.
20
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 2
(1880), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 148.
21
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 204.
22 Ebd.: Die so aufgefaßte Menge ist »verwandt […] mit dem Platonischen eidos oder
idea, wie auch mit dem, was Platon in seinem Dialoge ›Philebos oder das höchste Gut‹
mikton nennt. Er setzt dieses dem apeiron, d. h. dem Unbegrenzten, Unbestimmten,
welches ich Uneigentlich-unendliches nenne, sowie dem peras, d. h. der Grenze entgegen
und erklärt es als ein geordnetes ›Gemisch‹ der beiden letzteren.«
442
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
23 Vgl. Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre« (1895–97), in:
443
B. Das Unendliche der Welt
444
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
29
Ebd., S. 351.
30
Ebd., S. 353.
31
Cantor, »Die Grundlagen der Arithmetik. Rezension der Schrift von G. Frege« (1885),
in: Gesammelte Abhandlungen, S. 441.
32 Cantor, »Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre« (1878), in: Gesammelte Abhandlun-
gen, S. 119.
33
Ebd., S. 119 f.
34
Cantor, »Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen«
(1874), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 117 f.
445
B. Das Unendliche der Welt
35 Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre« (1895–97), in: Ge-
446
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
Von der Ordnung der Elemente einer Menge kann, aber muss nicht
abgesehen werden.
Zwei Mengen gleicher Mächtigkeit können sehr wohl noch Unter-
schiede in der Anordnung ihrer Elemente aufweisen. So weist etwa die
Anordnung der natürlichen Zahlen und der ganzen Zahlen auf der Zah-
lengerade einen deutlichen Unterschied auf: Die Menge der natürlichen
Zahlen bildet eine wohlgeordnete Menge, denn jede Teilmenge, die zu
ihr gehört, hat ein erstes Element; von der Menge der ganzen Zahlen
auf der Zahlengerade kann das Gleiche nicht behauptet werden (sie be-
ginnt gleichsam mit dem negativen Unendlichen). Cantor nimmt aller-
dings an, dass grundsätzlich jede Menge wohlgeordnet werden kann
(ohne allerdings diesen »Wohlordnungssatz« je zu beweisen). 38 Trifft
diese Annahme zu, so kann die Betrachtung weiterhin auf schon wohl-
geordnete Mengen beschränkt werden.
Selbst wohlgeordnete Mengen gleicher Mächtigkeit können aber
noch Unterschiede in der Anordnung ihrer Elemente aufweisen. Gehen
wir zum Beispiel von den natürlichen Zahlen aus, wie sie auf der Zah-
lengerade angeordnet sind. Wenn wir jetzt das Anfangselement dieser
Menge ans Ende der ganzen Folge versetzen, gelangen wir zu einer
Menge gleicher Mächtigkeit, die darüber hinaus wohlgeordnet bleibt,
sich aber in der Anordnung ihrer Elemente gleichwohl von der ur-
sprünglichen Menge unterscheidet, da sie im Gegensatz zu ihr nicht
nur ein erstes, sondern auch ein letztes Element hat.
Durch derartige Beobachtungen lässt sich Cantor dazu hinleiten,
das Gemeinsame von wohlgeordneten Mengen, die nicht nur gleicher
Mächtigkeit sind, sondern auch eine Ähnlichkeit in der Anordnung
ihrer Elemente aufweisen, in einen einheitlichen Begriff zu fassen. Die-
ser Begriff heißt »Anzahl« oder, bestimmter und daher richtiger, »Ord-
nungszahl« (heute wird auch der Terminus »Ordinalzahl« verwendet).
38
Vgl. Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 169: »Daß es immer möglich ist, jede wohldefinierte Menge in die Form
einer wohlgeordneten Menge zu bringen, auf dieses, wie mir scheint, grundlegende und
folgenreiche, durch seine Allgemeingültigkeit besonders merkwürdige Denkgesetz wer-
de ich in einer späteren Abhandlung zurückkommen.« Der Wohlordnungssatz wurde
allerdings erst im Jahre 1904 von Ernst Zermelo mit Hilfe des Auswahlprinzips bewie-
sen. (Siehe Ernst Zermelo, »Proof that Every Set Can Be Well-Ordered«, in: van Heije-
noort, From Frege to Gödel, S. 139–141; vgl. Ernst Zermelo, »A New Proof of the Possi-
bility of a Well-Ordering«, in: van Heijenoort, From Frege to Gödel, S. 183–198,
besonders S. 183–186.)
447
B. Das Unendliche der Welt
39
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 181.
448
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
40
Edmund Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], hg. von Lothar
Eley, Den Haag: Martinus Nijhoff 1970, S. 219. – Husserl beschreibt, wie wir zu einer
449
B. Das Unendliche der Welt
derartigen Vorstellung kommen. Er sagt: »Wir stellen also, wenn wir vom Inbegriffe
aller natürlichen Zahlen sprechen, zunächst eine Menge im gewöhnlichen Sinne vor,
nämlich die Zahlen eines Anfangsstückes der Zahlenreihe […]. Dazu tritt die ergänzende
Vorstellung, daß diese Reihe vermöge ihres Bildungsprinzips erweitert werden könne in
infinitum, wobei jedes neue Glied durch den Prozeß bestimmt sei.« (Ebd., S. 220.)
41
Ebd.
42
Ebd., S. 220 f.
43 Siehe Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884),
450
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
451
B. Das Unendliche der Welt
haben. Genauer gesagt handelt es sich um einen Satz, der nach Cantor
benannt wurde: Die Potenzmenge P(M), die aus allen Teilmengen der
Menge M besteht, ist von größerer Mächtigkeit als M selbst.
Der Beweis dieses Satzes ist höchst merkwürdig. In indirekter Vor-
gehensweise wird zunächst das Gegenteil der Behauptung angenom-
men. Die Mächtigkeit der Potenzmenge soll also nicht größer sein als
die Mächtigkeit der Menge M. Der Fall, dass sie kleiner sein sollte, kann
allerdings leicht ausgeschlossen werden. Es bleibt nur noch der Fall üb-
rig, dass die beiden Mengen gleichmächtig sind. Das gilt also als die zu
widerlegende Ausgangshypothese. Sie erfordert die Annahme eines
umkehrbar eindeutigen Zuordnungsverhältnisses zwischen den Ele-
menten von M und den Elementen von P(M).
Was liegt in dieser Ausgangshypothese? Sie lässt die Menge M,
wie Richir hervorhebt, nicht nur als eine Menge all ihrer Elemente,
sondern zugleich als eine Menge all ihrer Teilmengen erscheinen. 45 Eine
derartige Menge wäre offenbar ›mächtig‹ genug, um alles zu umfassen,
was aus ihren Elementen durch arithmetische Operationen gebildet
werden kann (denn keine andere Operation erhöht die Kardinalzahl).
Sie wäre daher nicht nur überhaupt ein gegebenes Ganzes, sie wäre
sogar ein unbedingtes Ganzes.
Die tatsächliche Ansetzung einer Menge als unbedingtes Ganzes
läuft den Grundüberzeugungen Cantors entgegen. Sie ließe ja eine Un-
terscheidung zwischen dem Transfiniten und dem Absolutunendlichen
gar nicht aufkommen.
Es handelt sich aber um eine Ausgangshypothese, die sozusagen
den Keim ihrer Selbstaufhebung in sich trägt. Das wird durch die An-
wendung des Diagonalverfahrens gezeigt.
Wie wird aber die Unhaltbarkeit der Ausgangshypothese bewie-
sen? Es genügt zu diesem Zweck, eine Teilmenge von M aufzuweisen,
die als solche ein Element der Potenzmenge P(M) bildet, aber keinem
Element von M zugeordnet ist. Als eine derartige Teilmenge erweist
sich die Menge D (»Diagonalmenge«), wenn sie auf geeignete Weise
definiert wird.
verfahrens deutlich zu machen, dass die Mächtigkeit dieses Inbegriffs größer als die
Mächtigkeit des Kontinuums ist.
45
Marc Richir, »De l’illusion transcendentale dans la théorie cantorienne des ensem-
bles«, in: Annales de l’Institut de Philosophie de l’Université Libre de Bruxelles, Bruxel-
les: Éditions de l’Université de Bruxelles 1986, S. 93–118, hier: S. 106.
452
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
46 Vgl. Henri Poincaré, Wissenschaft und Methode, Stuttgart: Teubner 1973 (unver-
453
B. Das Unendliche der Welt
deutlich der Fall: Die Definition der Diagonalmenge D setzt die Gege-
benheit der Potenzmenge P(M) voraus. Nicht-prädikative Definitionen
sind zwar keineswegs a limine zu verwerfen. Sie kommen in hoher
Anzahl in den verschiedenen Zweigen der Mathematik vor. Selbst Hen-
ri Poincaré, der – an Bertrand Russell anknüpfend, aber das bei ihm
Entlehnte zugleich wesentlich verwandelnd – das Problem der Nicht-
Prädikativität als erster mit aller Bestimmtheit in den Mittelpunkt rück-
te, lehnte derartige Definitionen keineswegs in allen Fällen ab. Mit der
Definition der Diagonalmenge hat es aber eine besonders verfängliche
Bewandtnis. Ihr kommt nämlich einerseits eine Schlüsselrolle im Be-
weisverfahren zu, das den Mächtigkeitsunterschied zwischen einer
Menge M und ihrer Potenzmenge P(M) überhaupt erst darzutun hat;
andererseits setzt sie jedoch die Gegebenheit der Potenzmenge P(M)
voraus. Damit scheint eine Vorentscheidung getroffen worden zu sein,
bevor der eigentliche Beweis erbracht wurde: Es wird, wie Richir be-
merkt, als eine Selbstverständlichkeit angesehen, dass die Gesamtheit
aller Teilmengen, die aus den Elementen einer Menge gebildet werden
können, ihrerseits als ein gegebenes Ganzes – mithin als eine Menge –
gelten kann. 47 Nicht ohne Grund sind Russell und Poincaré davon über-
zeugt, dass nicht-prädikative Definitionen zumindest die Gefahr von
Zirkelschlüssen heraufbeschwören. Daher entsteht die Frage, ob man
die Nicht-Prädikativität im Beweis des Mächtigkeitsunterschieds zwi-
schen Menge und Potenzmenge nicht vermeiden könnte. Adolf Fraen-
kel sagt jedoch: »Die Potenzmenge, dieses entscheidend wirksame
Werkzeug der Mengenlehre […] kann wohl nicht ganz des nicht-prädi-
kativen Momentes entkleidet werden.« 48
änderter, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig und Berlin 1914), S. 174.
(Poincaré greift damit eine Idee von Jules Richard auf.)
47
Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensembles«,
S. 109: »[…] avec E, on ne dispose pas du moyen d’identifier ou d’individuer toutes ses
parties, qui constituent, du moins intuitivement, un nouveau Tout, P(E) qui inclut
strictement E, toute la question étant de savoir si l’on peut rassembler en une collection
unique toutes les parties de l’ensemble E, c’est-à-dire de savoir si les parties de E peuvent
constituer un ensemble P(E).«
48
Adolf Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre, Berlin: Springer 1928, S. 253. – Daran
ändern, soweit ich sehe, auch die späteren Ergebnisse nichts. Im Anschluss an Gödel
versucht Paul Cohen in den sechziger Jahren Ordnungszahlen durch grundsätzlich prä-
dikative Konstruktionen aufzubauen. Dabei erinnert er aber an folgendes: »Philosophi-
cally we will have gained nothing since we do not say how our ordinals are obtained nor
do we distinguish between ›predicative‹ and ›impredicative‹ ordinals.« (Paul J. Cohen, Set
454
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
Theory and the Continuum Hypothesis, New York und Amsterdam: W. A. Benjamin,
Inc. 1966, S. 86.)
49
Auf Poincaré bezieht sich Richir nicht ausdrücklich, und er gebraucht auch das Wort
›nicht-prädikativ‹ nicht. Er stützt sich aber stark auf Jules Richard, den Entdecker eines
mengentheoretischen Paradoxons, von dem Poincaré ausging, um den Begriff der Nicht-
Prädikativität zu präzisieren. Auch in Gödel schätzt Richir eigens den Weiterführer Ri-
chards. Bekanntlich bezieht sich Gödel ausdrücklich auf Richard. (Siehe Kurt Gödel, »On
Formally Undecidable Propositions of Principia Mathematica and Related Systems I«
and »On Completeness and Consistency«, in: From Frege to Gödel, S. 592–617, hier:
S. 598.) Von Poincaré führt ein Weg auch zu Thoralf Skolem, der seine Deutung des nach
Leopold Löwenheim und ihm selbst benannten Theorems mit wichtigen Überlegungen
zum Problem der Nicht-Prädikativität verbindet. (Siehe Thoralf Skolem, »Some Re-
marks on Axiomatized Set Theory« [1922], in: From Frege to Gödel, S. 297 f.) Dem Lö-
wenheim–Skolem-Theorem weist Richir in seinen Betrachtungen eine Schlüsselrolle zu.
Eine weitere Quelle zu dieser Problematik ist für ihn das Buch von Jean Cavaillès, Phi-
losophie mathématique (Paris: Hermann 1962, S. 267), das er auch als Textgrundlage
benutzt; das Buch enthält nämlich eine Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Cantor
und Dedekind.
50
Denn die Menge D soll aus allen Elementen von M bestehen, die der ihnen im Sinne
der Ausgangshypothese jeweils zugeordneten Teilmenge innerhalb der Menge P(M)
nicht zugehören.
51
Marc Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensem-
bles«, S. 113: »[…] si l’on abandonne l’hypothèse H […], il devient impossible de con-
stituer l’ensemble diagonal […].« – Eine derartige Unbestimmtheit besteht nach Richir
selbst in dem ursprünglichen Beweis der Nichtabzählbarkeit der reellen Zahlen, wie er
von Cantor zunächst im Jahre 1974, dann im Jahre 1979 mit Hilfe von »Fundamentalrei-
hen« (Cauchy-Folgen) geführt wurde. Denn es lässt sich diesem Beweis nicht entneh-
men, ob eine irrationale oder eine transzendente Zahl den Grenzwert bildet, dem sich
455
B. Das Unendliche der Welt
Sie enthüllt sich, behauptet Richir, als bloßer Schein. Es handelt sich
dabei allerdings, wie er hervorhebt, um einen Schein, der sich aus der
Ausgangshypothese mit voller Notwendigkeit ergibt. Dies ändert je-
doch nichts daran, dass der Diagonalmenge – und damit auch der Po-
tenzmenge – letztlich eine unaufhebbare Unbestimmtheit anhaftet. 52
* * *
Es entsteht hier allerdings die Frage, wie weit sich Richirs Behauptun-
gen auf die beiden konkreteren Beweise beziehen lassen, die Cantor
durch die Anwendung des Diagonalverfahrens erbrachte. Sehen wir
uns den ersten Beweis näher an, in dem gezeigt wird, daß »die Gesamt-
heit aller reellen Zahlen eines beliebigen Intervalles (α…β) sich nicht in
der Reihenform ω1, ω2, …, ων, … darstellen lässt«. 53 Der Beweis wird
auch diesmal auf indirekte Weise geführt. Die zu widerlegende Aus-
gangshypothese besagt hier, daß das Linearkontinuum gleichmächtig
mit der Menge der natürlichen Zahlen ist. Um das Gegenteil zu bewei-
sen, betrachtet Cantor die Menge M aller unendlichen Dualbrüche E =
(x1, x2, …, xν, …), durch die sich die zum fraglichen Intervall gehören-
den reellen Zahlen vertreten lassen. Aus der Definition der Dualbrüche
folgt, daß xν entweder 0 oder 1 ist. Die Anwendung des Diagonalver-
fahrens besteht hier in dem Nachweis, dass es zu jeder abzählbar unend-
lichen Folge derartiger Dualbrüche E1, E2, …, Eμ, …, deren jeder ein
Element von M ist, einen unendlichen Dualbruch E0 gibt, der gleichfalls
Element der Menge M ist, aber mit keinem Glied Eν der erwähnten
Folge übereinstimmt.
Dies wird gezeigt wie folgt. Im Sinne des Gesagten ist Eμ = (aμ, 1,
aμ, 2, …, aμ, ν, …), wobei aμ, ν jeweils entweder den Wert 0 oder den
Wert 1 annimmt. So gibt es aber ein Element E0 = (b1, b2, …), das der
folgenden Forderung entspricht: Es sei bν = 0, wenn a ν, ν = 1 ist; und es
sei b ν = 1, wenn a ν, ν = 0 ist. (Aus dieser Forderung geht deutlich her-
vor, weshalb hier von ›Diagonale‹ die Rede ist.) Es ist nicht schwer ein-
zusehen, dass das so bestimmte E0 ein Element der Menge M ist und
eine Folge rationaler Zahlen nähert, ja, es könnte, wie Richir hinzusetzt, im Prinzip sogar
der Fall sein, daß dieser Grenzwert a priori unbestimmt ist. (Siehe ebd., S. 99.)
52
Ebd., S. 111: »[…] l’ensemble diagonal ne peut être que radicalement indétermi-
né […].«
53
Cantor, »Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre« (1890–91), in: Ge-
sammelte Abhandlungen, S. 278.
456
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
54 Ebd., S. 279.
457
B. Das Unendliche der Welt
erfüllt ist, sieht man sich nicht dazu angehalten, ausdrücklich zu bewei-
sen – bzw. auf axiomatische Weise zu garantieren –, dass die Existenz
des Elementes E0 von keiner bestimmten Auswahl und Anordnung der
Elemente E1, E2, …, Eμ, …, … abhängig ist. Ähnliches ließe sich von
dem zweiten konkreten Fall sagen, auf den Cantor die Idee des Dia-
gonalverfahrens anwendet.
* * *
458
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
55
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 197 und S. 199.
56 Siehe ebd., S. 197–199. Vgl. Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Men-
459
B. Das Unendliche der Welt
ken sich mit dem Problem des Endlichen und des Unendlichen konfron-
tiert sieht. Das – und nichts anderes – hat Richir im Sinn, wenn er
zwischen Kant und Cantor eine Analogie herauszustellen sucht.
Natürlich weiß er, dass Kant selbst die angeführten Bestimmungen
auf die Welt – und zwar auf die Welt der Erscheinungen – bezieht und
eben deshalb dem Raum und der Zeit in der Entstehung der Antino-
mien eine Hauptrolle zuweist. Gerade eine Auseinandersetzung mit der
Mengentheorie legt aber die Einsicht nahe, dass die letzte Quelle der
Antinomien tiefer liegt. Schon deshalb, weil das Problem des Raums
und der Zeit in der Mengentheorie gänzlich hinter dem Problem des
arithmetischen Kontinuums zurücktritt. In der Tat hält Cantor die Zeit
für »eine Vorstellung, die zu ihrer deutlichen Erklärung den von ihr
unabhängigen Kontinuitätsbegriff zur Voraussetzung hat« 60, und er
drückt die Überzeugung aus, dass »man mit der sogenannten Anschau-
ungsform des Raumes gar nichts anfangen kann, um Aufschluß über
das Kontinuum zu gewinnen« 61. Damit verlagert sich der Akzent bei
Cantor auf die unendlichen Zahlenmannigfaltigkeiten. 62 Wenn in der
Mengenlehre Cantors trotzdem Antinomien auftreten werden, so kön-
nen sie gewiss nicht auf das Problem von Raum, Zeit und Welt zurück-
geführt werden.
Es steht damit in Einklang, dass Richir die Wurzel der Antinomien
tiefer zu erfassen sucht. Wenn er sie im Umgang vernünftigen Denkens
mit dem Unendlichen überhaupt findet, so entfernt er sich doch wieder
nicht allzu sehr vom Geist der Kritik der reinen Vernunft.
Worin besteht aber der Sinn der Analogie, die er zwischen Kant
und Cantor herausstellt? Diese Frage drängt sich umso zwingender auf,
als es wohl keinen anderen Text in der Geschichte der Philosophie gibt,
den Cantor mit so harten Worten beurteilt hätte wie gerade das Anti-
nomiekapitel der Kritik der reinen Vernunft. »Es dürfte kaum jemals« –
sagt Cantor – »[…] mehr zur Diskreditierung der menschlichen Ver-
nunft und ihrer Fähigkeiten geschehen sein, als mit diesem Abschnitt
60
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 191.
61 Ebd., S. 192.
62
Im Hintergrund steht ein mathematischer Satz, dem zufolge »stetige Mannigfaltigkei-
ten von einer unendlich großen Dimensionenzahl dieselbe Mächtigkeit haben wie stetige
Mannigfaltigkeiten von einer Dimension […].« Siehe Cantor, »Ein Beitrag zur Mannig-
faltigkeitslehre« (1878), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 131.
460
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
63 Cantor, »Über die verschiedenen Standpunkte in bezug auf das aktuelle Unendliche«
(1885), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 375.
64
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 516.
65
Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théorie
des ensembles«, S. 104: »[…] l’antinomie dont nous venons de proposer une première
ébauche joue, non pas comme chez Kant, entre le fini et l’infini, mais entre deux concep-
tions possibles de l’infini, l’une, celle du transfini qui pourrait se régler par transposition
du fini dans l’infini, et l’autre qui ne pourrait en rien se régler parce qu’elle serait pour
ainsi dire celle d’un infini absolument infini.«
66 M. Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-
461
B. Das Unendliche der Welt
eine Zahl δ zukommen, die größer wäre als alle Zahlen des Systems Ω; im System Ω
kommt aber, weil es alle Zahlen umfaßt, auch die Zahl δ vor; es wäre also δ größer als δ,
was ein Widerspruch ist.«
68
Ebd., S. 443.
69 Ebd.
70
Ebd.
71
Ebd.
72
Ebd., S. 447: »Beweis. Nehmen wir eine bestimmte Vielheit V und setzen voraus, daß
ihr kein Alef als Kardinalzahl zukommt, so schließen wir, daß V inkonsistent sein muß. –
Denn man erkennt leicht, daß unter der gemachten Voraussetzung das ganze System Ω
in die Vielheit V hineinprojizierbar ist, d. h. daß eine Teilvielheit V’ von V existieren muß,
die dem System Ω äquivalent ist. – V ist inkonsistent, weil Ω es ist, es muß also auch
dasselbe von V behauptet werden. – Mithin muß jede transfinite konsistente Vielheit,
jede transfinite Menge ein bestimmtes Alef als Kardinalzahl haben.« – Man sieht, daß
sich Cantor in diesem Beweis auf folgenden Satz stützt: »Zwei äquivalente Vielheiten
sind entweder beide ›Mengen‹, oder beide inkonsistent.« (Ebd., S. 444.) Dieser Satz ist
gleichbedeutend mit dem ›Ersetzungsaxiom‹, das später von A. Fraenkel und anderen
formuliert wird.
462
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
Vielheiten im Bereich des Transfiniten, wenn nicht die von alters her
bestehende Vertrautheit Cantors mit dem Absolutunendlichen?
Allerdings bemerkt Fraenkel in seiner Cantor-Biographie über den
gerade erwähnten Beweis: »Wie wenig dieser ›Beweis‹ ihn selbst befrie-
digt, zeigt seine kurz darnach an Dedekind ausgesprochene Bitte, er
möge mittels seiner Kettentheorie einen ›direkten‹ Beweis der Ver-
gleichbarkeit geben. So hat auf Cantor von 1884 bis zu seinem Tode
das Offenbleiben des Kontinuumproblems nachhaltig eingewirkt und
in ihm sogar zeitweise einen Zweifel entstehen lassen, ob die Mengen-
lehre in ihrer jetzigen Gestalt als wissenschaftliches Gebäude haltbar
sei.« 73 Auch aus diesen Worten geht aber hervor, dass nicht die Ent-
deckung der Antinomien die eigentliche Erschütterung für Cantor be-
deuteten. Nach all dem, was wir wissen, hat Cantor die – von Cesare
Burali-Forti ebenfalls entdeckte und nach ihm benannte – Antinomie
der Menge aller Ordnunszahlen Ω bereits im Jahre 1895 erkannt und
im nächsten Jahr David Hilbert brieflich mitgeteilt; diese Erkenntnis hat
ihn also nicht daran gehindert, gleichzeitig sein systematisches Haupt-
werk, die »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, zu
veröffentlichen (der erste Teil erschien im Jahre 1895, der zweite im
Jahre 1897). Entscheidend für Cantors psychische Schwankungen, so-
weit diese mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit überhaupt zusam-
menhingen, waren – schon im Jahre 1884 – wohl eher die vergeblichen
Versuche, das Kontinuumproblem zu bewältigen.
73
Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Cantor, Gesammelte Abhandlungen,
S. 470.
463
B. Das Unendliche der Welt
74
Diese Behauptung scheint auch mit der Gödel’schen stufenweisen Erzeugung aller
Mengen durch die wiederholte (iterative) Ausführung der Operation »Menge von …«
und die wiederholte Bestimmung der jeweiligen Axiome im Einklang zu stehen. Siehe
Kurt Gödel, Unpublished Philosophical Essays, Basel, Boston und Berlin: Birkhäuser
1995, S. 130 f.
75
Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensembles«,
S. 114.
76
M. Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-
rie des ensembles«, S. 112.
464
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein
465
B. Das Unendliche der Welt
77
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2.
78
Ebd.: »Die absolut unendliche Zahlenfolge erscheint mir daher in gewissem Sinne als
ein geeignetes Symbol des Absoluten […].«
79 Ebd.: »[…] es bilden […] auch die Mächtigkeiten eine absolut-unendliche Folge«.
466
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
80
Ebd., S. 443.
81
Zu den nachstehenden Erörterungen vgl. von Prof. Dr. Kai Hauser, mit dem ich meh-
rere Gespräche über das Verhältnis von Platon und Cantor hatte, besonders den Aufsatz
»Cantor’s Concept of Set in the Light of Plato’s Philebus«, in: The Review of Metaphysics
63 (2010), S. 784–805.
82 Ebd., S. 204, Anm. 1.
83
Platon, Philebos, 25 b [Opera, Bd. II]; dt. Sämtliche Werke, griechisch-deutsche zwei-
sprachige Ausgabe, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, ergänzt durch Übersetzun-
gen von Franz Susemihl und anderen, hg. von Karlheinz Hülser, 10 Bände, hier: Bd. VIII,
Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1991.
467
B. Das Unendliche der Welt
84
Aristoteles, Metaphysik, A 985 b 23 ff.
85
Diels und Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 44 B 2. Vermutlich kannte Cantor
dieses Fragment aus August Boeckhs Buch über Philolaos (Philolaos des Pythagoreers
Lehren nebst den Bruchstücken seines Werkes, Berlin: Vossische Buchhandlung 1819,
S. 45 ff.), auf das er an einer Stelle selbst hinweist (Gesammelte Abhandlungen, S. 204,
Anm. 1). Ich danke Herrn Prof. Dr. Kai Hauser auch dafür, dass er mir dieses Grundwerk
der klassischen Philosophie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zusammen mit
anderen Quellentexten zu Cantors philosophiehistorischen Bemerkungen (siehe weiter
unten, S. 482, Anm. 128) – zugänglich machte. Seit Erich Franks Plato und die soge-
nannten Pythagoreer (Tübingen: Niemeyer 1923) ist das Werk von August Boeckh al-
lerdings höchst umstritten, weil darin Lehren, die vermutlich aus der platonischen Aka-
demie – so etwa von Speusippos und Xenokrates, den beiden nächsten Nachfolgern von
Platon – stammen, dem Pythagoreer Philolaos zugeschrieben werden. Für einen aus-
gewogenen Standpunkt siehe Walter Burkerts Weisheit und Wissenschaft. Studien zu
Pythagoras, Philolaos und Platon (Nürnberg: Hans Carl 1962). Für eine Textausgabe der
heute anerkannten Fragmente des pythagoreischen Philosophen aus dem 5. Jahrhundert
siehe Carl A. Huffman, Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic, Cambridge:
Cambridge University Press 1993.
86 Platon, Philebos, 24 a-c.
468
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
87 Ebd., 18 a-e.
469
B. Das Unendliche der Welt
88
Ebd., 27 b.
89 Ebd., 26 d.
470
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
eine Mischung oder ein Gemisch von bestimmender Grenze und Unbe-
stimmt-Unbegrenztem verstanden wird. Das Bild der Mischung (μεῖ-
ξιϚ) ist dazu bestimmt, den ungleichartigen Ursprung von πέραϚ und
ἄπειρον anzudeuten. Der Ursprung der bestimmenden Grenze liegt im
Reich der Ideen, da die Ideen die Gliederung der Wahrnehmungswirk-
lichkeit nach Gattungen und Arten festlegen. Dagegen ist das Unbe-
stimmt-Unbegrenzte in der Wahrnehmungswirklichkeit heimisch, da
diese nicht nur ein Bereich von Werden und ständiger Veränderung ist,
sondern sich auch als eine Sphäre des mehr oder weniger erweist. Die-
ser ungleichartige Ursprung hat zur Folge, dass ein dauerhaftes Sein
niemals aus der Wahrnehmungswirklichkeit selbst abgeleitet, sondern
ihr nur hinzugefügt – im Bilde gesprochen: ›beigemischt‹ – werden
kann.
Mit der Idee einer Mischung von bestimmender Grenze und Un-
bestimmt-Unbegrenztem verbindet sich im Philebos darüber hinaus
eine Unterscheidung zwischen zwei Vorgehensweisen, eine Vielheit in
einer Einheit zusammenzufassen oder die Einheit einer Vielheit zu be-
greifen. Platon will zeigen, dass die einzig richtige Vorgehensweise, die
zu diesem Zweck führt, gerade darin besteht, dem Unbestimmt-Unbe-
grenzten bestimmende Grenzen oder Grenzbestimmungen ›beizumi-
schen‹. Diese Vorgehensweise wird im Philebos einer anderen Methode
gegenübergestellt, die durch eine unmittelbare Verbindung von Ein-
heit und Vielheit charakterisiert ist. Das Ergebnis dieser weit verbrei-
teten Methode ist aber nach Platon auch nur ein unmittelbares Um-
schlagen der Gegensätze ineinander, wobei die der Vielheit ohne die
Vermittlung eines genau bestimmten Gliederungssystems auferlegte
Einheit im Unbestimmt-Unbegrenzten untergeht. Im Philebos wird
dies vor allem am Beispiel der Lust erwiesen. Platon macht deutlich,
dass ›Lust‹ ein Gattungsbegriff ist, der nicht nur verschiedene, sondern
einander in manchen Fällen geradezu entgegengesetzte Arten um-
fasst. 90 Hält man einfach an der Einheit dieses in sich selbst undiffe-
renzierten Gattungsbegiffs fest, ohne seine innere Artikulation bis in
die letzten Unterteilungen zu beachten, so verliert man jeden Anhalts-
punkt zur Orientierung im Unbestimmt-Unbegrenzten. Da die Einheit
des undifferenzierten Gattungsbegiffs in manchen Fällen einander ge-
radezu entgegengesetzte Arten umfasst, verwickelt man sich dabei so-
gar in Widersprüche mit sich selbst. Diese Vorgehensweise führt folg-
90 Ebd., 12 c–13 a.
471
B. Das Unendliche der Welt
91
Ebd., 17 a.
92 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 166.
472
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
93
Ebd., S. 175.
94
Vgl. Walter Purkert, »Georg Cantor und die Antinomien der Mengenlehre«, in: Bul-
letin de la société mathématique de Belgique XXXVIII (1986), S. 313–327, hier: S. 320:
»[…] Cantor [war] mit der Ausarbeitung der Theorie der transfiniten Ordinal- und Kar-
dinalzahlen (also spätestens 1883) auch klar […], daß das System aller Ordinalzahlen
oder das aller Kardinalzahlen keine Mengen sind […].« Schon in diesem Aufsatz, auf
den mich Herr Prof. Dr. Erhard Scholz vom Mathematischen Institut der Bergischen
Universität Wuppertal dankenswerterweise aufmerksam gemacht hat, setzt Purkert hin-
473
B. Das Unendliche der Welt
zu: »Für Cantor war die transfinite Mengenlehre eine mathematische Repräsentation der
göttlichen Idee unendlicher Zahlen bzw. eine Theorie des in natura naturata aufgrund
dieser Idee existierenden Unendlichen. […] Dieser ontologischen Begründung, der der
Logizismus Dedekinds und Freges völlig fern lag, war die Tatsache, daß etwa die Folge
aller Ordinalzahlen, die ja per definitionem alle Unendlichkeiten enthalten mußte, ein
widersprüchlicher Begriff war, gewissermaßen eine Bestätigung dafür, daß alle Unend-
lichkeiten nicht Gegenstand des menschlichen Forschens und damit auch nicht der Ma-
thematik sein können. Für Cantor wäre es im Gegenteil beunruhigend gewesen, wenn
sich das System aller Ordinalzahlen als konsistent herausgestellt hätte.« (S. 322.) Vgl.
Walter Purkert und Hans Joachim Ilgauds, Georg Cantor 1845–1918, Basel, Boston und
Stuttgart: Birkhäuser 1987, S. 154–156.
95 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 391.
474
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
96
Ebd., S. 205, Anm. 2.
97
Aristoteles, Met., Λ 7, 1073 a 7–8: »οὐδὲν δ’ἔχει δύναμιν ἄπειρον πεπερασμένον«.
(In der von Horst Seidl neu bearbeiteten Übersetzung von Hermann Bonitz lautet diese
Stelle wie folgt: »[…] nichts Begrenztes aber hat ein unbegrenztes [unendliches] Ver-
mögen«.) Ein solches Vermögen muss aber nach Aristoteles dem Gott zugeschrieben
werden.
98 Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–
12: »ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν οὐ τῷ ἀδιεξιτήτῳ ἢ τοῦ μεγέθουϚ ἢ τοῦ ἀριθμοῦ
ἀλλὰ τῷ ἀπεριλήπτῳ τῆϚ δυνάμεωϚ«; dt. S. 70: »In dem Sinne muß man ihn [den
Uranfang, das Eine] auch als unendlich auffassen: nicht weil seine Größe oder Anzahl
nicht bis zum Ende durchlaufen werden kann, sondern wegen seiner unfaßbaren Kraft.«
475
B. Das Unendliche der Welt
nitum actu non datur zuerst von Aristoteles aufgestellt, 99 um dann von
der mittelalterlichen Scholastik übernommen und weitergeführt zu
werden, 100 aber die Gültigkeit dieser Behauptung beschränkt sich wäh-
rend der anderthalb Jahrtausende, die Thomas von Aquin von Aristo-
teles trennen, immer nur auf das Unendliche in seinem quantitativ-
mathematischen Sinne. Dagegen wurde das Unendliche in seinem dy-
namisch-metaphysischen Sinne schon von Aristoteles und nach Aristo-
teles dann besonders seit Plotin immer wieder behauptet. So etwa von
Thomas von Aquin, bei dem es von Gott ausdrücklich heißt: »[…] ejus
virtus [est] infinita«, wobei das Wort virtus an dieser Stelle am geeig-
netsten durch Kraft wiedergegeben werden kann. 101 Ähnlich ist es mit
Johannes Duns Scotus bestellt. 102 Seitdem Anaximandros seine Philoso-
phie auf den Begriff des ἄπειρον gründete, gab es keine Blütezeit des
westlichen Denkens, in der die Idee des Unbestimmt-Unbegrenzten
oder des Unendlichen völlig fallengelassen wurde. Gewiss ist ein horror
infiniti für die Periode von Aristoteles bis zu den großen Denkern der
Scholastik bezeichnend, aber nur in dem eingeschränkten Sinne, dass
die aktuelle Existenz des Quantitativ-Unendlichen zu dieser Zeit durch-
weg bestritten wurde.
Allerdings ist es verständlich, wenn sich Cantor als Mathematiker
auch in seinen philosophiehistorischen Bemerkungen vor allem für das
Schicksal des Aktual-Unendlichen im quantitativ-mathematischen Sin-
ne interessiert. Ein Durchbruch zu einem Aktual-Unendlichen in die-
sem Sinne erfolgt erst bei Nikolaus von Kues (1401–1464), in dem Can-
tor einen seiner Vorgänger sieht. 103 Cusanus ist wohl der erste Denker,
der die Grenzlinie zwischen dem Dynamisch-Unendlichen und dem
99 Aristoteles, Met., K 10, 1066 d 11–12: »Καὶ ὅτι οὐκ ἔστιν ἐνεργείᾳ εἶναι τὸ ἄπει-
ρον, δῆλον«. (In der von Horst Seidl neu bearbeiteten Übersetzung von Hermann Bonitz:
»Daß aber nicht in Wirklichkeit das Unendliche sein kann, leuchtet ein«.) Vgl. Aristote-
les, Physik, Γ 4–8.
100
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., pars I, qu. 7, art. 3, resp., Bd. I, S. 41; dt.
Dominikaner- und Benediktinerausgabe (Lateinisch-Deutsch), hg. vom Kath. Akademi-
kerverband in 33 Bänden, Walberberg und Graz 1933 ff., Bd. I, 133 f.: »Et de corpore
quidem naturali, quod non possit esse infinitum in actu, manifestum est.« (Auf Deutsch:
»Beim naturwirklichen Körper zunächst ist es ohne weiteres klar, daß er nicht tatsächlich
[= aktual] unendlich sein kann.«)
101
Thomas von Aquin, Summa theol., pars I, qu. 7, art. 2, Bd. I, S. 39.
102
Duns Scotus, Lectura, dist. 3, qu. 2, a. 50–53 [Opera omnia, Bd. XVI], S. 244; dt.
S. 30–33.
103 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2.
476
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
Bd. I], Teil I, S. 12–14: »Maximum vero tale [sc. maximum simpliciter] necessario est
infinitum.«
108
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 391: »[…] dem Absoluten, dem absoluten
Maximum […]«. Vgl. ebd., S. 405.
477
B. Das Unendliche der Welt
nannt wird. Wir können uns von diesem Zusammenhang eine Klärung
von Cantors Idee des Absolutunendlichen versprechen. Umso mehr, als
wir in dem Werk Über die belehrte Unwissenheit nicht allein Gedanken
von Gottes aktualer Unendlichkeit, sondern auch mathematische Vor-
stellungen von dieser Unendlichkeit finden.
Nikolaus von Kues stützt sich dabei auf ein Gedankenexperiment,
das aus dem 12. Jahrhundert stammt. 109 Er stellt sich die Frage, was
einem Kreis oder einer Kugel von endlichem Radius widerfährt, wenn
er oder sie über alle endlichen Maße hinaus vergrößert wird. Er gibt auf
diese Frage die Antwort, dass der Mittelpunkt des Kreises oder der Ku-
gel plötzlich allgegenwärtig wird, da er sich nicht einmal mehr von den
Punkten der Peripherie unterscheiden lässt. 110 Nach diesem Muster
stellt Cusanus auch weitere Gedankenexperimente an. So versucht er
zu zeigen, dass ein Dreieck im Unendlichen in eine Linie übergeht.
Nikolaus von Kues betrachtet diese Gedankenexperimente als die
eigentlichen Schlüssel zum Verständnis des Unendlichen. Allerdings
liegt es ihm fern, die Unendlichkeit der von ihm untersuchten geo-
metrischen Figuren wie Kreis, Kugel, Dreieck oder Linie unmittelbar
mit der Unendlichkeit Gottes gleichzusetzen. Im ersten Buch von De
docta ignorantia beschreibt er die Unendlichkeit Gottes als eine »abso-
lut einfache Unendlichkeit« (infinitum simplex absolutum 111), die »kei-
ne Teile hat«. 112 Diese absolut einfache Unendlichkeit stellt er dabei
nicht allein der Endlichkeit, sondern auch der Unendlichkeit der über
alle endlichen Maße hinaus vergrößerten geometrischen Figuren ge-
genüber, 113 indem er hervorhebt, dass die geometrischen Figuren selbst
noch im Unendlichen ihre Teile bewahren; allerdings setzt er hinzu,
109 Dieser Hinweis bezieht sich auf die zweite Definition Gottes im so genannten Buch
der 24 Philosophen (die in Rede stehende Definition lautet wie folgt: »Deus est sphaera
infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam«). Siehe Was ist Gott? Das
Buch der 24 Philosophen, lateinisch–deutsche zweisprachige Ausgabe, übersetzt und
kommentiert von Kurt Flasch, München: Beck 32013 (12011), S. 29: »Gott ist die unend-
liche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.« Vgl. weiterhin
Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli,
Stuttgart: Reclam 2001, S. 286–292, hier: S. 290; Alexandre Koyré, Du monde clos à
l’univers infini, Paris: Gallimard 1962, S. 30 f.
110 Cusanus, De docta ignorantia I, n. 64, l. 10 [Philosophisch-theologische Werke,
478
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
dass diese Teile dann ebenfalls unendlich werden. 114 Ein weiterer Unter-
schied ergibt sich daraus, dass die Unendlichkeit mathematischer Ge-
genstände durch die Verwirklichung (Aktualisierung) der Möglichkei-
ten entsteht, die in den endlichen Gestalten dieser Gegenstände
enthalten sind, 115 die absolut einfache Unendlichkeit dagegen schon in
sich selbst eine »unendliche Wirklichkeit« (actualitas infinita) darstellt
und daher keineswegs auf eine Verwirklichung von Möglichkeiten an-
gewiesen ist. 116
Diese Unterschiede werfen die Frage auf, wie sich die Unendlich-
keit mathematischer Gegenstände zur absolut einfachen Unendlichkeit
von Gott verhält. Die Antwort, die auf diese Frage aus De docta igno-
rantia hervorgeht, lässt aufhorchen: Das Mathematisch-Unendliche
wird von Cusanus als ein »Symbol« der absoluten Unendlichkeit be-
stimmt. 117 Diese Antwort verdient in der Tat unsere Aufmerksamkeit,
da sie allem Anschein nach die Hauptquelle für die bereits angeführte
Cantorstelle darstellt, an der die absolut unendliche Zahlenfolge ›als ein
geeignetes Symbol des Absoluten‹ bezeichnet wird. 118
Aus dieser Übereinstimmung lassen sich Schlüsse ziehen, die das
Verhältnis der negativen Seite des Absolutunendlichen zu seiner positi-
ven Seite bei Cantor beleuchten. In De docta ignorantia verwendet Ni-
kolaus von Kues seine mathematischen Beispiele dazu, das Aktual-Un-
endliche durch ein »Zusammenfallen der Gegensätze« (coincidentia
oppositorum) zu charakterisieren. Er hat ja durch die Analyse dieser
114
Ebd., n. 37, l. 10–11 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 52: »quaeli-
bet pars infiniti est infinita«.
115
Ebd., n. 36, l. 21–24 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 50; vgl. n. 36,
l. 5–6 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 48: »quidquid est in potentia
finitae [sc. lineae], hoc est infinita [sc. linea] actu«.
116
Cusanus, De docta ignorantia II, n. 97, l. 11–12 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil II, S. 12.
117
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 32, l. 26 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 44: »per symbola«; vgl. n. 33, l. 6 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 44: »symbolice investigare«; vgl. auch n. 30, l. 8 [Philosophisch-theologi-
sche Werke, Bd. I], Teil I, S. 40.
118
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2. Vgl. S. 405: »Das Transfinite
mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Ab-
solutes hin, auf das ›wahrhaft Unendliche‹, an dessen Größe keinerlei Hinzufügung oder
Abnahme statthaben kann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzu-
sehen ist. Letzteres übersteigt die menschliche Fassungskraft und entzieht sich nament-
lich mathematischer Determination […].«
479
B. Das Unendliche der Welt
119
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 37, l. 13 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 52: »plura infinita esse non possunt«.
120
Ebd., n. 46, l. 2 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 62: »cum infini-
tum non sit maius infinito«.
121 Die wichtigste Stelle findet sich im Schlussteil des Werkes. Siehe ebd., n. 264, 1–2,
Cusanus, De docta ignorantia III [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil III,
S. 100: »simplicitas, ubi contradictoria coincidunt«.
122
Kurt Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt am Main:
Klostermann 22001 (11998), S. 105.
480
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
123
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 69, l. 16 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 92: »maximum omnem anteire oppositionem«.
124
Ebd., n. 57, l. 11–13 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 76: »com-
plecti contradictoria ipsa antecedenter praeveniendo«.
125
Ebd., n. 12, l. 3 und l. 5 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18.
126 Ebd., n. 12, l. 18–23 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18: »Hoc
autem omnem nostrum intellectum transcendit, qui nequit contradictoria in suo princi-
pio combinare via rationis, quoniam […] [natura nostra] ipsa contradictoria per infinitum
distantia connectere simul nequit.«
127 Siehe ebd., n. 12, l. 18–25 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18:
481
B. Das Unendliche der Welt
dern der Verstand (intellectus) des Menschen vollzieht, und zwar auf
›unbegreifliche Art‹, ist das, was Nikolaus von Kues »belehrte Unwis-
senheit« (docta ignorantia) nennt.
Es ist nicht schwer, die Parallele dieser Konzeption mit Cantors
Verständnis des Absolutunendlichen zu erkennen. Cantor betont eben-
so nachdrücklich wie Cusanus, dass man das Absolutunendliche nie-
mals auch nur annähernd erkennen kann. Wenn auch mit anderen
Denkmitteln, aber keineswegs weniger deutlich als Cusanus zeigt Can-
tor darüber hinaus, wie jeder Versuch, das Absolutunendliche zu erfas-
sen, zu Widersprüchen, Antinomien oder auch zur Bildung inkonsis-
tenter Vielheiten führt. Die strukturelle Analogie dieser Auffassung
mit dem Werk Über die belehrte Unwissenheit ist umso frappierender,
als Cantor dabei die absolut unendliche Folge endlicher und transfiniter
Mengen als ein ›Symbol‹ des Absolutunendlichen zu begreifen sucht
und damit zur Verhältnisbestimmung der negativen und der positiven
Seite des Absolutunendlichen wiederum nur ein Cusanuswort ver-
wendet.
Es kann ein unmittelbarer Einfluss des Werkes Über die belehrte
Unwissenheit auf Cantor vermutet werden, selbst wenn diese Ver-
mutung durch Cantors eigene Hinweise auf die ihm zugängliche Se-
kundärliteratur über Nikolaus von Kues und seinen unmittelbarsten
Nachfolger, Giordano Bruno, nicht eindeutig bewiesen werden kann. 128
482
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
483
B. Das Unendliche der Welt
Man weiß, dass Spinoza nicht nur Gott, die einzige Substanz, als
»absolut unendliches Wesen« bezeichnete, 131 sondern auch »unendliche
Modi« annahm, 132 ohne aber je das Verhältnis zwischen endlichen und
unendlichen Modi ganz aufklären zu können. 133 Gewiss bleibt der un-
endliche Modus bei Spinoza durch eine Kluft von der Substanz ge-
trennt, weil er ja in alio, »in anderem«, ist und per aliud, »durch ande-
res« begriffen wird, die Substanz dagegen in se, »in sich«, ist und per se,
»durch sich« begriffen wird. Da jedoch die Gesamtheit der Modi in der
Ethik zugleich als ein Gesamtausdruck der Substanz gilt, wird diese
Kluft bei Spinoza in gewissem Sinne wieder zugeschüttet. Daher rühre
der Pantheismus, meint Cantor; er bilde »die Achillesferse der Ethik
Spinozas«. 134
Als ein Denker, der in seinem Verständnis des Absolutunendlichen
an die von Plotin ausgehende und von Nicolaus Cusanus erneuerte Tra-
dition der negativen Theologie anknüpft, muss sich Cantor von der Ge-
fahr des Pantheismus allerdings nicht bedroht fühlen. Gleichwohl sieht
er es als seine Aufgabe an, das Problem der unendlichen Modi ins Reine
zu bringen. Diese Aufgabe erfordert nach Cantor nichts Geringeres, als
das Zwischenreich zwischen dem Absolutunendlichen und dem End-
lichen selbst als ein zahlenmäßig bestimmtes Aktual-Unendliches auf-
zufassen. Dieses aktual unendliche und zahlenmäßig bestimmte Zwi-
schenreich, das ständig vermehrbar bleibt und dessen Grenze ebendes-
halb immer weiter hinausgeschoben werden kann, trägt bei Cantor den
Namen des ›Transfiniten‹. Es handelt sich bei den Zahlen, die zu diesem
131
Spinoza, Die Ethik, Teil I, Definition 6.
132
Ebd., Teil I, Lehrsätze 21–23.
133 Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
484
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
135
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1983), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 176.
136
Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, Paris: GF-
Flammarion 1990, S. 125; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand,
übersetzt von Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 1996 (11915), S. 147: »[…] ein Unend-
liches [kann] kein wahres Ganze sein […].«
137
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 179.
485
B. Das Unendliche der Welt
es kein Teilchen der Materie gibt, das nicht, ich sage nicht: teilbar, sondern:
aktual geteilt wäre; folglich muss das geringste Stückchen [von ihr] wie eine
Welt voll von einer Unendlichkeit verschiedener Geschöpfe angesehen wer-
den.« 138
Das Aktual-Unendliche wird hier an der Unerschöpflichkeit des mate-
riellen Universums aufgewiesen. Das Interesse an der Unerschöpflich-
keit der Welt teilt Leibniz mit Pascal, von dem er in einer kleinen Schrift
über die Unendlichkeit aus dem Jahre 1697 einen uns heute schon
wohlvertrauten, damals aber noch viel weniger bekannten Gedanken-
gang 139 anführt, dem nicht nur der Zweck gesetzt ist, auf die Unermess-
lichkeit und unendliche Größe des Weltalls hinzuweisen, sondern der
ebenfalls zu zeigen hat, wie der Mensch selbst noch im kleinsten Teil-
chen der Natur, etwa in einem Wesen wie die Milbe, »eine Unendlich-
keit von Welten« entdecken kann, »deren jede ihr Firmament, ihre Pla-
neten, ihre Erde hat in demselben Verhältnis, wie diese sichtbare Welt;
auf dieser Erde Tiere, schließlich auch wieder Milben, an denen er wie-
der findet, was er an den ersten gesehen, und noch an diesen anderen
findet er wieder dasselbe und ohne Ende.« 140 Leibniz bezieht diese Ge-
danken von vornherein auf die Monade, in der er »einen lebenden Spie-
gel« sieht, »der das unendliche Universum, das mit ihm existiert, aus-
drückt«. 141 In dem herangezogenen Gedankengang begreift Pascal den
Menschen als »ein Mittelding zwischen Nichts und All«. 142 Auf ähn-
liche Weise begreift Leibniz die Monade einerseits als eine »verkleinerte
138
Gottfried Wilhelm Leibniz, Antwort auf einen Brief von Foucher, Domherr von Di-
jon, aus dem März 1693, in: Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. I,
S. 416. Cantor hebt unter Berufung auf einen Brief von Leibniz an des Bosses ebenfalls
hervor, dass Leibniz auch den uneigentlichen Charakter des Unendlich-Kleinen deutlich
erkannte, indem er feststellte: »[…] es genügt, an die Stelle des Unendlich-Kleinen ein
beliebig Kleines treten zu lassen, damit der Fehler kleiner ist als ein gegebener, woraus
folgt, dass es keinen Fehler geben kann.« (G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften,
hg. von C. I. Gerhardt, Bd. II, S. 305.)
139
Pascal, Pensées, Nr. 72, S. 25–36; dt. S. 101–109.
140
Dieses Zitat aus Pascals Pensées (S. 28) wird von Leibniz an folgender Stelle ange-
führt: G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz,
Bd. I: Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–Deutsch,
S. 374.
141
Ebd., S. 379 und S. 381.
142
Pascal, Pensées, S. 29: »un milieu entre rien et tout«. Vgl. Leibniz, Philosophische
Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/
Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 375.
486
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …
143
Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I:
Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 383.
144
Ebd., S. 381.
145 Siehe Hans Bandmann, Die Unendlichkeit des Seins. Cantors transfinite Mengen-
lehre und ihre metaphysischen Wurzeln, Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris:
Peter Lang 1992, S. 75–80 und S. 182–192. Vgl. Joseph Warren Dauben, Georg Cantor.
His Mathematics and Philosophy of the Infinity, Princeton, New Jersey: Princeton Uni-
versity Press 1979, S. 291–294.
487
B. Das Unendliche der Welt
146
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 442 f.
147
Ebd., S. 379.
148
Das Motiv »lebendiges Bild« bzw. »lebendiger Spiegel« geht – unter anderen Autoren
aus dem Mittelalter wie etwa Raimund von Sabunde – auf Nicolaus Cusanus zurück.
Siehe Nicolaus Cusanus, Idiota de mente, n. 106, Zeile 12 [Philosophisch-theologische
Werke, Bd. II], S. 62 f. (samt dem Kommentar von Renate Steiger auf S. 164–166) und
De venatione sapientiae, Kap. XVII, n. 50, Zeilen 2–3 [Philosophisch-theologische Wer-
ke, Bd. IV], S. 70 f.
488
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
489
B. Das Unendliche der Welt
in Frage. Aus dieser Sachlage erwächst uns die Aufgabe, die Debatte von
Aristoteles mit Zenon im Licht von Cantors Ergebnissen zu unter-
suchen und dabei die von Aristoteles in dieser Debatte verwendeten
Denkmittel mit Cantors Einwänden zu konfrontieren. Die folgenden
Überlegungen leisten einen Beitrag zu dieser doppelten Aufgabe, indem
sie die wissenschaftliche Gültigkeit dieser Denkmittel zwar einschrän-
ken, dabei aber die lebensweltliche Einsichtigkeit und Berechtigung der
aristotelischen Argumentation betonen.
150
Aristoteles, Physica, Z 2, 233 a 22–23, hg. von William David Ross, Oxford: Claren-
don Press 1950; dt. Physik, griechisch–deutsche zweisprachige Ausgabe, übersetzt und
kommentiert von Hans Günter Zekl, Hamburg: Meiner 1987.
490
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
491
B. Das Unendliche der Welt
492
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
ßen des Punktes« und die gerade Linie als »ein gleichgerichtetes und
unablenkbares Fließen des Punktes«. 159 Diese Auffassung gründet sich
vermutlich auf die Annahme, dass die Linie aus Punkten besteht. 160
Gerade diese Konsequenz wird von Euklid durch seine Behauptung,
nur die Enden der Linie, nicht aber ihre Teile seien Punkte, bekämpft
und abgewehrt.
Árpád Szabó fasst auch das achte Axiom im ersten Buch von Eu-
klids Elementen als eine Spur des Kampfes gegen Zenons paradoxe Ar-
gumente auf. Überraschenderweise stellt dieses Axiom fest, dass das
Ganze größer ist als der Teil. 161 Warum musste ein so einleuchtender
Satz überhaupt eigens ausgesprochen werden? Warum musste er noch
dazu als eine Behauptung formuliert werden, »zu der die Zustimmung
des Dialogpartners in der Schwebe gelassen bleibt« 162 – das bedeutet
nämlich ursprünglich das Wort »Axiom«? Warum hat Euklid diese
Feststellung am Anfang seines Werkes unbedingt nötig, wenn er sie
dann in seinem Werk nur selten verwendet? Auf all diese Fragen erhal-
ten wir eine Antwort – meint Árpád Szabó –, wenn wir annehmen, dass
ein Kampf gegen Zenons Argumente – und im Besonderen gegen seine
vierte Aporie – schon vor Euklids Zeiten geführt wurde und dass Euklid
das gegen Zenon gerichtete Axiom aus einer älteren Quelle übernom-
men hat. 163
Im VI. Buch der Physik behandelt Aristoteles vornehmlich die Be-
wegung und die Zeit. Er möchte das genaue Gegenteil dessen beweisen,
was Zenon mit seinem als »der fliegende Pfeil« bezeichneten Argument
andeutet. Die zentrale These von Aristoteles findet sich im 3. Kapitel
des VI. Buches. Sie besagt, dass »im Jetzt nichts sich bewegt«. 164 Auf
den ersten Blick scheint dieser Satz schwer verständlich zu sein, aber
seine Bedeutung geht aus dem Textzusammenhang deutlich hervor:
Jede Bewegung – und überhaupt jede Veränderung – findet in einem
bestimmten Zeitraum statt, aber das Jetzt kann nicht als ein Zeitraum
159
Proclus, In primum Euclidis Elementorum librum, hg. von Gottfried Friedlein, Leip-
zig: Teubner 1873, S. 185, Zeilen 8–15; engl. Proclus, A Commentary of the First Book of
Euclid’s Elements, übersetzt von Glenn R. Morrow, Princeton, New Jersey: Princeton
University Press 1970, S. 145.
160 Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, S. 407.
161
Euklid, Die Elemente, S. 3.
162
Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, S. 397.
163
Siehe dazu ebd., S. 394–408.
164 Aristoteles, Physik, Z 3, 234 a 24.
493
B. Das Unendliche der Welt
angesehen werden, da es kein Teil, sondern eben nur eine Grenze der
Zeit ist. Deshalb kann die zentrale These des Aristoteles auch auf fol-
gende Weise formuliert werden: Nichts bewegt sich in einer Grenze der
Zeit, sondern nur in einem ihrer Teile.
Die Auseinandersetzung, die Aristoteles im VI. Buch der Physik
mit Zenon führt, hat allerdings nicht allein zum Zweck, ein physika-
lisches Grundphänomen wie die Bewegung zu retten, sondern sie
schließt ein Ringen mit der Annahme des Aktual-Unendlichen mit ein.
Es liegt keine Übertreibung in der Behauptung, dass zur Zeit des Aris-
toteles diese Annahme die philosophische und die mathematische Ra-
tionalität gleichermaßen gefährdet, weil die Denkmittel, die sich zur
Auflösung der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten später als notwen-
dig erweisen werden, zu dieser Zeit noch nicht zur Verfügung stehen.
Die griechischen Mathematiker konnten sich gegen diese unauflös-
baren Schwierigkeiten dadurch wappnen, dass sie geeignete Definitio-
nen formuliert und sich wirksame Axiome ausbedungen haben. Dem
Philosophen ist es nicht gegeben, zu derartigen Veteidigungsmitteln
Zuflucht zu nehmen. Er findet sich ebendeshalb dazu gezwungen, sich
auf eine Debatte einzulassen, in der manche Phänomene neu gedeutet
und manche Begriffe neu gefasst werden. Gerade so verfährt Aristoteles
in der Physik: Einerseits wird er auf den zusammenhängenden Charak-
ter von Bewegung, Zeit und linearer Strecke aufmerksam; andereseits
unterzieht er dann den Begriff des Zusammenhängenden (des Kontinu-
ums) einer begriffsanalytischen Untersuchung.
494
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
495
B. Das Unendliche der Welt
166
Ebd., Z 2, 233 b 17–18.
167
Ebd., Γ 6, 206 b 20–24.
168 Ebd., Γ 6, 206 b 26.
496
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
497
B. Das Unendliche der Welt
498
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
499
B. Das Unendliche der Welt
500
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
171
Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris: Alcan 1938,
S. 66; dt. Zeit und Freiheit, ohne Angabe des Übersetzers, Jena: Diederichs 1911, S. 68:
»Daraus ergibt sich zuletzt, dass es zweierlei Mannigfaltigkeiten gibt: die der materiellen
Gegenstände, die unmittelbar eine Zahl bildet, und die der Bewusstseinsvorgänge […].«
172
Siehe Bernhard Riemann, Gesammelte mathematische Werke und wissenschaft-
licher Nachlass, hg. (unter Mitwirkung von Richard Dedekind) von Heinrich Weber,
New York: Dover 1902, S. 272–287.
501
B. Das Unendliche der Welt
173
Ebd., S. 279. Riemann verweist hier auf seinen Doktorvater, Carl Friedrich Gauß, von
dem der Begriff des Krümmungsmaßes stammte.
174
Ebd., S. 273.
175
Ebd.
176
Ebd.
177
Bergson stellt die Anfangserörterungen des zweiten Kapitels Essai sur les données
immédiates de la conscience unter die Überschrift »La multiplicité numérique et l’espa-
ce«; siehe ebd., S. 56–69. In der deutschen Übersetzung des Textes, die unter dem Titel
Zeit und Freiheit erschienen ist, sind die Überschriften im Kopfteil der einzelnen Seiten
nicht enthalten.
178
Vgl. Riemann, Gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass,
S. 274.
502
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
mit einer Menge reeller Zahlen. Einen ganz anderen Weg betritt Berg-
son, indem er die Dauer als eine stetige Mannigfaltigkeit bestimmt, die
sich gerade nicht als numerische Mannigfaltigkeit auffassen lässt.
Wird aber bei Bergson tatsächlich eine Alternative zu Cantors Leh-
re vom arithmetischen Kontinuum deutlich? Man muss sich diese Frage
stellen, zumindest wenn man Zweifel daran hat, ob Bergsons Begriff der
Intuition eine tragfähige Grundlage für die Lehre von den stetigen
Mannigfaltigkeiten bildet. In seiner »Einführung in die Metaphysik«
sagt Bergson: »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch
die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem,
was er als Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich
hat, zu koinzidieren«. 179 Diese Bestimmung ist dazu angetan, Zweifel
zu erwecken, selbst wenn man mit Gilles Deleuze hinzufügen muss,
dass die Intuition bei Bergson letztlich »keine Gefühlseingebung, Er-
leuchtung oder Seelenverwandtschaft, sondern eine ausgearbeitete
Methode« ist. 180 Trotz all unserer Zweifel können wir aber unter den
verschiedenen Merkmalen, die in Bergsons Arbeiten zur Charakterisie-
rung der Dauer dienen, zumindest eines finden, das uns dazu verhilft,
auf unserem Weg weiterzugehen.
Es gibt in der Tat ein derartiges Merkmal, das von Deleuze mit
besonderem Nachdruck hervorgehoben wird: Die Dauer lässt sich des-
halb auf keine numerische Mannigfaltigkeit zurückführen, weil sie bei
jedem Unterteilungsschritt ihre Natur ändert und sich infolgedessen als
eine unaufhebbar heterogene Mannigfaltigkeit erweist. 181 Darin liegt in
der Tat eine Einsicht, die uns erlaubt, die aristotelische Idee einer un-
endlichen Teilung als eine Alternative zu Cantors Lehre vom arithme-
tischen Kontinuum zu verstehen. Denn bereits Aristoteles geht davon
aus, dass die aufeinanderfolgenden Teilungsakte keine homogene Ge-
samtheit miteinander bilden, sondern ihrer Natur nach einander hete-
rogen bleiben. 182
179
Henri Bergson, La pensée et le mouvant, Paris: PUF [Quadrige] 141999 (11938),
S. 181; dt. Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übersetzt von
Leonore Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 183.
180
Gilles Deleuze, Le bergsonisme, Paris: PUF [Quadrige] 1997 (11966), S. 1; dt. Bergson
zur Einführung, übersetzt von Martin Weinmann, Hamburg: Junius 1989, S. 23.
181
S. 32; dt. S. 56.
182
Deleuze setzt allerdings hinzu, dass die Dauer bei jedem Unterteilungsschritt das
»Maßprinzip« (principe métrique) abwandelt. Ist hier mit »Maßprinzip« die (auch als
»Metrik« bezeichnete) Maßfunktion gemeint, so wird damit in der Argumentation eine
503
B. Das Unendliche der Welt
Richtung eingeschlagen, die aus der Schwierigkeit nicht herausführt. Denn die verschie-
denen Unterteilungsschritte lassen sich dann in eine umkehrbar eindeutige Zuordnung
mit einer Menge verschiedener Maßfunktionen bringen und so doch auf eine numeri-
sche Mannigfaltigkeit in erweitertem Sinne des Wortes zurückführen. Es spricht aber
nicht viel dafür, dass Deleuze den Gedanken eines ständigen Metrikwechsels, wenn es
sich bei ihm überhaupt um einen solchen handelt, unmittelbar aus Bergsons Schriften
geschöpft hätte. Noch weniger lässt sich dieser Gedanke dem Aristoteles zuschreiben.
183
Aristoteles, Physik, Γ 6, 206 a 22; vgl. Γ 6, 206 b 14.
184 Aristoteles, Physik, Δ 11, 219 b 26–27.
504
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums
505
B. Das Unendliche der Welt
506
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
185 Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921) [Husserliana, Bd. XXV], S. 52.
507
B. Das Unendliche der Welt
Es handelt sich um eine Theorie, die jede einzelne Zahl (im Sinne von
Anzahl oder Kardinalzahl) als eine Äquivalenzklasse bestimmt. Zwei
Annahmen liegen dieser Bestimmung zugrunde. Erstens ist dabei mit
Äquivalenz eine gegenseitig eindeutige Zuordnung der Elemente zwei-
er Mengen oder, allgemeiner, zweier Klassen gemeint (wobei die Klas-
sen auch diejenigen Gesamtheiten umfassen, die keine Mengen, son-
dern z. B. inkonsistente Vielheiten bilden). Diese erste Annahme, die in
der Mengentheorie und damit in der gesamten Mathematik eine grund-
186 Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], Kap. VII, S. 111–125.
508
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
legende Rolle spielt, wird manchmal als das ›Hume’sche Prinzip‹ be-
zeichnet, weil sie bereits an einer Stelle der Treatise of Human Nature
genau formuliert wird. 187 Die zweite Annahme ist spezifischer. Sie be-
sagt, dass jede Anzahl als eine Klasse bestimmter Klassen aufgefasst
werden kann, die ihr – und damit auch paarweise untereinander – äqui-
valent sind. Diese zweite Annahme gründet sich auf ein Verfahren, das
in drei Schritte zerlegt werden kann. Erstens wählt man eine bestimmte
Klasse zum Ausgangspunkt, um dann zweitens weitere Klassen zu be-
trachten, die der ersten äquivalent sind, und schließlich drittens alle
derartigen Klassen in ihrer Gesamtheit als eine Klasse zu erfassen. Die
zuletzt erfasste Klasse nennt man ›Äquivalenzklasse‹, und man setzt sie
mit der zu definierenden Anzahl gleich. So hat etwa die Zahl vier als die
Klasse aller Klassen zu gelten, die vier Elemente haben und deren Ele-
mente ebendeshalb einander paarweise gegenseitig eindeutig zugeord-
net werden können.
Husserl bemerkt in der Philosophie der Arithmetik zu diesem Ver-
fahren: »Die so vollzogene Klassifikation aller erdenklichen Mengen ist
die schärfste, die man sich vorstellen kann.« 188 In der Tat gehört in die-
ser Klassifikation jede Menge zu einer Äquivalenzklasse, und sie gehört
zu keiner anderen. Folglich ist eine Äquivalenzklasse durch jede Menge,
die zu ihr gehört, bereits eindeutig bestimmt. Ebendeshalb kann gesagt
werden, dass die einzelnen Äquivalenzklassen für die verschiedenen
Anzahlen stehen. Obendrein können die verschiedenen Äquivalenz-
klassen in eine sukzessive Ordnung – also in eine Aufeinanderfolge –
gebracht werden. Jede Anzahl kann dann durch diejenige Äquivalenz-
klasse definiert werden, die ihr in der Aufeinanderfolge verschiedener
Äquivalenzklassen entspricht.
Die so entwickelte Äquivalenztheorie der Zahl war zur Abfas-
sungszeit der Philosophie der Arithmetik bereits weit verbreitet. Unter
ihren Vertretern finden wir nicht allein Gottlob Frege, sondern – neben
vielen anderen Logikern und Mathematikern – auch Richard Dedekind,
der für die Ausarbeitung eines mengentheoretischen Zahlbegriffs ne-
ben Cantor wohl das Meiste getan hat. Auch Cantor selbst fasst die
187 Hume, Treatise of Human Nature, Buch I, Teil III, Abschnitt 1, S. 119: »We are pos-
sest of a precise standard by which we can judge of the equality and proportion of num-
bers […]. When two numbers are so combin’d, as that the one has always an unite ans-
wering to every unite of the other, we pronounce them equal […].«
188 E. Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 112.
509
B. Das Unendliche der Welt
Zahlen als Äquivalenzklassen auf. Der junge Husserl tritt keinen Gerin-
geren als Frege 189 und Dedekind 190 entgegen, indem er diese Theorie
einer philosophischen Kritik unterwirft; mit Cantor, den er besonders
hoch schätzt, macht er allerdings eine Ausnahme, die er in einer Fuß-
note zur Philosophie der Arithmetik eigens zu begründen sucht. 191
Vom Gesichtspunkt mathematischer Formalität und Technizität
aus gesehen ist die Äquivalenztheorie der Zahl völlig einwandfrei und
wird auch heute allgemein akzeptiert. In den Jahren nach der Veröffent-
lichung der Philosophie der Arithmetik (1891) begreift Husserl selbst
zunehmend die mathematische Tragweite dieser Theorie. Nach dem
Zeugnis mancher Vorarbeiten zu dem von ihm damals geplanten zwei-
ten Band des Werkes akzeptiert er auch ihre Gültigkeit; besonders im
Falle unendlicher Mengen hält er sie für unentbehrlich, weil ja im Be-
reich des Unendlichen die Kardinalzahlen nicht mit den Ordnungszah-
len zusammenfallen und deshalb von diesen getrennt definiert werden
müssen. 192 Vom philosophischen Gesichtspunkt aus verdient aber Hus-
serls Auseinandersetzung mit den Anhängern der Äquivalenztheorie
der Zahl – und besonders mit Frege – dennoch unsere volle Aufmerk-
samkeit. Umso mehr, als sie sich auf einen durchaus nachvollziehbaren
Haupteinwand gründet. Husserl wirft den Anhängern der Äquivalenz-
theorie der Zahl vor, ›Zahlenaussagen‹ – wie etwa der Behauptung, es
seien in einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend – eine Bedeu-
tung zuzuschreiben, die ihnen in Wahrheit fremd ist. Es heißt in der
Philosophie der Arithmetik:
»Werden die Anzahlen als jene auf Äquivalenz gegründeten Relationsbegriffe
definiert, dann ginge doch jede Zahlenaussage anstatt auf die konkret vorlie-
gende Menge als solche immer nur auf Verhältnisse derselben zu anderen
Mengen. Dieser Menge eine bestimmte Zahl zuschreiben hieße, sie zu einer
bestimmten Gruppe untereinander äquivalenter Mengen klassifizieren, dies
ist aber ganz und gar nicht der Sinn einer Zahlenaussage.« 193
Diese kritische Bemerkung ist in der Tat durchaus nachvollziehbar, da in
einer einzelnen Zahlenaussage – wie etwa der Behauptung, es seien in
einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend – von einer unend-
510
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
lichen Vielheit von Klassen, die ebenso viele Elemente haben wie die
Menge der in einem bestimmten Saal anwesenden Menschen und deren
Elemente den Elementen dieser Menge ebendeshalb paarweise gegen-
seitig eindeutig zugeordnet werden können, schlichtweg nicht die Rede
ist. Dieser Einwand zeigt, was in dieser Debatte – und besonders in
Husserls Auseinandersetzung mit Frege – eigentlich auf dem Spiel
steht: Es geht um die Grundsätze, die bestimmen, wie eine Bedeutungs-
analyse von Zahlenaussagen durchgeführt werden soll.
Dieser Einsatz gibt der in der Philosophie der Arithmetik dargeleg-
ten Kritik an der Äquivalenztheorie der Zahl ein besonders großes Ge-
wicht. Frege und Husserl sind die Urheber der beiden Strömungen, die
in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vorherrschend geworden sind,
und der Gegensatz der beiden Strömungen erwächst – das hat Michael
Dummett in seinem ansonsten eher umstrittenen Buch über die Ur-
sprünge der analytischen Philosophie wohl richtig erkannt 194 – gerade
aus dem Unterschied zwischen den jeweiligen Vorgehensweisen, auf die
sie sich in der Bedeutungsanalyse stützen. Deshalb ist es höchst auf-
schlussreich, der Frage nachzugehen, wie Husserl in der Periode von
der Philosophie der Arithmetik bis zu den Logischen Untersuchungen
einen phänomenologischen Zugang zur Bedeutung von Zahlenaussa-
gen fand und wie er diesen Zugang von dem Weg zu unterscheiden
suchte, den Frege in seinen Grundlagen der Arithmetik (1884) betreten
hatte und der in der im Anschluss an ihn entwickelten analytischen
Philosophie – von Russell zu Austin und weiter – von vielen Denkern
befolgt werden sollte.
Der Sache nach nimmt Freges Weg von der Äquivalenztheorie der
Zahl seinen Ausgang. Allerdings werden Äquivalenzklassen in den
Grundlagen der Arithmetik nicht ausdrücklich erwähnt; Frege nennt
nur ›Begriffe‹, weil er davon überzeugt ist, dass Zahlen nicht von Ge-
genständen, sondern von Begriffen ausgesagt werden. Nach dieser Deu-
tung wird zum Beispiel die Zahl vier in der Behauptung, es seien in
einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend, vom Begriff ›Men-
schen in einem bestimmten Saal‹ ausgesagt. Das ist der Grund dafür,
dass Frege in § 68 seiner Grundlagen der Arithmetik »[d]ie Anzahl,
welche dem Begriff F zukommt«, zu definieren sucht. 195 Wird diese
194
Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, übersetzt von Joachim
Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
195 Gottlob Frege, Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart: Reclam 1987, S. 100.
511
B. Das Unendliche der Welt
Anzahl dann von ihm als »der Umfang des Begriffes ›gleichzahlig dem
Begriffe F‹« definiert, 196 so ist diese Definition offensichtlich der Äqui-
valenztheorie der Zahl verpflichtet; denn der Umfang des Begriffes
›gleichzahlig dem Begriffe F‹ ist nichts anderes als die Äquivalenzklasse,
zu der die dem Begriff F zukommende Anzahl gehört.
Husserl verwirft diese Definition aus verschiedenen Gründen. Ers-
tens und vor allem deshalb, weil sie den Sinn der Zahlenaussagen ge-
nauso verfehlt wie andere Fassungen der Äquivalenztheorie. Husserl
hält das Verfahren, das zur Gleichsetzung der Anzahlen mit Äquiva-
lenzklassen führt, für überaus künstlich. Er findet seltsam, dass die An-
hänger der Äquivalenztheorie überhaupt auf die Idee verfallen sind, von
einer gegebenen Menge mit vier Elementen zu einer unendlichen Viel-
heit anderer Mengen mit vier Elementen überzugehen und letztlich
sogar alle Mengen mit vier Elementen in einer einzigen Äquivalenz-
klasse zusammenzufassen. Er formuliert gegen dieses Verfahren den
Einwand, dass es notwendig eine »extrem-relativistische Theorie« 197
zur Folge hat, da es den Sinn der Zahlenaussagen in einem Netzwerk
von Äquivalenzrelationen auflöst, die mit diesem Sinn nichts zu tun
haben. Husserl hat aber auch weitere Gründe, Freges Definition der
Anzahl zu verwerfen. Diese Definition steht im Dienst des Logizismus,
den Frege in der Philosophie der Mathematik vertritt. Husserl lehnt
aber den Logizismus von vornherein ab. Er beurteilt die Zielsetzung,
die Mathematik auf die Logik zurückzuführen, geradezu als »chimä-
risch«. 198 Dazu kommt drittens, dass Husserl sich weigert, eine Bestim-
mung, die nur den Umfang eines Begriffs festlegt, ohne auf seinen In-
halt einzugehen, 199 überhaupt für eine Definition zu halten.
In seinem eigenen Versuch, den Sinn der Zahlenaussagen zu ent-
schlüsseln, hält sich Husserl an die Euklidische Definition der Zahl,
indem er diese als eine Vielheit von Einheiten zu begreifen sucht. Die
Bestandteile dieser Definition – ›Einheit‹ und ›Vielheit‹ – betrachtet er
als undefinierbare Grundbegriffe. In der Philosophie der Arithmetik
heißt es dazu:
»Definieren kann man doch nur das logisch Zusammengesetzte. Sobald wir
auf die letzten, elementaren Begriffe stoßen, hat alles Definieren ein Ende.
196
Ebd.
197
E. Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 115.
198
Ebd., S. 120.
199 Ebd., S. 122.
512
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
Begriffe wie Qualität, Intensität, Ort, Zeit u. dgl. kann niemand definieren.
Und dasselbe gilt von den elementaren Relationen und den auf sie gegründe-
ten Begriffen. Gleichheit, Ähnlichkeit, Steigerung, Ganzes und Teil, Vielheit
und Einheit usw. sind Begriffe, die einer formal-logischen Definition gänzlich
unfähig sind.« 200
Allerdings kann man auch derartige Begriffe klären, verdeutlichen und
erläutern. Das ist gerade der Zweck, den Husserl sich in der Philosophie
der Arithmetik setzt. Zu diesem Zweck will er die Begriffe ›Einheit‹ und
›Vielheit‹ allerdings nicht allein »durch verschiedene Umschreibungen
[…] scharf umgrenzen«, um so »Verwechslungen derselben mit ver-
wandten Begriffen vor[zu]beugen«, sondern er ist auch darum bemüht,
»die konkreten Phänomene« aufzuweisen, »aus denen oder an denen sie
abstrahiert sind«. 201 Er bezeichnet diese Phänomene als die ›Grundlagen
der Abstraktion‹ – oder auch als ›Abstraktionsfundamente‹ – und ver-
sucht, »die Art dieses Abstraktionsvorganges« ebenfalls zu bestim-
men. 202 Damit legt er zum ersten Mal – und zunächst eben nur ansatz-
weise – die Grundsätze fest, die einer Bedeutungsanalyse ein phänome-
nologisches Gepräge verleihen. Allerdings wird er erst später, in den
Logischen Untersuchungen klarstellen, dass mit Abstraktion in der
Phänomenologie niemals eine empirische, sondern immer eine ideative
Abstraktion gemeint ist.
Der euklidischen Definition entsprechend fasst Husserl die Zahl als eine
›Vielheit von Einheiten‹ auf, und er setzt hinzu, dass statt Vielheit auch
Termini wie »Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge« ge-
braucht werden können. 203 Seine Aufgabe sieht er darin, den eigentüm-
lichen Charakter derjenigen Vielheit oder Menge zu bestimmen, die auf
diese Weise mit der Anzahl gleichgesetzt wird. Diese Aufgabe macht
nach ihm die Klärung des Sinnes von Begriffen wie ›Vielheit‹ und ›An-
zahl‹ erforderlich.204 Um diese Begriffe zu klären, gilt es, wie er meint,
200
Ebd., S. 119.
201 Ebd.
202
Ebd.
203
Ebd., S. 14.
204
Ebd., S. 84: »Aufklärung des Sinnes der ›Formbegriffe oder Kategorien‹ ›Vielheit und
Anzahl‹«.
513
B. Das Unendliche der Welt
zwei Fragen zu beantworten: Die erste Frage bezieht sich auf die Ein-
heiten, aus denen die als Anzahl bestimmte Vielheit oder Menge be-
steht, die zweite auf die Beziehung (oder Relation), die in ihr diese Ein-
heiten miteinander verbindet.
Die Antwort auf die erste Frage ist, dass die in Rede stehenden
Einheiten keine spezifische Eigenschaft aufweisen, sondern beliebig ge-
wählt werden können. Um diese Behauptung zu verdeutlichen, führt
Husserl ein etwas bizarres Beispiel an: Ein Gefühl, ein Engel, der Mond
und Italien bilden eine Vielheit von Einheiten, die den Erfordernissen
des Zahlbegriffs vollkommen Genüge tut. 205 Dieses Beispiel erinnert an
Leibniz, der deutlich machen wollte, dass sich die Zahlen keineswegs
allein auf physikalische Körper, sondern auch auf Unkörperliches an-
wenden lassen und dabei die Zahl letztlich als eine unkörperliche Figur
bestimmte, die durch die Vereinigung völlig ungleichartiger Dinge, wie
etwa Gott, ein Engel, ein Mensch und eine Bewegung es sind, entstehen
kann. 206
Da die Einheiten beliebig gewählt werden können, kann die als
Anzahl bestimmte Vielheit eine abstrakte Vielheit genannt werden.
Husserl fügt hinzu, dass jede der Einheiten, aus denen diese Vielheit
besteht, nur als ein Etwas überhaupt in Betracht kommt. Auf welche
Grundlage stützt sich jedoch der Abstraktionsvorgang, der zu einer
Vielheit beliebig gewählter Etwas führt? Zu dieser Fragestellung lässt
sich Husserl durch eine Überzeugung hinleiten, die er auf folgende
Weise formuliert: »Kein Begriff kann gedacht werden ohne Fundierung
in einer konkreten Anschauung.« 207 Wie sieht aber die konkrete An-
schauung aus, die der Bildung des Zahlbegriffs als Abstraktionsfun-
dament zugrunde liegt?
Offenbar ist sie eine Anschauung, die ihre Eigentümlichkeit nicht
der Natur der einzelnen Einheiten zu verdanken hat, aus denen die als
Anzahl bestimmte Vielheit besteht, sondern einzig und allein der Art
und Weise, wie diese Einheiten miteinander verknüpft sind. Damit sind
wir bereits bei der zweiten Frage angelangt, die sich auf die spezifische
Verknüpfungsart der Einheiten in der als Anzahl bestimmten Vielheit
bezieht. Husserl bezeichnet die gesuchte Verknüpfungsart als kollektive
Verbindung und versucht sie mit Hilfe von Franz Brentanos Unter-
205
Ebd., S. 16.
206
Ebd.
207 Ebd., S. 79.
514
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
515
B. Das Unendliche der Welt
von weißem und schwarzem oder auch von grünem und braunem Glas
durchaus sinnvoll die Rede sein kann.) Eine derartige Verbindung
nennt Husserl ›metaphysisch‹. Gewiss sind aber nicht allein Ausdeh-
nung und Farbe, sondern auch andersartige Elemente durch eine meta-
physische Relation aneinandergebunden. Derartige Beziehungen gibt
es auch nicht allein im Bereich materieller Dinge. Husserls Phänome-
nologie der intentionalen Akte dreht sich beinahe im Ganzen um meta-
physische Verbindungen. So steht, um nur ein einziges Beispiel anzu-
führen, etwa die Erinnerung in einem notwendigen, aber nicht
analytischen oder logischen Verhältnis mit der ehemaligen Wahrneh-
mung, die sie wachruft. Gleichwohl ist die metaphysische Verbindung
von der Natur derartiger Elemente nicht in jeder Hinsicht unabhängig.
Das geht daraus hervor, dass beliebig gewählte Elemente nicht notwen-
dig auf diese Weise miteinander verbunden sind.
Darin stimmt die metaphysische Verbindung mit der stetigen
(oder kontinuierlichen) Verbindung gänzlich überein. Gerade deshalb
können sie beide zur Gruppe der physischen oder primären Relationen
gerechnet werden, und zwar ungeachtet dessen, ob sie im Bereich ma-
terieller Dinge oder im Bereich intentionaler Akte bestehen. ›Physisch‹
oder ›primär‹ heißt hier nur: ›abhängig von der Natur der miteinander
verbundenen Elemente‹.
Dagegen ist die kollektive Verbindung, wie wir bereits gesehen
haben, von der Natur der durch sie verbundenen Elemente gänzlich
und in jeder Hinsicht unabhängig. Werden beliebig gewählte Elemente
– wie etwa ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien – auch nur in
Gedanken zusammengestellt, so sind sie bereits durch eine kollektive
Verbindung zusammengehalten. Dieses bizarre Beispiel zeigt jedoch
zugleich, dass der Gedanke – oder, allgemeiner, ein intentionaler Akt
überhaupt – nicht allein hinreichend, sondern auch notwendig für eine
kollektive Verbindung ist. Eine derartige Beziehung unterscheidet sich
von physischen und primären Relationen gerade darin, dass sie nur als
Korrelat eines intentionalen Aktes möglich ist.
Husserl hält das Ergebnis dieser Betrachtung fest, indem er den
Unterschied zwischen den beiden Beziehungsarten auf folgende Weise
hervortreten lässt:
»Indem wir die Fundamente vorstellen, ist in dem ersteren Falle die Relation
unmittelbar mitgegeben als Moment desselben Vorstellungsinhaltes. In dem
zweiten Falle aber, dem der psychischen Relation, bedarf es zur Vorstellung
516
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
der Relation erst eines auf den beziehenden Akt reflektierenden Vorstellens.
Der unmittelbare Inhalt der letzteren ist der die Beziehung stiftende Akt, und
erst vermittels dieses geht es auf die Fundamente. Die bezogenen Inhalte und
die Relation bilden so gewissermaßen Inhalte verschiedener Stufe.« 209
Aus diesen Zeilen geht hervor, dass Husserl in der Philosophie der
Arithmetik den Begriff der psychischen oder sekundären Beziehung
aus einer Reflexion auf den beziehungsstiftenden Akt ableitet. Um das
Abstraktionsfundament zu entdecken, das dem Begriff der Zahl zu-
grunde liegt, gilt es demnach, auf den intentionalen Akt kollektiver
Verbindung zu reflektieren, das heißt auf ihn zu achten oder auch sich
auf ihn zu besinnen. Es gilt also, die physischen Phänomene auf sich
beruhen zu lassen, das Interesse von ihnen abzuziehen und sich in re-
flexiver Einstellung einem psychischen Phänomen zuzuwenden. Nur so
kann der »psychologische Ursprung« 210 des Zahlbegriffs herausgefun-
den werden.
Bekanntlich hat Frege als Erster an dieser Vorgehensweise Anstoß
genommen. In seiner Rezension der Philosophie der Arithmetik warf er
Husserl mit beißendem Hohn vor, »eine Mischung aus Psychologie und
Logik« hergestellt und so mit einer modischen »Lauge« aufgewartet zu
haben. 211 Nachdem dieser Psychologismuseinwand von Frege gegen die
Philosophie der Arithmetik einmal erhoben worden war, wurde es – wie
Jitendranath Mohanty zu Recht bemerkt – geradezu »üblich, dem Werk
von Husserl einen querköpfig psychologistischen Standpunkt zuzueig-
nen, von dem sich Husserl später, so lautet die Legende, zum Teil gerade
unter dem Einfluss von Frege losgemacht habe«. 212 Selbst noch in Mi-
chael Dummetts Buch Ursprünge der analytischen Philosophie aus
dem Jahre 1988 steht ein Satz darüber, dass Husserl in der Philosophie
der Arithmetik »zunächst psychologistische Ansichten vertreten hatte,
die er später fallenließ, um dann den Psychologismus besonders heftig
zu befehden« 213, wenn auch zu dieser Zeit nicht mehr hinzugefügt wird,
dass Freges Besprechung den ersten Anstoß zu Husserls Meinungs-
änderung gegeben habe.
209
Ebd., S. 69 f.:
210
Siehe ebd., S. 91.
211 Gottlob Frege, »Rezension von: E. G. Husserl, Philosophie der Arithmetik«, in: Klei-
517
B. Das Unendliche der Welt
214
Jitendranath Mohanty, Husserl and Frege, Bloomington: Indiana University Press
1982, S. 20–26.
215
E. Husserl, »[Besprechung von] Schröder, Ernst, Vorlesungen über die Algebra der
Logik«, in: Göttingsche gelehrte Anzeigen, 2, Nr. 7 (1891), S. 243–278; enthalten auch
in: Edmund Husserl, Aufsätze und Rezensionen (1890–1910) [Husserliana, Bd. XXII],
hg. von Bernhard Rang, The Hague, Boston und London: Martinus Nijhoff, 1979, S. 3–43.
518
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
216
Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 84.
217
Ebd.
218 Ebd., S. 85.
519
B. Das Unendliche der Welt
219
Frege, Grundlagen der Arithmetik, S. 105.
220
Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 107.
221 Ebd., S. 107, Anm. 1.
520
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
521
B. Das Unendliche der Welt
222
Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Untersuchung, Bd. II/2, S. 139.
223 Ebd., S. 141.
522
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
Verbindung A und B und C … zum Ausdruck kommt. Aber der Begriff des
Inbegriffs erwächst nicht durch Reflexion auf diesen Akt; statt auf den geben-
den Akt haben wir vielmehr auf das, was er gibt, auf den Inbegriff, den er in
concreto zur Erscheinung bringt, zu achten und seine allgemeine Form ins
allgemeinbegriffliche Bewußtsein zu erheben.« 224
An dieser Stelle macht Husserl deutlich, dass nicht die Reflexion auf
den Akt kollektiver Verbindung, sondern die Reflexion auf den Gegen-
stand dieses Aktes dem Zahlbegriff als Abstraktionsfundament zugrun-
de liegt.
Diese Korrektur seiner früheren Ansicht wird dadurch möglich,
dass die Zweideutigkeiten, die in der Philosophie der Arithmetik der
intentionalanalytischen Begriffsklärung noch anhafteten, in den Logi-
schen Untersuchungen Schritt für Schritt behoben werden. Es ist loh-
nenswert, einen Blick auf die wichtigsten Unterscheidungen zu werfen,
die zu diesem Zweck in der V. und der VI. Logischen Untersuchung
eingeführt werden.
Der erste Schritt ist die Unterscheidung von Akt und Aktinhalt
überhaupt. In einem zweiten Schritt wird dann der Aktinhalt zerglie-
dert. Ähnlich wie Frege ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ (oder, richtiger, Sinn
und Gegenstandsbezug) unterscheidet Husserl ›intentionale Materie‹
und ›intentionalen Gegenstand‹ voneinander. Er trennt aber vom Akt-
vollzug noch weitere Momente ab, die er in dem Begriff der ›intentio-
nalen Qualität‹ oder ›Aktqualität‹ zusammenfasst, um schließlich die
Aktqualität mit der Aktmaterie im Begriff des ›intentionalen Wesens‹
zu vereinigen. Diese Unterscheidungen sind auch für die Kategorialana-
lyse der VI. Logischen Untersuchung von grundlegender Bedeutung.
Deshalb verdienen sie unsere volle Aufmerksamkeit.
Was zunächst den intentionalen Gegenstand eines Bewusstseins-
aktes betrifft, so ist Husserl der Erste, der deutlich sieht, dass die inten-
tionale Beziehung auf einen Gegenstand nicht etwa ein Verhältnis zwi-
schen zwei aktuell existierenden Entitäten ist. Diese Einsicht macht in
den Logischen Untersuchungen einen Bruch mit Brentanos Idee einer
›mentalen‹ oder ›intentionalen Inexistenz‹, auf die sich die Unterschei-
dung zwischen physischen und psychischen Relationen in der Philoso-
phie der Arithmetik stützte, nicht nur möglich, sondern nunmehr auch
unvermeidbar. Brentano nahm eine mentale oder intentionale Inexis-
tenz des jeweils intendierten Gegenstandes an, weil er einerseits davon
523
B. Das Unendliche der Welt
225
Husserl, Logische Untersuchungen, V. Untersuchung, Bd. II/1, S. 372.
226
Ebd., S. 373.
227 Ebd.
524
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
sen‹ abzuheben. In diesen Begriffen prägt sich sein erster Versuch aus,
den Sinnbestand intentionaler Akte zu erfassen.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen besteht darin,
dass der Begriff des intentionalen Wesens neben dem der intentionalen
Materie auch den der intentionalen Qualität in sich schließt. Mit ›Akt-
qualität‹ ist eine Sinnkomponente gemeint, die vom eigentlich gegen-
ständlichen Sinn eines intentionalen Aktes, wie er im Begriff der Akt-
materie zum Ausdruck kommt, abgehoben werden muss. Der Qualität
nach kann ein intentionaler Akt zum Beispiel Wahrnehmung, Erinne-
rung, Urteil und noch vieles Andere sein. Darüber hinaus kann er zur
Gruppe setzender (positionaler) Akte gehören, die im Glauben an die
reale Existenz ihrer intentionalen Gegenstände vollzogen werden, aber
er kann auch ein nichtsetzender (non-positionaler) Akt sein, der die
reale Existenz seines intentionalen Gegenstandes nicht voraussetzt.
Als setzende Akte können etwa Wahrnehmung, Erinnerung und Urteil
genannt werden; dagegen muss zum Beispiel ein Phantasieakt zur
Gruppe nichtsetzender Akte gerechnet werden. Weiterhin zeigt der
Glaube an die reale Existenz des intentionalen Gegenstandes eine Ab-
stufung, der Husserl durch seine Lehre von den Glaubensmodalitäten
(oder ›doxischen Modalitäten‹) Rechnung zu tragen sucht. Beispiele aus
dem Bereich des Urteils sind dafür Behauptung, Annahme, Mutma-
ßung, Vermutung, Wahrscheinlichkeitsaussage, Zweifelsäußerung usw.
All diese Unterschiede gehören in den Logischen Untersuchungen zur
Aktqualität. Sie können auch bei gleichbleibender Aktmaterie auftre-
ten, woraus deutlich wird, dass sie den eigentlich gegenständlichen Sinn
der intentionalen Akte nicht abändern. Gleichwohl haben sie eine Aus-
wirkung auf die gemeinte Gegenständlichkeit. Sie modifizieren den ge-
genständlichen Sinn nicht, aber sie nuancieren ihn. Deshalb ist es loh-
nenswert, die Aktqualität mit der Akmaterie gleichsam zu einem
erweiterten Sinnbegriff zu verbinden. Als ein derart erweiterter Sinn-
begriff kann in den Logischen Untersuchungen der Begriff des inten-
tionalen Wesens angesehen werden. Das intentionale Wesen der Denk-
akte und ihrer sprachlichen Ausdrücke bezeichnet Husserl als
›bedeutungsmäßiges Wesen‹. Darin findet er das Abstraktionsfun-
dament zur Bildung des Begriffs von Bedeutung.
In der VI. Logischen Untersuchung, die der Aufgabe einer phäno-
menologischen Aufklärung der Erkenntnis gewidmet ist, werden die
bisher kennengelernten Unterscheidungen nicht allein durch neue Be-
griffe wie ›Anschauungsgehalt‹ und ›Fülle‹ angereichert und ergänzt,
525
B. Das Unendliche der Welt
sondern sie werden auch weiterentwickelt. Für unsere Zwecke ist die
Zerlegung des Begriffs ›intentionaler Materie‹ in einen ›sinnlichen Ge-
halt‹ und in eine ›kategoriale Form‹ von der größten Wichtigkeit. Diese
Unterscheidung hat kein Äquivalent bei Frege. Die Bevorzugung rein
extensionaler Definitionen und anderer Methoden, die der Äquivalenz-
theorie der Zahl eigentümlich sind, haben den Weg zur Kategorialana-
lyse im Bereich mathematischer Gegenstände wohl für eine ganze Peri-
ode verbaut. Eine phänomenologische Aufklärung der Erkenntnis
eignet sich aber sehr wohl dazu, diesen Weg wieder zu eröffnen.
Die Phänomenologie lehnt die naheliegende, aber irreführende
Annahme ab, die Erkenntnis sei in einer Beziehung zwischen zwei ak-
tuell existierenden Entitäten verwurzelt, von denen die eine notwendig
dem Bewusstsein immanent ist, die andere dagegen sehr wohl vom Be-
wusstsein unabhängig und für es transzendent sein kann. Fasst man den
Erkenntnisbezug zur Welt auf diese Weise auf, so findet man sich vor
die Frage gestellt, wie die Kluft zwischen dem Immanenten und dem
Transzendenten überbrückt werden kann. Die so formulierte Frage
birgt jedoch eine unüberwindbare Schwierigkeit in sich, die man übli-
cherweise etwas verharmlosend als das ›Transzendenzproblem‹ bezeich-
net. Husserl zeigt jedoch, dass es sich dabei in Wahrheit um ein Pseudo-
Problem handelt, da die Intentionalität die traditionelle Gegenüberstel-
lung von Immanentem und Transzendentem in Frage stellt. Später wird
Husserl das traditionelle Erkenntnisproblem, nämlich das Problem der
Transzendenz schlichtweg als »widersinnig« bezeichnen. 228
Allerdings setzt diese spätere Behandlung des Transzendenzpro-
blems die transzendentale Wende der Phänomenologie voraus. In der
VI. Logischen Untersuchung kommt es zu einer derartigen Wende noch
nicht, und auch vom Transzendenzproblem ist zu dieser Zeit noch nicht
ausdrücklich die Rede. Aber schon in dieser Periode ersetzt Husserl die
traditionelle Auffassung von der Erkenntnis durch die Idee einer an-
schaulichen Erfüllung anschauungsleerer Denkintentionen. Diese Idee
begründet in der Tat eine völlig neue Auffassung von der Erkenntnis.
Nach Husserl ist die Erkenntnis kein unmittelbares Verhältnis des
Bewusstseins zu einer vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit,
sondern eine Synthesis von zwei intentionalen Aktinhalten. Es handelt
sich dabei einerseits um einen Denkakt, der als solcher Träger einer
Bedeutungsintention ist und deshalb als ›symbolischer‹, ›signifikativer‹
526
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
527
B. Das Unendliche der Welt
528
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
231
Ebd., S. 131.
232 Ebd., S. 129.
529
B. Das Unendliche der Welt
nein gesagt, sondern er gründet sich auf den ersten, ohne allerdings in
ihm aufzugehen. Gerade das ist hier mit ›Fundierung‹ gemeint. Gewiss
verweisen Wörter wie ›dass‹, ›dieses‹ und ›ist‹ auf ›ergänzende Formen‹
von Denken und Rede, die über das wahrhaft und eigentlich Gesehene
hinausgehen. Gleichwohl ist der Satz ›Ich sehe, dass dieses Stück Papier
vor mir weiß ist‹ nicht etwa korrekturbedürftig; er wird vielmehr mit
vollem Recht ausgesprochen, wenn die Behauptung ›Ich sehe ein Stück
weißes Papier vor mir‹ zu Recht besteht. Daraus folgt, dass wir mit
›Sehen‹ nicht immer eine schlicht sinnliche Anschauung meinen, son-
dern dieses Wort manchmal in erweitertem Sinne gebrauchen. Der Be-
griff einer nicht schlicht sinnlichen, aber doch sinnlich fundierten An-
schauung wird in der Phänomenologie in Anmessung an diesen
erweiterten Sinn des Wortes ›Sehen‹ gebildet.
Husserl begreift, dass man die Annahme eines vollständigen Paral-
lelismus zwischen symbolischer Bedeutung und erfüllender Anschau-
ung nicht aufrechterhalten kann, wenn man sich nur an das wahrhaft
und eigentlich Wahrgenommene hält; anders steht es jedoch nach ihm,
wenn man auch die Möglichkeit beachtet, von Wahrnehmung in erwei-
tertem Sinne zu sprechen, wobei die Forderung nach einer Fundierung
durch das wahrhaft und eigentlich Wahrgenommene der Sinnerweite-
rung eine sichere Grenze setzt: »[…] unter Voraussetzung der eben an-
gezeigten Möglichkeit stellt sich der Parallelismus wieder her, nur ist
kein Parallelismus zwischen den Bedeutungsintentionen der Ausdrücke
und den entsprechenden bloßen Wahrnehmungen, sondern ein Paralle-
lismus zwischen den Bedeutungsintentionen und jenen in Wahrneh-
mungen fundierten Akten.« 233
Die ›ergänzenden Formen‹ von Denken und Rede, denen in einer
schlicht sinnlichen Anschauung nichts entspricht, verweisen nach Hus-
serl auf transgenerische Formbegriffe oder Kategorien. Im Falle von
Wörtern wie »ist« oder »dieses« leuchtet diese Behauptung unmittelbar
ein; es liegt in ihnen ein Hinweis auf die Kategorien ›Sein‹ und ›Einzel-
heit‹. Durch das Bindewort ›dass‹, mit dem in der Rede ein Nebensatz
beginnt, wird aber ebenfalls eine kategoriale Struktur angezeigt, näm-
lich die des Sachverhalts oder der Tatsache. Ebenso verweist das ›und‹
der kollektiven Verbindung auf eine Kategorie, diesmal auf die des In-
begriffs oder, anders gesagt, auf die der Vielheit oder auch der Menge.
Hierher gehören auch die Zahlwörter wie ›vier‹, denn auch in der Zahl
530
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
531
B. Das Unendliche der Welt
532
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
533
B. Das Unendliche der Welt
Dass Husserl gerade am Anfang der 1910er Jahre auf Cantors Idee des
Transfiniten zurückzugreifen begann, hing vermutlich mit der Tatsache
zusammen, dass es Ernst Zermelo im Jahre 1908 gelungen war, eine trag-
fähige axiomatische Begründung der Mengenlehre vorzulegen. Damit
waren die Antinomien, die über Cantors Theorie mehr als ein Jahrzehnt
lang Unsicherheit verbreitet hatten, endgültig entschärft worden. Die
innermathematische Sicherung der Schlüsselergebnisse mengentheore-
tischer Forschung hatte auch den Weg zu einer philosophischen Aneig-
nung und Anwendung von Cantors Idee des Transfiniten freigemacht.
Im ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie legt Husserl eine voll ausgearbeitete
Phänomenologie des Unendlichen vor, indem er das Ding als ein allsei-
tig unendliches Erscheinungskontinuum bestimmt und diese Bestim-
mung mit seiner Lehre von der Idee in Kant’schem Sinne verbindet.
Damit nimmt die phänomenologische Abschattungslehre den nach
dem Sturz der Äthertheorie leer gebliebenen Platz einer Metaphysik
des Transfiniten auf eine veränderte Weise ein.
Von Cantors ursprünglichen Vorstellungen entfernt sich Husserl
allerdings in erheblichem Maße. Zu dieser Zeit ist er bereits der von
Kant begründeten transzendentalphilosophischen Tradition verpflich-
tet, die Cantor nicht zu billigen wusste und der er mit Hilfe von Spinoza
und Leibniz begegnen wollte. An Leibniz knüpft Husserl zwar ebenfalls
an, aber er greift auf einen Gedanken der Leibniz’schen Monadologie
zurück, mit dem Cantor seinerseits kaum etwas anfangen konnte: auf
den des Perspektivismus. In ihrer wechselseitigen Durchdringung erge-
ben diese beiden gedanklichen Elemente – der transzendentalphiloso-
phische Ansatz und der phänomenologische Perspektivismus – bei Hus-
serl eine Ansicht über das Unendliche, die sich als eine Metaphysik des
Transfiniten begreifen lässt, ohne mit Cantors ursprünglicher Auffas-
sung von dieser Metaphysik auch nur im Geringsten übereinzustim-
men.
534
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
234 Siehe Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe zur
Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen
Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 195.
235
Ebd., S. 199.
236 Ebd.
535
B. Das Unendliche der Welt
237 Ebd.
536
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
238
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Hus-
serliana, Bd. XXXVI], S. 118.
239 Ebd., S. 114 (Zeile 4).
240
Siehe dazu vom Vf., »Die phänomenologische Frage nach dem Ding«, in: Iris Där-
mann (Hg.), »Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen«, Paderborn: Fink 2014,
S. 177–192.
241 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 287, dt. S. 296.
537
B. Das Unendliche der Welt
Den Schlüssel zur Auflösung dieser Schwierigkeit gibt uns die Beobach-
tung an die Hand, dass immer nur eine wirkliche Erfahrung das Ding zu
einer leibhaftigen Gegebenheit bringen und damit das Dingreale greif-
bar machen kann. Deshalb können wir davon ausgehen, dass ein dia-
kritisches System möglicher Erfahrungen notwendig immer an eine
wirkliche Erfahrung und infolgedessen auch an ein aktuelles Bewusst-
sein gebunden bleibt. Diese Einsicht ist in vollem Einklang mit dem
methodologischen Transzendentalismus der Phänomenologie. Deutlich
erkennt Merleau-Ponty die Bedeutung dieser Ausgangsthese für den
phänomenologischen Zugangsweg zur Erfahrung. Deshalb begnügt er
sich nicht damit, ein diakritisches System der Wahrnehmung zur Spra-
che zu bringen, sondern sucht darüber hinaus auch das Verhältnis des
jeweiligen Ichsubjekts zu diesem System zu bestimmen. Daher macht
er sich zur Aufgabe, »meine Einschaltung in ein universelles diakriti-
sches System« 242 zu beschreiben.
Damit ist eine Grundeigentümlichkeit des phänomenologischen
Ansatzes markiert. Sie tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die dia-
kritisch gewendete Phänomenologie von anderen Ansätzen abheben.
Zu einer Gegenüberstellung bietet sich die Deleuze’sche Differenzphi-
losophie vor allen anderen Ansätzen an, weil sie einerseits die Überzeu-
gung von einer Ideenbedingtheit der Erfahrung mit der Phänomeno-
logie teilt und weil sie andererseits die Idee, von der sie die Erfahrung
abhängig macht, genauso wie Merleau-Ponty als ein diakritisches Sys-
tem auffasst. Deleuze stützt sich dabei allerdings mehr noch auf Berg-
sons Analyse des Gedächtnisses als auf Ferdinand de Saussures Er-
örterung der Sprache oder auf Claude Lévi-Strauss’ Darstellung der
Verwandtschaftsbeziehungen. Überhaupt führt Deleuze eine zur Phä-
nomenologie parallel verlaufende Tradition der philosophischen Moder-
ne weiter, die vor allem auf Henri Bergson zurückgeht. Er bereichert
diese Tradition, indem er neue Anstöße von Hume und Kant, von Proust
und Kafka, von Duns Scotus, Spinoza und Leibniz sowie allen voran
von Nietzsche aufnimmt, aber er bleibt – wie nicht nur sein Hauptwerk
Différence et répétition, sondern selbst noch seine zweibändige Darstel-
lung des »Bewegungsbildes« und des »Zeitbildes« im Kino deutlich
zeigt – bis ins Letzte hinein Bergsonianer. Auch um den Status der von
ihm anvisierten Idee klarzustellen, knüpft er an Bergson an, indem er
auf den Begriff des Virtuellen zurückgreift und ihn vom Begriff des
242 Ebd.
538
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
Möglichen oder des Potentialen abhebt. Schon Bergson stellt das Virtu-
elle dem Aktuellen und das Potentiale (Mögliche) dem Realen (Wirk-
lichen) gegenüber. Deleuze zieht daraus den Schluss, dass das Virtuelle
– im Gegensatz zum Potentialen – real (obwohl nicht aktuell) ist, also
zur Wirklichkeit (wenn auch nicht zur lebendigen Gegenwart) gehört.
Deleuze verfolgt damit eine Tendenz, die Idee als eine der Erfahrung
immer schon zugrunde liegende »Struktur« vom Bewusstsein, dem Ich,
dem Subjekt fernzuhalten und gleichsam im »Unbewussten« unter-
zubringen. 243 So führt seine vor allem an Bergson orientierte Differenz-
philosophie auch das Erbe des Strukturalismus weiter. Es ist daher nicht
unberechtigt, Gilles Deleuze zusammen mit Michel Foucault, Jacques
Derrida und anderen zum so genannten Poststrukturalismus zu rech-
nen, wenngleich diese – mittlerweile eingebürgerte – Bezeichnung ge-
wiss nicht ohne Vorsicht und Zurückhaltung zu verwenden ist, weil sie
eine Denkrichtung anzeigt, ohne sie begrifflich zu erfassen, und weil sie
eine eindeutige Zusammengehörigkeit dort vortäuscht, wo es doch viel
Auseinandergehendes gibt.
Eine diakritisch angelegte Phänomenologie unterscheidet sich von
der Deleuze’schen Differenzphilosophie und von jedem Ansatz post-
strukturalistischer Prägung. Sie hält am Begriff der Potentialität fest,
aber im Anschluss an Husserl versteht sie unter diesem Begriff keine
bloße Möglichkeit in der Welt, sondern vielmehr ein – durchaus real
gegebenes – Vermögen. Sie findet damit zu einem aristotelischen Mög-
lichkeitsbegriff zurück. Doch wiederum anders als Aristoteles begreift
sie die Potentialität mit Husserl ausdrücklich als ein Vermögen – oder
eine »Vermöglichkeit« – des Ichsubjekts. Husserl spricht zum Beispiel
in den Cartesianischen Meditationen von »Möglichkeiten der Wahr-
nehmung als solchen, die wir haben könnten, wenn wir tätig den Zug
der Wahrnehmung anders dirigierten, die Augen etwa statt so, viel-
mehr anders bewegten, oder wenn wir vorwärts oder zur Seite treten
würden usw.« 244 Er setzt hinzu: »Hier überall spielt in diese Möglich-
keiten hinein ein ›Ich kann‹ und ›Ich tue‹ bzw. ›Ich kann anders als ich
tue‹ […].« 245 Demnach ist in der Phänomenologie das unendliche Sys-
tem möglicher Erfahrungen als eine Idee in Kant’schem Sinne von
243
Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris: PUF 1968, S. 237 und 249; dt. Differenz
und Wiederholung, übersetzt von Joseph Vogl, München: Fink 1992, S. 234 und S. 245.
244
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 46 f.
245 Ebd., S. 47.
539
B. Das Unendliche der Welt
246
Ebd.
247
Bernet, Kern und Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, S. 185.
248
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.
249
Im V. Kapitel von Erfahrung und Ausdruck wurde vom Vf. ein Versuch unternom-
men, die Wirklichkeit der Welt und ihre Transzendenz durch die Denkfigur des Über-
schusses begreiflich zu machen, die in Husserl Idee einer Horizontintentionalität im
Sinne einer »Mehrmeinung« liegt. Im Folgenden wird ein anderer Versuch zur Auf-
lösung derselben Schwierigkeit gemacht: Nunmehr geht es darum, einen Unterschied
zwischen der Seinstotalität oder der Gesamtwirklichkeit der Welt und dem Unendlichen
als Erfahrungskategorie deutlich zu machen.
540
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
250
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 63 f.
251 Ebd., S. 63.
541
B. Das Unendliche der Welt
542
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
253
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Zweites Buch, S. 299.
543
B. Das Unendliche der Welt
254 In seiner Auseinandersetzung mit der Mengenlehre hebt Marc Richir hervor, dass die
544
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
545
B. Das Unendliche der Welt
255 Auf ähnliche Weise versucht Gilles Deleuze, die von ihm als virtuelles System inter-
546
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen
pretierte Idee zu dynamisieren (und damit die »Struktur« mit der »Genese« zu verbin-
den), indem er die Aktualisierung des Virtuellen als eine »Differenzierung« auffasst, die
der inneren Gliederung des in sich differentiellen Systems nicht unmittelbar entspricht
und deshalb ein »Ereignis« darstellt, das über die systeminterne »Differentiation« der
Idee hinausführt. Dieser Versuch drückt sich in der griffigen Formel différent/ciation
(auf Deutsch: Differentiation/ Differenzierung) aus. Siehe Deleuze, Différence et répéti-
tion, S. 242, S. 267, S. 270, S. 274, S. 276, S. 284 f., S. 316 f., S. 319–322, S. 358 und öf-
ters; dt. S. 238, S. 262, S. 265, S. 268, S. 270 f., S. 278 f., S. 310, S. 313–316 und öfters.
Vgl. bereits Gilles Deleuze, »La méthode de dramatisation«, in: Bulletin de la société
française de la philosophie 61 (1967), S. 89–118; wieder abgedruckt in: L’île déserte.
Textes et entretiens 1953–1874, hg. von David Lapoujade, Paris: Minuit 2002, S. 131–
162, hier: S. 140 f.
547
B. Das Unendliche der Welt
serl die Einstimmigkeit der Erfahrung nicht mehr als eine apriorische
Notwendigkeit auf, sondern als eine bloße Urtatsache, die auch nur ten-
denziell zur Geltung kommt. Mit seinem Hinweis auf die Unendlichkeit
als Offenheit betritt er aber erst recht einen Weg, der zur Überwindung
des scotistisch-leibnizianischen Grundtyps traditioneller Metaphysik
führen kann. Denn dieser Hinweis lässt die Möglichkeit erkennen, ei-
nerseits der Wirklichkeit des Weltfaktums die ihr gebührende Stellung
in der Metaphysik zu geben, ohne sie von vornherein in der Gesamtheit
der Möglichkeiten zu verorten, andererseits das Unendliche von der
Gesamtwirklichkeit dennoch deutlich zu unterscheiden. Die Dynami-
sierung des Husserl’schen Erscheinungskontinuums stellt einen Ver-
such dar, diese Möglichkeit mit Hilfe alteritätstheoretischer Überlegun-
gen zu verwirklichen.
Dazu gehört eine abschließende Bemerkung. Eine diakritisch ge-
wendete Phänomenologie versteht den Unterschied zwischen dem Un-
endlichen und der Gesamtwirklichkeit der Welt von vornherein als eine
»diakritische Differenz«. Darin liegt, dass sie die notwendige Zusam-
mengehörigkeit des Unterschiedenen zugibt und anerkennt. Es geht
ihr ebendeshalb zwar um eine Unterscheidung, nicht aber um eine
Trennung des Unendlichen von der Seinstotalität des Dinges und der
Gesamtwirklichkeit der Welt. Mit einem Unendlichen jenseits von Ding
und Welt hat eine diakritische Phänomenologie als solche nichts zu tun.
Ihr kommt es einzig und allein darauf an, das Unendliche dieser Welt zu
erfassen.
548
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
549
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
1
Deleuze, Le bergsonisme, S. 52; dt. S. 76.
2
Vgl. Deleuze, Différence et répétition, S. 43; dt. S. 49.
3 Deleuze, Le bergsonisme, S. 27; dt. S. 50. Vgl. Gilles Deleuze, »La conception de la
différence chez Bergson«, in: Les études bergsoniennes 4 (1956), S. 77–112, wieder abge-
druckt in: L’île déserte et d’autres textes. Textes et entretiens 1953–1974, S. 43–72, hier:
S. 53.
4 Siehe dazu Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contin-
550
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
drückte er ja in seinem Buch über das Kino aus, indem er der Hus-
serl’schen Grundthese vom Bewusstsein als einem Bewusstsein von
etwas die von ihm Bergson zugeschriebene Grundthese, das Bewusst-
sein sei etwas, sei also im Sein selbst situiert, entgegensetzte. 5 Diesen
Bestrebungen wurde im vorliegenden Buch die Idee eines metontologi-
schen Transzendentalismus entgegengehalten, der die Existenz einer
der Korrelation von Bewusstsein und Wirklichkeit vorausgehenden
Weltphase durchaus anerkennt, aber darauf besteht, dass diese Welt-
phase uns erst im Ausgang von der nunmehr bestehenden Korrelation
zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit durch eine rückläufige Konsti-
tution greifbar wird.
Der metontologische Transzendentalismus ist der Phänomenologie
verpflichtet, nicht aber dem Subjektivismus und dem Idealismus, von
denen die Phänomenologie in manchen ihrer Spielarten bedroht ist. Der
Gefahr des Subjektivismus entkommt er durch eine Sicht aufs Unend-
liche, der des Idealismus durch einen Rückzug auf das Leibhaftige. Das
Ding in der Welt versteht er als ein allseitig unendliches Erscheinungs-
kontinuum und weist so der von Husserl wiederholt behandelten Idee
im Kant’schen Sinn eine grundlegende Rolle in der Erfahrung zu, aber
er verbindet diese Idee mit der von Husserl ebenfalls betonten leibhaf-
tigen Gegebenheit des Dinges in der sinnlichen Wahrnehmung.
Zweiter Grundpfeiler: Metaphysik zufälliger Faktizität. Wir haben
die Existenz der Welt als eine Urtatsache begriffen, der nichts mehr als
eine faktische Notwendigkeit – die Notwendigkeit eines Faktums – zu-
kommt. Wir verbanden diese Urtatsache mit dem Cogito, indem wir
ihm mit Husserl ebenfalls die Notwendigkeit eines Faktums zugestan-
den. Einem Cartesianismus haben wir uns damit allerdings nicht ver-
gence, Paris: Seuil 2006; ders., Le Nombre et la Sirène. Un déchiffrage du Coup de dés de
Mallarmé, Paris: Fayard 2011; Graham Harman, Quentin Meillaissoux. Philosophy in
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Ray Brassier, Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction, Hampshire: Palgrave
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und New York: Continuum 2006. Vgl. Robin Mackey (Hg.), Collapse. The Journal of
Philosophical Research and Development 2 (March 2007), mit Beiträgen von Quentin
Meillassoux, Ray Brassier, Graham Harman, Roberto Trotta und anderen. Hierzulande
zeigt vor allem Markus Gabriel ein gewisses Interesse an dieser in sich vielfältigen Denk-
strömung, die neben Gilles Deleuze hauptsächlich an Alain Badiou orientiert ist.
5
Gilles Deleuze, Cinéma, 2 Bände (Bd. I: L’image-mouvement, Bd. II: L’image-temps),
Paris: Minuit 1983, 1985, hier: Bd. I, S. 83 f. und S. 89 f.
551
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
552
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
553
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
554
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
6
Miklos Vetö, L’élargissement de la métaphysique, Paris: Hermann 2012; vgl. ders,
Explorations métaphysiques, Paris: L’Harmattan 2012.
555
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie
Vor allem das Beispiel von Levinas zeigt, dass eine Besinnung auf
den Unterschied zwischen Totalität und Unendlichkeit eine grundlegen-
de Rolle in den theologischen Bestrebungen jenseits der Ontotheologie
spielen kann. Dieser Zusammenhang begründet sich wohl dadurch, dass
jedes Gottesverhältnis des Menschen letztlich aus der Wahrnehmung
des Unendlichen der Welt erwächst. Nicht ohne Grund leitet bereits
Friedrich Schleiermacher den Glauben an das Göttliche aus einem »Ge-
fühl des Unendlichen« ab. 7
Selbst wenn sie phänomenologisch angelegt sind, gehen jedoch die
theologischen Bestrebungen notwendig über das eigentlich Phänome-
nologische hinaus, weil sie niemals bloß der jeweils behandelten Sache
selbst, sondern zugleich einer bestimmten Überlieferung religiöser Art
zu entsprechen suchen. Wohl zu Recht bestimmt Cantor das Absolut-
unendliche als den Gegenstand der Theologie. Aber das Unendliche der
Welt ist nicht das Absolutunendliche. Es ist vielmehr ein offenes Un-
endliches, das vielleicht jeder Überlieferung religiöser Art zugrunde
liegt, sich aber in keine von ihnen jemals ganz einschließen lässt.
7
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern, hg. von Hans Leisegang, Leipzig: Kröner o. J. [1924], S. 58; vgl.
S. 36.
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[Sämmtliche Werke, Abteilung I, Bd. X] (in den Ausgewählten Schriften nicht
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung, Erster Band,
Erstes Buch: »Einleitung in die Philosophie der Offenbarung oder Begründung
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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Philosophie der Offenbarung, Erster Band,
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Nachwort und Nachweise
581
Nachwort und Nachweise
582
Nachwort und Nachweise
Zahl und transzendentaler Schein. Kant und Cantor in der Sicht von
Marc Richirs Phänomenologie«, in: Dieter Hüning, Karin Michel und
Andreas Thomas [Hg.], Aufklärung duch Kritik. Festschrift für Man-
fred Baum zum 65. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin 2004,
S. 451–475) habe ich in diese Abteilung eingebaut.
Während der Arbeit an der gegenwärtigen Abhandlung ist wei-
terhin eine ganze Reihe fremdsprachiger Veröffentlichungen entstan-
den, die manchen Gedanken des vorliegenden Buches Ausdruck geben:
»Experience of Infinity in Levinas« (erschienen in: Levinas Studies 4
[2009], S. 111–125); »L’idée de métontologie et la vision du monde
selon Heidegger« (erschienen in: Heidegger Studies 27 (2011),
S. 137–153); »Transformations in Heidegger’s Conception of Truth
between 1927 and 1930« (erschienen in: Pol Vandevelde–Kevin Herm-
berg [Hg.], Variations on Truth. Approaches in Contemporary Pheno-
menology [Issues in Phenomenology and Hermenutics], London/New
York: Continuum 2011, S. 94–108); »Filozófia és világnézet [Philoso-
phie und Weltanschauung]« (erschienen in: B. Blandl–P. Gulyás–
B. Marosán, »A margók előadója voltam.« Emlékkötet Munkácsy Gyu-
la tiszteletére [»Ich war Ränderforscher«. Festschift zu Ehren von
Gyula Munkácsy«], Budapest: Világosság Könyvek 2011, S. 47–66);
»On Merleau-Ponty’s Debate with Sartre’s Phenomenological Meta-
physics«, in: K. Novotný, P. Rodrigo, J. Slatman und S. Stoller (Hg.),
Corporeity and Affectivity. Dedicated to Maurice Merleau-Ponty, Lei-
den und Boston: Brill 2014, S. 235–249 (ungarische Fassung in: Tamás
Ullmann und Péter Váradi (Hg.), Sartre és Merleau-Ponty, Budapest:
L’Harmattan 2011, S. 42–57; chinesische Fassung in: Journal of Pheno-
menology and the Human Sciences 4 [2011], S. 217–237); »Necessity
of a Fact in Aristotle and in Phenomenology« (erschienen in: Philoso-
phy Today 55 [SPEP Supplement 2011], S. 124–132; »On Absolute
Infinity in Cantor«, in: Dermot Moran und Hans Rainer Sepp (Hg.),
Phenomenology 2010, Bd. 4: Selected Essays from Northern Europe,
Bukarest: Zeta Books 2011, S. 529–550); »Number as a Category in
Husserl« (erscheint in einem von János Tőzsér herausgegebenen Heft
der Zeitschrift Studies in East European Thought); »Agonistic World
Projects. Transcendentalism versus Naturalism« (erschienen in: The
Journal of Speculative Philosophy 27 [2013], S. 236–252); »Categories
of Experience and the Transcendental« (erschienen in: Sara Heinämaa,
Mirja Hartineo und Timo Miettinen, Phenomenology and the Trans-
cendental, New York und London: Routledge 2014, S. 49–60).
583
Nachwort und Nachweise
584
Namenregister
585
Namenregister
586
Namenregister
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Namenregister
588
Namenregister
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Namenregister
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Sachregister
591
Sachregister
592
Sachregister
593
Sachregister
594
Sachregister
Jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐ- 335–337, 399, 401, 408–409, 436,
σίας) 72, 74, 76, 81–82, 285, 475, 547
554 – Konstitution durch das intentionale
Bewusstsein 212, 272, 541
Kategorie 16–17, 196, 261, 290–293, – Rückwärts laufende o. rückläufige
298–301, 303, 374, 403, 513, 519, (retroaktive) Konstitution 210–212,
522 414, 551
– Aristotelische Kategorien 58–62, Kontingenz, kontingent 155, 168, 178,
64–65, 67, 95, 327 189, 198, 231, 233, 266, 269, 271,
– Kantische Kategorien 294, 327–329, 278, 323, 326
394–396 – Erkenntniskontingenz 195, 198,
– Hegel’sche Kategorien 149–150, 164 323–324
– Formale oder transgenerische Be- – Kontingenz der Welt 154–155, 165,
griffe als Kategorien 519–522, 530– 210, 323–324
532, 536 Kontinuum 490–492, 494–495, 497–
– Erfahrungskategorie o. Experiential 500, 505, 515
16, 194–195, 198–199, 218, 221– – Allseitig unendliches Erscheinungs-
222, 326–331, 334, 360, 367, 375, o. Abschattungskontinuum 306,
393, 396–399, 534–535, 540, 547, 316, 321, 411, 429, 436, 534, 536,
552–553 546, 548, 551, 553
– Erfahrungskategorien als Ausdrücke – Arithmetisches Kontinuum 460,
von Einstimmigkeitstendenzen 16, 489, 498–500, 502–503
197, 326–327, 331, 333, 337, 367, – Linearkontinuum 445, 451–452,
375, 393–394, 396–397, 547, 552– 456–457
553 – (Cantors) Kontinuumsproblem 463,
– Erscheinungs- versus Horizonts- 488–489
kategorien 328–330, 337, 393 – Nicht-Cantor’sches Kontinuums-
– Kategorialanalye 109, 194, 197–198, phänomen 501, 505
222–224, 291–292, 294, 327–329, Korrelation(sapriori) 205–206, 218,
361, 519, 523, 526, 549, 552 280, 317, 550–551
– Kategoriale Anschauung 365, 522,
531–533, 535–536 Leib 223, 274, 276, 307, 332–333, 402–
Kausalität 14, 16–17, 68, 118–119, 403, 405–406
122–124, 126, 148, 198, 221–222, – Leiblich(keit) 186, 190, 210, 308,
293, 329, 331, 337–338, 343–344, 334, 409
346, 348, 350, 352–360, 363–367, – Leibhaftig(keit) 328, 537, 551
372–380, 382–383, 385, 387–390, Logos (λόγος) 38, 41–43, 244, 253,
393, 401–402, 405, 547, 549, 553 256, 308, 339–340
– Kausalität als ständige Verbindung
(constant conjunction) 345, 351 Menge o. Mannigfaltigkeit o. Vielheit o.
– Kausalität als notwendige Verbin- Inbegriff 17, 206, 300, 341, 411, 419,
dung 344–346, 356 435–439, 442–467, 471–474, 481–
– Partielle Kausalität 369, 371–372, 483, 485, 488–491, 497–505, 508–
383, 392 515, 518, 521–523, 530, 532, 534–
Konstitution, konstituieren 186, 251, 536, 544
267, 279–280, 288, 314, 318–319, Metakategorie 330–331, 553
595
Sachregister
596
Sachregister
597
Sachregister
598
Sachregister
Physis (φύσις) 32–34, 290, 339 Rückfrage 184, 217–218, 221, 225
Poststrukturalismus, poststrukturalis-
tisch 539, 550 Schichtentheorie (-ontologie, -modell,
Psychologismus, psychologostisch 445, Stufenbau o. -modell) 260–261, 399,
517–519, 522, 531 403, 416
Seiendes 38, 40, 58–67, 74–75, 81, 84,
Raum, Räumlich(keit) 14, 16, 48, 221– 87–88, 94–95, 109, 131–132, 134,
223, 328, 331–333, 337, 393, 411, 141, 163–164, 167, 173, 220, 241,
460, 493, 501–502, 515, 535, 547, 245, 250–251, 254–259, 261–262,
550, 553 271–272, 282, 385–388, 390, 392,
– Raumzeitliches Ding, räumlich aus- 416–417, 435–436, 542, 547, 554–
gedehntes Ding 202–204, 206, 210, 555
406 – Das Seiende als Seiendes 14, 29, 31,
– Raumdingliches 321 39, 42, 47–54, 59, 72, 77, 89–90, 108,
– Raum-zeitlich-kausale Anschauung 113, 116, 175–177, 194, 199, 229,
211 279, 290, 303, 330, 415
– Räumliche und zeitliche o. raum- – Das Seiende als solches 30, 39, 42,
zeitliche Welt 221, 406 92–93, 97, 115, 158, 230, 235, 259,
– Raumzeitliche Unendlichkeit 221– 388
222, 298, 328 – Das Seiende im Allgemeinen 87–90,
– Raumzeitliche Stellenanweisung 92–95, 176, 235
430 – Das höchste (erste, eigentliche) Sei-
– Phantasieraum 207 ende 29–31, 39, 42–43, 45–46, 49–
Realismus 355, 423 51, 54, 56, 59, 63–66, 68–69, 88–90,
– Begriffsrealismus 402, 441 92, 94, 98, 100, 115, 117–119, 130,
– Naiver Realismus 212, 315 135, 161, 176, 235, 339
– Modaler Realismus 351 – Das notwendig Seiende s. Notwen-
– Idealismus versus Realismus 212 dig(keit)
– Spekulativer Realismus (speculative – Das Seiende im Ganzen o. das Seien-
realism) 550–551 de als solches und im Ganzen 31–34,
Realität 109–110, 133, 200, 209, 212, 43, 45, 91, 230–231, 234, 238, 243,
331, 537, 542 261–262, 391, 417
– Realität als Sachhaltigkeit (»Sach- – Das Seiende als Verursachtes
heit«) 125, 127, 130–131, 133–138, (ens causatum) 118–119, 121, 128–
159, 351, 365 129
– Substantielle Realität 401–403, – Das Seiende als Denkobjekt 99–100,
406–407 117, 121–122, 129, 131, 163
– Realitätsstufe 212, 398, 401, 403, – Transgenerische Bedeutungseinheit
405–406, 408–409 des Seienden 61–64
– Realitätsidee s. Idee – Fokale Bedeutungseinheit des Seien-
– Realitätsanspruch 422–423, 425 den 58–59, 61
– Realität und Zahl 440–441, 445–446 – Analogische Bedeutungseinheit des
– Immanente versus transiente Reali- Seienden (s. auch Analogie, Analogie
tät 441–442, 487 des Seins (analogia entis) 68–69
Reduktionismus 346, 355–356, 420, – Univozität des Seienden 61, 69, 93–
423–424 94, 97, 415
599
Sachregister
600
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601
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602
Sachregister
470–472, 488, 495–497, 516, 522, – Frage nach der Welt 26, 31, 230, 241,
525, 528–531, 536–539, 551, 556 299, 303
Welt 17, 105, 107, 127–128, 158, 178, – Die Welt und ihr Unendliches,
181, 185–187, 190, 196–197, 200, s. Unendlich(keit)
210–212, 229–230, 232, 235–238, Weltanschauung 32, 212, 229, 232, 236,
242, 244, 246–247, 254, 257–259, 238–242, 261–262, 436, 482, 507–
266–267, 271, 274, 276, 279–280, 508
285, 297, 303–307, 309–313, 325– Wesen
326, 338–340, 349, 359, 366, 368– – Selbstständig existierendes Wesen,
370, 372–375, 379, 383–386, 388– Einzelwesen (οὐσία, Substanz) 49–
389, 391–393, 400, 406, 416, 420– 50, 52, 54, 58–59, 62–67, 77, 92, 173,
425, 430, 435–436, 468, 472, 486, 175, 179, 189, 208
526, 535–536, 544 – Allervollkommenstes o. allerrealstes
– Welthorizont o. Welt als Universal- Wesen, Urwesen 132, 134–137, 142,
horizont 19, 220, 305–306, 311, 318, 147, 160, 162
330, 425, 537, 540, 549 – Notwendiges Wesen s. Notwendig
– Weltwirklichkeit, Gesamtwirklich- (keit)
keit der Welt 16, 195–198, 303, 330, – Wesen(heit) o. (wesenhaftes) Sosein
360, 393–410, 540–555 (τὸ τί ἦν εἶναι, essentia) 62, 64–65,
– Lebenswelt(lich) 14, 17, 178, 213– 67–68, 86–88, 98–100, 119–120,
226, 279, 298–300, 325, 327–330, 123, 125, 127–128, 131, 147–148,
346–347, 357, 398–405, 416–417, 150, 152, 158–159, 164, 208, 219–
422, 425–426, 438, 442–443, 464, 220, 224, 240, 306, 315–316, 340,
488, 490, 504–505, 549, 553 385–386, 398, 404, 409, 428–429,
– Weltfaktum 323–324, 414, 548, 552 441, 532, 543–545
– Welthabe 184–187 – Reale Wesenheit (essentia realis)
– Weltbildung 229, 236, 250–251, 108–110, 113
260–263, 298, 386, 397, 416–417, – Offenes Wesen 429–430, 543–545
427 – Wesensmöglichkeit 268
– Weltentwurf 17–19, 233, 252, 257– – (Eidetische) Wesensform 184, 404
258, 261, 298, 385–386, 397, 399, – Wesensvariation 184
403, 409, 411–412, 416–417, 419, – Wesensnotwendigkeit 184, 189, 204,
421, 425–427, 432–433, 436, 543, 268–270, 279, 406
549–550, 552–553, 555 – Wesensschau 532
– Weltvernichtung 204, 322 – Intentionales und bedeutungsmäßi-
– Ding und Welt s. Ding ges Wesen s. Intentional(ität)
– Welt versus Sein 16, 256–258, – Wesen o. Wesensverfassung (o.
415 -entwurf o. -bestimmung o. -defini-
– Mögliche Welt 14, 128, 131, 349– tion) der Metaphysik 15, 26, 37, 39,
352, 354, 356 41, 44–46, 71, 84, 100–102, 104, 555
– Erscheinungswelt o. sinnlich wahr- Widerfahrnis 306, 394, 418–419, 550
nehmbare Welt 17, 74–75, 358, 425, Wirklich(keit) (als Seinsbestimmung o.
442–443, 460, 547 als Erfahrungskategorie) 16, 38, 57–
– Weltzeit 334–337, 415 58, 62, 64–65, 68, 78, 92, 95, 97,
– Kontingenz o. Zufälligkeit der Welt 128–131, 133, 136, 142–152, 159–
s. Kontingenz 161, 172–182, 189, 195–198, 200,
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Sachregister
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