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László Tengelyi

Welt und
Unendlichkeit
Zum Problem
phänomenologischer
Metaphysik

VERLAG KARL ALBER B


László Tengelyi
Welt und Unendlichkeit

VERLAG KARL ALBER A


In der analytischen Philosophie drückt sich gelegentlich ein Erneue-
rungswunsch der Metaphysik aus. Nur dass dabei der von Kant zum
ersten Mal gesehene Problemcharakter der Metaphysik allzu wenig be-
achtet wird! Das Buch Welt und Unendlichkeit wendet sich gerade dem
Problem der Metaphysik zu, indem es der Frage nachgeht, ob nicht etwa
die phänomenologische Tradition mit ihrem Rückgang auf die lebens-
weltliche Erfahrung eher in der Lage sei, hier Richtung zu weisen.
Husserls Idee einer phänomenologischen Metaphysik wurde auf
diese Frage hin bisher noch nicht geprüft. Zum nicht-traditionellen Cha-
rakter dieser Metaphysik gehört, dass sie nicht nach ersten Gründen und
Ursachen des Seienden als Seienden forscht. Vielmehr stützt sie sich von
vornherein auf gewisse Urtatsachen. Allerdings unterscheiden sich die
Urtatsachen, die Husserl herausstellt, von den gewöhnlichen Tatsachen;
denn es kommt ihnen eine gewisse Notwendigkeit zu.
Der Titel »Welt und Unendlichkeit« deutet zugleich einen grund-
sätzlichen Unterschied zwischen Totalität und Unendlichkeit an. Im
Buch wird dieser Unterschied mit Georg Cantors Gegenüberstellung
von Transfinitem und Absolutunendlichem verbunden. Es wird die
These vertreten, dass die von Cantor gesuchte Metaphysik des Trans-
finiten nur als eine Phänomenologie von Ding und Welt realisierbar ist.
Allerdings klingt die Rede von einer »phänomenologischen Meta-
physik« in einem Zeitalter, das nicht müde wird, eine »Überwindung
der Metaphysik« und sogar ein »nachmetaphysisches Denken« zu for-
dern, unzeitgemäß und deshalb herausfordernd. Freilich wird auch im
vorliegenden Buch davon ausgegangen, dass Metaphysik als Ontotheo-
logie nicht mehr möglich sei. Es soll aber gezeigt werden, dass die Phä-
nomenologie einen neuen Typ der Metaphysik ermöglicht, der sich mit
keiner Ontotheologie verbindet.

Der Autor:
László Tengelyi (1954–2014) war Professor am Philosophischen Semi-
nar der Bergischen Universität Wuppertal und Vorsitzender des dorti-
gen Instituts für phänomenologische Forschung. Buchveröffentlichun-
gen: Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte (München 1998), L’expérience
retrouvée (Paris 2006), Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im
Umbruch bei Husserl und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2007), Neue
Phänomenologie in Frankreich (Ko-Autor: Hans-Dieter Gondek;
Frankfurt a. M. 2011); L’expérience de la singularité (Paris 2014).
László Tengelyi

Welt und
Unendlichkeit
Zum Problem
phänomenologischer
Metaphysik

Verlag Karl Alber Freiburg / München


3. Auflage 2015

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier

ISBN (Buch) 978-3-495-48661-0


ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86049-6
Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Erster Teil: Metaphysik und Ontotheologie

Grundtypen der Metaphysik in der französischen Philosophie-


geschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte . . . . . . . . . . . 25
I. Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der
Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1. Der Doppelbegriff der Metaphysik . . . . . . . . . . . 29
2. Entstehung »traditioneller« Metaphysik . . . . . . . . 34
3. Metaphysik als Ontotheologie . . . . . . . . . . . . . 37
II. Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur . 46
1. Die Doppelbestimmung der Metaphysik bei Aristoteles . 47
2. Der aporetisch-diaporematische Charakter der
aristotelischen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . 51
3. Der lange Weg zur Ontotheologie . . . . . . . . . . . 55
a. Die fokale Bedeutungseinheit des Seienden bei
Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
b. Die Erfindung einer Analogie des Seins . . . . . . . 62
4. Der henologische Sonderweg . . . . . . . . . . . . . 72
a. Die Sonderstellung des Einen in der Ideenlehre . . . 73
b. Theorien über die henologische Alternative zur
Seinsmetaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
III. Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische
Grundstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
1. Die kathoulou-protologische Grundstruktur bei Thomas
von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

5
Inhalt

2. Entstehung der katholou-tinologischen Grundstruktur . 89


a. Univozität des Seins und scientia transcendens . . . 93
b. Allgemeine und spezielle Metaphysik . . . . . . . . 94
c. Die katholou-tinologische Grundstruktur . . . . . . 97
3. »Historisierung« der Ontotheologie . . . . . . . . . . 101
a. Einwände gegen Heideggers Wesensbestimmung der
Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
b. »Historisierung« der Ontotheologie in einer
geschichtlichen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 104
c. Die Grundtendenz zur Tinologie bei Duns Scotus
und Suárez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
IV. Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen
Satz vom Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
1. Descartes’ epistemische Protologie und das Auftauchen
des Terminus »Ontologie« . . . . . . . . . . . . . . . 116
2. Verdopplung der ontotheologischen Verfassung der
Metaphysik bei Descartes . . . . . . . . . . . . . . . 117
3. Das Verhältnis der beiden Ontotheologien zueinander
bei Descartes und seinen Nachfolgern . . . . . . . . . 121
4. Kausalkette und Begründungszusammenhang bei
Spinoza und Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
a. Unterschiede zwischen Descartes und Spinoza . . . 122
b. Leibniz und der Vorrang des Grundes gegenüber der
Ursache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
V. Kants Kritik spekulativer Metaphysik . . . . . . . . . . . 130
1. Kants Kritik des transzendentalen Ideals . . . . . . . . 130
2. Das Zweideutige an Kants transzendentalem Ansatz . . 135
3. Kritik der Ontotheologie im Übergang von Kant zum
Deutschen Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
VI. Der Grund und das Grundlose bei Hegel . . . . . . . . . 146
VII. Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie . 154
a. Das unvordenkliche Sein und der Anfang des
Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
b. Freiheit gegen das Sein . . . . . . . . . . . . . . . 164

6
Inhalt

Zweiter Teil: Phänomenologie und Metaphysik

Metaphysik zufälliger Faktizität bei Husserl, Heidegger und in der


französischen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
I. Husserls Metaphysik der Urtatsachen . . . . . . . . . . . 180
1. Metaphysik zufälliger Faktizität . . . . . . . . . . . . 180
a. Faktizitätsbedingtheit eidetischer Zusammenhänge . 182
b. Vier Gruppen von Urtatsachen . . . . . . . . . . . 184
c. Die Suche nach ersten Ursachen als ›spekulatives
Abenteuer‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
d. Die Notwendigkeit eines Faktums . . . . . . . . . . 188
2. Erweiterung des Bereichs zufälliger Faktizität . . . . . 191
3. Kategorien des Erfahrungsgeschehens . . . . . . . . . 194
a. Weltwirklichkeit als Erfahrungskategorie . . . . . . 195
b. Kategorien als Einstimmigkeitstendenzen der
Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
c. Hinweis auf die Kausalitätskategorie . . . . . . . . 198
4. Der methodologische Transzendentalismus der
Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
a. Zwei Argumente für den transzendentalen
Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
b. Der Aufbau des Beweises des transzendentalen
Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
c. Methodologischer Transzendentalismus und
transzendentaler Idealismus . . . . . . . . . . . . 209
5. Die Erfahrung in der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . 213
a. Die lebensweltliche Erfahrung als Ort spontaner
Sinnbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
b. Die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung . . 219
c. Die Kategorien lebensweltlicher Erfahrung . . . . . 221
II. Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik 228
1. Die Idee von Metontologie . . . . . . . . . . . . . . . 229
2. Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 236
3. Philosophie und Weltanschauung . . . . . . . . . . . 239
4. Wandlungen in der Wahrheitsauffassung . . . . . . . 243
a. Wahrheit und Miteinandersein . . . . . . . . . . . 246
b. Wahrheit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . 253

7
Inhalt

5. Anthropologie der Weltbildung und Metaphysik des


Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
III. Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen
Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
1. Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit Sartres
phänomenologischer Metaphysik . . . . . . . . . . . 265
a. Sartre und die Metaphysik der Urtatsachen . . . . . 265
b. Merleau-Ponty und die Idee einer Dialektik ohne
Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
2. Das Unendliche als Überschuss in der Erfahrung von
Welt bei Levinas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
3. Das phänomenologische Feld als Apeiron bei Richir . . 286
4. Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie
bei Marion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Dritter Teil: Phänomenologische Metaphysik

Die Welt und ihr Unendliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . 303


I. Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont . . 306
1. Das Ding und sein Erfahrungshorizont . . . . . . . . . 309
2. Das Ding als Idee im Kant’schen Sinne . . . . . . . . . 313
3. Zwei Deutungen des phänomenologischen Transzenden-
talismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318
4. Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung . . . . . . . 321
II. Erfahrungskategorien von Ding und Welt . . . . . . . . . 327
1. Raum und Zeit als Ausdrücke von Einstimmigkeits-
tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
2. Die Kausalität als Ausdruck von Einstimmigkeits-
tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
a. Der Satz vom Grund und seine Kritiker . . . . . . . 337
b. Der Kausalitätszusammenhang und die Idee
notwendiger Verknüpfung . . . . . . . . . . . . . 344
c. Der Grundsatz der Kausalität als transzendentales
Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

8
Inhalt

3. Handlungsteleologie und Handlungsfreiheit . . . . . . 366


a. Absichtliches Handeln und unbeabsichtigte
Handlungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
b. Handlungsfreiheit als partielle Kausalität . . . . . . 369
c. Kausalzusammenhang und Handlungsteleologie . . 373
d. Handlungsfreiheit als Freiheit des Für und Wider . . 375
e. Die Handlungsfreiheit als Mitursache und als Grund
des Grundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
4. Die Wirklichkeit der Welt als Gesamtausdruck aller
Einstimmigkeitstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . 393
5. Einzelne Realitätsstufen in der Gesamtwirklichkeit der
Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
III. Agonale Weltentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
1. Metontologischer Transzendentalismus . . . . . . . . 412
2. Naturalistischer Autarkismus . . . . . . . . . . . . . 420
3. Ein Beweisgrund für die transzendentale Option –
mit agonalem Respekt angeführt . . . . . . . . . . . . 425

B. Das Unendliche der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435


I. Transfinite Zahl und transzendentaler Schein . . . . . . . 439
1. Metaphysik und Mathematik in der Theorie des
Transfiniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
2. Das Grundgesetz »dialektischer Begriffserzeugung« im
Transfiniten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
3. »Arithmetik des transzendentalen Scheins« . . . . . . 463
II. Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors
Bemerkungen über seine Vorgänger . . . . . . . . . . . . 466
1. Das Transfinite als eine Mischung von Grenze und
Unbegrenztem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
2. Das Absolutunendliche als das ›absolute Maximum‹ . . 474
3. Wege zum Zwischenreich des Transfiniten . . . . . . . 483
III. Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums . . . 489
1. Die aristotelische Deutung von Zenons Aporien über die
Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
2. Die aristotelische Auffassung vom Kontinuum . . . . . 494
3. Zwei Betrachtungsweisen des Kontinuums . . . . . . . 498
IV. Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen . 507
1. Kritik an der Äquivalenztheorie der Zahl . . . . . . . . 508

9
Inhalt

2. Das Abstraktionsfundament des Begriffs der Zahl . . . 513


3. Die Zahl als Gegenstand kategorialer Anschauung . . . 522
4. Das Unendliche als Erfahrungskategorie . . . . . . . . 534
5. Die Bedeutung von Husserls Frage nach der Unendlich-
keit als »Offenheit« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544

Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie . . . . . . . . . . . . . 549

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

Nachwort und Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591

10
»ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν […].
ὅταν γὰρ ἂν αὐτὸν νοήσῃς οἷον ἢ νοῦν ἢ θεόν, πλέον ἐστί […]«.

»Man muss ihn [sc. den Uranfang] auch als unendlich auffassen […].
Denn wenn Du ihn dir als Geist oder Gott denkst, ist er mehr […].«

(Plotinus, Enn. [Opera, Henry–Schwyzer], VI 9, 6, 10–14;


dt. von Ch. Tornau).
Einleitung

Mit Aristoteles wurde die Metaphysik für mehr als zwei Jahrtausende
zur Grunddisziplin der Philosophie. Sie machte zwar erhebliche Wand-
lungen durch und wurde zumindest zweimal – bei Duns Scotus und bei
Descartes – sogar auf völlig neue Grundlagen versetzt, aber sie be-
stimmte bis ins 18. Jahrhundert hinein das philosophische Denken. Im
Zeitalter der Aufklärung wandten sich manche Denker – besonders in
Frankreich und in England – von ihr ab oder betrachteten sie, wie
Hume, mit begründeten Zweifeln. Aber erst mit Kant wurde sie ein
anhaltend beunruhigendes Problem.
Es handelt sich um ein Problem, das mittlerweile verschiedene Ge-
stalten annahm, aber bis heute nicht gelöst oder bewältigt wurde. Von
Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer bis Bergson und Whitehead
gab es eine ganze Reihe von Denkern, die es zu lösen oder zu bewältigen
suchten, aber immer wieder attestiert man ihren groß angelegten Ver-
suchen ein Gepräge von metaphysics-fiction.
Nietzsche trat einer Metaphysik, die sich nach ihm allzu sehr am
Christentum orientierte, ausdrücklich als Gottloser und Antimetaphy-
siker entgegen. 1 Seitdem gilt jede Metaphysik, die sich als Sachwalterin
von Ideen wie Unsterblichkeit, (intelligibler) Freiheit und Gott versteht
– selbst wenn sie, wie etwa Kants Metaphysik der Sittlichkeit, in diesen
Ideen nichts als Gegenstände bloßer »Postulate« sieht –, als »traditio-
nell«. Diese – in unseren Tagen durchaus verbreitete – Bezeichnung
spricht dafür, dass die Zeit, in der wir leben, als »(nach)nietzscheanisch«
zu kennzeichnen ist.
Antimetaphysische Tendenzen wurden in den beiden vorherr-

1
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral [Nietzsche’s Werke, Großoktav-Aus-
gabe, Bd. VII], Leipzig: Kröner 1910, S. 470 (= Kritische Studienausgabe, hg. von Gior-
gio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bände, Berlin, New York und München: Walter de
Gruyter und Deutscher Taschenbuchverlag 1988, Bd. V, S. 401).

13
Einleitung

schenden Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts, der – weit verstande-


nen – analytischen Philosophie und der – ebenso weit verstandenen –
phänomenologischen Tradition, gleichermaßen deutlich, wenn sie auch
keineswegs gleichen Sinnes waren. Dass ein Ausdruck wie ݆berwin-
dung der Metaphysik‹ den großen Gegnern Carnap und Heidegger glei-
chermaßen geläufig war, ist ein Umstand, der zum Aufhorchen anhält.
In der analytischen Philosophie haben aber gerade die letzten Jahr-
zehnte neue Bestrebungen mit sich gebracht, die den älteren Tendenzen
zuwiderlaufen. Von einer Überwindung der Metaphysik durch logische
Analyse der Sprache wie bei Carnap oder durch einen Rückgriff auf
alltägliche Sprachspiele wie bei Wittgenstein (aber auch bei Ryle oder
Austin) ist kaum mehr die Rede. Vielmehr wird in der analytischen
Philosophie neuerdings eher eine Erneuerung der Metaphysik ange-
strebt. Ein Werk mit dem Titel Metaphysics ist heute keine Seltenheit
in der englischsprachigen Welt. Es hat sich in dieser Hinsicht eine Wen-
de in der analytischen Philosophie vollzogen. Von Denkern wie Kripke,
Putnam und Dummett vorbereitet, wurde sie von David Lewis und von
Roderick Chisholm auf je verschiedene Weise herbeigeführt. Eine ganze
Reihe zeitgenössischer philosophers, zu denen Michael Loux, E. Jona-
than Lowe, Ernest Sosa, Jaegwon Kim und viele andere gehören, hat sie
dann zu einem gewissen Abschluss gebracht.
Nur dass dabei der von Kant zum ersten Mal gesehene Problem-
charakter der Metaphysik allzu wenig beachtet wird! Es besteht gewiss
kein Mangel an frischen Einsichten in die altehrwürdigen Probleme von
Identität, möglicher Welt, Substantialität, Kausalität, Raum, Zeit, Be-
wegung und Ähnlichem, aber der Versuch zur Gesamterneuerung des
Althergebrachten erweist sich dabei als richtungslos.
Ich wende mich dem Problem der Metaphysik mit der Frage zu, ob
nicht etwa die phänomenologische Tradition mit ihrem Rückgang auf
die lebensweltliche Erfahrung eher in der Lage sei, hier Richtung zu
weisen, als die analytische Philosophie. Husserls Idee einer phänome-
nologischen Metaphysik wurde auf diese Frage hin bisher noch nicht
geprüft, obgleich sie sich von vornherein als eine Alternative zur tradi-
tionellen Metaphysik angeboten hatte. Sie soll in den Mittelpunkt der
nachfolgenden Untersuchungen gestellt werden.
Zum nicht-traditionellen Charakter dieser Metaphysik gehört,
dass sie nicht nach ersten Gründen und Ursachen des Seienden als Sei-
enden forscht. Vielmehr stützt sie sich von vornherein auf gewisse
Urtatsachen. Nach Husserls Einsicht kann die phänomenologische Me-

14
Einleitung

taphysik – im Gegensatz zur transzendentalen Phänomenologie – kei-


neswegs als eine apriorische Wissenschaft aufgefasst werden. Im Ge-
genteil, sie wird als eine Wissenschaft des Faktischen bestimmt. Aller-
dings unterscheiden sich die Urtatsachen, die Husserl herausstellt, von
den gewöhnlichen Tatsachen. Denn es kommt ihnen eine gewisse Not-
wendigkeit zu. Die ganze Idee einer phänomenologischen Metaphysik
steht oder fällt mit dem Gedanken, dass es eine Notwendigkeit des
Faktischen geben kann. Zunächst entnimmt Husserl dem Cogito die
»Notwendigkeit eines Faktums«. Dann überträgt er aber diese Einsicht
auch auf andere Urtatsachen. Allerdings schließt die ›Notwendigkeit
eines Faktums‹ einen ›Kern des Urzufälligen‹ keineswegs aus. Aus der
Analyse der Urtatsachen erwächst vielmehr eine Metaphysik »zufäl-
liger Faktizität«, die als solche in einem (nach)nietzscheanischen Zeit-
alter wohl eine besondere Beachtung verdient.
Der Gedankengang des vorliegenden Buches gliedert sich in drei
Teile. Unter dem Titel »Metaphysik und Ontotheologie« erfüllt der ers-
te Teil die Funktion einer historischen Einleitung. Der nicht-traditionel-
le Charakter einer phänomenologischen Metaphysik der Urtatsachen
wird erst vor dem Hintergrund der traditionellen Metaphysik sichtbar.
Zu einer begrifflichen Bestimmung der traditionellen Metaphysik
bietet sich – zumindest vom Gesichtspunkt der phänomenologischen
Bewegung aus – vor allem Heideggers Entwurf einer »onto-theo-logi-
schen Verfassung der Metaphysik« an. Die Philosophiegeschichts-
schreibung der letzten Jahrzehnte hat jedoch – besonders in Frankreich
– deutlich gezeigt, dass dieser Entwurf sich nur dann fruchtbar auf das
historische Material anwenden lässt, wenn er als der virtuelle Brenn-
punkt einer typologischen Vielfalt aufgefasst wird. Die Grundtypen, die
in dieser Forschungsrichtung herausgestellt wurden, ergeben jedoch in
ihrem Zusammenhang ein durchaus plastisches Bild von der traditio-
nellen Metaphysik, das sich besser dazu eignet, durch eine Kontrast-
wirkung die Idee einer phänomenologischen Metaphysik zu beleuch-
ten, als eine Wesensbestimmung, die auf einer idealisierenden Kon-
struktion beruht.
Der zweite Teil setzt unter dem Titel »Phänomenologie und Meta-
physik« die historischen Untersuchungen fort. Hier wird die Idee einer
Metaphysik der Urtatsachen in ihrem Gegensatz zur traditionellen
Metaphysik dargestellt. Allerdings hat Husserl diese Idee niemals sys-
tematisch entwickelt. Er beschränkte sich darauf, sie in veröffentlichten
Werken programmatisch zu entwerfen und in unveröffentlichten For-

15
Einleitung

schungstexten fragmentarisch auszuarbeiten. Schon dieser Umstand er-


klärt, warum Husserls Idee einer Metaphysik der Urtatsachen bisher
nur selten aufgegriffen wurde. Gleichwohl zeichnen sich in der phäno-
menologischen Tradition gewisse Weiterführungsmöglichkeiten der ur-
sprünglichen Idee ab. Zunächst bietet Heidegger – im Wesentlichen un-
abhängig von Husserl – gleichsam eine Parallele zu dieser Idee, indem
er am Ende der 1920er Jahre seine Fundamentalontologie durch eine
»Metontologie« zu ergänzen sucht. Sartre eignet sie sich in den 1940er
Jahren wiederum an. Aber er verdunkelt die Bedeutung dieser Tatsache
durch Eigeninitiativen, die selbst die Kritik des Weggefährten Merleau-
Ponty herausfordern. Die Neue Phänomenologie in Frankreich gibt
dann – von Levinas bis Richir und Marion – immer wieder Raum für
Ansätze, die nicht allein eine gewisse Affinität zu Husserls Idee einer
Metaphysik der Urtatsachen aufweisen, sondern auch dazu geeignet
sind, sie ihres scheinbar subjektivistischen Anstrichs zu entledigen. In
seinem neuesten Buch greift Renaud Barbaras die Idee einer phänome-
nologischen Metaphysik der Urtatsachen ausdrücklich auf und führt sie
auf eine originelle Weise weiter. 2
Der dritte Teil enthält schließlich – unter dem Titel »Phänomeno-
logische Metaphysik: Die Welt und ihr Unendliches« – systematisch
angelegte Erörterungen. Er gliedert sich in zwei Abteilungen:

A. Unter dem Titel »Dingerfahrung und Weltwirklichkeit« werden


Untersuchungen zusammengefasst, die zeigen sollen, warum eine
phänomenologische Metaphysik der Urtatsachen nicht so sehr das
Sein als vielmehr die Welt zum Gesamtgegenstand hat. Die Welt
wird dabei in ihrer Einzigkeit und in ihrer Vorgängigkeit gegen-
über der Dingerfahrung zum Thema. So gesehen erweist sie sich
als eine Urtatsache, der deshalb die Notwendigkeit eines Faktums
zukommt, weil sie trotz der zufälligen Faktizität, die sie kennzeich-
net, in ihrer Gegebenheit durch keine Erfahrung erschüttert
werden kann. Die Wirklichkeit der Welt bestimmt sich als ein Ge-
samtausdruck verschiedener Einstimmigkeitstendenzen. In der
vorliegenden Abhandlung wird die These vertreten, dass den ein-
zelnen Erfahrungskategorien derartige Einstimmigkeitstendenzen
zugrunde liegen. Ein Nachweis dieser These wird neben Raum und
Zeit vor allem im Falle der Kausalitätskategorie erbracht. Trotz aller

2 Renaud Barbaras, Dynamique de la manifestation, Paris: Vrin 2013, S. 283–290.

16
Einleitung

berechtigten Kritik am »Satz vom Grund« wird diese Kategorie in


den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt, weil sie die Struk-
turtypik der Erscheinungswelt entscheidend prägt. Von der Kausa-
lität führt ein Weg zur Frage nach der Handlungsteleologie. Auch
das Problem der Handlungsfreiheit wird im gegenwärtigen Buch
ausführlich, aber ohne unmittelbare Bezugnahme auf das Selbst
und die Person behandelt. 3 Die Weltanalyse läuft letztlich auf die
Feststellung hinaus, dass sich das Ding notwendig als Träger ago-
naler Weltentwürfe bestimmt. Die phänomenologische Metaphy-
sik wird dabei als ein transzendental angelegter Weltentwurf ver-
standen, der einem heute weit verbreiteten naturalistischen Autar-
kismus entgegentritt.
B. Die zweite Abteilung hat »Das Unendliche der Welt« zum Titel.
Die gewählte Überschrift begründet sich durch das Anliegen, vom
Unendlichen jede Idee einer metaphysischen Hinterwelt fernzu-
halten. Es soll in dieser Abteilung gezeigt werden, wie eine phäno-
menologische Metaphysik mit einer wissenschaftlichen Theorie
umgehen kann. Als Beispiel wird dazu die anfängliche Mengen-
lehre nicht allein deshalb gewählt, weil sie – zusammen mit der
symbolischen Logik – seit dem Beginn des letzten Jahrhunderts
eine starke Grundströmung innerhalb der Philosophie in Gang
brachte, sondern auch deshalb, weil Husserl in einem besonders
engen Verhältnis zu Georg Cantor, dem Begründer der Mengen-
lehre, stand. Es wird einerseits Cantors philosophiehistorischen
Untersuchungen über den Gedanken des Aktual-Unendlichen
nachgegangen; andererseits wird mit Husserl die Frage erwogen,
wieweit die lebensweltliche Erfahrung in ihrer phänomenologi-
schen Deutung eine Grundlage zum Gedanken des Unendlichen
bietet. Die Darstellung der Beziehung zwischen Husserl und Can-
tor verschreibt sich der These, dass die phänomenologische Ding-
und Weltanalyse an die Stelle der von Cantor geforderten Meta-
physik des Transfiniten treten kann.

Die Abteilungen A und B des dritten Teils sind auch dadurch miteinan-
der verbunden, dass in ihnen – im Anschluss an den letzten Paragra-

3
Das letztere Thema wird hier ausgeklammert, da es in der französischsprachigen Auf-
satzsammlung L’expérience de la singularité (Paris: Hermann 2014) ausführlicher erör-
tert wird.

17
Einleitung

phen des Zweiten Buches von Husserls Ideen zu einer Phänomenologie


und phänomenologischen Philosophie – ein Argument für den trans-
zendental angelegten Weltentwurf der Phänomenologie entwickelt
wird, und zwar so, dass dieses Argument am Ende der ersten Abteilung
angeführt, dann aber auf Grund der nachfolgenden Untersuchungen
am Ende der zweiten Abteilung nochmals ergänzt und vervollständigt
wird.
Zu Titel und Untertitel des vorliegenden Buches gehören einige
erläuternde Bemerkungen. Im Anschluss an eine Wuppertaler Tradition
wird die Phänomenologie auf den folgenden Seiten im Ganzen als eine
Phänomenologie der Welt verstanden. Einige Leitsätze, die von Klaus
Held, dem Begründer dieser Wuppertaler Tradition, stammen, eignen
sich gut dazu, einen einfachen Vorbegriff der Phänomenologie im Sinne
dieses Verständnisses zu vermitteln. Grundlegend sind drei Gedanken,
die auch für die nachstehenden Erörterungen maßgebend bleiben. Ers-
tens: »Die Sache der Philosophie ist identisch mit der des natürlichen
Lebens: die Welt.« 4 Dazu gehört aber zweitens die Einsicht, dass der
Mensch in der natürlichen Einstellung »für das eigene Weltverhältnis
blind« ist. 5 Daraus kann bereits ein erster Schluss gezogen werden:
»[…] im natürlichen Leben bleibt die Welt unthematisch, und erst in
der phänomenologischen Transzendentalphilosophie wird sie eigens
zum Thema.« 6 Dieses Thema ist drittens gerade die Sache der Phäno-
menologie: »Gemäß Husserls Interpretation der Phänomenologie als
Transzendentalphilosophie müßte die phänomenologische Urmaxime
eigentlich im Singular stehen: ›Zur Sache selbst‹, nämlich zur Welt.« 7
Allerdings gehört bei Held eine weitere Überzeugung eng mit diesen
drei Leitsätzen zusammen: Mit der Heraufkunft der neuzeitlichen Wis-
senschaft gerät die Welt unter die »Vorherrschaft des Unendlichkeits-
gedankens«, wobei sie als der »Horizont der Horizonte«, als »Univer-
salhorizont« letztlich einer objektivistischen oder naturalistischen
Vergegenständlichungstendenz zum Opfer fällt; dieser Tendenz tritt
zwar bereits Husserl deutlich entgegen, aber seine »Lehre von der Kon-

4
Klaus Held, »Husserls phänomenologische Gegenwartsdiagnose im Vergleich mit Hei-
degger«, in: Gerhard Funke (Hg.), Husserl-Symposion Mainz 27. 6./4. 7. 1988, Mainz:
Akademie der Wissenschaften und der Literatur; Wiesbaden und Stuttgart: Franz Steiner
1989, S. 33–50, hier: S. 35.
5
Ebd.
6
Ebd., S. 40.
7 Ebd., S. 35.

18
Einleitung

stitution des Universalhorizonts« ist »auf dessen Unendlichkeit fixiert


[…] und damit selbst noch dem Geist des Objektivismus verhaftet«, so
dass es Heidegger vorbehalten bleibt, einen Rückweg zur »Endlichkeit
der Welt« zu finden. 8 Von diesem vierten Grundsatz wird im Folgenden
abgewichen. Ohne einen objektivistischen oder naturalistischen Stand-
punkt einzunehmen, sind die nachstehenden Untersuchungen um den
dreifachen Nachweis bemüht, dass erstens Husserls Unendlichkeits-
gedanke keineswegs zur Vergegenständlichung des Universalhorizonts
Welt führt – oder auch nur beiträgt –, dass er zweitens ebendeshalb
durchaus einen Anspruch darauf erheben kann, als integraler Bestand-
teil einer Phänomenologie der Welt betrachtet zu werden und dass er
drittens sogar eine sachlich begründete Auseinandersetzung mit der
neuzeitlichen Wissenschaft des Unendlichen ermöglicht.
Auf eine positive Anknüpfung an Heidegger wird damit nicht ver-
zichtet. Von ihm wird der im Folgenden oft verwendete Terminus
»Weltentwurf« übernommen. Es handelt sich ohne Zweifel um ein
Wort, das subjektivistische oder existentialphilosophische Assoziatio-
nen wecken kann. Solche Bedeutungsnuancen sind jedoch weiterhin
nicht mitgemeint. Deshalb ist es nicht unnötig, daran zu erinnern, dass
Heidegger diesen Terminus in einer Periode seines Denkens geprägt
hat, in der er, anders als in Sein und Zeit, die Welt nicht mehr bloß als
ein »Existential« des Daseins verstand, sondern sie zum Gegenstand
einer neu anvisierten Disziplin, »Metontologie« genannt, machte. Was
damit gemeint ist, wird im zweiten Kapitel des zweiten Teils näher erör-
tert, und die Analyse der Weltentwürfe wird im dritten Teil weiterge-
führt. Im Voraus nur zwei Hinweise: Erstens soll der betonte Entwurfs-
charakter der Weltentwürfe von vornherein klarstellen, dass ein
Weltentwurf jeweils ein endlicher Versuch ist, das unendliche Ganze
der Welt zu erfassen. Zweitens soll er aber auch darauf aufmerksam
machen, dass die Philosophie als Weltentwurf keine rein theoretische
Betrachtung ist, sondern jeweils auch dem praktischen Antrieb folgt, in
eine Geschichte einzugreifen, die immer bereits durch Konflikte zwi-
schen voneinander abweichenden oder sogar einander widerstreitenden
Weltentwürfen charakterisiert ist.

8
Klaus Held, »Die Endlichkeit der Welt. Phänomenologie im Übergang von Husserl zu
Heidegger«, in: Beate Niemeyer und Dirk Schütze (Hg.), Philosophie der Endlichkeit.
Festschrift für Erich Christian Schröder zum 65. Geburtstag, Würzburg: Königshau-
sen & Neumann 1992, S. 130–145, hier: S. 145.

19
Einleitung

Der Titel Welt und Unendlichkeit deutet darüber hinaus auch noch
einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Ganzen und dem Un-
endlichen an. Es soll damit an eine grundlegende Unterscheidung von
Levinas angeknüpft werden, die in der Gestalt einer »Antinomie von
Totalität und Unendlichkeit« merkwürdigerweise beinahe gleichzeitig
auch bei Adorno 9 auftaucht. Es ist bemerkenswert, dass im Anschluss
an Levinas (wenn auch nicht ohne Kritik an ihm) und im Ausgang von
seiner responsiven Phänomenologie neuerdings auch Bernhard Wal-
denfels eine positive Anknüpfungsmöglichkeit an die Idee des Unend-
lichen gefunden hat. 10
Die Rede von einer »phänomenologischen Metaphysik« klingt in
einem Zeitalter, das nicht müde wird, eine »Überwindung der Metaphy-
sik« und sogar ein »nachmetaphysisches Denken« zu fordern, unzeit-
gemäß und deshalb herausfordernd. Freilich wird auch im vorliegenden
Buch davon ausgegangen, dass Metaphysik als Ontotheologie, wie man
es in einem bestimmten Idiom zu sagen pflegt, »nicht mehr möglich«
sei. Es soll aber gezeigt werden, dass die Phänomenologie einen neuen
Typ der Metaphysik ermöglicht, der sich mit keiner Ontotheologie ver-
bindet. Man darf nicht vergessen, dass die Aufgabe einer Ȇberwin-
dung der Metaphysik« bei Heidegger nach einer Periode eigens ange-
strebter Metaphysik vor allem aus der Hoffnung auf einen »anderen
Anfang« erwuchs. Ob sie sich von dieser Hoffnung überhaupt trennen
lässt, steht dahin. Jürgen Habermas gründete seine neuerdings wieder
erhobene Forderung nach einem »nachmetaphysischen Denken« 11 ur-
sprünglich einerseits auf einen »Paradigmenwechsel vom Bewusstsein
zur sprachlichen Verständigung«, 12 andererseits aber auch auf seine
Überzeugung, wir seien philosophisch »immer noch Zeitgenossen der
Junghegelianer«. 13 Nun ist die sprachliche Wende der Philosophie heute
für das Denken in keiner ihrer mannigfaltigen Gestalten mehr bestim-

9
Theodor Wiesengrund Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Taschenbuch Wissenschaft 1994, S. 37.
10
Bernhard Waldenfels, »Aporien des Unendlichen«, in: Brachtendorf, Johannes, Möl-
lenbeck, Thomas, Nickel, Gregor und Schaede, Stephan (Hg.), Unendlichkeit. Interdis-
ziplinäre Perspektiven, Tübingen: Mohr Siebeck 2008, S. 3–22, hier besonders S. 18 f.
11 Siehe Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken II. Aufsätze und Repliken, Ber-

lin: Suhrkamp 2012.


12
Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main: Suhrkamp
2
1992 (11988), S. 278.
13 Ebd., S. 277.

20
Einleitung

mend; selbst die analytische Philosophie hat von ihr weitgehend Ab-
stand genommen. Dagegen dürfte eine tragfähige Bewusstseinsphiloso-
phie wieder ein Desiderat der Zeit sein. Was aber die These unserer
philosophischen Zeitgenossenschaft mit Hegel, Marx und den Jung-
hegelianern betrifft, so sei nur an Adorno erinnert, der sich ebenfalls
als Zeitgenosse der Junghegelianer verstand (so schwer er sich manch-
mal mit diesem Selbstverständnis auch tat 14), darüber aber doch nicht
die Tatsache aus den Augen verlor, dass die »Träger philosophischer
Moderne« Denker sind, die nicht in der Nachfolge von Hegel stehen
und erheblich später als die Junghegelianer auf die Bühne treten: näm-
lich Bergson und Husserl 15 – denen man in der Neuen Welt allenfalls
noch William James (nicht so sehr als Pragmatisten überhaupt, sondern
mehr noch als den Verfasser der Essays in Radical Empiricism) zur
Seite stellen könnte. Diese Ansicht über die Träger philosophischer Mo-
derne ist für das gegenwärtige Buch grundlegend: Es versucht, sich vor
allem in die Traditionslinie einzuschreiben, die von Husserl ausgeht und
mittlerweile auch in Bergsons Heimat auf markante Weise weitergezo-
gen wird. All diese Bemerkungen laufen aber eigentlich auf eine einzige
Einsicht hinaus: Streben wir keinen radikalen Bruch mit der Vergan-
genheit an, der die Philosophie im bisherigen Sinne des Wortes auf-
heben oder auch vollenden und verwirklichen sollte, so verzichten wir
auf nichts anderes als auf uneingelöste Versprechen, die ihr wahres Ge-
sicht in den Kataklysmen des vergangenen – aber leider noch immer
nicht ganz hinter uns gelassenen – Jahrhunderts gezeigt haben.16

14
Vgl. dazu Theodor Wiesengrund Adorno, Ontologie und Dialektik (1960/61), hg. von
Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 22008 (12002), S. 332 f. und Adorno,
Negative Dialektik, S. 146 f.
15
Theodor Wiesengrund Adorno, Vorlesungen über Negative Dialektik [Nachgelassene
Schriften, Abteilung IV: Vorlesungen, Bd. 16], hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 2003, S. 229; vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 20. Siehe dazu aus-
führlicher vom Vf. »Negative Dialektik als geistige Erfahrung? Zu Adornos Auseinan-
dersetzung mit Phänomenologie und Ontologie«, in: Phänomenologische Forschungen
(2012), S. 47–65.
16
Mit vollem Recht sagt Vincent Descombes Folgendes: »Que signifie en effet ce renvoi
de la métaphysique à un passé révolu ? Il signifie que le philosophe s’accorde à lui-même
une dispense de répondre à certaines questions. Il est dispensé de métaphysique, comme
le lycéen souffrant est dispensé de gymnastique.« (Vincent Descombes, »Latences de
métaphysique«, in: Un siècle de philosophie 1900–2000, Paris: Gallimard/Centre Pom-
pidou 2000, S. 11–52, hier: S. 13).

21
Erster Teil:
Metaphysik und Ontotheologie
Grundtypen der Metaphysik in der
französischen Philosophiegeschichtsschreibung
der letzten Jahrzehnte

Heideggers Idee einer ›onto-theo-logischen Verfassung der Metaphy-


sik‹ hat die letzten drei Jahrzehnte der Philosophiegeschichtsschreibung
in Frankreich stark geprägt. Die Initiatoren dieser neuen Forschungs-
richtung waren Jean-Luc Marion, Jean-François Courtine und Rémi
Brague.
In einem Gespräch mit Dominique Janicaud kommt Marion auf die
Heidegger’sche Idee zu sprechen. Er meint, sie gebe ein »höchst offenes
Organisations- und Interpretationsprinzip« ab, das »zugleich äußerst
wirkungsvoll« sei. 1 Deshalb habe er (Marion) sie im Jahre 1982 zum
Gegenstand eines Vortrags vor der Französischen Gesellschaft für Phi-
losophie gemacht. 2 Er sagt: »Ich hatte in Bezug auf die methodologische
Verwendung der Heidegger’schen Geschichte der Metaphysik die Idee,
dass die onto-theo-logische Verfassung unter der ausdrücklichen Bedin-
gung, dass man in ihrer Gliederung mehr der Philosophiegeschichts-
schreibung folgt und sie jedem Autor anpasst, die Rolle einer flexiblen
Form, einer wirklichen Hermeneutik spielen könnte. Ich glaube, dass ich
darin recht hatte, und andere sind mir gefolgt, indem sie die gleiche
Frage stellten: Kann man von dieser Idee – und wenn ja, unter welchen
Bedingungen – zum Verständnis einzelner Autoren Gebrauch machen
(Boulnois über Duns Scotus, Carraud über den Satz vom Grund, Bar-
dout über Malebranche usw.)?« 3
Aus dem genannten Vortrag von Marion ist Mitte der 1980er Jahre

1
Jean-Luc Marion, »Entretien du 3 décembre 1999«, in: Dominique Janicaud, Heidegger
en France, Bd. II: Entretiens, Paris: A. Michel 2001, S. 217.
2
Ebd., S. 215. Der Vortrag wurde unter dem Titel »L’onto-théo-logie de Descartes« ge-
halten.
3
Ebd., S. 215. Vgl. Olivier Boulnois, Être et représentation. Une généalogie de la méta-
physique à l’époque de Duns Scot (XIII–XIVe siècles), Paris: PUF 1999; Vincent Carraud,
Causa sive Ratio. La raison de la cause de Suarez à Leibniz, Paris: PUF 2002; Jean-
Christophe Bardout, Malebranche et la métaphysique, Paris: PUF 1999.

25
Grundtypen der Metaphysik

ein ganzes Buch über Descartes erwachsen. 4 In der gleichen Zeit arbei-
tete Courtine an seinem Promotionsprojekt, aus dem am Ende des Jahr-
zehnts zunächst eine größere Buchveröffentlichung hervorging: Die
Kapitel über Francisco Suárez wurden selbstständig herausgegeben. 5
Andere Teile des ursprünglichen Forschungsvorhabens wurden erst
vor Kurzem veröffentlicht. 6 Brague publizierte sein Werk über die Fra-
ge nach der Welt bei Aristoteles im Jahre 1988. 7 Die von Marion er-
wähnten Nachfolger – Olivier Boulnois, Vincent Carraud und Jean-
Christophe Bardout – haben ihre bisher wichtigsten Arbeiten etwa ein
Jahrzehnt später verfasst.
In einem Gespräch mit Janicaud verweist Courtine darauf, dass im
Hintergrund der neuen Richtung französischer Philosophiegeschichts-
schreibung ein erstrangiger Aristoteles-Forscher, Pierre Aubenque,
stand, der als Leiter des nach Léon Robin benannten Zentrums für an-
tike Philosophie an der Pariser Sorbonne eine Werkstatt für Metaphy-
sikforschung eingerichtet hat. Courtine und Brague haben sich als
Schüler von Aubenque an der Arbeit dieser Werkstatt intensiv beteiligt,
aber auch Marion hat die Veranstaltungen des Centre Léon Robin re-
gelmäßig besucht.
Die sich von Aubenque bis zu Boulnois, Carraud und Bardout ent-
faltende Forschungsrichtung hat am Ende mehr geleistet, als sie ur-
sprünglich vorhatte. Sie machte deutlich, dass die ontotheologische Ver-
fassung zwar nicht als erschöpfende Wesensbestimmung der
traditionellen Metaphysik gelten kann, sich aber auch nicht allein dazu
eignet, als Leitfaden zu Untersuchungen über einzelne Autoren und
Schulen verwendet zu werden, sondern zugleich dazu dienen kann, als
Brennpunkt einer typologischen Vielfalt die traditionelle Metaphysik
zu charakterisieren. Im Folgenden soll der Beitrag der erwähnten For-
schungsrichtung zu einer derartigen Typologie herausgestellt werden.
Zu dieser Aufgabenbestimmung gehören zwei präzisierende Be-
merkungen. Einerseits soll keineswegs der Eindruck erweckt werden,
als sei der Ausgang von Heideggers Idee einer ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik in der französischen Philosophiegeschichts-

4
Jean-Luc Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, Paris: PUF 1986.
5 Jean-François Courtine, Suarez et le système métaphysique, Paris: PUF 1990.
6
Jean-François Courtine, L’invention de l’analogie. Métaphysique et ontothéologie, Pa-
ris: Vrin 2005. Vgl. auch Jean-François Courtine, Les catégories de l’être. Études de phi-
losophie ancienne et médiévale, Paris: PUF 2003.
7 Rémi Brague, Aristote et la question du monde, Paris: PUF 1988.

26
Grundtypen der Metaphysik

schreibung der letzten drei Jahrzehnte allgemein verbreitet gewesen.


Es gibt bedeutende französische Philosophiehistoriker wie Jacques
Brunschvicg, Pierre Hadot oder Alain de Libéra, die andere Wege betre-
ten haben. Weiterhin muss auch darauf hingewiesen werden, dass die
französische Forschungsrichtung, mit der wir uns beschäftigen, unter-
schiedliche Parallelen zu manchen Forschungstendenzen in anderen
Ländern aufweist. So werden zum Beispiel die griechischen Aristote-
les-Kommentatoren, mit denen sich Courtine in den 1980er Jahren aus-
einandersetzt, nahezu gleichzeitig in England von Richard Sorabji und
anderen neu erschlossen. 8 Darüber hinaus zeugen etwa in Deutschland
die Arbeiten von Ludger Honnefelder über Duns Scotus und den »zwei-
ten Anfang der Metaphysik« 9 sogar von einer gewissen Nähe zur uns
interessierenden Forschungsrichtung, zumindest in den grundlegends-
ten Fragestellungen. Ähnliches gilt für das Verständnis von Francisco
Suárez als Vermittlerfigur zwischen der Metaphysik des Mittelalters
und der Metaphysik der Neuzeit bei Honnefelder und bei den französi-
schen Ontotheologie-Forschern. 10 Diese Parallelen sind allerdings kaum
überraschend, wenn man bedenkt, dass die Philosophiegeschichtsfor-
schung in unserer Epoche nicht mehr an die eigentümliche Kultur ein-
zelner Länder gebunden ist, sondern ganz und gar länderübergreifend
geworden ist.
Wenn es in einem Land manchmal dennoch so einheitliche und
wohlausgeprägte Forschungsrichtungen gibt wie die uns beschäftigen-
de, so liegt der Grund dafür weniger in der nationalen Zusammengehö-
rigkeit der daran beteiligten Forscher als in der konkreten Schultradi-
tion, die sie miteinander verbindet. Ich denke dabei allerdings nicht
allein an den Einfluss von Pierre Aubenque, sondern mehr noch an die
Wirkung von Jean Beaufret, die Courtine und Marion vor dem Beginn
ihres eigentlichen Universitätsstudiums erfahren haben. Es handelte
8
Vgl. Richard Sorabji (Hg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and
Their Influence, London: Duckworth 1990.
9
Ludger Honnefelder, Ens inquantum ens. Der Begriff des Seienden als solchen als
Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster:
Aschendorff 1989. Siehe auch Ludger Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik.
Voraussetzungen, Ansätze und Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./
14. Jahrhundert«, in: J. P. Beckelmann, Ludger Honnefelder et al. (Hg.), Philosophie im
Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg: Meiner 1987, S. 165–186.
10
Siehe dazu Ludger Honnefelder, Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der
Seiendheit und der Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Ham-
burg: Meiner 1990.

27
Grundtypen der Metaphysik

sich dabei um eine zwar vermittelte, dafür aber tief prägende Wirkung
von Heideggers Idee der Metaphysik. Diese Wirkung war umso un-
widerstehlicher, als Beaufret nicht von Heidegger selbst sprach, sondern
dessen Idee der Metaphysik selbstständig auf die Philosophiegeschichte
anwandte. Wir wollen uns im Folgenden deutlich machen, wie die bei-
den Adepten dieses Erbe von Beaufret angetreten und wie sie es ihren
eigenen Nachfolgern weitergegeben haben.
Diese Aufgabe macht allerdings zuvor einen Rückgang auf Hei-
deggers Texte über die ontotheologische Verfassung der Metaphysik
erforderlich.

28
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

I. Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung


der Metaphysik

Im zweiten Teil seines im Jahre 1957 veröffentlichten Buches Identität


und Differenz widmet Heidegger der »onto-theo-logischen Verfassung
der Metaphysik« eine thematische Erörterung. 11 Diese Erörterung gilt
in unserem Themenbereich als ein Grundtext. Zur Zeit der Abfassung
dieses Textes kann Heidegger allerdings bereits auf eine jahrzehnte-
lange Auseinandersetzung mit der metaphysischen Tradition zurückbli-
cken. Der eigentlichen Geschichte seiner Beschäftigung mit der Onto-
theologie geht dabei eine Periode vorher, in der er diesen Terminus noch
nicht verwendet, aber bereits die Grundzüge der metaphysischen Tradi-
tion herausstellt, die später in den Begriff der ontotheologischen Ver-
fassung eingehen werden.

1. Der Doppelbegriff der Metaphysik

In der Tat weist Heidegger schon in einer Marburger Universitätsvor-


lesung aus dem Jahre 1926 darauf hin, dass die von Aristoteles ins Auge
gefasste »Erste Philosophie«, der in späteren Zeiten der Name »Meta-
physik« zuwachsen sollte, von vornherein eine Doppelbestimmung hat-
te: Sie war einerseits eine Wissenschaft, die das Seiende als Seiendes zu
untersuchen hatte, andererseits aber auch eine Wissenschaft, die sich
doch vor allem mit einem ausgezeichneten Seienden (dem Ersten Be-
weger, also dem aristotelischen Gott) befasste. So hatte diese »Fun-
damentalwissenschaft« der Philosophie einerseits als »Wissenschaft
vom Sein«, andererseits aber auch als »Wissenschaft vom höchsten
und eigentlichen Seienden« zu gelten.12 Zunächst nimmt Heidegger
eine durchaus affirmative Haltung gegenüber dieser Doppelbestim-
mung der Metaphysik ein: Er betont die untrennbare Zusammengehö-

11
Siehe Martin Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], hg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2006, S. 51–79.
Einzelausgabe: M. Heidegger, Identität und Differenz, Stuttgart, Klett-Cotta, 122002
(11957).
12
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie [Gesamtausgabe,
Bd. 22], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1926, hg. von Franz-Karl Blust, Frank-
furt am Main: Klostermann 1993, S. 149; vgl. S. 286–288.

29
Grundtypen der Metaphysik

rigkeit beider Bestimmungen. Deshalb spricht er in der genannten Vor-


lesung von einem »Doppelbegriff« der Philosophie. 13 Ähnliche Gedan-
ken finden sich auch in anderen Vorlesungen aus der Marburger Zeit. 14
In den Metaphysischen Anfangsgründen der Logik im Ausgang von
Leibniz folgt Heidegger sogar in seinem eigenen Denken dem Muster
dieses »Doppelbegriff[s] von Philosophie« 15 (den er wieder einmal aus-
drücklich nennt), indem er seine in Sein und Zeit entwickelte Fun-
damentalontologie durch eine neu anvisierte Forschungsrichtung,
»Metontologie« genannt, zu ergänzen sucht. 16
Diese positive Anknüpfung an die auf Aristoteles zurückgehende
Doppelbestimmung der Metaphysik ist umso überraschender, als von
Paul Natorp in dieser »doppelsinnigen Auffassung von der Aufgabe
der Ersten Philosophie« bereits im Jahre 1888 ein »unleidlicher Wider-
spruch« entdeckt worden war. 17 Als Wissenschaft vom Sein befasst sich
ja die Erste Philosophie ganz allgemein mit dem Seienden als solchem,
als Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden dagegen nur
mit einer besonderen, wenn auch erstrangigen Gattung des Seienden.
Wie könnte aber das Allgemeine mit dem Besonderen, das Universelle
mit dem Regionalen, das Transgenerische mit dem Generisch-Gebun-
denen gleichgesetzt werden? Diese Überzeugung von einem Wider-
spruch bei Aristoteles hatte auch Werner Jaeger in seinem 1923 vor-
gelegten Buch über Aristoteles 18 keineswegs in Frage gestellt. Er hatte
einen Widerspruch vielmehr vorausgesetzt, indem er ihn durch seine
»entwicklungsgeschichtliche« Methode zu lösen versuchte. Zu diesem
Lösungsversuch gehörte die Annahme einer noch platonisierenden
»Urmetaphysik« bei Aristoteles, einer Jugendlehre mit ausschließlicher

13 Ebd., S. 149.
14
Siehe zum Beispiel Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Ge-
samtausgabe, Bd. 24], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1927, hg. von Friedrich-
Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 21989 (11975), S. 38 und
S. 111.
15
Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz
[Gesamtausgabe, Bd. 26], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1928, hg. von Klaus
Held, Frankfurt am Main: Klostermann 21990 (11978), S. 202; vgl. S. 12 f., S. 199 und
S. 229.
16 Ebd., S. 199–202.

17
Paul Natorp, »Thema und Disposition der aristotelischen Metaphysik«, in: Philoso-
phische Monatshefte 24, S. 37–65 und S. 540–574, hier: S. 49.
18
Werner Jaeger, Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin:
Weidemann 1923.

30
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

Ausrichtung auf ein ausgezeichnetes und von allen anderen Seienden


durch eine Kluft getrenntes, für sich existierendes höchstes Seiendes.
Diese Jugendlehre sollte dann durch die spätere Idee einer Wissenschaft
vom Seienden als Seiendem überwunden worden sein. Jaeger wollte
dabei zeigen, wie Aristoteles von einem Anhänger platonischer Welt-
transzendenz zum geistigen Oberhaupt eines empirischen Forschungs-
zentrums mit allgemein ontologischer Grundlegung und mit Spezia-
lisierung in angewandter Physik, in Botanik und Zoologie sowie in
komparativer Staatsverfassungskunde geworden war. Heidegger konn-
te sich mit dieser Auffassung von der aristotelischen Philosophie trotz
der unbestreitbaren philologischen Kompetenz ihrers Urhebers niemals
anfreunden. Er versuchte deshalb, mit dem vermeintlichen Wider-
spruch zwischen den beiden Bestimmungen der Metaphysik anders fer-
tig zu werden. Wie Courtine hervorhebt, 19 entschloss er sich zu einem
»Geniestreich« – der durchaus etwas von einem »Gewaltstreich« hat-
te –, indem er einen einsichtigen Zusammenhang zwischen einer Wis-
senschaft vom Sein und einer Wissenschaft vom höchsten und eigent-
lichen Seienden postulierte.
Dieses Postulat führte bereits in der erwähnten Vorlesung über
Leibniz aus dem Sommersemester 1928 dazu, dass die Frage nach dem
Sein durch eine andere Frage, nämlich die nach »dem Seienden im Gan-
zen« ergänzt wurde. Die bereits erwähnte Metontologie erhielt dabei
die Aufgabe, diese zweite Frage zu beantworten. Damit begann eine
kurze, aber höchst interessante Periode in Heideggers Denken, in der
es darum ging, durch eine selbstentwickelte Idee von Metaphysik die
untrennbare Zusammengehörigkeit der auseinanderstrebenden Be-
stimmungen der Ersten Philosophie herauszustellen, um dadurch zur
ursprünglichen Seinserfahrung von Aristoteles zurückzufinden. Aller-
dings versteht Heidegger die Frage nach dem Seienden im Ganzen kei-
neswegs als eine Frage nach Welttranszendenz, sondern gerade als eine
Frage nach der Welt. Aber der Zugang zur Welt setzt in seinen Augen
einen Überstieg über das mannigfaltige Seiende und damit eine – verbal
zu verstehende – Transzendenz, also ein Transzendieren, voraus. Dieser
Gedanke von der Transzendenz als einem Grundgeschehen im Dasein
macht es Heidegger möglich, nicht allein an die aristotelische Wissen-
schaft vom Sein, sondern auch an die aristotelische Wissenschaft vom
höchsten und eigentlichen Seienden positiv anzuknüpfen. Er bestimmt

19 Courtine, Inventio analogiae, S. 60.

31
Grundtypen der Metaphysik

den Denkhorizont der Vorlesung »Einführung in die Philosophie« aus


dem Wintersemester 1928/1929 mit ihrer Frage nach der Weltanschau-
ung ebenso wie den der in dieser Zeit veröffentlichten Abhandlungen
»Vom Wesen des Grundes« und »Was ist Metaphysik?«. Aber erst in
der großen Vorlesung über Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt –
Endlichkeit – Einsamkeit aus dem Wintersemester 1929/1930 leitet er
zur Frage nach der Einheitlichkeit der ursprünglichen Seinserfahrung
des Aristoteles zurück.
Um die Metaphysik aus dem ihr zugrunde liegenden Ausdruck
μετὰ τὰ φυσικά zu begreifen, geht hier Heidegger vom aristotelischen
Begriff der φύσιϚ aus. Dieses griechische Wort nimmt er, wenn auch
nicht seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß als »Wachstum«, so
doch dieser ursprünglichen Bedeutung nahe bleibend als Natur im Sin-
ne des »sich selbst bildenden Walten[s] des Seienden im Ganzen«. 20 Er
hebt hervor, dass Natur als das Seiende im Ganzen gerade »nicht im
neuzeitlichen, späten Sinne von Natur, etwa als Gegenbegriff zu Ge-
schichte, gemeint [ist], sondern urspünglicher als beide Begriffe, in
einer ursprünglichen Bedeutung, die vor Natur und Geschichte beide
umgreift und auch in gewisser Weise das göttliche Seiende in sich
schließt«. 21 Dabei unterscheidet er bei Aristoteles doch zwei verschiede-
ne, wenn auch zusammengehörige Bedeutungen des Wortes φύσιϚ, in-
dem er die Natur als »das Waltende in seinem Walten« gegen die Natur
als »das Walten des Waltenden« abhebt. 22 Aus der φύσιϚ in der ersten
Bedeutung wird seines Erachtens im Gegensatz zur τέχνη bei Aristote-
les auch schon ein »Gebietsbegriff«, der zur Bezeichnung eines beson-
deren Bezirks des Seienden dient. 23 Aber selbst dieser Gebietsbegriff
gehört noch mit dem allgemeinen Begriff der Natur als der »Natur des
Seienden«24 zusammen. Diesem allgemeinen Begriff nach ist mit Natur
nicht etwa eine Gesamtheit bestimmter Seiender gemeint, sondern das
Wesen des Seienden überhaupt, also das Sein als solches. »Das Ent-
scheidende ist nun« – sagt Heidegger –, »daß nicht etwa der eine dieser

20
Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsam-
keit [Gesamtausgabe, Bd. 29/30], Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1929/1930, hg.
von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 21992 (11983),
S. 38 f.
21
Ebd., S. 39.
22
Ebd., S. 46.
23
Ebd.
24 Ebd., S. 47.

32
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

beiden Begriffe von φύσιϚ den anderen verdrängt, sondern daß sich
beide nebeneinander erhalten.« 25 Die beiden Begriffe schreiben zwei
verschiedene Fragerichtungen vor, die aber gleich wesentlich sind und
zusammen das bilden, was Heidegger jetzt als »eigentliche Philosophie«
oder auch als »eigentliches Philosophieren« bezeichnet. Es heißt: »Diese
beiden Bedeutungen des Fragens, beschlossen in der einheitlichen Be-
deutung von φύσιϚ, werden von Aristoteles ausdrücklich zusammen-
geschlossen. […] Eigentliches Philosophieren ist das Fragen nach der
φύσιϚ in dieser doppelten Bedeutung: das Fragen nach dem Seienden
im Ganzen und in eins damit das Fragen nach dem Sein.« 26
Heidegger schwebt in der Periode zwischen 1928 und 1930 eine
Philosophie vor, die aus Fundamentalontologie und Metontologie be-
steht. Die Fundamentalontologie antwortet auf die Frage nach dem
Sein, die Metontologie auf die Frage nach dem Seienden im Ganzen.
Die beiden Forschungsrichtungen machen zusammen die Metaphysik
aus. Sie legen damit den Sinn des eigentlichen Philosophierens fest.
Erst auf Grund der so verstandenen Metaphysik können wir uns
nach Heidegger ein Bild von der Ersten Philosophie machen, die Aris-
toteles ursprünglich im Auge hatte. Wir müssen dabei deutlich sehen,
dass die Erste Philosophie bei Aristoteles durchaus an die Physik als
eine Lehre von der φύσιϚ gebunden bleibt, wenn sie auch nicht die
Natur im Sinne eines gesonderten Bezirks des Seienden, sondern einer-
seits die Natur als das Seiende im Ganzen, andererseits die Natur als die
Natur des Seienden zum Gegenstand hat.
Auf Heideggers Versuch, die Fundamentalontologie durch eine
Metontologie zu ergänzen, kommen wir im zweiten Teil der vorliegen-
den Untersuchung zurück. Hier soll nur noch darauf hingewiesen wer-
den, dass Heideggers eigener Entwurf der Metaphysik zwar in der
»seinsgeschichtlichen« Periode hinter dem Versuch, die Metaphysik zu
überwinden – oder auch zu »verwinden« –, deutlich zurücktreten, aber
niemals völlig verschwinden wird. Dass dabei die Kontinuität mit dem
Grundgedanken der Vorlesung von 1929/1930 erhalten bleibt, kann vor
allem durch eine Stelle des im Jahre 1939 geschriebenen Aufsatzes
»Vom Wesen und Begriff der ΦύσιϚ. Aristoteles, Physik, B 1« 27 belegt
werden. Hier ist davon die Rede, dass die Unterscheidung von Natur

25
Ebd.
26
Ebd., S. 50.
27 Martin Heidegger, »Vom Wesen und Begriff der ΦύσιϚ. Aristoteles, Physik, B 1«, in:

33
Grundtypen der Metaphysik

und Geschichte »einen zugrundeliegenden, die Entgegensetzung selbst


tragenden Bereich« voraussetzt, der bei den Griechen als φύσιϚ mit-
gedacht wurde und auch weiterhin mitgedacht werden sollte. Es heißt:
»Diese Unumgänglichkeit der φύσιϚ kommt in dem Namen ans Licht,
mit dem wir die bisherige Art des abendländischen Wissens vom Seien-
den im Ganzen benennen. Das Gefüge der jeweiligen Wahrheit ›über‹
das Seiende i. G. heißt ›Metaphysik‹. […] Meta-physik ist in einem ganz
wesentlichen Sinne ›Physik‹ – d. h. ein Wissen von der φύσιϚ (ἐπιστή-
μη φυσική).« 28
Allerdings gilt Heideggers Aufmerksamkeit bereits in der Vor-
lesung von 1929/1930 keineswegs allein der ursprünglichen Idee der
Ersten Philosophie, sondern ebenso sehr auch der Frage, wie sich die
von Aristoteles begründete Metaphysik zu einer eigentümlichen Tradi-
tion herausbildet. Dabei wird die affirmative Haltung gegenüber der
Metaphysik durch eine kritische Einstellung ersetzt. Die Kritik richtet
sich gegen das, was als »traditionelle Metaphysik« bezeichnet wird.

2. Entstehung »traditioneller« Metaphysik

Heidegger versteht die Bezeichnung μετὰ τὰ φυσικά als einen »buch-


technischen Ausdruck«. 29 Mit vielen Aristoteles-Forschern seiner Zeit,
darunter mit William David Ross, 30 schenkt er also der Annahme Glau-
ben, die man mit Pierre Aubenque als die »mehr oder weniger legendä-
re Erzählung« vom bibliothekarischen Ursprung des Namens »Meta-
physik« bezeichnen könnte. 31 Dieser Erzählung nach soll Andronikos
von Rhodos, der Herausgeber einer Gesamtausgabe der aristotelischen
Schriften, den Ausdruck μετὰ τὰ φυσικά um 60 vor unserer Zeitrech-
nung geprägt haben, um seine Sammlung von aristotelischen Vor-
lesungsmanuskripten und sonstigen Aufzeichnungen aus dem Umkreis
der Ersten Philosophie zu bezeichnen. Diese buchtechnische Bezeich-

Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frank-
furt am Main: Klostermann 1976, S. 239–301.
28 Ebd., S. 241.

29
Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3],
hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1991, S. 7.
30
Für Belege dazu siehe Courtine, Inventio analogiae, S. 84, Anm. 1.
31 Pierre Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, Paris: PUF 1962, S. 23.

34
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

nung war offenbar Ausdruck einer »Verlegenheit«. 32 In der mittlerweile


üblich gewordenen Einteilung der Philosophie in die drei Disziplinen
von Logik, Physik und Ethik hat Andronikos begreiflicherweise keinen
Platz für die Erste Philosophie des Aristoteles gefunden. Deshalb soll er
sie einfach nach den physikalischen Schriften angeordnet haben.
Jaeger gehörte zu den ersten, die der weit verbreiteten Überzeu-
gung von einem bibliothekarischen Ursprung des Namens »Metaphy-
sik« entgegentraten. Er sagte: »Die herrschende Ansicht war bisher, das
Wort Metaphysik verdanke nur der zufälligen Anordnung der Schrif-
ten des Aristoteles in einer Gesamtausgabe der hellenistischen Zeit –
man dachte vor allem an Andronikos – seinen Ursprung. Der Ausdruck
sei aber auch der Sache nach unaristotelisch. In Wahrheit gibt das wohl
von einem vor Andronikos lebenden Peripetetiker gebildete Wort das
Grundmotiv der ›ersten Philosophie‹ im ursprünglichen Sinne voll-
kommen treffend wieder.« 33 Mit dem Ausdruck »›erste Philosophie‹ im
ursprünglichen Sinne« meinte er allerdings jene platonisierende Ju-
gendlehre des Aristoteles, in der er die »Urmetaphysik« erkennen woll-
te. Heidegger teilte aber die höchst zweifelhafte Annahme einer derarti-
gen Urmetaphysik nicht. Deshalb hatte er wohl auch Schwierigkeiten,
sich die – quellenmäßig nicht unmittelbar belegbare – Hypothese von
der Erfindung des Namens »Metaphysik« durch einen vor Andronikos
lebenden Peripatetiker 34 anzueignen.
Statt dessen deutete er die Einteilung der Philosophie in die drei
Disziplinen von Logik, Physik und Ethik von vornherein als eine Ver-
fallserscheinung. Bekanntlich geht diese Einteilung auf Xenokrates, das
zweite Oberhaupt der Akademie nach Platons Tod, zurück, aber, zu-
nächst von manchen Peripatetikern und dann den Stoikern übernom-
men, 35 verbreitete sie sich später in der hellenistischen Zeit ganz all-

32
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 7.
33
Jaeger, Aristoteles, S. 404.
34
Es ist Hans Reiner später gelungen, diese Hypothese durch indirekte Schlüsse aus den
Quellen zu erhärten und damit die Legende vom bibliothekarischen Ursprung der Meta-
physik als solche zu enthüllen. Aubenque stützt sich bereits auf seine einschlägigen Auf-
sätze. Siehe Hans Reiner, »Die Entstehung und die ursprüngliche Bedeutung des Na-
mens Metaphysik«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 8 (1954), S. 210–237;
wieder abgedruckt in: Fritz-Peter Hager (Hg.), Metaphysik und Theologie des Aristote-
les, Wege der Forschung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 139–
174; weiterhin: »Die Entstehung der Lehre vom bibliothekarischen Ursprung des Na-
mens ›Metaphysik‹«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 9 (1955), S. 77–99.
35 Vgl. Sextus Empiricus, Adversus mathematicos [Opera, hg. von Hermann Mut-

35
Grundtypen der Metaphysik

gemein. Die aristotelische Idee der Ersten Philosophie geriet in dieser


Periode allem Anschein nach völlig in Vergessenheit. Heidegger, der
diese Idee für einen Entwurf eigentlichen Philosophierens hält, zögert
ebendeshalb nicht, die hellenistische Epoche kurzerhand für eine Ver-
fallszeit des griechischen Denkens zu erklären, in der es zwar eine
Schulphilosophie mit ordentlichen Disziplinen gab, aber »ein lebendi-
ges Philosophieren aus den Problemen selbst heraus« nicht mehr statt-
fand. 36 Diese Situation macht seiner Meinung nach die »Ratlosigkeit« 37
verständlich, in der sich Andronikos von Rhodos befinden musste, als er
sich mit dem Problem einer Verortung der Ersten Philosophie innerhalb
des Schulsystems philosophischer Disziplinen konfrontiert sah.
In dem Namen »Metaphysik« drückte sich nach Heidegger ur-
sprünglich zwar nur diese Ratlosigkeit aus, aber der buchtechnische Ti-
tel wurde später in eine inhaltliche Bezeichnung verwandelt. 38 Dabei
spielte die Doppelbedeutung der griechischen Partikel μετά eine Rolle:
Das bloß Postphysikalische wurde ins Transphysikalische, also ins jen-
seits der Natur Liegende, umgewandelt; seitdem gilt die Metaphysik als
eine Wissenschaft vom Übersinnlichen. 39 Diese Umwandlung ist nach
Heidegger alles andere als harmlos: »Es entscheidet sich damit etwas
Wesentliches – das Schicksal der eigentlichen Philosophie im Abend-
land.« 40 Denn durch das inhaltliche Verständnis der Metaphysik als
Wissenschaft vom Übersinnlichen wird der Weg zum ursprünglichen
Sinn der aristotelischen Ersten Philosophie geradezu verbaut. Heideg-
ger zeigt am Beispiel der Scholastik bei Thomas von Aquin und bei
Francisco Suárez, wie diese Deutung der Metaphysik das eigentliche
Philosophieren »nivelliert und veräußerlicht«. 41
Der Grund dieser Veräußerlichung liegt nicht einfach in der Be-
gegnung des griechischen Denkens mit dem Christentum. Heidegger
sagt zwar in der Vorlesung 1929/1930: »Durch die christliche Dogmatik

schmann, 3 Bände, Leipzig, Teubner 1912–1954; Nachdruck: Opera, hg. von Jürgen
Mau, 4 Bände, Berlin und New York: Walter de Grunyter 2011], Bd. II, Buch VII,
Kap. 16; dt. Gegen die Dogmatiker. Adversus Mathematicos libri 7–11, übersetzt von
Hansueli Fluckiger, Sankt Augustin: Academia, 1998, S. 19.
36
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 29/30], S. 54.
37 Ebd., S. 58.

38
Ebd., S. 58–60.
39
Ebd., S. 59.
40
Ebd., S. 60.
41 Ebd., S. 66.

36
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

wurde die antike Philosophie in eine ganz bestimmte Auffassung ge-


drängt, die sich durch die Renaissance, den Humanismus und den Deut-
schen Idealismus hindurchgehalten hat und deren Unwahrheit wir erst
heute langsam zu begreifen beginnen. Der erste vielleicht war Nietz-
sche.« 42 Aber er setzt hinzu, dass wir »bei Aristoteles diesen eigentüm-
lichen Zusammenhang zwischen der prima philosophia und der Theo-
logie vorgebildet« finden. 43
Damit ist der Keim späterer Entwicklung bereits in der Vorlesung
von 1929/1930 angelegt. Den Grund für den Verfall eigentlichen Phi-
losophierens wird Heidegger immer deutlicher im Wesen der Meta-
physik selbst entdecken. An Stelle einer positiven Anknüpfung an die
Metaphysik tritt deshalb in zunehmendem Maße eine kritische Aus-
einandersetzung mit der Tradition. Damit ist ein deutlicher Einschnitt
in Heideggers Denken markiert. Bezeichnend für die nächstfolgende
Periode ist ein geschichtsphilosophischer Orientierungsversuch, der
mehrfach an die Denkweise der Epoche »Von Hegel zu Nietzsche« er-
innert. In diesem Zeitalter des »Historismus« – im weitesten Sinne des
Wortes – hat sich das philosophische Denken nur noch denjenigen Auf-
gaben gestellt, die es aus vorherrschenden Tendenzen der Geschichte
erwachsen sah. Die eigentlichen Sachfragen traten dabei hinter ge-
schichtsphilosophischen Besinnungen weitgehend zurück. So treten
auch bei Heidegger die Sachfragen, die in der Idee einer Vereinigung
von Fundamentalontologie und Metontologie zusammengefasst wur-
den, in der nächstfolgenden Periode hinter einer »seinsgeschichtlichen«
Besinnung zurück. Dementsprechend wird eine eigenständige Meta-
physik nicht mehr angestrebt. Der Begriff einer »onto-theo-logischen
Verfassung« der Metaphysik ist ein Produkt und zugleich ein eminen-
ter Ausdruck dieser Entwicklung.

3. Metaphysik als Ontotheologie

Der Terminus »Ontotheologie« stammt bekanntlich von Kant. Heideg-


ger greift ihn zum ersten Mal in seiner Vorlesung von 1930/1931 über
Hegels Phänomenologie des Geistes auf. Zunächst wird dabei nicht so
sehr die gesamte Metaphysik als vielmehr nur Hegels spekulative Dia-

42
Ebd., S. 64.
43 Ebd., S. 65.

37
Grundtypen der Metaphysik

lektik als Ontotheologie bezeichnet: »Die spekulative Interpretation des


Seins ist Onto-theo-logie«. 44 Diese Interpretation wird näher als »onto-
theo-ego-logisch« 45 oder auch als »onto-ego-theo-logisch« 46 bestimmt.
Heidegger legt Wert darauf, die von Hegel verflochtenen Traditions-
stränge unterschiedlicher Herkunft sorgfältig voneinander zu trennen.
So heißt es: »Die Frage nach dem ὄν ist vom antiken Ansatz her onto-
logisch, zugleich aber schon, wie es bei Plato und Aristoteles heraustritt,
wenngleich nicht entsprechend begrifflich entfaltet, onto-theo-logisch.
Die Fragerichtung wird seit Descartes zugleich ego-logisch, wobei das
ego nicht nur zentral ist für den Logos, sondern ebenso mitbestimmend
für die Entfaltung des Begriffes θεόϚ, was sich wiederum schon in der
christlichen Theologie vorbereitet hat.« 47 Hier werden drei Traditions-
stränge voneinander unterschieden: der antike Ansatz, die christliche
Theologie und die cartesianische Fragerichtung. Hinzu kommt noch
ein spezifisch hegelianisches Element: »Der prägnante Ausdruck dieser
Bezüge in ihrer ursprünglichen Durchgestaltung und geschlossenen
Begründung liegt darin, dass für Hegel das Absolute – d. h. das wahr-
haft Seiende, die Wahrheit – der Geist ist. Der Geist ist Wissen, λόγοϚ;
der Geist ist Ich, ego; der Geist ist Gott, θεόϚ; und der Geist ist Wirk-
lichkeit, das Seiende schlechthin, ὄν.« 48
Gerade diese Unterscheidung verschiedener Traditionsstränge
wirft zugleich die Frage nach einem Traditionsstrang auf, der sich in
der gesamten Geschichte der europäischen Philosophie durchhält. Als
ein solcher erweist sich in der Vorlesung von 1930/1931 der antike An-
satz, der bereits hier als »onto-theo-logisch« charakterisiert wird. Noch
deutlicher wendet sich Heidegger später der Grundstruktur der Onto-
theologie zu.
Bereits in einem anderen Text über Hegels Phänomenologie des
Geistes, der Holzwege-Abhandlung »Hegels Begriff der Erfahrung«
(die ursprüngliche Fassung dieses Textes stammt aus dem Jahre 1943)
sagt er in Bezug auf Aristoteles: »Die erste Philosophie ist als Ontologie
zugleich die Theologie des wahrhaft Seienden. Genauer wäre sie die

44
Martin Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes [Gesamtausgabe, Bd. 32],
Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1930/1931, hg. von Ingtraud Görland, Frankfurt
am Main: Klostermann 1988, S. 141.
45
Ebd., S. 183.
46
Ebd., S. 209.
47
Ebd., S. 183.
48 Ebd.

38
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

Theiologie zu nennen. Die Wissenschaft des Seienden als solchen ist in


sich onto-theologisch.« 49 Diese Stelle lässt keinen Zweifel darüber auf-
kommen, dass nach Heidegger nicht allein Hegels spekulative Interpre-
tation des Seins, sondern bereits die aristotelische Wissenschaft des Sei-
enden als solchen durch eine onto-theologische – oder auch onto-
theiologische – Verfassung zu kennzeichnen ist.
In der »Einleitung zu: ›Was ist Metaphysik?‹« aus dem Jahre 1949
wird dann das »onto-theologische Wesen der eigentlichen Philosophie
(πρώτη φιλοσοφία)« zur Sprache gebracht. 50 In diesem Text ist nicht
allein davon die Rede, dass die Metaphysik die »Seiendheit des Seien-
den« in »zwiefacher Weise« vorstellt: »[…] einmal das Ganze des Sei-
enden als solchen im Sinne seiner allgemeinsten Züge (ὄν καθόλου,
κοινόν); zugleich aber das Ganze des Seienden als solchen im Sinne
des höchsten und darum göttlichen Seienden (ὄν καθόλου, ἀκρότατον,
θεῖον)«, 51 sondern es wird hinzugefügt: »Die Metaphysik nimmt diese
Zwiegestalt dadurch hin, daß sie ist, was sie ist […].« 52 Heidegger neigt
also immer deutlicher zu der Behauptung, dass die Metaphysik ihrem
Wesen nach und als solche durch eine ontotheologische Verfassung ge-
kennzeichnet ist. Es wird dabei betont, dass die gesamte Metaphysik auf
einer »durchgängigen Verwechslung von Sein und Seiendem« beruht:
»Sie nennt das Sein und meint das Seiende als das Seiende.« 53 Heideg-
ger hebt aber hervor, dass es sich dabei keineswegs etwa um einen Feh-
ler handelt: »Diese Verwechslung ist freilich als Ereignis zu denken,
nicht als Fehler.« 54 Wenn die Metaphysik nicht das Sein des Seienden
zu denken vermag, sondern dieses Sein mit dem Seienden als Seiendem
verwechselt, so liegt der Grund dieser Vorstellung einzig und allein
darin, wie das Seiende als das Seiende sich ins Offene gebracht hat. 55
Das Ereignis dieser Selbstoffenbarung des Seienden als des Seienden
bestimmt nun in Heideggers Augen das Schicksal des europäischen
Denkens. Auch die Begegnung der griechischen Ontologie mit dem

49
Martin Heidegger, Holzwege [Gesamtausgabe, Bd. 5], hg. von Friedrich-Wilhelm von
Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, S. 179; vgl. S. 186 f.
50
Heidegger, »Einleitung zu: ›Was ist Metaphysik?‹«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe,
Bd. 9], S. 379.
51 Ebd., S. 378.

52
Ebd., S. 379.
53
Ebd., S. 370.
54
Ebd.
55 Ebd., S. 379.

39
Grundtypen der Metaphysik

Christentum ist von diesem Urereignis getragen: »Diese Unverborgen-


heit des Seienden gab erst die Möglichkeit, daß sich die christliche
Theologie der griechischen Philosophie bemächtigte […].« 56
Heideggers Auseinandersetzung mit der Metaphysik ist bereits in
der seinsgeschichtlichen Periode durch ein Ereignisdenken bestimmt,
das eine Alternative zu seinem frühen transzendentalen Ansatz bietet.
Demnach ist das Denken nicht mehr einfach von einem Transzendenz-
entwurf des Daseins getragen; es geht vielmehr von einem Ereignis aus,
das ihm von selbst widerfährt. In der spätesten Phase von Heideggers
Besinnung auf die Metaphysik (etwa von dem Vortrag »Was ist das –
die Philosophie?« 57 und der Vorlesung von 1955/1956 unter dem Titel
Der Satz vom Grund an 58) tritt dieses Ereignisdenken erst recht in den
Vordergrund. Ein Zeugnis dafür ist das Buch Identität und Differenz, in
dem Heidegger zum ersten Mal von einer Einkehr des Denkens ins
Ereignis spricht. 59 Die Einkehr ins Ereignis wird im Vortrag »Zeit und
Sein« (1962) das Denken dazu drängen, »die Metaphysik sich selbst zu
überlassen«. 60 In Identität und Differenz geht es hingegen um eine
Auseinandersetzung mit der Metaphysik vom Ereignisdenken her. Es
heißt hier ganz allgemein: »Die Metaphysik ist Onto-Theo-Logie.« 61
Nunmehr betrachtet Heidegger diese Verfassung allerdings nur noch
als fragwürdig: »Wer die Theologie, sowohl diejenige des christlichen
Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft
erfahren hat, zieht es heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu
schweigen. Denn der onto-theologische Charakter der Metaphysik ist
für das Denken fragwürdig geworden […].« 62
Im zweiten Teil von Identität und Differenz fasst Heidegger die
Ergebnisse eines Seminars über Hegels Wissenschaft der Logik zusam-

56
Ebd.
57
Martin Heidegger, Was ist das – die Philosophie? [Gesamtausgabe, Bd. 11], hg. von
Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2006, S. 3–26.
58
Martin Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], hg. von Petra Jae-
ger, Frankfurt am Main: Klostermann 1997. Möglicherweise kündigt bereits die Vor-
lesung von 1951/1952 unter dem Titel Was heißt Denken? diese späteste Phase von
Heideggers Überlegungen zur Metaphysik an.
59
Siehe Heidegger, Identität und Differenz, [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 46: »Einkehr
unseres Denkens in jenes Einfache, das wir im strengen Wortsinne das Ereignis nennen«.
60
Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], hg. von Fried-
rich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 2007, S. 30.
61
Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 63.
62 Ebd.

40
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

men. Die λόγοϚ-zentrierte Ontotheologie von Hegel bestätigt in den


Augen von Heidegger einen allgemeinen Grundzug der Metaphysik,
den er bereits in seiner Vorlesung von 1955/1956 unter dem Titel Der
Satz vom Grund aufwies und den er nunmehr auf folgende Weise fest-
zuhalten sucht: In der Metaphysik ist »das Sein als Grund vor-
geprägt […]«. 63 Dieses Verständnis von Sein hat eine eigentümliche
Weite. Die verschiedenen Deutungsschichten, die es ermöglicht, erstre-
cken sich von Heraklits λόγοϚ über den Leibniz’schen Satz vom Grund
bis hin zu Hegels dialektischer Seinslogik und weiter. Diese Deutungs-
schichten eröffnen verschiedene Möglichkeiten des Denkens. In der
Vorlesung von 1955/1956 unter dem Titel Der Satz vom Grund ging
es Heidegger darum, den Grund im Anschluss an Heraklits λόγοϚ
»nicht als ratio, nicht als Ursache, nicht als Vernunftgrund und Ver-
nunft, sondern als versammelndes Vorliegenlassen« zu verstehen. 64 Im
zweiten Teil von Identität und Differenz geht es dagegen um etwas
anderes: Es soll hier gezeigt werden, wie durch eine Verwandlung dieses
anfänglichen Verständnisses von Sein als Grund die Metaphysik als
eine eigenständige Denkmöglichkeit zustande kommt. So ist die erste
Grundfrage dieses Textes zu verstehen: »Woher stammt die onto-theo-
logische Wesensverfassung der Metaphysik?« 65
Die Erörterung dieser Frage verlangt allerdings nach einem
»Schritt zurück«, 66 der sich »aus der Metaphysik in das Wesen der Me-
taphysik« bewegt. 67 Der eigentliche Versuch besteht hier darin, das Sein
als Sache der Metaphysik aus der ontologischen Differenz – oder auch
aus dem »Unter-Schied« 68 – zu begreifen. Die Anmerkungen im Hand-
exemplar von Heidegger zeigen, dass diesem Ansatz der Gedanke des
Ereignisses zugrunde liegt. 69 Der »Unter-Schied« ist eine Gestalt des
Ereignisses. Im Vortrag »Zeit und Sein« wird es heißen: »Sein ver-
schwindet im Ereignis.« 70 Aber schon in Identität und Differenz nimmt
Heidegger einen Standpunkt ein, der über das Sein hinausweist. So ist

63
Ebd., S. 65.
64
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 165.
65
Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 64.
66 Ebd., S. 58 und öfters.
67
Ebd., S. 60.
68
Ebd., S. 71.
69
Ebd., S. 71, Anm. 93.
70 Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 27.

41
Grundtypen der Metaphysik

zum Beispiel der Ausdruck »Sein gedacht aus der Differenz« 71 zu ver-
stehen.
In der Metaphysik nimmt der Unterschied von Sein und Seiendem
nach Heidegger eine besondere Gestalt an. Die Metaphysik ergreift eine
bestimmte Möglichkeit, das Sein als Grund zu verstehen, indem sie das
Sein zu ergründen und zu begründen sucht. Dabei geht sie von vorn-
herein davon aus, dass überall dort, wo es ein Sein gibt, auch ein Grund
vorhanden ist. Insofern entspricht die Metaphysik dem Sein als λόγοϚ;
aber sie entspricht ihm anders als ein anfängliches Denken – wie etwa
das von Heraklit. Die Metaphysik begreift das Sein keineswegs unmit-
telbar als ein »versammelndes Vorliegenlassen«. Sie kann vielmehr als
ein eigentümliches Unterfangen gesehen werden, als ein »Gründen«
eigener Art, das »vom Grund die Rechenschaft gibt, ihm Rede steht
und ihn schließlich zur Rede stellt«. 72 Sie fasst dabei einerseits das Sein
im Sinne der Gesamtheit allgemeiner Seinscharaktere des Seienden als
den Grund auf, auf dem das Seiende als solches jeweils schon steht, und
sie bindet andererseits das Sein des Seienden an Gründe, die eine Suche
nach einem ausgezeichneten Seienden als höchstem Grund oder auch
als erster Ursache erforderlich machen. Der Versuch der Metaphysik,
das Sein zu ergründen und zu begründen, gibt daher einem doppelten
Gründungs- oder Begründungszusammenhang Raum: Einerseits
»gründet das Sein das Seiende«, andererseits »begründet das Seiende
als das Seiendste das Sein«. 73 Den »Unter-Schied« zwischen Sein und
Seiendem, der aus Gründung und Begründung erwächst, fasst Heideg-
ger zugleich als »Austrag«. 74 Er fügt hinzu: »Das Gründen selber er-
scheint innerhalb der Lichtung des Austrags als etwas, das ist, was somit
selber, als Seiendes, die entsprechende Begründung durch Seiendes, d. h.
die Verursachung und zwar die durch die höchste Ursache verlangt.« 75
Damit ist bereits ein Kreislauf von Gründen und Begründen ange-
deutet.
Zum Austrag kommt dabei das, was im Text »onto-theo-logische
Verfassung der Metaphysik« heißt: »Denkt die Metaphysik das Seiende
im Hinblick auf seinen jedem Seienden als solchem gemeinsamen

71 Heidegger, Identität und Differenz [Gesamtausgabe, Bd. 11], S. 72.


72
Ebd., S. 66.
73
Ebd., S. 75.
74
Ebd., S. 71 und öfters.
75 Ebd., S. 75 f.

42
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

Grund, dann ist sie Logik als Onto-Logik. Denkt die Metaphysik das
Seiende als solches im Ganzen, d. h. im Hinblick auf das höchste, alles
begründende Seiende, dann ist sie Logik als Theologik.« 76 Logik ist aber
die Metaphysik unter allen Umständen, da sie (wenn auch nur auf eine
bestimmte Weise) dem Sein als λόγοϚ entspricht.
Dieser Austrag des Unter-Schiedes – und damit die Entstehung der
ontotheologischen Verfassung der Metaphysik selbst – muss als eine
Folge des Ereignisses begriffen werden. Gemeint ist letztlich das Ereig-
nis des Erscheinens des Erscheinenden als solchen. Heidegger versteht
aber dieses Ereignis als ein Offenbarungsgeschehen, in dem sich die
gestiftete Unverborgenheit des Seienden mit einem Entzug und einer
gewissen Verbergung des Seins verbindet. Die Zusammengehörigkeit
von Unverborgenheit und Verbergung ist ein wesentlicher Bestandteil
des Ereignisdenkens. Es kommen aber noch weitere Bestandteile hinzu:
allen voran der Gedanke, dass beim Erscheinen des Erscheinenden die
Initiative nicht dem Denken, sondern dem Sein gehört; es handelt sich
mithin um ein Offenbarungsgeschehen, das dem Denken widerfährt.
Die »Entbergung« des Seins ist also keineswegs das Werk des mensch-
lichen Daseins; das Sein »entbirgt« sich von selbst. Weiterhin nimmt
die Zusammengehörigkeit von Unverborgenheit und Verbergung nach
Heidegger verschiedene Gestalten an, die je eine Epoche des Denkens
bestimmen. Was unverborgen zutage tritt und was verborgen bleibt,
ändert sich dabei von Epoche zu Epoche; aber ein Entzug, ein Ansich-
halten des Seins ist für jede Epoche konstitutiv. Daher versucht Hei-
degger, das Phänomen einer Epoche des Denkens aus der jeweiligen
ἐποχή (Ansichhalten) des Seins zu verstehen. Aus diesem Zusammen-
hang zwischen Seinsentzug und Denkepoche ergibt sich der grundsätz-
lich epochale Charakter des Ereignisses.
Diese Gedanken drücken sich im zweiten Teil von Identität und
Differenz so aus, dass das Sein als eine »entbergende Überkommnis«
und das Seiende als eine »in die Unverborgenheit sich bergende An-
kunft« gefasst werden kann. 77 Der Unterschied von Sein und Seiendem
bestimmt sich dementsprechend als ein Unter-Schied von Überkomm-
nis und Ankunft. Zum Austrag kommt dabei ein bestimmter Vertei-
lungszusammenhang von Unverborgenheit und Verbergung. So wird
hier die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik als eine Folge

76
Ebd., S. 76.
77 Ebd., S. 71 und öfters.

43
Grundtypen der Metaphysik

eines epochalen Ereignisses verstanden, das sich mit einem bestimmten


Entzug von Sein, also einer Form von Verbergung verbindet.
In Identität und Differenz beantwortet Heidegger die Frage »Wo-
her stammt die onto-theologische Wesensverfassung der Metaphy-
sik?«, indem er das Ungedachte der Metaphysik zu erschließen sucht. 78
Das ist der eigentliche Sinn des Ausdrucks »Schritt zurück«. Die ›We-
sensverfassung‹ der Metaphysik wird dabei aus dem »Schicksal« des
europäischen Denkens abgeleitet. Dieses Schicksal bringt es mit sich,
dass das europäische Denken Sein und Seiendes nicht auseinander-
zuhalten vermag, sondern den Unterschied beider in seinem Austrag
aus den Augen verliert und damit das Ereignis verfehlt. Heidegger
zeigt, wie die ontotheologische Verfassung der Metaphysik das Ereignis
in ein »Kreisen, das Umeinanderkreisen von Sein und Seiendem«,
bringt. 79 Die Metaphysik verfängt sich in diesem Zirkel der Ontotheo-
logie, ohne den Unterschied von Sein und Seiendem als den Austrag
von Überkommnis und Ankunft zu erfassen und damit das Ereignis
denken zu können.
Im zweiten Teil von Identität und Differenz nimmt sich Heidegger
vor, noch eine weitere Grundfrage zu beantworten, die er auf folgende
Weise formuliert: »Wie kommt der Gott in die Philosophie?« 80 Er wählt
damit eine Formulierung, die eine Zurückführung der ontotheologi-
schen Verfassung der Metaphysik auf eine Begegnung der griechischen
Ontologie mit dem Christentum gar nicht erst zum Zuge kommen lässt.
Nach Heidegger wird der Einfluss des Christentums auf die griechische
Ontologie erst dadurch möglich, dass die ontotheologische Verfassung
der Metaphysik immer schon einen Platz für den Gott bereithält. Dieser
Platz wird durch den Kreislauf von Gründen und Begründen bestimmt,
zu dem die Suche nach einem höchsten Grund oder auch nach einer
ersten Ursache notwendig gehört. Der Gott kommt folglich als πρώτη
ἀρχή oder auch als causa prima in die Metaphysik. Dabei bestimmt er
sich zugleich als Ursache seiner selbst, als causa sui. »Damit ist der
metaphysische Begriff von Gott genannt.« 81 Heidegger fügt hinzu:
»Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm op-
fern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu in die Knie

78
Ebd., S. 57.
79
Ebd., S. 75.
80
Ebd., S. 64.
81 Ebd., S. 67.

44
Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik

fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen.« 82 Aus
dieser Bemerkung verstehen wir erst, was Heidegger in seiner Holz-
wege-Abhandlung über »Hegels Begriff der Erfahrung« mit dem Wort
»Theiologie« meinte. Er wollte damit andeuten, dass der Gott der Me-
taphysik keineswegs mit dem »göttlichen Gott« zusammenfällt und
dass ebendeshalb ein Denken, das sich einem methodologischen Athe-
ismus verschreibt, dem »göttlichen Gott« näher bleiben kann. 83
Damit dürfte Heideggers Auseinandersetzung mit der ontotheo-
logischen Verfassung der Metaphysik ihren Grundlinien nach deutlich
geworden sein. Im Rückblick auf das Dargestellte können wir fest-
stellen, dass Heidegger sich – im Gegensatz zu Natorp – nicht damit
begnügte, eine doppelsinnige Auffassung von der Metaphysik bei Aris-
toteles herauszustellen, sondern sich dazu entschloss, nach der einheit-
lichen Grundlage dieser doppelsinnigen Auffassung zu forschen. Er
fasste dabei wiederholt eine Metaphysik ins Auge, die im wesentlichen
Sinne Physik blieb, und versuchte, seine Fundamentalontologie durch
eine Metontologie zu ergänzen, um das Seiende nicht nur als solches,
sondern auch im Ganzen zu erfassen. Letztlich blieb er jedoch die Aus-
arbeitung dieses Entwurfs einer neuen Metaphysik schuldig. Nur in
kritischer Umwendung verwirklichte er sein ursprüngliches Anliegen,
indem er die Zusammengehörigkeit der Wissenschaft vom Sein und der
Wissenschaft vom höchsten und eigentlichen Seienden aus einem sei-
nes Erachtens für die gesamte Metaphysik charakteristischen Zirkel von
Gründen und Begründen ableitete. Damit konnte er am Ende eines lan-
gen Weges den Eindruck haben, es habe sich ihm »in der Onto-Theo-
Logie die noch ungedachte Einheit des Wesens der Metaphysik ge-
zeigt«. 84

82
Ebd., S. 77.
83
Ebd.
84 Ebd., S. 63.

45
Grundtypen der Metaphysik

II. Aristoteles und die katholou-protologische


Grundstruktur

Heideggers Auseinandersetzung mit der Metaphysik beruht auf »ei-


nem Gespräch mit dem Ganzen der Geschichte der Philosophie«. 85 Ihr
Ergebnis bleibt daher ein globaler Wesensentwurf, der einer besonderen
Anwendung auf einzelne Denker der Tradition bedarf. Zwar liefert Hei-
degger in seinen Vorlesungen eine ganze Reihe von Beispielen für eine
derartige Anwendung, aber der Abstand zwischen Wesensverfassung
und einmaliger Denkkonstellation macht sich dabei überall bemerkbar.
Der Fall der aristotelischen Metaphysik ist besonders schwierig. Kann
dieser Metaphysik bereits eine ontotheologische Verfassung zuge-
schrieben werden? Oder kommt diese Verfassung erst der »traditionel-
len« Metaphysik zu, die aus der Veräußerlichung des aristotelischen
Ansatzes entsteht? Wie der Aufsatz »Vom Wesen und Begriff der Φύ-
σιϚ« deutlich zeigt, bleibt Heideggers Stellungnahme zu dieser Frage
selbst noch in der seinsgeschichtlichen Epoche schwankend.
In der französischen Philosophiegeschichtsschreibung der letzten
Jahrzehnte steht von Anfang an fest, dass der Metaphysik des Aristote-
les keine ontotheologische Verfassung im Sinne von Heidegger zuge-
schrieben werden kann. Gerade deshalb nimmt bereits Aubenque den
Kampf mit den an späteren Metaphysikentwürfen orientierten und
eher noch ins ontotheologische Schema passenden Aristoteles-Interpre-
tationen von Philip Merlan und von Joseph Owens auf. 86 Aubenque
kennt Heideggers Idee einer ontotheologischen Verfassung der Meta-
physik sehr genau, 87 aber in seiner durchaus eigenständigen Aristote-
les-Deutung entfernt er sich von ihr. Seine Schüler Brague und Cour-
tine, die Heidegger nahestehen, sehen sich ebendeshalb vor die Frage
gestellt, wie die Wissenschaft vom Sein und die Wissenschaft vom
höchsten und eigentlichen Seienden ursprünglich zusammengehören.
Sie beantworten diese Frage, indem sie der aristotelischen Metaphysik

85
Ebd., S. 64.
86 Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 383. Siehe Philip Merlan, From
Platonism to Neoplatonism, Den Haag: Martinus Nijhoff 1954, und Joseph Owens, The
Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, Toronto: The Pontifical Institute of
Mediaeval Studies 1951.
87 Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 417, Anm.; vgl. S. 279 und S. 371.

46
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

eine »katholou-protologische« Struktur entnehmen. 88 Durch diese


Struktur definieren sie einen ersten Grundtyp der Metaphysik, von
dem weitere Grundtypen abgehoben werden können. Unsere Aufgabe
besteht hier vor allem darin, diese Grundstruktur überhaupt erst fass-
bar zu machen.

1. Die Doppelbestimmung der Metaphysik bei Aristoteles

Bekanntlich sind in der Schriftensammlung, die von Andronikos von


Rhodos unter dem Titel Metaphysik veröffentlicht wurde, verschieden-
artige und vermutlich in verschiedenen Zeiten immer wieder bearbeite-
te Untersuchungen zusammengefasst, die in ihrer gemeinsamen Eigen-
art doch deutlich zusammengehören. Sie unterscheiden sich von allen
anderen Untersuchungen, die von Aristoteles bereits Disziplinen wie
Logik, Mathematik, Physik, Ethik, Politik, Rhetorik usw. zugeordnet
werden. Eine der berühmten Formeln, die zur Bestimmung des Eigen-
tümlichen derartiger Erörterungen geprägt wird, besagt, dass sie die
Eigenschaften des Seienden zu erfassen haben, »insofern es Seiendes,
nicht insofern es Zahl oder Linie oder Feuer ist«. 89 Eine ähnliche Formel
beschreibt die in den aristotelischen Schriften erst gesuchte Wissen-
schaft der Metaphysik noch einfacher als eine Wissenschaft, die »das
Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommen-
de«. 90 Dem Wörtchen ›als‹, ebenso wie dem Wörtchen ›insofern‹, das
übrigens nur eine andere Übersetzung desselben griechischen Aus-
drucks (nämlich der Partikel ᾗ) ist, kommt in diesen Formeln eine
grundlegende Bedeutung zu. Aristoteles erweist sich hier geradezu als
ein Denker des Als.

88
Brague, Aristote et la question du monde, S. 110; Courtine, Les catégories de l’être,
S. 192.
89
Aristoteles, Metaphysik, Griechisch–Deutsch, griechischer Text in der Edition von
Wilhelm Christ, Neubearbeitung der Übersetzung von Hermann Bonitz, 2 Bände, hg.
von Horst Seidl, Hamburg: Meiner 1989, 1991, Γ 2, 1004 b 6. Zitiert wird die deutsche
Übersetzung in dieser Ausgabe (unter Angabe der Bekker-Zahlen), aber auch die grie-
chischen Texteditionen von Werner Jaeger und von William David Ross werden berück-
sichtigt. Siehe Aristotelis Metaphysica, hg. Werner Jaeger, Oxford: Oxford University
Press 1957, und Aristotle’s Metaphysics, hg. von William David Ross, 2 Bände (mit
Kommentar), Oxford: Clarendon Press 1924.
90 Aristoteles, Metaphysik, Γ 1, 1003 a 21–22.

47
Grundtypen der Metaphysik

Er geht zwar grundsätzlich davon aus, dass jede Wissenschaft die


Aufgabe hat, eine bestimmte Gattung des Seienden zu erforschen. Auch
in den gerade angeführten Worten verweist er auf derartige Gattungen,
indem er die Zahl, die Linie und das Feuer erwähnt. Er sieht es als eine
Selbstverständlichkeit an, dass die Zahl (und überhaupt die Quantität)
der Gegenstand der Arithmetik, die Linie (und überhaupt die räumliche
Größe und Figur) der Gegenstand der Geometrie und das Feuer (offen-
bar stellvertretend für alle Elemente) der Gegenstand der Physik ist.
Mit der von ihm gerade gesuchten Wissenschaft macht Aristoteles je-
doch eine Ausnahme von dieser Regel. Nicht durch die Angabe einer
eigentümlichen Gattung des Seienden unterscheidet er sie von allen
anderen Wissenschaften, sondern durch die Kennzeichnung der Art
und Weise, in der sie dieselben Dinge, mit denen sich auch andere Wis-
senschaften befassen, zu Gegenständen einer eigentümlichen Betrach-
tung macht. Dasselbe wird dabei als etwas anderes in Betracht genom-
men. Der Unterschied ergibt sich demnach nicht aus der Änderung des
Gegenstandes, sondern aus der Änderung der Betrachtungsweise.
Worin liegt aber das Eigentümliche der Betrachtungsart, die für die
von Aristoteles gesuchte Wissenschaft charakteristisch ist? Die Ant-
wort lautet: in ihrer Allgemeinheit. Denn »keine der übrigen Wissen-
schaften handelt allgemein [καθόλου] vom Seienden als Seiendem,
sondern sie schneiden sich einen Teil des Seienden ab […]«. 91 Demnach
unterscheidet sich die von Aristoteles gesuchte Wissenschaft als eine
allgemeine Untersuchung über das Seiende als Seiendes von jeder Ein-
zelwissenschaft, die als solche das Seiende immer nur insofern betrach-
tet, als es zu einer bestimmten Gattung gehört, also zum Beispiel Zahl,
Linie oder Feuer ist.
Aristoteles bestimmt aber das Verhältnis der von ihm gesuchten
Wissenschaft zu anderen Wissenschaften nicht überall so wie in den
gerade aus dem vierten Buch (Γ) der Metaphysik zitierten Zeilen. Im
ersten Kapitel des sechsten Buches (Ε) der Metaphysik fasst er die von
ihm gesuchte Wissenschaft als eine Erste Philosophie auf, die sich nicht
allein durch ihre Betrachtungsweise, sondern auch durch ihren Gegen-
stand von allen anderen Wissenschaften – darunter auch von denjeni-
gen, die wie Mathematik und Physik ihren theoretischen Charakter tei-
len – unterscheidet. Denn als Gegenstand der Ersten Philosophie wird
an dieser Stelle nicht etwa allgemein das Seiende als Seiendes, sondern

91 Ebd., Γ 1, 1003 a 23–25.

48
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

vielmehr ein ausgezeichnetes und in seiner Vorrangstellung erstes –


also erstrangiges – Seiendes genannt. Anders als bei den mathemati-
schen Gegenständen, die nach Aristoteles nicht selbstständig existieren,
sondern – wie die Größe oder die Quantität überhaupt – immer nur an
etwas Anderem, seinerseits selbstständig Existierendem, vorhanden
sind, handelt es sich bei diesem ausgezeichneten und erstrangigen Sei-
enden um ein »abtrennbares« oder auch »selbstständiges« Seiendes,
also um ein »Wesen« (οὐσία), das sich jedoch – im Gegensatz zu den
Gegenständen der Physik – nicht bewegt (nicht verändert), sondern
schlechthin »unbeweglich« (unveränderlich) ist. 92 Dieses selbstständig
existierende und zugleich unbewegliche Seiende wird im zwölften Buch
der Metaphysik als Gott bezeichnet. Im Einklang mit dieser Bezeich-
nung nennt Aristoteles im ersten Kapitel des sechsten Buches die Erste
Philosophie auch ›Theologie‹. 93
Die als Theologie aufgefasste Erste Philosophie wird vor allem der
Physik als Zweiter Philosophie gegenübergestellt, weil beide Diszipli-
nen selbstständig existierende Wesen behandeln; die Frage nach dem
Seienden als Seiendem meint aber nach Aristoteles, wenn nicht aus-
schließlich, so doch in erster Linie die Frage nach dem selbstständig
existierenden Wesen 94 und nur in abgeleiteter Weise auch die Frage
nach denjenigen Seienden, die nicht selbstständig existieren, sondern
an selbstständig existierenden Wesen mitvorhanden sind.
Diese Doppelbestimmung der in der Metaphysik gesuchten Wis-
senschaft als Wissenschaft vom Seienden als Seiendem und als Wissen-
schaft vom ausgezeichneten oder ersten Seienden wird nicht erst von
Natorp, Jaeger und Heidegger zur Sprache gebracht. Bereits Francisco
Suárez wird am Ende des 16. Jahrhunderts auf das spannungsvolle Ver-
hältnis von Allgemeinheit und Erstrangigkeit bei Aristoteles aufmerk-
sam. 95 Allerdings geht Suárez von einer Disziplinenteilung aus, die, wie
wir sehen werden, auf die Epoche von Johannes Duns Scotus zurück-
geht und sich bis in die Zeit von Christian Wolff und Alexander Baum-

92
Ebd., Ε 1, 1026 a 13–16.
93
Ebd., Ε 1, 1026 a 19.
94 Ebd., Ζ 1, 1028 a 2–4.

95
Francisco Suárez, Disputationes metaphysicae [Opera omnia, Bd. 25 und Bd. 26], hg.
von Charles Berton, Paris: Vivès 1856–1861 (Nachdruck: Hildesheim: Olms 1965), pars
I, disp. I, sect. 2., art. 25. Vgl. Francisco Suárez, Disputes métaphysiques I–II–III, über-
setzt von Jean-Paul Coujou, Paris: Vrin 1998, S. 93.

49
Grundtypen der Metaphysik

garten hinein durchhält. In dieser Periode wird das Seiende als Seiendes
– unter dem Namen ens commune – als der Gegenstand einer metaphy-
sica generalis, das ausgezeichnete und erstrangige Seiende dagegen –
unter dem Namen ens summum oder auch primum – als der Gegen-
stand einer metaphysica specialis aufgefasst. Seit dem 17. Jahrhundert
wird die erste Disziplin auch als Ontologie bezeichnet; die zweite Unter-
suchungsrichtung trägt nach wie vor den Namen Theologie. So können
wir leicht den Eindruck haben, es liege in der aristotelischen Doppel-
bestimmung der Metaphysik bereits der Ursprung dessen, was Kant
unter dem Namen »Ontotheologie« bekämpfen wird. In Wahrheit ist
es jedoch abwegig, diese spätere Disziplinenteilung der Metaphysik auf
Aristoteles zurückzuprojizieren. 96
Es gilt vielmehr an dem festzuhalten, was wir im griechischen Text
selbst finden. Aristoteles scheint sich auf die Schwierigkeit einer Dop-
pelbestimmung der von ihm gesuchten Wissenschaft schon selbst zu
besinnen, indem er im ersten Kapitel des sechsten Buches der Metaphy-
sik die Frage stellt, »ob die erste Philosophie allgemein ist oder auf eine
einzelne Gattung und einzelne Natur geht«. 97 Nur dass seine Antwort
auf diese Frage rätselhaft bleibt. Wie er sagt, ist die Erste Philosophie
»eine allgemeine, insofern sie die erste ist […]«: καθόλου οὕτωϚ ὅτι
πρώτη. 98 Rätselhaft ist diese Antwort vor allem deshalb, weil sie nicht
deutlich macht, wie eine Betrachtung über das selbstständig existieren-
de, dabei aber unbewegliche Wesen zugleich eine allgemeine Sicht auf
das Seiende als Seiendes bestimmen könnte. Vielleicht wäre diese Ver-
bindung einleuchtender, wenn Aristoteles in dem von ihm im zwölften
Buch der Metaphysik beschriebenen Gott den Urheber des Seienden als
Seienden sähe. Dem Aristoteles ist aber die Idee eines Schöpfergottes
selbst in der Gestalt des platonischen Werkmeisters völlig fremd geblie-
ben. Zwar spricht er von einem »Ersten Beweger«, aber er lässt keinen
Zweifel darüber aufkommen, dass dieser Beweger nicht als wirkende
Ursache, sondern nur als Zweckursache – nämlich als Gegenstand der
Liebe oder des Begehrens – bewegt: κινεῖ δὲ ὡϚ ἐρώμενον. 99 Das ist der
Grund dafür, dass der aristotelischen Metaphysik eine ontotheologische
Verfassung im Sinne von Heidegger abgesprochen werden muss. Es

96
Siehe die Vorbehalte von Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 416 f.
97
Aristoteles, Metaphysik, Ε 1, 1026 a 24–25.
98
Ebd., Ε 1, 1026 a 30–31.
99 Ebd., Λ 7, 1072 b 3.

50
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

deutet sich zwar bei Aristoteles so etwas wie ein Kreislauf von Gründen
und Begründen an, aber dieser Kreislauf bleibt unabgeschlossen.
Diese Unabgeschlossenheit wird selbst von denjenigen bezeugt, die
Aristoteles im Licht späterer Metaphysikentwürfe betrachten. Owens
greift notgedrungen zu der Annahme, dass der uns überlieferte Text
der Metaphysik unvollständig sei: Nichts Geringeres fehle als gerade
die »Vollendung der Lehre«; 100 das Verhältnis zwischen dem ersten Sei-
enden und dem Seienden als Seiendem bedürfe ebendeshalb einer nach-
träglichen Rekonstruktion. 101 Merlan versucht, dem Text der aristote-
lischen Metaphysik ein »Ableitungssystem« abzugewinnen, 102 wie wir
es aus der platonischen und der neuplatonischen Tradition kennen. 103 Er
sieht sich jedoch darauf angewiesen, als Belegstellen Texte zu verwen-
den, in denen sich Aristoteles mit den Platonikern Speusippos und Xe-
nokrates auseinandersetzt. Die Versicherung, dass Aristoteles einen
ähnlichen Metaphysikentwurf im Sinne habe wie seine Schulgefährten
aus der Akademie, bleibt dabei unausgewiesen.
Aubenque setzt diesen Deutungsversuchen eine Auffassung ge-
genüber, die den Akzent auf den aporetischen Charakter des aristote-
lischen Denkens setzt.

2. Der aporetisch-diaporematische Charakter der


aristotelischen Metaphysik

In den unter dem Titel Metaphysik zusammengefassten Abhandlungen


findet man kein Ableitungssystem platonischen oder neuplatonischen
Stils, überhaupt keinen deduktiven Gedankengang, wohl aber eine Rei-
he von Denkschwierigkeiten – Aporien –, mit denen Aristoteles gera-
dezu methodisch umgeht. Das dritte Buch (B) der Metaphysik ist ein
Zeugnis für die Leistungsfähigkeit dieser aporetischen Methode. Kann
aber das Spannungsverhältnis von Allgemeinheit und Erstrangigkeit

100
Owens The Doctrine of Being in the Aristotelian Metaphysics, S. 298.
101
Ebd., S. 289.
102
Merlan, From Platonism to Neoplatonism, S. 167 f.
103 Hans-Joachim Krämer, der den Ansatz von Philip Merlan weiterentwickelt, meint

bereits in der ungeschriebenen Lehre von Platon ein derartiges Ableitungssystem ent-
decken zu können. Siehe zum Beispiel: Hans-Joachim Krämer, »Die platonische Akade-
mie und das Problem einer systematischen Interpretation der Philosophie Platons«, in:
Kant-Studien 55 (1964), S. 69–101, hier: S. 88.

51
Grundtypen der Metaphysik

nicht auch als eine Denkschwierigkeit, als eine zentrale Aporie auf-
gefasst werden, die zwar keine endgültige Auflösung zulässt, aber
durchaus nach angemessenem Umgang und methodischer Behand-
lungsweise verlangt? Das ist die Frage, die sich Aubenque stellt. Er be-
tont, dass Aristoteles die Metaphysik in der Regel nur als die gesuchte
Wissenschaft erwähnt – und damit wohl eine niemals zum Abschluss
kommende Suche meint. So heißt es an einer – auch von Heidegger –
immer wieder zitierten Stelle: »Und die Frage, welche von alters her so
gut wie jetzt und immer aufgeworfen und Gegenstand des Zweifels
[ἀπορούμενον] ist, die Frage, was das Seiende ist, bedeutet nichts ande-
res als, was das Wesen ist.« 104
Die Metaphysik bei Aristoteles ist nach Aubenque weniger eine
wohletablierte Disziplin der Philosophie unter anderen Disziplinen als
vielmehr eine namenlos bleibende und immer nur gesuchte Wissen-
schaft, die sich um eine grundlegende Denkschwierigkeit dreht. Sie ent-
wickelt aber einen methodischen Umgang mit dieser Schwierigkeit: Sie
ringt ihr Fragen ab, die sie erörtern und auch beantworten kann, ohne
allerdings die zentrale Aporie damit restlos aufzulösen. Aubenque ver-
steht demnach die Metaphysik in ihrer ursprünglichen Form als eine
aporetische Wissenschaft; er greift auch das Aristoteleswort diapore-
matisch auf, 105 um den methodischen Charakter des aporetischen Vor-
gehens nur noch deutlicher hervorzuheben. 106
Brague und Courtine stützen sich auf die Ergebnisse von Auben-
ques Untersuchung, indem sie die Aporie von Allgemeinheit und Erst-
rangigkeit als die zentrale Grundstruktur der aristotelischen Metaphy-
sik bestimmen. Sie wählen die griechischen Termini, die der Text des
Aristoteles zur Bezeichnung der genannten Denkschwierigkeit anbietet
(katholou für »allgemein« und protologisch für »ersttheoretisch«), um
diese Grundstruktur begrifflich festzulegen.
Aubenque wartet auch mit einer Erklärung für den notwendig
aporetischen Charakter der aristotelischen Metaphysik auf. Diese Erklä-
rung hängt damit zusammen, dass Aristoteles die von ihm gesuchte

104
Aristoteles, Metaphysik, Z 1, 1028 b 1–3.
105
Ebd., B 1, 995 a 24–995 b 4 (Zusammenhang von ἀπορεῖν, διαπορεῖν und εὐπο-
ρεῖν).
106
Siehe dazu Pierre Aubenque, »Sur la notion aristotélicienne d’aporie«, in: Suzanne
Mansion (Hg.), Aristote et les problèmes de méthode. Communications présentées au
Symposium Aristotelicum tenu à Louvain du 24 août au 1er septembre 1960, Louvain-
la-Neuve: Centre de Wulf-Mansion 21980 (11961), S. 3–19.

52
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

Wissenschaft am Anfang des ersten Buches der Metaphysik auch noch


auf eine dritte Weise definiert: Er bestimmt sie als eine »auf die ersten
Prinzipien und Ursachen gehende« und dabei natürlich nicht praktische
oder poetische, sondern theoretische Wissenschaft. 107 In diesem Sinne
ist aber die Erste Philosophie eine »Weisheit« und »göttliche Wissen-
schaft«, an der ein menschliches Wesen immer nur in eingeschränktem
Maße teilhaben kann. Denn sie ist nicht nur eine Wissenschaft von
Gott, sondern auch eine Wissenschaft für Gott. Aristoteles sagt von
dieser Wissenschaft: »Göttlich aber dürfte allein sie in zweifachem Sin-
ne sein: Einmal ist die Wissenschaft göttlich, welche Gott am meisten
haben mag, und zum andern die, welche das Göttliche zum Gegenstand
haben dürfte. Bei dieser Wissenschaft allein trifft beides zugleich ein:
denn Gott gilt allen für eine Ursache und Prinzip, und diese Wissen-
schaft möchte wohl allein oder doch am meisten Gott besitzen.« 108 Ge-
wiss ist Aristoteles davon überzeugt, dass die ersten Prinzipien und
Ursachen des Seienden als Seienden zugleich die ersten Gründe sind,
aus denen die Wissenschaft alle weiteren Folgen ableitet. Wie Platon
und die zeitgenössischen Platoniker stellt er sich in der Zweiten Ana-
lytik eine deduktiv aufgebaute Wissenschaft, also ein Ableitungssystem
vor, in dem die ersten Gründe allen Folgerungen zu Prämissen dienen.
Dabei sind die ersten Gründe selbst, wie besonders im sechsten Buch
der Nikomachischen Ethik betont wird, Gegenstände unmittelbarer
Vernunfteinsicht (νοῦϚ), die der eigentlichen Wissenschaft (ἐπιστήμη)
vorhergehen und zugrunde liegen. Das ist auch der Sinn der Behaup-
tung, dass die ersten Prinzipien und Ursachen des Seienden als Seien-
den die an sich am meisten erkennbaren Dinge sind. Aus dem zweiten
Kapitel des ersten Buches (A) der Metaphysik geht aber deutlich hervor,
dass diese Prinzipien und Ursachen keineswegs die für uns am meisten
erkennbaren Dinge sind. Von der sich mit ihnen befassenden Wissen-
schaft heißt es sogar: »Darum möchte man mit Recht ihre Erwerbung
für eine nicht (mehr) menschliche halten […].« 109 Daher kann bei Aris-
toteles die Metaphysik – im Gegensatz zu anderen Wissenschaften – gar
nicht deduktiv aufgebaut werden. Sie bleibt ein für alle Mal eine ge-
suchte Wissenschaft, die den aporetischen Charakter niemals abstreifen
kann.

107
Ebd., A 2, 982 b 8–9.
108
Ebd., A 2, 983 a 6–10.
109 Ebd., A 2, 982 b 28–29.

53
Grundtypen der Metaphysik

Aubenque zieht aus diesen Überlegungen auch noch den weiteren


Schluss, dass der Mensch die an sich erste Wissenschaft, wenn über-
haupt, so zuletzt und am Ende erreicht. Deshalb verwandelt sich jedoch
die Metaphysik als Transphysik für den Menschen notwendig in eine
Metaphysik als Postphysik. Aubenque untermauert diese Deutung
durch einen Hinweis auf zwei griechische Kommentatoren der Meta-
physik – Alexander von Aphrodisias und Asklepios von Tralleis –, die
Aristoteles bereits ähnlich verstanden haben.
Die Metaphysik als aporetische – oder auch diaporematische –
Postphysik unterhält enge Beziehungen mit den Einzelwissenschaften:
Sie betrachtet ja dieselben Gegenstände wie sie, nur dass sie diese Ge-
genstände vom Gesichtspunkt der Allgemeinheit aus betrachtet. Auf
diesen Gesichtspunkt müssen die Einzelwissenschaften von vornherein
verzichten, obgleich er ihnen einen gemeinsamen Einheitsgrund bereit-
stellt. Auf diese Weise »wird die Ontologie bei Aristoteles« – fasst
Aubenque seine Interpretation zusammen – »der menschliche Ersatz
für eine uns unmögliche Theologie«. 110
Allerdings sieht Aubenque deutlich, dass Aristoteles keineswegs
bereit ist, die uns letztlich unmögliche Theologie als die Lehre vom
höchsten Seienden und den ersten Gründen zugunsten einer noch so
allgemein gehaltenen Lehre vom Seienden als Seiendem preiszugeben,
und dass er sich auch nicht damit begnügt, in der Theologie eine bloße
Einzelwissenschaft zu sehen, die sich mit einer besonderen Gattung des
Seienden, nämlich mit dem selbstständig existierenden und zugleich
unbeweglichen Wesen befasst, ohne das Seiende als Seiendes im All-
gemeinen zum Gegenstand zu machen. Vor dieser Konsequenz – sagt
Aubenque mit einem an Heideggers Kant-Interpretation erinnernden
Wort – »weicht Aristoteles zurück«. 111 Anders gesagt, hält Aristoteles
daran fest, dass die Theologie im wahren Sinne des Wortes Erste Phi-
losophie sei, der gerade deshalb eine Allgemeinheit zukomme, weil sie
die erste ist und auf das Erste geht.
In Deutschland mutet eine Interpretation, die den aporetischen
Charakter der von Aristoteles gesuchten Wissenschaft betont, bereits
in den 1960er Jahren weniger überraschend an als in Frankreich. Denn
eine derartige Verständnismöglichkeit war schon von Nicolai Hartmann
ergriffen worden, der die Ontologie im Wesentlichen als eine diapore-

110
Aubenque, Le problème de l’être chez Aristote, S. 410.
111 Ebd., S. 372.

54
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

matische Forschung aufgefasst hatte und sich auch darüber im Klaren


gewesen war, dass diese Arbeit die zugrunde liegenden Denkschwierig-
keiten niemals restlos bewältigen kann, sondern immer »Restproble-
me« zurücklässt.
Was Brague und Courtine betrifft, so führen sie die Aristoteles-
Interpretation von Aubenque keineswegs in allen Einzelheiten weiter.
Sie schreiben ihr vor allem deshalb eine große Bedeutung zu, weil sie in
der Idee einer aporetisch-diaporematischen Metaphysik eine echte Al-
ternative zur Ontotheologie erblicken. Courtine sieht aber in der Be-
stimmung der Metaphysik als Postphysik bereits eine gefährliche Nähe
zu den griechischen Aristoteles-Kommentatoren, die den Weg zu einem
ontotheologischen Verständnis der Metaphysik gebahnt haben. Außer-
dem erkennt Courtine eine größere Kontinuität zwischen Aristoteles
und der scholastischen Metaphysik als Aubenque. 112

3. Der lange Weg zur Ontotheologie

Courtine versucht den Weg nachzuzeichnen, der in der Tradition von


der katholou-protologischen Grundstruktur der aristotelischen Meta-
physik zur Entstehung einer ontotheologischen Verfassung führt. Er
zeigt, dass dieser Weg zum ersten Mal von den griechischen Aristote-
les-Kommentatoren betreten wurde. Es handelt sich dabei um Denker
und Gelehrte, die ein halbes Jahrtausend nach Aristoteles oder noch
später lebten und – den Bedürfnissen ihrer eigenen Zeit entsprechend
– die peripatetische Tradition mit dem Platonismus oder dem Neuplato-
nismus verschränkt oder auch vereinigt haben. So ist es allerdings kein
Wunder, wenn von vornherein Missverständnisse den Weg zur Onto-
theologie bestimmen.
Courtine entdeckt bereits in der – auch von Aubenque vertretenen
– Deutung der Metaphysik als Postphysik ein Missverständnis der ur-
sprünglichen Lehre von Aristoteles. Es handelt sich um eine Auffas-
sung, die sich bis zu einem der ältesten und verlässlichsten Aristoteles-
Kommentatoren, Alexander von Aphrodisias (2. Jahrhundert nach un-
serer Zeitrechnung), zurückverfolgen lässt. Von ihm stammt der Ge-
danke, dass die Metaphysik in der Ordnung der für uns am leichtesten

112 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, p. 347.

55
Grundtypen der Metaphysik

erkennbaren Dinge nach der Physik an die Reihe komme und in diesem
nicht mehr »bibliothekarischen«, sondern »taktischen« – weil durch die
Ordnung (τάξιϚ) der Erkennbarkeit bestimmten – Sinne als Postphysik
zu verstehen sei. Courtine sieht aber deutlich, dass die so verstandene
Postphysik notwendig eine Transphysik voraussetzt. In der Tat ist die
Metaphysik in der Ordnung der an sich am leichtesten erkennbaren
Dinge nach Alexander – wie auch nach Aubenque – eine Theorie des
ersten Seienden und der ersten Gründe, also eine Weisheit im Sinne
einer göttlichen Wissenschaft vom Göttlichen. Damit werden aber Phy-
sik und Metaphysik bei Alexander – und auch bei Aubenque – anders
voneinander unterschieden als bei Aristoteles selbst. Auch Aristoteles
trennt zwar im sechsten Buch (E) der Metaphysik die Erste Philosophie
als Theologie von der Physik als Zweiter Philosophie, und auch er
schreibt schon der so verstandenen Ersten Philosophie eine gewisse All-
gemeinheit zu. Aber die Identität der Allgemeinheit der Ersten Philoso-
phie mit der Allgemeinheit der namenlosen und unablässig gesuchten
Wissenschaft, von der im vierten Buch (Γ) der Metaphysik ausdrück-
lich die Rede ist und zu der die meisten Untersuchungen der Schriften-
sammlung Beiträge leisten, bleibt bei Aristoteles selbst fragwürdig. Da-
rin liegt gerade die zentrale Aporie der aristotelischen Metaphysik, die
Aubenque so meisterhaft nachgezeichnet hatte und der Brague und
Courtine dann durch den Begriff einer katholou-protologischen Grund-
struktur Rechnung trugen. Alexander von Aphrodisias setzt jedoch die
Erste Philosophie mit der gesuchten Wissenschaft von vornherein
gleich. Damit theologisiert er die aristotelische Metaphysik an einem
entscheidenden Punkt. 113 Aubenque selbst bleibt vor dem Einwand
einer Theologisierung der aristotelischen Metaphysik nur deshalb be-
wahrt, weil er von einer uns unmöglichen Theologie spricht.
Alexander von Aphrodisias steht mit dieser Auffassung am Beginn
eines Prozesses, der die gesamte Spätantike umfasst und dann – nach
einer langen Pause – erst in der mittelalterlichen Hochscholastik zur
Vollendung gelangt. Das Endergebnis dieses Prozesses ist eine Meta-
physik, der unzweifelhaft eine ontotheologische Verfassung im Sinne
von Heidegger zukommt. Courtine verschreibt sich der Forschungs-
hypothese, dass diese mehr als ein Jahrtausend lang dauernde Heraus-
bildung der Ontotheologie mit der »Erfindung der Analogie als Ana-

113 Courtine, Les catégories de l’être, S. 198.

56
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

logie des Seins« zusammenfällt. 114 Diese Forschungshypothese drückt


sich im Titel seines Buches Inventio analogiae aus.
Bereits Heidegger hatte die Lehre von der Analogie des Seins in
seine Überlegungen zur Ontotheologie einbezogen. 115 Er war dabei zu
einem besonders harten Urteil über diese Lehre gekommen: »Die Ana-
logie des Seins – diese Bestimmung ist keine Lösung der Seinsfrage, ja
nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, sondern
der Titel für die härteste Aporie, Ausweglosigkeit, in der das antike
Philosophieren und damit alles nachfolgende bis heute eingemauert
ist.« 116 Aubenque beschrieb dann den Entdeckungsprozess der Analogie
des Seins schlichtweg als die »Geschichte eines Widersinns«. 117 Courti-
ne teilt die Meinung von Heidegger 118 und übernimmt die Formel von
Aubenque. 119 Diese abschätzigen Urteile über die Lehre von der Analo-
gie des Seins zeigen, dass die Traditionsbildung der Metaphysik nicht
allein von Heidegger, sondern auch von Aubenque und Courtine aus
einer Veräußerlichung und Missdeutung der aristotelischen Metaphy-
sik abgeleitet wird. Von einer Suche nach einem heilen Ursprung kann
dabei allerdings keine Rede sein. Mit der Vorstellung eines heilen Ur-
sprungs lässt sich die Idee einer aporetisch-diaporematischen Metaphy-
sik nicht in Einklang bringen.
Für unsere Zwecke genügt ein kurzer Überblick über den langen
Entstehungsprozess der Lehre von der Analogie des Seins. Wir können
uns dabei auf einen bündigen Aufsatz von Courtine 120 stützen, den wir
durch einige Hinweise auf die vollständigere Darstellung dieses Prozes-
ses in Inventio analogiae ergänzen können. Zuvor müssen wir jedoch
auf das zweite Kapitel des vierten Buches (Γ) der aristotelischen Meta-
physik eingehen, um das Problem deutlich zu machen, mit dem die
griechischen Aristoteles-Kommentatoren ringen.

114
Ebd., S. 204.
115
Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Θ 1–3. Von Wesen und Wirklichkeit der
Kraft [Gesamtausgabe, Bd. 33], Freiburger Vorlesung, Sommersemster 1931, hg. von
Heinrich Hüni, Frankfurt am Main: Klostermann 21990 (11981), S. 42–48.
116
Ebd., S. 46.
117
Pierre Aubenque, »Les origines de la doctrine de l’analogie de l’être. Sur l’histoire
d’un contresens«, in: Les études philosophiques, 1/1978, S. 3–12.
118 Siehe den Aufsatz »La critique heideggérienne de l’analogia entis«, in: Courtine, Les

catégories de l’être, S. 213–239.


119
Courtine, Inventio analogiae, S. 231.
120
Siehe den Aufsatz »Différence ontologique et analogie de l’être«, in: Courtine, Les
catégories de l’être, S. 191–211.

57
Grundtypen der Metaphysik

a. Die fokale Bedeutungseinheit des Seienden bei Aristoteles

»Das Seiende wird in mehrfacher Bedeutung ausgesagt […].« 121 Mit


diesen schlichten Worten beginnt das zweite Kapitel des vierten Buches
der aristotelischen Metaphysik. Es ist bekannt, welche Bedeutungs-
mannigfaltigkeit dabei gemeint ist: 122

1. Zunächst ist alles, was zu einer der Kategorien gehört, ein Seien-
des, gleichviel, ob es ein selbstständig existierendes Wesen (»Sub-
stanz«) ist oder etwas an einem selbstständig existierenden Wesen
nur Mitvorhandenes wie etwa eine Qualität, eine Quantität, eine
Relation, ein Ort oder eine Zeit, ein Tun oder ein Erleiden, eine
Haltung oder auch eine Lage.
2. Aber damit ist die Bedeutungsvielfalt des Seienden keineswegs er-
schöpft. Das Seiende umfasst ebenso das dem Vermögen nach und
das der wirklichen Tätigkeit nach Seiende.
3. Mit dem Seienden kann darüber hinaus das Wahre, Wahrseiende
gemeint sein; das Falsche gilt dann als das Nicht-Seiende.
4. Ein Seiendes ist selbst noch das Zufällige (das »Akzidentelle« im
Sinne des sich gerade so und so Ergebenden; zufällig in diesem
Sinne ist zum Beispiel, dass ein Weißhaariger gebildet – und nicht
vielmehr ungebildet – ist).

Aristoteles behauptet weiterhin, dass das Seiende doch »immer in Be-


ziehung auf Eines und auf eine einzige Natur und nicht nach bloßer
Namensgleichheit (homonym)« ausgesagt wird. 123 Aus dem Text geht
hervor, was dabei mit dem »Einen« und der »einzigen Natur« gemeint
ist: Es ist das selbstständig existierende Wesen (οὐσία, »Substanz«).
Aristoteles sagt: »Denn einiges wird als seiend bezeichnet, weil es We-
sen (Substanzen), anderes, weil es Eigenschaften eines Wesens sind,
anderes, weil es der Weg zu einem Wesen oder Untergang oder Berau-
bung oder Qualität oder das Schaffende und Erzeugende ist für ein We-
sen oder für etwas in Beziehung zu ihm Stehendes, oder Negation von
etwas unter diesen oder von einem Wesen […].« 124 An anderer Stelle

121
Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1003 a 33.
122
Zur folgenden Auflistung siehe ebd., E 2, 1026 a 33–1026 b 2.
123
Ebd., Γ 2, 1003 a 33–34.
124 Ebd., Γ 2, 1003 b 6–10.

58
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

wird das selbstständig existierende Wesen ebendeshalb auch als »das


erste Seiende« (τὸ πρώτωϚ ὄν) bezeichnet; 125 dieser Ausdruck schließt
den Gedanken in sich, dass das Seiende in erster Bedeutung nichts an-
deres sei als das selbstständig existierende Wesen. Die gemeinsame Be-
ziehung auf diese erste Bedeutung verleiht dem Seienden in seiner Be-
deutungsvielfalt eine gewisse Bedeutungseinheit, die sich von der
bloßen Namensgleichheit (Homonymie) deutlich unterscheidet. Alles
kommt darauf an, die Eigentümlichkeit dieser Bedeutungseinheit zu
erfassen. Ein Bild, das von dem amerikanischen Aristoteles-Forscher
Guilym Ellis Lane Owen stammt, ist dabei sicherlich hilfreich: Wie eine
geeignete Linse die Strahlen der Sonne in einem Fokus versammelt, so
versammelt das selbstständig existierende Wesen die voneinander ei-
gentlich unabhängigen Bedeutungsstrahlen des Seienden in einem Fo-
kus. Owen schreibt dem aristotelischen Seienden deshalb eine focal
meaning zu. 126 Terence Irwin schlägt statt dessen den Ausdruck focal
connection vor, um den Vorrang des Sachlichen gegenüber dem Sprach-
lich-Semantischen bei Aristoteles zu betonen. 127
Wie kann jedoch diese fokale Bedeutungseinheit oder auch fokale
Verbindung näher bestimmt werden? Eines ist sicher: Sie beruht nicht
auf der Einheit einer Gattung. Im Gegensatz zu Platons Sophistes be-
trachtet Aristoteles das Seiende weder als die oberste Gattung noch als
eine der obersten Gattungen. 128 Für ihn sind vielmehr die Kategorien
die obersten Gattungen aller Dinge. Das Seiende als Seiendes fällt je-
doch mit keiner Kategorie zusammen; zu jeder Kategorie gehört ja Sei-
endes. Das Seiende als Seiendes ist daher überhaupt nicht kategorial
bestimmt; es übersteigt vielmehr die Kategorien und ist wesenhaft
transkategorial oder, wie es später gesagt werden soll, transzendent(al).
In dieser Hinsicht kann das Eine mit dem Seienden in eine Parallele
gebracht werden. »Denn dasselbe ist ein Mensch und seiender Mensch
125
Ebd., Z 1, 1028 a 30.
126
Guilym Ellis Lane Owen, »Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristo-
tle«, in: Logic, Science and Dialectic. Collected Papers in Greek Philosophy, hg. von Mar-
tha Nussbaum, Ithaca, New York: Cornell University Press 1968, S. 184, S. 187 und
S. 192 f.
127
Terence Irwin, »Homonymy in Aristotle«, in: Review of Metaphysics 34 (1981),
S. 523–544.
128
Zu diesem Unterscheid zwischen Platon und Aristoteles siehe Francis Macdonald
Cornford, Plato’s Theory of Knowledge. The Theaetetus and the Sophist of Plato Trans-
lated with a Running Commentary, London: Routledge and Kegan Paul 1935, S. 264–
279, hier besonders S. 275 f.

59
Grundtypen der Metaphysik

und Mensch […], und das Eine ist nicht etwas verschiedenes außer dem
Seienden.« 129 Gehört Seiendes zu jeder Kategorie, so trifft dasselbe auch
auf das Eine zu: Eines ist in jeder Kategorie zu finden. Daher ist nicht
nur das Seiende, sondern auch das Eine transkategorial; es übersteigt
die Kategorien und ist ebendeshalb, genau so wie das Seiende, trans-
zendent(al).
Im dritten Buch (B) der Metaphysik führt Aristoteles auch ein
gesondertes Argument an, um deutlich zu machen, dass weder das Sei-
ende noch das Eine Gattung sein kann. »[…] die Artunterschiede jeder
Gattung müssen notwendig sein, und jeder muß einer sein; unmöglich
aber können die Arten einer Gattung von den zugehörigen Artunter-
schieden, noch die Gattung, abgesehen von ihren Arten, von den Art-
unterschieden ausgesagt werden, woraus sich ergibt, daß, sofern das
Eine und das Seiende Gattungen sind, kein Artunterschied ein Seiendes
oder ein Eines sein kann.« 130 Aristoteles stützt sich hier auf den – an
anderer Stelle 131 näher begründeten – Gedanken, dass weder die Art
noch die Gattung vom Artunterschied – oder artbildenden Unterschied
– ausgesagt werden kann; so kann zum Beispiel weder die Art
»Mensch« noch die Gattung »Lebewesen« vom Artunterschied »ver-
nünftig« ausgesagt werden. In der Tat kann zum Beispiel die Behaup-
tung »Vernünftig – oder das Vernünftige, also das, was vernünftig ist –
ist (der) Mensch« nicht einwandfrei aufgestellt werden, weil der Art-
unterschied »vernünftig« umfangweiter ist als die Art »Mensch« (auch
andere Lebewesen, zum Beispiel Götter, können vernünftig sein). Aber
auch die Aussage »Vernünftig – oder das Vernünftige, also das, was
vernünftig ist – ist (das) Lebewesen« muss als unrichtig angesehen wer-
den – zumindest wenn der Artunterschied »vernünftig« unabhängig
von den Arten der Gattung »Lebewesen« gebraucht wird und nicht ein-
fach zu einer (etwas unbeholfenen) Bezeichnung einer dieser Arten
dient –, weil sie den Anschein erweckt, als sei der artbildende Unter-
schied »vernünftig« selbst nur eine Art der Gattung »Lebewesen«. Das
Seiende und das Eine müssen aber jedem denkbaren Artunterschied

129 Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1003 b 26–31.


130
Ebd., B 3, 998 b 22–26.
131
Aristoteles, Topica et Sophistici elenchi, VI 6, 144 a 32–144 b 11, hg. von William
David Ross, Oxford: Clarendon Press 1958; dt. Topik, griechisch–deutsche zweisprachige
Ausgabe, übersetzt von Hans-Günter Zekl, Hamburg: Meiner 1997, S. 306 f.

60
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

zukommen; sie können daher keine Arten und auch keine Gattungen
sein. Sie erweisen sich vielmehr als transgenerisch.
Aus diesem wichtigen Unterschied zu Platons Lehre vom Seienden
im Sophistes ergibt sich jedoch eine Grundschwierigkeit, die dem aris-
totelischen Ansatz eigentümlich ist: Die Bedeutungseinheit des Seien-
den ist nicht nur von jeder bloßen Namensgleichheit (Homonymie) zu
trennen, sondern sie drückt auch nicht etwa eine Gattungsgleichheit des
Bezeichneten aus (beruht also auch nicht auf Synonymie im Sinne der
aristotelischen Schrift über die Kategorien). 132 Da »Homonymie« im
mittelalterlichen Latein später als aequivocatio, »Synonymie« dagegen
als univocatio oder auch als univocitas wiedergegeben wurde, können
wir auch behaupten, dass Aristoteles – im Gegensatz zu dem (allerdings
erst noch tastenden) Versuch von Platon im Sophistes – die Univozität
des Seienden bestreitet oder auch entschieden leugnet. Gibt es jedoch
ein Drittes zwischen Homonymie und Synonymie, aequivocatio und
univocatio? Gibt es eine transgenerische Einheit, die sich doch von einer
bloßen Namensgleichheit unverwechselbar unterscheidet?
Deutet etwa die »Beziehung auf Eines und eine einzige Natur« ein
derartiges Drittes an? Aristoteles führt auch zwei – in der Tradition
immer wieder neu erörterte – Beispiele an, um diese (»fokale«) Verbin-
dungsart zu kennzeichnen: Demnach wird »alles, was gesund genannt
wird, auf Gesundheit hin ausgesagt […], indem es dieselbe erhält oder
hervorbringt, oder ein Anzeichen derselben, oder sie aufzunehmen fä-
hig ist«; 133 auf ähnliche Weise heißt etwas »ärztlich« auch nur »in Be-
ziehung auf die Arzneikunde, entweder weil es die Arzneikunde besitzt
oder zu ihr wohl befähigt oder ein Werk derselben ist […].« 134 Aber
diese Beispiele können für sich allein eine begriffliche Untersuchung
über die transgenerische Bedeutungseinheit des Seienden nicht erset-
zen. Indes führt Aristoteles eine derartige Untersuchung nicht durch;
er sagt nirgendwo, in welchem Sinne die »Beziehung auf Eines und eine
einzige Natur« ein Drittes zwischen Homonymie und Synonymie be-
stimmen könnte und sollte. Er begnügt sich damit, das Verhältnis des

132
Aristoteles, Categoriae et Liber de interpretatione, cap. 1, 1 a 6–12, hg. von L. Minio-
Paluello, Oxford: Oxford University Press 1947; dt. Die Kategorien, griechisch–deutsche
zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Ingo W. Rath, Stuttgart: Reclam 1998, Kap. 1,
S. 6 f.
133
Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1003 a 34–1003 b 1.
134 Ebd., Γ 2, 1003 b 1–3.

61
Grundtypen der Metaphysik

selbstständig existierenden Wesens (der »Substanz«) zu den übrigen


Kategorien wie auch zum Vermögen und der wirklichen Tätigkeit in
Einzelerörterungen über das »Sosein« (τὸ τί ἦν εἶναι) des Wesens 135
oder auch über dessen Stoff- und Formursache 136 aufzuweisen. Die »Be-
ziehung auf Eines und eine einzige Natur« bleibt aber bei ihm, wie
Aubenque zu Recht behauptet, letztlich eine Namensgleichheit – wenn
auch keine bloße, sondern eben eine nicht zufällige Namensgleichheit.

b. Die Erfindung einer Analogie des Seins

Was bei Aristoteles selbst eigentlich Treue zum aporetischen Reichtum


der Sache ist, stellt sich in der sich nur spät und langsam entfaltenden
Schultradition der Metaphysik von vornherein als ein Mangel an Ein-
deutigkeit dar. Diese vermeintliche Not gibt Anlass zur Entstehung des
»Widersinns«, der von Aubenque und Courtine enthüllt wird. Bereits
die griechischen Aristoteles-Kommentatoren und dann erst recht die
mittelalterlichen Scholastiker übertragen auf die transgenerische Be-
deutungseinheit des Seienden einen Begriff von Aristoteles, der seinem
ursprünglichen Sinn nach gar nicht zu ihr passt. Es handelt sich um den
Begriff der Analogie. Der Anhaltspunkt zu dieser Übertragung lässt
sich bei Aristoteles mühelos ausmachen. Im sechsten Kapitel des fünf-
ten Buches (Δ) der Metaphysik heißt es: »Ferner ist einiges der Zahl
nach Eines, anderes der Art, anderes der Gattung, anderes der Analogie
nach. Der Zahl nach nämlich das, dessen Stoff, der Art nach das, dessen
Begriff einer ist, der Gattung nach das, was derselben Form der Katego-
rie angehört, der Analogie nach, was sich ebenso verhält wie ein anderes
zu einem anderen.« 137 An dieser Stelle wird die Analogie als eine trans-
generische Einheit behandelt. Deshalb bietet sie sich – zumindest
scheinbar – dazu an, auf die Bedeutungseinheit des Seienden angewandt
zu werden. Aber im Einklang mit der griechischen Mathematik versteht
Aristoteles unter Analogie, wie überall, so auch hier eine Verhältnis-
gleichheit zwischen je zwei Termini: Wie A sich zu B verhält, so verhält
sich C zu D (A : B = C : D). (Im Spezialfall können dabei die beiden mitt-
leren Termini miteinander identisch sein: A : B = B : C.) Diese Struktur

135
Ebd., Z 5, 1031 a 1–14.
136
Ebd., H 2, 1042 b 10–11.
137 Aristoteles, Metaphysik, Δ 6, 1016 b 31–35.

62
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

fällt mit der »fokalen« Verbindungsart, die eine Beziehung mehrerer


(unbestimmt vieler) Termini zu ein und demselben Terminus ist, kei-
neswegs zusammen. Der »Widersinn«, von dem Aubenque und Cour-
tine sprechen, besteht gerade darin, dass in der Tradition der Begriff der
Analogie trotz dieser strukturalen Disparatheit auf die transgenerische
Bedeutungseinheit des Seienden übertragen wird.
Welche Beweggründe drängen die verschiedenen Denker und Ge-
lehrten dazu, sich über einen so offensichtlichen Unterschied zwischen
den beiden Strukturen hinwegzusetzen? Aus Courtines Überlegungen
geht folgende Antwort auf diese Frage hervor: Die platonischen und
neuplatonischen Überzeugungen der griechischen Aristoteles-Kom-
mentatoren bereiten zu dieser fragwürdigen Übertragung den Boden
vor, selbst wenn diese Kommentatoren (bis auf eine einzige Ausnahme)
von einer Analogie des Seins nicht ausdrücklich sprechen; zur Voll-
endung wird aber das begonnene Werk erst von den mittelalterlichen
Scholastikern gebracht, die wiederum dem Widersinn durch weitere
Unterscheidungen die Schärfe nehmen.
Bereits Alexander von Aphrodisias setzt neue Akzente, indem er
die aristotelische Bezeichnung des selbstständig existierenden Wesens
(der »Substanz«) als »das erste und eigentliche Seiende« (τὸ πρώτωϚ
καὶ κυρίωϚ ὄν) aufgreift und im Hinblick auf diese Bezeichnung die
von Aristoteles gesuchte allgemeine Wissenschaft als eine Wissenschaft
vom ersten und eigentlichen Seienden bestimmt. 138 Diese ersttheoreti-
sche (protologische) Interpretation des Allgemeinen (katholou) beruht
bei ihm auf einer Umdeutung der »Beziehung auf Eines und auf eine
einzige Natur«: Er versteht diese Beziehung nunmehr als eine Teilhabe
im platonischen Sinne. Dadurch wird aber die Zurückführung auf ein
Erstes 139 in eine Ableitung aus dem Ersten verwandelt, indem alle ande-
ren Seienden von ihm »ihr Sein erhalten«. 140 Schon bei Alexander von
Aphrodisias deutet sich zugleich ein Stufengang der Teilhabe an: Vom

138
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [Commentaria
in Aristotelem Graeca (weiterhin abgekürzt als »CAG«), 23 Bände, Berlin: Georg Reimer
1882–1909, Bd. I], hg. von Michael Hayduck, Berlin: Georg Reimer 1891, S. 244, Zeilen
15–20; vgl. Alexander of Aphrodisias, On Aristotle Metaphysics 4, übersetzt von Arthur
Madigan, London: Duckworth 1993, S. 18.
139
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Γ 2, 1004 a 25: »[…] πάντα πρὸϚ τὸ πρῶτον ἀναφέ-
ρεται […]«.
140
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [CAG, Bd. I],
S. 245, Zeilen 3–5; eng. S. 19.

63
Grundtypen der Metaphysik

ersten Seienden erhält jedes andere Seiende ein Sein, das »seinem We-
sen, seiner Aufnahmefähigkeit, seiner Empfangsbereitschaft« gemäß
ist. 141 Von einer Analogie des Seins ist dabei noch nicht ausdrücklich
die Rede, aber der Sache nach geht es bereits um eine Verhältnisgleich-
heit unter den Seienden: Das Sein des einen Seienden verhält sich zu
seinem eigenen Wesen so, wie sich das Sein des anderen Seienden zu
dessen Wesen verhält.
Diese Auffassung von der Bedeutungseinheit des Seienden ist be-
reits bei Alexander von Aphrodisias zugleich ein entscheidender Schritt
auf dem Weg zur Ontotheologie. Die ersttheoretische Interpretation des
Allgemeinen schließt den bei Aristoteles sich gerade eben andeutenden
Kreislauf von Gründen und Begründen beinahe schon ab. 142 Zwar ver-
steht Alexander von Aphrodisias unter dem ersten Seienden zunächst
nur das selbstständig existierende Wesen als solches. Aber er fasst dieses
erste Seiende bereits als »Grund und Ursache des Seins« (ἀρχή τε και
αἰτία τοῦ εἶναι) aller anderen Seienden auf. 143 Zur vollwertigen onto-
theologischen Verfassung fehlt nur noch eine Verbindung zwischen den
sinnlich wahrnehmbaren, beweglichen (veränderlichen), daher auch
vergänglichen Wesen (Substanzen) und dem übersinnlichen, unbeweg-
lichen, unvergänglichen Wesen (der göttlichen Substanz). Aristoteles
betrachtet den Unterschied zwischen dem Vergänglichen und dem Un-
vergänglichen nicht etwa als einen Gegensatz zwischen zwei Arten
einer gemeinsamen Gattung, sondern als einen Unterschied – oder auch
Gegensatz – zwischen zwei verschiedenen Gattungen. 144 Daher hat bei
Aristoteles die Bedeutungseinheit des Terminus »Wesen« (oder »Sub-
stanz«) ihrerseits auch schon einen transgenerischen Zug. Dieser Um-
stand ebnet den Weg zu einer Gleichsetzung von zwei verschiedenen
Verhältnissen. Vielleicht sollte man dabei statt von Gleichsetzung eher
nur von einer Angleichung sprechen: Das Verhältnis zwischen dem un-
vergänglichen Wesen und den vergänglichen Wesen wird dem Verhält-
nis zwischen dem selbstständig existierenden Wesen überhaupt und
den übrigen Kategorien sowie dem Vermögen und der wirklichen Tätig-
keit angeglichen. Diese Angleichung ist bei Alexander von Aphrodisias

141 Courtine, Les catégories de l’être, S. 201.


142
Ebd., S. 201 und S. 204.
143
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [CAG, Bd. I],
S. 244, Zeile 19; eng. S. 19.
144 Aristoteles, Metaphysik, I 10, besonders 1059 a 9–10.

64
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

gewiss noch keine vollendete Tatsache, aber wir finden bei ihm bereits
eine deutliche Parallele zwischen den beiden Verhältnissen. 145
Diese Parallele hat zugleich zur Folge, dass bei dem »Kommenta-
tor«, wie er in der Spätantike genannt wird, nicht allein die von Aristo-
teles gesuchte allgemeine Wissenschaft den Charakter einer Wissen-
schaft vom Ersten annimmt, sondern zugleich die von Aristoteles als
Theologie verstandene Erste Philosophie eine eigentümliche Allgemein-
heit erhält. Denn sie handelt nicht nur vom unbeweglichen und unver-
gänglichen Wesen, sondern auch von allen anderen Wesen, insofern das
Sein dieser Wesen vom ersten Wesen abhängig ist. 146 Durch diese Be-
tonung der eigentümlichen Allgemeinheitsdimension, die der aristote-
lischen Ersten Philosophie zukommt, bringt bereits Alexander von
Aphrodisias die »katholou-protologische Zirkularität« beinahe zur
Vollendung. 147
Courtine zeigt, wie die von Alexander von Aphrodisias begonnene
Arbeit besonders von den Ammonios-Schülern Asklepios von Tralleis
und Johannes Philoponos in der Spätantike weitergeführt wird. Ammo-
nios Hermeiou, der ungefähr von 440 bis 520 lebte, lernte bei Proklos in
Athen Philosophie, bevor er in Alexandrien seine Schule gegründet
hatte. 148 Asklepios von Tralleis stützt sich in seinem Metaphysik-Kom-
mentar nicht allein auf Alexander von Aphrodisias und Ammonios Her-
meiou, sondern auch auf den Lehrer von Proklos, Syrianos, der in sei-
nem eigenen Metaphysik-Kommentar die aristotelische »Beziehung
auf Eines und eine einzige Natur« bereits ganz in die Nähe der Syno-
nymie, also der Gattungsgemeinsamkeit gebracht hatte.149 Asklepios
von Tralleis hat das Verhältnis des übersinnlichen Wesens zu den sinn-
lich wahrnehmbaren Wesen dem Verhältnis des selbstständig existie-
renden Wesens überhaupt zu den übrigen Kategorien sowie zum Ver-
mögen und der wirklichen Tätigkeit bereits restlos angeglichen. Er
kennt nur noch ein »ausgezeichnetes Seiendes« (τὸ κυρίωϚ ὄν), das

145
Alexandri Aphrodisiensis in Aristotelis Metaphysica Commentaria [CAG, Bd. I],
S. 266, Zeilen 8–14; eng. S. 45.
146
Ebd.
147
Courtine, Les catégories de l’être, S. 203 f.
148 Zu Ammonios Hermeiou und seiner Schule siehe Klaus Kremer, Der Metaphysik-

begriff in den Aristoteles-kommentaren der Ammonios-Schule, Münster: Aschendorff


1961.
149
Syriani Commentaria in Aristotelis Metaphysica [CAG, Bd. VI/1], hg. von G. Kroll,
Berlin: Georg Reimer 1902, S. 57, Zeilen 18–20.

65
Grundtypen der Metaphysik

allein über eine »selbstständige Wesensexistenz« (ὕπαρξιϚ) verfügt


und das Sein allen anderen Seienden zuteil werden lässt, und zwar ihrer
eigentümlichen Aufnahmebereitschaft und Empfangsfähigkeit ge-
mäß. 150 Dass etwas seiend ist, bedeutet demnach nichts anderes, als dass
es – je nach seinem Vermögen – an dem »ausgezeichneten Seienden«
teilhat. Damit ist hier der Stufengang der Teilhabe bereits völlig verein-
heitlicht. Diese gestufte Teilhabe an ein und demselben Seienden
kommt einer Gattungsgemeinschaft im Sinne der Synonymie äußerst
nahe. So hat Asklepios von Tralleis keine Schwierigkeiten mehr, sein
»ausgezeichnetes Seiendes« durch Heranziehung des Sonnengleichnis-
ses aus Platons Staat zu kennzeichnen. 151
Bei Johannes Philoponos entdeckt Courtine schließlich eine For-
mel, die den späteren lateinischen Ausdruck analogia entis geradezu
vorwegnimmt. Der Gott wollte – so Philoponos –, dass die anderen Din-
ge ihm vermöge ihrer Teilhabe am Sein und am Guten möglichst nahe
kommen, zugleich aber, dass ihre Ähnlichkeit mit ihm nicht bei allen die
gleiche ist, sondern ihnen »gemäß dem Verhältnis der Seienden« oder,
richtiger, der »Substanzen« (τῇ τῶν οὐσιῶν ἀναλογίᾳ) zuteil wird. 152 Es
ist allerdings kein Zufall, dass sich dieser Ausdruck in einem Werk fin-
det, das nicht der Deutung aristotelischer Schriften gewidmet ist, son-
dern sich vom Standpunkt des Christentums gegen den letzten großen
Denker der heidnischen Antike, den Neuplatoniker Proklos, wendet. In
seiner Auseinandersetzung mit Proklos bringt Johannes Philoponos die
neuplatonische Idee eines Stufengangs der Teilhabe gleichsam auf den
Punkt, ohne sie jedoch unmittelbar auf die zentrale Aporie der aristote-
lischen Metaphysik zu beziehen.
Mehr noch als von Johannes Philoponos wird diese neuplatonisch
angelegte Idee von Pseudo-Dionysios Areopagites weitergeführt und
dem lateinischen Mittelalter vermittelt. In der Hochscholastik wird die-
se Idee dann wieder mit der aristotelischen Tradition in Verbindung
gebracht. Die Vermengung der Analogie im ursprünglichen Sinne des

150
Asclepii Commentaria in Aristotelis Metaphysica [CAG, Bd. VI/2], hg. von Michael
Hayduck, Berlin: Georg Reimer 1888, S. 227, Zeilen 2–6.
151
Courtine, Les catégories de l’être, S. 208 f.
152 Johannes Philoponos: De aeternitate mundi – Über die Ewigkeit der Welt, griechisch–

deutsche zweisprachige Ausgabe, 5 Bände, übersetzt und eingeleitet von Clemens Schol-
ten, Turnhout: Brepols Publishers 2011, Fünfter Teilband, S. 1384 f. (Unter Berufung auf
die entsprechende Stelle in der Ausgabe von Hugo Rabe aus dem Jahre 1899 (S. 568,
Z. 9 f.), zitiert Courtine den Text in folgender Gestalt: τῇ τῶν ὄντων ἀναλογίᾳ).

66
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

Wortes mit der fokalen Verbindungsart kann den scharfsinnigen Den-


kern dieser Epoche nicht lange verborgen bleiben. Thomas von Aquin
bezeichnet die Verhältnisgleichheit zwischen je zwei Termini (A : B =
C : D) als convenientia proportionalitatis 153 und unterscheidet von ihr
die aristotelische »Beziehung auf Eines und eine einzige Natur« unter
dem Namen analogia attributionis. Mit einer »Analogie der Zuschrei-
bung« ist dabei gemeint, dass zum Beispiel das Seiende vom selbststän-
dig existierenden Wesen (der Substanz) »in erster Bedeutung« (per pri-
us), von den übrigen Kategorien oder auch dem Potentiellen und dem
Aktuellen »in abgeleiteter Weise« (per posterius) und in Rückbezie-
hung auf das Erste ausgesagt wird. Hier fällt die Vorstellung von einer
Rangordnung (per prius et posterius) als eine neue Idee auf. Offenbar
hat jedoch diese Rangordnung mit einer Verhältnisgleichheit (propor-
tionalitas) nichts zu tun. Mit einer gewissen Notwendigkeit erhebt sich
daher die Frage, ob diese Verbindungsart überhaupt »Analogie« ge-
nannt werden kann und soll. Diese Frage kommt jedoch zu spät. Zur
Zeit von Thomas von Aquin, der sich als erster auf den Unterschied
zwischen Verhältnisgleichheit und fokaler Verbindungsart besinnt, ist
sie längst schon entschieden. Der Widersinn kann nicht mehr behoben
werden, weil er sich inzwischen in einer verfestigten Tradition nieder-
geschlagen hat. Im Anschluss an die Forschungen von Alain de Libera 154
und Harry Austryn Wolfson 155 zeigt Courtine, wie Thomas von Aquin
den Terminus »convenientia« im Sinne von Analogie bei Albertus
Magnus vorgeprägt findet und wie eine jahrhundertelange Entwicklung
in der arabischen Philosophie von Al Fārābī und Avicenna zu Algazel
und Averroes im Hintergrund dieses Wortgebrauchs spürbar wird. 156
Im Anschluss an Pseudo-Dionysios Areopagites verwendet Tho-
mas von Aquin die Idee einer analogia attributionis zunächst dazu, eine

153
Thomas von Aquin, De veritate, qu. 2, a. 11 [Quaestiones disputatae, Bd. I, Turin:
Marietti 1964], S, 51.
154
Alain de Libera, »Les sources gréco-arabes de la théorie médiévale de l’analogie de
l’être«, in: Les études philosophiques (3–4/1989), S. 319–346, und »Archéologie et re-
construction. Sur la méthode en histoire de la philosophie médiévale«, in: Un siècle de
philosophie 1900–2000, S. 552–587.
155
Harry Austryn Wolfson, »The Amphibolous Terms in Aristotle, Arabic Philosophy
and Maimonides«, in: Harvard Theological Review 31 (1938), S. 151–173 (wieder abge-
druckt in: H. A. Wolfson, Studies in the History of Philosophy and Religion, hg. von
I. Twersky und Georges H. Williams, Cambridge (Mass.): Harvard University Press
1979).
156 Courtine, Inventio analogiae, S. 250–258.

67
Grundtypen der Metaphysik

gestufte Teilhabe an dem ersten Seienden auszudrücken. 157 Er fasst da-


bei die Teilhabe auf platonische Art als Nachahmung des vorbildlichen
Seienden auf. Später wird er diese Vorstellung von der analogia attri-
butionis daher als eine analogia imitationis bezeichnen. 158 Bald verlässt
er jedoch diesen platonisierenden Standpunkt, um an die Stelle von
Nachahmung und Teilhabe eine Abhängigkeit treten zu lassen, die auf
der Kausalität durch den Schöpfergott als wirkende Ursache beruht.
Dieser Fortgang von einer imitatio und participatio zu einer causa effi-
ciens, 159 die weit über die aristotelische Idee von einer »bewegenden
Ursache« im Sinne eines »Ursprungs der Bewegung« hinausgeht, gibt
dem Thomismus ein eigentümliches Gepräge innerhalb der mittelalter-
lichen Hochscholastik. Merkwürdigerweise war diese Eigentümlichkeit
auch von Thomisten lange verkannt worden. Étienne Gilson machte in
seinem 1948 veröffentlichten Werk L’être et l’essence als Erster deut-
lich, dass im Mittelpunkt des Thomismus die Lehre vom Sein als wirk-
licher Tätigkeit (actus essendi) steht 160 und dass sich diese Deutung mit
der Idee des Schöpfergottes als einer wirkenden Ursache des dem Ge-
schöpf je nach seinem Wesen zukommenden »Seinsaktes« untrennbar
verbindet. 161 Demnach ergibt sich die Bedeutungseinheit des Seienden
bei Thomas von Aquin aus der kausalen Abhängigkeit aller Seienden
von einem höchsten Seienden als gemeinsamem Seinsgrund (causa
essendi). 162
Diese Verbindung der Lehre von einer analogia attributionis mit
der Idee einer causa essendi scheint den Entstehungsprozess einer onto-
theologischen Verfassung der Metaphysik bereits zum Abschluss zu
bringen. So einfach sind die Dinge in Wahrheit jedoch nicht. Courtine
zeigt, dass die Lehre von der Analogie des Seins bei Thomas von Aquin
noch nicht vollendet ist. (Auch den Ausdruck analogia entis sucht man

157
Thomas von Aquin, In quattuor libros Sententiarum, liber I, dist. 3, qu. 1, a. 3 [Opera
omnia, hg. von Roberto Busa, Stuttgart und Bad Cannstatt: Frommann–Holzboog 1980,
Bd. I], S. 11.
158
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 44, a. 3, 5 Bände, Turin: Marietti und
London: Burns and Oates 1895, Bd. I, S. 302.
159
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 44, a. 1, Bd. I, S. 299; vgl. auch Thomas
von Aquin, Summa contra Gentiles, II, 15, Turin: Marietti und London: Burns and Oates
1901, S. 97–99.
160
Étienne Gilson, L’être et l’essence, Paris: Vrin 42000 (11948), S. 105 f. und 119.
161
Étienne Gilson, »Notes pour l’histoire de la cause efficiente«, in: Études Médiévales,
Paris: Vrin 1983, S. 167–191.
162 Courtine, Inventio analogiae, S. 281.

68
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

im Übrigen bei Thomas von Aquin vergebens.) Erst in der Spätscholas-


tik wird diese Lehre zur Vollendung gebracht, und zwar zunächst von
Thomas de Vio (dem späteren Kardinal Gaetan), der im ausgehenden
15. Jahrhundert bereits um eine Erneuerung der thomistischen Über-
lieferung bemüht ist, und dann von Francisco Suárez, der am Ende des
16. Jahrhunderts den Thomismus mit der inzwischen mächtig geworde-
nen Tradition des Scotismus zu versöhnen sucht. Courtine zeigt deut-
lich, wie weit sich dabei zum Beispiel Suárez von Thomas von Aquin
entfernt, indem er die analogische Bedeutungseinheit des Seienden
nicht mehr auf eine kausale Abhängigkeit aller Seienden von dem ers-
ten Seienden zurückführt, sondern im Wesentlichen auf eine Gattungs-
gemeinsamkeit, 163 die sich aus der grundlegenden Einheit des sach-
lichen Gehalts eines einheitlichen Seinsbegriffs ergibt. 164 Der Abstand
dieser Vorstellung von der thomistischen Idee eines gemeinsamen
Seinsgrunds lässt sich vor allem an der Behauptung ermessen, dass die
Geschöpfe nicht etwa »äußerlich« (extrinsece), vermöge ihrer Abhän-
gigkeit vom Sein des Schöpfergottes, »Seiende« genannt werden, son-
dern »auf Grund ihres eigenen und innerlichen Seins« (a proprio et
intrinseco esse). 165 Courtine fügt hinzu, dass Suárez diesen Gedanken
einer analogia attributionis intrinseca zwar im Gegensatz zu der von
Thomas de Vio etwa hundert Jahre früher vorgelegten Lehre von einer
analogia attributionis extrinseca 166 entwickelt, aber dem Kardinal Gae-
tan doch viel näher steht als Thomas von Aquin: Er teilt mit ihm die
gleichen Denkvoraussetzungen, unter denen »der Sinn der authentisch
thomistischen Fragestellung ein für alle Mal verborgen bleibt«. 167 Es
handelt sich dabei um Denkvoraussetzungen, die am Beginn des
14. Jahrhunderts mit der vor allem durch Johannes Duns Scotus herbei-
geführten Wende der Metaphysik aufgekommen waren. Der Gedanke,
dass dem Begriff des Seienden ein sachlich einheitlicher Gehalt zu-
kommt, steht bei Suárez im Mittelpunkt, aber er findet sich auch bei

163
Ebd., S. 279 und S. 301. Vgl. Courtine, Suárez et le système de la métaphysique,
S. 278 f. und S. 285 f.
164
Siehe Courtine, Inventio analogiae, S. 294–305.
165
Suárez, Disputationes metaphysicae, XXVIII, 3, 15. (Dieses Werk von Suárez wurde
im Jahre 1597 zum ersten Mal veröffentlicht.)
166
Thommaso de Vio (»Il Gaetano«), De nominum analogia, hg. von P. N. Zammit,
Rome: Institutum Angelicum 1952, Cap. II, § 8. (Diese kleine Abhandlung ist zum ersten
Mal im Jahre 1498 erschienen.)
167 Courtine, Inventio analogiae, S. 338.

69
Grundtypen der Metaphysik

dem Kardinal Gaetan. Dieser Gedanke zeugt aber bei beiden Autoren
von einem scotistischen Einfluss. 168 Wir werden sehen, dass auch die
ontotheologische Verfassung der Metaphysik erst unter den veränder-
ten Denkbedingungen zur Vollendung gelangt, die mit dem scotisti-
schen Neubeginn der Metaphysik vorherrschend werden.
Die Auseinandersetzung von Suárez mit dem Kardinal Gaetan
zeigt, wie sich die beiden Gegner gleichermaßen von Thomas von
Aquin entfernen. Die spätscholastische Lehre von der Analogie des
Seins in ihren beiden Hauptversionen (analogia attributionis intrinseca
vs. analogia attributionis extrinseca) ist ein Beispiel für ein »dunkles
Gesetz« 169 der Philosophiegeschichte: Sobald eine Idee vollständig ent-
faltet und festgelegt wird, so dass sie als ein fertig vorliegendes Lehr-
stück in einer Schultradition weitergegeben werden kann, büßt sie ihr
eigentliches Anregungspotential ein. Die Vorgeschichte dieser Lehre bei
den griechischen Aristoteles-Kommentatoren und ihre erste Ausarbei-
tung bei Thomas von Aquin macht dagegen deutlich, wie ein Gedanke
bereits eine, wie Courtine sagt, »topische« Wirkung entfalten kann,
bevor er als socher ausgesprochen, systematisch gegliedert und formel-
haft festgehalten wird. 170 Das Wort »topisch« verweist hier auf eine
»Topik« oder »Topologie«, die vermutlich im Sinne von Heideggers
»Topologie des Seyns« zu verstehen ist. 171 Es handelt sich dabei um eine

168
Ebd., S. 337. Im Falle des Kardinals Gaetan dürfte dieser Einfluss durch zeitgenössi-
sche Scotisten wie Antonius Trombetta vermittelt worden sein. Courtine hebt den Ein-
fluss von Duns Scotus auf Suárez hervor. Er beruft sich dabei auf die verwandten Be-
strebungen von Honnefelder (Scientia transcendens, S. 217–247) und von Walter
Hoeres (»Francis Suarez and the Teaching of John Duns Scot on Univocatio entis«, in:
John K. Ryan und Bernardine M. Bonansea (Hg.), John Duns Scotus 1265–1965, Wa-
shington: The Catholic University of America Press 1965, S. 263–290), aber er verweist
auch auf Rolf Darges Buch Suárez’ transzendentale Seinsauslegung und die Metaphy-
siktradition (Leiden und Boston: Brill 2004), in dem diese Interpretationsrichtung gerade
in Frage gestellt wird. Vgl. auch Rolf Darge, »Die Grundlegung einer allgemeinen Theo-
rie der transzendentalen Eigenschaften des Seienden bei F. Suárez«, in: Zeitschrift für
philosophische Forschung 54 (2000), S. 341–364.
169
Courtine, Les catégories de l’être, S. 211.
170
Ebd., S. 210.
171
Siehe Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens 1910–1976 [Gesamtaus-
gabe, Bd. 13], hg. von Hermann Heidegger, Frankfurt am Main: Klostermann 1983,
S. 84, ein Ausdruck, zu dem Otto Pöggeler – im Ausgang vom Motiv der »Erörterung«
in Unterwegs zur Sprache und anderen Texten – eine höchst eigenständige Interpreta-
tion vorgelegt hat. Siehe Otto Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen,
Neske 21983 (11963), S. 280–299.

70
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

Geschichte untergründiger Denkprozesse, die zugleich etwas vom Un-


gedachten der Metaphysik verraten.
Allerdings scheint Courtine in Inventio analogiae auf die Idee von
Topik oder Topologie zu verzichten. Hier spricht er – dem Beispiel an-
derer französischer Mittelalterforscher wie Alain de Libera 172 oder Joël
Lonfat 173 folgend – nur noch von »Archäologie«. 174 Diese Änderung in
seinem Sprachgebrauch hängt vielleicht damit zusammen, dass er sich
nunmehr nicht damit begnügt, Heideggers Idee einer ontotheologi-
schen Verfassung der Metaphysik verschiedenen Autoren anzupassen,
um ihre Geschmeidigkeit zu erhöhen, sondern vielmehr dazu übergeht,
ihre tiefere Berechtigung zu bestreiten. Zwar stellt er die Treffsicherheit
von Heideggers Kennzeichnung der Metaphysik nicht in Frage. Im Ge-
genteil, er zeigt etwa am Beispiel der Quaestiones metaphysicales von
Aegidius von Rom, wie die von Heidegger herausgestellten Grundzüge
der ontotheologischen Verfassung etwa gleichzeitig mit Duns Scotus
auch bei Anhängern von Thomas von Aquin charakteristisch für das
Verständnis der Metaphysik werden. 175 Aber Heideggers Glauben an
die Möglichkeit einer Wesensbestimmung »der« Metaphysik teilt er
mitnichten, und die Idee eines »Schrittes zurück« betrachtet er mit zu-
nehmenden Zweifeln. Er verwirft den Gedanken, dass die Geschichte
der Metaphysik als eine vollendete Geschichte begriffen werden könnte,
in der dem platonisch–aristotelischen Anfang die Hegel’sche Wieder-
holung und Zusammenfassung als Abschluss entspräche. 176 Deshalb
stellt er seine gesamte Untersuchung ins Zeichen seiner Überzeugung
vom »Ende des ›Endes der Metaphysik‹«. 177
Emmanuel Levinas stellte bereits im Jahre 1968 fest: »[…] in un-
seren Tagen [findet] die Metaphysik im Zu-Ende-gehen kein Ende, und
das Ende der Metaphysik ist unsere uneingestandene, weil mit jedem
Geständnis unvereinbare Metaphysik.« 178 Nahezu vier Jahrzehnte spä-
172
Alain de Libera, »Genèse et structure des métaphysiques médiévales«, in: Jean-Marc
Narbonne und Luc Langlois (Hg.), La métaphysique, son histoire, sa critique, ses enjeux,
Paris, Québec: Vrin und Presses de l’Université Laval 1999, S. 159–181.
173
Joël Lonfat, »Archéologie de la notion d’analogie, d’Aristote à saint Thomas d’Aquin«,
in: Archives d’Histoire Littéraire et Doctrinale du Moyen Âge 71 (2004), S. 35–107.
174
Courtine, Inventio analogiae, S. 9.
175 Ebd., S. 360 f.

176
Ebd., S. 361.
177
Ebd., S. 13.
178
Emmanuel Levinas, »Humanisme et an-archie«, in: Humanisme de l’autre homme,
Paris: Fata Morgana 1972, S. 76; dt. Humanismus des anderen Menschen, übersetzt von

71
Grundtypen der Metaphysik

ter zieht Courtine nur die letzte Konsequenz aus dieser scharfsinnigen
Beobachtung, indem er das »Ende der Metaphysik« für beendet erklärt.

4. Der henologische Sonderweg

Der lange Weg zur Ontotheologie ist nicht der einzige Weg, der von der
Antike zum Mittelalter führt. Die bereits mit Parmenides und dann erst
recht mit Platon anhebende, aber von Plotin später in erheblichem Ma-
ße radikalisierte Besinnung auf das Eine steht am Ursprung einer Geis-
tesströmung, die sich der aristotelischen Tradition der Metaphysik –
trotz aller Verbindung oder sogar Verflechtung mit ihr – niemals restlos
einfügt. Die platonisch-plotinische Lehre vom Einen – die »Henologie«
– markiert einen Sonderweg, der in der Tradition – wie in Deutschland
besonders Werner Beierwaltes und seine Schüler darauf hingewiesen
haben – bis zu Schelling und Hegel immer wieder betreten wird. 179
Der Sonderwegcharakter der platonisch-plotinischen Henologie
hängt damit zusammen, dass das Eine in diesem Denkanasatz höher
gestellt ist als das Seiende als Seiendes. Am Ende des sechsten Buches
der Politeia spricht schon Platon davon, dass die Idee des Guten »jenseits
des Seins« (ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ) angesiedelt sei. 180 Aus Platons »un-
geschriebener Lehre«, mit der sich im vergangenen Jahrhundert von
Léon Robin und Julius Stenzel bis zu Hans Joachim Krämer, Konrad
Gaiser, Thomas Szlezák und Jens Halfwassen eine ganze Reihe hervor-
ragender Forscher eingehend beschäftigt hat, geht zugleich hervor, dass
hier das »Gute« vielleicht nur ein anderes Wort für die Bezeichnung des
»Einen« ist, dem – zusammen mit der »unbestimmten Zweiheit« (ἀό-
ριστοϚ δυάϚ) – in Platons prinzipientheoretischer Spekulation tatsäch-
lich die Hauptrolle zukommt. Nach den Forschungen von Hans-Joachim

Ludwig Wenzel, Hamburg: Meiner 1989, S. 64 (geänderte Übersetzung). Ich danke mei-
ner Mitarbeiterin, Frau Dr. Inga Römer, dafür, dass sie mich auf diese Stelle bei Levinas
aufmerksam gemacht hat.
179
Siehe Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt am Main: Kloster-
mann 22004 (11972); ders., Identität und Differenz, Frankfurt am Main: Klostermann
2
2011 (11980); weiterhin Jens Halfwassen, Hegel und der spätantike Platonismus. Unter-
suchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und ge-
schichtlicher Deutung [Hegel-Studien, Beiheft 40], Hamburg: Meiner 2005.
180
Platon, Politeia, 509 b [Opera, Bd. IV] (= Res publica, hg. von Karl Friedrich Her-
mann, Leipzig: Teubner 1906, S. 199); dt. Der Staat, übersetzt von Karl Vretska, Stutt-
gart: Reclam 2003, S. 323.

72
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

Krämer zur Geschichte der Geistmetaphysik in der Antike führt eine


einheitliche Traditionslinie von Platon über seinen Neffen und Nach-
folger an der Spitze der Akademie, Speusippos, und manche Denker
des mittleren Platonismus (wie etwa Moderatos) zu Plotin, der das Pla-
tonwort ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ dazu verwendet, das Eine – im Gegensatz
zu einer anderen, wohl auf Xenokrates und Aristoteles zurückgehenden
und zur Zeit des mittleren Platonismus geradezu vorherrschenden Tra-
dition – von der Seinstotalität des Geistes zu unterscheiden. 181
Woher stammt jedoch die Sonderstellung des Einen? Das ist die
allererste Frage, die in einer Betrachtung über den henologischen Son-
derweg eine Antwort verlangt.

a. Die Sonderstellung des Einen in der Ideenlehre

Die Einsicht in die Jenseitigkeit des Einen gründet sich auf die Logik der
platonischen »Teilhaberelation« (μέθεξιϚ, μετοχή). Es lohnt sich, auf
diesen Zusammenhang kurz einzugehen, um deutlich zu machen, dass
die zentrale These der platonisch-plotinischen Henologie keineswegs
einfach aus einer geistigen Schau oder einer unio mystica erwächst,
sondern sich durchaus als Ergebnis vernünftig nachvollziehbarer Über-
legungen begreifen lässt.
Platon versteht unter einer »Idee« bekanntlich eine übersinnliche
Einheit »über« einer Vielheit sinnlich wahrnehmbarer Erscheinungen,
die – wie er sagt – an ihr »teilhaben«. Es gibt schöne Gesichter, aber es
gibt auch schöne Landschaften. Nach der platonischen Logik können
Gesichter und Landschaften deshalb trotz all ihrer Verschiedenheit glei-
chermaßen »schön« genannt werden, weil sie an der einzigen Idee des
Schönen teilhaben.
Dagegen wird diese Idee nicht aus demselben Grund als »schön« –
oder vielmehr als »das« Schöne – bezeichnet. Das »Selbstschöne« (τὸ
αὐτόκαλον), wie es in der platonischen Tradition heißt, ist seinerseits
nicht durch Teilhabe am Schönen schön, sondern weil es das Schöne
selbst ist. Der so genannten »Selbstprädikation« – also der Behauptung,
die Idee des Schönen sei schön, die Idee des Guten sei gut usw. –, die
nach dem Zeugnis des Platonischen Parmenides früh schon als Einwand

181
Vgl. Hans-Joachim Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik, Amsterdam: Grüner
1967 (11964).
2

73
Grundtypen der Metaphysik

gegen die Ideenlehre formuliert wurde, kann die Schärfe ebendeshalb


genommen werden: Die Idee des Schönen wird nicht in demselben Sin-
ne »schön« genannt wie die an ihr teilhabenden Erscheinungen der
sinnlich wahrnehmbaren Welt.
Von Teilhabebeziehungen kann aber auch im Ideenkosmos die Re-
de sein. Denn eine Idee kann durchaus an anderen Ideen teilhaben. Zwei
Ideen können sich zum Beispiel wie Art und Gattung zueinander ver-
halten. So hat etwa die Idee des Menschen (als Art) an der Idee des
Lebewesens (als Gattung) teil. Ebendeshalb ist eine Idee – zumindest in
der Regel – nicht einfach eine Einheit über einer Vielheit verschiedener
Erscheinungen, die alle an ihr teilhaben, sondern zugleich besteht sie
selbst aus einer Vielfalt unterschiedlicher Teilhabebeziehungen, die sie
mit anderen Ideen verbinden. Das ist der Sinn des Ausdrucks »Verflech-
tung der Ideen« (συμπλοκή τῶν εἴδων), der zur Charakterisierung der
ausgereiften Ideenlehre dem Sophist entnommen wird.
Platon zeigt in diesem Dialog ebenfalls, dass es sogar Ideen gibt, an
denen jede andere Idee teilhat. Zu diesen als »höchste Gattungen« (μέ-
γιστα γένη) bezeichneten Ideen gehört die Idee des Seienden, aber auch
die des Selben und ebenso die des Anderen. Damit ist die Reihe solcher
Ideen auch nicht zu Ende. Plotin wird zumindest den Platonischen So-
phist so verstehen, dass auch die Idee des Stillstands (der Ruhe) und die
Idee der Bewegung (der Veränderung) als Glieder der Reihe gemeint
sind. 182
Es ist wichtiger noch, dass die Idee des Guten und die Idee des
Einen auch in Platons Augen bereits als allumfassende Ideen gelten.
Selbst innerhalb dieser erlesenen Gruppe haben sie sogar ein weiteres
Unterscheidungsmerkmal, das ihnen eigentümlich ist: Sie – und sie al-
lein – haben an keiner anderen Idee teil, nicht einmal an der des Seien-
den. Daher sind sie »jenseits des Seins«: ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ.
Der Grund für diese Behauptung ist im Falle des Einen unmittelbar
einleuchtend. Er besteht darin, dass es der Natur des Einen nach plato-
nischer Logik widerspricht, eine Vielfalt verschiedener Teilhaberelatio-
nen in sich zu vereinigen. Denn alles, was Eines nur im Sinne einer
Einheit von Vielem – das heißt im Sinne einer Ganzheit, einer Gesamt-
heit oder einer Totalität – ist, kann einzig und allein deshalb trotz der

182
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer, Oxford: Ox-
ford University Press 1977], V 1, 4, 34–40; dt.: Ausgewählte Schriften, übersetzt von
Christian Tornau, Stuttgart: Reclam 2001, S. 88.

74
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

Vielfalt seiner Inhalte Eines sein, weil es zugleich an dem Einen selbst
teilhat. Ein Ganzes wird also immer nur durch Teilhabe als Eines be-
zeichnet. Dagegen wird das Eine als solches oder das Selbsteine (τὸ αὐ-
τόεν) keineswegs durch Teilhabe als Eines – oder vielmehr als »das«
Eine – charakterisiert; wie Plotin sagt: »nicht so, dass es noch etwas
anderes und außerdem eins ist«. 183 Ebendeshalb kann das Selbsteine
unmöglich als eine Einheit von Vielem – und daher auch nicht als Ganz-
heit, Gesamtheit oder Totalität – aufgefasst werden. Nach Plotin zieht
Platon in der Ersten Hypothese des Parmenides gerade diesen Schluss,
indem er dem Einen alle Vielheit abspricht.
Was das »Gute« betrifft, so ist es nur ein anderer Name für das
Eine: »So daß das Gute ihm [dem Einen] nicht erst zukommt – es ist es
ja selber.« 184 Das Eine wird als das »Gute« bezeichnet, wenn es nicht in
sich selbst, sondern nur in Bezug auf das aus ihm Hervorgehende und
daher nach ihm Kommende – das heißt in Bezug auf den Geist, die Seele
und die sinnlich wahrnehmbare Welt – betrachtet wird.
Aus diesen Überlegungen geht deutlich hervor, dass sich die Ein-
sicht in die Jenseitigkeit des Einen bei Plotin, ja, wohl auch schon bei
Platon, aus der Logik der Teilhaberelation ergibt: Wie etwa die Dividie-
rungsfunktion in der Arithmetik bei der Null eine Singularitätsstelle
hat, so hat die Teilhaberelation in der platonischen Logik eine Singula-
ritätsstelle beim Einen. Diese Singularitätsstelle ergibt sich nicht etwa
daraus, dass das Eine im Sinne der platonischen »Selbstprädikation«
von vornherein selbst als »Eines« bezeichnet wird und daher nicht mehr
als »Vieles« angesprochen werden kann. Eine solche Begründung wäre
im Sinne der platonischen Logik gar nicht stichhaltig. Denn ein Ganzes
wird auch als »Eines« bezeichnet, es kann aber gleichwohl zugleich als
»Vieles« angesprochen werden. Das trifft sogar auf den Geist zu, den
Plotin mit der Totalität des wahrhaft Seienden (der Gesamtheit der Ide-
enmannigfaltigkeit) gleichsetzt. Eine Singularitätsstelle der Teilhabe-
relation ergibt sich in der platonischen Logik vielmehr deshalb beim
Einen, weil das Selbsteine – im Gegensatz zu jedem Ganzen und aller
Gesamtheit oder Totalität – nicht durch Teilhabe am Einen »Eines«
heißt – »nicht so, dass es noch etwas anderes und außerdem eins ist« –,

183
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 5, 32–
33; dt. S. 69.
184
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 29–
30; dt. S. 71.

75
Grundtypen der Metaphysik

sondern weil es sich vom Einen selbst nicht unterscheidet, vielmehr mit
ihm restlos zusammenfällt. Diese Erkenntnis führt dazu, dass das
Selbsteine bereits bei Platon von allen anderen Ideen abgesondert und
als erster Anfang und Ursprung in einem »prinzipientheoretischen Ab-
leitungssystem«, wie man es seit Philip Merlans From Platonism to
Neoplatonism bezeichnet, angesiedelt wird.
Aber nicht Platon, sondern erst Plotin wird darauf aufmerksam,
dass infolgedessen dem Einen alle Bestimmtheit und jede eindeutig um-
rissene Gestalt notwendig abgeht, so dass es überhaupt nicht mehr als
»Idee« gelten kann, da »Idee (ἰδέα)« im platonischen Sprachgebrauch
nichts anderes bedeutet als eben nur »Form (εἶδοϚ)«. Dagegen wird das
Eine in den Enneaden ausdrücklich als »formlos (ἀνείδεον)« angespro-
chen, wenn freilich auch nicht in demselben Sinne wie die Materie, die
deshalb formlos ist, weil es ihr an Form mangelt, wogegen das Eine als
der Ursprung von Form und Gestalt zu gelten hat. 185 Besonders tief-
sinnig sind die Betrachtungen, die Plotin in seinem Werk der Form-
losigkeit des Einen widmet. 186 Sie verbinden sich mit dem Gedanken,
dass das Eine, so wie es jenseits des Seins angesiedelt ist, »unendlich«
ist. 187 Freilich wird das Eine wiederum nicht in demselben Sinne als
»unendlich« (ἄπειρον) angesprochen wie die Materie, die nur deshalb
nicht endlich ist, weil sie jeglicher Bestimmtheit und Begrenzung (πέ-
ραϚ) bar und beraubt ist. Die Unendlichkeit des Einen wird dagegen
nicht als Mangel an allem bestimmten und begrenzten Sein, sondern
als Überschuss gegenüber der Seinstotalität – und auch nur in Abhe-
bung von ihr – greifbar. Wir wollen das so verstandene Unendliche – im
Gegensatz zum »Privativ-Unendlichen« der Materie – als das »Diakri-
tisch-Unendliche« bezeichnen. Zum ersten Mal in der gesamten Tradi-
tion kommt damit bei Plotin die Einsicht in den Unterschied zwischen
Unendlichkeit und Seinstotalität auf.
Es ist daher kein Wunder, wenn in der platonisch-plotinischen He-
nologie immer wieder eine Alternative zu aller Seinsmetaphysik ge-
sehen wird. Auch im französischen Forschungskontext der letzten Jahr-
zehnte ist das der Fall.

185
Siehe Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 7,
32, 9–10; dt. S. 292 f.
186
Vgl. Plotinus, Enn., [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 7,
32–36 und VI, 9, 7; dt. S. 292–300 und S. 72–74.
187
Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–
12; V 5, 10, 22–11, 5; VI 5, 9, 36–37 und 12, 5; dt. S. 70; S. 201 f.; S. 137.

76
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

b. Theorien über die henologische Alternative zur


Seinsmetaphysik

Pierre Aubenque geht in einem Vortragtext aus dem Jahre 1969 so weit,
die Henologie nicht allein als eine Ȇberwindung der klassischen grie-
chischen Ontologie« aufzufassen, sondern sogar der ontotheologischen
Verfassung der Metaphysik gegenüberzustellen. 188 Aristoteles habe – so
meint er – seine Betrachtungen über das Seiende als Seiendes auf eine
Theorie des selbstständig existierenden Wesens, der »Substanz« (οὐ-
σία) zugespitzt und sei dabei von vornherein dazu geneigt gewesen,
als Substanz in erster Linie das beharrliche »Substrat« (ὑποκείμενον)
von Veränderungen gelten zu lassen. 189 Er habe damit – sagt Aubenque
im Anschluss an Heidegger – die bereits in ihrer Geltung eingeschränk-
te Substanzmetaphysik (die »Ousiologie«) durch eine weitere Ein-
schränkung in eine Lehre von der »ständigen Anwesenheit« oder »Ge-
genwärtigkeit« (also in eine »Parousiologie«) verwandelt und sei damit
vom uneingeschränkten Allgemeinheitsanspruch seiner Besinnung auf
das Seiende als Seiendes abgekommen. 190 Dieser Tendenz trete nun die
plotinische Henologie entgegen, indem sie die platonische Denkfigur
ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ aufgreift und das Eine dem substantiellen Sub-
stratsein gegenüberstellt. 191
In diesem Vortragstext stützt sich Aubenque bereits auf ein For-
schungsergebnis von Pierre Hadot, der in einem anonymen – von ihm
selbst aber dem Porphyrios zugeschriebenen – Kommentar über Platons
Parmenides eine deutliche Unterscheidung zwischen dem (sprachlich
durch den substantivierten Infinitiv τὸ εἶναι ausgedrückten) Seinsvor-
gang oder Seinsvollzug (αὐτὸ τὸ ἐνεργεῖν καθαρόν, […] αὐτὸ τὸ εἶ-
ναι τὸ πρὸ τοῦ ὄντοϚ) und dem Sein oder der Seiendheit des substan-
tiellen Seienden (οὐσία) entdeckt hat. 192 Diese Unterscheidung wurde
übrigens, wie Hadot ebenfalls gezeigt hat, von Marius Victorinus in

188
Pierre Aubenque, »Plotin et le dépassement de l’ontologie grecque«, in: Le néoplato-
nisme, Colloque international du CNRS, Paris: Éditions du CNRS 1971, S. 101–109,
hier: S. 104.
189 Ebd., S. 103 (unter Berufung auf Aristoteles, Metaphysica, Z 3, 1029 a 1).

190
Ebd., S. 104.
191
Ebd., S. 101 f.
192
Pierre Hadot, Porphyre et Victorinus, Paris: Études Augustiniennes 1968, Bd. II,
S. 104.

77
Grundtypen der Metaphysik

seiner christlichen Trinitätslehre aufgegriffen und weitergeführt, um


dann von Boethius in den Traktat De hebdomadibus 193 eingebaut und
durch die Vermittlung dieser in den nachfolgenden Jahrhunderten viel
gelesenen Schrift dem Mittelalter vermacht zu werden. 194 Vorbereitet
durch den eigenen Wortgebrauch von Plotin, der dem Einen selbst noch
in seiner völligen Seinstranszendenz (ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ) eine
»Wirklichkeit (ὑπόστασιϚ)« zukommen ließ, ist es weiterhin im späte-
ren Neuplatonismus – bei Proklos und Damaskios – auch unabhängig
vom gerade erwähnten Kommentar über Platons Parmenides üblich
geworden, ein reines Sein unter dem Namen ὑπόστασιϚ oder ὕπαρξιϚ
von der Seiendheit (οὐσία) abzuheben. 195 Damit stand im französischen
Forschungskontext bereits am Ende der 1960er Jahre fest, dass der Un-
terschied zwischen Sein und Seiendem (die »ontologische Differenz«) –
Heideggers Behauptung entgegen – keineswegs in der gesamten Antike
in Vergessenheit geraten war, sondern im Gefolge von Plotin vielmehr
ausdrücklich zur Sprache gebracht wurde. 196
Aubenque versuchte den Entdeckungen von Hadot Rechnung zu
tragen, indem er die plotinische Henologie selbst noch innerhalb des
Neuplatonismus einer ontologisch orientierten Richtung gegenüber-
stellte, die er allerdings nicht durch eine Lehre vom substantiellen Sein,
sondern durch eine Lehre vom reinen Seinsvorgang oder Seinsvollzug
(acte d’être) charakterisierte. 197 Diese Zweiteilung nahm später Reiner
Schürmann zum Ausgangspunkt merkwürdiger Betrachtungen, die ihn
dazu hinleiteten, in Plotin einen Vorgänger von Heidegger zu ent-
decken und im henologischen Denkansatz nicht mehr bloß die Über-

193 Siehe Boethius, Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint cum non sint sub-
stantialia bona (= De hebdomadibus), in: The Theological Tractates, Loeb Classical Li-
brary, hg. von H. F. Stewart und E. K. Rand, Cambridge (Mass.) und London: Harvard
University Press 1918, S. 38–51. Diese Schrift dreht sich um eine Unterscheidung zwi-
schen dem »Sein selbst (ipsum esse)« und »dem, was ist (id, quod est)«.
194
Siehe Pierre Hadot, Plotin, Porphyre. Études néoplatoniciennes, Paris: Les belles let-
tres 2000, S. 81 und 121 f. Vgl. Pierre Hadot, »Forma essendi. Interprétation philologique
et interprétation philosophique d’une formule de Boèce«, in: Les Études classiques 38
(1970), S. 143–156.
195 Hadot, Plotin, Porphyre. Études néoplatoniciennes, S. 81 f.

196
Im Umkreis von Werner Beierwaltes wurde dies auch in Deutschland oft betont.
Siehe etwa Christoph Horn, Plotin über Sein, Zahl und Einheit. Eine Studie zu den
systematischen Grundlagen der Enneaden, Stuttgart und Leipzig: Teubner 1995, S. 13 f.
197 Pierre Aubenque, »Plotin et le dépassement de l’ontologie grecque«, S. 107 f.

78
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

windung der klassischen griechischen Ontologie, sondern geradezu die


Überwindung der Metaphysik als solcher zu erblicken. 198
In seinem aufsehenerregenden Aufsatz stützte sich Schürmann so-
wohl auf Aubenque als auch auf Hadot, um selbst noch die ontologisch
orientierte Richtung innerhalb des Neuplatonismus von der Henologie
her zu deuten. Dieser Umgang mit der Aubenque’schen Zweiteilung
fand in einer eigenartigen Vereinigung der beiden Ansätze seinen Aus-
druck. Schürmann machte einen Unterschied zwischen zwei Arten der
ontologischen Differenz, indem er dem »metaphysisch« genannten Un-
terschied zwischen der Seiendheit und dem Seienden den im Hinblick
auf den Neuplatonismus als »henologisch« bezeichneten Unterschied
zwischen dem Einen und dem Sein gegenüberstellte. Er sah eine Ge-
meinsamkeit zwischen Plotin und Heidegger in ihrem »Schritt zurück
von der metaphysischen Differenz zwischen der Substantialität und den
Dingen« 199 zu einer andersartigen, bei Plotin eindeutig henologisch an-
gelegten Differenz, und er versuchte auch die von Hadot dem Porphy-
rios zugeschriebene Unterscheidung zwischen dem reinen Seinsvor-
gang oder Seinsvollzug (τὸ εἶναι) und der Seiendheit (οὐσία) der
henologischen Differenz anzugleichen. 200 Dazu fand er nötig, den Vor-
gangs- oder Vollzugscharakter des reinen Seins (τὸ εἶναι) besonders zu
betonen. (Er setzte den Akzent gleichsam mehr noch auf die Worte
αὐτὸ τὸ ἐνεργεῖν καθαρόν als auf die Worte αὐτὸ τὸ εἶναι τὸ πρὸ
τοῦ ὄντοϚ.) Zugleich bemühte er sich darum, das Eine bei Plotin eben-
falls als einen Vorgang oder als ein Geschehnis zu erfassen. In diesem
Sinne behauptete er: »Die Einigung ist kein Akt des Einen, sondern das
Eine ist ganz und gar Einigung, das Hen ist Henosis.« 201 Die so verstan-
dene Henosis brachte er schließlich in Verbindung mit dem Heideg-
ger’schen Ereignis. 202
Ohne Zweifel setzte sich diese Vorgehensweise schon von ihren
methodologischen Voraussetzungen her gravierenden Einwänden aus.
Auch manche von Schürmanns inhaltlichen Aussagen forderte gerade-
zu die Kritik heraus. So etwa die folgende Aussage: »Durch die Unter-
scheidung zwischen dem Einen und dem Sein vereitelt nun Plotin das

198
Reiner Schürmann, »L’hénologie comme dépassement de la métaphysique«, in: Les
études philosophiques 3/1982, S. 331–350.
199
Ebd., S. 335.
200
Vgl. ebd., S. 334.
201
Ebd., S. 337.
202 Ebd., S. 338 f.

79
Grundtypen der Metaphysik

abgekartete Spiel zwischen dem, was Erstes ist, und dem, was als Grund
fungiert.« 203 Damit schien er das gesamte »Ableitungssystem« in Frage
zu stellen, innerhalb dessen sich die Henologie als Prinzipientheorie
von Anfang an bewegt hatte.
Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit diesem gedankenrei-
chen, aber unleugbar verstiegenen Unterfangen ließ gleichwohl eine
Zeit lang auf sich warten. Schließlich unterzog der kanadische Forscher
Jean-Marc Narbonne, heute Professor an der Université Laval in Qué-
bec, damals gerade Humboldt-Stipendiat bei Werner Beierwaltes in
München, Schürmanns Thesen am Ende der 1990er Jahre einer einge-
henden, aber umsichtigen und keineswegs verständnislosen Kritik. Er
veröffentlichte zunächst einen Aufsatz über dieses Thema, 204 um dann
den gesamten zweiten Teil seines Buches Hénologie, ontologie et Ereig-
nis den Grundfragen zu widmen, die aus seiner Auseinandersetzung
mit Schürmann erwachsen waren. 205 Auch in seiner späteren Abhand-
lung Lévinas et l’héritage grec kam er auf manche Probleme zurück, die
mit diesen Grundfragen zusammenhingen. 206
Wie es nicht anders geschehen konnte, gelangte er zur Einsicht,
dass die platonisch-plotinische Henologie keine Überwindung der Me-
taphysik als solcher anzeigt, sondern vielmehr selbst nur Metaphysik –
wenn keine Seinsmetaphysik, so doch eine »Einheitsmetaphysik« 207 –
ist, die das Erste durchaus als Uranfang eines umfassenden Begrün-
dungszusammenhangs und damit als »Grund« oder »Anfangsgrund«
(ἀρχή) ansetzt. 208 Ähnlich wie Brague und Courtine der aristotelischen
Metaphysik schrieb er der platonisch-plotinischen Einheitsmetaphysik

203 Ebd., S. 333.


204
Jean-Marc Narbonne, »»Henôsis« et »Ereignis«: Remarques sur une interprétation
heideggerienne de l’un plotinien«, in: Les Études philosophiques (1999), S. 105–121,
wieder abgedruckt in: Jean-Marc Narbonne, La métaphysique de Plotin, Paris: Vrin
2
2001 (11994), S. 149–166. Im Folgenden wird diese spätere Textfassung zitiert.
205
Jean-Marc Narbonne, Hénologie, ontologie et Ereignis (Plotin–Proclus–Heidegger),
Paris: Les belles lettres 2001, S. 187–282.
206
Jean-Marc Narbonne, Lévinas et l’héritage grec, suivi par Wayne Hankey, Cents ans
de néoplatonisme en France. Une brève histoire philosophique, traduit de l’anglais par
Martin Achard et Jean-Marc Narbonne [Collection Zétésis], Paris und Qébec: Vrin und
Presses de l’Université Laval 2004, S. 1–121.
207
Zu diesem Terminus siehe auch Jens Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Unter-
suchungen zu Platon und Plotin, München und Leipzig: K. G. Saur 22006 (11992), S. 9 f.
208 Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 165.

80
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

eine katholou-protologische Grundstruktur zu. 209 Er setzte hinzu, dass


sich diese Einheitsmetaphysik im Allgemeinen auch der Tendenz zur
Ontotheologie keineswegs entziehen kann. 210
Das alles ist in sich selbst nicht besonders überraschend. Es ist viel
überraschender, dass Narbonne in Schürmanns Unterscheidung zwi-
schen einer metaphysischen und einer henologischen Differenz den-
noch einen Anhaltspunkt zu weiterführenden Überlegungen entdeckt.
Sprach bereits Schürmann von »zwei Transzendenzgängen (deux
passages de transcendance)« bei Plotin, 211 indem er einen Unterschied
zwischen dem Übergang vom Seienden zur Seiendheit und dem Über-
gang vom Sein zum Einen machte, so betrachtet Narbonne diese zwei-
fache Transzendenz (unter Berufung auf eine Bemerkung des leuvener
Neuplatonismusforschers Carlos Steel) geradezu als das Wesensmerk-
mal des Neuplatonismus. 212 Damit unterscheidet auch er die henologi-
sche Differenz zwischen dem Einen und dem Sein von der Differenz
zwischen der Seiendheit und dem Seienden. Bereits Gerhard Huber
hatte übrigens dem Neuplatonismus in einem ähnlichen Sinne eine
»absolute Transzendenz« zugeschrieben, indem er von der folgenden
Überlegung ausging: Im Sinne der platonisch-neuplatonischen Formel
»Jenseits des Seins« ist »das Sein notwendig Totalität, und es kann nicht
anders denn als diese gedacht werden, wenn es als das gedacht werden
soll, was es ist. Das Transzendieren des Seins wird nur dort vollzogen,
wo das Sein als diese Totalität überschritten wird.« 213 Erst damit ist nach
Huber eine »absolute Transzendenz« erreicht. Von dieser Transzendenz-
idee berichtete Hadot in einer Sammelrezension 214 bereits am Ende der
1950er Jahre, so dass sie auch im französischen Forschungskontext früh
schon bekannt war. Im Gegensatz etwa zu Halfwassen, der den Gedan-
ken einer »absoluten Transzendenz« oder »Übertranszendenz« weiter-
führt, zitiert Narbonne Huber nicht. Auf jeden Fall geht er aber einen
Schritt weiter als Huber, indem er die Unendlichkeit des Einen in den

209
Narbonne, Hénologie, ontologie et Ereignis (Plotin–Proclus–Heidegger), S. 244–277.
210
Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 165.
211
Schürmann, »L’hénologie comme dépassement de la métaphysique«, S. 335.
212 Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 164.

213
Gerhard Huber, Das Sein und das Absolute. Studien zur Geschichte der ontologi-
schen Problematik in der spätantiken Philosophie, Basel: Verlag für Recht und Gesell-
schaft 1955, S. 59 f.
214 Pierre Hadot, »Heidegger et Plotin«, in: Critique 145 (1959), S. 539–556.

81
Grundtypen der Metaphysik

Vordergrund stellt 215 und die henologische Differenz als einen Unter-
schied zwischen Unendlichkeit und Seinstotalität zu begreifen sucht. Er
knüpft damit an einen Gedankengang von John Rist an. 216 Narbonne
betont, dass Plotin mit dem Unendlichen keineswegs etwa das Unbe-
stimmt-Unbegrenzte (l’indéfini) meint, sondern durchaus das Positiv-
Unendliche (le positivement infini) erfasst. 217 Zugleich hebt er hervor,
dass dieses Positiv-Unendliche für Plotin kein Gott ist. 218 Es heißt ja an
einer Schlüsselstelle der Enneaden, die der gegenwärtigen Abhandlung
als Motto vorangestellt wurde: »Man muss ihn [sc. den Uranfang] auch
als unendlich auffassen […]. Denn wenn Du ihn dir als Geist oder Gott
denkst, ist er mehr […].« 219 Narbonne setzt noch hinzu: »In der Sprache
von Levinas könnte man sagen: Das Unendliche durchbricht hier end-
gültig den Horizont der Totalität.« 220
Dieser Hinweis auf Levinas sollte keineswegs den Verdacht er-
regen, Narbonne verstehe Plotin genauso nur von einem zeitgenössi-
schen Denker her, wie Schürmann ihn von Heidegger her zu verstehen
suchte. Denn in der Abhandlung Lévinas et l’héritage grec stellt Nar-
bonne die Unterschiede zwischen Plotin und Levinas in aller Deut-
lichkeit heraus. Er macht insbesondere darauf aufmerksam, dass »das
(neu-)platonische Jenseits des Seins kein anders als Sein geschieht
ist«, 221 dass also Levinas einen ganz anderen »Transzendenztyp« im
Auge hat als Plotin. 222
Aber mit seiner eigentümlichen Anknüpfung an Platon hat Plotin
eine Geistesströmung in der Tradition begründet, deren Auswirkungen
selbst heute noch spürbar sind. Levinas ist ein Denker in unserem Zeit-
alter, der von der Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ auf eine besonders ori-

215 Vgl. Wayne Hankey, Cent ans de néoplatonisme en France. Une brève histoire phi-
losophique, in: Jean-Marc Narbonne, Lévinas et l’héritage grec, suivi par Wayne Hankey,
Cents ans de néoplatonisme en France. Une brève histoire philosophique, traduit de
l’anglais par Martin Achard et Jean-Marc Narbonne [Collection Zétésis], Paris und Qé-
bec: Vrin und Presses de l’Université Laval 2004, S. 123–258, hier: S. 251.
216
John M. Rist, The Road to Reality, Cambridge: Cambridge University Press 1967,
S. 24 f.
217
Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 165.
218
Ebd., S. 166.
219 Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–

14; dt. S. 70.


220
Narbonne, La métaphysique de Plotin, S. 164.
221
Narbonne, Lévinas et l’héritage grec, S. 79.
222 Ebd., S. 101.

82
Aristoteles und die katholou-protologische Grundstruktur

ginelle Weise Gebrauch macht, ohne sich irgendeiner Einheitsmetaphy-


sik zu verschreiben. Daher kann ein Blick von ihm her zeigen, woraus
sich der eigentliche Sonderwegcharakter der platonisch-plotinischen
Henologie ergibt. Narbonne zieht aus einem derartigen Rückblick den
Schluss, dass die platonisch-plotinische Henologie nicht als katholou-
protologische Einheitsmetaphysik, sondern als eine Lehre vom Unter-
schied zwischen Unendlichkeit und Seinstotalität einen Sonderweg ne-
ben der aristotelischen Seinsmetaphysik begründet.
Diese Sichtweise lässt sich auch auf die spätere Geschichte des he-
nologischen Denkanasatzes anwenden. Spätestens seit Raimund Kli-
banskys philologisch angelegtem Werk The Continuity of the Platonic
Tradition during the Middle Ages 223 rechnen wir Denker wie Meister
Eckhart und Nikolaus von Kues eindeutig zu diesem Denkansatz. Kurt
Flasch, Burkhard Mojsisch und andere haben später gezeigt, was alles
diese beiden Denker mit dem zuvor weniger bekannten Dietrich von
Freiberg oder auch mit dem etwas späteren Berthold von Moosburg
verbindet, die ebenfalls stark an Proklos und andere Neuplatoniker
anknüpfen. Damit ist eine mittelalterliche Traditionslinie des henologi-
schen Denkansatzes selbst noch zur Zeit der ganz und gar von Aristo-
teles inspirierten Metaphysik der Scholastik fassbar geworden. Für un-
sere Untersuchungen im letzten Teil der gegenwärtigen Abhandlung
wird es von grundlegender Bedeutung sein, dass bei Nikolaus von Kues
auch diese Traditionslinie auf eine Meditation über das Unendliche in
seinem Unterschied von der Seinstotalität hinausläuft.

223
Raimund Klibansky, The Continuity of the Platonic Tradition during the Middle
Ages, London: Warburg Institute 1939.

83
Grundtypen der Metaphysik

III. Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische


Grundstruktur

In der französischen Philosophiegeschichtsschreibung der letzten Jahr-


zehnte wird Heideggers Vorstellung von einem »Schicksal« des »abend-
ländischen« Denkens fallengelassen. Das Bemühen, das »Wesen« der
Metaphysik als solcher zu bestimmen, wird durch eine Reflexion auf
verschiedene Metaphysikentwürfe ersetzt. Es verbindet sich mit dieser
Reflexion jedoch ein architektonisches Interesse, von dem ein Anstoß
zur Herausstellung verschiedener Grundtypen metaphysischen Den-
kens ausgeht. Die katholou-protologische Struktur, von der bisher die
Rede war, ist nur für einen dieser Grundtypen bezeichnend; es gibt
andere Formationen, die nicht durch sie gekennzeichnet sind. Besonders
interessant ist dabei die Frage, welcher Grundtyp zum ersten Mal einer
ontotheologischen Verfassung der Metaphysik im vollen Sinne des
Wortes Raum gibt.
Eine häufig zitierte Stelle aus dem (auch auf Deutsch vorliegenden)
Buch von Alain de Libera über Die mittelalterliche Philosophie weist die
Richtung, in der eine Antwort auf diese Frage gesucht wird: »Für einen
Mediävisten gilt diese Charakterisierung des Wesens der ›aristote-
lischen‹ Metaphysik [es handelt sich um die Charakterisierung dieses
Wesens als Ontotheologie – L. T.] hauptsächlich nur für eine der latei-
nischen Avicennainterpretationen, die sich in der Schulphilosophie
durchgesetzt hat und über die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts die
Heideggersche Sicht der Metaphysik entscheidend geprägt hat: für den
Scotismus. Tatsächlich wird die Metaphysik bei Duns Scotus, Leser des
Avicenna, nicht bei Aristoteles selbst, als eine Wissenschaft vorgestellt,
die als gewöhnlichen Gegenstand das Seiende und als eminenten Ge-
genstand Gott hat […].« 224
Allerdings bezeichnet der Ausdruck »Scotismus« eine Denkrich-
tung, die einen prägenden Einfluss auf den Gesamtraum metaphysi-
scher Bestrebungen bis zur Zeit von Kant hat. Dies wurde bereits von
Étienne Gilson in seinem grundlegenden Werk L’être et l’essence, das
unter dem Titel Being and Some Philosophers auch in englischsprachi-

224
Alain de Libera, La philosophie médiévale, Bücherreihe »Que sais-je ?«, Paris: PUF
2
1992 (11988), S. 72 f.; dt.: Die mittelalterliche Philosophie, übersetzt von Therese Schwa-
ger, München: Fink 2005, S. 80 f.

84
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

ger Fassung erschien, 225 deutlich gezeigt. Der Gedanke, dass Duns Sco-
tus eine Wende in der Geschichte der Metaphysik herbeigeführt hat,
setzte sich in den letzten Jahrzehnten vollends durch. Die von Carolus
Balić seit dem Anfang der 1950er Jahre geleitete Werkedition spielte in
diesem Prozess eine grundlegende Rolle. Die jahrzehntelange Arbeit an
der Editio Vaticana führte zu bedeutsamen Ergebnissen: Nennenswert
ist nicht allein die kritische Ausgabe der Grundtexte (besonders des
Hauptwerks, der Ordinatio, früher auch als Opus Oxoniense bezeich-
net), sondern auch die Entdeckung bis dahin nicht veröffentlichter au-
thentischer Werke (Lectura, Reportatio Parisiana examinata) sowie die
Entfernung inauthentischer Schriften aus dem Textkorpus des Autors.
Im Jubiläumsjahr 1965 erschien ein englischsprachiger Sammelband, 226
der mit Beiträgen von so ausgezeichneten Philosophiehistorikern wie
Allan B. Wolter, Walter Hoeres und anderen gleichsam den Auftakt
zur Neuorientierung der Scotus-Forschung gab. In früheren Zeiten
ging es oft nur darum, die franziskanische Tradition gegen den damals
vorherrschenden Neothomismus zu verteidigen oder die Verträglich-
keit beider Richtungen miteinander herauszustellen. 227 Gewiss bleibt
der Unterschied zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus auch
für die neueren Untersuchungen grundlegend, aber die Gegenüberstel-
lung der beiden Denker ist nunmehr von keinem apologetischen Inte-
resse getragen. In der neuorientierten Forschung wird seit der Habilita-
tionschrift von Albert Zimmermann, die unter dem Titel Ontologie
oder Metaphysik? im Jahre 1965 zum ersten Mal veröffentlicht wur-
de, 228 der Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik in der Scho-
lastik besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In dieser Diskussion war
aber der eigentliche Gegner – oder auch Dialogpartner – von Duns Sco-
tus, wie übrigens schon Gilson bemerkte, 229 gar nicht Thomas von

225
Étienne Gilson, Being and Some Philosophers, Toronto: Pontifical Institute of Medie-
val Studies 21952 (11949).
226
John K. Ryan und Bernardine M. Bonansea (Hg.), John Duns Scotus 1265–1965,
Washington: The Catholic University of America Press 1965.
227
Vgl. dazu Ludger Honnefelder, »Metaphysik und Ethik bei Johannes Duns Scotus:
Forschungsergebnisse und –Perspektiven. Eine Einführung«, in: Ludger Honnefelder,
Rega Wood und Mechthild Dreyer (Hg.), John Duns Scotus. Metaphysics and Ethics,
Leiden, New York und Köln: Brill 1996, S. 1–33, hier S. 4 f.
228
Albert Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegen-
stand der Metaphysik im 13. Und 14. Jahrhundert, Köln und Leiden: Brill 1965.
229
Étienne Gilson, Jean Duns Scot. Introductions à ses positions fondamentales, Paris:
Vrin 21962 (11952), S. 10; dt. Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken

85
Grundtypen der Metaphysik

Aquin, sondern vor allem Heinrich von Gent, der doctor solemnis, der
an der in erster Linie von Duns Scotus herbeigeführten Umwälzung der
Metaphysik bereits als Wegbereiter beteiligt war. 230
Neben Honnefelders Arbeiten trugen wohl Courtines Unter-
suchungen das Meiste dazu bei, die scotistische Revolution der Meta-
physik in ihrer ganzen Tragweite zu beleuchten. In seinem Suárez-Buch
setzte sich der französische Forscher zum Zweck, den »Augenblick Suá-
rez« in einer historischen Formation der Metaphysik zu »situieren«, 231
die sich von Duns Scotus durch den lutheranisch inspirierten Deutsch-
Aristotelismus des 17. Jahrhunderts hindurch bis zu Wolff und Baum-
garten erstreckte. Damit führte er das von Gilson in L’être et l’essence
skizzierte Forschungsvorhaben in seiner ganzen Breite weiter. Die von
Gilson stammende Charakterisierung der Lehre von Duns Scotus und
seiner Nachfolger als »Essentialismus« betrachtete er jedoch mit Vor-
behalten; er fand die sich im Gefolge von Gilson immer mehr verbrei-
tende Gegenüberstellung von »Philosophien des Daseins« (philosophies
de l’existence) und »Philosophien des Wesens« (philosophies de l’essen-
ce) »zu bequem«, »zu kurz greifend«, ja sogar »trügerisch«. 232 Deshalb
versuchte er neue Grundzüge der von Duns Scotus und Suárez gepräg-
ten Gestalt der Metaphysik herauszustellen, ohne sie allerdings in einer
griffigen Formel zusammenzufassen, die an die Stelle von Gilsons »Es-
sentialismus« hätte treten können.
Olivier Boulnois sieht sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
dazu genötigt, in dieser Richtung um der typologischen Präzision wil-
len einen weiteren Schritt zu tun. Im Anschluss an Brague und Courti-
ne geht er davon aus, dass die aristotelische Metaphysik durch die ka-
tholou-protologische Grundstruktur gekennzeichnet werden kann.
Ebenfalls im Einvernehmen mit Courtine 233 und zugleich im Einklang
mit Marion 234 versucht er zu zeigen, dass diese Struktur selbst noch bei

seiner Lehre, übersetzt von Werner Detloff, Düsseldorf: Schwann 1959, S. 10 f. Vgl. Oli-
vier Boulnois, »Analogie et univocité selon Duns Scot: la double déstruction«, in: Les
études philosophiques 3–4/1989, S. 347–369, hier: S. 348.
230
Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und
Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert«, S. 177.
231 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 5; vgl. S. 406.

232
Ebd., S. 379; vgl. S. 187–189 und S. 287.
233
Ebd., S. 75–99.
234
Jean-Luc Marion, »Saint Thomas d’Aquin et l’ontothéologie«, in: Revue Thomiste,
Band XCI/1 (1995): Saint Thomas et l’ontothéologie, S. 31–66.

86
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

Thomas von Aquin in voller Geltung bleibt. Erst die nächste Generation
der Hochscholastik erarbeitet seiner Meinung nach einen neuen Grund-
typ der Metaphysik, der sich zugleich mit einer ontotheologischen Ver-
fassung in vollem Sinne des Wortes verbindet. Der einflussreichste
Denker dieser Generation ist in der Tat kein anderer als eben Johannes
Duns Scotus, wenn auch Denker wie Siger von Brabant oder Heinrich
von Gent und andere 235 an der Erneuerung der von Aristoteles geerbten
Disziplin auf ihre Weise beteiligt sind. Im abschließenden Teil seines
Buches Être et représentation und in verschiedenen Aufsätzen macht
es sich Boulnois nun zur Aufgabe, sich einen Weg zur umfassenden
Charakterisierung des neu aufkommenden Grundtyps anzubahnen, so
wie dieser die Forschungsrichtung und den Aufbau der Metaphysik
über Suárez bis zu Wolff und Baumgarten bestimmen sollte. Wir wol-
len ihm nun auf diesem Weg ein Stück weit folgen. Zuvor werfen wir
jedoch einen Blick auf Thomas von Aquin.

1. Die kathoulou-protologische Grundstruktur bei


Thomas von Aquin

Der Gegenstand der Metaphysik ist nach Thomas von Aquin das Seien-
de im Allgemeinen (ens commune). Es handelt sich dabei allerdings nur
um das endliche und geschaffene Seiende. Das Sein Gottes bleibt dage-
gen dem Verstand unzugänglich, und in seiner Unbegreiflichkeit kann
es auch kein eigentlicher Gegenstand der Metaphysik sein. Thomas von
Aquin sagt in seinem Kommentar über die Abhandlung De causis aus-
drücklich: »Man nennt ›Seiendes‹ das, was auf endliche Weise am Sein
teilhat, und dies ist unserem Verstand angemessen […]. Daher kann
nur das durch unseren Verstand erfasst werden, was eine am Sein teil-
habende Wesenheit hat; die Wesenheit Gottes ist dagegen das Sein
selbst, sie geht folglich über den Verstand hinaus.« 236
Aus diesen Zeilen geht zugleich hervor, worauf Thomas von Aquin

235
In eine Gruppe mit Duns Scotus gehören nach Albert Zimmermann Denker wie
Augustinus Triumphus von Ancona, Petrus von Alvernia (Pierre d’Auvergne), Johannes
Quidort von Paris, Alexander von Alexandrien, Antonius Andreas sowie mehrere ano-
nyme Autoren (darunter möglicherweise Petrus von Trebes oder de Trabibus), deren
einschlägige Texte im ersten Teil des Buches Ontologie oder Metaphysik? zugänglich
gemacht werden.
236 Thomas von Aquin, In librum de Causis, VI 6, 175, Turin: Marietti 1955, S. 47.

87
Grundtypen der Metaphysik

die Überzeugung gründet, das Sein Gottes sei dem Verstand unzugäng-
lich. Bei einem endlichen und geschaffenen Seienden sind Sein und We-
sen(heit) voneinander getrennt; dagegen ist das Wesen Gottes identisch
mit seinem Seinsakt (actus essendi). Dieses In-eins-fallen von Sein und
Wesen geht jedoch über den Verstand hinaus; es ist im höchsten Maße
unbegreiflich. Daraus folgt zugleich, dass bei Thomas von Aquin nur der
Weg der Analogie (via analogiae) zur Erkenntnis Gottes führen kann.
Aber selbst wenn sich die Lehre vom Seienden im Allgemeinen
notwendig auf das endliche und geschaffene Seiende beschränkt, ist die
Metaphysik keineswegs mit der Physik gleichzusetzen. Denn sie be-
zieht sich auch auf die von der Materie und der Stofflichkeit getrennten
Seienden wie Gott und die reinen Intelligenzen (die »Engel«). Die Me-
taphysik bleibt bei Thomas von Aquin irreduzibel auf die allgemeine
Wissenschaft vom Seienden; sie umfasst vielmehr auch die Erste Phi-
losophie. Auch die aristotelische Formel, der zufolge die Erste Philoso-
phie gerade deshalb einen Anspruch auf Allgemeinheit erhebt, »weil sie
die erste ist«, bleibt bei Thomas von Aquin in voller Geltung. Diese
Formel erhält bei ihm einen erst recht einleuchtenden Sinn, da sich die
christliche Schöpfungsidee in seiner neuen Auffassung von Gott als
wirkender Ursache des Seins aller anderen Seienden ausprägt. Der
Kreationismus verleiht der katholou-protologischen Grundstruktur
eine Durchsichtigkeit, die ihr in der aporetisch-diaporematischen Meta-
physik des Aristoteles abging. Er schließt den Kreislauf von Gründen
und Begründen beinahe völlig ab. Die Entstehung einer ontotheologi-
schen Verfassung der Metaphysik steht nunmehr unmittelbar bevor.
Gleichwohl gibt es bei Thomas von Aquin noch keine ontotheolo-
gische Verfassung der Metaphysik. Denn wie kommt der Gott bei ihm
in die Philosophie? Keineswegs etwa als Gegenstand der Metaphysik.
Die Metaphysik bezieht sich zwar auf Gott, aber sie macht ihn nicht
zum Gegenstand. Sie deutet auf Gott hin, indem sie gleichsam über sich
hinausweist. Sie macht nur das Seiende im Allgemeinen zum Gegen-
stand, und das heißt: sie befasst sich nur mit dem endlichen und ge-
schaffenen Seienden; aber Gott als die wirkende Ursache des Seins die-
ses Seienden wird dabei notgedrungen mitberücksichtigt. Es heißt:
»Das Seiende im Allgemeinen selbst stammt vom ersten Seienden, das
Gott ist [Ipsum esse commune est ex primo ente, quod est Deus]«. 237

237
Thomas von Aquin, In librum beati Dionysii De divinis nominibus, V 2, 660, Turin:
Marietti 1965, S. 245.

88
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

Gott kommt also im thomistischen Metaphysikentwurf nur als die


wirkende Ursache des Gegenstands der Metaphysik in Betracht. 238 Die
Lehre vom Seienden im Allgemeinen orientiert sich an dieser wirken-
den Ursache, indem sie sich ihre Erkenntnis zum Zweck setzt, ohne sie
zum unmittelbaren Gegenstand ihrer Betrachtungen machen zu kön-
nen. Gegenstand und Zweck der Metaphysik fallen bei Thomas von
Aquin keineswegs zusammen. Die Metaphysik ist bei ihm durch eine
eigentümliche Unabgeschlossenheit charakterisiert: Sie bleibt offen für
die Schöpfungstheologie. In dieser Offenheit hat sie aber nur eine
zweckmäßige (teleologische) Einheit – eine Einheit, die ihr das erstrebte
Ziel aufprägt, nicht aber der Gegenstand, mit dem sie sich eigentlich
befasst. Den Schöpfergott schließt die Metaphysik bei Thomas von
Aquin keineswegs in sich. Das ist der Grund dafür, dass es bei Thomas
von Aquin noch keine Ontotheologie im strengen Sinne des Wortes
gibt; denn, wie Boulnois sagt, öffnet sich die Metaphysik hier noch »in
ihrer Einheit und kraft ihres Zweckes für ein theologisches Drau-
ßen«. 239

2. Entstehung der katholou-tinologischen Grundstruktur

Boulnois zeigt, wie der vom Erzbischof Tempier im Jahre 1270 und im
Jahre 1277 verurteilte Lehrmeister, Siger von Brabant, der übrigens
nach der Verurteilung seiner Ansichten dazu gezwungen wurde, die
Sorbonne – und sogar Paris – zu verlassen, als Erster das von Thomas
von Aquin erarbeitete Gleichgewichtssystem aus den Fugen gebracht
hatte, indem er Gott nicht mehr nur als die wirkende Ursache des Seins
aller Seienden, sondern zugleich als das erste Seiende aufgefasst hatte.

238
In dieser Eigentümlichkeit sieht auch Courtine den wichtigsten Grund für eine Ge-
genüberstellung der thomistischen und der scotistisch-suárezischen Metaphysikforma-
tion. (Siehe Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 209; vgl. S. 148,
S. 245, S. 264 f., S. 339.) Es handelt sich dabei um eine Entgegensetzung, die letztlich
auf Albert Zimmermanns Werk Ontologie oder Metaphysik? zurückgeht. Unter den
Denkansätzen, die im 13. und im 14. Jahrhundert das Seiende als Seiendes zum Gegen-
stand der Metaphysik machen, setzt Zimmermann denjenigen, die mit Albertus Magnus
und Thomas von Aquin Gott als »Ursache« oder »Prinzip« dieses Gegenstandes bestim-
men, diejenigen entgegen, die Gott mit Siger von Brabant, Heinrich von Gent und vor
allem mit Duns Scotus als »Teil« dieses Gegenstandes betrachten. (Siehe Zimmermann,
Ontologie oder Metaphysik?, S. 180 f. und S. 202 f.)
239 Boulnois, Être et représentation, S. 462.

89
Grundtypen der Metaphysik

Der scharfsinnige Aristoteliker griff auch die thomistische Lehre von


Gott als wirkender Ursache des Seins des Seienden im Allgemeinen an.
Er behauptete, es könne kein Prinzip und keine Ursache des Seienden
als Seienden geben, weil dann jedes Seiende – auch das erste, also auch
Gott – ein Prinzip oder eine Ursache haben müsse. Siger von Brabant
setzte hinzu, dass, wenn jedes Seiende eine Ursache hätte, kein Seiendes
eine Ursache haben könnte, da es unter diesen Umständen unmöglich
eine erste Ursache gäbe und damit die ganze Ursachenkette ohne letzte
Begründung bliebe. Diesen Argumenten hätte man nur durch die Idee
von Gott als Ursache seiner selbst (causa sui) begegnen können, aber
diese Vorstellung galt in den Augen der großen Scholastiker als eine
schiere Ungereimtheit.
Siger von Brabant scheint damit den entscheidenden Schritt auf
dem Weg vollzogen zu haben, der schließlich dazu führen sollte, dass
Gott als das erste Seiende in den Begriff des Seienden im Allgemeinen
(ens commune) eingeschlossen wurde. 240 Damit ist der Gegenstand der
Metaphysik allumfassend geworden; die allgemeine Wissenschaft vom
Seienden als Seiendem erhielt eine bis dahin unbekannte Art von All-
gemeinheit, indem sie sich den Gegenstand der ersttheoretischen Un-
tersuchungen einverleibte. Statt einer Wissenschaft, die einen An-
spruch auf Allgemeinheit erhob, weil sie die erste war, entstand hiermit
eine Wissenschaft, die einen Anspruch auf die Erfassung des Ersten
erhob, weil sie schlechthin allgemein war. Am Gegensatz dieser beiden
Metaphysikentwürfe lässt sich die Tragweite ermessen, die der Wende
der Metaphysik im ausgehenden 13. und beginnenden 14. Jahrhundert
zukommt.
Damit kündigt sich bereits bei Siger von Brabant eine wahrhafte
Umwälzung an, von der wir die Vorstellung einer Entwicklung (im Sin-
ne von »Fortschritt«) allerdings von vornherein fernhalten müssen.
Wie wohl jedes historische Ereignis von epochemachendem Charakter
zeigt diese Umwälzung eine Zwiespältigkeit, in der Fortschritt und
Rückschritt bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verschmelzen.
In seiner Kölner Antrittsvorlesung hat Albert Zimmermann ein Indiz
für diese Zwiespältigkeit geliefert, indem er das Verhältnis des Siger
von Brabant zu Thomas von Aquin vom Gesichtspunkt der Hei-
degger’schen »Grundfrage der Metaphysik« – »Warum ist das Seiende

240 Ebd., S. 464.

90
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

und nicht vielmehr nichts?« – aus untersuchte. 241 Er zeigte, dass sich die
Vorgeschichte dieser Frage über Schelling und Leibniz hinaus bis zu
Siger von Brabant zurückverfolgen lässt, der sie in seinem Metaphy-
sik-Kommentar auf folgende Weise stellt:
»Wenn man […] fragt, warum es eher überhaupt etwas gibt als nichts (quare
est magis aliquid in rerum natura quam nihil), und wenn sich diese Frage im
Bereich der verursachten Dinge bewegt, so muss man antworten: Es gibt ja ein
erstes Bewegendes und eine erste unveränderliche Ursache. Wenn man dage-
gen die Gesamtheit alles Seienden zum Gegenstande der Frage macht, warum
es in ihr überhaupt etwas gibt und nicht vielmehr nichts, so kann man keine
Ursache dafür angeben; denn diese Frage ist mit der Frage identisch, warum
überhaupt Gott ist und nicht vielmehr nicht. Für Gottes Dasein gibt es aber
keine Ursache.« 242
Man sieht hier, wie die Metaphysik als sich zunehmend verselbststän-
digende Allgemeinwissenschaft vor der Heidegger’schen »Grundfrage«
zurückweicht – oder vielmehr haltmacht, um nur noch ratlos dazuste-
hen. Bei dem theologisch orientierten Thomas von Aquin bleibt dage-
gen – so Zimmermann 243 – durchaus Raum für eine Frage, die über das
Seiende im Ganzen hinauszielt; denn für ihn ist Gott »über allem, was
existiert, insofern er sein Sein selbst ist (supra omne existens, inquan-
tum est suum esse).« 244
Am Maßstab der Heidegger’schen »Grundfrage« gemessen erwei-
sen sich theologisch inspirierte Denker wie Augustinus, Bonaventura,
Thomas von Aquin oder Eckhart in mancher Hinsicht als tiefer, radi-
kaler, mit einem Wort: als metaphysischer, denn die Vertreter auto-
nomer und systematischer Metaphysik. Auf dieses Paradox wurde be-
reits Courtine aufmerksam, indem er zeigte, wie die von Duns Scotus
und Suárez entscheidend beeinflusste Metaphysikformation sich vor
dieser Grundfrage gleichsam »in Sicherheit brachte«. 245 In einem be-
merkenswerten Aufsatz geht Boulnois ausdrücklich auf die Antritts-

241
Albert Zimmermann, »Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, in: Ar-
chiv für Geschichte der Philosophie 47 (1967), S. 141–156.
242
Siger von Brabant, Quaestiones in Metaphysicam, IV [Philosophes Médiévaux,
Bd. I], hg. von Cornelia Andrea Graiff, Louvain: Éditions de l’Institut Supérieur de Phi-
losophie 1948, S. 147; die deutsche Übersetzung der angeführten Zeilen stammt von
Albert Zimmermann (»Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, S. 148).
243
Zimmermann, »Die ›Grundfrage‹ in der Metaphysik des Mittelalters«, S. 153 f.
244
Thomas von Aquin, Summa theol., Ia, qu. 12, a. 1, ad 3, Bd. I, S. 63.
245 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 292; vgl. S. 276–292.

91
Grundtypen der Metaphysik

vorlesung von Zimmermann ein, um aus ihr einen ähnlichen Schluss


zu ziehen. 246
Im Rückblick auf die Jahrzehnte nach dem Tod von Thomas von
Aquin sieht man deutlich, wie einander schroff gegenüberstehende
Denker der Epoche an der Wende der Metaphysik gleichermaßen betei-
ligt sind. So findet man besonders bei den beiden Gegnern Heinrich von
Gent und Johannes Duns Scotus Gedanken, die durchaus in die gleiche
Richtung weisen. Die Grundtendenz der Umwälzung drückt sich vor
allem in drei Änderungen des aristotelischen Grundansatzes aus: 247

1. Bei Aristoteles galt das selbstständig existierende Wesen in seiner


vollen Wirklichkeit als der eigentliche Gegenstand der Metaphy-
sik; jedes andere Seiende wurde auf dieses erste Seiende (die »Sub-
stanz«) zurückbezogen. Dagegen wird jetzt der Gegenstand der
Metaphysik so weit gefasst wie möglich; selbst die Kluft zwischen
dem bloßen Vermögen und der wirklichen Tätigkeit, also zwischen
potentia und actus, wird dabei überbrückt.
2. Tendenziell verdoppelt sich die Metaphysik in eine allgemeine Me-
taphysik, die das Seiende als solches erörtert, und in eine besonde-
re Metaphysik, die sich mit dem ausgezeichneten Seienden (Gott)
befasst. Es entsteht eine Zweiteilung der Metaphysik, die sich bis
in die Zeit der deutschen Schulmetaphysik hinein durchhält und
selbst noch auf den Aufbau von Kants Kritik der reinen Vernunft
Einfluss nimmt. 248
3. Gott wird nunmehr in den so verallgemeinerten Gegenstand der
Metaphysik »eingeschlossen«; 249 er fällt unter die Botmäßigkeit
dieser Wissenschaft, wird aber erst nach der Untersuchung des
Seienden im Allgemeinen eigens betrachtet.

246
Olivier Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la méta-
physique«, in: Quaestio. Annuario di storia della metafisica 1 (2001), S. 379–406, hier:
S. 398 f. und Anm. 70.
247
Siehe Boulnois, Être et représentation, S. 464.
248
Vgl. Ernst Vollrath, »Die Gliederung der Metaphysik in eine Metaphysica generalis
und eine Metaphysica specialis«, Zeitschrift für philosophische Forschung, XVI, 2, 1962,
S. 258–284.
249
Dieser Ausdruck, den Courtine und Boulnois wiederholt verwenden, stammt ur-
sprünglich von Zimmermann. (Siehe Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?,
S. 216.)

92
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

Am folgerichtigsten wird diese Wende der Metaphysik ohne Zweifel


von Duns Scotus vollzogen. Der »zweite Anfang der Metaphysik«, um
diesen treffenden Ausdruck von Honnefelder zu verwenden, verbindet
sich in erster Linie mit seinem Namen. Denn von ihm stammt der
Schlüsselgedanke einer »Univozität des Seins«.

a. Univozität des Seins und scientia transcendens

Duns Scotus setzt sich der Idee einer Analogie des Seins entgegen. Er
behauptet, dass »Gott nicht nur in einem ihm und dem Geschöpf ge-
meinsamen analogen, sondern univoken Begriff erfasst wird.« 250 Er
setzt hinzu, dass der univoke Begriff des Seienden im Allgemeinen »das
erste adäquate Objekt für unseren Intellekt« sei. 251
Bei Duns Scotus gibt es damit einen eigentümlichen Gegenstand
der allgemeinen Metaphysik, der sich vom ersten Seienden unterschei-
det. Dieser Gegenstand ist das Seiende als solches, nunmehr als ein
Begriff aufgefasst, der sich auf den Schöpfergott und sein Geschöpf auf
univoke Weise, also in derselben Bedeutung, beziehen lässt. Dieser Be-
griff ermöglicht eine neue Unterscheidung zwischen dem Allgemeinen
und dem Ersten. Die katholou-protologische Grundstruktur hört auf,
den Aufbau der Metaphysik zu bestimmen. Denn die allgemeine Meta-
physik ist nicht mehr deshalb allgemein, »weil sie die erste ist«. Diese
aristotelische Formel büßt nunmehr ihre Gültigkeit ein. Der Gedanke
einer Univozität des Seienden erschließt eine neue Möglichkeit, die All-
gemeinheit der Metaphysik zu begründen. Von nun an ist es der ein-
fache und einheitliche Begriff des Seienden, der den Anspruch der Me-
taphysik auf uneingeschränkte Allgemeinheit rechtfertigt.

250
Johannes Duns Scotus, Lectura in librum primum Sententiarum, Dist. 3, qu. 2, a. 21
[Opera omnia, hg. von Carolus Balić, Civitas Vaticana 1950, Bände XVI–XXI, hier:
Bd. XVI], S. 232 (auch enthalten in: Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden.
Texte zur Metaphysik, lateinisch–deutsche Ausgabe, hg. und übersetzt von Tobias Hoff-
mann, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2002, S. 13). Vgl. Ordinatio I, Dist. 3, qu. 2,
26 [Opera omnia, hg. von Carolus Balić, Civitas Vaticana 1950, Bände I–XV (bisher sind
die Bände I–XIII erschienen), hier: Bd. III], S. 18 (auch enthalten in der französischen
Übersetzung von Olivier Boulnois in: Duns Scot, Sur la connaissance de Dieu et l’uni-
vocité de l’étant, übersetzt und kommentiert von Olivier Boulnois, Paris: PUF 1988,
S. 94).
251
Ebd., Lectura I, Dist. 3, pars 1, qu. 2, 99 [Opera omnia, Bd. XVI], S. 261 f.; dt. S. 61;
Ordinatio I, Dist. 3, qu. 2, 137 [Opera omnia, Bd. III], S. 85 f.; fr. S. 141.

93
Grundtypen der Metaphysik

Duns Scotus geht davon aus, dass unser Verstand nicht allein das
Vermögen hat, das sinnlich Wahrnehmbare und das Endliche zu erken-
nen, sondern auch das Vermögen, sich zu einem Begriff zu erheben, der
das Sinnliche und das Übersinnliche sowie das Endliche und das Unend-
liche gleichermaßen umfasst. Die Idee einer Univozität des Seienden
macht es möglich, den Begriff des Seienden als einen transgenerischen
oder transzendentalen Begriff eindeutig zu bestimmen. Denn der An-
nahme nach bezieht sich dieser Begriff auf univoke Weise, also in der-
selben Bedeutung, auf die Gattung des Sinnlichen und Endlichen und
auf die Gattung des Übersinnlichen und Unendlichen; er überschreitet
also den Unterschied der beiden Gattungen. Daraus folgt, dass die all-
gemeine Metaphysik, die Duns Scotus im Auge hat, eine transgeneri-
sche oder auch transzendentale Wissenschaft vom Seienden ist: scientia
transcendens. Es entsteht hier diejenige Wissenschaft, die Kant als die
»Transzendental-Philosophie der Alten« bezeichnen wird. 252 Es ist letzt-
lich die Transzendentalität des Seienden, die es ermöglicht, die All-
gemeinheit der allgemeinen Metaphysik neu zu begründen.

b. Allgemeine und spezielle Metaphysik

Diese Grundgedanken haben eine »Entzweiung von Allgemeinem und


Erstem« zur Folge. 253 Duns Scotus gelangt zur Deutung des Seins Got-
tes im Ausgang vom transzendentalen Begriff des Seienden. Der Zweck
der Metaphysik ist dabei nach wie vor die Erkenntnis Gottes. Aber diese
Erkenntnis gehört nunmehr zur inneren Vollendung einer selbstständi-
gen Metaphysik. Denn Gott wird nur für ein besonderes Seiendes er-
achtet, dessen Begriff im transzendentalen Begriff des Seienden von
vornherein eingeschlossen ist. Daraus folgt allerdings, dass die Meta-
physik nur einen allgemeinen, abstrakten und daher unvollkommenen
Begriff von Gott liefern kann, selbst wenn sie dabei durchaus in der
Lage ist, innerhalb des Seienden im Allgemeinen diejenige Gattung zu

252
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft [Gesammelte Schriften, Akademie-Aus-
gabe, Bd. IV: Ausgabe »A«: Berlin: Georg Reimer 1911, S. 1–252; Bd. III: Ausgabe »B«,
Georg Reimer 1904], hier: B 113. Vgl. Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendental-
philosophie, Stuttgart: Kohlhammer 1970; Giorgio Tonelli, »Das Wiederaufleben der
deutsch-aristotelischen Terminologie bei Kant während der Entstehung der KrV«, in:
Archiv für Begriffsgeschichte IX (1964), S. 233–242.
253 Boulnois, Être et représentation, S. 508.

94
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

bestimmen, die Gott vom endlichen und geschaffenen Seienden unter-


scheidet. Bei Duns Scotus hat die Metaphysik Gott in der Tat nicht
allein überhaupt als das »erste und höchste Seiende« (primum et sum-
mum ens), sondern – spezifischer noch – als das »unendliche Seiende«
(ens infinitum) zu begreifen. Als unendliches Seiendes gehört Gott zu
einer besonderen Gattung des Seienden; er ist ebendeshalb Gegenstand
einer besonderen Wissenschaft innerhalb der Metaphysik, also Gegen-
stand einer speziellen Metaphysik. Dieser besonderen Wissenschaft
fällt zum Beispiel die Aufgabe zu, die Existenz und die Unizität (Einzig-
keit) Gottes zu beweisen. Diese Beweise bilden gleichsam den Schluss-
stein der scotistischen Metaphysik.
Es handelt sich dabei um Beweise, die sich bei Duns Scotus vor-
nehmlich auf die so genannten »disjunktiven Transzendentalien« stüt-
zen. Schon Aristoteles war sich im Klaren darüber, dass nicht allein das
Seiende die obersten Gattungen überschreitet, sondern auch das Eine
und das Gute. Auch das Eine und das Gute kommen ja in allen verschie-
denen Kategorien vor. Ebenso verhält es sich mit dem Wahren, das bei
Aristoteles nur eine bestimmte Bedeutung des Seienden ausdrückt. Mit
dem Etwas oder dem Ding überhaupt verhält es sich ähnlich wie mit
dem Seienden. Bei Duns Scotus kommen aber zu diesen Transzenden-
talien gewisse Begriffspaare wie unendlich–endlich, notwendig–zufäl-
lig, wirklich–möglich, erstes–verursacht hinzu, die als Paare die obers-
ten Gattungen genauso überschreiten wie das Seiende, weil ja jedes
Seiende entweder unendlich oder endlich, entweder notwendig oder zu-
fällig, entweder wirklich oder bloß möglich und entweder erstes oder
verursacht ist. Diese Begriffspaare sind die disjunktiven Transzendenta-
lien. Vornehmlich auf ihnen werden die Gottesbeweise der speziellen
Metaphysik im Scotismus aufgebaut.
Diese metaphysische Gotteslehre – die erste »natürliche Theo-
logie« – muss allerdings von der eigentlichen Theologie unterschieden
werden. Der Gott der speziellen Metaphysik bleibt nämlich eine bloße
Abstraktion. Nur die Intuition – die visio beatifica der Seligen – kann
den Gott in seiner Einzelheit und Einzigkeit erfassen. Als Ersatz dieser
Intuition dient dem Bewanderer irdischen Daseins (dem viator der mit-
telalterlichen Philosophie) keineswegs etwa die metaphysische Lehre
von Gott, sondern einzig und allein die nicht mehr metaphysisch ange-
legte Offenbarungstheologie.
Auf diese Weise trennt der Unterschied zwischen Abstraktion und
Intuition Metaphysik und Offenbarungstheologie voneinander. Nie-

95
Grundtypen der Metaphysik

mand betont diesen Unterschied so sehr wie Duns Scotus. Ihn bewegen
dazu wohl vor allem theologische Gründe, aber dieser Unterschied
verleiht der Metaphysik als scientia transcendens gleichwohl eine Un-
abhängigkeit von der Offenbarungstheologie und damit eine Eigenstän-
digkeit, die sie bei früheren Denkern – Thomas von Aquin nicht aus-
genommen – noch keineswegs besaß.
Darin liegt ein Paradox, das in Honnefelders Rede von einer »theo-
logisch motivierten« Verwissenschaftlichung der Metaphysik beson-
ders deutlich zum Ausdruck kommt. 254 Zu diesem Paradox gehört, dass
die Eigenständigkeit der Metaphysik im Mittelalter tatsächlich eher aus
der theologisch motivierten Avicennainterpretation von Heinrich von
Gent, Duns Scotus und anderer erwächst als aus der durch Theologie-
doktoren und kirchliche Amtsträger verpönten Aristotelesauslegung
der »Averroisten«, obgleich die von Averroes beeinflussten Aristoteli-
ker der Pariser Artistenfakultät – darunter allen voran Siger von Bra-
bant und Boethius von Dacien – in der Lebensform des Philosophen den
besten Stand sahen, der dem Menschen überhaupt möglich ist, und
damit die Würde philosophischer Existenz höher stellten als die der
Kleriker und der Ordensbrüder. 255 Die Eigenständigkeit der Metaphysik
scheint in den Augen von Duns Scotus aber selbst dann von großer
Wichtigkeit zu sein, wenn er der Metaphysik letztlich genauso eine
theologische Ausrichtung zuerkennt wie die meisten seiner Vorgänger.
Denn selbst wenn es der Metaphysik nicht weniger darauf ankommt,
Gott zu erkennen, als der Theologie, bleiben die beiden Wissenschaften

254
Honnefelder, »Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und
Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert«, S. 169: »Ver-
wissenschaftlichung der Metaphysik« und S. 171: »der (theologisch motivierte) Rekurs
auf die aristotelische Wissenschaftstheorie […] im Gefolge Avicennas«. Vgl. ebd., S. 167:
»Was die lateinischen Autoren gegenüber der theologischen Deutung der Metaphysik
Distanz nehmen lässt, ist der sie verbindende christliche Glaube.«
255
Siehe Georg Wieland, »Der Mendikantenstreit und die Grenzen von Theologie und
Philosophie«, in: Marteen Hoenen, Josef Schneider und Georg Wieland (Hg.), Philoso-
phy and Learning. Universities in the Middle Ages, Leiden: Brill 1995, S. 17–28, hier:
S. 28. Nach der bekannten Hypothese von Alain de Libera fand der von Averroes beein-
flusste Aristotelismus der Artistenfakultät außerhalb der Universität, von der er nach der
Verurteilung durch den Bischof Tempier verbannt wurde, einerseits in Dantes »aristote-
lischem Humanismus«, andererseits aber – wiederum nur paradoxerweise – auch in dem
durchaus theologisch inspirierten Denken von Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart
und Berthold von Moosburg eine Fortsetzung. Siehe dazu Alain de Libera, Penser au
Moyen Âge, Paris: Seuil 1991, dt. Denken im Mittelalter, übersetzt von Andreas Knop,
München: Fink 2003.

96
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

in Hinsicht der von ihnen angewandten Methoden grundaus ver-


schieden. 256

c. Die katholou-tinologische Grundstruktur

Für diese Selbstständigkeit der Metaphysik als scientia transcendens


muss allerdings ein gewisser Preis gezahlt werden: Der abstrakte Cha-
rakter des transgenerischen, aber dennoch univoken Begriffs des Seien-
den ist dafür in Kauf zu nehmen. Es handelt sich dabei um ein Seiendes,
das nicht allein der Gegenüberstellung von Unendlichem und End-
lichem, von Notwendigem und Zufälligem sowie von Erstem und Ab-
geleitetem, sondern auch der Entgegensetzung zwischen Wirklichem
und bloß Möglichem vorhergeht. Was ist aber ein Seiendes, das ebenso
sehr bloß möglich – und das heißt: unwirklich – wie wirklich sein kann?
Es ist offenbar nichts mehr als ein Etwas überhaupt, ein aliquid, eben
gerade nicht nichts, non nihil (aber beinahe nichts), ein Ding (res) von
einem bestimmten Sachgehalt (realitas), aber gegebenenfalls reine Po-
tentialität ohne aktuelle Existenz. Zur Bezeichnung dieser Lehre von
Etwas überhaupt kann man aus dem griechischen Äquivalent für das
lateinische aliquid (etwas), nämlich aus dem Wörtchen τί, einen tref-
fenden Ausdruck bilden: Tinologie. Nichts könnte von diesem Ansatz
weiter entfernt sein als die Idee, den Akzent mit Thomas von Aquin auf
den Seinsakt (actus essendi) des Seienden zu setzen. Diese Akzentset-
zung würde ja die allgemeine Wissenschaft vom Seienden als solchem
ihrer uneingeschränkten Allgemeinheit berauben. Das entschiedene
Festhalten an dieser uneingeschränkten Allgemeinheit, an dem trans-
zendental begründeten Κatholou-Charakter der scientia transcendens,
bringt es jedoch bei Duns Scotus und seinen Zeitgenossen mit sich, dass
sich die Metaphysik tendenziell in eine Tinologie verwandelt. Zu Recht
besteht daher nach Boulnois die Behauptung: »Die Metaphysik wird
erst dadurch zur Ontologie, dass sie zur Tinologie wird – zu einer Wis-
senschaft vom aliquid, das heißt einer Wissenschaft von dem, was ist,
wie auch von dem, was nicht ist«. 257
Die scotistische Wende führt zur Entstehung einer neuen Grund-
struktur der Metaphysik. Boulnois sagt dazu: »Scotus zerreißt den

256
Boulnois, Être et représentation, S. 508.
257 Ebd., S. 513.

97
Grundtypen der Metaphysik

Faden, der das Allgemeine an das Erste band, und ordnet – gerade um-
gekehrt – das Erste dem Allgemeinen unter. Ich schlage vor, das Ergeb-
nis dieser Umwandlung, das die aristotelische Katholou-Protologie er-
setzt, ganz einfach als Katholou-Tinologie zu bezeichnen.« 258
Nach Boulnois’ Ansicht ist es gerade diese Umwandlung der aris-
totelischen Katholou-Protologie in eine Katholou-Tinologie, die zur
Heraufkunft einer ontotheologischen Verfassung der Metaphysik
führt. – a) Das Wort »Ontotheologie« soll dabei zunächst im Sinne
von Kant verstanden werden; in dieser Bedeutung steht es der »Physi-
kotheologie« gegenüber. Ein erster Aspekt der genannten Umwandlung
besteht in der Tat darin, dass jede Physikotheologie aristotelischen Ur-
sprungs mit Argwohn betrachtet und in Frage gestellt wird. Gewiss
kann die Erfahrung, die man von der Bewegung in der Welt hat, zur
Annahme eines Ersten Bewegers Anlass geben, aber sie erweist sich als
völlig kraftlos gegenüber einem Einwand, der zum ersten Mal von
Heinrich von Gent, dem bereits erwähnten Zeitgenossen und Gegner
von Duns Scotus, gegen die aristotelische Beweisführung erhoben wur-
de: Der Hinweis auf die Erfahrung der Bewegung ist offenbar unzu-
länglich, um zu beweisen, dass der Erste Beweger wahrhaft Gott ist. 259
Daraus geht deutlich hervor, dass ein Gottesbeweis, der a posteriori
angelegt ist, also im Ausgang von der erfahrenen Welt zu Gott gelangt,
solange nichts beweist, als er sich nicht mit einem ganz anders angeleg-
ten Gedankengang verbindet – nämlich mit einem Gedankengang, der
sich zur Aufgabe macht, das Wesen Gottes im Ausgang von den dis-
junktiven Transzendentalien a priori zu konstruieren. Diese Konstruk-
tion gehört selbst dann in den Kontext einer Ontotheologie (im kanti-
schen Sinne des Wortes), wenn Duns Scotus das so genannte
ontologische Argument von Anselm von Canterbury nicht übernimmt.
– b) Aber auch im Sinne von Heidegger kommt bei Duns Scotus und
seinen Zeitgenossen eine ontotheologische Verfassung der Metaphysik
auf. Denn die Umwandlung der Katholou-Protologie in eine Katholou-
Tinologie geht damit einher, dass Gott als erstes Seiendes in den all-
gemeinen Begriff des Seienden eingeschlossen und zum Gegenstand
einer besonderen Wissenschaft innerhalb der allgemeinen Wissenschaft
vom Seienden als solchem gemacht wird. Das ist der entscheidende
Schritt zur Ontotheologie im Sinne von Heidegger. Bei einer Struktur

258
Ebd., S. 514.
259 Ebd., S. 511.

98
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

der Metaphysik, die offen für eine sich von ihr unterscheidende Offen-
barungstheologie bleibt, wie dies bei Thomas von Aquin der Fall ist,
kann nämlich der Kreis von Gründen und Begründen nicht geschlossen
werden.
Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass
keineswegs jede Metaphysik durch eine ontotheologische Verfassung
charakterisiert ist. Diese Verfassung ist der Metaphysik vielmehr nur
während einer bestimmten Epoche des europäischen Denkens eigen-
tümlich. Allerdings dauert diese Epoche beinahe ein halbes Jahrtausend
lang. Sie beginnt mit Duns Scotus und Heinrich von Gent und erstreckt
sich über die Spätscholastik von Francisco Suárez und anderen bis zur
Zeit der deutschen Schulphilosophie und der vorkritischen Periode von
Immanuel Kants Denken. 260
Mit dem Gedanken der Katholou-Tinologie gibt uns Boulnois eine
griffige Formel an die Hand, die durchaus geeignet ist, Gilsons Idee von
»Essentialismus« berichtigend zu ersetzen. Er geht damit ein Stück wei-
ter auf dem Weg, den bereits Courtine in seinem Suárez-Buch betreten
hat. Es ist nicht uninteressant zu wissen, dass der Terminus Tinologie
seinen Ursprung einem »glücklichen Vorschlag (heureuse suggestion)«
von Pierre Aubenque zu verdanken hat.261 Auch diese Tatsache deutet
auf die Einheitlichkeit und die innere Kohärenz der metaphysiktypo-
logischen Forschungsinitiative in Frankreich hin.
Zusammenfassend seien hier vier Merkmale hervorgehoben, die
nach Boulnois zur näheren Kennzeichnung der ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik dienen können:

1. Der Gegenstand der Metaphysik ist das Seiende im Sinne eines


Denkobjekts (cogitabile), das in seiner äußersten Allgemeinheit
als etwas Vorstellbares (repraesentabile) schlechthin, in diesem
Sinne als etwas überhaupt (aliquid), als eben gerade nicht nichts
(non-nihil), begriffen wird, so dass es nicht allein das Sein im Sin-
ne der Existenz (esse existentiae), sondern auch das Sein im Sinne
der Wesenheit (esse essentiae) oder auch der Sachhaltigkeit (reali-
tas), ja tendenziell sogar das Sein als bloßes Gedankending (ens
rationis) umfasst.

260
Ebd., S. 515.
261 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 536.

99
Grundtypen der Metaphysik

2. Das Seiende als das Vorstellbare überhaupt ist in der Vorstellung


eingeschlossen und bezieht sich als reines Denkobjekt auf univoke
Weise, das heißt in derselben Bedeutung, auf jedes Seiende über-
haupt, sei es unendlich oder endlich.
3. Gott ist als erstes, ausgezeichnetes und höchstes Seiendes im Be-
griff des Seienden eingeschlossen und hebt sich von anderen Sei-
enden nur durch einen zusätzlichen Unterschied (in erster Linie
durch seine Unendlichkeit) ab.
4. Gottes Wesenheit wird mit Hilfe von Begriffen, vornehmlich im
Ausgang von disjunktiven Transzendentalien, a priori konstruiert.
Auf Grund dieser Konstruktion können dann seine Existenz und
seine Unizität (Einzigkeit) a posteriori bewiesen werden.

Diese vier charakteristischen Merkmale der ontotheologischen Verfas-


sung werden nicht dem Heidegger’schen Wesensentwurf der Metaphy-
sik entnommen. Zu verdanken sind sie vielmehr ganz und gar einem
konkreten Versuch, die Heidegger’sche Idee einer ontotheologischen
Verfassung der Metaphysik auf eine bestimmte Epoche des europä-
ischen Denkens anzuwenden. In seinem Aufsatz »Heidegger, l’onto-
théologie et les structures médiévales de la métaphysique« zieht Boul-
nois aus diesem Versuch sogar Schlüsse, die eine sachliche Kritik an
Heideggers ursprünglicher Konzeption begründen. Seine Auseinander-
setzung mit dieser Konzeption ist vom Gedanken getragen, dass »der
Begriff der Onto-Theologie selbst historisiert werden muss«. 262 Damit
bringt Boulnois das Grundanliegen zur Sprache, das die metaphysikty-
pologischen Forschungen in Frankreich seit dem Anfang der 1980er
Jahre beseelt und in Atem hält. Seine Bemerkungen geben uns Anlass
dazu, Missverständnissen vorzubeugen, denen Courtines und Boulnois’
Idee einer tinologischen Grundtendenz der von Duns Scotus und von
Suárez geprägten Metaphysikformation leicht zum Opfer fällt. Dazu
müssen wir uns auf die methodologischen Eigentümlichkeiten der me-
taphysiktypologischen Forschungsinitiative in Frankreich besinnen.

262
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 405.

100
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

3. »Historisierung« der Ontotheologie

Aus Boulnois’ Auseinandersetzung mit Heideggers Auffassung von der


ontotheologischen Verfassung der Metaphysik erwachsen sachliche
Einwände, die dem nicht erst von Boulnois selbst, sondern bereits von
Brague, Courtine und Marion unternommenen Versuch, die Ontotheo-
logie zu »historisieren«, eine deutliche Notwendigkeit zukommen las-
sen. Zunächst wollen wir diese Notwendigkeit spürbar machen, indem
wir die von Boulnois erhobenen Einwände zusammenfassen.

a. Einwände gegen Heideggers Wesensbestimmung der Metaphysik

Behauptet de Libera nicht ohne Grund, dass Heidegger sich mit seiner
Auffassung von der ontotheologischen Verfassung der Metaphysik von
vornherein im Rahmen der scotistischen Avicennainterpretation be-
wegt, ohne der von Averroes beeinflussten Tradition der Aristoteles-
auslegung oder auch nur der von Albertus Magnus und Thomas von
Aquin vertretenen Avicennadeutung Rechnung zu tragen, so rührt dies
nach Boulnois vor allem daher, dass Heidegger den Einfluss der ara-
bischen Philosophie auf die peripatetische Metaphysik des Mittelalters
nicht hinreichend beachtet. In Anknüpfung an eine Avicennastelle be-
tont Boulnois mit vollem Recht, dass die Sprache des Seins keineswegs
allein Griechisch und Lateinisch, sondern auch Arabisch und Persisch
ist. 263 Dagegen geht Heidegger davon aus, dass bereits die Übersetzung
griechischer Grundworte der Metaphysik ins Lateinische – durch Cice-
ro, Seneca, Marius Victorinus, Augustinus und andere bis hin zu Boe-
thius – im Zeichen eines »Wesenswandels der Wahrheit« 264 und damit
zugleich im Zeichen eines »Abfalls« vom griechischen Urspung steht. 265

263
Ebd., S. 405 und Anm. 91. Rémi Brague hebt darüber hinaus die Rolle jüdischer
Übersetzer in der Vermittlung der Metaphysik der Araber für die westliche Welt hervor.
Er weist auf die Tatsache hin, dass manche dieser Texte nicht allein ins Lateinische, son-
dern auch ins Hebräische übersetzt wurden. In diesem Sinne lässt sich hinzufügen: Die
Sprache des Seins war im Mittelalter auch Hebräisch. (Siehe Rémi Brague, Au moyen du
Moyen Âge. Philosophies médiévales en chrétienté, judaisme et islam [Champs Essais],
Paris: Flammarion 2006, S. 314 f. und S. 322 f.)
264
Martin Heidegger, Parmenides [Gesamtausgabe, Bd. 54], hg. von Manfred S. Frings,
Frankfurt am Main: Klostermann 1982, S. 62 f. und S. 72–79.
265 Ebd., S. 79.

101
Grundtypen der Metaphysik

Vermutlich aus diesem Grunde entgeht ihm die Bedeutung der in


erster Linie von Boethius ausgehenden Metaphysik des 12. und des
frühen 13. Jahrhunderts vollends. In seinem Buch über Die mittelalter-
liche Philosophie stellt de Libera diese voraristotelische Metaphysikfor-
mation bekanntlich als die »griechisch-lateinische Metaphysik« der
»peripatetischen« Metaphysik des späteren Mittelalters gegenüber, die
er auch als »griechisch-arabische Metaphysik« bezeichnet. Zur Charak-
terisierung mancher Denkentwürfe, die auch noch zur Zeit der ersten
Rezeption der aristotelischen Metaphysik im 13. Jahrhundert dem frü-
heren Ansatz verhaftet bleiben, verwendet Boulnois den Ausdruck
»Protologie«, diesmal ohne dieses Wort mit dem Vorderglied »Katho-
lou« zu verbinden. 266 Er zeigt, dass diesen Denkentwürfen keine onto-
theologische Verfassung, sondern vielmehr eine Tendenz zur »Reduk-
tion der Ontologie auf die Theologie« zugeschrieben werden kann. 267
Damit liefern sie Beispiele für eine Aristoteles-Rezeption im Mittelalter,
die sich der Heidegger’schen Wesensbestimmung der Metaphysik von
vornherein entzieht.
Die von Boulnois als »Protologie« bezeichnete frühmittelalterliche
Metaphysikformation steht von Anfang an unter dem von Boethius
vermittelten Einfluss von Porphyrios, empfängt darüber hinaus Anre-
gungen aus der Ammonios-Schule und räumt dem letztlich auf Proklos
zurückgehenden Liber de causis geradezu eine Vorrangstellung ein.
Wenn sie in Heideggers Auffassung von der ontotheologischen Verfas-
sung der Metaphysik unberücksichtigt bleibt, so liegt dieses Versäum-
nis wohl auch an der »wahrhaften ›Neuplatonismusvergessenheit‹«, die
Boulnois – übrigens im Einklang mit Werner Beierwaltes und einer
ganzen Reihe anderer Philosophiehistoriker – bei Heidegger diagnosti-
ziert. 268
Diese Neuplatonismusvergessenheit wirkt sich nach Boulnois
selbst noch in Heideggers Ansicht über das Verhältnis von Thomas
von Aquin und Duns Scotus aus. Heidegger orientiert sich seit seiner

266
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 390–393.
267
Ebd., S. 392.
268 Ebd., S. 406. Es ist lohnenswert hervorzuheben, dass Paul Ricœur ähnliche Einwände

gegen Heideggers Kritik der Ontotheologie erhebt. Siehe André LaCocque und Paul
Ricœur, Penser la Bible, Paris: Seuil 1998, S. 365. (Ich danke der Pariser und Wuppertaler
Doktorandin, Frau Veronika Cibotaru, dafür, dass sie mich auf diese Stelle aufmerksam
machte.)

102
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

Habilitationsschrift vornehmlich an Duns Scotus. An einer Stelle dieser


Qualifikationsarbeit zitiert er – und zwar offensichtlich zustimmend –
das Urteil eines wohlinformierten Autors aus dem späten neunzehnten
Jahrhundert (Hermann Siebeck): »[…] epochemachend in […] der mit-
telalterlichen Philosophie ist nicht Thomas von Aquino, sondern Duns
Scotus.« 269 In seinen Vorlesungen aus den 1920er Jahren kommt Hei-
degger gelegentlich auf mittelalterliche Autoren zu sprechen, die er
weitaus besser kennt als die meisten anderen Ordinarien für Philosophie
an deutschen Universitäten seiner Zeit. Zusammen mit Étienne Gilson
und Alexandre Koyré gehört er sogar zu den wenigen Philosophen und
Philosophiehistorikern, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun-
derts deutlich sahen, wie weitgehend die Philosophie der Neuzeit sich
aus den Problemen der scholastischen Metaphysik speist und die in die-
ser Hinsicht auch die Vermittlerrolle von Francisco Suárez erkannten.
Besonders eingehend befasst sich Heidegger in der Vorlesung Die
Grundprobleme der Phänomenologie mit Thomas von Aquin, Duns
Scotus und Suárez. 270 In seiner Vorlesung Die Grundbegriffe der Meta-
physik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit bezieht er Thomas von Aquin
und Suárez in seine Erörterungen über die Metaphysik ein, die er zu
dieser Zeit noch nicht zu überwinden, sondern zu erneuern sucht. 271 Er
übersieht zwar keineswegs die Unterschiede zwischen den drei scholas-
tischen Metaphysikentwürfen, auf die er in seinen Vorlesungen aus-
führlicher eingeht, aber er bemerkt nicht, dass Thomas von Aquin durch
eine Kluft von Duns Scotus und dem bereits an der scotistischen Wende
orientierten Suárez getrennt ist. Daraus ergibt sich ein gewisser Mangel
an Differenziertheit in seiner Metaphysikauffassung, für den nach
Boulnois letztlich wiederum nur seine »Neuplatonismusvergessenheit«
verantwortlich ist: Heidegger liest Thomas von Aquin als christlichen
Aristoteliker, ohne der »neuplatonischen Dimension« des thomistischen
Denkens Rechnung zu tragen. 272 Er ist blind für den Einfluss des Neu-
platonismus auf die Aristoteles-Rezeption der Hochscholastik, wie er

269
Martin Heidegger, Frühe Schriften [Gesamtausgabe, Bd. 1], hg. von Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Frankfurt am Main, Klostermann 1978, S. 283.
270
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 108–171.
271
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 69–84.
272
Boulnois, »Heidegger, l’ontothéologie et les structures médiévales de la métaphysi-
que«, S. 397.

103
Grundtypen der Metaphysik

blind für den Einfluss der arabischen Philosophie auf die peripatetische
Metaphysik des Mittelalters ist. Nur deshalb kann er der Metaphysik im
Ganzen eine allumfassende Wesenseinheit zuschreiben, ohne dessen in-
ne zu werden, dass er sich mit seiner Idee einer ontotheologischen Ver-
fassung der Metaphysik von vornherein nur im Rahmen einer be-
stimmten Avicennainterpretation bewegt.
Nach Boulnois ist eine »Historisierung« der Ontotheologie dazu
berufen, diesem Missstand abzuhelfen. Zugleich ist sie nach ihm auch
dazu geeignet, das heuristische Potential von Heideggers Idee einer on-
totheologischen Verfassung der Metaphysik zu bewahren oder sogar
voll auszuschöpfen. Auf diese Weise verbindet sich die Kritik hier mit
einem letztlich doch affirmativen Verhältnis zum Heidegger’schen Er-
be. Diese Ambivalenz ist nicht allein für Boulnois selbst, sondern mehr
oder weniger für eine ganze Reihe französischer Philosophiehistoriker
von Marion, Courtine und Brague bis zu Carraud und Bardout charak-
teristisch. Mit diesem zwiespältigen Verhältnis zu Heidegger hängen
die methodologischen Eigentümlichkeiten zusammen, die der metaphy-
siktypologischen Forschungsinitiative in Frankreich anhaften.

b. »Historisierung« der Ontotheologie in einer geschichtlichen


Philosophie

Forscher wie Courtine oder Boulnois sind zwar weit davon entfernt,
eine »Seynsgeschichte« im Sinne von Heideggers mittlerer Periode zu
betreiben, aber sie weichen in ihren Methoden von der traditionellen
Philosophiegeschichtsschreibung ebenfalls ab. Wird der Tatsache dieser
Abweichung nicht Rechnung getragen, so kann sich der Ausdruck
»Historisierung« der Ontotheologie leicht als irreführend erweisen.
Um uns ein Bild von den methodologischen Voraussetzungen zu
machen, die der metaphysiktypologischen Forschungsinitiative in
Frankreich eigentümlich sind, wollen wir auf Courtines Werk Suarez
et le système de la métaphysique, in dem diese Voraussetzungen beson-
ders deutlich werden, etwas ausführlicher eingehen. In diesem Buch
wird eine »doppelte, auf ein Vorher und ein Nachher spannungsvoll
bezogene Lesart (une double lecture, distendue selon un avant et un
après)« praktiziert. 273 Das Thema des Buches ist die Wende, die Suárez

273 Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 247.

104
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

in der Geschichte der Metaphysik herbeigeführt hat: »le tournant sua-


rézien«. 274 Den Ort dieser Wende bestimmt Courtine zwischen dem
»Vorher« der »scotistischen Epoche« 275 und dem »Nachher« der onto-
logisch – oder, richtiger noch, »onto-logisch« – orientierten Schulphi-
losophie (von Rudolf Göckel und Clemens Timpler bis zu Christian
Wolff und Alexander Baumgarten).
Wie später Boulnois arbeitet Courtine an einer »Genealogie« neu-
zeitlicher Metaphysik. 276 In diesem Terminus, wie in dem in Inventio
analogiae ebenfalls verwendeten Ausdruck »Archäologie«, macht sich
der Einfluss von Michel Foucault bemerkbar, obgleich das Wort »Ge-
nealogie« freilich seit Husserls »Genealogie der Logik« auch in der phä-
nomenologischen Tradition heimisch ist. Auf jeden Fall versucht Cour-
tine zu zeigen, »wie im Stillen ein Horizont entsteht, innerhalb dessen
eine Welt in eine andere, völlig verwandelte umkippen (basculer)
kann«. 277
Diese genealogische Perspektive unterscheidet die metaphysik-
typologischen Arbeiten von Courtine und Boulnois von Albert Zim-
mermanns ebenfalls typologisch angelegten Werk Ontologie oder Me-
taphysik?, auf das sich beide stützen. Anders als dem deutschen
Autoren geht es den französischen »Genealogen« nicht einfach um eine
Nebeneinanderstellung dokumentierbarer Lösungsversuche für ein ge-
meinsames Grundproblem. Es geht ihnen darüber hinaus um die Dar-
stellung des Prozesses, in dem sich eine Welt in eine andere umwandelt.
Deshalb ist es nicht überraschend, dass Courtine die »Einmaligkeit (sin-
gularité) des Denkens von Suárez« nicht etwa aus der eigenständig ent-
wickelten Grundposition der Disputationes metaphysicae ableitet, son-
dern vielmehr daraus, dass Suárez »einen Standpunkt einnimmt, der
ihn offensichtlich auf die Seite der Thomisten stellt, sich aber dabei auf
Argumente stützt, die der scotistischen These bereits das Wesentliche
zugestanden haben«. 278 Dazu gehört auf der anderen Seite – der Seite
des »Nachher« – der Gedanke, dass die Autoren der deutschen Schul-
philosophie – im Gegensatz zur Auffassung von Max Wundt – nur des-
halb von Suárez abweichen, weil sie »die inneren Spannungen der Dis-

274 Ebd., S. 137.


275
Ebd.
276
Ebd., S. 436.
277
Ebd., S. 420, Anm. 17.
278 Ebd., S. 392.

105
Grundtypen der Metaphysik

putationes aufzulösen oder deren Gleichgewicht wiederherzustellen«


suchen. 279 Courtine erfasst, so könnte man sagen, überhaupt nicht
Positionen, die gleichsam in einem logischen Raum situiert werden soll-
ten, sondern Tendenzen, die sich einem geschichtlichen Prozess ein-
fügen. Seine »doppelte Lesart« steht im Dienst einer metaphysiktypo-
logischen Tendenzanalyse. Ähnliches gilt für Boulnois und andere
Vertreter der metaphysiktypologischen Forschungsinitiative in Frank-
reich.
In dieser Sichtweise geht es eher darum, »unerwartete Folge-
erscheinungen und Abstammungsverhältnisse (conséquences et filia-
tions)« philosophischer Gedanken zu untersuchen, als darum, »ihren
streng umrissenen historisch-doktrinalen Kontext« zu erfassen. 280
Courtine weiß, dass eine derartige Untersuchung leicht den Verdacht
von »Hineinprojizierung (projection)« oder »Doppelbelichtung (surim-
pression)« erweckt. 281 Dieser Verdacht rührt aber nach ihm vor allem
daher, dass die Philosophiehistoriker der Aufgabe der »Erforschung des
Hintergrunds einer von allen Autoren akzeptierten Problemstellung«
die Aufgabe vorziehen, »die Unterschiede zwischen den verschiedenen
Grundlehren herauszustellen«. 282 Deshalb konzentrieren sie sich mit
Vorliebe auf Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern kon-
kurrierender »Schulen«. Wir haben aber – so Courtine – von Étienne
Gilson gelernt, dass »sich die thematischen Debatten zwischen verschie-
denen Grundlehren ständig als unfruchtbar erweisen, weil die grund-
sätzlichen Entscheidungen der Diskussionsteilnehmer anderweitig und
in den meisten Fällen schon vor der ausdrücklichen Auseinanderset-
zung getroffen wurden.« 283 Es ist daher in Wahrheit fruchtbarer, »über
die Unterschiede zwischen den verschiedenen Grundlehren, seien sie
noch so bedeutsam, hinausgehend« den ihnen zugrunde liegenden
»Problembestand selbst« zu erfassen, so wie er gerade in unterschied-
lichen Fassungen verarbeitet wird. 284 So erfasst Courtine die Zusam-
mengehörigkeit eines Heinrich von Gent und eines Duns Scotus über
den Abgrund hinweg, der sie voneinander trennt, und ähnlich verfährt

279
Ebd., S. 431.
280 Ebd., S. 137.
281
Ebd.
282
Ebd., S. 173.
283
Ebd., S. 209.
284 Ebd., S. 167.

106
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

er mit Suárez und seinen deutsch-aristotelischen Kritikern. Er gibt Gil-


son selbst darin recht, dass manche Autoren (im gegebenen Kontext
handelt es sich um den ungewöhnlich radikalen Scotus-Nachfolger Pet-
rus Aureolus, den doctor facundus 285) den Philosophiehistoriker förm-
lich dazu einladen, »die großen Ereignisse vor den Zeitpunkt ihres tat-
sächlichen Geschehens zu verlegen«. 286
Daraus ist zugleich ersichtlich, in welchem Sinne die metaphysik-
typologische Forschungsinitiative in Frankreich Gilsons Erbe weiter-
zuführen sucht. Gilsons hochentwickelter Sinn für die Erfassung eines
gemeinsamen Problemhintergrunds auseinandergehender Schulposi-
tionen soll voll bewahrt bleiben, ohne dass die aus thomistischer Per-
spektive entworfene Verfallsgeschichte, die in L’être et l’essence den
Gedankengang trägt, mit übernommen würde. Auch Honnefelders
groß angelegte Erfolgsgeschichte scotistischer Metaphysik, wie sie in
Scientia transcendens mit vielseitiger Gelehrsamkeit und umfassendem
Blick dargestellt ist, findet bei den französischen Philosophiehistorikern
auf keinen eindeutigen Widerhall, und zwar nicht nur deshalb, weil
Courtine das gleichzeitig mit seinem Suárez-Buch erscheinende Werk
erst nachträglich rezipiert. Die konzeptionellen Unterschiede zwischen
den beiden Denkansätzen sind im Rückblick unverkennbar. Anders als
Honnefelder geht es Courtine keineswegs um eine fortschreitende Ver-
wissenschaftlichung der Metaphysik als Transzendentalphilosophie,
sondern um einen geschichtlichen Wandel von Welten. Es ist kein Zu-
fall, dass er gleichzeitig mit seinem Suárez-Buch eine Aufsatzsamm-
lung über den späten Schelling veröffentlicht, die uns übrigens noch
im Einzelnen beschäftigen wird. Worauf es ihm in seinen metaphysik-
typologischen Untersuchungen eigentlich ankommt, ist der Entwurf
einer geschichtlichen Philosophie, so wie sie bereits von Schelling, dem
Verfasser der »Weltalter«-Fragmente und der Vorlesungen über My-
thologie und Offenbarung, jeder apriorisch konzipierten Geschichtsphi-
losophie, sei es Fichte’schen oder auch Hegel’schen Typs, aufs Schroffste
gegenübergestellt wurde.

285
Ebd.
286
Étienne Gilson, Philosophie au Moyen Âge. Des origines patristiques à la fin du XIVe
siècle, Paris: Payot 21962 (11922), S. 632.

107
Grundtypen der Metaphysik

c. Die Grundtendenz zur Tinologie bei Duns Scotus und Suárez

Wenn Courtine bei Suárez, ja eigentlich auch schon bei Duns Scotus
eine Tendenz zur Tinologie entdeckt, 287 so nimmt er damit einen Stand-
punkt ein, der durchaus im Sinne seiner geschichtlichen Philosophie
verstanden werden muss. Zimmermanns Frage »Ontologie oder Meta-
physik?« entscheidet er, indem er zu zeigen versucht, wie aus der Me-
taphysik Ontologie wird. Er setzt hinzu, dass die entstehende Ontologie
von vornherein dazu neigt, das Sein auf Gegenständlichkeit (auf ein
esse objectivum) und damit das Seiende als Seiendes auf ein bloß Denk-
bares (auf ein intelligibile oder cogitabile) zu reduzieren. Er erblickt in
der aufkeimenden Ontologie einen Hang dazu, sich als eine die Logik
und die Ontologie gleichermaßen umfassende oder miteinander sogar
gleichsetzende Lehre, mithin als eine »Onto-Logik«, zu begreifen, und
er verbindet diesen Hang zugleich mit einer Anlage der neuen Meta-
physikformation zur Gliederung in eine metaphysica generalis und
eine metaphysica specialis. All diese Behauptungen versteht Courtine
streng im Sinne einer metaphysiktypologischen Tendenzanalyse, so
wie sie sich auf seine »doppelte Lesart« stützt.
Es entgeht ihm natürlich nicht, dass dem Seienden als Seiendem
nicht nur bei Suárez, sondern auch schon bei Heinrich von Gent und bei
Duns Scotus eine »Gültigkeit« oder »Festigkeit« (ratitudo) 288 zukommt,
die es von bloßen Gedankendingen unterscheidet. 289 Courtine weiß
ebenfalls, dass Suárez nicht etwa das Etwas überhaupt, sondern die
»reale Wesenheit (essentia realis)« als eigentümlichen Gegenstand
(»Subjekt«) der Metaphysik bezeichnet und ihr durchaus eine »Eig-
nung zum Sein (aptitudo ad existendum)« zuschreibt. 290 Auch die ver-
schiedenen Phasen, in denen sich die Zweiteilung der Metaphysik in
eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis mit zu-
nehmender Deutlichkeit durchsetzt, verliert er keineswegs aus den Au-
gen. 291 Mit besonderem Nachdruck betont er den Unterschied zwischen

287
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 268 und S. 288 f.
288
Siehe dazu Ludger Honnefelder, »Die Lehre von der doppelten ratitudo entis und ihre
Bedeutung für die Metaphysik des Johannes Duns Scotus«, in: Deus et Homo ad mentem
I. Duns Scoti. Acta Tertii Congressus Scotistici Internationalis, 28. Sept.–2. Oct. 1970,
Rom: Societas Internationalis Scotistica 1972, S. 661–671.
289
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 183–185 und S. 290 f.
290
Ebd., S. 290 f.
291 Vgl. ebd., S. 268 und besonders S. 333 f.

108
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

einerseits Suárez, der die spezielle Metaphysik am Anfang des zweiten


Bandes der Disputationes metaphysicae im Anschluss an Duns Scotus
mit einer Analyse des disjunktiv-transzendentalen Begriffs der Unend-
lichkeit beginnt, 292 und andererseits den Deutsch-Aristotelikern Cle-
mens Timpler, Johann Heinrich Alsted, Johannes Scharf und anderen,
die die spezielle Metaphysik von der transzendentalphilosophischen
Ontologie völlig absondern, indem sie ihr nur noch eine Kategorialana-
lyse der Substanz zugrundelegen. 293
Aus diesem Grund scheint mir die Kritik, der Rolf Darge Courtines
Auffassung von einer tinologischen Grundtendenz der scotistisch-suá-
rezianischen Metaphysikformation in seiner – ansonsten grundlegen-
den – Abhandlung über Suárez sowie in einem seiner früheren Aufsät-
ze unterzieht, schon im Ansatz verfehlt zu sein. Denn diese Auffassung
lässt sich auf eine »logizistische Deutung« der Disputationes metaphy-
sicae 294 nicht ohne Verkürzung festlegen. Insbesondere kann die an und
für sich durchaus stichhaltige Beobachtung, dass die reale Wesenheit bei
Suárez durch eine »Hinordnung auf die aktuale Existenz« charakteri-
siert ist, 295 dem Verfasser von Suarez et le système de la métaphysique
nicht kritisch entgegengehalten werden, da er – entgegen dem Vorwurf
von Darge 296 – keineswegs das Gegenteil dieser Beobachtung annimmt,
sondern vielmehr den gleichen Gedanken wie Darge selbst ausspricht:
»Das Sein der Wesenheit ist hingeordnet auf die Existenz als auf den
Maßstab, an dem alle Realität gemessen wird […]«. 297 Bei Courtine ist
dieser Gedanke auch nicht etwa beiläufig, sondern er hat einen hohen

292
Ebd., S. 394–401.
293
Ebd., S. 428–430.
294
Rolf Darge, »›Ens inquantum ens‹. Die Erklärung des Subjekts der Metaphysik bei
F. Suarez«, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiévales 66, 2 (1999), S. 335–
361, hier: S. 340–349.
295
Ebd., S. 346.
296
Rolf Darge, Suárez’ transzendentale Seinsauslegung und die Metaphysiktradition,
Leiden und Boston: Brill 2004, S. 18: »Eine zentrale Stelle in dieser ganzen Deutung
nimmt die Annahme ein, daß der metaphysisch maßgebliche Begriff des Seienden oder
des Dings gemäß Suárez keine Hinordnung auf die denkunabhängige Existenz ein-
schließt […].«
297
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 194. Die einschlägige Textstelle
(zusammen mit einem von Suárez auf Lateinisch zitierten Satz) lautet im französischen
Original wie folgt: »Mais la réal-ité de l’essentia realis ne s’en réfère pas moins à la réalité
effective de l’ex-sistentia realis; c’est tourné vers cette effectivité ou cette effectuation
possible que l’objectivité devient pleinement réale: ›esse essentiae non potest concipi ut
reale, nisi saltem aptitudine includat ordinem ad existentiam‹. [Suárez, Disputationes

109
Grundtypen der Metaphysik

Stellenwert in der Gesamtkonzeption des Buches Suárez et le système


de la métaphysique: Er ist unerlässlich zur vollen Überwindung von
Gilsons allzu einseitigem Essentialismuseinwand. Courtine zufolge ver-
bindet sich die Tendenz zu einer Trennung der realen Wesenheit von
der aktualen Existenz mit einer – bei Wilhelm von Occham und den
Nominalisten des 14. Jahrhunderts zum ersten Mal auftauchenden,
schließlich aber auch bei Suárez zur Geltung kommenden – korrelati-
ven Tendenz, die sich auf die Bestimmung der aktualen Existenz als
»Positivität« und »Effektivität«, als Wirk-lichkeit im Sinne der aus-
schließlichen Wirkungssphäre der wirkenden Ursache richtet und da-
mit bereits das neuzeitliche Verhältnis zur Realität vorbereitet. 298
Darge scheint Courtines Entfernung von Gilson, wie übrigens
auch Boulnois’ Abstand von ihm, zu unterschätzen. 299 Vor allem nimmt
er aber den Gedanken einer tinologischen Grundtendenz der scotis-
tisch-suárezianischen Metaphysikformation, so wie er von den beiden
französischen Autoren ausgesprochen wird, unmittelbar als eine text-
interpretatorische These. In Wahrheit ist dieser Gedanke der Ausdruck
einer metaphysiktypologischen Tendenzanalyse, der als solcher – im
Unterschied von anderen Aussagen derselben Autoren – nicht dazu be-
stimmt ist, eine Tatsache auf der Ebene unmittelbarer Textinterpretati-
on zu erfassen.
Gewiss muss sich auch eine metaphysiktypologische Tendenzana-
lyse an Tatsachen halten. Die geschichtliche Philosophie, die Courtine
vorschwebt, ist keine apriorische Konstruktion. Aber die Tatsachen, de-
nen eine metaphysiktypologische Tendenzanalyse zu entsprechen
sucht, sind anders geartet als die Tatsachen unmittelbarer Textinterpre-
tation. In ihre Konstitution geht das Vorher und Nachher der doppelten
Lesart notwendig ein. Konstitutiv ist für sie darüber hinaus auch eine
Gegenüberstellung unterschiedlicher Metaphysikformationen. Diese
metaphysiktypologische Komponente prägt der Tendenzanalyse einen
»diakritischen« Charakter auf. Insofern tritt die genealogische Methode

metaphysicae, VI, 5, 3.] L’être essentiel est donc ordonné à l’existence comme au terme
ultime qui mesure toute réalité […].«
298
Ebd., S. 188 f.
299 Von anderen Kritikpunkten, die Rolf Darge in seiner Habilitationsschrift und seinem

hervorragenden Aufsatz »Die Grundlegung einer allgemeinen Theorie der transzenden-


talen Eigenschaften des Seienden bei F. Suárez« (in: Zeitschrift für philosophische For-
schung 54 [2000], S. 341–364) zur Sprache bringt, ist damit natürlich nichts gesagt; sie
bedürfen einer eingehenderen Diskussion, für die hier nicht der Ort ist.

110
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

von Courtine und Boulnois auch das Erbe des Strukturalismus an. Des-
halb gehört im Buch Suarez et le système de la métaphysique zur Ent-
faltung des Gedankens einer tinologischen Grundtendenz der scotis-
tisch-suárezianischen Metaphysikformation nicht allein ein Rückblick
auf Duns Scotus, Heinrich von Gent und andere Autoren der Hoch-
scholastik 300 sowie ein Vorblick auf Clemens Timpler und Johannes
Clauberg, auf Christian Wolff und Alexander Baumgarten und sogar
auf Immanuel Kant, 301 sondern auch ein kontrastiver Seitenblick auf
Bonaventura, Thomas von Aquin, Aegidius Romanus und Meister Eck-
hart. 302
Der Kontrast zu einer abweichenden Metaphysikformation dient
bei Courtine dazu, den gemeinsamen Problemhintergrund sichtbar zu
machen, vor dem die Unterschiede zwischen der scotistischen Epoche,
der suárezianischen Wende und der deutschen Schulphilosophie auf-
gewiesen werden können. Für diese Unterschiede sind ausschließlich
die Tatsachen unmittelbarer Textinterpretation relevant. Anders steht
es jedoch mit der Erfassung des gemeinsamen Problemhintergrunds.
Für sie sind die komplexeren Tatsachen bestimmend, an die sich die
metaphysiktypologische Tendenzanalyse hält.
Auf dieser Ebene erhalten auch philosophische Überlegungen eine
Rolle in der historischen Erörterung. In philosophischer Hinsicht orien-
tiert sich Courtine – und mit ihm auch die meisten anderen Vertreter
der metaphysiktypologischen Forschungsinitiative in Frankreich – ganz
und gar an der Phänomenologie. Im Gegensatz zu Honnefelder geht er
daher nicht etwa vom Grundproblem einer theologisch motivierten Ver-
wissenschaftlichung der Metaphysik, sondern – wie bereits Zimmer-
mann vor ihm in seiner Antrittsvorlesung – von der Heidegger’schen
»Grundfrage der Metaphysik« aus. Ähnlich wie bereits Zimmermann
findet er, dass die ontologisch angelegte Metaphysik viel weniger mit
dieser Grundfrage zurechtkommt als die ihr gegenüberstehende Meta-
physikformation. Dieses Urteil begründet seine Rede vom »›nihilisti-
schen‹ Hintergrund« des gesamten Forschungsvorhabens der Onto-
logie. 303 Gleichwohl geht er davon aus, dass keine Metaphysikformation
der Grundfrage der Metaphysik ausweichen kann: »Jede Metaphysik,

300
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 157–194 und S. 276 f.
301
Ebd., S. 248–263.
302
Ebd., S. 272–276 und 280–285.
303 Ebd., S. 258.

111
Grundtypen der Metaphysik

die diesen Namen verdient, ist eine These über das Sein, aber diese
These ist gleichsam im Verborgenen (comme en sous-œuvre) von einer
These über das Nichts begleitet […]«. 304 Deshalb schreibt er Suárez eine
– vom spanischen Denker allerdings nur stillschweigend vertretene –
»These über das Nichts« zu, in der er zugleich den »blinden Fleck (point
aveugle)« der scotistisch-suárezianischen Metaphysikformation er-
kennt. 305
Courtine leitet weiterhin die Bestimmung des Seins als Gegen-
ständlichkeit aus einer Tendenz zum Repräsentationalismus ab, die er
bereits bei Duns Scotus entdeckt, um sie dann in einer detailreichen
Analyse von Petrus Aureolus bis zu Wilhelm von Occham weiterzuver-
folgen. 306 Er zeigt, dass die Umwandlung der aristotelischen φαντασία
in eine repraesentatio die unmittelbare Fühlung mit dem Erscheinen
des Erscheinenden aufhebt und sogar einen »vollständigen Entzug der
Gegenwärtigkeit als Erscheinens (retrait complet de la présence comme
manifestation)« zur Folge hat. 307 Hier wird die phänomenologische In-
spiration von Courtines metaphysiktypologischen Forschungen offen-
sichtlich. Es stellt sich zugleich heraus, dass der scotistisch-suárezia-
nischen Metaphysikformation bei ihm keineswegs allein Bonaventura,
Albertus Magnus, Thomas von Aquin oder Meister Eckhart gegenüber-
steht, sondern ursprünglicher noch Aristoteles (und zwar gleichsam als
Protophänomenologe).
Dass philosophische Überlegungen in der Erfassung des gemein-
samen Problemhintergrunds verschiedener Grundlehren eine Rolle
erhalten, bedeutet nicht, dass die Ergebnisse einer metaphysiktypologi-
schen Tendenzanalyse deshalb nur noch als »idealtypische Konstruktio-
nen« gelten könnten. In Wahrheit sind sie keine bloßen Konstruktionen,
weil sie von Textinterpretationen getragen sind und auch im Ganzen
jeweils in Textinterpretationen verankert werden. Von Textinterpreta-
tionen getragen: sowohl das Vorher und Nachher der doppelten Lesart
als auch der Kontrast zu abweichenden Metaphysikformationen werden
durch strenge Textinterpretationen belegt. In Textinterpretationen ver-
ankert: Selbst noch die komplexen Tatsachen einer metaphysiktypo-
logischen Tendenzanalyse bedürfen obendrein jeweils zumindest einer

304
Ebd., S. 257.
305
Ebd.
306
Ebd., S. 157–182.
307 Ebd., S. 162.

112
Duns Scotus, Suárez und die katholou-tinologische Grundstruktur

Exemplifizierung auf der Ebene unmittelbarer Texinterpretation. So


verankert Courtine seine Analyse der erwähnten Tendenz zum Reprä-
sentationalismus in der scotistischen Epoche methodisch in einer Text-
interpretation, die er der Auseinandersetzung von Gregorio da Rimini
(oder Gregorius Ariminensis) und Giovanni da Ripa mit Petrus Aureo-
lus widmet. 308 Was die tinologische Grundtendenz der scotistisch-suá-
rezianischen Metaphysikformation betrifft, so fällt die Rolle der Ver-
ankerung nicht allein bei Courtine, sondern auch bei Boulnois in erster
Linie einem Text aus dem frühen 14. Jahrhundert zu, den Zimmermann
im ersten Teil seines Werkes Ontologie oder Metaphysik? veröffent-
licht hat. 309
Der anonyme Autor, der zunächst als der Dominikaner Bernard
von Trilia, dann aber eher als der Wilhelm von Occham und Michael
von Cesena nahe stehende Franziskus von Marchia (oder als einer von
dessen Schülern) identifiziert wurde, 310 teilt die Metaphysik zum ersten
Mal ausdrücklich in eine »allgemeine« (communis) und »eigentüm-
liche« (propria) oder »besondere« (particularis) Metaphysik ein. 311 Da-
rüber hinaus erwägt er, ob nicht das »Ding (res)« als solches im Sinne
des »Etwas überhaupt (aliquid secundum se)« der eigentümliche Ge-
genstand der metaphysischen Allgemeinwissenschaft sein könnte. 312
Er sieht durchaus deutlich, dass diese Option die untrennbare Einheit
von Metaphysik und Logik zur Folge hätte. 313 Gerade deshalb – oder
auch deshalb – schließt er diese Möglichkeit aus, um dann das Ding oder
das Seiende, insofern es die Wesenheit, nicht aber die aktuale Existenz
bezeichnet, für den eigentümlichen Gegenstand der Metaphysik zu er-
klären.
Damit taucht jedoch die mögliche Bestimmung der metaphysi-
schen Allgemeinwissenschaft, also der späteren Ontologie, als Lehre
vom Etwas überhaupt (folglich als Tinologie) im Problemfeld der scotis-

308
Ebd., S. 167–170.
309
Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, Text Nr. 8, S. 56–71. Siehe dazu Zim-
mermanns Analyse des Textes ebd., S. 292–314.
310
Albert Zimmermann, »Analogie und univoke Bedeutung des Terminus ›ens‹ nach
einem anonymen Metaphysik-Kommentar des 14. Jahrhunderts«, in: Deus et Homo ad
mentem I. Duns Scoti. Acta Tertii Congressus Scotistici Internationalis, 28. Sept.–2. Oct.
1970, Rom: Societas Internationalis Scotistica 1972, S. 723–730, hier: S. 725.
311
Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik?, S. 60.
312
Ebd., S. 57 f.
313 Ebd.

113
Grundtypen der Metaphysik

tisch-suárezianischen Metaphysikformation bereits im frühen 14. Jahr-


hundert ausdrücklich auf, selbst wenn sie zunächst verworfen wird. Sie
verbindet sich von vornherein mit einer Zweiteilung der Metaphysik,
die so weit geht, dass ihr zufolge »die metaphysica communis und die
metaphysica specialis nicht zu ein und derselben Wissenschaft gehören
(non pertinent ad eandem scientiam)«. 314 Daher ist es kein Wunder,
dass bereits Courtine diesem Text ein großes Gewicht zukommen
lässt. 315
Noch mehr interessiert sich Boulnois für ihn. 316 Er geht insofern
auch weiter als Courtine selbst, als er deutliche Parallelstellen zu diesem
Text bei Heinrich von Gent, Augustinus Triumphus von Ancona und
vor allem bei Duns Scotus entdeckt. 317 Er hebt insbesondere hervor, dass
sich die Parallelen bei Heinrich von Gent und erst recht bei Duns Scotus
nicht allein auf die sich auch bei ihnen andeutende Gliederung der Me-
taphysik in eine metaphysica generalis und eine metaphysica specialis
erstrecken, sondern ebenfalls auf den weit gefassten Begriff von »Ding
(res)«, für dessen Bezeichnung beide Denker gelegentlich den Terminus
aliquitas (»Etwasheit«) verwenden. 318 Auf solche Befunde gründet
Boulnois seine Überzeugung, dass sich eine katholou-tinologische
Grundstruktur der Metaphysik mit der scotistischen Wende zur Gel-
tung gelangt.
Eindeutiger noch als de Libera, Courtine und andere bestimmt
Boulnois zugleich den Herkunftsort von Heideggers »ontotheologi-
scher Verfassung« der Metaphysik, indem er ihn im Rahmen dieser
Grundstruktur lokalisiert. Man dürfte darin eines der wichtigsten Er-
gebnisse sehen, zu denen die »Historisierung« der Ontotheologie in der
metaphysiktypologischen Forschungsinitiative französischer Philo-
sophiehistoriker geführt hat.

314 Ebd., S. 292, Anm. 3.


315
Courtine, Suarez et le système de la métaphysique, S. 333 f.
316
Boulnois, Être et représentation, S. 448, S. 450, S. 454, S. 466, S. 470.
317
Ebd., S. 444–470.
318 Ebd., S. 446, Anm. 4.

114
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

IV. Von Descartes’ epistemischer Protologie zum


Leibniz’schen Satz vom Grund

Eingangs wurde bereits erwähnt, dass sich Marion zu Beginn der


1980er Jahre dazu entschließt, die Idee einer ontotheologischen Verfas-
sung der Metaphysik auf Descartes anzuwenden. Sein Ausgangspunkt
ist dabei die Beobachtung, dass die Meditationen über die Erste Philoso-
phie nicht etwa den Titel Metaphysische Meditationen erhalten, selbst
wenn der erste Übersetzer des lateinisch verfassten Werkes, der Herzog
von Luynes, seiner französischen Textfassung die Überschrift Médita-
tions métaphysiques voranstellt und diesen Titel auch der Weiterführer
seiner Arbeit, Claude Clerselier, von ihm übernimmt. 319 Ohne Frage
sind Descartes’ Meditationen metaphysischer Natur. Aber die Meta-
physik, die sich in ihnen ausprägt, hat ihre Eigentümlichkeiten. Mit
ihnen hängt es zusammen, dass im Titel des Werkes nicht das Wort
»Metaphysik«, sondern der Ausdruck »Erste Philosophie« verwendet
wird.
Diesem Ausdruck kommt dabei eine neue Bedeutung zu. Marion
vergleicht Descartes mit Suárez, um dies zu zeigen. Suárez verwendet
das Wort »Metaphysik« zur Bezeichnung der allgemeinen Wissen-
schaft vom Seienden als solchem und den Ausdruck »Erste Philoso-
phie« zur Bezeichnung der Lehre von Gott und der unsterblichen Seele.
Descartes kehrt das Verhältnis der beiden Termini um. Er gebraucht das
Wort »Metaphysik« zur Bezeichnung der Lehre von den ausgezeichne-
ten – weil von aller Materie freien – Seienden (Gott, unsterbliche Seele)
und behält den Ausdruck »Erste Philosophie« für eine Wissenschaft
vor, die sich mit »allen ersten Dingen« 320 befasst. 321 Auf diese Weise
prägt er der Ersten Philosophie den Charakter einer durchaus allgemei-
nen, dabei aber völlig neuen Wissenschaft auf. Dagegen sieht er in der
Metaphysik eine besondere Wissenschaft, die sich mit Gott und der
unsterblichen Seele befasst. Als »Metaphysik« bezeichnet er, mit ande-

319
Vgl. René Descartes, Méditations métaphysiques, übersetzt ins Französische von
L. Ch. d’Albert Duc de Luynes und C. Clerselier [Œuvres, hg. von Ch. Adam und P. Tan-
nery, Bd. I-XI, hier: Bd. IX], Paris: Vrin 1996, S. 1–253.
320
René Descartes, Lettre CCXVI (Brief vom 11. November 1640 an Mersenne) [Œuv-
res, Bd. III], S. 239; vgl. Lettre CCXIV (Brief vom 11. November 1640 an Mersenne),
S. 235.
321 Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 37.

115
Grundtypen der Metaphysik

ren Worten, die spezielle Metaphysik. Marion stellt heraus, dass dieser
Sprachgebrauch von Descartes eine Vorgeschichte bei dem spanischen
Jesuiten Benedito Pereira (1535–1610) hat, der das Verhältnis der bei-
den Termini zum ersten Mal umgekehrt hatte. 322 Wichtiger noch ist
allerdings, dass Descartes auch mit den von ihm erwähnten »ersten
Dingen« etwas Neues meint.

1. Descartes’ epistemische Protologie und das Auftauchen


des Terminus »Ontologie«

Das Wort »Erstes« bezieht sich im Cartesianismus nicht mehr auf die
Ordnung des Seins, sondern auf die Ordnung der Erkenntnis. Unter
dem Titel »Erste Philosophie« entwickelt Descartes eine »epistemische
Protologie« 323 oder auch eine »allgemeine Protologie der Evident-
machung«. 324 Die Erste Philosophie, die er im Auge hat, ist ebendeshalb
alles andere als eine allgemeine Wissenschaft vom Seienden als Seien-
dem. Descartes kümmert sich nicht um »den Gegenstand der metaphy-
sica – die Erörterung des Begriffs des Seienden, so wie sie bald schon
von der ontologia gefordert werden soll«. 325 Er verlangt geradezu »ei-
nen Verzicht auf die Philosophie als Ontologie«. 326 Sein Ansatz mündet
in ein »Nichts von Ontologie« ein. 327 Deshalb spricht Marion von einer
»grauen Ontologie« bei ihm. 328 Man könnte sogar auf die Idee verfallen,
Descartes’ Erste Philosophie der metaphysischen Tradition zu ent-
ziehen.
Es wäre allerdings voreilig, so vorzugehen. Der Terminus »Onto-
logie« taucht ja nicht allein zu Lebzeiten von Descartes auf, sondern er
wird geradezu von einem Cartesianer, Johannes Clauberg, wenn auch
nicht geprägt, so doch – im Anschluss an das im Jahre 1613 in Frankfurt
veröffentlichte Lexicon philosophicum von Goclenius (alias Rudolf Gö-
ckel) 329 – in seinem Werk von 1647 Elementa philosophiae sive Onto-

322
Ebd., S. 47.
323
Ebd., S. 55.
324
Ebd., S. 59.
325 Ebd., S. 78.
326
Ebd., S. 82.
327
Ebd., S. 88.
328
Jean-Luc Marion, Sur l’ontologie grise de Descartes, Paris: Vrin 42000 (11975).
329 Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 29.

116
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

sophia (der Titel geht weiter: Metaphysica, sed aptius Ontologia vel
scientia Catholica, eine allgemeine Wissenschaft et Philosophia univer-
salis) zum ersten Mal systematisch verwendet. 330 Wie ist es jedoch
möglich, dass Clauberg eine Ontologie auf cartesianischen Grundlagen
aufbaut, wenn Descartes’ Philosophie mit Ontologie nichts zu tun hat?
Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in dem Um-
stand, dass die Ontologie von Clauberg – wie auch die seiner Nachfolger
bis zur Zeit von Kant – das Seiende nicht etwa von diesem selbst her
betrachtet, sondern vielmehr nur im Ausgang von der cogitatio, und
das heißt: es bloß als ein ens cogitabile auffasst. Sie betrachtet also das
Seiende lediglich als ein Denkobjekt, mithin als etwas Begriffenes, Vor-
gestelltes, bereits zum Gegenstand Gemachtes – und gerade nicht als
Seiendes schlechthin.331 Man kann daher sagen, dass erst die Abwen-
dung von der Ordnung des Seins und die Hinwendung zur Ordnung
der Erkenntnis im Cartesianismus die Ausarbeitung einer ausdrück-
lichen Ontologie als einer Wissenschaft vom Seienden als reinem Denk-
objekt im Sinne eines ens cogitabile ermöglicht. Damit wird allerdings
nur die bereits seit Duns Scotus lebendige und mit Suárez auch schon
vorherrschend gewordene Tendenz zu einer Tinologie weiter verstärkt –
oder, besser gesagt, auf eine höhere Stufe gehoben. Nicht allein bei
Clauberg, sondern auch bei Descartes selbst wird diese Tendenz deut-
lich. Schon Descartes betrachtet ja das Seiende gemäß dem »Modus
vorgestellter Objektivität«. 332

2. Verdopplung der ontotheologischen Verfassung der


Metaphysik bei Descartes

Die Bestimmung des Seienden (ens) als Gedachtes oder als Denkobjekt
(cogitatum) ist bei Descartes das Kernstück einer Verfassung, die sich
sehr wohl als »ontotheologisch« qualifizieren lässt. Das Denken (cogi-
tatio) ist dabei der Grund des Seins jedes Seienden als eines Denk-
objekts. Das Denken zeichnet zugleich ein Seiendes als das erste in der
Ordnung der Erkenntnis aus. Bei diesem ausgezeichneten Seienden
handelt es sich allerdings nicht um Gott, sondern um das Ich, das ego.

330
Ebd., S. 80 und S. 89.
331
Ebd., S. 90.
332 Ebd., S. 85.

117
Grundtypen der Metaphysik

Bei Descartes bestimmt das »ich bin« (sum) den ersten und ausgezeich-
neten Sinn des Seins. Das »ich bin« begründet seinerseits wiederum das
Denken (cogitatio). Damit ist der Kreis von Gründen und Begründen
geschlossen: Die cogitatio gründet das Sein des ens als ens cogitatum,
indem es zugleich das ego in seinem erstpersonalen Sein (sum) als ers-
tes Seiendes in der Ordnung der Erkenntnis auszeichnet; das sum des
ego begründet wiederum die cogitatio.
Allein dies ist nicht die einzige ontotheologische Struktur, die man
bei Descartes findet. In seiner Ersten Philosophie kommt es vielmehr zu
einer Verdopplung der ontotheologischen Verfassung. Darin sieht Ma-
rion die Grundeigentümlichkeit der cartesianischen Ersten Philosophie.
Die zweite Struktur, die ebenfalls als ontotheologisch qualifiziert wer-
den kann, ergibt sich aus der Bestimmung des Seienden als eines ver-
ursachten Seienden (ens causatum). Descartes formuliert wiederholt
das Prinzip der Kausalität (oder in einer ersten Fassung auch schon den
»Satz vom Grund«, der später von Leibniz in seiner vollendeten Form
ausgesprochen werden soll). An einer Stelle behauptet Descartes, dass
»es keine Sache gibt, bei der es nicht statthaft wäre, zu fragen, warum
sie existiert, oder auch nach ihrer wirkenden Ursache zu forschen
[…]«. 333 An anderer Stelle setzt er hinzu: »Denn bei Gott selbst kann
man hiernach fragen, nicht weil er einer Ursache bedürfte, um zu exis-
tieren, sondern weil die Unermeßlichkeit seiner Natur die Ursache oder
der Grund [causa sive ratio] ist, weswegen er keiner Ursache bedarf, um
zu existieren.« 334 Aus diesen Überlegungen zieht Descartes den Schluss,
dass Gott als »Ursache seiner selbst« (causa sui) zu begreifen sei. 335
Dieser bisher für eine Ungereimtheit gehaltenen Vorstellung verleiht
nun der Hinweis auf die Unermesslichkeit von Gottes Natur einen
nachvollziehbaren Sinn. Damit zeichnet sich vor unseren Augen eine
ontotheologische Verfassung ab, die durch die folgenden vier Merkmale
gekennzeichnet werden kann:

333
Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 108; dt. Medita-
tionen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwi-
derungen, übersetzt von Artur Buchenau, Hamburg: Meiner 1994 (Nachdruck der Aus-
gabe von 1913), S. 97. Vgl. auf Französisch: René Descartes, Méditations métaphysiques,
traduction par Claude Clerselier de 1661 publiée et légèrement modifiée par Michelle
Beyssade et Jean-Marie Beyssade, Paris, Flammarion, 1979, S. 214.
334
Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], 164 f.; dt. S. 149; fr.
S. 263.
335 Ebd., Bd. VII, S. 109; dt. S. 98; fr. S. 215.

118
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

1. Das Sein des Seienden ist durch die Kausalität bestimmt.


2. Das so bestimmte Sein gründet das Sein jedes einzelnen Seienden
als verursachtes Seiendes (ens causatum).
3. Es zeichnet dabei ein erstrangiges Seiendes, nämlich Gott, als Ur-
sache seiner selbst (causa sui) aus.
4. Dieses ausgezeichnete Seiende begründet wiederum das Sein jedes
einzelnen Seienden als verursachtes Seiendes (ens causatum).

Damit ist der Kreislauf von Gründen und Begründen auch hier ab-
geschlossen. Zum ersten Mal ist dabei die Rede von »Begründen« wahr-
haft einschlägig. In den frühneuzeitlichen Metaphysikentwürfen er-
weist sich der Kausalzusammenhang immer deutlicher als ein Begrün-
dungszusammenhang. Denn den Urhebern dieser Metaphysikentwürfe
– den Denkern des neuzeitlichen Rationalismus – kommt es nicht so
sehr auf die Erfassung von Kraftäußerung, Verursachung und Wir-
kungsmächtigkeit als vielmehr auf die Herausstellung von Begreiflich-
keit und vernünftiger Erklärbarkeit an. Ein Wesen, das als Ursache sei-
ner selbst (causa sui) bestimmt werden kann, ist verständlicherweise
durch eine Kausalität gekennzeichnet, die mit den wirkenden Ursachen
der endlichen Dinge kaum etwas zu tun hat. 336 Es ist daher kein Wun-
der, dass in diesem Zusammenhang bereits Descartes von »Ursache oder
Grund« (causa sive ratio) spricht und dabei im lateinischen Originaltext
nicht etwa das exklusive, ausschließende aut, sondern das konzessive,
zulassende oder sogar eine Gleichsetzung andeutende sive (»oder
auch«) gebraucht. Die Ursache, die für Gottes Existenz überhaupt in
Betracht kommt, ist eher ein Vernunftgrund als eine wirkende Ursache;
er ist eigentlich nur eine Erklärung dafür, warum hier ein Hinweis auf
eine wirkende Ursache notwendig fehl am Platze ist.
Gleichwohl bleibt dieser Vernunftgrund bei Descartes irreduzibel
etwa auf das Argument, dem zufolge die Existenz Gottes aus seiner
Wesenheit folgt. Diesen auf Anselm von Canterbury zurückgehenden
»ontologischen Gottesbeweis« bringt zwar – in veränderter Gestalt –
gerade die cartesianische Erste Philosophie wieder in Umlauf, aber bei
Descartes selbst dient er keineswegs unmittelbar dazu, die Bestimmung
von Gott als Ursache seiner selbst zu begründen. Der Vernunftgrund,
der in den Antworten auf die Einwände gegen die Meditationen über
die Erste Philosophie angeführt wird, hängt vielmehr mit der Uner-

336 Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 115.

119
Grundtypen der Metaphysik

messlichkeit von Gottes Natur zusammen, die zwar keine wirkende Ur-
sache ist, aber dennoch in eine Analogie 337 mit der Wirkungsmächtig-
keit der wirkenden Ursache gebracht werden kann: »Denn wenngleich
es nicht nötig ist, zu sagen, daß er [nämlich Gott] die wirkende Ursache
seiner selbst ist, um nicht über Worte zu streiten, so ist es doch, weil wir
wahrnehmen, daß das, was durch sich ist, d. h. was keine von sich ver-
schiedene Ursache hat, nicht durch ein Nichts, sondern durch die reale
Unermeßlichkeit seiner Macht ist, für uns durchaus statthaft zu den-
ken, daß er in gewisser Weise mit Bezug auf sich selbst dieselbe Rolle
spielt wie die wirkende Ursache in Bezug auf ihre Wirkung, und daß er
demnach positiv durch sich selbst ist.« 338
Aus diesen Zeilen geht deutlich hervor, dass Descartes dem gött-
lichen Wesen ein in sich gegründetes Durch-sich-selbst-sein – also eine
positive Aseität – zuschreibt (und nicht etwa eine bloß negative Aseität,
ein Eben-nur-nicht-von-Anderem-sein oder eine Non-Abalienität). Er
stützt sich dabei auf die Idee einer Unermesslichkeit von Gottes Macht.
Darüber hinaus stellt er eine Analogie zwischen der unermesslichen
Macht Gottes und der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache heraus,
indem er betont, dass sich Gott zu sich selbst ähnlich verhält wie die
wirkende Ursache zu ihrer Wirkung. In seinen Antworten auf die Ein-
wände von Antoine Arnauld, einem entschiedenen Gegner der Analo-
gie zwischen der unermesslichen Macht Gottes und der Wirkungs-
macht der wirkenden Ursache, besteht Descartes durchaus darauf, dass
die Unermesslichkeit von Gottes Macht eine »positive Ursache« ist, die
»durch Analogie mit der wirkenden verglichen werden kann« 339 und
dass »alle diese Ausdrucksweisen, die von der Analogie mit der wirken-
den Ursache entlehnt sind, […] sehr notwendig [sind], um das natür-
liche Licht derart zu lenken, daß wir diese Dinge deutlich bemerken
[…]«. 340 Er setzt präzisierend noch hinzu, dass er sich der Analogie mit
der wirkenden Ursache bedient hat, »um das zu erklären, was zur For-
malursache, d. h. zur Wesenheit Gottes selbst gehört«. 341

337
Marion zeigt in einer gesonderten Untersuchung, welche Rolle die Analogie in der
Cartesischen Lehre von Gott spielt. Siehe Jean-Luc Marion, Sur la théologie blanche de
Descartes, Paris: PUF 21991 (11981).
338 Descartes, Meditationen de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 110 f.; dt. S. 99 f.;

fr. S. 216.
339
Ebd., Bd. VII, S. 240; dt. S. 217; fr. S. 328.
340
Ebd., Bd. VII, S. 241; dt. S. 218; fr. S. 328 f.
341 Ebd., Bd. VII, S. 241; dt. S. 219; fr. S. 329.

120
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

3. Das Verhältnis der beiden Ontotheologien zueinander


bei Descartes und seinen Nachfolgern

Die Verdopplung der ontotheologischen Verfassung bei Descartes wirft


die weiterführende Frage auf, ob sich die beiden Verfassungen mit-
einander entzweien oder sich vielmehr nur überlagern. Diese beiden
Möglichkeiten, die im Französischen als dédoublement (Entzweiung)
und als redoublement (Verdopplung) einander gegenübergestellt wer-
den können, sind für die Meditationen über die Erste Philosophie
durchaus bezeichnend. Bei den Urhebern weiterer Metaphysikentwürfe
aus der frühen Neuzeit – so etwa bei Spinoza oder Leibniz – sind sie
dagegen nicht mehr echte Möglichkeiten; denn bei ihnen verflechten
sich die beiden Strukturen zunehmend miteinander.
Selbst bei Descartes taucht die Möglichkeit einer Entzweiung
kaum ernsthaft auf. Fasst Heidegger eine phänomenologische Destruk-
tion des cartesianischen Cogito im geplanten zweiten Teil von Sein und
Zeit ins Auge, so muss man mit Marion entgegnen: »Die Destruktion
des ego cogito war zuvor bereits die Aufgabe von Descartes selbst.« 342
Allerdings hatte die Destruktion bei ihm noch nichts Phänomenologi-
sches; im Gegenteil, sie »ging über die cogitatio hinaus zur causa sive
ratio, also zum Satz vom Grund, in dem die Metaphysik der vorhande-
nen Gegenwärtigkeit zu ihrer Vollendung gelangt«. 343
Das bedeutet wiederum nicht, dass die Bestimmung des Seins als
Gedachtsein und Vorgestelltsein oder auch als Gegenständlichkeit über-
haupt keinen Einfluss auf die weitere Entwicklung neuzeitlicher Meta-
physik mehr hätte. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Einerseits ist es die
Bestimmung des Seins des Seienden als Denkobjekt, die die Ontologie
im Sinne von Johannes Clauberg und seiner Nachfolger überhaupt erst
ermöglicht; sie hält sich bis in Hegels Wissenschaft der Logik hinein
durch. Andererseits deutet die Formel »Ursache oder Grund« (causa
sive ratio) bereits bei Descartes die Möglichkeit einer Versöhnung der
beiden ontotheologischen Verfassungen miteinander an, 344 die prägend
für die Metaphysikentwürfe von Denkern wie Spinoza oder Leibniz
bleibt. Bei ihnen gelangt zwar die ontotheologische Verfassung, für die
das Sein jedes Seienden als verursachtes Seiendes (ens causatum) kenn-

342
Marion, Sur le prisme métaphysique de Descartes, S. 121.
343
Ebd.
344 Ebd., S. 136.

121
Grundtypen der Metaphysik

zeichnend ist, beinahe zu einer Alleinherrschaft. Gleichwohl bleibt bei


ihnen die Bestimmung des Seins des Seienden als gedachtes Seiendes,
als Denkobjekt insofern doch erhalten, als Ursache und Vernunftgrund
einander gleichgesetzt werden und das Prinzip der Kausalität in einen
Satz vom Grund verwandelt wird.
Diese Nachgeschichte der bei Descartes deutlich gewordenen Ver-
dopplung der ontotheologischen Verfassung wurde von Vincent Car-
raud in seinem Buch Causa sive ratio dargestellt. Sechs Denker werden
in diesem Buch ausführlicher behandelt: Suárez, Descartes, Pascal, Spi-
noza, Malebranche und Leibniz. Im Folgenden beschränken wir uns auf
die Metaphysikentwürfe von Spinoza und Leibniz.

4. Kausalkette und Begründungszusammenhang bei


Spinoza und Leibniz

Nicht allein Descartes, sondern auch Spinoza fasst Gott als Ursache sei-
ner selbst (causa sui) auf. Er verwendet ebenfalls die Formel causa seu
ratio (»Ursache oder auch Grund«), und zwar vor allem in seinem zwei-
ten Beweis der Existenz Gottes. 345 In diesem Text formuliert er auch ein
Kausalitätsprinzip (oder auch einen Satz vom Grund). Das sind wichtige
Übereinstimmungen mit Descartes; aber auch die Unterschiede sind
unverkennbar.

a. Unterschiede zwischen Descartes und Spinoza

Es handelt sich um Unterschiede, die alle drei Themen betreffen, die


gerade erwähnt wurden: die Formel »Ursache oder Grund«, die Idee
Gottes als »Ursache seiner selbst« und den »Satz vom Grund«.

1. Ursache oder Grund. Wie wir gesehen haben, sucht Descartes den
Umstand, dass Gott keiner wirkenden Ursache bedarf, um zu exis-
tieren, auf einen Vernunftgrund zurückzuführen, der sich durchaus
in eine Analogie mit der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache
bringen lässt. Ein Äquivalent zu diesem Rückgriff auf die Idee der

345
Baruch Spinoza, Die Ethik, Lateinisch-Deutsch mit der revidierten Übersetzung von
Jakob Stern, Stuttgart: Reclam 1984, Teil I, Lehrsatz 11, Anderer Beweis.

122
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

Analogie gibt es bei Spinoza nicht. In der Ethik wird die wirkende
Ursache durch die formale Ursache (die Wesenheit) ersetzt; die
Existenz Gottes folgt – im Sinne des ontologischen Arguments –
einfach aus dessen Wesen. Das Wort »folgt« verweist dabei nicht
etwa auf eine ursächliche Erzeugung, sondern auf eine logische
Schlussbeziehung. Zwar erzeugt bei Spinoza die genetische Defi-
nition das Definiendum, aber die Erzeugung nimmt auch hier die
Form deduktiver Ableitung an. Es ist gewiss wahr, dass dem Begriff
der »Macht« Gottes (potentia Dei) wie auch dem des Strebens nach
Selbsterhaltung (conatus sese conservandi) eine grundlegende
Rolle in der Ethik zukommt, aber Spinoza lässt sich eher durch
eine bestimmte Vorstellung vom menschlichen Handeln als durch
eine Vorstellung von der Wirkungsmacht der wirkenden Ursache
überhaupt dazu hinleiten, diese dynamischen Begriffe zu bilden.
2. Gott als Ursache seiner selbst. Das Gesagte verbindet sich bei Spi-
noza mit einem Funktionswechsel der Idee von causa sui. Es ist
nicht mehr die Unermesslichkeit von Gottes Macht, die sich in
dieser Idee ausdrückt, sondern einzig und allein das ontologische
Argument, das die Existenz Gottes aus seinem Wesen ableitet. 346
Mit einer wirkenden Ursache hat dieses Argument nichts zu tun;
es handelt sich dabei vielmehr um einen bloßen Vernunftgrund.
Der Zusammenhang zwischen dem Wesen und der Existenz Gottes
ist bei Spinoza ein Zusammenhang formaler Rationalität; er ist
vernunftmäßig, ohne wirkungsmächtig zu sein. In der Ethik »wird
die Ursache im Ausgang von der als Formalität verstandenen Ra-
tionalität gedacht – die Wirkungsmächtigkeit ist dabei nur die äu-
ßerliche Doublette der Formalität.« 347 Noch wichtiger ist aber, dass
in der Ethik die formal-rationale Ursächlichkeit, die charakteris-
tisch für Gott als Ursache seiner selbst ist, darüber hinaus als das
Muster aller Ursächlichkeit gilt. Bei Descartes war Gott als Ursache
seiner selbst ein äußerster Grenzfall; er allein war causa sui. Da-
gegen ist bei Spinoza die Kausalität, die der causa sui eigentümlich
ist, geradezu die eigentliche Kausalität in aller Kausalität. Daraus
folgt – im Gegensatz zu Descartes’ Rückgriff auf die Idee der Ana-
logie – eine »Univozität« der Ursache: »[…] in dem Sinne, in wel-
chem Gott die Ursache seiner selbst heißt, muss er auch die Ur-

346
Carraud, Causa sive ratio, S. 320.
347 Ebd., S. 324.

123
Grundtypen der Metaphysik

sache aller Dinge heißen […].« 348 Diese Univozität der Kausal-
beziehung – bemerkt dazu Carraud – ist jedoch im Grunde keine
andere als die Univozität der Rationalität.
3. Satz vom Grund. In dem zweiten Beweis von Gottes Existenz, der
zum Lehrsatz 11 des ersten Teiles der Ethik gehört, formuliert Spi-
noza das Prinzip der Kausalität (oder auch den Satz vom Grund).
Diese Formulierung enthält manche Eigentümlichkeiten, die von
Carraud deutlich herausgestellt werden. Es heißt bei Spinoza:
»Von jedem Ding muß eine Ursache oder ein Grund angegeben
werden, sowohl warum es existiert als auch warum es nicht exis-
tiert. Wenn z. B. ein Dreieck existiert, so muß es auch einen Grund
oder eine Ursache geben, warum es existiert. Existiert es aber
nicht, so muß es ebenfalls einen Grund oder eine Ursache geben,
welche hindert, daß es existiert, oder welche seine Existenz auf-
hebt.« 349 Was leitet Spinoza dazu hin, nicht allein die Existenz,
sondern auch die Nicht-Existenz der Dinge begründen zu wollen?
Es ist nicht leicht, auf diese Frage eine eindeutige Antwort zu ge-
ben. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um eine eigentümliche
Formulierung des Satzes vom Grund; von einer Begründung der
Nicht-Existenz ist weder bei Descartes noch bei Leibniz die Rede.
Carraud ist der Ansicht, dass diese merkwürdige Formulierung des
Satzes vom Grund verrät, in welchem eigentümlichen Sinne Spi-
noza diesen Satz versteht. Tatsächlich scheint der Satz vom Grund
in dieser Spinozanischen Formulierung einen bloßen Mangel an
verhindernden oder vereitelnden Gründen anzudeuten. 350 Zu der-
artigen Gründen gehört sicherlich an erster Stelle der Wider-
spruch, aber es legen sich der Entstehung der Dinge oft auch Hin-
dernisse faktisch-empirischer Natur in den Weg. Diese negative
Bestimmung des Grundes lässt die eigentliche Wirkungsweise der
wirkenden Ursache völlig im Dunklen.

So wird das Cartesianische Erbe von Spinoza den weiteren Nachfahren


von Descartes übermittelt. Die Univozität der Kausalbeziehung begrün-
det dabei eine Ansicht der Welt, der zufolge Gott als Ursache seiner

348
Spinoza, Ethik, Teil I, Lehrsatz 25, Anmerkung.
349
Ebd., Teil I, Lehrsatz 25, Anderer Beweis.
350
Carraud nennt daher den Satz vom Grund in seiner Spinozanischen Fassung »princi-
pe de non-raison contrariante« (Carraud, Causa sive ratio, S. 327).

124
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

selbst zugleich »die immenente, nicht aber die übergehende [transiens]


Ursache der Dinge« ist. 351 Der Preis dieser Immanenzansicht, deren Be-
deutung besonders von Gilles Deleuze betont wird, 352 scheint aber in
einem Verzicht auf die Erfassung der Wirkungsmächtigkeit zu beste-
hen, die der wirkenden Ursache als solcher zukommt. Denn die von
Spinoza geforderte Immanenz der Kausalbeziehung »befindet sich mit
dem äußerlichen Charakter dieser Wirkungsmächtigkeit nicht in Ein-
klang«. 353

b. Leibniz und der Vorrang des Grundes gegenüber der Ursache

Leibniz versucht die wirkende Ursache mit der formalen Ursache und
der Zweckursache in einem System von harmonia praestabilita zu ver-
einen. Er unterscheidet dabei bekanntlich zwei Ebenen: Hinter den Er-
scheinungen der Natur verbirgt sich bei ihm die Ebene metaphysischer
Substanzen, die er als »Monaden« bezeichnet. Die Ebene der Erschei-
nungen ist das Wirkungsfeld der wirkenden Ursachen; die Ebene der
Monaden ist dagegen das Reich der formalen Ursachen (Wesenheiten)
und der Zweckursachen. Aber bereits das Wort »Erscheinung« deutet
einen Rangunterschied zwischen den beiden Ebenen oder Reichen an.
Das Reich der wirkenden Ursachen wird von Leibniz dem Reich der
formalen Ursachen und der Zweckursachen untergeordnet.
Diese Unterordnung wird durch eine besondere Auffassung von
der Wirkungsweise der wirkenden Ursachen ermöglicht. Den cartesia-
nischen Grundsatz, dem zufolge die Ursache mindestens so viel Realität
(Sachhaltigkeit) enthält wie die Wirkung – und aus dem wegen des
Wörtchens »mindestens« folgt, dass die Ursache auch mehr Realität
enthalten kann als die Wirkung –, ersetzt er durch ein Prinzip der strik-
ten Gleichwertigkeit oder Gleichmächtigkeit von Ursache und Wir-
kung. Dieses Prinzip macht es möglich, die Gesamtursache einer Sache
mit der Totalität der Bedingungen ihrer Existenz gleichzusetzen. Car-
raud zeigt, welche Konsequenzen diese Vorstellung von Ursache und

351 Spinoza, Ethik, Teil I, Lehrsatz 18.


352
Gilles Deleuze, Spinoza et le problème de l’expression, Paris: Minuit 1968; dt. Spino-
za und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, übersetzt von Ulrich Johannes
Schneider, München: Fink 1993.
353 Carraud, Causa sive ratio, S. 341.

125
Grundtypen der Metaphysik

Wirkung nach sich zieht. Dass die Existenz der Sache durch ihre Ge-
samtursache realiter erzeugt wird, kann nunmehr völlig unbeachtet
bleiben; erwogen werden ja nur noch die Bedingungen, die erfüllt sein
müssen, damit die Sache in die Existenz tritt. Die Gesamtheit dieser
Bedingungen kann als ein zureichender Grund dieser Existenz betrach-
tet werden. Der zureichende Grund ist aber ein reiner Vernunftgrund.
Das hat zur Folge, dass Leibniz die Wirkmächtigkeit der wirkenden Ur-
sache nicht mehr braucht, um von der Existenz der Wirkung Rechen-
schaft zu geben: Der Vernunftgrund ist für sich allein zureichend. 354
Das Prinzip der Kausalität kann bei Leibniz ebendeshalb eindeuti-
ger noch als bei Descartes oder Spinoza in einen Satz vom Grund ver-
wandelt werden. Bereits Schopenhauer sah deutlich, dass sich die euro-
päische Philosophie seit Platon und Aristoteles auf die Überzeugung
gestützt hatte, alles habe seine Ursache oder auch seinen Grund. 355
Gleichwohl wurde der Satz vom Grund – im Gegensatz etwa zum be-
reits von Platon und besonders von Aristoteles ausgesprochenen Satz
vom Widerspruch – erst spät (nämlich von Leibniz) ausdrücklich for-
muliert. Heidegger spricht daher von einer »Incubationszeit« des Satzes
vom Grund. 356 Es handelt sich aber keineswegs bloß darum, dass Leib-
niz – im Anschluss an Descartes und Spinoza – ein seit mehr als zwei
Jahrtausenden bekanntes Kausalitätsprinzip endlich in eindeutige Wor-
te fasst. Vielmehr drückt der nunmehr allgemein formulierte Satz vom
Grund eine ganz eigentümliche – nämlich rein rationalistische – Auf-
fassung vom Prinzip der Kausalität aus.
Leibniz vereint das Reich der wirkenden Ursachen mit dem Reich
der formalen Ursachen und der Zweckursachen, indem er Gott als »den
letzten Grund der Dinge« (ultima ratio rerum) bestimmt. Es heißt in
der Monadologie: »So muß der letzte Grund der Dinge in einer not-
wendigen Substanz liegen, in der das Besondere der Veränderungen
nur in eminenter Weise wie in der Quelle vorkommt, und diese Sub-
stanz nennen wir Gott.«357

354
Ebd., S. 409.
355
Arthur Schopenhauer, Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden
Grunde [Sämmtliche Werke, Bd. I], hg. von Julius Frauenstädt, Leipzig: Brockhaus 1873,
S. 6 f.
356
Martin Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], hg. von Petra
Jaeger, Frankfurt am Main: Klostermann 1997, S. 4 f., S. 80–82 und S. 95 f.
357
Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la philosophie ou Monadologie, § 38, in:
Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grâce – Principes de la phi-

126
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

Wie verhält sich jedoch dieser letzte Grund der Dinge zu deren
Existenz? Zwei wichtige Texte können wir vornehmlich heranziehen,
um diese Frage zu beantworten: einerseits den kleinen Aufsatz De re-
rum originatione radicali (1697), andererseits die von Heidegger im
zweiten Band seines Buches über Nietzsche veröffentlichten 24 Sätze 358
(die übrigens von Louis Couturat unter dem Titel Résumé de métaphy-
sique herausgegeben wurden). 359 Wir können diesen Texten – mit
einem Ausdruck von Jean Beaufret – eine »allgemeine Dynamisierung
der Wesenheiten in Richtung Existenz« entnehmen. 360 In der Tat
schreibt Leibniz in den 24 Sätzen dem Wesen ein »Streben nach Exis-
tenz« (conatus ad Existentiam) zu. 361 In De rerum originatione radicali
spricht er davon, dass die Wesenheit von sich aus nach der Existenz
drängt (essentiam per se tendere ad existentiam) und dass sie durch
»eine Forderung, zu existieren« (praetensionem ad existendum) ge-
kennzeichnet ist. 362 Carraud fasst diese Gedanken in die Formel »Macht
der Möglichkeit«. 363 Um die Schöpfung der Welt zu beschreiben, geht
Leibniz von einem uranfänglichen Wettstreit aus, an dem sich die ein-
zelnen Möglichkeiten je nach dem in ihnen enthaltenen Realitätsgrad
beteiligen.
Dabei haben die Möglichkeiten bereits eine gewisse Realität (ha-
bent realitatem) in Gott. Den Schöpfergott fasst Leibniz als das »Mög-
liche par excellence« 364 auf. Er fügt aber hinzu, dass Gott gleichzeitig

losophie ou Monadologie, hg. von André Robinet, Paris: PUF 31986 (11954), S. 93; dt. in:
Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz
Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–
Deutsch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 455 f.
358
Martin Heidegger, Nietzsche II [Gesamtausgabe, Bd. 6.2], hg. von Brigitte Schillbach,
Frankfurt am Main: Klostermann 1997, S. 414–416.
359
Gottfried Wilhelm Leibniz, Opuscules et fragments, hg. von Louis Couturat, Hildes-
heim: Olms 1966 (unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1903), S. 533–535.
360
Jean Beaufret, Leçons de philosophie, édition établie par Philippe Fouillaron, Paris:
Seuil, 1998, Bd. I, S. 252.
361
Heidegger, Nietzsche II [Gesamtausgabe, Bd. 6.2], S. 414.
362
Gottfried Wilhelm Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Opuscula philoso-
phica selecta, hg. von Paul Schrecker, Paris: Vrin 1966, S. 87 (vgl. Gottfried Wilhelm
Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, Berlin 1890, Nach-
druck: Hildesheim: Olms 1965, S. 303); dt. »Über den ersten Ursprung der Dinge«, Fünf
Schriften zur Logik und Metaphysik, übersetzt und hg. von H. Herring, Stuttgart: Re-
clam 1995, S. 37.
363
Carraud, Causa sive ratio, S. 482.
364 Ebd., S. 485.

127
Grundtypen der Metaphysik

»der Grund für sein eigenes Existieren« ist (sibi ipsi ratio est existen-
di). 365 Das ist die Leibniz’sche Formel für Gott als causa sui.
Welche Möglichkeiten gewinnen nun in dem uranfänglichen
Wettkampf der Wesenheiten die Oberhand? Darüber entscheidet nach
Leibniz keineswegs etwa die Willkür des Schöpfergottes, sondern viel-
mehr ein Optimierungsprinzip, das zur Folge hat, »daß aus den unend-
lich vielen Verbindungen des Möglichen und den unendlich vielen
möglichen Reihen diejenige existiert, durch die das meiste an Wesen-
heit oder Möglichkeit zum Dasein gebracht wird.« 366 Das ist der Kern
des Leibniz’schen Gedankens, dass sich in der Gestalt der wirklichen
Welt die beste aller möglichen Welten verwirklicht hat.
Das von Leibniz formulierte Optimierungsprinzip klingt wie ein
mathematischer Grundsatz. Daher finden wir in dem kleinen Aufsatz
De rerum originatione radicali – wie auch in anderen Schriften – aus-
drückliche Hinweise auf eine »göttliche Mathematik«. 367 In den Augen
von Leibniz ist die Schöpfung ein göttlicher Denkprozess, der den Re-
geln der Mathematik folgt. Es heißt daher an einer Stelle: »Während
Gott rechnet und das Denken ausübt, entsteht die Welt« (Cum Deus
calculat et cogitationem exercet, fit mundus). 368
Diese Überlegungen machen »den Vorrang des Grundes gegen-
über der Ursache« 369 bei Leibniz augenscheinlich. Zugleich zeugen sie
von einer gewissen Umwandlung der ontotheologischen Verfassung,
für die das Sein jedes Seienden als verursachtes Seiendes kennzeich-
nend ist. Denn bei Leibniz dreht sich diese Struktur um den Begriff
einer durch die Wesenheiten geforderten und erstrebten Existenz. 370
Der Drang des Möglichen nach Verwirklichung bestimmt hier den Sinn
des Seins; er »gründet«, mit anderen Worten, das Sein jedes Seienden.
Dabei ist das Seiende nichts anderes als das Mögliche, das bereits als
solches in Gott eine Realität hat, aber darüber hinaus auch noch die
Gestalt des Wirklichen annimmt, gesetzt allerdings, dass es in eine
Rechnung (oder Kalkulation) Gottes Eingang findet. Dadurch erweist

365
Ebd., S. 472.
366
Ebd., S. 87 (vgl. Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 303); dt.
S. 37.
367 Ebd., S. 88 (vgl. Die philosophischen Schriften, hg. C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 304), dt.

S. 38.
368
Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 191.
369
Carraud, Causa sive ratio, S. 483.
370 Ebd., S. 491.

128
Von Descartes’ epistemischer Protologie zum Leibniz’schen Satz vom Grund

sich jedes Seiende als ein durch den letzten Grund der Dinge verursach-
tes – oder vielmehr »begründetes« – Seiendes (ens causatum). Man
achte aber auch darauf, dass der Eingang in den göttlichen Denkprozess
dem Wirklichen von vornherein das Gepräge eines gedachten Seienden
oder eines Denkobjekts (ens cogitatum oder cogitabile) aufdrückt. Auf
diese Weise verschränken und verflechten sich bei Leibniz bis zur Un-
unterscheidbarkeit die beiden ontotheologischen Strukturen, die uns
bei Descartes noch in trennbarer Form begegnet waren.
Für diese grandiose Konzeption muss aber auch Leibniz mit einem
nur allzu abstrakten Begriff des Seienden zahlen. Dem Seienden kommt
ja bei ihm, selbst wenn es wirklich wird, lediglich ein Sein zu, das sich
durch kein inneres Kriterium vom Sein des Möglichen unterscheiden
lässt. Daher bleibt das Seiende auch bei Leibniz und – wie wir hinzu-
fügen können – seinen Nachfolgern aus der deutschen Aufklärungszeit
ein Etwas überhaupt, kaum mehr als nichts. Daraus wird ersichtlich,
dass die katholou-tinologische Grundstruktur auch unter der Vorherr-
schaft epistemischer Protologie erhalten bleibt. Kant wird der erste sein,
der sich gegen sie wendet.

129
Grundtypen der Metaphysik

V. Kants Kritik spekulativer Metaphysik

Kant ist ohne Zweifel der erste große Kritiker der ontotheologischen
Tradition. Unter Ontotheologie versteht er eine apriorische Lehre von
dem Seienden, das alle Sachhaltigkeit (Realität) in einem Höchstmaß in
sich vereinigt. So verstanden nimmt Gott als das erste und höchste Sei-
ende die Gestalt des »transzendentalen Ideals der Vernunft« an. Die
Analyse, der dieses Ideal in der Kritik der reinen Vernunft unterzogen
wird, markiert einen deutlichen Bruch mit der ontotheologischen Tra-
dition. Deshalb darf sie in unseren Überlegungen über das Verhältnis
von Metaphysik und Ontotheologie nicht außer Acht bleiben.
Der Bruch mit der Ontotheologie ist ein integrierender Bestandteil
der »Revolution der Denkart«, die Kants Kritik der reinen Vernunft
herbeiführt. Diese Revolution eröffnet bis dahin ungeahnte Denkmög-
lichkeiten, die sich einem »transzendentalphilosophischen« Ansatz in
einem völlig neuen Sinne des Wortes einfügen. Von phänomenologisch
eingestellten Forschern in der französischen Philosophiegeschichts-
schreibung der letzten Jahrzehnte wie Marc Richir und Jean-Luc Ma-
rion wurden allerdings gewisse Zweideutigkeiten in diesem Ansatz ent-
deckt, die einen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit erheben. Die
Einwände der beiden Denker richten sich gegen den charakteristischen
Begriff einer »Möglichkeit der Erfahrung« oder auch einer »möglichen
Erfahrung« bei Kant. 371

1. Kants Kritik des transzendentalen Ideals

In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant, wie die »Vernunft«
versucht, »ein jedes Ding so vor[zustellen], wie es von dem Anteil, den
es an [der] gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Wirklichkeit ablei-
te«. 372 In diesem Versuch der »Vernunft« können wir mit Richir das
Kernanliegen derjenigen Metaphysik erkennen, die Kant wegen ihres

371 In dem zusammen mit Hans-Dieter Gondek verfassten Buch Neue Phänomenologie
in Frankreich (Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011) habe ich diese Themen bereits kurz
gestreift. Manche inhaltliche Überschneidungen mit dieser Darstellung lassen sich im
Folgenden nicht vermeiden.
372 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 572/B 600.

130
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

spekulativen Charakters bekämpft. Allerdings trifft diese Kennzeich-


nung nicht auf jede Metaphysik zu. Aristoteles kommt es zum Beispiel
durchaus darauf an, das Wirkliche in seinem Gegensatz zum bloß
Möglichen zu verstehen, aber auch Thomas von Aquin setzt den Ak-
zent auf einen Seinsakt (actus essendi), der sich keineswegs aus der
Wesenheit oder der Möglichkeit der Dinge ableiten lässt. Von ihrer
scotistischen Wende an geht es jedoch der Metaphysik tatsächlich da-
rum, das Seiende als das Denkmögliche überhaupt zu begreifen und das
wirklich Existierende als einen besonderen Fall des Denkmöglichen zu
erfassen. Wie wir gesehen haben, ist die Idee einer Gesamtheit aller
Wesenheiten oder Möglichkeiten, aus der sich die wirkliche Welt auf
Grund eines Optimierungsprinzips als die beste aller möglichen Welten
ergibt, für die Leibniz’sche Auffassung vom Schöpfungsgeschehen erst
recht bezeichnend. Daraus wird ersichtlich, dass sich Kants Kritik der
spekulativen Metaphysik nicht gegen die Metaphysik überhaupt, son-
dern nur gegen eine bestimmte Traditionslinie der Metaphysik richtet,
mit der Kant wegen seiner historischen Lage besonders – oder auch
beinahe einzig – vertraut ist. Wir können die in Rede stehende Tradi-
tionslinie mit derjenigen Metaphysik gleichsetzen, die sich – von Duns
Scotus bis zum Zeitalter von Leibniz und der deutschen Schulphiloso-
phie – im Rahmen der katholou-tinologischen Grundstruktur heraus-
gebildet hatte.
Mit dieser Metaphysik rechnet Kant in seiner Analyse des trans-
zendentalen Ideals ab. Unter einem Ideal versteht er eine Idee, insofern
sie nicht nur in concreto, sondern in individuo leibhaftige Wirklichkeit
erhält. Ein Muster für diese Begriffsbildung ist die Gestalt des Weisen
in der griechischen Philosophie, so etwa bei den Stoikern, den Epiku-
reern oder den Skeptikern der hellenistischen Zeit. In dieser Gestalt
erhält die Weisheit als solche – also die Idee der Weisheit – eine an-
schauliche Realität. Der Weise als das Ideal der Weisheit hat allerdings
den Charakter einer mehr oder weniger willkürlichen Idealisierung,
weil eine Idee wie die der Weisheit für sich allein nicht ausreicht, ein
einzelnes Seiendes, ein Individuum vollständig zu bestimmen. Das ist
der Fall mit beinahe allen Ideen. Es gibt aber – zumindest scheinbar –
eine Ausnahme, wenn auch nur eine einzige: die Idee eines Wesens,
dem nicht nur eine Vollkommenheit wie etwa die Weisheit zukommt,
sondern das vielmehr alle möglichen Vollkommenheiten in sich ver-
einigt. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Ideal, da einzig und
allein die Ideen der verschiedenen Vollkommenheiten die Merkmale

131
Grundtypen der Metaphysik

eines einzelnen Seienden bestimmen. Aber von willkürlicher Idealisie-


rung ist bei diesem Ideal nicht mehr die Rede. Denn – zumindest dem
Anschein nach – bestimmt die Gesamtheit möglicher Vollkommenhei-
ten in aller Eindeutigkeit ein einzelnes Seiendes, ein Individuum, und
zwar im rein begrifflichen Denken (völlig a priori), ohne dass dabei eine
Erfahrung, von welcher Art auch immer, in Betracht gezogen werden
müsste.
Kant schreibt jedoch dem Ideal des allervollkommensten Wesens
nicht bloß einen apriorischen, sondern auch einen »transzendentalen«
Charakter im vollen Sinne des Wortes zu. Anders als in der »Transzen-
dental-Philosophie der Alten« bezeichnet dieses Wort in der Kritik der
reinen Vernunft allerdings nicht mehr einfach das Transgenerische oder
das Transkategoriale. Transzendental ist vielmehr für Kant eine Er-
kenntnis, die nicht allein unabhängig von der Erfahrung (a priori) er-
worben werden kann, sondern zugleich eine – oder, richtiger, zumindest
eine – Bedingung erfasst, die die Erfahrung überhaupt erst ermöglicht.
In diesem Gedanken einer »Möglichkeit der Erfahrung« drückt sich ein
im Verhältnis zur Tradition völlig neuer Gesichtspunkt aus, der auch im
Falle des Ideals des allervollkommensten Wesens zur Geltung kommt.
Dieses Ideal wird deshalb als ein transzendentales Ideal betrachtet, weil
es – dem Anschein nach – eine Bedingung der Möglichkeit der Erfah-
rung darstellt.
Wie ermöglicht aber das Ideal des allervollkommensten Wesens die
Erfahrung? Um diese Frage zu beantworten, geht Kant von einem
Grundsatz aus, den er den »Grundsatz der Bestimmbarkeit« nennt und
unter dem seiner Ansicht nach jeder Begriff steht. Dieser Grundsatz
besagt, »daß nur eines, von jeden zwei einander kontradiktorisch ent-
gegengesetzten Prädikaten, ihm [dem gerade in Rede stehenden Begriff]
zukommen könne […].« 373 Mit diesem rein logischen Grundsatz ver-
bindet sich ein anderer, mit ihm eng verwandter, aber nicht mehr bloß
logischer, sondern transzendentaler Grundsatz: »[…] alles Existierende
ist durchgängig bestimmt […].« 374 Dieser letztere Grundsatz, der in der
Kritik der reinen Vernunft »Grundsatz der durchgängigen Bestim-
mung« 375 (der omnimoda determinatio) heißt, bezieht sich nicht auf
Begriffe, sondern auf Dinge und beruht auf der Idee der »gesamten

373
Ebd., A 572/B 600.
374
Ebd., A 573/B 601.
375 Ebd., A 572/B 600.

132
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

Möglichkeit« 376 oder des »Inbegriffs aller Möglichkeit« 377. Diese Idee
setzt allerdings eine vollständige Analyse der Begriffe voraus. Wir
finden, wie Kant sagt, dass die Idee der gesamten Möglichkeit, »als Ur-
begriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, die als abgeleitet durch
andere schon gegeben sind, oder nebeneinander nicht stehen kön-
nen […]«. 378 Das Zusammenbestehen der Prädikate in der Gesamtheit
aller Möglichkeiten ist nur dann gesichert, wenn alle Prädikate, die eine
ausdrückliche Verneinung oder auch nur einen verborgenen Mangel
ausdrücken, entfernt werden. Wenn wir uns vorstellen, dass eine voll-
ständige Analyse der Begriffe durchgeführt, alle zusammengesetzten
Prädikate auf einfache zurückgeführt und alle ausdrücklich oder unaus-
drücklich negativen Prädikate von unserer Sammlung ausgeschlossen
wurden, so erhalten wir eine bestimmte Menge positiver Prädikate, die
voneinander unabhängig sind und nicht mehr einen Mangel oder ein
Nichtsein, sondern lauter sachhaltige Merkmale der Dinge ausdrücken.
Kant ist mit der metaphysischen Tradition völlig in Einklang, wenn er
den Gehalt derartiger Merkmale als »Realität (Sachheit)« bezeichnet. 379
Die Bedeutung dieses Terminus hat – im Gegensatz zum heute vorherr-
schend gewordenen Sprachgebrauch – mit Realität im Sinne von Wirk-
lichkeit nichts zu tun. Vielmehr ist mit dem Wort Realität einzig und
allein Sachhaltigkeit und damit gerade nicht Wirklichkeit, sondern viel-
mehr ein Stück Möglichkeit gemeint. Der »Inbegriff aller Möglichkeit«
ist nichts anderes als die Gesamtheit aller Sachhaltigkeit oder auch »das
All der Realität (omnitudo realitatis)«. 380 Es ist nun nicht mehr schwie-
rig zu begreifen, warum das All der Realität als eine Bedingung der
Möglichkeit für die Erfahrung der Dinge bezeichnet werden kann. Kant
sagt: »[…] die Realitäten enthalten die Data und sozusagen die Materie
oder den transzendentalen Inhalt zu der Möglichkeit und durchgängi-
gen Bestimmung aller Dinge«. 381 Er setzt hinzu, dass das All der Reali-
tät ebendeshalb der durchgängigen Bestimmung aller Dinge als »ein
transzendentales Substratum zugrunde gelegt wird, welches gleichsam
den ganzen Vorrat des Stoffes, daher alle möglichen Prädikate der Dinge

376
Ebd.
377 Ebd., A 573/B 601.
378
Ebd., A 573 f./B 601 f.
379
Ebd., A 574/B 602.
380
Ebd., A 574 f./B 602 f.
381 Ebd., A 575/B 603.

133
Grundtypen der Metaphysik

entnommen werden können, enthält […]«. 382 Ohne diesen Vorrat an


Sachhaltigem wäre auch keine Erfahrung von Dingen möglich.
Damit ist aber die Frage, wie das Ideal des allervollkommensten
Wesens die Erfahrung ermöglicht, noch nicht vollständig beantwortet.
Denn vom All der Realität führt erst ein weiterer Weg zum Ideal des
allervollkommensten Wesens. Dieser Weg kann deshalb überhaupt be-
treten und zurückgelegt werden, weil die Gesamtheit voneinander un-
abhängiger und dabei sachhaltiger Prädikate – das heißt: aller Realitäten
– in aller Eindeutigkeit ein einzelnes Seiendes zu bestimmen scheint,
das ebendeshalb als das allerrealste Wesen (ens realissimum) bezeichnet
werden kann. Obgleich Kant davon nicht ausdrücklich spricht, ist diese
Bestimmung offenbar so zu verstehen, dass im allerrealsten Wesen alle
sachhaltigen Bestimmungen, die – ähnlich wie etwa die Weisheit –
Gradunterschiede zulassen, im Höchstmaß enthalten sind. Daher ist
das allerrealste Wesen zugleich das allervollkommenste Wesen (ens per-
fectissimum). Es kann auch als »das Urwesen (ens originarium)«, als
»das höchste Wesen (ens summum)« und als »das Wesen aller Wesen
(ens entium)« beschrieben werden.383 Kant setzt hinzu: »Der Begriff
eines solchen Wesens ist der von Gott in transzendentalem Verstande
gedacht und so ist das Ideal der reinen Vernunft der Gegenstand einer
transzendentalen Theologie […].« 384 Diejenige Unterart der transzen-
dentalen Theologie, von der hier die Rede ist, wird später im Text von
der Kosmotheologie unterschieden und des Näheren als Ontotheologie
bestimmt. 385
Das allerrealste Wesen schließt demnach den transzendentalen In-
halt zur Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung der Dinge in
sich. Deshalb kann es als »das Urbild (prototypon) aller Dinge« auf-
gefasst werden, »welche insgesamt, als mangelhafte Kopien (ectypa),
den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen […].« 386 Deshalb ist das
Ideal des allerrealsten Wesens zugleich eine Bedingung der Möglichkeit
für die Erfahrung der Dinge.
Allein die Möglichkeit eines Fortgangs vom All der Realität zum
allerrealsten Wesen ist alles andere als selbstverständlich. Kant fasst

382 Ebd.
383
Ebd., A 578 f./B 606 f.
384
Ebd., A 580/B 680.
385
Ebd., A 632/B 660.
386 Ebd., A 578/B 606.

134
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

diesen Fortgang genau ins Auge und entdeckt in ihm bei näherem Zu-
sehen drei Denkschritte, die er ohne Ausnahme fragwürdig findet:
»Dieses Ideal des allerrealsten Wesens wird also, ob es zwar eine bloße
Vorstellung ist, zuerst realisiert, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hy-
postasiert, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft
zur Vollendung der Einheit, personifiziert […]«. 387 Die Denkoperation
der Personifizierung legt dem Verständnis dieser Stelle keine Schwie-
rigkeit in den Weg. Der Begriff der Hypostasierung ist ebenfalls ohne
Weiteres verständlich: In der Gestalt des transzendentalen Ideals wird
die Idee der Gesamtheit der Realität (omnitudo realitatis) für ein seien-
des Wesen (ens realissimum) ausgegeben. Was ist aber mit »Realisie-
rung« gemeint? Kant verwendet dieses Wort auch an einer weiteren
Stelle. Er macht deutlich, dass wir nur deshalb den Schritt vom All der
Realität zum allerrealsten Wesen vollziehen können, weil wir »das
Mannigfaltige unserer Idee in einem Ideale, als einem besonderen We-
sen, zusammenfassen und realisieren, wozu wir keine Befugnis ha-
ben […].« 388 Diese Texstelle zeigt, dass eigentlich nicht das Ideal des
allerrealsten Wesens, sondern vielmehr die Idee eines Alls der Realität
»realisiert« wird, um dann in der Gestalt des Ideals auch hypostasiert
und sogar personifiziert zu werden. Es wird, mit anderen Worten, im
Grunde nur die Gesamtheit aller Möglichkeiten – oder auch die »ge-
samte Möglichkeit« – »realisiert«. In dieser Realisierung der gesamten
Möglichkeit entdeckt Kant den ersten und entscheidenden Schritt auf
einem Weg, der schließlich zur »Erdichtung« 389 des transzendentalen
Ideals und zum Blendwerk der Ontotheologie führt. Den Begriff »Rea-
lisierung« bestimmt er jedoch nicht näher.

2. Das Zweideutige an Kants transzendentalem Ansatz

Es ist ein Verdienst von Richir, die Bedeutung einer Realisierung der
gesamten Möglichkeit für Kants Kritik der spekulativen Metaphysik
deutlich erkannt zu haben. Diese Erkenntnis bliebe aber leer, wenn der
Begriff »Realisierung« dabei nicht näher bestimmt würde. Daher hebt

387
Ebd., A 583, Anm./B 611, Anm.
388
Ebd., A 580/B 608.
389 Ebd.

135
Grundtypen der Metaphysik

Richir hervor, dass mit der Gesamtheit aller Möglichkeiten nichts mehr
als eine bloße »Möglichkeit der Möglichkeiten« gemeint sein kann. 390
Die Realisierung der gesamten Möglichkeit erfolgt dann, wenn diese
Möglichkeit der Möglichkeiten – sozusagen eine Möglichkeit zweiter
Ordnung – ihrerseits »zum Objekt gemacht« und als eine eigenständige
Wirklichkeit gesetzt wird. Mit einer Verwirklichung einzelner Möglich-
keiten hat diese Realisierung der gesamten Möglichkeit nichts zu tun.
Wenn die Möglichkeit der Möglichkeiten als eine eigenständige Wirk-
lichkeit gesetzt wird, so werden dadurch die einzelnen Möglichkeiten
nicht in Wirklichkeiten verwandelt, sondern sie bleiben eben nur Mög-
lichkeiten und werden gerade als solche (nämlich als Möglichkeiten)
realisiert. Beim Verständnis dieser verwickelten Zusammenhänge kann
ein Hinweis auf den bereits mehfach herangezogenen Aufsatz De rerum
origine radicali hilfreich sein. In diesem Aufsatz hatte bereits Leibniz
das – nach ihm im Lateinischen »barbarisch« (oder »ungebildet«) klin-
gende – Wort »realisare« gebraucht, und zwar um die Existenz der Ge-
samtheit der Möglichkeiten in Gott zu bezeichnen. 391 Nach Richirs
Deutung besteht nun die von Kant erwähnte »transzendentale Subrep-
tion« gerade darin, dass die bloße Möglichkeit der Möglichkeiten auf
eine ähnliche Weise als eine eigenständige Wirklichkeit aufgefasst wird.
Die »Erdichtung« ergibt sich demnach aus der »Verwandlung der Mög-
lichkeiten aller Dinge in reelle Bedingungen […] ihrer durchgängigen
Bestimmung«. 392 Das ist der genaue Sinn von »Realisierung« in der
Kritik der reinen Vernunft.
Kant betont, dass das Ideal des allerrealsten Wesens »auf einer na-
türlichen und nicht bloß willkürlichen Idee« beruht. 393 Es handelt sich
dabei offenbar um die Idee eines Alls der Realität, also der Gesamtheit
aller Möglichkeiten. An dieser Idee ist also nach Kant nicht zu rütteln.
Warum wird jedoch die Idee der gesamten Möglichkeit in ein erschli-
chenes Ideal verwandelt? Kant sieht es durchaus als seine Aufgabe an,
dem Grund dieses verhängnisvollen Denkschritts nachzugehen. Daher
fragt er: »wie kommt die Vernunft dazu, alle Möglichkeit der Dinge als
abgeleitet von einer einzigen, die zugrunde liegt, nämlich der der

390 Marc Richir, L’expérience du penser, Grenoble: Millon 1996, p. 97.


391
Siehe Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Opuscula philosophica selecta,
S. 90 (Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. VII, S. 305); dt. S. 39.
392
Ebd. – Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 583/B 611.
393 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., A 581/B 609.

136
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

höchsten Realität, anzusehen, und diese sodann als in einem besonde-


ren Urwesen enthalten vorauszusetzen?« 394
Ein Teil der Antwort auf diese Frage geht aus den Grundsätzen des
reinen Verstandes hervor, die Kant in der transzendentalen Analytik der
Kritik der reinen Vernunft darlegt. Die Möglichkeit der Gegenstände
der Sinne beruht auf ihrem Verhältnis zu unserem empirischen Den-
ken. Die wesentliche Form eines erscheinenden Gegenstandes kann
a priori bestimmt werden; dagegen muss sein materialer Gehalt not-
wendig a posteriori gegeben sein. Diesen materialen Gehalt nennt Kant
in der transzendentalen Analytik auch das Reale. Ohne das Reale kann
kein Gegenstand der Erfahrung voll erfasst werden. Um einen Aus-
druck aus Kants vorkritischer Periode zu gebrauchen, stellt das Reale
das erste cogitabile, das heißt das Zu-Denkende in seiner Minimalform
dar. Das Reale kann zwar in der Wahrnehmung auf eine bestimmte
Weise a priori »antizipiert« – vorweggenommen – werden, aber nur
die »einige allbefassende Erfahrung« 395 kann es zur vollen Gegebenheit
bringen.
Richir verfolgt diesen Gedankengang mit einem gewissen Arg-
wohn. Was auf elegante Weise als die »einige allbefassende Erfahrung«
oder, einfacher, als der »Kontext einer möglichen Erfahrung« 396 be-
schrieben wird, umfasst dem Text zufolge den »Inbegriff aller empiri-
schen Realität«. 397 Aber wie wird dieser »Inbegriff« in der Kritik der
reinen Vernunft gedacht? Bleibt er eine bloße Möglichkeit, oder wird
er – »realisiert«?
In seinem Werk L’expérience du penser versucht Richir zu zeigen,
dass diese Frage von Kant nicht eindeutig entschieden wird. Gewiss
sieht Kant deutlich, dass wir von unserem empirischen Denken aus-
gehend zum transzendentalen Ideal gelangen, indem wir »die distribu-
tive Einheit des Erfahrungsgebrauchs des Verstandes in die kollektive
Einheit eines Erfahrungsganzen dialektisch verwandeln und an diesem
Ganzen der Erscheinung uns ein einzelnes Ding denken […]«. 398 Durch
diese Einsicht ist der Grundfehler, der im verhängnisvollen Denkschritt
der Verwandlung eines Alls der Realität in ein allerrealstes Wesen liegt,

394 Ebd.
395
Ebd., A 582/B 610.
396
Ebd.
397
Ebd.
398 Ebd.

137
Grundtypen der Metaphysik

vollständig aufgedeckt. Aus ihr folgt zugleich, dass mit dem »Inbegriff
aller empirischen Realität« nicht etwa eine kollektive, sondern eine dis-
tributive Einheit gemeint ist. Die Realität – im Sinne von Sachhaltigkeit
– ist in der Erfahrung überallhin zerstreut, nicht in ein Ganzes versam-
melt. Gleichwohl betrachtet Kant die »einige allbefassende Erfahrung«
noch immer als ein All der Realität und als einen »Vorrat des Stoffes«,
aus dem »alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden kön-
nen«. Richir trennt die beiden größeren Komponenten dieser komple-
xen Vorstellung voneinander: Der Ausdruck »Vorrat des Stoffes« ver-
weist nach ihm noch auf eine bloße »Möglichkeit der Möglichkeiten«;
dagegen erweckt der Gedanke, dass aus diesem Vorrat »alle möglichen
Prädikate der Dinge genommen werden können«, den Verdacht, dass
diese Möglichkeit in der transzendentalen Analytik am Ende doch »rea-
lisiert« wird. Die Erfahrung kann uns mit keinem Prädikat bekannt-
machen, das nicht immer schon in dieser Sammlung aller möglichen
Prädikate enthalten wäre.
Richir und Marion entwickeln Denkansätze, die innerhalb der
Neuen Phänomenologie in Frankreich einander in mehrfacher Hinsicht
entgegengesetzt sind. Gleichwohl formuliert Marion Argumente gegen
Kants transzendentalen Möglichkeitsbegriff, die den gerade dargestell-
ten Bedenken von Richir durchaus ähnlich sind.
In Étant donné befasst sich Marion nicht unmittelbar mit Kants
Analyse des transzendentalen Ideals. Er interessiert sich vielmehr nur
für das Schicksal des Satzes vom Grund in der Kritik der reinen Ver-
nunft. Aber genauso wie Richir befasst er sich dabei in erster Linie mit
Kants Begriff möglicher Erfahrung. Er erhebt wichtige Einwände gegen
diesen Begriff.
Man findet die einschlägigen Ausführungen von Marion am Be-
ginn des vierten Teils von Étant donné. Es wird hier das erste »Postulat
des empirischen Denkens überhaupt« aus der Kritik der reinen Ver-
nunft zitiert: »Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der
Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich.« 399
Der Hinweis auf die Anschauung verbindet die Möglichkeit der Dinge
mit ihrem Erscheinen, ihrer Phänomenalität. Marion stellt die Frage:
»Sollten wir daraus den Schluss ziehen, dass der erscheinende Gegen-
stand seine Möglichkeit geltend macht, statt sie ihren Bedingungen zu

399 Ebd., A 218/B 265.

138
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

unterwerfen?« 400 Er bezieht diese Frage auf die Kritik der reinen Ver-
nunft, und in Bezug auf dieses Werk ist seine Antwort verneinend: »Die
Möglichkeit folgt nicht aus dem erscheinenden Gegenstand, sondern,
im Gegenteil, aus den Bedingungen, die für jeden erscheinenden Ge-
genstand gesetzt sind.« 401 Denn es ist bei Kant nicht etwa der erschei-
nende Gegenstand, mit dem die Möglichkeit übereinstimmt, sondern
die »formalen Bedingungen der Erfahrung«, die ihrerseits »durch die
Erkenntnisvermögen bestimmt werden, nicht aber durch das Vermögen
des phänomenalen Gegenstands der Erfahrung, zu erscheinen. 402
Marion fügt hinzu: »Die Möglichkeit – und daher auch die Unmöglich-
keit – wird durch das ›Vermögen, zu erkennen,‹ festgelegt, das heißt:
durch das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff in einem end-
lichen Geist.« 403
Nach Marion bleibt Kant gerade in dieser Hinsicht derjenigen Auf-
fassung von der Möglichkeit verhaftet, die von Leibniz entwickelt wor-
den war. In einem seiner späten Werke hatte Leibniz deutlich gemacht,
dass nach ihm »nichts ohne zureichenden Grund geschieht, das heißt,
daß nichts geschieht, ohne daß es dem, der die Dinge genügend kennt,
möglich wäre, einen Grund anzugeben, der zureicht, um zu bestimmen,
warum es so und nichts anders ist«. 404 Daraus folgt aber, dass nichts
geschieht, nichts sich ereignet und nichts erscheint, ohne seine eigene
Möglichkeit angesichts des so formulierten Satzes vom zureichenden
Grunde beweisen oder bezeugen zu können. Die so verstandene Mög-
lichkeit ist durch zwei Grundzüge gekennzeichnet:

1. Sie geht dem, was sie eigentlich erst möglich macht, paradoxerwei-
se voraus, das heißt: sie geht dem Erscheinen des erscheinenden
Gegenstands voraus, indem sie diesem Erscheinen eine Bedingung
auferlegt.
2. Die Bedingung, an die die so verstandene Möglichkeit das Erschei-
nen des erscheinenden Gegenstandes bindet, ist keine andere als

400
Jean-Luc Marion, Étant donné, Paris, PUF, 1997, S. 253.
401
Ebd.
402
Ebd., S. 254.
403 Ebd.

404
Leibniz, Principe de la Nature et de la Grâce, § 7, hg. von André Robinet, S. 45; dt. »In
der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und der Gnade«, in: Philosophische
Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/
Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–Deutsch, S. 427.

139
Grundtypen der Metaphysik

die des »Vermögens, zu erkennen,« das hier als ein Vermögen, den
zureichenden Grund des Erscheinens zu erkennen, näher be-
stimmt wird.

Diese Grundzüge der Möglichkeit sind nach Marion Leibniz und Kant –
trotz aller Unterschiede ihrer jeweiligen Ansätze – gemeinsam. Es heißt
in Étant donné: »Im Bereich der metaphysischen Denkart (en régime
métaphysique) gehört die Möglichkeit des Erscheinens niemals dem
Erscheinenden und die Phänomenalität niemals dem Phänomen zu.« 405
Verbleibt also Kants Transzendentalphilosophie innerhalb des Be-
reichs der metaphysischen Denkart? Allem Anschein nach will Marion
gerade dies andeuten. Gewiss macht Kant vom Satz vom zureichenden
Grunde keinen Gebrauch. Er ersetzt das Leibniz’sche Prinzip durch
einen anderen Grundsatz, den er als den obersten Grundsatz aller syn-
thetischen Urteile bezeichnet und dem Satz vom Widerspruch als dem
obersten Grundsatz aller analytischen Urteile gegenüberstellt. Kants
oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile ist an den Gesichtspunkt
einer »Möglichkeit der Erfahrung« gebunden 406 und unterscheidet sich
ebendeshalb ganz offensichtlich vom Leibniz’schen Satz vom zurei-
chenden Grunde, aber er spielt bei Kant nach Marion eine ähnliche
Rolle wie der Satz vom zureichenden Grunde bei Leibniz, indem er das
Erscheinen des Erscheinenden der Bedingung des Vermögens zu erken-
nen unterwirft. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Hinsicht
der wohlbekannten Behauptung der Kritik der reinen Vernunft zu: »die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich
Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […].« 407
Diese Behauptung, die als ein Folgesatz des obersten Grundsatzes aller
synthetischen Urteile aufgefasst werden kann, zeigt, wie in der Kritik
der reinen Vernunft die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung den Gegenständen der Erfahrung auferlegt werden. Damit
wird die Möglichkeit, dass die Erfahrung etwas völlig Unvorherseh-
bares und Unerwartetes mit sich bringen könnte, von vornherein aus-
geschlossen. Deshalb sagt Marion: »Kant führt das von Leibniz gestif-
tete Erscheinen unter Bedingung weiter, indem er es auf eine andere
Ebene versetzt. Ja, er radikalisiert es sogar. Denn Leibniz setzte den Satz

405
Marion, Étant donné, S. 255.
406
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 156/B 195.
407 Ebd., A 158/B 197.

140
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

vom zureichenden Grunde unter die Ägide ›des letzten Grundes aller
Dinge, den […] wir Gott nennen‹ ; 408 Kant dagegen schreibt ihn der
transzendentalen Apperzeption, also der Endlichkeit zu.« 409 Daraus
folgt, dass die Möglichkeit des Erscheinens nicht durch das Erscheinen-
de selbst begründet wird, sondern durch das Vermögen, zu erkennen,
und durch die beiden obersten Grundsätze, die zu diesem Vermögen
gehören. Deshalb erscheinen bei Kant »die erscheinenden Gegenstände
nur unter Bedingung, entfremdet wie sie sich selber sind durch ihre
ihnen auferlegte Phänomenalität.« 410

3. Kritik der Ontotheologie im Übergang von Kant zum


Deutschen Idealismus

Es wurde gezeigt, in welchem Sinne die Kritik der reinen Vernunft


einen Bruch mit der ontotheologischen Tradition darstellt. Dieser Bruch
eröffnet neue Wege des Denkens. Kant untersucht das Vermögen zu
erkennen vom Standpunkt eines endlichen Wesens aus, und von diesem
Standpunkt aus entdeckt er – sich auch auf Hume und die empiristische
Tradition stützend – die Bedeutung des Erscheinens der erscheinenden
Gegenstände. Er gelangt zu der Einsicht, dass wahre Erkenntnis nur
innerhalb der Grenzen möglichen Erscheinens erworben werden kann.
Dieser Ansatz hat zur Folge, dass in der Kritik der reinen Vernunft das
Seiende – oder auch der Gegenstand überhaupt – in phaenomena (er-
scheinende Gegenstände) und noumena (reine Denkobjekte) eingeteilt
wird. Da im Falle reiner Denkobjekte nach Kant von wahrer Erkenntnis
keine Rede sein kann, verleiht diese Einteilung den erscheinenden Ge-
genständen von vornherein einen gewissen Vorrang. Andererseits ver-
sucht Kant jedoch, das Erscheinen der erscheinenden Gegenstände an
Bedingungen zu binden, die sich aus der Verfassung der endlichen Er-
kenntnisvermögen ergeben. In dieser Hinsicht kann er sich vom Ein-
fluss der Grundeinstellung, von der bereits der Leibniz’sche Satz vom
Grund getragen war, nicht ganz freimachen. Die beiden Denker verbin-
det ein – allerdings je verschiedenartiger – Versuch, dem Erscheinen der

408
Leibniz, Principes de la philosophie ou Monadologie, § 38, S. 93.
409
Marion, Étant donné, S. 256 f.
410 Marion, Étant donné, S. 257.

141
Grundtypen der Metaphysik

erscheinenden Gegenstände Bedingungen aufzuerlegen, die dem Er-


scheinen selbst äußerlich bleiben.
Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus bleibt bei Kant vor
allem der Begriff einer »Möglichkeit der Erfahrung« oder einer »mög-
lichen Erfahrung« zweideutig. Kants Kritik am transzendentalen Ideal
der Vernunft lässt darauf schließen, dass die Wirklichkeit nicht aus der
Gesamtheit vorhergesehener und vorweggenommener Möglichkeiten
abgeleitet werden kann. Sowohl Richir als auch Marion halten sie gera-
de aus diesem Grunde für besonders wichtig und lehrreich. Beide beste-
hen darauf, dass jeder Wandel in der Wirklichkeit neue Möglichkeiten
erschließen kann, die über die Grenzen des Vorweggenommenen und
überhaupt Vorhersehbaren hinausgehen. Auf den ersten Blick scheint
Kants Vorstellung von der möglichen Erfahrung als einem »Vorrat des
Stoffes«, aus dem alle sachhaltigen Prädikate genommen werden, gera-
de diese Einsicht zu untermauern. Aber diese Vorstellung erweist sich
am Ende doch als zweideutig, weil die Grenzen möglicher Erfahrung bei
Kant durch subjektive Bedingungen der Erkenntnis bestimmt werden.
Aus diesen Überlegungen müssen wir folgern, dass in Kants trans-
zendentalem Ansatz eine Spur travestierter Ontotheologie zurück-
bleibt. Travestiert ist diese Ontotheologie deshalb, weil in ihr – ähnlich
übrigens wie bereits in der ersten ontotheologischen Verfassung der
Cartesischen Meditationen über die Erste Philosophie – das reine Ich
mit seinem Selbstbewusstsein, das Kant als ›transzendentale Apperzep-
tion‹ bestimmt, an die Stelle des allerrealsten Wesens tritt, indem es
dem Erscheinen der erscheinenden Gegenstände einschränkende Bedin-
gungen auferlegt. Wir können behaupten, dass sich bei Kant und man-
chen seiner Nachfolger, einschließlich der Junghegelianer Feuerbach
und Marx, eine anthropologische Wende der Ontotheologie bemerkbar
macht – eine Wende, in der das endliche Wesen »Mensch« den Ort des
allerrealsten Wesens einnimmt.
In der Geschichte der Denkströmung, die wir unter dem Namen
»Deutscher Idealismus« kennen, hat allerdings auch die traditionelle,
nicht travestierte Ontotheologie manche Spuren hinterlassen, obgleich
sie als metaphysische Grundeinstellung durch die Kritik der reinen Ver-
nunft einmal schon erschüttert worden war. So urteilt zumindest Schel-
ling, der in seiner Spätphilosophie aufs Engste an Kants Kritik des
transzendentalen Ideals anknüpft.411 Der späte Schelling gehört zu den

411 In Richirs L’expérience du penser wird dieser Zusammenhang besonders deutlich.

142
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

wenigen Denkern der nachkantischen Periode, die in diesen Spuren ge-


radezu eine Gefahr für die Philosophie erkennen. Man kann durchaus
behaupten, dass er – wie Courtine sagt – an einer Kritik der Ontotheo-
logie arbeitet. 412 Was Schelling in der letzten Phase seines Denkens als
»negative Philosophie« bezeichnet, ist ja eigentlich nichts anderes als
die Ontotheologie. 413
Für die Philosophiegeschichtsschreibung des letzten halben Jahr-
hunderts ist ein neu erwachtes Interesse an Schellings Spätphilosophie
gewiss nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland bezeich-
nend: Es genügt Namen wie Horst Fuhrmans, Walter Schulz, Jürgen
Habermas, Manfred Frank, Wolfgang Wieland, Wolfram Hogrebe,
Thomas Buchheim, Axel Hutter oder Markus Gabriel zu nennen. 414 In
Frankreich erwächst jedoch dieses Interesse nicht etwa nur aus der Mei-
nung, dass Schellings Spätphilosophie als die »Vollendung des Deut-
schen Idealismus« zu gelten habe 415 oder dass mit ihr der Hegel’schen
Philosophie der Geschichte eine wahrhaft »geschichtliche Philosophie«
gegenübergestellt sei, 416 sondern auch aus der Überzeugung, dass in
Schellings Spätphilosophie die Anfänge einer »ersten entscheidenden

Siehe auch Jean-François Marquet, Liberté et existence. Étude sur la formation de la


philosophie de Schelling, Paris: Cerf 22006 (11973), S. 544 f.
412
Siehe Jean-François Courtine, Extase de la raison. Essais sur Schelling, Paris: Galilée
1990, S. 228 (»une tentative de critique radicale de l’onto-théologie«); vgl. S. 265 f.
413
Ebd., S. 206, S. 228 und S. 270.
414
Zur französischen Rezeption von Schellings Spätphilosophie in den letzten Jahrzehn-
ten siehe Vladimir Jankélévitch, L’Odyssée de la conscience dans la dernière philosophie
de Schelling Paris: L’Harmattan 22005 (11932); Xavier Tilliette, Schelling. Une philoso-
phie en devenir, 2 Bände, Paris: Vrin 21992 (11970), Bd. II; ders., »Deux philosophies en
une«, in: L’absolu et la philosophie. Essais sur Schelling, Paris: 1987, S. 182–199; Miklos
Vetö, Le Fondement selon Schelling, Paris: Beauchesne 1977; ders. De Kant à Schelling.
Les deux voies de l’Idéalisme allemand, Grenoble: Millon 2000, Bd. II; Marquet, Liberté
et existence, besonders S. 523–570; ders., Restitutions. Études d’histoire de la philosophie
allemande, Paris: Vrin 2001, S. 139–204; Courtine, Extase de la raison; Jean-François
Courtine und Jean-François Marquet (Hg.), Le dernier Schelling. Raison et positivité,
Paris: Vrin 1994; Richir, L’expérience du penser.
415
Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie
Schellings, Pfullingen: Günter Neske 21975 (11955).
416
Axel Hutter, Geschichtliche Vernunft. Die Weiterführung der Kantischen Vernunft-
kritik in der Spätphilosophie Schellings, Frankfurt am Main 1996. Siehe weiterhin Jür-
gen Habermas, Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings
Denken, Bonn: Bouvier 1954. Vgl. auch Michael Guschwa, Dialektik und philosophi-
sche Geschichtserzählung beim späten Schelling (Diss. Wuppertal), Würzburg: Ergon
2013.

143
Grundtypen der Metaphysik

Überwindung der ontotheologisch verfassten Metaphysik« sichtbar


würden. 417
Von einem derartigen Überwindungsversuch kann deshalb die Re-
de sein, weil Schelling sich nicht damit begnügt, die negative Philo-
sophie einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen, sondern zugleich
versucht, ihr eine »positive Philosophie« zur Seite zu stellen. Die pole-
mische Schärfe seiner Untersuchungen richtet sich beinahe gegen die
gesamte Tradition der Philosophie von Aristoteles bis zur »Naturphi-
losophie«, die er selbst bereits in der zweiten Hälfte der 1790er Jahre der
Transzendentalphilosophie von Kant und Fichte entgegenhielt, um ihr
dann in den Jahren 1801–1804 die Gestalt des Identitätssystems – und
damit des absoluten Idealismus – zu geben und sie in den darauf folgen-
den Jahren (besonders im Jahre 1806) auch in Auseinandersetzungen
mit Fichte zu verfechten. Darüber hinaus zielen seine Einwände darauf
ab, das Denken, das er in Hegels Wissenschaft der Logik und Enzyklo-
pädie der philosophischen Wissenschaften am Werk sieht, als eine ne-
gative Philosophie zu enthüllen. Nichts als bloße Gedankendinge findet
er in diesen Werken. Das ist der erste Grund dafür, dass er sie der nega-
tiven Philosophie zurechnet, da in dieser – wie er es bereits in der Mün-
chener Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie klarstellt –
»von Existenz, von dem, was wirklich existiert, und also auch von Er-
kenntniß in diesem Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von den
Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen
[…].« 418 Der positiven Philosophie wird Schelling demgegenüber gera-
de die Aufgabe stellen, die »alles Denken übertreffende Wirklichkeit«
zu erfassen. 419 Zu diesem ersten Grund, Hegels Denken als eine negati-

417 Das ist insbesondere das Grundmotiv von Jean-François Courtines Untersuchungen
über den späten Schelling seit der Mitte der 1970er Jahre. Siehe Courtine, Extase de la
raison, S. 163 und S. 197; zur Formel »erste entscheidende Überwindung der ontotheo-
logisch verfassten Metaphysik (premier dépassement décisif de la métaphysique dans sa
constitution ontothéologique) siehe ebd., S. 10. Es handelt sich um ein Grundmotiv, das
Courtine auch in seiner vor Kurzem veröffentlichten Aufsatzsammlung Schelling entre
temps et éternité. Histoire et préhistoire de la conscience (Paris: Vrin 2012) weiterführt
(siehe besonders S. 59 und S. 81).
418
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie
[Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart und Augsburg:
Cotta 1860 ff., Abteilung I, Bd. X], S. 125 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg.
von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. IV, S. 541).
419
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen

144
Kants Kritik spekulativer Metaphysik

ve Philosophie zu betrachten, kommt noch hinzu, dass Schelling den


dialektischen Denkprozess, aus dem Gott in der negativen Philosophie
als »Resultat« hervorgehen soll, 420 als ein »ewiges Geschehen« versteht,
wozu er sogleich bemerkt: »Ein ewiges Geschehen ist aber kein Gesche-
hen.« 421 In der positiven Philosophie wird es dagegen gerade darauf
ankommen, »das Geschichtliche als Geschichtliches zu begreifen«. 422
Unter dem Namen »negative Philosophie« bekämpft Schelling schließ-
lich darüber hinaus auch »jedes Denken, das sich ausschließlich im
Horizont des Satzes vom Grunde bewegt«. 423 Demgegenüber wird er
der positiven Philosophie das Ziel setzen, das »grundlos Existierende«
zu erfassen. 424 Selbstverständlich sieht er auch in Hegels Philosophie
ein Denken, das sich ausschließlich im Horizont des Satzes vom Grunde
bewegt.
Gewiss nicht ganz zu Unrecht, aber die Dinge sind in dieser Hin-
sicht doch verwickelter, als sie es auf der ersten Blick zu sein scheinen.
Der Prozess, der die traditionelle Ontotheologie im Deutschen Idealis-
mus zum Teil wieder in seine Rechte einsetzt, stößt nicht nur bei Schel-
ling, sondern auch bei Hegel auf Widerstand. Auch in der Wissenschaft
der Logik wirken ihm starke Tendenzen entgegen. Bevor wir Schellings
Versuch, die ontotheologisch verfasste Metaphysik zu überwinden, nä-
her ins Auge fassen, wollen wir auf eine dieser Tendenzen eingehen, die
für eine Metaphysik, die gegen die Gefahr der Ontotheologie gefeit sein
will, auch heute noch richtungweisend sein dürfte. Es handelt sich um
eine Tendenz, die sich in Hegels dialektischem Umgang mit dem Leib-
niz’schen Erbe des Satzes vom Grunde bekundet.

Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 314 (= Ausgewählte Schriften in


sechs Bänden, Bd. V, S. 325).
420
Ebd., S. 123 (= S. 539).
421
Ebd., S. 124 (= S. 540).
422
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Zweiter Band [Sämmtliche Werke, Abt. II,
Bd. IV], S. 33. (In den Ausgewählten Schriften nicht enthalten).
423
Courtine, Extase de la raison, S. 191.
424
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abt. II, Bd. III], S. 168. (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 770).

145
Grundtypen der Metaphysik

VI. Der Grund und das Grundlose bei Hegel

»Alles hat seinen zureichenden Grund«. 425 Hegel weist diesem von
Leibniz stammenden Grundsatz einen vornehmen Platz in seiner Wis-
senschaft der Logik zu: Er betrachtet ihn als eine Reflexionsbestim-
mung des Denkens, die zugleich einen Grundzug des Seins ausdrückt.
Bald fügt er jedoch hinzu: »Wenn […] auch gesagt wurde, was existiert,
hat einen Grund und ist bedingt, so müßte auch ebenso gesagt werden:
es hat keinen Grund und ist unbedingt.« 426 Demnach wird das Existie-
rende in einem gewissen Sinne als »das Grundlose« 427 bestimmt.
Es ist keine leichte Aufgabe, die Bedeutung dieser Bestimmung zu
entschlüsseln. Gewiss ist es offenkundig, dass Hegel in der Wissen-
schaft der Logik nicht allein die »Grundgesetze unseres Denkens« zu
erfassen sucht, sondern darüber hinaus einen »ontologischen An-
spruch« erhebt; deshalb bezeichnet er den »Anfang« der gedanklichen
Bewegung, die er darstellt, als Sein. 428 Es liegt jedoch in diesem Anfang
nur dann das Prinzip der logischen Entwicklung, »wenn er gedacht
wird«, 429 wenn er also von vornherein als ein »Reflexionsausdruck«
gelten kann. 430 Wie kommt aber das logische Denken dazu, einen onto-
logischen Anspruch zu erheben, wenn es das Sein von Anfang an bloß
als gedachtes Sein begreift? Wie kommt also die Reflexion dazu, gleich-
sam ihr Anderes von sich aus zu erfassen?
Zur Kennzeichnung der Hegel’schen Lösung dieses Problems kann
die von Christa Hackenesch geprägte Formel »Logik der Andersheit«
dienen. Wir können diesen Gedanken vielleicht auf folgende Weise auf
unser Grundproblem beziehen: Hegel gelingt es, selbst noch im gedach-
ten Sein das Andere des Denkens zu erfassen, das heißt einen Weg von
der Reflexion zu deren Anderem zu finden, weil er in der Identität des

425
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik II [Werke in zwanzig Bän-
den, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 6], Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1969, S. 82.
426
Ebd., S. 125.
427 Ebd., S. 123.

428
Christa Hackenesch, Die Logik der Andersheit, Frankfurt am Main: Athenäum 1987,
S. 276.
429
Ebd., S. 274.
430 Ebd., S. 273 f.

146
Der Grund und das Grundlose bei Hegel

gedachten Seins mit sich selbst bereits die Differenz von Denken und
Sein mitdenkt.
Trifft diese Deutung zu, so erhält die terminologische Unterschei-
dung zwischen Sein und Existenz, so wie sie in der Wissenschaft der
Logik vollzogen wird, eine besondere Bedeutung. Denn die Differenz
zwischen Denken und Sein, die im Anfang der logischen Entwicklung
noch verborgen bleibt, tritt auf der Ebene der Existenz offen zutage.
Dass gerade das Existierende als das Grundlose bezeichnet wird, ist ein
Beleg für diese Behauptung. Die Grundlosigkeit ist nämlich nichts an-
deres als das Hauptmerkmal eines Seins, das nicht darin aufgeht, ge-
dacht zu werden und als bloßer Reflexionsausdruck zu gelten.
Trotz der Tatsache, dass Kant in seiner groß angelegten Auseinan-
dersetzung mit dem transzendentalen Ideal die Vorstellung von einer
»Realisierung« der Gesamtheit aller Möglichkeiten in dem Urwesen
mittlerweile einer grundsätzlichen Kritik unterzogen hat, knüpft Hegel
aufs Engste an Leibniz und seinen Satz vom zureichenden Grunde an;
aber seine »Logik der Andersheit« bringt es mit sich, dass diese An-
knüpfung keine eindeutige Weiterführung der Grundtendenz bedeutet,
die uns bei den Denkern des neuzeitlichen Rationalismus entgegen-
getreten ist. Der Umstand, dass die Wissenschaft der Logik das »Exis-
tierende« einerseits zwar aus seinem Grund hervorgehen lässt, anderer-
seits aber dennoch zugleich als das Grundlose bestimmt, genügt, die
Annahme eines bruchlosen Zusammenhangs zwischen Leibniz und He-
gel in zweifelhaftem Licht erscheinen zu lassen. Dieser Eindruck ver-
stärkt sich nur noch mehr, wenn wir der Frage nachgehen, wozu diese
grundsätzliche Bestimmung in der Entwicklung des Existenzbegriffs
verwendet wird.
Diese Entwicklung wird als eine Dialektik von Wesen und Existenz
begreiflich. Die treibende Kraft dieser Dialektik ist das »Pathos der Dar-
stellung«. 431 Was zum Wesen eines Dinges gehört, muss in die Existenz
treten, es muss erscheinen, es muss sich Gestalt geben. Hegels Polemik
gegen jede Vorstellung von einem Inneren, das sich im Äußeren nicht
auszudrücken vermag, verleiht dem Gedankengang seine Brisanz und
seine Eigendynamik.

431
Hermann Drüe, Annemarie Gethmann-Siefert, Christa Hackenesch u. a., Hegels ›En-
zyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). Ein Kommentar zum System-
grundriß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 115.

147
Grundtypen der Metaphysik

Allerdings erreicht das Ausdrucksverhältnis zwischen dem Inne-


ren und dem Äußeren im Endlichen niemals seine Vollendung. Auf
der Ebene der Einzeldinge, wie sie auch immer beschaffen sein mögen,
bleibt der Unterschied zwischen dem Wesen und der Existenz unüber-
windbar. Die Sachlage ändert sich erst dann, wenn die Einzeldinge vom
Gesichtspunkt ihrer Gesamttotalität aus ins Auge gefasst werden. Die
Bestimmung des Seins erreicht damit eine neue Stufe der Reflexion: Die
»Existenz« geht in die »Wirklichkeit« über. Als Wirklichkeit wird die
Existenz bezeichnet, wenn sie rein als Erscheinung oder, richtiger, als
Manifestation des Wesens begriffen wird. 432
Auf der Ebene der Wirklichkeit erhalten zwar die einzelnen Dinge
durchaus ihre Existenz aufrecht, 433 aber sie werden nunmehr als bloße
Momente im Weltlauf begriffen. Um diesen Ebenenwechsel deutlich zu
machen, spricht Hegel zunächst vom Absoluten und dann auch von der
unendlichen Substanz. Als das wahrhaft Unendliche erweist sich jedoch
immer deutlicher der »Prozess der Wirklichkeit«. 434 »Wirk-lichkeit«
(aus dem Wort »wirken«) heißt die Existenz auf dieser Stufe der Refle-
xion deshalb, weil Hegel – nicht anders als Spinoza, aber noch eindeu-
tiger als dieser – eine dynamische Vorstellung von der unendlichen
Substanz bildet, indem er sie als »absolute Macht« zu begreifen sucht. 435
Deshalb sagt er: »Die Substanz hat […] erst als Ursache Wirklich-
keit.« 436
Vom Standpunkt der Gesamtwirklichkeit aus, die auf Kausalbezie-
hungen beruht und aus der gegenseitigen Einwirkung der Dinge auf-
einander hervorgeht, zeigt sich auch der Satz vom Grund von einer
neuen Seite. Alles, was vom Grund früher schon gesagt wurde, wird
hier wieder einschlägig. Die Analyse des Kausalitätsverhältnisses, die
Hegel in seinen Untersuchungen über die Gesamtwirklichkeit ausarbei-
tet, nährt sich weitgehend aus seinen Einsichten in die Beziehungen
zwischen dem Grund und den Bedingungen einer Sache. Eine dieser
Einsichten lautet wie folgt: »Wenn alle Bedingungen einer Sache vor-

432
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 201.
433
Ebd., S. 208: »Die reale Wirklichkeit als solche ist zunächst das Ding von vielen Ei-
genschaften, die existierende Welt […].«
434 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissen-

schaften (1830) [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel, Bd. 8], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 288: »Prozeß der Wirklichkeit«.
435
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 220.
436 Ebd., S. 224.

148
Der Grund und das Grundlose bei Hegel

handen sind, so tritt sie in die Existenz.« 437 Dieser Satz, der auf der
Leibniz’schen Gleichsetzung der Gesamtursache eines Dinges mit der
Totalität der Bedingungen für dessen Existenz beruht, bleibt für Hegel
in seinen Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit geradezu leitend.
Nur dass nunmehr die Bedingungen einer Sache in der Kategorie der
realen Möglichkeit zusammengefasst werden. 438 Die reale Möglichkeit
ist eine Möglichkeit, die in der Gestalt wirklich existierender Bedingun-
gen vorhanden ist. Dem gerade angeführten Satz entspricht auf der
Reflexionsstufe der Gesamtwirklichkeit die Behauptung, dass reale
Möglichkeit und reale Notwendigkeit nur scheinbar unterschieden sind:
»Was […] real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter die-
sen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfol-
gen.« 439 Nicolai Hartmann wird diese Einsicht im zweiten Band seiner
vierbändigen Ontologie als ein Zeichen für die »Härte des Realen« 440
deuten. Im Realen ist nichts möglich, was nicht wirklich würde, und ist
nichts wirklich, was – unter den gegebenen Bedingungen und Umstän-
den – nicht auch schon notwendig wäre. 441
Anders als bei Nicolai Hartmann verbindet sich bei Hegel diese
Auffassung von der realen Möglichkeit jedoch mit der Einsicht, dass
das Existierende trotz seiner Bedingtheit durch die Gesamtheit der Um-
stände, die einen zureichenden Grund seiner Existenz abgeben, in
einem bestimmten Sinne dennoch das Grundlose bleibt. In den Betrach-
tungen über die Gesamtwirklichkeit nimmt das Grundlose der Existenz
die Bedeutung des Zufälligen an. 442 Hegel sagt: »Das Zufällige ist ein
Wirkliches, das zugleich nur als möglich bestimmt, dessen Anderes oder
Gegenteil ebenso sehr ist.« 443 Der Sinn dieser Bestimmung ist einleuch-
tend: Das Zufällige ist zwar ein Wirkliches, aber dieses Wirkliche hat
nur als Verwirklichung der einen der Möglichkeiten zu gelten, die im
gegebenen Fall in Betracht gezogen werden konnten; deshalb kann das
Andere oder das Gegenteil dieses Wirklichen – anderswo oder zu ande-

437
Ebd., S. 122.
438
Ebd., S. 208.
439
Ebd., S. 211.
440
Nicolai Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin: Walter de Gruyter 1938,
S. 132.
441
Nicolai Hartmann, Ethik, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 21935 [11926],
S. 599: »Es gibt kein ontologisch ›zufälliges‹ Wirkliches.«
442
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 206 f.
443 Ebd., S. 205.

149
Grundtypen der Metaphysik

rer Zeit – gleichfalls wirklich sein. Daraus zieht Hegel den Schluss:
»Diese Wirklichkeit ist daher bloßes Sein oder Existenz […].« 444 Gleich-
wohl unterscheidet er die Zufälligkeit vom bloßen Sein und selbst von
der bloßen Existenz insofern, als er ihr den »Wert […] der Möglichkeit«
zuschreibt. 445 Im Gegensatz zum bloßen Dasein, das dem Denken von
vornherein als das Andere der Reflexion begegnet und das ebendeshalb
näher als die Existenz im Sinne des Gegenteils des Wesens bestimmt
werden kann, wird die zufällige Wirklichkeit als Möglichkeit begreif-
lich. Sie wird daher nicht nur überhaupt im Verhältnis zu begründen-
den Instanzen gedacht, sondern von vornherein auf die Totalität ihrer
Bedingungen bezogen. Nur dass in dieser Reflexion zugleich ihre
Grundlosigkeit zutage tritt, indem sich die innere Zufälligkeit dieses
Bedingungsganzen enthüllt.
Diese Behauptung ist allerdings erläuterungsbedürftig. Hegel ent-
wickelt in seinen Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit eine ei-
gentümliche Auffassung von der Zufälligkeit. Die Ansicht von Spinoza,
der zufolge nur das als zufällig gelten kann, dessen Ursachen nicht voll-
ständig bekannt sind, teilt er mitnichten. Er hält die Zufälligkeit nicht
für eine erkenntnistheoretische, sondern für eine logisch-ontologische
Kategorie. Gleichwohl geht er aber davon aus, dass dem Zufälligen die
Totalität seiner Bedingungen den Charakter des Realmöglichen – und
damit zugleich des Realnotwendigen – aufdrückt. Seiner Ansicht nach
hat das Zufällige ebendeshalb seinen – zureichenden – Grund. Im
Unterschied zu Aristoteles betont Hegel nicht einmal, dass erst die
Überkreuzung verschiedener und ungleichartiger Kausalketten dem
Zufälligen ein Existenzrecht verschafft. Vielmehr entnimmt er der aris-
totelischen Auffassung vom Zufälligen eine Voraussetzung, die von
Aristoteles selbst nicht hervorgehoben wird. Er stützt sich auf den Ge-
danken einer Wesensverschiedenheit der Bedingungen, die in ihrer Ge-
samtheit dem Zufälligen seinen zureichenden Grund geben. Es handelt
sich dabei um Bedingungen, die zwar tatsächlich gerade beisammen
sind, aber ihrer Natur nach keineswegs notwendig zusammengehören.
Was sich aus der Totalität derartiger Bedingungen ergibt, tritt zwar
notwendig in die Existenz, bleibt aber in einem bestimmten Sinne den-
noch zufällig. Gewiss hat das so verstandene Zufällige seinen (zu-
reichenden) Grund. Die vorhandene Totalität seiner Bedingungen ist ja

444
Ebd.
445 Ebd.

150
Der Grund und das Grundlose bei Hegel

nichts anderes als eben dieser Grund. Gleichwohl kann es als das Grund-
lose bezeichnet werden, weil seine Bedingungen keine naturgemäße –
und eben deshalb auch keine begrifflich erfasste – Zusammengehörigkeit
aufweisen, sondern eben nur eine – manchmal öfters vorkommende,
manchmal aber seltene oder sogar einmalige – Konstellation bilden.
Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass die Zufälligkeit
durchaus mit der Notwendigkeit zusammenbestehen kann. Diese Fest-
stellung gilt zunächst für die reale Notwendigkeit, die jeweils »relativ«
auf die Totalität der Bedingungen ist. Das wird von Hegel eindeutig
ausgesprochen: »[…] die Notwendigkeit hat sich noch nicht aus sich
selbst zur Zufälligkeit bestimmt«, 446 sagt er, und er fügt hinzu: »In der
Tat ist somit die reale Notwendigkeit an sich auch Zufälligkeit«. 447
Nicht anders steht es jedoch mit derjenigen Notwendigkeit, die den Ge-
samtprozess der Wirklichkeit oder den Weltlauf als solchen kennzeich-
net und die von Hegel als »absolute Notwendigkeit« bezeichnet wird. Es
handelt sich dabei um eine »blinde« Notwendigkeit, die voneinander
unabhängige, »freie« Wirklichkeiten miteinander verbindet und eben-
deshalb eine unaufhebbare Zufälligkeit bei sich führt. 448
Die Frage, ob bei Hegel die Zufälligkeit nicht am Ende doch über-
wunden wird, stellt sich erst, wenn das Verhältnis von Notwendigkeit
und Freiheit bedacht wird. Bekanntlich folgt Hegel denjenigen Denkern
– und unter ihnen vor allem Spinoza –, die diese Begriffe einander nicht
gegenüberstellen, sondern miteinander zu vereinigen suchen. Am Ende
der Betrachtungen über die Gesamtwirklichkeit wird ausdrücklich be-
hauptet, dass nicht allein die Notwendigkeit, sondern auch die Zufällig-
keit »zur Freiheit [wird]«. 449 Bedeutet das nicht etwa, dass Notwendig-
keit und Zufälligkeit in der Freiheit gleichermaßen aufgehoben werden?
Gewiss ist die Antwort auf diese Frage alles andere als unumstrit-
ten. Zumindest ist es aber nicht unmöglich, an der Notwendigkeit der
Zufälligkeit für diejenige Freiheit festzuhalten, die Hegel im Auge hat.
In der Wissenschaft der Logik geht es um Freiheit im Sinne eines Bei-
sich-selbst-seins im Anderssein.
Nicht zu Unrecht betont nun etwa Bernard Mabille in seinem Buch
über Hegel, dem er den Untertitel L’épreuve de la contingence gibt, dass

446
Ebd., S. 212.
447
Ebd.
448
Ebd., S. 215 f.
449 Ebd., S. 239.

151
Grundtypen der Metaphysik

die so verstandene Freiheit »nur durch die Anerkennung einer wahr-


haften Andersheit« Lebendigkeit erhält. 450 Ohne eine derartige Anders-
heit, setzt er hinzu, wäre das Bei-sich-selbst-sein im Anderssein nichts
anderes als eine Selbigkeit, eine Identität mit sich selbst. Wie könnte
aber eine derartige Auffassung von der Freiheit Hegel zugeschrieben
werden, der ja jede derartige Auffassung ausdrücklich bekämpft, indem
er sie bereits in der Phänomenologie des Geistes als die »Furie des Ver-
schwindens« und als den »reine[n] Schrecken des Negativen« ent-
larvt? 451
Das Bei-sich-selbst-sein im Anderssein wird von Hegel als eine
Identität begriffen, die, weit entfernt, die Unterschiedenheit aus-
zuschließen, vielmehr jeweils nur aus ihr hervorgehen kann. 452 Die
Identität muss also der Unterschiedenheit gleichsam abgewonnen, ja
abgerungen werden. Deshalb kann man die Zufälligkeit mit Bernard
Mabille als eine »Erprobung der Freiheit« (épreuve de la liberté) kenn-
zeichnen. 453
Bleibt aber die Zufälligkeit selbst noch in der Freiheit erhalten, so
wird begreiflich, wie Hegel in seiner Logik der Andersheit einen onto-
logischen Anspruch erheben konnte. Das Zufällige ist das Wirkliche,
das »nur Mögliches« ist, es ist das Existierende, das selbst noch in seiner
Abhängigkeit von der Totalität seiner Bedingungen in gewissem Sinne
»das Grundlose« bleibt und sich daher niemals in Gänze als die Mani-
festation des Wesens begreifen lässt, ja, es ist letztlich nichts anderes als
das Sein (oder auch das bestimmte Dasein), das sich als das Andere der
Reflexion darstellt. Aber nicht einmal das Andere der Reflexion, das
Grundlose der Existenz, das »Nicht-Identische« im Sinne von Adorno,
markiert in Hegels Logik der Andersheit eine absolute Grenze des Den-

450
Bernard Mabille, Hegel. L’épreuve de la contingence, Paris: Aubier 1999, S. 237.
451
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig
Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III], S. 432: »[…] das
Wissen ist selbst […] das allgemeine Selbst, das Selbst ebenso seiner als des Gegenstan-
des, und als allgemeines die in sich zurückkehrende Einheit dieser Bewegung. – Hiermit
ist der Geist als absolute Freiheit vorhanden […].« Vgl. S. 436: »Furie des Verschwin-
dens«; S. 439: »der reine Schrecken des Negativen«.
452
Drüe, Gethmann-Siefert, Hackenesch u. a., Hegels ›Enzyklopädie der philosophi-
schen Wissenschaften‹ (1830), S. 112: »Identität ist hier […] nicht als Möglichkeits-
bedingung von Unterschiedenheit gedacht, sondern umgekehrt. Und dies beschreibt ein
grundsätzliches Charakteristikum des Hegelschen Denkens.«
453
Mabille, Hegel. L’épreuve de la contingence, S. 239: »La liberté est assomption de la
contingence, la contingence est l’épreuve de la liberté.«

152
Der Grund und das Grundlose bei Hegel

kens; es erweist sich nicht als das Scheitern der Reflexion, sondern viel-
mehr als deren Ausdruck. 454 Das ist der Grund dafür, dass bei Hegel das
grundlos Existierende – im Gegensatz zum späten Schelling – nicht
etwa den »wahren Abgrund für die menschliche Vernunft« andeutet, 455
sondern den Gegenstand einer grundlegenden Vernunftdialektik bildet.
Allerdings bleibt dabei zu fragen, ob diese Vernunftdialektik als die
wahre Auflösung einer philosophischen Grundschwierigkeit oder aber
lediglich als der erste Ausdruck einer echten philosophischen Verlegen-
heit zu gelten hat. Wenn darüber ein Zweifel aufkommt, 456 so deshalb,
weil Hegel hier einen Versuch macht, selbst noch das Andere der phi-
losophischen Reflexion in diese Reflexion einzuholen, ohne dabei am
Grundcharakter seiner Reflexionsart etwas zu ändern. Daraus folgt
aber, wie Klaus Kaehler treffend sagt, eine »unaufhebbare ontologische
Ambivalenz«: »Das Subjekt ist […] jedesmal ebenso bei sich wie außer
sich, mit einer begriffslosen Äußerlichkeit kontaminiert.«457 Deshalb
stellt sich jedoch die Frage: Muss sich die philosophische Reflexion nicht
in ihrem Inneren wandeln, um ihr Anderes in sich aufnehmen zu kön-
nen?

454 Vgl. ebd., S. 227: »La thèse contingente n’est pas l’échec de la reflexion mais son
expression.«
455
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 163 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 765).
456
In Bezug auf Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre prägt Courtine
einmal eine Formel, die man mutatis mutandis wohl auch auf die Wissenschaft der Logik
anwenden könnte: »[…] le ›sans-fond‹ (Grundlose) n’est pas un défi à l’entreprise de la
fondation (Grundlegung) mais sa plus extrême exaltation« (»das ›Grundlose‹ ist nicht so
sehr eine Herausforderung für das Unternehmen der Grundlegung als vielmehr ihre
äußerste Steigerung«).
457
Klaus Kaehler, Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezen-
trierung, Freiburg und München: Alber 2010, S. 690.

153
Grundtypen der Metaphysik

VII. Schellings Versuch einer Überwindung


der Ontotheologie

Sieht der späte Schelling im grundlos Existierenden den »wahren Ab-


grund für die menschliche Vernunft«, so drückt sich darin eine Nähe zu
Kant aus, die seine Abstandnahme von Hegels Begriffsdialektik von
vornherein verständlich macht. Selbst die Wendung, die er zum Aus-
druck seiner Sichtweise verwendet, stammt aus der Kritik der reinen
Vernunft; sie ist Teil eines Zitats, das er dem Abschnitt über den kosmo-
logischen Gottesbeweis entnimmt. Es handelt sich in diesem Abschnitt
bekanntlich um ein Argument, das, wie Leibniz es besonders deutlich
macht, 458 aus der Zufälligkeit der Welt – a contingentia mundi 459 – die
Existenz eines notwendigen Wesens abzuleiten sucht. Allerdings ent-
deckt Kant in ihm »ein ganzes Nest von dialektischen Anmaßungen«. 460
Wie bereits in seiner vorkritischen Periode 461 führt er ihn auch in der
Kritik der reinen Vernunft auf das ontologische Argument zurück 462
und erkennt damit die Abhängigkeit der »Kosmotheologie« von der
»Ontotheologie«. 463 Dabei hält er jedoch für einen Augenblick inne,
um über die Idee eines notwendigen Wesens nachzudenken:
»Die unbedingte Notwendigkeit, die wir, als den letzten Träger aller Dinge, so
unentbehrlich bedürfen, ist der wahre Abgrund für die menschliche Vernunft.
Selbst die Ewigkeit, so schauderhaft erhaben sie auch ein Haller schildern
mag, macht lange den schwindelichten Eindruck nicht auf das Gemüt; denn
sie mißt nur die Dauer der Dinge, aber trägt sie nicht. Man kann sich des
Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber auch nicht ertragen: daß ein
Wesen, welches wir uns auch als das Höchste unter allen möglichen vorstel-
len, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir
ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist; aber woher bin
ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die
kleinste, schwebt ohne Haltung bloß vor der spekulativen Vernunft, der es

458
Leibniz, »De rerum originatione radicali«, in: Opuscula philosophica selecta, S. 86
(vgl. Die philosophischen Schriften, Bd. VII, S. 302); dt. S. 36.
459
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 604.
460
Ebd., A 609.
461 Immanuel Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Da-

seins Gottes [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. II, Berlin: Georg Reimer
1912, S. 63–163], hier: S. 157 f.
462
Ebd., A 605–608.
463 Vgl. ebd., A 632.

154
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hindernis ver-
schwinden zu lassen.« 464
In diesem großartigen Text, dem aus der frühen Neuzeit allenfalls Pas-
cals Betrachtungen über die »beiden Unendlichkeiten« und den Men-
schen als »ein Mittelding zwischen Nichts und All« 465 zur Seite stellen
lassen, geht es nur vordergründig um die Idee einer unbedingten Not-
wendigkeit. Das notwendige Wesen wird ja von vornherein vor dem
Hintergrund der Dinge gesehen, deren letzter Träger es sein soll. In
der Besinnung auf das notwendige Wesen als den Träger aller Dinge
drückt sich aber zugleich eine grundlegende – oder vielmehr abgründi-
ge – Kontingenzerfahrung, eine Erfahrung mit der letzthinnigen Zufäl-
ligkeit der Welt aus. Das ist der Grundzug der angeführten Zeilen, auf
den Schelling in erster Linie achtet. In dieser Zusammengehörigkeit des
notwendig Seienden – und das heißt zugleich: des grundlos Existieren-
den – mit der Zufälligkeit der Welt sieht er, genauso wie Kant, die größ-
te Erprobung der Vernunft – eine wahre épreuve de la contingence.
Wohl aus diesem Grund führt er die zitierte Stelle in Gänze an, um
aus ihr dann – deutlicher noch als Kant selbst – den Schluss zu ziehen,
dass sich die Vernunft dieser Erprobung nicht nur nicht entziehen kann,
sondern sich ihr auch nicht entziehen darf.
Zunächst bemerkt er zum angeführten Kant-Zitat: »Aber eben
dasjenige in Gott, vermöge dessen er das grundlos Existierende ist,
nennt Kant den Abgrund für die menschliche Vernunft; was ist dieß
anders als das, wovor die Vernunft stille steht, von dem sie verschlun-
gen wird, dem gegenüber sie zunächst nichts mehr ist, nichts ver-
mag?« 466 An anderer Stelle sagt er: »Das bloß – das nur Existierende
ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte,
niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem
die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der
Möglichkeit, der Potenz zu thun; wo also diese ausgeschlossen ist, hat

464
Ebd., A 613.
465
Blaise Pascal, Pensées, hg. von Léon Brunschvicg, Édition Livre de poche, Paris: Li-
brairie générale française 1972, Nr. 72, S. 25–36; dt. Gedanken, in: Schriften zur Religi-
on, übersetzt von Hans Urs von Balthasar, Einsiedeln: Johannes Verlag 1982, S. 101–109.
466
Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-
phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 164 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 766).

155
Grundtypen der Metaphysik

das Denken keine Gewalt.« 467 Aber von der positiven Philosophie, die
sich – im Gegensatz zur negativen – nicht mit bloßen Gedankendingen
begnügen soll, erwartet Schelling gerade, dass sie auf dieses bloß oder
nur Existierende eingeht – oder dass sie vielmehr geradezu von ihm
ausgeht. Diese Erwartung stellt jedoch die Vernunft auf eine harte Pro-
be. Denn: »Das bloß Seyende ist das Seyn, in dem […] alle Idee, d. h. alle
Potenz, ausgeschlossen ist. Wir werden es also nur die umgekehrte Idee
nennen können, die Idee, in welcher die Vernunft außer sich gesetzt
ist.« 468 Es wird, mit anderen Worten, der Vernunft nichts Geringeres
zugemutet, als dass sie »absolut ekstatisch« wird. 469
Schelling lässt allerdings keinen Zweifel darüber aufkommen, dass
er damit wirklich nur eine Probe oder Erprobung im Auge hat, keines-
wegs aber eine Kapitulation der Vernunft vor dem grundlos Existieren-
den meint. Deshalb sagt er: »Die positive Philosophie geht von dem aus,
was schlechterdings außer der Vernunft [ist], aber die Vernunft unter-
wirft sich diesem nur, um unmittelbar wieder in ihre Rechte zu tre-
ten.« 470 Sicherlich will Schelling über die »reinrationale Philosophie«,
in der er eine bloß negative Philosophie erkennt, hinausgehen, aber er
redet keinem Irrationalismus das Wort. Selbst in seiner Spätphilosophie
führt er vielmehr das Erbe von Kants Vernunftkritik weiter. 471

467
Ebd., S. 161 (= S. 763). Zu diesen und ähnlichen Textstellen siehe den klassischen
Aufsatz von Luigi Pareyson »Lo stupore della ragione in Schelling«, in: Romanticismo,
Esistenzialismo, Ontologia della libertà, Mailand: Mursino 1979, S. 137–180; wieder
abgedruckt unter dem Titel »Lo stupore della ragione e angoscia di fronte all’essere«, in:
Luigi Pareyson, Ontologia della libertà, Mailand: Einaudi 42012 (11995), S. 385–437.
468
Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-
phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 162 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 764).
469
Ebd., S. 163 (= S. 765). Im Hinblick auf diesen und ähnliche Gedanken gibt Courtine
seinen Essais sur Schelling den Titel Extase de la raison (vgl. dort S. 285 f. und S. 308–
311).
470 Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die Philoso-

phie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche Werke,
Abteilung II, Bd. III], S. 171 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, Bd. V, S. 773).
471 Hutter, Geschichtliche Vernunft, S. 301.

156
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

a. Das unvordenkliche Sein und der Anfang des Denkens

Dem grundlos Existierenden, von dem die positive Philosophie ausgeht,


schreibt Schelling ein »allem Denken vorhergehende[s] Seyn« zu, das
er ebendeshalb auch als »das unvordenkliche Seyn« bezeichnet. 472 Der
positiven Philosophie stellt er die Aufgabe, das »unvordenklich Existie-
rende« 473 nicht nur überhaupt zum Gegenstand ihrer Untersuchungen
zu machen, sondern geradezu zum Ausgangspunkt ihrer Betrachtun-
gen zu nehmen.
In dieser Aufgabenbezeichnung liegt eine Antwort auf Hegels be-
rühmte Frage: »Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht
werden?« Als dieser Anfang erweist sich in der Wissenschaft der Logik
bekanntlich ein reines Sein, das als das Unmittelbare, aber zugleich Un-
bestimmte, bereits ein Sein für das begriffliche Denken ist. Diesem
Grundansatz einer reinen Begriffsdialektik tritt Schelling mit seiner
Forderung nach einem unvordenklichen Sein von vornherein entgegen.
Er unterzieht ihn bereits in seiner Münchener Vorlesung Zur Geschich-
te der neueren Philosophie einer grundsätzlichen Kritik, 474 die er auch
später aufrechterhält.
Allerdings stellt er seine Idee des Unvordenklichen nicht allein der
Hegel’schen Philosophie, sondern der gesamten früheren Metaphysik
gegenüber. Er findet zwar gerade in seiner Spätphilosophie einen neuen
Zugang zu Aristoteles, so dass er ihm zu dieser Zeit sogar mehr abge-
winnen kann als dem bis dahin immer bevorzugten Platon. Das ändert
aber nichts daran, dass er Aristoteles vor allem als den Begründer der-
jenigen »rationalen Philosophie« betrachtet, die er als eine bloß negati-
ve Philosophie zu enthüllen sucht. Allerdings macht er dabei zwischen
Aristoteles und Hegel – als dem Anfang und dem Ende der negativen
Philosophietradition – einen großen Unterschied. Denn er sieht deut-
lich, dass Aristoteles – im Gegensatz zu Hegel – nicht vom reinen Den-
ken, sondern »von dem vorausgesetzten Existierenden und insofern
von der Erfahrung ausgeht«. 475 Gerade deshalb findet Schelling, der

472
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. 4], S. 337 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. 5,
S. 779).
473
Ebd.
474
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 125 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 541)
475 Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die

157
Grundtypen der Metaphysik

seine Spätphilosophie gelegentlich als einen »metaphysischen Empiris-


mus« kennzeichnet, 476 Anhaltspunkte zu seinem eigenen Denken bei
ihm. Diese Anknüpfung ist aber nicht vorbehaltlos; sie kann nicht vor-
behaltlos sein. Denn es geht Aristoteles doch in erster Linie darum, was
die Dinge sind, und nicht darum, dass sie existieren; es geht ihm um das
quid und nicht um das quod: »Er hat also die ganze Welt, welche die
rationale Philosophie im Gedanken hat, als die existierende, aber doch
nicht um die Existenz ist es zu thun, die Existenz ist gleichsam das
Zufällige daran, und hat nur Werth für ihn, inwiefern sie dasjenige ist,
aus welchem er das Was der Dinge herausnimmt, sie ist ihm bloße Vo-
raussetzung, sein eigentlicher Zweck ist ihm das Wesen, das Was der
Dinge, die Existenz nur Ausgangspunkt […].« 477 Aristoteles begreift
zwar, dass die Philosophie, die sich im Gegensatz zu den Einzelwissen-
schaften nicht mit irgendeiner besonderen Gattung des Seienden be-
fasst, nichts anderes zum Ziel setzen kann, als das Seiende als solches
in seiner transgenerischen Allgemeinheit zu erfassen, aber daraus leitet
sich für ihn ein vornehmliches Interesse an der Frage ab, was das Sei-
ende als solches ist, welche Wesenszüge es kennzeichnen, worin seine
Substanz besteht. Hinter dieser Frage nach dem Was-sein, der Wesen-
heit, der gedanklich fassbaren Substanz des Seienden als solchen tritt
die Frage nach seinem Dass-sein, seiner Existenz, also dem bloß und nur
Existierenden zurück. Deshalb kann in der von Aristoteles begründeten
Tradition später eine Ansicht über das Seiende als solches aufkommen,
die in diesem ein Etwas überhaupt, eben gerade nicht nichts, also nur
noch ein »non-nihil« sieht. 478 Diesem gesamten Grundzug der Meta-
physik als negativer Philosophie, der zu einer zunehmenden Vorherr-
schaft der katholou-tinologischen Struktur in ihr führen sollte, setzt
Schelling das unvordenkliche Sein oder, genauer, das unvordenklich
Existierende entgegen. Er macht einen Unterschied zwischen dem Sein
und dem Seienden, und zwar anders als später Heidegger in seiner Leh-
re von der ontologischen Differenz, weil er klarstellen will, dass das

Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche


Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 105 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 707).
476 Schelling, [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 114 (= Ausgewählte Schrif-

ten in sechs Bänden, Bd. V, S. 716).


477
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 129–135 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 545–551).
478 Courtine, Extase de la raison, S. 278.

158
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

Sein nur als Sein eines unvordenklich Existierenden selber den Charak-
ter des Unvordenklichen haben kann. Mit dem Versuch, das Unvor-
denkliche als den Anfang des Denkens herauszustellen, zielt er daher
auf nichts Geringeres ab als auf eine Aufhebung der »ehemaligen« oder
»vormaligen Metaphysik«. 479
Bei diesem Versuch kommt alles darauf an, der Wirklichkeit ihr
Eigengewicht zurückzugeben. Vor allem dieses Anliegen bewegt Schel-
ling dazu, das Unvordenkliche als den Anfang des Denkens zu bestim-
men. In diesem Sinne sagt er: »Was zur Wirklichkeit gelangen soll,
muß auch gleich von der Wirklichkeit ausgehen, und zwar von der rei-
nen Wirklichkeit, also von der Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vo-
rausgeht.« 480 Vom unvordenklich Existierenden kann aber tatsächlich
behauptet werden, dass in ihm »der Actus aller Potenz zuvorkom-
me«. 481 In seiner Spätphilosophie gelangt Schelling zur Einsicht, dass
dem All der Realität notwendig nur der Status einer Möglichkeit der
Möglichkeiten zukommt, und er zieht aus dieser Einsicht den Schluss,
dass die a priori erfassten, im Gedanken vorweggenommenen, deshalb
aber eben nur rein gedanklich umrissenen Möglichkeiten auch in ihrer
Gesamtheit nur ein mögliches Seiendes bestimmen, ohne uns einen
tatsächlichen Zugang zum Wirklichen zu verschaffen. Deshalb fordert
er als Ausgangspunkt der positiven Philosophie von vornherein eine
Wirklichkeit, die aller Möglichkeit vorausgeht oder einen »Actus«, der
aller »Potenz« zuvorkommt. Er fasst damit eine Existenz ins Auge, die
der Essenz vorhergeht. In diesem Sinne sagt er: »[…] das Sein ist hier
prius, das Wesen posterius«. 482 Dieser Ansatz deutet einen entscheiden-
den Bruch mit der ontotheologischen Tradition an, die von Duns Scotus
bis zu Leibniz, Wolff and Baumgarten gerade darum bemüht war, das
Wirkliche aus der Gesamtheit des Möglichen abzuleiten.
An diesem Punkt wird besonders deutlich, wie Schelling das Erbe
der kantischen Vernunftkritik weiterführt. Mit den gerade erwähnten
Gedanken findet er zu einer Grundtendenz zurück, die sich in Kants
anhaltender Besinnung auf das Sein als bloß logisches, nicht reales Prä-

479
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 168 und S. 169 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bän-
den, Bd. V, S. 770 und S. 771).
480
Ebd., S. 162 (= S. 764).
481
Ebd.
482 Ebd., S. 761 (= Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. 3, S. 159).

159
Grundtypen der Metaphysik

dikat früh schon bemerkbar machte. Bereits in dem kleinen Werk Der
einzig mögliche Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes
steht fest, dass ein Denken ohne immer schon vorausgesetztes Sein gar
nicht möglich ist: »Wenn nun alles Dasein aufgehoben wird, so ist
nichts schlechthin gesetzt, es ist überhaupt gar nichts gegeben, kein
Materiale zu irgend etwas Denklichem, und alle Möglichkeit fällt gänz-
lich weg.« 483 Daraus folgt auch ein Vorrang des Wirklichen gegenüber
dem Möglichen: »Es ist zwar kein innerer Widerspruch in der Vernei-
nung aller Existenz. […] Allein daß irgend eine Möglichkeit sei und
doch gar nichts Wirkliches, das widerspricht sich, weil, wenn nichts
existiert, auch nichts gegeben ist, das da denklich wäre, und man sich
selbst widerstreitet, wenn man gleichwohl will, daß etwas möglich
sei.« 484 Diese Einsichten leiten Kant bereits in der vorkritischen Periode
zu einer Ablehnung des von ihm später als »ontologisch« bezeichneten
Gottesbeweises hin. Eine Zeit lang ist er aber noch darum bemüht, an
die Stelle des verworfenen Cartesianischen Arguments gerade auf
Grund dieser Einsichten einen anders angelegten, aber ebenfalls aprio-
rischen Gottesbeweis treten zu lassen. Er versucht zu zeigen, dass ein
notwendiges Wesen existieren muss, damit es überhaupt etwas zu den-
ken gibt, oder, wie er sich in seiner lateinisch verfassten Habilitations-
schrift Principiorum primorum metaphysicae cognitionis nova diluci-
datio früher schon ausgedrückt hat, »ut sit in genere, quod cogitari
possit«. 485 Wenn er in der kritischen Periode auch von diesem »einzig
möglichen Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes« Ab-
stand nimmt, so nicht deshalb, als ob er die Erkenntnis einer Abhängig-
keit des Denkens vom Sein und einer Vorrangstellung des Wirklichen
gegenüber dem Möglichen nunmehr preisgeben wollte, sondern weil er
zur weiteren Einsicht kommt, dass die Existenz eines notwendigen Sei-
enden nur dann mit der Existenz Gottes gleichgesetzt werden kann,
wenn dieses Seiende nicht – distributiv – in der Erfahrung gesucht,
sondern – kollektiv – in der Idee eines »allerrealsten Wesens« zusam-
mengefasst wird. Das so verstandene transzendentale Ideal unterwirft
er in der Kritik der reinen Vernunft einer grundsätzlichen Kritik.

483 Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes
[Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. II], S. 78.
484
Ebd.
485
Kant, Principiorum primorum metaphysicae cognitionis nova dilucidatio, [Gesam-
melte Schriften, Bd. I], S. 395.

160
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

Schelling stützt sich auf diese Grundtendenz in Kants Denken über


das Sein, um der Hegel’schen Wissenschaft der Logik, die sich ganz und
gar auf die Annahme einer Identität von Denken und Sein gründet,
entgegenhalten zu können: »[…] nicht weil es ein Denken gibt, gibt es
ein Seyn, sondern weil ein Seyn ist, gibt es ein Denken.« 486 Auf ähn-
liche Weise sagt er in der Paulus-Nachschrift der berühmten Vorlesung
aus dem Wintersemester 1841/1842, dass der »Anfang der positiven
Philosophie«, den er mit dem »Anfang der Philosophie« überhaupt
gleichsetzt, 487 »das allem Denken zuvorkommende Sein« ist. 488 In der
positiven Philosophie wird weiterhin dem Wirklichen ein deutlicher
Vorrang gegenüber dem Möglichen eingeräumt. Schließlich wird die
von Kant begonnene Auseinandersetzung mit dem ontologischen Got-
tesbeweis von Schelling nicht nur weitergeführt, sondern sogar radika-
lisiert.
Bereits in der Münchener Vorlesung Zur Geschichte der neueren
Philosophie wird deutlich gemacht, dass Descartes’ Argument im fünf-
ten Stück der Meditationen über Erste Philosophie nichts mehr beweist,
als dass Gott notwendig existiert, wenn er überhaupt existiert, woraus
aber keineswegs folgt, dass er existiert. 489 Der ontologische Gottes-
beweis beruht nach Schelling auf einer Vermengung einer bestimmten
»Art« oder »Weise« der Existenz (nämlich der notwendigen) mit der
Existenz überhaupt. 490 Aus dem Cartesianischen Argument ergibt sich
demnach nur »eine Bestimmung der Natur Gottes«, die »über die Exis-
tenz Gottes nichts aussagt«; es ist »nur der Begriff Gottes, das rein Sei-
ende zu sein […], d. h. also, wenn er existiert, so kann er nur existierend
als das rein Seiende gedacht werden […]«. 491 Es folgt jedoch aus dem
Satz »Gott ist notwendig das Seiende« keineswegs der Satz »Gott ist

486
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 161, Anm. (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden,
Bd. V, S. 763, Anm.).
487
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. von
M. Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 155.
488
Ebd., S. 156.
489 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,

Bd. X], S. 15 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 431).


490
Ebd., S. 16 f. Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/42, S. 154.
491
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 65 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 481).

161
Grundtypen der Metaphysik

das notwendig Seiende«; es folgt also keineswegs, dass er notwendig


existiert. 492
Um diese letzte Bemerkung richtig zu verstehen, müssen wir be-
achten, dass Schelling das unvordenklich Existierende nicht selten
ebenfalls als das notwendig Seiende beschreibt. Deshalb hat es aber auch
mit der Unterscheidung zwischen den beiden Sätzen »Gott ist notwen-
dig das Seiende« und »Gott ist das notwendig Seiende« eine verwickelte
Bewandtnis. Um uns in diesem Labyrinth der Schelling’schen Begriffs-
bestimmungen zurechzufinden, vergegenwärtigen wir uns nochmals
das Ergebnis, zu dem Kant in seiner Besinnung auf das Verhältnis von
Denken und Sein gelangt ist. Dieses Ergebnis kann wohl in folgender
Gestalt zusammengefasst und festgehalten werden: Als das »Denk-
liche« überhaupt – sozusagen als primum cogitabile – gibt es notwendig
immer schon ein Seiendes, aber dieses notwendig Seiende kann nur
dann als Gott betrachtet werden, wenn es mit dem allerrealsten Wesen
gleichgesetzt wird. In Kants Augen beruht diese Gleichsetzung jedoch
auf einem bloßen Schein, selbst wenn es sich dabei um einen Schein
handelt, den das transzendentale Ideal der Vernunft notwendig mit sich
führt. Schelling eignet sich dieses Ergebnis von Kants Jahrzehnte lan-
gem Nachdenken über das Sein an, indem er das unvordenklich Existie-
rende auf eine bestimmte Weise als das notwendig Seiende auffasst. Er
vermengt aber diesen Gedanken keineswegs mit dem ontologischen
Gottesbeweis, der von einem bestimmten, also im Voraus schon ge-
dachten Subjekt – nämlich dem göttlichen – behauptet, es sei das not-
wendig Seiende, es existiere also notwendig. Gerade um dieser Vermen-
gung vorzubeugen, betont er, dass nur das unvordenklich Existierende
zugleich als das notwendig Seiende (im Sinne des »Denklichen« über-
haupt oder, wie Schelling sagt, im Sinne des »ersten Denkbaren«, des
»primum cogitabile« 493) bezeichnet werden kann.
Damit sieht er sich aber vor die Aufgabe gestellt, das Verhältnis des
notwendig Seienden zu Gott neu zu bedenken. Aus der Kritik des onto-
logischen Gottesbeweises leitet er eine erste Verhältnisbestimmung ab:
Wenn Gott existiert, so ist er seiner Natur nach zwar »notwendig das

492Ebd.
493
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen
Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 302 (= Ausgewählte Schriften in
sechs Bänden, Bd. V, S. 312).

162
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

Seiende« (oder auch das »notwendig Seiende« im Sinne des »ersten


Denkbaren«, des »primum cogitabile«), aber daraus folgt keineswegs,
dass Gott tatsächlich existiert (geschweige denn, dass er notwendig exis-
tiert, dass er also auch in diesem Sinne das »notwendig Seiende« oder
das »notwendige Wesen« wäre).
Aber Schelling begnügt sich nicht mit dieser ersten Verhältnis-
bestimmung. Er untersucht nicht allein die Frage, ob Gott notwendig
das Seiende oder auch das notwendig Seiende sei, sondern stellt auch die
umgekehrte Frage: Ist das Seiende – oder auch das notwendig Seiende –
Gott? Damit kehrt er gleichsam das ontologische Argument um, um es
in dieser Gestalt seiner positiven Philosophie zugrunde zu legen. 494
Handelt es sich hier aber tatsächlich um eine Radikalisierung von
Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises? Markiert die Umkeh-
rung des ontologischen Arguments nicht vielmehr den Ausgangspunkt
einer Rückkehr zur Ontotheologie? Ohne Zweifel entscheidet sich ja
Schelling damit für eine Philosophie, die letztlich Gott zum einzigen
Thema hat und die sich sogar von vornherein als eine christliche Phi-
losophie versteht.
Es sprechen gleichwohl starke Gründe dafür, dass es sich beim spä-
ten Schelling nicht um eine Rückkehr zur Ontotheologie, sondern viel-
mehr um eine radikale Kritik der ontotheologisch verfassten Metaphy-
sik handelt. Definiert Étienne Gilson die christliche Philosophie unter
Berufung auf die Bibelstelle Sum qui sum (Exodus III, 14) als eine »Me-
taphysik des Exodus«, die auf einer Gleichsetzung von Gott mit dem
Sein beruht, 495 so sieht Schelling in dieser Gleichsetzung, wie Courtine
zu Recht betont, 496 ein Charakteristikum der negativen Philosophie,
dem die positive Philosophie gerade durch die Umkehrung des ontolo-
gischen Gottesbeweises begegnet. Dazu kommt, worauf Courtine eben-
falls hinweist, dass »die positive Philosophie nicht etwa eine erhabene
Begründung des Seienden ist, sondern das gerade Gegenteil von Be-
gründung, der Versuch einer Phänomenologie – des Göttlichen!« 497

494
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Erstes Buch: »Einleitung in die
Philosophie der Offenbarung oder Begründung der positiven Philosophie« [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 165 f. (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 762 f.). Vgl. Courtine, L’extase de la raison, S. 301.
495
Étienne Gilson, L’esprit de la philosophie médiévale, Paris: Vrin 21948 (11932), S. 50,
Anm. 1.
496
Courtine, L’extase de la raison, S. 204.
497 Ebd., S. 166; vgl. S. 197.

163
Grundtypen der Metaphysik

Das können wir auch deutlicher sehen, wenn wir auf das Verhält-
nis zwischen dem notwendig Seienden und Gott etwas näher eingehen.

b. Freiheit gegen das Sein

In der Wissenschaft der Logik versteht Hegel das reine Sein, in dem er
den Anfang der Philosophie entdeckt, von vornherein als eine Wesens-
bestimmung des immer schon zugrunde liegenden Satzsubjekts Gott.
Auch die weiteren Kategorien seiner Logik gelten in seinen Augen nur
als so viele Prädikate desselben Satzsubjekts, das – nach der in der Phä-
nomenologie des Geistes dargelegten Lehre vom »philosophischen
Satz« 498 – im »begreifenden«, »spekulativen« Denken (anders als im
»räsonnierenden«) allerdings »nicht ein ruhendes Subjekt [ist], das un-
bewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine
Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff«. 499 Gewiss ist dieser
Unterschied zwischen dem räsonnierenden und dem spekulativen Den-
ken von entscheidender Wichtigkeit, da in der spekulativen Darstellung
das Satzsubjekt letztlich »nur die dialektische Bewegung, dieser sich
selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang« ist. 500
Aber selbst das ändert nichts daran, dass die Wissenschaft der Logik –
zumindest der Grundintention ihres Verfassers nach – von Anfang an
und bis ins Letzte hinein »die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geis-
tes ist.« 501 Aus dieser Grundintention der Wissenschaft der Logik geht
deutlich hervor, in welchem Sinne man in Bezug auf Hegel von einer
Rückkehr zur Ontotheologie sprechen muss.
Dagegen fasst Schelling das unvordenklich Existierende zwar auch
als das notwendig Seiende auf, aber es liegt ihm fern, es von vornherein
mit Gott gleichzusetzen. Vielmehr begreift er es – mit einem seit seiner
Münchener Vorlesung Zur Geschichte der neueren Philosophie immer
wieder verwendeten Terminus – als das »blind« Seiende, als das »blind«

498
Siehe Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, Bd. III], S. 57–
63.
499 Ebd., S. 57.
500
Ebd., S. 61.
501
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I [Werke in zwanzig Bän-
den, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 5], Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1969], S. 44.

164
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

oder »blindlings« Existierende. 502 Durch diese Bestimmung gelingt es


ihm, im Begriff des unvordenklich Existierenden als dem Anfang der
Philosophie die Idee einer unbedingten Notwendigkeit mit der Erfah-
rung einer radikalen Zufälligkeit der Welt zu verbinden und damit für
den »schwindelichten Eindruck«, den nach Kant der Gedanke eines not-
wendigen Wesens auf das Gemüt macht, einen aussagekräftigen Aus-
druck zu finden. Daher ist es auch nicht überraschend, dass Schelling
das blindlings Existierende näher als »das bloß zufällig nothwendig
Existierende« bestimmt. 503
Es ist wahr, dass diese Bestimmung uns als Ausgangspunkt einer
»Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie« entgegentritt, die
uns zu Gott als dem »nothwendig nothwendig Existierenden« weiter-
führt. 504 Auch dieser Fortgang zieht jedoch von der Bedeutung der Zu-
fälligkeitserfahrung für die positive Philosophie nichts ab. Schelling
bemerkt, dass »verschiedene Darstellungen« 505 dieser Art – also ver-
schiedene Deduktionen der Prinzipien der positiven Philosophie – mög-
lich sind. 506 Aber der Zufälligkeit des unvordenklichen Seins kommt in
jeder dieser Deduktionen eine Schlüsselrolle zu. So heißt es in Bezug
auf eine von ihnen: »Das Dialektische besteht hier darin, in dem actu
nothwendigen Existieren das Zufällige zu erkennen.« 507 Auch in der

502
Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung I,
Bd. X], S. 19–22 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. IV, S. 435–438); siehe
ebenfalls Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmt-
liche Werke, Abteilung II, Bd. IV, S. 338 und S. 347] (= Ausgewählte Schriften in sechs
Bänden, Bd. V, S. 780 und S. 789).
503
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 338 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 780).
504
Ebd., S. 339 (= S. 781).
505
Ebd., S. 345 (= S. 787).
506
Marquet (Liberté et existence, S. 546–549) unterscheidet drei Darstellungen. Zu der
hier an erster Stelle genannten Darstellung siehe Schelling, Andere Deduktion der Prin-
zipien der positiven Philosophie [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 345–356
(= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 787–S. 798), zu der an zweiter Stel-
le genannten ebd., S. 338–344 (= S. 780–786) und zu der an dritter Stelle genannten
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philosophie
der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 204–239 (in
den Ausgewählten Schriften nicht enthalten).
507
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 348 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 790).

165
Grundtypen der Metaphysik

Philosophie der Offenbarung ist mit großem Nachdruck von der Zufäl-
ligkeit des notwendig Seienden die Rede: »[…] eben dem zufällig Sey-
enden wird sein Seyn zur Nothwendigkeit, d. h. es ist das nicht mehr
nicht seyn Könnende, in diesem Sinn also das nothwendig Seyende«. 508
Es kann hinzugefügt werden, dass keine dieser Deduktionen die der
Ontotheologie eigentümliche Gleichsetzung von Gott und Sein in ihre
Rechte wieder einsetzt. Denn es geht Schelling in seiner positiven Phi-
losophie keineswegs darum, Gott als dem »nothwendig nothwendig
Existierenden« doch eine notwendige Existenz im Sinne des ontologi-
schen Gottesbeweises zukommen zu lassen, sondern vielmehr darum,
ihn als den »Herrn des Seyns« 509 zu begreifen, der »überseyend« 510,
»über jede Art des Seyns hinaus« 511 und »frei gegen das Seyn« 512 ist.
Alles kommt hier, mit anderen Worten, darauf an, »jene absolute, jene
transzendente, überschwengliche Freiheit« 513 des Überseyenden auf-
zuweisen, die dessen Verhältnis zum unvordenklichen Sein und zu sei-
ner eigenen Existenz kennzeichnet.
In seiner späten Vorlesung über die »reinrationale Philosophie«
weist Schelling darauf hin, dass die positive Philosophie keine bloß
theoretische Betrachtung ist, sondern notwendig aus einem »prakti-
schen Antrieb« erwächst: Sie ist von einem »Willen« getragen. 514 Aus

508
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 208.
509
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 350 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 792); siehe auch Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites
Buch: »Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung
der reinrationalen Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 566 (= Ausgewähl-
te Schriften in sechs Bänden, Bd. V, S. 576).
510
Schelling, Darstellung des philosophischen Empirismus [Sämmtliche Werke, Abtei-
lung I, Bd. X], S. 260 (in den Ausgewählten Schriften nicht enthalten).
511
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
512
Ebd., S. 208; siehe bereits Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie
[Sämmtliche Werke, Abteilung I, Bd. X], S. 22 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bän-
den, Bd. IV, S. 438)
513
Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-
phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
514
Schelling, Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Zweites Buch: »Philosophi-
sche Einleitung in die Philosophie der Mythologie oder Darstellung der reinrationalen
Philosophie« [Sämmtliche Werke, Abt. I, Bd. I], S. 565 (= Ausgewählte Schriften in
sechs Bänden, Bd. V, S. 575).

166
Schellings Versuch einer Überwindung der Ontotheologie

einer anderen Stelle wird klar, worauf sich dieser Wille richtet: »Freiheit
ist unser Höchstes, unsere Gottheit, diese wollen wir als letzte Ursache
aller Dinge.« 515
Es besteht keine apriorische Garantie dafür, dass dieser Wille sei-
nen Zweck erreicht. Der Beweis, dass der Herr des Seins dem unvor-
denklich Existierenden den Charakter blinder Zufälligkeit nehmen
kann, muss a posteriori erbracht werden. Deshalb lässt sich Schelling
auf eine Analyse von Mythologie und Offenbarung unter Heranzie-
hung religionshistorischer Quellentexte ein. Schreibt er doch keine
bloße Religionsgeschichte, so deshalb, weil er die Erörterung des Ge-
schichtsprozesses auf eine Phänomenologie des religiösen Bewusstseins
und des erscheinenden Gottes gründet.
Nicht ohne Grund haben wir in unserer Darstellung den Akzent
auf eine Begriffskette gelegt, die uns zunächst vom grundlos Existieren-
den zum unvordenklichen Sein, dann vom unvordenklich Existierenden
zum blind Seienden und schließlich vom blindlings Seienden zum zu-
fällig notwendig Existierenden geführt hat. Schelling hebt selbst die
Bedeutung dieser Begriffe hervor, indem er behauptet: »Ohne das vo-
rausgesetzte unvordenkliche, d. h. (nach der früheren Erklärung) zufäl-
lig-notwendige, insofern blinde Sein – könnte Gott gar nicht Gott sein;
denn er könnte nicht das Überseyende, nicht Herr des Seyns, also über-
haupt nicht der Herr seyn, als welchen wir ihn doch wollen müssen,
wenn wir ihn überhaupt wollen: – aber die Gottheit dieses a priori Sey-
enden läßt sich allerdings nur a posteriori beweisen.« 516
… wenn wir ihn überhaupt wollen: aus diesem Halbsatz wird
deutlich, dass nicht allein die Vorstellung von einem »unvordenk-
lichen«, »zufällig-notwendigen« und insofern »blinden« Sein eine fun-
damentale Zufälligkeitserfahrung ausdrückt, sondern auch der Wille,
der das gesamte Unternehmen der positiven Philosophie trägt, mit Zu-
fälligkeit behaftet ist. Selbst wenn er da ist und selbst wenn sogar der
aposteriorische Beweis, den die positive Philosophie zu erbringen hat,
tatsächlich gelingt (was ja nach Schelling letztlich von der Geschichte
selbst abhängt), bleibt unser Bewusstsein von Gott als dem Herrn des

515 Schelling, Philosophie der Offenbarung, Erster Band, Zweites Buch: »Der Philoso-

phie der Offenbarung erster Theil« [Sämmtliche Werke, Abteilung II, Bd. III], S. 256.
516
Schelling, Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie [Sämmtliche
Werke, Abteilung II, Bd. IV], S. 350 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. V,
S. 792).

167
Grundtypen der Metaphysik

Seins an »Faktizität« 517 und »Kontingenz« 518 gebunden. Das ist die Ein-
sicht, mit der Schelling Kants Kritik des transzendentalen Ideals und des
ontologischen Gottesbeweises weiter radikalisiert. Unabhängig davon,
ob der Wille zu einem lebendigen Gott bewahrt bleibt, oder aber Gott
nunmehr für tot erklärt wird, deutet diese Einsicht für sich allein schon
eine neue Epoche des philosophischen Denkens an: die Epoche, die wir –
im weitesten Sinne des Wortes – als die unsrige bezeichnen können.

517
Richir, L’expérience du penser, S. 153.
518 Ebd., S. 163.

168
Zweiter Teil:
Phänomenologie und Metaphysik
Metaphysik zufälliger Faktizität bei
Husserl, Heidegger und in der
französischen Phänomenologie

Niemand hat so deutlich wie Kant gezeigt, dass die Metaphysik – anders
als die Logik – nicht etwa bloß formale, sondern sachhaltige Behaup-
tungen aufstellt, die aber – ähnlich wie die Aussagen der Logik – eine
gewisse Notwendigkeit mit sich führen. Da er Notwendigkeit mit
Apriorizität gleichsetzte, konnte er daraus bereits den Schluss ziehen,
dass sich die Metaphysik nicht weniger von den Erfahrungswissen-
schaften unterscheidet als von der Logik. Diese doppelte Abgrenzung
der Metaphysik von Logik und Erfahrungswissenschaften nötigte Kant
dazu, nach einer apriorischen, gleichwohl aber nicht bloß logischen,
sondern realen Notwendigkeit zu forschen. Eine derartige Notwendig-
keit schrieb er denjenigen Grundsätzen zu, in denen er die Bedingungen
für die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt entdeckte. Die Gesamt-
heit dieser Grundsätze und ihre systematische Behandlung bildete den
Kern dessen, was nunmehr als ›Transzendentalphilosophie‹ (in einem
völlig neuen Sinne) bezeichnet wurde. Kant ließ diese neu entwickelte
Disziplin an die Stelle der traditionellen Metaphysik treten, der er das
Vermögen, eine apriorische Realnotwendigkeit aufzuweisen, schlicht-
weg absprach.
In den letzten Jahrzehnten wurde jedoch eine der grundlegenden
Voraussetzungen von Kants Gedankengang in Frage gestellt. Es handelt
sich um die Gleichsetzung von Apriorizität und Notwendigkeit. Einer
der Begründer moderner Modallogik, Saul Aron Kripke, machte deut-
lich, dass ein Erfahrungssatz (also eine aposteriorische Aussage) unter
manchen Umständen durchaus einen Anspruch auf Notwendigkeit er-
heben kann. 1 Unter Notwendigkeit können wir nämlich nicht allein
eine ›epistemische‹ Notwendigkeit, das heißt die Unwiderlegbarkeit

1
Saul A. Kripke, Naming and Necessity, Cambridge (Mass.): Harvard University Press
1980, S. 38: »I will argue below […] that necessary a posteriori truths […] exist.« Vgl.
ebd., S. 110: »One might very well discover essence empirically.«

171
Metaphysik zufälliger Faktizität

einer Behauptung verstehen. Sicherlich ist jeder Erfahrungssatz grund-


sätzlich widerlegbar. Im Prinzip können ja immer neue Erfahrungen
aufkommen, die ihm widersprechen. Wenn er jedoch überhaupt wahr
ist, kann er nicht allein eine zufällige, sondern in manchen Fällen auch
eine notwendige Wahrheit ausdrücken. Anders als die ›epistemische‹
Notwendigkeit ist also die Notwendigkeit einer notwendigen Wahrheit
oder die ›metaphysische‹ Notwendigkeit nicht an die Bedingung der
Apriorizität gebunden. Es stellt sich auf diese Weise heraus, dass die
Gleichsetzung von Apriorizität und Notwendigkeit auf einer Vermen-
gung oder Verwechselung von epistemischer und metaphysischer Not-
wendigkeit beruht. 2
In der analytischen Philosophie der letzten Jahrzehnte hat diese
modallogische Einsicht in die Möglichkeit einer nicht-apriorischen Re-
alnotwendigkeit zu einer Wiederbelebung und Erneuerung der Meta-
physik geführt. Das ist der Grund dafür, dass heute eine phänomenolo-
gisch orientierte Philosophie viel mehr Berührungspunkte in der
analytischen Tradition finden kann als vor einigen Jahrzehnten. Nur
allzu langsam wird jedoch deutlich, wie sehr diese neue Grundtendenz
einer modallogisch fundierten Metaphysik manche ältere Bestrebungen
bestätigt, die vor allem von philosophiehistorischen Betrachtungen
über die Modalbegriffe der Antike bei Aristoteles, Diodoros Kronos,
Chrysippos und anderen ausgegangen sind. Es genügt hier, einerseits
auf Nicolai Hartmanns Buch über Möglichkeit und Wirklichkeit zu ver-
weisen, andererseits Jules Vuillemins Monographie über Nécessité et
contingence (auf Englisch Necessity and Contingency) zu erwähnen. 3
Der Gedanke, dass es eine Realnotwendigkeit gibt, die sich mit Apriori-
zität nicht gleichsetzen lässt, ist beiden Autoren geläufig.
Eine nicht-apriorische Realnotwendigkeit können wir als ›Not-
wendigkeit des Faktischen‹ bezeichnen. Dieser Begriff gibt uns einen
Schlüssel zum Verständnis einer Metaphysik an die Hand, die gegen

2
Vgl. ebd., S. 35: »[…] what I am concerned with here is a notion which is not a notion
of epistemology but of metaphysics, in some (I hope) nonpejorative sense. […] It’s cer-
tainly a philosophical thesis and not a matter of obvious definitional equivalence, either
that everything a priori is necessary or that everything necessary is a priori. Both con-
cepts may be vague. That may be a problem. But at any rate they are dealing with two
different domains, two different areas, the epistemological and the metaphysical.«
3
Nicolai Hartmanns Werk Möglichkeit und Wirklichkeit wurde bereits zitiert. Siehe
Jules Vuillemin, Nécessité et contingence, Paris: Minuit 2004; auf English: Necessity
and Contingency, Stanford: California University Press 1996.

172
Metaphysik zufälliger Faktizität

Kants Kritik der Metaphysik gewappnet ist. Seit langem ahnt man, dass
die Argumente, die in der Kritik der reinen Vernunft gegen die traditio-
nelle Metaphysik angeführt werden, nicht auf jede mögliche Metaphy-
sik angewandt werden können. Aber erst heute können wir mit Genau-
igkeit feststellen, dass sie sich gegen die katholou-tinologische Tradition
richten.
Kant hatte vor allem die deutsche Schulphilosophie von Christian
Wolff und Alexander Baumgarten im Auge, als er diese Argumente
formulierte. Man weiß aber nicht erst seit Ludger Honnefelders Scien-
tia transcendens, sondern zumindest bereits seit Étienne Gilsons L’être
et l’essence, wie sehr diese Schulphilosophie von derjenigen Wende der
Metaphysik abhängig war, die vor allem von Johannes Duns Scotus am
Ende des 13. und am Beginn des 14. Jahrhunderts herbeigeführt worden
war.
Aus unserem Überblick über die verschiedenen Grundtypen der
Metaphysik geht jedoch deutlich hervor, dass keineswegs alle Metaphy-
sik durch die kathoulou-tinologische Verfassung bestimmt ist. Zum
Beispiel ist die aristotelische Ontologie mit ihrer katholou-protologi-
schen Grundstruktur von einer Tinologie scotistischer Prägung weit
entfernt. Sie schreibt ja dem selbstständig existierenden Seienden eine
lebendige Wirklichkeit (ἐνέργεια) und eine inhärente Vollendung (ἐν-
τελέχεια) zu. Dabei bestimmen die Nachwirkungen des aristotelischen
Musters die spätere Geschichte der Metaphysik bis in die Scholastik des
13. Jahrhunderts hinein.
Es lohnt sich, die Frage nach einer nicht-apriorischen Realnotwen-
digkeit zunächst im Rückblick auf Aristoteles zu untersuchen, bevor die
Möglichkeit einer phänomenologischen Metaphysik erwogen wird.
Vieles hängt nämlich davon ab, ob wir den Unterschied der phänome-
nologischen Idee einer Notwendigkeit des Faktischen vom aristote-
lischen Begriff einer hypothetischen Notwendigkeit des Wirklichen
deutlich herausstellen können. Deshalb wird in dieser Einleitung zur
Metaphysik bei Husserl, Heidegger und ihren französischen Nachfol-
gern nochmals kurz auf die aristotelischen Anfänge zurückgegriffen.
Unsere Überblicksdarstellung zeigte, wie rätselhaft der aristote-
lische Anspruch auf eine Allgemeinheit der Ersten Philosophie in der
metaphysischen Tradition geblieben ist. Gleichwohl ist es nicht unmög-
lich, dieses Rätsel aufzulösen. Allerdings gibt uns die aristotelische Leh-
re vom selbstständig existierenden Wesen den Schlüssel dazu noch
nicht an die Hand. Erst die Anwendung der Begriffe ›Möglichkeit‹ und

173
Metaphysik zufälliger Faktizität

›Wirklichkeit‹ auf dieses Wesen führt uns weiter. Lesen wir das neunte
Buch der Metaphysik mit voller Aufmerksamkeit, so fällt uns sogleich
auf, dass Aristoteles die Wirklichkeit (ἐνέργεια) nicht allein der Mög-
lichkeit oder dem Vermögen (δύναμιϚ) gegenüberstellt, sondern auch
von der Bewegung (κίνησιϚ) aufs Schärfste abhebt. Die Unterschei-
dung der Wirklichkeit von der Bewegung ist deshalb überraschend, weil
die Bewegung andernorts – so etwa im dritten Buch der Physik, aber
auch im elften Buch der Metaphysik – ausdrücklich als eine Art »Wirk-
lichkeit« bestimmt wird, wenn auch nur als »die Wirklichkeit des Mög-
lichen, insofern es möglich ist«.4 Hier wird der Ausdruck ›Wirklichkeit‹
offenbar in einer erweiterten Bedeutung verwendet, so dass er selbst
noch die Bewegung umfassen kann. Aber gerade die aus dieser Bedeu-
tungserweiterung hervorgehende Bestimmung der Bewegung macht
verständlich, warum die Wirklichkeit im engeren Sinne des Wortes
von der Bewegung unterschieden werden muss. Denn als die Wirklich-
keit des Möglichen, insofern es möglich ist, ist die Bewegung noch nicht
die vollendete Verwirklichung (ἐντελέχεια) des Möglichen; sie ist viel-
mehr erst unterwegs zu dieser Verwirklichung. Deshalb sagt Aristote-
les: »Jede Bewegung ist […] unvollendet, z. B. Abmagerung, Lernen,
Gehen, Bauen.« 5 Dagegen trägt die Wirklichkeit im engeren Sinne des
Wortes die vollendete Verwirklichung des Möglichen in sich. Aristote-
les verwendet eine Eigentümlichkeit der griechischen Sprache dazu,
diese innere Vollendung des Wirklichen anzudeuten. Das Perfekt hat
im Griechischen – ähnlich übrigens wie im Englischen – das Eigentüm-
liche, das in der Gegenwart fortbestehende Ergebnis einer vergangenen
Handlung – oder eines vergangenen Geschehens überhaupt – aus-
zudrücken. So kann man von jemandem sagen: »[…] er sieht und hat
zugleich (immer schon) gesehen; er überlegt und hat zugleich (immer
schon) überlegt; er denkt und hat zugleich (immer schon) gedacht«;
ebenso: »[…] er lebt gut und hat zugleich gut gelebt; er ist glücklich
und ist zugleich (immer schon) glücklich gewesen«. 6 Das in diesen Aus-
drücken im griechischen Original jeweils an zweiter Stelle verwendete
Perfekt zeigt die innere Vollendung einer Tätigkeit oder eines Zustandes
an. Es macht zugleich deutlich, dass es sich dabei um eine innere Voll-
endung handelt, die auf einer gewissen Selbstperpetuierung beruht. Bei

4
Ebd., Κ 9, 1065 b 16–17. Vgl. Aristoteles, Physik, Γ 1, 201 a 10–11 and 201 b 4–5.
5
Ebd., Θ 6, 1048 b 29–30.
6 Ebd., Θ 6, 1048 b 23–24 und 25–26.

174
Metaphysik zufälliger Faktizität

Bewegungen wie Abmagerung, Lernen, Gehen, Bauen kann von einer


derartigen Selbstperpetuierung keineswegs die Rede sein: »[…] denn
einer kann nicht zugleich gehen und gegangen sein, oder bauen und
gebaut haben, oder werden und geworden sein, oder sowohl bewegt
werden als auch bewegt worden sein, sondern ein anderes bewegt und
ein anderes hat bewegt«. 7
Das Ergebnis dieser Überlegungen lässt sich auf folgende Weise
zusammenfassen: Im Gegensatz zur Bewegung ist die Wirklichkeit im
engeren Sinne des Wortes nicht erst unterwegs zu einer Vollendung; sie
ist vielmehr in sich selbst vollendet. Sie geht nicht in etwas anderes
über, sondern bleibt bei sich. Folglich ist sie im Ganzen durch eine Un-
beweglichkeit oder Unveränderlichkeit gekennzeichnet, die allerdings
aus der Lebendigkeit einer inneren Selbstperpetuierung erwächst.
Haben wir damit nicht bereits einen Schlüssel zur Auflösung des
Rätsels gefunden, wie eine Betrachtung über das selbstständig existie-
rende, dabei aber unbewegliche Wesen zugleich eine allgemeine Sicht
auf das Seiende als Seiendes bestimmen kann? Es ist uns in der Tat
deutlich geworden, wie jedes Seiende, das es zur inneren Vollendung
der Wirklichkeit gebracht hat, durch eine Grundtendenz zur Unbeweg-
lichkeit oder Unveränderlichkeit im Sinne einer lebendigen Selbstper-
petuierung charakterisiert ist. Diese Auffassung von der Wirklichkeit
könnte durch eine Analyse des Formwesens als Ursache des Seins eines
selbstständig existierenden Seienden erhärtet werden. 8
Hier genügt es allerdings, nur noch auf denjenigen Text hinzuwei-
sen, in dem Aristoteles selbst am eindeutigsten danach strebt, das uns
beschäftigende Rätsel zu entwirren. Es handelt sich dabei um das achte
Kapitel des neunten Buches der Metaphysik, in dem die These auf-
gestellt wird, dass die Wirklichkeit der Möglichkeit oder dem Vermögen
erstens dem Begriff, zweitens der Zeit und drittens auch dem Wesen
nach vorgeordnet ist. Besonders der letzte Teil des Gedankenganges ist
von Wichtigkeit für uns. Als »das Erste« 9 wird hier das ›schlechthin
Unvergängliche‹ und ›notwendig Seiende‹ deshalb bezeichnet, weil es
keine Möglichkeit in sich schließt, die nicht schon zur vollendeten Ver-

7
Ebd., Θ 6, 1048 b 30–33.
8 Vgl. ebd., Z 17.
9
Ebd., Θ 8, 10450 b 14. Aristoteles verwendet dieses Wort allerdings im Plural, weil er in
strenger Allgemeinheit von dem spricht, was auch immer ein notwendig Seiendes ist.
Diese Bedeutungsnuance des griechischen Plurals wird in der deutschen Übersetzung zu
Recht mit dem Singular wiedergegeben.

175
Metaphysik zufälliger Faktizität

wirklichung gelangt wäre. Da die Wirklichkeit im engeren Sinne des


Wortes immer durch die vollendete Verwirklichung gewisser Möglich-
keiten gekennzeichnet ist, setzt Aristoteles Folgendes hinzu: »Dem Un-
vergänglichen nähert sich aber nachahmend auch das in Veränderung
Begriffene […].« 10 Das platonische Wort ›Nachahmung‹ drückt hier
einen durchaus aristotelisch gedachten Zusammenhang zwischen dem
ersten Seienden und dem Seienden als Seiendem aus. Denn aus diesem
Zusammenhang ergibt sich die völlig unplatonische Überzeugung, dass
jedes Seiende, insofern es überhaupt ein Seiendes ist, dem Wirklichkeit
im Sinne einer vollendeten Verwirklichung bestimmter Möglichkeiten
zukommt, auch schon eine gewisse Notwendigkeit mit sich führt.
In der Tat spricht Aristoteles an mehreren Stellen seines Werks
von einer Notwendigkeit, die dem Seienden als Seiendem einfach des-
halb zukommt, weil es wirklich ist. Schon in seinem – vermutlich frü-
hen – Werk Über den Himmel macht er deutlich, dass das Seiende zwar
zumeist die Möglichkeit seines Nichtseins ebenso sehr in sich trägt wie
die Möglichkeit seines Seins, nicht aber »solange, als es ist (da es dann
wirklich ist)«. 11 Daraus folgt, dass die Wirklichkeit des Seienden die
Möglichkeit des Nichtseins dieses Seienden ausschließt. Nicolai Hart-
mann spricht in diesem Zusammenhang von einem »Spaltungsgesetz
der Realmöglichkeit« 12: Möglich ist in der Wirklichkeit nur das, was
auch schon notwendig ist; damit trennt sich im Realen die positive
Möglichkeit von der negativen. Aristoteles gelangt zu einem ähnlichen
Schluss, indem er dem Seienden im Allgemeinen, das heißt selbst noch
dem zufälligen Seienden, insofern es nicht allein möglich, sondern auch
wirklich ist, bereits eine Notwendigkeit zuschreibt. Er sagt im berühm-
ten neunten Kapitel der logischen Abhandlung Peri hermeneias: »Das
Seiende ist dann notwendig, wenn es ist, und das Nicht-Seiende ist
dann nicht notwendig, wenn es nicht ist.« 13 Es wird an dieser Stelle
allerdings sogleich hinzugefügt, dass es sich dabei keineswegs um eine
schlechthinnige Notwendigkeit – um eine Notwendigkeit ohne Ein-
schränkung – handelt. Das Seiende ist vielmehr nur bedingt notwendig,
da es nur solange notwendig ist, als es überhaupt ist (existiert). Wie
Aristoteles hervorhebt, gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen

10
Ebd., Θ 8, 10450 b 28–29.
11
Aristoteles, De caelo, Buch I, Kap. 12, 283 b 9–10.
12
Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, S. 281; siehe auch S. 147.
13 Aristoteles, De interpretatione, Kap. 9, 19 a 23–24.

176
Metaphysik zufälliger Faktizität

dem Satz, dass das Seiende dann notwendig ist, wenn es überhaupt ist,
und dem Satz, dass alles Seiende notwendig ist. 14
Diejenige Notwendigkeit, die dem Seienden deshalb zugeschrieben
wird, weil es wirklich ist, ihm aber auch nur solange zugeschrieben
werden kann, als es wirklich ist, wird oft als ›hypothetische‹ (das heißt
durch eine Annahme bedingte) Notwendigkeit bezeichnet.15 Ihr steht
die ›schlechthinnige‹ oder ›absolute‹ Notwendigkeit gegenüber, die uns
allerdings lediglich aus der Logik bekannt ist.
Mit hypothetischer Notwendigkeit ist offensichtlich eine nicht-
apriorische Realnotwendigkeit, eine Notwendigkeit des Faktischen ge-
meint. Aus dem Zusammenhang unserer Betrachtungen geht deutlich
hervor, dass der Gedanke einer hypothetischen Notwendigkeit alles
Wirklichen gleichsam der Schlussstein derjenigen Wissenschaft ist, die
Aristoteles in den unter dem Titel Metaphysik vereinigten Unter-
suchungen ständig im Auge hat. Dieser Gedanke ist das fehlende Glied
in derjenigen Kette, die in dieser Wissenschaft das Allgemeine mit dem
Ersten, also die Betrachtung über das Seiende als Seiendes mit der
Theorie des unbewegten, unveränderlichen und daher notwendigen
Wesens verbindet.
Was soll jedoch unter einer hypothetischen Notwendigkeit alles
Wirklichen genauer verstanden werden? Da Aristoteles davon ausgeht,
dass alles seine Ursache hat, wäre es naheliegend, darunter einen kau-
salen Determinismus zu verstehen. Allein eine derartige Deutung wäre

14
Ebd., 19 a 25–27.
15
Es gibt Autoren, die diesen Terminus im Anschluss an die Kapitel 8 und 9 des zweiten
Buches der Physik von Aristoteles für teleologische Kontexte vorbehalten wollen, in
denen die Bedingung der Notwendigkeit ein bestimmter Zweck ist. In allgemeinerem
Sinne wird dann der Terminus »bedingte« oder auch »relative« Notwendigkeit ge-
braucht. Richard Sorabji scheint den Ausdruck »eingeschränkte Notwendigkeit« (quali-
fied necessity) zu bevorzugen (siehe Richard Sorabji, Necessity, Cause and Blame. Per-
spectives on Aristotle’s Theory, Chicago: The University of Chicago Press 1980, S. 21 f.).
Es gibt aber zumindest eine deutliche Stelle im aristotelischen Textkorpus, an der die
Unterscheidung zwischen ἐξ ὑποθέσεωϚ und ἁπλῶϚ außerhalb jeglichen teleologischen
Kontexts auf die Notwendigkeit angewandt wird (siehe Aristoteles, De caelo, Buch I,
Kap. 12, 281 b 5–8). Weiterhin stellt Alexander von Aphrodisias im Hinblick auf die
gerade zitierte Stelle De interpretatione, Kap. 9, 19 a 25–27 der ἁπλῶϚ-Notwendigkeit
wiederum nur eine ἐξ ὑποθέσεωϚ-Notwendigkeit gegenüber. Diese beiden Tatsachen
reichen dazu hin, einen allgemeinen Gebrauch des Ausdrucks »hypothetische Notwen-
digkeit« zu rechtfertigen. Siehe dazu Richard Gaskin, Aristotle and Diodorus Cronus on
the Metaphysics of the Future, New York und Berlin: Walter de Gruyter 1995, S. 115,
Anm. 4.

177
Metaphysik zufälliger Faktizität

eine verhängnisvolle Fehldeutung. Erst in der Stoa entsteht der Gedan-


ke einer homogenen Kausalkette, die alles schicksalhaft bestimmt. Aris-
toteles verwirft dagegen ausdrücklich die Idee eines lückenlosen kausa-
len Determinismus. Er findet die Konsequenzen dieser Idee durchaus
inakzeptabel: »Es müßte also hiernach alles mit Notwendigkeit stattfin-
den, und der Zufall und die Möglichkeit des Werdens und des Nicht-
werdens müßten aus dem Gebiete des Werdens ganz hinweggenommen
werden.« 16 Nach Aristoteles gibt es ja einen Zufall, und es gibt im Be-
reich des Werdens auch eine Möglichkeit des Werdens und des Nicht-
werdens, also eine Zufälligkeit im Sinne realer Kontingenz. Dass alles
seine Ursache hat, schließt den Zufall – und daher auch die reale Kon-
tingenz – keineswegs aus, gesetzt, dass es heterogene Kausalketten gibt.
Aristoteles meint nämlich, dass der Zufall am Kreuzungspunkt hetero-
gener Kausalketten entsteht.
Damit hält Aristoteles an einer Sicht auf den Bereich des Werdens
fest, die uns aus unserer lebensweltlichen Erfahrung geläufig ist. Ge-
nauso steht es mit derjenigen Auffassung, die Aristoteles von der
Handlung und überhaupt von unserem Verhältnis zur Zukunft heraus-
bildet. Er sieht deutlich, dass es keine Handlungsmöglichkeit gibt, die
sich in der Vergangenheit auswirkt. Wegen der Unwiderruflichkeit des
einmal schon Geschehenen führen die Aussagen über die Vergangen-
heit eine Notwendigkeit mit sich. Anders steht es mit den Aussagen
über die Zukunft. Nach den berühmten Ausführungen im neunten
Kapitel der Schrift Peri hermeneias, die zu einer Einschränkung des
logischen Grundsatzes der Zweiwertigkeit führen, kommt ihnen in der
Gegenwart nicht einmal ein feststehender Wahrheitswert zu. Darunter
versteht vermutlich bereits Aristoteles (ähnlich wie später Karneades)
nichts anderes, als dass die Ursachen, die entscheidend für die zukünf-
tigen Ereignisse werden sollen, in der Gegenwart noch nicht fertig
vorliegen. Ebenedeshalb ist aber auch die menschliche Handlung kei-
neswegs vorherbestimmt. Die Erwägung verschiedener Handlungs-
möglichkeiten ist daher durchaus sinnvoll. Daraus folgt bereits ein
Grundgedanke des Aristoteles, der vom megarischen Dialektiker Dio-
doros Kronos in Frage gestellt werden soll: Es gibt Möglichkeiten, die
weder in der Gegenwart wirklich sind noch in der Zukunft wirklich
werden. Ähnlich wie unsere Lebenswelt ist die Welt des Aristoteles kei-
ne im Voraus voll bestimmte Welt.

16 Aristoteles, Metaphysik, Κ 8, 1065 a 14–16.

178
Metaphysik zufälliger Faktizität

Was ist jedoch mit einer hypothetischen Notwendigkeit alles


Wirklichen gemeint, wenn nicht der kausale Determinismus? Aristote-
les hat offenbar eine innere Teleologie des Einzelwesens im Auge, die
wir heute nicht leicht nachvollziehen können. Das Wirkliche ist nach
ihm nicht deshalb notwendig, weil es durch wirkende Ursachen bedingt
ist, sondern deshalb, weil es von sich aus dem Zweck zustrebt, die voll-
endete Verwirklichung des Möglichen zu sein. Dieser Gedanke bildet
den Kern des aristotelischen Grundansatzes.
Allerdings ist der aristotelische Grundansatz nicht der einzige, der
gegen Kants Kritik der Metaphysik gewappnet ist. Die phänomenologi-
sche Metaphysik, so wie Husserl sie in seinen späteren Schriften und
Aufzeichnungen ins Auge fasst, dürfte als ein zweiter Grundansatz die-
ser Art in Betracht kommen. Wir wollen uns nun diesem zweiten
Grundansatz zuwenden. Wir halten dabei an der Frage nach einer
nicht-apriorischen Realnotwendigkeit fest und versuchen, Husserls
Idee einer Notwendigkeit des Faktischen von der hypothetischen Not-
wendigkeit des Wirklichen deutlich zu unterscheiden.

179
Metaphysik zufälliger Faktizität

I. Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Nicht erst Heidegger, sondern bereits Husserl wusste sich im Gegensatz


zur gesamten Tradition europäischer Metaphysik. Am Ende der Carte-
sianischen Meditationen beschreibt er die »Metaphysik im gewohnten
Sinne« als »eine historisch entartete Metaphysik, die nichts weniger als
dem Sinn gemäß ist, mit dem Metaphysik als ›Erste Philosophie‹ ur-
sprünglich gestiftet worden war«. 17 Er fügt hinzu, dass die Auswei-
sungsart der Phänomenologie »alle ›metaphysischen Abenteuer‹, alle
›spekulativen Überschwenglichkeiten‹ aus[schließt]«. 18
Gleichwohl versucht Husserl in diesem Werk, aus seinen phäno-
menologischen Untersuchungen »metaphysische Ergebnisse« abzulei-
ten, 19 und er stellt fest, dass die Phänomenologie »nur jede naive […]
Metaphysik ausschließt, nicht aber Metaphysik überhaupt […].« 20 Wie
unterscheidet sich jedoch die Metaphysik, die er im Auge hat, von dem
›historisch entarteten‹ Traditionsgebilde, das er als ›Metaphysik im ge-
wohnten Sinne‹ und als ›naive Metaphysik‹ bezeichnet? Es ist nicht
leicht, eine eindeutige Antwort auf diese Frage bei Husserl zu finden.
So viel steht allerdings fest, dass es sich dabei um eine Metaphysik
handelt, die es nicht mit eidetischen Zusammenhängen, sondern mit
›Urtatsachen‹ zu tun hat.

1. Metaphysik zufälliger Faktizität

Zunächst betrachtet Husserl die eidetisch angelegte transzendentale


Phänomenologie als ›Erste Philosophie‹ und stellt der so verstandenen
›Ersten Philosophie‹ die Metaphysik als ›Zweite Philosophie‹ im Sinne
einer Grundwissenschaft der Wirklichkeit gegenüber. Diese Gegenüber-
stellung stützt sich offensichtlich auf eine Voraussetzung, die ihrerseits
der traditionellen Metaphysik entnommen wird. In Ideen I behauptet
Husserl: »Die alte ontologische Lehre, daß die Erkenntnis der ›Möglich-

17 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, hg. von E. Ströker, Hamburg: Meiner


1987, S. 142.
18
Ebd.
19
Ebd.
20 Ebd, S. 160.

180
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

keiten‹ der der Wirklichkeiten vorhergehen müsse, ist m. E., wofern sie
recht verstanden und in rechter Weise nutzbar gemacht wird, eine gro-
ße Wahrheit«. 21 Im Einklang mit dieser Überzeugung wird der trans-
zendentalen Phänomenologie die Aufgabe zugewiesen, durch eidetische
Überlegungen die Möglichkeiten zu bestimmen, aus denen die Wirk-
lichkeiten abgeleitet und begriffen werden können. Noch in den Carte-
sianischen Meditationen heißt es zur Begründung dieser Ansicht: »Alle
Rationalität des Faktums liegt ja im Apriori. Apriorische Wissenschaft
ist Wissenschaft von dem Prinzipiellen, auf das Tatsachenwissenschaft
rekurrieren muß, um letztlich eben prinzipiell begründet zu werden; –
nur daß die apriorische Wissenschaft keine naive sein darf, sondern aus
letzten transzendental-phänomenologischen Quellen entsprungen […]
sein muß.« 22
Iso Kern weist jedoch mit vollem Recht darauf hin, dass diese Auf-
fassung später von Husserl selbst ergänzt, ja sogar revidiert wird. 23 Be-
reits Anfang der 1920er Jahre stellt sich heraus, dass Husserls Idee der
Metaphysik sich in einer eidetisch-phänomenologischen Interpretation
der Tatsachenwissenschaften keineswegs erschöpft. In einer Beilage zur
Vorlesung über Erste Philosophie wird auf die »Irrationalität des trans-
zendentalen Faktums« hingewiesen; sie wird als der Hauptgegenstand
einer »Metaphysik in einem neuen Sinn« bezeichnet. 24 Die Erkenntnis
der Irrationalität aller Weltrationalität führt zu einer deutlichen Er-
weiterung der Metaphysik als Grundwissenschaft der Wirklichkeit.
Auf ähnliche Weise werden in den Cartesianischen Meditationen »die
Probleme der zufälligen Faktizität« als Probleme der Metaphysik er-
wähnt. 25 Damit sind hier Probleme »des Todes, des Schicksals«, aber
auch Probleme der »Möglichkeit eines ›echten‹ menschlichen Lebens«
und Probleme »des ›Sinnes‹ der Geschichte«, überhaupt »die ethisch-
religiösen Probleme« gemeint. 26
21
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], hg. von Karl Schumann, Den Haag:
M. Nijhoff 1976, S. 178.
22
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 160.
23
Rudolf Bernet, Iso Kern und Eduard Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines
Denkens, Hamburg: Meiner 1989, Kap. 10, S. 211 f. – Siehe auch: Iso Kern, Idee und
Methode der Philosophie, Berlin: Walter de Gruyter, 1975, S. 333 ff.
24
Edmund Husserl, Erste Philosophie. Erster Teil: Kritische Ideengeschichte [Husserlia-
na, Bd. VII], hg. von Rudolf Boehm, Den Haag: M. Nijhoff 1956, S. 187 f., Anm. 1
25
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 160.
26 Ebd.

181
Metaphysik zufälliger Faktizität

Noch mehr fällt jedoch ins Gewicht, dass die Gegenüberstellung


der eidetisch begründeten transzendentalen Phänomenologie als ›Erster
Philosophie‹ und der Metaphysik der Faktizität als ›Zweiter Philoso-
phie‹ bereits von Husserl selbst in Frage gestellt und einer grundsätz-
lichen Revision unterzogen wird. Es kommt nämlich eine neue Einsicht
auf, die jede Gegenüberstellung dieser Art als unhaltbar erscheinen
lässt. Es handelt sich um eine Einsicht, die das Verhältnis von Eidos
und Faktum betrifft.

a. Faktizitätsbedingtheit eidetischer Zusammenhänge

Es wird deutlich, dass zwar im Falle der Dinge der Welt »die Möglich-
keiten den Wirklichkeiten vorher[gehen]«, aber dieses Verhältnis sich
im Falle des transzendentalen Ich notwendig umkehrt. 27 Das jeweilige
Ich erweist sich als »ein absolutes, undurchstreichbares Faktum«, 28 und
das Eidos stellt sich zugleich als von diesem Faktum abhängig heraus.
Husserl sagt: Das jeweilige Ich, diese »Monade«, »kann sich selbst als
anders seiend denken, aber ist sich selbst absolut als seiend gegeben. Die
Setzung ihres Andersseins setzt die Setzung ihres Seins voraus.« 29 Da-
raus zieht Husserl den Schluss: »Insofern ist die Essenz jeder Monade
von der monadischen Existenz unabtrennbar.« 30 Oder noch eindeutiger:
»Alle monadischen Möglichkeiten sind daseinsrelativ zu den mona-
dischen Wirklichkeiten.« 31
Iso Kern wird auf diese Änderung im Denken von Husserl auf-
merksam. Er meint aber, sie vollziehe sich erst in der Zeit nach der
Abfassung der Cartesianischen Meditationen, und er stützt sich tat-
sächlich auf Forschungsmanuskripte aus den dreißiger Jahren, um sie
aufzuweisen. Die Sachlage ist jedoch verwickelter. Die Feststellungen,
die über das Verhältnis von Eidos und Faktum gerade angeführt wur-
den, stammen aus Forschungstexten, die im Jahre 1922 entstanden sind.
In der Tat geraten Husserls Gedanken über die Metaphysik der Faktizi-
tät bereits Anfang der zwanziger Jahre in Fluss. Es ist ein Verdienst von

27
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–
1928 [Husserliana, Bd. XIV], hg. von I. Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 159.
28
Ebd, S. 155.
29
Ebd, S. 154.
30
Ebd.
31 Ebd, S. 155.

182
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Marc Richir, als Erster die davon zeugenden Forschungstexte (beson-


ders die Beilagen XIX–XXI aus dem Band XIV der Husserliana-Reihe 32)
einer umfassenden Analyse unterzogen zu haben. 33 In diesem Zusam-
menhang muss der Name von Ludwig Landgrebe ebenfalls genannt
werden, der zwar in seinem großen Aufsatz »Phänomenologische Be-
wußtseinsanalyse und Metaphysik« aus dem Jahre 1949 34 die Be-
deutung der Faktizität für eine phänomenologische Metaphysik allem
Anschein nach noch nicht erkannt hatte, aber in seiner späteren Auf-
satzsammlung Faktizität und Individuation – im Anhalt an ein For-
schungsmanuskript aus dem Jahre 1921 oder 1924 35 – mit Nachdruck
auf die Tragweite des Urfaktums der Geschichte hinwies. 36 Im Gefolge
von Ludwig Landgrebe, seinem akademischen Lehrer, ist auch Klaus
Held in seiner berühmt gewordenen Doktorarbeit über Husserls C-Ma-
nuskripte auf »das Faktum als das Thema einer möglichen Metaphysik«
ausführlich eingegangen. 37 Es sei ebenfalls erwähnt, dass Stefano Micali
in seiner von Klaus Held betreuten Wuppertaler Dissertation 38 auf eine
fruchtbare Weise den Band XXXV der Husserliana-Reihe in die Ana-
lyse von Husserls Metaphysik der Faktizität einbezogen hat.
Ein Forschungstext aus den dreißiger Jahren macht besonders deut-
lich, mit welchen Konsequenzen die Einsicht verbunden ist, dass das je-
weilige Ich bei der Erwägung eidetischer Möglichkeiten sein faktisches
Sein nicht überschreiten kann. Husserl sagt: »Wir kommen auf letzte

32
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–1928 [Hus-
serliana, Bd. XIV], S. 151–160.
33
Marc Richir, Phantasia, imagination, affectivité, Grenoble: Millon 2004, S. 93–102.
34
Ludwig Landgrebe, »Phänomenologische Bewußtseinsanalyse und Metaphysik«, ent-
halten bereits in der Aufsatzsammlung Phänomenologie und Metaphysik, Hamburg:
Marion von Schröter Verlag 1949; neu abgedruckt in: Der Weg der Phänomenologie,
Gütersloh: Gerd Mohn 1963, S. 75–110.
35
Edmund Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen
Reduktion [Husserliana, Bd. VIII], hg. von R. Boehm, Den Haag: M. Nijhoff 1959,
S. 497–506.
36
Ludwig Landgrebe, »Meditation über Husserls Wort ›Die Geschichte ist das große
Faktum des absoluten Seins‹« (1974), in: Faktizität und Individuation. Studien zu den
Grundfragen der Phänomenologie, Hamburg: Meiner 1982, S. 38–57, hier besonders:
S. 39 und S. 43 f.
37 Klaus Held, Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendenta-

len Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik [Phaenome-
nologica, Bd. 23], Den Haag: Martinus Nijhoff 1966, S. 178; vgl. S. 147 f.
38
Stefano Micali, Überschüsse der Erfahrung. Grenzdimensionen des Ich nach Husserl
[Phaenomenologica, Bd. 186], Dordrecht: Springer 2008.

183
Metaphysik zufälliger Faktizität

›Tatsachen‹ – Urtatsachen, auf letzte Notwendigkeiten, die Urnotwen-


digkeiten.« 39 Er setzt hinzu: »Aber ich denke sie, ich frage zurück und
komme auf sie schließlich von der Welt her, die ich schon ›habe‹. […] –
Ich bin das Urfaktum in diesem Gang, ich erkenne, dass zu meinem fak-
tischen Vermögen der Wesensvariation etc. in meinem faktischen Rück-
fragen sich die und die mir eigenen Urbestände ergeben, als Urstruktu-
ren meiner Faktizität. Und dass ich in mir einen Kern von Urzufälligem
trage in Wesensformen, in Formen vermöglichen Funktionierens, in de-
nen dann die weltlichen Wesensnotwendigkeiten fundiert sind.« 40 Es wä-
re leicht, dieses Zitat als den Ausdruck einer Subjektmetaphysik abzu-
tun. Husserl stellt ja nicht nur fest, dass der Gedankengang zu letzten
›Urtatsachen‹ führt, sondern er fügt gleichzeitig hinzu, dass diese Urtat-
sachen nichts anderes als ›Urstrukturen meiner Faktizität‹ sind. Diese
Deutung wäre aber irreführend und unfruchtbar. Sie verdeckt ja das
Neue an Husserls Ansatz von vornherein durch den althergebrachten
Einwand einer Subjektmetaphysik. Das Neue besteht hier nämlich of-
fenbar in der Erkenntnis, dass alle eidetischen Wesensformen, die durch
die transzendentale Phänomenologie ans Licht gebracht werden, einen
›Kern von Urzufälligem‹ in sich bergen. Die Unterscheidung zwischen
der transzendentalen Phänomenologie als ›Erster Philosophie‹ und der
Metaphysik der Faktizität als ›Zweiter Philosophie‹ bricht damit in sich
zusammen. Die Phänomenologie erweist sich in ihrem gesamten Aufbau
als von bestimmten Urtatsachen oder Faktizitätsstrukturen abhängig.

b. Vier Gruppen von Urtatsachen

Es handelt sich bei Husserl im Wesentlichen um vier Gruppen von Ur-


tatsachen:

1. Das jeweilige Ich als Urfaktum scheint zunächst eine Vorrangstel-


lung unter ihnen einzunehmen, aber bei näherem Zusehen macht
man die Entdeckung, dass diesem Ich weitere Faktizitätsstrukturen
zukommen, die ihm diese Vorrangstellung abstreiten.

39
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935
[Husserliana, Bd. XV], hg. von Iso Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 385 (Text
Nr. 22).
40 Ebd, S. 386 (Text Nr. 22).

184
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

2. Eine dieser Faktizitätsstrukturen ist die Welthabe des jeweiligen


Ich, auf die in den soeben angeführten Zeilen angespielt wurde.
3. In einem anderen Forschungstext aus der gleichen Zeit wird der
Umstand, dass jedes Ich die Anderen intentional in sich trägt, diese
»Innerlichkeit des Füreinanderseins als eines intentionalen Inei-
nanderseins«, schlichtweg »die ›metaphysische‹ Urtatsache« ge-
nannt. 41 Noch deutlicher als die Tatsache der Welthabe schränkt
diese Tatsache eines intentionalen Ineinanderseins die Vorrangstel-
lung des jeweiligen Ich ein. Wird sie als die ›metaphysische‹ Urtat-
sache bezeichnet, so wird damit ausgedrückt, dass diese Urtatsache
den Gesamtrahmen abgibt, dem sich alle anderen Urtatsachen ein-
fügen. Das trifft auf das Ich als Urfaktum ohne Weiteres zu. Aus
der Tatsache des intentionalen Ineinanderseins zieht Husserl in der
Tat den Schluss: »Nicht nur ich bin kein solus ipse, kein erdenk-
liches Absolutes ist solus ipse […].«42 Damit wird eindeutig gesagt,
dass ein transzendentales Ich immer nur im Rahmen eines inten-
tionalen Ineinanderseins denkbar ist. Ähnliches gilt aber auch für
die »Welthabe«. Dieser merkwürdige Ausdruck verweist übrigens
auf die habituelle Erfahrung von Welt, die sich im Ich immer schon
sedimentiert hat. Die Welt, die das Ich in diesem Sinne »hat«, lässt
sich jedoch niemals auf die Eigenheitssphäre des Einzelnen be-
schränken; vielmehr setzt sie stets Mitsubjekte voraus, mit denen
das jeweilige Ich ein intentionales Ineinandersein eingeht.
4. Nicht anders steht es mit der vierten Urtatsache, die keine andere
ist als das bereits von Ludwig Landgrebe hervorgehobene Faktum
einer Geschichtsteleologie, die nicht allein am Anfang der zwanzi-
ger Jahre, sondern auch in späteren Zeiten erwähnt und in man-
chen Fällen sogar mit einer eigentümlichen Gottesidee in Verbin-
dung gebracht wird. 43 Auch diese Geschichtsteleologie setzt eine
intersubjektive Gemeinschaft voraus.

Diese Vorrangstellung des intentionalen Ineinanderseins unter den Ur-


tatsachen ist auch deshalb bedeutsam, weil sie den Abstand spürbar
macht, der Husserls Metaphysik der Faktizität von der metaphysica
specialis der Tradition trennt. Die Dreierstruktur von Ich, Welt und

41
Ebd, S. 366 (Text Nr. 21).
42
Ebd, S. 371 (Text Nr. 21).
43 Ebd, S. 381 (Text Nr. 22) und S. 593–597 (Text Nr. 34).

185
Metaphysik zufälliger Faktizität

Gott, die der neuzeitlichen Metaphysik eigentümlich ist und selbst noch
an Kants transzendentaler Dialektik ihre Spuren hinterlässt, wird durch
die phänomenologische Erkenntnis, dass sich das Ichsubjekt, wie Eduard
Marbach in Anlehnung an ein Forschungsmanuskript von Husserl sagt,
in eine Vielheit spaltet, von Grund auf verändert, wenn nicht sogar
gesprengt. 44 Die Entdeckung der zentralen Bedeutung des Verhältnisses
zwischen dem Ich und dem Anderen führt bei Husserl zu einer völlig
neuen Grundstruktur, die alle phänomenologischen Untersuchungen
bedingt.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Husserl mit der egologi-
schen Einbettung seiner Phänomenologie jemals bricht. Selbst noch in
den Cartesianischen Meditationen, also in einem Werk, das der Ana-
lyse der Fremderfahrung einen durchaus zentralen Platz einräumt, wird
behauptet, dass »die Welt ein egologisches Universalproblem« ist 45, und
es wird hinzugefügt, dass sich die Phänomenologie der Selbstkonstitu-
tion des Ego mit der Phänomenologie überhaupt« deckt. 46 Das Cogito
bleibt nach wie vor der Ausgangspunkt der Husserl’schen Phänomeno-
logie, aber es wird weit über seine cartesianischen Grenzen hinaus-
getrieben. Die Urtatsachen, die Husserl numehr im Auge hat, verwei-
sen auf Faktizitätsstrukturen, die sich mit dem Cogito verbinden und
ihm einen unverlierbaren Hinweis auf Welthabe, Leiblichkeit, Intersub-
jektivität und Geschichtlichkeit einprägen. In ihnen kommt das zum
Ausdruck, was man mit Eugen Fink als eine »immenente Selbstüber-
schreitung der Egologie« bei Husserl bezeichnen könnte. 47 Es heißt in
einem der späten C-Manuskripte: »So wie ich mein Sein ständig habe
und mit allem, was ich bin, so habe ich aber darin impliziert die Ande-
ren […].« 48
Es zeichnen sich damit vor unseren Augen die Umrisse einer Me-
taphysik ab, in der die Dreierstruktur von Ich, Welt und Gott durch eine
Viererstruktur von Ichsubjekt, Welthabe, intentionales Ineinander und

44
Eduard Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie Husserls, Den Haag:
M. Nijhoff, 1974, S. 79 f. (Marbach stützt sich hier auf ein unveröffentlichtes Manuskript
Husserls.)
45
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 55.
46 Ebd., S. 70.

47
Vgl. dazu Natalia Petrillo, Die immenente Selbstüberschreitung der Egologie in der
Philosophie Edmund Husserls (Diss. Wuppertal), Würzburg: Ergon 2009.
48
Edmund Husserl, Späte Texte über Zeitkonstitution. Die C-Manuskripte [Husserlia-
na, Materialien, Bd. VIII], hg. von Dieter Lohmar, Dordrecht: Springer 2006, S. 13 f.

186
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Geschichtlichkeit ersetzt wird. Husserl setzt sich aller traditionellen


Metaphysik vielmehr erst recht dadurch entgegen, dass er die phäno-
menologische Metaphysik als eine Lehre von Urtatsachen auffasst, die
sich nicht etwa auf erste Ursachen zurückführen und daher auch nicht
spekulativ ergründen lassen. Aus dieser Feststellung wird begreiflich,
was Husserl in den Cartesianischen Meditationen mit ›metaphysischen
Abenteuern‹ und ›spekulativen Überschwenglichkeiten‹ meint.

c. Die Suche nach ersten Ursachen als ›spekulatives Abenteuer‹

Von Husserls Gesichtspunkt aus stellt sich die traditionelle Metaphysik


als die Gesamtheit aller Versuche dar, Urtatsachen auf erste Ursachen
zurückzuführen und dadurch metaphysisch abzuleiten. Es ist nicht
schwer, Beispiele für dieses Vorgehen zu nennen:

1. Cartesianismus und Kantianismus versuchen gleichermaßen, das


Faktum des ›Ich denke‹ auf die Natur geistiger Substantialität oder
aber auf die Notwendigkeit der transzendentalen Apperzeption zu-
rückzuführen. Diesen Versuchen steht der Naturalismus schroff
gegenüber, indem er das Bewusstsein aus einer Entwicklungsge-
schichte der Natur zu begreifen sucht. Dieser Gegensatz verbleibt
offensichtlich im Rahmen des gemeinsamen Grundanliegens, die
faktische Notwendigkeit des Cogito aus ersten Anfangsgründen
abzuleiten.
2. Kreationismus und Emanationslehre teilen weiterhin die Absicht,
das Faktum der Welthabe spekulativ zu begründen und damit me-
taphysisch abzuleiten – um nicht zu sagen: wegzuerklären. Beide
setzen sich der ebenfalls spekulativ-metaphysischen Ansicht der
Antike entgegen, die Welt sei ihrer Natur nach ewig.
3. Ferner leitet der Leibnizianismus die Urtatsache, dass es die vielen
Monaden gibt, aus der Annahme einer Universalmonade ab, die
alle möglichen Perspektiven auf die Gesamtschöpfung in sich ver-
einigt. Dagegen beruft sich der Deutsche Idealismus auf eine Ur-
Teilung geistiger Lebenseinheit, um die Urtatsache der Ichplurali-
tät metaphysisch zu begründen – und das heißt wiederum nur: sie
wegzuerklären. Husserl hat bereits von Kant gelernt, dass diese
metaphysischen Begründungsversuche immer wieder nur Antino-
mien heraufbeschwören und damit zu unaufhörlichen Streitigkei-

187
Metaphysik zufälliger Faktizität

ten führen, weil sie ihre Behauptungen über das jeweils Gegebene
und Ausweisbare weit hinausspannen. Die Phänomenologie weist
dieses spekulative Verfahren notwendig zurück.
4. Deshalb verzichtet Husserl auch darauf, in der einmaligen und un-
wiederholbaren Geschichte, die er in seinen späten Jahren immer
wieder zur Sprache bringt, etwa mit Kant auch nur nach dem Aus-
druck eines ›Naturzwecks‹ zu forschen. Was er unter Geschichtste-
leologie versteht, unterscheidet sich von der Idee eines Natur-
zwecks nicht nur darin, dass es mit der Natur nichts zu tun hat.
Darüber hinaus handelt es sich bei Husserl immer nur um Zweck-
mäßigkeiten, die keineswegs im Voraus feststehen, sondern jeweils
aus in sich selbst zufälligen Urstiftungen erwachsen.

Zusammenfassend kann man behaupten, dass Husserl die Urtatsachen,


die er phänomenologisch erörtert und zergliedert, als ›letzte‹ Tatsachen
betrachtet. Dieses Wort verweist hier so wenig auf irgendeine Letztbe-
gründung, dass es vielmehr jeden Begründungsversuch ausschließt.
Husserls Metaphysik der Urtatsachen unterscheidet sich gerade darin
von aller traditionellen Metaphysik, dass sie die Urtatsachen in diesem
Sinne als ›letzte‹ Gegebenheiten behandelt.
Kein fröhlicher Positivismus folgt aus dieser Achtung vor den Ur-
tatsachen. Husserl ist vielmehr überall darum bemüht, durch sachnahe
und differenzierte Analysen einen Ausweg aus den antinomischen
Schwierigkeiten zu finden, vor die sich die althergebrachte Metaphysik
immer wieder gestellt sah. Er ist in seinen späten Jahren zunehmend zu
der Einsicht gelangt, dass die Phänomenologie in ihrem gesamten Auf-
bau von Urtatsachen abhängig ist. Was unterscheidet jedoch eine Urtat-
sache von gewöhnlichen Tatsachen?

d. Die Notwendigkeit eines Faktums

Es bietet sich eine Antwort auf die gerade gestellte Frage an, die sich
unmittelbar auf das Cogito bezieht. In den Ideen I stellt Husserl fest,
dass dem sum im Satz cogito, ergo sum »die Notwendigkeit eines Fak-
tums« zukommt. 49 Drei Jahrzehnte später, in Das Sein und das Nichts,

49
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], S. 98.

188
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

wird Sartre auf diese Stelle der Ideen I aufmerksam, und er gibt den
husserlschen Ausdruck im Französischen als nécessité de fait wieder.
Bei beiden Denkern steht die faktische Notwendigkeit jeglicher We-
sensnotwendigkeit – also jeder Besonderung einer eidetischen Gesetz-
mäßigkeit – gegenüber, und bei beiden Denkern drückt sie eine unauf-
hebbare Kontingenz oder, wie Husserl sagt, etwas ›Urzufälliges‹ aus.50
Die von Husserl herausgestellten und im Anschluss an ihn von Sartre
gleichfalls beschriebenen Urtatsachen unterscheiden sich nun von ge-
wöhnlichen Tatsachen gerade dadurch, dass sie eine faktische Notwen-
digkeit mit sich führen, die als solche ihre Urzufälligkeit keineswegs
ausschließt, sondern vielmehr gerade bestätigt. Deshalb verwendet
Husserl den Terminus »Urtatsache« und das Wort »Urnotwendigkeit«
als gleichbedeutende – oder zumindest einander implizierende – Aus-
drücke, indem er an einer bereits angeführten Stelle sagt: »Wir kom-
men auf letzte ›Tatsachen‹ – Urtatsachen, auf letzte Notwendigkeiten,
Urnotwendigkeiten.« 51
Nicht anders als die hypothetische Notwendigkeit des Aristoteles
ist diese faktische Notwendigkeit eine bedingte Notwendigkeit. Es han-
delt sich dabei allerdings nicht etwa um eine Bedingtheit durch eine
allumfassende Kette von Ursachen. Die faktische Notwendigkeit der
Phänomenologie hat es mit der hypothetischen Notwendigkeit des
Aristoteles gemeinsam, dass sie keineswegs an einen kausalen Determi-
nismus gebunden ist. Beide Grundansätze beruhen vielmehr auf einer
Notwendigkeit, die einfach durch eine Tatsache bedingt ist. Doch ist die
Faktizitätsabhängigkeit der Notwendigkeit in den beiden Fällen keines-
wegs von der gleichen Natur.
Die Tatsache, von der bei Aristoteles die hypothetische Notwen-
digkeit abhängig ist, drückt die faktische Existenz des Wirklichen als
solchen aus. Solange das Wirkliche als die vollendete Verwirklichung
des Möglichen überhaupt ist – oder besteht –, ist es zugleich notwendig.
Bei Aristoteles verleiht diese Notwendigkeit der Wirklichkeit des Ein-
zelwesens ein Eigengewicht. Es handelt sich um ein Eigengewicht, das
auf dem Vermögen lebendiger Selbstperpetuierung beruht – ein Ver-
mögen, das allerdings nicht ohne die – uns nicht mehr einleuchtende –

50
Vgl. Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935
[Husserliana, Bd. XV], S. 386.
51 Ebd., S. 385.

189
Metaphysik zufälliger Faktizität

Annahme einer allumfassenden Teleologie begreiflich gemacht werden


kann.
Dagegen gründet sich die faktische Notwendigkeit bei Husserl auf
die Urtatsache des Cogito. Solange ich denke oder solange ich mir mei-
ner selbst überhaupt bewusst bin, kommt meinem Sein eine Notwen-
digkeit zu, die in der Phänomenologie dann zugleich auf meine Leib-
lichkeit und damit auf die Existenz der Welt, auf das Dasein meiner
Mitsubjekte, ja sogar auf das Geschehen der Geschichte ausgedehnt
wird. Durch diese Erweiterung des Bereichs von Urtatsachen geht Hus-
serl sicherlich weit über Descartes hinaus, aber er hält dabei doch am
cartesianischen Ausgangspunkt des Cogito fest. Dieser Ausgangspunkt
bringt jedoch einen großen Vorteil gegenüber dem aristotelischen
Grundansatz mit sich: den Vorteil der Performativität. 52 Im Gegensatz
zu den gewöhnlichen Tatsachen, die nur durch Beobachtung von außen
her festgestellt werden können, kommt den Urtatsachen, von denen in
der Phänomenologie die Rede ist, der Charakter aktuellen Vollzugs zu.
Deshalb können die Faktizitätsstrukturen, die Husserl im Auge hat, nur
in einer phänomenologischen Innenbetrachtung erfasst werden. Der
performative Charakter, der ihnen damit zukommt, macht die Tendenz
zur Selbstperpetuierung, die sich in der Notwendigkeit des Faktischen
ausdrückt, dadurch verständlich, dass er sie im Eigenleben des phäno-
menologisierenden Ich verankert. Darin liegt der große Vorteil des hus-
serlschen Grundansatzes gegenüber der heute kaum mehr nachvoll-
ziehbaren Teleologie der aristotelischen Weltansicht.
Mir scheint allerdings, dass Husserl aus diesen Ansätzen eine wei-
terführende Schlussfolgerung nicht mehr gezogen hat. Diese Schluss-
folgerung betrifft nicht mehr die einzelnen Faktizitätsstrukturen, die
von Husserl seit dem Anfang der zwanziger Jahre immer deutlicher
herausgestellt werden. Sie betrifft vielmehr die Urtatsache des Erschei-
nens selbst. Erst wenn deutlich verstanden wird, dass dem Erscheinen
selbst der Charakter einer Urtatsache zukommt, die auf keine höheren
Ursachen zurückgeführt werden kann, wird der eigentliche Sinn von
Husserls Metaphysik zufälliger Faktizität voll greifbar. Es gilt, so könn-
te man in der Sprache der Tradition behaupten, Husserls Ansatz zu

52
Dieser Terminus wird hier in dem Sinn verwendet, den Jaakko Hintikka ihm in seinem
Aufsatz über das Cartesianische Cogito gab. Siehe Jaakko Hintikka, »Cogito, ergo sum:
Inference or Performance?«, in: The Philosophical Review 71 (1/1962), S. 3–32, hier:
S. 12.

190
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

einer Metaphysik der Faktizität auch auf die metaphysica generalis aus-
zudehnen.

2. Erweiterung des Bereichs zufälliger Faktizität

Erst wenn das Erscheinen als Urtatsache betrachtet wird, wird es so


fassbar, wie es sich von selbst einstellt. Dieses ›von selbst‹ drückt dem
Erscheinen das Gepräge eines Ereignisses auf, das dem Bewusstsein wi-
derfährt und es dabei nicht selten überrascht. Dass dem Erscheinen der
Charakter einer Urtatsache zukommt, schließt seine restlose Zurück-
führung auf eine Sinngebung durch das intentionale Bewusstsein von
vornherein aus.
Das Ereignis des Erscheinens bekundet sich in der Erfahrung. Mit
diesem Wort ist hier mehr als ein bloßes Erlebnis gemeint. ›Erlebnis‹ ist
bei Husserl nur ein anderes Wort für das Bewusstsein; unter ›Erfah-
rung‹ wird dagegen ein Vorgang verstanden, der sich der Verfügungs-
gewalt des Bewusstseins – zumindest teilweise – entzieht. Es kommt in
ihr, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes sagt, etwas Neues
»hinter dem Rücken des Bewußtseins« 53 auf. Deshalb ist es angebracht,
von einer passiven Erfahrung oder auch, einfacher, von einem Erfah-
rungsgeschehen zu reden. Stellt Husserl in den Ideen I Dinge und Er-
lebnisse einander schroff gegenüber, hinzufügend, dass die Dinge
immer nur als intentionale Gegenstände von Erlebnissen gegeben sein
können und daher in ihrem Sein relativ auf Erlebnisse sind, so weist der
Gedanke eines passiven Erfahrungsgeschehens auf einen Ausweg aus
diesem Engpass des transzendentalphänomenologischen Idealismus
der Ideen I hin, indem er ein Ereignis deutlich macht, das dem Gegen-
satz von Intention und Intentum, von Noesis und Noema, von Subjekt
und Objekt in einem gewissen Sinne vorgeordnet ist.
Es ist wohl William James, der am Beginn philosophischer Mo-
derne zum ersten Mal einer derartigen Auffassung von der Erfahrung
das Wort geredet hat. Nur deshalb kann eine Berufung auf den radical
empiricism 54 in seinem Sinne dennoch irreführend sein, weil mit ›Er-

53
Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Molden-
hauer und Karl-Markus Michel, Bd. III], S. 80.
54
Vgl. William James, Essays in Radical Empiricism, Mineola, New York: Dover 2003
(11912).

191
Metaphysik zufälliger Faktizität

fahrungsphänomenologie‹ kein Empirismus gemeint sein kann. Der


Empirismus räumt nämlich der geistigen Erfahrung, die zwar durch
die sinnliche Wahrnehmung fundiert ist, sich aber darin nicht er-
schöpft, keinen Platz ein. Auf den Begriff einer geistigen Erfahrung,
der auf Hegel zurückgeht und an dem Heidegger, Gadamer und Adorno
gleichermaßen festhielten, kann jedoch in einer Erfahrungsphänome-
nologie, die sich vor Denkereignissen nicht verschließen will, nicht ver-
zichtet werden.
Man kann Marions Begriff einer »Gegenintentionalität« (contre-
intentionnalité) 55 auf das Ereignis des Erscheinens anwenden. Mit die-
sem Begriff ist eine Selbstbekundung, Selbstoffenbarung oder Selbst-
manifestation gemeint, die sich im Gegenzug zur intentionalen Leis-
tung des Bewusstseins durchsetzt und in diesem Sinne gegen den Fluss
der Intentionalität läuft. 56 Die Rede von Gegenzug und Gegenläufigkeit
ruft die Idee einer »Umkehrung der Intentionalität« hervor. 57 Zweifel-
los war Emmanuel Levinas der Erste, der diese Idee erfasste, 58 doch ein
Konflikt zwischen der Selbstoffenbarung einer Urimpression und einer
Bekundung durch das intentionale Bewußtsein wurde durch Michel
Henry gleichermaßen in Betracht gezogen. 59 Aber erst mit Marion wird
es deutlich: Das mit ›Gegenintentionalität‹ oder ›Umkehrung der Inten-
tionalität‹ Gemeinte ist nicht etwa das Gegenteil der Intentionalität,
sondern vielmehr »ein Wesenscharakter« derselben. 60 Eben dieser Cha-
rakter der Intentionalität ermöglicht es dem Subjekt, das Erscheinen des
jeweils Erscheinenden durch sich selbst ankommen (advenir) zu lassen,
ohne Rücksicht auf die Beschränkungen, die es als transzendentales
Subjekt dem Erfahrungsgeschehen von vornherein auferlegen sollte.
Die Gegenintentionalität als Wesenscharakter der Intentionalität
deutet auf eine Passivität hin, die sich durch den Begriff einer passiven
Synthesis nicht angemessen erfassen lässt. Zwar beschreibt Husserl in
seinen Analysen zur passiven Synthesis das Ereignis, in dem ein Ge-

55
Marion, Étant donné, S. 246.
56
Ebd., S. 315 und S. 367: »à contre-courant de l’intention«.
57
Ebd., S. 367.
58
Vgl. Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-délà de l’essence, Édition »Livre de
poche«, Dordrecht, Boston und London: Kluwer 1990; S. 61 und S. 67; dt. Jenseits des
Seins oder anders als Sein geschieht, übersetzt von Thomas Wiemer, Freiburg/München:
Alber 1992, S. 115 und S. 125.
59
Vgl. Michel Henry, Phénoménologie matérielle, Paris: PUF 1990, S. 36.
60 Marion, Étant donné, S. 367.

192
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

genstand überhaupt erst eine auf ihn gerichtete Intention in uns


weckt. 61 Aber in der Analyse dieses Ereignisses folgt er dem Muster
von Weckungsvorgängen, die intentionale Erlebnisse unter sich verbin-
den. Als paradigmatisch für alle Weckungsereignisse betrachtet er die
Assoziation im Sinne der Weckung einer Erinnerung – oder auch einer
Erwartung – durch eine Wahrnehmung, und er versucht, die ursprüng-
liche Weckung einer Intention in uns als »Urassoziation« zu begrei-
fen. 62 Folgt man jedoch dieser Vorgehensweise in einer Untersuchung
über die Gegenintentionalität als Wesenscharakter der Intentionalität,
so sieht man sich von vornherein auf eine falsche Bahn getrieben. Die
Assoziation, die Husserl im Ausgang von seiner Intentionalitätstheorie
als passive Synthesis deutet, macht zwar verständlich, wie ein schlum-
merndes Sinnsediment durch neu aufkommende Sinnregungen er-
weckt wird, aber sie macht keineswegs verständlich, wie überhaupt
neue Sinnregungen aufkommen können. Eine Sinngebung durch das
intentionale Bewusstsein kann hier deshalb nicht als Erklärung dienen,
weil die Frage sich auf ein Ereignis bezieht, in dem überhaupt erst eine
Intention entsteht.
Die Gegenintentionalität als Wesenscharakter der Intentionalität
setzt deshalb die Idee einer spontanen Sinnbildung voraus. Um diese
Idee zu verdeutlichen, können wir von einer Erfahrung ausgehen, die
allgemein bekannt ist. Es handelt sich um die Erfahrung davon, wie
einem etwas einfällt. Die Erfahrung, die man dabei macht, besteht vor
allem darin, daß ein Einfall nie in der je eigenen Verfügungsgewalt
steht. Er kommt, wie Nietzsche sagt, wenn er will, nicht wenn ich es
will. So erweist er sich als eine neue Sinnregung, die sich nicht auf eine
Sinngebung durch das intentionale Bewußtsein zurückführen lässt.
Wohl regt er jedoch das intentionale Bewußtsein zu neuen Sinngebun-
gen an. Es kann noch mehr behauptet werden: Als Sinnregung erweist
sich ein Einfall einzig und allein inmitten von sich wandelnden Sinn-
gebungen. Sinnregungen kommen demnach immer nur im Zwischen-
reich von Sinngebungen auf. Sie können deshalb als interintentionale
Momente einer spontanen Sinnbildung gefasst werden. Wird das Er-
fahrungsgeschehen durch eine Gegenintentionalität gekennzeichnet,
so wird es damit dem Einflussraum einer Sinngebung durch das inten-

61
Edmund Husserl, Analysen zur passiven Synthesis [Husserliana, Bd. XI], hg. von
Margot Fleischer, Den Haag: M. Nijhoff 1966, S. 151.
62 Ebd.

193
Metaphysik zufälliger Faktizität

tionale Bewusstsein entzogen und in den Wirkungsbereich einer spon-


tanen Sinnbildung versetzt.
Das Erfahrungsgeschehen kann als ein Prozess bestimmt werden,
in dem sich von Zeit zu Zeit ein neuer Sinn von selbst einstellt. Die
Grundzüge dieses Prozesses können durch eine phänomenologische
Kategorialanalyse näher bestimmt werden.

3. Kategorien des Erfahrungsgeschehens

Wird das Erscheinen in einem radikalen Erfahrungsdenken als eine Ur-


tatsache erfasst, so eröffnet sich eine Möglichkeit, die Phänomenologie
als eine andere ›Erste Philosophie‹ zu betrachten. Darunter kann hier
eine phänomenologische Kategorialanalyse verstanden werden, die sich
von der traditionellen Metaphysik darin unterscheidet, dass sie jeden
Versuch zurückweist, die Kategorien über das Erscheinende in seinem
Erscheinen hinauszutreiben und auf das Seiende als Seiendes anzu-
wenden.
Schon Aristoteles ging es in seiner Polemik gegen Protagoras da-
rum, das jeweils Erscheinende auf eine wahrhaft seiende Substanz zu-
rückzubeziehen, die dem Postulat der Eindeutigkeit oder der Bestimmt-
heit des Sinnes als ontologische Grundlage dienen konnte. Darin
können wir – nach den parmenideischen und platonischen Anfängen –
den ersten umfassend durchgeführten Versuch erkennen, das Erschei-
nende in seinem Erscheinen durch das Seiende als Seiendes zu unter-
mauern. Es ist kein Zufall, dass Aristoteles das philosophische Staunen,
das der Urtatsache des Erscheinens gilt, zwar deutlich zur Sprache
bringt, zugleich aber für einen bloß vorübergehenden Zustand erklärt,
der am Ende durch den Zustand des Wissens ersetzt wird. In der Tat
trachtet Aristoteles danach, die Urtatsache des Erscheinens durch eine
Analyse des Seienden als Seienden zu begründen.
Eine Erfahrungsphänomenologie Husserl’scher Prägung macht es
sich dagegen zur Aufgabe, die überlieferten Kategorien der Tradition
auf das Erscheinende in seinem Erscheinen zu beziehen, statt sie auf
das Seiende als Seiendes anwenden zu wollen. Dadurch verwandelt sie
diese Kategorien von Grund auf, indem sie sie als Grundbestimmungen
des Erfahrungsgeschehens begreift. Die so verstandenen Kategorien,
die natürlich auch durch neu entdeckte ergänzt werden können, können
wir im Anklang an Heideggers Existenzialien als Experientialien be-

194
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

zeichnen. Allerdings geht es hier nicht bloß darum, die ontologischen


Kategorien der metaphysischen Tradition durch die Kategorien – oder
Quasi-Kategorien – der Existenz (die »Existenzialien«) zu ergänzen.
Alles kommt vielmehr darauf an, die ontologischen Kategorien selbst –
vom Standpunkt der Urtatsache des Erscheinens aus – einer grundsätz-
lichen Revision zu unterziehen.

a. Weltwirklichkeit als Erfahrungskategorie

Diese Arbeit, die hier allerdings nur den Hauptlinien nach umrissen
werden kann, wird notwendig mit der Kategorie der Wirklichkeit be-
gonnen. Man erinnert sich, wie bereits Husserl zu der Einsicht gelangte,
dass die Wirklichkeit in ihrer faktischen Erkenntniskontingenz nicht
etwa auf Grund vorhergehender Möglichkeiten einsichtig wird, son-
dern vielmehr allen erkannten oder auch nur erwogenen Möglichkeiten
vorhergeht. Damit erreicht die Phänomenologie den Reflexionsstand
im Kategorienproblem, der beim späten Schelling aus Hegels metaphy-
sischer Logik zum ersten Mal herausführte. In der Philosophie der My-
thologie und der Offenbarung ist von einer Wirklichkeit die Rede, die
sich nicht durch das Denken vorwegnehmen, verfügbar machen und
vereinnahmen lässt; im Gegenteil, sie zwingt sich als etwas Unumgeh-
bares dem Denken auf. In der Geschichte der phänomenologischen Be-
wegung tritt uns dieser Wirklichkeitsbegriff in immer neueren Gestal-
ten entgegen. Mit Recht behauptet Karl Löwith in seinem Buch Von
Hegel zu Nietzsche: »Das Problem des Seins ist in der Gegenbewegung
zu Hegel schon bei Schelling an jenen Punkt gelangt, wo es Heidegger
wieder aufnahm.« 63 Aber auch in der französischen Phänomenologie
wird deutlich gesehen, dass sich die Wirklichkeit geradezu im Gegenzug
zu vorgefassten Möglichkeiten einstellt. Es genügt hier, auf Levinas
hinzuweisen, der die Gegenwart als »das ›Wirkliche‹« bestimmt, »das
dem Möglichen vorausgeht und es überrascht«. 64
Diese radikale Änderung im Verhältnis von Möglichkeit und
Wirklichkeit verwandelt die Konstellation der traditionellen Kategorien
von Grund auf. Schon deshalb, weil sie allen weiteren Grundbestim-

63
Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neun-
zehnten Jahrhunderts, Stuttgart: Kohlhammer 41958 [11941], S. 133.
64 Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 58; dt. S. 84.

195
Metaphysik zufälliger Faktizität

mungen der Wirklichkeit den Charakter von Dingkategorien nimmt.


Bereits von Hegel war der kategoriale Unterschied, der die Wirklichkeit
von der Existenz der Dinge trennt, hervorgehoben worden. In der phä-
nomenologischen Bewegung wurde dann von Eugen Fink die Behaup-
tung aufgestellt: »[…] Wirklichkeit ist primär eine Weltbestimmung,
ist der Charakter des ›Weltbodens‹, auf dem die Einzeldinge sich befin-
den – und kommt erst mittelbar und abgeleitet in gewisser Weise den
Dingen zu.« 65 Um diese Behauptung zu erhärten, greift Fink auf Hus-
serls Betrachtungen über die Modalisierbarkeit der Erfahrung zurück.
Aus diesen Betrachtungen geht deutlich hervor, wie jede Dingerfahrung
ständig durch Enttäuschungen bedroht bleibt, die sie in Frage stellen, in
zweifelhaftes Licht versetzen, als unwahrscheinlich erscheinen lassen,
ja sogar vollends durchkreuzen können. Es ist nicht schwer zu sagen,
woher diese grundsätzliche Modalisierbarkeit der Dingerfahrung
stammt. Sie ergibt sich daraus, dass jede Dingerfahrung vorgreifende
Auffassungen in sich schließt, die über das in ihr leibhaftig Gegebene
hinausgehen. In diesen vorgreifenden Auffassungen zeichnet sich ein
Gesamthorizont ab, dem sich das Einzelding einfügt und der in der
Phänomenologie ›Welt‹ heißt. Die so verstandene Welt meldet sich in
jeder Dingerfahrung gleichsam als unausdrücklich miterfahrener Über-
schuss an. Sie bekundet sich dabei als jeweils schon vorgegeben. Diese
Vorgegebenheit der Welt, die übrigens von Husserl in den letzten Jah-
ren seines langen Forscherlebens immer stärker betont wird 66, ermutigt
Fink dazu, die Welt im Gegensatz zu den Einzeldingen als das schlecht-
hin Unmodalisierbare zu bestimmen. 67 Er findet damit zu einer Formel
zurück, die bereits Husserl geläufig war. In späteren Forschungstexten
von Husserl wird in der Tat deutlich, dass zwar jede Einzelerfahrung
grundsätzlich in Frage gestellt, in Zweifel gezogen und in manchen Fäl-
len durch andere Einzelerfahrungen tatsächlich widerlegt, das heißt mit
einem Wort: auf mehrfache Weisen modalisiert werden kann, aber die
Welterfahrung als solche, die in jeder Einzelerfahrung mitgegeben ist,
»nicht modalisierbar« ist. 68

65
Eugen Fink, Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1959, S. 220.
66 Edmund Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale

Phänomenologie [Husserliana, Bd. VI], hg. von Walter Biemel, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1976, S. 112 f. und S. 145 f.
67
Fink, Alles und Nichts, S. 196.
68 Edmund Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer

196
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Eigentlich drückt sich in der Unmodalisierbarkeit der Welt – so


können wir behaupten – nur der notwendige Wirklichkeitsbezug aus,
der ein Wesensmerkmal der Erfahrung ist. Jede Erfahrung ist eine Be-
gegnung und Berührung mit der Wirklichkeit. Selbst als Sinnestäu-
schung unterscheidet sie sich von aller bloßen Phantasie. Wie Husserl
erkennt, ist ja die Sinnestäuschung ein Wahrnehmungsphänomen.
Auch als Enttäuschungserlebnis büßt die Erfahrung ihren Wirklich-
keitsbezug keineswegs ein. Schon deshalb nicht, weil kein Enttäu-
schungserlebnis alle vorhergehenden Erwartungen durchstreicht, viel-
mehr manche Erwartungen immer bestätigt. 69 Dazu kommt, dass in
einem Enttäuschungserlebnis meistens auch schon ein neuer Sinn von
Wirklichkeit greifbar wird, und wenn das nicht der Fall ist, so wird
dieser Mangel schmerzlich empfunden. Daher ist die Rede von einem
notwendigen Wirklichkeitsbezug der Erfahrung berechtigt. Es handelt
sich dabei jedoch um einen Wirklichkeitsbezug, der sich weniger auf die
so oder auch so erfassten Dinge als vielmehr nur auf die Welt selbst
richtet.
Allerdings geht Fink zu weit, wenn er die Welt deshalb als ein
›notwendiges Wesen‹ (ens necessarium) im Sinne eines unbedingten
Seienden kennzeichnet. 70 An diesem Punkt trennt er sich von Husserls
phänomenologischer Methode, die darin besteht, die Kategorialanalyse
ständig auf den Erfahrungsprozess zurückzubeziehen.

b. Kategorien als Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung

Mit dem gerade erwähnten methodischen Prinzip hängt ein weiterer


Konstellationswechsel der Kategorien zusammen. Es stellt sich heraus,
dass die Kategorien keineswegs etwa ein für allemal feststehende Seins-
momente oder Formbestimmungen der Dinge erfassen, sondern immer
nur Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung ausdrücken. Husserl hat
deutlich gezeigt, dass es sich mit der Kategorie der Welt so verhält. So
steht es aber auch mit allen anderen Kategorien. Das ist gerade der Sinn

Konstitution. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) [Husserliana, Bd. XXXIX], hg. von
Rochus Sowa, Dordrecht: Springer 2008, S. 246.
69
Siehe Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Tübingen: Niemeyer 1980, Bände
I-II/1–2, hier: Bd. II/2, S. 42.
70 Fink, Alles und Nichts, S. 239.

197
Metaphysik zufälliger Faktizität

der Rede von Experientialien. Allen Kategorien der Erfahrung kommt


eine Erkenntniskontingenz zu. Erst die Phänomenologie macht diese
Erkenntniskontingenz der Kategorien begreiflich, indem sie ein Licht
auf die Möglichkeit eines Widerstreits in der Erfahrung wirft. Es können
stets Erfahrungsdivergenzen, ja sogar Erfahrungsantagonismen auftre-
ten, weil sich das Ichsubjekt, wie Husserl sich an einer bereits zitierten
Stelle ausdrückte, in eine Vielheit spaltet. Es gibt daher nicht nur ver-
schiedene Standpunkte, von denen aus die jeweiligen Erfahrungen beur-
teilt werden, sondern es gibt sogar verschiedene Erfahrungsweisen, die
sich miteinander nicht ohne Weiteres vereinbaren lassen. Allgemeine
Strukturen, die sich beim Ich und dem Anderen im gleichen Sinne wie-
derfinden lassen, können deshalb keineswegs von vornherein unterstellt
werden. Sie können immer nur als Produkte faktischer Einstimmig-
keitstendenzen aufkommen, die ihrerseits stets mit einer wesenhaften
Zufälligkeit, einer unaufhebbaren Kontingenz behaftet bleiben.
Daraus ergibt sich zugleich der Schluss, dass die Phänomenologie
als eine andere ›Erste Philosophie‹ nicht im Sinne einer traditionellen
Ontologie genommen werden kann. Im Gegensatz zu Kants Ansicht
gehören die Kategorien der Erfahrung nach phänomenologischer Auf-
fassung nicht in den Bereich einer bestimmenden Urteilskraft. Als Ein-
stimmigkeitstendenzen der Erfahrung unterstehen sie vielmehr not-
wendig einer Urteilskraft, die sich auf die Suche nach ihnen begibt,
ohne sie als bereits vorhandene Grundzüge der Weltwirklichkeit vo-
rauszusetzen, und die man daher mit Kant eher als ›reflektierend‹ be-
schreiben könnte, allerdings ohne die Tätigkeit dieser reflektierenden
Urteilskraft auf den Bereich der Ästhetik und der Teleologie zu be-
schränken. Deshalb muss jedoch die phänomenologische Kategorial-
analyse von jeder traditionellen Ontologie abgesetzt werden.
Aus diesen Überlegungen lässt sich eine wichtige Einsicht ableiten,
die sich auf die Kategorie der Kausalität bezieht.

c. Hinweis auf die Kausalitätskategorie

Wir sind allzu sehr daran gewohnt, alle theoretischen Untersuchungen


dem Kausalitätsprinzip zu unterwerfen. In der Tat geht es in den empi-
rischen Wissenschaften darum, die Tatsachen durch kausale Erklärun-
gen miteinander zu verbinden; in manchen werden diese Erklärungen
allerdings auf eine funktionale oder strukturale Grundlage gestellt. Wie

198
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

wir gesehen haben, ist selbst die traditionelle Metaphysik darum be-
müht, die Urtatsachen durch eigenartige kausale Erklärungen auf hö-
here Ursachen zurückzuführen. Einzig und allein die Phänomenologie
zielt auf eine andersartige – nämlich deskriptive und erfahrungsanalyti-
sche – Verstehbarkeit ab. Sie bricht deshalb mit dem Streben nach kau-
saler Erklärung, weil sie das Erscheinende in seinem Erscheinen als ein
Ereignis begreift, das sich von selbst einstellt und dabei etwas Unvor-
hersehbares und Unerwartetes mit sich bringt. Ein derartiges Ereignis
macht aber nur in einem ausgezeichneten Fall deutlich, was es mit den
Ursachen überhaupt auf sich hat. Wir müssen nicht notwendig so weit
gehen, mit Heidegger und Fink ein ›Weltspiel‹ anzunehmen, das – wie
die Rose bei Angelus Silesius – ohne Warum ist, um behaupten zu
können, dass ein unvorhersehbares und unerwartetes Ereignis niemals
eine adäquate Ursache hat. 71 Wir können darunter mit dem hervor-
ragenden Historiker François Furet einfach den Satz verstehen: »Je fol-
genreicher ein Ereignis ist, desto weniger ist es möglich, es im Ausgang
von seinen Ursachen zu denken.« 72 Es gehört zur Begriffsbestimmung
des Ereignisses, dass in ihm etwas Neues von selbst aufkommt. Dieses
Von-sich-selbst-Sein – Aseität – des Ereignisses hat aber zur Folge, dass
immer nur im Ausgang von den Wirkungen nach den Ursachen gesucht
und geforscht werden kann. Die Suche nach den Ursachen bleibt eine
Angelegenheit der reflektierenden Urteilskraft, die vom Besonderen
und Bedingten ausgeht, um das Allgemeine und das Unbedingte aus-
findig zu machen. Diese Gangrichtung lässt sich zwar innerhalb einzel-
ner Teilbereiche umkehren. Im Ganzen all dieser Teilbereiche ist jedoch
eine derartige Umkehrung der Gangrichtung, wie bereits Kant gezeigt
hat, nicht möglich.
Deshalb kann den vielfältigen Versuchen, aus ersten Ursachen die
Urtatsachen abzuleiten, die jede phänomenologisch begründete Unter-
suchung bedingen, der Charakter ›metaphysischer Abenteuer‹ und
›spekulativer Überschwenglichkeiten‹ niemals abgestreift werden. Da-
raus ersieht man, in welchem Sinne die traditionelle Metaphysik mit
Husserl als eine phänomenologisch ›naive‹ Metaphysik beschrieben
werden kann. Nur eine phänomenologisch ›naive‹ Metaphysik kann
den Anspruch erheben, das Seiende als Seiendes kategorial zu erfassen.

71
Vgl. Marion, Étant donné, S. 235.
72
François Furet, Le passé d’une illusion, Paris: Robert Laffont et Calmann-Lévy 1995,
S. 49. Zitiert auch von Marion; siehe Étant donné, S. 236.

199
Metaphysik zufälliger Faktizität

Die Phänomenologie als eine ›Erste Philosophie‹ stellt diesen Anspruch


der traditionellen Metaphysik grundsätzlich in Frage. Sie kann ebendes-
halb nur dann rechtmäßig als eine ›Metaphysik zufälliger Faktizität‹
bezeichnet werden, wenn man darunter nicht mehr eine Metaphysik
im gewohnten Sinne versteht.
Wie steht es aber mit dem transzendentalen Idealismus, dem Hus-
serls Phänomenologie stets verpflichtet bleibt? Handelt es sich dabei
nicht etwa um einen Standpunkt traditioneller Metaphysik? Diese Fra-
ge kann heute auf Grund neu herausgegebener Texte erwogen werden.

4. Der methodologische Transzendentalismus


der Phänomenologie

Im ersten Band seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phä-


nomenologischen Philosophie fasste Husserl das Gesamtergebnis der
transzendentalphänomenologischen Reduktion dahingehend zusam-
men, dass für die Phänomenologie Realität und Welt »Titel für gewisse
gültige Sinneseinheiten« sind. 73 Damit machte er deutlich, dass die Phä-
nomenologie die Welt und die Wirklichkeit nicht als ein feststehendes
Ganzes von Dingen oder Tatsachen, sondern als einen Zusammenhang
von Sinnbeständen versteht, die ihrerseits ständig im Fluss bleiben. Zu-
gleich führte er jedoch diese Sinnbestände auf eine Sinngebung durch
das intentionale Bewusstsein zurück. 74 Dabei hob er dieses Bewusstsein
von den Dingen der Welt aufs Schärfste ab, indem er es ihnen als eine
für sich geschlossene Region absoluten Seins gegenüberstellte.
Angesichts dieser Deutung der transzendentalphänomenologi-
schen Reduktion hat man seit dem Erscheinen des ersten Bandes der
Ideen im Jahre 1913 immer wieder von einer subjektivistischen und
idealistischen Wende der Husserl’schen Phänomenologie gesprochen.
In einem Vorlesungstext, dessen erste Hälfte einer Auseinandersetzung
mit Husserls Phänomenologie gewidmet ist, diagnostiziert etwa Hei-
degger – um nur ihn zu nennen – im ersten Band der Ideen einen »Vor-
rang der Subjektivität vor jeder Objektivität«, und er entdeckt hier »die
Stelle, wo der Idealismus und die idealistische Fragestellung, genauer

73
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch, [Husserliana, Bd. III/1], S. 120.
74 Ebd.

200
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

der Idealismus im Sinne des Neukantianismus, in die Phänomenologie


hereinbricht«. 75
Heute wissen wir allerdings schon, dass es sich dabei keineswegs
etwa um eine plötzliche und unvorhersehbare Wende von nur vorüber-
gehender Bedeutung handelt. Aus dem Band XXXVI der Husserliana-
Reihe geht deutlich hervor, dass Husserl sich nicht erst seit 1912 oder
1913, sondern bereits seit 1908 zum transzendentalen Idealismus be-
kannte. Andererseits heißt es in Husserls »Nachwort« zum ersten Band
seiner Ideen, einem Text, der aus dem Jahre 1930 stammt: »Ich darf hier
[…] nicht versäumen, ausdrücklich zu erklären, dass ich hinsichtlich des
transzendentalphänomenologischen Idealismus durchaus nichts zu-
rückzunehmen habe […].« 76 Die nahezu gleichzeitig entworfenen Car-
tesianischen Meditationen sind in vollem Einklang mit dieser Stellung-
nahme zum transzendentalphänomenologischen Idealismus.
Erst neuerdings ist aber klar geworden, dass Husserl nicht immer
dieselben Argumente für den transzendentalphänomenologischen Idea-
lismus anführt wie im ersten Band seiner Ideen und darunter auch nicht
immer genau dasselbe versteht wie in diesem Werk. In einem Text, der
für die folgenden Untersuchungen richtungweisend war, spricht Rudolf
Bernet geradezu davon, dass »sich Husserls Interesse« in den vor kur-
zem veröffentlichten Entwürfe[n] zur Umarbeitung der VI. Logischen
Untersuchung aus dem Jahre 1913 77 im Verhältnis zu dem ein Jahr frü-
her verfassten ersten Band der Ideen deutlich »verlagert« und dass diese
Verlagerung des Interesses in der veränderten Fassung der VI. Logi-
schen Untersuchung eine »neue Meditation über den Sinn des phäno-
menologischen Idealismus« ermöglicht, 78 die nicht nur »genauer« sei
als der entsprechende Gedankengang im ersten Band der Ideen, sondern

75
Martin Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs [Gesamtausgabe,
Bd. 20], Marburger Vorlesung, Sommersemester 1925, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt
am Main: Klostermann 1979, S. 145.
76
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Drittes Buch [Husserliana, Bd. V], hg. von Marly Biemel, Den Haag: Mar-
tinus Nijhoff 1971.
77
Edmund Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe
zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logi-
schen Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], hg. von Ullrich Melle,
Dordrecht, Boston und London: Kluwer 2002.
78
Rudolf Bernet, Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques, Paris: PUF
2004, Kap. V, S. 143–168, hier: S. 147.

201
Metaphysik zufälliger Faktizität

auch »weniger problematisch«. 79 Diejenigen Vorlesungstexte und For-


schungsmanuskripte, die aus der Periode 1914–18 im Band XXXVI der
Husserliana-Reihe veröffentlicht wurden, bestätigen im Wesentlichen
diesen Eindruck, selbst wenn in ihnen die beiden Argumentations-
weisen gelegentlich nebeneinander bestehen bleiben. Die Hauptrolle
kommt in ihnen einem – wie Husserl selbst ihn nennt – »Beweis« des
transzendentalen Idealismus zu, der auf Überlegungen aus dem Jahr
1908 zurückgeht und in der Umarbeitung der VI Logischen Unter-
suchung erneut dargelegt wird. Die Texte Nr. 5 bis 8 aus dem Band
XXXVI der Husserliana-Reihe verdienen deshalb eine besondere Be-
achtung, weil sie – und unter ihnen vor allem der Text Nr. 7 – aus
diesem Beweis Konsequenzen ziehen, die sogar die Frage aufwerfen,
ob es richtig ist, den methodologischen Transzendentalismus der Phä-
nomenologie, dem Husserl in diesen Texten einen besonders deutlichen
Ausdruck gibt, als einen (transzendentalen) Idealismus zu bezeichnen.
Die folgenden Untersuchungen haben die Aufgabe, diese Frage als
Frage zu exponieren. Es wird dabei in drei Schritten vorgegangen. Ers-
tens soll Husserls Beweis des transzendentalen Idealismus vom entspre-
chenden Gedankengang im ersten Band der Ideen abgehoben werden.
Zweitens gilt es, ihn in seinem inneren Aufbau zu erfassen. Drittens
können dann diejenigen Konsequenzen des Arguments behandelt wer-
den, die Zweifel darüber aufkommen lassen, ob sich der methodologi-
sche Transzendentalismus der Phänomenologie notwendig mit dem
Standpunkt eines Idealismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes ver-
bindet.

a. Zwei Argumente für den transzendentalen Idealismus

Die »phänomenologische Fundamentalbetrachtung« im ersten Band der


Ideen läuft darauf hinaus, einen ontologisch angelegten Wesensunter-
schied zwischen »Sein als Erlebnis« und »Sein als Ding« zu etablieren. 80
Der Wesensunterschied, den Husserl im Auge hat, ergibt sich daraus,
dass ein (raumzeitliches) Ding immer nur Gegenstand einer »transzen-
denten Wahrnehmung« sein kann, ein Erlebnis dagegen in »immanen-

79
Ebd., S. 146.
80
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], S. 87.

202
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

ter Wahrnehmung« erfasst wird. 81 Als »immanent« wird die letztere


Wahrnehmung deshalb bezeichnet, weil sie ein Erlebnis intentional
zum Gegenstand macht, mit dem sie in ein und demselben Erlebnis-
strom zusammengehört, so dass ihr intentionaler Gegenstand in ihr
zugleich reell beschlossen ist, ihr also reell einwohnt (gerade dieses
»Einwohnen« ist hier mit »Immanenz« gemeint). 82 Zwar ist auch ein
(raumzeitliches) Ding in der Wahrnehmung, die sich auf es bezieht
und es tatsächlich erfasst, selbst gegenwärtig und sogar leibhaftig gege-
ben. 83 Aber niemals wird es als es selbst, vollständig und allseitig, wahr-
genommen; vielmehr erscheint es in der Wahrnehmung immer nur
unter einem seiner Aspekte. Es wird also nur fassbar, indem es sich in
einem bestimmten Anblick darstellt oder, wie Husserl sagt, indem es
sich »abschattet«. 84 Damit ist der grundlegende Unterschied zwischen
»Sein als Erlebnis« und »Sein als Ding« bereits genau bezeichnet, wenn
anders der Satz zu Recht besteht: »Ein Erlebnis schattet sich nicht ab.« 85
Hier entsteht leicht der Eindruck, als sei mit transzendenter Wahr-
nehmung einfach eine ihren Gegenstand nicht vollständig und allseitig
erfassende, in diesem Sinne also inadäquate Wahrnehmung gemeint.
Dieser Eindruck ist jedoch trügerisch. Husserl betont: »Auch ein Erleb-
nis ist nicht, und niemals, vollständig wahrgenommen, in seiner vollen
Einheit ist es adäquat nicht fassbar.« 86
Dass sich ein Ding – im Gegensatz zum Erlebnis – immer abschat-
tet, hat jedoch zur Folge, dass jeder Dingwahrnehmung ein präsumtiver
Charakter zukommt. Eine Dingwahrnehmung spricht zwar eindeutig
für die tatsächliche Existenz des wahrgenommenen Dinges, aber sie
kann nicht ausschließen, dass neu aufkommende Wahrnehmungen die
einmal schon angenommene Existenz des Dinges im Nachhinein durch-
streichen. Daraus folgt etwas Wichtiges: »Dingliche Existenz ist nie eine
durch die Gegebenheit als notwendig geforderte, sondern in gewisser
Art immer zufällige.« 87 Transzendente Wahrnehmung ist immer seins-
setzend, aber sie setzt stets nur zufälliges Sein. Anders steht es mit der
immanenten Wahrnehmung: Sie verbürgt das reelle Sein ihres inten-

81
Ebd.
82
Ebd., S. 78 f.
83 Ebd., S. 81.
84
Ebd., S. 84 f.
85
Ebd., S. 88.
86
Ebd., S. 93.
87 Ebd., S. 97.

203
Metaphysik zufälliger Faktizität

tionalen Gegenstandes; sie macht die reelle Existenz dieses Gegenstan-


des zu einer notwendigen. 88
So leitet die Unterscheidung zwischen transzendenter und imma-
nenter Wahrnehmung im ersten Band von Husserls Ideen zu einer Ge-
genüberstellung von zufälliger und notwendiger Existenz hin. Von hier
aus ist es dann nur noch ein weiterer Schritt zur Schlussfolgerung, dass
dingliche Existenz immer relativ auf das seinerseits durchaus absolute
Sein des sich auf sie intentional beziehenden Erlebnisses sei und dass
das reine Bewusstsein daher als »ein für sich geschlossener Seins-
zusammenhang« zu gelten habe. 89 Damit ist die Region des reinen Be-
wusstseins von der Welt transzendenter (raumzeitlicher) Dinge abge-
sondert, ja abgekapselt. Wie es im berühmten – oder vielmehr
berüchtigten – § 49 der Ideen I heißt, wird diese Region nicht einmal
von einer Vernichtung der Welt in ihrer Existenz berührt. 90 Husserl
folgert daraus: »Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne
absolutes Sein, dass es prinzipiell nulla »re« indiget ad existendum.« 91
Er setzt hinzu, dass »die Welt der transzendenten »res« durchaus auf
Bewusstsein, und zwar nicht auf logisch erdachtes, sondern aktuelles
angewiesen [ist]«. 92
Diese beiden Sätze bestimmen im ersten Band der Ideen den Sinn
des transzendentalphänomenologischen Idealismus. Man wird un-
schwer auf das cartesianische Gepräge des Arguments aufmerksam,
das zur Begründung der angeführten Sätze dient. Das Problematische
an diesem Argument ist aber weniger sein cartesianisches Gepräge als
vielmehr die Tatsache, dass es dem Faktizitätscharakter des cartesia-
nischen Cogito nicht gerecht wird. Husserl erkennt ja gerade im ersten
Band der Ideen, dass dem Cogito lediglich die »Notwendigkeit eines
Faktums« zukommt, die sich von jeder »pure[n] Wesensnotwendigkeit«
grundsätzlich unterscheidet. 93 Ist jedoch diese bloß faktische Notwen-
digkeit, die mit ›Urzufälligem‹ behaftet ist, tragfähig genug, um die
ganze Last einer ontologischen Gegenüberstellung von zufälliger und
notwendiger Existenz auf sich zu nehmen?
Der Beweis des transzendentalen Idealismus, der in den im Band

88
Ebd., S. 98.
89 Ebd., S. 105.
90
Ebd., S. 104.
91
Ebd.
92
Ebd.
93 Ebd., S. 98.

204
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

XXXVI der Husserliana-Reihe versammelten Texten immer wieder zur


Sprache gebracht wird, kann vor allem deshalb ein Interesse wecken,
weil er der Einsicht in die faktische Notwendigkeit des Cogito viel bes-
ser Rechnung zu tragen vermag als das im ersten Band der Ideen ent-
wickelte Argument. Dieser Beweis setzt den transzendentalen Idealis-
mus nicht mehr mit der Behauptung einer einseitigen Angewiesenheit
des Transzendenten auf ein Immanentes gleich. Er stützt sich vielmehr
auf die ganz anders geartete Unterscheidung zwischen idealer und rea-
ler Möglichkeit, die eher an Leibniz als an Descartes gemahnt. Er ist auf
einen besonderen Zusammenhang zwischen realer Existenz und aktu-
ellem Bewusstsein zugespitzt, der sich von einer allgemeinen Korrelati-
on möglicher Gegenstände und entsprechender Bewusstseinsweisen
wesenhaft unterscheidet. Es handelt sich, wie die Herausgeber des Ban-
des XXXVI der Husserliana-Reihe sagen, um eine »spezielle These« des
transzendentalen Idealismus, die darauf abzielt, die Abhängigkeit realer
Existenz von einem aktuellen, wirklichen, das heißt faktisch existieren-
den Bewusstsein zu erweisen.

b. Der Aufbau des Beweises des transzendentalen Idealismus

Husserl geht davon aus, dass Sein, phänomenologisch betrachtet, Aus-


weisbarkeit bedeutet. Unter Ausweisbarkeit versteht er dabei einen
Zusammenhang mit der Anschauung. Es heißt etwa im Text Nr. 5 aus
dem Band XXXVI der Husserliana-Reihe: »Was ist, muss sich zur
Gegebenheit bringen lassen; jeder mögliche Gegenstand […] hat als
Korrelat eine mögliche Anschauung […].« 94 Dieses »Prinzip der Aus-
weisbarkeit« ist eine nicht weiter begründete Prämisse von Husserls
Gedankengang. Allerdings ist es, so könnte man meinen, auch nicht
begründungsbedürftig, da es sich aus den Grundüberzeugungen der
Phänomenologie unmittelbar ergibt. Eine Leerintention ohne anschau-
lichen Gehalt hat zwar Sinn oder Bedeutung, aber sie kann ihrem inten-
tionalen Gegenstand für sich allein kein Sein zusichern. Nur die Erfül-
lung dieser Leerintention durch eine – wie nicht nur Kant, sondern in

94
Edmund Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921)
[Husserliana, Bd. XXXVI], hg. von Robin D. Rollinger in Verbindung mit Rochus Sowa,
Dordrecht, Boston und London: Kluwer 2003, S. 73.

205
Metaphysik zufälliger Faktizität

den Logischen Untersuchungen auch Husserl sagt – »korrespondieren-


de Anschauung« kann die Existenz dieses Gegenstandes verbürgen.
Husserls Beweis des transzendentalen Idealismus beginnt aber erst
dadurch eine bestimmtere Gestalt anzunehmen, dass nicht mehr über-
haupt nur die Korrelation zwischen einem möglichen Gegenstand und
einer möglichen Anschauung betrachtet wird, sondern dabei zugleich
auf den Unterschied zwischen idealer und realer Möglichkeit der Aus-
weisung eingegangen wird. In seiner Anwendung auf die reale Existenz
raumzeitlicher Dinge ist das Prinzip der Ausweisbarkeit keineswegs so
selbstverständlich wie in seiner allgemeinen Formulierung. Gerade aus
diesem Unterschied erwächst die »spezielle These« des transzendenta-
len Idealismus. Um dies deutlich zu machen, müssen wir uns den Un-
terschied zwischen idealer und realer Möglichkeit der Ausweisung ver-
gegenwärtigen.
Bei idealen Gegenständen, so etwa bei Zahlen oder geometrischen
Figuren kommt nur eine ideale Möglichkeit der Ausweisung in Be-
tracht, die aber auch schon die Wirklichkeit, das ideale Sein, derartiger
Gegenstände verbürgt. Daraus folgt jedoch: »Die mathematische Exis-
tenz von Zahlen, Mannigfaltigkeiten etc. fordert mit der idealen Mög-
lichkeit der einsichtigen Ausweisung nicht die wirkliche Existenz eines
Bewusstseins, das unmittelbar oder mittelbar auf Mathematisches bezo-
gen oder zu beziehen ist.« 95
Das Gleiche gilt für die Gegenstände der Phantasie. Im Text Nr. 5
aus dem Band XXXVI der Husserliana-Reihe führt Husserl das Beispiel
eines Zentauren an, den ich mir frei vorstelle; im Text Nr. 6 ist auf ähn-
liche Weise von einer Nixe die Rede. 96 Unstreitig unterscheiden sich
solche Phantasiegebilde wesenhaft von den idealen Gegenständen. Im
Gegensatz zu den Zahlen und den geometrischen Figuren sind sie nicht
eidetisch-allgemeine, sondern individuelle Gegenstände, die sich in der
Vorstellung genauso abschatten wie die raumzeitlichen Dinge in der
Wirklichkeit. Daher erkenne ich z. B. die Möglichkeit eines Zentauren,
»indem ich in der Phantasie fingierende Anschauungen einstimmig
vollziehe; ich gehe in der Phantasie näher an ihn heran, sehe ihn mir
in der Phantasie von allen Seiten an, betaste ihn, erprobe sein Dasein in
jeder Weise usw.« 97 Gewiss unterstellen derartige Erkundungen in der

95
Ebd., S. 74.
96
Ebd., S. 113.
97 Ebd., S. 75.

206
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Phantasie, wie aus manchen Texten aus dem Band XXIII der Husserlia-
na-Reihe hervorgeht, ein Phantasie-Ich mit Phantasieleib; gleichwohl
setzen sie kein aktuelles Bewusstsein und kein wirkliches Ich voraus.
Denn das Phantasie-Ich ist nicht identisch mit dem wirklichen Ich. An-
hand des Beispiels mit der Nixe wird das besonders deutlich gezeigt:
Mir, »dem jetzt aktuell lebendigen, in diesem Zimmer seienden Ich« –
sagt Husserl – »steht z. B. die fingierte Nixe nicht wirklich gegenüber;
mir, diesem faktischen Ich, wendet sie nicht ihr liebliches Gesicht und
dann stolz den Rücken zu usw. Was sich mir, dem faktischen Ich, zu-
wendet, sich von Seiten, in Orientierungen darstellt, das sind die wirk-
lichen Dinge meiner wirklichen Umgebung. Aber könnte man sagen:
›Ich bin insofern dabei, als ich mich in den Phantasieraum, in die Phan-
tasielandschaft, in der die Phantasienixe sich zeigt, hineinphantasiere?‹
Das mag sein. Aber damit gebe ich meine aktuelle Existenz auf und bin
nicht mehr wirkliches Ich.« 98 Husserl stützt sich in diesem Gedanken-
gang offensichtlich auf seine Einsicht in den Widerstreit zwischen
Wahrnehmung und Phantasie, wie er sie bereits in seiner Vorlesung
von 1904/05 über »Phantasie und Bildbewusstsein« dargelegt hat. Aus
diesem Widerstreit zieht er den Schluss, dass die sich abschattenden
Phantasiegegenstände ein Ich voraussetzen, das mit dem wirklichen
Ich nicht identisch ist.
Die Analyse der Phantasie gehört deshalb wesensmäßig zum Hus-
serl’schen Beweis des transzendentalen Idealismus, weil sie deutlich
macht, dass im Reich idealer Möglichkeiten gleichwertige Einstimmig-
keitssysteme nebeneinander bestehen können, ohne dass dabei eines
dieser Systeme vor den anderen ausgezeichnet werden könnte. Ideale
Möglichkeiten sind gleich möglich, selbst wenn sie einander ausschlie-
ßen. 99 Anders verhält es sich mit der realen Möglichkeit: Sie schließt
alle Einstimmigkeitssysteme aus, die mit ihr nicht zusammenbestehen
können. Sie kann daher als die Realisierung einer idealen Möglichkeit
unter Hintansetzung aller anderen aufgefasst werden. Was bestimmt
jedoch, welche der idealen Möglichkeiten als »realisiert« angesehen
werden muss?
Diese Frage leitet uns von den Phantasiegegenständen zu den real
existierenden Dingen hinüber. Denn es gibt nach Husserl letztlich nur
eine Antwort auf sie: Das Ding, wie es an sich selbst, vollständig und

98
Ebd., S. 113.
99 Ebd., S. 75.

207
Metaphysik zufälliger Faktizität

allseitig, bestimmt ist, gibt uns gleichsam die Richtschnur an die Hand,
mit der wir aus der Gesamtheit ideal gleich möglicher Einstimmigkeits-
systeme das einzige Einstimmigkeitssystem auswählen können, das mit
diesem Ding als realisiert zu gelten hat. Der Sinn dieser Antwort kann
leicht verdeutlicht werden: Wäre der Zentaur kein Phantasiegebilde,
sondern ein real existierendes Wesen, so wäre die Frage nach seiner
Haarfarbe wie auch nach seiner Ein- oder Zweiäugigkeit an sich immer
schon entschieden.
Allerdings taucht hier sofort ein Einwand auf: Wie davon die Rede
war, zeigt sich uns ein real existierendes Ding gerade niemals so, wie es
an sich selbst, vollständig und allseitig, bestimmt ist, sondern es schattet
sich ab, das heißt es stellt sich in verschiedenen Anblicken dar, und es
erscheint dabei immer nur unter einem seiner Aspekte. Nach Husserl
ändert diese Tatsache jedoch nichts daran, dass die vollständige und all-
seitige, in diesem Sinne adäquate, Gegebenheit des Dinges eine Idee im
Kant’schen Sinn ist, der in unserer Erfahrung durchaus eine regulative
Funktion zukommt. Zu dieser Idee gehört aber auch die Überzeugung,
dass das Ding an sich selbst vollständig und allseitig bestimmt ist.
Bekanntlich bringt Husserl das Ding an sich als Idee im Kant’schen
Sinn auch im ersten Band der Ideen zur Sprache. Es handelt sich dabei
um die Idee einer allseitig unendlichen Abschattungsmannigfaltigkeit,
die als ein bestimmtes Einstimmigkeitssystem zum jeweiligen Ding in
seiner – letztlich einmaligen und unwiederholbaren – Einzelexistenz
gehört. Zu Recht weist Rudolf Bernet darauf hin, dass eine Idee im
Kant’schen Sinne kein Eidos, also kein allgemeines Wesen ist, sondern
die Idee eines Einzeldinges. 100 Nicht allein die Entwürfe zur Umarbei-
tung der VI. Logischen Untersuchung, sondern auch die im Band
XXXVI der Husserliana-Reihe versammelten Texte bestätigen diese
Unterscheidung zwischen Eidos und Idee im Kant’schen Sinn. So sagt
Husserl etwa Folgendes: »[…] die Existenz des Dinges ist für das aktu-
elle Bewusstsein immerfort eine Idee, aber eine Idee nicht im Sinn eines
rein idealen Seins, wie einer Zahl, einer Spezies, sondern eine Idee (eine
mehrdimensionale) im Kant’schen Sinn […].« 101
Dass die Einzelexistenz eines realen Dinges eine Idee im
Kant’schen Sinn ist, kann geradezu als der Kerngedanke von Husserls

100
Bernet, Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques, S. 161.
101
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Hus-
serliana, Bd. XXXVI], S. 77.

208
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

Beweis des transzendentalen Idealismus angesehen werden – zu-


mindest in der Gestalt, die er in den Jahren 1914–18 annimmt. Denn
aus diesem Gedanken folgt bereits, dass ein real existierendes Ding
nicht bloß ein ideal mögliches, sondern ein aktuelles, wirkliches, fak-
tisch existierendes Bewusstsein voraussetzt. Wie Husserl selbst sagt,
»schreibt die Idee der Existenz eines Dinges vor, dass ein wirklich er-
fahrendes Bewusstsein ist […]«. 102 Dieser Zusammenhang ergibt sich
daraus, dass die Idee der Einzelexistenz eines realen Dinges für Husserl
die Idee eines allseitig unendlichen Einstimmigkeitssystems ist, das nur
dann als eindeutig bestimmt angesehen werden kann, wenn es durch
den Gang wirklicher Erfahrung vorgezeichnet ist. Denn nur eine wirk-
liche, faktisch gemachte Erfahrung zeichnet »reale Motivationsmög-
lichkeiten« 103 vor, aus denen ein unendliches Einstimmigkeitssystem
erwachsen kann.
Damit dürfte das Grundgerüst von Husserls Beweis des transzen-
dentalen Idealismus deutlich geworden sein. Es geht dabei um den Er-
weis einer Abhängigkeit dinglicher Existenz von einem aktuellen, wirk-
lichen, faktisch existierenden Bewusstsein. Der Nerv des Beweises ist
keineswegs etwa das allgemeine Prinzip der Ausweisbarkeit, sondern
die Konkretisierung dieses Prinzips durch den Gedanken, dass die reale
Existenz eines Dinges eine Idee im Kant’schen Sinn ist – eine »regula-
tive Idee«, die sich ihrerseits nur in einem unendlichen Fortgang fak-
tisch gemachter Erfahrungen einlösen lässt. Damit wird das wirklich
erfahrende Bewusstsein als ein Urfaktum herausgestellt, das alle Reali-
tät bedingt.

c. Methodologischer Transzendentalismus und


transzendentaler Idealismus

Neben dem Beweis des transzendentalen Idealismus, der soeben zusam-


mengefasst wurde, bleiben manche Überbleibsel der Argumentations-
weise des ersten Bandes der Ideen in den Vorlesungstexten und For-
schungsmanuskripten aus den Jahren 1914–1918 bestehen. So heißt es
etwa im Text Nr. 6: »Das Sein des Bewusstseins ist prinzipiell undurch-

102
Ebd.
103 Ebd.

209
Metaphysik zufälliger Faktizität

streichbar. Es ist notwendiges Sein. Das Sein der Welt ist zufällig, es ist
so, dass überhaupt keine Welt sein müsste.« 104
Gleichzeitig kommen aber auch ganz neue Gesichtspunkte auf.
Aus dem Beweis des transzendentalen Idealismus werden immer mehr
Konsequenzen gezogen, die einerseits die Leiblichkeit, andererseits die
Intersubjektivität betreffen. Einerseits wählt Husserl schon im Text 6
zum Ausdruck des transzendentalen Idealismus der Phänomenologie
eine Formel, die ein inkarniertes Bewusstsein impliziert: »Jedes Ding
liegt a priori in der Umgebung eines aktuellen Ich.« 105 Das Wort »Um-
gebung« deutet an, dass die raumzeitlichen Dinge ein Ich voraussetzen,
das im Orientierungszentrum seiner Umwelt steht und ebendeshalb
leiblich bestimmt sein muss. Andererseits verweist die grundsätzlich
ins Unendliche fortschreitende Erfahrungserkenntnis der Welt, auf die
eine Idee im Kant’schen Sinn als regulative Idee hindeutet, von vorn-
herein auf eine intersubjektive Erkenntnisgemeinschaft. Beide Kon-
sequenzen, die sich übrigens bereits in den Entwürfen zur Umarbei-
tung der VI. Logischen Untersuchung anmelden, werden im Text
Nr. 7, der aus dem Jahre 1914 oder 1915 stammt, neu behandelt. 106
Husserl begnügt sich hier jedoch auch nicht damit, die beiden Ge-
sichtspunkte der Leiblichkeit und der Intersubjektivität geltend zu
machen. Er geht noch weiter, indem er den Sinn des transzendental-
phänomenologischen Idealismus in ein ganz neues Licht stellt. »Das
geforderte wirklich existierende Subjekt der Erkenntnis ist nicht gefor-
dert als aktuell erkennendes […]« – behauptet er zunächst, aber diese
Behauptung ist noch nicht besonders überraschend. Von großer Trag-
weite ist dagegen, was hinzugesetzt wird: »Es ist auch nicht gefordert
ein solches Subjekt für die ganze unendliche Zeit des Weltdaseins.« 107
Husserl führt diesen Gedanken auf folgende Weise aus: »Eine bloß
materielle Welt als Unterstufe und als Anfangsstrecke der Dauer der
Welt genügt den Bedingungen der Erkennbarkeit, wenn eine Subjekti-
vität existiert, die vernunftgemäß durch Erfahrung und Denken diese
Welt konstituiert, die seine gegenwärtige Umwelt ist, und dann ver-
nunftgemäß rückwärts konstituieren kann die vorangegangenen Welt-

104
Ebd., S. 111; vgl. S. 124: »Die Welt braucht eben nicht zu sein.«
105
Ebd., S. 114.
106
Ebd., S. 132–140.
107 Ebd., S. 140.

210
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

strecken, und sei es auch (darunter) eine Strecke bloß materieller


Natur.« 108
Man könnte meinen, es gehe hier eigentlich nicht um die trans-
zendentale Subjektivität, sondern eben nur um immer schon als Men-
schen apperzipierte Subjekte. Auch der Gesamtkontext des Forschungs-
manuskriptes Nr. 7 gibt Anlass zu dieser Vermutung, da das Grundthe-
ma der Betrachtungen hier, wie Husserl im Vorhinein sagt, »leibliche
Subjektivität, menschliche« ist. 109 Im Einklang mit dieser Themenbe-
zeichnung nennt Husserl an einer Stelle tatsächlich eine »vormensch-
liche Vergangenheit der Natur«. 110 Indes deutet die im angeführten Text
mit Nachdruck erwähnte Idee einer rückwärts laufenden Konstitution
unmissverständlich darauf hin, dass es sich im ganzen Gedankengang
doch schon um die transzendentale Subjektivität handelt. Für dieses
Verständnis spricht auch der Umstand, dass der Beweis des transzen-
dentalen Idealismus die reale Existenz der Dinge seiner Natur nach
nicht etwa von der menschlichen, sondern der transzendentalen Sub-
jektivität abhängig macht.
Gewiss ist die Idee einer rückläufigen Konstitution alles andere als
selbstverständlich. Kann eine Welt, die im Sinne der Phänomenologie
notwendig eine konstituierte ist, existieren, »auch wenn die Konstitu-
tion keine aktuelle ist«? 111 Den Überlegungen, die Husserl zu dieser
Frage anstellt, kommt unleugbar ein mehr oder weniger experimentie-
render Charakter zu. Gleichwohl zeichnet sich in ihnen am Ende eine
Antwort ab, die den Gedanken einer rückläufigen Konstitution bestätigt
und bekräftigt. Es heißt: »Eine Welt ohne Subjekte, die wirklich sie
erfahren (räumlich-zeitlich-kausale Anschauung haben), ist nur denk-
bar als Vergangenheit einer Welt mit solchen Subjekten.« 112 Gemeint
ist dabei offenbar eine Vergangenheit, die von diesen Subjekten »rück-
wärts konstituiert« wird.
Der Gedanke einer rückläufigen Konstitution bestimmt einen An-
satz, den man am besten als methodologischen Transzendentalismus
kennzeichnen könnte. Dieser Ansatz gründet sich auf das Urfaktum
des Bewusstseins und erwägt die Frage nach realem Sein und dinglicher

108 Ebd., S. 141.


109
Ebd., S. 132.
110
Ebd., S. 143.
111
Ebd., S. 141.
112 Ebd., S. 144, Anm. 2.

211
Metaphysik zufälliger Faktizität

Existenz vom Gesichtspunkt intentionaler Konstitution aus. Deshalb ist


er einem naiven Realismus ebenso entgegengesetzt wie einem dogma-
tischen Materialismus oder Naturalismus. Das schließt jedoch nicht aus,
dass von dem Gesichtspunkt intentionaler Konstitution aus zugleich
eine »Unterstufe« der Realität entdeckt wird, die ihrerseits existiert,
auch wenn die Konstitution keine aktuelle ist, und die ebendeshalb nur
Gegenstand einer rückläufigen Konstitution sein kann.
Es fragt sich, ob dieser rein methodologische Transzendentalismus,
zu dem sich Husserl im Text Nr. 7 aus dem Band XXXVI der Husserlia-
na-Reihe durchringt, noch als ein Idealismus im gewohnten Sinne des
Wortes verstanden werden kann. Einerseits hält zwar Husserl an dem
Gedanken, dass die reale Existenz der Dinge ein aktuelles Bewusstsein
voraussetzt, nach wie vor fest. Andererseits kommt er jedoch zu der
Einsicht, dass es durchaus eine »Unterstufe« der Welt geben kann, die
ihrerseits existiert, auch wenn die Konstitution keine aktuelle ist. Damit
fasst er eine Realität ins Auge, die sich im Bewusstsein selbst als be-
wusstseinsunabhängig erweist. Alles hat den Anschein, als zeigte hier
eine vertiefte Analyse des Urfaktums »Bewusstsein«, wie das Bewusst-
sein über sich hinaus auf Bewusstseinsunabhängiges verweist.
Man dürfte dieses Ergebnis als eine gleichzeitige Überwindung
von Idealismus und Realismus wie auch von Subjektivismus und Natu-
ralismus verstehen. Der Streit zwischen derartigen Standpunkten bleibt
ein Weltanschauungskampf, von dem politische Grundsatzentschei-
dungen und religiöse Orientierungen sicherlich tief betroffen sind, mit
dem aber eine methodologisch wohlbesonnene Arbeitsphilosophie
letztlich nichts zu tun hat. Der methodologische Transzendentalismus
der Phänomenologie unterscheidet sich gerade deshalb grundsätzlich
von jedem traditionellen Idealismus, weil er sich gar nicht als eine Stel-
lungnahme zu den Weltanschauungsfragen »Idealismus oder Realis-
mus«, »Subjektivismus oder Naturalismus« verstehen lässt. Daher ist
es aber auch sinnvoller, ihn gar nicht als (transzendentalen) Idealismus
zu bezeichnen. Der Verzicht auf diese Bezeichnung ist in vollem Ein-
klang mit der Überzeugung, dass die Philosophie die Stellungnahme zu
den Weltanschauungsfragen in einer pluralistisch und demokratisch
eingerichteten Welt einerseits dem Einzelmenschen, andererseits dem
Staatsbürger zu überlassen hat. Ihre Aufgabe in einer derartigen Welt
kann offenbar nur darin bestehen, die Natur von Sein und Realität in-
nerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu bedenken.
Wie dies in der Phänomenologie geschehen kann, wird uns deutli-

212
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

cher, wenn wir uns Husserls Rückgang auf die Erfahrung in der Lebens-
welt vergegenwärtigen.

5. Die Erfahrung in der Lebenswelt

Husserl kennzeichnet die Erfahrung in der Lebenswelt als »subjektiv«


und »relativ«, indem er die Wahrheit, die dieser Erfahrung zukommt,
als »alltäglich-praktische Situationswahrheit« der »wissenschaftlichen
Wahrheit« gegenüberstellt. 113 Es handelt sich dabei um eine Wahrheit,
die zwar auf eine bestimmte Situation zutrifft, sich jedoch von einer
Situation auf die andere nicht ohne Weiteres übertragen lässt. Eine
situationsübergreifende Wahrheit setzt ja von vornherein eine gewisse
Gleichartigkeit verschiedener Erfahrungssituationen voraus. Das
Gleichartige als solches hat aber als ein Idealisierungsprodukt zu gelten;
die Idealisierung ist jedoch eine Operation, die über die Grenzen der
Lebenswelt hinausführt.
Der relative Charakter lebensweltlicher Erfahrung ergibt sich auf
diese Weise aus ihrer unaufhebbaren Situationsbedingtheit. Ihr subjek-
tiver Charakter nährt sich dagegen aus einer anderen Quelle. Im Ge-
gensatz zur wissenschaftlichen Empirie hält sich die lebensweltliche
Erfahrung an keinen feststehenden Gesichtspunkt, der im Voraus be-
stimmen würde, worauf man in einer Situation zu achten hat. Eine Si-
tuation hat aber immer verschiedene Aspekte, die – in Abhängigkeit
vom jeweils gewählten Gesichtspunkt – mal hevortreten, mal wieder
im Hintergrund versinken. Der Mangel an einem ausgezeichneten Ge-
sichtspunkt legt hier den Sinn der Subjektivität fest, die der jeweiligen
Einseitigkeit objektiv-wissenschaftlicher Empirie eine schillernde All-
seitigkeit entgegensetzt.
Der Akzent liegt hier nicht zufällig auf dem Beiwort »schillernd«.
In der Tat ist die subjektive und relative Erfahrung in der Lebenswelt
durch eine strömende Mehrdeutigkeit charakterisiert. Darunter ist eine
Mehrdeutigkeit zu verstehen, die sich aus sich von Zeit zu Zeit ändern-
den Sinnansätzen ergibt. Eine Sinnanalyse lebensweltlicher Erfahrung
muss daher nicht allein mit einer Vielfalt möglicher Bedeutungen rech-
nen, sondern auch mit einem Wandel der Sinnkomponenten, aus denen

113
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 135.

213
Metaphysik zufälliger Faktizität

sich diese Vielfalt zusammensetzt. Dieser Wandel der Sinnkomponen-


ten hängt mit dem Wechsel der Gesichtspunkte zusammen, von denen
aus die gleiche Situation unter immer neuen Blickwinkeln gesehen
wird.
Daher steht die lebensweltliche Erfahrung als Dóxa der objektiven
Wissenschaft als der Epistéme gegenüber. 114 Der platonische Terminus
Dóxa ist sehr wohl geeignet, die herausgestellten Charakterzüge le-
bensweltlicher Erfahrung zusammenfassend zu bezeichnen. Die Dóxa
bleibt immer situationsbedingt; erst der Epistéme kommt eine durch
Situationen nicht mehr bedingte Wahrheit zu.
Worin liegt aber der Grund, der Husserl in der spätesten Phase
seines Denkens dazu bewegt, die so verstandene Dóxa gegenüber der
seit Platon bevorzugten Epistéme philosophisch zu rehabilitieren?
Man ist zunächst versucht, diesen Grund in der Einsicht in einen
Begründungszusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft
zu sehen. Die lebensweltliche Erfahrung wird ja von Husserl als die
letzte »Evidenzquelle« – oder auch »Bewährungsquelle« – aller wissen-
schaftlichen Erkenntnisse bezeichnet. 115 Demnach soll die Epistéme
gleichsam aus der Dóxa ihre Beweiskraft schöpfen. Man erinnert sich
an das von Husserl selbst angeführte Beispiel von Einstein, der »die
Michelsonschen Experimente und ihre Nachprüfungen durch andere
Forscher« zur Grundlegung seiner speziellen Relativitätstheorie be-
nützt und damit den Gesamtkontext alltäglicher Wahrnehmungssitua-
tionen von vornherein unterstellt. 116
Ein derartiger Begründungszusammenhang zwischen Lebenswelt
und Wissenschaft ist aber aus zwei Gründen zweifelhaft. Der erste
Grund liegt im künstlich festgelegten Charakter wissenschaftlicher Em-
pirie. Zu Recht besteht zwar der Satz, dass »die eine, allgemeinsame
Erfahrungswelt, in der auch Einstein und jeder Forscher als Mensch,
und auch während all seines forschenden Tuns, weiß«, 117 für die Wis-
senschaft als unbefragte Voraussetzung gilt; gleichwohl sind aber die
methodisch streng geregelten Beobachtungen und die manchmal über-
aus erfinderisch vorbereiteten Experimente, die sich dazu eignen, wis-
senschaftliche Ergebnisse zu bekräftigen, weit davon entfernt, einfach

114
Ebd., S. 129.
115
Ebd.
116
Ebd., S. 128.
117 Ebd.

214
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

als lebensweltliche Erfahrungen eingestuft werden zu können; sie set-


zen ja in den meisten Fällen selbst schon wissenschaftliche Theorien
voraus. Der zweite Grund, der gegen einen förmlichen Begründungs-
zusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft spricht, beruht
auf der von Husserl selbst formulierten Feststellung, dass die Ergebnis-
se der Wissenschaften in die alltägliche Lebensumwelt wieder »einströ-
men«, indem sie diese weitgehend umgestalten. Ebendeshalb kann aber
eine »vorwissenschaftliche Welt«, die der Wissenschaft als Grundlage
und wahrhafte Evidenzquelle dienen könnte, worauf David Carr schon
vor dreißig Jahren deutlich hingewiesen hat, schwerlich überhaupt auf-
gefunden und ausgemacht werden.
Der Zusammenhang zwischen Lebenswelt und Wissenschaft lässt
sich aber vielleicht auch anders verstehen. Wenn man von Texten wie
»Der Ursprung der Geometrie« ausgeht oder sich auch nur den histori-
schen Teil der Krisis-Abhandlung genauer ansieht, so begreift man,
dass die lebensweltliche Erfahrung von Husserl eigentlich gar nicht als
Begründungsinstanz für die exakten Wissenschaften in Anspruch ge-
nommen wird – zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne des Ausdrucks
»Begründung wissenschaftlicher Ergebnisse«. Vielmehr wird die le-
bensweltliche Erfahrung von ihm als die Trägerin einer »lebendigen,
produktiv fortschreitenden Sinnbildung« 118 betrachtet, die den Boden
für die »idealisierende[] Urstiftung« 119 ganzer Wissenstraditionen und
ihrer Gegenstände bereiten. Dieser Satz trifft nicht nur auf die empiri-
schen Wissenschaften, sondern selbst noch auf die Mathematik zu; an-
sonsten könnte ja von dem »Ursprung der Geometrie« schwerlich die
Rede sein, denn Husserl betrachtet die Geometrie als eine apriorische
Wissenschaft. Die Begriffe, die in der Krisis-Abhandlung und den
gleichzeitig verfassten Forschungsmanuskripten den Zusammenhang
von Lebenswelt und Wissenschaft bestimmen, sind also nicht so sehr
Begründung und Bewährung, als vielmehr Sinnbildung und Sinnstif-
tung.
Aus dieser Präzisierung ergeben sich wichtige Konsequenzen, die
den Begriff lebensweltlicher Erfahrung betreffen. Es handelt sich vor
allen Dingen um eine Erfahrung, die als Ort spontaner Sinnbildung
begriffen werden muss.

118
Ebd., S. 375.
119 Ebd., S. 386.

215
Metaphysik zufälliger Faktizität

a. Die lebensweltliche Erfahrung als Ort spontaner Sinnbildung

Unter spontaner Sinnbildung können wir die Entstehung eines Sinn-


gebildes verstehen, das sich nicht restlos auf die Sinngebung durch das
intentionale Bewusstsein zurückführen lässt. Man denke nur an den
Sinnbildungsprozess, der nach Husserl – etwa in der Feldmesskunst –
durch Idealisierung und Limesübergang zur Erzeugung geometrischer
Figuren führt. Dieser Sinnbildungsprozess geht deutlich über die inten-
tionalen Akte der jeweiligen Feldmesser hinaus, die ja immer nur sinn-
lich wahrnehmbare Figuren im Auge haben. Gerade deshalb kann die-
ser Sinnbildungsprozess den Boden für die Urstiftung einer neuen
Wissenstradition und ihrer Gegenstände bereiten.
Ist die Erfahrung in der Lebenswelt der Ort spontaner Sinnbil-
dung, so lässt sie sich auf kein intentionales Erlebnis reduzieren. Denn
sie enthält etwas Nicht-Intendiertes, ein Moment, das sich von keiner
Bewusstseinsintentionalität herleiten lässt, mit einem Wort: einen
Überschuss gegenüber aller Bewusstseinsintentionalität. Sie ist von
einer Sinnbildung durchdrungen, deren Gang durch kein intentionales
Bewusstsein vorweggenommen werden kann. Die lebensweltliche Er-
fahrung ist demnach kein intentionaler Akt, obgleich sie intentionale
Akte mit in sich schließt. Als Ganzes ist sie überhaupt kein Akt, son-
dern vielmehr ein Ereignis.
Als Ereignis bringt sie Neues, Unvorhersehbares, unverhofft Auf-
kommendes mit sich. Nicht selten überrascht sie das intentionale Be-
wusstsein, indem sie vorgefasste Meinungen und gelegentlich sogar
scheinbar begründete, motivierte Vorwegnahmen durchstreicht. Gada-
mer sagt mit Recht, dass jede Erfahrung, die diesen Namen verdient,
eine Erwartung durchkreuzt. 120
Dabei ist die lebensweltliche Erfahrung durch eine deutliche Passi-
vität charakterisiert. Die Passivität lebensweltlicher Erfahrung lässt sich
jedoch keineswegs auf eine passive Synthesis im Sinne einer phänome-
nologisch umgedeuteten Assoziationslehre zurückführen. Husserl hebt
hervor, dass wir uns – als »aufmerkende Ich« – bei einer passiven Syn-
thesis »von einem [Bewusstseinsdatum] auf das andere hingewiesen«
sehen. 121 Er fügt hinzu, dass hier sogar immer gesagt werden kann:

120
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübin-
gen 41975 (11960), S. 338.
121 Husserl, Analysen zur passiven Synthesis [Husserliana, Bd. XI], S. 121.

216
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

»Eins deutet auf das andere – obschon noch nicht ein eigentliches Ver-
hältnis der Anzeige und Bezeichnung vorliegt.« 122 Dieser Verweisungs-
zusammenhang, der noch kein Verhältnis zwischen Zeichen und Be-
zeichnetem ist, deutet sich uns – als »aufmerkenden Ich[en]« – von
sich aus an; er fällt uns plötzlich auf und fällt damit in unser Bewusst-
sein erstmalig ein. Die Passivität lebensweltlicher Erfahrung teilt diesen
Grundzug mit der von Husserl erörterten passiven Synthesis. Aber die-
ser gemeinsame Grundzug darf uns über einen grundlegenden Unter-
schied nicht hinwegtäuschen. Der Verweisungszusammenhang, den
Husserl an der gerade angeführten Stelle beschreibt, bietet sich von
vornherein dazu an, durch eine aktive Intentionalität erfasst zu werden.
Sobald er ins Bewusstsein eingefallen ist, entpuppt er sich als vollwerti-
ge Intentionalität. Deshalb kann er durch das Bewusstsein ohne Schwie-
rigkeiten in ein Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem umge-
wandelt werden. Anders steht es mit der Tendenz, die sich in einem
spontanen Sinnbildungsvorgang geltend macht. Sie ist nicht nur keine
Vorform der Bewusstseinsintentionalität, sondern sie lässt sich nicht
einmal als ein feststehender Verweisungszusammenhang begreifen. Es
handelt sich nämlich um eine Tendenz, der keine eindeutige Zielrich-
tung zugeschrieben werden kann. Nicht umsonst betont Husserl in sei-
nen späten Texten so sehr die methodische Bedeutung der Rückfrage.
Erst von einer bereits etablierten – oder, wie Husserl mit Vorliebe sagt,
»sedimentierten« – Urstiftung her eröffnet sich ein Rückweg zu einem
ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang. Die Urstiftung ist aber
ein kreativer Akt, der durch einen Sprung über den Abgrund hinweg
einen neuen Sinn erzeugt. Deshalb zeichnet sich die Tendenz, die den
ihr zugrunde liegenden Sinnbildungsvorgang durchdringt, immer nur
im Nachhinein eindeutig ab.
Diese wesenhafte Nachträglichkeit, die das methodische Verfahren
der Rückfrage notwendig macht, verleiht der lebensweltlichen Erfah-
rung zugleich den Charakter wohlverstandener Geschichtlichkeit. Mit
diesem Terminus ist hier allerdings nicht etwa die Zugehörigkeit zur
Weltgeschichte gemeint, sondern der Charakter spontanen Sinngesche-
hens. Gemeint ist damit eine Sinngenese, die sich auf eine Sinngebung
durch das intentionale Bewusstsein nicht zurückführen lässt. In seiner

122
Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 121.

217
Metaphysik zufälliger Faktizität

Betrachtung über den »Ursprung der Geometrie« sagt Husserl: »Die


Geschichte ist von vornherein nichts anderes als die lebendige Bewe-
gung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung
und Sinnsedimentierung.« 123 In diesem Sinne gilt die Geschichte für
Husserl seit dem Anfang der zwanziger Jahre als ein »absolutes Fak-
tum«.
Damit sind fünf Grundzüge lebensweltlicher Erfahrung hervor-
gehoben worden: Sie wurde als Trägerin spontaner Sinnbildung charak-
terisiert, und es wurde auf ihre Ereignishaftigkeit, ihr Neuigkeitspoten-
tial, ihre Passivität und ihre Geschichtlichkeit hingewiesen. In diesen
Merkmalen deutet sich eine Umwandlung von Husserls Phänomeno-
logie in ihrer spätesten Entwicklungsphase an. Gewiss wird in der Kri-
sis-Abhandlung nach wie vor die Bedeutung der intentionalen Analyse
und des sie leitenden »universalen Korrelationsapriori« betont. Aber
das lebendige Verhältnis von Sinnbildung und Sinnstiftung – oder auch
Sinnbildung und Sinnsedimentierung – wirft Fragen auf, die durch eine
intentionale Korrelationsanalyse nicht beantwortet werden können.
Mit dem Verfahren der Rückfrage wird aber eine methodische Vor-
gehensweise deutlich gemacht, die der neuen Fragedimension ent-
spricht. Diese Umwandlung von Husserls Phänomenologie ist der
Grund dafür, dass etwa der kleine Text über den »Ursprung der Geo-
metrie« von so bedeutenden Denkern wie Maurice Merleau-Ponty,
Jacques Derrida und Marc Richir zum Gegenstand eingehendster Ana-
lysen gemacht wurde. Nicht zufällig wurden auch bereits zwei Ergän-
zungsbände zur Krisis-Abhandlung in der Husserliana-Reihe ver-
öffentlicht. Allerdings fragt man sich dabei, ob Husserl vor seinem Tod
genug Zeit hatte, alle Konsequenzen aus der späten Erneuerung seiner
Phänomenologie zu ziehen. Im Folgenden soll auf manche Konsequen-
zen hingewiesen werden, die im Text der Krisis-Abhandlung eben nur
angedeutet, aber nicht mehr voll ausgearbeitet werden. In einem ersten
Schritt soll die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung heraus-
gestellt werden. In einem weiteren Schritt kann dann das Problem der
eigentümlichen Kategorien lebensweltlicher Erfahrung erörtert wer-
den.

123 Ebd., S. 380.

218
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

b. Die Weltbezogenheit lebensweltlicher Erfahrung

Deutlicher als in früheren Schriften macht Husserl in der Krisis-Ab-


handlung auf einen Unterschied aufmerksam, der durch eine intentio-
nale Korrelationsanalyse nicht voll aufgeklärt werden kann. Es handelt
sich um den Unterschied von Ding und Welt.
Gewiss bleibt die intentionale Korrelationsanalyse auch in den Be-
trachtungen über Ding und Welt die tragende Grundlage. Dementspre-
chend werden in der Krisis-Abhandlung vor allem die Unterschiede
zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein aufgewiesen. Der
Terminus »Ding« wird dabei weit gefasst; er verweist nicht allein auf
dauerhaft bestehende Substanzdinge, sondern ebenso sehr auf deren
Eigenschaften und Verhältnisse, ja darüber hinaus sogar auf Begeben-
heiten, Ereignisse und Prozesse. Die Welt wird dagegen phänomenolo-
gisch nicht etwa als das All der so verstandenen Dinge, sondern als der
»Universalhorizont« aller Erfahrung bestimmt. 124 Husserls Einsicht,
dass der Erfahrung eine »ständig strömende Horizonthaftigkeit« 125 zu-
kommt, ist ebenfalls intentionalanalytisch angelegt; sie beruht auf der
Beobachtung, dass zu jeder Gegenstandsintention ein Umfeld von Ho-
rizontintentionalität gehört. Dieser Gedanke wird in den Cartesia-
nischen Meditationen besonders deutlich formuliert. Husserl sagt in
diesem Werk: »Intentionale Analyse ist geleitet von der Grunderkennt-
nis, daß jedes cogito als Bewußtsein zwar im weitesten Sinne Meinung
seines Gemeinten ist, aber daß dieses Vermeinte in jedem Momente
mehr ist (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligen Moment
als explizit Gemeintes vorliegt.« 126 Er setzt hinzu: »Dieses in jedem Be-
wußtsein liegende Über-sich-hinaus-Meinen muß als Wesensmoment
desselben betrachtet werden.« 127 »Horizontintentionalität« ist nur ein
anderer Name für diese »Mehrmeinung«. 128
Gleichwohl geht Husserl in seinen Betrachtungen über Ding und
Welt deutlich über die intentionale Korrelationsanalyse hinaus. Am
leichtesten können wir uns davon überzeugen, wenn wir uns die beiden
Unterscheidungsmerkmale ansehen, die bei Husserl die Welt vom Ding

124 Ebd., S. 147.


125
Ebd., S. 152.
126
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 48.
127
Ebd., S. 49.
128 Ebd.

219
Metaphysik zufälliger Faktizität

grundsätzlich trennen. – a) Das erste dieser beiden Merkmale ist die


Vorgegebenheit der Welt. 129 In diesem Begriff drückt sich die Beobach-
tung aus, dass Dinge immer nur auf dem Boden der Welt oder, genauer,
als Dinge in der Welt erfahren werden können. Es heißt: »Dinge, Ob-
jekte […] sind ›gegeben‹ als für uns jeweils (in irgendwelchen Modis der
Seinsgewißheit) geltende, aber prinzipiell nur so, daß sie bewußt sind
als Dinge, als Objekte im Welthorizont.« 130 – b) Das zweite Unterschei-
dungsmerkmal, das die Welt vom Ding abhebt, ist die Einzigkeit der
Welt. Husserl sagt: »Andererseits ist Welt nicht seiend wie ein Seiendes,
wie ein Objekt, sondern seiend in einer Einzigkeit, für die der Plural
sinnlos ist.« 131 Hier wird besonders deutlich, dass sich der Unterschied
zwischen Ding und Welt keineswegs auf den Unterschied zwischen
Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein reduzieren lässt. Nicht um-
sonst betont Husserl, dass die Welt »nicht seiend wie ein Seiendes, ein
Objekt […] ist«; nicht vergebens spricht er also von einem Unterschied
in der Seinsweise. Er setzt sogar hinzu: »Diese Differenz der Seinsweise
eines Objektes in der Welt und der Welt selbst schreibt offenbar beiden
die grundverschiedenen korrelativen Bewußtseinsweisen vor.« 132
Damit ist eine Dimension von Husserls später Phänomenologie
enthüllt, die als eine Richtungnahme auf eine phänomenologische On-
tologie aufgefasst werden kann. In der Krisis-Abhandlung selbst wird
diese Dimension als »Ontologie der Lebenswelt« bezeichnet. Husserl
schwebt dabei eine Wissenschaft vor, die sich zur Aufgabe macht, die
Wesenstypik der Lebenswelt zu erfassen. Es ist allerdings fragwürdig,
ob damit alle Konsequenzen aus den Vorstößen gezogen sind, die den
Betrachtungen über Ding und Welt in der Krisis-Abhandlung ein ei-
gentümliches Gewicht geben. In diesen Betrachtungen wurde nämlich
ein Unterschied zwischen Ding und Welt zum Aufweis gebracht, der
sich – dem Grundprinzip der intentionalen Korrelationsanalyse ent-
gegen – nicht aus dem Unterschied der entsprechenden Bewusstseins-
weisen ableiten lässt, sondern – gerade umgekehrt – selbst den Unter-
schied der entsprechenden Bewusstseinsweisen begründet. Damit wird
die intentionale Korrelationsanalyse mit einem Verfahren der Rück-

129 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-
nomenologie [Husserliana, Bd. VI], S. 112 f. und S. 145 f.
130
Ebd., S. 146.
131
Ebd., S. 146.
132 Ebd.

220
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

frage verbunden, das über sie selbst hinausgeht: Nachdem der Unter-
schied zwischen Dingwahrnehmung und Weltbewusstsein phänome-
nologisch herausgestellt wurde, wird auf den ontologischen Unter-
schied, der ihn bedingt, zurückgegangen oder zurückgegriffen.
Damit zeichnen sich vor unseren Augen die Umrisse einer, wie
man sagen könnte, regressiven oder, besser noch, rekursiven Ontologie
ab. Mit dem Wort »rekursiv« soll hier einzig und allein diejenige Eigen-
tümlichkeit dieser Ontologie bezeichnet werden, dass sie sich aus einer
Rückfrage von den korrelativen Bewusstseinsweisen her ergibt. Von
einer Rückkehr zur traditionellen Ontologie, die in der zunächst von
Duns Scotus und dann von Francisco Suárez stark beeinflussten Über-
lieferung immer deutlicher zu einer Tinologie geworden ist, kann in der
Krisis-Abhandlung natürlich keine Rede sein. Wieweit Husserls Stu-
dium von Heideggers Fundamentalontologie an seiner Rede von einer
»Differenz der Seinsweisen« eine Spur hinterlassen hat, ist nicht leicht
zu entscheiden.
Die Bestimmung des Unterschieds in der Seinsweise von Ding und
Welt ist allerdings eben nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer
rekursiven Ontologie der Lebenswelt. Husserl deutet weitere Schritte
an, indem er hervorhebt, dass die lebensweltliche Erfahrung ihre eigen-
tümlichen Kategorien hat.

c. Die Kategorien lebensweltlicher Erfahrung

Es handelt sich um Kategorien, in denen sich die allgemeine Struktur


der Lebenswelt gliedert. Husserl sagt: »Die Welt als Lebenswelt hat
schon vorwissenschaftlich »die ›gleichen‹ Strukturen, als welche die ob-
jektiven Wissenschaften […] als apriorische Strukturen voraussetzen
und systematisch in apriorischen Wissenschaften entfalten […].« 133 So
ist etwa die Welt vorwissenschaftlich bereits »raumzeitliche Welt«, sie
begreift »Körper« in sich und enthält auch schon Kausalzusammenhän-
ge. 134 Ähnlich steht es sogar – Husserl weist darauf eigens hin – mit der
»raumzeitlichen Unendlichkeit«. 135 Es hat also durchaus einen Sinn,
Kategorien wie Raum, Zeit, körperliche Substanz, Kausalität und raum-

133
Ebd., S. 142.
134
Ebd.
135 Ebd.

221
Metaphysik zufälliger Faktizität

zeitliche Unendlichkeit im Rahmen der Lebenswelt zu erforschen. Hus-


serl setzt aber hinzu: »Das Kategoriale der Lebenswelt hat die gleichen
Namen, aber kümmert sich sozusagen nicht um die theoretischen Idea-
lisierungen und hypothetischen Substruktionen der Geometer und
Physiker.« 136
Aus diesem Satz geht hervor, wie die eigentümlichen Kategorien
lebensweltlicher Erfahrung zugänglich gemacht werden können. Der
Weg, der zu ihnen führt, macht die Einklammerung und Ausschaltung
aller Idealisierungsprodukte und der gesamten »theoretisch-logischen
Substruktion« der objektiven Wissenschaften erforderlich. Es gibt
durchaus einen Raum in der Lebenswelt, aber in diesem Raum kann,
wie Husserl sagt, »von idealen mathematischen Punkten, von ›reinen‹
Geraden, Ebenen, überhaupt von mathematisch infinitesimaler Kon-
tinuität, von der zum Sinn des geometrischen Apriori gehörigen
›Exaktheit‹ keine Rede« sein. 137 Das Gleiche gilt für die anderen Kate-
gorien. Die Idee einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt verlangt
danach, Raum, Zeit, körperliche Substanz, Kausalität, raumzeitliche
Unendlichkeit und Ähnliches mehr unter Verzicht auf jegliche Ideali-
sierung und den gesamten theoretisch-logischen Unterbau wissen-
schaftlicher Objektivität zu beschreiben und einer rein phänomenologi-
schen Analyse zu unterziehen.
Es wäre ein Missverständnis zu glauben, dass eine derartige Kate-
gorialanalyse der Lebenswelt ihre Bedeutsamkeit von der Begründung
wissenschaftlicher Ergebnisse herleiten müsste. Husserl fasst zwar das
Problem der Lebenswelt zunächst als ein Teilproblem innerhalb des vol-
len Themas einer Begründung objektiver Wissenschaften auf. 138 Bald
merkt er aber, dass »die Frage nach dem eigenen und ständigen Seins-
sinn dieser Lebenswelt für die in ihr lebenden Menschen« schon für sich
selbst »einen guten Sinn hat« 139 und sogar dazu berufen sein dürfte,
»das ganze Thema objektive Wissenschaft […] zu verschlingen«. 140 Ihre
Bedeutung ist daher nicht so sehr wissenschaftstheoretisch als vielmehr
allgemein philosophisch, genauer: metaphysisch.
Es wäre aber ebenfalls nur ein Missverständnis zu glauben, dass die

136 Ebd., S. 142 f.


137
Ebd., S. 142.
138
Ebd., S. 125.
139
Ebd.
140 Ebd., S. 126.

222
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

allgemein philosophische (oder auch metaphysische) Bedeutung einer


Kategorialanalyse der Lebenswelt darin läge, nunmehr das wahre An-
sichsein der Dinge zu erfassen. Man darf nicht vergessen, dass die Idee
dieses wahren Ansichseins gerade zu derjenigen theoretisch-logischen
Substruktion wissenschaftlicher Objektivität gehört, die es in der phä-
nomenologischen Erörterung lebensweltlicher Erfahrung von vorn-
herein einzuklammern und auszuschalten gilt. Der Rückgang etwa auf
den lebensweltlichen Raum begründet sich nicht dadurch, dass an und
für sich nur dieser Raum besteht, der geometrische Raum dagegen ein
bloßes Idealisierungsprodukt ist. Im Gegenteil, nur eine wissenschaft-
liche Theorie wie etwa die von Einstein kann überhaupt einen Anspruch
darauf erheben, den an sich seienden Raum zu bestimmen. Die stets nur
subjektive und relative Erfahrung, die wir mit dem Raum in der Le-
benswelt machen, eignet sich dazu ihrer Natur nach überhaupt nicht.
Gleichwohl bleibt das Bestehen des lebensweltlich erfahrenen Raumes
eine letzte Tatsache – eine Urtatsache in dem Sinne, den Husserl in
seinen Ansätzen zu einer phänomenologischen Metaphysik diesem
Wort verleiht.
Das Schwierige am Verständnis der Krisis-Abhandlung und ver-
wandter Schriften besteht gerade darin, dass die phänomenologische
Kategorialanalyse den Leser zwar mit den Urtatsachen lebensweltlicher
Erfahrung konfrontiert, damit aber keineswegs etwa den Anspruch er-
hebt, das wahre Ansichsein der Dinge zu enthüllen. Husserl prägt den
Ausdruck »lebensweltliches Apriori«, um diesen paradoxen Tatbestand
zu erfassen, und er stellt ihn dem Begriff des »objektiven Apriori« exak-
ter Wissenschaften gegenüber. 141
Diese Gegenüberstellung wirft ein Licht auf das Verhältnis der
Phänomenologie zum – heute geradezu vorherrschend gewordenen –
Naturalismus. Die Phänomenologie setzt dem Anspruch des Naturalis-
mus, das wahre Ansichsein der Dinge zu erfassen, nicht etwa eine an-
dere, nicht-naturalistische Bestimmung dieses Ansichseins entgegen.
Deshalb ist es – trotz mancher Ansichten und Neigungen von Husserl,
die unleugbar in diese Richtung weisen – letztlich ein Irrtum, die Phä-
nomenologie als einen Idealismus zu verstehen, der dem Naturalismus
als ein ebenfalls objektivistischer, aber gegensinniger Standpunkt ge-
genübergestellt werden könnte. Die Phänomenologie sieht das Be-
wusstsein nicht etwa als eine geistige Substanz an, die auch ohne Leib

141 Ebd., S. 143.

223
Metaphysik zufälliger Faktizität

und Gehirn für sich bestehen könnte. Sie nimmt keinen objektivisti-
schen Standpunkt ein, sondern sie betrachtet das Bewusstsein als eine
Urtatsache der immer nur subjektiven und relativen Erfahrung, die für
die Lebenswelt bezeichnend ist. Die Gegenüberstellung von Phänome-
nologie und Naturalismus ist daher schief. In Wahrheit besteht das Ver-
hältnis beider darin, dass der Naturalismus als eine naive Metaphysik
der Naturwissenschaften die Urtatsachen, von denen die Phänomenolo-
gie als rekursive Ontologie der Lebenswelt ausgeht, wegzuerklären
sucht. Ebendeshalb bekämpft Husserl den naturalistischen Objektivis-
mus nicht so, wie man einen Standpunkt bekämpft, der seinem eigenen
Standpunkt entgegengesetzt ist. Vielmehr hinterfragt er ihn, indem er
auf die Urtatsachen lebensweltlicher Erfahrung zurückgreift, die der
Urstiftung objektiver Wissenschaften unaufhebbar zugrunde liegen.
Die rekursive Ontologie der Lebenswelt, die sich auf diese Urtat-
sachen gründet, bringt eine Umwandlung und Erneuerung der trans-
zendentalen Phänomenologie mit sich, ohne ihren Grundsätzen zu wi-
dersprechen. Husserl behauptet zwar ausdrücklich, dass die allgemeine
Struktur der Lebenswelt bereits in der natürlichen Einstellung zum Ge-
genstand eingehender Untersuchungen gemacht werden kann. 142 Damit
ist jedoch keineswegs gesagt, dass die lebensweltliche Ontologie nicht
ebenso wohl – oder viel besser noch – auf dem Boden der phänomeno-
logischen Einstellung bearbeitet werden könnte. Gerade das Gegenteil
trifft zu. Husserl behauptet zwar, dass die Lebenswelt in der Epoché »in
das bloße transzendentale ›Phänomen‹« verwandelt wird, aber er fügt
hinzu: »Sie bleibt dabei in ihrem eigenen Wesen, was sie war […].« 143
Es heißt weiter im Text: »Innerhalb der Epoché steht es uns frei, kon-
sequent unseren Blick ausschließlich auf diese Lebenswelt bzw. ihre
apriorischen Formen zu richten […].« 144
Gleichwohl eröffnet die Kategorialanalyse lebensweltlicher Erfah-
rung eine neue Dimension innerhalb der Phänomenologie. Es handelt
sich um eine Dimension, die sich auf die Dimension intentionaler Kor-
relationsbetrachtung nicht reduzieren lässt. Das wird besonders deut-
lich, wenn wir bedenken, wie sich die Kategorialanalyse lebenswelt-
licher Erfahrung zu den objektiven Wissenschaften verhält. Husserl
greift auf seine Unterscheidung zwischen lebensweltlichem und objek-

142
Ebd., S. 176.
143
Ebd., S. 177.
144 Ebd.

224
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

tivem Apriori zurück, um dieses Verhältnis zu bestimmen: »Eine gewis-


se idealisierende Leistung ist es, welche die höherstufige Sinnbildung
und Seinsgeltung des mathematischen und jedes objektiven Apriori zu-
stande bringt, aufgrund des lebensweltlichen Apriori.« 145 Damit ist ein
konkreter Ansatz zu einer phänomenologischen Auseinandersetzung
mit den objektiven Wissenschaften angedeutet. Das Programm dieser
Auseinandersetzung sieht drei Phasen der Arbeit vor. Die beiden ersten
Phasen sind uns schon bekannt. In der ersten Phase geht es darum, eine
idealisierende Leistung als Urstiftung einer Wissenstradition und ihrer
Gegenstände zu erfassen. In der zweiten Phase wird dann in einem
Rückgang auf das lebensweltliche Apriori ein Sinnbildungsprozess ent-
hüllt, der diese Urstiftung überhaupt erst ermöglicht und ihr ständig
zugrunde liegt, ohne sie allerdings im wörtlichen Sinne zu »begrün-
den«, das heißt: notwendig zu machen. Husserl deutet aber über diese
beiden Phasen hinaus noch eine dritte an, in der auf »die höherstufige
Sinnbildung und Seinsgeltung« eines objektiven Apriori eingegangen
wird. Es wird damit hervorgehoben, dass eine Urstiftung nicht allein
durch einen lebensweltlichen Sinnbildungsprozess bedingt ist, sondern
ihrerseits zugleich einer »höherstufigen Sinnbildung« Raum gibt, die
innerhalb einer schon bestehenden Wissenstradition zur Stiftung wei-
terer Gegenstände mit eigener »Seinsgeltung« führt.
Im Galilei-Kapitel der Krisis-Abhandlung entsprechen dieser drit-
ten Phase etwa die wiederholten Hinweise auf »die Möglichkeit, alle
überhaupt erdenklichen idealen Gestalten in einer apriorischen, all-
umfangenden systematischen Methode konstruktiv eindeutig zu erzeu-
gen«. 146 Husserl sieht deutlich, dass eine bereits durch Urstiftung in
Gang gebrachte Wissenstradition ein Eigenleben entwickelt, in dem hö-
herstufige Sinnbildungsvorgänge den Gesamtstil der weiterführenden
Ausarbeitung einmal erworbener Ergebnisse bestimmen. Der Phäno-
menologie weist er daher nicht allein die Aufgabe zu, den lebenswelt-
lichen Sinnbildungsprozess, der einer Urstiftung zugrunde liegt, durch
methodische Rückfragen zu erhellen, sondern ebenfalls die ganz anders
geartete Aufgabe, den höherstufigen Sinnbildungsvorgängen, die das
Eigenleben bereits bestehender Wissenstraditionen ausmachen, nach-
zugehen – wenn auch nur mit der Absicht, die höherstufigen Sinnbil-
dungsvorgänge auf die Sinnbildungsprozesse in der Lebenswelt zurück-

145
Ebd., S. 143.
146 Ebd., S. 24; vgl. S. 30.

225
Metaphysik zufälliger Faktizität

zubeziehen und sie dadurch in dem lebensweltlichen Apriori zu ver-


ankern.
Damit zeichnen sich vor unseren Augen die Umrisse einer trans-
zendentalen Phänomenologie ab, die sich nicht allein für die sinngeben-
den Akte des intentionalen Bewusstseins interessiert, sondern auch –
oder sogar mehr noch – das Ziel verfolgt, ständig im »Zickzack« 147 vor-
und zurückgehend, »die lebendige Bewegung des Miteinander und In-
einander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung« zu
erfassen. In der phänomenologischen Bewegung wurde dieser Ansatz
verschiedentlich weitergeführt. Es genügt hier ein Hinweis auf Maurice
Merleau-Ponty und Marc Richir, denen das Verdienst zukommt, deut-
lich erkannt zu haben, dass sich die vom späten Husserl entdeckte Mög-
lichkeit einer phänomenologischen Auseinandersetzung mit den objek-
tiven Wissenschaften auch auf andere Kulturgebilde übertragen lassen.
Besonders bei Marc Richir hat sich die Phänomenologie spontaner
Sinnbildung auf diese Weise zu einer kritisch angelegten Philosophie
der Kultur entwickelt.
Der Kerngedanke von Husserls Spätphilosophie ist aber doch der
Gedanke einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt. Dieser Gedanke
wurde bisher, wie mir scheint, noch niemals auf völlig angemessene
Weise erfasst und weiterführend ausgearbeitet. Alles kommt hier da-
rauf an, ihn mit Husserls Idee einer phänomenologischen Metaphysik
von Urtatsachen zu verbinden. Erst dadurch wird deutlich, dass die le-
bensweltliche Ontologie durchaus einen Anspruch darauf erheben
kann, als die Grundwissenschaft der transzendentalen Phänomenologie
zu gelten. Der Terminus »Ontologie« erhält in der späten Phase von
Husserls Denken einen völlig neuen Sinn. Nicht nur deshalb, weil es
sich dabei weder um eine »formale Ontologie« im Sinne der Logischen
Untersuchungen oder des späteren Werkes Formale und transzenden-
tale Logik noch um eine »regionale« Ontologie im Sinne der Ideen
handelt. Das entscheidend Neue an dieser Ontologie besteht vielmehr
darin, dass sie keineswegs darum bemüht ist, das wahre Ansichsein der
Dinge herauszustellen, sondern einzig und allein danach strebt, die Ur-
tatsachen lebensweltlicher Erfahrung festzulegen und zu beleuchten. So
ist sie nichts anderes als eine Konkretisierung von Husserls Idee einer
phänomenologischen Metaphysik zufälliger Faktizität.
Husserls Metaphysik der Urtatsachen wurde in der phänomeno-

147 Ebd., S. 59.

226
Husserls Metaphysik der Urtatsachen

logischen Tradition kaum je aufgegriffen und weitergeführt. Allerdings


lassen sich manche Bestrebungen von größerer Tragweite mit ihr zu-
mindest in Verbindung bringen. Unmittelbar nach der Veröffent-
lichung von Sein und Zeit hat Heidegger eine metontologisch fundierte
Metaphysik des Daseins entworfen, die Parallelen zu Husserls Meta-
physik der Urtatsachen aufweist. In Das Sein und das Nichts knüpfte
dann Sartre ausdrücklich an Husserls Einsichten an. Darauf achtet Mer-
leau-Ponty in seiner ansonsten so treffenden Polemik gegen Sartres
Grundansatz kaum. Auch anderen französischen Denkern geht es da-
rum, eine phänomenologische Metaphysik zufälliger Faktizität zu er-
arbeiten und sie gegen die Gefahr der Ontotheologie zu wappnen. All
diese Tendenzen sollen in einem kurzem Überblick vergegenwärtigt
werden.

227
Metaphysik zufälliger Faktizität

II. Heideggers metontologische Grundlegung


der Metaphysik

Nach der Veröffentlichung der ersten Hälfte von Sein und Zeit arbeitet
Heidegger noch jahrelang an dem Forschungsvorhaben weiter, aus dem
sein Hauptwerk erwachsen ist. Die Universitätsvorlesungen, die er im
Jahre 1927 in Marburg hält, sind vom Anliegen getragen, das dritte
Kapitel des ersten Teil von Sein und Zeit voll auszuarbeiten 148 (oder in
neuer Fassung vorzulegen 149) bzw. den zweiten Teil des Werkes, die
Destruktion der traditionellen Ontologie – und dabei vor allem den
Kant-Teil 150 – zu entwerfen. Die Weiterführung der Arbeit lässt aber
den ursprünglichen Entwurf keineswegs unverändert.
Von der im Wintersemester 1927/1928 gehaltenen Kant-Vor-
lesung an macht sich bei Heidegger ein neues Interesse an der Meta-
physik bemerkbar. Deshalb forscht er in der Kritik der reinen Vernunft
nach den Spuren einer »Grundlegung der Metaphysik«. 151 Bereits zu
dieser Zeit verbindet sich das Problem der Metaphysik mit dem der
Anthropologie. 152 Die Verflechtung dieser beiden Tendenzen führt zu
einer »Metaphysik des Daseins«, die es sich zur Aufgabe macht, »die
Metaphysik der Endlichkeit im Menschen« auszuarbeiten. 153
Allerdings handelt es sich bei den bisher erwähnten Änderungen
eher nur um Akzentverschiebungen, die den Grundintentionen von
Sein und Zeit keineswegs zuwiderlaufen. Im Jahre 1928 gerät aber

148
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 321–470.
149 Ende 1926 hat Heidegger eine erste Fassung dieses Kapitels Karl Jaspers zur Lektüre

übergeben; wir wissen nicht, welchen Umfang dieser Text hatte. Siehe Friedrich-Wil-
helm von Herrmann, Heideggers »Grundprobleme der Phänomenologie«. Zur »zweiten
Hälfte« von »Sein und Zeit«, Frankfurt am Main: Klostermann 1991, S. 13 f., und Theo-
dore Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley, London, Los Angeles:
University of California Press 1993 (paperback edition: 1995), S. 485 und S. 489.
150
Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen von Kants Kritik der reinen
Vernunft, [Gesamtausgabe, Bd. 25], Marburger Vorlesung, Wintersemester 1927/1928,
hg. von Ingtraud Görland, Frankfurt am Main: Klostermann 21987 (11977).
151 Ebd., S. 57–68.

152
Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Gesamtausgabe,
Bd. 26], S. 9–47.
153
Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 204–
246.

228
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

Heideggers Denken in einen Umbruch, 154 der eine umfassendere Ände-


rung am ursprünglichen Forschungsvorhaben zur Folge hat. Es stellt
sich heraus, dass die gesuchte Metaphysik über die Fundamentalonto-
logie hinausgeht. Im Anschluss an den aristotelischen Doppelbegriff der
Metaphysik versucht Heidegger, die in Sein und Zeit und in der Vor-
lesung Die Grundprobleme der Phänomenologie noch ausschließlich
verfolgte Forschungsrichtung durch eine neue zu ergänzen, die er in
der letzten Marburger Vorlesung, die er unter dem Titel Metaphysische
Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz im Sommersemes-
ter 1928 hält, als »Metontologie« bezeichnet. Obgleich dieser Name von
einer früheren Verwendung 155 abgesehen, die ohne unmittelbare Kon-
sequenzen blieb, nur in dieser einen Vorlesung gebraucht wird, bleibt
der Gedanke einer zweigeteilten Metaphysik in den folgenden Jahren
erhalten. In einer metontologischen Perspektive thematisiert Heidegger
in seiner Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1928/1929 das
Problem der Beziehungen zwischen Philosophie, Wissenschaft und
Weltanschauung. Aber die metontologische Sichtweise bestimmt den
Gedankengang auch noch in der großen Vorlesung von 1929/1930 über
Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit
(oder Vereinzelung), 156 in der »das Grundgeschehen der Weltbildung«
zum zentralen Thema gemacht wird. Im Folgenden sollen diese Zusam-
menhänge dargestellt werden. An erster Stelle muss dabei die im ersten
Kapitel des ersten Teils bereits gestreifte Idee von Metontologie näher
beleuchtet werden.

1. Die Idee von Metontologie

Von 1928 an sieht Heidegger deutlich, dass die von ihm gesuchte Me-
taphysik sich nicht auf eine Untersuchung über das Seiende als Seiendes

154
Dieser Umbruch ist weitgehend durch die Schwierigkeiten motiviert, zu denen Hei-
deggers Versuch, die Temporalität des Seins zu thematisieren, in der Vorlesung Die
Grundprobleme der Phänomenologie geführt hat. Siehe dazu Inga Römer, Das Zeitden-
ken bei Husserl, Heidegger und Ricœur (Diss. Wuppertal) [Phaenomenologica, Bd. 196],
Dordrecht: Springer 2010, S. 211–214.
155
Heidegger, Die Grundbegriffe der antiken Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 22],
S. 106.
156
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30].

229
Metaphysik zufälliger Faktizität

oder, anders gesagt, über das Sein des Seienden reduzieren lässt. Er
kommt zu der Einsicht, dass die Metaphysik auch eine weitere Frage
zu stellen hat, die sich zwar ebenfalls auf das Seiende bezieht, aber doch
nicht das Seiende als solches, sondern eher das Seiende im Ganzen be-
trifft. Es handelt sich um eine Totalität des Seienden, die Heidegger als
Welt versteht. Das ist der Grund dafür, dass von der letzten Marburger
Vorlesung und dem Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« 157 an die Frage
nach der Welt für Heidegger ebenso wichtig wird wie die Frage nach
dem Sein. Die von ihm gesuchte Metaphysik erweist sich damit als
zweiachsig: Die eine der beiden Achsen ist in ihr durch den Begriff Sein,
die andere durch den Begriff Welt markiert. Das Sein bleibt nach wie
vor Sache der Fundamentalontologie; die Erforschung der Welt wird
dagegen der Metontologie anheimgestellt.
Dass es sich hier um eine bedeutende Änderung handelt, wird aus
einem Vergleich der letzten Marburger Vorlesung mit der um ein Jahr
früher gehaltenen Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
besonders deutlich. In der früheren Vorlesung heißt es: »Das Sein ist
das echte und einzige Thema der Philosophie.« 158 Dagegen behauptet
Heidegger in der letzten Marburger Vorlesung, in der die Idee von Met-
ontologie entworfen wird, dass »es bei der ontologischen Grundfrage
der Philosophie irgendwie zugleich um das Ganze des Seienden […]
geht […]«. 159
Was bedeutet der ungewöhnliche Ausdruck »Metontologie«? Das
Präfix »Met(a)-« verweist hier nicht etwa auf eine Metawissenschaft. Es
geht keineswegs um eine Untersuchung über die formale Struktur aller
möglichen Ontologie. Der Terminus »Metontologie« deutet bei Hei-
degger vielmehr auf einen »Umschlag« (μεταβολή) der Fundamen-
talontologie hin. Das Präfix »Met(a)-« macht, mit anderen Worten,
deutlich, dass zur Fundamentalontologie eine »Tendenz« zu »einer ur-
sprünglichen metaphysischen Verwandlung« 160 gehört. Es handelt sich
dabei um »die innere Notwendigkeit, daß Ontologie dahin zurück-
schlägt, von wo es ausgegangen war«. 161 Gemeint ist das »Urphänomen

157
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 123–175.
158 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 15.

159
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 21.
160
Ebd., S. 199.
161 Ebd.

230
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

der menschlichen Existenz«: die Tatsache, »daß das Seiende ›Mensch‹


Sein versteht«. 162 Dieses Urphänomen ist nach Heidegger in sich viel-
schichtig. In der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927 wurde eine dieser Schichten bereits
unter dem Namen »ontologische Differenz« zur Sprache gebracht. 163
So kann sich Heidegger jetzt mit einem kurzen Hinweis auf den »Voll-
zug des Unterschiedes von Sein und Seiendem« begnügen. 164 Wie schon
in Sein und Zeit, setzt er auch jetzt hinzu: »Sein gibt es nur, wenn
Dasein Sein versteht.« 165 Die Metontologie hat es aber eher mit einer
anderen Schicht des Urphänomens von Seinsverstehen zu tun. Sie er-
wächst aus der Einsicht in die Faktizität und Kontingenz des Faktums
von Seinsverstehen. Es heißt im Text: »[…] die Möglichkeit, daß es Sein
im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung die faktische Existenz des
Daseins, und diese wiederum das faktische Vorhandensein der Natur.
Gerade im Horizont des radikal gestellten Seinsproblems zeigt sich,
daß all das nur sichtbar ist und als Sein verstanden werden kann, wenn
eine mögliche Totalität von Seiendem schon da ist.«166 Daraus wird er-
sichtlich, dass – nicht anders als Husserls Metaphysik der Urtatsachen –
auch Heideggers Metaphysik des Daseins als eine Metaphysik zufäl-
liger Faktizität beschrieben werden kann.
Aus den angeführten Zeilen geht weiterhin hervor, dass die Me-
tontologie in gewissem Sinne noch fundamentaler ist als die Fun-
damentalontologie. Der Grundgedanke ist ja unmissverständlich: Jedes
Seinsverständnis ist an die Bedingung gebunden, dass eine mögliche
Totalität des Seienden schon da ist. Das Verstehen von Sein ist aber die
Grundlage der Fundamentalontologie; die Metontologie dagegen hat,
wie es im Text ausdrücklich heißt, »das Seiende im Ganzen zum The-
ma«. 167 Deshalb kann die Metontologie als eine Untersuchung über die
Bedingung angesehen werden, an die die Möglichkeit der Fundamen-
talontologie gebunden ist.
Wir müssen allerdings deutlich sehen, dass in einem anderen Sin-
ne wiederum die Metontologie die Fundamentalontologie voraussetzt.

162
Ebd.
163
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 22.
164 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-

samtausgabe, Bd. 26], S. 199.


165
Ebd.
166
Ebd.
167 Ebd.

231
Metaphysik zufälliger Faktizität

Denn sie entspringt aus einer ursprünglichen metaphysischen Ver-


wandlung der Fundamentalontologie. Die Metontologie selbst ist keine
Ontologie; sie ist vielmehr eine »metaphysische Ontik« 168 jenseits (me-
ta) der Ontologie, das heißt eine Lehre von den verschiedenen Typen
des Seienden in der Gesamtheit ihrer Beziehungen zueinander. Sie ist
aber »nicht eine summarische Ontik im Sinne einer Allgemeinwissen-
schaft, die die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften zu einem soge-
nannten Weltbild empirisch zusammenstellt, um dann daraus eine
Welt- und Lebensanschauung abzuleiten«. 169 Eine »induktive Meta-
physik« dieser Art, die nichts anderes als eben nur eine »Summierung
der ontischen Erkenntnisse« 170 bietet, wird von Heidegger ausdrücklich
verworfen. Deswegen ist die Metontologie ihrerseits »nur auf dem
Grunde und in der Perspektive der radikalen ontologischen Problematik
und einig mit dieser möglich«. 171
Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass Fundamentalontologie
und Metontologie einander gegenseitig bedingen. Heidegger versucht,
dieses Verhältnis näher zu bestimmen, indem er nicht allein einen
»Umschlag« der Fundamentalontologie in die Metontologie erwähnt,
sondern auch eine bestimmte »Kehre« nennt. 172 Gemeint ist dabei, dass
»die Ontologie selbst in metaphysische Ontik, in der sie unausdrücklich
immer steht, ausdrücklich zurückläuft«. 173
Diese Textstelle wirft die Frage auf, ob die Kehre, die hier zum
ersten Mal zur Sprache gebracht wird, identisch mit derjenigen Kehre
ist, von der Heidegger in späteren Schriften wie etwa im »Brief über den
›Humanismus‹« sprechen wird. 174 Mir scheint, dass es sich zwar keines-
wegs um eine andere Kehre handelt, dass aber die Schlüsse, die Heideg-
ger aus ihr am Ende der 1920er Jahre zieht, nicht mit denjenigen
Schlüssen zusammenfallen, die er aus ihr etwas später, von dem im
Jahre 1930 zum ersten Mal gehaltenen Vortrag »Vom Wesen der Wahr-
heit« 175 an, ziehen wird.

168
Ebd., S. 201.
169
Ebd., S. 199 f.
170
Ebd., S. 200.
171
Ebd., S. 200.
172 Ebd., S. 201.

173
Ebd., S. 201.
174
Heidegger, »Brief über den ›Humanismus‹«, Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 327 f.
175 »Vom Wesen der Wahrheit«, Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9], S. 177–202.

232
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

Gemeint ist damit, dass Heidegger eine Kehre im Auge hat, die im
Grunde von vornherein geeignet ist, zu einem ›Ereignisdenken‹ hinü-
berzuleiten, dass aber in der Epoche zwischen 1927 und 1930 diese
Möglichkeit nicht ergriffen wird. Deshalb kommt Heidegger in der
zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch nicht auf die Idee, gerade den
»transzendentalen« Charakter der Fundamentalontologie 176 in Frage
zu stellen; vielmehr bleibt er zu dieser Zeit einem nach wie vor trans-
zendentalphilosophisch zu nennenden Ansatz verpflichtet. Er entdeckt
nun in der gesamten Geschichte der Philosophie – also nicht nur in der
Neuzeit – einen »Zug auf das ›Subjekt‹« 177 und stützt sich umso mehr
auf diese Tendenz, als er gleichzeitig davon überzeugt ist, dass das Sub-
jekt, das Ich, das Bewusstsein, die Person in der Metaphysik »gerade
nicht in Frage gestellt wird« 178, das heißt: in seinem Sein ohne nähere
Bestimmung bleibt. Es kommt hinzu, dass Heidegger gegen Ende der
1920er Jahre der Freiheit des Daseins überhaupt und insbesondere des-
sen »Weltentwurf« 179, den er in der letzten Marburger Vorlesung mit
der Tätigkeit der »transzendentalen produktiven Einbildungskraft« bei
Kant vergleicht, eine grundlegende Bedeutung beimisst und dabei gera-
dezu von einer »ursprünglichen Produktivität des ›Subjekts‹« spricht. 180
Wenn wir nur auf diese beiden Grundzüge achten, so sind wir versucht,
Heideggers Denken in der Periode von 1927 bis 1930 als eine vollendete
Metaphysik der Subjektivität zu kennzeichnen.
Allein eine derartige Kennzeichnung wäre oberflächlich und in
ihrer Oberflächlichkeit irreführend. Von dem Gedanken der Metonto-
logie nähren sich in Wahrheit keineswegs Tendenzen, die zu einer Me-
taphysik der Subjektivität drängen. Im Gegenteil, die Idee der Meton-
tologie markiert vielmehr einen Bruch mit derartigen Tendenzen,
indem sie den jeweils kontingenten Faktizitätscharakter des Faktums
von Seinsverstehen herausstellt. Im Jahre 1928 entwirft Heidegger eine
zweigeteilte Metaphysik, in der die Metontologie die Fundamentalon-
tologie auf die Grundlage ursprünglicher Tatsachen versetzt. Wenn in

176
Vgl. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],
S. 379.
177
Ebd., S. 444: »Zug auf das »Subjekt««.
178 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-

samtausgabe, Bd. 29/30], S. 84.


179
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 247.
180 Ebd., S. 272.

233
Metaphysik zufälliger Faktizität

dieser Periode der Begriff des Grundes eine zentrale Rolle in Heideggers
Denken spielt, so nur deshalb, weil Heidegger – im Gegenzug zu einer
sich auf Aristoteles berufenden Tradition – zeigen möchte, dass die ur-
sprünglichen Tatsachen der Metaphysik nicht auf erste Ursachen und
Prinzipien zurückgeführt werden können. Die Bestimmung der Freiheit
als »Grund des Grundes« 181 drückt gewiss eine Steigerung und Erhö-
hung der Metaphysik der Freiheit aus, wobei unter Freiheit eine Trans-
zendenz im Sinne einer Selbstüberschreitung des Daseins zu einer Welt
hin verstanden wird. Aber die Bedeutung der angeführten Formel geht
darin noch nicht auf. Der Ausdruck »Grund des Grundes« verweist
ebenfalls auf die Abgründigkeit aller Gründung des Seienden im Gan-
zen. Denn die Freiheit als Grund des Grundes ist betonterweise ein Ab-
Grund. 182 Es geht bei Heidegger darum, alle Gründung des Seienden im
Ganzen auf die Freiheit zurückzuführen, die ihrerseits ihres Grundes
niemals mächtig werden kann.
Daher nimmt Heidegger in unserer Epoche eine durchaus kritische
Einstellung gegenüber der metaphysischen Tradition ein. Was er ver-
wirft, ist die Gründung – oder auch Begründung – des Seienden im
Ganzen durch erste Ursachen und Prinzipien. In dieser Hinsicht weist
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik eine deut-
liche Parallele mit Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf. Aber
Heideggers kritische Einstellung gegenüber der Überlieferung verbin-
det sich in unserer Epoche noch nicht mit dem Bestreben, die Metaphy-
sik zu »überwinden«. Gewiss geht es ihm nicht einfach darum, die me-
taphysische Tradition zu berichtigen oder zurechtzurücken, sondern
darum, sie auf die ihr zugrunde liegenden Erfahrungen hin abzubauen;
aber dieser Abbau – die »Destruktion« der traditionellen Ontologie –
dient zu unserer Zeit eindeutig dem Aufbau einer neuen Metaphysik.
Dieses trotz allem im Ganzen doch affirmative Verhältnis zur Metaphy-
sik als solcher ist ein Unterscheidungsmerkmal unserer Epoche im Le-
benswerk von Heidegger. Deshalb können wir den Zeitraum von 1927
und 1930 als Heideggers »metaphysische Periode« bezeichnen.
Selbst an die aristotelische Doppelbestimmung der Metaphysik
versucht Heidegger in dieser Periode in positiver Entsprechung anzu-

181
Ebd., S. 277 und Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamt-
ausgabe, Bd. 9], S. 174.
182
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 174. Vgl. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, S. 93.

234
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

knüpfen. Der aristotelischen Lehre vom Seienden als solchem und im


Allgemeinen kann dabei die Fundamentalontologie und der aristote-
lischen Ersten Philosophie als Lehre vom ausgezeichneten Seienden,
dem Gott des Buches XII der Metaphysik, die Metontologie zugeordnet
werden. Aus dieser rein strukturellen Entsprechung folgt allerdings
nicht, dass die Metontologie als eine Theologie, wenn auch nur im aris-
totelischen Sinne dieses Wortes, aufgefasst werden sollte. Zwar bringt
Heidegger die beiden Disziplinen – oder Untersuchungsarten – gleich-
sam auf einen gemeinsamen Nenner, indem er sie unter dem Titel
»Wissenschaft des Übermächtigen« zusammenfasst. 183 In einer Fußnote
geht er sogar so weit, den Grundcharakter des Übermächtigen als »Hei-
ligkeit« zu bestimmen. 184 Gleichzeitig lässt er jedoch keinen Zweifel
darüber aufkommen, dass das Sein als Heiligkeit nicht als Gegenstand
derjenigen ontischen und positiven Wissenschaft betrachtet werden
kann, für die er nach dem Zeugnis eines berühmten Vortrags aus dem
Jahre 1927 die Theologie hält. 185 Als Phänomenologe bleibt Heidegger
einem »methodologischen Atheismus« 186 verpflichtet. Es ist nur eine
Konsequenz dieser methodologischen Strenge, dass die Metontologie
einzig und allein die Welt zum Gegenstand hat. Heidegger versäumt
übrigens nicht, auf den kosmischen und astralen Charakter der aristote-
lischen Theologie hinzuweisen. 187 Er behauptet sogar, das Übermächti-
ge, Umgreifende und Überwältigende, also »das, worunter und woran
wir geworfen, wovon wir benommen und überfallen sind«, 188 sei für
Aristoteles nichts anderes als »der Himmel«. 189 Unter Berufung auf die
aristotelische (oder pseudo-aristotelische) Schrift De mundo 190 setzt er

183
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 13.
184
Ebd., S. 211, Anm.
185
Heidegger, »Phänomenologie und Theologie«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe,
Bd. 9], S. 45–67.
186
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 177 und S. 211, Anm. Vgl. Dominique Janicaud, La phénomé-
nologie éclatée, Paris, Éd. de l’éclat, 1998, S. 43 und öfters (»athéisme méthodologique«)
und Marion, Étant donné, S. 57 (»athéisme de méthode«).
187
Über die zugrunde liegende Astralreligion siehe Aubenque, Le problème de l’être
chez Aristote, S. 335–355.
188
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 13.
189
Ebd.
190 Vgl. Aristoteles, De mundo, 391 a 25–391 b 4 [Opera, hg. von Immanuel Bekker,

235
Metaphysik zufälliger Faktizität

noch hinzu, dass die Philosophie als Theologie lediglich die Welt (κόσ-
μοϚ) betrachte. 191
In den Jahren zwischen 1928 und 1930 geht vom neu entdeckten
Gesichtspunkt der Metontologie ein Anstoß zur Ausarbeitung eines
Metaphysikentwurfs aus, der nicht bekannt genug ist, obgleich er heute
durchaus einen Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit erhebt – viel-
leicht mehr noch als der fundamentalontologische Ansatz von Sein
und Zeit. Im Mittelpunkt dieses Entwurfs steht das, was Heidegger im
letzten Kapitel seiner Vorlesung von 1929/1930 über Die Grundbegriffe
der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit als das Grundgesche-
hen der Weltbildung beschreibt.
Der Weg, der zur Erfassung dieses Grundgeschehens führt, wird
durch neue Einsichten bestimmt, die sich auf vier Themenbereiche
beziehen: Es ändert sich erstens das Verhältnis von Philosophie und
Wissenschaft; zweitens wird die Philosophie in ihrem Verhältnis zur
Weltanschauung neu begriffen; drittens wandelt sich Heideggers Auf-
fassung von der Wahrheit; viertens wird ein anthropologischer Zugang
zur Metaphysik des Daseins gewonnen, der schließlich zur These führt:
»Der Mensch ist weltbildend« 192 oder, genauer, »das Da-sein im Men-
schen ist weltbildend«. 193 Im Folgenden sollen die Änderungen in die-
sen vier Themenbereichen kurz zusammengefasst werden.

2. Philosophie und Wissenschaft

Was zunächst das Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft betrifft,


so werden die Grundgedanken, die in Sein und Zeit formuliert wurden,
in unserer Epoche weitergeführt. Demnach unterscheidet sich die Phi-
losophie dadurch von den Einzelwissenschaften, dass sie sich mit dem
Sein des Seienden befasst, während die Einzelwissenschaften sich

Berlin: Georg Reimer, Nachdruck: Walter de Gruyter 1970, 5 Bände, Bd. I, S. 390–401];
dt. Über die Welt, übersetzt von Otto Schönberger, Stuttgart: Reclam 22005 (11991),
S. 3 f.
191 Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-

samtausgabe, Bd. 26], S. 13.


192
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 397 und öfters.
193 Ebd., S. 414.

236
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

immer nur auf Seiendes beziehen. Anders gesagt, zielt die Philosophie
auf ontologische, die Einzelwissenschaften zielen dagegen auf ontische
Wahrheit ab. Dieser klare Unterschied wird auch dadurch nicht verdun-
kelt, dass sich die Einzelwissenschaften notwendig auf regionale Onto-
logien gründen: Sie schneiden sich einen bestimmten Bereich des Sei-
enden aus dem Weltganzen heraus, indem sie den Seinsrahmen des sie
gerade interessierenden Seienden durch ihre Grundbegriffe abstecken.
Deshalb stehen nach Heidegger selbst noch die positiven, empirischen
Wissenschaften letztlich auf apriorischen Grundlagen.
Diese Konzeption, die bereits in Sein und Zeit entworfen wurde,
wird in der Freiburger Vorlesung Einleitung in die Philosophie aus dem
Wintersemester 1928/1929 auf bedeutende Weise weiterentwickelt, in-
dem ein neuer Begriff des Mathematischen geprägt wird, der übrigens
nunmehr erhalten bleibt und auch in späteren Werken wiederkehrt. Es
heißt in dieser Vorlesung: »Die moderne Physik ist mathematisch, weil
in gewisser Weise das Apriori bestimmt ist. Jedes Experiment (zusam-
men mit den darin benutzten Meßinstrumenten) wird angesetzt und
gedeutet im Lichte einer vorgängigen Bestimmung des Seins des Seien-
den.« 194 Oder an einer anderen Stelle: »Die mathematische Physik ist
deswegen eine echte Wissenschaft geworden, weil sie durch den Cha-
rakter des Mathematischen im voraus die Seinsverfassung dessen be-
stimmt, was zu einem Naturding gehört.« 195
Wie wenig jedoch die Absteckung eines Seinsrahmens durch ein-
zelwissenschaftliche Grundbegriffe die philosophische Bestimmung des
Seins überhaupt und im Allgemeinen entbehrlich macht, zeigt sich nach
Heidegger daran, dass die Einzelwissenschaften von Zeit zu Zeit in
Krisen geraten. In diesen Krisen wird deutlich, dass die regionalen On-
tologien, die den Einzelwissenschaften zugrunde liegen, in sich selbst
undurchsichtig und in ihrem Zusammenhang miteinander unüber-
sichtlich sind. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Philosophie, die
Grundbegriffe der Einzelwissenschaften ontologisch zu prüfen und
den Zusammenhang der einzelnen Seinsregionen aus der allgemeinen
Idee von Sein überhaupt abzuleiten. Diese Aufgabe fällt in Sein und
Zeit der Fundamentalontologie zu. Sie kann nur noch deutlicher formu-

194
Martin Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], Freiburger
Vorlesung, Wintersemester 1928/1929, hg. von Otto Saame und Ina Saame-Speidel,
Frankfurt am Main: Klostermann 1976, S. 187.
195 Ebd., S. 188.

237
Metaphysik zufälliger Faktizität

liert werden, sobald das Seiende im Ganzen in metontologischer Per-


spektive thematisiert wird.
Dass die Metontologie diese Aufgabe mit dem Problem der Welt
verbindet und damit die Fundamentalontologie zu einer Metaphysik
des Daseins erweitert, ändert am Verhältnis von Philosophie und Wis-
senschaft an und für sich noch nichts. Wenn die Freiburger Vorlesung
von 1928/1929 doch eine grundlegende Änderung an diesem Verhältnis
mit sich bringt, so aus einem anderen Grunde und in anderer Hinsicht.
Sie stellt die Frage: »Ist Philosophie überhaupt eine Wissenschaft?«, 196
und sie antwortet auf diese Frage: »Nein, Philosophie ist keine Wissen-
schaft.« 197
Allerdings will Heidegger damit Husserls Anliegen, Philosophie
als »strenge Wissenschaft« zu begründen, nicht einfach verleugnen. 198
Wissenschaftliche Philosophie ist in seinen Augen nach wie vor nichts
Widerspruchsvolles, kein »hölzernes Eisen«; vielmehr ist sie etwas Tau-
tologisches, ähnlich wie ein »rundlicher Kreis«. 199 Die Philosophie ist ja
»ursprünglicher als jede Wissenschaft, weil alle Wissenschaft in der
Philosophie verwurzelt ist, aus ihr erst entspringt«. 200 Stellt jedoch die
Philosophie nicht allein die fundamentalontologische Frage nach dem
Sein des Seienden, sondern auch die metontologische Frage nach dem
Seienden im Ganzen, so kann sie keine Wissenschaft sein, nicht einmal
eine ontologische im Gegensatz zu allen ontischen. Denn: »Eine Wis-
senschaft vom Seienden im Ganzen […] ist wesenhaft unmöglich.« 201
Jede Wissenschaft ist ihrer Natur nach positive Einzelwissenschaft.
Die Philosophie unterscheidet sich von der Wissenschaft weiterhin
dadurch, dass sie ein ganz anderes Verhältnis mit der Weltanschauung
unterhält als die Wissenschaft. Damit sind wir bei unserem zweiten
Themenbereich angelangt, der mit dem ersten aufs Engste zusammen-
hängt.

196
Ebd., S. 14.
197 Ebd.
198
Ebd.
199
Ebd., S. 16.
200
Ebd., S. 17.
201 Ebd., S. 219.

238
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

3. Philosophie und Weltanschauung

Der Gedanke, die Philosophie sei nur eine besondere Spielart der Welt-
anschauung, tauchte gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Die Verwen-
dung des Wortes »Weltanschauung« konnte zu dieser Zeit bereits auf
eine Vergangenheit von mehr als hundert Jahren zurückblicken. Ver-
mutlich hat Kant in der Kritik der Urteilskraft dieses Wort zum ersten
Mal gebraucht, und zwar im Sinne einer Betrachtung der sinnlich ge-
gebenen Welt oder auch der Natur. 202 Ähnlich wird das Wort von Goe-
the und Alexander von Humboldt gebraucht. Es wird dann von Schel-
ling und den Romantikern aufgegriffen. Aber auch Hegel verwendet es:
Wohlbekannt ist zum Beispiel der Begriff einer »moralischen Welt-
anschauung« aus der Phänomenologie des Geistes. Zu dieser Zeit ist
jedoch niemandem eingefallen, die Philosophie als Weltanschauung zu
begreifen. Eine Schlüsselrolle in der Entstehung dieser Auffassung wird
später Wilhelm Dilthey zufallen, der nicht allein existentialistisch ge-
sinnte Denker wie Karl Jaspers, sondern auch die frühen Vertreter der
Phänomenologie, unter ihnen Husserl und Heidegger selbst, stark be-
einflusst.
Im Gegensatz zu Jaspers eignen sich jedoch die frühen Vertreter
der Phänomenologie die Dilthey’sche Ansicht über das Verhältnis von
Philosophie und Weltanschauung keineswegs an. Husserl kommt zu
der Einsicht, dass Weltanschauungsphilosophien zwar existieren, aber
die eigentliche Bestimmung der Philosophie keineswegs erfüllen. In den
1920er Jahren strebt Heidegger gleichfalls danach, sein philosophisches
Unterfangen von jeder Weltanschauung abzugrenzen. Das Problem der
Weltanschauung taucht bereits in der Vorlesung auf, die Heidegger als
Privatdozent an der Freiburger Universität im Kriegsnotsemester 1919
gehalten hat. Es entsteht hier allerdings kein Zweifel darüber, dass nach
Heidegger »die Ausbildung einer Weltanschauung in keiner Weise,
auch nicht als Grenzaufgabe, zur Philosophie gehört […]«. 203 In den
Vorlesungen aus der Marburger Periode (1923–1928) arbeitet Heideg-
ger bereits an der Fundamentalontologie, die er von den ontischen Wis-

202 Eine kurze begriffsgeschichtliche Übersicht findet man in: Heidegger, Die Grundpro-

bleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 5 f. und in: Heidegger, Einlei-
tung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 230.
203
Martin Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 56/57],
hg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt am Main: Klostermann 1987, S. 12.

239
Metaphysik zufälliger Faktizität

senschaften grundsätzlich unterscheidet. Trotz dieser Gegenüberstel-


lung hält er aber an der Idee einer »wissenschaftlichen Philosophie«
stets fest. In der Marburger Vorlesung Prolegomena zur Geschichte
des Zeitbegriffs behauptet er, dass die Philosophie wissenschaftlich ist,
weil sie »ein eigenes Gebiet und eine eigene Methode gewinnt«, 204 und
setzt hinzu: »Damit wird eine weltanschauliche Spekulation vermie-
den.« 205 In einer anderen Marburger Vorlesung, die unter dem Titel
Die Grundprobleme der Phänomenologie, bereits nach der Abfassung
von Sein und Zeit, im Sommersemester 1927 gehalten wird, betrachtet
Heidegger die Phänomenologie als den »Titel für die Methode der wis-
senschaftlichen Philosophie überhaupt«. 206 Er macht auch hier deutlich:
»Philosophie ist ihrem Wesen nach nicht Weltanschauungsbil-
dung […]«. 207 Diesmal setzt er sogar hinzu, dass »der Begriff einer
Weltanschauungsphilosophie überhaupt ein Unbegriff ist« – »ein höl-
zernes Eisen«. 208 Heideggers Ansicht über das Verhältnis von Philoso-
phie und Weltanschauung ändert sich nicht einmal am Ende der Marbur-
ger Periode grundsätzlich. In der Vorlesung über die Metaphysische[n]
Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz heißt es: »Wir phi-
losophieren nicht, um Philosophen zu werden, aber ebenso wenig um
uns und anderen eine rettende Weltanschauung zu beschaffen, die man
sich zulegen könnte wie Mantel und Hut.« 209 Gleichwohl findet man in
dieser letzten Marburger Vorlesung manche Vorzeichen eines neuen
Ansatzes. Davon zeugt etwa folgende Stelle: »Es gibt in der Tat eine phi-
losophische Weltanschauung, aber sie ist nicht ein Resultat der Philoso-
phie und nicht ihr als praktische Anweisung zum Leben angeheftet, son-
dern sie liegt im Philosophieren selbst.« 210 Die weitere Entfaltung dieses
Gedankens lässt jedoch noch auf sich warten.
Zu einem Durchbruch gelangt Heidegger erst in derjenigen Vor-
lesung, die er bereits als ernannter Nachfolger von Husserl im Winter-
semester 1928/29 unter dem Titel Einleitung in die Philosophie in Frei-

204
Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs [Gesamtausgabe, Bd. 20],
S. 22.
205
Ebd.
206
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 3.
207 Ebd., S. 13.

208
Ebd., S. 16.
209
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 22.
210 Ebd.

240
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

burg hält. Zum ersten Mal wird in dieser Vorlesung der Philosophie der
wissenschaftliche Charakter abgesprochen. Damit wird zwar die Entfer-
nung von der Husserl’schen Idee der Philosophie als strenger Wissen-
schaft offensichtlich, aber es folgt daraus nicht, dass Heidegger sich
nunmehr als Anhänger der Weltanschauungsphilosophie verstünde.
Auch in der Freiburger Vorlesung von 1928/1929 behauptet er unmiss-
verständlich: Es kann »nicht Aufgabe und Ziel der Philosophie sein,
eine Weltanschauung auszubilden […]«. 211 In Wahrheit wird er die Phi-
losophie selbst noch auf den Blättern der zwischen 1936 und 1938 ent-
stehenden Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) der Weltanschau-
ung schroff gegenüberstellen. 212
Aber die Idee von Metontologie stellt mit ihrer Ausrichtung auf
die Frage nach der Welt nunmehr auch das Problem der Weltanschau-
ung in ein neues Licht. Heidegger vertritt in der Vorlesung von 1928/29
die Ansicht, das Philosophieren als solches sei von einer bestimmten
Weltanschauung getragen. Gemeint ist eine Weltanschauung, die aus
einem radikalen Bruch mit dem »mythischen Denken« hervorgeht.
Die mythische Lebensweise setzt nach Heidegger, der sich dabei stark
auf den zweiten Band von Cassirers Philosophie der symbolischen For-
men stützt, 213 ein bestimmtes In-der-Welt-sein und damit ein bestimm-
tes Verhältnis des Daseins zu andersartigen Seienden voraus. Diejenige
Grundeinstellung, die ursprünglich für das mythische Denken charak-
teristisch ist, aber im religiösen Glauben auch nach dem Zusammen-
bruch mythischer Welten erhalten bleibt, kennzeichnet Heidegger
durch ein Streben nach Bergung oder Geborgenheit. Das Philosophie-
ren bricht nach ihm von vornherein mit dieser Bestrebung. Mit der
Geburt der Philosophie ändert sich daher das In-der-Welt-sein und da-
mit das Verhalten des Daseins zu andersartigen Seienden. Man könnte
sagen: Es entsteht eine neue metontologische Grundeinstellung, die al-
lererst so etwas wie Wissenschaft möglich macht; 214 denn im mythi-
schen Denken hatte die Wissenschaft keinen Platz. 215 Im Hinblick auf

211
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 379.
212
Siehe Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [Gesamtausgabe,
Bd. 65], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann
1989, S. 36–41.
213
Vgl. Heidegger, »Besprechung von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen For-
men, 2. Teil: Das mythische Denken (1925)« [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 255–270.
214
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 370.
215 Ebd., S. 362.: »Das mythische Dasein hat keine Wissenschaft […].«

241
Metaphysik zufälliger Faktizität

diese neue metontologische Grundeinstellung behauptet nun Heid-


egger, dass die Philosophie Trägerin einer bestimmten Weltanschauung
sei. Gemeint ist eine Weltanschauung, der es nicht auf Bergung und
Geborgenheit, sondern auf eine Haltung des Daseins im Weltganzen
ankommt.
Wir müssen deutlich sehen, dass diese Auffassung vom Verhältnis
von Philosophie und Weltanschauung die Philosophie nicht etwa in
ihrer inhaltlichen Ausrichtung, sondern einzig und allein in ihrer
Grundeinstellung mit der Weltanschauung verbindet. Deshalb ist sie
keineswegs unverträglich mit der nicht nur von Husserl, sondern auch
von Heidegger immer wieder geäußerten Überzeugung, dass die Phi-
losophie nicht dazu bestimmt ist, eine Weltanschauung auszubilden.
Die Zweideutigkeit in der Verwendung des Wortes »Weltanschauung«
kann behoben werden, wenn wir deutlich machen, dass die Philosophie
nach Heidegger nur insofern als Weltanschauung bezeichnet werden
kann, als sie eine bestimmte metontologische Grundeinstellung voraus-
setzt.
Man kann in der Abwendung von der Idee einer wissenschaftli-
chen Philosophie sicherlich einen folgenschweren Schritt auf Hei-
deggers denkerischer Laufbahn sehen. Man muss aber beachten, dass
dieser Schritt in der Freiburger Vorlesung von 1928/1929 aus einer
sachlichen Einsicht erwächst. Heidegger begreift, dass die metontologi-
sche Grundeinstellung, die Wissenschaft und Forschung erst ermög-
licht, nicht selber als wissenschaftliche Grundeinstellung gekennzeich-
net werden kann, ohne dass sich der Gedankengang in einem Kreise
bewegt. Deshalb versucht er, diese metontologische Grundeinstellung
als das Ergebnis eines weltanschaulichen Entwurfs zu kennzeichnen,
der dem Bruch mit einer vorgängigen Weltanschauung sein Gewicht
und seine eigentümliche Beschaffenheit zu verdanken hat. Es gelingt
Heidegger, durch diesen Ansatz eine Schwierigkeit zu überwinden, die
in Husserls Logos-Aufsatz über »Philosophie als strenge Wissenschaft«
spürbar ist. An einer Stelle dieses Aufsatzes verweist Husserl darauf,
dass die von ihm als »theoretisch« bezeichnete Einstellung »freilich
nur im voraus« so genannt werden könne, »weil in ihr in einer not-
wendigen Entwicklung die philosophische Theoria erwächst und zum
Eigenzweck und Interessenfeld wird«. 216 Als »theoretisch« wird aber

216
Edmund Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921) [Husserliana, Bd. XXV], hg.
von Th. Nenon und H. R. Sepp, Dordrecht: M. Nijhoff 1987, S. 328.

242
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

demnach diejenige Einstellung bezeichnet, aus der die »philosophische


Theoria« erwächst. Damit fehlt jedoch bei Husserl eine von Philosophie
und Wissenschaft unabhängige Kennzeichnung derjenigen Einstel-
lung, von der Philosophie und Wissenschaft getragen sind. Gerade die-
sem Mangel versucht Heidegger durch seine Idee einer metontologi-
schen Grundeinstellung, die im Gegensatz zu Bergung und Geborgen-
heit vielmehr eine Haltung inmitten des Seienden im Ganzen dem
Dasein gewährt, abzuhelfen.

4. Wandlungen in der Wahrheitsauffassung

Der dritte Themenbereich, in dem eine neue Einsicht aufkommt, ist der
des Wahrheitsproblems. Die Frage nach der Wahrheit steht von früh
auf im Mittelpunkt von Heideggers Denken. Im Rückgriff auf Aristote-
les und die griechische Philosophie versucht er dabei, Edmund Husserls
phänomenologischen Wahrheitsbegriff in kritischer Aneignung weiter-
zuführen. Sein Anliegen ist es, zu zeigen, dass der ursprüngliche Ort
der Wahrheit nicht die Aussage ist. Im Anschluss an den griechischen
Begriff von ἀλήθεια fasst er die vorprädikative Wahrheit als Unverbor-
genheit auf. In ähnlicher Bedeutung verwendet er auch den Terminus
Offenbarkeit. Ansatzweise ordnet er dabei den verschiedenen Seinswei-
sen bereits in Sein und Zeit verschiedene Begriffe vorprädikativer
Wahrheit zu. So unterscheidet er etwa die Erschlossenheit des Daseins
von der Entdecktheit von Vorhandenem und Zuhandenem. In § 44 von
Sein und Zeit nehmen diese Überlegungen eine feste Gestalt an.
Der Gedanke einer vorprädikativen Wahrheit ist in vollem Ein-
klang mit Heideggers Bestimmung des Phänomens. Besteht der Satz
zu Recht, dem zufolge das Phänomen das Sich-von-ihm-selbst-her-Zei-
gende ist, so ist das Phänomen von vornherein durch eine Unverbor-
genheit oder Offenbarkeit gekennzeichnet. Allerdings kann die Offen-
barkeit des Phänomens verdeckt bleiben oder verstellt werden. In
diesem Sinne heißt es in Sein und Zeit: »Verdecktheit ist der Gegen-
begriff zu ›Phänomen‹.«217 Das Phänomen des Seins ist nach Heidegger
erst recht verdeckt und verstellt. Das ist der Grund dafür, dass sich die
phänomenologische Ontologie dem Ansatz von Sein und Zeit zufolge
keineswegs auf eine Beschreibung und Zergliederung des Phänomens

217 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 151979 (11927), S. 36.

243
Metaphysik zufälliger Faktizität

von Sein beschränken kann, sondern von einer hermeneutischen Vor-


gehensweise Gebrauch machen muss. Aber auch diese Vorgehensweise
setzt immer schon ein vorontologisches Verständnis des Seins voraus.
Daraus geht hervor, dass auch das Phänomen des Seins durch eine ei-
gentümliche Offenbarkeit und Unverborgenheit charakterisiert ist. In
den meisten Fällen spricht Heidegger terminologisch von einer Enthül-
lung (oder Enthülltheit) des Seins. Zur vorprädikativen Sphäre gehört
daher nicht allein eine ontische, sondern ebenfalls eine ontologische
Wahrheit.
Allerdings verbindet sich diese Unterscheidung zwischen ontischer
und ontologischer Wahrheit erst nach der Abfassung von Sein und Zeit
mit dem Thema der ontologischen Differenz. Dieses Thema wird ja erst
in der Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927 angeschnitten. In dieser Vorlesung ver-
wendet Heidegger die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem
auch dazu, der – hier ausdrücklich genannten – »phänomenologischen
Reduktion« einen neuen Sinn zu geben. 218
Diese Neuerungen zeigen, dass Heideggers Denken zu dieser Zeit
noch voll im Fluss ist. Im Zeitraum von 1927 bis 1930 kommen dann
neue Einsichten auf, die auch die frühere Wahrheitsauffassung verwan-
deln.
Gewiss bleibt dabei Vieles unverändert. Am Ende der 1920er Jahre
hat Heidegger nach wie vor diejenige Offenbarkeit der Welt im Auge,
die der Prädikation und dem Logos (im Sinne der Aussage) vorhergeht.
Immer wieder weist er darauf hin, dass diese vorprädikative – oder
auch vorlogische – Offenbarkeit, die nach ihm eine Bedingung der
Möglichkeit sowohl für die Wahrheit als auch für die Falschheit der
Aussage ist, sich nicht als eine Angleichung der Vorstellung an die
Sache selbst, also nicht als adaequatio rei et intellectus begreifen lässt,
sondern einfach aus dem Von-sich-aus-Erscheinen des Seienden samt
seinem Sein, also aus seinem Sich-an-ihm-selbst-Zeigen, ergibt. 219
Auch dadurch wird längst schon Gedachtes nur deutlicher formuliert,
dass diese vorprädikative Offenbarkeit – besonders in ihrer Gestalt als
Unverborgenheit des Seins – in der Freiburger Vorlesung Einleitung in
die Philosophie aus dem Wintersemester 1928/29 als »transzendentale

218
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 29.
219
Vgl. z. B. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leib-
niz [Gesamtausgabe, Bd. 26], S. 158.

244
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

Wahrheit« 220 bezeichnet wird. Aber in dem sich gleichbleibenden Rah-


men drängen sich neue Fragestellungen auf.
Das geschieht vor allem in der gerade erwähnten Freiburger Vor-
lesung. Hier wird zunächst das Entsprechungsverhältnis zwischen ver-
schiedenen Seinsweisen und den ihnen zugeordneten Begriffen vorprä-
dikativer Wahrheit zum Gegenstand neuer Überlegungen gemacht. Es
wird betont, dass keineswegs »alles uns gerade zugängliche Seiende in
derselben Weise der Offenbarkeit unverborgen« ist. 221 Es besteht zwar
eine »gleichmäßige Aussagemöglichkeit über all das vorkommende Sei-
ende«. 222 Daher legt eine Analyse der Aussage notwendig nahe, eine
»gleichmäßige Form der Offenbarkeit, Unverborgenheit, Wahrheit des
Seienden« anzunehmen. 223 Aber die Aussage ist hier keine gute Rat-
geberin. Sie ist ja gerade nicht der ursprüngliche Ort der Wahrheit. Sie
täuscht auf der prädikativen Ebene eine Gleichmäßigkeit vor, aber auf
der vorprädikativen Ebene finden wir eine Vielfalt ungleichartiger Of-
fenbarkeitsweisen vor, die sich den verschiedenen Seinsweisen anglei-
chen. Dabei zieht Heidegger nicht mehr nur zwei, sondern nunmehr
vier Seinsweisen in Betracht: Vorhandenheit, Leben, Existenz und Be-
stand. 224 (Der Stein ist vorhanden, die Pflanze und das Tier leben, der
Mensch existiert und die Zahl besteht.) Die Idee einer Differenzierung
der Seinsweisen und der entsprechenden Wahrheitsformen ist vielver-
sprechend. Heidegger kommt jedoch nicht dazu, diesen Entwurf aus-
zuarbeiten. Vielmehr begnügt er sich damit, wieder nur die beiden ex-
tremen Weisen – Vorhandenheit und Existenz – ausführlicher zu
behandeln. 225 So bleibt hier der Fortgang zu einer neuen Fragestellung
in Ansätzen stecken.
Anders ist es mit zwei anderen Fragestellungen bestellt. Es ist eine
bemerkenswerte Eigentümlichkeit der Freiburger Vorlesung von 1928/
1929, dass sie das Problem der Wahrheit in die Perspektive des Mitseins
stellt. Heidegger zeigt, dass zum Dasein nicht allein immer und not-
wendig Mitsein gehört, sondern dass dieses Mitsein seiner Natur nach
»immer und notwendig ein Sichteilen in die Wahrheit« ist. 226 Diese Idee

220
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 207.
221
Ebd., S. 83.
222 Ebd., S. 82.
223
Ebd., S. 82.
224
Ebd., S. 83.
225
Ebd., S. 84.
226 Ebd., S. 120.

245
Metaphysik zufälliger Faktizität

einer geteilten Wahrheit ist ohne Zweifel eine Neuigkeit in der Lehre
von der Unverborgenheit, aber es kommt ihr eher noch ein Ergänzungs-
charakter zu. Dagegen formuliert Heidegger in der Vorlesung Die
Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit aus
dem Wintersemester 1929/30 eine Selbstkritik über seine frühere
Wahrheitsauffassung. Diese Selbstkritik erwächst aus einer neuen Ein-
sicht ins Verhältnis von Wahrheit und Freiheit.
Im Folgenden sollen diese beiden Änderungen am Wahrheits-
begriff von Sein und Zeit näher betrachtet werden. Unsere Überlegun-
gen verbleiben dabei innerhalb der Grenzen von Heideggers metaphy-
sischer Periode (1927–1930).

a. Wahrheit und Miteinandersein

Schon in Sein und Zeit geht Heidegger davon aus, dass dem Dasein das
Mitsein als Existenzial zugehört. 227 Demnach ist das Sein des Daseins
von vornherein ein Mitsein mit Anderen. Heidegger sagt: »Mitsein ist
eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins; Mitdasein charakterisiert das
Dasein Anderer, sofern es für ein Mitsein durch dessen Welt freigege-
ben ist.« 228 Die Vereinzelung, von der in Sein und Zeit häufig die Rede
ist, hat nichts mit der Solipsismusgefahr zu tun, die das »abgekapselte«,
»weltlose« Subjekt der neuzeitlichen Philosophie ständig bedroht hat.
Denn es handelt sich um eine Vereinzelung, die das Mitsein des Daseins
mit Anderen – und damit auch das Mitdasein Anderer – voraussetzt.
Heidegger deutet darüber hinaus einen Unterschied zwischen existen-
zialem Mitsein und faktischem Miteinandersein an. 229 Er lässt keinen
Zweifel darüber aufkommen, dass mit einem fehlenden Miteinander-
sein kein Mangel an Mitsein verbunden ist. Es heißt: »Auch das Allein-
sein des Daseins ist Mitsein in der Welt.« 230
Gleichwohl wurde dem Verfasser von Sein und Zeit bereis unmit-
telbar nach dem Erscheinen seines Werkes vorgeworfen, er habe das
Dasein in seiner Vereinzelung isoliert und sein Verhältnis zum Anderen
nicht in gehörigem Maße zum Gegenstand seiner Untersuchungen ge-

227
Heidegger, Sein und Zeit, S. 120.
228
Ebd., S. 121.
229
Ebd., S. 118 f.
230 Ebd., S. 120.

246
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

macht. In seiner letzten Marburger Vorlesung scheint Heidegger auf


diesen Einwand einzugehen, indem er sagt: »Der Ansatz in der Neutra-
lität bedeutet zwar eine eigentümliche Isolierung des Menschen, nicht
aber in faktisch existenziellem Sinne, als wäre der Philosophierende das
Zentrum der Welt, sondern sie ist die metaphysische Isolierung des
Menschen.« 231 An dieser Stelle besteht also Heidegger darauf, das Da-
sein in seiner »Neutralität« durch eine »metaphysische Isolierung« zu
charakterisieren, aber er deutet zugleich an, dass daraus keine solipsis-
tische Weltansicht erwachse, »als wäre der Philosophierende das Zen-
trum der Welt«. Mit metaphysischer Isolierung ist dabei allem An-
schein nach nichts anderes gemeint, als dass in der existenzialen Ana-
lytik – im Gegensatz etwa zur platonischen Tradition oder auch zum
Deutschen Idealismus – keine vorgegebene Einheit (zum Beispiel kein
vereinigendes Band des Geistes) das wohlverstandene Subjekt mit den
Mitsubjekten von vornherein verbindet. Es handelt sich dabei um eine
Voraussetzung, die von den meisten – vielleicht sogar von allen – Phä-
nomenologen geteilt wird. Um nur drei Denker zu nennen, die Wesent-
liches zur Phänomenologie der Intersubjektivität beigetragen haben,
können wir hervorheben, dass Edmund Husserl behauptet, die Lebens-
zeit des Selbst sei von der Lebenszeit des Anderen »abgrundtief geschie-
den«, 232 Jean-Paul Sartre den Ansatz zurückweist, die Bewusstseine aus
einer Ur-Teilung geistiger Gesamttotalität wie die »Splitter einer radi-
kalen Explosion« hervorgehen zu lassen 233 und Emmanuel Levinas da-
gegen kämpft, eine ursprüngliche Einheit der Bewusstseine im Sinne
französischer Geistesphilosophie – der Name von Jean Nabert wird im
Text erwähnt 234 – auch nur »in der Reflexion und ihren Figuren« zu
suchen, »ohne daß die Möglichkeit der vollständigen Reflexion und
der Einheit des Geistes jenseits der Vielheit der Seelen tatsächlich ge-

231
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 172.
232
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935 [Hus-
serliana, Bd. XV], S. 339: »Die Zeit meines strömenden Lebens und die meines Nachbarn
ist also abgrundtief geschieden, und selbst dieses Wort sagt noch in seiner Bildlichkeit zu
wenig.«
233 Jean-Paul Sartre, L’être et le néant, Gallimard, Paris 1943, S. 361; dt. Das Sein und

das Nichts, übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1991. (Die Seitenzahlen der ersten französischen Ausgabe, die zitiert wird, sind
in der deutschen Übersetzung am Rande verzeichnet.)
234 Levinas, Autrement qu’être ou au–délà de l’essence, S. 182; dt. S. 255.

247
Metaphysik zufälliger Faktizität

währleistet ist«. 235 Abgrundtiefe Geschiedenheit bei Husserl, Trennung


(séparation) bei Sartre und Levinas, Auseinandergehen der Bewusstsei-
ne (sécession des consciences) bei Nabert 236 drücken die gleiche Er-
kenntnis aus wie die metaphysische Isolierung des Daseins bei Hei-
degger. Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist
die Aufgabe, das Dasein in seinem Mitsein mit den Anderen fassbar zu
machen. Dazu macht Heidegger einen neuen Versuch in seiner ersten
Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1928/29, indem er sich
auf die gemeinsame Gegebenheit der Wahrheit als Unverborgenheit
besinnt.
Der Gedankengang, in dem diese Besinnung Ausdruck findet,
bleibt allerdings an eine Voraussetzung gebunden, die deutlich heraus-
gestellt werden soll, bevor der Gedankengang selbst näher ins Auge
gefasst wird. Heidegger ist davon überzeugt, dass eine wahre Gemein-
schaft ausschließlich aus einer gemeinsamen Sache erwachsen kann.
Miteinandersein bedeutet für ihn, dass »mehrere sich in verschiedener
Weise zum Selbigen verhalten«. 237 In der Vorlesung von 1928/29 wird
ein emblematischer Ausdruck für diese Auffassung geprägt. Heidegger
führt das Beispiel zweier Wanderer an, die zwei Felsblöcke an einer
Geröllhalde zu Gesicht bekommen. Es heißt:
»Nehmen wir an, die beiden Wanderer kommen alsbald um eine Biegung des
Pfads zu einer unerwarteten Aussicht auf das Gebirge, so daß sie beide plötz-
lich hingerissen sind und schweigend nebeneinander stehen. Es ist dann kei-
ne Spur von gegenseitigem Sicherfassen, jeder steht vielmehr benommen
von dem Anblick. Sind die beiden jetzt nur noch nebeneinander wie die bei-
den Felsblöcke, oder sind sie in diesem Augenblick gerade in einer Weise
miteinander, wie sie es nicht sein können, wenn sie unentwegt zusammen
schwatzen oder gar sich gegenseitig erfassen und auf ihre Komplexe be-
schnüffeln?« 238
Diese rhetorische Frage, deren polemische Spitze nach dem Zeugnis des
Wortes »Komplex« gegen die Psychoanalyse gerichtet ist, leitet zu
einem Schluss hin, der auf folgende Weise formuliert wird: »Damit
gegenseitiges Sicherfassen überhaupt und als solches möglich sei, muß

235
Ebd., S. 199; dt. S. 278.
236
Jean Nabert, Essai sur le mal, Paris: Aubier 1955, S. 115.
237
Heidegger, Einleitung in die Philosophie [Gesamtausgabe, Bd. 27], S. 91.
238 Ebd., S. 86.

248
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

zuvor ein Miteinandersein möglich sein.« 239 Oder einfacher: »Gegen-


seitiges Sicherfassen ist fundiert im Miteinandersein.« 240
Die Ansicht über das Verhältnis zwischen dem Selbst und dem
Anderen, die Heidegger an dieser Stelle darlegt, bezeichnet genau den
Punkt, an dem sich die Geister in der Phänomenologie der Intersubjek-
tivität scheiden. Sie wird von keinen geringeren Phänomenologen als
etwa von den bereits erwähnten drei Denkern – Husserl, Sartre und
Levinas – in Frage gestellt, ja, eindeutig verworfen. Diese Denker ver-
pflichten sich zur gegensinnigen Ansicht, der zufolge erst ein ausdrück-
liches Verhalten des Selbst zum Anderen, das sich allerdings nicht von
vornherein als ein gegenseitiges Sicherfassen verstehen lässt, begreif-
lich machen kann, wie ein Miteinandersein, eine Gemeinschaft, ein
»Wir« überhaupt möglich ist. Heidegger missversteht diesen Ansatz
von Grund auf, wenn er Husserl dessen beschuldigt, ein eingekapseltes
»Rumpfsubjekt« 241 anzunehmen, das »sich jeweils in einem Gehäuse
befindet« 242 und sich gerade deshalb vor die Aufgabe gestellt sieht,
durch das »Fenster« einer »Ich-Du-Beziehung« 243 zum Mitsubjekt hin-
überzusteigen. In Wahrheit ist nach Husserl das Mitsubjekt in der
Wahrnehmung des jeweiligen Subjekts von vornherein leibhaftig gege-
ben; es ist daher bei Husserl genauso mit da wie bei Heidegger. Ein
skeptisches Problem von other minds gibt es für Husserl ebenso wenig
wie für Heidegger; dieses Problem erweist sich vielmehr bei beiden als
ein Pseudo-Problem. Das ist der Fall auch mit anderen Phänomenolo-
gen wie Sartre oder Levinas. Es fragt sich darüber hinaus, ob der Gedan-
ke eines Miteinanderseins, das als die Fundierungsinstanz gegenseitigen
Erfassens von vornherein gegeben sein soll, der Einsicht in die meta-
physische Isolierung des Daseins voll Rechnung trägt, oder doch eher
Husserl, Sartre und Levinas die Konsequenzen aus dieser – auch von
Heidegger deutlich erkannten – Grundtatsache ziehen.
Heidegger scheint auch auf seine frühere terminologische Unter-
scheidung zwischen existenzialem Mitsein und faktischem Miteinan-
dersein zu verzichten, wenn er behauptet: »[…] im Alleinsein ist ein
Ohneeinandersein; Ohneeinander aber ist ein spezifisches Miteinander-

239 Ebd., S. 87.


240
Ebd., S. 87.
241
Ebd., S. 140.
242
Ebd., S. 141.
243 Ebd., S. 141.

249
Metaphysik zufälliger Faktizität

sein. Demnach ist auch jedes Alleinsein ein Miteinandersein […].« 244
Wie man sich erinnert, hieß es früher in Sein und Zeit, »Alleinsein des
Daseins« sei »Mitsein in der Welt«; jetzt wird das Alleinsein geradezu
als eine bestimmte Form des Miteinanderseins aufgefasst. Der Grund
dieser Änderung ergibt sich aus der metontologischen Sichtweise, die
Heidegger sich in seiner metaphysischen Periode aneignet. Nunmehr
geht es bei Heidegger nicht nur um eine Transzendenz zum Sein hin
(wie noch in der Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927), sondern ebenso sehr – oder mehr
noch – um eine Transzendenz zur Welt hin. Diese letztere Transzendenz
– der Überstieg über das Seiende zur Welt hin – wird terminologisch als
»Weltbildung« bezeichnet. Die Metaphysik des Daseins ist nichts ande-
res als gerade eine Lehre vom weltbildenden Charakter des Menschen.
Das Seinsverständnis, das im Mittelpunkt der Fundamentalontologie
von Sein und Zeit stand, wird vom Gesichtspunkt der Metontologie
aus nur noch als eine Vorbedingung für die Weltbildung des Daseins
mitberücksichtigt. Die Frage nach der Wahrheit verbindet sich ebenfalls
mit der Idee von Weltbildung. Daher wird die Wahrheit in unserer Pe-
riode vorrangig als eine vorprädikative Offenbarkeit der Welt verstan-
den. Aus dem weltbildenden Charakter des Daseins im Menschen folgt
jedoch, dass dem Selbst und dem Anderen immer schon eine ganze Welt
gemeinsam ist. Daher kommt nunmehr nicht allein ein Mitsein des
Daseins mit Anderen als Existenzial in Betracht, sondern auch ein Mit-
einandersein, das aus der Gemeinsamkeit der Welt erwächst, kann
immer schon vorausgesetzt werden.
Das ist der Hintergrund, vor dem die Idee einer von uns allen ge-
teilten Wahrheit verständlich wird. Für Heidegger bedeutet die Ge-
meinsamkeit der Welt nichts anderes als die gemeinsame – weil jedem
einzelnen Dasein zugängliche – Offenbarkeit der Welt. Heidegger sieht
deutlich, dass es keine Wahrheit im vollen Sinne des Wortes ohne die
Möglichkeit gemeinsamer Teilhabe an ihr gibt. Daraus folgt für ihn,
dass wir uns immer schon in die Wahrheit als Unverborgenheit oder
Offenbarkeit teilen.
Heidegger verwendet den merkwürdigen Ausdruck »Sichteilen in
die Wahrheit«, um die Idee einer gemeinsamen Teilhabe an der Wahr-
heit vor Missverständnissen zu schützen. Wir können Teilhaber an
einem Ding sein, indem wir es unter uns verteilen. Dabei wird das Ding

244 Ebd., S. 118.

250
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

in Stücke zerteilt. 245 Bei der Wahrheit handelt es sich jedoch um eine
Teilhabe, die den Dingen nichts anhaben kann. Das will Heidegger be-
tonen, indem er das Sichteilen in die Wahrheit als ein »Seinlassen der
Dinge« 246 bestimmt. Er sagt:
»Wir fragen nach einer Teilhabe am Seienden, bei der wir uns in etwas teilen,
was dem Seienden zukommt, ohne daß am Seienden etwas dabei in Verlust
gerät und geändert wird. Worin teilen wir uns in dieser merkwürdigen Teil-
habe am Seienden? Wir teilen uns in seine Unverborgenheit, seine Wahrheit.
Nur sofern wir uns in die Unverborgenheit des Seienden teilen, können wir
es, das Seiende, so sein lassen, wie es sich bekundet.« 247
Damit findet Heidegger zugleich den Schlüssel zum Verständnis eines
immer schon gegebenen Miteinanderseins. Leitend für den Gedanken-
gang ist nach wie vor die Überzeugung, die an einer Stelle auf folgende
Weise festgehalten wird: »Immer […] ist das Sein bei Gemeinsamem
wesentlich für das Miteinander.« 248 Mit der Wahrheit als Unverborgen-
heit oder Offenbarkeit der Welt, in die wir uns teilen, ist das Gemein-
same, Selbige gefunden, zu dem wir uns auf je verschiedene Weise ver-
halten. Aus diesem Gemeinsamen, Selbigen erwächst ein ursprüng-
liches Miteinander, das nach Heidegger eine »Gemeinschaft von
Ichen« überhaupt erst ermöglicht. 249
Allerdings dürfen wir in der von uns behandelten Epoche die Welt,
um deren Unverborgenheit oder Offenbarkeit es sich handelt, niemals
aus dem Zusammenhang herauslösen, in dem sie mit der Weltbildung
des Daseins steht. Zum ursprünglichen Plan, dem die Freiburger Vor-
lesung aus dem Wintersemester 1928/29 folgt, gehört eine Auseinan-
dersetzung mit dem Verhältnis von Philosophie und Geschichte. Selbst
wenn diese Auseinandersetzung am Ende aus Zeitgründen nicht statt-
findet, bildet sie den gedanklichen Horizont der Untersuchungen, die
der Frage nach der Wahrheit gewidmet sind. Deshalb dürfen wir anneh-
men, dass Heidegger nicht nur die einzige Welt als solche, sondern je-
weils auch eine geschichtliche Welt im Auge hat, wenn er von der
Wahrheit als Unverborgenheit oder Offenbarkeit der Welt redet. Das
Gemeinsame, Selbige, das ein ursprüngliches Miteinander konstituiert,

245 Ebd., S. 100.


246
Ebd., S. 102.
247
Ebd., S. 105.
248
Ebd., S. 148.
249 Ebd., S. 145.

251
Metaphysik zufälliger Faktizität

ist daher jeweils an einen geschichtlichen Weltentwurf gebunden, der


sich in der Weltanschauung, der Wissenschaft, der Philosophie und der
Kunst eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Epoche bekun-
det. Auf diese Weise können wir den Begriff der Wahrheit – Heideggers
methodischer Vorgehensweise gemäß – als formale Anzeige verstehen.
Daraus ergibt sich nicht allein die Stärke, sondern auch die Grenze
von Heideggers Ansatz zu einem Verständnis des ursprünglichen Mit-
einanderseins. Dieser Ansatz beruht auf der Einsicht, dass eine Ich-Du-
Beziehung stets an die Bedingung einer gemeinsamen, vom jeweiligen
Ich und jeweiligen Du bereits geteilten Offenbarkeit der Welt gebunden
ist. Deshalb kann Heidegger auf seine Weise an die Monadologie von
Leibniz anknüpfen, indem er davon ausgeht, dass bei Leibniz die Mo-
naden von ihrem besonderen Gesichtspunkt aus das Ganze vorstellen
und dass sie aus diesem Grund nicht allein keine Fenster haben, sondern
auch »keine brauchen«. 250 Er sagt: »Es gilt nicht, den monadologischen
Ansatz zu ergänzen und durch Einfühlung zu verbessern, sondern zu
radikalisieren.« 251 Damit versetzt er sich auf einen Standpunkt, der dem
Husserl’schen Ansatz zur Phänomenologie der Intersubjektivität gera-
dezu entgegengesetzt ist. In einem Forschungstext, der in Band XIV der
Husserliana veröffentlicht wurde, heißt es ja ausdrücklich: »Jedes Ich ist
eine ›Monade‹. Aber die Monaden haben Fenster. Sie haben insofern
keine Fenster oder Türen, als kein anderes Subjekt reell eintreten kann,
aber durch die hindurch es (die Fenster sind die Einfühlungen) so gut
erfahren sein kann wie vergangene eigene Erlebnisse durch Wieder-
erinnerung.« 252 Es spricht dabei auf jeden Fall für Husserls Ansatz, dass
in ihm nicht allein das Verhältnis des Selbst zum Anderen, sondern
auch das Verhältnis der Heimwelt zu einer fremden Welt thematisiert
werden kann. Dagegen beschränkt sich das Verdienst von Heidegger
eher nur darauf, den gemeinsamen Charakter vorprädikativer Wahrheit
herausgestellt zu haben.

250
Ebd., S. 144.
251
Ebd., S. 145.
252
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Zweiter Teil: 1921–1928 [Hus-
serliana, Bd. XIV], S. 260.

252
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

b. Wahrheit und Freiheit

Die Idee geteilter Wahrheit ist ein wesentliches Ergänzungsstück zum


Wahrheitsverständnis von Sein und Zeit, aber sie ändert den Sinn und
den Denkgehalt der früheren Lehre kaum. Anders steht es mit einer
Einsicht, die am Ende der Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der
Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit aus dem Wintersemester
von 1929/30 formuliert wird.
Heidegger trägt hier seine Gedanken in einer Gestalt vor, die sich
aus seiner Anknüpfung an die aristotelische Theorie des Aussagesatzes
in De interpretatione ergibt. Es werden von Aristoteles einerseits wahre
und falsche, andererseits bejahende (positive) und verneinende (negati-
ve) Aussagesätze voneinander unterschieden. Es legt sich nahe, sich in
der Deutung der Wahrheit vor allem an dem bejahenden (positiven)
wahren Aussagesatz zu orientieren, um die drei anderen Kombinations-
möglichkeiten im Ausgang von diesem ausgezeichneten Fall zu begrei-
fen. Heidegger erkennt jedoch das Täuschende an dieser Vorgehenswei-
se. Er sagt: »Diese Art des Ansatzes der Logik beim positiven wahren
Urteil ist in gewissen Grenzen berechtigt, wird aber gerade deshalb zur
Veranlassung der Grundtäuschung, als käme es darauf an, die übrigen
möglichen Formen der Aussage nur einfach auf die genannte – ergän-
zend – zu beziehen. Ich selbst bin noch – wenigstens in der Durchfüh-
rung der Interpretation des λόγοϚ – in ›Sein und Zeit‹ ein Opfer dieser
Täuschung geworden (vgl. als von dieser Täuschung ausgenommen
›Sein und Zeit‹ S. 222 und S. 285 f.).« 253
Diese selbstkritische Bemerkung ist nicht leicht nachvollziehbar.
Überraschenderweise bezieht sie sich gar nicht auf das Verständnis der
vorprädikativen Wahrheit, sondern auf die Analyse des Aussagesatzes,
des Urteils, obgleich die eigentümliche Leistung von Sein und Zeit doch
vor allem in der Erarbeitung eines vorprädikativen Wahrheitsverständ-
nisses besteht. Darüber hinaus ist es nicht leicht verständlich, wie Hei-
degger sich selbst vorwerfen kann, er habe nicht nur das Problem der
verneinenden (negativen) wahren Aussage, sondern auch das Problem
der falschen Aussage vernachlässigt. Er hatte sich ja in der Marburger
Zeit mit diesem seit Platons Sophistes wohlbekannten Problem der Phi-
losophie wiederholt auseinandergesetzt. Es genügt hier, einerseits auf

253
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 488.

253
Metaphysik zufälliger Faktizität

die Marburger Vorlesung über Platons Sophistes aus dem Winter-


semester 1924/25, 254 andererseits auf die Marburger Logikvorlesung
aus dem Jahre 1925 zu verweisen, 255 in denen die Frage nach der Falsch-
heit der Aussage eingehend behandelt wurde.
Die selbstkritische Bemerkung in der Vorlesung von 1929/30 ist
ebendeshalb anders zu verstehen. Moniert wird doch wohl eher eine
Eigentümlichkeit des vorprädikativen Wahrheitsverständnisses, die sich
jedoch auf die Analyse des Aussagesatzes, des Urteils auswirkt. Allem
Anschein nach weist die selbstkritische Bemerkung darauf hin, dass die
Gleichsetzung der Wahrheit mit der Unverborgenheit der Welt das Ur-
teil des eigentümlichen Spielraums beraubt, in dem es wahr oder falsch
sein kann. Im Sinne von Sein und Zeit ist der Aussagesatz seiner Be-
stimmung gemäß ein bloßer Ausdruck unmittelbar vernommener Of-
fenbarkeit. In der Logikvorlesung von 1925 war eine ähnliche Auffas-
sung entwickelt worden. Dort hatte sich Heidegger auf das berühmte
Kapitel 10 des Buches IX der aristotelischen Metaphysik gestützt, um
die Wahrheit als den »eigentlichsten Sinn« von Sein bei Aristoteles
aufzuweisen. 256 In seiner Deutung dieses Kapitels hatte er die Wahrheit
auf ein unmittelbares Vernehmen der Unverborgenheit eines Seienden
zurückgeführt. 257 Diese Auffassung verleiht aber dem bejahenden wah-
ren Aussagesatz von vornherein einen Vorrang. Wird ja die Wahrheit
inhaltlich mit dem Sein gleichgesetzt, so dient der Aussagesatz nur noch
dazu, das, was ist, als das, was es ist, auszudrücken. Die Gesamtheit
bejahender (positiver) wahrer Sätze reicht dann restlos dazu hin, die so
verstandene Wahrheit in ihrer Gesamtheit festzuhalten. Denn nichts
kann das, was ist, als das, was es ist, einfacher ausdrücken als ein be-
jahender (positiver) wahrer Satz.
In einer so angelegten Wahrheitsauffassung kommt den vernei-
nenden (negativen) wahren Sätzen notwendig nur eine untergeordnete
und episodische Rolle zu. Sie dienen zwar dazu, falsche Sätze zu berich-
tigen. Aber der Grund der Falschheit dieser Sätze ist einzig und allein

254
Martin Heidegger, Platon: Sophistes [Gesamtausgabe, Bd. 19], Marburger Vor-
lesung, Wintersemester 1924/1925, hg. von Ingeborg Schüßler, Frankfurt am Main:
Klostermann 1992., S. 410 f. und S. 559–562.
255 Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit [Gesamtausgabe, Bd. 21],

Marburger Vorlesung, Wintersemester 1925/1926, hg. von Walter Biemel, Frankfurt


am Main: Klostermann 1976, § 13, S. 162–190.
256
Ebd., S. 179.
257 Ebd., S. 181.

254
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

der Umstand, dass das Seiende trotz seiner grundsätzlichen Unverbor-


genheit und Offenbarkeit nur selten unverhüllt zutage tritt, oft aber
verdeckt oder verstellt bleibt. In den falschen Sätzen drückt sich nach
Heideggers Marburger Texten immer nur die Verdecktheit oder das
Verstelltsein des Seienden aus. Ebendeshalb gehört aber die Falschheit
nach dem Wahrheitsverständnis dieser Periode nicht notwendig mit der
Wahrheit zusammen. Das ist der Grund dafür, dass die falschen wie
auch die sie berichtigenden verneindenden (negativen) wahren Aus-
sagesätze zu dieser Zeit hintangesetzt werden. Gewiss ist Heidegger
bereits in seiner Marburger Vorlesung über Platons Sophistes um ein
»positive[s] Verständnis der Negation« bemüht. 258 In Sein und Zeit, das
ja ebenfalls noch zur Marburger Periode gehört, macht er dann nicht
allein deutlich, dass der »ontologische Sinn« – oder auch »Ursprung« –
»der Nichtheit« der Aufklärung bedarf, 259 sondern er stellt ebenfalls
heraus, dass das Dasein nicht nur in der Wahrheit, sondern immer auch
in der Unwahrheit ist. 260 Dass aber Wahrheit und Unwahrheit immer
zugleich zum Dasein gehören, bedeutet noch nicht, dass sie auch mit-
einander notwendig zusammengehören. Deshalb haben jedoch auch die
verneinenden (negativen) wahren Sätze als Berichtigungsmittel fal-
scher Aussagesätze nur einen epistemischen, aber keinen alethischen
Wert. Sie können im Prinzip jederzeit durch bejahende (positive) wahre
Sätze ersetzt werden.
Diese Grundeinstellung zur Wahrheit ist meines Erachtens die ei-
gentliche Zielscheibe von Heideggers Selbstkritik in der Vorlesung von
1929/30. Er begreift jetzt, dass dem Aussagesatz ein Urteil zugrunde
liegt, das kein bloßer Ausdruck des unmittelbar Vernommenen ist, son-
dern vielmehr eine Stellungnahme zu ihm in sich schließt. Eine ähn-

258
Heidegger, Platon: Sophistes [Gesamtausgabe, Bd. 19], S. 560: »Vor allem ist das
positive Verständnis der Negation wichtig für diejenige Forschung, die primär und einzig
nur in Aufweisungen sich bewegt. In der phänomenologischen Forschung selbst be-
kommt die Negation eine ausgezeichnete Stellung: die Negation in dem Sinne, daß sie
vollzogen wird innerhalb der vorgängigen Aneignung und Aufdeckung eines Sach-
bestandes.«
259
Heidegger, Sein und Zeit, S. 285 f. – Das ist die eine der beiden Stellen, die Heidegger
in seiner Selbstkritik von 1929/30 als eine Ausnahme von der gerade entdeckten Täu-
schung erwähnt.
260
Ebd., S. 222. – Hier finden wir die andere Stelle, die Heidegger in seiner Selbstkritik
von 1929/30 von der neu entdeckten Täuschung ausnimmt. Es heißt hier: »Der volle
existenzial-ontologische Sinn des Satzes: ›Dasein ist in der Wahrheit‹ sagt gleichur-
sprünglich mit: ›Dasein ist in der Unwahrheit‹.«

255
Metaphysik zufälliger Faktizität

liche Einsicht trägt als Grundmotiv die Kritik, die Ernst Tugendhat am
Ende der sechziger Jahre am phänomenologischen Wahrheitsbegriff
von Heidegger üben wird. 261 Der wohl durchaus berechtigten Forde-
rung, die diese Kritik animiert, trägt aber die Vorlesung von 1929/1930,
die Tugendhat Ende der 1960er Jahre natürlich noch nicht kennen
konnte, weitgehend Rechnung. Es heißt im Text dieser Vorlesung:
»Um aber über Angemessenheit dessen, was der λόγοϚ aufweisend sagt, bzw.
über Unangemessenheit zu entscheiden, genauer, um überhaupt in diesem
›entweder-oder‹ sich verhalten zu können, muß der redend aussagende
Mensch im vorhinein einen Spielraum haben für das vergleichende Hin-her
des ›entweder-oder‹, der Wahrheit oder Falschheit, und zwar einen Spielraum,
innerhalb dessen schon das Seiende selbst, darüber es auszusagen gilt, offen-
bar ist.« 262
Das Urteil kann jedoch nur dann einen Spielraum für das vergleichende
Hin und Her des Entweder-Oder, der Wahrheit oder Falschheit haben,
wenn der urteilende Mensch über das Seiende und sein Sein hinaus-
gehen kann. Daraus erhellt sich der eigentliche Sinn von Metontologie.
Mit Metontologie ist eine neuartige Transzendenz gemeint, ein Über-
stieg über das Seiende, aber nicht zum Sein hin, sondern zur Welt hin.

261
In Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin: Walter de Gruyter 1970)
sagt Ernst Tugendhat: »Bei Heidegger […] fehlt […] die Unterscheidung zwischen dem
faktischen Akt des Entdeckens und dem Entdecken in specie. Indem sich der Mangel
dieser Unterscheidung mit der Zweideutigkeit im Begriff des Entdeckens verbindet, er-
gibt sich eine Auffassung, der zufolge die Wahrheit nicht ein angemessenes Aufzeigen
von einem unangemessenen unterscheidet, sondern ein aufgezeigtes Seiendes von einem
verborgenen. Das Seiende wird wahr, wenn es faktisch aufgezeigt wird.« (S. 344.) Im
Aufsatz »Heideggers Idee von Wahrheit« zieht er daraus besonders deutlich die Kon-
sequenzen: »Der spezifische Sinn von Wahrheit geht im Entdecken als Apophansis
gleichsam unter. Und auch die Unwahrheit im spezifischen Sinn wird von Heidegger
zwar nicht einfach ausgelassen, aber sowohl in ›Sein und Zeit‹ wie in ›Vom Wesen der
Wahrheit‹ erst nachträglich berücksichtigt, so daß der Gegensatz zu ihr für den Sinn der
Wahrheit nicht mehr wesentlich werden kann und sie nun statt dessen in die Wahrheit
selbst mitaufgenommen wird […]. Das spezifische Wahrheitsproblem wird übergangen,
aber nicht so, daß es einfach beiseite gelassen würde und damit offen bliebe. Indem
Heidegger vielmehr am Wort Wahrheit gerade festhält, aber seinen Sinn verschiebt […],
läßt sich nicht einmal mehr sehen, daß hier etwas übergangen wurde.« (Ernst Tugendhat,
»Heideggers Idee von Wahrheit«, in: Otto Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur
Deutung seines Werks, Köln und Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1969, S. 286–297, hier:
S. 293.)
262
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 493.

256
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

Der Unterschied besteht darin, dass die Welt im Gegensatz zum Sein
einen Spielraum für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit
eröffnet.
Erst an diesem Punkt wird uns klar, dass Heidegger in seiner me-
taphysischen Periode mit Welt nicht mehr dasselbe meint wie in Sein
und Zeit. Die Verweisungszusammenhänge der jeweils gerade begeg-
nenden Seienden reichen nunmehr in der Tat keineswegs aus, um die
Weltstruktur – die »Weltlichkeit« – der Welt festzulegen. Solange die
Welt mit der Gesamtheit dieser Verweisungszusammenhänge gleichge-
setzt wurde, war keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Sein
und Welt möglich. Tatsächlich war Welt in Sein und Zeit ein Existenzial
des Daseins, das heißt eine der fundamentalen Existenzbestimmungen;
sie gehörte also zum Seinsbestand des Daseins. Dagegen beruht die Idee
von Metontologie von vornherein auf einer Unterscheidung zwischen
Sein und Welt. Diese Unterscheidung wird in der Periode von 1927 bis
1930 dadurch möglich, dass die Welt nunmehr als ein Spielraum für das
Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit begriffen wird.
Der neue Ansatz ist offenbar erläuterungsbedürftig, aber Heideg-
ger bleibt in der Vorlesung von 1929/30 jede Erläuterung schuldig. Wir
sind daher weitgehend auf Vermutungen angewiesen. Um den neuen
Ansatz, der aus der Selbstkritik von Heidegger erwächst, fassbar und
begreiflich zu machen, müssen wir davon ausgehen, dass dieser Ansatz
den Sinn falscher Aussagesätze und die Rolle verneinender wahrer Ur-
teile in ein neues Licht stellt. Ein weiterer Anhaltspunkt für die Deu-
tung ergibt sich daraus, dass Heidegger in dieser Periode seines Den-
kens den Begriff der Welt an den jeweiligen Weltentwurf des Daseins
zurückbindet. Wenn wir diese beiden Anhaltspunkte mit der Idee eines
Spielraums für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit ver-
binden, können wir den positiven Grundgedanken, der Heideggers
Selbstkritik zugrunde liegt, in folgenden Schritten rekonstruieren:

1. Wandlungen der Wahrheitswerte innerhalb von Weltentwürfen.


Kein Weltentwurf ist lückenlos. So umfassend er auch immer ist,
er stützt sich niemals auf alle wahren Aussagesätze, die über die
Welt formuliert werden können. Sicherlich gibt es manche Kern-
sätze, mit denen ein Weltentwurf steht oder fällt, aber es gibt un-
zählige andere, von denen er nicht unmittelbar abhängig ist. Zu
jedem Weltentwurf gehört ja ein unermesslicher Bereich mög-
licher Aussagesätze, die noch gar nicht formuliert worden sind.

257
Metaphysik zufälliger Faktizität

Neben diesem leeren Bereich gibt es in jedem Weltentwurf einen


offenen Bereich von Aussagesätzen, die sich als falsch erweisen
können, ohne dass der gesamte Weltentwurf davon wesenhaft be-
troffen ist. Wie groß dieser offene Bereich ist, hängt vom jeweili-
gen Weltentwurf ab. Auf jeden Fall taucht an diesem Punkt das
Bild eines Erkenntnisprozesses auf, in dem sich für wahr Gehalte-
nes in Falsches verwandeln kann (und umgekehrt). Derartige
Wandlungen der Wahrheitswerte schlagen sich in verneinenden
(negativen) wahren Urteilen nieder. Diesen Urteilen kommt eine
konstitutive Rolle für den zugrunde liegenden Weltentwurf zu,
solange dieser sich inmitten der Wandlungen der Wahrheitswerte
erhalten kann. Aber selbst wenn die epistemische Dynamik die
Kernsätze eines Weltentwurfs angreift, kann auf den nunmehr als
wahr geltenden Sätzen ein neuer Weltentwurf aufgebaut werden.
2. Gleichgültigkeit der Welt gegen derartige Wandlungen der Wahr-
heitswerte. Bedenken wir die Natur dieser Möglichkeit, so gelan-
gen wir dazu, aus der dargestellten epistemischen Dynamik alethi-
sche Konsequenzen für den Begriff von Welt zu ziehen. Wir
kommen zu der Einsicht, dass aus den Wandlungen der Wahr-
heitswerte deshalb neue Weltentwürfe hervorgehen können, weil
die Welt – im Gegensatz zum Sein – in einem bestimmten Sinne
gleichgültig gegen diese Wandlungen ist. Wenn sich für wahr ge-
haltene Aussagesätze als falsch erweisen, enthüllt sich Vermeint-
lichseiendes als nichtseiend. Von dieser Änderung kann das Dasein
eines Seienden genauso sehr betroffen sein wie sein Sosein. Des-
halb ist das Sein des Seienden alles andere als gleichgültig gegen
die Wandlungen der Wahrheitswerte. Dagegen bleibt die Welt in-
mitten derartiger Wandlungen stets erhalten. Denn jede Gesamt-
heit wahrer Aussagesätze gilt als eine Beschreibung der einzigen
Welt. Ändert sich die Beschreibung, so ändert sich der Seins-
bestand der Welt, aber die Welt selbst bleibt erhalten. Sie zeigt sich
nur in mancher Hinsicht anders als zuvor.
3. Die Welt als das Sein in einem Spielraum für das Entweder-Oder
von Wahrheit und Falschheit. Jeder Weltentwurf zeugt von einem
Überstieg über das – jeweils offenbare – Seiende zur Welt hin. Erst
dieser Überstieg macht es möglich, die eventuelle Verwandlung
von Seiendem in Nichtseiendes ständig im Auge zu behalten. Welt
wird, mit anderen Worten, erst dann erfasst, wenn das Sein in
einem Spielraum für das Entweder-Oder von Wahrheit und

258
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

Falschheit anvisiert wird. So müssen wir wohl Heideggers Rede


von einer ›ursprünglichen metaphysischen Verwandlung‹ der Fun-
damentalontologie in Metontologie verstehen. Gemeint ist damit,
dass das Sein nunmehr in die Perspektive der Welt als eines Spiel-
raums für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit ge-
stellt wird.

Aus dieser verwandelten Sicht heraus zeigt sich das Urteil nicht mehr
als ein bloßer Ausdruck unmittelbar vernommener Offenbarkeit, son-
dern als eine Stellungnahme zum unmittelbar Vernommenen. Diese
Stellungnahme setzt die Freiheit – oder, genauer, ein Freisein – des Das-
eins voraus, das in der verwandelten Wahrheitsauffassung nicht mehr
außer Acht gelassen werden darf. Tatsächlich behauptet Heidegger in
der Vorlesung von 1929/30, dass die Wahrheit »in einem Freisein für
das Seiende als solches« gründet. 263 Wir müssen deutlich sehen, dass
dieses Freisein für das Seiende jede unmittelbare Gebundenheit an das
Seiende ausschließt. Das Dasein bleibt keineswegs dem Seienden ver-
haftet; es geht vielmehr über das Seiende hinaus, um aus der Welt als
einem Spielraum für das Entweder-Oder von Wahrheit und Falschheit
auf es zurückzukommen. Es handelt sich deshalb um eine Grundeinstel-
lung, die sich durch das Seiende binden lässt und die sich selbst damit
eine Verbindlichkeit auferlegt. So heißt es in der Vorlesung von 1929/
1930: »Dieses in allem aussagenden Verhalten, es gründend, geschehen-
de Sichentgegenhalten – entgegen einem Bindenden – nennen wir ein
Grundverhalten: das Freisein in einem ursprünglichen Sinne.« 264
Die Berücksichtigung dieses Verhaltens verwandelt Heideggers
Wahrheitsauffassung von Grund auf. Die Unverborgenheit und Offen-
barkeit des Seienden gilt nunmehr keineswegs von vornherein als
Wahrheit. Sie nimmt vielmehr erst dadurch die Gestalt von Wahrheit
an, dass sich ein Freisein für das Seiende als solches ausprägt, ein Frei-
sein, das sich binden lässt und sich selbst damit eine Verbindlichkeit
auferlegt.

263
Ebd., S. 492.
264 Ebd., S. 497.

259
Metaphysik zufälliger Faktizität

5. Anthropologie der Weltbildung und


Metaphysik des Daseins

Ein Grundverhalten genannter Art, wie überhaupt jedes Verhalten zur


Welt, ist dem Menschen eigentümlich. Das Tier verhält sich ja nach
Heidegger nicht zur Welt; es benimmt sich nur in seiner Umwelt und
ist dabei von dieser Umwelt ganz und gar benommen. Diese Gegen-
überstellung von Mensch und Tier ist ein Wegweiser, von dem sich der
anthropologische Zugang zur Metaphysik des Daseins in der Vorlesung
von 1929/1930 vornehmlich leiten lässt. Damit sind wir bei dem vierten
und letzten Themenbereich angelangt, in dem sich am Ende der 1920er
Jahre neue Einsichten ergeben. Schon in der Einleitung zu seiner Frei-
burger Vorlesung Der Deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel)
und die philosophische Problemlage der Gegenwart aus dem Sommer-
semester 1929 versucht Heidegger, die für seine Zeit charakteristische
»Tendenz zur Metaphysik« mit einer ebenso ausgeprägten und für sei-
ne Zeit ebenfalls bezeichnenden »Tendenz zur Anthropologie« zu ver-
binden. 265 In der nachfolgenden Vorlesung von 1929/1930 geht er dann
im Einzelnen auf den Unterschied zwischen Tier und Mensch ein. In
einem gewissen Sinne des Wortes eignet er sich also eine anthropologi-
sche Herangehensweise an die Metaphysik an. Es handelt sich dabei
jedoch um eine Anthropologie, die sich von den zeitgenössischen Be-
strebungen von Scheler, Löwith, Plessner, Gehlen oder Cassirer grund-
sätzlich unterscheidet. Denn bei Heidegger bleibt die metontologische
Perspektive auch für die anthropologischen Betrachtungen leitend. In
der Vorlesung von 1929/1930 geht es, mit anderen Worten, darum,
anhand der drei Thesen »Der Stein ist weltlos«, »Das Tier ist weltarm«
und »Der Mensch ist weltbildend« den Zusammenhang verschiedener
Seinsregionen zu erfassen. Der anthropologische Zugangsweg führt zu
einer bestimmten Gewichtung der ins Auge gefassten Seinsregionen.
Im Gegensatz etwa zu Nicolai Hartmanns zeitgenössischer Schichten-
theorie, die einerseits die Abhängigkeit (»Dependenz«) des lebendigen,
des seelischen und des geistigen Seins von der untersten Schicht leb-
loser Materie betont, andererseits aber wiederum den höheren Schich-

265
Martin Heidegger, Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die phi-
losophische Problemlage der Gegenwart [Gesamtausgabe, Bd. 28], Freiburger Vor-
lesung, Sommersemester 1929, hg. von Claudius Strube, Frankfurt am Main: Kloster-
mann 1997, S. 10–47.

260
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

ten jeweils ein »kategoriales Novum« zuerkennt, geht Heidegger davon


aus, dass sich einzig und allein der Mensch zum Seienden im Ganzen
verhalten kann und ebendeshalb nur er als Ausgangspunkt und tragen-
de Grundlage eines metontologischen Entwurfs in Betracht kommt.
Denn ein metontologischer Entwurf ist ein Entwurf von Welt; aber
Welt gibt es nur für den Menschen: Allein der Mensch kann ja als welt-
bildend gelten. Nach Heidegger müssen wir begreifen, dass »sogenann-
te Regionen des Seins nicht nebeneinander oder über- oder hintereinan-
der geschachtelt sind, sondern nur sind, wie sie sind, innerhalb eines
und aus einem Walten der Welt heraus.« 266 In diesem Zusammenhang
ist es entscheidend, dass das materielle Seiende »den Charakter der
Weltlosigkeit hat« 267 und dass das Tier in seiner Umwelt aufgeht, ohne
sich zur Welt zu verhalten. Daraus ergibt sich ein wichtiger Schluss:
»So ist die Natur – weder die leblose noch gar die lebendige – keines-
wegs das Brett und die unterste Schicht, auf der das Menschenwesen
aufgeschichtet wäre, um darauf sein Unwesen zu treiben.« 268 Damit
weist Heidegger jede Schichtenontologie Hartmann’schen Typs von
der Hand.
Statt dessen geht er davon aus, dass sich ein metontologischer Ent-
wurf auf das Grundgeschehen der Weltbildung zu stützen hat, das dem
menschlichen Dasein eigentümlich ist und es von vornherein kenn-
zeichnet. Es wird hier deutlich, dass sich Heidegger dem Grundgesche-
hen der Weltbildung, das im Dasein des Menschen immer schon im
Gange ist, deshalb zuwendet, weil er es als Anhalt und Stütze zu seinem
metontologischen Entwurf nötig hat.
In der Tat verleiht er dem Zusammenhang der Seinsregionen eine
anthropologisch zu nennende Gewichtung. Nicht die innere Gliederung
der Natur gibt bei ihm den Leitfaden zur Verhältnisbestimmung dieser
Seinsregionen, sondern einzig und allein der Prozess menschlicher
Weltbildung. Für diesen Prozess ist die Herausbildung regionaler On-
tologien in den Einzelwissenschaften gewiss nicht irrelevant, aber auch
nicht das einzig Relevante. Grundlegender ist die Entstehung einer
Weltanschauung, von welcher Art auch immer sie beschaffen sein mag.
Allerdings ist der Bruch mit dem Streben nach Bergung und Geborgen-

266
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 514.
267
Ebd.
268 Ebd., S. 403.

261
Metaphysik zufälliger Faktizität

heit und der Kampf um eine Haltung inmitten des Seienden im Ganzen
eine Vorbedingung dafür, dass die Ergebnisse der Einzelwissenschaften
für das Grundgeschehen der Weltbildung maßgebend werden. Darüber
hinaus setzt der Prozess menschlicher Weltbildung nach Heidegger die
Verbindlichkeit der Wahrheit voraus. Welt ist für ihn nicht allein ein
Totalitätsbegriff, sondern sie schließt auch den Gedanken der Zugäng-
lichkeit und der Offenbarkeit des Seienden in sich. Sie ist, mit anderen
Worten, nicht so sehr das Seiende im Ganzen, sondern vielmehr die
Unverborgenheit des Seienden im Ganzen. Allein die Unverborgenheit
und Offenbarkeit des Seienden nimmt erst dadurch die Gestalt von
Wahrheit an, dass sich ein Freisein für das Seiende ausprägt, das sich
binden lässt und sich selbst damit eine Verbindlichkeit auferlegt.
Die verwandelte Wahrheitsauffassung ist wohl der Grund dafür,
dass Heidegger bereits in seiner letzten Marburger Vorlesung behaup-
tet, »die Frage der Ethik« lasse sich nicht in der Fundamentalontologie,
sondern erst in der Metontologie stellen. 269 Das Wort »Ethik« meint an
dieser Stelle offenbar nicht etwa eine Theorie der Sittlichkeit als eines
gesellschaftlichen Regelsystems, sondern eine Reflexion über die Mög-
lichkeiten, eine denkerische Haltung inmitten der Offenbarkeit des
Seienden im Ganzen zu entwickeln. Aber nicht nur die den Einzelwis-
senschaften zugrunde liegenden regionalen Ontologien und die Welt-
anschauungen mythisch-religiöser oder auch philosophisch-wissen-
schaftlicher Prägung spielen eine Rolle im Grundgeschehen mensch-
licher Weltbildung, und es kommt zu ihnen auch nicht nur eine Ethik
denkerischer Haltung in der Lichtung der Welt mit hinzu, sondern die
fundamentalontologische Fragestellung gelangt ebenfalls nur »im Zu-
sammenhang des Weltproblems« zu »ihrer klaren Problematik«. 270
Nirgendwo ist Heidegger so nahe daran, die echte Grundlage einer
nicht-traditionellen Metaphysik zu entdecken, als in dieser Auseinan-
dersetzung mit dem Grundgeschehen der Weltbildung im Dasein des
Menschen. Der metontologische Entwurf, der in den Jahren 1928–1930
entfaltet wird, bringt keine Abwendung von den Wissenschaften mit
sich, sondern er versucht lediglich, ihren Beitrag zum Prozess mensch-
licher Weltbildung in ein größeres Ganzes einfügen. Das Bild von die-

269
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 199.
270
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe 29/30], S. 521 f.

262
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik

sem Ganzen ist zu dieser Zeit zwar gewiss nicht vollständig, aber es
kann im Rückblick durch Bereiche ergänzt werden, mit denen sich Hei-
degger erst später eingehend befassen wird. Der weltbildenden Rolle
von Kunst und Dichtung, von der in unserer Epoche nur selten die Rede
ist, wird er ja bereits in den nachfolgenden Jahren Rechnung tragen.
Das darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heid-
eggers metontologische Grundlegung der Metaphysik von einer eigen-
tümlichen Brüchigkeit gezeichnet ist. Der Grund dieser Brüchigkeit
liegt ohne Zweifel in der »Kehre«, aus der das metontologische An-
liegen überhaupt erst erwächst, die aber über die transzendentale Fun-
dierung der Metontologie mit einer gewissen Notwendigkeit hinaus-
treibt. Sie treibt zu einem Ereignisdenken hin, das ohne Zweifel seine
innere Berechtigung hat. Das Missliche daran ist jedoch, dass dieses
Ereignisdenken für mehrere Jahrzehnte in den Dienst eines seins-
geschichtlichen Vorhabens tritt, das sich trotz großartiger Detailsein-
sichten im Ganzen doch in eine gefährliche Nähe zu einer traditionellen
Geschichtsmetaphysik begibt. Erst in einer allerletzten Phase seiner
Laufbahn – etwa von 1955 an – gelangt Heidegger zu einem ernüchter-
ten und geläuterten Ereignisdenken, das von der Überwindung der Me-
taphysik ablässt und sich in einer Rückkehr zur Phänomenologie den
Sachen selbst zuwendet.

263
Metaphysik zufälliger Faktizität

III. Metaphysik zufälliger Faktizität in der


französischen Phänomenologie

Die meisten Tendenzen, die von Husserl und Heidegger entwickelt wur-
den, leben in der französischen Phänomenologie so oder auch so fort.
Das ist der Fall auch mit der Idee einer phänomenologischen Metaphy-
sik zufälliger Faktizität. Allerdings ist Jean-Paul Sartre bisher beinahe
der einzige Denker, der Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf-
gegriffen und weitergeführt hat. Dieser Umstand ist Maurice Merleau-
Ponty in seiner Auseinandersetzung mit Sartres phänomenologischer
Ontologie merkwürdigerweise völlig entgangen. Emmanuel Levinas
betritt dann einen neuen Weg, indem er die Ethik als Erste Philosophie
bestimmt und eine Metaphysik des Unendlichen entwickelt. Die Den-
ker der Neuen Phänomenologie in Frankreich führen die bis dahin ent-
wickelten Tendenzen verschiedentlich weiter. Jean-Luc Marion ver-
spricht sich von der Phänomenologie eine andere Erste Philosophie.
Ohne sich auf Husserls Metaphysik der Urtatsachen zu stützen, kommt
er von sich aus zu der Einsicht, dass sich das Erscheinen des Erscheinen-
den als eine vollendete Tatsache (fait accompli) begreifen lässt. Nicht
ohne Argwohn betrachtet Marc Richir diesen Ansatz. Er setzt sich dem
Grundanliegen von Marion, alles Gegebene als eine Gabe zu verstehen,
aufs Entschiedenste entgegen und versucht, das phänomenologische
Feld in seiner unbestimmten Unendlichkeit zu begreifen. Er knüpft da-
mit an die Levinas’sche Idee des Unendlichen an, ohne jedoch den Ge-
danken einer Ethik als Erster Philosophie zu teilen.
Im Folgenden sollen diese Bestrebungen etwas eingehender dar-
gestellt werden. Zuerst wollen wir uns die Auseinandersetzung von
Merleau-Ponty mit Sartre näher ansehen, weil sie dazu beigetragen hat,
dass Sartres bedeutungsvoller Rückgang auf Husserls Metaphysik der
Urtatsachen aus dem Blickfeld französischer Phänomenologen ver-
drängt wurde. An zweiter Stelle befassen wir uns dann mit der Levi-
nas’schen Idee einer Erfahrung des Unendlichen. Schließlich werfen wir
einen Blick auf die Denker der Neuen Phänomenologie in Frankreich.

264
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

1. Zu Merleau-Pontys Auseinandersetzung mit


Sartres phänomenologischer Metaphysik

In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts setzte sich Merleau-


Ponty mit Sartre wiederholt auseinander. In Die Abenteuer der Dialek-
tik wurde der Streit vorwiegend auf der politischen Ebene ausgetragen.
Aber aus dem posthum veröffentlichten Spätwerk von Merleau-Ponty
geht deutlich hervor, wie stark die philosophischen Grundlagen mit-
betroffen waren.
Die Überzeugung, die Kritik von Merleau-Ponty am Hauptwerk
von Sartre sei wohl begründet und tief berechtigt, hat in der späteren
Entwicklung der Phänomenologie Wurzel geschlagen. In dem zweiten
Teil von Das Sichtbare und das Unsichtbare werden ohne Zweifel nicht
nur treffende Beobachtungen über Das Sein und das Nichts formuliert,
sondern auch begründete Einwände gegen die Grundkonzeption dieses
Werkes angeführt. Gleichwohl scheint mir, dass Merleau-Ponty in sei-
ner Polemik gegen Sartre etwas Wesentliches unbeachtet lässt. Sartre
bleibt in Das Sein und das Nichts dem Grundansatz von Husserls Me-
taphysik der Urtatsachen treu. Merleau-Ponty dagegen geht an diesem
Grundansatz vorbei. Er setzt dem Gedankengang von Das Sein und das
Nichts nur eine Dialektik, wenn auch eine ohne Synthese, gegenüber.
Trotzdem ist die Kritik, der er das Hauptwerk von Sartre in dem zweiten
Teil von Das Sichtbare und das Unsichtbare unterzogen hat, von
grundlegender Bedeutung, da die Missdeutungen und überzogene Stel-
lungnahmen, die unleugbar das gesamte Unternehmen von Das Sein
und das Nichts gefährden, nirgendwo so deutlich herausgestellt werden
wie gerade hier.

a. Sartre und die Metaphysik der Urtatsachen

Die späten Forschungstexte, in denen Husserls Metaphysik der Urtat-


sachen Ausdruck fand, kannte Sartre nicht, aber er konnte sich auf die
Bestimmung der phänomenologischen Metaphysik in den Cartesia-
nischen Meditationen stützen, die auf Französisch in der Übersetzung
von Emmanuel Levinas und Gabrielle Peiffer im Jahre 1931 zum ersten
Mal veröffentlicht worden waren. Der Ausdruck »zufällige Faktizität«,

265
Metaphysik zufälliger Faktizität

der in der französischen Übersetzung als »réalité contingente« 271 wie-


dergegeben wurde, war besonders geeignet, seine Aufmerksamkeit zu
fesseln. Die Zufälligkeit jeglichen Seins ist ja eine der Grundthesen, auf
denen er sein Hauptwerk aufbauen wollte.
Als aufmerksamer Leser von Husserls Ideen I hat Sartre zugleich
den Gedanken der ›Notwendigkeit eines Faktums‹ für sich entdeckt. In
Das Sein und das Nichts wird dieser Terminus dazu verwendet, das Für-
sich-sein in seinem Verhältnis zum An-sich-sein zu kennzeichnen. Sar-
tre geht davon aus, dass das Auftauchen des Für-sich im An-sich ein
»absolutes Ereignis« ist, das als solches mit einer »ursprünglichen Kon-
tingenz« behaftet bleibt. 272 Man darf allerdings nicht glauben, diese Zu-
fälligkeit mache den Unterschied des Für-sich vom An-sich aus. Viel-
mehr kommt bereits dem An-sich-sein eine eigentümliche Kontingenz
zu. 273 Sie besteht darin, dass »das Sein weder vom Möglichen abgeleitet
noch auf das Notwendige zurückgeführt werden kann«. 274 Daraus folgt,
dass von Grund und Begründung im Bereich des An-sich-seins keine
Rede sein kann. Anders steht es mit dem Für-sich-sein. Es verhält sich
ständig zu seinen eigenen Möglichkeiten. Das auftauchende Bewusst-
sein begreift sich dabei als der Grund dieser Möglichkeiten. Sartre zieht
daraus die Schlussfolgerung, dass »der Grund schlechthin durch das
Für-sich-sein zur Welt [kommt]«. 275 Aber er setzt hinzu, dass das Be-
wusstsein gerade deshalb, weil es sich als den Grund seiner eigenen
Möglichkeiten betrachtet, diese Möglichkeiten von seinem eigenen Sein
abhängig macht und dadurch jeden Versuch, aus diesen Möglichkeiten
die Notwendigkeit seines eigenen Seins abzuleiten, von vornherein aus-
schließt. Das Bewusstsein sieht sich folglich dazu gezwungen, sein ei-
genes Sein als ein in sich selbst rein zufälliges Faktum aufzufassen.
Grundsein und zufällige Faktizität gehören untrennbar zusammen. Ge-
rade diese Zusammengehörigkeit von Grundsein und zufälliger Faktizi-
tät unterscheidet die Kontingenz des Für-sich von der Kontingenz des
An-sich. Um diese Zusammengehörigkeit terminologisch festzuhalten,
greift Sartre auf den Begriff der »Notwendigkeit eines Faktums« zu-
rück, indem er sagt: »Der Bezug des Für-sich, das als Für-sich sein ei-

271
Edmund Husserl, Méditations cartésiennes, übersetzt von Gabrielle Peiffer und Em-
manuel Levinas, Paris: Vrin 1996, S. 250.
272
Sartre, L’être et le néant, S. 124 f.
273
Ebd., S. 34.
274
Ebd.
275 Ebd., S. 124.

266
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

gener Grund ist, zur Faktizität, lässt sich korrekt bezeichnen: die Not-
wendigkeit eines Faktums. Und eben diese Notwendigkeit eines Fak-
tums erfassen Descartes und Husserl als die Evidenz des Cogito konsti-
tuierend.« 276
Ebenso wenig wie Husserl bleibt aber Sartre bei der faktischen
Notwendigkeit des Cogito stehen. Er übernimmt von Heidegger den
Begriff des In-der-Welt-seins, um behaupten zu können: »Ohne Welt
keine Selbstheit, keine Person; ohne die Selbstheit, ohne die Person
keine Welt.« 277 Noch wichtiger ist aber, dass Sartre den Gedanken einer
faktischen Notwendigkeit auch auf das Verhältnis des Selbst zu den
Anderen ausdehnt. Hier sieht er sich erst recht dazu genötigt, auf Hus-
serls Metaphysik der Urtatsachen zurückzugreifen und sie weiter-
zuführen.
Wie sehr Sartre die Begegnung mit dem Anderen – trotz sach-
naher Beschreibungen – missdeutet und verzeichnet, ist freilich längst
schon bekannt. Das berühmte Kapitel über den Blick erwächst zwar aus
einem Bruch mit einem bloß erkenntnistheoretischen (oder auch kon-
stitutionsanalytischen) Ansatz zur Phänomenologie der Intersubjekti-
vität, aber es stützt sich seltsamerweise dennoch überall auf den diesem
Ansatz eigentümlichen Grunddualismus von Subjekt und Objekt.
Immer wieder ist in diesem Kapitel davon die Rede, dass der Blick des
Anderen das Selbst zum Objekt macht, vergegenständlicht oder auch
verdinglicht. Der Husserl’sche Gedanke eines intentionalen Ineinander,
den Merleau-Ponty später gleichsam mit treffsicherer Wahlverwandt-
schaft aufgreifen wird, dringt zu Sartre nicht durch. Daraus ergeben
sich Mangelhaftigkeiten in der phänomenologischen Analyse, der die
Begegnung mit dem Anderen in Das Sein und das Nichts unterzogen
wird. Nur dass Sartre am Ende des Kapitels über den Blick einen deut-
lichen Unterschied zwischen phänomenologischer Ontologie und Me-
taphysik macht. Von den Mangelhaftigkeiten der phänomenologischen
Ontologie ist die Metaphysik nicht notwendig betroffen.
Die Metaphysik, wie Sartre sie versteht, dreht sich um Urtat-
sachen. Als eine Urtatsache wird in Das Sein und das Nichts die be-
rühmte séparation, die »ontologische Trennung« der Bewusstseine be-
handelt. 278 Gemeint ist damit die Urtatsache einer unüberschreitbaren

276
Ebd., S. 126.
277
Ebd., S. 149.
278 Ebd., S. 299.

267
Metaphysik zufälliger Faktizität

Bewusstseinspluralität. Es heißt: »Kein logischer oder epistemologi-


scher Optimismus kann diesen Skandal der Pluralität der Bewusstseine
beenden.« 279 Sartre setzt hinzu: »Die Aufgabe, die eine Ontologie sich
stellen kann, ist, diesen Skandal zu beschreiben und ihn eben in der
Natur des Seins zu begründen: aber sie ist unfähig, ihn zu überschrei-
ten.« 280 Die Metaphysik geht insofern weiter, als sie von vornherein
nach der Notwendigkeit dieses Faktums forscht. Sartre bestimmt die
phänomenologische Ontologie als »die Explizierung der Seinsstruktu-
ren der als Totalität aufgefaßten Existierenden«; die Metaphysik defi-
niert er dagegen als »die Infragestellung der Existenz des Existieren-
den«. 281 Die Metaphysik begnügt sich keineswegs damit, den Skandal
der Bewusstseinspluralität zu beschreiben und ihn in der Natur ge-
wisser Seinsstrukturen zu begründen; sie wirft vielmehr »die meta-
physische Frage« auf: »Warum gibt es andere?« 282 Die Frage nach dem
Warum angesichts der Urtatsachen ist geradezu das Unterscheidungs-
merkmal der Metaphysik, wie Sartre sie versteht.
Es wäre aber ein Missverständnis, zu meinen, die Metaphysik im
Sinne von Sartre leite die Notwendigkeit eines Faktums etwa aus We-
sensmöglichkeiten ab. Eine derartige Vorgehensweise kennzeichnet nur
die traditionelle Metaphysik, die überall darauf aus ist, die Urtatsachen
aus a priori erfassten Wesensmöglichkeiten zu begreifen und dadurch
sozusagen wegzuerklären. Diese Vorgehensweise regt nur zu ›meta-
physischen Abenteuern‹ und ›spekulativen Überschwenglichkeiten‹ an,
die Sartre ebenso entschieden zurückweist wie Husserl. Die traditionel-
le Metaphysik kann geradezu als eine Lehre begriffen werden, die aus
der Gesamtheit der Möglichkeiten die Wirklichkeit abzuleiten sucht.
Dagegen leitet die Metaphysik im Sinne von Sartre die Möglichkeiten
auf ihren faktischen Wirklichkeitsgrund zurück. Deshalb hat die Wa-
rumfrage in dieser Metaphysik einen ganz anderen Sinn als in der Tra-
dition. Sie taucht zwar mit einer dringenden Unvermeidbarkeit auf,
aber daraus folgt keineswegs, dass sie im eigentlichen Sinne des Wortes
eine Antwort erhalten könnte. Denn jede Antwort auf eine metaphysi-
sche Grundfrage läuft darauf hinaus, die Notwendigkeit eines Faktums
zu zerstören und sie durch eine Wesensnotwendigkeit, eine eidetische

279
Ebd., S. 300.
280
Ebd.
281
Ebd., S. 358 f.
282 Ebd., S. 358.

268
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

Besonderung eines Wesensgesetzes zu ersetzen. So steht es mit der


Geistmetaphysik Hegel’scher Provenienz, die Sartre am Ende des Kapi-
tels über den Blick zum Zielpunkt seiner polemischen Untersuchungen
wählt. Diese Lehre lässt die Bewusstseine aus einer Ur-Teilung geistiger
Totalität hervorgehen. 283 Dagegen macht die Metaphysik im Sinne von
Sartre einerseits verständlich, weshalb die Urtatsache einer Bewusst-
seinspluralität die Warumfrage notwendig aufwirft, 284 andererseits
führt sie aber diese Urtatsache nicht auf eine Wesensnotwendigkeit,
sondern auf eine »fundamentale Kontingenz« zurück, so dass wir auf
die Warumfrage am Ende doch nur mit einem »es ist so« antworten
können. 285
Das Gesagte kann auch anders ausgedrückt werden. Während die
traditionelle Metaphysik darum bemüht ist, die Urtatsachen wegzuer-
klären, macht sich die Metaphysik im Sinne von Sartre gerade zur Auf-
gabe, die Urtatsachen als Urtatsachen herauszustellen. Dieser grund-
legende Unterschied hängt damit zusammen, dass Sartre überall dort,
wo die traditionelle Metaphysik nach sinnvollen Begründungszusam-
menhängen forschte, lediglich »fundamentale Kontingenzen« sieht, die
nur um den Preis spekulativer Überschwänglichkeiten auf erste Ursa-
chen und Anfangsgründe hin überschritten werden konnten.
So werden die metaphysischen Warumfragen in Das Sein und das
Nichts jeweils auf die Notwendigkeit eines Faktums zurückgeführt. Das
gilt auch für die Frage, warum es andere gibt. Es heißt an einer lehr-
reichen Stelle im Kapitel über den Blick: »Was das Cogito uns hier ent-
hüllt, ist einfach eine faktische Notwendigkeit; […] das cartesianische
Cogito behauptet nur die absolute Wahrheit eines Faktums: des Fak-
tums meiner Existenz; ebenso enthüllt uns das etwas erweiterte Cogito,
das wir hier benutzen, die Existenz des Anderen und meine Existenz für
Andere als ein Faktum.« 286 Diese Zeilen lassen darauf schließen, dass
Sartres Metaphysik der ontologischen Trennung (séparation) aus einer
Erweiterung derjenigen Cogito-Analyse erwächst, die ihn im Anschluss
an Husserl überhaupt erst zum Gedanken einer faktischen Notwendig-
keit hinführte.
Ähnlich verhält es sich mit der gesamten Metaphysik von Sartre.

283
Ebd., S. 361.
284
Ebd., S. 362 (siehe den letzten Absatz auf dieser Seite).
285
Ebd., S. 363.
286 Ebd., S. 342.

269
Metaphysik zufälliger Faktizität

Um uns davon zu überzeugen, dass diese Verallgemeinerung nicht un-


begründet ist, brauchen wir im Text nur weiterzulesen. Sartre behaup-
tet, dass mein Für-andere-sein, ebenso wie das Auftauchen meines Be-
wusstseins zum Sein, »den Charakter eines absoluten Ereignisses« hat,
und er fährt dann fort: »Da dieses Ereignis gleichzeitig Vergeschicht-
lichung ist – denn ich verzeitliche mich als Anwesenheit beim Anderen
– und Bedingung jeder Geschichte, nennen wir es vorgeschichtliche
Vergeschichtlichung. […] Unter vorgeschichtlich verstehen wir durch-
aus nicht, daß es in einer der Geschichte vorangehenden Zeit wäre – was
keinen Sinn hätte –, sondern daß es an jener ursprünglichen Verzeitli-
chung teilhat, die sich vergeschichtlicht, indem sie Geschichte möglich
macht.« 287 Damit steht fest, dass für Sartre die Geschichtlichkeit der
Erfahrung genauso den Sinn einer Urtatsache hat wie für Husserl. Auf
diese Urtatsache trifft dasselbe zu, was im Abschluss des Gedankengan-
ges vom Sein-für-andere behauptet wird: »Als Faktum – als erstes und
fortwährendes Faktum –, nicht als Wesensnotwendigkeit« wird sie in
Das Sein und das Nichts behandelt. 288

b. Merleau-Ponty und die Idee einer Dialektik ohne Synthese

In Das Sichtbare und das Unsichtbare gerät die phänomenologische


Ontologie in Umbruch. Merleau-Ponty versteht die Abkehr der Phäno-
menologie von aller objektivierenden Idealisierung, die für die Wissen-
schaften bezeichnend ist, nicht etwa als eine Einkehr in die Sphäre der
transzendentalen Subjektivität, sondern als eine »Aufforderung zur Re-
vision unserer Ontologie, zur Überprüfung der Begriffe ›Subjekt‹ und
›Objekt‹.« 289 Damit schafft er eine Grundlage zu seiner Kritik an Sartres
phänomenologischer Ontologie, die, wie bereits erwähnt, dem Grund-
dualismus von Subjekt und Objekt weitgehend verhaftet bleibt.
Merleau-Ponty verliert dabei die Tatsache, dass in Das Sein und
das Nichts das Subjekt auf eine völlig neue Weise begriffen wird, kei-
neswegs aus den Augen. Er sieht deutlich, dass die »nichtenden« Akte

287
Ebd., S. 342 f.
288 Ebd., S. 343.
289
Maurice Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, Gallimard, Paris 1964, S. 41; dt.: Das
Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani und Bernhard Waldenfels,
München: Fink 1986. (In der deutschen Übersetzung sind die Seitenzahlen der französi-
schen Originalausgabe verzeichnet.)

270
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

eines vorreflexiven Bewusstseins, wie sie von Sartre ausführlich und


anschaulich beschrieben werden, das Verhältnis des Selbst zur Welt in
einem ganz anderen Lichte erscheinen lassen, als dies in den reflexions-
analytischen Bewusstseinsphilosophien zu geschehen pflegt. Um die
Bedeutung der Beschreibungen nichtender Akte hervorzuheben, be-
zeichnet er Sartres phänomenologische Ontologie von vornherein als
eine »Philosophie des Negativen«.
Deutlich erkennt Merleau-Ponty weiterhin, dass der Kern von Sar-
tres gesamtem Denken die Theorie der »internen Negation« ist – eine
Theorie, die in Das Sein und das Nichts langatmig entwickelt und
immer wieder von neuen Seiten her beleuchtet wird. 290 Es geht dabei
um eine Negation, die dem von ihr betroffenen Seienden nicht äußer-
lich bleibt, sondern als Abwesenheit, als Mangel in dessen Bestimmung
eingeht. Sartre zeigt, dass dieser Negationstypus nicht auf das An-sich-
sein angewendet werden kann, sondern seiner Natur nach dem Für-
sich-sein angehört. Es heißt in Das Sein und das Nichts: »Allein das
Für-sich kann in seinem Sein durch ein Sein, das es nicht ist, bestimmt
werden.« 291 Diese Einsicht leitet Sartre dazu hin, das Für-sich-sein
durch einen unaufhebbaren Seinsmangel zu kennzeichnen und als Be-
gehren zu begreifen. 292
In Das Sein und das Nichts enthüllt sich sogar das Verhältnis des
Selbst zum Anderen als eine interne Negation. Ebendeshalb gehört die-
ses Verhältnis als eine eigentümliche Seinsstruktur von vornherein
zum Für-sich-sein. Die eigentümliche Seinsstruktur, von der die Rede
ist, wird von Sartre bekanntlich als das Für-andere-sein bezeichnet.
Das Wirkungsfeld der Theorie interner Negation erstreckt sich in
Das Sein und das Nichts selbst noch auf die metaphysischen Fragestel-
lungen. Dass sich die ontologische Trennung der Bewusstseine nicht aus
einer Ur-Teilung einer geistigen Gesamttotalität ableiten lässt, liegt da-
ran, dass sich das Selbst vom Anderen ebenso sehr durch eine interne
Negation unterscheidet, wie auch der Andere sich von ihm durch eine
interne Negation abtrennt. Die »fundamentale Kontingenz«, auf die
Sartre diese ontologische Trennung letztlich zurückführt, besteht gera-
de in dieser Verdopplung interner Negation: Nicht allein das Selbst ver-

290
Einige Stellen dazu: Sartre, L’être et le néant, S. 129 Anm.; S. 223 f.; S. 269 f.; S. 288;
S. 343.
291
Ebd., S. 224.
292 Ebd., S. 131.

271
Metaphysik zufälliger Faktizität

hält sich von sich aus zum Anderen, sondern auch der Andere verhält
sich von sich aus zu ihm.
Merleau-Ponty versäumt nicht, auf die Bedeutung dieser Philoso-
phie interner Negation hinzuweisen. Wir können uns hier damit be-
gnügen, einen einzigen Aspekt seines durchaus differenzierten Urteils
hervorzuheben: »Für die Reflexionsphilosophie ist es eine unlösbare
Schwierigkeit zu verstehen, wie ein konstituierendes Bewußtsein ein
anderes setzen kann, das seinesgleichen und doch ebenfalls konstituie-
rend sein soll […]. Für eine Philosophie des Negativen gehört es dage-
gen zur Definition des ipse selbst, daß er einer tatsächlichen Situation
angehört oder eine solche aufrechterhält als seine Verbindung zum
Sein. Dieses Außen bestätigt ihn einerseits in seiner Partikularität,
macht ihn selbst als partielles Seiendes dem Blick des Anderen sichtbar
und verbindet ihn andererseits zugleich mit dem Ganzen des Seins. Was
für die Reflexionsphilosophie Stein des Anstoßes war, wird vom Stand-
punkt der Negativität aus zum Prinzip einer Lösung.« 293
Gleichzeitig wird Merleau-Ponty jedoch auf eine merkwürdige
»Ambivalenz« 294 aufmerksam, die aus der Theorie interner Negation
folgt: Die Philosophie des Negativen schlägt dialektisch in eine Philoso-
phie positiven Seins um. Wie Merleau-Ponty selbst sagt: »Es gibt eine
Falle im Denken des Negativen […]. Ein negativistisches Denken fällt
zusammen mit einem positivistischen Denken […].« 295 In Das Sicht-
bare und das Unsichtbare wird diese Behauptung aus Sartres Lehre
vom Seinsmangel abgeleitet. Merleau-Ponty führt eine Stelle aus Das
Sein und das Nichts an, die er in dieser Hinsicht besonders aufschluss-
reich findet. Sartre sagt an dieser Stelle: »In dem Maß […], wie das
Sein, dem etwas mangelt, nicht das ist, was ihm mangelt, erfassen wir
in ihm eine Negation. Aber wenn diese Negation sich nicht in reine
Exteriorität auflösen soll – und mit ihr jede Negationsmöglichkeit im
allgemeinen –, liegt ihre Grundlage in der Notwendigkeit für das Sein,
dem etwas mangelt, das zu sein, was ihm mangelt. Die Grundlage der
Negation ist also Negation der Negation.« 296 Hier appelliert Sartre
selbst an die Dialektik, indem er die interne Negation auf eine Negation
der Negation gründet. Damit kehrt sich jedoch die Philosophie des Ne-

293
Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 90 f.
294
Ebd., S. 103; S. 105; S. 119 und öfters.
295
Ebd., S. 96 f.
296 Sartre, L’être et le néant, S. 248 f. Vgl. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 80.

272
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

gativen, wie Merleau-Ponty zu Recht betont, in ihr Gegenteil um: Sie


erweist sich als eine Philosophie des Seins. 297 Das Sein, um das es dabei
geht, ist obendrein ein totales, das weder mit dem An-sich-sein, noch
mit dem Für-sich-sein zusammenfällt, sondern als An-und-für-sich-
sein beide Seinsweisen umfasst und in sich vereinigt. Selbst wenn dieses
An-und-für-sich-sein in Das Sein und das Nichts keineswegs als Gege-
benheit, sondern nur als der – letztlich unerreichbare – Gegenstand des
Begehrens betrachtet wird, ist damit in diesem Werk ein monistischer
Gesichtspunkt zugänglich geworden, auf den hin die Dualität von An-
sich-sein und Für-sich-sein von vornherein überschritten wird. Nicht
zufällig verbindet Sartre mit dem An-und-für-sich-sein den Namen
Gottes. Das Fragwürdigste an diesem fragwürdigen Verfahren besteht
darin, dass er damit seiner phänomenologischen Metaphysik ein onto-
theologisches Gepräge aufdrückt.
Diejenige Dialektik, an die Sartre appelliert, lehnt Merleau-Ponty
grundsätzlich ab. Mit einem an Hegel erinnernden Ausdruck bezeich-
net er sie als eine »schlechte« Dialektik, 298 in der »die Negation ins
Absolute gesteigert« und die »dialektische Bewegung« als »reine Iden-
tität der Gegensätze, Ambivalenz« stillgelegt wird. 299 Wichtiger aber als
dieses – ansonsten treffende – Urteil ist Merleau-Pontys Versuch, die
stillgelegte und festgeronnene Dialektik bei Sartre phänomenologisch
zu hinterfragen. Es heißt in Das Sichtbare und das Unsichtbare an einer
bemerkenswerten Stelle: »In Wirklichkeit sind die Definition des Seins
als das, was in jeder Hinsicht und ohne Einschränkung ist, und die des
Nichts als das, was in keinerlei Hinsicht ist, […] das abstrakte Porträt
einer Erfahrung, und auf dem Boden der Erfahrung müssen sie auch
diskutiert werden.« 300 Hier darf das Wort »abstrakt« nicht überhört
werden; es birgt einen gravierenden Einwand in sich. Merleau-Ponty
betrachtet das An-sich-sein und das Für-sich-sein als abstrakte Ideali-
sierungsprodukte, die als solche die Erfahrung transzendieren. Er setzt
hinzu, dass mit dem Hin- und Herschwanken zwischen dem Nichts und
dem Sein, der Nichtigkeit im Für-sich und der Seinsfülle im An-sich –
oder im An-und-für-sich – auch nicht viel gewonnen ist: Diese schein-
bar dialektische Pendelbewegung »kompensiert eine Abstraktion durch

297
Siehe M. Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 80 f.
298
Ebd., S. 128.
299
Ebd., S. 127.
300 Ebd., S. 105.

273
Metaphysik zufälliger Faktizität

eine Gegenabstraktion«, aber »es nähert sich nicht dem Konkreten«. 301
Angesichts abstrakter Idealisierungsprodukte erhebt sich aber immer
die phänomenologische Frage nach einer ermöglichenden Erfahrungs-
grundlage.
Wie wird diese Frage von Merleau-Ponty beantwortet? Welche Er-
fahrung liegt den Idealisierungsprodukten »An-sich-sein« und »Für-
sich-sein« zugrunde? Es heißt dazu in Das Sichtbare und das Unsicht-
bare: »Sie sind sicherlich der Ausdruck der Erfahrung des Sehens; das
Sehen ist Panorama […]. […] Das Sein ist in seiner ganzen Ausdehnung
von einem Sehen des Seins eingefaßt, das nicht ein Sein, sondern ein
Nicht-Sein ist.« 302 In diesem Zusammenhang könnte der Gesichtssinn
durch kein anderes Wahrnehmungsorgan ersetzt werden. Nur das Se-
hen ist Panorama; einzig und allein der Gesichtssinn täuscht die Mög-
lichkeit eines »Überflugs« (survol) vor. Das Verdienst von Merleau-
Ponty besteht aber nicht darin, diese Eigentümlichkeit des Sehens he-
rausgestellt zu haben; sie war ja seit alters her bekannt. Sein eigentliches
Verdienst liegt vielmehr darin, gezeigt zu haben, dass Panorama nur das
Sehen eines Sehenden ist, der »sich zum Seher« (visionnaire) macht
und dabei »vergißt, dass er einen Leib hat«. 303 Denn bin ich als Sehender
leibhaft in einer Situation da, so ist mein Sehen in dieser Situation kei-
neswegs einfach Nichten. Wie Merleau-Ponty sagt, »ziehen die Dinge
meinen Blick an, und mein Blick liebkost die Dinge, er vermählt sich mit
ihren Umrissen, mit ihren Erhebungen (reliefs), und wir erahnen zwi-
schen ihm und ihnen eine geheime Komplizenschaft.« 304
Es deutet sich in diesen Worten – mit einem Terminus, der von
Rudolf Bernet geprägt wurde – eine »Phänomenologie des Blicks« an,
die über die entsprechenden Erörterungen von Sartre weit hinausgeht.
Der Unterschied ergibt sich daraus, dass sich Merleau-Ponty in seiner
Analyse des Blicks der bereits erwähnten »Aufforderung zur Revision
unserer Ontologie, zur Überprüfung der Begriffe ›Subjekt‹ und ›Ob-
jekt‹« stellt. Nehme ich diese Aufforderung ernst – meint er –, so muss
ich mich fragen, »ob jede Beziehung von mir zum Sein, bis hin zum
Sehen und zum Sprechen, nicht ein eingefleischter Bezug ist, ein Bezug
zum Fleisch der Welt, in dem das ›reine‹ Sein nur am Horizont auf-

301
Ebd., S. 97.
302
Ebd., S. 105 f.
303
Ebd., S. 108.
304 Ebd., S. 107.

274
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

scheint […].« 305 Damit ist ein Ansatz angedeutet, der – im Gegensatz
zur Herangehensweise von Sartre in Das Sein und das Nichts – nicht
von einer schroffen Entgegensetzung, sondern von einer »Verflech-
tung« – oder auch von einem »Chiasmus« – von Subjekt und Objekt
ausgeht.
Merleau-Ponty stützt sich auf diese Idee einer Verflechtung von
Subjekt und Objekt, um der »schlechten« Dialektik, die er bei Sartre
entdeckt, eine »gute« Dialektik gegenüberzustellen. Er sagt: »Eine Auf-
gabe der Dialektik – als einem Denken von der Situation her, einem
Denken, das zum Sein Kontakt hält – besteht darin, falsche Evidenzen
zu erschüttern, von der Seinserfahrung abgeschnittene und entleerte
Bedeutungen aufzudecken und sich selbst zu kritisieren, wenn sie selbst
zu einer solchen wird.« 306 Dieser Hinweis auf eine Selbstkritik der Dia-
lektik erübrigt sich keineswegs. Merleau-Ponty weiß ja, dass eine
»schlechte« Dialektik gerade deshalb so genannt werden muss, weil sie
sich auf abstrakte Idealisierungen, das heißt aber: auf »von der Seins-
erfahrung abgeschnittene und entleerte Bedeutungen« festlegt. Daher
bedarf die wohlverstandene Dialektik einer ständigen Selbstkritik: Sie
muss gegen ihre eigene Neigung, sich in abstrakten Idealisierungen zu
verlieren, einen unaufhörlichen Kampf führen. Aus dem Gesagten folgt
bereits, dass es »keine gute Dialektik außer der Hyperdialektik« gibt. 307
Unter Hyperdialektik versteht Merleau-Ponty ein Denken, das einer
These nicht etwa in abstracto eine Antithese gegenüberstellt, um von
dem antithetischen Konflikt zwischen beiden – gleichfalls nur in abs-
tracto – zu einer Synthese weiterzuschreiten, sondern das von vorn-
herein weiß, dass »jede These eine Idealisierung darstellt«, die über-
wunden werden muss, damit ein »rohes oder wildes Sein«, in dem »die
Bedeutung immer nur als Tendenz vorhanden ist«, zurückerobert wer-
den kann. 308 In diesem Bereich anfänglicher Sinntendenzen ohne ver-
festigte Bedeutungen ist es nicht erlaubt, »den einen Begriff als positi-
ven und den anderen als negativen zu definieren«, und erst recht nicht,
»einen dritten Begriff als die absolute Aufhebung des Negativen durch
sich selbst anzusetzen«. 309 Es handelt sich infolgedessen um eine »Dia-

305 Ebd., S. 116.


306
Ebd., S. 126.
307
Ebd., S. 129.
308
Ebd., S. 129 und S. 139.
309 Ebd., S. 129.

275
Metaphysik zufälliger Faktizität

lektik ohne Synthese« 310, die den konkreten Verflechtungen von an-
fänglichen Sinngebilden nachgeht, ohne sie in einer höherstufigen Ein-
heit aufzulösen.
Aus Das Sichtbare und das Unsichtbare geht deutlich hervor, wa-
rum im Bereich des rohen oder wilden Seins eine synthetische Einheit
undenkbar bleibt. Der Grund liegt in dem, was Merleau-Ponty als
»Hiatus« im Chiasmus bezeichnet. 311 Der Chiasmus von Subjekt und
Objekt oder auch von Leib und Fleisch bleibt mit einem unaufhebbaren
Hiatus behaftet; das Sehende und das Sichtbare, das Berührende und
das Berührte verflechten sich, ohne jemals miteinander zusammen-
zufallen. Merleau-Ponty erläutert diese Beobachtung anhand des bei
Husserl entlehnten Beispiels, auf das er sich in der Analyse des Chias-
mus immer wieder stützt. Wenn ich zunächst mit der rechten Hand die
linke berühre, dann aber wiederum mit der berührten linken die berüh-
rende rechte betaste, so scheint die Umkehrbarkeit des Verhältnisses
zwischen den beiden Händen sozusagen ad oculos bewiesen zu sein.
Merleau-Ponty stellt jedoch fest, dass »es sich um eine immerzu bevor-
stehende und niemals tatsächlich verwirklichte Reversibilität han-
delt«. 312 Es kommt – so setzt er hinzu – »niemals zu einer Koinzidenz«
zwischen Berührendem und Berührtem: »entweder wird meine rechte
Hand wirklich zur berührten Hand, doch dann wird ihr Zugriff auf die
Welt unterbrochen, – oder aber sie bewahrt diesen, doch dann berühre
ich nicht wirklich sie, sondern betaste nur ihre äußere Hülle mit meiner
linken Hand.« 313 Dieses Dilemma macht deutlich, dass »der Hiatus zwi-
schen meiner rechten berührten und meiner rechten berührenden
Hand« unaufhebbar bleibt: Das Berührende kann als Berührendes nie-
mals berührt werden.
Die Einsicht in diese Nicht-Koinzidenz in der Verflechtung gibt der
Idee einer Dialektik ohne Synthese einen unmittelbar einleuchtenden
Sinn. Von einer Deckungsgleichheit zwischen Sehendem und Sicht-
barem, Berührendem und Berührbarem kann keine Rede sein; ebendes-
halb ist auch eine synthetische Einheit von Subjekt und Objekt nicht
möglich. Die Lehre vom Hiatus im Chiasmus ist daher von grundlegen-
der Bedeutung für Merleau-Pontys gesamte Spätphilosophie. Nur dass

310
Ebd.
311
Ebd., S. 195.
312
Ebd., S. 194.
313 Ebd. (Die Übersetzung wurde leicht geändert.)

276
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

diese Lehre die von Merleau-Ponty in Frage gestellte und angefochtene


Ansicht über das Verhältnis von Subjekt und Objekt letztlich doch wie-
der in ihre Rechte einzusetzen scheint, so dass man nicht mehr richtig
versteht, zu welchem Ergebnis eigentlich die »Revision unserer Onto-
logie«, die »Überprüfung der Begriffe ›Subjekt‹ und ›Objekt‹« in Das
Sichtbare und das Unsichtbare geführt haben soll.
Der scharfen Kritik, der Jacques Derrida in einem seiner letzten
Werke, dem Buch über Jean-Luc Nancy und das Berühren, Merleau-
Pontys Spätwerk unterzogen hat, scheint unter anderen auch dieser
Einwand zugrunde zu liegen. Derrida fragt sich: »Was macht (mir) die
Lektüre von Merleau-Ponty so unbehaglich? Was macht aus der Inter-
pretation seiner Schreibweise eine sowohl leidenschaftlich packende als
auch schwierige, aber auch mitunter irritierende und enttäuschende Sa-
che?« 314 Seine Antwort lautet: »Vielleicht dies hier, mit einem Wort:
Die Bewegung, die wir angesprochen hatten, diese Erfahrung der Ko-
inzidenz/Deckung mit der Nicht-Koinzidenz/Nicht-Deckung finden
wir wieder, in die Ordnung der (inkonsequenten) Konsequenz oder der
(unterbrochenen) Kontinuität der philosophischen Aussagen trans-
feriert […].« 315
Mir scheint, dass es Merleau-Ponty in seiner Auseinandersetzung
mit Sartre gelungen ist, in Das Sein und das Nichts eine »schlechte«
Dialektik zu enthüllen. Dass Sein und Nichts, An-sich und Für-sich in
diesem Werk letztlich »von der Seinserfahrung abgeschnittene und ent-
leerte Bedeutungen« bleiben, ist eine Beobachtung, die durchaus ernst-
genommen werden muss. Aber die »gute« Dialektik, die Merleau-Pon-
ty der Methode von Sartre entgegensetzt, also seine »Dialektik ohne
Synthese«, bleibt, wie jede Dialektik, auch nur eine »echte philosophi-
sche Verlegenheit« (um hier einen Ausdruck von Heidegger zu verwen-
den). Der Gedanke eines Hiatus im Chiasmus, einer Nicht-Koinzidenz
in der Verflechtung, vereinigt offensichtlich gegenläufige Sinntenden-
zen in sich. Gewiss hat Merleau-Ponty darin recht, dass in dem Bereich
des rohen oder wilden Seins, den er ans Licht zu bringen sucht, diese
gegenläufigen Sinntendenzen einander nicht so gegenüberstehen, wie
sich ein negativer Begriff einem positiven entgegensetzt, und daher

314
Jacques Derrida, Le toucher, Jean-Luc Nancy, Paris: Galilée 2000, S. 72, S. 217 f.; dt.
Berühren, Jean-Luc Nancy, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Berlin: Brinkmann &
Bose 2007, S. 270.
315 Ebd.

277
Metaphysik zufälliger Faktizität

auch nicht durch eine begriffliche Synthese in einer höherstufigen Ein-


heit aufgehoben werden können. Es besteht zwischen ihnen kein for-
maler Widerspruch, der nur noch der dialektischen Vermittlung und
Aufhebung harren würde. Folgt aber daraus, dass sie doch in einer Dia-
lektik, nur eben in einer ganz andersartigen, verflüssigten und weniger
scharfen, untergebracht und zurechtgelegt werden müssten? Mir
scheint, dass die Idee einer »Dialektik ohne Synthese«, von der Mer-
leau-Ponty spricht, überall zur Ansetzung einer Grauzone verleitet, in
der die Konturen der Gegensätze unscharf werden, ohne dass die Ge-
gensätze selbst aufgehoben werden könnten. Was in Das Sichtbare und
das Unsichtbare »Hyperdialektik« heißt, ist ebendeshalb nur eine Dia-
lektik, die nicht allein auf die Hegel’sche Strenge, sondern selbst noch
auf die Sartre’sche Schärfe von vornherein verzichtet.
Was berechtigt uns aber dann überhaupt dazu, Merleau-Pontys
Dialektik ohne Synthese als eine echte philosophische Verlegenheit zu
beschreiben? Meine Antwort auf diese Frage geht aus dem Gang unse-
rer Erörterungen über Sartre und Merleau-Ponty von selbst hervor. Die
These, die hier vertreten werden soll, lautet wie folgt: Die Revision der
Ontologie, die Überprüfung der Begriffe »Subjekt« und »Objekt«, die
Merleau-Ponty sich in Das Sichtbare und das Unsichtbare zur Aufgabe
gemacht hat, musste deshalb in eine Hyperdialektik münden, weil sie an
der phänomenologischen Metaphysik im Sinne von Husserl und Sartre
gänzlich vorbeiging. Der Hiatus im Chiasmus von Subjekt und Objekt
setzt, wie Sartre es richtig gesehen hat, das »absolute Ereignis« voraus,
in dem ein Bewusstsein im Sein auftaucht. Ebenso setzt die Nicht-Ko-
inzidenz in der noch so engen Verflechtung von Selbst und Anderem
die »fundamentale Kontingenz« voraus, auf die in Das Sein und das
Nichts die ontologische Trennung der Bewusstseine zurückgeführt
wird. Nicht einmal eine Dialektik ohne Synthese vermag an diesen Ur-
tatsachen zu rütteln, selbst wenn sie ihnen durch die Ansetzung einer
Grauzone die Schärfe zu nehmen sucht. Merleau-Ponty hat zwar ge-
zeigt, wie sehr die Beziehungen zwischen Subjekt und Objekt – wie
auch die zwischen Subjekt und Mitsubjekt – in Das Sein und das Nichts
verzeichnet und missdeutet sind. »Damit der Andere wirklich ein An-
derer ist, ist es nicht hinreichend und nicht notwendig, dass er eine
Plage ist […].«316 Wie so oft trifft Merleau-Ponty mit dieser Bemer-
kung den Nagel auf den Kopf. Gleichwohl behält Sartre ihm gegenüber

316 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 114.

278
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

recht in dem, was er von den metaphysischen Fragen sagt, die jeweils
danach verlangen, die Notwendigkeit eines Faktums herauszustellen,
ohne sie mit einer Wesensnotwendigkeit, das heißt der eidetischen Be-
sonderung eines Wesensgesetzes, zu vermengen. Außer Husserl hat
niemand so deutlich gesehen wie der Verfasser von Das Sein und das
Nichts, dass die Aufgabe der wohlverstandenen Metaphysik nicht etwa
darin besteht, die Urtatsachen unseres Daseins – selbst um den Preis
spekulativer Überschwänglichkeiten – wegzuerklären, sondern einzig
und allein darin, sie als Urtatsachen zu enthüllen und in ihrer faktischen
Notwendigkeit zu durchleuchten. Sicherlich könnte man diese Aufgabe
ausführlicher erörtern, als Sartre dies tut. So könnte man etwa mit Ni-
colai Hartmann, der mit der Methode der aristotelischen Schriften über
das Seiende als Seiendes eng vertraut war, den aporetischen Charakter
der phänomenologisch angelegten Metaphysik betonen. Mit Husserl
selbst könnte man hinzufügen, dass sich eine phänomenologische Me-
taphysik notwendig mit einer Ontologie der Lebenswelt verbindet, da
die Urtatsachen, die sie herauszustellen hat, nichts anderes sind als eben
nur die notwendigen Möglichkeitsbedingungen lebensweltlicher Erfah-
rung, die selbst dann noch die Grundpfeiler unseres Daseins bleiben,
wenn sie in den abstrakten Idealisierungen der Wissenschaften über-
schritten werden können. Sartre hat aus der Idee einer phänomenologi-
schen Metaphysik gewiss nicht alle Konsequenzen gezogen, aber Eines
wurde bisher von niemandem so deutlich gesehen wie von ihm: die
Tatsache, dass eine phänomenologische Ontologie in der Luft schwebt,
solange sie nicht in einer Metaphysik der Urtatsachen verankert wird.

2. Das Unendliche als Überschuss in der Erfahrung von Welt


bei Levinas

In einem Vortrag, den Levinas im Jahre 1959 – anlässlich von Husserls


hundertjährigem Jubiläum – unter dem Titel »La ruine de la représen-
tation« gehalten hat, heißt es: »Die Welt ist nicht nur konstituiert, son-
dern auch konstituierend.« 317 Levinas setzt hinzu, dass in Husserls Phä-
nomenologie das Noema die es konstituierende Noese wiederum

317
Emmanuel Levinas, »La ruine de la représentation«, in: En découvrant l’existence
avec Husserl et Heidegger, Paris: Vrin 1974, S. 125–135, hier: S. 133; dt. »Der Untergang
der Vorstellung«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und

279
Metaphysik zufälliger Faktizität

seinerseits »konstituiert und in sich schließt«. 318 Allerdings bleiben die-


se paradoxen Einsichten solange unverständlich, als man nicht begreift,
was in diesem Text mit ›Welt‹, ›Noema‹ oder auch mit dem ebenfalls
gebrauchten Begriff ›Horizont‹ eigentlich gemeint ist. Was Levinas im
Auge hat, ist das Erscheinen des Erscheinenden im Ganzen; was er dabei
eigens hervorheben will, ist der unableitbare Gegebenheitscharakter der
Phänomenalität als solcher. Deshalb behauptet er, dass die Phänomeno-
logie zu einem Zusammenbruch der bloßen Vorstellung von der Welt
(also zu einer ruine de la représentation) führt. Er deutet damit an, dass,
bevor ich dazu komme, mir die Welt vorzustellen, in mir eine Vorstel-
lung von ihr zu bilden, mir sich das Erscheinende in seinem Erscheinen
bereits von selbst aufgedrängt hat. Zum ersten Mal wird damit das Er-
scheinen des Erscheinenden, die Phänomenalität in ihrem jeweiligen
Ganzen, als ein Urfaktum begriffen, das alle Konstitution bedingt.
Hier ist noch von der Welt die Rede, und es geht eindeutig um die
Phänomenologie. Aber der Gedanke, dass das Noema die es konstituie-
rende Noese seinerseits konstituiert und in sich schließt, wird bald auch
auf das Unendliche angewandt. Levinas entnimmt der dritten Medita-
tion von Descartes den Gedanken, dass das Unendliche selbst noch sei-
ne eigene Idee überschreitet. Daraus folgert er, dass das Unendliche kei-
neswegs einfach als das Korrelat der Idee des Unendlichen aufgefasst
werden könne. Diese Idee habe ja gerade »das Auszeichnende«, dass
»ihr Ideatum über die Idee hinausgeht«. 319 Ebendeshalb könne aber eine
Erfahrung des Unendlichen auch keine gewöhnliche Erfahrung sein.
Denn infolge des soeben Gesagten gehe ihr die für die Intentionalität
charakteristische Korrelation von Bewusstsein und Bewusstseinsgegen-
stand ab. Deshalb sagt Levinas: »Das Wunder des Unendlichen im End-
lichen wälzt die Intentionalität um […]«. 320 Sich auf diese Beobachtung
stützend prägt Levinas den Begriff einer »Umkehrung« der Intentiona-

Sozialphilosophie, hg. und übersetzt von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg und
München: Alber 1983, S. 120–139, hier: S. 134.
318
Ebd., S. 134; dt. S. 136 (geänderte Übersetzung).
319
Levinas, »La philosophie et l’idée de l’infini«, in: En découvrant l’existence avec Hus-
serl et Heidegger, S. 165–186, hier: S. 172; dt. »Die Philosophie und die Idee des Unend-
lichen«, in: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphi-
losophie, S. 185–208, hier: S. 196.
320
Levinas, »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heideg-
ger, S. 187–202, hier: S. 196; dt. »Die Spur des Anderen«, in: Die Spur des Anderen.
Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, S. 209–235, hier: S. 225.

280
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

lität, 321 und er versucht zu zeigen, dass die Erfahrung des Unendlichen
geradezu »das Gegenteil der Intentionalität« deutlich werden lässt. 322
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er auch dem Unendlichen
selbst einen überphänomenalen Charakter zuschreibt. Er behauptet,
dass das Unendliche in seiner eigenen Idee zwar in Erscheinung tritt,
aber nur ohne zu erscheinen. Diese paradoxe Weise, »in Erscheinung zu
treten, ohne zu erscheinen« – im französischen Originaltext: »se mani-
fester sans se manifester« – steht bei Levinas dem Erscheinen oder
Sich-Zeigen des Phänomens gegenüber und charakterisiert im Gegen-
satz zum Phänomen das, was in einem der berühmten Aufsätze aus den
1960er Jahren als »Rätsel« (énigme) bezeichnet wird. 323 In dieser Be-
griffsbildung gelangt die Tendenz, Hyperphänomene oder Nicht-Phä-
nomene zu thematisieren, zur vollen Geltung. Gleichwohl geht es Le-
vinas darum, diese Hyperphänomene oder Nicht-Phänomene in ihrer
paradoxen Weise, in Erscheinung zu treten, zu erfassen. Der beim spä-
ten Heidegger entlehnte Ausdruck »Phänomenologie des Unscheinba-
ren«, den Dominique Janicaud als Erster mit der Vorgehensweise von
Levinas in Verbindung brachte, hat deshalb sein Treffendes. Die The-
matisierung der verschiedenen »Rätsel« erschöpft sich keineswegs da-
rin, etwas Nicht-Erscheinendes, Erfahrungstranszendentes und deshalb
phänomenologisch nicht Greifbares zur Sprache zu bringen. Es kommt
dabei vielmehr gerade darauf an, die außerordentlichen Erscheinungs-
weisen ausfindig zu machen, in denen sich das Nicht-Erscheinende, Er-
fahrungstranszendente und deshalb phänomenologisch unmittelbar
nicht Greifbare auf mittelbare Weise bekundet und damit phänomeno-
logisch doch fassbar wird. Wird das Unendliche als »Rätsel« begriffen,
so wird ihm eine Erfahrungstranszendenz zugeschrieben, die zwar jede
gewöhnliche Phänomenalisierung ausschließt, gleichwohl aber eine pa-
radoxe Weise, in Erscheinung zu treten, ohne zu erscheinen, zulässt.
Im Hinblick auf diese paradoxe Selbstoffenbarung spricht Levinas
geradezu von einer Erfahrung des Unendlichen. Er macht deutlich, in
welchem Sinne dieser Ausdruck genommen werden kann. Zunächst
stellt er fest: »Freilich kann die Beziehung mit dem Unendlichen nicht

321
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 80 f.; dt. S. 114 f.
322 Ebd., S. 90; dt. S. 128 f.
323
Siehe Levinas, »Énigme et phénomène«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et
Heidegger, S. 203–215, hier: S. 209; dt. »Rätsel und Phänomen«, in: Die Spur des Ande-
ren. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, S. 236–260, hier:
S. 246.

281
Metaphysik zufälliger Faktizität

in Termini der Erfahrung ausgedrückt werden – denn das Unendliche


überschreitet das Denken, das es denkt.« 324 Aber er setzt sogleich hinzu,
dass von dieser Überlegung eigentlich nur die »objektive Erfahrung« 325
betroffen sei, diejenige Erfahrung also, die nur zu dem einen Zugang
verschaffen kann, was sich zum Gegenstand machen lässt. Das Unend-
liche lässt sich jedoch der Erfahrung von ihm keineswegs als Gegen-
stand gegenüberstellen, da es ja das Denken, das es denkt, überschreitet.
Wenn jedoch »Erfahrung gerade die Beziehung mit dem absolut Ande-
ren besagt – das heißt mit etwas, das immer über das Denken hinaus-
geht –, dann vollzieht die Beziehung mit dem Unendlichen die Erfah-
rung schlechthin.« 326
Das Verdienst von Levinas besteht darin, die außerordentlichen
Erscheinungsweisen, in denen das Unendliche in Erscheinung tritt,
ohne zum Gegenstand einer »objektiven Erfahrung« zu werden, deut-
lich herausgestellt zu haben. Die beiden wichtigsten unter diesen Er-
scheinungsweisen sind die Störung einer Ordnung und die Spur, die in
etwas Seiendem hinterlassen wird.
1. Die Störung. Levinas sagt: »[…] alles hängt ab von der Möglich-
keit einer Bedeutung, deren Bedeuten in einer nicht reduzierbaren Stö-
rung geschähe […].«327 Gesucht wird eine Bedeutung, die nicht auf ein
bestimmtes Seiendes verweist und auch nicht den Prozess des Seins-
geschehens andeutet, sondern über Sein und Seiendes gleichermaßen
hinausweist. Eine derartige Bedeutung wird von Levinas als »Störung«
(dérangement) bezeichnet. Die Störung, so wie er sie versteht, ist also
eine Bedeutungsgestalt, eine Sinnregung, die sich jedoch der gegebenen
Ordnung von Sein und Seiendem nicht einfügt.
Im Gegensatz zu dem, was Bergson im dritten Kapitel von Évolu-
tion créatrice von der Unordnung sagt, 328 trägt nach Levinas die Stö-
rung auch nicht etwa dazu bei, die gegebene Ordnung durch eine andere

324
Emmanuel Levinas, Totalité et Infini, Édition »Livre de poche«, Dordrecht, Boston
und London: Kluwer 1994, S. 10; dt. Totalität und Unendlichkeit, übersetzt von Wolf-
gang Nikolaus Krewani, Freiburg und München: Alber 1987, S. 26.
325
Ebd.
326
Ebd.
327 Levinas, »Énigme et phénomène«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et

Heidegger, S. 205; dt. S. 240 (geänderte Übersetzung).


328
Henri Bergson, L’évolution créatrice, Paris: Alcan 41908 (11907); S. 240–242; dt.
Schöpferische Entwicklung, übersetzt von Gertrude Kantorowicz, Jena: Diederichs 1921;
oder: Zürich: Coron-Verlag 1967, S. 224–227.

282
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

Ordnung zu ersetzen: »Die Störung ist eine Bewegung, die nicht ir-
gendeine feste Ordnung im Konflikt oder in Übereinstimmung mit
einer gegebenen Ordnung voraussetzt; sie ist vielmehr eine Bewegung,
die die Bedeutung, die sie brachte, schon mit sich fortträgt. Die Störung
stört die Ordnung, ohne sie ernsthaft zu verwirren.« 329 Deshalb ver-
weist die Störung auf eine Transzendenz, die der Einbildungskraft und
der Meinung keinen Anhaltspunkt bietet. Sie deutet eben nur Bruch-
stellen in der gegebenen Ordnung von Sein und Seiendem an, ohne
dabei eine andersartige Ordnung greifbar zu machen.
In seinem Aufsatz über »Rätsel und Phänomen« führt Levinas eine
ganze Reihe von Beispielen an, um verständlich zu machen, was er mit
»Störung« meint. Eines dieser Beispiele lautet wie folgt: »Ein Unbe-
kannter hat an meiner Türe geläutet und meine Arbeit unterbrochen.« 330
Dieses Beispiel wird im Text auch ein zweites Mal erwähnt, dabei aber
leicht umgewandelt: »Es hat geklingelt, aber niemand ist an der Tür. Hat
es geklingelt?« 331 Damit wird eine Situation umrissen, die den Grund-
zug dessen greifbar macht, was Levinas »Störung« nennt: Die Störung
tritt in die gegebene Ordnung »auf so subtile Weise ein, dass sie sich
schon zurückgezogen hat, es sei denn, wir hielten sie fest.« 332
Doch ist das wichtigste Beispiel einer Störung dann gegeben, wenn
ein Antlitz uns begegnet. »Die Nacktheit des Antlitzes, das mir ent-
gegentritt, sich ausdrückt: Sie unterbricht die Ordnung.« 333 Das Antlitz
offenbart sich von Angesicht zu Angesicht, aber es tritt in Erscheinung,
ohne zu erscheinen. Das Antlitz ist kein sichtbares Gesicht. Es erscheint
nicht wie ein Phänomen, es zeigt sich nicht, es wird nicht sichtbar. Nach
Levinas ist es durchaus einer »Epiphanie« 334 fähig, aber es entzieht sich
jeder Phänomenalisierung; es bleibt ebendeshalb ein Rätsel. In Totalität
und Unendlichkeit heißt es: »Die Epiphanie des Antlitzes ist ethisch.« 335
Levinas hat dabei eine Ethik im Auge, die über jede Phänomenologie
hinausgeht und an die Stelle der Metaphysik oder der Ersten Philoso-
phie tritt. 336

329
Ebd., S. 208; dt. S. 245 (geänderte Übersetzung).
330
Ebd., S. 206; dt. S. 241.
331
Ebd., S. 208; dt. S. 245.
332 Ebd.
333
Ebd., S. 207 f.; dt. S. 244.
334
Levinas, Totalité et Infini, S. 73; dt. S. 103.
335
Ebd., S. 218; dt. S. 286.
336 Ebd., S. 340; dt. S. 442.

283
Metaphysik zufälliger Faktizität

2. Die Spur. Es ist erst die Idee einer Spur, die verständlich macht,
wie das Antlitz trotz seiner Selbstoffenbarung in einer Epiphanie letzt-
lich doch ein Rätsel bleibt. In Jenseits des Seins, oder anders als Sein
geschieht sagt Levinas: »Die Enthüllung des Gesichts [oder des Antlit-
zes] ist Nacktheit – Un-Form – Selbstaufgabe, Altern, Sterben; nackter
als die Nacktheit: Armut, runzelige Haut; runzelige Haut: Spur ihrer
selbst.« 337 Die Spur verweist hier auf eine unvordenkliche Vergangen-
heit, die als solche niemals gegenwärtig war. 338
Es ist aber mit dieser »Diachronie« nicht etwa der Einbruch einer
anderen Zeit in die Zeit der Uhren gemeint. Der Hinweis auf eine un-
vordenkliche Vergangenheit begründet keine neue Ordnung, er bleibt
vielmehr nur eine »unaufhebbare Störung« der bestehenden Ord-
nung. 339 Als eine unaufhebbare Störung muss man auch den »ethischen
Widerstand« ansehen, der vom Antlitz ausgeht und nach Levinas »die
Dimension des Unendlichen selbst öffnet«. 340 Es handelt sich ja nicht
um einen tatsächlichen Widerstand, da sich der ethische Widerstand
des Antlitzes keinem Kräfteverhältnis einfügt. »Der ›Widerstand‹ des
Anderen tut mir keine Gewalt an […].« 341 Zwar erweist er sich als die
Quelle eines Gebots – »Du sollst nicht töten« –, aber dieses Gebot selbst
hat auch nur den Charakter einer unbehebbaren Störung – eben einer
»An-archie des Guten«. 342 Anders als Kant den kategorischen Impera-
tiv, denkt Levinas dieses Gebot keineswegs etwa als das Gesetz einer
moralischen Ordnung, eines »Reichs der Sitten«. Deshalb heißt es in
Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht: »Die im Antlitz vo-
rübergehende oder vergangene Spur ist nicht die Abwesenheit eines
Noch-nicht-Offenbarten, sondern die An-archie dessen, was niemals
gegenwärtig gewesen ist – eines Unendlichen, das im Antlitz des Ande-
ren gebietet und das sich – wie ein ausgeschlossenes Drittes – nicht
anzielen lässt.« 343 Die unvordenkliche Vergangenheit, die auf der runz-

337
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 141; dt. S. 199.
338
Levinas, »La trace de l’autre«, in: En découvrant l’existence avec Husserl et Heideg-
ger, S. 198; dt. S. 229.
339
Ebd., S. 198; dt. S. 228 (geänderte Übersetzung).
340
Levinas, »La philosophie et l’idée de l’infini«, in: En découvrant l’existence avec Hus-
serl et Heidegger, S. 173; dt. S. 199. Vgl. ebd.: »Der ethische Widerstand ist die An-
wesenheit des Unendlichen.«
341
Levinas, Totalité et Infini, S. 215; dt. S. 283.
342
Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, S. 120; dt. S. 170.
343 Ebd., S. 155; dt. 217 f. (geänderte Übersetzung).

284
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

ligen Haut eine Spur hinterlassen hat, kann nicht erzählt, ja sie kann
nicht einmal bezeichnet werden; man kann sie nicht zum Gegenstand
intentionaler Akte machen. Sie offenbart sich vielmehr, indem sie die
Intentionalität »umkehrt« und indem sie damit die gegebene Ordnung
von Sein und Seiendem »auf eine nicht wieder gutzumachende Weise«
stört. 344 Ist die Spur ein Zeichen, so ist sie ein außerordentliches Zei-
chen: »Ihr Bedeuten ist unabhängig von jeder Intention, ein Zeichen zu
geben, und unabhängig von jedem Entwurf, dessen Intention dieses
Bedeuten wäre.« 345 Daraus zieht Levinas noch einen letzten Schluss:
»Sein auf die Weise des Eine-Spur-Hinterlassens ist Vorbeigehen, Auf-
brechen, Sich-Ablösen.« 346
Im Ausgang von den beiden Begriffen »Störung« und »Spur« ver-
sucht Levinas, das Unendliche als einen Überschuss zu denken, der sich
niemals handfest machen lässt, sich vielmehr jedem Zugriff entzieht,
aber als unaufhebbare Störung dennoch in die Erscheinung tritt, wenn
auch ohne zu erscheinen, indem es in der Ordnung von Sein und Sei-
endem eine Spur hinterlässt. Das Unendliche erweist sich auf diese
Weise als ein Absolutes, das aber nur deshalb »absolut« ist, weil es sich
– im Sinne des französischen Verbs s’absoudre – aus seiner Beziehung
mit dem erfahrenden Bewusstsein herauslöst.
Das so verstandene Absolute wird bei Levinas zum Thema einer
quasi-theologischen Betrachtung, die einen Bruch mit der gesamten
Tradition ontotheologischer Spekulation markiert. Der Grundbegriff
dieser quasi-theologischen Betrachtung ist der der Illeität, die zum ers-
ten Mal in dem Aufsatz »Die Spur des Anderen« zur Sprache gebracht
wird. Dieser Begriff ist ein deutliches Zeugnis für das Anliegen, eine
Alternative zur Ontotheologie ausfindig zu machen. Er deutet weder
auf einen Gott hin, der in seiner Seinsmächtigkeit die Welt beherrscht,
noch auf einen Gott, der, jenseits des Seins angesiedelt, als ein Du an-
geredet werden könnte. Er stützt sich vielmehr ausschließlich auf eine
Spur des Unendlichen, das sich aus seiner Beziehung mit dem Denken
herauslöst, sich aber dennoch als eine unaufhebbare Störung in ihm
offenbar macht. Diesem Unendlichen kommt eine Transzendenz zu,
die mit einem Jenseits im gewöhnlichen Sinne des Wortes nichts zu
tun hat: die Transzendenz des durch Denken nicht Einholbaren, doch

344
Ebd., S. 200; dt. S. 231.
345
Ebd., S. 199; dt. S. 231.
346 Ebd., S. 200; dt. S. 231.

285
Metaphysik zufälliger Faktizität

als Störung und Spur in seinem Sich-Ablösen Erfahrbaren, mit einem


Wort: die Transzendenz des Unvordenklichen.

3. Das phänomenologische Feld als Apeiron bei Richir

Dominique Janicaud hat früh schon deutlich gesehen, dass sich die neu-
artigen Untersuchungen von Levinas dazu eigneten, eine »Wende« in
der französischen Phänomenologie herbeizuführen. 347 Es ist ihm auch
nicht entgangen, dass parallel zu Levinas andere einflussreiche Denker
– so allen voran Michel Henry, aber bis zu einem gewissen Grad auch
der späte Merleau-Ponty – ebenfalls danach gestrebt hatten, die phäno-
menologische Methode auf »unsichtbare« und im eigentlichen Sinne
des Wortes gar nicht erscheinende, sich aber mittelbar anzeigende Hy-
perphänomene oder Nicht-Phänomene (wie das »Leben« oder »das
Fleisch«) auszudehnen. Dieser phénoménologie de l’inapparent, die er
mit Heideggers »Phänomenologie des Unscheinbaren« in Verbindung
brachte, trat Janicaud in polemischer Absicht entgegen, indem er neben
Levinas und Henry auch jüngere Denker wie Jean-Luc Marion und
Jean-Louis Chrétien suaviter in modo, fortiter in re angriff, sie als nos
nouveaux théologiens (»unsere neuen Theologen«) bezeichnete und
ihnen zunächst vor allem Paul Ricœur, später aber auch Marc Richir
gegenüberstellte. Janicaud hatte freilich noch nicht die nötige Distanz,
um zu erkennen, dass der von Levinas mit besonderer Einprägsamkeit
vertretene Neuansatz seit dem Beginn der achtziger Jahre nicht allein
von den Anhängern einer phénoménologie de l’inapparent, sondern,
wenngleich auf andere Weise, auch von ihren – vermeintlichen oder
wirklichen – Gegnern weitergeführt wurde. Als Beleg für diese Beob-
achtung soll hier nur ein kurzer Text von Marc Richir angeführt wer-
den, der unter dem Titel »Phénomène et Infini« 348 einer leidenschaft-
lichen, wenn auch durchaus verehrungsgsvollen Auseinandersetzung
mit Levinas gewidmet ist. Dieser Text ist in demselben Jahr erschienen

347
Dominique Janicaud, Le tournant théologique de la phénoménologie française, Com-
bas: Éd. de l’éclat 1991; vgl. Dominique Janicaud, La phénoménologie éclatée, Paris: Éd.
de l’éclat 1998.
348
Marc Richir, »Phénomène et Infini«, in: Cahiers de l’Herne, Nr. 60: Emmanuel Lévi-
nas, hg. von Catherine Chalier und Miguel Abensour, Paris: Éditions de l’Herne 1991,
S. 241–261.

286
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

wie Janicauds Streitschrift über die »theologische Wende« in der fran-


zösischen Phänomenologie.
Der Einsatz der Auseinandersetzung mit Levinas besteht für Richir
darin, die Überphänomenalität des Unendlichen – also seine Trennung
vom Phänomen – in Jenseits des Seins, oder anders als Sein geschieht in
Frage zu stellen. Der Debatte liegt die These zugrunde, dass das Phäno-
men »immer schon und für immer von Abwesenheit und Unendlichkeit
durchdrungen ist«. 349 Anders als Levinas versteht Richir unter dem Un-
endlichen allerdings nicht etwa »das sozusagen absolut und unendlich
unendliche Unendliche« (l’Inifini pour ainsi dire absolument et infini-
ment infini), 350 sondern das Apeiron des phänomenologischen Feldes. 351
Zugleich ist Richir jedoch darum bemüht, aus der Levinas’schen
Kritik an der klassischen Phänomenologie von Husserl und Heidegger
die Konsequenzen zu ziehen. Er will die Zeitlichkeit des Phänomens auf
eine Weise ausgelegt haben, die der Levinas’schen Einsicht in die »Dia-
chronie« Rechnung trägt. 352 Ähnlich wie Levinas hat er ja eine »unvor-
denkliche Vergangenheit, die niemals gegenwärtig war« (un passé im-
mémorial, qui n’a jamais été présent), zur Sprache gebracht; er hat
darüber hinaus sogar eine »unreife Zukunft, die niemals gegenwärtig
sein wird« (un futur immature, qui ne sera jamais présent), von sich
aus zum Thema gemacht. 353 In der Zeitlichkeit des Phänomens hat er
damit eine »grundlegende Schieflage« (un porte-à-faux fondamental)
und eine »ursprüngliche Verzerrung« (une distortion originaire) ent-
deckt. 354 Mit der Annahme einer Zeit, in der die Vergangenheit sich
durch Behalten (Retention) in die Gegenwart integrieren und sich
durch Wiedererinnerung und historische Rekonstruktion mit der Ge-
genwart auch auf eine andere Weise synchronisieren lässt, bricht Richir
daher nicht weniger entschieden als Levinas. Nur dass er die unvor-
denkliche Vergangenheit und die unreife Zukunft – im Gegensatz zu
Levinas – als »transzendentale« Vergangenheit und »transzendentale«
Zukunft charakterisiert, 355 weil er davon überzeugt ist, dass diese Zeit-

349
Ebd., S. 258.
350
Ebd., S. 259; vgl. S. 256: »l’infini absolument infini« (»das absolut unendliche Un-
endliche«).
351 Ebd., S. 256.

352
Ebd., S. 246.
353
Ebd.
354
Ebd., S. 245.
355 Ebd.

287
Metaphysik zufälliger Faktizität

modi über das phänomenologische Feld nicht hinausweisen, ihm nicht


transzendent sind, sondern es vielmehr in seiner Eigengesetzlichkeit
allererst ermöglichen.
Auch noch eine weitere Konsequenz versucht Richir aus der Levi-
nas’schen Kritik an der klassischen Phänomenologie von Husserl und
Heidegger zu ziehen. In Jenseits des Seins, oder anders als Sein ge-
schieht, das er einer überaus eingehenden und völlig sachgerechten
Analyse unterzieht, entdeckt er mit sicherem Blick ein zentrales Anlie-
gen, das ansonsten oft verkannt wird. Demnach geht es in diesem Werk
um die Selbstheit als Einzigkeit. Laut Richir versucht Levinas, Husserls
Festhalten an der Egologie gegenüber dem Heidegger’schen Einwand, es
handle sich dabei um nichts anderes als eine »Metaphysik der Subjekti-
vität«, in seiner sachlichen Rechtmäßigkeit begreiflich zu machen. 356
Diese Bestrebung sei in Jenseits des Seins, oder anders als Sein ge-
schieht deshalb erfolgreich, weil Levinas »die Subjektivität in der Passi-
vität und nicht, wie es klassisch der Fall war, in der Aktivität ›ansie-
delt‹« 357 und weil er sich in dieser Hinsicht tatsächlich viel mehr an
Husserl als an Heidegger anlehnen kann. Richir macht sich diese An-
sicht über die Subjektivität zu Eigen. Er teilt die Überzeugung von Le-
vinas, dass die Einzigkeit des Selbst nicht in dessen Aktivität, sondern in
dessen Passivität zu suchen sei und dass sich diesbezüglich nicht der die
Metaphysik der Subjektivität verpönende Heidegger, sondern der an
der Egologie festhaltende Husserl als der verlässlichere Gewährsmann
erweise.
Die beiden Konsequenzen, die Richir aus der Levinas’schen Kritik
an der klassischen Phänomenologie von Husserl und Heidegger zieht,
verbinden ihn mit einer ganzen Reihe von Denkern, die zur Heraus-
bildung einer neuartigen Phänomenologie in Frankreich beitragen. Die
Unendlichkeit als Grundzug des Phänomens und die Passivität als We-
sensmerkmal des Subjekts gehören zusammen. Sie drücken dem Er-
scheinen des Erscheinenden das Gepräge eines Ereignisses auf, das sich
dem Subjekt von selbst aufdrängt – das ihm widerfahren sein wird,
bevor es von ihm konstituiert werden könnte. Die Neue Phänomeno-
logie in Frankreich bleibt demjenigen Levinas treu, der zum ersten Mal
versucht hat, das Erscheinen des Erscheinenden, die Phänomenalität in
ihrem jeweiligen Ganzen, als ein Urfaktum zu begreifen, das alle Kon-

356
Ebd., S. 244.
357 Ebd.

288
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

stitution bedingt. Führt dieser Versuch eine Wende in der französischen


Phänomenologie herbei, so trägt Richir zu dieser Wende ebenso viel bei
wie Marion oder andere. Allerdings kann er unmöglich zu den »neuen
Theologen« im Sinne von Janicaud gerechnet werden. Daraus folgt aber
nur, dass die eigentliche Neuigkeit, die mit der Neuen Phänomenologie
in Frankreich aufkommt, keineswegs in einer »theologischen« Wende
besteht. Der polemische Eifer hat Janicaud in dieser Hinsicht bei all
seinem Scharfsinn zur Prägung einer irreführenden Formel hinge-
rissen.
Es liegt Richir in der Tat viel daran, den, wenn nicht gerade »theo-
logischen«, so doch zumindest »religiösen« 358 Charakter des Levi-
nas’schen Unendlichen herauszustellen und dem so verstandenen Abso-
lutunendlichen »das radikal wilde Apeiron« 359 des phänomenologischen
Feldes gegenüberzustellen. Den größten Unterschied sieht er darin, dass
ein Unendliches, das dem phänomenologischen Feld immanent ist,
nicht als Quelle eines Gebots aufgefasst werden kann, da es mir nichts
befiehlt und mich zu nichts verpflichtet. 360 Damit ist allerdings keines-
wegs aller Zusammenhang zwischen dem Unendlichen und der Selbst-
heit als Einzigkeit zerrissen. Den Augenblick, in dem das Subjekt sich
vor das radikal wilde Apeiron des phänomenologischen Feldes gestellt
sieht, versucht Richir vielmehr – in Anlehnung an Kant – als den Au-
genblick des »Phänomenologisch-Erhabenen« zu begreifen, 361 der als
eine »phänomenologische Erprobung« (épreuve phénoménologique)
das Selbst all seiner symbolischen Anhaltspunkte (des Namens, des Be-
rufs, der Rollen, des Ranges, des Ansehens, der Macht) entledigt, um es
mit der Angst vor seinem Verschwinden, dieser wahrhaften Todesangst,
zu konfrontieren, 362 es jedoch zugleich in seiner neu gefundenen Ein-
zigkeit gleichsam wiederauferstehen zu lassen.
Auf diese Weise versucht Richir auch noch aus der Ethik von Le-
vinas eine Konsequenz für die Phänomenologie zu ziehen. Aber der
Anspruch von Levinas, die Ethik als Erste Philosophie zu bestimmen
und sie damit an die Stelle der traditionellen Metaphysik treten zu las-
sen, trifft auf keinen Widerhall bei ihm. Vielmehr beschränkt er das

358 Ebd., S. 252.


359
Ebd., S. 260.
360
Ebd., S. 258.
361
Ebd., S. 256–258.
362 Ebd., S. 257.

289
Metaphysik zufälliger Faktizität

Apeiron auf das phänomenologische Feld, das er als eine Sphäre der
»nicht-physikalischen Physis« 363 betrachtet.
Auch wir werden uns im Folgenden damit begnügen, das Unend-
liche der Welt zum Gegenstand unserer Erörterungen zu machen. Al-
lerdings soll damit die Entscheidung über den Sinn und die Recht-
mäßigkeit des Levinas’schen Anspruchs, die Ethik als Erste Philosophie
und als Metaphysik ausgewiesen zu haben, keineswegs gefallen sein.
Auf jeden Fall wirft die Frage nach der Selbstheit als Einzigkeit das Pro-
blem einer phänomenologischen Ethik auf, ob diese als Erste Philoso-
phie bzw. als Metaphysik bestimmt werden kann oder nicht.

4. Phänomenologie als eine andere Erste Philosophie


bei Marion

Neben Marc Richir hat ohne Zweifel Jean-Luc Marion das Meiste dafür
getan, das Verhältnis der Phänomenologie zur Metaphysik in neuem
Licht erscheinen zu lassen. Von ihm stammt der Gedanke, dass die Phä-
nomenologie als »eine andere Erste Philosophie« aufgefasst werden
könnte. 364 Was aber noch mehr ins Gewicht fällt, ist, dass er im dritten
Teil von Étant donné 365 gezeigt hat, wie sich die Kategorien wandeln,
sobald sie nicht mehr – wie bei Aristoteles – auf das Seiende als Seiendes
und auch nicht – wie bei Kant – auf das gegenständliche Korrelat des
»Ich denke« bezogen, sondern auf das Erscheinen des Erscheinenden
übertragen werden. 366 Dabei hat Marion auch völlig neuartige Katego-
rien entwickelt, um das Phänomen als ein Ereignis darstellen zu kön-

363 Ebd., S. 258.


364
Jean-Luc Marion, »Phénoménologie de la donation et philosophie première«, in: De
surcroît, Paris: PUF 2001, S. 1–34, hier: S. 16. Ursprünglich wurde diese Schrift unter
dem Titel »L’autre philosophie première et la question de donation« in: Philosophie,
Nr. 49, Paris 1996, veröffentlicht. Es liegt eine deutsche Übersetzung dieser ursprüng-
lichen Textfassung vor: »Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit«,
übersetzt von Susanne Sandherr und Josef Wohlmuth, in: Jean-Luc Marion und Josef
Wohlmuth, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Kleine
Bonner theologische Reihe, Bonn: Borengässer 2000, S. 13–34; der zitierte Ausdruck
findet sich hier auf S. 20.
365
Marion, Étant donné, S. 169–250.
366
Ebd., S. 249: »[…] gewisse Kategorien des Seienden […] erfahren, sobald sie auf das
gegebene Phänomen angewandt werden, eine Neubestimmung: Das gilt für Zufälligkeit
und Notwendigkeit […], Akzidenz und Substanz […], Ursache und Wirkung […].«

290
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

nen, das dem Subjekt von selbst widerfährt und es vor die »vollendete
Tatsache« (fait accompli) seiner Gegebenheit stellt. 367 Zu diesen letzte-
ren Kategorien gehören in Étant donné die »Anamorphose« 368 und die
»Zufuhr« (arrivage) 369 des Erscheinens.
Im Buch Neue Phänomenologie in Frankreich wurde dieser span-
nende Versuch, eine phänomenologische Kategorialanalyse zu begrün-
den, ausführlich dargestellt. 370 Diese Darstellung bleibt hier voraus-
gesetzt. Im letzten Kapitel seines neuen Werkes Certitudes négatives
legt Marion jedoch eine verwandelte Auffassung von der Ereignishaf-
tigkeit des Phänomens vor. 371 Es ist lohnenswert, auf diesen Text ein-
zugehen, weil er einer phänomenologischen Kategorialanalyse – zu-
mindest auf den ersten Blick – den Boden zu entziehen scheint.
Marion teilt jetzt die Phänomene in zwei Arten ein, indem er Ge-
genstände und Ereignisse einander gegenüberstellt. Unter Gegenstän-
den versteht er allen voran die »anschauungsarmen« Phänomene von
Logik und Mathematik.372 Er charakterisiert diese Phänomene so, wie
Descartes die Objekte der Mathesis Universalis charakterisiert hat:
nämlich durch Begriffe wie ordo und mensura, also durch Ordnungs-
formen und Messzahlen oder auch durch »Modelle« und »Parame-
ter«. 373 Aber zu den Gegenständen rechnet er auch die »gewöhnlichen«
Phänomene der Naturwissenschaften und der industriellen Technik, 374
die übrigens im Rahmen einer Mathesis Universalis oder, richtiger, der
»mathematisierenden Umdeutung der Natur«, von der Husserl in der
Krisis-Abhandlung spricht, 375 ebenfalls durch Modelle und Parameter
gekennzeichnet werden können. Die Gegenstände sind diejenigen Phä-
nomene, denen Kant in seiner Transzendentalphilosophie auf Grund
einer Analyse subjektiver Erkenntnisvermögen Bedingungen a priori
auferlegt und die ebendeshalb von vornherein als gegenständliche Kor-
relate des »Ich denke«, des Selbstbewusstseins, der transzendentalen
Apperzeption zu gelten haben. Auf die so verstandenen Gegenstände

367
Ebd., § 15, S. 197–212, hier: S. 199.
368
Ebd., S. 184.
369
Ebd., S. 187.
370
Gondek und Tengelyi, Neue Phänomenologie in Frankreich, S. 227–238.
371 Jean-Luc Marion, Certitudes négatives, Paris: Grasset 2010, S. 243–308.
372
Ebd., S. 252 und S. 301, Anm. 1.
373
Ebd., S. 257.
374
Ebd., S. 301, Anm. 1.
375 Ebd., S. 271, Anm. 2.

291
Metaphysik zufälliger Faktizität

lassen sich die reinen Verstandesbegriffe a priori oder die Kategorien


anwenden. 376 Ihnen stehen die Ereignisse gegenüber, die allesamt als
»anschauungsgesättigte« – oder, einfacher, als »gesättigte« – Phänome-
ne betrachtet werden. Es gilt der Satz: »[…] das Phänomen zeigt sich
desto mehr als gesättigt, mit je größer Ereignishaftigkeit es sich gibt.« 377
Vieles deutet darauf hin, dass Marion nunmehr den so bestimmten Er-
eignissen nicht allein die Charakterisierbarkeit durch ordo und mensura
– also durch Ordnungsformen und Messzahlen oder durch Modelle und
Parameter – abspricht, sondern auch die »Abhängigkeit von den Kate-
gorien«. 378 So nennt er etwa »l’inaptitude et l’indigence du non-objet
aux catégories«; 379 er meint also, dass der Nicht-Gegenstand – das heißt
das Ereignis – sich nicht zu den Kategorien eignet und ihrer bar bleibt.
Andere Stellen scheinen mit diesem Textverständnis in Einklang zu
stehen. 380 Man kann sich so des Eindrucks kaum erwehren, dass Marion
sich in seinem neuen Buch von seiner früheren Idee einer phänomeno-
logischen Kategorialanalyse weit entfernt.
Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Begriffe wie »Anamorpho-
se« oder »Zufuhr« (arrivage) des Erscheinens in der Analyse der Ereig-
nisse keine Rolle mehr erhalten könnten. Im Gegenteil, Marion hält an
diesen, von ihm selbst in Étant donné gebildeten Kategorien nach wie
vor fest. 381 Überhaupt spricht er in der glänzenden Analyse, die er dem
Gedicht »A une passante« (»An eine, die vorüberging«) 382 aus Charles
Baudelaires Fleurs du mal widmet 383 und der er die Aufgabe stellt, das
Ereignis als solches zu bestimmen, dieselbe Sprache wie in seinem frü-
heren Werk: Das Vorübergehen der von Baudelaire beschriebenen Frau
in »tiefer Trauer« fasst er als ein gesättigtes Phänomen auf, 384 und er
schreibt diesem Ereignis den Charakter eines »Anspruchs« (appel) 385

376
Ebd., S. 255–269.
377
Ebd., S. 301, Anm. 1.
378
Ebd., S. 302.
379
Ebd., S. 252.
380
Ebd., S. 260, Zeilen 9–10: der Ausdruck »par contraposition«; S. 279, Zeilen 9–10: das
Kant-Zitat.
381
Ebd., S. 286 und S. 288.
382
Charles Baudelaire, Les fleurs du mal – Die Blumen des Bösen, französisch-deutsche
zweisprachige Ausgabe, dt. von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart: Reclam
1993, S. 192 f.
383
Marion, Certitudes négatives, S. 283–291.
384
Ebd., S. 287.
385 Ebd., S. 290.

292
Metaphysik zufälliger Faktizität in der französischen Phänomenologie

zu, der das Subjekt zu einem »Ergebenen« (adonné) 386 macht. Aber eine
verwandelte Anwendung von Kategorien wie Substantialität oder Kau-
salität auf das Ereignis zieht er gar nicht mehr in Erwägung; vielmehr
behauptet er ausdrücklich: »Ein Ereignis widerspricht […] umso mehr
diesen Kategorien, als es sich einstellt, indem es von selbst aufkommt
und sich zuträgt.« 387
Aber selbst diese scheinbar völlig eindeutige Aussage schließt ein
andersartiges Verständnis nicht ganz aus. Vielleicht fasst Marion in
Certitudes négatives die Kategorien enger auf als in Étant donné, indem
er mit ihnen nur Kants reine Verstandesbegriffe a priori in ihrer ur-
sprünglichen Fassung meint. Dass sich die so verstandenen Kategorien
nur auf die gegenständlichen Korrelate des »Ich denke« anwenden las-
sen, leuchtet natürlich ein. Daraus folgt aber nicht, dass diese Begriffe
auch auf geeignete Weise umgewandelt und neu gefasst nicht auf Ereig-
nisse angewandt werden können.
Eine gewisse Zweideutigkeit entsteht auch dadurch, dass Marion in
Certitudes négatives das Ereignis nicht allein als eine dem Gegenstand
entgegengesetzte Art des Phänomens, sondern auch als einen Grund-
zug aller Phänomene überhaupt betrachtet. Demnach sind jedoch alle
Phänomene, auch die anschauungsarmen und die gewöhnlichen, die
zusamengefasst »Gegenstände« heißen, durch eine fundamentale Er-
eignishaftigkeit charakterisiert. Bei näherem Zusehen enthüllt sich da-
mit der vermeintliche Wesensunterschied zwischen Gegenstand und
Ereignis als ein bloß gradueller Unterschied innerhalb einer zugrunde
liegenden Einheit des Phänomenbestands. 388 Damit taucht jedoch die
Frage auf, ob tatsächlich die Abhängigkeit von den Kategorien über-
haupt und nicht vielmehr nur die Abhängigkeit von einem bestimmten
Typ von Kategorien die Gegenstände von allen anderen Phänomenen
unterscheidet.
In Certitudes négatives scheint Marion einen Weg betreten zu ha-
ben, der zu einer Radikalisierung seiner phénoménologie de l’inappa-
rent führt. 389 Die Radikalisierung, die er nunmehr anstrebt, richtet sich
vor allem gegen die »mathematisierende Umwandlung der Natur«, die
in der Person von Descartes ihren ersten philosophischen Fürsprecher

386
Ebd., S. 288.
387
Ebd., S. 292.
388
Ebd., S. 307.
389 Ebd., S. 296. Hier wird die phénoménologie de l’inapparent ausdrücklich erwähnt.

293
Metaphysik zufälliger Faktizität

gefunden hatte und die in Kants Lehre von den Kategorien nur eine
tiefere philosophische Begründung erhielt. Deshalb fordert Marion in
seinem neuen Buch von der Phänomenologie einen entschiedeneren
Bruch mit dieser Lehre als in seinem früheren Werk. Demgegenüber
soll in den folgenden Untersuchungen, die dem methodologischen
Transzendentalismus von Husserls Phänomenologie verpflichtet blei-
ben und daher auch das Erbe von Kants kritischer Transzendentalphi-
losophie unter veränderten Bedingungen weiterzuführen suchen, der
Idee einer phänomenologischen Kategorialanalyse, wie sie von Marion
in Étant donné entworfen wurde, zumindest die Rolle eines entfernten
Leitbilds keineswegs abgesprochen werden.

294
Dritter Teil:
Phänomenologische Metaphysik
Die Welt und ihr Unendliches

Mit einer Metaphysik, die grundlegende Tatsachen von Leben und Welt
aus ersten Ursachen und Prinzipien abzuleiten sucht, lässt sich die phä-
nomenologische Denkrichtung nicht vereinbaren. Sie lehnt aber deswe-
gen keineswegs jegliche Metaphysik ab. Unsere Überblicksdarstellung
hat gezeigt, dass im letzen Jahrhundert verschiedene Ansätze zu einer
phänomenologischen Metaphysik zufälliger Faktizität zum Vorschein
gekommen sind. Husserl legte eine nicht-traditionelle Metaphysik von
Urtatsachen vor. Er fasste dabei Urtatsachen ins Auge, die sich im Ge-
gensatz zu gewöhnlichen Tatsachen durch eine faktische Notwendigkeit
– die ›Notwendigkeit eines Faktums‹ – kennzeichnen ließen. In Husserls
Deutung von Urtatsachen als ›Urnotwendigkeiten‹ zeichnete sich die
Möglichkeit einer Metaphysik ab, die gegen Kants Kritik spekulativer
Metaphysik gewappnet war. Dieser Ansatz wurde zwar beinahe aus-
schließlich von Sartre produktiv weitergeführt, aber es haben sich in
der phänomenologischen Tradition verwandte Bestrebungen gemeldet.
Heideggers metontologische Grundlegung der Metaphysik wies Paral-
lelen zu Husserls Metaphysik der Urtatsachen auf. Darüber hinaus
zeichnete sie sich durch ihre Orientierung an einem neuartigen Welt-
begriff aus. In der französischen Phänomenologie versuchte Marion,
eine andere Erste Philosophie auf der ›vollendeten Tatsache‹ des Er-
scheinens des jeweils Erscheinenden aufzubauen. Denker wie Levinas
oder Richir schlugen dagegen eine andere Richtung ein, indem sie – in
je verschiedener Weise – das Unendliche auf einem phänomenologi-
schen Zugangsweg zu verdeutlichen suchten.
Im Rückblick auf diese Ansätze fällt auf, dass sich die phänomeno-
logische Metaphysik bei manchen Autoren auf die grundlegendsten
Tatsachen des bewussten Lebens in der Welt richtet, bei anderen Auto-
ren dagegen sich vorwiegend um das Unendliche dreht. Es handelt sich
dabei allerdings nicht etwa um einander ausschließende Auffassungen,
sondern eher nur um Akzentverschiebungen und unterschiedliche Ge-

297
Die Welt und ihr Unendliches

wichtungen. Bei einem Autoren wie Husserl, der die gesamte Philoso-
phie umfassend neu gestaltet, stehen beide Grundthemen im Mittel-
punkt eingehender Betrachtungen. Laut Krisis-Abhandlung gehört ja
die ›raumzeitliche Unendlichkeit‹ wesenhaft zur kategorialen Struktur
der Lebenswelt. Heideggers Metontologie befasst sich zwar ausschließ-
lich mit Weltbildung und Weltentwurf, und seine Metaphysik des Da-
seins wird als eine ›Metaphysik der Endlichkeit im Menschen‹ be-
stimmt. Gleichwohl findet sich am Ende von Kant und das Problem
der Metaphysik ein Hinweis von grundlegender Bedeutung auf das Un-
endliche.1 Auf der anderen Seite verbinden sich die Überlegungen zum
Unendlichen bei Levinas oder auch bei Richir durchaus mit einer Phä-
nomenologie des bewussten Lebens in der Welt.
Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich die beiden Un-
tersuchungsrichtungen keineswegs ausschließen, vielmehr einander
geradezu gegenseitig fordern. Es tritt uns damit ein eigentümlich phä-
nomenologischer Doppelbegriff der Metaphysik entgegen. Wir können
behaupten, dass die phänomenologische Metaphysik zwei Unter-
suchungsrichtungen umfasst: Der Schlüsselbegriff der ersten Unter-
suchungsrichtung ist die Welt, der der anderen dagegen ist das Unend-
liche. Mit der doppelten Bestimmung traditioneller Metaphysik als
Ontologie und als Theologie haben diese beiden Untersuchungsrich-
tungen phänomenologischer Metaphysik allerdings wenig zu tun. Die
Phänomenologie des bewussten Lebens in der Welt gehört mit ihren
Faktizitätsstrukturen – wie Husserl sagen würde: ihren ›metaphysi-
schen Urtatsachen‹ – keineswegs im Ganzen in eine Ontologie (auch
nicht in eine existenzialanalytisch angelegte Fundamentalontologie),
sondern letztlich in eine ›Ontik‹ jenseits der Ontologie; sie hat deshalb,
um mit Heidegger zu reden, einen ›metontologischen‹ Charakter. Auf
der anderen Seite lässt sich der phänomenologische Zugangsweg zum
Unendlichen keineswegs in eine Theologie einfügen, auch nicht in eine
rein metaphysische Ontotheologie, obgleich sie sozusagen einen ›meta-
theologischen‹ Grundzug aufweist, indem sie einen nicht-theologischen
Ursprung aller Theologie andeutet.
Die kategoriale Grunddualität der Welt und des Unendlichen hat in
der phänomenologischen Metaphysik keineswegs die Struktur einer
Entgegensetzung. Das Unendliche bildet keinen Gegensatz zur Welt;

1 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik [Gesamtausgabe, Bd. 3], S. 246.

298
Die Welt und ihr Unendliches

es steht ihr nicht einmal gegenüber. Die phänomenologische Metaphy-


sik gründet sich nicht etwa auf eine Trennung des Unendlichen von der
Welt. Eine derartige Trennung (ein χωρισμόϚ im Sinne der plato-
nischen Tradition) lässt sich mit der grundlegenden Einsicht von Levi-
nas, der zufolge das Unendliche sich immer nur als ein Überschuss in
der Erfahrung von Welt bekunden kann, nicht vereinbaren. Mit dem
Unendlichen ist daher keine metaphysische ›Hinterwelt‹ gemeint. Folg-
lich ist die phänomenologische Metaphysik keine Trennungsmetaphy-
sik und auch keine Jenseitsmetaphysik im Sinne irgendeiner Transphy-
sik. Vielmehr wird das Unendliche in der Erfahrung von Welt mit
erfahren. Die Mitgegebenheit ist die einzig mögliche Gegebenheit des
Unendlichen. In diesem Sinne wird im Folgenden von der Welt und
ihrem Unendlichen – also dem Unendlichen der Welt – die Rede sein.
Das Unendliche der Welt ist ein diesseitiges Unendliches, das je-
doch nicht mit der Welttotalität als solcher zusammenfällt. Der Unter-
schied zwischen Totalität und Unendlichkeit, der in der phänomeno-
logischen Tradition besonders von Levinas unterstrichen wurde, ist
selbst dann von grundlegender Bedeutung für eine phänomenologische
Metaphysik zufälliger Faktizität, wenn er nicht als Gegensatz verstan-
den wird. Mit dem Unendlichen der Welt ist nicht etwa das Weltall als
geschlossenes Ganzes gemeint. Es handelt sich dabei vielmehr um die
Offenheit der Welt für das Unendliche. Das so verstandene Unendliche
schließt ein geschlossenes Ganzes im Sinne absoluter Totalität aus. Es
schließt jedoch nicht jede Totalität der Welt aus. Der Welt kommt, wie
wir sehen werden, eine für das Unendliche offene Totalität zu. Daher
wird hier kein Gegensatz zwischen Totalität und Unendlichkeit ange-
setzt, sondern eben nur ein Unterschied, der sich gerade nicht zu einem
Gegensatz zuspitzen lässt.
Im Nachstehenden geht es darum, dieses Wechselverhältnis zwi-
schen der Welt und ihrem Unendlichen klarzustellen. Die kategoriale
Grunddualität der Welt und ihres Unendlichen ist das einzige Thema
des folgenden Beitrags zu einer phänomenologischen Metaphysik zu-
fälliger Faktizität. Allerdings ist dieses Thema so umfassend, dass es
nicht angemessen behandelt werden kann, ohne dass dabei die Grund-
kategorien einer rekursiven Ontologie der Lebenswelt ebenfalls zur
Sprache gebracht werden.
Die Untersuchung wird in zwei umfangreichere Abteilungen ge-
gliedert. In einer ersten Abteilung wird die Frage nach der Welt er-
örtert. Die Welt kann aber keineswegs für sich zum Gegenstand phäno-

299
Die Welt und ihr Unendliches

menologischer Betrachtungen gemacht werden. Sie meldet sich immer


nur in der Dingerfahrung an. Erforscht wird daher in der ersten Abtei-
lung das Ding in der Welt. Es geht dabei darum, den Unterschied in der
Seinsweise von Ding und Welt herauszustellen. Damit soll einem An-
liegen des späten Husserl Rechnung getragen werden, von dem weiter
oben die Rede war. Es wird aber zugleich einem Hinweis gefolgt, der
vom späten Heidegger stammt. Im Protokoll über ein Seminar zum
Vortrag »Zeit und Sein« ist davon die Rede, dass es nötig wird, »dem
Denken die ontologische Differenz zu erlassen« und an die Stelle des
Verhältnisses von Sein und Seiendem das »Verhältnis von Welt und
Ding« treten zu lassen. 2 Der nicht mehr ontologisch zu nennende Un-
terschied von Ding und Welt soll im Folgenden näher betrachtet und in
seiner eigentümlichen Natur erfasst werden.
Die zweite Abteilung wird dem Unendlichen der Welt gewidmet.
Husserls Forderung nach einem Ausgang von der objektiven Wissen-
schaft und einem Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung wird da-
bei ernst genommen. Im Sinne dieser Forderung wird eine phänomeno-
logische Auseinandersetzung mit Georg Cantors mengentheoretischen
und philosophiehistorischen Betrachtungen über das Unendliche durch-
geführt. Der Cantor’schen Gegenüberstellung von Transfinitem und
Absolutunendlichem wird dabei eine grundlegende Rolle zugewiesen.
Auch Cantors Unterscheidung zwischen einer Mathematik und einer
Metaphysik des Transfiniten wird aufgegriffen. Die Ausführungen in
der zweiten Abteilung verschreiben sich der These, dass die Metaphysik
des Transfiniten nur als Phänomenologie möglich ist.
Die nachstehenden Untersuchungen sind durch leitende Unter-
scheidungen markiert. Neben der kategorialen Grunddualität der Welt
und ihres Unendlichen, die den gesamten Gedankengang bestimmt,
spielt im ersten Kapitel der Unterschied von Ding und Welt, im zweiten
dagegen die Differenz zwischen Transfinitem und Absolutunendlichem
die Hauptrolle. Die betrachteten Unterschiede werden nicht nur nicht
zu Gegensätzen und Widersprüchen zugespitzt, wie in der Hegel’schen
Dialektik, sondern sie werden auch nicht in einer Grauzone entschärft,
wie in Merleau-Pontys Hyperdialektik ohne Synthese. Die folgenden
Erörterungen lassen sich eher differenztheoretisch als dialektisch ver-
stehen, aber sie weisen dabei eine methodologische Eigentümlichkeit

2 Martin Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen: Niemeyer 31988 (11969) S. 48 f.

300
Die Welt und ihr Unendliches

auf: Sie sind einer ›diakritischen‹ Vorgehensweise 3 verpflichtet, die dazu


angelegt ist, scheinbar Zusammenfallendes voneinander im Nachhinein
sachgerecht zu trennen, ohne allerdings die notwendige Zusammen-
gehörigkeit des Getrennten in Frage zu stellen. Die auf diese Weise
voneinander unterschiedenen Phänomene erweisen sich als Kontrast-
phänomene, denen ein bloßer Abhebungswert (valeur diacritique)
zukommt. 4 Es handelt sich bei diesem Verfahren um einen eigentüm-
lichen »Gebrauch des Diakritischen«, 5 der aus einer phänomenologi-
schen Rezeption des Strukturalismus von Ferdinand de Saussure und
Claude Lévi-Strauss bei Maurice Merleau-Ponty erwachsen ist. Phäno-
menologisch ist diese Rezeption in dem Sinne, dass Merleau-Ponty ge-
genüber einem reinen Strukturdenken in der Dritte-Person-Perspektive
Distanz wahrt und nach »meine[r] Einschaltung in ein universelles dia-
kritisches System« 6 fragt. Die Anwendung der diakritischen Methode
auf die kategoriale Grunddualität der Welt und ihres Unendlichen
gründet sich auf die These, dass sich die Welttotalität und das Unend-
liche in phänomenologischer Sicht als eklatante Kontrastphänomene
erweisen, die trotz ihres Unterschieds notwendig zusammengehören.
Ebenso soll im Folgenden ein diakritischer Unterschied einerseits zwi-
schen Ding und Welt, andererseits zwischen Transfinitem und Absolut-
unendlichem herausgestellt werden.

3
Vgl. vom Vf. Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München: Fink 1998, Einleitung II.
3: »Die diakritische Methode«.
4
Maurice Merleau-Ponty, »De Mauss à Claude Lévi-Strauss«, in: Éloge de la philoso-
phie et autres essais, Paris: Gallimard 1960, S. S. 123–142, hier: S. 134; dt. »Von Mauss
zu Claude Levi-Strauss«, in: Alexandre Métraux und Bernhard Waldenfels (Hg.), Leib-
haftige Verrnunft. Spuren von Merleau-Pontys Denken, München: Fink 1986, S. 13–28,
hier: S. 21.
5
Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 270, dt. S. 276.
6 Ebd., S. 287, dt. S. 296.

301
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Bei Aristoteles und in der traditionellen Metaphysik wurde das Ding in


der Gestalt des Seienden als Seienden erfasst. Selbst wenn sich Aristo-
teles dabei als ein Denker des Als erwies, ließ er – zusammen mit der an
seine Metaphysik anknüpfenden Tradition – die Weltzugehörigkeit des
Dinges weitgehend unbeachtet. In seinem Ringen mit dem platonischen
Erbe ging es ihm ja vor allem darum, das Eigengewicht des Einzeldinges
in seinem wesensmäßigen Sosein spürbar zu machen. Auf diese Weise
gelangte er zu einer Substanzontologie, die sich ihren Grundlinien nach
mehr als ein Jahrtausend hindurch erhalten sollte. Der Siegeszug der
Substanzontologie ging in der traditionellen Metaphysik mit einer
kaum je unterbrochenen Weltvergessenheit einher.
In der Zeit der deutschen Aufklärung beginnt die Sachlage sich zu
ändern. Abgesehen von einer kurzen Vorgeschichte der Frage nach der
Welt bei Christian Wolff und Alexander Baumgarten ist wohl Immanu-
el Kant der erste Denker, der die Weltzugehörigkeit des erscheinenden
Gegenstandes (Phaenomenon) zu einem wahrhaften Problem macht. In
seiner Antinomielehre betrachtet er das Ding so, wie es inmitten einer
Welt in Erscheinung tritt. Mit Welt meint er dabei das All der Erschei-
nungen. Auf Grund einer Untersuchung über die verschiedenen Reihen
kategorialer Bedingungen, an die das Erscheinen eines Dinges in dem
All der Erscheinungen gebunden ist, kommt er zu einer bedeutenden
Einsicht: Er erkennt, dass das All der Erscheinungen keineswegs als eine
geschlossene Totalität aller Dinge verstanden werden kann. In dem
Rückgang auf die verschiedenen Bedingungsreihen des Erscheinens,
der in der Kritik der reinen Vernunft als ›regressive Synthesis‹ oder
auch einfach als ›Regressus‹ bezeichnet wird, erweist sich die Welt als
ein sich ständig erweiterndes Ganzes, dem jedoch die absolute Totalität
ein für alle Mal versagt bleibt. Ebendeshalb bleibt aber die Welt stets
offen für das Unendliche.
Zwar ist das Unendliche bei Kant niemals der Wirklichkeit nach,

303
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

sondern immer nur der Möglichkeit nach gegeben. Die Kritik der reinen
Vernunft kennt kein Aktual-Unendliches, sondern nur ein Potential-
Unendliches. Das Unendliche bleibt in ihr eine bloße Idee, der kein Ge-
genstand, nicht einmal ein rein gedachter (Noumenon), entspricht.
Denn als kosmologische Idee, als ›Weltbegriff‹ ist das Unendliche vom
All der Erscheinungen untrennbar. Man kann ebenfalls sagen, dass sich
das Unendliche in der Kritik der reinen Vernunft nicht als ein ›konsti-
tutives‹, sondern als ein ›regulatives Prinzip‹ der Erfahrung erweist. 1 Es
handelt sich dabei um »ein Prinzipium der Vernunft, welches als Regel
postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll[,] und nicht anti-
zipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist«. 2 Die
»kopernikanische Wende«, die der Kant’sche Kritizismus in der Meta-
physik herbeiführt, bleibt daher in gewissem Sinne eine Wende zur
Endlichkeit hin. Aber ohne dieses regulative Prinzip könnte das All der
Erscheinungen nicht als Welt verstanden werden. Als Welt bezeichnet
Kant das All der Erscheinungen in der Tat nur insofern, als es offen für
das Unendliche ist. Der Idee des Unendlichen misst daher bereits die
Kritik der reinen Vernunft die allergrößte Bedeutung bei. In der Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten sieht Kant in der Tatsache, dass der
Mensch eine Idee vom Unendlichen hat, darüber hinaus einen Beleg
dafür, dass der Mensch – wie jedes vernünftige Wesen – nur »unter
der Idee der Freiheit« handeln kann und deshalb das Sittengesetz der
Freiheit notwendig als für sich selbst gültig anerkennt. 3
Allerdings richtet Kant in der Kritik der reinen Vernunft sein Au-
genmerk nur nebenbei auf den strukturellen Unterschied von Ding und
Welt. Sein vornehmliches Interesse gilt vielmehr dem Gegensatz von
Erscheinung und Ding an sich. Er zeigt, dass die Welt als das All der
Erscheinungen »weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich
endliches Ganzes [existiert]«. 4 Dabei hebt er eigens hervor, dass sich
diese Schlussfolgerung nicht allein aus der ersten Antinomie ergibt,

1
Vgl. vom Vf., Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl
und seinen Nachfolgern [Phaenomenologica, Bd. 180], Dordrecht: Springer 2007, Ab-
schnitt IV. 1, S. 71.
2
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 509.
3 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften,

Akademie-Ausgabe, Bd. IV], G. Reimer, Berlin 1911, S. 385–464, hier: S. 448.


4
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 505 (in der ersten Auflage wird das Wort »Ganzes«
allerdings in der Gestalt »Ganze« verwendet; die Stelle wird in der zweiten Auflage
berichtigt).

304
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

sondern auch auf die drei anderen zutrifft: »Was hier von der ersten
kosmologischen Idee […] gesagt worden, gilt auch von den übrigen.« 5
Die Welt existiert aber nach Kant deshalb weder als ein an sich unend-
liches noch als ein an sich endliches Ganzes, weil sie gar nicht an sich
existiert. Dass die Welt als offenes Ganzes »ein Ding an sich selbst sei«,
wird in der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich verneint. 6 Gerade
deshalb kommt ihr keines der beiden, einander kontradiktorisch ent-
gegengesetzten Prädikate ›endlich‹ und ›unendlich‹ zu.
Kant erkennt zwar den Unterschied von Ding und Welt deutlich,
misst aber dieser Einsicht keinen Eigenwert bei. Er verspricht sich von
ihr nur eine Bestätigung seiner Lehre von dem Unterschied zwischen
Erscheinung und Ding an sich. Dass von der Welt einander kontradik-
torisch entgegengesetzte Prädikate verneint werden müssen, beweist in
seinen Augen eindeutig, dass die Welt nichts anderes als das All der
Erscheinungen ist und dass »Erscheinungen überhaupt außer unseren
Vorstellungen nichts sind«. 7
Erst in der Phänomenologie wird die Bedeutung des Unterschiedes
von Ding und Welt ganz deutlich. Husserl und Heidegger beteiligen
sich gleichermaßen an der phänomenologischen Klärung des Welt-
begriffs. Im Folgenden stützen wir uns vor allem auf Husserls Einsich-
ten ins Verhältnis von Wahrnehmungsding und Welthorizont, aber wir
versuchen in unseren Überlegungen auch den Konsequenzen von Hei-
deggers metontologischer Wende Rechnung zu tragen.

5
Ebd., A 505.
6
Ebd., A 504.
7 Ebd., A 506.

305
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

I. Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

Von einem bestimmten Standort her gesehen bieten die erscheinenden


Dinge in der Wahrnehmung jeweils einen bestimmten Anblick oder
Aspekt. Sie zeigen sich in ihren perspektivischen Verkürzungen oder,
wie Husserl sagt: Sie »schatten sich ab«. Die Einsicht in den Anblicks-
charakter des jeweiligen Wahrnehmungsobjekts wird in der phänome-
nologischen Abschattungslehre festgehalten.
Dass die erscheinenden Dinge in der Wahrnehmung jeweils einen
bestimmten Anblick oder Aspekt bieten, ist ein unabdingbarer und un-
veränderlicher Grundzug der Erfahrung. In ihm drückt sich die Urtat-
sache des Erscheinens erscheinender Dinge aus. Dass ein Ding so oder
auch so erscheint, bleibt jeweils ein Ereignis, obwohl in den meisten
Fällen ein längst schon gewohntes und in seiner Alltäglichkeit nur noch
wenig überraschendes. Gewiss verdeckt die Vertrautheit mit den Er-
scheinungsweisen der Dinge den Ereignischarakter des Erscheinens.
Auch in der Vertrautheit bleibt jedoch das Erscheinen ein Widerfahrnis.
Daran zeigt sich selbst noch in der Vertrautheit sein unverlierbarer Er-
eignischarakter. Keine Vertrautheit kann ihm den Abdruck zufälliger
Faktizität abstreifen, mit dem sich stets ein Überraschungspotential ver-
bindet.
Die phänomenologische Abschattungslehre könnte kaum ein-
facher sein; gleichwohl enthält sie eine der grundlegendsten Einsichten
in der Philosophie. Sie kann einen Anspruch darauf erheben, als eine
Antwort auf die Frage nach dem Anfang des Denkens zu gelten. Dass
die erscheinenden Dinge von sich aus jeweils einen bestimmten Anblick
oder Aspekt bieten, ist in gewissem Sinne dieser Anfang. Nur für ein
reines Denksubjekt, das sich nicht überraschen lässt, ist der Anfang das
unbestimmte und abstrakte Sein von Hegels Wissenschaft der Logik.
Für ein leibliches Subjekt dagegen, das von Widerfahrnissen nicht un-
betroffen bleibt, ist der Anfang das konkrete Dasein, das von einem
Anderssein umgeben und mit ihm verknüpft ist, oder, noch bestimmter,
die sich aus der Totalität vorhandener Bedingungen begründende, aber
in einem bestimmten Sinne dennoch grundlos bleibende Existenz eines
Dinges mitten unter anderen Dingen, deren Wesen sich in den Erschei-
nungen ausdrückt.
Der Anspruch der phänomenologischen Abschattungslehre auf die
Bestimmung des Anfangs des Denkens begründet sich erst recht aus

306
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

ihrem Verhältnis zum Cogito. Gerade im Augenblick radikalster Selbst-


besinnung wird offensichtlich, dass das je erfahrene Ereignis des Er-
scheinens der Erfassung je eigenen Seins notwendig vorhergeht. In sei-
nen Meditationen über die Erste Philosophie prägt Descartes eine
Formel für diesen Befund, bevor er ihn metaphysisch wegerklärt: videre
videor. Er sagt: »At certe videre videor, audire, calescere«. 8 Ich erscheine
mir, als sähe ich, als hörte ich, als fühlte ich Wärme, selbst wenn der
methodische Zweifel das Zeugnis, das die Sinne für die Existenz der
Dinge in der Außenwelt tragen, in Frage stellt. Ich erscheine mir dabei
zusammen mit den Dingen der Welt, die ich zu sehen, zu hören, zu
fühlen meine. Daraus folgt, dass der methodische Zweifel nicht an die
Urtatsache sinnlichen Erscheinens rührt, sondern sie ständig voraus-
setzt. Daher erweist sich diese Urtatsache im Verlauf des methodischen
Zweifelsprozesses als unbezweifelbar. Allerdings versucht Descartes,
das sinnliche Erscheinen als eine innere Zustandsänderung im Ich –
oder auch in der geistigen Substanz – zu begreifen, um es dann auf
dem Umweg der Gottesbeweise dennoch auf kausale Einwirkungen kör-
perlicher Substanzen zurückzuführen. Aber die Cartesische Substanz-
ontologie hat offensichtlich die Funktion einer theoretischen Substruk-
tion, die nur zur metaphysischen Auswertung des phänomenalen
Befundes dient. Wie Husserl richtig sieht, hält Descartes am Ich als an
einem »kleine[n] Endchen der Welt« 9 fest und gelangt deshalb nicht
dazu, den Befund des sinnlichen Erscheinens rein für sich zu erfassen.
In der Neuen Phänomenologie Frankreichs wurde dieser Befund
näher ins Auge gefasst. In der Formel videre videor hat Michel Henry
die »Offenbarung des Erscheinenden« erkannt. 10 Allerdings entledigte
er dabei das sinnliche Erscheinen seines Weltbezugs, um es auf das ›Le-
ben‹ – la Vie mit großem Anfangsbuchstaben – zurückzuführen.
Gleichwohl erkennt Henry deutlich, dass ein sinnliches Erscheinen ein
leibliches Ich voraussetzt, wobei er – im Anschluss an eine grundlegen-
de Einsicht von Husserl und der phänomenologischen Denkströmung
überhaupt – den von innen her erlebten Leib vom immer nur in einer
Außenbetrachtung erfahrbaren Körper aufs Schärfste abhebt. Ähnlich
wie Henry, obgleich im Wesentlichen unabhängig von ihm, behauptet

8
Descartes, Mediationes de prima philosophia [Œuvres, Bd. VII], S. 29.
9
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 25.
10 Michel Henry, Généalogie de la psychanalyse, Paris: PUF 1985, S. 19.

307
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Marc Richir: »Das Cartesianische Cogito ist leibhaftig […]«. 11 Bei ihm
bleibt aber die Leiblichkeit mit der Körperlichkeit untrennbar verbun-
den und sprengt daher den Cartesianischen Rahmen, in dem sie thema-
tisiert wurde.
Diese Behauptungen sind nicht als Ansätze zu einer Descartes-In-
terpretation zu verstehen. Sie sind vielmehr Versuche, das Cartesia-
nische Cogito nachzuvollziehen und es im Nachvollzug denkerisch an-
ders zu begreifen – ja, anders zu erfahren – als Descartes. Das ändert
aber nichts daran, dass der Befund sinnlichen Erscheinens in der Carte-
sischen Lehre vom Cogito mit eingeschlossen ist.
Mit der theoretischen Substruktion, die bei Descartes zur meta-
physischen Auswertung dieses Befundes dient, ist der Befund selbst
insofern nicht in Einklang, als das Ereignis des Erscheinens nach einem
weltoffenen Subjekt verlangt, das keineswegs die Gestalt einer nur allzu
selbstmächtigen und selbstgenügsamen Ichsubstanz annehmen kann.
In den 1920er Jahren – besonders nach der Veröffentlichung von Sein
und Zeit – spricht Heidegger wiederholt davon, dass wir in der gesam-
ten Philosophiegeschichte einen »Zug auf das ›Subjekt‹« 12 entdecken
können. Er macht deutlich, dass die Subjektivität in der Gestalt subjek-
tiver Vermögen wie Logos, Nous, Psyché usw. schon in den vermeint-
lich rein gegenständlich orientierten Epochen der Philosophiegeschichte
– so in der Antike und im Mittelalter – gegenwärtig war. 13 Mit vollem
Recht fügt er aber hinzu, dass die Subjektivität in diesen Epochen nie-
mals zum eigentlichen Thema der Philosophie gemacht wurde und dass
sich die Sachlage nicht einmal in der Neuzeit änderte. »Denn« – so heißt
es in der Freiburger Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/1930 –
»das Ich, das Bewußtsein, die Person wird so in die Metaphysik hinein-
genommen, daß dieses Ich gerade nicht in Frage gestellt wird.« 14 Diese
Bemerkung trifft auf das Ich des Cartesischen Cogito erst recht zu.
Auch in der Phänomenologie hat es lange gedauert, bis das Subjekt
dem Ereignis des Erscheinens entsprechend und ihm angemessen er-

11
Richir, Phantasia, imagination, affectivité, S. 257 und S. 259. Vgl. Marc Richir, Médi-
tations phénoménologiques, Grenoble: Millon 1992, S. 81; dt. Phänomenologische Me-
ditationen, übersetzt von Jürgen Trinks, Wien: Turia & Kant 2001, S. 87.
12 Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24],

S. 444.
13
Ebd., S. 104 und S. 155.
14
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 84.

308
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

fasst wurde. Aber bereits bei Husserl hat die Intentionalität dem trans-
zendentalen Ich einen Weltbezug verliehen. Heute sehen wir, wie wenig
Heidegger recht hatte, als er gegen Husserl den Einwand erhob, dieser
sei der neuzeitlichen Annahme eines abgekapselten Ichsubjekts verhaf-
tet geblieben. In Wahrheit ging es schon Husserl darum, das Subjekt in
seiner Offenheit für das Erscheinen des Erscheinenden zu erfassen und
dabei das All der Erscheinungen als Welt zu begreifen. Er stützte sich
dabei auf seine Abschattungslehre, die er während der Ausarbeitung der
Ideen I im Jahre 1912 zum ersten Mal mit der Idee eines Erfahrungs-
horizonts verband.

1. Das Ding und sein Erfahrungshorizont

Zur phänomenologischen Abschattungslehre gehört wesenhaft die Be-


obachtung, dass die jeweils gerade erfassten Dingaspekte weiterführen-
de Erfahrungswege vorzeichnen. Man sieht leicht ein, dass der jeweilige
Anblick eines Dinges im Knotenpunkt verschiedener Verweisungs-
zusammenhänge steht:

1. Indem ein Ding in einem Anblick anvisiert wird, werden manche


Teile und Momente dieses Anblicks ausdrücklich erfasst, manche
andere dagegen nur unausdrücklich mit erfasst. Jeder Anblick er-
schließt aber die Möglichkeit leicht geänderter Anblicke, die seine
unausdrücklich erfassten Teile und Momente in ausdrücklich er-
fasste verwandeln.
2. Ein Ding kann immer nur in und mit seiner unmittelbaren Umge-
bung erfasst werden. Diese Umgebung dient als athematischer
Hintergrund zur thematischen Erfassung des Dinges. Der Anblick
des Dinges in seiner unmittelbaren Umgebung zeichnet Erfah-
rungswege vor, die zur thematischen Erfassung der den Hinter-
grund konstituierenden Dinge führen.
3. Die einzelnen Aspekte oder Abschattungen eines Dinges verwei-
sen aufeinander, indem sie mögliche Erfahrungswege vorzeichnen,
die von einem Aspekt zum anderen, von einer Abschattung zur
anderen führen. Auf diese Weise führt ein möglicher Erfahrungs-
weg etwa vom Anblick der Vorderseite eines Gebäudes zum An-
blick seiner Hinterseite.

309
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

4. Der Anblick eines Dinges in seiner – mit erfassten – Umgebung


verweist auf Umgebungen der diese mit erfasste Umgebung kon-
stituierenden Dinge, die ihrerseits nicht mehr erfasst – auch nicht
mit erfasst –, sondern nur erfassbar sind. Auch zu diesen eben nur
erfassbaren Umgebungen führen vom anvisierten Ding mögliche
Erfahrungswege.

Die Gesamtheit dieser vierfachen Verweisungszusammenhänge kann


als der Erfahrungshorizont des Dinges bezeichnet werden. Bei näherem
Zusehen entdecken wir allerdings einen deutlichen Unterschied zwi-
schen den ersten beiden und den letzten beiden Verweisungszusam-
menhängen: In der obigen Liste sind unter 1 und 2 Verweisungszusam-
menhänge angeführt, die die Grenzen des im Anblick eines Dinges
anschaulich Gegebenen nicht überschreiten; unter 3 und 4 werden da-
gegen Verweisungszusammenhänge erwähnt, die im anschaulich Gege-
benen zwar halbwegs verankert sind, aber durch bloße Denkvorstellun-
gen (wie Husserl sagt: durch ›Leerintentionen‹) über dessen Grenzen
hinausgetragen werden. Diesem Unterschied können wir dadurch
Rechnung tragen, dass wir mit Husserl zwischen dem Innen- und dem
Außenhorizont des Anblicks eines Dinges unterscheiden. 15 Der Innen-
horizont bedarf der bloßen Explikation, der Außenhorizont dagegen
auch der näheren Konkretisierung.
Die letzten beiden Verweisungszusammenhänge, die den Außen-
horizont des Anblicks eines Dinges bilden, sind von entscheidender
Wichtigkeit für unsere Betrachtungen. Die unter 3 genannten Verwei-
sungszusammenhänge eignen sich dazu, den Begriff des Dinges fest-
zulegen. Das Ding kann als die Gesamtheit seiner Abschattungen (oder
Aspekte) aufgefasst werden. Allerdings handelt es sich dabei um eine
grobe, nur in einer ersten Annäherung gültige Definition. Es muss mit
beachtet werden, dass diese Abschattungen (oder Aspekte) untereinan-
der durch vorgezeichnete Erfahrungswege verbunden sind und eben-
deshalb nicht bloß eine Mannigfaltigkeit, sondern in gewissem Sinne
ein System bilden. Das Ding könnte mit diesem System gleichgesetzt
werden, wenn auch die weitere Frage, wie denn überhaupt ein derarti-
ges System existiert, beantwortet werden könnte. Auf analoge Weise
können die unter 4 genannten Verweisungszusammenhänge dazu die-

15
Husserl, Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänome-
nologie [Husserliana, Bd. VI], S. 165.

310
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

nen, den Begriff der Welt zu bestimmen. Zur Welt gelangen wir jeweils
nur von einem Ding her, indem wir von der unmittelbaren Umgebung
dieses Dinges zu seinen immer entfernteren Umgebungen weitergehen.
Die Welt kann auf Grund derartiger Überlegungen als die Gesamt-
umgebung eines Dinges aufgefasst werden. Allerdings handelt es sich
auch diesmal um eine grobe, nur in einer ersten Annäherung gültige
Definition. Es muss mit beachtet werden, dass wir, von welchem Ding
auch immer wir ausgehen, notwendig dieselbe Gesamtumgebung ab-
schreiten. Anders gesagt, gelangen wir von jedem Ding her zu dersel-
ben Welt. Von dieser Beobachtung können wir Gebrauch machen, in-
dem wir die Welt mit Husserl als den ›Universalhorizont‹ der Dinge
bestimmen. Das Wort Universalhorizont meint nicht einfach ›Gesamt-
horizont‹, sondern setzt zugleich voraus, dass ein und derselbe Gesamt-
horizont zu allen Dingen gehört. Wie wir weiter unten (in Abschnitt 4
dieses Kapitels) sehen werden, setzt die Idee eines allgemeinsamen Er-
fahrungshorizonts allerdings die Einstimmigkeit der Erfahrung voraus.
Die unter 1 und 2 angeführten Verweisungszusammenhänge tra-
gen zur näheren Ausarbeitung der den Grundlinien nach bereits umris-
senen Auffassung von Ding und Welt bei. Wir müssen auch deutlich
sehen, dass die unter 1 und 3 erfassten Verweisungszusammenhänge
miteinander zusammengehören, weil sie zusammen das Ding mit all
seinen Teilen, Momenten und Abschattungen kennzeichnen, und dass
andererseits die unter 2 und 4 erfassten Verweisungszusammenhänge
voneinander ebenfalls untrennbar sind, weil sie die gesamte – nähere
und entferntere – Umgebung des so bestimmten Dinges umreißen.
Es gilt dabei, den Unterschied zwischen dem Ding und seiner Um-
gebung richtig zu begreifen. Gewiss besteht die Umgebung des Dinges
selber nur aus Dingen. Gleichwohl geht sie in der Gesamtheit der sie
konstituierenden Dinge keineswegs auf. Denn auch die sie konstituie-
renden Dinge haben ihre jeweilige Umgebung. Zwar bestehen diese
Umgebungen wieder nur aus Dingen, aber auch sie gehen in der Ge-
samtheit der sie konstituierenden Dinge nicht auf. Denn auch die sie
konstituierenden Dinge haben ihre jeweilige Umgebung. So geht es
ins Unendliche. Bei jedem Schritt kann dieselbe Überlegung wiederholt
und dieselbe Unterscheidung wieder geltend gemacht werden. Die
Gleichsetzung der Umgebung des Dinges mit der Gesamtheit der sie
bildenden Dinge führt zu einem unendlichen Regress. Daraus kann der
Schluss gezogen werden, dass diese Gleichsetzung einen groben Denk-
fehler darstellt, der für die natürliche Einstellung des Alltagslebens al-

311
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

lerdings geradezu bezeichnend ist und auch in den objektiven Wissen-


schaften unberichtigt bleibt. Zunächst und zumeist wird ja die Welt mit
der Gesamtheit der Dinge gleichgesetzt.
Ein Gebrauch des Diakritischen ist dazu nötig, dem natürlichen
Hang entgegenzuwirken, der diesem Denkfehler zugrunde liegt. Man-
gels entsprechender methodologischer Besinnung erliegt die traditio-
nelle Substanzontologie diesem natürlichen Hang. Deshalb geht sie an
dem Unterschied zwischen dem Ding und seiner Umgebung vorbei.
Zusammen mit diesem Unterschied entgeht aber die Vorzeichnungs-
struktur der das Ding ausmachenden Abschattungsmannigfaltigkeit
ebenfalls dem Blick. Ohne diese Vorzeichnungsstruktur bilden jedoch
die Teile, Momente und Aspekte des Dinges eine gleichgültige Mannig-
faltigkeit. Es drängt sich infolgedessen eine Tendenz auf, die gesamte
Welt vorprädikativer Erfahrung auszublenden, die prädikative Struktur
des Urteils als Leitfaden zur Bestimmung des Dingbegriffs zu verwen-
den und das Ding als Träger an ihm vorhandener, untereinander aber
nicht notwendig zusammenhängender Eigenschaften zu betrachten.
Dieser Tendenz, die in der traditionellen Substanzontologie geradezu
vorherrschend geworden ist, tritt die Phänomenologie entgegen, indem
sie den Horizontbegriff dazu verwendet, das Ding in der vorprädikati-
ven Erfahrungswelt zu erfassen. Der Horizontbegriff trägt dem Unter-
schied zwischen dem Ding und seiner Umgebung Rechnung. Der Hori-
zont lässt sich keineswegs auf eine Gesamtheit von Dingen reduzieren.
Zwar kann alles, was zum Horizont gehört, auch als Ding erfasst wer-
den. Dabei erweist sich der Horizont jedoch als unüberholbar. Stets
entweicht er, aber stets eröffnet sich ein neuer Horizont. In der gängi-
gen Gleichsetzung der Welt mit der Gesamtheit der Dinge drückt sich
eine Horizontblindheit aus.
Diese Überlegungen leiten uns dazu hin, nicht allein den Unter-
schied zwischen dem Ding und seiner Umgebung, sondern auch den
Unterschied zwischen dem jeweiligen Anblick und dem gesamten Er-
fahrungshorizont des Dinges als einen diakritischen Unterschied zu be-
greifen. Der Gebrauch des Diakritischen verlangt danach, das Ding
nicht mehr als eine eigenwesentliche Substanz und als Träger vorhan-
dener Eigenschaften zu verstehen, sondern ihm – genauso wie seinem
Erfahrungshorizont – nur noch einen Abhebungswert (valeur diacri-
tique) zuzuschreiben. Wir versuchen, dieser Forderung Genüge zu tun,
indem wir das Ding mit Husserl als eine Idee im Kant’schen Sinn auf-
fassen.

312
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

2. Das Ding als Idee im Kant’schen Sinne

Husserl knüpft an die Kritik der reinen Vernunft an, wenn er von einer
»Idee im Kant’schen Sinn« spricht. Die Anknüpfung an Kant geht in der
Phänomenologie allerdings mit einer bedeutungsvollen Abweichung
von Kant einher, indem nunmehr nicht erst die Welt, sondern bereits
das Ding selbst in seiner vollständigen Gegebenheit als eine Idee im
Kant’schen Sinn gekennzeichnet wird. Genauer gesagt ist es die »Wirk-
lichkeit« des Wahrnehmungsdinges, die von Husserl als eine »›Idee‹ in
Kant’schem Sinn« bezeichnet wird. 16 In dieser Bestimmung zeichnet
sich eine facettenreiche Auffassung vom Einzelding und der Gesamt-
welt ab. Es lohnt sich, die verschiedenen Aspekte dieser Auffassung
auseinanderzuhalten.
1. Die Idee im Kant’schen Sinn als regulative Idee. Beginnen wir
mit einer Bemerkung, die sich auf den Ausdruck »Idee im Kant’schen
Sinn« bezieht. Bei Husserl ist mit diesem Ausdruck die Idee eines mög-
lichen, aber im Voraus niemals vollständig bestimmten »Wahrneh-
mungsverlaufs« gemeint, der seinerseits bis ins Unendliche hinein »er-
weiterungsfähig« bleibt. 17 Es handelt sich dabei betonterweise um eine
»regulative Idee«, 18 die als solche dem Gang der Erfahrung eine Regel
vorschreibt. Jeder Anblick eines Dinges, jede Dingabschattung zeichnet
die Möglichkeit weiterer Anblicke vor, so dass die Erfahrung durch ein
motiviertes Eindringen in die sich jeweils neu erschließenden Horizonte
immer weitergeführt werden kann. Der Gedanke einer regulativen Idee
markiert aber erst einen ersten Aspekt der phänomenologischen Auf-
fassung vom Ding.
2. Die Wirklichkeit eines Dinges als Idee im Kant’schen Sinn. Der
Ausdruck »Wirklichkeit eines Dinges« deutet einen zweiten Aspekt von
Husserl’s Konzeption an. Er hängt mit einem Ergebnis phänomenologi-
scher Wahrnehmungsanalyse zusammen, das in sich selbst zweischich-

16
Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband: Erster Teil: Entwürfe zur Um-
arbeitung der VI. Logischen Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der
Logischen Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 197.
17
Ebd., S. 197: »Danach ist Wirklichkeit eines Dinges eine ›Idee‹ in Kant’schem Sinn,
Korrelat der ›Idee‹ eines ›gewissen‹, aber im voraus nie vollbestimmten, vielmehr unend-
lich vieldeutigen Wahrnehmungsverlaufs, eines ins Unendliche erweiterungsfähi-
gen […].«
18
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Husser-
liana, Bd. XXXVI], S. 77.

313
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

tig ist: Einerseits wird Husserl darauf aufmerksam, dass der jeweilige
Anblick eines Dinges keine unfehlbare Garantie für die Existenz des
gerade gemeinten Dinges bietet; andererseits sieht er aber deutlich, dass
in der Dingwahrnehmung das wahrgenommene Ding selbst in seiner
leibhaftigen Gegenwart gegeben ist, woraus zugleich folgt, dass in der
Dingwahrnehmung das tatsächlich wahrgenommene Ding an sich
selbst auch dann vorhanden ist, wenn es falsch charakterisiert oder so-
gar falsch identifiziert wird. Selbst wenn das tatsächlich wahrgenom-
mene Ding in manchen Fällen seiner wahren Natur nach unbekannt
bleibt, ist es irreführend, es aus diesem Grund als ein bloßes X aufzufas-
sen. Selbst wenn es verkannt wird, ist es deshalb an sich selbst noch
keineswegs unbestimmt. Vielmehr kann man annehmen, dass es an sich
selbst vollständig bestimmt sei. Husserl versucht nun, von der Vorhan-
denheit dieses an sich selbst vollständig bestimmten, obgleich gegebe-
nenfalls unbekannt bleibenden Dinges in der Dingwahrnehmung phä-
nomenologisch Rechenschaft zu geben, indem er die Wirklichkeit dieses
Dinges als eine Idee im Kant’schen Sinn zu begreifen sucht. Der Aus-
druck »Wirklichkeit eines Dinges« verweist dabei nicht mehr auf einen
bloß möglichen Wahrnehmungsverlauf, sondern auf einen wirklichen
Erfahrungsgang, der dem an sich selbst immer schon vollständig be-
stimmten Ding einzig entspricht. Husserl sagt: »Nur aktuelle Erfah-
rung kann sozusagen aus den unendlich vielen und unendlich vieldeu-
tigen bloßen Möglichkeiten die eine, einzige Wirklichkeit ›des‹ Dinges,
des ›an sich‹ völlig bestimmten, herausschneiden.« 19 Da in der Phäno-
menologie nicht etwa die Welt überhaupt, sondern das Einzelding in
seiner Wirklichkeit als Idee im Kant’schen Sinn bestimmt wird, wird
hier dieser Idee neben ihrer regulativen Funktion auch eine konstitutive
– weil wirklichkeitskonstituierende oder, näher, dingkonstituierende –
Rolle zugewiesen. In seiner späteren Entwicklung wird Husserl in dem
Gedanken einer vollständigen Bestimmtheit des Dinges ein Problem
entdecken, das ihn dazu hinleiten wird, dem Unendlichen eine eigen-
tümliche »Offenheit« zuzuerkennen. Im Gegensatz zu Kant wird er
jedoch das zwar immer nur unvollständig, aber in der Wahrnehmung
jeweils leibhaftig gegebene Ding niemals einfach in eine ins Unendliche
erweiterungsfähige (also bloß potential unendliche) Reihe von Erschei-

19
Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe zur Um-
arbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Un-
tersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 198.

314
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

nungen oder Dingabschattungen auflösen. Denn deutlich erkennt er,


dass diese Auffassung einem Grundzug der Erfahrung nicht Rechnung
trägt: In einer konkreten Wahrnehmungssituation ist ja niemals bloß
die jeweilige Dingabschattung – also eine Erscheinung – gegeben, son-
dern auf Grund dieser Abschattung oder Erscheinung vielmehr auch
das Ding selbst (wir sehen zum Beispiel nur die Vorderseite eines Palas-
tes, aber wahrnehmungsmäßig gegeben ist uns dadurch der Palast selbst
– außer wenn die Vorderseite des Palastes etwa nur eine Kulisse im
Theater ist). Durch seine Lehre von der »Idee im Kant’schen Sinn« ver-
sucht Husserl, gerade von diesem Grundzug der Erfahrung, der nach
ihm bei Kant im Begriff des »Dinges an sich« nur auf eine spekulativ-
metaphysisch travestierte Weise zum Ausdruck kommt, Rechenschaft
abzulegen, und zwar ohne dabei dem natürlichen, aber letztlich doch
naiven Realismus der natürlichen Einstellung 20 ungebührliche Zuge-
ständnisse zu machen. 21
3. Die Idee im Kant’schen Sinn als Idee einer Einzelwirklichkeit.
Ein dritter Aspekt meldet sich in Husserls Auffassung vom Ding da-
durch an, dass die Idee im Kant’schen Sinn deutlich von einem Wesen
oder Eidos unterschieden wird. Es heißt: »[…] die Existenz des Dinges
ist für das aktuelle Bewusstsein immerfort eine Idee, aber eine Idee

20
Siehe dazu vom Vf. »Nicolai Hartmanns Umkehrung von Kants kopernikanischer
Tat«, in: Mario Egger (Hg.), Philosophie nach Kant. Neue Wege zum Verständnis von
Kants Transzendental- und Moralphilosophie, Berlin und Boston: Walter de Gruyter
2014, S. 655–672.
21
Diesen grundlegenden Unterschied zwischen Kant und Husserl scheint Andrea Alto-
brando in seiner vor Kurzem veröffentlichten Darstellung des Unendlichen bei Husserl
übersehen zu haben. Seine Polemik gegen das Aktual-Unendliche trifft deshalb nicht ins
Ziel, weil er darunter von vornherein eine »thematische Vollständigkeit« oder »thema-
tische Wirklichkeit« (pienezza tematica; pienezza, o attualità tematica) versteht. (Siehe
Andrea Altobrando, Esperienza e Infinito. Contributo per una fenomenologia dell’idea di
infinito a partire da Husserl, Trento: Pubblicazioni di Verifiche 2013, S. 183–205, hier
besonders S. 185 und S. 188.) Diese Auffassung beruht jedoch auf einem Fehlschluss.
Husserl fasst die Idee des Unendlichen zwar als eine Idee adäquater Dinggegebenheit
auf, aber die eigentümliche Einsichtigkeit, die er dieser Idee zuschreibt, betrachtet er
natürlich als eine immer nur inadäquate Evidenz und hält damit von dieser Evidenz jede
Vorstellung einer »thematischen Vollständigkeit« oder »thematischen Wirklichkeit«
fern. Seine Lehre läuft gerade auf die Einsicht hinaus, dass in der Erfahrung die – dem
Ding allerdings von vornherein zugeschriebene – vollständige Wirklichkeit immer nur
auf unvollständige Weise thematisiert werden kann. Der Fehlschluss ergibt sich aus der
Vermengung einer Idee adäquater Dinggebenheit mit einer Idee, in der diese Dinggeben-
heit auf adäquate Weise thematisch wird.

315
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

nicht im Sinn eines rein idealen Seins, wie einer Zahl, einer Spezies,
sondern eine Idee (eine mehrdimensionale) im Kant’schen Sinn, eine
regulative Idee […].« 22 Das Wesen oder das Eidos ist ein allgemeiner
oder abstrakter Gegenstand (eben wie eine Zahl oder eine Spezies); da-
gegen ist die Idee im Kant’schen Sinn, so wie Husserl sie versteht, die
Idee einer Einzelwirklichkeit. 23
4. Das Ding an sich als Idee im Kant’schen Sinn. Auf einen vierten
Aspekt von Husserls Überlegungen verweist die Gleichsetzung des Ein-
zeldinges in seiner Wirklichkeit mit dem, was man in der Tradition seit
Kant als das »Ding an sich selbst« bezeichnet. 24 Husserl fasst das Ding,
so wie es an sich selbst vollständig bestimmt ist, allerdings anders auf
als Kant das Ding an sich. Er versteht darunter ein »Erscheinungskon-
tinuum«, dem, wie er hervorhebt, eine »allseitige Unendlichkeit« zu-
kommt. 25 An die Stelle der Kant’schen Gegenüberstellung von Erschei-
nung und Ding an sich tritt damit bei ihm der Gegensatz endlicher
Dingabschattung und unendlichem Abschattungskontinuum.
5. Die Einsichtigkeit der Idee im Kant’schen Sinn. Als fünfter As-
pekt der phänomenologischen Auffassung vom Ding kann hervorge-
hoben werden, dass Husserl der Idee vom Unendlichen eine Einsichtig-
keit oder, anders gesagt, eine Evidenz zuschreibt. Er sieht zwar deutlich,
dass ein allseitig unendliches Erscheinungskontinuum in der Erfahrung
niemals vollständig gegeben sein kann, aber er hält dennoch daran fest,
dass »die Idee dieses Kontinuums und die Idee der durch dasselbe vor-
gebildeten vollkommenen Gegebenheit einsichtig vor[liegt]«. 26 Nach
Husserl kommt der Idee des Aktual-Unendlichen eine unmittelbare
Evidenz zu, selbst wenn es sich dabei um eine Evidenz handelt, die sich
natürlich niemals auf alle einzelnen Elemente der jeweils in Rede ste-

22
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Husser-
liana, Bd. XXXVI], S. 77.
23
Vgl. Bernet, Conscience et existence, Kap. V, S. 143–168, hier: S. 161: »l’idée d’une
réalité particulière«.
24
Ebd., S. 161: »L’Idée au sens kantien est […] l’idée de la chose-en-soi […].« Vgl. Ru-
dolf Bernet, La vie du sujet, Paris: PUF 1994, S. 130: »La chose-en-soi n’est pas donnée
sous la forme d’un objet réel, mais d’une idée.« Vgl. weiterhin Bernet, Kern und Mar-
bach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, S. 117: »Das Ding-an-sich wird nun
also als eine Idee gefaßt, und zwar als eine regulative Idee […]«; S. 120: »[…] das voll-
bestimmte Ding-an-sich ist […] eine Kantische Idee.«
25
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, III/1], § 143, S. 331.
26 Ebd.

316
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

henden Mannigfaltigkeit erstrecken und daher auch niemals als »adä-


quate Evidenz« beschrieben werden kann.
6. Idee im Kant’schen Sinn und transzendentalphänomenologi-
scher Idealismus. Schließlich sei noch ein sechster Aspekt der phäno-
menologischen Auffassung vom Ding erwähnt, der sich aus der Gleich-
setzung der Wirklichkeit eines Dinges mit einer Idee im Kant’schen
Sinn ohne Weiteres ergibt. Gemeint ist der transzendentalphänomeno-
logische Idealismus, der in dieser Gleichsetzung seinen Ausdruck fin-
det. Es handelt sich dabei, wie man weiß, nicht allein um eine generell
angenommene Korrelation zwischen Sein und Bewusstsein oder auch
Ding und Idee, sondern um die spezielle These, dass die Wirklichkeit
eines Einzeldinges ein wirkliches, faktisch gegebenes, aktuell erfahren-
des Bewusstsein voraussetzt. Weiter oben war von dieser speziellen
These bereits die Rede. Es wurde dabei hervorgehoben, dass Husserl
sich in seinen wiederholten Versuchen, diese These zu erweisen, zuneh-
mend auf den Gedanken stützt, dass die adäquate Wirklichkeit eines
Dinges eine Idee im Kant’schen Sinn ist. Denn aus diesem Gedanken
folgt, dass einem an sich selbst vollständig bestimmten Ding nicht bloß
ein möglicher, sondern ein wirklicher und daher eindeutig bestimmter
Wahrnehmungsverlauf entspricht; aber ein derartiger Wahrnehmungs-
verlauf kann nicht spezifiziert werden, ohne dass ein wirkliches, fak-
tisch gegebenes, aktuell erfahrendes Bewusstsein vorausgesetzt wird.
Der so verstandene Idealismus unterscheidet sich von jedem traditio-
nellen Idealismus. Das trifft selbst noch auf Kants transzendentalen
oder kritischen Idealismus zu, an den Husserl ansonsten anknüpft.
Denn das aktuell erfahrende Bewusstsein, von dem Husserl spricht, gibt
der Natur keine Gesetze, es schreibt also der Wirklichkeit keineswegs
die Geltung irgendwelcher allgemeiner Grundsätze vor, vielmehr hält
es sich an den tatsächlichen Gang der Erfahrung und lässt sich dabei von
der Wirklichkeit sogar überraschen. Im transzendentalphänomenologi-
schen Idealismus von Husserl drückt sich daher nur der methodologi-
sche Transzendentalismus der Phänomenologie aus, ohne dass die
Wirklichkeit den Ansprüchen des Bewusstseins unterworfen würde.
Gleichwohl können naheliegende Einwände auch noch gegen die-
sen methodologischen Transzendentalismus erhoben werden. Zwei von
ihnen wollen wir uns näher ansehen.

317
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

3. Zwei Deutungen des phänomenologischen


Transzendentalismus

Selbst mit einem bloß methodologisch verstandenen Transzendentalis-


mus verbindet sich ein Vorgriff auf die Bedingungen der Möglichkeit
für die Erfahrung überhaupt. Dass dieser Vorgriff keineswegs selbstver-
ständlich ist, geht aus der phänomenologischen Annahme, die Ding-
erfahrung bewege sich immer schon in einer vorgezeichneten Hori-
zontstruktur, deutlich hervor. Die Horizontstruktur der Welt scheint
nämlich das Ding in seiner Wirklichkeit vom Subjekt abhängig zu ma-
chen. An einer viel zitierten Stelle von Husserls Cartesianischen Medi-
tationen heißt es ja: »Die Horizonte sind vorgezeichnete Potentialitä-
ten.« 27 Mit Potentialitäten sind dabei Möglichkeiten gemeint, die nur in
der Gestalt eines »›Ich kann‹ und ›Ich tue‹« ergriffen und verwirklicht
werden können. 28 Nach der phänomenologischen Abschattungslehre ist
jedoch das Ding in seiner Wirklichkeit auf die Ergreifung und Verwirk-
lichung derartiger Möglichkeiten angewiesen. Gewiss lässt sich das
Subjekt dieses »›Ich kann‹ und ›Ich tue‹« die Wege, die es in der Erfah-
rung betritt, durch die von ihm gerade gemachten Erfahrungen vor-
zeichnen, aber es geht dabei doch davon aus, dass mit einer jeweils nur
endlichen Anzahl tatsächlich gemachter Erfahrungen an sich selbst be-
reits alle weiteren Verweisungszusammenhänge feststehen. Diese An-
nahme setzt die Einstimmigkeit der Erfahrung voraus. Folglich ver-
schreibt sich das in Rede stehende Ich von vorherein einem Postulat
einstimmiger Erfahrung. Erweist sich dieses Postulat als fragwürdig,
so löst sich das Ding zusammen mit der Welt geradezu in Nichts auf.
Zwei Einwände finden in diesem Gedankengang Ausdruck. Der
erste betont, dass Husserl das Ding in seiner Wirklichkeit von subjekt-
bezogenen Möglichkeitsformen abhängig macht. Dieser Einwand wirft
damit der phänomenologischen Abschattungslehre einen gewissen
Subjektivismus vor. In diesem Sinne heißt es bei Rudolf Bernet: »Der
Horizont ist mehr eine Potentialität des konstituierenden Lebens als
eine Ordnung der konstituierten Gegenstände.« 29 Der andere Einwand
hebt die Abhängigkeit der phänomenologischen Abschattungslehre
vom Postulat einstimmiger Erfahrung hervor.

27
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 47.
28
Ebd.
29 Bernet, La vie du sujet, S. 99 f.

318
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

Der Subjektivismusvorwurf ist unleugbar schwerwiegend. Viel-


leicht ist es aber gar nicht notwendig, die phänomenologische Abschat-
tungslehre ins Prokrustesbett der Dualität von Subjekt und Objekt hi-
neinzuzwängen. Wie Aristoteles ist Husserl ein Denker des Als. Er sieht
das Ding als eine Abschattungsmannigfaltigkeit an. Gewiss ist eine Ab-
schattung notwendig an die jeweilige Perspektive des Einzelsubjekts ge-
bunden. Daher legt sich der Einwand, die Phänomenologie fasse das
Ding in seiner Wirklichkeit als eine Reihe subjektiver Abschattungen
auf, in der Tat nahe. Nur dass dieser Einwand einer wichtigen Tatsache
nicht Rechnung trägt. Gemeint ist der Umstand, dass Husserl das Ding
als eine unendliche Abschattungsmannigfaltigkeit versteht. Vom Ge-
sichtspunkt des Unendlichen aus betrachtet erweist sich der Subjekti-
vismus, den die Perspektivengebundenheit einzelner Abschattungen
nahelegt, als ein bloßer Schein. Die Spur von Beliebigkeit und Willkür,
die jeder endlichen Reihe subjektiver Abschattungen anhaftet, wird im
Unendlichen abgestreift.
Deshalb ist der phänomenologische Perspektivismus alles andere
als ein Subjektrelativismus. Als Subjektrelativismus könnte man eine
Ansicht bezeichnen, der zufolge ein und dasselbe Ding jedem Einzel-
subjekt anders erscheint, ohne dass irgendeine dieser Erscheinungswei-
sen mit dem Ding selbst gleichgesetzt werden könnte. Der phänomeno-
logische Perspektivismus unterscheidet sich von dem so verstandenen
Subjektrelativismus dadurch, dass er die perspektivischen Abschattun-
gen des Dinges, wenn auch nicht je einzeln, sondern nur in ihrer unend-
lichen Mannigfaltigkeit, so aber doch mit dem Ding selbst gleichsetzt.
Diese Auffassung hat zur Folge, dass sich die perspektivischen Abschat-
tungen des Dinges als Erscheinungsformen erweisen, die für das Ding
unter bestimmten Umständen charakteristisch, ja konstitutiv sind. Da-
her haben diese Abschattungen, so verstreut und zersplittert sie auch
immer sein mögen, einen objektiven Gehalt und einen nicht mehr nur
relativen, sondern im vollen Sinne des Wortes absoluten Wert.
Es gehört ebendeshalb zu jeder einzelnen Perspektive die kontra-
faktische Überzeugung, dass ein Ding in dieser Perspektive einem An-
deren genauso erscheinen müsste, wie es mir erscheint. Der aktuell
jeweils subjektiven Perspektive eignet demnach eine potentielle Inter-
subjektivität. Die unendliche Abschattungsmannigfaltigkeit, mit der
das Ding in der Phänomenologie gleichgesetzt wird, umfasst sämtliche
Perspektiven, in denen dieses Ding je betrachtet werden kann. Daher ist
diese Abschattungsmannigfaltigkeit nicht mehr an das Einzelsubjekt

319
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

gebunden. Sie umfasst vielmehr alle Erfahrungswege, die verschiedene


Subjekte je bewandern können. Es ist die Unendlichkeit dieser Abschat-
tungsmannigfaltigkeit, die in der Phänomenologie die Gemeinsamkeit
(oder Intersubjektivität) von Ding und Welt sichert.
Wir sehen, zu welchen Missverständnissen es führen kann, wenn
der methodologische Transzendentalismus der Phänomenologie als eine
Hinwendung zur Endlichkeit ausgelegt wird. Wir haben gesehen, dass
auch die ›Kopernikanische Wende‹, die Kants Transzendentalismus in
der Metaphysik herbeiführt, nur unter Vorbehalten als eine Wende
zur Endlichkeit hin gekennzeichnet werden kann. Der methodologische
Transzendentalismus der Phänomenologie hat aber erst recht nichts mit
Finitismus zu tun. Vielmehr ist die phänomenologische Abschattungs-
lehre von vornherein auf das Unendliche ausgerichtet. Ohne diese Aus-
richtung könnte sie auch niemals als eine Lehre vom Ding in der Welt
begriffen werden.
Der methodologische Transzendentalismus der Phänomenologie
wird ohne Zweifel oft als finitistischer Subjektivismus verstanden. Es
ist eine Grundthese des vorliegenden Buches, dass diese Deutung nicht
stichhaltig und keineswegs notwendig ist: Die Ausrichtung der phäno-
menologischen Abschattungslehre auf das Unendliche bietet zu ihr eine
klare Alternative. Der finitistische Subjektivismus ist kein Verhängnis
des phänomenologischen Transzendentalismus. Es liegt wohl keine
Übertreibung in der Behauptung, dass er sogar auf einer Missdeutung
von Husserls Abschattungslehre beruht.
Allerdings kann von einer Gleichsetzung des Dinges mit einer un-
endlichen Abschattungsmannigfaltigkeit nur dann überhaupt sinnvoll
die Rede sein, wenn die Einstimmigkeit der Erfahrung vorausgesetzt
wird. Insofern trifft der an zweiter Stelle erwähnte Einwand den Nagel
auf den Kopf. Es fragt sich aber, ob es sich dabei überhaupt um einen
Einwand handelt. Denn Husserl ist sich darüber vollkommen im Kla-
ren, dass die Einstimmigkeit der Erfahrung keine Tatsache, sondern nur
ein Postulat ist. Die Einsicht in den zufälligen Charakter einstimmiger
Erfahrung ist sogar ein unerlässlicher Bestandteil seiner Auffassung
von Ding und Welt. Gleichwohl hält er daran fest, dass die Erfahrung
zumindest unverkennbare Einstimmigkeitstendenzen aufweist.

320
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

4. Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung

Husserl sieht deutlich, dass ein allseitig unendliches Erscheinungskon-


tinuum als Ganzes in der Erfahrung selbst dann niemals gegeben sein
kann, wenn die Idee dieses Kontinuums einsichtig vorliegt. Die Ge-
samtheit aller Anblicke lässt sich unmöglich in einen allseitigen Ge-
samtanblick verwandeln. Die unendliche Abschattungsmannigfaltig-
keit, mit der das Ding in seiner Wirklichkeit gleichgesetzt wird, kann
daher niemals zum Gegenstand einer adäquaten Anschauung gemacht
werden. Die Idee, das Ideal adäquater Gegebenheit auf diese Weise in
einem Anblick zu verwirklichen, wird von Husserl als eine widersinnige
Idee enthüllt und näher als die Idee einer ›endlichen Unendlichkeit‹ be-
stimmt. Die Phänomenologie ist zu der Auffassung verpflichtet, dass
eine »abgeschlossene Einheit der Durchlaufung« aller Abschattungen
nicht nur aus tatsächlichen Gründen unerreichbar, sondern gar »nicht
denkbar« ist. 30 Deshalb behauptet Husserl, dass »so etwas wie Raum-
dingliches nicht bloß für uns Menschen, sondern auch für Gott – als den
idealen Repräsentanten der absoluten Erkenntnis – nur anschaubar ist
durch Erscheinungen, in denen es ›perspektivisch‹ in mannigfaltigen[,]
aber bestimmten Weisen wechselnd und dabei in wechselnden ›Orien-
tierungen‹ gegeben ist und gegeben sein muss«. 31
Diese Überlegungen stützen sich auf die Erkenntnis, dass eine ak-
tual unendliche Mannigfaltigkeit zwar durchaus mit unmittelbarer Evi-
denz, niemals aber mit adäquater Evidenz gegeben sein kann. Zu dieser
Erkenntnis gesellt sich eine weitere Einsicht, die sich auf die Natur einer
perspektivischen Abschattung überhaupt bezieht: Jede Abschattung
zeichnet zwar neue Abschattungen vor, aber der Übergang von einer
Abschattung zur anderen bringt nicht allein eine Erweiterung des ein-
seitigen Anblicks zu einem allseitigen mit sich, sondern auch einen
ständigen Verlust an anschaulicher Gegebenheit. 32 Bereits in der Vor-
lesung über Ding und Raum gelangt Husserl zu dieser Einsicht: »Berei-
cherung auf der einen Seite geht mit Verarmung auf der anderen Hand
in Hand.« 33 Demnach verweisen die einzelnen Abschattungen zwar

30
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, III/1], § 143, S. 331.
31
Ebd., § 150, S. 351.
32
Siehe vom Vf., Erfahrung und Ausdruck, Kapitel IV, Abschnitt 2.
33
Edmund Husserl, Ding und Raum [Husserliana, Bd. XVI], hg. von Ulrich Claesges,
Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 114 f. – Vgl. Bernet, »Finitude et téléologie de la

321
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

aufeinander, aber sie lassen sich miteinander nicht in einem Anblick


vereinigen.
Daraus folgt zugleich, dass die Vorzeichnungsstruktur der das je-
weilige Ding bestimmenden Abschattungsmannigfaltigkeit überall das
Zeichen zufälliger Faktizität an sich trägt. Gewiss hängen die verschie-
denen Abschattungen miteinander sachlich zusammen, aber der Über-
gang von der einen zur anderen ist kein notwendiger. Die Vorzeichnun-
gen sind Antizipationen der Erfahrung, denen ein präsumptiver
Charakter eignet. Der tatsächliche Gang der Erfahrung entscheidet da-
rüber, welche Vorwegnahmen sich bewahrheiten und welche nicht.
Grundsätzlich können immer Erfahrungen aufkommen, die mit den
antizipatorischen Vorzeichnungen in Widerstreit geraten.
Das ist der Grund dafür, dass die Einstimmigkeit der Erfahrung
niemals ganz gesichert ist. Bereits in den Ideen I versucht Husserl, die-
ser Unsicherheit Rechnung zu tragen, indem er die Möglichkeit einer
›Vernichtung der Dingwelt‹ erwägt. Im berühmten oder berüchtigten
§ 49 wird behauptet, es sei sehr wohl »denkbar, daß es im Erfahren von
unausgleichbaren und nicht nur für uns, sondern an sich unausgleich-
baren Widerstreiten wimmelt, daß die Erfahrung mit einem Male sich
gegen die Zumutung, ihre Dingsetzungen einstimmig durchzuhalten,
widerspenstig zeigt, daß ihr Zusammenhang die festen Regelordnungen
der Abschattungen, Auffassungen, Erscheinungen einbüßt – daß es kei-
ne Welt mehr gibt.« 34 Allerdings wissen wir, welche idealistischen Kon-
sequenzen aus dieser Annahme in den Ideen I gezogen werden: Husserl
meint, die Existenz des Bewusstseins würde durch die Vernichtung der
Dingwelt nicht berührt. 35
Aber so problematisch diese Konsequenzen auch immer sind, sie
dürfen uns nicht über den realen Kern dieses Gedankenganges hinweg-
täuschen. In den Ideen I ist Husserl nur allzu sehr mit dem Cartesia-
nischen Thema eines grundlegenden Unterschieds zwischen dem ›im-
manenten‹ und sogar ›absoluten‹ Sein des Bewusstseins und dem
›transzendenten‹ und auf das Bewusstsein ›relativen‹ Sein der Dingwelt
beschäftigt. 36 Das vordergründige Interesse an diesem Unterschied lässt

perception«, in: La vie du sujet, S. 133: »[…] ce qui est gagné en intuitivité par une
apparence est perdu par une autre […].«
34
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], § 150, S. 103.
35
Ebd., S. 104.
36 Ebd., S. 105.

322
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

in diesem Werk die eigentliche Einsicht in die zufällige Faktizität ein-


stimmiger Erfahrung kaum durchblicken. Mit dem allerdings erst spä-
ter geprägten Ausdruck formuliert handelt es sich ja bereits hier um die
Einsicht, dass die Existenz der Dingwelt eine unableitbare Urtatsache
ist. In den Ideen I erkennt Husserl zwar bereits deutlich, dass die Apo-
diktizität des Cogito auf der ›Notwendigkeit eines Faktums‹ beruht,
aber er sieht noch nicht, dass sich die zufällige Faktizität der Weltexis-
tenz genauso mit einer faktischen Notwendigkeit verbindet wie das Sein
des Bewusstseins.
In der Vorlesung über Erste Philosophie werden ähnliche Gedan-
ken ausgedrückt wie in § 49 der Ideen I, aber die gleichen Gedanken
werden nunmehr umsichtiger formuliert. Das Weltfaktum wird hier
einer besonders tiefgründigen Untersuchung unterzogen. Husserl führt
Argumente an, die geeignet sind, den metaphysischen Glauben an die
Notwendigkeit und Ewigkeit der Weltexistenz zu erschüttern. Aber er
begnügt sich keineswegs damit, diesem Glauben die Behauptung ent-
gegenzusetzen: »Jedes Faktum, und so auch das Weltfaktum, ist als Fak-
tum, wie allgemein zugestanden, kontingent; darin liegt: wenn es über-
haupt ist, so könnte es doch anders sein und vielleicht auch nicht
sein.« 37 Dieses Argumentationsniveau ist nunmehr überschritten. Hus-
serl versucht zu zeigen, dass die Existenz der Welt durch »eine ganz
andersartige Kontingenz« gekennzeichnet ist als die sonstigen Tat-
sachen, und zwar deshalb, weil sie an und für sich über allen Zweifel
erhaben ist. 38 Ich kann an der Existenz der Welt in der Tat nicht zwei-
feln, weil sie mir während meines Erfahrungslebens ständig »in un-
gebrochener Gewißheit als selbstgegeben bewußt« ist. 39 Gleichwohl
besteht Husserl darauf, dass die Welt durch »eine beständige Erkennt-
niskontingenz« gekennzeichnet ist, »und zwar des Sinnes, daß diese
leibhafte Selbstgegebenheit ihr Nichtsein prinzipiell nie ausschließt«.40
Der Grund für diese beständige Erkenntniskontingenz liegt in der Tat-
sache, dass mir immer nur die Erfahrung einen Zugang zur Welt ver-
schafft und dass die Existenz der Welt in der Erfahrung eine Einstim-
migkeit voraussetzt, die keineswegs a priori gewährleistet ist.

37
Edmund Husserl, Erste Philosophie, Zweiter Teil [Husserliana, Bd. VIII], S. 50.
38
Ebd.
39
Ebd.
40 Ebd.

323
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, wie sich Husserls Meta-


physik zufälliger Faktizität auf der Ebene der phänomenologischen
Analyse einzelner Urtatsachen ausdrückt. Der phänomenologische
Charakter der Analyse ergibt sich hier daraus, dass die Erkenntniskon-
tingenz der Welt mit der Beschreibung des Erfahrungsprozesses von
vornherein in Verbindung gebracht wird. Marion hat mit Recht auf eine
gewisse Parallelität zwischen diesem Husserl’schen Gedankengang und
der Stellungnahme von Thomas von Aquin zur Frage nach der Ewigkeit
der Welt hingewiesen. Ähnlich wie Husserl betont Thomas von Aquin
in dem kleinen Werk De aeternitate mundi contra murmurantes die
letzthinnige Kontingenz der Welt, obwohl er gleichzeitig zugibt, dass
die Welt vom Beginn aller Zeiten an existiert haben mag. Genauso wie
bei Husserl wird damit ein heikles Gleichgewicht zwischen einander
antinomisch gegenüberstehenden Positionen hergestellt. An den Denk-
mitteln aber, auf die sich die beiden Denker in ihrer jeweiligen Beweis-
führung stützen, lässt sich zugleich der Abstand ermessen, der die Phä-
nomenologie von der traditionellen Metaphysik trennt. Thomas von
Aquin greift auf den neuplatonischen Gedanken zurück, dass die kausa-
le Abhängigkeit des Tageslichts von der Sonne selbst dann erhalten
bleiben müsste, wenn an die Stelle des Wechsels von Tag und Nacht
ein ewig währender Tag treten sollte. 41 Dagegen widersteht Husserl
gänzlich der Versuchung, sich auf kausale Abhängigkeitsrelationen zu
berufen, um die Kontingenz des Weltfaktums aufweisen zu können.
Deshalb bildet er auch den Begriff einer ›Erkenntniskontingenz‹ der
Welt. Gemeint ist mit diesem Ausdruck keineswegs etwa ein Rückzug
auf eine Erkenntnistheorie, die auf ontologische Einsichten aus metho-
dischen Gründen verzichtet, sondern eine phänomenologische Besin-
nung auf die Erfahrungsgegebenheit der Welt, die jeden Versuch, Ur-
tatsachen auf erste Ursachen zurückzuführen, von vornherein in den
Bereich metaphysischer Abenteuer und spekulativer Überschwänglich-
keiten verweist.
Selbst noch in der Vorlesung über Erste Philosophie wird jedoch an
der Annahme eines seinsmäßigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen

41 Sancti Thomae de Aquino De aeternitate mundi contra murmurantes, in: Opuscula


philosophica, Turin: Marietti 1954, S. 105–108, hier: S. 107: »[…] non enim ponitur, si
creatura semper fuit, ut in aliquo tempore nihil sit, sed ponitur quod natura eius talis
esset quod esset nihil, si sibi relinqueretur: ut si dicamus aerem semper illuminatum
fuisse a sole, oportebit dicere quod aer factus est lucidus a sole.«

324
Das Ding als Erscheinungskontinuum im Welthorizont

dem transzendentalen Ich oder dem Bewusstsein und der Welt fest-
gehalten. Die Sachlage ändert sich jedoch in manchen Forschungstex-
ten, die in dem von Rochus Sowa herausgegebenen Husserliana-Band
über die Lebenswelt veröffentlicht wurden. Wie bereits an früherer
Stelle erwähnt, geht Husserl nunmehr davon aus, dass sich die Erfah-
rung der Welt in jeder Dingerfahrung als unmodalisierbar erweist. Aus
dieser Beobachtung zieht er jetzt einen Schluss, der jeden grundsätzli-
chen Unterschied zwischen dem Sein des Bewusstseins und der Existenz
der Welt aufhebt: »Apodiktisch ist die Gewissheit vom Sein der Welt als
Welt […].« 42 Er setzt sogar hinzu: »Es ist, genau überlegt, für das Ich,
das in dieser Weise Weltbewusstsein hat, schlechthin unmöglich, sich
die Welt als nichtseiend vorzustellen […].« 43 Damit sieht Husserl ein,
dass der Existenz der Welt genauso die ›Notwendigkeit eines Faktums‹
zukommt wie dem Cogito. Die Gewissheit vom Sein der Welt ist eben-
deshalb genauso apodiktisch wie die Gewissheit vom Sein des jeweiligen
Ich. Damit entfällt die Annahme einer seinsmäßigen Abhängigkeit der
Welt vom Bewusstsein. Die Gewissheit vom Sein der Welt erweist sich
als genauso apodiktisch wie die Gewissheit vom Sein des jeweiligen Ich.
Ebendeshalb melden sich jedoch nicht zufällig immer gewisse Ein-
stimmigkeitstendenzen in der Erfahrung. Es handelt sich zwar um blo-
ße Tendenzen, die ihre Natur abrupt ändern oder auch ganz wegbleiben
können. Gleichwohl gehen wir davon aus, dass sich derartige Einstim-
migkeitstendenzen in der Erfahrung immer wieder geltend machen.
Stets bringen wir an die Erfahrung ›die Zumutung, ihre Dingsetzungen
einstimmig durchzuhalten‹, heran, und auch nicht vergebens bringen
wir diese Zumutung an sie heran. Wir sind überzeugt davon, dass die
Erfahrung uns eine Dingwelt zugänglich machen wird. Diese Überzeu-
gung ist eine unbezweifelbare Gewissheit in uns geworden, eine Ge-
wissheit, die mit ebenso viel Recht ›apodiktisch‹ genannt werden kann
wie unsere Gewissheit vom Sein unseres Ich.
Im Gegensatz zu Kant meint aber Husserl keineswegs, dass wir
diese apodiktisch gewisse Überzeugung etwa aus dem bloßen Selbst-
bewusstsein (der transzendentalen Apperzeption) schöpfen. Er glaubt
nicht, dass sie durch einen Beweis (eine transzendentale Deduktion im
Sinne Kants) erhärtet werden kann. An und für sich könnte es durchaus

42
Husserl, Die Lebenswelt. Auslegungen der vorgegebenen Welt und ihrer Konstituti-
on. Texte aus dem Nachlass (1916–1937) [Husserliana, Bd. XXXIX], S. 256.
43 Ibidem.

325
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Erfahrungen geben, die dieser Überzeugung widersprechen. Tatsächlich


gibt es jedoch derartige Erfahrungen nicht. Vielmehr schließt jede un-
serer Erfahrungen die Erfahrung einer Dingwelt in sich, und zwar als
eine gar nicht modalisierbare Komponente. Unsere Überzeugung kann
ebendeshalb nicht ernsthaft bezweifelt werden, weil keine Erfahrung
als Motivationsgrundlage zu einem Zweifel dieser Art dienen kann. Es
handelt sich folglich um eine Überzeugung, die auf einer gewissen Not-
wendigkeit beruht. Nur dass die in Rede stehende Notwendigkeit keine
apriorische, sondern eine faktische ist: nicht die Notwendigkeit eines
Beweises, sondern die Notwendigkeit eines Faktums.
Daraus folgt jedoch nicht, dass ein Beweisverfahren in der phäno-
menologischen Metaphysik keine Rolle erhalten könnte. Der bisherige
Gedankengang spricht dafür, dass der Existenz der Welt die Notwendig-
keit eines Faktums zukommt. Diese faktische Notwendigkeit kann nun
auf die Erfahrungskategorien als Einstimmigkeitstendenzen der Er-
fahrung ausgedehnt oder übertragen werden. Diese Erweiterung der
Betrachtung räumt nun dem Beweis, der Deduktion im Sinne der
Rechtfertigung des Notwendigkeitsanspruchs einzelner Erfahrungs-
kategorien durchaus einen Platz ein.
Man kann daher behaupten, dass transzendentale Argumente die
eigentlichen Pfeiler phänomenologischer Experientialanalyse sind.
Denn diese Analyse hat zu zeigen, dass die einzelnen Erfahrungskate-
gorien notwendige Bedingungen der Möglichkeit für die Existenz der
Welt sind. Ein transzendentales Argument, das zu diesem Zweck aus-
gearbeitet wird, ist ein regelrechter Beweis, der seine Verbindlichkeit
hat. Nur dass dabei die Notwendigkeit des Beweises – ebenso wie die
Existenz der Welt – letztlich von der zufälligen (kontingenten) Tatsache
einstimmiger Erfahrung abhängig bleibt. Gleichwohl können die trans-
zendentalen Argumente der phänomenologischen Metaphysik deutlich
machen, dass die Erfahrungskategorien als Ausdrücke von Einstimmig-
keitstendenzen der Erfahrung keineswegs aus bloß empirischen Verall-
gemeinungen erwachsen, sondern von einer faktischen Notwendigkeit,
der Notwendigkeit eines Faktums, durchdrungen sind.

326
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

II. Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Es ist nicht die Aufgabe einer Grundlegung zur phänomenologischen


Metaphysik, eine Kategorialanalyse von Ding und Welt in extenso aus-
zuarbeiten. Das Ziel folgender Überlegungen ist ein bescheideneres: Es
geht um einen Nachweis der These, der zufolge die Erfahrungskatego-
rien Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung ausdrücken. Erörtert
wird daher nur der Einstimmigkeitscharakter der Erfahrungskatego-
rien.
Kant hat sich das Verdienst zugeschrieben, im Gegensatz zu Aris-
toteles, der in seiner Lehre von den Kategorien ›rhapsodistisch‹ ans
Werk gegangen sein soll, 44 ein vollständiges System der Erfahrungs-
kategorien entwickelt zu haben. Als Leitfäden hat er dazu die Funktio-
nen des Selbstbewusstseins im Urteilen gewählt. Er hatte kein Beden-
ken, seine Kategorientafel auf Grund einer logischen Analyse des
Urteils zusammenzustellen, obgleich er ansonsten als Erster das vor
ihm von vielen Denkern vorausgesetzte Entsprechungsverhältnis zwi-
schen Logik und Metaphysik grundsätzlich in Frage stellte. In der Kritik
der reinen Vernunft ging er von einer bestimmenden Urteilskraft aus,
die ein fertig vorliegendes Allgemeines auf das Besondere anwendet.
Dabei hielt er die Kategorien sogar für a priori gegebene Begriffe. Eben-
deshalb sah er sich vor die doppelte Aufgabe gestellt, zu beweisen, dass,
und aufzuweisen, wie sich diese Begriffe auf die Erfahrung anwenden
lassen. Den Beweis lieferte er durch seine transzendentale Deduktion
der reinen Verstandesbegriffe; den Aufweis erbrachte er im Kapitel über
den Schematismus der reinen Verstandesbegriffe durch eine Angabe
transzendentaler Zeitbestimmungen. Demgegenüber stützt sich die
Phänomenologie in ihrer Erörterung der Erfahrungskategorien eher
auf eine reflektierende Urteilskraft, die im Ausgang vom Besonderen
nach dem Allgemeinen forscht. Deshalb strebt aber die Phänomenolo-
gie keineswegs die Aufstellung eines Systems der Kategorien an. Sie
verfolgt auch nicht den Zweck, die Erfahrungskategorien aus für sich
identifizierbaren reinen Denkformen (Notiones) abzuleiten, die ihrer-
seits den verschiedenen Funktionen des Selbstbewusstseins im Urteilen
entsprechen sollen. Sie sucht vielmehr von vornherein inmitten lebens-
weltlicher Erfahrung nach den Erfahrungskategorien. Damit entfällt für

44 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 106 f.

327
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

sie aber auch der Zwang, die Kategorien als Formen des reinen Denkens
von den Formen der reinen Anschauung zu unterscheiden.
Für die Phänomenologie sind Raum und Zeit ebendeshalb Erfah-
rungskategorien unter anderen Erfahrungskategorien. Merkwürdiger-
weise nennt Husserl die raumzeitliche Unendlichkeit ebenfalls unter
den Kategorien lebensweltlicher Erfahrung. Allerdings lassen diese Er-
fahrungskategorien für sich allein das Ding in der Welt noch unterbe-
stimmt. Einem raumzeitlichen Gebilde in der Unendlichkeit der Welt
fehlt noch das eigentlich Dinghafte. Das Fehlende ist wohl vor allem
die Stofflichkeit, die Materialität, die Sinnlichkeit oder – wie Deleuzia-
ner sagen würden – die Intensität, mit einem Wort das, was das Ding zu
einem Korrelat leiblicher Erfahrung macht. Im Folgenden soll dafür der
Terminus ›Leibhaftigkeit‹ verwendet werden.
Zusammen mit der Leibhaftigkeit bilden Räumlichkeit, Zeitlich-
keit, raumzeitliche Endlichkeit und raumzeitliche Unendlichkeit ein ka-
tegoriales Netzwerk, dem wir die Bestimmung eines Dinges als das Er-
scheinende in seinem Erscheinen zu verdanken haben. Daher können
Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Endlichkeit, Unendlichkeit und Leibhaftig-
keit unter dem Namen ›Erscheinungskategorien‹ von anderen Er-
fahrungskategorien abgehoben werden. Ohne die Leibhaftigkeit be-
stimmen die übrigen Erscheinungskategorien das Ding allerdings nur
so, dass es von einem bloßen »Schema« oder »Phantom« – einem
Dingphantom oder einem Phantomding – noch gar nicht unterschieden
werden kann. 45
Eine vollständige Aufzählung der Erscheinungskategorien streben
wir damit nicht an. Das kategoriale Netzwerk der Erscheinungskatego-
rien kann selbstverständlich ohne Weiteres verfeinert werden. Es kann
zum Beispiel die raumzeitliche Größe oder die qualitative Beschaffen-
heit des Erscheinenden in seinem Erscheinen zum Gegenstand eigen-
ständiger Analyse gemacht werden. Derartige Verfeinerungsmöglich-
keiten eines kategorialen Netzwerks können in einer ausführlicheren
Kategorialanalyse von Ding und Welt sinnvoll ergriffen werden. Hier
kommt es aber auf solche Verfeinerungen zunächst nicht an. Es geht im
Folgenden nur darum, die Gruppe der Erscheinungskategorien von
einer anderen Gruppe der Erfahrungskategorien pauschal zu unter-

45
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], hg. von Marly Biemel, Den Haag: Martinus
Nijhoff 1952, S. 36–41.

328
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

scheiden. Zu dieser anderen Gruppe gehören Erfahrungskategorien, die


wir als ›Horizontskategorien‹ bezeichnen wollen. Mit diesem Ausdruck
sind Kategorien gemeint, die sich nicht auf den Inhalt eines Anblicks
von Dingen in der Welt beziehen, sondern die Verweisungszusammen-
hänge bestimmen, die von einem Anblick zum anderen führen.
Kausalität und Teleologie gehören zu dieser zweiten Gruppe der
Erfahrungskategorien. Allerdings werden hier diese Kategorien von
vornherein auf die lebensweltliche Erfahrung bezogen. Eine Hand-
lungskausalität, die sich mit Handlungsteleologie verbindet, kommt
dabei ebenso sehr in Betracht wie eine Kausalität von Naturbegebenhei-
ten. Die Idee einer Kausalität aus Freiheit erweist sich als ein Grund-
thema der Kategorialanalyse. In der Lebenswelt wird übrigens die Na-
turkausalität anders verstanden als in der Naturwissenschaft.
Die Unterscheidung zwischen Erscheinungs- und Horizontskate-
gorien kann in eine gewisse Parallele mit Kants Gegenüberstellung von
mathematischen und dynamischen Kategorien bzw. von mathemati-
schen und dynamischen Grundsätzen des reinen Verstandes gebracht
werden. In der Kritik der reinen Vernunft ist davon die Rede, dass die
mathematischen Grundsätze »auf Erscheinungen ihrer bloßen Mög-
lichkeit nach« gehen. 46 Dagegen beziehen sich die dynamischen Grund-
sätze nur »auf das Verhältnis des Daseins«. 47 Beide Gruppen der Kate-
gorien und der Grundsätze drücken eine »Verbindung (coniunctio)«
aus, aber im Falle der mathematischen Kategorien und Grundsätze ist
diese Verbindung eine »Zusammensetzung (compositio)« – und zwar
entweder im Sinne einer »Aggregation« oder im Sinne einer »Koaliti-
on« –, im Falle der dynamischen Kategorien und Grundsätze dagegen
eine »Verknüpfung (nexus)«. 48 Es ist nicht überflüssig zu bemerken,
dass Kant an einer Stelle der Kritik der reinen Vernunft auch vom Ter-
minus ›Horizont‹ Gebrauch macht, wenn auch nicht in demselben Sinn
wie später die Phänomenologie. 49 Allerdings darf man diese Parallele
nicht überspannen. Die Analogie zwischen der kantischen und der phä-
nomenologischen Unterscheidung zwischen zwei Gruppen von Katego-
rien hört bereits bei der Verwendung des Begriffspaars von ›mathema-
tisch‹ und ›dynamisch‹ auf. Diese Entgegensetzung geht bei Kant auf die

46
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 178.
47
Ebd., A 179.
48
Ebd., B 202.
49 Ebd., A 658 f.

329
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

frühesten Schriften zurück, in denen er von einem vermeintlichen Ge-


gensatz zwischen mathematischer Naturwissenschaft im Sinne von
Descartes und metaphysischer Dynamik im Sinne von Leibniz aus-
geht. 50 So wichtig diese Gegenüberstellung für Kant auch immer war,
sie hat heute nur noch ein historisches Interesse.
Als Erfahrungskategorien haben die Erscheinungs- und die Hori-
zontskategorien etwas gemeinsam: Sie sind Kategorien der Weltwirk-
lichkeit, also Kategorien der realen Welt. Dieser Wirklichkeitsbezug be-
gründet den Gebrauch eines Terminus wie ›rekursive Ontologie der
Lebenswelt‹ zur Bezeichnung der Disziplin, die sich der Analyse der
Erfahrungskategorien widmet. Doch ist bei der Verwendung dieses Ter-
minus Vorsicht geboten. Mit ›Ontologie‹ ist hier ja keine Lehre vom
Seienden als Seiendem gemeint. Die Erfahrungskategorien werden viel-
mehr auf das Erscheinende in seinem Welthorizont bezogen.
Durch diesen ausdrücklichen Wirklichkeitsbezug unterscheiden
sich die Erfahrungskategorien von einer Gruppe andersartiger Gegen-
standsbestimmungen, die wir im Anschluss an einen weit verbreiteten
Sprachgebrauch, der in den letzten Jahrzehnten besonders in Paul Ri-
cœurs Arbeiten eine Spur hinterlassen hat, als ›Metakategorien‹ be-
zeichnen wollen. Zu ihnen gehören Begriffe Platonischen Ursprungs
wie Selbigkeit und Andersheit aus dem Sophistes, aber auch Grenze
und Unbestimmt-Unbegrenztes (apeiron) aus dem Philebos. Auch das
Sein und das Eine lassen sich als Metakategorien begreifen. Hierher
gehören die Transzendentalien mittelalterlicher Scholastik, aber auch
die mereologischen Begriffe, die Husserl etwa in der III. Logischen Un-
tersuchung behandelt (wie z. B. Ganzes und Teil, Moment und Stück),
und wohl auch darüber hinaus alle Begriffe, die er zur Disziplin der
›formalen Ontologie‹ rechnet. Bei den Metakategorien handelt es sich
um Gegenstandsbestimmungen, die sich auf Denkobjekte überhaupt
beziehen, ganz unabhängig davon, ob diese Denkobjekte zur Erfah-
rungswelt gehören oder nicht. Ebendeshalb taucht die Frage auf, ob es
nicht richtiger wäre, statt von ›formaler Ontologie‹ eher von einer for-

50 Siehe Immanuel Kant, Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte

[Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. I, Berlin: Georg Reimer 1910], S. 1–


181, hier: S. 107, S. 140 und S. 149; vgl. Monadologia physica [Gesammelte Schriften,
Bd. I], S. 473–487, hier: S. 480: geometriae cum metaphysica connubi[um] (»die Ver-
mählung der Geometrie mit der Metaphysik«) als Zielsetzung der Schrift.

330
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

malen Theorie des Etwas überhaupt, also von einer bestimmten ›Tino-
logie‹ zu sprechen.
Von Metakategorien wird im Folgenden nicht thematisch die Rede
sein. Hier begnügen wir uns mit einigen Bemerkungen zu den Erfah-
rungskategorien. Es soll dabei einerseits am Beispiel von Raum und
Zeit, andererseits am Beispiel von Kausalität und Handlungsteleologie
deutlich gemacht werden, in welchem Sinne die Erfahrungskategorien
Einstimmigkeitstendenzen ausdrücken.

1. Raum und Zeit als Ausdrücke von


Einstimmigkeitstendenzen

Kant hat mit Nachdruck betont, dass es nur einen Raum und eine Zeit
gibt. Wie es an einer klassisch gewordenen Stelle der Transzendentalen
Ästhetik heißt, »kann man sich nur einen einigen Raum vorstellen, und
wenn man von vielen Räumen redet, so versteht man darunter nur Teile
desselben alleinigen Raumes.« 51 Kant setzt hinzu: »Die Teile können
auch nicht vor dem einigen allbefassenden Raume gleichsam als dessen
Bestandteile, (daraus seine Zusammensetzung möglich sei), vorher-
gehen, sondern nur in ihm gedacht werden. Er ist wesentlich einig, das
Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Räumen
überhaupt beruht lediglich auf Einschränkungen.« 52 In Bezug auf die
Zeit entspricht diesen Hinweisen nur ein einziger Satz: »Verschiedene
Zeiten sind nur Teile ebenderselben Zeit.« 53 Allerdings wird noch her-
vorgehoben, dass »alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschrän-
kungen einer einigen zugrunde liegenden Zeit möglich sei«. 54
Für Kant sind die zuletzt angeführten Züge Indizien dafür, dass die
Zeit – ähnlich wie der Raum – keine diskursive Vorstellung, kein all-
gemeiner Begriff, sondern »eine reine Form der sinnlichen Anschau-
ung« ist, 55 die allerdings auch zum Gegenstand einer »formalen An-
schauung« gemacht werden kann. 56 In der Kritik der reinen Vernunft
folgt daraus bereits die Doppelthese von der »empirischen Realität« und

51
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 25.
52 Ebd.
53
Ebd., A 31 f.
54
Ebd., A 32.
55
Ebd., A 31.
56 Ebd., B 160, Anm.

331
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

der »transzendentalen Idealität« von Raum und Zeit. 57 Demnach sind


Raum und Zeit als Formen der Erscheinungen in jeder Erfahrung be-
reits vorausgesetzt, aber sie können den Dingen an sich selbst nicht
zugeschrieben werden. An einer Stelle zieht Kant einen bemerkenswer-
ten Schluss aus dieser Doppelthese, indem er sagt: »Wir können dem-
nach nur aus dem Standpunkte eines Menschen vom Raum, von aus-
gedehnten Wesen usw. reden.« 58 Offenbar gilt das Gleiche für die Zeit,
selbst wenn sich ein entsprechender Satz in den Ausführungen über die
Zeit nicht findet.
Mit »dem Standpunkt eines Menschen« meint Kant dabei wohl
den Standpunkt eines menschlichen Wesens als solchen, also den
Standpunkt der menschlichen Gattung überhaupt. Vom Gesichtspunkt
der Phänomenologie aus betrachtet erwächst hier jedoch eine Schwie-
rigkeit aus der Beobachtung, dass die Erfahrung, die das jeweilige Ich
mit dem Raum und der Zeit macht, nicht von vornherein mit der Er-
fahrung zusammenfällt, die ein Anderer mit ihnen macht.
Die Phänomenologie bricht mit der neuzeitlichen Subjektmeta-
physik, die ihre Wirkung selbst noch auf Kants Transzendentalphiloso-
phie ausübt. Husserl entwickelt einen differentiellen Subjektbegriff, der
dem Unterschied zwischen dem jeweiligen Ich und dem Anderen Rech-
nung trägt. Ebendeshalb hütet er sich jedoch, dem Einzelnen von vorn-
herein gattungsallgemeine Strukturen zuzuschreiben, ohne sie aus
einem konkreten Verhältnis zwischen Subjekt und Mitsubjekt hervor-
gehen zu lassen.
In Husserls Phänomenologie der Intersubjektivität betrachtet sich
das Subjekt von vornherein als Funktionszentrum der Orientierung im
Raum. Es bezieht den ganzen Erscheinungsraum auf sich selbst, indem
es seinen eigenen Leib als »Zentralkörper« oder »Nullkörper im abso-
luten Hier« 59 erlebt. Den Raum erfasst das Subjekt als einen kinästheti-
schen Raum wechselnder Erscheinungsweisen, die in Korrelation mit
seinen unmittelbar empfundenen leiblichen Bewegungen stehen. Dabei
erfährt es das Mitsubjekt als ein anderes Funktionszentrum der Orien-
tierung in demselben Raum.
Husserl beschreibt diese Erfahrung auf folgende Weise: »Ich apper-
zipiere den Anderen doch nicht einfach als Duplikat meiner selbst, also

57
Ebd., besonders A 27 f. und 35 f.
58
Ebd., A 26.
59 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 126.

332
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

mit meiner oder einer gleichen Originalsphäre, darunter mit den räum-
lichen Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind,
sondern, näher besehen, mit solchen, wie ich sie selbst in Gleichheit
haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre.« 60 Ich erfahre also
das andere Ich, »wie wenn ich dort wäre«, 61 »wie wenn ich dort anstelle
des fremden Leibkörpers stünde«. 62
Den Worten »wie wenn …« haftet hier, wie wir von Klaus Held
seit Langem wissen, eine unabstreifbare Zweideutigkeit an. 63 Sie drü-
cken eine Möglichkeit, eine Potentialität, also ein Wenn aus, da ich mich
tatsächlich dorthin begeben kann, wo sich in diesem Augenblick das
andere Ich aufhält. Sie drücken aber auch eine Unmöglichkeit, eine Ir-
realität, mithin ein bloßes Als-ob, aus, da gerade das Mitdasein – die
Koexistenz – des Anderen mein gleichzeitiges Dortsein grundsätzlich
ausschließt. Aus dieser Irrealität folgt, dass meine Raumerfahrung mit
der Raumerfahrung des Anderen niemals zusammenfallen kann. Der
Raum ist genauso perspektivisch gegeben wie das Erscheinende im
Raum. Deshalb kann der eine einige Raum, von dem Kant spricht, phä-
nomenologisch betrachtet nur eine Einstimmigkeitstendenz verschiede-
ner Raumerfahrungen ausdrücken. Aber die Irrealität gehört hier mit
der Potentialität zusammen. Aus der Potentialität folgt jedoch, dass ich
die Raumerfahrung des Anderen als ein »Modifikat« 64 meiner eigenen
Raumerfahrung verstehen kann. Demnach drückt der eine einige Raum
eine Einstimmigkeitstendenz aus, die nicht einfach als empirische Tat-
sache festgestellt wird, sondern als Erwartung von vornherein ein un-
abdingbarer Bestandteil aller Raumerfahrung ist.
Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine Einstimmigkeitsten-
denz, der eine faktische Notwendigkeit, die Notwendigkeit eines Fak-
tums, zukommt. Das ist gerade die Notwendigkeit, die in einer phäno-
menologischen Metaphysik zufälliger Faktizität an die Stelle der

60
Ebd., S. 120.
61
Ebd., S. 122.
62
Ebd., S. 126.
63
K. Held, »Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen
Transzendentalphilosophie«. In: Ulrich Claesges und Klaus Held (Hg.), Perspektiven
transzendentalphänomenologischer Forschung, Den Haag: Martinus Nijhoff 1972,
S. 3–60, hier: S. 35: »Das ›wie wenn‹ ist die doppeldeutige Verquickung eines die Irreali-
tät anzeigenden ›wie‹ (im Sinne von ›als ob‹) mit einem ›wenn‹ von temporaler Bedeu-
tung.«
64 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 119: »mein Modifikat, anderes Ich«.

333
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Apriorizität tritt. Die Erfahrungskategorien (Experientialien) sind


durch eine derartige Notwendigkeit gekennzeichnet.
Dass sich diese Überlegungen auch auf die Zeit beziehen lassen, ist
alles andere als selbstverständlich. Die Phänomenologie hat ja die Zeit
von Beginn an als die Zeit des Selbst betrachtet; sie ging von vornherein
davon aus, dass die Zeit das jeweilige Ich in seiner Einmaligkeit und
Unwiederholbarkeit charakterisiert. Nicht allein in Husserls Vorlesun-
gen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins spielt dieser Ge-
danke eine grundlegende Rolle, sondern auch in Heideggers Sein und
Zeit; die ursprüngliche Zeitlichkeit unterscheidet sich ja unter anderem
– oder vor allem – durch ihre Jemeinigkeit von der Weltzeit. Wie könnte
man hier so etwas wie die eine einige Zeit voraussetzen?
Allein in Wahrheit ist die Zeit des Selbst mit der Weltzeit enger
verwoben, als dies in der Zeitphänomenologie Ausdruck fand. Die Phä-
nomenologie versteht ja das Selbst grundsätzlich als ein leiblich be-
stimmtes Selbst. Die Leiblichkeit des Selbst bringt aber Phänomene
mit sich, die ohne einen Hinweis auf die Weltzeit unverständlich blei-
ben. Als leibliches ist das Selbst durch Phänomene wie Ermüdung, Al-
tern und Sterben charakterisiert. Levinas, der in der phänomenologi-
schen Tradition als Erster diese Phänomene in den Mittelpunkt der
Zeitanalyse rückte, hatte sicherlich recht, als er aus ihnen den Schluss
zog, es gebe etwas in der Zeit, das unwiederbringlich verloren geht und
daher niemals wieder in die Gegenwart eingeholt, mit ihr also auf keine
Weise gleichzeitig gemacht (»synchronisiert«) werden kann. Das ist je-
doch nicht der einzige Schluss, der aus ihnen gezogen werden kann. Das
Phänomen körperlicher Ermüdung lässt sich vom Schlafbedürfnis des
Lebewesens nicht trennen, und so unterhält es auch eine Beziehung zur
Anpassung an den Wechsel von Tag und Nacht. Die Menschheit hat
zwar das Altern zu allen Zeiten in eine Parallele mit der Ermüdung
gebracht, aber die Ähnlichkeit konnte den Unterschied der in Betracht
kommenden zeitlichen Maßstäbe niemals verdecken: Als eine natürli-
che Konsequenz ergab sich daraus eine Gliederung der Zeit nach Le-
bensaltern, die sich wohl immer auch auf die periodische Wiederkehr
der Gezeiten und damit auf die Aufeinanderfolge der Jahre stützte.
Wird das Sterben in diesem Zusammenhang betrachtet, so erweist es
sich als ein Phänomen, das nicht allein auf die Endlichkeit der Selbstzeit
hinweist, wie etwa bei Heidegger, sondern ebenso sehr auch auf den
Fortgang der Weltzeit. Schon das Vorhandensein verschiedener Lebens-
alter zu gleicher Zeit trägt ein deutliches Zeugnis dafür, das durch das

334
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Phänomen der Nachkommenschaft erst recht verstärkt wird. Das wurde


in der phänomenologischen Tradition zum ersten Mal wohl von Levinas
im letzten Teil von Totalität und Unendlichkeit betont; hier wurde auch
ein eigener Begriff – der Begriff von infinition, ›Verunendlichung‹ –
dafür geprägt. Klaus Held sprach später in ähnlichem Zusammenhang
von »generativer Zeiterfahrung«.
Kann jedoch die Selbstzeit gegen die Weltzeit nicht abgeschottet
werden, so erhebt sich die Frage, wie sich die Weltzeit in der Zeiterfah-
rung des Einzelnen geltend macht. Die Antwort auf diese Frage ist, dass
sie die Gestalt einer Einstimmigkeitstendenz verschiedener Zeiterfah-
rungen annimmt. Zur Erfahrung der Selbstzeit gehört von vornherein
die Erwartung, dass sich diese Zeiterfahrung mit der Zeiterfahrung der
Anderen in Einklang bringen lässt.
Husserl hat von Früh an immer wieder versucht, dieser Erwartung
Rechnung zu tragen. Bereits in seiner Vorlesung von 1910 über die
Grundprobleme der Phänomenologie macht er es sich zur Aufgabe, he-
rauszustellen, wie »ein Einfühlungsakt und eingefühlter Akt derselben
Zeit angehören«. 65 Aber lange Zeit hindurch kann er auf diese Frage nur
unter Berufung auf die empirisch vorgefundene, objektive – und das
heißt für ihn: bereits konstituierte – Weltzeit antworten. So heißt es in
der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie: »Die im Einfühlen
gesetzte Zeit ist […] ein Jetzt, das empirisch als derselbe objektive Zeit-
punkt gesetzt wird wie das Jetzt des eigenen Bewußtseins.« 66 Erst zwei
Jahrzehnte später ändert sich die Sachlage. In den dreißiger Jahren ver-
sucht Husserl herauszufinden, wie »aus meinem Bewußtseinsstrom
und dem in mir appräsentierten anderen Bewußtseinsstrom, in dem
dann ebenso der meine appräsentiert ist, ein einheitlich verbundener
Bewußtseinsstrom« wird. 67 Zu dieser Zeit prägt er den Begriff einer
»transzendental-objektiven Kontemporalität und Kompräsenz«. 68 Da-
mit verschreibt er sich der Ansicht, der zufolge eine einzelne Lebenszeit
immer schon eine »universale Koexistenz« mit anderen Lebenszeiten
voraussetzt, ehe noch von einer objektiven Zeit der Natur die Rede sein

65
Edmund Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Erster Teil: 1905–1920
[Husserliana, Bd. XIII], hg. von Iso Kern, Den Haag: Martinus Nijhoff 1973, S. 189.
66
Ebd., S. 190.
67
Husserl, Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, Dritter Teil: 1929–1935 [Hus-
serliana, Bd. XV], S. 191.
68 Ebd., S. 74.

335
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

könnte. 69 Nunmehr nennt er diese universale Koexistenz ›transzenden-


tale Allzeit‹. 70 Die phänomenologische Frage nach der Konstitution die-
ser transzendentalen Allzeit bleibt dabei allerdings ungeklärt.
Wohl kann eine Weltzeit, in der die Gleichzeitigkeit des ›Einfüh-
lungsaktes‹ und des ›eingefühlten Aktes‹ überhaupt erst möglich wird,
keineswegs einfach eine in der Selbstzeit konstituierte Zeit sein; viel-
mehr muss sie an der Zeitkonstitution beteiligt sein. In der Tat ist die
Weltzeit – zumindest als Einstimmigkeitstendenz verschiedener Le-
benszeiten – konstitutiv für die Selbstzeit. Heidegger hat dies, wenn
auch nur ahnungsweise, erkannt, indem er die Geschichtlichkeit des
Daseins und die der Weltzeit zugrunde liegende Innerzeitigkeit als
»gleichursprünglich« bestimmte 71 und auch den Vorrang der Zeitlich-
keit als der urpünglichen Zeit relativierte, indem er hervorhob: »Die
Alltäglichkeit bestimmt das Dasein auch dann, wenn es sich nicht das
Man als ›Helden‹ gewählt hat.« 72 Mit Recht heißt es daher am Ende von
Sein und Zeit: »Die Weltzeit ist ›objektiver‹ als jedes mögliche Ob-
jekt […].« 73 Ebenfalls mit Recht setzt Heidegger hinzu: »Die Weltzeit
ist aber auch ›subjektiver‹ als jedes mögliche Subjekt […]. ›Die Zeit‹ ist
weder im ›Subjekt‹ noch im ›Objekt‹ vorhanden, weder ›innen‹ noch
›außen‹ und ›ist‹ ›früher‹ als jede Subjektivität und Objektivität, weil
sie die Bedingung der Möglichkeit selbst für dieses ›früher‹ darstellt.« 74
Allerdings wurde die These von der Gleichursprünglichkeit von
Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit erst von Paul Ricœur
im dritten Band von Zeit und Erzählung aus Sein und Zeit herausprä-
pariert. Bei Heidegger selbst bleibt diese These ein Deutungsansatz,
dem ein ontologisches Derivationsmodell ständig ins Gehege kommt.
Sein und Zeit ist ja von einer Ursprungsmetaphysik durchdrungen, die
in dem folgenden Satz eine eklatante Ausprägung erhält: »Der onto-
logische Ursprung des Seins des Daseins ist nicht ›geringer‹ als das,
was ihm entspringt, sondern er überragt es vorgängig an Mächtigkeit,
und alles ›Entspringen‹ im ontologischen Felde ist Degeneration.« 75
Demgemäß strebt Heidegger in Sein und Zeit eine Ableitung von Ge-

69
Ebd., S. 340.
70
Ebd., S. 334.
71 Heidegger, Sein und Zeit, S. 377.
72
Ebd., S. 371.
73
Ebd., S. 419.
74
Ebd.
75 Ebd., S. 334.

336
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

schichtlichkeit und Innerzeitigkeit aus der Zeitlichkeit als der ursprüng-


lichen Zeit an. Erst recht versucht er, die von ihm so genannte »vul-
gäre Zeit« als das Produkt einer »nivellierende[n] Verdeckung der
Weltzeit« zu verstehen. 76 So bedenklich aber diese Derivationsbe-
mühungen auch immer sind, sie ziehen nichts vom Wert der bei Hei-
degger doch greifbar werdenden Einsicht ab, dass die Weltzeit konsti-
tutiv für die Selbstzeit ist.
Genauso wie der Weltraum kann die Weltzeit als ein Ausdruck der
Einstimmigkeitstendenz verschiedener Lebenszeiten begriffen werden.
Auch hier handelt es sich jedoch um eine Einstimmigkeitstendenz, die
nicht einfach empirisch festgestellt wird, sondern der eine faktische
Notwendigkeit, die Notwendigkeit eines Faktums, zukommt.

2. Die Kausalität als Ausdruck von


Einstimmigkeitstendenzen

Wir fassen die Kausalität als Horizontskategorie auf, die den Fortgang
von einer Erscheinung zur anderen in der Erfahrung vorzeichnet. Von
anderen Vorzeichnungsstrukturen unterscheidet sie sich dadurch, dass
ihr eine faktische Notwendigkeit, eine Notwendigkeit des Faktums, zu-
kommt.
Bei der Kausalität taucht mit vollem Recht die Frage auf, ob sich ihr
Anwendungsbereich nicht etwa auf alle möglichen Erscheinungen er-
streckt. Können wir behaupten, dass alles, was uns erscheint, eine Ur-
sache hat? Um diese Frage zu entscheiden, müssen wir genauer beden-
ken, was mit Kausalität gemeint ist.

a. Der Satz vom Grund und seine Kritiker

Zunächst gilt es klarzustellen, dass es sich bei einer (wirkenden) Ursa-


che nicht um einen (logischen) Grund handelt. Unter einem (logischen)
Grund können wir die Gesamtheit der Prämissen verstehen, aus denen
sich die Konklusion in einem gültigen Schluss ergibt. Die von Descartes
stammende Formel causa sive ratio, die in der rationalistischen Meta-
physik von Spinoza, Leibniz und anderen eine zentrale Rolle spielt,

76 Ebd., S. 422.

337
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

führt zu einer Gleichsetzung von (wirkender) Ursache und (logischem)


Grund. Den sachlichen Gehalt dieser Gleichsetzung drückt Leibniz am
deutlichsten aus, indem er die Ursache der Existenz eines Dinges als die
Totalität seiner Bedingungen bestimmt. Damit werden die realen Um-
stände, die bei der Entstehung eines Dinges eine Rolle spielen, in die
logischen Zusammenhänge eingebaut, die in der Rede von notwendigen
und hinreichenden Bedingungen zum Ausdruck kommen. Von dem so
bestimmten Kausalitätsbegriff ist es nur noch ein Schritt zum Satz vom
Grund, der zum ersten Mal von Leibniz mit unbeschränkter Allgemein-
heit ausgesprochen wird.
Im ersten Teil des vorliegenden Werkes war bereits die Rede da-
von, wie Hegel in der Wissenschaft der Logik die Leibniz’sche Idee einer
Totalität der Bedingungen aufgreift, um dann das in die Existenz treten-
de Ding doch als das Grundlose zu bestimmen. In der Begründung der
Existenz eines Dinges durch die Totalität seiner Bedingungen ergab sich
die Grundlosigkeit daraus, dass die in Rede stehenden Bedingungen
nicht durch ihre Natur notwendig, sondern nur durch ein Zusammen-
spiel der Umstände zufällig miteinander zusammengehörten. Die
Schranke dieser Zufälligkeit konnte nicht überschritten werden, weil
gerade sie den Grund als Faktor von Realprozessen vom Begriff als lo-
gischem Grund der Dinge trennte. Damit ist Hegel – trotz der durchaus
rationalistischen Inspiration seiner Wissenschaft der Logik – der erste
große Kritiker des rationalistischen Satzes vom Grund geworden.
Diese erste Kritik wurde von Heidegger – vor allem in seinem spä-
ten Vorlesungstext Der Satz vom Grund – weitergeführt und vertieft.
Es werden in diesem Text alle Konsequenzen daraus gezogen, dass die
Welt nach reifer Überlegung weder als durch eine allgemeine Teleologie
durchdrungen aufgefasst noch durch die Annahme einer lückenlosen
und homogenen Kausalreihe auf eine erste Ursache zurückgeführt wer-
den kann. Im Anschluss an das Fragment 52 von Heraklit 77 prägt Hei-
degger den Terminus ›Weltspiel‹, um eine derartige Welt zu charakteri-
sieren. Unter Verweis auf Angelus Silesius 78 setzt er hinzu: »Das Spiel

77
Hermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin: Weid-
mannsche Buchhandlung 1956, Bd. I, S. 162: αἰὼν παῖϚ ἐστι παίζων, πεσσεύων· παι-
δὸϚ ἡ βασιληίη. (»Die Lebenszeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine
setzt: Knabenregiment.«)
78
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 53–73. Heidegger zitiert
und analysiert aus dem Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius das Gedicht

338
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

ist ohne ›Warum‹.« 79 Diese Einsicht verwandelt in Heideggers spätem


Denken das Verhältnis von Sein und Grund. Es heißt: »Sein als grün-
dendes hat keinen Grund, spielt als der Abgrund jenes Spiel, das als
Geschick uns Sein und Grund zuspielt.« 80
Die Idee einer Grundlosigkeit des Weltspiels markiert im Vor-
lesungstext einen Bruch mit dem rationalistischen Denken, dessen Pro-
dukt der Satz vom Grund ist. Daraus soll allerdings kein Irrationalismus
folgen. Heidegger versucht vielmehr, zwischen λόγοϚ und ratio zu un-
terscheiden, um die Begriffe Grund und Vernunft vom Rationalismus
abzuheben. Den λόγοϚ versteht er dabei nicht mehr im Sinne der Onto-
theo-logie als Gründen durch das Sein und Begründen durch das höchs-
te Seiende. Aber den Begriff des Grundes gibt er keineswegs auf. Viel-
mehr behauptet er: »Sein und Grund gehören im λόγοϚ zusammen.« 81
Er versucht, diese Zusammengehörigkeit im Rückgriff auf den grie-
chischen Gedanken der φύσιϚ, des Von-sich-her-Aufgehens – und vor
allem im Rückgang auf Heraklit – neu zu denken: »Der λόγοϚ nennt
diese Zusammengehörigkeit von Sein und Grund. Er nennt sie, insofern
er in Einem zumal sagt: Vorliegenlassen als Aufgehenlassen, von-sich-
her-Aufgehen: φύσιϚ, Sein; und: Vorliegenlassen als Vorlegen, Boden
bilden, Gründen: Grund. Der λόγοϚ nennt zumal in Einem Sein und
Grund.« 82 In diesem Sinne ist der λόγοϚ nichts anderes als gerade das,
was das Von-sich-her-Aufgehende auf Grund einer Welt – oder auch
durch Gründung einer Welt – versammelt. Es handelt sich dabei eben-
falls um den λόγοϚ als Vernünftigkeit, aber gemeint ist eine Vernunft,
die das Erscheinende in seinem Erscheinen auf seinen Weltboden zu-
rückstellt, das heißt es auf Grund seiner Zugehörigkeit zu einer Welt
versteht.
Anders begreift Heidegger die ratio: »Ratio heißt Rechnung.«83
Die Erläuterung lautet: »Ratio besagt Rechnung im weiten Sinne, dem-
gemäß man bei etwas mit etwas auf etwas rechnet, wir sagen auch:
zählt, ohne daß hierbei Zahlen vorkommen.« 84 Was hier beschrieben

»Ohne Warum« (Erstes Buch, Nr. 289): »Die Ros’ ist ohne Warum; sie blühet, weil sie
blühet, / Sie acht nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.«
79
Ebd., S. 169.
80 Ebd.

81
Ebd., S. 161.
82
Ebd.
83
Ebd., S. 149.
84 Ebd., S. 155.

339
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

wird, ist ein zweckstrebiges Verhalten des Subjekts, eine Teleologie:


Man rechnet bei etwas mit etwas auf etwas, man zählt darauf. Dieses
Verhalten soll dem Subjekt dazu verhelfen, eine Herrschaft über die
Welt zu erlangen. Heidegger sagt: »Ratio ist als Rechnung: Vernunft
und Grund.« 85 Anders jedoch als im λόγοϚ gehören Vernunft und
Grund in der ratio nur durch den Anspruch auf Weltbeherrschung zu-
sammen. In dieser Zusammengehörigkeit liegt, so heißt es, »das Mo-
ment des unbedingten und durchgängigen Anspruches auf Zustellung
der mathematisch-technisch errechenbaren Gründe, die totale ›Rationa-
lisierung‹.« 86 Aus diesem Anspruch auf totale ›Rationalisierung‹ be-
greift Heidegger den Satz vom Grund: »Das Machtende im Satz vom
Grund ist der Anspruch auf Zustellung des Grundes.« 87
Damit sind wir bei Heideggers Kritik an der »technisch-wissen-
schaftlichen Weltkonstruktion« 88 angelangt. Sie wird in dem Vor-
lesungstext Der Satz vom Grund durch die Behauptung, die ›Grund-
Sätze‹ seien im modernen Zeitalter in den Dienst der »axiomatischen
Sicherung des rechnenden Denkens« 89 gestellt worden, in eine Rich-
tung gebracht, die in anderen Texten weniger beachtet wird.
Gemeint ist damit nicht allein »die Entwicklung der modernen Lo-
gik zur Logistik und zur Denkmaschine«. 90 Heidegger hat die »axioma-
tische Form des wissenschaftlichen Denkens« überhaupt im Auge, die
im gegenwärtigen Zeitalter dabei sein soll, »das Denken des Menschen
so zu verändern, daß es sich dem Wesen der modernen Technik an-
paßt«. 91 Dennoch wird das Schreckbild der »elektronischen Denk- und
Rechenmaschinen« in der Vorlesung immer wieder wachgerufen. 92
Nichts bedroht nach Heidegger das »besinnliche Denken« 93 der Phi-
losophie so sehr wie die Entwicklung der ›Denkmaschine‹.
Was wird jedoch unter einer ›axiomatischen Sicherung des rech-
nenden Denkens‹ verstanden? Die Antwort lautet: Es »hat sich in neu-
ester Zeit eine Vorstellung von den Axiomen entfaltet, nach der die

85
Ebd., S. 156.
86
Ebd., S. 155.
87
Ebd., S. 42.
88
Ebd., S. 31.
89 Ebd.
90
Ebd., S. 51.
91
Ebd., S. 30.
92
Ebd., S. 22; vgl. S. 51 und 151.
93 Ebd., S. 22.

340
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Rolle der Axiome darin aufgeht, daß sie als Annahmen und Festsetzun-
gen den Aufbau eines widerspruchsfreien Systems von Sätzen sicher-
stellen. Der axiomatische Charakter der Axiome besteht ausschließlich
in dieser Rolle der Ausschaltung von Widersprüchen und der Sicherung
gegen sie.« 94
Heidegger, der sich in den Jahren 1911 und 1912 dem Studium der
Mathematik an der Freiburger Universität widmete, 95 hat hier wohl den
Entwicklungsgang der exakten Wissenschaften am Ende des 19. Jahr-
hunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Auge.
Neben der Herausbildung der – von ihm nur als ›Logistik‹ bezeichneten
– symbolischen Logik durch Gottlob Frege, Bertrand Russell, Alfred
North Whitehead und andere meint er vermutlich vor allem die Axio-
matisierung der von Georg Cantor entwickelten Mengenlehre durch
Ernst Zermelo und Adolf (oder Abraham) Fraenkel. Denn nach der Ent-
deckung der mengentheorischen Antinomien kommt den von Zermelo
und Fraenkel formulierten Axiomen die ›Rolle der Ausschaltung von
Widerspüchen und der Sicherung gegen sie‹ am offenkundigsten zu.
Wohl denkt Heidegger jedoch auch allgemeiner an das von David Hil-
bert und seinen Mitarbeitern entworfene Programm der Axiomatisie-
rung der Disziplinen exakter Forschung.
Denkt man über Heideggers Feststellungen nach, so darf man
nicht unbeachtet lassen, dass der Zweck des von David Hilbert ent-
wickelten Formalismus in der mathematischen Grundlagenforschung
keineswegs überhaupt die »axiomatische Sicherung des rechnenden
Denkens« war, sondern, spezifischer, die axiomatische Sicherung der
spekulativsten mathematischen Theorie aller Zeiten, nämlich der Can-
tor’schen Lehre vom Transfiniten. Oft wird folgender Ausspruch von
Hilbert zitiert: »Niemand kann uns aus dem Paradies verbannen, das
Cantor uns geschaffen hat.« 96
Es fällt hier weiterhin auf, dass die Bedeutung der von Kurt Gödel
im Jahre 1931 aufgestellten und bewiesenen Sätze über Vollständigkeit

94
Ebd., S. 30.
95
Martin Heidegger, »Lebenslauf (Zur Habilitation 1915)«, in: Reden und andere Zeug-
nisse eines Lebenswegs (1910–1976) [Gesamtausgabe, Bd. 16], hg. von Hermann Hei-
degger, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, S. 38.
96
David Hilbert, »On the Infinite« (1925), in: Jean van Heijenoort, From Frege to Gödel,
Cambridge [Mass.] und London: Harvard University Press 1967, S. 367–392, hier:
S. 376.

341
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

und Widerspruchsfreiheit axiomatischer Systeme 97 im Vorlesungstext


Der Satz vom Grund – wie auch in anderen Schriften von Heidegger –
unerkannt bleibt. Auch der späte Husserl hatte diese Sätze nicht mehr
zur Kenntnis genommen. Deshalb konnte er an seinem Eindruck, dass
»der Mathematiker in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern
nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, im
bloßen Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein
technisches Kunstwerk aufbaut«, 98 ein Leben lang festhalten. Heideg-
ger hegte eine ähnliche Ansicht über die Mathematik. Die Gödel-Sätze
wären geeignet gewesen, solche Einschätzungen der Mathematik in
Frage zu stellen.
Denn aus dem Gödel’schen Unvollständigkeitssatz folgt, dass es in
jeder formalen Theorie relevanter Komplexität, in der die Ableitung der
Theoreme aus den Axiomen »nach einigen wenigen mechanischen Re-
geln« vollzogen werden kann, wahre Sätze gibt, die aus dem jeweiligen
Axiomensystem nicht ableitbar sind. 99 Der Gödel’sche Satz über die
Widerspruchsfreiheit formaler Systeme relevanter Komplexität, in de-
nen die Ableitung der Theoreme aus den Axiomen nach einigen weni-
gen mechanischen Regeln vollzogen werden kann, setzt hinzu, dass in
einer derartigen Theorie die Satzformel, die die Widerspruchsfreiheit
dieser Theorie ausdrückt, aus dem jeweiligen Axiomensystem nicht ab-
leitbar ist. Daraus folgt, dass von einer »axiomatischen Sicherung des
rechnenden Denkens« keineswegs ohne ernsthafte Einschränkungen
die Rede sein kann. Gödels Satz über die Widerspruchsfreiheit axioma-
tischer Systeme widerlegt zwar das Hilbert’sche Programm natürlich

97
Siehe Kurt Gödel, »Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und
verwandter Systeme I«, Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S. 173–198.
98
Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, S. 253.
99
Die Rede von »mechanischen Regeln« der Ableitung (siehe Gödel, »Über formal un-
entscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I«, S. 173) wird
im Aufsatz durch die Einführung des Begriffs (primitiv) rekursiver Funktionen präzisiert
(siehe ebd., S. 190). In einer Anmerkung zur autorisierten englischen Übersetzung seines
zitierten Artikels schreibt Gödel: »[The] characteristic property [of ›formal systems‹] is
that reasoning in them, in principle, can be completely replaced by mechanical devices.«
Ein Hinweis von Gödel auf das Werk von Alan M. Turing lässt keinen Zweifel darüber
aufkommen, dass es sich dabei um mechanische Verfahrensweisen handelt, die in ein
Programm »elektronischer Denk- und Rechenmaschinen« integriert werden können.
(Siehe Kurt Gödel, »On Formally Undecidable Propositions of Principia Mathematica
and Related Systems I«, in: van Heijenoort, From Frege to Gödel, S. 596–616, hier:
S. 616.)

342
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

nicht ein für alle Mal, aber er engt den mit ihm verbundenen Erwar-
tungsraum drastisch ein und löst daher eine gewisse Neuorientierung
der mathematischen Grundlagenforschung in den nachfolgenden Jahr-
zehnten aus. Es stellt sich deutlich heraus, dass die Arbeit des Mathe-
matikers sich durch die Leistung ›elektronischer Denk- und Rechen-
maschinen‹ zwar erleichtern, aber grundsätzlich niemals ersetzen lässt.
Es wird klar, dass die Mathematik nicht auf mechanisch anwendbare
Techniken reduziert werden kann. Sie bleibt vielmehr schöpferisch.
Damit wird dem kritischen Einwand, der von Heidegger gegen die
Wissenschaft erhoben wurde, sie denke nicht, 100 bis zu einem gewissen
Grad der Boden entzogen. Natürlich hängt alles davon ab, wie man
diesen berühmten Satz von Heidegger genau versteht. Gewiss wird er
nicht in jeder möglichen Interpretation hinfällig. Aber seine unmittel-
bare Plausibilität büßt er ein. Es ist bemerkenswert, dass der von Sartre
hochgeschätzte Leuvener Philosoph Jean Ladrière nahezu gleichzeitig
mit Heideggers Vorlesung ein umfachreiches Buch über die philosophi-
sche Bedeutung der Gödel-Sätze und verwandter Theoreme schreibt, in
dem er ausdrücklich behauptet: »Es gibt mehr im [mathematischen]
Denken, als das, was sich in die exakten Grenzen des Kalküls einschlie-
ßen lässt.« 101
Deshalb kann aber Heideggers Kritik an der ratio und dem Ratio-
nalismus keineswegs ohne Vorbehalt hingenommen werden. Auch der
rationalistisch angelegte Satz vom Grund darf nicht pauschal verworfen
werden. Das ist gewiss auch nicht die Absicht von Heidegger. Aber der
Vorlesungstext Der Satz vom Grund zeigt nicht einmal, wie sich etwa
ein Ursachenbegriff mit der Einsicht in die Grundlosigkeit des Welt-
spiels überhaupt in Einklang bringen lässt. Dafür ist die Trennung der
kausalen Abhängigkeitsrelation vom logischen Ableitungszusammen-
hang wohl eine unerläßliche Bedingung. Insofern ist der Richtungssinn
der zunächst von Hegel und dann von Heidegger vorgebrachten Kritik
am Leibniz’schen Satz vom zureichenden Grunde gewiss zu billigen.
Der Anspruch auf eine totale Rationalisierung des Kausalitätsverhält-

100
Martin Heidegger, Was heißt Denken? [Gesamtausgabe, Bd. 8], hg. von Paola-Ludo-
vika Coriando, Frankfurt am Main: Klostermann 2002, S. 9. Vgl. auch Martin Heidegger,
Vorträge und Aufsätze [Gesamtausgabe, Bd. 7], hg. von Friedrich-Wilhelm von Herr-
mann, Frankfurt am Main: Klostermann 2000, S. 60–62.
101
Jean Ladrière, Les limitations internes des formalismes. Étude sur la signification du
théorème de Gödel et des théorèmes apparentés dans la théorie des fondements des
mathématiques, Louvain: Nauwelaerts und Paris: Gauthier-Villars 1957, S. 413.

343
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

nisses, den Leibniz erhoben hat, kann nicht aufrechterhalten werden.


Herauszustellen bleibt jedoch, wie sich die (wirkende) Ursache vom (lo-
gischen) Grund unterscheidet. Dazu muss aber die Natur des Kausali-
tätsverhältnisses, der kausalen Abhängigkeit und des Vorgangs der Ver-
ursachung, aufgeklärt werden. Es hätte sich gelohnt, zu diesem Zweck
auf die empiristische Tradition einzugehen. Warum der späte Heidegger
in seiner Vorlesung über den Satz vom Grund dies nicht einmal ansatz-
weise getan hat, bleibt eine Frage. Vielleicht hat ihn seine technik- und
wissenschaftskritische Einstellung daran gehindert, dem Problem des
Kausalitätsprinzips auch nur nachzuforschen.

b. Der Kausalitätszusammenhang und die Idee notwendiger


Verknüpfung

Worin besteht eigentlich die Verbindung zwischen Ursache und Wir-


kung? Um diese Frage zu beantworten, ist es nicht unangebracht, sich
auf Betrachtungen zu stützen, die auf die empiristische Tradition zu-
rückgehen und der zeitgenössischen analytischen Metaphysik entstam-
men. 102 Diese Betrachtungen können in einem phänomenologischen
Ansatz ebenfalls einen Ort für sich beanspruchen.
Mit der althergebrachten – auf Avicennas Metaphysik zurück-
gehenden und durch die thomistische Idee von causa efficiens weiter
verstärkten – Vorstellung, dass die wirkende Ursache eine wahrhafte
Kraftwirkung entfaltet, und das Verursachte notwendig macht, indem
sie es im wörtlichen Sinne erzeugt, ließ sich die mechanistische Welt-
ansicht der neuzeitlichen Wissenschaft nicht vereinbaren. Während die
rationalistische Denkrichtung den Begriff der wirkenden Ursache eben-
deshalb von Descartes über Spinoza bis Leibniz, Wolff und Baumgarten
durch den Begriff des logischen Grundes zu ersetzen trachtete, wählte
die empiristische Tradition mit David Hume einen anderen Weg. In der
Treatise of Human Nature erhob sich eine neue Frage: Auf welchen

102
Vgl. Michael Tooley, »Causation and Supervenience«, in: Michael J. Loux und
Dean W. Zimmerman (Hg.), The Oxford Handbook of Metaphysics, Oxford: Oxford
University Press 2003, S. 386–434; Michael J. Loux, Metaphysics. A Contemporary In-
troduction, New York und London: Routledge 32006 (11998), S. 187–204; E. J. Lowe, A
Survey of Metaphysics, Oxford: Oxford University Press 2002, S. 137–232. Siehe auch
folgende Textsammlung: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, Oxford: Ox-
ford University Press 1993.

344
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Erfahrungseindruck (impression) geht die Vorstellung (idea) von einer


notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung zurück?
Durch die Analyse des mechanistischen Beispiels aufeinanderprallender
Billardkugeln versuchte Hume zu zeigen, dass dieser Vorstellung in der
Erfahrung nichts anderes entspricht als eben nur eine regelmäßige Auf-
einanderfolge oder beständige Aneinandergebundenheit zweier Ereig-
nisse – sowie eine gewohnheitsmäßige Bereitschaft des Geistes, diese
Aufeinanderfolge durch eine assoziative Verbindung entsprechender
Vorstellungen von sich aus zu reproduzieren.
Diese Gedanken wiesen zum ersten Mal den Weg zu einer reduk-
tiven Analyse des Vorgangs von Verursachung, die darauf hinauslief,
den Notwendigkeitsbegriff vom Kausalitätsverhältnis fernzuhalten und
den Vorgang der Verursachung ohne die Zuhilfenahme von Modal-
begriffen zu erfassen. Hume ging von vornherein davon aus, dass es
eine notwendige Verknüpfung nur zwischen Vorstellungen (ideas),
nicht aber zwischen logisch voneinander unabhängigen Erfahrungstat-
sachen (facts) geben kann. Allerdings erwies sich seine Herangehens-
weise gerade deshalb als unbefriedigend, weil sie keine Unterscheidung
zwischen ständiger, aber zufälliger Aneinandergebundenheit (»kon-
stanter Verbindung«, constant conjunction, 103) und sachlich begründe-
ter Zusammengehörigkeit von Ereignissen zuließ. Bereits Thomas Reid
führte im vierten Stück seiner Essays on the Active Powers of Man das
Beispiel einer Aufeinanderfolge von Tag und Nacht gegen Humes
Theorie der Kausalität ins Feld. Der Wechsel von Tag und Nacht ist ja
eine regelmäßige Aufeinanderfolge im Sinne der Treatise of Human
Nature, aber niemand hält den Tag deswegen für die Ursache der Nacht
(oder umgekehrt).
Die bei Hume fehlende Unterscheidungsmöglichkeit zwischen
ständiger, aber zufälliger Aneinandergebundenheit und sachlich be-
gründeter Zusammengehörigkeit von Ereignissen schien auf die Unver-
zichtbarkeit des Notwendigkeitsbegriffs für den Kausalzusammenhang
hinzudeuten. Deshalb versuchte Kant in der Kritik der reinen Vernunft,
die Kausalität – Humes empiristischer Grundüberzeugung entgegen –
als eine notwendige Verbindung zwischen Erfahrungsereignissen zu

103
David Hume, A Treatise of Human Nature, London: Penguin 1984 (erste Auflage:
1739 und 1740), Erstes Buch, Teil III, Kap. 6, S. 141 f.; dt. Traktat über die menshcliche
Natur, übersetzt von Th. Lipps, hg. von R. Brandt, 2 Bände, Hamburg: Meiner 1989,
Bd. I, S. 123.

345
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

charakterisieren. Es ging ihm um den grundlegenden Satz, dass nichts


im Feld möglicher Erfahrung geschehen kann, ohne eine Ursache zu
haben. Das so verstandene Kausalitätsprinzip betrachtete Kant als eine
Bedingung der Möglichkeit für die Erfahrung überhaupt. Er legte damit
eine transzendentalphilosophische Verteidigung der Idee einer irredu-
zibel notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung vor.
Die Schwierigkeiten mit seiner Auffassung vom Kausalitätsprinzip
rührten auch nur daher, dass er die Notwendigkeit von vornherein mit
Apriorizität gleichsetzte. So musste er sich der Ansicht verschreiben,
das Selbstbewusstsein des Ich wende das Kausalitätsverhältnis wie ein
Ordnungsraster auf die Erfahrung von sich aus an und verwandle damit
ein an sich chaotisches Gewühl sinnlicher Wahrnehmungen in ein ein-
stimmiges Ganzes durchgängig zusammenhängender Erfahrung.
Kants Ansatz blieb eine ständige Inspirationsquelle für die weitere
Entwicklung des Kausalitätsproblems, selbst wenn sich die empiristi-
sche Tradition mit dem transzendentalphilosophischen Charakter dieses
Ansatzes niemals befreunden konnte. Denker, die dem Wiener Kreis
nahe standen, erarbeiteten in enger Fühlung einerseits mit Humes re-
gelmäßigkeitstheoretischem Modell, andererseits aber auch mit Kants
Begriff des Naturgesetzes das nach Karl Popper und Gustav Hempel
benannte Schema kausaler Erklärung, das gelegentlich als covering law
model bezeichnet wird. Dieser nomologische Begriff der Kausalität war
im Wesentlichen allerdings ein Versuch, Humes Reduktionismus mit
verfeinerteren Methoden weiterzuführen: Die Idee gesetzesartiger Ver-
allgemeinerung (lawlike generalization), die den Abstand zwischen den
erklärenden Bedingungen und dem zu erklärenden Ereignis abzudecken
hatte (daher der Name covering law), diente dazu, die Vorstellung von
einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung außer
Kraft zu setzen oder sogar ganz zu verdrängen. Allerdings zeigte sich
eine einseitige, positivistische – oder zumindest positivismusnahe –
Orientierung an den exakten Wissenschaften darin, dass die erwähnten
Denker sich ohne ein spezifiziertes Naturgesetz oder eine gesetzesartige
Verallgemeinerung keine kausale Erklärung vorstellen konnten. Damit
haben sie den Charakter lebensweltlicher Kausalerklärungen bereits aus
den Augen verloren. Nur zu oft erklären wir ja in der Lebenswelt ein
einzelnes Ereignis, indem wir auf ein anderes einzelnes Ereignis verwei-
sen, ohne zugleich ein allgemeines Naturgesetz anführen zu können,
das die beiden Ereignisse miteinander verbindet. Wir sagen etwa, dass
New Orleans zum Teil zerstört wurde, weil der Hurricane Katrina die

346
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

am meisten gefährdeten Viertel der Stadt (vor allem das ninth ward)
verheerte. Dabei können wir die Naturgesetze, die bei einer derartigen
Katastrophe eine Rolle spielten, in den meisten Fällen gar nicht genau
angeben. Es ist aber noch wichtiger, dass wir in den lebensweltlichen
Kausalerklärungen einzelne Begebenheiten miteinander verbinden, die
als solche durch kein covering law miteinander verbunden werden kön-
nen. Es gibt kein wissenschaftliches Gesetz, das einen Wirbelsturm un-
mittelbar mit einem Stadviertel verbindet. Das ändert aber nichts daran,
dass unsere Erklärung der Zerstörung von New Orleans durch den Hin-
weis auf den Wirbelsturm Katrina in sich selbst stichhaltig und keines-
wegs etwa ergänzungsbedürftig ist.
Diese Zusammenhänge wurden in den 1960er Jahren auch von
analytischen Philosophen erkannt. Besonders ausgereifte Ausführun-
gen findet man zu diesem Thema bei Donald Davidson, der – im An-
schluss an ältere Untersuchungen von Curt John Ducasse 104 – hervor-
hebt, dass »singuläre Kausalaussagen kein Gesetz implizieren« und dass
wir sogar »imstande sind zu wissen, daß sie wahr sind, ohne ein rele-
vantes Gesetz zu kennen«. 105 Er bemerkt ebenfalls, dass wir das Ereig-
nis, dessen Erklärung wir von Anderen fordern, oft in Begriffen be-
schreiben, »die unter kein vollständig entwickeltes Gesetz fallen«. 106
Diese Bemerkung bezieht sich auf Fälle wie den des in unserem Beispiel
erwähnten Kausalzusammenhangs zwischen einem Wirbelsturm und
einem Stadtviertel. Allerdings setzt Davidson hinzu, dass wir eine sin-
guläre Kausalaussage oft deshalb akzeptieren, weil »wir Grund zur An-
nahme haben, daß ein allgemeines Gesetz existiert, obwohl wir nicht
wissen, wie es lautet«. 107
Mehrere Denker haben es sich zur Aufgabe gemacht, Humes re-
duktive Analyse des Vorgangs von Verursachung weiterzuführen, ohne
sich dabei unmittelbar auf ein allgemeines Gesetz oder eine gesetzes-
artige Regelmäßigkeit zu berufen. In seinem Aufsatz über »Causes and
Conditionals« aus dem Jahre 1965 hat John L. Mackie versucht, den

104
Siehe besonders Curt John Ducasse, »On the Nature and the Observability of the
Causal Relation«, in: The Journal of Philosophy 23 (1926), S. 57–68, wieder abgedruckt
in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 125–136.
105 Donald Davidson, Essays on Actions and Events, Oxford: Clarendon Press 22001

(11980), S. 160; dt. Donald Davidson, Handlung und Ereignis, übersetzt von Joachim
Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 229.
106
Ebd., S. 159, dt. S. 228.
107 Ebd., S. 160; dt. S. 228 f.

347
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Kausalzusammenhang in Begriffen notwendiger und hinreichender Be-


dingungen zu bestimmen. 108 Er legte seiner Betrachtung das Beispiel
eines Hausbrandes zugrunde, der durch einen Kurzschluss ausgelöst
wurde. Es ist leicht zu sehen, dass ein Kurzschluss in sich selbst weder
eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für einen Haus-
brand ist: Er ist nicht notwendig, weil auch andere Begebenheiten einen
Brand verursachen können, und er ist nicht hinreichend, weil er nur
dann einen Brand hervorrufen kann, wenn es zum Beispiel brennbares
Material und genug Sauerstoff in der Luft um ihn herum gibt. Aber der
Kurzschluss wird eine notwendige Bedingung für den Hausbrand, so-
bald all diese (und noch weitere) Umstände vorhanden sind, die zusam-
mengenommen eine zwar nicht notwendige, aber hinreichende Bedin-
gung für diese Katastrophe darstellen. Dieser Gedankengang führt zu
einer nuancierten Bestimmung der Ursache in Begriffen notwendiger
und hinreichender Bedingungen: Man kann behaupten, dass die Ur-
sache ein nicht hinreichender, aber notwendiger Teil einer nicht not-
wendigen, aber hinreichenden Bedingung für das verursachte Ereignis
ist. Im Englischen lautet dieser Ausdruck wie folgt: insufficient, but
necessary part of an unnecessary, but sufficient condition. Auf Grund
der Anfangsbuchstaben der verwendeten Adjektive ergibt sich daraus
die so genannte inus-Bedingung für die Bestimmung der Ursache.
Allerdings versteht Mackie seinen Vorschlag keineswegs als eine
ausschließende Alternative zum nomologischen Begriff der Kausalität.
Er betont zwar, dass immer einzelne Ereignisse am Vorgang der Ver-
ursachung beteiligt sind, aber er ist zugleich davon überzeugt, dass der
Wirkungsmechanismus der Ursachen auf allgemeinen Naturgesetzen
beruht. Gleichwohl gelangt er zu seiner Bestimmung des Ursachen-
begriffs auf einem Weg, der vom regelmäßigkeitstheoretischen Ansatz
unabhängig ist.
Ähnlich verhält es sich mit der kontrafaktischen Kausalitätsana-
lyse, die von David Lewis vorgelegt wurde. 109 Der Grundgedanke dieser
Analyse stammt, wie Lewis betont, von Hume, der in seinem ersten
großen Werk, der Treatise of Human Nature, die Ursache zwar rein

108 Siehe John Leslie Mackie, »Causes and Conditionals«, in: American Philosophical
Quarterly 2 (1965), S. 245–264; unter Weglassung der Abschnitte 5–7 wieder abge-
druckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 33–55.
109
David Kellog Lewis, »Causation«, in: Journal of Philosophy 70 (1973), S. 556–567;
wieder abgedruckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 193–204.

348
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

regelmäßigkeitstheoretisch bestimmt, aber in seiner späteren Arbeit,


der Enquiry into the Principles of Human Understanding, auch eine
ganz andere Bestimmungsmöglichkeit nahelegt. Er nennt ein erstes Ob-
jekt Ursache eines anderen Objekts dann, wenn der kontrafaktische Satz
zu Recht besteht: if the first object had not been, the second object had
never existed (»wenn der erste Gegenstand nicht bestanden hätte, [wä-
re] der zweite nie ins Dasein getreten«). 110 Kontrafaktisch ist dieser
Konditionalsatz deshalb, weil die beiden Objekte, zwischen denen ein
Kausalzusammenhang besteht, in der wirklichen Welt tatsächlich vor-
handen sind. Der kontrafaktische Konditionalsatz drückt mit seinen
Mitteln eine besonders enge Verbindung zwischen Ursache und Wir-
kung aus. Deshalb taucht der Gedanke auf, dieser Satz könnte in einer
reduktiven Analyse an die Stelle der Idee einer notwendigen Verknüp-
fung zwischen Ursache und Wirkung treten. Man könnte dann sagen,
dass ein zweites Objekt von einem ersten Objekt gerade dann kausal
abhängig ist, wenn der kontrafaktische Satz, hätte der erste Gegenstand
nicht bestanden, wäre der zweite nie ins Dasein getreten, zu Recht be-
steht.
Dieser Gedanke ist so naheliegend, dass er in der an Hume an-
knüpfenden Tradition auch vor Lewis nicht selten in Anschlag gebracht
wurde. Nur dass dabei die logische Struktur des kontrafaktischen Kon-
ditionalsatzes unklar blieb. Diesem Mangel konnte erst dadurch ab-
geholfen werden, dass in den 1960er Jahren von Saul Aaron Kripke,
Jaakko Hintikka und anderen eine modale Semantik in Begriffen mög-
licher Welten entwickelt wurde. 111 Eine Initiative von Robert C. Stalna-
ker 112 aufgreifend wandte Lewis diese Semantik auf den kontrafak-
tischen Konditionalsatz an. 113 Die Grundidee, die er dabei mit formalen
Mitteln auszudrücken suchte, kann auf folgende Weise informal ver-

110
David Hume, Enquiries concerning the Human Understanding and concerning the
Principles of Morals, reprinted from the 1777 edition and edited by L. A. Selby-Bigge,
Oxford: Clarendon Press 1972, S. 76; dt. Eine Untersuchung über den menschlichen
Verstand, übersetzt von Raoul Richter, hg. von Lambert Wiesing, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2007, S. 92 f.
111
Saul A. Kripke, »Semantical Considerations on Modal Logic«, in: Acta Philosophica
Fennica 16 (1963), S. 83–94, wieder abgedruckt in: Leonard Linsky, Reference and Mo-
dality, Oxford: Oxford University Press 1971, S. 63–72. Vgl. Jaakko Hintikka, »Modality
and Quantification«, in: Theoria 27 (1961), S. 119–128.
112
Robert C. Stalnaker, »Theory of Conditionals«, in: Nicolas Rescher (Hg.), Studies in
Logical Theory, Oxford: Basil Blackwell 1968, S. 98–112.
113 Lewis, Counterfactuals, Oxford: Basil Blackwell 42005 (11973), S. 50.

349
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

ständlich gemacht werden: Ein kontrafaktischer Konditionalsatz, be-


zeichnet als p&q, ist in der wirklichen Welt dann wahr, wenn jede
mögliche Welt, in der zusammen mit p auch q wahr ist, der wirklichen
Welt vergleichbar näher oder ähnlicher ist als jede andere mögliche
Welt, in der p wahr, q aber falsch ist (vom Fall, dass es keine Welt gibt,
in der p wahr ist, können wir bei der Formulierung dieser Grundidee
absehen, obwohl er in der formalen Theorie natürlich mit beachtet wer-
den muss). 114 Damit ist der Begriff kontrafaktischer Abhängigkeit be-
stimmt: q ist von p kontrafaktisch abhängig, wenn der kontrafaktische
Satz p&q (in der wirklichen Welt) wahr ist. Dieser Begriff kann dazu
verwendet werden, Begriffe wie ›kausale Abhängigkeit‹, ›Kausalkette‹
und ›Verursachung‹ zu definieren. Dazu wählen wir die Aussagen p
und q so, dass sie jeweils das Eintreffen eines Ereignisses (zum Beispiel
des Ereignisses U und des Ereignisses W) bezeichnen. Wir können dann
sagen, dass das Ereignis W von dem Ereignis U gerade dann kausal
abhängig ist, wenn zwischen den entsprechenden Aussagen q und p
eine kontrafaktische Abhängigkeit besteht. Unter einer Kausalkette
können wir weiterhin die Ereignisfolge U, V, W verstehen, wenn W
kausal abhängig von V und V kausal abhängig von U ist. (Kausalketten
können natürlich auch mehr als drei Glieder enthalten.) Wir können
schließlich hinzufügen, dass U die Ursache der Wirkung W ist, oder
dass U W verursacht, wenn es eine Kausalkette U, …, V, …, W gibt,
die U mit W verbindet.
Diese Analyse der Kausalität stellt eine der ersten Fallstudien dar,
aus denen die analytische Metaphysik im zeitgenössischen Sinne des
Wortes erwachsen ist. Die Semantik möglicher Welten spielt in dieser
Metaphysik eine grundlegende Rolle. Lewis entdeckt die Möglichkeit,
diese Semantik über die Grenzen der Logik hinaus einzusetzen. In sei-
nem Aufsatz über die Verursachung verwendet er sie dazu, die Natur
des Kausalverhältnisses zu beleuchten. Lewis sieht dabei deutlich, dass
dieses Verhältnis zwar eine Notwendigkeit mit sich führt, aber keines-
wegs dieselbe Art von Notwendigkeit wie die logische Beziehung zwi-
schen Grund und Folge. Deshalb kann er nicht etwa sagen, eine regel-
mäßige Aufeinanderfolge sei dann ein Kausalzusammenhang, wenn sie
in jeder möglichen Welt stattfindet. So forscht er nach einem Umweg,
auf dem er dem Verständnis der eigentümlichen Notwendigkeit des

114
David Kellog Lewis, »Causation«, in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causa-
tion, S. 197.

350
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Kausalzusammenhangs näherkommen könnte. Statt des Kausalsatzes


»U verursacht W« geht er von dem kontrafaktischen Satz »Wäre U
nicht dagewesen, hätte W niemals stattgefunden« aus. Dabei stützt er
sich auf die Idee, dass dieser kontrafaktische Satz in der wirklichen Welt
dann wahr ist, wenn U und W in jeder möglichen Welt, die der wirk-
lichen Welt hinreichend ähnlich oder nahe ist, zusammen vorkommen.
Wir können darin eine modale Fassung der Hume’schen Idee einer
ständigen Aneinandergebundenheit (constant conjunction) verschiede-
ner Ereignisse sehen.
Die metaphysische Anwendung der Semantik möglicher Welten
beruht bei Lewis – genauso wie bei Kripke und anderen – auf einer
Methode der Phantasievariation. Wir stellen uns die wirkliche Welt in
manchen Zügen anders vor, als sie tatsächlich ist. Dabei kommen wir zu
der Einsicht, dass gewisse Zusammenhänge in der Phantasievariation
invariant bleiben. Was die Kausalzusammenhänge betrifft, so bleiben
sie allerdings nur dann erhalten, wenn wir von der wirklichen Welt
nur geringfügig abweichen. Um in allen möglichen Welten erhalten zu
bleiben, müssten sie ja in logischem Sinne notwendig sein. Bei Kausal-
zusammenhängen ist das aber gerade nicht der Fall. Lewis drückt dies
aus, indem er den Begriff vergleichbarer Ähnlichkeit oder Nähe prägt.
Der wirklichen Welt vergleichbar ähnlich oder nah sind diejenigen
möglichen Welten, in denen nahezu die gleichen Naturgesetze gelten
und beinahe die gleichen Tatsachen bestehen wie in der wirklichen
Welt. Wir können uns diese möglichen Welten auch so vorstellen, dass
sie eine Zeit lang mit der wirklichen Welt zusammenfallen, in einem
bestimmten Zeitpunkt aber von ihr geringfügig abzuweichen beginnen.
Vielleicht verhilft uns dieses Bild dazu, besser zu verstehen, wie Lewis
später auf den Gedanken verfällt, den möglichen Welten ebenso Reali-
tät zuzuschreiben wie der wirklichen Welt. 115 Dieser ›modale Realis-
mus‹ wird zwar kaum anziehender und hinnehmbarer, aber er wird
doch begreiflicher, wenn wir bedenken, dass bei Lewis die möglichen
Welten aus geringfügigen Abweichungen von der wirklichen Welt er-
wachsen. Es handelt sich dabei um eine ganz andere Auffassung von
den möglichen Welten als etwa bei Leibniz.
Die Leibniz’sche Idee möglicher Welten ist ja, wie Kant es richtig
gesehen hat, durch die Annahme bedingt, dass es eine eindeutig be-

115
David Kellog Lewis, On the Plurality of Worlds, Oxford: Basil Blackwell 22001
(11986).

351
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

stimmte Menge einfacher, an sich positiver und voneinander unabhän-


giger Prädikate gibt, im Hinblick auf welche jedes mögliche Ding ein für
alle Mal durchgängig bestimmt ist. Aus der Gesamtheit aller derartigen
Prädikate ergeben sich die möglichen Welten bei Leibniz als miteinan-
der verträgliche – ›kompossible‹ – Kombinationen solcher Bestimmun-
gen der Dinge. Eine dieser Kombinationen fällt zwar mit der wirklichen
Welt zusammen, aber die übrigen haben mit ihr nichts zu tun. Sie er-
wachsen ja nicht aus einer Variierung der wirklichen Welt, sondern aus
einer von der wirklichen Welt völlig unabhängigen Kombinierung vor-
gegebener Prädikate.
Dieser Unterschied in der Auffassung von den möglichen Welten
hängt damit zusammen, dass Lewis im Gegensatz zu Leibniz und dem
neuzeitlichen Rationalismus Hume und der empiristischen Tradition
folgt, indem er das Kausalitätsverhältnis gegen die logische Beziehung
von Grund und Folge aufs Schärfste abzuheben sucht. Er zeigt, dass
dem Kausalitätsverhältnis Grundzüge zukommen, die der logischen Be-
ziehung von Grund und Folge fremd sind. Vor allem drei derartige
Grundzüge kommen in Betracht: 1. die Unumkehrbarkeit kausaler Ab-
hängigkeit; 2. die Überdeterminiertheit der Wirkung; 3. die Möglich-
keit zuvorkommender Ursache.

1. Die Unumkehrbarkeit kausaler Abhängigkeit. Die logische Bezie-


hung von Grund und Folge ist eine an und für sich immer umkehr-
bare Äquivalenzrelation. Dagegen ist das Kausalitätsverhältnis
eine grundsätzlich unumkehrbare Aufeinanderfolge von Ursache
und Wirkung. In den Augen von Lewis ist es ein schwerwiegender
Einwand gegen eine Theorie der Kausalität, wenn sie der Unum-
kehrbarkeit des Kausalitätsverhältnisses mit ihren gedanklichen
Mitteln nicht Rechnung tragen kann. Seines Erachtens trifft ein
derartiger Einwand den regelmäßigkeitstheoretischen Ansatz. Das
zeigt sich besonders an der nomologischen Fassung dieses Ansat-
zes. Das covering law model kausaler Erklärung ist ja ein logisch-
deduktives Schema, in dem ein Ereignis aus gewissen Bedingun-
gen und einem Gesetz oder einer gesetzesartigen Verallgemeine-
rung regelrecht abgeleitet wird. Als Deduktion im logischen Sinne
des Wortes drückt diese Ableitung eine Äquivalenzrelation aus
und ist deshalb keineswegs unumkehrbar.
2. Die Überdeterminiertheit der Wirkung. Es ist eine weitere Eigen-
tümlichkeit kausaler Abhängigkeitsverhältnisse, dass eine Wir-

352
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

kung, die durch eine bestimmte Ursache hervorgerufen wird, auch


durch eine andere Ursache zustande gebracht werden könnte. Das
Phänomen der so verstandenen Überdeterminiertheit der Wir-
kung zeigt deutlich, dass die notwendige Verknüpfung zwischen
Ursache und Wirkung ganz anders geartet ist als die notwendige
Verbindung zwischen logischem Grund und logischer Folge, da sie
keine untrennbare Zusammengehörigkeit von Ursache und Wir-
kung impliziert.
3. Die Möglichkeit zuvorkommender Ursache. Das Phänomen einer
Überdeterminiertheit der Wirkung kann sich auch darin ausdrü-
cken, dass eine Ursache durch eine andere Ursache verhindert
wird, ihre Wirkung auszuüben. Man ist aus Kriminalromanen
mit Fällen vertraut, in denen etwa eine mörderische Kugel ihre
tödliche Wirkung deshalb nicht entfalten kann, weil ihr ein ande-
rer Schuss oder eine andere Waffe zuvorgekommen ist.

Wie weit kann aber eine kontrafaktische Kausalitätsanalyse diesen Ei-


gentümlichkeiten des Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung
Rechnung tragen? Was die Unumkehrbarkeit kausaler Abhängigkeit
betrifft, so stellt sie die Anhänger kontrafaktischer Kausalitätsanalyse
vor eine Schwierigkeit, da nicht jedes kontrafaktische Abhängigkeits-
verhältnis unumkehrbar zu sein scheint. Unter manchen Umständen
scheint die Wahrheit des kontrafaktischen Satzes ›Wäre U nicht dage-
wesen, hätte W niemals stattgefunden‹ den Umkehrschluss auf den Satz
›Hätte W niemals stattgefunden, so wäre U nicht dagewesen‹ zuzulas-
sen. Aber nicht einmal in solchen Fällen neigen wir dazu, die Wirkung
W die Ursache der Ursache U zu nennen. Selbst wenn sich kontrafakti-
sche Abhängigkeitsverhältnisse als umkehrbar erweisen sollten, wäre
das für uns kein hinreichender Grund dafür, eine rückläufige Kausali-
tätsbeziehung gelten zu lassen und uns mit der Existenz kausaler
Schleifen zu befreunden. Vielmehr halten wir an der Unumkehrbarkeit
kausaler Abhängigkeit selbst dann fest, wenn das entsprechende kont-
rafaktische Abhängigkeitsverhältnis unter den gegebenen Umständen
umkehrbar zu sein scheint. Das Phänomen der Überdeterminiertheit
der Wirkung im Allgemeinen und die Möglichkeit zuvorkommender
Ursache im Besonderen hat weiterhin zur Folge, dass U selbst dann die
Ursache von W sein kann, wenn der kontrafaktische Satz ›Wäre U nicht
dagewesen, hätte W niemals stattgefunden‹ gar nicht zutreffend ist.

353
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Diese Fälle zeigen deutlich, dass Kausalität und Kontrafaktizität mitei-


nander nicht einfach gleichgesetzt werden können.
Aber die kontrafaktische Kausalitätsanalyse, die Lewis vorlegt, be-
ruht keineswegs auf einer derart einfachen Gleichsetzung. Sie versucht,
den Schwierigkeiten, die sich aus den eigentümlichen Grundzügen des
Kausalitätsverhältnisses ergeben, durch eine verwickeltere Theorie
Rechnung zu tragen. Lewis prägt gerade deshalb den Begriff der kausa-
len Kette U, …, V, …, W, weil er sich von diesem Begriff die zur Über-
windung der genannten Schwierigkeiten nötige Nuancierung des Ver-
hältnisses zwischen Kontrafaktizität und Kausalität verspricht. Die
Nuancierung ergibt sich daraus, dass die Beziehung kontrafaktischer
Abhängigkeit – im Gegensatz zum Kausalitätsverhältnis – als eine in-
transitive Relation aufgefasst wird: Daraus, dass W kontrafaktisch ab-
hängig von V und V kontrafaktisch abhängig von U ist, folgt nicht, dass
W kontrafaktisch abhängig von U ist (also daraus, dass U&V und
V&W, folgt nicht, dass U&W). Lewis setzt die Verursachung von
W durch U keineswegs mit der kontrafaktischen Abhängigkeit von W
von U gleich. Vielmehr nennt er U dann und nur dann die Ursache von
W, wenn es eine kausale Kette U, …, V, …, W gibt, die von U zu W
führt. Wegen der Intransitivität der Relation kontrafaktischer Abhän-
gigkeit lässt diese Bestimmung die Überdeterminiertheit der Wirkung
und die Möglichkeit zuvorkommender Ursache zu: U kann selbst dann
die Ursache von W sein, wenn der kontrafaktische Satz ›Wäre U nicht
dagewesen, hätte W niemals stattgefunden‹ nicht zutreffend ist. Mit der
Unumkehrbarkeit kausaler Abhängigkeit verhält es sich allerdings
etwas verwickelter. Um diese Unumkehrbarkeit zu sichern, muss man
die scheinbare Umkehrbarkeit kontrafaktischer Abhängigkeitsverhält-
nisse in Frage stellen. Die Semantik möglicher Welten hilft uns hier
weiter. Selbst wenn bei gegebenen Bedingungen und gleichbleibenden
Naturgesetzen der kontrafaktische Satz ›Wäre U nicht dagewesen, hätte
W niemals stattgefunden‹ den Umkehrschluss auf den Satz ›Hätte W
niemals stattgefunden, so wäre U nicht dagewesen‹ eindeutig zuließe,
können wir – ohne Verletzung des Determinismusprinzips – behaup-
ten, U könnte dagewesen sei, ohne W zustande gebracht zu haben, weil
wir der wirklichen Welt vergleichbar ähnliche oder nahe Welten ins
Auge fassen könnten, in denen entweder die Bedingungen oder die Na-
turgesetze oder auch beide leicht anders wären.
Man ersieht leicht aus diesen Ausführungen, wie feinsinnig die
kontrafaktische Kausalitätsanalyse durchgearbeitet werden kann. Gera-

354
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

de deshalb konnte sie zur Herausbildung der analytischen Metaphysik


so erheblich beitragen. Aber alle Zweifel konnte sie keineswegs ausräu-
men. Mehrere Autoren – allen voran Jaegwon Kim, Paul Horvich und
Jonathan Bennett 116 – machten klar, dass selbst eine verfeinerte kontra-
faktische Kausalitätsanalyse weit davon entfernt bleibt, die Schwierig-
keiten, vor die sie sich gestellt sieht, restlos zu überwinden. Die größte
Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Kausalität und Kontrafaktizität
Produkte letztlich doch völlig ungleichartiger Begriffsbildungsprozesse
sind. Die Überdeterminiertheit der Wirkung und die Möglichkeit zu-
vorkommender Ursache haben gezeigt, dass es sehr wohl eine Kausali-
tät ohne Kontrafaktizität geben kann. Die zumindest scheinbar umkehr-
baren Fälle der Kontrafaktizität deuten dagegen an, dass es auch eine
Kontrafaktizität ohne Kausalität gibt. Seit dem Erscheinen eines kurzen
Artikels von Jaegwon Kim im Jahre 1973 117 werden immer wieder Bei-
spiele dieser Art angeführt. So etwa kann ich meinen rechten Arm nicht
auf eine bestimmte Höhe heben, ohne meine rechte Hand ebenfalls zu
heben und umgekehrt. Die beiden Bewegungen sind kontrafaktisch
voneinander abhängig, aber nicht kausal miteinander verknüpft. Ich
kann sogar eine mehrgliedrige Reihe kontrafaktischer Abhängigkeiten
bilden, ohne damit eine kausale Kette herzustellen. Wäre man nicht
geboren worden, hätte man niemals gelebt; hätte man nicht gelebt, wäre
man niemals gestorben. Wir würden jedoch die Geburt nicht als die
Ursache des Todes bezeichnen – außer vielleicht aus einer Art von
(zweifellos tiefsinnigem) Spaß. Derartige Gegenbeispiele beweisen
gleichsam ad oculos, dass die Kontrafaktizität eine ganze Reihe von
Phänomenen umfasst, die nichts mit der Kausalität zu tun haben.
So scheint die kontrafaktische Kausalitätsanalyse letztlich doch zu
scheitern. Es gibt Autoren, die daraus zugleich auf das Scheitern aller
reduktiven Kausalitätsanalyse schließen möchten. Einer der angese-
hensten unter ihnen ist Michael Tooley, der die verschiedenen Grund-
typen des von Hume initiierten Reduktionismus systematisiert und
treffende Argumente gegen sie anführt. 118 Er verschreibt sich einem
›Realismus‹ in der Kausalitätstheorie, unter dem er die Ansicht ver-

116
Siehe die kritischen Schriften dieser Autoren in: Ernest Sosa und Michael Tooley
(Hg.), Causation, S. 205–233.
117
Jaegwon Kim, »Causes and Counterfactuals«, in: Journal of Philosophy 70 (1973),
S. 570–572; wieder abgedruckt in: Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation,
S. 205–207.
118 Michael Tooley, »Causation: Reductionism versus Realism«, in: Philosophy and Phe-

355
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

steht, der zufolge das Kausalitätsverhältnis eine irreduzibel notwendige


Verknüpfung zwischen Ursache und Wirkung in sich schließt. Wie weit
es sich dabei um eine Rückkehr zu Kants Lehre von der Kausalität han-
delt, bleibt bei Tooley allerdings unausgemacht.

c. Der Grundsatz der Kausalität als transzendentales Prinzip

Mir scheint, dass die Phänomenologie hier – wie überall – am besten


einen antireduktionistischen Standpunkt einnehmen kann. Für sie be-
steht die Aufgabe nicht darin, die notwendige Verknüpfung zwischen
Ursache und Wirkung auf ein Verhältnis zurückzuführen, das ohne
Modalbegriffe erfasst werden kann oder in dem der Modalbegriff im
Rahmen einer Semantik möglicher Welten seine Interpretation erhält.
Sie besteht vielmehr darin, die eigentümliche Notwendigkeit, die für
das Kausalitätsverhältnis bezeichnend ist, näher zu bestimmen. Eine
phänomenologische Metaphysik kann zu diesem Zweck den Begriff
faktischer Notwendigkeit, der Notwendigkeit eines Faktums, verwen-
den. Dieser Begriff kann jedoch erst dann in der Kausalitätsanalyse ein-
gesetzt werden, wenn er mit Einstimmigkeitstendenzen in der Erfah-
rung verbunden wird.
Dieses Vorhaben macht einen Rückgriff auf Kants Lehre von der
Kausalität möglich. In der Kritik der reinen Vernunft wird das Verhält-
nis zwischen Ursache und Wirkung als eine zusätzliche Bindung der
Einbildungskraft in der Auffassung erscheinender Gegenstände dar-
gestellt. Bei einem Gegenstand wie dem Haus, das wir gerade betrach-
ten, fassen wir die verschiedenen Teile des wahrgenommenen Erschei-
nungskomplexes nacheinander auf, ohne dass eine bestimmte Richtung
in der Synthesis der Apprehension ausgezeichnet wäre. Kant bemerkt,
dass in der Betrachtung des Hauses »meine Wahrnehmungen in der
Apprehension von der Spitze desselben anfangen und beim Boden en-
digen, aber auch von unten anfangen und oben endigen, imgleichen
rechts oder links das Mannigfaltige der empirischen Anschauung ap-
prehendieren [können]«. 119 Anders steht es etwa mit dem Schiff, das
ich »den Strom hinabtreiben« sehe: »Meine Wahrnehmung seiner Stel-

nomenological Research, 50, Supplement (Fall 1990), S. 215–236; wieder abgedruckt in:
Ernest Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 172–192.
119 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 192.

356
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

le unterhalb folgt auf die Wahrnehmung der Stelle oberhalb dem Laufe
des Flusses, und es ist unmöglich, daß in der Apprehension dieser Er-
scheinung das Schiff zuerst unterhalb, nachher aber oberhalb des
Stroms wahrgenommen werden sollte.« 120 Hier verläuft die Synthesis
der Apprehension nicht frei und in beliebiger Richtung, sondern auf
eine gebundene Weise. Sie zeigt eine merkwürdige Unumkehrbarkeit.
Diese Irreversibilität der Apprehension bringt eine Einstimmigkeit in
die Erfahrung der Geschehnisse, weil die »Nötigung«, 121 der das Stre-
ben nach beliebigen Auffassungswegen weichen muss, dazu angelegt
ist, »die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig
zu machen«. 122
Kant deutet hier eine Einstimmigkeitsansicht der Kausalität an, die
er allerdings von vornherein mit einem regelmäßigkeitstheoretischen
Ansatz verbindet. Dieser Ansatz verlangt danach, die Notwendigkeit in
der Verbindung der Vorstellungen auf eine Regel zurückzuführen, nach
der das, was gerade geschieht, auf etwas Vorhergehendes folgt. »Wenn
wir also erfahren« – so Kant –, »daß irgend etwas geschieht, so setzen
wir dabei jederzeit voraus, daß irgend etwas vorausgehe, worauf es nach
einer Regel folgt.« 123 Mit Regeln der Kausalität sind empirische Natur-
gesetze gemeint. Kant verschreibt sich damit einer nomologischen Kau-
salitätsauffassung. Wir haben jedoch bereits gesehen, dass eine derartige
Auffassung zu kurz greift: Das Verhältnis zwischen Ursache und Wir-
kung kann sehr wohl zwischen einzelnen Ereignissen bestehen, die sich
durch keine Regel im Sinne eines Naturgesetzes miteinander unmittel-
bar verbinden lassen. Das ist sogar der Typ der Kausalität, der in der
Lebenswelt – im Gegensatz zu den Wissenschaften – vorherrschend ist.
Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus, die sich vornehmlich
auf die lebensweltliche Erfahrung stützt, erweist sich der regelmäßig-
keitstheoretische Ansatz ebendeshalb als revisionsbedürftig. Die Ein-
stimmigkeitsansicht der Kausalität, die Kant allerdings eben nur andeu-
tet, ist dagegen durchaus geeignet, in einer phänomenologischen
Analyse des Verhältnisses von Ursache und Wirkung aufgegriffen und
weitergeführt zu werden. Was ist jedoch überhaupt mit einer Einstim-
migkeit in der Erfahrung kausaler Vorgänge gemeint?

120
Ebd.
121
Ebd., A 196 f.
122
Ebd., A 197.
123 Ebd., A 195.

357
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Kant erarbeitet eine transzendentalphilosophische Herangehens-


weise, um die Hume’sche Kritik an der Idee einer notwendigen Ver-
knüpfung zwischen Ursache und Wirkung zurückweisen zu können.
Im Rahmen dieser Herangehensweise gelingt es ihm nicht allein, die
Auffassung, der zufolge die Wirkung auf die Ursache »notwendiger-
weise folgt«, 124 zu legitimieren, sondern auch das so genannte Kausali-
tätsprinzip – also den ›Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses‹, dem ge-
mäß alles, was geschieht, eine Ursache hat – zu beweisen. Der Beweis,
den er liefert, ist – wie man ihn üblicherweise nennt – ein ›transzenden-
tales Argument‹ : »Der Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses in der
Folge der Erscheinungen gilt daher auch von allen Gegenständen der
Erfahrung […], weil er selbst der Grund der Möglichkeit einer solchen
Erfahrung ist.« 125
Ist aber der Kant’sche Transzendentalismus nicht ein zu hoher Preis
für die Rettung der Idee einer notwendigen Verknüpfung zwischen Ur-
sache und Wirkung oder auch für die Sicherung des Grundsatzes des
Kausalitätsverhältnisses? Im ersten Teil unserer Betrachtungen haben
wir ja gesehen, dass gerade vom Standpunkt der Phänomenologie aus
schwerwiegende Argumente gegen den Kant’schen Transzendentalis-
mus ins Feld geführt werden können. Marion und Richir haben gleicher-
maßen Einspruch gegen eine Methode erhoben, die nach ihnen darauf
hinauslief, auf Grund einer Analyse subjektiver Erkenntnisvermögen
den Geschehnissen der Erscheinungswelt vorzugreifen und a priori zu
entscheiden, was in der Erfahrung überhaupt aufkommen kann und
was nicht. In dieser Vorgehensweise der Transzendentalphilosophie er-
blickten sie ein Überbleibsel des Leibniz’schen Rationalismus, einen
Rest der Überzeugung, dass die Wirklichkeit aus der Gesamtheit aller
Möglichkeiten abgeleitet werden kann, oder auch einen Rest des Glau-
bens an die Gültigkeit des Satzes vom Grund, der die Möglichkeit der
Geschehnisse an die Bedingung ihrer rationalen Erklärbarkeit bindet.
Sie meinten, ein phänomenologischer Ansatz müsse von einem Be-
wusstsein ausgehen, das sich von den Ereignissen überraschen lässt
und eine »Rhapsodie der Wahrnehmungen« 126 ohne Regel, Ordnung
und Einheit – und damit auch ohne Einstimmigkeit der Erfahrung –
nicht von vornherein ausschließt.

124
Ebd., A 194.
125
Ebd., A 202.
126 Ebd., A 156.

358
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Es gilt jedoch, näher zu bedenken, wogegen sich diese Kritik an der


transzendentalphilosophischen Herangehensweise genau richtet. Die
These, die hier vertreten werden soll, besagt, dass sie nur die Vermen-
gung von Notwendigkeit und Apriorizität in der Kant’schen Transzen-
dentalphilosophie trifft, nicht aber die Grundidee einer transzendental-
philosophischen Methode selbst. Eine phänomenologische Experiential-
analyse verleiht dem Terminus ›transzendental‹ eine neue Bedeutung,
indem sie den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit für die
Einstimmigkeit der Erfahrung keine apriorische, sondern eine faktische
Notwendigkeit zuschreibt. Im zweiten Teil des vorliegenden Buches war
bereits vom methodologischen Transzendentalismus der Phänomenolo-
gie die Rede. Hier kann dieser Begriff aufgegriffen und näher bestimmt
werden. Gemeint ist mit ihm ein offener Transzendentalismus, der die
Suche nach Regel, Ordnung und Einheit inmitten einer ›Rhapsodie der
Wahrnehmungen‹ in die Kompetenz der reflektierenden Urteilskraft
verweist. Die Einstimmigkeit der Erfahrung wird dabei als ein metho-
dologisches Grundprinzip eingesetzt, aber sie wird nicht als eine unab-
änderliche Folge des Selbstbewusstseins hingestellt.
Die Phänomenologie muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die
Welt nicht erst unterschiedlich gedeutet und erklärt, sondern bereits
unterschiedlich erlebt und erfahren wird. 127 Es gibt Erfahrungsdiver-
genzen; es gibt sogar Erfahrungsantagonismen. Der Widerstreit in der
Erfahrung ist ein Grundphänomen, das nicht durch die Annahme ir-
gendeiner harmonia praestabilita aus der Welt verbannt werden kann.
Aber die Frage nach der Einstimmigkeit der Erfahrung wird doch nicht
etwa bloß durch empirische Feststellungen entschieden. Kant hat recht:
Wenn wir erfahren, dass irgend etwas geschieht, so nehmen wir dabei
jederzeit an, dass irgend etwas vorausgeht, worauf es notwendigerweise
folgt, wir setzen also also einen Kausalitätszusammenhang voraus. Wir
können hinzufügen: Jedermann muten wir zu oder jedermann sinnen
wir an, diese Voraussetzung zu teilen. ›Zumuten‹ und ›ansinnen‹ sind
Wörter, die Kant dazu verwendet, die Notwendigkeit und die All-
gemeingültigkeit eines reflektierenden Urteils aufzuweisen. 128 Kant
hat keine geringen Schwierigkeiten, die Notwendigkeit und Allgemein-
gültigkeit eines einzelnen Reflexionsurteils auf Apriorizität zurück-

127
Vgl. vom Vf. Erfahrung und Ausdruck, S. 22.
128
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe,
Bd. V], Berlin: G. Reimer 1913, S. 165–486, hier: S. 212 und S. 214.

359
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

zuführen. Er sieht sich aber zu diesem Schritt gezwungen, da er keine


andere Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit kennt als eben nur die
des Apriorischen. Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus bietet
sich jedoch die Möglichkeit an, die Wörter ›zumuten‹ und ›ansinnen‹
als Hinweise auf eine faktische Notwendigkeit und eine auf dieser Not-
wendigkeit beruhende Allgemeingültigkeit zu verstehen. Den Grund-
gedanken der transzendentalphilosophischen Methode können wir da-
bei durchaus beibehalten, indem wir das jedermann zugemutete und
angesonnene Kausalitätsprinzip als den Grund der Möglichkeit von
Welterfahrung überhaupt bezeichnen. Nur dass für die Phänomeno-
logie dabei die Existenz der Welt eine an und für sich durchaus zufällige
– wenn auch doch wiederum unbezweifelbare, ja, sogar ›apodiktisch
gewisse‹ – Urtatsache bleibt.
Die These der vorliegenden Untersuchung kann auch so formuliert
werden, dass der Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses als ein trans-
zendentales Prinzip der reflektierenden Urteilskraft zu gelten hat. Das
Eigentümliche des Weges, der damit innerhalb der phänomenologi-
schen Tradition vorgezeichnet wird, besteht darin, dass der Kritik an
einem Überbleibsel des neuzeitlichen Rationalismus und einem Rest-
glauben an den rationalistisch verstandenen Satz vom Grund bei Kant
nicht etwa durch die Preisgabe der transzendentalphilosophischen Me-
thode überhaupt entsprochen wird, sondern durch die Ausdehnung des
Problemfeldes reflektierender Urteilskraft auf die Erfahrungskatego-
rien. Demgemäß wird daran festgehalten, dass der Grundsatz der Kau-
salität ein transzendentales Prinzip ist, aber die transzendentalen
Grundsätze der Erfahrung werden dem Herrschaftsbereich bestimmen-
der Urteilskraft entzogen und dem Problemfeld reflektierender Urteils-
kraft eingeordnet.
Daraus ergibt sich zugleich der Schluss, dass die Phänomenologie
als eine andere ›Erste Philosophie‹ nicht im Sinne einer traditionellen
Ontologie verstanden werden kann. Im Gegensatz zu Kants Ansicht
gehören die Kategorien der Erfahrung nach phänomenologischer Auf-
fassung nicht in den Bereich einer bestimmenden Urteilskraft. Als Ein-
stimmigkeitstendenzen der Erfahrung unterstehen sie vielmehr not-
wendig einer Urteilskraft, die sich auf die Suche nach ihnen begibt,
ohne sie als bereits vorhandene Grundzüge der Weltwirklichkeit vo-
rauszusetzen, und die man daher mit Kant eher als ›reflektierend‹ be-
schreiben könnte, allerdings ohne die Tätigkeit dieser reflektierenden
Urteilskraft auf den Bereich der Ästhetik und der Teleologie zu be-

360
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

schränken. Deshalb muss jedoch die phänomenologische Kategorialana-


lyse von jeder traditionellen Ontologie aufs Schärfste unterschieden
werden.
Dass die transzendentalen Grundsätze der Erfahrung dem Herr-
schaftsbereich bestimmender Urteilskraft entzogen und dem Problem-
feld reflektierender Urteilskraft eingeordnet werden, ist sicherlich keine
unerhebliche Abweichung von Kants Kritik der reinen Vernunft. Man
darf sich jedoch das kritische System nicht als ein vollkommen abge-
schlossenes Ganzes vorstellen. Man denke nur daran, wie sehr Kants
Denken am Ende der 1780er Jahre durch die Entdeckung der reflektie-
renden Urteilskraft noch einmal in Fluss geraten ist. Der Strom neu
entsprungener Gedanken musste geradezu eingedämmt werden, damit
die Kritik der Urteilskraft mit ihrer bloßen Vermittlungsfunktion zwi-
schen dem Gebiet einer Gesetzgebung für die Natur und dem Gebiet
einer Gesetzgebung für die Moral überhaupt als ein einheitliches Werk
vorgelegt werden konnte.
Von einem Strom neu entsprungener Gedanken legt die Erste Ein-
leitung zur Kritik der Urteilskraft ein beredtes Zeugnis ab. Neben Äs-
thetik und Teleologie kommt in ihr einem dritten Bereich der reflektie-
renden Urteilskraft noch ein deutlich größeres Gewicht zu als im
endgültigen Text des Werkes. Es handelt sich um einen Bereich, für
den der »logische Gebrauch der Urteilskraft« 129 charakteristisch ist, wo-
bei die Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft diesen logischen Ge-
brauch nicht allein vom ästhetischen, sondern auch vom teleologischen
unterscheidet. Kant nennt diesen Gebrauch deshalb ›logisch‹, weil es der
reflektierenden Urteilskraft in diesem Gebrauch darum geht, der Mög-
lichkeit begrifflich bestimmten Erfahrungsdenkens nachzuforschen.
Diese Ausdrucksweise stiftet in der ersten Textfassung der Einleitung
allerdings Verwirrung, weil Kant das Wort ›Logik‹ auch in einem ande-
ren Sinne verwendet, indem er der Ȁsthetik der reflektierenden Ur-
teilskraft« – »unter dem Namen der Teleologie« – »die Logik eben des-
selben Vermögens« gegenüberstellt. 130 Das Wort ›Logik‹ dient hier
offensichtlich zur Bezeichnung des teleologischen Gebrauchs der Ur-
teilskraft, und zwar mit vollem Recht, da dieser Gebrauch ebenfalls in
den Bereich der Erkenntnis durch Begriffe gehört. Diese Zweideutigkeit

129
Immanuel Kant, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften,
Akademie-Ausgabe, Bd. XX], Berlin: Walter de Gruyter 1942, S. 214.
130 Ebd., S. 249.

361
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

wird im endgültigen Text der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft be-
hoben. Der Preis dieser Eindeutigkeit ist aber, dass dem nicht nur vom
ästhetischen, sondern auch vom teleologischen Gebrauch unterschiede-
nen logischen Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft nicht mehr das
gleiche Gewicht zukommt wie in der ersten Textfassung.
Die Aufgabe, der Möglichkeit begrifflich bestimmten Erfahrungs-
denkens nachzuforschen, schließt in der Ersten Einleitung zur Kritik der
Urteilskraft die Frage in sich, ob »die Natur zu jedem Objekte noch viele
andere als Gegenstände der Vergleichung, die mit ihm in der Form
Manches gemein haben, aufzuzeigen habe« und ob »das Mannigfaltige,
in Gattungen und Arten eingeteilt, es möglich macht, alle vorkommen-
de Naturformen durch Vergleichung auf Begriffe (von mehrerer oder
minderer Allgemeinheit) zu bringen«, 131 also, mit einem Wort, ob »sich
zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen«. 132
Gleichzeitig zieht Kant aus der Entwicklung der neuzeitlichen Natur-
wissenschaft die Lehre, dass sich die Frage nach empirischen Begriffen
nicht von der Frage nach empirischen Gesetzen trennen lässt. Wir kön-
nen den Zusammenhang zwischen empirischen Begriffen und empi-
rischen Gesetzen an einem Beispiel verdeutlichen. 133 Haben wir einen
Begriff mechanischer Bewegung, der sich ebenso sehr auf die Himmels-
körper wie auf irdische Phänomene anwenden lässt, so deshalb, weil das
Newton’sche Gravitationsgesetz die Kepler’schen Gesetze planetari-
scher Bewegungen mit dem Galilei’schen Gesetz des freien Falles unter
irdischen Bedingungen vereinigt. Kant lässt sich durch dieses und ähn-
liche Beispiele einer Vereinigung scheinbar völlig verschieden gearteter
Naturgesetze zu der Annahme hinführen, es sei »eine subjektiv not-
wendige transzendentale Voraussetzung«, dass die Natur »sich, durch
die Affinität der besonderen Gesetze unter allgemeinere, zu einer Erfah-
rung als einem empirischen System qualifiziere«. 134 Diese Annahme
eines »Systems nach empirischen Gesetzen« 135 bezeichnet Kant als das

131
Ebd., S. 211 f., Anm.
132
Ebd., S. 211.
133
Siehe dazu vom Vf., »Erfahrung und Ausdruck bei Kant«, in: Heinrich Hüni und
Peter Trawny (Hg.), Die erscheinende Welt. Festschrift für Klaus Held, Berlin: Dun-
cker & Humblot 2002, S. 609–622, hier S. 616 f.
134
Kant, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. XX], S. 209.
135 Ebd., S. 203.

362
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

»transzendentale Prinzip der Urteilskraft«. 136 Es handelt sich dabei um


ein betonterweise »heuristisches Prinzip«, das zum »System der Kritik
der reinen Vernunft, nicht aber der doktrinalen Philosophie gehör[t]«. 137
Darin besteht gerade der Unterschied dieses Prinzips vom Grund-
satz des Kausalitätsverhältnisses und anderen transzendentalen Grund-
sätzen der Erfahrung. Die Letzteren sind für Kant keine bloß ›heuristi-
schen Prinzipien‹ und gehören nicht allein zum ›System der Kritik der
reinen Vernunft‹, sondern auch zu dem der ›doktrinalen Philosophie‹.
Man denke jedoch nur darüber nach, ob etwa das Kausalitätsprinzip –
und zwar gerade in der regelmäßigkeitstheoretischen Fassung, die Kant
ihm gibt – zu Recht bestehen kann, wenn sich ›die Affinität der beson-
deren Gesetze unter allgemeinere‹ in der Wirklichkeit nicht im gerings-
ten Maße beobachten lässt. Gewiss hat das Kausalitätsprinzip an und
für sich selbst nichts mit der Annahme eines ›Systems nach empiri-
schen Gesetzen‹ zu tun. Gleichwohl steht oder fällt es mit dieser An-
nahme. Der Grundsatz, dem zufolge alles, was geschieht, etwas voraus-
setzt, worauf es nach einer Regel folgt, kann ja seine Geltung schwerlich
bewahren, wenn in der Erfahrung immer nur Gesetze entdeckt werden
können, die – wie in Kafkas Parabel – ihrem Wesen nach für einen
einzigen Fall bestimmt sind. Es gibt gewiss Regeln, die Ausnahmen
zulassen. Aber es gibt keine Regel dort, wo jeder Fall ein Ausnahmefall
ist. Es besteht demnach offensichtlich ein untrennbarer Zusammen-
hang zwischen dem transzendentalen Grundsatz des Kausalitätsver-
hältnisses und der Annahme einer ›Affinität der besonderen Gesetze
unter allgemeinere‹.
Kant hegt lange Zeit hindurch die Hoffnung, aus den transzenden-
talen Grundsätzen der Erfahrung – also gleichsam durch einen logi-
schen Gebrauch der bestimmenden Urteilskraft – irgendwie die beson-
deren Gesetze ableiten zu können, die eine erforderliche Affinität zu
immer allgemeineren Gesetzen aufweisen. Dieses Anliegen bestimmt
selbst in der spätesten Zeit noch die Zielsetzung, einen Übergang von
der Metaphysik – oder auch von den metaphysischen Anfangsgründen
der Naturwissenschaft – zur Physik anzubahnen. Nicht zufällig sah
Kant in der dieser Zielsetzung gewidmeten und von der Nachwelt nur

136
Ebd., S. 209.
137 Ebd., S. 205.

363
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

noch als Opus postumum bezeichneten Arbeit gelegentlich sein »wich-


tigstes Werk«. 138 Nur dass dieses Werk ein Torso geblieben ist.
Kant selbst zieht also aus der soeben dargestellten Schwierigkeit
nicht die Konsequenz, dass der Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses
nur ein transzendentales Prinzip der reflektierenden Urteilskraft – und
damit ein bloß ›heuristisches Prinzip‹ – sei. Gleichwohl handelt es sich
dabei um eine sehr wohl mögliche, ja, geradezu naheliegende Schluss-
folgerung, der bei Kant selbst meines Wissens keine anders geartete
Auflösung der Schwierigkeit, sondern – dieses eine Mal – eben nur ein
langes Nachdenken ohne endgültiges Ergebnis gegenübersteht.
Wird aber die Kausalität nicht in Teleologie aufgelöst, wenn der
Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses als ein transzendentales Prinzip
der reflektierenden Urteilskraft verstanden wird? Diese Schwierigkeit
taucht deshalb auf, weil das transzendentale Prinzip der reflektierenden
Urteilskraft bei Kant tatsächlich ein Prinzip von Zweckmäßigkeit ist.
Gewiss handelt es sich dabei um eine »logische« – und ebendeshalb bloß
»formale« 139 – Zweckmäßigkeit, also um eine Zweckmäßigkeit ohne
Zweck, nicht aber um eine »reale« Zweckmäßigkeit wie beim eigentlich
teleologischen Gebrauch der reflektierenden Urteilskraft. 140 Aber auch
eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck weist einen finalen Determinations-
typ auf, der als solcher der Wirkungsweise wirkender Ursachen not-
wendig fremd bleibt.
Die Antwort auf diesen Einwand ergibt sich aus einer Unterschei-
dung zwischen dem allgemeinen Grundsatz des Kausalitätsverhältnis-
ses und den einzelnen Kausalvorgängen. Als Ausdruck einer jedermann
zugemuteten oder angesonnenen Einstimmigkeitsvoraussetzung ord-
net sich das allgemeine Kausalitätsprinzip einem Zusammenhang ein,
der tatsächlich durch eine gewisse Zweckmäßigkeit oder Zielstrebigkeit
gekennzeichnet ist. Woher diese finale Struktur herrührt, bleibt aller-
dings erst noch herauszustellen. Es ist aber auf jeden Fall ihr zu verdan-
ken, dass der allgemeine Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses als ein
transzendentales Prinzip der reflektierenden Urteilskraft gelten kann.
Dagegen sind die einzelnen Kausalvorgänge weitgehend unabhängig

138 Immanuel Kant, Opus postumum [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe,


Bd. XXI], Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1938, S. 177.
139
Kant, Erste Einleitung zur Kritik der Urteilskraft [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. XX], S. 204.
140 Ebd., S. 217.

364
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

von der Frage nach einem zweckmäßigen Zusammenhang zwischen be-


sonderen und allgemeinen Gesetzen. Sie fügen sich ja nicht immer dem
nomologischen Schema der Kausalität ein. Es fällt noch mehr ins Ge-
wicht, dass – im Gegensatz zu Humes Grundannahme – einzelne Kau-
salvorgänge allem Anschein nach durchaus wahrgenommen und un-
mittelbar beobachtet werden können. In der phänomenologischen
Tradition hat Husserls Lehre von den kategorialen Anschauungen diese
Einsicht von vornherein nahegelegt. Im zweiten Buch der Ideen einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie heißt es
aber auch ausdrücklich: »Auch dingliche (natur-reale, naturale) Kausa-
litäten sind anschaulich gegeben: wir sehen, wie der Hammer das Eisen
schmiedet, wie der Bohrer das Loch bohrt […].« 141 Aber auch in der
analytischen Philosophie sind manche Denker zu ähnlichem Ergebnis
gelangt. Allen voran Curt John Ducasse, der als Jahrzehnte lang an der
Brown University in Providence, Rhode Island, lehrender Professor zu-
sammen mit Roderick Chisholm und dessen Schülern – so etwa mit
Richard Taylor, Ernest Sosa und Kim Jaegwon – als Vertreter einer
Gründungstradition der analytischen Metaphysik unserer Epoche zu
gelten hat; 142 dann aber auch die dem späten Wittgenstein nahestehende
Elisabeth Anscombe, die sich dabei auf den alltäglichen Gebrauch kau-
saler Wörter wie ›abkratzen‹ oder ›schälen‹, ›schieben‹ oder ›stoßen‹,
›befeuchten‹, ›tragen‹, ›essen‹, ›brennen‹, ›schlagen‹, ›abwehren‹, ›ma-
chen‹ (z. B. Lärm oder ein Schiff aus Papier), ›verletzen‹ beruft. 143 Die
Wahrnehmbarkeit kausaler Vorgänge verankert die notwendige Ver-
knüpfung von Ursache und Wirkung in der Wirklichkeit; sie verleiht
ihr, wie man in der kantischen Tradition sagen würde, eine Objektivität.
Sie ist der Grund dafür, dass diese Verknüpfung – im Gegensatz zum
allgemeinen Grundsatz des Kausalitätsverhältnisses – nicht allein eine
›subjektiv notwendige transzendentale Voraussetzung‹ ist, sondern ein
Stück objektiv notwendiger Realität.

141
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 230.
142 Ducasse, »On the Nature and the Observability of the Causal Relation«, in: Ernest

Sosa und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 131–135.


143
G. E. M. Anscombe, »Causality and Determination«, Auszug aus dem Buch Causali-
ty and Determination, Cambridge: Cambridge University Press 1971, in: Ernest Sosa
und Michael Tooley (Hg.), Causation, S. 88–104, hier: S. 93.

365
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

3. Handlungsteleologie und Handlungsfreiheit

Kant fasst die Freiheit des Willens als eine Kausalität eigener Art auf,
die sich von aller Naturkausalität unterscheidet. Er versteht den Willen
als eine Ursache, die – im Gegensatz zu den Naturursachen – »von
selbst anheben könne zu handeln, ohne daß eine andere Ursache voran-
geschickt werden dürfe«, 144 die also das Vermögen hat, »eine Reihe von
Begebenheiten ganz von selbst anzufangen« 145 und damit eine Kausal-
kette in der Welt »von sich aus« – sponte sua – zu initiieren. Deshalb
bezeichnet er die »Kausalität aus Freiheit« auch als »Spontaneität«. 146
Mit dieser Idee des »Selbstanfangenkönnens« verbindet sich bei
Kant die feste Überzeugung, dass die Freiheit des Willens nur dann
möglich ist, wenn sie der Naturkausalität nicht in die Quere kommt.
Nach dieser – »kompatibilistisch« zu nennenden – Ansicht ist jede
menschliche Handlung zweifach determiniert: einerseits durch die Na-
tur, andererseits durch die Freiheit oder, näher betrachtet, einerseits
durch »sinnliche Antriebe« 147 (die jeweiligen »Neigungen«, diese »ha-
bituellen Begierden« 148), andererseits durch den vernunftgeleiteten
Willen. Die beiden Determinationslinien überschneiden sich nicht, son-
dern laufen parallel zueinander. Die These einer derartigen Parallelität
zwischen Kausalität aus Freiheit und Naturkausalität kann jedoch nur
dann aufrechterhalten werden, wenn man die Freiheit als eine »intelli-
gible Ursache« 149 auffasst und mit ihr zugleich eine »intelligible Na-
tur« 150 voraussetzt (oder zumindest als »Postulat« fordert). Darauf ver-
weist in der Kritik der reinen Vernunft der berühmte Satz: »Denn sind
Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.« 151
Vor dieser Konsequenz weicht Kant nicht zurück, weil er davon aus-
geht, dass der Mensch sich von vornherein als »zu beiden Welten ge-
hörig« 152 betrachtet.
144
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 533.
145
Ebd., A 534.
146
Ebd., A 533.
147
Ebd., A 534.
148
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe,
Bd. VI], Berlin: Georg Reimer 1907, S. 203–493], hier: S. 212.
149 Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 537.

150
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. V], Berlin: G. Reimer 1913, S. 48.
151
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 536.
152 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 87.

366
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Fasst man jedoch die menschliche Handlung näher ins Auge, so


gelangt man zu der Einsicht, dass ein Modell sich nicht überschneiden-
der, sondern zueinander parallel laufender Determinationslinien auf sie
schwerlich angewandt werden kann, weil sie ohne ein Ineinandergreifen
von Freiheit und Naturkausalität nicht das sein könnte, was sie ist. Diese
Einsicht verlangt allerdings nach Erläuterung und Erhärtung. Dazu
müssen wir uns vor allen Dingen die Grundzüge menschlicher Hand-
lung vor Augen führen. 153 Diese handlungstheoretischen Überlegungen
dienen im Folgenden zum Ausgangspunkt weiterer Erörterungen, die
sich auf das Ineinandergreifen von Freiheit und Naturkausalität bezie-
hen. Dabei soll die Handlungsteleologie als eine Erfahrungskategorie
bestimmt werden, die sich – genauso wie andere Experientialien – als
Ausdruck einer Einstimmigkeitstendenz erweist. Auf die Fragen nach
dem Selbst und der Person, die das Problem der Handlungsfreiheit auf-
wirft, wird im vorliegenden Buch nicht näher eingegangen. 154 Denn die
nachstehenden Untersuchungen richten sich nur auf das, was Kant un-
ter dem Namen »transzendentale Freiheit« 155 oder »transzendentale
Idee der Freiheit« 156 von der »Freiheit im praktischen Verstande« 157
trennte. Der ethische – und damit auch der politische – Begriff der Frei-
heit bleibt daher im Folgenden ausgeklammert. Es geht lediglich um die
metaphysischen Grundlagen der Handlungsfreiheit.

a. Absichtliches Handeln und unbeabsichtigte Handlungsfolgen

Es ist ein bekannter Grundzug menschlichen Handelns, dass es zu Kon-


sequenzen führen kann, die nicht in der ursprünglichen Absicht des

153
Zur folgenden Darstellung dieser Grundzüge siehe vom Vf. »Action and Selfhood. A
Narrative Interpretation«, in: Dan Zahavi (Hg.), The Oxford Handbook of Phenomeno-
logy, Oxford: Oxford University Press 2012, S. 265–286; »Narratives Handlungsver-
ständnis«, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin:
Akademie-Verlag 2007, S. 61–73; und besonders »Betrachtungen über die Handlungs-
freiheit und die Selbstheit des Handelnden«, in: M. Pfeifer et S. Rapic (Hg.), Das Selbst
und sein Anderes. Festschrift für Klaus Erich Kaehler, Freiburg und München: Alber
2009, S. 245–258.
154 Siehe dazu vom Vf. die französischsprachige Aufsatzsammlung L’expérience de la

singularité, Paris: Hermann 2014.


155
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 534.
156
Ebd., A 533; vgl. auch A 558.
157 Ebd., A 534.

367
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Handelnden lagen. Zwar zeitigen auch Naturbegebenheiten nicht selten


unerwartete und nach unserem jeweiligen Wissensstand sogar grund-
sätzlich unvorhersehbare Wirkungen. Die ungewollten Handlungs-
folgen unterscheiden sich jedoch von derartigen Kausalwirkungen
dadurch, dass sie die Bewandtnis, die es mit der Handlung hat, nach-
träglich verändern. Oidipus meint am bewussten Kreuzweg nur einen
hochmütigen Fremden zu töten, aber seine Tat enthüllt sich im Nach-
hinein als Vatermord. Nunmehr gehört diese Handlungsbeschreibung
zur Bedeutung oder zum Sinn dessen, was auf dem erwähnten Kreuz-
weg tatsächlich vorgefallen ist. Dagegen bleibt ein Vulkanausbruch ein
für alle Mal das, was es ist, ungeachtet seiner mehr oder weniger ver-
heerenden Wirkungen.
Handlungen sind demnach zwar Ereignisse in der Welt, aber sie
unterscheiden sich von Naturbegebenheiten dadurch, dass sie sich nicht
ein für alle Mal festlegen lassen. Gewiss sind sie nur deshalb überhaupt
Handlungen, weil sie aus einer Handlungsabsicht erwachsen. Es eignet
ihnen eine Zweckbestimmtheit und Zweckmäßigkeit, eine zielgesteuerte
Ausrichtung, eine Handlungsteleologie. Liegt eine Handlungsabsicht
nicht vor, so liegt auch keine Handlung vor, sondern es spielt sich eben
nur eine mehr oder weniger zufällige Begebenheit, eine körperliche Be-
wegung ohne Ziel und Zweck in der Welt ab. Es ist daher kein Wunder,
dass die Absicht des Handelnden die Bewandtnis, die es mit der Handlung
hat, wesenhaft bestimmt. Vergeblich prägt aber die Absicht des Handeln-
den der Handlung einen gewollten Sinn auf, die unbeabsichtigten Hand-
lungsfolgen können diesen Sinn dennoch von Grund auf verwandeln.
Die Handlung kann sich also von der Absicht des Handelnden los-
lösen. Gleichwohl bleibt sie eine Tat ihres Urhebers. Kann sie diesem
überhaupt als eine absichtliche Handlung zugeschrieben werden, so
werden auch ihre ungewollten Folgen ihm zugeschrieben. Nimmt Oi-
dipus Rache an dem hochmütigen Fremden am besagten Kreuzweg, so
ist der Vatermord unter den gegebenen Umständen gleichfalls seine Tat.
Daher tut der Handelnde mehr, als was er absichtlich tut. Denn es »lie-
fert uns jede Konsequenz eine Tat; der Handelnde bewirkt, was seine
Handlungen bewirken«. 158
Daraus wird zugleich verständlich, weshalb der Handelnde von
den ungewollten Konsequenzen seiner Handlungen keineswegs unbe-
troffen bleibt. Als Urheber einer Handlung, deren Sinn nicht ein für alle

158 Davidson, Essays on Actions and Events, S. 53; dt. S. 87.

368
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Mal feststeht, sondern sich ändert, bleibt er auch nicht derselbe, der er
ursprünglich war. Durch seinen Racheakt wird Oidipus zugleich Vater-
mörder. Der Handelnde macht eine Erfahrung mit seiner Handlung,
indem ihm die ungewollten Konsequenzen seiner Handlung widerfah-
ren. Die Handlung lässt sich schon deshalb nicht einfach als ein ge-
wöhnliches Ereignis unter anderen Ereignissen der Welt auffassen, weil
sie sich zugleich einem Erfahrungszusammenhang einfügt, der sie auf
den Handelnden zurückbezieht.
Der Handelnde handelt, er tut seine Tat, aber die unbeabsichtigten
Folgen seiner Handlung widerfahren ihm und werden von ihm erlitten.
Da diese Folgen auf den Sinn seiner ursprünglichen Handlung mit-
bestimmend einwirken, erleidet er in gewissem Sinne sogar seine eige-
ne Tat. Das Handeln ist infolgedessen ebenso sehr Erleiden wie Tun;
ebenso sehr passio wie actio.
Damit sind einige Grundzüge des Handelns zusammengefasst, die
den folgenden Überlegungen zugrunde gelegt werden sollen. Es ist
nicht schwer zu sehen, dass sich aus diesen Zügen manche Schlüsse
ergeben, die ein Licht auf die Freiheit des Handelnden werfen.

b. Handlungsfreiheit als partielle Kausalität

Wir können davon ausgehen, dass es dem Handelnden freisteht, in kon-


kreten Situationen die Initiative zu ergreifen. Er kann sich für das Tun –
und damit gegen das Lassen – oder auch für das Lassen – und damit
gegen das Tun – entscheiden, und, wenn er sich für das Tun entscheidet,
kann er selbst bestimmen, wie er handeln soll. Es ist hier nicht der Ort,
auf die durch die Hirnforschung monierten Schwierigkeiten mit der
Willensfreiheit näher einzugehen. Die Experimente, die – im Anschluss
an frühere Forschungsergebnisse von Hans Kornhuber und Lüder De-
cke – zum ersten Mal von Benjamin Libet durchgeführt wurden, zogen
im letzten Jahrzehnt auch in Deutschland die Aufmerksamkeit von
Neurowissenschaftlern, Philosophen, Rechtsexperten und Humanwis-
senschaftlern auf sich. Es wurde eine Debatte über Hirnforschung und
Willensfreiheit sogar vor einer breiteren Öffentlichkeit (ursprünglich
in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) durchgeführt. 159 Nach dem

159
Siehe Christian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der
neuesten Experiemente, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

369
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Zeugnis der Libet-Experimente muss man zwar davon ausgehen, dass


sich das so genannte »Bereitschaftspotential« schon etwa 350 Milli-
sekunden vor der bewusst vollzogenen Entscheidung im Gehirn meldet,
aber der heute erreichte Stand der Diskussion dieses Versuchsergebnis-
ses lässt darauf schließen, dass diese Tatsache die Annahme der Willens-
freiheit für sich allein keineswegs widerlegt. Schon deshalb nicht, weil
sie sich etwa auch durch die Vorentscheidung der Versuchspersonen,
überhaupt am Experiment teilzunehmen und sich dabei auf die Verwen-
dung völlig ungewohnter Messgeräte einzustellen, erklären lässt. Das
ist der Standpunkt, den etwa Eliezer Sternberg in einer neueren Aus-
einandersetzung mit den Neurowissenschaften einnimmt. 160 Einen
ähnlichen Standpunkt hat aber auch schon Bettina Walde in der in
Deutschland geführten Debatte vertreten:
»Nahezu alle bisherigen empirischen Untersuchungen in diesem Bereich las-
sen sich so deuten, daß die im Hinblick auf die Willensentscheidungen maß-
gebliche Ausbildung der Handlungsabsicht schon im Zusammenhang mit der
Versuchsanweisung erfolgt – und nicht erst unmittelbar vor der Durchfüh-
rung der einzelnen fraglichen Handlung. […] Die Zeitangaben der Probanden
über das Auftreten ihrer Handlungsabsichten sind höchstwahrscheinlich nur
Angaben darüber, wann eine schon lange vorher – bei Einführung in den Ver-
suchsablauf – gebildete Intention handlungswirksam ist.« 161
Deshalb widersprechen wir allem Anschein nach keinem feststehenden
Forschungsergebnis der Naturwissenschaften damit, dass wir die Mög-
lichkeit von Handlungswahl, Entscheidung und Selbstbestimmung von
vornherein einräumen.
Wir wollen indes über die Beobachtung nachdenken, dass dem
Handelnden die Folgen der von ihm frei ergriffenen Initiative widerfah-
ren, ohne dass er über sie je ganz Herr werden könnte. Die folgenden
Betrachtungen lassen sich als Meditationen über diese grundlegende
Beobachtung auffassen. Sie betreffen daher weniger die Willensfreiheit
als vielmehr das, was wir hier als »Handlungsfreiheit« bezeichnen wol-
len.
Trifft die erwähnte Beobachtung zu, so ist der Handelnde niemals
der alleinige Urheber, sondern immer nur ein Miturheber seiner eige-
nen Taten. Seine Handlungen als Ereignisse in der Welt bewirken das

160
Eliezer J. Sternberg, My Brain Made Me Do It. The Rise of Neuroscience and the
Threat of Moral Responsibility, Amherst, N. Y.: Prometheus Books 2010, S. 84.
161 Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, S. 150.

370
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Übrige, indem sie Wirkungen zeitigen, die nicht in der ursprünglichen


Absicht des Handelnden lagen. Bestehen diese Behauptungen zu Recht,
so bestimmt sich die Freiheit als eine immer nur partielle Handlungs-
kausalität.
Bereits Paul Ricœur gelangt zu dieser Auffassung im Ausgang von
einer Analyse der aristotelischen Auffassung vom Willentlichen und
Unwillentlichen. Im dritten Buch der Nikomachischen Ethik geht Aris-
toteles auf eine besondere Konsequenz des menschlichen Tuns und
Lassens ein: Er untersucht die Rolle der Handlungsinitiativen in der
Entstehung der »festen Grundhaltungen« (ἕξειϚ), in denen die »Treff-
lichkeiten« und die »Formen der Minderwertigkeit« oder, mit anderen
Worten, die Tugenden und die Laster bestehen. Es geht dabei um eine
Handlungsfolge, die sich der Verfügungsgewalt des Handelnden zum
Teil entzieht; denn bei den festen Grundhaltungen sind wir, wie es im
Text der Nikomachischen Ethik heißt, »nur über den Anfang Herr«. 162
Es gilt gleichwohl zu sagen, dass wir doch »irgendwie Miturheber [συν-
αίτιοι] unserer Grundhaltung« sind. 163 Ricœur übersetzt den auf Pla-
ton zurückgehenden Ausdruck συναίτιοϚ, 164 den Aristoteles an dieser
Stelle aufgreift, nicht ohne Grund zunächst als »co-responsable« ins
Französische. 165 Nach der Nikomachischen Ethik ist die Miturheber-
schaft in der Tat durchaus hinreichend, uns zu Verantwortung und Re-
chenschaftsablegung zu verpflichten; wir waren ja immerhin ȟber den
Anfang Herr«, hatten also die Initiative in unseren Händen. Doch ver-
liert Ricœur die Tatsache, dass der griechische Terminus ein Ausdruck
für Ursächlichkeit oder kausale Urheberschaft ist, keineswegs aus den
Augen. Deshalb verwendet er ebenfalls Wendungen wie »partiellement
cause« 166 (zum Teil, teilhaftig oder anteilig Ursache) und »cause par-
tielle« 167 (partielle Ursache oder Mitursache) zur Übersetzung des Wor-
tes συναίτιοϚ. Dabei dehnt er das, was nach Aristoteles auf die Grund-
162
Aristoteles, Eth. Nic., hg. von Ingram Bywater, Oxford: Oxford University Press
1959, III 8, 1114 b 32–1115 a 1; dt. Nikomachische Ethik, übersetzt und kommentiert
von Franz Dirlmeier, Berlin: Akademie-Verlag 1979, S. 57.
163
A. a. O., 1114 b 23; dt. S. 57.
164
Vgl. Platon, Timaios, 46 c-e [Opera, hg. von John Burnet, Oxford: Clarendon Press
1972 (11902), 5 Bände, hier: Bd. IV]; dt. Timaios, übersetzt von Thomas Paulsen und
Rudolf Rehn, Stuttgart: Reclam 2003, S. 80. Für weitere Platon-Stellen siehe Dirlmeiers
Kommentar zur Stelle, Nikomachische Ethik, S. 336.
165
Paul Ricœur, Soi-même comme un autre, Paris: Seuil 1990, S. 115.
166
Ebd.
167 Ebd., S. 133.

371
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

haltungen im Gegensatz zu den Handlungen zutrifft, auf die Handlun-


gen selbst aus. Denn die Handlungsfreiheit ist zwar Ursache der absicht-
lichen Handlung, aber sie ist nur Mitursache der ganzen Handlung, in
die auch die unbeabsichtigten Handlungsfolgen eingegangen sind.
Der Begriff der partiellen Handlungskausalität macht deutlich,
dass sich unsere jeweilige Initiative während der Handlung notwendig
mit einem weiteren Wirkungsmechanismus verbindet, der nicht von
uns abhängig ist. Ohne eine »Komplizenschaft« mit der Wirklichkeit
einzugehen, können wir gar nicht handeln. Nichts spricht jedoch ein-
deutiger gegen die Annahme einer bloß intelligiblen, noumenalen Frei-
heitsidee als die Tatsache dieser Komplizenschaft mit der Wirklichkeit.
Denn es handelt sich um eine Verbindung mit einem Wirkungs-
mechanismus der Welt, die sich nicht als eine Parallelität zwei verschie-
dener Determinationslinien begreifen lässt. In dem Augenblick, in dem
wir eine Handlungsinitiative gerade ergreifen, liegt noch keine Paralle-
lität vor, da erst der schon begonnene Handlungsvollzug den Wir-
kungsmechanismen der Welt Anlass gibt, Handlungsfolgen zu bewir-
ken, die den Sinn und die Bedeutung der ursprünglichen Handlung
verändern. Sobald jedoch diese Wirkungsmechanismen in Gang gesetzt
worden sind, liegt keine Parallelität mehr vor, da sich nunmehr Vorgän-
ge abspielen, die in der ursprünglichen Handlungsinitiative nicht beab-
sichtigt, nicht intendiert waren. Handlungsinitiative und Wirkungs-
mechanismen der Welt greifen ineinander; folglich laufen sie nicht
parallel zueinander.
Um welche Wirkungsmechanismen der Welt handelt es sich dabei?
Es ist offenbar nicht allein die Naturkausalität, die in Betracht kommt,
sondern ebenso sehr auch das viel verwickeltere Ablaufsmuster ge-
schichtlich bestimmter Prozesse. Nicht zufällig weist Hegel gerade in
seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte mit besonde-
rem Nachdruck darauf hin, dass »in der unmittelbaren Handlung etwas
Weiteres liegen kann als in dem Willen und Bewußtsein des Täters«
und dass die Handlung oft »sich umkehrt gegen den, der sie vollbracht«
hat, ja, dass sie »ein Rückschlag gegen ihn« werden kann, der »ihn zer-
trümmert«. 168 Hier beschränken wir uns im Folgenden jedoch auf eine

168
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte
[Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 12],
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 43.

372
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Erörterung des Zusammenhangs zwischen freier Initiative und Natur-


kausalität.

c. Kausalzusammenhang und Handlungsteleologie

Man könnte leicht den Eindruck haben, Kants kompatibilistische Über-


zeugung von der Verträglichkeit der Spontaneität mit der Naturkausa-
lität stehe oder falle mit dem, was man – mit einem von Emil Lask
bevorzugten Terminus – als »Zweiweltentheorie« (oder auch »Zwei-
sphärentheorie«) bezeichnen kann. 169 In Wahrheit täuscht aber dieser
Eindruck. Es ist ein Verdienst von Nicolai Hartmann, dies erkannt zu
haben. 170 Der ursprünglich der Marburger Schule des Neukantianismus
nahe stehende Denker meint zwar, dass sich die Freiheit ohne »einander
überlagernde Typen der Determination« 171 in Unbestimmtheit und Ge-
setzlosigkeit auflösen müsste, aber er sieht zugleich deutlich, dass es
auch ohne Kants Annahme einer rein intelligiblen, noumenalen Frei-
heit derartige Determinationstypen geben kann. Deshalb sagt er: »Frei-
heit ist nur möglich, wo wenigstens zwei Typen der Determination in
einer Welt einander überlagern […].« 172
Hartmann schöpft wichtige Anregungen zur Herausbildung seiner
Freiheitsauffassung aus Hegels Wissenschaft der Logik. Von Hegel
stammt der Gedanke, dass die Freiheit dort beginnt, wo die Vernunft
die Naturkausalität in ihren Dienst stellt, indem sie ein Naturobjekt als
ein Mittel dazu verwendet, ihren eigenen Zweck zu verwirklichen. In
der Wissenschaft der Logik heißt es: »Dass der Zweck sich […] in die
mittelbare Beziehung mit dem Objekt setzt und zwischen sich und das-
selbe ein anderes Objekt einschiebt, kann als die List der Vernunft an-
gesehen werden.« 173 Die von Hegel hier erwähnte »List« besteht darin,
169
Siehe Emil Lask, Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre [Gesammelte
Schriften, Bd. II], hg. von Eugen Herrigel, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1923,
S. 5.
170
Zu Nicolai Hartmanns Freiheitsauffassung siehe vom Vf. auch den Aufsatz »Nicolai
Hartmanns Metaphysik der Freiheit«, in: Gerald Hartung, Matthias Wunsch et Claudius
Strube (Hg.), Von der Systemphilosophie zur systematischen Philosophie – Nicolai
Hartmann, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2012, S. 277–295.
171
Hartmann, Ethik, S. 600.
172
Ebd., S. 597.
173
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 452. Aus Hartmanns Hegel-Buch, das als zweiter
Band seines Werkes Die Philosophie des Deutschen Idealismus zum ersten Mal im Jahre

373
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

dass die Vernunft die Naturkausalität in eine zielgesteuerte Ablaufs-


bahn eintreten lässt, in der diese bereits dazu bestimmt – dazu determi-
niert – ist, zweckmäßig zu wirken. Damit werden tatsächlich zwei
Determinationstypen in einer Welt greifbar: einerseits die Naturkausa-
lität, andererseits die Vernunftteleologie der Handlung.
Wie hängen diese beiden Determinationstypen miteinander zu-
sammen? Die kategoriale Struktur der Handlungsteleologie, die als
»Finalnexus« bezeichnet werden kann, ist nach Hartmann durch eine
dreifache »Bindung zwischen Anfangs- und Endstadium« charakteri-
siert: »[…] erstens ist mit Überspringung des Zeitlaufs der Zweck vo-
raus bestimmt (vorgesetzt), zweitens ist rückläufig gegen den Zeitfluß
die Reihe der Mittel bestimmt, und drittens wird vom ersten Mittel aus
rechtläufig durch dieselbe Reihe der Zweck verwirklicht.« 174 Es ist nicht
schwer zu erkennen, dass die Reihe der Mittel in dem an dritter Stelle
genannten Verwirklichungsprozess als eine echte Kausalreihe fungiert.
Die Handlungsteleologie stützt sich immer auf Kausalzusammenhänge.
Sie kann nichts bewirken, was ein Kausalmechanismus nicht bewirken
kann. Aber sie gibt dem Kausalzusammenhang, ohne ihn in seiner in-
neren Beschaffenheit anzutasten, eine neue Ausrichtung, indem sie ihn
in den Dienst der Verwirklichung eines Zwecks stellt.
Zugleich drückt damit die Handlungsteleologie den kausalen Be-
dingungen, auf die sie sich stützt, das Merkmal einer notwendigen Zu-
sammengehörigkeit auf, das ihnen außerhalb des Finalnexus nicht zu-
kommt. Die der Kausalität eigentümliche »reale Notwendigkeit« ist,
wie bereits Hegel erkennt, »an sich auch Zufälligkeit«. 175 Auch Hart-
mann betont: »Vom Finalnexus aus gesehen ist im Kausalzusammen-
hang alles ›zufällig‹.« 176 Es handelt sich um eine Zufälligkeit, die damit
zusammenhängt, dass die Kausalreihe »an kein bestimmtes Endstadi-
um gebunden« ist. 177 Der Kausalnexus setzt jeweils eine ganze Totalität

1929 erschienen ist, geht der Zusammenhang zwischen Hegels Auffassung von der Te-
leologie und Hartmanns Freiheitsbegriff deutlich hervor: »In der Lehre von der ›List der
Vernunft‹ spricht sich ein grundlegendes Seinsgesetz aus, welches man als Gesetz der
Überlegenheit oder ›Freiheit‹ jedes höheren Gebildes gegen das niedere bezeichnen
kann.« (Nicolai Hartmann, Die Philosophie des Deutschen Idealismus, Berlin: Walter
de Gruyter 21960 [11923–1929], S. 474).
174
Hartmann, Ethik, S. 602.
175
Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 212.
176
Hartmann, Ethik, S. 609.
177 Ebd., S. 601.

374
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

von Bedingungen voraus. »Aber diese Totalität« – so Hartmann – »ist


niemals eine absolut geschlossene, sie widersetzt sich nicht dem Hin-
zukommen neuer Bestimmungsstücke – wenn es solche gibt –; und der
Prozeß wird durch solches Hinzukommen nicht unterbrochen, sondern
nur abgelenkt.« 178
Diese Ablenkbarkeit der Kausalreihen ist der Grund dafür, dass die
Handlungsteleologie überhaupt Eingriffs- und Anhaltspunkte in der
mit Ursachenketten voll durchsetzten Natur finden kann. Sie erklärt
also, wie Naturkausalität und Handlungsteleologie in einer Welt zu-
sammen bestehen können. Sie können nach dieser Erklärung nur des-
halb zusammen bestehen, weil sie sich miteinander verschränken.
Ihre Verschränkung ändert allerdings nichts daran, dass es sich um
zwei heterogene Determinationstypen handelt. Das Phänomen unbe-
absichtigter Handlungsfolgen zeigt, wie die Naturkausalität der hand-
lungsteleologischen Verfügungsgewalt und Steuerungsmacht ebendes-
halb immer wieder entgleiten kann. Die Naturkausalität kommt den
freien Initiativen nicht selten ins Gehege.
Gerade die Möglichkeit derartiger Konflikte spricht aber am ein-
deutigsten dafür, dass die Handlungsteleologie als eine Erfahrungskate-
gorie verstanden werden kann, die – ähnlich wie andere Experientialien
– eine Einstimmigkeitstendenz ausdrückt. Die Tatsache des Widerstreits
zwischen den beiden Determinationstypen widerspricht dieser Auffas-
sung so wenig, dass sie ihr gerade erst überhaupt den Boden sichert.
Denn wo es nur eine Tendenz zur Einstimmigkeit gibt, dort gibt es
selbstverständlich immer auch Widerstreit.

d. Handlungsfreiheit als Freiheit des Für und Wider

In der neuzeitlichen Philosophie wurde die Handlungsteleologie aller-


dings nicht selten auf die Naturkausalität reduziert. Einen sinnbild-
lichen Ausdruck dieser reduktiven Tendenz finden wir in Spinozas
Ethik. Hier geht es um den Nachweis, »daß alle Zweckursachen nichts
als menschliche Einbildungen sind«. 179 Spinoza fügt hinzu: »Die Ur-
sache, die man Zweckursache nennt, ist nichts anderes als der mensch-

178
Ebd., S. 591.
179 Spinoza, Die Ethik, Erster Teil, Anhang, S. 99.

375
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

liche Trieb selbst […]«. 180 Damit wird die Zweckursache (causa finalis)
nicht nur, wie schon bei Descartes, von der Naturforschung aus-
geschlossen, sondern auch im Falle menschlichen Handelns auf eine
wirkende Naturursache (nämlich auf den – von der durch Bewusstsein
begleiteten Begierde unterschiedenen 181 – Trieb) reduziert. Dieser re-
duktiven Tendenz tritt Kant entgegen, indem er die Heterogenität der
beiden Determinationstypen durch einen Hinweis auf den Unterschied
von Sein und Sollen zu begründen sucht.
Es heißt in der Kritik der reinen Vernunft: »Das Sollen drückt eine
Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der
ganzen Natur sonst nicht vorkommt.« 182 Nach dem Zeugnis dieser
Textstelle erkennt Kant im Sollen in der Tat den Träger einer besonde-
ren »Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit den Gründen« und
damit eines von der Naturkausalität verschiedenen, ihr ungleichartigen,
ihr gegenüber heterogenen Determinationstyps. Wir müssen deutlich
sehen, dass er mit Sollensdetermination nicht allein die Bestimmung
der Handlung durch moralische Pflichtvorstellungen meint. In der
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten sagt er ja ausdrücklich: »Alle
Imperativen werden durch ein Sollen ausgedrückt […].« 183 Dieser Satz
bezieht sich ebenso auf die »hypothetischen« Imperative wie auf den
»kategorischen« Imperativ; 184 er betrifft also gleichermaßen die »Re-
geln der Geschicklichkeit«, die »Rathschläge der Klugheit« und die
»Gebote (Gesetze) der Sittlichkeit«. 185 Er umfasst also alle Arten der
Handlungsteleologie, die Kant voneinander unterscheidet.
Heute sehen wir allerdings deutlich, zu welchen Schwierigkeiten
dieser Sollensbegriff in der Verhältnisbestimmung von Freiheit und
Naturkausalität führt. Nach Kant nimmt die Notwendigkeit und Ver-
knüpfung mit Gründen bei einem endlichen Wesen wie dem Menschen,
bei dem »die Handlungen, die objektiv als nothwendig erkannt werden,
subjektiv zufällig« sind, 186 zwangsläufig die Gestalt einer bloßen »Nö-

180
Ebd., Vierter Teil, Vorwort, S. 439.
181
Ebd., Dritter Teil, Lehrsatz 9, Anmerkung: »Die Begierde [cupiditas] ist ein Trieb
[appetitus] mit dem Bewußtsein desselben.«
182
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 547.
183 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [Gesammelte Schriften, Akademie-

Ausgabe, Bd. IV], S. 413.


184
Ebd., S. 414.
185
Ebd., S. 416.
186 Ebd., S. 413.

376
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

thigung« an, die der vernunftgeleitete Wille auf die Sinnlichkeit des
Handelnden ausübt. 187 Damit ist ein Grundansatz bestimmt, der zur
Folge hat, dass der Mensch von vornherein in ein Kontrastverhältnis
mit einem Wesen gebracht wird, bei dem »die Vernunft den Willen
unausbleiblich bestimmt«. 188 Im Ausgang von dieser vollkommen ver-
nunftgemäßen Willensbestimmung kann aber die Freiheit des end-
lichen vernünftigen Wesens »Mensch« nur noch auf privative Weise
bestimmt werden. Es entsteht der Eindruck, als mache sich die Sollens-
determination bei einem reinen Vernunftwesen – genauso wie die Na-
turkausalität – als ein streng gesetzmäßiger Ablauf geltend, nur dass sie
bei dem Menschen auf den Widerstand sinnlicher Antriebe stoße und
deshalb die abgeschwächte Wirkungsform einer bloßen Nötigung an-
nehme.
Aus dieser privativen Zugangsweise erwächst eine Lehre von der
Sollensnötigung, die nur die Freiheit im Sinne einer Selbstgesetz-
gebung der allgemeinen Vernunft, nicht aber die persönliche Freiheit
des Einzelmenschen zu erfassen und zu begründen vermag. Eine wei-
tere Konsequenz des privativen Verfahrens ergibt sich daraus, dass der
Wille bei einem reinen Vernunftwesen »ein Vermögen [ist], nur dasje-
nige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als
praktisch nothwendig, d. i. als gut, erkennt.« 189 Ist nun der Mensch nur
in dem Maße frei, in dem er selbst ein vernünftiges Wesen ist, so kann
auch seiner Freiheit nur in der Entstehung des Guten eine Rolle zuge-
wiesen werden, nicht aber in der Entstehung des Bösen. Mit der letzte-
ren Konsequenz ringt bereits Kant in seiner Abhandlung über das Ra-
dikalböse, die als erster Teil seines Alterswerks Die Religion innerhalb
der Grenzen der bloßen Vernunft bekannt geworden ist. Im Anschluss
an diese Abhandlung tritt dann Schelling in seinen Untersuchungen
über das Wesen der menschlichen Freiheit gegen die genannte Kon-
sequenz auf, indem er ausdrücklich »ein Vermögen des Guten und des
Bösen« 190 zur Sprache bringt. Gegen die erstere Konsequenz werden

187
Ebd.
188
Ebd., S. 412.
189
Ebd.
190 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, in:

Sämmtliche Werke, hg. von Karl Friedrich August Schelling, Stuttgart/Augsburg: Cotta
1856–1861, Bd. VII, S. 352. Die Seitenzahlen dieser Ausgabe sind in den heute gebräuch-
licheren Ausgaben von Horst Fuhrmanns (Stuttgart: Reclam 1964) und von Thomas
Buchheim (Hamburg: Meiner 1997) ebenfalls angegeben.

377
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

etwa ein Jahrhundert später Denker wie Max Scheler, Edmund Husserl
und Nicolai Hartmann ihren (je anders verstandenen) ethischen Per-
sonalismus ins Feld führen.
Hartmann wird dabei im Anschluss an Hegel auch noch eine dritte
Konsequenz von Kants universalistisch geprägtem Rationalismus an-
greifen. Nach Kant »ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlich-
keiten gar nicht denkbar«: obligationes non colliduntur. 191 Im Gegen-
satz dazu richtete Hegel bereits in seinem Naturrechtsaufsatz von 1804
auf eine »Tragödie im Sittlichen« sein Augenmerk. 192 Auch später ver-
lor er das Phänomen einer Pflichtenkollision keineswegs aus den Au-
gen. 193 Hartmann schlägt sich in dieser Streitfrage auf Hegels Seite. In
seiner Ethik wird geradezu ein »unverwischbarer Sollenskonflikt« zum
Thema. 194 Diese veränderte Stellungnahme zur Möglichkeit einander
widerstreitender Verbindlichkeiten leitet Hartmann letztlich dazu hin,
der Selbstbestimmung des Willens »den Sinn einer Entscheidung« 195
zuzuschreiben und die nunmehr betonterweise persönliche Freiheit
des Einzelmenschen als eine »Freiheit des Für und Wider« 196, als ein
»Für-und-wider-Können« 197 und damit als eine echte »Wahlfreiheit« 198
zu begreifen.
Von Kants ursprünglichem Ansatz sind wir damit zwar weit, aber
in einer bestimmten Hinsicht vielleicht doch nicht weit genug entfernt.
Denn ähnlich wie Kant gleicht auch Hartmann die Sollensdeterminati-
on insofern der Naturkausalität an, als er in ihr eine strenge Gesetzlich-
keit zu entdecken sucht. So sagt er: »Das Verdienst Kants besteht […]
darin, gezeigt zu haben, daß der wahre Sinn der ethischen Freiheit nicht
der einer negativen Wahlfreiheit ist, sondern positive Freiheit unter
einer Gesetzlichkeit sui generis, die der Kausalität autonom gegenüber-

191
Kant, Metaphysik der Sitten, S. 224.
192
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ȇber die verschiedenen Behandlungsarten des Na-
turrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positi-
ven Rechtswissenschaften«, in: Jenaer Schriften [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva
Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. II], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970,
S. 434–530, hier: S. 495 f.
193
Siehe z. B. Hegel, Phänomenologie des Geistes [Werke in zwanzig Bänden, hg. von
Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III], S. 343 f.
194 Hartmann, Ethik, S. 684.

195
Ebd., S. 708.
196
Ebd., S. 626; vgl. ebd., S. 708–713.
197
Ebd., S. 709.
198 Ebd., S. 710.

378
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

tritt und sich dennoch ihrem die reale Welt beherrschenden Gefüge
einfügt, ohne es dabei zu zerreißen.« 199 Allerdings erkennt Hartmann
deutlich, dass die Sollensforderungen dieser Erwartung für sich allein
nicht entsprechen können. Denn von ihnen allein »geht überhaupt kein
Determinismus aus«; vielmehr besteht unter ihnen »ein deutlicher In-
determinismus«. 200 Deshalb fasst Hartmann diese Forderungen als Sol-
lenstendenzen auf, die zwar eine Ausrichtung auf die Bestimmung des
Willens zeigen, aber nur dann ans Ziel kommen, wenn die persönliche
Freiheit ihnen in ihrer Selbstbestimmung von sich aus einen Platz ein-
räumt. Demnach sind die Sollensforderungen letztlich doch auf eine
persönliche Freiheit angewiesen, die unabhängig von ihnen darüber
entscheidet, ob sie sich durch sie leiten lässt oder nicht. Mit dieser Auf-
fassung kehrt Hartmann zum Gedanken einer Wahlfreiheit zurück, die
zwar gewiss nicht identisch mit dem aus Descartes’ Meditationen über
die Erste Philosophie bekannten liberum arbitrium indifferentiae ist,
aber vor dem Hintergrund der gerade angeführten Einverständniserklä-
rung mit Kants Ablehnung der negativen Wahlfreiheit doch alles an-
dere als selbstverständlich ist. Die von Hartmann ins Auge gefasste
Freiheit des Für und Wider kann der Unbestimmtheit und der Gesetz-
losigkeit sicherlich nicht bezichtigt werden, weil sie im Augenblick der
getroffenen Entscheidung ein Komplementärverhältnis mit der jeweils
bevorzugten Sollensforderung eingeht und so zu voller Bestimmtheit
und Entschiedenheit gelangt. Gleichwohl bleibt sie selbst in Hartmanns
eigenen Augen durch eine unaufhebbare Spannung charakterisiert, weil
sie einerseits auf Sollensforderungen als nichtkausale Determinanten
angewiesen ist, andererseits aber dennoch als eine »Potenz der Person,
der Sollensforderung auch ablehnend entgegenzutreten«, auftritt. 201
Aus dieser Spannung wird in der Ethik geradezu eine Antinomie – die
so genannte »Sollensantinomie« – abgeleitet, die Hartmann allerdings
für auflösbar erklärt.
Näher besehen rührt aber diese Schwierigkeit daher, dass selbst
Hartmann noch die Sollensdetermination in eine Parallele zur Natur-
kausalität zu bringen sucht. Wie Kant versteht er sie als einen streng
gesetzmäßigen Ablauf, der »unausbleiblich« den Willen bestimmt. Er
weicht von der kantischen Vorlage nur darin ab, dass er diese unaus-

199
Ebd., S. 596.
200
Ebd., S. 701; vgl. S. 711: »Indeterminismus der Werte«.
201 Ebd., S. 704 f.

379
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

bleibliche Willensbestimmung erst von einem Zusammenwirken zwi-


schen Wahlfreiheit und Sollensforderung erwartet, ohne sie der Sol-
lensforderung für sich allein zuzumuten. Diese Abweichung ändert
aber nichts daran, dass die Sollensdetermination auch in seinen Augen
eine »Gesetzlichkeit sui generis« zur Grundlage hat, die in eine Parallele
zur Naturgesetzlichkeit gebracht werden kann.
Gerade diese Voraussetzung ist aber fragwürdig. In Wahrheit ha-
ben die Sollensforderungen, zumindest solange sie nicht in einem
Rechtssystem an Sanktionen gebunden werden, den Charakter von An-
sprüchen, auf die wir antworten. Der Terminus »Anspruch« (oder
»Aufruf«, im Französischen: appel), der sich – nach einer Vorgeschichte
bei Heidegger – im Gefolge von Levinas in der phänomenologisch an-
gelegten Ethik unserer Zeit eingebürgert hat, weist gegenüber dem mo-
ralphilosophischen Pflichtbegriff den deutlichen Vorteil auf, eine Ver-
bindlichkeit – also, zumindest in erweitertem Sinne, ein Sollen – ohne
die Vorstellung von Nötigung oder Zwang auszudrücken. Auf einen
Anspruch oder einen Aufruf antwortet man, ohne ihm wie einem Be-
fehl zu gehorchen oder sich ihm wie einem Gesetz zu unterwerfen. Von
einem »Sollensanspruch« kann ebendeshalb die falsche Vorstellung
eines Kräfteverhältnisses zwischen Vernunft und Sinnlichkeit fern-
gehalten werden. Denn die Zusammengehörigkeit von Anspruch und
Antwort beruht auf keinem Kräfteverhältnis, sondern eben nur auf
einem Sinnzusammenhang.
Erst wenn wir auf die Forderung einer Parallele zwischen Natur-
kausalität und Sollensdetermination verzichten, können wir deutlich
machen, worin sich die Sollensdetermination vom kausalen Determina-
tionstyp eigentlich unterscheidet. Die kausale Determination basiert
jeweils auf einem Kräfteverhältnis; dagegen gründet sich die Sollens-
determination auf den Sinnzusammenhang von Anspruch und Ant-
wort. Gewiss ist die Antwort diesem Sinnzusammenhang zufolge durch
eine Unausweichlichkeit charakterisiert. Man kann auf einen Anspruch,
wie Bernhard Waldenfels mit Recht behauptet, »nicht nicht antwor-
ten«; 202 denn keine Antwort ist auch eine Antwort. Gerade deshalb
kommt hier überhaupt »eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung
mit Gründen« in Betracht; gerade deshalb kann also von Determination
die Rede sein. Aber es handelt sich um eine Determination eigener Art,
die sich vom Determinationstyp der Naturkausalität grundsätzlich un-

202 Bernhard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 357.

380
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

terscheidet. Trotz aller Unausweichlichkeit steht es ja dem Handelnden


frei, so oder auch so zu antworten.
Man muss begreifen, dass dieses So-oder-auch-so keine Unbe-
stimmtheit oder mangelhafte Bestimmung des Willens, sondern viel-
mehr das Ergebnis einer vollständigen Willensbestimmung durch Sol-
lensansprüche ausdrückt. Es gehört zur Determinationsweise der
Sollensansprüche, verschiedene Möglichkeiten offen zu lassen – oder
vielmehr allererst zu eröffnen. Denn die Sollensansprüche geben zu
antworten, indem sie ein derartiges So-oder-auch-so freigeben. Erst
durch die Freigabe offener Handlungsalternativen machen sie das Han-
deln überhaupt möglich.
Trotz der Tatsache, dass er sich von der kantischen Parallelitätsvor-
stellung nicht ganz freimachen kann, sieht Hartmann deutlich, dass
einem »unverwischbaren Sollenskonflikt« gerade deshalb eine grund-
legende Bedeutung für das Handeln zukommt, weil erst mit ihm »die
offene Alternative« zugänglich wird, 203 ohne die der Wille zu seiner
Selbstbestimmung nicht den nötigen »Spielraum« haben könnte. 204
Der Spielraum des Handelns ist in der Tat ein Raum offener Alternati-
ven. Aber die Handlungsmöglichkeiten, die zu diesem Raum gehören,
sind keine gleichgültigen Möglichkeiten. Sie bedrängen vielmehr den
Handelnden, sie legen ihm nahe, sie zu ergreifen, sie rufen ihn dazu auf.
Sie erheben damit einen Anspruch darauf, seinen Willen zu bestimmen.
Aber sie geraten dabei miteinander in einen Widerstreit. Im Spielraum
offener Alternativen sieht sich der Handelnde in der Tat stets mit einem
»Widerstreit simultaner Ansprüche« 205 konfrontiert. So hat dieser
Spielraum letztlich nichts Spielerisches. Denn auf dem »Spiel« steht
jeweils die Entscheidung eines Anspruchskonflikts, der schon dadurch
Ernst gebietet, dass er dem Handelnden eine Antwort abverlangt, der
aber dadurch vielleicht nur noch mehr Ernst verdient, dass er ihm zu-
gleich zu antworten gibt.
Die Freiheit des Für und Wider ist demnach ein Vermögen, zu
einem Widerstreit simultaner Ansprüche Stellung zu nehmen und da-
mit einen Anspruchskonflikt zu entscheiden. Dieses Vermögen ist nicht
deshalb keine negative Wahlfreiheit, weil sie im Augenblick der getrof-
fenen Entscheidung ein Komplementaritätsverhältnis mit dem jeweils

203
Hartmann, Ethik, S. 712 f.
204
Ebd., S. 713.
205 Waldenfels, Antwortregister, S. 356; vgl. S. 582.

381
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

bevorzugten Sollensforderung eingeht und so zu voller Bestimmtheit


und Entschiedenheit gelangt. Diese Deutung bleibt der Parallelitätsvor-
stellung von den beiden Determinationstypen verhaftet. Außerdem
vermag sie den dezisionistischen Grundzug eines liberum arbitrium
indifferentiae nicht zu verwischen. Ist dagegen die persönliche Freiheit
des Einzelmenschen von vornherein in einem konfliktbeladenen An-
spruchsfeld angesiedelt, so kann weder von Indifferenz noch von Dezi-
sionismus die Rede sein, da die einander widerstreitenden Ansprüche
auf keine mehr oder weniger zufällige Willensentscheidung – also auf
keine Willkür – angewiesen sind, um dazu zu gelangen, auf den Han-
delnden Einfluss zu nehmen, weil sie ihn vielmehr von vornherein be-
drängen und ihm zugleich von sich aus auch schon zu antworten geben.

e. Die Handlungsfreiheit als Mitursache und


als Grund des Grundes

Merkwürdigerweise sah Kant keine Schwierigkeit darin, dass unsere


absichtlichen Handlungen oft unbeabsichtigte Folgen nach sich ziehen.
Er begnügte sich damit, diese Folgen durch die Naturkausalität zu er-
klären und die Kausalität aus Freiheit auf die Sphäre einer reinen Ge-
sinnungsethik zu beschränken. Dieser Versuch führte aber zumindest
in einer seiner Schriften, nämlich im kleinen Aufsatz »Über ein ver-
meintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen«, 206 zu umstrittenen Ergeb-
nissen. Konnte man denn in dem Wahrhaftigen dieser Schrift, der nicht
einmal dem Verfolger seines Freundes – einem Mörder – vorenthält,
dass der Verfolgte bei ihm Zuflucht gefunden hat und sich auch jetzt
noch in seinem Haus befindet, in dem Wahrhaftigen also, der die Lüge
ohne Zugeständnisse an die »Menschenliebe« verschmäht, nicht etwa
einen Antwortverweigerer aus »Achtung fürs Gesetz« sehen? 207
Wie wir jedoch auch immer diese Frage entscheiden mögen, es
bleibt ein aussichtsloses Unterfangen, die Kausalität aus Freiheit auf
die Sphäre einer reinen Gesinnungsethik zu beschränken, und zwar
aus demselben Grunde, aus dem jeder Versuch, die ungewollten Hand-
lungsfolgen von der ursprünglichen Handlung abzusondern, zum

206
Immanuel Kant, Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen, Akademie-
Ausgabe, Bd. VIII, Berlin und Leipzig: W. de Gruyter 1923, S. 423–430.
207 Vgl. vom Vf. Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, S. 364.

382
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Scheitern verurteilt ist. Die ungewollten Handlungsfolgen lassen sich


aber deshalb nicht von der ursprünglichen Handlung absondern, weil
sie – im Gegensatz zu den kausalen Folgen der Naturbegebenheiten –
immer dazu verwendet werden können, die ursprüngliche Handlung
neu zu beschreiben, sie auch noch als eine andere Handlung zu charak-
terisieren, sie etwa, um zum Beispiel von Oidipus zurückzukehren,
nicht einfach als Vergeltung einer Beleidigung, sondern ebenfalls als
Vatermord zu kennzeichnen. Da die neue Beschreibung nicht auf eine
neue Handlung verweist, sondern nur eine neue Beschreibung der ur-
sprünglichen Handlung darstellt, lässt sie die Kausalität aus Freiheit
selbst dann nicht unbetroffen, wenn sie sich aus einem unglücklichen
Zusammenspiel der Umstände und damit letztlich aus einer blinden
Wirkung der Naturkausalität ergibt.
Das ist ein Grund, der eindeutig dafür spricht, selbst noch der Frei-
heit des Für und Wider, so wie sie in einem konfliktbeladenen An-
spruchsfeld angesiedelt ist, eine bloße Miturheberschaft der Handlung
und damit eine lediglich partielle Kausalität zuzuschreiben. Es erhebt
sich allerdings sogleich die Frage, in welchem Sinne eine bloße Mit-
urheberschaft und eine nur partielle Kausalität überhaupt »Freiheit«
genannt werden kann.
Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir mit der – in
der Philosophie besonders von Hobbes und Spinoza vertretenen – An-
sicht brechen, die die Freiheit mit Macht und Herrschaft gleichsetzt
(oder vielmehr vermengt). Gewiss können Macht und Herrschaft die
Freiheit erhöhen, aber sie können sie auch verringern – und sogar er-
niedrigen. Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass die Freiheit zwar
ein Vermögen, aber keine Macht oder Herrschaft ist; im Englischen
könnte man auf sie vielleicht den vieldeutigen Ausdruck power of man
in einem bestimmten Sinne anwenden, aber auf Französisch könnte
man sie kaum als pouvoir, sondern eher nur als puissance bezeichnen.
Die als puissance verstandene Freiheit wird jedoch durch die Beobach-
tung, dass wir zwar immer Herr über den Anfang unserer jeweiligen
Handlung sind, aber nicht immer Herr über die ganze Handlung blei-
ben, noch bei Weitem nicht außer Kraft gesetzt.
Als welches Vermögen kann aber die Freiheit unter derartigen
Umständen bestimmt werden? Wir können an der kantischen Bestim-
mung dieses Vermögens als »Selbstanfangenkönnen« wohl auch dann
noch festhalten, wenn wir die Freiheit nicht mehr als eine intelligible
Ursache in einer gesonderten Welt gelten lassen, sondern sie als eine

383
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Mitursache in der einen Welt bestimmen. Aber in diesem Falle ist es


uns nicht mehr gegeben, sie als ein Vermögen zu verstehen, das – wie
bei Kant – »keinen Zeitunterschied anerkennt«. 208 Vielmehr müssen
wir sie als ein Vermögen auffassen, das zeitlich bestimmt ist.
Ein Weg, der uns zu einer derartigen Auffassung führen kann,
geht von der Beobachtung aus, dass wir zwar nicht immer über unsere
ganze Handlung Herr bleiben, aber innerhalb gewisser Grenzen durch-
aus das Vermögen bewahren können, auf die Erfahrung ungewollt auf-
kommender Handlungsfolgen zu reagieren. Es steht uns oft frei, den
ursprünglichen Handlungsplan berichtigend abzuändern oder ihn sogar
von Grund auf zu verwandeln. Dieses Vermögen, in ein Handlungs-
geschehen, über das wir nicht Herr bleiben können, gleichwohl erneut
einzugreifen, gehört wesenhaft zu unserer Idee von Selbstanfangen-
können. Wir meinen mit dieser Idee eigentlich von vornherein ein
immer wieder erneuertes Selbstanfangenkönnen.
Verstehen wir die wiederholte Erneuerung unseres Selbstanfan-
genkönnens als einen Vorgang, der sich voll und ganz in der Zeit ab-
spielt, so machen wir uns von der Freiheit ein Bild, das harmloser aus-
sieht, als es ist. Mit diesem Bild gelangt unser Gedankengang in
Wahrheit zu einem entscheidenden Wendepunkt.
Denn das Vermögen, in ein Handlungsgeschehen, über das wir
nicht Herr bleiben können, gleichwohl erneut einzugreifen, setzt wei-
tere Vermögen voraus, die keineswegs gleichgültig für unsere Vorstel-
lung von der Freiheit sind, die aber in unserem bisherigen Gedanken-
gang weitgehend unbeachtet blieben. Um unseren ursprünglichen
Handlungsplan berichtigend abändern oder sogar von Grund auf ver-
wandeln zu können, müssen wir das Vermögen haben, von der Deter-
minationslinie der uns gerade leitenden Handlungsteleologie abzuwei-
chen und in eine neue Bahn einzulenken. Um damit auf die Erfahrung
ungewollt aufkommender Handlungsfolgen reagieren zu können, müs-
sen wir darüber hinaus auch noch das Vermögen besitzen, auf einen
rein kausal bestimmten Determinationsstrang für sich einzugehen und
ihm Anhaltspunkte für eine Umwandlung der uns gerade leitenden
Handlungsteleologie abzugewinnen. Das sind Fähigkeiten, die auf einen
tiefer liegenden Sinn von Freiheit hindeuten. Nur ein Wesen, das nicht
nur überhaupt handeln kann, sondern von der es gerade leitenden
Handlungsteleologie auch Abstand zu nehmen und sich auf die dieser

208 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 99.

384
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

Handlungsteleologie gelegentlich in die Quere kommende Naturkausa-


lität für sich einzulassen vermag, kennt überhaupt so etwas wie Natur-
kausalität und Handlungsteleologie. Diese Einsicht deutet darauf hin,
dass wir die Freiheit auch als eine Offenheit für Gründungszusammen-
hänge in der Welt überhaupt verstehen können.
Diese Vertiefungsmöglichkeit philosophischer Freiheitserörterung
wurde zum ersten Mal von Martin Heidegger in seiner metaphysischen
Periode ergriffen. In der Leibniz-Vorlesung von 1928 und in dem ein
Jahr später veröffentlichten Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« gab sie
dazu Anlass, die Freiheit als »Freiheit zum Grunde« und als »Grund des
Grundes« zu bestimmen. 209
In diesen Texten tritt uns der Mensch als »der nach dem Warum
Fragende« – oder auch schlichtweg als »der Warum-Frager« – ent-
gegen, 210 der nach Gründen sucht, Gründe erforscht, Gründe für seine
Entscheidungen anführt und Gründungszusammenhängen in der Welt
nachgeht. Heidegger ist darum bemüht, eine Mannigfaltigkeit verschie-
dener Gründungszusammenhänge im Auge zu behalten. Deshalb un-
terscheidet er – im Anschluss an Aristoteles, 211 aber auch an Schopen-
hauers Abhandlung Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom
zureichenden Grunde 212 anknüpfend – von vornherein vier Bedeutun-
gen des Wortes »Grund«: Ursache (Werdensgrund), Wesen (Seins-
grund), Argument (Erkenntnisgrund) und Motiv (Handlungsgrund). 213
Im Aufsatz »Vom Wesen des Grundes« hält er zugleich drei verschie-
dene Bedeutungen des substantivierten Verbs »Gründen« auseinander:
»Stiften«, »Bodennehmen« und »Begründen«. 214 Mit »Stiften« ist hier
ein »Weltentwurf« gemeint, dem »Bodennehmen« entspricht die »Ein-
genommenheit im Seienden«, und unter dem Namen »Begründen«
wird »die ontologische Begründung des Seienden« in ihren verschiede-

209
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 277, und »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamt-
ausgabe, Bd. 9], S. 174 f.
210
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 280.
211
Aristoteles, Metaphysik, Δ 1, 1013 a 17–23.
212
Schopenhauer, Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
[Sämmtliche Werke, Bd. I].
213
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 137.
214
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 165.

385
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

nen Formen (wie Begründung durch Ursachen, Wesensergründung,


Begründung durch logisch durchgearbeitete und geprüfte Argumente
aller Art sowie Handlungserklärung durch Motivationsgründe) zusam-
mengefasst. 215 Mit der dreifachen Gliederung der Gründungszusam-
menhänge verfolgt Heidegger sicherlich mehrere Zwecke, aber in erster
Linie geht es ihm dabei doch wohl um den Nachweis, dass zu einer
Begründung – im Sinne einer »Ermöglichung der Warumfrage über-
haupt« 216 – immer nur im Rahmen eines Weltentwurfs und lediglich im
Ausgang vom jeweiligen In-der-Welt-sein als faktischer Eingenom-
menheit im Seienden kommen kann.
Diese Feststellung macht deutlich, in welchem Sinne die Freiheit
als der »Grund des Grundes« – das heißt als der Grund aller Grün-
dungszusammenhänge in der Welt – bezeichnet werden kann. Der Frei-
heit wird damit keineswegs etwa das Vermögen zugeschrieben, dem
Menschen zu einem Status als maître et possesseur de la nature zu
verhelfen. Die Freiheit enthüllt sich vielmehr in demselben Sinne als
der Grund aller Gründungszusammenhänge, in dem sie dem Menschen
– im Gegensatz zu den Tieren – einen weltbildenden Charakter verleiht.
Weltbildend ist der Mensch nur deshalb, weil er trotz seiner Eingenom-
menheit im Seienden über das Seiende hinausgehen, es überschreiten
oder übersteigen kann. Deshalb bestimmt Heidegger die Freiheit in sei-
ner metaphysischen Periode als »Transzendenz«. An einer Stelle gibt er
dieser Bestimmung durch das in philosophischen Texten selten ge-
brauchte Ausrufezeichen sogar einen besonderen Nachdruck: »Trans-
zendenz des Daseins und Freiheit sind identisch!« 217 Mit Transzendenz
meint er jedoch keinen Überstieg über die Welt hinaus zu irgendeinem
»Jenseits«, zu irgendeiner »Hinterwelt« hin. Daran erinnert der Satz:
»Wohin das Subjekt transzendiert, ist das, was wir Welt nennen.« 218
Deshalb gehört aber zum Sinn der als Transzendenz bestimmten Frei-
heit von vornherein ein Rückgang auf das Seiende in der Welt, ja es
gehört zu ihm sogar eine »ursprüngliche Bindung«, 219 und zwar letzt-
lich im Sinne eines »Sichbindenlassens« durch »das Seiende, wie es

215
Ebd., S. 166–168.
216 Ebd., S. 168.
217
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 238.
218
Ebd., S. 212.
219 Ebd., S. 241.

386
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

ist«. 220 Bei einem Wesen, das in seinem In-der-Welt-sein inmitten des
Seienden existiert und durch eine Eingenommenheit im Seienden ge-
kennzeichnet ist, verbindet sich die Transzendenz zur Welt daher not-
wendig mit einem »Offensein für das Seiende«. 221 Von hier aus führt
bereits ein unmittelbarer Weg dazu, die Freiheit als »das Seinlassen des
Seienden« zu bestimmen. 222 Nur in ihrer Verbindung mit diesem Of-
fensein für das Seiende kann die Freiheit als Transzendenz der Grund
aller Gründungszusammenhänge genannt werden.
Heidegger betont, dass damit Freiheit nicht mehr einfach als Spon-
taneität verstanden wird. 223 Aber es liegt ihm fern, auf das Selbstanfan-
genkönnen als Bestimmung der Freiheit völlig verzichten zu wollen.
Was er zeigen will, ist nur, dass die Spontaneität in der als Transzendenz
verstandenen Freiheit gründet: »Nur weil diese [die Freiheit] die Trans-
zendenz ausmacht, kann sie sich im existierenden Dasein als eine aus-
gezeichnete Art der Kausalität bekunden.« 224
Wir müssen diesen Zusammenhang zwischen Spontaneität und
Transzendenz im Auge behalten, um Heideggers Auseinandersetzung
mit Kant in seiner Vorlesung Vom Wesen der menschlichen Freiheit
richtig zu verstehen. In dieser Vorlesung wird die grundlegende Frage
gestellt: »Ist Freiheit ein Problem der Kausalität, oder ist Kausalität ein
Problem der Freiheit?« 225 Diese Umkehrformel täuscht jedoch eine grö-
ßere Entfernung zwischen Kant und Heidegger vor, als tatsächlich be-
steht. In Wahrheit will Heidegger die Bestimmung der Freiheit als
Spontaneität durch den Begriff der Transzendenz eher neu begründen
als ersetzen. Er knüpft durchaus positiv an den »kosmologischen« Cha-

220 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-

samtausgabe, Bd. 29/30], S. 496.


221
Ebd.
222
Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 194. Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leib-
niz [Gesamtausgabe, Bd. 26], S. 279: »[…] das Seiende selbst das sein lassen, was und
wie es ist«.
223
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 247 f.
224 Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],

S. 164.
225
Martin Heidegger, Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philoso-
phie [Gesamtausgabe, Bd. 31], Freiburger Vorlesung, Sommersemester 1930, hg. von
Hartmut Tietjen, Frankfurt am Main: Klostermann 21994 (11982), S. 157.

387
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

rakter von Kants transzendentaler Freiheitsidee an. 226 Auch von sich aus
behauptet er ja: »Das Freiheitsproblem gehört zum Weltproblem.« 227
Selbst zu Kants Idee der Autonomie findet er von seinem eigenen Frei-
heitsbegriff her Zugang, indem er sich auf den gerade angeführten Ge-
danken einer »ursprünglichen Bindung« stützt:
»Gegenstehenlassen von etwas als Gegebenes, grundsätzlich: Offenbarkeit
von Seiendem in der Verbindlichkeit seines So- und Daßseins, wird nur da
möglich, wo das Verhalten zu Seiendem als solchem den Grundzug hat, daß
es dem, was möglicherweise, ob in theoretischer oder praktischer Erkenntnis,
oder sonstwie offenbar wird, im vorhinein Verbindlichkeit zugesteht. Vorgän-
giges Zugestehen von Verbindlichkeit aber ist ursprüngliches Sichbinden,
Bindung als für sich verbindlich sein lassen, d. h. kantisch, sich ein Gesetz
geben.« 228
Die eigentliche Streitfrage, um die sich die Auseinandersetzung von
Heidegger mit Kant dreht, betrifft weder die Bestimmung der transzen-
dentalen Freiheit als Selbstanfangenkönnen (Spontaneität) noch die
Bestimmung der praktischen Freiheit als Selbstgesetzgebung (Auto-
nomie); beiden Bestimmungen kann Heidegger ja wichtige Anhalts-
punkte zu seiner eigenen Auffassung abgewinnen. Sie betrifft vielmehr
das, was wir als die Vorstellung einer Parallelität zwischen Naturkausa-
lität und Freiheit gekennzeichnet haben. Nach Heidegger verleitet der
Versuch, die Freiheit als eine kosmologische Idee zu begreifen, Kant in
der Kritik der reinen Vernunft dazu, von der Freiheit einen »transzen-
dentalen Naturbegriff« 229 zu bilden: »Freiheit ist nichts anderes als die
absolut gedachte Naturkausalität bzw., wie Kant selbst ganz zutreffend
sagt, ein Naturbegriff, der die Erfahrung als ganze transzendiert. Da-
durch verliert er nicht den Grundcharakter eines Naturbegriffes, son-
dern dieser Charakter bleibt erhalten und wird gerade ins Unbedingte
erweitert und gesteigert.« 230
Man könnte das Vorgehen, das zu diesem transzendentalen Natur-
begriff der Freiheit führt, in drei Schritte gliedern: In einem ersten
Schritt wird die Welt auf die rein physikalisch verstandene, von Kausal-
ketten durchdrungene Natur reduziert; in einem zweiten Schritt wird
226
Ebd., S. 208 f.
227 Ebd., S. 226.
228
Ebd., S. 302 f.
229
Ebd., S. 238.
230
Ebd., S. 214 f. unter Hinweis u. a. auf eine Stelle, an der Kant selbst den Terminus
»transzendentaler Naturbegriff« verwendet (Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 420).

388
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

das dieser Reduktion Widerstehende, das in diesem Sinne Irreduzible,


Widerspenstige in die Vorstellung einer rein gedanklich erfassbaren, ins
Übersinnliche und Unbedingte gesteigerten Natur – also einer Natur als
Noumenon – eingefangen oder hineingezwängt; schließlich wird in
einem dritten Schritt diese intelligible Natur in eine Parallele zur sinn-
lich-materiellen Natur gestellt. Es handelt sich um ein Vorgehen, in
dem das πρῶτον ψεῦδοϚ ohne Zweifel in der Vermengung oder reduk-
tiven Gleichsetzung der Welt mit der Natur liegt. Dieser reduktiven
Tendenz tritt Heidegger entgegen, indem er die Freiheit als den Grund
aller Gründungszusammenhänge – darunter auch der Naturkausalität –
herauszustellen sucht.
Die Formel »Grund des Grundes« hat zu manchen Missverständ-
nissen und Fehlinterpretationen Anlass gegeben. Sie fügte sich schein-
bar restlos in das Bild ein, das man sich von Heideggers metaphysischer
Periode als Übergangsphase machte, in der – nach Ingtraud Görlands
charakteristischer Formulierung – die »Einseitigkeit« eines in Aus-
einandersetzung mit Kant entstandenen und die »transzendentale Pro-
duktivität des Daseins« übermäßig betonenden Ansatzes am Ende »zum
Rückschlag« führt 231 und damit – gleichsam durch seine Unhaltbarkeit
und Fragwürdigkeit – den Übergang zu einem – nunmehr eher von
Hegel als von Kant beeinflussten – Denken des »Geschehens« 232 mög-
lich oder sogar unvermeidbar macht. Heute sehen wir, wie wenig dieser
Überblick über die Jahre 1927–1930 der zu dieser Zeit doch zentralen
Rolle der Metontologie oder dem ebenfalls höchst bedeutsamen Hin-
weis von Heidegger auf eine »metaphysische Ohnmacht des Daseins« 233
Rechnung zu tragen vermag. Als hervorragende Heidegger-Kennerin
verweist zwar Ingtraud Görland auf eine Sonderstellung des Aufsatzes
»Vom Wesen des Grundes«: »[…] wenn auch der ontologisch-trans-
zendentale Ansatz als einheitlicher erhalten bleibt, in der Basis der frei-
en zeitlichen Subjektivität, der neuen Einheit der […] kantischen Per-

231
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst. Eine Phase in Heideggers Denken,
Frankfurt am Main: Klostermann 1981, S. 11; vgl. auch S. 97, auf der die von Heidegger
unter Bezugnahme auf Kant verwendete Wendung »ursprüngliche Produktivität des
›Subjekts‹« angeführt wird (siehe Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik
im Ausgang von Leibniz [Gesamtausgabe, Bd. 26], S. 272).
232
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst, S. 100: »[…] das Geschehen löst die pro-
duktive Subjektivität sich zeitigenden Daseins auf.«
233
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 279.

389
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

sonbestimmungen, bildet sich hier ein erster Riß.« 234 Denn: »Mit der
stärkeren Betonung der Endlichkeit des Daseins kommt hier wieder das
Moment der Befindlichkeit zur Geltung […].« 235 Auch Heidegger selbst
wird zur Zeit der Abfassung der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereig-
nis) im Rückblick auf die Jahre nach der Veröffentlichung von Sein und
Zeit dem Text »Vom Wesen des Grundes« eine gewisse Sonderstellung
einräumen. 236 Aber gerade die Bestimmung der Freiheit als der Grund
des Grundes scheint dieser Einschätzung – zumindest auf den ersten
Blick – eher zu widersprechen. Wird denn dem Dasein damit, dass seine
Freiheit als der Grund aller Gründungszusammenhänge bezeichnet
wird, nicht etwa tatsächlich ein überaus hohes Maß an »transzenden-
taler Produktivität« zugeschrieben?
»Als dieser Grund aber ist die Freiheit« – so behauptet Heidegger
am Ende des Aufsatzes »Vom Wesen des Grundes« – »der Ab-grund des
Daseins.« 237 Als Grund aller Gründungszusammenhänge ist also die
Freiheit ihrerseits alles andere als eine selbstmächtige Gründungs-
instanz. Zwar ohne den Ausdruck »Abgrund« zu verwenden, aber doch
formuliert Heidegger in seiner Vorlesung Metaphysische Anfangs-
gründe der Logik im Ausgang von Leibniz einen ähnlichen Gedanken,
indem er »die Ohnmacht [des Daseins] gegenüber dem Seienden« be-
tont und die »Freiheit zum Grunde« als »die Bedingung der Möglich-
keit seiner [des Daseins] Ohnmacht« bezeichnet. 238 In dieser Hinsicht
weist also die Leibniz-Vorlesung von 1928 bereits in dieselbe Richtung
wie ein Jahr später der Aufsatz »Vom Wesen des Grundes«. Dazu
kommt, dass Heidegger in seiner metaphysischen Periode die Freiheit
zwar als »eine Bedingung der Möglichkeit für die Offenbarkeit des
Seins von Seiendem« bestimmt, sie aber natürlich niemals als eine Be-
dingung der Möglichkeit für das Seiende als solches oder die in ihm
eingeschlossenen Strukturzusammenhänge betrachtet. Wenn man be-
haupten kann, dass nach Heidegger die Naturkausalität mit der Freiheit

234
Ingtraud Görland, Transzendenz und Selbst, S. 96.
235
Ebd.
236
Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) [Gesamtausgabe, Bd. 65], S. 451.
Zur Analyse dieser Textstelle siehe François Jaran, La métaphysique du Dasein. Heideg-
ger et la possibilité de la métaphysique (1927–1930), Bukarest: Zeta Books 2010, S. 325.
237
Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 174.
238
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 279.

390
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

in die Welt kommt, dann nur unter der Bedingung, dass dabei »Welt
als Offenbarkeit des Seienden als solchen im Ganzen« 239 gilt. Nur als
»das Wesen der Wahrheit« 240 ist die Freiheit zugleich der Grund des
Grundes.
Das sind eindeutige Äußerungen, die dem Einwand, Heidegger
habe in seiner metaphysischen Periode die transzendentale Produktivi-
tät des Daseins einseitig und übermäßig betont, mit vollem Recht ent-
gegengehalten werden können. Gleichwohl ist es unleugbar, dass die
Analyse des Grundes in dieser Periode an einem Mangel krankt, der
sich in dem irreführenden Charakter der Bestimmung der Freiheit als
»Grund des Grundes« auswirkt. Heideggers eigene Selbstkritik in der
späten Vorlesung Der Satz vom Grund macht diesen Mangel spürbar.
Sie richtet sich gegen den Aufsatz »Vom Wesen des Grundes«, in dem
die Freiheit nicht nur als »der Grund des Grundes«, sondern auch als
»der Ursprung des Satzes vom Grunde« bezeichnet wird. 241 In der spä-
ten Vorlesung schreibt nun Heidegger dem Satz vom Grund eine Macht
– oder auch ein »Machtendes« – zu und stellt die Frage: »Haben wir, die
wir jetzt hier sind, dieses Machtende des großmächtigen Satzes vom
Grund schon gespürt, gar eigens erfahren und vollends hinreichend
bedacht?« 242 Das haben – so lautet die Antwort – nicht einmal diejeni-
gen getan, »die sich hin und wieder schon Gedanken über das ›Wesen
des Grundes‹ gemacht haben.« 243 An einer weiteren Stelle führt Hei-
degger das »Machtende« des Satzes vom Grund auf einen »Anspruch
auf Begründung« zurück, indem er hinzufügt: »Dieser Anspruch
spricht aber im Grund selbst […].« 244 Wir können daraus den Schluss
ziehen, dass die Freiheit auch als »der Ursprung des Satzes vom Grund«
– und überhaupt als »der Grund des Grundes« – in Wahrheit immer
bereits einem Anspruch entspricht, der nicht aus ihr selbst stammt.
Trifft die Aussage zu, dass der Mensch als Warum-Frager nach Grün-
den sucht, Gründe erforscht, Gründe für seine Entscheidungen anführt

239
Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit [Ge-
samtausgabe, Bd. 29/30], S. 507.
240
Heidegger, »Vom Wesen der Wahrheit«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],
S. 186.
241 Heidegger, »Vom Wesen des Grundes«, in: Wegmarken [Gesamtausgabe, Bd. 9],

S. 172.
242
Heidegger, Der Satz vom Grund [Gesamtausgabe, Bd. 10], S. 37.
243
Ebd.
244 Ebd., S. 42.

391
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

und Gründungszusammenhängen in der Welt nachgeht, so leidet diese


Aussage doch an einem Grundmangel, solange nicht klargestellt wird,
dass der Mensch damit bereits einem Anspruch zu entsprechen sucht,
der im Grund selbst spricht. Das ist die Einsicht, die Heidegger in seiner
metaphysischen Periode noch fehlt und die dem späteren Ereignisden-
ken, wenn auch keineswegs notwendig in der fragwürdigen Gestalt
einer Lehre vom »anderen Anfang«, eine Berechtigung gibt.
Wir können unsere Betrachtungen über die Freiheit zusammen-
fassen, indem wir hervorheben, dass wir von Anfang an darum bemüht
waren, sie mit dem Handeln in der Welt zu verbinden. Von vornherein
haben wir sie ebendeshalb im Zusammenhang mit den die Gesamtwelt
artikulierenden und strukturierenden Gründungszusammenhängen
betrachtet und damit in eine metontologische Perspektive gestellt. Wir
haben versucht, der Handlungsfreiheit zunächst eine partielle Kausali-
tät zuzuschreiben und sie als Mitursache zu begreifen. Dieser Versuch
leitete uns dahin, sie als ein immer wieder erneuertes Selbstanfangen-
können zu bestimmen. Aber das Vermögen der so verstandenen Spon-
taneität setzte weitere Vermögen voraus, die auf eine tiefer angelegte
Bestimmung der Freiheit als Grund aller Gründungszusammenhänge
in der Welt schließen ließen. Von diesem Punkt an ging es uns vor
allem darum, die beiden Bestimmungen – Freiheit als »Mitursache«
und als »Grund des Grundes« – aufeinanderzubeziehen und zusam-
menzuhalten. Einen Leitfaden dazu fanden wir bei Heidegger, der den
kantischen Begriff der Spontaneität durch seine Idee einer – mit einem
Offensein für das Seiende untrennbar verbundenen – Transzendenz
neu zu begründen suchte. Aber wir konnten auch den Grundmangel
aufdecken, der für den irreführenden Charakter von Ausdrücken wie
»der Grund des Grundes« oder »der Ursprung des Satzes vom Grund«
verantwortlich war: Es fehlte bei diesen Formeln jegliche Bezugnahme
auf den abgründigen und vorursprünglichen Anspruch, der im Grund
selbst spricht und dem die Freiheit als der Grund des Grundes und als
der Ursprung des Satzes vom Grund von vornherein zu entsprechen
sucht.

392
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

4. Die Wirklichkeit der Welt als Gesamtausdruck aller


Einstimmigkeitstendenzen

Wir haben zu zeigen versucht, dass sich die Horizontskategorien Kau-


salität und Handlungsteleologie genauso als Ausdrücke von Einstim-
migkeitstendenzen verstehen lassen wie die Erscheinungskategorien
Raum und Zeit. Aber die Antwort auf die Frage nach dem besonderen
Charakter der faktischen Notwendigkeit, die den herausgestellten Ein-
stimmigkeitstendenzen zukommt, sind wir bisher noch schuldig geblie-
ben. Wir versuchen, diese Schuld abzutragen, indem wir die Wirklich-
keit der Welt als Gesamtausdruck aller Einstimmigkeitstendenzen
erfassen und die faktische Notwendigkeit, die diesen Einstimmigkeits-
tendenzen zukommt, aus der faktischen Notwendigkeit der Weltexis-
tenz ableiten.
Es heißt in den Cartesianischen Meditationen: »Letztlich ist es die
Enthüllung der Erfahrungshorizonte allein, die die ›Wirklichkeit‹ der
Welt und ihre ›Transzendenz‹ klärt […].« 245 Vom Standpunkt der Phä-
nomenologie aus gesehen ist die Welt in der Tat nichts anderes als der
Horizont aller Horizonte oder, einfacher formuliert, der Universalhori-
zont der Erfahrung. In den Cartesianischen Meditationen hebt aber
Husserl eigens die Unerlässlichkeit der Einstimmigkeit der Erfahrung
für den Begriff dieses Universalhorizontes hervor, indem er »das wirk-
liche Objekt einer Welt« und »erst recht eine Welt selbst« als »eine
unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrun-
gen bezogene Idee« bezeichnet. 246 Daraus leitet sich die Bestimmung
der Weltwirklichkeit als Gesamtausdruck aller Einstimmigkeitstenden-
zen ab.
Die faktische Notwendigkeit, die diesen Einstimmigkeitstendenzen
zukommt, ist eine Folge der faktischen Notwendigkeit, die der Existenz
der Welt zueigen ist. Mit anderen Worten sind die verschiedenen Ein-
stimmigkeitstendenzen, die sich in den Erfahrungskategorien ausdrü-
cken, deshalb mehr als empirisch feststellbare Zufälligkeiten, weil ohne
sie die Wirklichkeit der Welt nicht bestehen könnte. Die Wirklichkeit
der Welt ist jedoch eine Urtatsache, der eine faktische Notwendigkeit
zukommt. Daher muss den Einstimmigkeitstendenzen, die Bedingun-

245
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.
246 Ebd.

393
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

gen der Möglichkeit für die Weltwirklichkeit sind, ebenfalls eine fak-
tische Notwendigkeit zukommen.
Als Gesamtausdruck aller Einstimmigkeitstendenzen schließt die
Wirklichkeit der Welt allerdings weitere Urtatsachen in sich. Die Ein-
stimmigkeitstendenzen der Erfahrung sind von vornherein Bedingun-
gen der Möglichkeit für eine intersubjektive Wirklichkeit der Welt, und
als Tendenzen zeichnen sie einen geschichtlichen Gang der Erfahrung
vor. Intersubjektivität und Geschichtlichkeit sind somit als Urtatsachen
in der Urtatsache der Weltwirklichkeit impliziert. Es bleibt jedoch zu
fragen, wie sich die Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung zum
Cogito als Urtatsache verhalten.
Die Antwort ergibt sich daraus, dass die faktische Notwendigkeit
der Weltwirklichkeit eine vollzugsbedingte, performative Notwendig-
keit ist. Der methodologische Transzendentalismus der Phänomeno-
logie bringt den Ausgang vom Cogito mit sich, obwohl die Analyse
der cartesischen Formel videre videor deutlich gezeigt hat, dass sich
der Ausgang vom Cogito dabei als ein Rückgang auf den eigentlichen
Anfang des Philosophierens, nämlich auf die Urtatsache sinnlichen Er-
scheinens, enthüllt. Dem Vollzug von Selbstbewusstsein und Selbst-
besinnung kommt selbst dann eine grundlegende Rolle zu, wenn sich
herausstellt, dass dieser Vollzug immer schon vom Widerfahrnis des
Erscheinens getragen ist.
Scheinbar ist es von hier aus nur noch ein Schritt zur Behauptung,
die Möglichkeit von Selbstbewusstsein und Selbstbesinnung mache die
Einstimmigkeit der Erfahrung von vornherein notwendig. Kants trans-
zendentaler Deduktion der Kategorien liegt gerade dieser Gedanke zu-
grunde. Zur Bezeichnung von Selbstbewusstsein und Selbstbesinnung
wird dabei in der Kritik der reinen Vernunft der von Leibniz stammende
Ausdruck ›Apperzeption‹ gebraucht. Mit diesem Ausdruck heißt es in
der zweiten Auflage des Werkes: »[…] nur dadurch, dass ich ein Man-
nigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden
kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen
Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apper-
zeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen
möglich.« 247 Dieser Satz ist der Ausgangspunkt eines recht verschlun-
genen Beweisgangs, der die Möglichkeit der analytischen Einheit der
Apperzeption –, das heißt der »durchgängige[n] Identität seiner

247 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 133.

394
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

selbst« 248 – letztlich an die Bedingung der Einstimmigkeit bindet, die


durch die Kategorien in die ›Rhapsodie der Wahrnehmungen‹ einge-
führt wird. Lässt sich vom Gesichtspunkt der Phänomenologie aus nicht
etwa ein ähnlicher Zusammenhang zwischen dem Cogito und den Ein-
stimmigkeitstendenzen der Erfahrung ins Auge fassen?
Die Antwort ist verneinend. Die Phänomenologie kann es unmög-
lich über sich bringen, die Forderung nach einer analytischen Einheit
der Apperzeption mit Kant als eine an und für sich notwendige und von
sich her einleuchtende »transzendentale Voraussetzung« 249 anzuerken-
nen. Nicht als ob sie nur ein völlig »wandelbares« Bewusstsein seiner
selbst kennte und »kein stehendes oder bleibendes Selbst« im »Flusse
innrer Erscheinungen« entdecken könnte. 250 Auch einem Phänomeno-
logen leuchtet ja die Behauptung unmittelbar ein, man könne sich zwar
so sehr verändern, dass man nicht mehr derselbe sei, der man war, aber
man könne sich niemals so sehr verändern, dass man nicht mehr man
selbst bleibe, sondern ein Anderer werde. Nur dass gerade diese unmit-
telbar einleuchtende Behauptung zugleich den – in unserer Zeit beson-
ders von Paul Ricœur betonten – Unterschied zwischen Selbigkeit und
Selbstheit ans Licht bringt.
Die von Kant ohne Begründung akzeptierte Überzeugung, dass ein
›stehendes oder bleibendes Selbst‹ eine ›durchgängige Identität‹ des Ich
in all seinen Vorstellungen erforderlich macht, beruht demnach auf
einem Missverständnis der Selbstheit. Denn die Selbstheit ist grund-
sätzlich auch ohne Selbigkeit möglich. Diese von Kant unbefragt
hingenommene Überzeugung führt eine spekulative Wende im Gedan-
kengang der transzendentalen Deduktion herbei, indem sie – merkwür-
digerweise gerade in der ansonsten fraglos reiferen Textfassung der
zweiten Auflage – zur Vorstellung von einem außer- oder überzeitlichen
Ich als einer »Intelligenz« 251 hinleitet, die »durch die transzendentale
Handlung der Einbildungskraft« 252 den inneren Sinn »affiziert« 253 und
dabei »sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor[bringt]«. 254

248
Ebd., A 116.
249
Ebd., A 107.
250 Ebd., A 107.
251
Ebd., B 155.
252
Ebd., B 154.
253
Ebd., B 154 f.
254 Ebd., B 155.

395
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Die Phänomenologie sieht sich dazu genötigt, diese Ichvorstellung,


die den Deutschen Idealismus so tief prägen sollte, als eine spekulative
Überschwänglichkeit und ein metaphysisches Abenteuer von der Hand
zu weisen. Ohne die Idee einer Intelligenz jedoch, die durch transzen-
dentale Handlungen auf die Vorstellungen einwirkt, kann die »ur-
sprünglich synthetische Einheit der Apperzeption« 255 aus der Forde-
rung nach der durchgängigen Identität seiner selbst nicht abgeleitet
werden. Dieser Ableitungszusammenhang beruht nämlich auf dem be-
reits in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mit großem
Nachdruck betonten Gedanken, dass die analytische Einheit der Apper-
zeption nicht möglich wäre, »wenn nicht das Gemüt in der Erkenntnis
des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewusst werden
könnte, wodurch sie 256 dasselbe synthetisch in einer Erkenntnis verbin-
det«. 257 Etwas weiter im Text heißt es im gleichen Sinne: »[…] das Ge-
müt konnte 258 sich unmöglich die Identität seiner selbst in der Mannig-
faltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht
die Identität seiner Handlung vor Augen hätte, welche alle Synthesis
der Apprehension (die empirisch ist) einer transzendentalen Einheit un-
terwirft und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich
macht.« 259
Lehnt aber die Phänomenologie die Grundidee von Kants trans-
zendentaler Deduktion der Kategorien ab und verwirft sie dementspre-
chend den Versuch, die Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung un-
mittelbar aus der Urtatsache des Cogito abzuleiten, so bleibt ihr kaum
etwas anderes übrig, als sie im Hinblick auf die Wirklichkeit der Welt zu
legitimieren. Die faktische Notwendigkeit dieser Einstimmigkeitsten-
denzen ergibt sich allerdings nicht allein aus dem Umstand, dass sie
unerlässliche Bedingungen der Möglichkeit für die Weltwirklichkeit
sind, sondern zugleich aus der Tatsache, dass die Welt in ihrer Vorgege-
benheit und Einzigkeit in jeder Dingerfahrung mit erfahren wird, und
zwar so, dass sie sich in jeder nachträglichen Modalisierung dieser
Dingerfahrung als das schlechthin Unmodalisierbare erweist.
Diese Legitimation der sich in den Erfahrungskategorien ausprä-

255 Ebd., B 135.


256
Nach der Textkorrektur von Wille: »es«.
257
Ebd., A 108.
258
Nach der Textkorrektur von Hartenstein: »könnte«.
259 Ebd., A 108.

396
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

genden Einstimmigkeitstendenzen tritt in der phänomenologischen


Metaphysik an die Stelle von Kants transzendentaler Deduktion. Der
Unterschied zwischen den beiden Beweisführungen beschränkt sich al-
lerdings nicht auf einen bloßen Wechsel der Begründungsinstanz. Der
»Grundsatz der notwendigen Einheit der Apperzeption« ist nach dem
Text der zweiten Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft »selbst
identisch, mithin ein analytischer Satz […]«. 260 Dagegen gilt die Wirk-
lichkeit der Welt in der phänomenologischen Metaphysik als eine Ur-
tatsache. Die Erfahrungskategorien werden damit von der apriorischen
Grundlage eines vermeintlich analytischen Satzes auf den Boden zufäl-
liger Faktizität versetzt.
Diese Änderung zieht weitere Konsequenzen nach sich. Die wich-
tigste unter ihnen ist, dass die Erfahrungskategorien, wie bereits er-
wähnt, dem Herrschaftsbereich bestimmender Urteilskraft entzogen
und dem Problemfeld reflektierender Urteilskraft eingeordnet werden.
Deshalb verbindet sich jedoch mit ihnen – oder mit den ihnen zugrun-
den liegenden Einstimmigkeitstendenzen – eine gewisse Zweckmäßig-
keit oder Zielstrebigkeit. Wie ist jedoch diese teleologische Bestimmung
der Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung zu verstehen?
Im Folgenden werden wir versuchen, diese Frage dadurch zu be-
antworten, dass wir die Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung auf
›Weltbildung‹ und ›Weltentwurf‹ beziehen. Es handelt sich dabei um
einen Versuch, der sich auf den Gedanken gründet, dass selbst die rein
theoretische Tätigkeit in Philosophie und Wissenschaft noch einen
praktischen Aspekt hat, indem sie an einem Weltentwurf arbeitet und
damit zur Weltbildung beiträgt. Wir können die transzendentalen Prin-
zipien der reflektierenden Urteilskraft mit diesem Beitrag aller Theorie
zur Weltbildung in Zusammenhang bringen. Als ›zweckmäßig‹ – oder
sogar als ›zielstrebig‹ – können Einstimmigkeitstendenzen deshalb be-
schrieben werden, weil sie geeignet sind, als Träger von Weltentwürfen
zu fungieren. Damit halten wir an der Überzeugung fest, dass von Te-
leologie nur im Kontext von Handeln und Tun die Rede sein kann.

260 Ebd., B 135.

397
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

5. Einzelne Realitätsstufen in der


Gesamtwirklichkeit der Welt

Eine phänomenologische Analyse der Erfahrungskategorien gelangt


notwendig zu einem Punkt, an dem eine Auseinandersetzung mit den
Einzelwissenschaften für sie unerlässlich wird. Husserl lässt über die
Notwendigkeit einer derartigen Auseinandersetzung keinen Zweifel
aufkommen: Er versteht den Rückgriff auf die Einzelwissenschaften
geradezu als ein Grundmerkmal phänomenologischer Metaphysik.
Leicht entsteht jedoch der Eindruck, als sei die Phänomenologie in
dieser Auseinandersetzung eher nur daran interessiert, die Einzelwis-
senschaften auf philosophische Grundlagen zu stellen, sie also philoso-
phisch zu fundieren, ohne auch nur danach zu streben, von ihnen Neu-
es zu lernen. Man denke an Husserls Entwurf regionaler Ontologien
oder an Heideggers fundamentalontologischen Begründungsplan der
Einzelwissenschaften: Es geht in beiden Fällen darum, die Grundbegrif-
fe der Einzelwissenschaften als material-apriorische Wesensbestim-
mungen gewisser Gegenstands- oder Seinsbereiche darzustellen, ohne
dabei einschlägige Theoriekonstrukte oder gar empirische Forschungs-
ergebnisse aus den Einzelwissenschaften heranzuziehen. Die Sachlage
ändert sich zwar bei manchen Denkern der französischen Phänomeno-
logie – so etwa bei Merleau-Ponty oder bei Ricœur –, aber es bleibt auch
weiterhin eine Frage, ob sie damit die von ihnen befolgte Denkmethode
von Grund auf verwandeln oder eben nur eine neuartige Forschungs-
praxis entwickeln.
In Wahrheit täuscht jedoch der erwähnte Eindruck zumindest in-
sofern, als den Einzelwissenschaften bereits Husserl in aller Deutlich-
keit spezifische Realitätsideen zuschreibt, die keineswegs aus der Phä-
nomenologie stammen. Im zweiten Buch seiner Ideen zu einer reinen
Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie versucht er,
diese Realitätsideen als Leitfäden zu den regionalen Ontologien zu ver-
wenden, an denen er in diesem Werk arbeitet. In dieser Hinsicht lässt er
sich durchaus von den Einzelwissenschaften belehren. Freilich wird er
später im Ausgang von einer eingehenderen Analyse der lebenswelt-
lichen Erfahrung eine zunehmend kritische Auffassung von manchen
dieser Realitätsideen entwickeln. Ihren emblematischen Ausdruck wird
diese kritische Ansicht in seinem Alterswerk Die Krisis der europäi-
schen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie fin-
den. Was Heidegger betrifft, so geht er in seinen fundamentalontolo-

398
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

gisch ausgerichteten Überlegungen zu den Grundbegriffen der Einzel-


wissenschaften ohne Zögern von der Tatsache einer generellen Grund-
lagenkrise aus, die er ebenfalls als eine Krise der Realitätsdeutung oder,
allgemeiner, des Seinsverständnisses zu begreifen sucht.
Im Zusammenhang unserer Untersuchungen über die Kategorien
der Erfahrung ist es besonders lohnenswert, auf die spezifischen Reali-
tätsideen näher einzugehen, die Husserl in Ideen II den Einzelwis-
senschaften entnimmt. Denn diese Realitätsideen ordnen sich in einen
Stufengang, der den Aufbau oder die innere Schichtung der Gesamt-
wirklichkeit bestimmt und damit einen gegliederten Weltentwurf vor-
zeichnet. Mit diesem durch die verschiedenen Einzelwissenschaften
vorgezeichneten Weltentwurf setzt sich Husserl im Ausgang von sei-
nem methodologisch angelegten Transzendentalismus auseinander.
Nahezu gleichzeitig – oder nur wenig später – legen auch Denker
wie Nicolai Hartmann, Max Scheler, Helmut Plessner und andere ein
Stufenmodell der Welt – oder eine »Schichtenontologie« – vor. Der in
Ideen II entwickelte Ansatz unterscheidet sich jedoch von ihren Bestre-
bungen von Anfang an dadurch, dass Husserl als Phänomenologe die
den Einzelwissenschaften zugrunde liegenden Realitätsideen im Rück-
gang auf die lebensweltliche Erfahrung prüft und bearbeitet. Die phä-
nomenologische Zugangsweise begründet drei methodologische Vor-
entscheidungen, die der von Husserl erarbeiteten Schichtungstheorie
der Welt von vornherein ein eigentümliches Gepräge verleihen:

1. Nicht erst Heidegger, sondern bereits Husserl versucht, die »theo-


retische Einstellung« wissenschaftlicher Forschung zu hinter-
fragen. Wie er meint, gehört die »ideale Möglichkeit«, eine theo-
retische Einstellung einzunehmen, zwar zu allen intentionalen
Akten, 261 aber wenn man dazu gelangt, von dieser Möglichkeit Ge-
brauch zu machen, stößt man nach ihm je schon »auf vorgegebene
Gegenständlichkeiten, die nicht aus theoretischen Akten herstam-
men«. 262 Husserl zieht daraus den Schluss: »Also vortheoretisch
sind schon Gegenstände konstituiert […].« 263 Folglich ist die theo-
retische Einstellung keineswegs unsere ursprüngliche Einstellung

261
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 8.
262
Ebd., S. 7.
263 Ebd., S. 6.

399
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

zur Welt. Wir sind vielmehr immer bereits in einer vortheoreti-


schen Einstellung, bevor wir einen Zugang zur theoretischen Ein-
stellung finden könnten. Das theoretische Verhalten zur Welt ist
daher niemals ohne einen Einstellungswechsel möglich.
2. Weiterhin hebt Husserl hervor: »Im gewöhnlichen Leben haben
wir es gar nicht mit Naturobjekten zu tun.« 264 Wir finden uns viel-
mehr von vornherein in einer menschlichen Gemeinschaft und
einem kulturellen Zusammenhang vor. Die Einstellung, die wir in
der Lebenswelt einnehmen, richtet sich auf uns als Person und auf
andere Menschen als Personen, ist also durch und durch personen-
bezogen. In dieser »personalistischen« Einstellung sind wir »all-
zeit […], wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, ei-
nander im Gruße die Hand reichen, in Liebe und Abneigung, in
Gesinnung und Tat, in Rede und Gegenrede aufeinander bezogen
sind; desgleichen […], wenn wir die uns umgebenden Dinge eben
als unsere Umgebung und nicht wie in der Naturwissenschaft als
›objektive‹ Natur ansehen.« 265 Auch die Dinge unserer Umwelt
fügen sich also nach Husserl von vornherein einem personenbezo-
genen Kulturzusammenhang ein. »Es handelt sich also um eine
durchaus natürliche und nicht um eine künstliche Einstellung, die
erst durch besondere Hilfsmittel gewonnen und gewahrt werden
müßte.« 266 Dass die personalistische Einstellung die lebensweltlich
primäre ist, leuchtet deshalb ohne Weiteres ein. Um bloße Natur-
objekte überhaupt zu Gesicht zu bekommen, bedarf es daher stets
eines Einstellungswechsels, der uns von der personalistischen Ein-
stellung zur »naturalistisch« genannten hinüberleitet. Husserl ver-
säumt nicht, darauf hinzuweisen, »daß hier nicht einmal zwei
gleichberechtigte und gleichgeordnete Einstellungen vorlie-
gen […], sondern daß die naturalistische Einstellung sich der per-
sonalistischen unterordnet und [nur] durch eine Abstraktion oder
vielmehr durch eine Art Selbstvergessenheit des personalen Ich
eine gewisse Selbständigkeit gewinnt, dadurch zugleich ihre Welt,
die Natur, unrechtmäßig verabsolutierend.« 267

264
Ebd., S. 27.
265
Ebd., S. 183.
266
Ebd.
267 Ebd., S. 183 f.

400
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

3. Der phänomenologische Charakter von Husserls Ansatz hat


schließlich ebenfalls zur Folge, dass sich nicht etwa das physikali-
sche Ding als die fundierende »Unterschicht« 268 der verschiedenen
Realitätsstufen in der Gesamtwirklichkeit der Welt enthüllt, son-
dern ihm zuvor noch das anschauliche Sinnending, so wie es in
einer »optimalen Gegebenheit« 269 lebensweltlich erfahren und
durch ein »System der normalen – ›orthoaesthetischen‹ – Erschei-
nungen« 270 durchgängig bestimmt wird. Im Gegensatz zu diesem
anschaulichen Ding setzt das leblose Naturobjekt als Gegenstand
der mathematischen Naturwissenschaft – und mit ihm der gesamte
Stufengang verschiedener Realitätsformen – »eine neue Konstitu-
tion höherer Stufe« 271 voraus, die – wie Husserl es deutlich heraus-
stellt – den Charakter von »Objektivierung« 272 hat.

In Ideen II erkennt Husserl der naturwissenschaftlichen Objektivierung


durchaus eine Berechtigung in der Gliederung der Gesamtwirklichkeit
zu. Er versucht zu zeigen, dass die mathematische Naturwissenschaft
eine »Realitätsidee« entwickelt, die in der lebensweltlichen Erfahrung
»schon angelegt ist«, der aber das »anschauliche Ding« nicht voll ent-
spricht. 273 Es handelt sich um eine Idee »substantieller Realität«. 274 Da-
runter ist ein »verharrendes Sein« zu verstehen, ein »Bestand verhar-
render mathematischer Eigenschaften, aber so, daß die allgemeine
Struktur des Dinges, die Form der Realität-Kausalität erhalten
bleibt«. 275 Mit »mathematischen Eigenschaften« sind hier rein quanti-
tativ erfassbare »primäre Eigenschaften« (primary qualities) gemeint,
die von den sinnlich-qualitativ bestimmten »sekundären Eigenschaf-
ten« (secondary qualities) unterschieden werden und denen zugleich
das Vermögen zugeschrieben wird, durch kausale Einwirkungen auf
die Sinnesorgane die sekundären Eigenschaften als bloß subjektive Er-
scheinungen hervorzurufen. Daher kann es heißen: »Realität oder, was
hier dasselbe ist, Substantialität und Kausalität gehören untrennbar

268
Ebd., S. 65.
269
Ebd., S. 75.
270
Ebd., S. 66; vgl. S. 74.
271 Ebd., S. 77.
272
Ebd., S. 75.
273
Ebd., S. 49.
274
Ebd., S. 125.
275 Ebd., S. 132.

401
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

zusammen. Reale Eigenschaften sind eo ipso kausale.« 276 Die Idee sub-
stantieller Realität ist also die »Idee einer strengen Identität in absolut
bestimmten und eindeutigen Abhängigkeiten der Kausalität […]«. 277
Aus der Zurückführung bloß subjektiver Erscheinungen auf rein kau-
sale Eigenschaften ergibt sich die einzigartige Bedeutung naturwissen-
schaftlicher Objektivierung. Der Idee substantieller Realität nach ist das
Ding, dem eine strenge Identität »nach festen Kausalgesetzen« 278 zu-
kommt, nichts anderes als das Ding selbst, so wie es an sich ist und nicht
wie es uns in der lebensweltlichen Erfahrung bloß erscheint.
In der Krisis-Abhandlung wird Husserl das System rein kausaler
Eigenschaften, mit dem die mathematische Naturwissenschaft die Din-
ge der Welt ausstattet, als ein »Ideenkleid« auffassen, das – auf die Na-
tur übertragen – dazu führt, dass »wir für wahres Sein nehmen, was
eine Methode ist […].« 279 Galilei – und der gesamten, von Galilei be-
gründeten Forschungstradition exakter Naturwissenschaft – wird er da-
mit einen mathematisierenden Platonismus im Sinne eines eigentümli-
chen Begriffsrealismus, einer Hypostasierung mathematischer Begriffe
als physikalische Realitäten vorwerfen. Dagegen betrachtet er in Ideen
II den Entwurf substantieller Realität in den exakten Naturwissenschaf-
ten noch ohne Vorbehalte. Er ist sogar davon überzeugt, dass dieser
Entwurf auch auf das Seelische ausgedehnt werden kann. Nach Husserl
ist die Seele von vornherein leiblich bedingt. In ihrer Einheit mit dem
Leib kann sie aber als ein Naturobjekt aufgefasst werden. Sie hat »psy-
chophysische Eigenschaften«, 280 die ähnlich erforscht werden können
wie die physikalischen Eigenschaften der Naturdinge. Folglich ist eine
naturwissenschaftliche Psychologie in Husserls Augen kein Ding der
Unmöglichkeit; innerhalb gewisser Grenzen hat sie sogar eine unbe-
streitbare Berechtigung. In diesem Zusammenhang wird in Ideen II
auch »die rechtmäßige ›Naturalisierung‹ des Bewußtseins« 281 zur Spra-
che gebracht. Ebendeshalb kann aber die Idee substantieller Realität als

276
Ebd., S. 45.
277
Ebd., S. 49.
278
Ebd.
279 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phä-

nomenologie, S. 52.
280
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Phi-
losophie, Zweites Buch, S. 127.
281 Ebd., S. 168.

402
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

ein »formal-allgemeiner Begriff der Realität« aufgefasst werden. 282 Ge-


meint ist damit, dass diese Idee nicht nur auf die Realitätsstufe des phy-
sikalischen Dinges, sondern – zumindest innerhalb gewisser Grenzen –
auch auf »das menschliche (bzw. animalische) Subjekt« als »konkrete
Einheit von Leib und Seele« 283 angewandt werden kann.
Allerdings kommt dabei dem Begriff substantieller Realität ledig-
lich ein betonterweise »formal-allgemeiner« Charakter zu. Die mensch-
liche – oder überhaupt animalische – Natur ist für Husserl bereits »eine
zweite Art von Realitäten«, 284 die inhaltlich durch andere Merkmale
gekennzeichnet ist als die Seinsart des physikalischen Dinges. Sie bildet
eine von der materiellen Natur zwar nicht unabhängige, aber auf sie
auch nicht zurückführbare und in diesem Sinne doch eigenständige
Realitätsstufe. Die Abhängigkeit »höherer« Realitätsstufen von den
niedrigeren und die irreduzible Komplexität – oder, mit einem bei Ni-
colai Hartmann entlehnten Ausdruck, das »kategoriale Novum« – der
abhängigen Realitätsstufen im Verhältnis zu den bedingenden sind die
beiden Strukturmerkmale, die für den Stufenbau oder das Schichten-
modell der Gesamtwirklichkeit auch in anderen Ansätzen ähnlicher
Art charakteristisch sind. Selbst dies ändert aber nichts daran, dass die
menschliche (und überhaupt animalische) Natur als »konkrete Einheit
von Leib und Seele« eine »Gemeinsamkeit der ontologischen Form« 285
mit der materiellen Natur aufweist.
Diese Überlegungen machen deutlich, in welchem Maße Husserl
in Ideen II darum bemüht ist, der naturwissenschaftlichen Realitätsidee
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Selbst an der Methode der Objek-
tivierung, die zu einer Trennung des Ansichseins der Dinge von den für
bloß subjektiv gehaltenen Erscheinungen führt, hat er in Ideen II nichts
auszusetzen. Gleichwohl ist der Weltentwurf, den er in diesem Werk
erarbeitet, im Ganzen nicht objektivistisch angelegt. Und zwar schon
deshalb nicht, weil Husserl die Gegenüberstellung von Ding an sich
und Erscheinung keineswegs allein auf das physikalische Ding, sondern
auch schon auf das anschauliche Sinnending lebensweltlicher Erfah-
rung bezieht.
In der Tat spricht er davon, dass sich zum Beispiel bei der Wahrneh-

282
Ebd., S. 125.
283
Ebd., S. 139.
284
Ebd.
285 Ebd., S. 126.

403
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

mung einer Farbe »gewisse Bedingungen als die ›normalen‹ heraus[stel-


len]: das Sehen bei Sonnenlicht und hellem Himmel, ohne Einwirkung
anderer die Erscheinungsfarbe bestimmender Körper«, und er setzt
hinzu:
»Das ›Optimum‹, das hierbei erreicht wird, gilt als die Farbe selbst, im Gegen-
satz etwa zum Abendrot, das alle Eigenfarbe ›überstrahlt‹. Alle anderen Eigen-
schaftsfarben sind ›Aussehen von‹, ›Erscheinungen von‹ dieser ausgezeichne-
ten Erscheinungsfarbe (die ›Erscheinung‹ nur in einem anderen Sinne heißt,
nämlich mit Rücksicht auf die […] höhere Stufe des physikalischen Dinges).
Aber zum Dinge gehört es, daß diese normale Farbe sich doch wieder wan-
delt […]: ›an sich‹ gehört zum Körper eine Farbe als an sich seiende, die im
Sehen erfaßt wird, die aber immer wieder anders aussieht […].« 286
Was hier als die »Farbe selbst« oder auch als »an sich seiende« Farbe
beschrieben wird, gehört voll und ganz zum anschaulichen Sinnending
lebensweltlicher Erfahrung. Auf der »höheren Stufe des physikalischen
Dinges« gilt dagegen eine sinnlich-qualitativ bestimmte Dingeigen-
schaft wie die Farbe von vornherein als bloße Erscheinung. Hier wird
deutlich, dass Husserl das Begriffspaar von Ding an sich und Erschei-
nung auf verschiedene Ebenen der Untersuchung bezieht und auf den
verschiedenen Ebenen je anders auslegt. Was auf der einen Ebene zum
Ding an sich selbst gehört, kann auf der anderen Ebene als bloße Er-
scheinung gelten. Man könnte meinen, diese Vorgehensweise stifte
nur Verwirrung, aber dem ist keineswegs so. Im Gegenteil, sie setzt
vielmehr der Verwirrung, die nicht erst mit Kants transzendentalphi-
losophischer Auslegung des Unterschieds zwischen Ding an sich und
Erscheinung aufkam, sondern zumindest seit Lockes Lehre von den
primären und sekundären Eigenschaften der Dinge und vielleicht sogar
seit Descartes’ Analyse des Wachsstücks geherrscht hatte, nunmehr ein
Ende. Husserl folgt der Grundeinsicht seiner phänomenologischen Me-
thode, indem er das Begriffspaar von Ding an sich und Erscheinung auf
die verschiedenen Erfahrungssituationen bezieht, in denen es einen je
anders bestimmten Sachgehalt ausdrückt: »Wir haben also exempla-
risch auf das Bewußtsein zurückzugehen, in dem uns Dinge originär
und so vollkommen gegeben sind, daß uns für die Erfassung der We-
sensform, die derartigen Gegenständen die apriorische Regel vor-
schreibt, nichts fehlen kann.« 287 Dieser Rückgang auf konkrete, aber

286
Ebd., S. 59.
287 Ebd., S. 34.

404
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

sogleich einer Phantasievariation unterzogene Erfahrungssituationen


bei der Analyse begrifflicher Entgegensetzungen unterscheidet die Phä-
nomenologie von der dialektischen Methode, die der Deutsche Idealis-
mus auf den Gegensatz von Ding an sich und Erscheinung anwandte,
um ihn durch eine systematische Aufeinanderbeziehung zugespitzter
oder sogar ins Äußerste getriebener Abstraktionen aufzuheben.
Aber der Rückgriff auf das anschauliche Sinnending lebenswelt-
licher Erfahrung bildet in Ideen II keineswegs das einzige Gegengewicht
zur objektivistischen Deutung der Realitätsstufen in der Gesamtwirk-
lichkeit der Welt. Auch die Einsicht in die Notwendigkeit einer Unter-
scheidung zwischen der naturalistischen und der personalistischen Ein-
stellung wirkt dieser Deutung entgegen. Diese Einsicht gründet sich auf
die Unterschiede, die den Menschen bereits als konkrete Einheit von
Leib und Seele vom physikalischen Ding trennen und die dem Erklä-
rungsanspruch einer naturwissenschaftlichen Psychologie von vorn-
herein Grenzen setzen.
Es handelt sich um Unterschiede, die sich bereits daraus ergeben,
dass sich die immanenten Bewusstseinserlebnisse im Gegensatz zu den
transzendenten Dingen nicht in einer Mannigfaltigkeit von Aspekten,
Abschattungen oder Erscheinungen bekunden und darstellen. 288 Dieser
grundlegende Unterschied hat schwerwiegende Konsequenzen: – a) Die
Seele als Träger der »geistigen Vermögen« 289 weist zwar eine Analogie
mit der materiellen Dingsubstanz als dem Träger kausaler Eigenschaf-
ten auf, aber »es gibt keine Seelensubstanz: die Seele hat kein ›An sich‹
wie die ›Natur‹ […]«. 290 – b) Ebenso ist nach Husserl »bei der Seele von
Kausalität überhaupt nicht zu reden«; 291 die Abhängigkeit von den
Umständen nimmt hier vielmehr die Gestalt von »Motivationszusam-
menhängen« an, die aber als solche von vornherein die Intentionalität
des Bewusstseins voraussetzen. Denn: »Was ich nicht ›weiß‹, was in
meinem Erleben, meinem Vorstellen, Denken, Tun mir nicht als vor-
gestellt, als wahrgenommen, erinnert, gedacht etc. gegenübersteht, ›be-
stimmt‹ mich nicht geistig. Und was nicht in meinen Erlebnissen, sei es
auch unbeachtet oder implizite intentional beschlossen ist, motiviert

288
Ebd., S. 126–131.
289
Vgl. ebd., S. 123.
290
Ebd., S. 132.
291 Ebd.

405
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

mich nicht, auch nicht in unbewußter Weise.« 292 Mit einem Wort: Die
Motivation »spielt sich zwischen Ich und intentionalem Objekt ab.« 293
– c) Dazu kommt, dass die Seele »prinzipiell nicht unverändert bleiben
[kann]«, 294 so dass ihr Sein – im Gegensatz zum Sein bloß materieller
Dinge – eigentlich kein »verharrendes Sein« und damit letztlich auch
keine »substantielle Realität« genannt werden kann. Denn: »Das See-
lenleben ist nach Wesensnotwendigkeit ein Fluß […]«. 295 – d) Die Seele
unterscheidet sich vom materiellen Naturobjekt als räumlich aus-
gedehntem Ding (res extensa) auch darin, dass sie sich nicht in Stücke
(selbstständige Teile) zerlegen, sondern nur in Momente (unselbststän-
dige Teile) gliedern lässt; sie ist also – im Gegensatz zum physika-
lischen Ding – eine »unzerstückbare Einheit«. 296 – e) Im Gegensatz zu
materiellen Dingen, die »geschichtslose Realitäten« sind, hat die Seele
schließlich immer »eine Geschichte«, weil sie ein Fluss einmaliger, un-
wiederholbarer Erlebnisse ist, so dass ihre Realität »in denselben Ge-
samtzustand nicht zurückkehren« kann. 297
Aus dieser Übersicht zieht Husserl den Schluss, dass es über die
physikalische und die animalische Natur hinaus noch eine weitere Rea-
litätsstufe gibt, die aber erst in einem Übergang von der naturalistischen
zur personalistischen Einstellung greifbar wird. Er bezeichnet diese
Realitätsstufe als »persönliche ›Realität‹«, 298 indem er »das Ich als per-
sönlich-reale Einheit« 299 vom menschlichen (bzw. animalischen) Sub-
jekt als konkreter Einheit von Leib und Seele abhebt. Er fasst die Person
als das »spezifisch geistige Ich« 300 auf und macht damit einen Unter-
schied zwischen dem »Menschen als Natur« und dem »Menschen als
Geist«. 301 Indes hebt er hervor: »Aber auch als Geist, mich und andere
nicht als Natur auffassend und setzend, finde ich mich und andere in
der räumlichen und zeitlichen Welt.« 302 Die geistige Subjektivität be-
greift er eben nur als eine »Stufe« oder »Schicht« im Menschen – näm-
292
Ebd., S. 231.
293
Ebd., S. 216.
294
Ebd., S. 133.
295
Ebd.
296
Ebd., 133 f.
297
Ebd., S. 137.
298 Ebd., S. 250, Anm.
299
Ebd., S. 252.
300
Ebd., S. 276.
301
Ebd., S. 143.
302 Ebd., S. 202.

406
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

lich als »die Schicht des intellectus agens, des freien Ich als Ich der freien
Akte«. 303 Er fügt aber hinzu: »Jeder Geist hat eine ›Naturseite.‹ Das ist
eben der Untergrund der Subjektivität […].« 304 Die Person bestimmt er
weiterhin auch als »das Subjekt, das ›selbst-verantwortlich‹ ist«. 305 Hier
klingt Ethisches an. Dass Husserl nicht nur von Geist, sondern auch von
Person und Persönlichkeit spricht, ist wohl nicht unabhängig von dem
ethischen Personalismus, den Max Scheler in dem zweiten Band seines
Formalismusbuches ausgearbeitet hat und dem Husserl in seinen etwas
später, am Anfang der 1920er Jahre gehaltenen Vorlesungen über Ethik
viel abgewinnen kann. Aber dem Verfasser der Ideen II geht es in erster
Linie doch nicht um die Verantwortung und die Moral, sondern um die
Ontologie. Worauf es ihm eigentlich ankommt, ist die »persönliche
›Realität‹« als »intersubjektive Realitätsform«. 306
Wir stoßen hier auf eine neue Realitätsidee, die – ähnlich wie die
Idee substantieller Realität – einer Auseinandersetzung mit den Einzel-
wissenschaften zu verdanken ist. Nur dass diesmal nicht die Realitäts-
voraussetzung der Naturwissenschaften, sondern – im Anschluss an
Wilhelm Dilthey 307 – die ontologische Basis der Geisteswissenschaften
erforscht wird. Wie Husserl anzeigt, haben es auch diese Wissenschaf-
ten mit einer Realitätsform zu tun, die »nicht direkt erfahrbar«, also
keine bloße Erlebniswirklichkeit, »keine immanente Form« ist und
ebendeshalb auch als eine Form »der intersubjektiven Objektivität« be-
griffen werden kann. 308
Damit erweist sich die Objektivität als ein genereller Grundzug
jeder Einzelwissenschaft. Denn jede Einzelwissenschaft geht über den
Bereich des direkt Erfahrbaren hinaus. Gerade dadurch unterscheidet
sie sich von der phänomenologisch angelegten Philosophie, die überall
die Möglichkeit eines Rückgangs auf das direkt Erfahrbare sucht. Die so
verstandene Objektivität ist aber keineswegs notwendig das Ergebnis
derjenigen Objektivierung, die für die Naturwissenschaften charakte-
ristisch ist. Die Geisteswissenschaften beruhen nach Husserl auf einer
»Objektivierung höherer Stufe«, 309 die mit der Annahme rein kausaler

303
Ebd., S. 276.
304
Ebd., S. 279.
305 Ebd., S. 257.
306
Ebd., S. 200.
307
Ebd., S. 172.
308
Ebd., S. 200.
309 Ebd., S. 244.

407
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

Eigenschaften von Substanzdingen nicht das Geringste zu schaffen hat.


Die geisteswissenschaftliche Objektivität basiert nicht auf Kausalver-
bindungen, sondern auf Motivationszusammenhängen, die nach Hus-
serl, wie bereits erwähnt, letztlich immer die Bewusstseinsintentionali-
tät – und damit auch den »Geist« – voraussetzen. Aber auch die
geisteswissenschaftliche Objektivität übersteigt den Bereich des direkt
Erfahrbaren. Als »intersubjektive Objektivität« ist sie keine bloße Er-
lebniswirklichkeit, »keine immanente Form«; sie liegt vielmehr über die
Immanenzsphäre des jeweiligen Einzelbewusstseins hinaus.
Einer objektivistischen Auffassung von den Realitätsstufen in der
Gesamtwirklichkeit der Welt leistet die Betonung geisteswissenschaftli-
cher Objektivität in Ideen II allerdings keinen Vorschub. Auch in seiner
Auseinandersetzung mit den Einzelwissenschaften stützt sich Husserl
auf seinen methodologischen Transzendentalismus. Diese Grundpositi-
on drückt sich in seiner Überzeugung aus, die »objektive« Natur »als
das allen subjektiven Existenzen (Erscheinungseinheiten) zugehörige
Intersubjektive« und »als Index der intersubjektiven Regelung der Er-
scheinungseinheiten mit Beziehung auf ihre Subjekte« setze doch das
Subjekt auf eine bestimmte Weise voraus, nämlich als »das absolute
Subjekt mit seinen Erlebnissen, seinen Vermeintheiten, seinen Ver-
nunftakten usw., für das sich die gesamte Natur, die physische wie die
animalische konstituiert«. 310 Dieses »absolute« Subjekt ist für Husserl
natürlich nicht etwa ein göttlicher Geist, sondern das jeweils phänome-
nologisierende Ich, das den Stufengang der Realität in der Gesamtwirk-
lichkeit der Welt nachzuzeichnen sucht und dabei auf die Stufe der ob-
jektiven Natur eingeht.
Die Subjektabhängigkeit der objektiven Natur nimmt aber auch
noch eine andere Gestalt an. Fasst man die geisteswissenschaftliche Rea-
litätsform näher ins Auge, so stößt man »wieder auf Natur und Natur-
wissenschaft: Natur jetzt eine im Zusammenhang der persönlichen
Welt sich konstituierende Objektivität […].« 311 Hier kommen Natur
und Naturwissenschaft von vornherein als Bestandteile einer kulturel-
len Welt in Betracht, die – trotz der ihr eigenen Form der intersubjekti-
ven Objektivität – die Motivationszusammenhänge, die Bewusstseins-
intentionalität und damit auch das geistige Subjekt voraussetzt.
Husserl weist auf die Tatsache dieser doppelten – einerseits trans-

310
Ebd., S. 171.
311 Ebd., S. 209.

408
Erfahrungskategorien von Ding und Welt

zendentalen, andererseits kulturellen – Subjektabhängigkeit der objek-


tiven Natur mit Nachdruck hin. Aber er zieht aus ihr keinen Schluss,
der des Subjektivismus oder des Idealismus zu bezichtigen wäre. Er lei-
tet aus ihr vielmehr nur eine Grundschwierigkeit ab, vor die sich jeder
wohlüberlegte Versuch, die innere Gliederung der Gesamtwirklichkeit
zu erfassen, notwendig gestellt sieht:
»Wir geraten hier, scheint es, in einen bösen Zirkel. Denn setzten wir zu An-
fang die Natur schlechthin, in der Weise, wie es jeder Naturforscher und jeder
naturalistisch Eingestellte sonst tut, und faßten wir die Menschen als Realitä-
ten, die über ihre physische Leiblichkeit ein plus haben, so waren die Personen
untergeordnete Naturobjekte, Bestandstücke der Natur. Gingen wir aber dem
Wesen der Personalität nach, so stellte sich Natur als ein im intersubjektiven
Verband der Personen sich Konstituierendes, also ihn Voraussetzendes dar.« 312
Dieser Zirkel deutet darauf hin, dass sich die naturalistische und die
personalistische Einstellung nicht ohne Weiteres zu einem einheitlichen
Ganzen ergänzen, sondern einander vielmehr ins Gehege kommen.
Ihre Zwiespältigkeit führt aber leicht einen Bruch in die Schichtungs-
theorie der Welt ein. Sie beschwört die Gefahr eines Seinsdualismus
herauf, dem zufolge den beiden Einstellungen nicht so sehr nur zwei
aufeinandergebaute Realitätsstufen – und mit ihnen zwei einander er-
gänzende Wissenschaftsgruppen – entsprechen, sondern vielmehr zwei
Seinsarten, die nicht miteinander zusammenbestehen und daher nur
durch einander widerstreitende Wissenschaftsformen erforscht werden
können. An diese Gefahr erinnert Husserl, indem er die Frage stellt:
»Handelt es sich wirklich um zweierlei Welten, um die ›Natur‹ auf der
einen, die Geisteswelt auf der anderen Seite, beide durch kardinale
Seinsunterschiede gesondert?« 313
In Wahrheit ist die Sachlage noch verwickelter. Denn nicht allein
die Behauptung einer kulturellen Subjektabhängigkeit der objektiven
Natur führt zu einer zirkulären Argumentationsstruktur im Weltent-
wurf und beschwört die Gefahr eines unüberwindlichen Seinsdualis-
mus herauf. Die gleichen Schwierigkeiten bedrohen die These einer
transzendentalen Subjektabhängigkeit der objektiven Natur. Im nächs-
ten Kapitel wollen wir uns den Gegensatz von Naturalismus und Trans-
zendentalismus in verallgemeinerter Gestalt vor Augen führen, bevor
wir auf Husserls Versuch eingehen, diese Schwierigkeiten zu überwin-

312
Ebd., S. 210.
313 Ebd.

409
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

den. Diese Vorgehensweise bietet sich deshalb an, weil sich dem aller-
letzten Paragraphen von Ideen II ein Beweisgrund für die transzenden-
tale Option entnehmen lässt, die von Husserls momentaner Argumen-
tationsstrategie getrennt und ebenfalls in verallgemeinerter Gestalt
gefasst werden kann.

410
Agonale Weltentwürfe

III. Agonale Weltentwürfe

Nach Kants transzendentalphilosophischer Grundeinsicht können wir


die Frage, ob die Welt in Raum und Zeit unendlich ist, niemals entschei-
den, weil die Welt als das All der Erscheinungen »weder als ein an sich
unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes [existiert]«. 314 Aber
die Erscheinungen begegnen uns mitten in einer Welt, in der jedes Ding
auf andere Dinge verweist und damit einen Weg ins Unendliche eröff-
net. Einer Entdeckung der transzendentalen Phänomenologie zufolge
schließt dabei bereits jedes einzelne Ding ein »Erscheinungskontinu-
um« in sich, dem »allseitige Unendlichkeit« zukommt. 315
Daraus kann ein wichtiger Schluss gezogen werden: Selbst wenn
die Welt als physikalisches Universum in Raum und Zeit nicht unend-
lich, sondern endlich sein sollte, müssen wir die Welt, in der wir in
transzendentalphilosophischer Sicht nur die Gesamtheit einstimmiger
Erfahrung sehen können, als eine offen unendliche – mengentheore-
tisch gesagt: »transfinite« – Totalität jeweils bereits ein allseitig unend-
liches Erscheinungskontinuum in sich schließender Dinge auffassen. In
diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Edmund Husserl in den Carte-
sianischen Meditationen die Welt ausdrücklich als »eine unendliche,
auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrungen bezogene
Idee« 316 bestimmt. Es ist aber von vornherein klar, dass wir diese unend-
liche Idee immer nur durch endlich viele einstimmige Erfahrungen be-
legen können. Daraus ergibt sich die paradoxe Struktur der Weltent-
würfe: Ein Weltentwurf ist eine unendliche Idee mit endlich vielen –
unter sich einstimmigen – Erfahrungen als Belegsinstanzen.
Aus dieser paradoxen Struktur philosophischer Weltentwürfe
folgt jedoch wiederum eine grundlegende Einsicht: Da sich endlich viele
– unter sich einstimmige – Erfahrungen grundsätzlich mit verschiede-
nen unendlichen Ideen vereinbaren lassen, sind jeweils mehrere Welt-
entwürfe möglich. Daher ist es auch kein Wunder, dass Weltentwürfe
miteinander immer wieder in Widerstreit geraten. In ihrem Widerstreit

314
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 505 (in der ersten Auflage wird das Wort »Gan-
zes« allerdings in der Gestalt »Ganze« verwendet; die Stelle wird in der zweiten Auflage
berichtigt).
315
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Erstes Buch [Husserliana, Bd. III/1], § 143, S. 331.
316 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.

411
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

geben sie zugleich Anlass zur Entstehung immer wieder neuer Weltent-
würfe. Es liegt wohl keine Übertreibung in der Behauptung, dass der
letzte Grund der Geschichtlichkeit der menschlichen Kultur überhaupt
kein anderer ist als eben die Verschränkung von Endlichkeit und Un-
endlichkeit in der paradoxen Struktur der Weltentwürfe.
Die folgenden Ausführungen gelten einem Widerstreit heute
möglicher Weltentwürfe. Es soll dabei zuerst ein Weltentwurf skizziert
werden, den wir nicht mehr einfach als methodologischen, sondern,
gezielter, als metontologischen Transzendentalismus bezeichnen kön-
nen. In einem zweiten Schritt kann dann gezeigt werden, wie diesem
Weltentwurf in unserer Zeit ein naturalistischer Autarkismus mit einer
gewissen Notwendigkeit entgegentritt. In einem dritten Schritt folgen
schließlich einige Überlegungen zu diesem Widerstreit, die uns eine
Gelegenheit geben werden, auf den letzten Paragraphen von Husserls
Ideen II zurückzugreifen. Wir versuchen, diesem Text einen Beweis-
grund für die transzendentale Option in verallgemeinerter Gestalt zu
entnehmen.

1. Metontologischer Transzendentalismus

Mit Transzendentalphilosophie im modernen Sinne des Wortes ist das


Ergebnis einer ›kopernikanischen‹ Wende in der Geschichte der Meta-
physik gemeint, die von Kant in einer seiner Reflexionen mit einem
gewissen Recht in die folgende Formel gebracht wird: »Subjekt statt
des Objekts.« 317 In der Tat ist die von Kant inspirierte Transzendental-
philosophie in all ihren Formen um einen Weltentwurf bemüht, in dem
der Subjektivität ein ihr gebührender Platz eingeräumt wird. Gleich-
wohl wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, in der Transzendentalphi-
losophie so etwas wie eine Metaphysik der Subjektivität zu sehen.
Damit soll nicht geleugnet werden, dass ein transzendentalphiloso-
phischer Ansatz immer von der Gefahr des Subjektivismus und des
Idealismus bedroht ist. Der ersten Gefahr erliegt die Transzendentalphi-
losophie dann, wenn sie der Erfahrung Bedingungen der Möglichkeit
auferlegt, die nicht aufgewiesen, sondern zum Beispiel aus der Natur

317
Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik [Gesammelte Schriften, Akademie-
Ausgabe, Bd. XVIII, Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter 1928], S. 18 (Aufzeichnung
Nr. 4880).

412
Agonale Weltentwürfe

subjektiver Vermögen a priori erschlossen werden. So führt etwa Kants


Lehre von der transzendentalen Apperzeption ohne Zweifel zu einem
Subjektivismus in der Metaphysik. Denn dieser Lehre zufolge schreibt
die Struktur des Selbstbewusstseins a priori vor, wie eine Erfahrung
beschaffen sein muss, um überhaupt aufkommen zu können. Nur des-
halb kann es in der Kritik der reinen Vernunft heißen: »Es ist nur eine
Erfahrung, in welcher alle Wahrnehmungen als im durchgängigen und
gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden […].« 318 Die Ein-
stimmigkeit der Erfahrung ergibt sich hier als die Erfüllung einer trans-
zendentalen Forderung. Was die Gefahr des Idealismus betrifft, so er-
wächst sie in der Transzendentalphilosophie aus einer in ihrem Kern zu
Recht bestehenden Einsicht, die allerdings bereits Kant auf eine leicht
irreführende Weise formuliert, indem er sagt, von einem Gegenstand,
der »etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein soll«,
könnten wir unmöglich ausgehen, da ein derartiger Gegenstand »für
uns nichts ist«. 319 Schon Fichte folgert aus dieser Einsicht in der Grund-
lage der gesamten Wissenschaftslehre: »Man kann gar nichts denken,
ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewußt, mit hinzu zu denken; man
kann von seinem Selbstbewußtsein nie abstrahieren […].« 320 Der junge
Schelling geht in seinem System des transzendentalen Idealismus noch
weiter: »Der ewige, in keiner Zeit begriffene Akt des Selbstbewußtseins,
den wir Ich nennen, ist das, was allen Dingen das Dasein gibt […].« 321
Ein fragwürdiger Idealismus erwächst aus diesen Gedanken allerdings
erst dann, wenn die Möglichkeit, dass sich etwas im Bewusstsein als
vom Bewusstsein unabhängig erweist, ausgeschlossen wird.
Der Subjektivismusvorwurf und der Idealismuseinwand wurden
auch gegen Husserls transzendentale Phänomenologie nicht selten er-
hoben. Zu diesen Beschuldigungen gaben die veröffentlichten Schriften
gewiss auch manchen Anlass, aber in den Forschungstexten zeichnet
sich ein nuancierteres Bild ab. Für Husserl ist die Einstimmigkeit der
Erfahrung alles andere als eine transzendentale Forderung, die aus der
Natur subjektiver Vermögen a priori abgeleitet werden könnte. Viel-

318
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 110.
319
Ebd., A 105.
320 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), hg. von

Wilhelm G. Jacobs, Hamburg: Meiner 1997, S. 17.


321
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System des transzendentalen Idealismus
[Sämmtliche Werke, Abteilung I, Bd. III], S. 376 (= Ausgewählte Schriften in sechs Bän-
den, Bd. I, S. 444).

413
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

mehr ist sie eine in sich zufällige Urtatsache, die als solche grundsätz-
lich, aus welcher Instanz auch immer, unableitbar bleibt. Eine gewisse
Notwendigkeit – nämlich die »Notwendigkeit eines Faktums« – kommt
dieser Urtatsache nur deshalb zu, weil sie eine unerlässliche Bedingung
der Welt ist. Aber bei Husserl ist die Welt wiederum kein notwendiges
Seiendes, kein ens necessarium, sondern ebenfalls nur eine in sich zu-
fällige Urtatsache: »Weltfaktum«. Was den Idealismuseinwand betrifft,
so verhält es sich damit deshalb weniger einfach, weil sich Husserl auch
noch in späten und spätesten Texten – wie etwa dem Nachwort zu den
Ideen aus dem Jahre 1930 – eindeutig zum transzendentalen Idealismus
bekennt. Aber schon einige Jahre nach der Abfassung der Ideen versteht
er darunter eigentlich einen bloß methodologischen Transzendentalis-
mus, der, wie gesehen, im gewöhnlichen Sinne des Wortes gar nicht als
Idealismus bezeichnet werden kann, da er nur eine rückläufige Konsti-
tution vorangegangener Weltstrecken durch das gegenwärtige Be-
wusstsein erforderlich macht und damit eine bloß materielle Welt »als
Unterstufe und als Anfangsstrecke der Dauer der Welt« ohne Subjekt,
Geist und Bewusstsein sehr wohl zulassen kann. 322
Aber sicherlich können wir der Gefahr von Subjektivismus und
Idealismus in noch erheblicherem Maße vorbeugen, wenn wir die
Transzendentalphilosophie gar nicht aus einer Wende vom Objekt zum
Subjekt hin, sondern aus der Transzendenz im Sinne eines Überstiegs
über die Einzeldinge zur Welt hin ableiten. Die Subjektivität wird da-
durch nicht ausgeklammert, aber sie wird auch nicht der Objektivität
gegenübergestellt. Ein derartiger Versuch wurde von Heidegger in sei-
ner metaphysischen Periode zwischen 1927 und 1930 unternommen.
In dem Vorlesungstext Die Grundprobleme der Phänomenologie
aus dem Sommersemester 1927 leitet Heidegger die Transzendenz noch
aus der damals zum ersten Mal ausdrücklich erfassten »ontologischen
Differenz« 323 ab: »Wir übersteigen das Seiende, um zum Sein zu gelan-
gen. Bei diesem Überstieg versteigen wir uns nicht wiederum zu einem
Seienden, das etwa hinter dem bekannten Seienden läge als irgendeine
Hinterwelt.« 324 Diese Auffassung bleibt jedoch nicht lange erhalten.
Kaum ein Jahr später, im Vorlesungstext Metaphysische Anfangsgrün-
de der Logik im Ausgang von Leibniz aus dem Sommersemester 1928,

322
Vgl. weiter oben, Zweiter Teil, Kap. I, 4 c.
323
Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie [Gesamtausgabe, Bd. 24], S. 33.
324 Ebd., S. 23.

414
Agonale Weltentwürfe

wird die Metaphysik bereits, wie wir weiter oben 325 gesehen haben, in
zwei Teildisziplinen oder Untersuchungsbereiche, Fundamentalontolo-
gie und Metontologie, gegliedert. Damit ändert sich Heideggers Begriff
der Transzendenz: Das Wohin der Transzendenz wird nunmehr nicht
als Sein, sondern als Welt bezeichnet. 326
Die Bedeutung des metontologischen Ansatzes tritt deutlicher zu-
tage, wenn wir bedenken, wie bei Heidegger die beiden Leitbegriffe Sein
und Welt langsam voneinander getrennt werden und wie sich ihr Un-
terschied als ein diakritischer erweist. In Sein und Zeit wird die Welt
noch als Existenzial verstanden. Sie gehört damit zum Sein. Die spärli-
chen Hinweise auf einen andersartigen Weltbegriff, die bereits in Sein
und Zeit enthalten sind, zeigen sich erst nachträglich – vom Gesichts-
punkt der Metontologie aus – in ihrer ganzen Tragweite. Als Existenzial
bleibt die Welt ›subjektiv‹. Heidegger setzt jedoch hinzu: »Diese ›sub-
jektive‹ Welt aber ist dann als zeitlich-transzendente ›objektiver‹ als
jedes mögliche ›Objekt‹.« 327 Eine ähnlich klingende Behauptung über
die Weltzeit haben wir bereits in anderem Zusammenhang herange-
zogen. An diesen Stellen zeichnet sich eine Weltauffassung ab, die eine
gleichzeitige Überwindung von Subjektivismus und Objektivismus in
der Metaphysik verspricht. Aber selbst dieses Versprechen wird erst im
Nachhinein – vom metontologischen Ansatz her – überhaupt als Ver-
sprechen vernehmbar.
In der metontologisch angelegten Metaphysik wird das Seiende
auf die Welt hin überstiegen. Es wird damit gerade nicht als ein an sich
seiendes Ding, sondern vielmehr als ein Ding in der Welt gefasst. Allem
Anschein nach kann die aristotelische Formel vom Seienden als Seien-
dem sinngemäß nur in einer Substanzontologie ihre Erfüllung finden.
Die scotistische Lehre vom univoken Seienden zeichnet zwar einen an-
deren Weg zum Verständnis dieser Formel vor, aber der so vorgezeich-
nete Weg mündet, wenn auch nicht unbedingt bei Duns Scotus selbst,
so zumindest bei vielen seiner Nachfolger bis hin zu Christian Wolff
und Alexander Baumgarten, in eine bloße Lehre vom Etwas überhaupt
(also in eine »Tinologie«) ein, der ein unmittelbarer Bezug auf das
Wirklichsein fehlt. Der metontologische Ansatz deutet dagegen eine

325
Vgl. Zweiter Teil, Kap. II.
326
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 212.
327 Heidegger, Sein und Zeit, S. 366.

415
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

echte Alternative zur Substanzontologie an, indem er das Seiende als


ein Ding in der Welt begreift. Er begründet eine Als-Metaphysik, die –
anders als die aristotelische Substanzontologie – die Falle des Objekti-
vismus oder, genauer, der objektivierenden Verdinglichung vermeiden
kann. Das μετά der Metontologie deutet jenseits der Ontologie eine
metaphysische »Ontik« im Sinne einer Lehre von der Gesamtartikula-
tion der Welt an.
Ähnlich wie beim späten Husserl der Rückgang auf die Lebenswelt
verbindet sich der metontologische Weltentwurf bei Heidegger mit
einer antinaturalistischen Tendenz. Es heißt im Vorlesungstext Meta-
physische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz: »Das
Dasein ist geworfenes, faktisches, durch seine Leiblichkeit ganz inmit-
ten der Natur, und gerade darin, daß dieses Seiende, inmitten dessen es
ist und wozu es selbst gehört, von ihm überschritten wird, liegt die
Transzendenz. Mit anderen Worten: das Dasein ist als transzendieren-
des über die Natur hinaus, obzwar es als faktisches von ihr umschlun-
gen bleibt.« 328
Das Dasein kann nach Heidegger nur deshalb im Gegensatz zum
Tier als ›weltbildend‹ bezeichnet werden, weil es als transzendierendes
über die Natur hinaus ist. Deshalb kann es aber auch nicht naturalis-
tisch begriffen werden. Im Gegensatz zu Max Scheler und Nicolai Hart-
mann greift Heidegger dabei nicht einmal zu einem Stufen- oder
Schichtenmodell, um die faktische Abhängigkeit des Menschen von
der Natur mit dessen weltbildender Transzendenz zu vereinigen. Viel-
mehr verwirft er selbst noch in seiner Vorlesung Grundbegriffe der
Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit den Gedanken, dass »so-
genannte Regionen des Seins nebeneinander oder über- oder hinter-
einander geschachtelt« seien, und hält an der Überzeugung fest, dass
derartige Regionen nur »innerhalb eines und aus einem Walten der
Welt heraus« bestehen könnten. 329 Das eigentlich Interessante am me-
tontologischen Ansatz ergibt sich aber nicht daraus, dass Heidegger den
Naturalismus ablehnt, sondern eher daraus, dass er dem Naturalismus
einen Transzendentalismus gegenüberstellt, der sich nicht aus einem
bloßen »Rückgang auf das Subjekt«, sondern aus dem Überstieg über

328
Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz [Ge-
samtausgabe, Bd. 26], S. 212.
329
Heidegger, Grundbegriffe der Metaphysik: Welt–Endlichkeit–Einsamkeit [Gesamt-
ausgabe, Bd. 29/30], S. 514. Vgl. weiter oben, Zweiter Teil, Kap. II, 5.

416
Agonale Weltentwürfe

das Seiende zur Welt hin ergibt. 330 Er drückt damit eine wesenhafte
Grundtendenz der Phänomenologie vielleicht noch deutlicher aus als
Husserl in seinem Rückgang auf die Lebenswelt. Denn daraus wird klar,
dass zum Transzendentalismus der Phänomenologie keineswegs allein
ein Ausgang vom Cogito, vom Bewusstsein, von der Subjektivität ge-
hört, sondern ebenfalls – oder mehr noch – eine metontologische Trans-
zendenz, also ein Übergang vom Ding zur Welt. Gemeint ist dabei ein
Übergang, der ganz allgemein schon als Weltbildung in Kunst, Mythos,
Religion und Kultur überhaupt vonstatten geht, aber spezieller noch als
Weltentwurf von Philosophie und Wissenschaft getragen ist.
Gleichwohl soll der Terminus »metontologisch« weiterhin nicht
einfach als die Bezeichnung einer metaphysischen »Ontik« im Sinne
von Heidegger verstanden werden. Denn es wird im Folgenden ein Ver-
such unternommen, den metontologischen Transzendentalismus radi-
kaler zu fassen, indem ein weiterer diakritischer Unterschied, nämlich
die grundlegende Differenz zwischen Totalität und Unendlichkeit, mit
beachtet wird. Die Einbeziehung dieses Gesichtspunkts in die metonto-
logischen Untersuchungen verbietet es nunmehr, die Welt auf Hei-
degger’sche Art als das »Seiende im Ganzen« zu bestimmen, da sie
durch eine Unendlichkeit charakterisiert ist, die ihr, wie wir sehen wer-
den, eine unaufhebbare Offenheit zukommen lässt, so dass sie auf kei-
nen Fall mit dem jeweiligen Seinsganzen gleichgesetzt und als eine ge-
schlossene Seinstotalität aufgefasst werden kann. Diese Einsicht
begründet eine Abweichung von Heideggers ursprünglichem Verständ-
nis der Metontologie, selbst wenn sie den metontologischen Charakter
des Übergangs vom Ding zur Welt eigentlich nur bestätigt oder sogar
verstärkt. Denn die Unterscheidung zwischen Totalität und Unendlich-
keit macht erst recht begreiflich, warum die Metontologie notwendig
über jegliche Ontologie hinausgehen muss. Der Grund liegt nämlich
darin, dass die metontologische Transzendenz über die jeweilige Seins-
totalität hinaus ins Unendliche führt.
An dem metontologischen Transzendentalismus in diesem radika-
lisierten Sinne des Wortes wird im Folgenden selbst noch Heideggers

330
In dem Vorlesungstext Die Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommer-
semester 1927 spricht Heidegger wiederholt und durchaus einvernehmlich von einem
›Rückgang auf das Subjekt‹ und entdeckt ihn nicht erst in der neuzeitlichen Philosophie,
sondern bereits in der griechischen Metaphysik (vgl. Gesamtausgabe, Bd. 24, S. 103,
S. 155, S. 220 und S. 444). Erst in der metontologischen Periode bringt er jedoch die
Subjektivität des wohlverstandenen Subjekts in Zusammenhang mit der Weltbildung.

417
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

späterem Ereignisdenken gegenüber festgehalten. Werke aus der spä-


testen Phase von Heideggers Entwicklung – einer Epoche, die etwa um
1955 herum beginnt – zeigen zwar deutlich, dass sich dieses Ereignis-
denken vom Bann eines »anderen Anfangs« und dem ursprünglich da-
rauf gegründeten Anliegen einer »Überwindung der Metaphysik«
letztlich freimachen konnte. In dieser Gestalt fand es auch eine gewisse
Weiterführung in der Neuen Phänomenologie Frankreichs und den ihr
verwandten Denkansätzen anderer Länder. Für die gegenwärtige
Grundlegung einer phänomenologischen Metaphysik ist diese Weiter-
führung von Heideggers Ereignisdenken in der Gegenwartsphilosophie
geradezu bestimmend. Nicht zufällig war in unserem bisherigen Ge-
dankengang wiederholt vom Ereignis des Erscheinens die Rede. Bei
Heidegger selbst bleibt aber das Ereignis immer ein Seinsbegriff. Im
Vortragstext »Zeit und Sein« aus dem Jahre 1962 heißt es: »Im ›Es‹ des
›Es gibt Sein‹ spricht ein Anwesen von solchem, was abwest, also in
gewisser Weise ein Sein.« 331 Mit dieser Feststellung gehört ein weiterer
Satz zusammen: »Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im ›Es gibt
Sein‹, ›Es gibt Zeit‹, als das Ereignis.« 332 Nicht ohne Grund bekämpft
Jean-Luc Marion in seinem Hauptwerk, Étant donné, diese Gleichset-
zung des Es mit einem Ereignis, das demnach, wenn auch nur »in ge-
wisser Weise«, aber doch als ein Sein zu gelten hat. 333 Denn in Wahrheit
lässt sich das, was, wie Marion sagt, »sich gibt« (se donne), nicht auf das
Sein beschränken. Mit »Ereignis« ist bei Heidegger bekanntlich nicht
etwa eine beliebige »Begebenheit« gemeint, sondern ein »Er-Eignis«,
ein »Zu-Eigen-geben«. Als solches ist das Ereignis jedoch, wie Marion
meint, eine Gabe oder, wie man es ohne Wertakzent sagen kann, ein
Widerfahrnis. Auf jeden Fall ist es kein schlechthinniges Geschehen,
sondern ein Geschehen, das notwendig etwas oder jemandem wider-
fährt. Ein derartiger Widerfahrnischarakter ist aber nicht allein für das
Sein bezeichnend. Er ist daher zwar eine notwendige, aber keine hinrei-
chende Bedingung dafür, mit »Ereignis« von vornherein ein Sein zu
meinen. Ist etwa die Idee des Unendlichen, wie Husserl es behauptet,
durch eine Einsichtigkeit gekennzeichnet, so weist sie, wie übrigens
jeder Denkinhalt, der in einer Einsicht deutlich wird oder auch nur in
einem Einfall auftaucht, ebenfalls einen Widerfahrnischarakter auf.

331
Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 23.
332
Ebd., S. 24.
333 Marion, Étant donné, S. 58.

418
Agonale Weltentwürfe

Diese Beobachtung deutet darauf hin, dass die Festlegung »Sein als das
Ereignis« 334 zu kurz greift. Das Unendliche als Denkinhalt – als das Zu-
Denkende – weist über diese Festlegung hinaus. Auch ihm kommt ein
deutlicher Widerfahrnischarakter und damit eine gewisse Ereignis-
haftigkeit zu (selbst wenn es natürlich keine »Begebenheit«, kein »Ge-
schehen« in der Welt ist).
Der Gedanke einer metontologischen Transzendenz im Sinne eines
Übergangs vom Ding zur – wohlverstandenen – Welt gibt der plato-
nisch-neuplatonischen Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ eine neue Aktua-
lität. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Heidegger in seiner Spätzeit –
etwa mit seiner Rede von einem Verschwinden des Seins im Ereignis 335
und einer Einkehr des Denkens in das Ereignis 336 – eigentlich das Glei-
che meinte. Sollte das der Fall gewesen sein, so konnte er in seiner von
Olivier Boulnois erwähnten »Neuplatonismusvergessenheit« für diese
Gedanken nicht den philosophisch unmissverständlichen Ausdruck
finden.
Zur hier angestrebten Radikalisierung des metontologischen
Transzendentalismus finden sich bei Husserl, der in Anknüpfung von
Georg Cantors Mengentheorie eine eigenständige Philosophie des Un-
endlichen entwickelt hat, mehr Anhaltspunkte als bei Heidegger. Auch
aus diesem Grunde soll der Terminus »metontologisch« im Folgenden
nicht als ein spezieller Hinweis auf Heideggers metaphysische Periode,
sondern eher als die Bezeichnung einer radikalisierten Fassung des me-
thodologischen Transzendentalismus verstanden werden, der für die
Phänomenologie auch schon in ihrer Husserl’schen Version charakte-
ristisch war.
Auch dem so verstandenen Transzendentalismus tritt der Natura-
lismus mit einer gewissen Notwendigkeit entgegen. Aber er verschreibt
sich dabei nicht etwa einem Objektivismus im Allgemeinen, sondern er
nimmt selbst die Gestalt eines Weltentwurfs an. Es handelt sich dabei
um einen Weltentwurf, der aus dem Glauben an eine in sich geschlos-
sene Selbstgenügsamkeit der Natur erwächst.

334
Heidegger, Zur Sache des Denkens [Gesamtausgabe, Bd. 14], S. 26.
335
Ebd., S. 27.
336 Vgl. ebd., S. 44, S. 50 und S. 59.

419
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

2. Naturalistischer Autarkismus

In der phänomenologischen Tradition wurde bisher allzu wenig ge-


sehen, wie wichtig der Glaube an eine in sich geschlossene Selbstgenüg-
samkeit der Natur für eine relevante Bestimmung des Naturalismus ist.
Unter Naturalismus im ontologischen Sinne des Wortes wird zumeist
die Überzeugung verstanden, dass die naturwissenschaftlichen Theo-
rien darüber entscheiden, was wirklich ist und was nicht. Mit dieser
Überzeugung verbindet sich oft ein Programm des Reduktionismus
oder eine Theorie von Emergenz und neuerdings auch ein Begriff von
Supervenienz. Selten wird jedoch eigens hervorgehoben, dass die natu-
ralistische Grundüberzeugung auch einen Glauben an die Welt als Na-
tur im Sinne eines in sich geschlossenen Ganzen mit sich bringt. Aller-
dings gibt es verschiedene Versuche, diesen Glauben, der für die
Einstellung der Naturwissenschaften durchaus bezeichnend ist, genauer
zu erfassen.
Einer der ersten Versuche dieser Art stammt von Alfred North
Whitehead. In einer Vortragsreihe, die er im Jahre 1919 am Trinity
College in Dublin hielt, prägte er die Formel »nature is closed to mind«,
um den Begriff der Natur zu bestimmen. 337 Damit ist allerdings alles
andere als eine metaphysische Gegenüberstellung von Natur und Geist
gemeint. Whitehead begreift die Natur als die Gesamtheit dessen, was
wir durch sinnliche Wahrnehmung beobachten. Er meint jedoch, dass
es zwar keine sinnliche Wahrnehmung ohne Selbstbewusstsein gibt,
aber das Selbstbewusstsein dennoch nicht zur Natur gehört. Vielmehr
ist die Natur, wie er sagt, »in sich geschlossen« oder auch »selbst-
genügsam« (self-contained) gegenüber dem Selbstbewusstsein. Ebenso
selbstgenügsam oder in sich geschlossen ist die Natur gegenüber dem
Denken. Darunter versteht Whitehead nichts anderes, als dass wir die
Natur denken können, ohne gleichzeitig das Denken zu denken. 338 Der
Denkgehalt unseres Denkens ist dann gegenüber dem Denken selbst in
sich geschlossen oder selbstgenügsam. Die Formel ›nature is closed to
mind‹ drückt nur zusammenfassend aus, dass die Natur sowohl gegen-
über dem Selbstbewusstsein, das die sinnliche Wahrnehmung begleitet,

337
Alfred North Whitehead, The Concept of Nature. The Tarner Lectures Delivered in
Trinity College, November 1919, Minneapolis: Filiquarian Publishing LLC/Qontro o. J.,
S. 9.
338 Ebd., S. 8.

420
Agonale Weltentwürfe

als auch gegenüber dem Denken, das die Gegenstände der sinnlichen
Wahrnehmung erfasst und bedenkt, auf diese Weise selbstgenügsam
oder in sich geschlossen, mit einem Wort: autark ist.
Zur Eigentümlichkeit dieses Naturbegriffs gehört, dass Whitehead
die Zweiteilung der Natur in sinnlich-qualitative Erscheinungen und in
abstrakt-quantitative Ereignisse von der Hand weist. »Für die Natur-
philosophie« – sagt er – »ist alles Wahrgenommene in der Natur. Wir
dürfen nicht aussuchen und auswählen. Für uns soll das rote Glühen
des Sonnenuntergangs ebenso sehr Teil der Natur sein wie die Moleküle
und die elektrischen Wellen, mit deren Hilfe Wissenschaftler dieses
Phänomen erklären.« 339 So zeichnet sich vor uns das Bild eines ge-
schlossenen Ganzen ab, das von umfassenden Beziehungen zwischen
Ereignissen durchzogen ist, ohne jedoch irgendwelche Hinweise auf
Bewusstsein, Denken, Geist zu enthalten und auch ohne Anknüpfungs-
punkte für ethische oder ästhetische Werte zu bieten, die nach White-
head immer nur die »selbstbewusste Tätigkeit« mit der Natur verbinden
kann. 340
Wie jeder naturalistisch angelegte Weltentwurf muss auch dieser
Begriff der Natur als Träger bisher uneingelöster Versprechen betrach-
tet werden. Wie Pierre Kerszberg mit vollem Recht hervorhebt, bleibt
es »eine Wette, zu wissen, ob es eine hinreichende Kohärenz zwischen
einerseits der wahrgenommenen Wärme und Röte des Feuers und an-
dererseits der Bewegung der Moleküle, der durch sie abgegebenen
Strahlungsenergie und dem Verhalten des erwärmten Körpers gibt«. 341
Doch hat der von Whitehead ausgearbeitete Begriff der Natur das Ver-
dienst, deutlich gemacht zu haben, wie die Naturwissenschaften in
ihrem eigenen Bereich grundsätzlich davon absehen, dass sie sich stän-
dig auf Wahrnehmungen und Gedanken eines mit Geist, Denken und
Selbstbewusstsein ausgestatteten Wesens stützen, das sich nicht allein
mit Naturforschung befasst, sondern sich darüber hinaus etwa auch
noch zu ›ethischen und ästhetischen Werten‹ verhält.
Ein weiterer Versuch, den Glauben der Naturwissenschaften an
das in sich geschlossene Ganze der Natur philosophisch zu begreifen,
stammt von Wilfried Sellars, der diesem Glauben allerdings auch
Schranken zu setzen sucht. In einem bemerkenswerten Aufsatz, der

339
Ebd., S. 21.
340
Ebd., S. 9.
341 Pierre Kerszberg, L’ombre de la nature, Paris: Cerf 2009, S. 165.

421
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

sein Hauptwerk Science, Perception and Reality eröffnet, stellt er das


»offensichtliche« und das »wissenschaftliche Bild« der Dinge und des
Menschen einander gegenüber. 342 Das offensichtliche Bild verschmilzt
in seiner Darstellung mit einer Alltagspraxis, die durch eine personalis-
tische Einstellung gekennzeichnet wird. Das bedeutet jedoch keines-
wegs, dass es nicht auch theoretisch bearbeitet würde. Es nährt sich
vielmehr aus einem höchst ausgebreiteten Wissen, das sich jedoch auf
Feststellungen beobachtbarer Korrelationen beschränkt. Dagegen be-
ruht das wissenschaftliche Bild der Dinge und des Menschen auf der
Annahme postulierter Entitäten, die sich als solche der sinnlichen
Wahrnehmung grundsätzlich entziehen.
Sellars geht davon aus, dass der Konflikt zwischen den beiden Bil-
dern unvermeidbar ist, weil beide einen Anspruch darauf erheben, zu
bestimmen, was wirklich ist und was nicht. Diese Feststellung trifft
selbstverständlich auf das offensichtliche Bild der Dinge und des Men-
schen zu, das sich bis zur wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit
einer geradezu ungeteilten Anerkennung erfreut hat und der Philoso-
phie auch weiterhin in breiten Kreisen zugrunde liegt. Es bestimmt die
Welt dessen, was Sellars als »sophisticated common sense« bezeich-
net. 343 Parallelen dieser Deutung des offensichtlichen Bildes zum phä-
nomenologischen Lebensweltbegriff springen ins Auge. Sellars zeigt
aber weiterhin, dass auch das wissenschaftliche Bild der Dinge und des
Menschen einen Realitätsanspruch erhebt und deshalb mit dem ›aus-
gebildeten gesunden Menschenverstand‹ notwendig in Wettstreit
tritt. 344 Diese Rivalität entsteht trotz der Tatsache, dass – vom methodo-
logischen Gesichtspunkt aus gesehen – jede wissenschaftliche Theorie
an verschiedenen Orten in der intersubjektiv zugänglichen Wahrneh-
mungswelt aufgebaut wird und sich auf Verfahrensweisen stützt, die
auf dem Boden dieser Welt stehen. 345 Aus dieser Tatsache folgt, dass
die Wissenschaft methodologisch von der Welt des ›ausgebildeten ge-
sunden Menschenverstandes‹ ein für alle Mal abhängig bleibt und in
diesem Sinne niemals auf eigenen Füßen zu stehen kommt. Gleichwohl
tritt sie in Konkurrenz mit dem offensichtlichen Bild der Dinge und des

342
Wilfried Sellars, »Philosophy and the Scientific Image of Man«, in: Science, Percepti-
on and Reality, London: Routledge and Kegan Paul und New York: The Humanities
Press 1963, S. 1–40.
343
Ebd., S. 20.
344
Ebd.
345 Ebd.

422
Agonale Weltentwürfe

Menschen, weil sie einen Anspruch darauf erhebt, ein »in sich vollstän-
diges Bild« von der Welt zu bieten. 346
Ähnlich wie Whitehead hebt Sellars hier hervor, dass die Wissen-
schaft ihren Gegenstand als ein in sich geschlossenes Ganzes versteht.
Deshalb kann aber ihrem Realitätsanspruch keine Kritik etwas anhaben,
die ihr nur ihre Abhängigkeit von der Welt des ›ausgebildeten gesunden
Menschenverstandes‹ vorhält. Sicherlich kann man etwa mit George
Edward Moore dafür argumentieren, dass Tische und Stühle, so wie
wir sie aus unserem Alltagsleben kennen, als solche gar nicht aus Ele-
mentarteilchen bestehen können, die sich der Wahrnehmbarkeit grund-
sätzlich entziehen, weil Gegenstände des Alltagslebens notwendig
immer nur wahrnehmbare Eigenschaften und wahrnehmbare Bestand-
teile haben können. Aber ein derartiges Argument setzt den begriff-
lichen Gesamtrahmen voraus, der unserer alltäglichen Auffassung von
Tischen und Stühlen zugrunde liegt, ohne zu begreifen, dass es gerade
dieser Gesamtrahmen ist, den das wissenschaftliche Bild der Dinge und
des Menschen in Frage stellt und außer Spiel zu setzen sucht. 347
Sellars ist der Philosophie von Immanuel Kant zu sehr verbunden,
um die Ersetzung des offensichtlichen Bildes durch das wissenschaftli-
che ohne Weiteres zu befürworten. Er lässt sich vielmehr durch die Idee
leiten, dass die Welt des ›ausgebildeten gesunden Menschenverstandes‹
vor allem eine Welt von Personen ist, die ihre Absichten frei verfolgen
und dabei bindenden Sollensansprüchen zu entsprechen suchen. 348 Kein
wissenschaftliches Bild der Dinge und des Menschen kann und darf
nach Sellars diese Welt der Personen jemals verdrängen. Das bedeutet
aber nicht, dass der Anspruch des offensichtlichen Bildes der Dinge und
des Menschen, zu bestimmen, was wirklich ist und was nicht, der He-
rausforderung durch die Wissenschaft standhalten könnte.
Mit Whitehead und Sellars haben wir zwei Denker ausgewählt, die
einem naturalistischen Realismus das Wort reden. Beide gehen dabei
auf äußerst differenzierte Weise ans Werk. Sie vertreten keinen vor-
schnellen Reduktionismus. Vielmehr schützen sie geradezu die Sphäre
ethischer und ästhetischer Werte bzw. die Welt freier Entscheidungen
und bindender Sollensansprüche vor naturalistischen Angriffen. Aber
dem Realitätsanspruch der Naturwissenschaft versuchen sie vielleicht

346
Ebd.
347
Ebd., S. 27.
348 Ebd., S. 39 f.

423
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

energischer noch als grobschlächtigere Naturalisten vom positivisti-


schen Schlag Geltung zu verschaffen. Sie stützen sich dabei auf den
Gedanken, dass die Naturwissenschaft ihrem Gegenstand eine Ge-
schlossenheit und Selbstgenügsamkeit zuschreibt, die ihrer wissen-
schaftlichen Darstellung den Charakter eines in sich vollständigen Bil-
des verleiht.
Ein naturalistischer »Autarkismus« dieser Art kann in neueren
Ansätzen erkannt werden. Es genügt in diesem Zusammenhang, den
»Eigenschaftsdualismus« von David Chalmers als Beispiel anzuführen.
Es handelt sich um einen Dualismus, dem zufolge »das Bewusstseins-
erlebnis (conscious experience) einer Einzelheit Eigenschaften dieser
Einzelheit in sich schließt, die nicht aus den physikalischen Eigenschaf-
ten dieser Einzelheit ableitbar sind, obgleich sie eine gesetzmäßige Ab-
hängigkeit von diesen physikalischen Eigenschaften aufweisen kön-
nen.« 349 Chalmers fügt hinzu: »Das Bewusstsein ist ein Grundzug der
Welt, die zusätzlich zu physikalischen Zügen der Welt mit da ist und
über sie hinausgeht.« 350 Nach so vielen Versuchen kognitivistisch ein-
gestellter Denker, das Bewusstsein zu erklären – oder vielmehr weg-
zuerklären 351 –, wird hier das Bewusstsein endlich wieder einmal ernst
genommen. Chalmers macht einen grundlegenden Unterschied einer-
seits zwischen dem Phänomenalen und dem Psychologischen, anderer-
seits zwischen Phänomenologie und Kognitivismus und erklärt jede Art
von »materialistischem Monismus« für ein Ding der Unmöglichkeit. 352
Ohne Ausnahme verwirft er damit die wohlbekannten Varianten des
Reduktionismus; in seinen Augen »unterscheidet sich der reduktive
Funktionalismus gar nicht erheblich vom Eliminativismus«. 353 Indes
redet Chalmers mit seinem gesamten Unternehmen nur einem »natu-
ralistischen Dualismus« das Wort. 354 In diesem Sinne ist die Grundthe-
se seiner Bewusstseinstheorie zu verstehen, der zufolge es »einen Zu-
sammenhang zwischen dem Bewusstseinserlebnis und der kognitiven

349
David J. Chalmers, The Conscious Mind. In Search of a Fundamental Theory, Ox-
ford, New York u. a.: Oxford University Press 1996, S. 125.
350
Ebd.
351 Siehe zum Beispiel Daniel Dennett, Consciousness Explained, New York, Boston and

London: Back Bay Books/Little, Brown and Co. 1991.


352
Chalmers, The Conscious Mind, S. 129.
353
Ebd., S. 165.
354 Ebd., S. 128.

424
Agonale Weltentwürfe

Struktur« geben muss. 355 Was er damit zu zeigen sucht, ist, dass die
phänomenologische Dimension des Erlebens und Erfahrens der Wirk-
lichkeit letztlich in eine naturalistische Gesamtansicht der Welt inte-
griert werden kann. Wie Whitehead und Sellars bleibt auch Chalmers
der Annahme verhaftet, dass die Natur eine geschlossene und gleich-
artige (homogene) Totalität ist, die durch Selbstgenügsamkeit gekenn-
zeichnet ist.
Es ist nicht schwer, in dem ›naturalistischen Autarkismus‹, wie wir
diese Einstellung bezeichnen können, einen Weltentwurf zu erkennen,
der dem metontologischen Transzendentalismus der Phänomenologie
antinomisch gegenübersteht.

3. Ein Beweisgrund für die transzendentale Option –


mit agonalem Respekt angeführt

Das Ding in der Welt ist und bleibt Träger agonaler Weltentwürfe. Es
wäre dem gewiss nicht so, wenn der Welthorizont je vollständig ent-
faltet werden könnte. Aber dieser Konditionalsatz drückt nicht Poten-
tialität, sondern Irrealität aus. Der Unterschied zwischen dem erschei-
nenden Ding und dem Welthorizont gehört zur unaufhebbaren Grund-
struktur der Erfahrung.
Durch den Realitätsanspruch ihrer postulierten Entitäten streitet
die Wissenschaft der Lebenswelt das Recht ab, das Ding in der Welt
ontologisch zu bestimmen. Durch ihren Anspruch auf erscheinungs-
mäßige Ausweisbarkeit streitet aber die lebensweltliche Erfahrung der
Wissenschaft genauso das Recht ab, ein Ansichsein anzunehmen, das
mit der Erscheinungswelt unmittelbar nichts mehr zu tun hat.
Sellars betont, dass der Tradition der Philosophie – im Sinne von
philosophia perennis – das offensichtliche Bild der Dinge und des Men-
schen zugrunde liegt. In seiner Gegenwartszeit betrachtet er nicht allein
die gesamte ›kontinentale‹ Philosophie als eine Weiterführung der so
verstandenen philosophia perennis, sondern auch erhebliche Teile der
analytischen Philosophie, vor allem die von Ludwig Wittgenstein, Gil-
bert Ryle, John Langshaw Austin, Peter Frederic Strawson und anderen
initiierte ordinary language philosophy. Gleichwohl wäre es irrefüh-
rend und vereinfachend, den gerade beschriebenen Konflikt zwischen

355 Ebd., S. 218.

425
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

agonalen Weltentwürfen auf einen Gegensatz von Wissenschaft und


Philosophie zu reduzieren. Abgesehen davon, dass von Wissenschaft
hier nur im Sinne des englischen Wortes ›science‹ die Rede ist und dass
es dem deutschen Sprachgebrauch gemäß auch Geisteswissenschaften
gibt, die im Englischen nicht zu den ›sciences‹, sondern zu den ›huma-
nities‹ gerechnet werden, handelt es sich um einen Konflikt, der auch
die Philosophen in einander entgegengesetzte Lager teilt. Bereits Hus-
serl versucht in seinem Alterswerk Die Krisis der europäischen Wissen-
schaften und die transzendentale Phänomenologie den Anspruch der
lebensweltlichen Erfahrung auf erscheinungsmäßige Ausweisbarkeit
gegen den mathematisierenden Platonismus der neuzeitlichen Natur-
wissenschaft geltend zu machen. Heidegger und andere Phänomenolo-
gen gehen in eine ähnliche Richtung, und so verhält es sich auch mit
anderen Strömungen der kontinentaleuropäischen Philosophie.
So weit ausgedehnt aber dieser Konflikt auch immer sein mag, er
ist solange keine Antinomie, als wissenschaftlich postulierte Entitäten
uns gleichsam Stück für Stück als Korrektive lebensweltlicher Erfah-
rung entgegentreten. Husserl hat das Phänomen einer Einströmung
wissenschaftlicher Ergebnisse in die Lebenswelt deutlich erkannt. Die
lebensweltliche Erfahrung begründet einen Wirklichkeitsbegriff, an
dem in einem bestimmten Sinne gar nicht gerüttelt werden kann. Ge-
meint ist der Begriff von Lebenswirklichkeit. Der Alltagswelt kommt
eine Lebenswirklichkeit zu, der wissenschaftliche Entdeckungen kaum
etwas anhaben können. Die lebensweltliche Erfahrung ist indes lern-
fähig. Solange sie nur mit wissenschaftlichen Ergebnissen konfrontiert
ist, die auf sie berichtigend einwirken, lässt sie sich durch diese Ergeb-
nisse erweitern. Die Überzeugung, dass die Tuberkulose durch die von
Robert Koch entdeckten Bazillen verursacht wird, hat die Alltagspraxis
umso leichter durchdrungen, als das Mikroskop diese Bazillen sichtbar
zu machen vermochte. Vielleicht besteht aber die Schwierigkeit auch
nicht einfach darin, dass z. B. die moderne Atomphysik Elementarteil-
chen annimmt, die immer nur mittelbar und niemals unmittelbar beob-
achtet werden können. Der Konflikt spitzt sich vielmehr erst dadurch
unheilvoll zu, dass dem Reich postulierter Entitäten der Charakter
eines in sich geschlossenen und selbstgenügsamen Ganzen zugeschrie-
ben wird, das der Lebenswirklichkeit schroff gegenübersteht. Aber
allem Anschein nach bestimmt diese Ansicht geradezu die Grundein-
stellung der Wissenschaft (zumindest im Sinne von science).
Wir ziehen nur die letzte Konsequenz aus diesen Überlegungen,

426
Agonale Weltentwürfe

wenn wir behaupten, dass die eigentliche Antinomie zwischen dem na-
turalistischen Autarkismus und dem metontologischen Transzendenta-
lismus besteht. Der Welt als Natur im Sinne eines in sich geschlossenen
und selbstgenügsamen Ganzen steht die Idee der Transzendenz im Sin-
ne eines Überstiegs über die Einzeldinge zur Welt hin gegenüber. Das
sind die beiden Weltentwürfe, die in ihrem Wettstreit oder Wettkampf
(ἀγών) das neuzeitliche Denken bis heute bestimmen. Wir behalten uns
das Recht vor, hier nicht überhaupt von rivalisierenden, sondern eher
von agonalen Weltentwürfen zu sprechen, weil wir einen Wettstreit
oder Wettkampf (ἀγών) meinen, der – wie man mit Kant sagen könnte
– aus einer »Antinomie der reinen Vernunft« erwächst.
Das Verhältnis von metontologischem Transzendentalismus und
naturalistischem Autarkismus wäre nicht antinomisch, wenn sich nicht
beide Weltentwürfe auf völlig zutreffende Grundeinsichten stützen
könnten. Aber gerade das ist der Fall. Der metontologische Transzen-
dentalismus macht die Beobachtung geltend, dass jeder Weltentwurf als
solcher ein weltbildendes Wesen mit Geist, Bewusstsein und Subjekti-
vität voraussetzt, das nicht etwa einer überschaubaren Umweltlichkeit
verhaftet bleibt, sondern die Einzeldinge zur Welt hin zu übersteigen
vermag. Sieht man von diesem Wesen bei der Erklärung der Natur-
begegebenheiten ein für alle Mal ab, so verschanzt oder verfängt man
sich in einer Einseitigkeit, die sich bei näherem Zusehen als eine meta-
physische Verstocktheit herausstellt. Der naturalistische Autarkismus
führt jedoch eine nicht weniger zutreffende Grundeinsicht gegen diesen
Einwand ins Feld, indem er darauf hinweist, dass es eine in sich ge-
schlossene Natur bereits vor der Entstehung eines weltbildenden We-
sens mit Geist, Bewusstsein und Subjektivität gegeben hat und das Er-
scheinen eines derartigen Wesens auf der Weltbühne sinnvoll gerade
nur als eine Begebenheit innerhalb der in sich auch weiterhin geschlos-
senen Natur verständlich gemacht werden kann. Hält man diese Grund-
einsicht nicht in Ehren, so verfällt man einer metaphysischen Verstie-
genheit, die Wissenschaft und Philosophie gleichermaßen zugrunde
richtet.
Eine endgültige Auflösung dieser Antinomie ist wohl schon des-
halb keineswegs in Sicht, weil der naturalistische Autarkismus, wie er-
wähnt, bisher uneingelöste Versprechen in sich schließt, von denen nie-
mand wissen kann, ob sie jemals eingelöst werden können. Niemand
weiß ja, ob und wie Geist, Bewusstsein, Subjektivität, Transzendenz
und Geschichtlichkeit aus einer in sich geschlossenen Natur begriffen

427
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

werden könnten. Was andererseits den metontologischen Transzenden-


talismus betrifft, so lassen sich seine Wurzeln zwar bis zu Kants Lehre
von der Antinomie der reinen Vernunft zurückverfolgen, aber in seiner
ausgeprägten Gestalt ist er doch gerade erst das Produkt eines Versuchs,
der transzendentalen Tradition eine neue Wendung zu geben. Auch er
trägt deshalb programmatische Züge an sich. Infolgedessen nimmt je-
doch die Antinomie die Gestalt eines Wettstreits an und erhält damit
einen agonalen Charakter.
Wenn wir uns in dieser Situation doch mehr vom metontologi-
schen Transzendentalismus als vom naturalistischen Autarkismus an-
gezogen fühlen, können wir verschiedene Argumente anführen, um
unsere Wahl zu begründen. Hier können wir uns auf ein einziges Ar-
gument beschränken, das dem allerletzten Paragraphen von Husserls
Ideen II entnommen werden kann. In diesem Paragraphen dreht sich
alles um den Gedanken, dass die Natur dem Geist, dem Bewusstsein
und der Subjektivität nicht als geschlossenes Ganzes gegenübersteht,
weil die Individuation in der Natur notwendig unvollendet bleibt: »Kein
Ding hat in sich selbst seine Individualität.« 356 Dieser Satz drückt nur
die letzte Konsequenz aus, die in der Phänomenologie aus dem Bruch
mit der Substanzontologie aristotelischer Provenienz gezogen werden
kann. Das wird deutlich, wenn wir uns dem Gedankengang zuwenden,
das den Kern des uns interessierenden Arguments bildet.
Husserl stellt die Frage: »Ist nun ein Ding, das unter allen Umstän-
den ein Ding, ein Identisches von Eigenschaften ist, wirklich in sich ein
Festes, Starres hinsichtlich seiner realen Eigenschaften, nämlich ein
Identisches, das identisches Subjekt identischer Eigenschaften ist, wäh-
rend das Wechselnde in ihm nur die Zustände und Umstände sind?« 357
Das ist offensichtlich das Bild, das sich vom Ding in jeder Substanzon-
tologie aristotelischer Herkunft abzeichnet. Husserls Beschreibung
trifft allem Anschein nach auf diese Substanzontologie genau zu. Hat
Aristoteles in Buch Ζ der Metaphysik nicht tatsächlich eigens den Ter-
minus τὸ τί ῆν εἶναι geprägt, um durch diesen Begriff der »Wesenheit«
oder des »Soseins« die Dingsubstanz als »ein Identisches« zu erfassen,
»das identisches Subjekt identischer Eigenschaften ist, während das
Wechselnde in ihm nur die Zustände und Umstände sind«? Es versteht

356
Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philoso-
phie, Zweites Buch [Husserliana, Bd. IV], S. 299.
357 Ebd., S. 298.

428
Agonale Weltentwürfe

sich indes keineswegs von selbst, dass ein Einzelding, so wie es sich in
der Erfahrung tatsächlich darstellt, durch eine substantielle Identität im
Sinne wesenhaften Soseins charakterisiert werden könnte. Vom Ge-
sichtspunkt der phänomenologischen Zugangsart zum Ding in der Welt
erweist sich die Annahme substantieller Identität erst recht als zweifel-
haft. Husserl formuliert diesen Zweifel, indem er zugleich eine Alterna-
tive zu jeder Substanzontologie dieser Art deutlich macht:
»Aber hat jedes Ding (oder, was hier dasselbe sagt, hat irgendeins) überhaupt
ein solches Eigenwesen? Oder ist das Ding sozusagen immer auf dem Marsch,
ist es gar nicht in dieser reinen Objektivität zu fassen, vielmehr vermöge sei-
ner Beziehung zur Subjektivität prinzipiell nur ein relativ Identisches, etwas,
das nicht im voraus sein Wesen hat, bzw. hat als ein ein für allemal erfaßbares,
sondern ein offenes Wesen hat, das immer wieder je nach den konstitutiven
Umständen der Gegebenheit neue Eigenschaften annehmen kann?« 358
Der Gedanke eines »offenen Wesens« taucht hier allem Anschein nach
neu auf. In Ideen II führt dieser Gedanke zu nichts Geringerem als zu
einer Erschütterung und einer verwandelnden Neufassung der phäno-
menologischen Bestimmung des Dinges als ein allseitig unendliches Er-
scheinungskontinuum. In der Tat wirft Husserl jetzt die Frage auf: »Be-
sagt die ›Unendlichkeit‹ der Welt statt einer transfiniten Unendlichkeit
(als ob die Welt ein in sich fertig seiendes, ein allumfassendes Ding oder
abgeschlossenes Kollektivum von Dingen wäre, das aber eine Unend-
lichkeit von Dingen in sich enthalte), besagt sie nicht vielmehr eine
›Offenheit‹ ?« 359
Man muss deutlich sehen, dass die Idee einer »offenen« (und nicht
bloß transfiniten) »Unendlichkeit der Welt« im Mittelpunkt von Hus-
serls Argument für die transzendentale Option steht, und zwar so wie
sie sich mit der Idee eines »offenen Wesens« der Einzeldinge verbindet.
Es handelt sich um ein Argument, dem selbst dann ein unmissverständ-
lich metontologischer Charakter zugeschrieben werden kann, wenn der
Terminus ›Metontologie‹ nicht von Husserl, sondern von Heidegger
stammt. Das muss deshalb betont werden, weil die metontologische
Tragweite des Arguments im Text von Ideen II nicht deutlich genug
zutage tritt. Sie wird vielmehr durch eine Strategie verdeckt oder ver-
dunkelt, die subjektivistische und idealistische Einschläge zeigt. Das ist
einer der Gründe dafür, dass diesem Argument das ihm durchaus ge-

358
Ebd., S. 299.
359 Ebd.

429
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

bührende Gewicht auch in der phänomenologischen Tradition erst noch


zurückgegeben werden muss.
In der Tat befolgt Husserl im letzten Paragraphen von Ideen II auch
eine andere Argumentationsstrategie, die – ähnlich wie in Ideen I – auf
den Nachweis einer grundsätzlichen Relativität der Dinge auf das Sub-
jekt, das Bewusstsein oder den Geist abzielt. Die bereits angeführte Be-
obachtung, dass kein Ding in sich selbst seine Individualität hat, stellt er
letztlich in den Dienst dieser Beweisführung.
Wohl zu Recht stützt er sich dabei auf die Ausgangsthese, der Geist
habe – im Gegensatz zu den Dingen der Natur – »nicht Individualität
erst dadurch, daß er an einer bestimmten Stelle in der Welt ist«. 360 Im
Falle des Bewusstseins und des seiner selbst bewussten, geistigen Ichs
erschöpft sich das principium individuationis nicht in der raumzeitli-
chen Stellenanweisung. Anders als das individuelle Ding, dem nur eine
»relative Individuation« zukommt, ist das individuelle Subjekt viel-
mehr durch eine »absolute Individuation« charakterisiert, und zwar
deshalb, weil es nicht nur an einer raumzeitlich bestimmten Stelle in
der Welt ist, sondern darüber hinaus »seine individuelle Geschichte«
hat: »Absolute Individuation hat schon das reine Ich der jeweiligen co-
gitatio, die selbst ein absolut Individuelles in sich ist. Aber das Ich ist
nicht leerer Pol, sondern Träger seiner Habitualität, und darin liegt, es
hat seine individuelle Geschichte.« 361
So treffend aber auch immer diese Beobachtung ist, auf sie wird im
letzten Paragraphen von Ideen II ein Gedankengang gegründet, der
mehr beweist als nötig, mehr sogar als zulässig ist. Dieser Gedanken-
gang wird in der Tat zur Erhärtung einer Behauptung verwendet, die
über einen rein methodologisch angelegten Transzendentalismus weit
hinausgeht: »[…] streichen wir alle Geister aus der Welt, so ist keine
Natur mehr. Streichen wir aber die Natur […], so bleibt noch immer
etwas übrig: der Geist als individueller Geist […].« 362
In Wahrheit gehört jedoch diese Behauptung keineswegs zum
Kern des Arguments für die transzendentale Option, das dem letzten
Paragraphen von Ideen II entnommen werden kann. Der Kern dieses
Arguments besteht vielmehr in der doppelten Einsicht, dass erstens
den Einzeldingen der Welt nur ein offenes Wesen zugeschrieben wer-

360
Ebd.
361
Ebd., S. 299 f.
362 Ebd., S. 297.

430
Agonale Weltentwürfe

den kann, das immer wieder »neue Eigenschaften annehmen kann«,


und dass zweitens die Natur ebendeshalb keine in sich geschlossene
Totalität, kein gleichartiges (homogenes) und selbstgenügsames (autar-
kes) Ganzes bilden kann, sondern notwendig Teil einer Gesamtwelt
bleibt, die durch offene Unendlichkeit gekennzeichnet ist.
Allerdings geht aus dem letzten Paragraphen von Ideen II nicht
eindeutig hervor, wie die offene Unendlichkeit der Welt näher verstan-
den werden muss. Husserl selbst fragt sich: »Aber was soll damit ge-
meint sein?« 363 Diese seltsame Frage bleibt im Text ohne Antwort. Frei-
lich ist die Grundtendenz des Textes unverkennbar: Sie richtet sich
gegen die naturalistische Ansicht, die von Whitehead in die Formel
›nature is closed to mind‹ gefasst wurde; sie läuft also auf die Behaup-
tung hinaus, dass die Natur offen für den Geist oder auch offen für die
Entstehung des Neuen und damit offen für die Geschichte ist.
Gleichwohl bleibt der Gedanke einer offenen Unendlichkeit der
Welt auch weiterhin klärungs- und erläuterungsbedürftig. In Abteilung
B des vorliegenden Teils unserer Ausführungen versuchen wir, zu-
nächst durch eine Erörterung des Transfiniten dazu die Vorbedingun-
gen herbeizuschaffen, um dann dem Transfiniten ein Unendliches ge-
genüberzustellen, das in einem bestimmten Sinne tatsächlich durch
»Offenheit« – und zwar durch eine andersartige Offenheit als das
Transfinite selbst – charakterisiert ist. Erst damit wird unsere Analyse
des Husserl’schen Arguments für die transzendentale Option zu Ende
geführt. 364
Bevor wir jedoch zu den neuen Untersuchungen übergehen, wol-
len wir noch die – wohl offensichtliche – Tatsache eigens zur Sprache
bringen, dass Husserls seltsame Frage der Ausdruck einer gewissen
Ratlosigkeit ist, die doch zum Aufhorchen anhält. Wir können in dieser
Ratlosigkeit ein Zeichen dafür sehen, dass in unserem Zeitalter die
grundlegende Antinomie zwischen naturalistischem Autarkismus und
metontologischem Transzendentalismus nicht ein für alle Mal aufgelöst
werden kann.
Dass eine grundlegende Antinomie nicht endgültig aufgelöst wer-
den kann, zeigt sicherlich eine Verengung des Möglichkeitsraums an, in
dem sich die Philosophie in unserem Zeitalter bewegt. Hegel sagt: »Ent-

363
Ebd., S. 299.
364 Siehe weiter unten, Dritter Teil, Abteilung B, Kap. IV, 5.

431
A. Dingerfahrung und Weltwirklichkeit

zweiung ist der Quell des Bedürfnisses der Philosophie […].« 365 Der
Philosophie kommt nach dieser Auffassung die Aufgabe zu, festgeron-
nene Entgegensetzungen im geistigen Leben aufzuspüren und aufzulö-
sen: »Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen
verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wech-
selwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das
Bedürfnis der Philosophie.« 366 Hegel setzt hinzu: »Solche festgeworde-
ne Gegensätze aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft.« 367
Was kann aber die Philosophie tun, wenn es ihr nicht vergönnt ist,
die Gegensätze, auf die sie stößt, aufzuheben und miteinander zu ver-
einigen? Vielleicht ist sie selbst dann nicht einfach dazu verurteilt, sich
für eine der rivalisierenden Positionen zu entscheiden, sondern sie kann
sich auf ein Denken der Antinomie selbst einstellen. Beinahe Kants ge-
samte denkerische Laufbahn liefert dazu ein Muster. Auf keinen Fall
dürfen nach diesem Philosophieverständnis unaufgehobene Gegensätze
aus den Augen verloren werden. Es ist deshalb zwar unerlässlich, aber
nicht hinreichend, eine Wahl zwischen agonalen Weltentwürfen zu
treffen und die Arbeit am gewählten Weltentwurf weiterzuführen. Es
ist ebenfalls nötig, mit dem gegnerischen Weltentwurf in ständiger
Fühlung zu bleiben und mit ihm, wenn auch auf Distanz, unablässig
zu verkehren. Damit, dass ein transzendentalphilosophisch und phäno-
menologisch angelegtes Denken die Wissenschaft als einen bloßen Wis-
senschaftsbetrieb abtut und die technische Zivilisation als Gestell
brandmarkt, ist der Sache des metontologischen Transzendentalismus
kaum gedient. Was verlangt ist, geht über eine bloße Achtung vor der
geistigen Leistung, die selbst in als unheimlich beurteilten Weltentwür-
fen noch Ausdruck finden kann, deutlich hinaus. Mit einem Wort, das
der an der Johns Hopkins University in Baltimore lehrende Politikwis-
senschaftler William Connolly für seine Haltung in einer Auseinander-
setzung mit Charles Taylors katholisch gefärbter philosophischer
Grundeinstellung 368 geprägt hat, könnte man von einem ›agonalen Res-

365
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »Differenz des Fichteschen und Schellingschen Prin-
zips der Philosophie«, in: Jenaer Schriften [Werke in zwanzig Bänden, hg. von Eva Mol-
denhauer und Karl Markus Michel, Bd. II], S. 9–138, hier: S. 20.
366
Ebd., S. 22.
367
Ebd., S. 21.
368
Vgl. dazu neuerdings Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge (Massachusetts) und
London (England): The Belknap Press of Harvard University Press 2007.

432
Agonale Weltentwürfe

pekt‹ 369 sprechen. Dieser Begriff mutet dem Philosophen zu, sich auf
gegnerische Weltentwürfe einzulassen, sei es auch nur, um die Arbeit
am eigenen Weltentwurf auf eine höhere Stufe zu erheben. Connolly
sagt: »[…] agonaler Respekt bedeutet eine Beziehung respektvoller Ver-
bundenheit über die Unterschiede und über den Wettstreit hinweg, eine
Beziehung, worin der aktive intellektuelle Wettbewerb durch die wech-
selseitige Einsicht in die grundsätzliche Bestreitbarkeit der von jedem
Teilnehmer vorgebrachten Darstellung aufgefangen wird. Agonaler
Respekt stärkt eher die Verbindungen, statt sie zu schwächen, weil er
keinen positiven Fundus an Gemeinsamkeiten als seine einzige Grund-
lage erfordert. Die Verbindung kann auch aus dem Schatten des Un-
durchdringlichen erwachsen, den die Erfahrung des Anderen für Sie
wie auch umgekehrt für ihn in sich schließt.« 370
In diesem agonalen Respekt könnte man geradezu die erwünschte
›Grundbefindlichkeit‹ der Philosophie in unserer von antinomischen
Gegensätzen markierten Epoche erkennen.

369
William E. Connolly, »Catholicism and Philosophy. A Nontheistic Appreciation«, in:
Ruth Abbey (Hg.), Charles Taylor, Cambridge: Cambridge University Press 2004,
S. 166–186, hier S. 167. Auf diese Auseinandersetzung hat mich ein Kollege und Freund
aus Kanada, Prof. em. Dr. Bela Egyed (Carleton University, Toronto, und Concordia Uni-
versity, Montreal) aufmerksam gemacht.
370
Ebd.: »[…] agonistic respect means a relation of respectful connection across diffe-
rence and competition, one in which active intellectual competition is chastened by reci-
procal appreciation of the deep contestability of the projection each partisan makes into
being. Agonistic respect strengthens rather than weakens the connections because it does
not require a positive fund of commonality as its only base. The connection can also grow
out of the shadow of opacity the experience of the other presents to you and you to him.«
(Die deutsche Übersetzung dieses Zitats ist die Arbeit von Hans-Dieter Gondek.)

433
B. Das Unendliche der Welt

Von einer phänomenologischen Metaphysik verlangt heute der agonale


Respekt, auf die Wissenschaft im Sinne von science in größerem Maße
einzugehen, als dies in der von Husserl, Heidegger, Sartre und Mer-
leau-Ponty geprägten Tradition üblicherweise geschieht. Die Gegner
dieser Tradition halten ihr nicht selten vor, sie habe sich dem Ideal oder
der Praxis eines ›literarischen‹ Philosophierens verschrieben. Dabei ver-
weist das Wort ›literarisch‹ nicht etwa auf die hochbedeutsame Tatsache,
dass die phänomenologische Tradition – von Heideggers Beschäftigung
mit Hölderlin, Rilke, Trakl und George bis zu Ricœurs Deutung von
Marcel Proust, Thomas Mann und Virginia Woolf – mehrfach gezeigt
hat, wie in Zwiesprache mit Dichtung und Romanliteratur philoso-
phiert werden kann. ›Literarisch‹ meint vielmehr einfach die Schreib-
kunst, die kunstgemäße Gewandtheit des Schreibens, die Geschliffen-
heit des Ausdrucks, und zwar ohne Rücksicht auf die wissenschaftliche
Gediegenheit des Gehalts. Dieser Vorwurf ist gewiss eher üble Nach-
rede als berechtigter Einwand, aber die phänomenologische Tradition
könnte ihm auf jeden Fall überzeugender begegnen, wenn sie die Frage
nach dem inneren Bau und den wesentlichen Ergebnissen der Wissen-
schaft im Sinne von science nicht von vornherein anderen Denkrich-
tungen überließe.
Deshalb soll hier ein Dialog mit einer wissenschaftlichen Theorie
initiiert werden. Gewählt wird dazu Georg Cantors Mengenlehre. Meh-
rere Gründe sprechen für diese Wahl. Der wichtigste unter ihnen ist,
dass es sich dabei um eine Theorie des Unendlichen handelt. Gerade der
agonale Gegensatz mit dem naturalistischen Autarkismus macht der
Phänomenologie deutlich, wie sehr es beim Verständnis des metontolo-
gischen Transzendentalismus auf die Offenheit der Welt ankommt. Der
naturalistische Autarkismus setzt ja die Welt mit der Natur als einem in
sich geschlossenen Ganzen gleich. Dagegen begreift der metontologi-
sche Transzendentalismus die Welt aus dem Überstieg über das Seiende.

435
B. Das Unendliche der Welt

In dieser Transzendenz wird die Welt in ihrer Offenheit erfahren. Ge-


rade das Offene der Welt gibt der Geschichte Raum. Erst damit ist die
Natur transzendiert. Heidegger betont dabei die Endlichkeit des Da-
seins, weil er in erster Linie auf die geschichtlichen Welten achtet, die
aus dem Überstieg über das Seiende nebeneinander und nacheinander
erwachsen, um dann endgültig im Meer der Vergangenheit zu versin-
ken. Husserl hebt dagegen die Unendlichkeit der Idee hervor, die aller
Dingerfahrung und jedem Weltentwurf zugrunde liegt. Es fällt dabei
nicht allein die Unendlichkeit der Aufgaben ins Gewicht, die eine
Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit in die Geschichte einführen, son-
dern mehr noch die Unendlichkeit des Erscheinungskontinuums, in
dessen Gestalt sich das Ding in der Welt konstituiert. Der Gegensatz
mit dem naturalistischen Autarkismus öffnet dem Phänomenologen
die Augen auf den diakritischen Unterschied zwischen der Welt und
ihrem Unendlichen. Wird das Unendliche der Welt nicht eigens be-
dacht, so bietet sich die Welt nur allzu leicht als ein in sich geschlossenes
Ganzes dar. Daraus geht deutlich hervor, von welcher Wichtigkeit eine
wissenschaftliche Theorie des Unendlichen für die Sache des metonto-
logischen Transzendentalismus ist.
Alles Weitere hängt jedoch davon ab, wie sich das Unendliche der
phänomenologischen Ding- und Weltanalyse zum mathematischen
Unendlichen der Mengenlehre verhält. In dieser Hinsicht erhält ein äu-
ßerer Umstand eine besondere Bedeutung: Als Habilitand und später als
Privatdozent für Philosophie in Halle stand Husserl von 1886 bis 1901,
also fünfzehn Jahre lang, in enger Verbindung und geistigem Austausch
mit Cantor, der als Ordinarius für Mathematik an derselben Universität
lehrte. In seiner Cantor-Biographie berichtet Adolf [Abraham] Fraen-
kel, übrigens selber namhafter Mathematiker, einer der Begründer der
axiomatischen Mengentheorie, davon, dass »Cantor auch mit den in
Halle sich für Philosophie habilitierenden jüngeren Kollegen Edmund
Husserl und Hermann Schwarz in rege wissenschaftliche wie auch per-
sönlich freundschaftliche Verbindung [trat]«. 1 Das frühe Husserlwerk

1
Adolf Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Georg Cantor, Gesammelte Abhand-
lungen, hg. von E. Zermelo, Hildesheim: Olms 1962 (reprographischer Nachdruck der
Erstausgabe von 1932), S. 452–483, hier S. 477. Der hier neben Husserl erwähnte Her-
mann Schwarz (1864–1951) studierte Mathematik und Philosophie in Halle. Später wur-
de er Professor für Philosophie zunächst in Marburg, dann in Greifswald. Bereits im
Jahre 1923 trat er der NSDAP bei und verschrieb sich von dieser Zeit an ganz dem, was
er »nationalsozialistische Weltanschauung« nannte.

436
B. Das Unendliche der Welt

Philosophie der Arithmetik ist ein Beleg für Husserls Vertrautheit mit
Cantors grundlegenden Schriften zur Mengenlehre. In Cantors Leben
war der Zeitraum zwischen 1886 und 1901 vom Gesichtspunkt der Ma-
thematik aus zwar nicht die schöpferischste Periode (als solche wird der
Zeitraum zwischen 1871 und 1884 betrachtet), aber gerade in diesen
Jahren errang die Auseinandersetzung mit der philosophischen Traditi-
on und besonders mit der metaphysischen Deutung des Unendlichen
ein überwiegendes Gewicht in seiner Tätigkeit. Mit vollem Recht sagt
Fraenkel:
»Namentlich in den aus den 80er Jahren stammenden Aufsätzen […] kommt
eine ganz erstaunliche Vertrautheit Cantors mit der philosophischen Literatur
zutage, und zwar nicht nur mit weiten Teilen der zeitgenössischen und etwas
älteren Schriften, sondern auch mit den philosophischen Klassikern der frü-
heren Jahrhunderte und bemerkenswerterweise speziell mit den wichtigeren
philosophisch-theologischen Autoren der Scholastik sowie mit Aristoteles.
Ein so tiefgehendes, fast überall auf die Quellen zurückgreifendes, aber auch
die Literatur zweiter Hand in reichem Maße heranziehendes Studium von
Vertretern der älteren griechischen Atomistik und ihren Gegnern, von Plato
und Aristoteles, von Augustin und anderen Kirchenvätern, von Boëthius,
Thomas von Aquino und vielen anderen Scholastikern, von Nicolaus Cusanus
und Giordano Bruno, von Descartes, Spinoza, Locke, Leibniz, Kant und Fries
wird auch vor einem halben Jahrhundert eine seltene Ausnahme gewesen sein
bei einem Forscher, dessen Fachgebiet nicht die Philosophie selbst ist.« 2
Dass der Begründer der Phänomenologie in seiner Jugendzeit mit dem
Urheber der Mengenlehre nicht nur in freundschaftlicher Beziehung
stand, sondern auch einen Ideenaustausch führte, und dass nicht allein
Husserl ein tiefgehendes Interesse an der Mathematik, sondern gleich-
zeitig auch Cantor ein ebenso tiefgehendes Interesse an der Philosophie
hatte, sind weitere Gründe, die für die Wahl der anfänglichen Mengen-
lehre als Dialogpartnerin phänomenologischer Metaphysik sprechen.
Es kann jedoch auch noch ein vierter Grund genannt werden. Es handelt
sich darum, dass einer der wenigen Versuche, eine phänomenologische
Zugangsart zu den exakten Wissenschaften zu finden, im Bereich der
Mengenlehre zu besonders nennenswerten Ergebnissen geführt hat.
Am Anfang der 1980er Jahre fühlte sich Marc Richir als ausgebildeter
Physiker dazu berufen, sich mit dem mengentheoretischen Zahlbegriff
auseinanderzusetzen. Zwar ging er dabei mit dem späten Husserl davon

2 Ebd. (Im Original werden alle Namen hervorgehoben.)

437
B. Das Unendliche der Welt

aus, dass das Eigenrecht lebensweltlich-relativer Erscheinungswirklich-


keit gegen den Anspruch exakter Wissenschaften, das wahre Ansichsein
der Welt entdeckt zu haben, in Verteidigung zu nehmen sei. Auch auf
Heideggers Buch Die Frage nach dem Ding bezog er sich mit durchaus
positiven Akzenten. Aber er verlangte von der phänomenologischen
Wissenschaftstheorie eine größere Sachnähe, als es vorher der Fall ge-
wesen war. Darüber hinaus hatte er einen neuen Gesichtspunkt: Von
Merleau-Ponty angeregt, forschte er der Entstehung des Neuen in den
Wissenschaften nach. Es lag ihm weniger daran, die Bedeutung und die
Gültigkeit wissenschaftlicher Bestrebungen zu beurteilen, als daran,
Beiträge zu einer Phänomenologie schöpferischen Denkens in den Wis-
senschaften zu finden. Aus diesem Anliegen sind seine Schriften zu
Frege, Dedekind und Cantor hervorgegangen, die er als »Prolegomena«
zu einer »phänomenologisch« zu nennenden Wissenschaftstheorie
(»Epistemologie«) verstand. 3
Eine Erörterung von Richirs Auseinandersetzung mit Cantor bie-
tet einen angemessenen Einstieg in den Dialog zwischen der phänome-
nologischen Metaphysik und der frühen Mengenlehre. Die von Richir
geforderte Sachnähe verlangt danach, diese Erörterung in möglichst
enger Fühlung mit dem mengentheoretischen Begriff überendlicher
Zahlen durchzuführen. Dieser Einstieg wird uns dann zu einer Unter-
suchung über Cantors Auseinandersetzung mit der philosophischen
Tradition führen. Es kommt dabei in erster Linie darauf an, Cantors
mathematische Denkarbeit mit seinen metaphysischen Grundüberzeu-
gungen in Beziehung zu setzen. Schließlich soll gezeigt werden, auf
welche Weise Husserls phänomenologische Auffassung vom Unend-
lichen Cantors Grundintentionen entspricht und in welcher Hinsicht
sie von ihnen abweicht.

3
Marc Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-
rie des ensembles«, in: Études phénoménologiques 3 (1986), S. 83–115, S. 87.

438
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

I. Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Georg Cantor ist sich von Früh auf bewusst, eine Theorie entwickelt
zu haben, der innerhalb der Mathematik schon deshalb eine grund-
legende Bedeutung zukommt, weil sie »die Gebiete der Arithmetik,
der Funktionenlehre und der Geometrie zu einer höheren Einheit zu-
sammen[faßt]«. 4 Bald erhebt er aber auch philosophische Ansprüche.
Er tritt dem bekannten Satz aristotelisch-scholastischer Provenienz
entgegen, dem zufolge infinitum actu non datur. 5 Er will, mit anderen
Worten, durch seine mathematische Theorie ȟberendliche[r] Zah-
len«6 die Existenz des Aktual-Unendlichen bewiesen haben. Seitdem
sieht sich jeder philosophische Grundansatz vor die Aufgabe gestellt,
diese Grundthese der Mengenlehre zu bedenken.

1. Metaphysik und Mathematik in der Theorie des Transfiniten

Macht man sich mit Cantors gelehrten Betrachtungen über die Ge-
schichte der Philosophie des Unendlichen vertraut, so sieht man so-
gleich, dass der Begriff des Aktual-Unendlichen eine Zweideutigkeit in
sich birgt. Es gab sehr wohl Denker, die Gott unendlich nannten und
dabei ein Aktual-Unendliches meinten. Cantor sieht sie deshalb aber
noch nicht als seine Vorläufer an. Ihm kommt es darauf an, einen ak-
tual-unendlichen Bereich aufzuweisen, der durch Zahlen bestimmbar
ist. Deshalb unterscheidet er zwischen dem Transfiniten, das er als
etwas »Vermehrbares« – und daher auch als etwas zahlenmäßig Be-
stimmbares – betrachtet und dem Absoluten, das er dagegen als etwas
»Unvermehrbares« ansieht. 7 Was das Transfinite betrifft, so hält er

4
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 3
(1882), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 152.
5
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 174.
6
Ebd., S. 176.
7
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 405. РVgl. Cantor, Ȇber die verschiedenen Standpunkte in bezug auf
das aktuelle Unendliche« (1885), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 375.

439
B. Das Unendliche der Welt

obendrein eine »Distinktion von Realität und Zahl« für notwendig. 8


Diese beiden Unterscheidungen bestimmen »drei Beziehungen«, in de-
nen das Aktual-Unendliche behauptet werden kann und nach Cantor
auch behauptet werden soll: »erstens sofern es in der höchsten Voll-
kommenheit, im völlig unabhängigen, außerweltlichen Sein, in Deo
realisiert ist«, wo es »Absolutunendliches oder kurzweg Absolutes« ge-
nannt wird; »zweitens sofern es in der abhängigen, kreatürlichen Welt
vertreten ist; drittens sofern es als mathematische Größe, Zahl und
Ordnungstypus vom Denken in abstracto aufgefaßt werden kann«. 9
Dem Absoluten widmet sich, wie es weiter heißt, die »spekulative Theo-
logie«; das Transfinite gliedert sich dagegen »in die Gebiete der Meta-
physik und der Mathematik«. 10 Cantor setzt noch hinzu, dass diese
beiden Gebiete – Metaphysik und Mathematik – es sind, mit denen er
sich »seit Jahren« beschäftigt. 11
In seinen mathematisch-philosophischen Schriften über das Un-
endliche stellt sich Cantor zwar nicht die Aufgabe, die Beziehungen
zwischen diesen Disziplinen näher zu bestimmen, aber er formuliert
manche Grundsätze, die doch ein Licht auf diese Beziehungen werfen.
So sagt er: »Das Absolute kann nur anerkannt, aber nie erkannt, auch
nicht annähernd erkannt werden.« 12 Ein Absolutes, das nicht einmal
annähernd erkannt werden kann, ist vom Transfiniten durch eine Kluft
getrennt. Gleichwohl gehört das Transfinite – gleichsam über den Ab-
grund hinweg – bei Cantor mit dem Absoluten zusammen. Dies geht
besonders aus folgendem Grundsatz hervor: »Die absolut unendliche
Zahlenfolge erscheint mir […] in gewissem Sinne als ein geeignetes
Symbol des Absoluten […].« 13 An einer anderen Stelle heißt es sogar:
»Das Transfinite mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist
mit Notwendigkeit auf ein Absolutes hin […].« 14

8
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 417.
9
Ebd., S. 379.
10
Ebd., S. 378.
11
Ebd.
12
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 205, Anm. 2.
13
Ebd.
14
Cantor, »Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten« (1887–1888), in: Gesammelte
Abhandlungen, S. 405.

440
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Dass die mathematische Theorie der transfiniten Zahlen durch


diesen Ansatz nicht geradezu in den Dienst einer theologisch-metaphy-
sischen Aufgabe gestellt wird, liegt vor allem daran, dass die Kluft zwi-
schen dem Transfiniten und dem Absoluten trotz dieses Verweisungs-
zusammenhangs unüberbrückbar bleibt. Selbst durch ein »geeignetes
Symbol« lässt sich das Absolute nicht einmal »annähernd« erkennen,
und wie man sich ansonsten zum Absoluten verhalten kann, wird nicht
gesagt. 15 Deshalb gerät Cantor auch keineswegs etwa in Widerspruch
mit seinen Gedanken vom Verhältnis des Transfiniten und des Absolu-
ten, wenn er für die »freie Mathematik« das Wort erhebt und sogar
behauptet, dass »das Wesen der Mathematik […] gerade in ihrer Frei-
heit« liege. 16
Auch seine Auffassung vom Verhältnis der Zahlen zur Realität
steht in Einklang mit dieser Idee. Gerade weil er einen starken Begriffs-
realismus vertritt, kann er die Mathematik jeder metaphysischen Son-
deraufgabe entledigen. Wie er behauptet, kommt unseren Begriffen –
und damit auch unseren Zahlbegriffen – erstens eine »intrasubjektive
oder immanente Realität« zu – insofern sie nämlich genau definiert,
von allen anderen Bestandteilen unseres Denkens aufs beste unterschie-
den und zu ihnen in bestimmte Beziehungen gebracht werden, das
heißt »die Substanz unseres Geistes in bestimmter Weise modifizie-
ren« –; andererseits kommt ihnen aber auch eine »transsubjektive oder
auch transiente Realität« zu, insofern sie zugleich »für einen Ausdruck
oder Abbild von Vorgängen und Beziehungen in der dem Intellekt ge-
genüberstehenden Außenwelt« gehalten werden können. 17 Ferner ist
Cantor der Auffassung, dass »diese beiden Arten der Realität stets sich
zusammenfinden in dem Sinne, daß ein in der ersten Hinsicht als exis-
tent zu bezeichnender Begriff immer in gewissen, sogar unendlich vie-

15
Vgl. dazu Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Georg Cantor, Gesammelte Ab-
handlungen, S. 481: »Das religiöse Interesse Cantors tritt vielfach in den Abhandlungen
philosophischen Einschlags […] hervor […]. Von Vaters Seite her jüdischer Abstam-
mung, selbst in der evangelischen Konfession erzogen, welcher der Vater schon vor der
Geburt des Sohnes angehörte, schließlich durch die katholische Atmosphäre der mütter-
lichen Familie stark beeinflußt, teilte er keineswegs das Los vieler, für die solche Über-
schneidungen sich zu weitgehender Gleichgültigkeit in der religiösen Sphäre auswir-
ken […].«
16
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 182.
17 Ebd., S. 181.

441
B. Das Unendliche der Welt

len Beziehungen auch eine transiente Realität besitzt«. 18 Diese Bemer-


kung klärt das Verhältnis zwischen der Metaphysik und der Mathema-
tik als den beiden Wissenschaften vom Transfiniten auf. Denn aus ihr
geht deutlich hervor, dass bei den Zahlen nicht nur die Denkarbeit der
Begriffsbildung, sondern auch die Last des Realitätsbeweises der ma-
thematischen Theorie zugewälzt wird. Der Realitätsbeweis besteht in
der Tat einfach in der mathematischen Einsichtigkeit der Erzeugung
überendlicher Zahlen.
Wie wird aber die mathematische Theorie der transfiniten Zahlen
aufgebaut?
Cantor strebt eine »stufenweise Bildung« 19 dieser Zahlen an. Er
spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer »dialektische[n] Be-
griffserzeugung«. 20 Es geht uns im Folgenden darum, mit Richir diese
dialektische Begriffserzeugung einer Analyse zu unterziehen.
Dazu gilt es, von der allgemeinen Begriffsbestimmung der Menge
auszugehen, obgleich eine derartige Bestimmung vom rein mathemati-
schen Gesichtspunkt aus keineswegs unverzichtbar ist. Unter Mannig-
faltigkeit oder Menge versteht Cantor »jedes Viele, welches sich als
Eines denken lässt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher
durch ein Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann […].« 21
Dass ein Vieles als Eines und als Ganzes aufgefaßt wird, klingt harm-
loser, als es ist. Dass diese einfache Bestimmung ihr philosophisches
Gewicht hat, geht aus Cantors Hinweis auf die Verwandtschaft der so
aufgefassten Menge mit der Platonischen Idee hervor. 22 Diese Ver-
wandtschaft ergibt sich bereits aus dem, was man mit dem späten Hus-
serl als Idealisierung beschreiben kann. Damit ist eine Grundcharakte-
ristik exakter Wissenschaften gemeint. In der lebensweltlich-relativen
Erscheinungswelt gilt eine Vielheit immer nur von einem bestimmten

18
Ebd.
19
Ebd., S. 177.
20
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 2
(1880), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 148.
21
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 204.
22 Ebd.: Die so aufgefaßte Menge ist »verwandt […] mit dem Platonischen eidos oder

idea, wie auch mit dem, was Platon in seinem Dialoge ›Philebos oder das höchste Gut‹
mikton nennt. Er setzt dieses dem apeiron, d. h. dem Unbegrenzten, Unbestimmten,
welches ich Uneigentlich-unendliches nenne, sowie dem peras, d. h. der Grenze entgegen
und erklärt es als ein geordnetes ›Gemisch‹ der beiden letzteren.«

442
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Gesichtspunkt aus als Einheit und Ganzheit. Am Beginn einer exakten


Wissenschaft steht nach Husserl ein Bruch mit dieser Relativität, der
durch idealisierende Abstraktionen herbeigeführt wird. Der Idealisie-
rungsvorgang tritt bei Cantor nur noch deutlicher hervor, wenn es spä-
ter heißt: »Unter einer Menge verstehen wir jede Zusammenfassung M
von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten m unserer Anschau-
ung oder unseres Denkens (welche die »Elemente« von M genannt wer-
den) zu einem Ganzen«. 23 Der Hinweis auf ein »Gesetz«, das den Inbe-
griff bestimmter Elemente zu einem Ganzen verbinden sollte, wird
nunmehr fallengelassen. Damit verschwindet die letzte Spur eines be-
stimmten Gesichtspunkts, von dem aus gewisse Elemente zu einem
Ganzen zusammengefasst werden. Die Rede von »wohlunterschiede-
nen Objekten« deutet einen weiteren Idealisierungsvorgang an. Ange-
nommen wird damit, dass es feststeht, was als Element einer Menge in
Betracht kommt und was nicht. 24 Die Gegenstände der lebensweltlich-
relativen Erscheinungswelt sind in diesem Sinne selten ›wohlunter-
schieden‹ zu nennen.
Das ist aber noch nicht alles. Die angeführten Definitionen lassen
obendrein eine Gesamtheit wohlunterschiedener Elemente unverkenn-
bar als eine Einheit und Ganzheit erscheinen, die zur Vielheit der Ele-
mente eigens hinzukommt. Damit scheint sich aber Cantor, ohne selbst
zu merken, von vornherein für eine bestimmte Auffassung von der
Menge zu entscheiden. Was er im Auge hat, gleicht mehr einem Sack,
der Kartoffeln enthält, als etwa einem Wald, der aus Bäumen besteht.
Aus dieser Vorentscheidung erwachsen vielleicht alle Schwierigkeiten,
vor die er sich später gestellt sehen wird. 25

23 Vgl. Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre« (1895–97), in:

Gesammelte Abhandlungen, S. 282.


24
Vgl. Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 3
(1882), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 150: Schon an dieser Stelle spricht Cantor
davon, dass eine Mannigfaltigkeit (ein Inbegriff, eine Menge) dann als wohldefiniert
bezeichnet werden kann, »wenn auf Grund ihrer Definition und infolge des logischen
Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten es als intern bestimmt angesehen werden muß,
sowohl ob irgendein derselben Begriffssphäre angehöriges Objekt zu der gedachten
Mannigfaltigkeit als Element gehört oder nicht, wie auch, ob zwei zur Menge gehörige
Objekte, trotz formaler Unterschiede in der Art des Gegebenseins einander gleich sind
oder nicht.«
25
Michael D. Potter, Mengentheorie, übersetzt von Achim Wittmüß, Heidelberg, Berlin
und Oxford: Spektrum 1994, S. 20 f.: »Die Kollektion-als-eine-Konzeption scheint von
Cantor begründet worden zu sein. Sie wurde bei den Mathematikern in der ersten Jahren

443
B. Das Unendliche der Welt

Frege wirft Cantor vor, einem psychologischen Ansatz bei Defini-


tionen verhaftet geblieben zu sein. Vom Gesichtspunkt einer philoso-
phischen Auseinandersetzung mit Cantors Arbeiten aus sind jedoch
gerade diese Definitionen besonders wertvoll, weil sie auf die Idealisie-
rungsvorgänge und Vorentscheidungen Licht werfen, die der gesamten
Theorie zugrunde liegen.
Daher ist es wohl angebracht, noch eine weitere Definition heran-
zuziehen. Es handelt sich um die Definition eines Begriffs, der sich als
grundlegend für die ganze Theorie transfiniter Zahlen erweisen wird.
Es heißt: »»Mächtigkeit« oder »Kardinalzahl« von M nennen wir den
Allgemeinbegriff, welcher mit Hilfe unseres aktiven Denkvermögens
dadurch aus der Menge M hervorgeht, daß von der Beschaffenheit
ihrer verschiedenen Elemente m und von der Ordnung ihres Gegeben-
seins abstrahiert wird.« 26 Demnach wird die Mächtigkeit oder Kardinal-
zahl einer Menge als das Ergebnis eines »zweifachen Abstraktionsakts«
bestimmt. 27 Der erste Abstraktionsakt führt dazu, dass »aus jedem ein-
zelnen Elemente m, wenn man von seiner Beschaffenheit absieht, eine
»Eins« wird«, so dass die Kardinalzahl als »eine bestimmte aus lauter
Einsen zusammengesetzte Menge […] in unserm Geiste Existenz
hat«. 28 Was den zweiten Abstraktionsakt betrifft, so lässt er einen Weg
offen, der erst später betreten wird.
Ernst Zermelo, der spätere Begründer der axiomatischen Mengen-
lehre, der Cantors Schriften herausgab, hebt in seiner Anmerkung zu
dieser Stelle hervor, dass der Versuch, die Kardinalzahl als eine aus lau-

dieses Jahrhunderts dominant. In der neueren Zeit wurde die Kollektion-als-viele-Kon-


zeption nur von Lesniewski […] verfolgt, und seine Arbeit wurde fast völlig ignoriert.
Am Ende des 19. Jahrhunderts war dieser Begriff trotzdem allgemein verbreitet. Dede-
kind zum Beispiel hatte ihn offenbar im Sinn in ›Was sind und was sollen die Zahlen?‹
(1888), weil er die leere Kollektion vermied und dasselbe Symbol für die Zugehörigkeit
und das Enthaltensein benutzte. Er entwarf später eine Berichtigung, wobei er die Kol-
lektion-als-eine-Konzeption übernahm […].« Ein weiteres Beispiel liefert Frege, indem
er die Menge als Aggregat, als kollektives Ganzes oder als kollektive Vereinigung auf-
fasst und dabei eigens betont, dass die so verstandene Menge verschwinden muss, sobald
ihre Gegenstände verschwinden: »Wenn wir sämtliche Bäume eines Waldes verbrennen,
verbrennen wir damit den Wald.« (Siehe Gottlob Frege, »Kritische Beleuchtung einiger
Punkte in E. Schröders Vorlesungen über die Algebra der Logik«, in: Logische Unter-
suchungen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, S. 95.)
26
Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre« (1895–97), in: Ge-
sammelte Abhandlungen, S. 282.
27
Ebd.
28 Ebd., S. 283.

444
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

ter Einsen zusammengesetzte Menge zu kennzeichnen, »kein glück-


licher« sei, weil diese Einsen ja »untereinander verschieden« sein sollen
und so eben nur Elemente einer anderen Menge sind. 29 Die Kardinal-
zahl sei nach ihrer »korrekten Definition« nichts anderes als das, was
eine Menge mit allen gleichmächtigen (»äquivalenten«) Mengen ge-
meinsam hat. 30 Cantor selbst verwendet in seiner (übrigens höchst un-
gerechten) Besprechung von Freges Grundlagen der Arithmetik diese
»korrekte Definition« der Kardinalzahl, indem er als »Mächtigkeit«
oder »Kardinalzahl« denjenigen »Allgemeinbegriff« bezeichnet, »unter
welchen alle Mengen, welche der gegebenen Menge äquivalent sind,
und nur diese fallen.« 31 Warum greift er dann zehn Jahre später doch
zur »psychologistischen« Definition? Wohl deshalb, weil diese Defini-
tion die für ihn aus metaphysischen Gründen wichtige »Distinktion von
Realität und Zahl« deutlicher als die »korrekte« Definition hervortreten
lässt; sie markiert also den Abstand zwischen Realität und Zahl.
Allerdings hatte Cantor in seinen frühen Abhandlungen zur Men-
genlehre keine von diesen Definitionen nötig; der Begriff der Gleich-
mächtigkeit (Äquivalenz) genügte ihm zu allen mathematischen Zwe-
cken. 32 Die Anwendung dieses Begriffs auf die unendlichen Mengen
führte zu bedeutenden und zum Teil höchst überraschenden Ergebnis-
sen. Dass jede unendliche Menge echte Teilmengen hat, die mit ihr
gleichmächtig sind, war allerdings zumindest seit Bernard Bolzanos Pa-
radoxien des Unendlichen (1851) allgemein bekannt gewesen. Cantor
»erinnert« auch daran nur beiläufig, dass die Menge der positiven gan-
zen Zahlen und die Menge der positiven geraden Zahlen von der glei-
chen Mächtigkeit sind. 33 Dass aber der Inbegriff aller reellen Zahlen im
sogenannten »Linearkontinuum« (z. B. im Intervall zwischen 0 und 1
auf der Zahlengerade) der Gesamtheit aller positiven ganzen Zahlen
nicht umkehrbar eindeutig, Element für Element, zugeordnet werden
kann, war schon eine neue Einsicht von überaus großer Tragweite. 34 Es

29
Ebd., S. 351.
30
Ebd., S. 353.
31
Cantor, »Die Grundlagen der Arithmetik. Rezension der Schrift von G. Frege« (1885),
in: Gesammelte Abhandlungen, S. 441.
32 Cantor, »Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre« (1878), in: Gesammelte Abhandlun-

gen, S. 119.
33
Ebd., S. 119 f.
34
Cantor, »Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen«
(1874), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 117 f.

445
B. Das Unendliche der Welt

stellte sich damit heraus, dass es unendliche Mengen verschiedener


Mächtigkeiten (d. h. verschiedener Kardinalzahlen) gibt. Das war der
erste Schritt zur Bestimmung konkreter »Gestaltungen und Gestalten«
im Bereich des Transfiniten.
Zur »stufenweisen Bildung« transfiniter Zahlen gehört allerdings
mehr. Zumindest zwei weitere Schritte sind noch nötig:

1. Es gilt zu zeigen, dass es nicht nur zwei, sondern unendlich viele


verschiedene unendliche Kardinalzahlen gibt.
2. Es muss bewiesen werden, dass alle Kardinalzahlen »sich nach
ihrer Größe ordnen lassen und in dieser Ordnung wie die end-
lichen, jedoch in einem erweiterten Sinne eine ›wohlgeordnete
Menge‹ bilden« 35 – das heißt eine Menge, in der, ähnlich wie in
einer unendlichen Folge, jede Teilmenge ein erstes Element hat.

Um die erste Aufgabe zu lösen, entwickelte Cantor die Arithmetik der


Kardinalzahlen; er bestimmte dabei den Sinn von Größenverhältnissen
verschiedener Mächtigkeiten und definierte Operationen mit ihnen. Es
gilt, besonders die Bildung der Potenzmenge aus allen Teilmengen einer
Menge hervorzuheben. Cantor entwickelte eine eigene Methode – das
sogenannte ›Diagonalverfahren‹ –, um beweisen zu können, dass die
Potenzmenge einer Menge notwendig von größerer Mächtigkeit ist als
die ursprüngliche Menge.36 Damit stand fest, dass »die Mächtigkeiten
kein Maximum haben«. 37 (Auf dieses Ergebnis kommen wir später zu-
rück.)
Um die zweite Aufgabe zu bewältigen, betritt Cantor denjenigen
Weg, den er in der Definition der Kardinalzahl offenließ. Der Begriff
der Kardinalzahl hat sich, wie man sich erinnert, als das Resultat von
zwei Abstraktionsakten ergeben: Es galt einerseits von der Beschaffen-
heit der Elemente einer Menge, andererseits aber auch von der Ord-
nung ihres Gegebenseins abzusehen. Die erste Abstraktion führt nach
Cantors Auffassung von der Realität zur Zahl; sie ist daher für jeden
Zahlbegriff unentbehrlich. Anders steht es mit der zweiten Abstraktion.

35 Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre« (1895–97), in: Ge-

sammelte Abhandlungen, S. 295.


36
Cantor, »Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre« (1890–91), in: Ge-
sammelte Abhandlungen, S. 278–281.
37 Ebd., S. 280.

446
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Von der Ordnung der Elemente einer Menge kann, aber muss nicht
abgesehen werden.
Zwei Mengen gleicher Mächtigkeit können sehr wohl noch Unter-
schiede in der Anordnung ihrer Elemente aufweisen. So weist etwa die
Anordnung der natürlichen Zahlen und der ganzen Zahlen auf der Zah-
lengerade einen deutlichen Unterschied auf: Die Menge der natürlichen
Zahlen bildet eine wohlgeordnete Menge, denn jede Teilmenge, die zu
ihr gehört, hat ein erstes Element; von der Menge der ganzen Zahlen
auf der Zahlengerade kann das Gleiche nicht behauptet werden (sie be-
ginnt gleichsam mit dem negativen Unendlichen). Cantor nimmt aller-
dings an, dass grundsätzlich jede Menge wohlgeordnet werden kann
(ohne allerdings diesen »Wohlordnungssatz« je zu beweisen). 38 Trifft
diese Annahme zu, so kann die Betrachtung weiterhin auf schon wohl-
geordnete Mengen beschränkt werden.
Selbst wohlgeordnete Mengen gleicher Mächtigkeit können aber
noch Unterschiede in der Anordnung ihrer Elemente aufweisen. Gehen
wir zum Beispiel von den natürlichen Zahlen aus, wie sie auf der Zah-
lengerade angeordnet sind. Wenn wir jetzt das Anfangselement dieser
Menge ans Ende der ganzen Folge versetzen, gelangen wir zu einer
Menge gleicher Mächtigkeit, die darüber hinaus wohlgeordnet bleibt,
sich aber in der Anordnung ihrer Elemente gleichwohl von der ur-
sprünglichen Menge unterscheidet, da sie im Gegensatz zu ihr nicht
nur ein erstes, sondern auch ein letztes Element hat.
Durch derartige Beobachtungen lässt sich Cantor dazu hinleiten,
das Gemeinsame von wohlgeordneten Mengen, die nicht nur gleicher
Mächtigkeit sind, sondern auch eine Ähnlichkeit in der Anordnung
ihrer Elemente aufweisen, in einen einheitlichen Begriff zu fassen. Die-
ser Begriff heißt »Anzahl« oder, bestimmter und daher richtiger, »Ord-
nungszahl« (heute wird auch der Terminus »Ordinalzahl« verwendet).
38
Vgl. Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 169: »Daß es immer möglich ist, jede wohldefinierte Menge in die Form
einer wohlgeordneten Menge zu bringen, auf dieses, wie mir scheint, grundlegende und
folgenreiche, durch seine Allgemeingültigkeit besonders merkwürdige Denkgesetz wer-
de ich in einer späteren Abhandlung zurückkommen.« Der Wohlordnungssatz wurde
allerdings erst im Jahre 1904 von Ernst Zermelo mit Hilfe des Auswahlprinzips bewie-
sen. (Siehe Ernst Zermelo, »Proof that Every Set Can Be Well-Ordered«, in: van Heije-
noort, From Frege to Gödel, S. 139–141; vgl. Ernst Zermelo, »A New Proof of the Possi-
bility of a Well-Ordering«, in: van Heijenoort, From Frege to Gödel, S. 183–198,
besonders S. 183–186.)

447
B. Das Unendliche der Welt

Der Bereich transfiniter Zahlen besteht demnach aus zwei Teilberei-


chen: dem der Mächtigkeiten (Kardinalzahlen) und dem der Anzahlen
(Ordnungs- oder Ordinalzahlen). Im Endlichen fallen diese beiden Be-
griffe zusammen.
Cantor gibt an einer Stelle seiner Zufriedenheit mit diesem Erzeu-
gungsprozess überendlicher Zahlen Ausdruck: »Fasse ich das Unend-
liche«, sagt er, »so auf, wie dies von mir hier und bei meinen früheren
Versuchen geschehen ist, so folgt daraus für mich ein wahrer Genuß,
dem ich mich dankerfüllt hingebe, zu sehen, wie der ganze Zahlbegriff,
der im Endlichen nur den Hintergrund der Anzahl hat, wenn wir auf-
steigen zum Unendlichen, sich gewissermassen spaltet in zwei Begriffe,
in denjenigen der Mächtigkeit, welche unabhängig ist von der Ord-
nung, die einer Menge gegeben wird, und in den der Anzahl, welche
notwendig an eine gesetzmäßige Ordnung der Menge gebunden ist,
vermöge welcher letztere zu einer wohlgeordneten Menge wird. Und
steige ich wieder herab vom Unendlichen zum Endlichen, so sehe ich
ebenso klar und schön, wie die beiden Begriffe wieder Eins werden und
zusammenfließen zum Begriffe der endlichen ganzen Zahl.« 39
Die Einführung des Begriffs der Anzahl oder Ordnungszahl ist mit
einem großen Vorteil für die ›stufenweise Bildung‹ transfiniter Größen
verbunden. Dieser Vorteil ergibt sich daraus, dass die Ordnungszahlen,
die wohlgeordnete Mengen charakterisieren, untereinander nach ihrer
Größe geordnet selbst jeweils eine wohlgeordnete Vielheit bilden. Wer-
den auf sie die arithmetischen Operationen in geeigneter Erweiterung
angewandt, so lassen sie sich als eine unendliche (transfinite) Folge dar-
stellen (wobei die »0« als die Ordnungszahl der Leermenge mit beachtet
werden kann):

0, 1, 2, …, n, …ω, ω+1, ω+2, …, ω+n, …, ω2, …, ω3, …ωn,


…ωω, ωω+1, …, ωω+n, …(ωω)ω…, [(ωω)ω]ω, …γ, …

Es lassen sich merkwürdige Zusammenhänge an dieser Folge ablesen.


Jedes Glied der Folge ist die Ordnungszahl der Menge aller ihm vorher-
gehenden Elemente: die Eins derjenigen Menge, die die Null als einziges
Element enthält, die Zwei derjenigen, die die Null und die Eins als Ele-

39
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 181.

448
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

menete enthält usf. Im Endlichen sind diese Ordnungszahlen jeweils


zugleich Kardinalzahlen. Anders ist es im Unendlichen. Hier entspricht
die Ordnungszahl ω der ersten unendlichen Kardinalzahl, nämlich der
Mächtigkeit derjenigen Mengen, die mit der Menge aller natürlichen
Zahlen äquivalent sind und deshalb »abzählbar unendlich« genannt
werden. Die nächstfolgenden Ordnungszahlen, die als Fortbildungen
von ω entstehen, also ω+1, ω+2, …, ω+n, …, ω2, …, ω3, …ωn, …ωω,
ωω+1, …, ωω+n, …(ωω)ω…, [(ωω)ω]ω, …, gehören aber noch immer zu
lauter abzählbar unendlichen Mengen. Ein und derselben Mächtigkeit
ist damit eine unendliche Folge von Ordnungszahlen zugeordnet, die,
wie Cantor sagt, eine einheitliche »Zahlenklasse« bilden, indem sie in
ihrer Folge auf eine Zahl – in unserem Falle auf γ – vorausweisen, die
größer ist als sie alle und von ihnen her deshalb nur in einem unend-
lichen Grenzübergang – als so genannte ›Limeszahl‹ – erreicht werden
kann. Mit ihr ist die nächstgrößte Ordnungszahl erreicht, die eine neue
Zahlenklasse eröffnet.
Diese neue Zahlenklasse ist ihrerseits einer größeren Mächtigkeit
zugeordnet. So zeichnet sich zugleich ein Entsprechungsverhältnis zwi-
schen den Kardinalzahlen und denjenigen Ordnungszahlen, die, wie ω
und γ, jeweils eine Zahlenklasse eröffnen, deutlich ab. Aus diesem Ent-
sprechungsverhältnis ergibt sich die wohlgeordnete Vielheit der Kardi-
nalzahlen, zu der Cantor also auf dem Umweg über die Ordnungszah-
len Zugang findet. Er greift zum hebräischen Alphabet, um die
Elemente dieser wohlgeordneten Vielheit als Alefs zu bezeichnen, und
denkt lange darüber nach, wie er beweisen könnte, dass es keine ande-
ren Kardinalzahlen gibt, als eben nur die unendliche Folge der so ge-
wonnenen Alefs: ‫א‬0, ‫א‬1, …
Somit haben wir uns ein Bild von dem Verfahren gemacht, dem die
»stufenweise Bildung« überendlicher Zahlen folgt. Es taucht hier aber
die Frage auf, welches Bildungsgesetz dieses Verfahren bestimmt.
Um die damit bezeichnete Aufgabe schon im Voraus verständlich
zu machen, ist es hier wohl angebracht, einen Husserl’schen Gedanken
heranzuziehen. Es heißt in der Philosophie der Arithmetik: »In jedem
Falle, wo von einer unendlichen Menge die Rede ist, finden wir die
symbolische Vorstellung eines unbeschränkt fortsetzbaren Prozesses
der Begriffsbildung vor.« 40 Es wird dabei hervorgehoben, dass bei einer

40
Edmund Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], hg. von Lothar
Eley, Den Haag: Martinus Nijhoff 1970, S. 219. – Husserl beschreibt, wie wir zu einer

449
B. Das Unendliche der Welt

»sukzessiven Begriffskonstruktion« dieser Art alles auf das »Bildungs-


prinzip« ankomme: »[…] ist wirklich das Bildungsprinzip ein bestimm-
tes, dann erhält auch der Begriff der sich fortgesetzt erweiternden Men-
ge von Begriffen einen ganz bestimmten Gehalt […], d. h. von einem
jeden vorgegebenen Objekt lässt es sich unzweideutig entscheiden, ob
es Glied dieses Prozesses bzw. dieser Mengenbildung sein könne oder
nicht.« 41 Husserl setzt noch hinzu: »Schon bei der symbolischen Vor-
stellung von Mengen im gewöhnlichen Sinne surrogiert […] häufig die
Idee eines Prozesses, dessen Einheit durch irgendein figurales Moment
der Anschauung seine Bestimmtheit erhält. Ähnlich ist es hier, nur ist
es ein entfernteres, begriffliches Prinzip, welches nun dem Prozeß seine
Bestimmtheit verleiht […].« 42
Ein derartiges Prinzip gilt es nun in Cantors Lehre von den trans-
finiten Zahlen ausfindig zu machen.

2. Das Grundgesetz »dialektischer Begriffserzeugung«


im Transfiniten

Cantor selbst nennt zwei ›Erzeugungsprinzipien‹ transfiniter Zahlen:


Wie im Endlichen die natürlichen Zahlen, werden auch im Unendlichen
manche Zahlen durch die wiederholte Hinzufügung einer Einheit zu
einer schon bestehenden Zahl (z. B. ω+1, ω+2 …) generiert; andere ent-
stehen dagegen, ähnlich wie im Endlichen die irrationalen Zahlen, als
»Limeszahlen« durch einen unendlichen Grenzübergang (so etwa γ).
Zu diesen beiden Erzeugungsprinzipen kommt bei Cantor drittens ein
»Hemmungs- oder Beschränkungsprinzip«, das in der Forderung be-
steht, erst dann zur Schöpfung einer unendlichen Zahl neuer Art (so
etwa zu γ) weiterzugehen, wenn diese Zahl eine Zahlenklasse nächst-
höherer Mächtigkeit eröffnet. 43
Damit ist aber die Antwort auf die gestellte Frage noch nicht ganz

derartigen Vorstellung kommen. Er sagt: »Wir stellen also, wenn wir vom Inbegriffe
aller natürlichen Zahlen sprechen, zunächst eine Menge im gewöhnlichen Sinne vor,
nämlich die Zahlen eines Anfangsstückes der Zahlenreihe […]. Dazu tritt die ergänzende
Vorstellung, daß diese Reihe vermöge ihres Bildungsprinzips erweitert werden könne in
infinitum, wobei jedes neue Glied durch den Prozeß bestimmt sei.« (Ebd., S. 220.)
41
Ebd.
42
Ebd., S. 220 f.
43 Siehe Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884),

450
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

erschöpft. Die genannten Prinzipien bedürfen nämlich der näheren


Analyse.
Was zunächst die beiden »Erzeugungsprinzipien« betrifft, so ist es
klar, dass sie jeweils unendliche Folgen im Transfiniten eröffnen. Man
ist versucht, diesen Folgen selbst im Bereich des Transfiniten so etwas
wie eine »potentiale Unendlichkeit« – die Unendlichkeit des Und-so-
weiter und Und-so-fort – zuzuschreiben. »Wiederholte Hinzufügung
einer Einheit« und »Grenzübergang in der Annäherung an eine Limes-
zahl« sind Ausdrücke, die geeignet sind, das je Eigentümliche der beiden
Erzeugungsprinzipien hervorzuheben. Beide Ausdrücke verweisen aber
offensichtlich auf eine Sukzessivität, also auf den immer nur bedingten
Fortgang eines Und-so-weiter und Und-so-fort.
Allerdings ist das nur die eine Hälfte der Sache. Die andere Hälfte
ergibt sich daraus, dass jede dieser unendlichen Folgen zugleich als ein
gegebenes Ganzes, mithin als eine »aktual unendliche« Mannigfaltig-
keit gelten soll. Diese Forderung gehört zum Gehalt des erwähnten
»Hemmungs- oder Beschränkungsprinzips«.
Dieses enthält aber sicherlich mehr in sich. Im Gegensatz zu den
beiden Erzeugungsprinzipien hat es nicht nur mit den Ordnungszahlen
zu tun. Seine Funktion besteht vielmehr darin, die Ordnungszahlen mit
den Kardinalzahlen zu verbinden. Eben deshalb muss es aber auch ein
Prinzip der Unterscheidung zwischen verschiedenen Mächtigkeiten –
also zwischen verschiedenen Stufen des Aktual-Unendlichen – in sich
schließen.
Dieses verborgene Unterscheidungsprinzip wollen wir im Folgen-
den hervortreten lassen. Zu diesem Zweck gilt es, mit Richir Cantors
›Diagonalverfahren‹ näher ins Auge zu fassen. 44 Wie erwähnt, dient
dieses Verfahren zum Erweis, dass die Mächtigkeiten ›kein Maximum‹

Nr. 5: »Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte


Abhandlungen, S. 197 und S. 199.
44
Richir betrachtet dieses Verfahren allerdings in seiner verallgemeinerten Form, die
man bei Cantor selbst nicht findet. Er stützt sich dabei auf Jean Ladrière (Les limites de
la formalisation, S. 312–333). Denselben Beweis findet man auch in anderen zusammen-
fassenden Darstellungen der Mengentheorie, so etwa im kleinen Werk von Paul R. Hal-
mos über Naive Set Theory (Berlin und New York: Springer 21974 [11960], Kap. 23,
S. 93 f.). Cantor selbst beweist seinen allgemeinen Satz nur in zwei besonderen Fällen:
Zunächst zeigt er, dass die Mächtigkeit des Kontinuums größer ist als die Mächtigkeit der
Menge der natürlichen Zahlen. Dann betrachtet er den Inbegriff aller eindeutigen Funk-
tionen f(x), die nur die beiden Werte 0 oder 1 annehmen, während x alle Werte im
Linearkontinuum zwischen 0 und 1 durchläuft, um durch die Anwendung des Diagonal-

451
B. Das Unendliche der Welt

haben. Genauer gesagt handelt es sich um einen Satz, der nach Cantor
benannt wurde: Die Potenzmenge P(M), die aus allen Teilmengen der
Menge M besteht, ist von größerer Mächtigkeit als M selbst.
Der Beweis dieses Satzes ist höchst merkwürdig. In indirekter Vor-
gehensweise wird zunächst das Gegenteil der Behauptung angenom-
men. Die Mächtigkeit der Potenzmenge soll also nicht größer sein als
die Mächtigkeit der Menge M. Der Fall, dass sie kleiner sein sollte, kann
allerdings leicht ausgeschlossen werden. Es bleibt nur noch der Fall üb-
rig, dass die beiden Mengen gleichmächtig sind. Das gilt also als die zu
widerlegende Ausgangshypothese. Sie erfordert die Annahme eines
umkehrbar eindeutigen Zuordnungsverhältnisses zwischen den Ele-
menten von M und den Elementen von P(M).
Was liegt in dieser Ausgangshypothese? Sie lässt die Menge M,
wie Richir hervorhebt, nicht nur als eine Menge all ihrer Elemente,
sondern zugleich als eine Menge all ihrer Teilmengen erscheinen. 45 Eine
derartige Menge wäre offenbar ›mächtig‹ genug, um alles zu umfassen,
was aus ihren Elementen durch arithmetische Operationen gebildet
werden kann (denn keine andere Operation erhöht die Kardinalzahl).
Sie wäre daher nicht nur überhaupt ein gegebenes Ganzes, sie wäre
sogar ein unbedingtes Ganzes.
Die tatsächliche Ansetzung einer Menge als unbedingtes Ganzes
läuft den Grundüberzeugungen Cantors entgegen. Sie ließe ja eine Un-
terscheidung zwischen dem Transfiniten und dem Absolutunendlichen
gar nicht aufkommen.
Es handelt sich aber um eine Ausgangshypothese, die sozusagen
den Keim ihrer Selbstaufhebung in sich trägt. Das wird durch die An-
wendung des Diagonalverfahrens gezeigt.
Wie wird aber die Unhaltbarkeit der Ausgangshypothese bewie-
sen? Es genügt zu diesem Zweck, eine Teilmenge von M aufzuweisen,
die als solche ein Element der Potenzmenge P(M) bildet, aber keinem
Element von M zugeordnet ist. Als eine derartige Teilmenge erweist
sich die Menge D (»Diagonalmenge«), wenn sie auf geeignete Weise
definiert wird.

verfahrens deutlich zu machen, dass die Mächtigkeit dieses Inbegriffs größer als die
Mächtigkeit des Kontinuums ist.
45
Marc Richir, »De l’illusion transcendentale dans la théorie cantorienne des ensem-
bles«, in: Annales de l’Institut de Philosophie de l’Université Libre de Bruxelles, Bruxel-
les: Éditions de l’Université de Bruxelles 1986, S. 93–118, hier: S. 106.

452
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Um die Menge D angemessen bestimmen zu können, muss man


sich allerdings auf eine weitere Beobachtung stützen. Geht man von
einem umkehrbar eindeutigen Zuordnungsverhältnis zwischen M und
P(M) aus, so kann man im allgemeinen die Elemente von M je nach
dem, ob sie der ihnen jeweils zugeordneten Teilmenge aus P(M) ihrer-
seits – als Elemente – zugehören oder nicht, in zwei Gruppen einteilen.
(Einfache Beispiele: die Vier gehört selbst zur Menge derjenigen gera-
den Zahlen, die durch die Multiplikation der natürlichen Zahlen mit 4
entstehen; die Drei dagegen gehört selbst nicht zur Menge derjenigen
geraden Zahlen, die durch die Multiplikation der natürlichen Zahlen
mit 3 entstehen, da sie keine gerade Zahl ist).
Zur erwünschten Bestimmung der Menge D gelangen wir dann,
wenn wir die Gruppe derjenigen Elemente nehmen, die der ihnen je-
weils zugeordneten Teilmenge aus P(M) nicht zugehören. Tatsächlich
ist die so verstandene Menge D einerseits offenbar ein Element der Po-
tenzmenge P(M), weil sie eine Teilmenge von M ist; andererseits kann
ihr aber dennoch kein Element von M zugeordnet sein. Denn jeder Ver-
such, ihr ein bestimmtes Element von M – zum Beispiel d – zuzuordnen,
führt zu einem Widerspruch. Es ensteht dann nämlich die Frage, ob d der
ihr zugeordneten Teilmenge aus P(M) – also im gegebenen Falle der
Menge D – zugehört oder nicht. Auf diese Frage gibt es aber nur eine
Antwort: d gehört dann und nur dann zu D, wenn es nicht zu D gehört,
und zwar deshalb, weil D die Menge derjenigen Elemente von M ist, die
der ihnen jeweils zugeordneten Teilmenge aus P(M) nicht zugehören.
Durch diesen Widerspruch ist die Ausgangshypothese widerlegt.
Die Potenzmenge der Menge M ist folglich jeweils von größerer Mäch-
tigkeit als M selbst. Damit steht fest, dass die Mächtigkeiten kein Ma-
ximum haben. Man sieht, dass Cantors Diagonalverfahren der Menge
D die ganze Beweislast aufbürdet.
Diese Bestimmung der Diagonalmenge ist allerdings mit Schwie-
rigkeiten verbunden, die schon früh erkannt wurden. Hier liegt ein of-
fenkundiges Problem, das Richir aufgreift und auf seine Weise behan-
delt. Die Bestimmung der Diagonalmenge kann nämlich als ein
Musterbeispiel einer ›nicht-prädikativen‹ Definition betrachtet werden.
›Nicht-prädikativ‹ heißt eine Definition dann, wenn sie ein Partialobjekt
innerhalb eines Gesamtbereichs so bestimmt, dass dabei der Begriff des
Gesamtbereichs in den Begriff des Partialobjekts eingeht. 46 Das ist hier

46 Vgl. Henri Poincaré, Wissenschaft und Methode, Stuttgart: Teubner 1973 (unver-

453
B. Das Unendliche der Welt

deutlich der Fall: Die Definition der Diagonalmenge D setzt die Gege-
benheit der Potenzmenge P(M) voraus. Nicht-prädikative Definitionen
sind zwar keineswegs a limine zu verwerfen. Sie kommen in hoher
Anzahl in den verschiedenen Zweigen der Mathematik vor. Selbst Hen-
ri Poincaré, der – an Bertrand Russell anknüpfend, aber das bei ihm
Entlehnte zugleich wesentlich verwandelnd – das Problem der Nicht-
Prädikativität als erster mit aller Bestimmtheit in den Mittelpunkt rück-
te, lehnte derartige Definitionen keineswegs in allen Fällen ab. Mit der
Definition der Diagonalmenge hat es aber eine besonders verfängliche
Bewandtnis. Ihr kommt nämlich einerseits eine Schlüsselrolle im Be-
weisverfahren zu, das den Mächtigkeitsunterschied zwischen einer
Menge M und ihrer Potenzmenge P(M) überhaupt erst darzutun hat;
andererseits setzt sie jedoch die Gegebenheit der Potenzmenge P(M)
voraus. Damit scheint eine Vorentscheidung getroffen worden zu sein,
bevor der eigentliche Beweis erbracht wurde: Es wird, wie Richir be-
merkt, als eine Selbstverständlichkeit angesehen, dass die Gesamtheit
aller Teilmengen, die aus den Elementen einer Menge gebildet werden
können, ihrerseits als ein gegebenes Ganzes – mithin als eine Menge –
gelten kann. 47 Nicht ohne Grund sind Russell und Poincaré davon über-
zeugt, dass nicht-prädikative Definitionen zumindest die Gefahr von
Zirkelschlüssen heraufbeschwören. Daher entsteht die Frage, ob man
die Nicht-Prädikativität im Beweis des Mächtigkeitsunterschieds zwi-
schen Menge und Potenzmenge nicht vermeiden könnte. Adolf Fraen-
kel sagt jedoch: »Die Potenzmenge, dieses entscheidend wirksame
Werkzeug der Mengenlehre […] kann wohl nicht ganz des nicht-prädi-
kativen Momentes entkleidet werden.« 48

änderter, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig und Berlin 1914), S. 174.
(Poincaré greift damit eine Idee von Jules Richard auf.)
47
Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensembles«,
S. 109: »[…] avec E, on ne dispose pas du moyen d’identifier ou d’individuer toutes ses
parties, qui constituent, du moins intuitivement, un nouveau Tout, P(E) qui inclut
strictement E, toute la question étant de savoir si l’on peut rassembler en une collection
unique toutes les parties de l’ensemble E, c’est-à-dire de savoir si les parties de E peuvent
constituer un ensemble P(E).«
48
Adolf Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre, Berlin: Springer 1928, S. 253. – Daran
ändern, soweit ich sehe, auch die späteren Ergebnisse nichts. Im Anschluss an Gödel
versucht Paul Cohen in den sechziger Jahren Ordnungszahlen durch grundsätzlich prä-
dikative Konstruktionen aufzubauen. Dabei erinnert er aber an folgendes: »Philosophi-
cally we will have gained nothing since we do not say how our ordinals are obtained nor
do we distinguish between ›predicative‹ and ›impredicative‹ ordinals.« (Paul J. Cohen, Set

454
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Richir knüpft offensichtlich an diese Problemstellung an. 49 Er be-


schränkt sich jedoch nicht darauf, den Nicht-Prädikativitätseinwand
neu zu fassen. Es kommt ihm keineswegs darauf an, einen Zirkelschluss
im Diagonalverfahren zu enthüllen. Deshalb setzt er den Akzent auch
nicht darauf, dass die Diagonalmenge die Gegebenheit der Potenzmenge
voraussetzt. Es liegt ihm mehr an dem Nachweis, dass sie ihre Be-
stimmtheit der zu widerlegenden Ausgangshypothese zu verdanken
hat.
In der Tat besteht die Diagonalmenge aus bestimmten Elementen
der Menge M, die nur dann von den übrigen Elementen dieser Menge
unterschieden und zu einem neuen Ganzen zusammengefasst werden
können, wenn die Ausgangshypothese für gültig erachtet werden
kann. 50 Sobald die Annahme eines umkehrbar eindeutigen Zuord-
nungsverhältnisses zwischen M und P(M) aufgegeben wird, zerfließt
die anfangs scheinbar eindeutige Bestimmtheit der Diagonalmenge. 51

Theory and the Continuum Hypothesis, New York und Amsterdam: W. A. Benjamin,
Inc. 1966, S. 86.)
49
Auf Poincaré bezieht sich Richir nicht ausdrücklich, und er gebraucht auch das Wort
›nicht-prädikativ‹ nicht. Er stützt sich aber stark auf Jules Richard, den Entdecker eines
mengentheoretischen Paradoxons, von dem Poincaré ausging, um den Begriff der Nicht-
Prädikativität zu präzisieren. Auch in Gödel schätzt Richir eigens den Weiterführer Ri-
chards. Bekanntlich bezieht sich Gödel ausdrücklich auf Richard. (Siehe Kurt Gödel, »On
Formally Undecidable Propositions of Principia Mathematica and Related Systems I«
and »On Completeness and Consistency«, in: From Frege to Gödel, S. 592–617, hier:
S. 598.) Von Poincaré führt ein Weg auch zu Thoralf Skolem, der seine Deutung des nach
Leopold Löwenheim und ihm selbst benannten Theorems mit wichtigen Überlegungen
zum Problem der Nicht-Prädikativität verbindet. (Siehe Thoralf Skolem, »Some Re-
marks on Axiomatized Set Theory« [1922], in: From Frege to Gödel, S. 297 f.) Dem Lö-
wenheim–Skolem-Theorem weist Richir in seinen Betrachtungen eine Schlüsselrolle zu.
Eine weitere Quelle zu dieser Problematik ist für ihn das Buch von Jean Cavaillès, Phi-
losophie mathématique (Paris: Hermann 1962, S. 267), das er auch als Textgrundlage
benutzt; das Buch enthält nämlich eine Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Cantor
und Dedekind.
50
Denn die Menge D soll aus allen Elementen von M bestehen, die der ihnen im Sinne
der Ausgangshypothese jeweils zugeordneten Teilmenge innerhalb der Menge P(M)
nicht zugehören.
51
Marc Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensem-
bles«, S. 113: »[…] si l’on abandonne l’hypothèse H […], il devient impossible de con-
stituer l’ensemble diagonal […].« – Eine derartige Unbestimmtheit besteht nach Richir
selbst in dem ursprünglichen Beweis der Nichtabzählbarkeit der reellen Zahlen, wie er
von Cantor zunächst im Jahre 1974, dann im Jahre 1979 mit Hilfe von »Fundamentalrei-
hen« (Cauchy-Folgen) geführt wurde. Denn es lässt sich diesem Beweis nicht entneh-
men, ob eine irrationale oder eine transzendente Zahl den Grenzwert bildet, dem sich

455
B. Das Unendliche der Welt

Sie enthüllt sich, behauptet Richir, als bloßer Schein. Es handelt sich
dabei allerdings, wie er hervorhebt, um einen Schein, der sich aus der
Ausgangshypothese mit voller Notwendigkeit ergibt. Dies ändert je-
doch nichts daran, dass der Diagonalmenge – und damit auch der Po-
tenzmenge – letztlich eine unaufhebbare Unbestimmtheit anhaftet. 52

* * *

Es entsteht hier allerdings die Frage, wie weit sich Richirs Behauptun-
gen auf die beiden konkreteren Beweise beziehen lassen, die Cantor
durch die Anwendung des Diagonalverfahrens erbrachte. Sehen wir
uns den ersten Beweis näher an, in dem gezeigt wird, daß »die Gesamt-
heit aller reellen Zahlen eines beliebigen Intervalles (α…β) sich nicht in
der Reihenform ω1, ω2, …, ων, … darstellen lässt«. 53 Der Beweis wird
auch diesmal auf indirekte Weise geführt. Die zu widerlegende Aus-
gangshypothese besagt hier, daß das Linearkontinuum gleichmächtig
mit der Menge der natürlichen Zahlen ist. Um das Gegenteil zu bewei-
sen, betrachtet Cantor die Menge M aller unendlichen Dualbrüche E =
(x1, x2, …, xν, …), durch die sich die zum fraglichen Intervall gehören-
den reellen Zahlen vertreten lassen. Aus der Definition der Dualbrüche
folgt, daß xν entweder 0 oder 1 ist. Die Anwendung des Diagonalver-
fahrens besteht hier in dem Nachweis, dass es zu jeder abzählbar unend-
lichen Folge derartiger Dualbrüche E1, E2, …, Eμ, …, deren jeder ein
Element von M ist, einen unendlichen Dualbruch E0 gibt, der gleichfalls
Element der Menge M ist, aber mit keinem Glied Eν der erwähnten
Folge übereinstimmt.
Dies wird gezeigt wie folgt. Im Sinne des Gesagten ist Eμ = (aμ, 1,
aμ, 2, …, aμ, ν, …), wobei aμ, ν jeweils entweder den Wert 0 oder den
Wert 1 annimmt. So gibt es aber ein Element E0 = (b1, b2, …), das der
folgenden Forderung entspricht: Es sei bν = 0, wenn a ν, ν = 1 ist; und es
sei b ν = 1, wenn a ν, ν = 0 ist. (Aus dieser Forderung geht deutlich her-
vor, weshalb hier von ›Diagonale‹ die Rede ist.) Es ist nicht schwer ein-
zusehen, dass das so bestimmte E0 ein Element der Menge M ist und

eine Folge rationaler Zahlen nähert, ja, es könnte, wie Richir hinzusetzt, im Prinzip sogar
der Fall sein, daß dieser Grenzwert a priori unbestimmt ist. (Siehe ebd., S. 99.)
52
Ebd., S. 111: »[…] l’ensemble diagonal ne peut être que radicalement indétermi-
né […].«
53
Cantor, »Über eine elementare Frage der Mannigfaltigkeitslehre« (1890–91), in: Ge-
sammelte Abhandlungen, S. 278.

456
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

sich gleichwohl von jedem Glied Eμ der betrachteten Folge unter-


scheidet.
Aus diesem Gedankengang folgert Cantor, dass »die Gesamtheit
aller Elemente von M sich nicht in die Reihenform E1, E2, …, Eμ, …
bringen lässt, da wir sonst vor dem Widerspruch stehen würden, daß
ein Ding E0 sowohl Element von M wie auch nicht Element von M
wäre.« 54 Man sieht deutlich, dass die Bestimmung des Elementes E0
auch hier die Existenz der Menge M voraussetzt. Gleichwohl handelt
es sich um eine Bestimmung, die sich – im Gegensatz zur Bestimmung
der Diagonalmenge im verallgemeinerten Beweis – als eine konstrukti-
ve Definition verstehen lässt, weil das Bildungsgesetz des Elementes E0
allgemein feststeht. Jede abzählbare unendliche Teilmenge von M, die
willkürlich ausgewählt werden kann, reicht schon an sich selbst hin, um
dem Element E0 eine feste Bestimmtheit zukommen zu lassen. Im Ge-
gensatz zur Bestimmtheit der Diagonalmenge im verallgemeinerten
Beweisverfahren zerfließt diese Bestimmtheit selbst dann nicht, wenn
aus der Existenz von E0 die Konsequenz gezogen wird, daß die voraus-
gesetzte Ausgangshypothese einer umkehrbar eindeutigen Zuordnung
zwischen den natürlichen Zahlen und den Elementen des Linearkon-
tinuums aufgegeben werden muss. Man kann vielmehr behaupten,
daß zu jeder willkürlich gebildeten Folge E1, E2, …, Eμ, …, … ein für
allemal ein bestimmtes E0 gehört.
Die beliebige Auswählbarkeit der Elemente Eμ dieser Folge ist aber
eine unentbehrlich notwendige Bedingung für die Schlüssigkeit dieses
Beweises. Ist nämlich nicht jedes Element Eμ einer derartigen Folge
durch ein beliebiges anderes Element ersetzbar, das in dieser Folge an-
sonsten nicht vorkommt, so steht nicht fest, ob die Elemente von M
nicht etwa in einer anderen Auswahl und Anordnung den natürlichen
Zahlen auf umkehrbar eindeutige Weise zugeordnet werden könnten.
Aus diesen Überlegungen wird deutlich, in welcher Form sich Ri-
chirs Behauptungen über das verallgemeinerte Diagonalverfahren auf
diesen konkreten Fall beziehen lassen. Die zur Widerlegung der Aus-
gangshypothese notwendige Bildungsmöglichkeit des Elementes E0
bleibt, so kann man behaupten, auch in diesem konkreten Fall an die
Bedingung gebunden, dass die Menge der natürlichen Zahlen – im Sin-
ne der Ausgangshypothese – zunächst als unbedingtes Ganzes ange-
setzt wird. Denn nur weil man davon ausgeht, dass diese Bedingung

54 Ebd., S. 279.

457
B. Das Unendliche der Welt

erfüllt ist, sieht man sich nicht dazu angehalten, ausdrücklich zu bewei-
sen – bzw. auf axiomatische Weise zu garantieren –, dass die Existenz
des Elementes E0 von keiner bestimmten Auswahl und Anordnung der
Elemente E1, E2, …, Eμ, …, … abhängig ist. Ähnliches ließe sich von
dem zweiten konkreten Fall sagen, auf den Cantor die Idee des Dia-
gonalverfahrens anwendet.

* * *

Aus diesen Überlegungen zieht Richir eine Schlussfolgerung, die von


entscheidender Wichtigkeit für seine gesamte Auffassung ist. Er ging,
wie wir gesehen haben, davon aus, dass die Ausgangshypothese die
Menge M nicht nur überhaupt als gegebenes, sondern als unbedingtes
Ganzes erscheinen lässt. Jetzt führt ihn seine Betrachtung über die Be-
stimmung der Diagonalmenge zu der weiteren Einsicht, dass auch die
Widerlegung der Ausgangshypothese unmöglich wäre, ohne die Menge
M zunächst als unbedingtes Ganzes gelten zu lassen. Die Ansetzung der
Menge M als unbedingtes Ganzes erfüllt damit ersichtlich eine doppelte
Rolle in Cantors Diagonalverfahren. Sie ist einerseits das, was es zu
widerlegen gilt. Gleichwohl gibt sie uns andererseits das Mittel zu ihrer
eigenen Widerlegung (die Diagonalmenge) an die Hand. Sie ist in die-
sem Sinne dazu angelegt, sich selbst aufzuheben. (Sie ist die Zielscheibe
und die Waffe zugleich.)
Diese Beobachtungen sprechen eindeutig dafür, dass wir als das
gesuchte Prinzip der Unterscheidung zwischen verschiedenen Mächtig-
keiten die Ansetzung der Menge M als unbedingtes Ganzes herausstel-
len können. Dieses Unterscheidungsprinzip eignet sich aber nur deshalb
zugleich zur stufenweisen Bildung immer höherer Kardinalzahlen, weil
die Ansetzung einer Menge als unbedingtes Ganzes den Keim ihrer
eigenen Selbstaufhebung in sich trägt und so über sich hinausdrängt.
Auch als Bestandteil des vorhin erwähnten ›Hemmungs- und Beschrän-
kungsprinzips‹ verliert das Unterscheidungsprinzip diese in sich gegen-
sätzliche Doppelcharakteristik nicht. Nunmehr wird es auf eine Man-
nigfaltigkeit von Ordnungszahlen angewandt, die alle ein und derselben
Kardinalzahl zugeordnet sind. Diese Mannigfaltigkeit bildet eine un-
endliche Folge, die in stets bedingtem Fortgang durch die beiden Erzeu-
gungsprinzipien generiert wird. Das Unterscheidungsprinzip fordert
dabei die Ansetzung dieser Folge als ein unbedingtes Ganzes, das je-
doch, von vornherein zur Selbstaufhebung bestimmt, über sich hinaus-

458
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

weist. In Cantors Beschreibung des Hemmungs- und Beschränkungs-


prinzips deutet sich die Rolle des damit deutlich gemachten Unterschei-
dungsprinzips auf folgende Weise an: Die Mächtigkeit aller Ordnungs-
zahlen, die zu einer bestimmten Zahlenklasse gehören, bestimmt die
Mächtigkeit des Anfangselements – und so auch der weiteren Elemente
– der nächstfolgenden Zahlenklasse. Eben deshalb berechtigt erst die
Annahme einer »ihrem ganzen Umfange nach bereits vorhandenen de-
finierten Zahlenklasse« zur Schöpfung einer neuen ganzen Zahl, die
»zur Zahlenklasse von genau der nächst höheren Mächtigkeit hinüber-
führt«. 55 Diesmal sind zwar die Denkmittel, die zur Trennung von zwei
Zahlenklassen verschiedener Mächtigkeit verwendet werden, nicht die
Potenzmengenbildung und das Diagonalverfahren 56, obgleich diese
Denkmittel, worauf Fraenkel hinweist 57, auch diesmal verwendbar wä-
ren. Gleichwohl bleibt das Unterscheidungsprizip das Gleiche: Die suk-
zessive Begriffskonstruktion gelangt auch diesmal dadurch zu einem
Wendepunkt, dass die Menge aller Ordnungszahlen, die einer bestimm-
ten Kardinalzahl zugeordnet sind, einerseits nach wie vor als eine fort-
schreitende Folge betrachtet wird, andererseits aber gleichzeitig als ein
unbedingtes Ganzes zu gelten hätte.
In der so dargestellten Dynamik »dialektischer Begriffserzeugung«
im Transfiniten können wir mit Richir das Grundgesetz der Antinomie-
bildung bei Kant deutlich wiedererkennen.
In der Kritik der reinen Vernunft wird herausgestellt, dass die An-
tinomien aus der Anwendung des Begriffs eines unbedingten Ganzen
auf eine in sich unvollständige Reihe von Bedingungen entspringen. 58
Darin können wir das Grundgesetz der Entstehung der Antinomien
erblicken. Die vermeintliche Anwendbarkeit des Begriffs eines unbe-
dingten Ganzen erweckt zugleich den »Schein«, es müsse sich dabei
entweder um ein »an sich unendliches«, oder ein »an sich endliches
Ganzes« handeln. 59 Dieser Schein heißt deshalb »transzendental«, weil
er sich mit voller Notwendigkeit einstellt, sobald das vernünftige Den-

55
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 197 und S. 199.
56 Siehe ebd., S. 197–199. Vgl. Cantor, »Beiträge zur Begründung der transfiniten Men-

genlehre« (1895–97), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 332 f.


57
Fraenkel, Einleitung in die Mengenlehre, zit. Ausg., S. 193, Anm. 1.
58
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 505.
59 Ebd.

459
B. Das Unendliche der Welt

ken sich mit dem Problem des Endlichen und des Unendlichen konfron-
tiert sieht. Das – und nichts anderes – hat Richir im Sinn, wenn er
zwischen Kant und Cantor eine Analogie herauszustellen sucht.
Natürlich weiß er, dass Kant selbst die angeführten Bestimmungen
auf die Welt – und zwar auf die Welt der Erscheinungen – bezieht und
eben deshalb dem Raum und der Zeit in der Entstehung der Antino-
mien eine Hauptrolle zuweist. Gerade eine Auseinandersetzung mit der
Mengentheorie legt aber die Einsicht nahe, dass die letzte Quelle der
Antinomien tiefer liegt. Schon deshalb, weil das Problem des Raums
und der Zeit in der Mengentheorie gänzlich hinter dem Problem des
arithmetischen Kontinuums zurücktritt. In der Tat hält Cantor die Zeit
für »eine Vorstellung, die zu ihrer deutlichen Erklärung den von ihr
unabhängigen Kontinuitätsbegriff zur Voraussetzung hat« 60, und er
drückt die Überzeugung aus, dass »man mit der sogenannten Anschau-
ungsform des Raumes gar nichts anfangen kann, um Aufschluß über
das Kontinuum zu gewinnen« 61. Damit verlagert sich der Akzent bei
Cantor auf die unendlichen Zahlenmannigfaltigkeiten. 62 Wenn in der
Mengenlehre Cantors trotzdem Antinomien auftreten werden, so kön-
nen sie gewiss nicht auf das Problem von Raum, Zeit und Welt zurück-
geführt werden.
Es steht damit in Einklang, dass Richir die Wurzel der Antinomien
tiefer zu erfassen sucht. Wenn er sie im Umgang vernünftigen Denkens
mit dem Unendlichen überhaupt findet, so entfernt er sich doch wieder
nicht allzu sehr vom Geist der Kritik der reinen Vernunft.
Worin besteht aber der Sinn der Analogie, die er zwischen Kant
und Cantor herausstellt? Diese Frage drängt sich umso zwingender auf,
als es wohl keinen anderen Text in der Geschichte der Philosophie gibt,
den Cantor mit so harten Worten beurteilt hätte wie gerade das Anti-
nomiekapitel der Kritik der reinen Vernunft. »Es dürfte kaum jemals« –
sagt Cantor – »[…] mehr zur Diskreditierung der menschlichen Ver-
nunft und ihrer Fähigkeiten geschehen sein, als mit diesem Abschnitt

60
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 191.
61 Ebd., S. 192.

62
Im Hintergrund steht ein mathematischer Satz, dem zufolge »stetige Mannigfaltigkei-
ten von einer unendlich großen Dimensionenzahl dieselbe Mächtigkeit haben wie stetige
Mannigfaltigkeiten von einer Dimension […].« Siehe Cantor, »Ein Beitrag zur Mannig-
faltigkeitslehre« (1878), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 131.

460
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

der ›kritischen Transzendentalphilosophie‹«. 63 Richir möchte aber auch


nicht behaupten, dass Cantor bewusst und absichtlich an Kant an-
knüpft. Was er meint, lässt sich vielmehr durch die folgende These fest-
halten: In der stufenweisen Bildung transfiniter Zahlen macht sich ein
Grundgesetz dialektischer Begriffserzeugung geltend, das zum ersten
Mal in der Kritik der reinen Vernunft aufgewiesen und bestimmt wur-
de; in diesem Sinne behält Kant selbst noch Cantor gegenüber das
Recht.
Allerdings bedarf dieser Satz der Einschränkung. Bei Kant bringt
das erwähnte Grundgesetz unmittelbar Antinomien mit sich. Bei Can-
tor verhält es sich anders. Ihm gelingt es, um Kant’sche Ausdrücke zu
gebrauchen, einen sonst »dialektische[n] Grundsatz in einen doktrina-
len« zu verwandeln. 64 Dieser Erfolg hängt nach Richir mit einem
grundlegenden Unterschied zusammen, der zwischen den beiden Den-
kern besteht: Bei Kant stehen das Endliche und das Unendliche einander
gegenüber; bei Cantor dagegen tritt die Unterscheidung zwischen dem
Transfiniten und dem Absolutunendlichen an die Stelle dieses Gegen-
satzes. 65 Daraus ergibt sich eine wichtige Einsicht: Der metaphysischen
Grundüberzeugung Cantors kommt allem Anschein nach eine konsti-
tutive Rolle im Aufbau der Lehre von den überendlichen Zahlen zu.
Diese Rolle wird nur noch deutlicher, wenn man beachtet, wie
Cantors Unternehmen schließlich doch an seine Grenze stößt. 66 Es han-
delt sich um eine Grenze, die sich auch hier durch Antinomien bekun-
det. Manche von ihnen werden bereits von Cantor selbst erkannt. Er
entdeckt, dass die Zusammenfassung aller Ordinalzahlen zu einem
Ganzen Ω auf einen Widerspruch führt. 67 Da Ordnungszahlen und Kar-

63 Cantor, »Über die verschiedenen Standpunkte in bezug auf das aktuelle Unendliche«
(1885), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 375.
64
Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 516.
65
Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théorie
des ensembles«, S. 104: »[…] l’antinomie dont nous venons de proposer une première
ébauche joue, non pas comme chez Kant, entre le fini et l’infini, mais entre deux concep-
tions possibles de l’infini, l’une, celle du transfini qui pourrait se régler par transposition
du fini dans l’infini, et l’autre qui ne pourrait en rien se régler parce qu’elle serait pour
ainsi dire celle d’un infini absolument infini.«
66 M. Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-

rie des ensembles«, S. 110.


67
Cantor, »Brief an Dedekind vom 28. Juli 1899«, in: Gesammelte Abhandlungen,
S. 445: Cantor zeigt, daß die Vielheit aller Ordnungszahlen nicht konsistent sein kann,
auf folgende Weise: Wäre sie konsistent, »so würde ihr als einer wohlgeordneten Menge

461
B. Das Unendliche der Welt

dinalzahlen einander zugeordnet sind, bleibt von diesem Widerspruch


auch die unendliche Folge aller Mächtigkeiten keineswegs unbetroffen.
Cantor zieht aus diesen Einsichten sogar eine allgemeine Konsequenz,
indem er den Begriff »absolut unendliche[r] oder inkonsistente[r] Viel-
heiten« bildet. 68 Dieser Begriff ist deshalb notwendig, sagt er, weil eine
Vielheit »so beschaffen sein kann, dass die Annahme eines ›Zusammen-
seins‹ aller ihrer Elemente auf einen Widerspruch führt«. 69 In diesem
Falle ist es, wie er hinzufügt, unmöglich, »die Vielheit als eine Einheit,
als ›ein fertiges Ding‹ aufzufassen.« 70 Es gilt nunmehr die konsistenten
Vielheiten oder Mengen 71 von diesen inkonsistenten Vielheiten zu un-
terscheiden.
Damit ist ein Ziel gesetzt, dem die mengentheoretische Forschung
in den nächsten drei Jahrzehnten vornehmlich dienen wird. Von Cantor
selbst wird aber dieser Weg nicht betreten. Seine Reaktion auf die Ent-
deckung der Antinomien ist überraschend. Er sucht die inkonsistenten
Vielheiten seiner Theorie transfiniter Zahlen zunutze zu machen. Er
macht von ihnen Gebrauch, um beweisen zu können, dass die den ein-
zelnen Klassen der Ordnungszahlen zugeordneten Kardinalzahlen, die
von ihm als Alefs bezeichnet wurden, eine lückenlose Folge darstellen.
Merkwürdigerweise leitet dieser Beweis aus der Inkonsistenz der Ge-
samtheit aller Ordnungszahlen die Behauptung ab, dass es keine Menge
gibt, deren Mächtigkeit nicht in diesem Sinne Alef genannt werden
könnte. 72 Was erklärt diesen freien Umgang mit den inkonsistenten

eine Zahl δ zukommen, die größer wäre als alle Zahlen des Systems Ω; im System Ω
kommt aber, weil es alle Zahlen umfaßt, auch die Zahl δ vor; es wäre also δ größer als δ,
was ein Widerspruch ist.«
68
Ebd., S. 443.
69 Ebd.

70
Ebd.
71
Ebd.
72
Ebd., S. 447: »Beweis. Nehmen wir eine bestimmte Vielheit V und setzen voraus, daß
ihr kein Alef als Kardinalzahl zukommt, so schließen wir, daß V inkonsistent sein muß. –
Denn man erkennt leicht, daß unter der gemachten Voraussetzung das ganze System Ω
in die Vielheit V hineinprojizierbar ist, d. h. daß eine Teilvielheit V’ von V existieren muß,
die dem System Ω äquivalent ist. – V ist inkonsistent, weil Ω es ist, es muß also auch
dasselbe von V behauptet werden. – Mithin muß jede transfinite konsistente Vielheit,
jede transfinite Menge ein bestimmtes Alef als Kardinalzahl haben.« – Man sieht, daß
sich Cantor in diesem Beweis auf folgenden Satz stützt: »Zwei äquivalente Vielheiten
sind entweder beide ›Mengen‹, oder beide inkonsistent.« (Ebd., S. 444.) Dieser Satz ist
gleichbedeutend mit dem ›Ersetzungsaxiom‹, das später von A. Fraenkel und anderen
formuliert wird.

462
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Vielheiten im Bereich des Transfiniten, wenn nicht die von alters her
bestehende Vertrautheit Cantors mit dem Absolutunendlichen?
Allerdings bemerkt Fraenkel in seiner Cantor-Biographie über den
gerade erwähnten Beweis: »Wie wenig dieser ›Beweis‹ ihn selbst befrie-
digt, zeigt seine kurz darnach an Dedekind ausgesprochene Bitte, er
möge mittels seiner Kettentheorie einen ›direkten‹ Beweis der Ver-
gleichbarkeit geben. So hat auf Cantor von 1884 bis zu seinem Tode
das Offenbleiben des Kontinuumproblems nachhaltig eingewirkt und
in ihm sogar zeitweise einen Zweifel entstehen lassen, ob die Mengen-
lehre in ihrer jetzigen Gestalt als wissenschaftliches Gebäude haltbar
sei.« 73 Auch aus diesen Worten geht aber hervor, dass nicht die Ent-
deckung der Antinomien die eigentliche Erschütterung für Cantor be-
deuteten. Nach all dem, was wir wissen, hat Cantor die – von Cesare
Burali-Forti ebenfalls entdeckte und nach ihm benannte – Antinomie
der Menge aller Ordnunszahlen Ω bereits im Jahre 1895 erkannt und
im nächsten Jahr David Hilbert brieflich mitgeteilt; diese Erkenntnis hat
ihn also nicht daran gehindert, gleichzeitig sein systematisches Haupt-
werk, die »Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre«, zu
veröffentlichen (der erste Teil erschien im Jahre 1895, der zweite im
Jahre 1897). Entscheidend für Cantors psychische Schwankungen, so-
weit diese mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit überhaupt zusam-
menhingen, waren – schon im Jahre 1884 – wohl eher die vergeblichen
Versuche, das Kontinuumproblem zu bewältigen.

3. »Arithmetik des transzendentalen Scheins«

Welche Antwort geht aus diesen Betrachtungen auf die Eingangsfrage


nach dem Aktual-Unendlichen hervor? Die Antwort beginnt sicherlich
mit der Behauptung: Das Aktual-Unendliche zu denken ist eine Denk-
notwendigkeit. Das so Gedachte bleibt aber stets auf den immer nur
bedingten Fortgang einer ›dialektischen Begriffserzeugung‹ angewie-
sen, die grundsätzlich nicht als abgeschlossen gelten kann, ohne die
Gefahr von Antinomien heraufzubeschören. Es bleibt, anders gesagt,
an die Bedingung einer Generativität gebunden, die ihrer Natur nach

73
Fraenkel, »Das Leben Georg Cantors«, in: Cantor, Gesammelte Abhandlungen,
S. 470.

463
B. Das Unendliche der Welt

durch Sukzessivität (oder Iterativität) gekennzeichnet ist. 74 Das ist mit


»stufenweiser Bildung« gemeint. Dabei täuscht die stufenweise Bildung
immer höherer Kardinalitäten und Ordinalitäten immer wieder das Ab-
solutunendliche vor, ohne ihm je näherzukommen. Daher ist die trans-
finite Zahl notwendig mit einem transzendentalen Schein behaftet, der
unbehebbar bleibt. Deshalb beschreibt Richir die Theorie transfiniter
Zahlen als eine »Arithmetik des transzendentalen Scheins«. 75 Vielleicht
ist aber dieser Schein nichts anderes als gerade der ›Hinweis‹ des Trans-
finiten auf das Absolute, von dem Cantor so geheimnisvoll redete.
Ohne transzendentalen Schein, behauptet Richir, sind hier einzig
und allein die Vielheiten lebensweltlich-relativer Erfahrung, die aber
nicht als feststehende Einheiten und Ganzheiten gelten können, ja,
nicht einmal aus wohlunterschiedenen Elementen bestehen. 76 Der Aus-
einandersetzung Richirs mit Cantor ist aber zu entnehmen, dass es in
einer phänomenologischen Epistemologie keineswegs allein darauf an-
kommt, die Eigenberechtigung dieser Erfahrungsmannigfaltigkeiten zu
betonen. Es gilt mehr noch, der Kreativität des Denkens nachzufor-
schen. Für Richir ist nicht das Feststehende, Gültige, Anerkannte das
eigentliche Rätsel, sondern das Schöpferische. Was ihn beschäftigt, ist
eben deshalb weniger die Logik der Forschung im Sinne Poppers und
seiner Nachfolger, weniger die rationale Rekonstruktion wissenschaft-
licher Entdeckungen, als vielmehr die Phänomenologie schöpferischen
Denkens, die genetische Analyse neu aufkommender Sinngebilde. Was
seine Begeisterung für Cantor in Schwung hält, ist, um diesen
Kant’schen Ausdruck noch einmal zu gebrauchen, die Art und Weise,
in der im transfiniten Denken ›ein dialektischer Grundsatz in einen
doktrinalen verwandelt wird‹.
Damit hängt zusammen, dass die Auseinandersetzung mit Cantor
ihm auch eine Gelegenheit bietet, zu eigenen Gedanken zu kommen –
oder eigene Gedanken zumindest auf eine Bewährungsprobe zu stellen.

74
Diese Behauptung scheint auch mit der Gödel’schen stufenweisen Erzeugung aller
Mengen durch die wiederholte (iterative) Ausführung der Operation »Menge von …«
und die wiederholte Bestimmung der jeweiligen Axiome im Einklang zu stehen. Siehe
Kurt Gödel, Unpublished Philosophical Essays, Basel, Boston und Berlin: Birkhäuser
1995, S. 130 f.
75
Richir, »De l’illusion transcendantale dans la théorie cantorienne des ensembles«,
S. 114.
76
M. Richir, »Une antinomie quasi-kantienne dans la fondation cantorienne de la théo-
rie des ensembles«, S. 112.

464
Transfinite Zahl und transzendentaler Schein

Man kann behaupten, dass Richir den Begriff des ›phänomenologischen


Feldes‹ auf eine Weise verwandelt, die dem Denken Cantors in einem
von diesem Denken selbst weit entfernten Bereich Rechnung trägt. Er-
forscht und erörtert wird dabei ganz allgemein der Entstehungsvorgang
des Gedankens und des Ausdrucks. Richir geht davon aus, dass wir es
im lebendigen Denken, Sprechen und Schreiben mit einer Mannigfal-
tigkeit unvollendeter Sinngebilde zu tun haben. Er beschreibt diese
Mannigfaltigkeit als ein Feld schillernd mehrdeutiger und flüchtiger
Sinnregungen, um es, mit einem der Grundworte griechischen Denkens
(von Anaximander bis Plotin), als Apeiron zu bezeichnen. Man könnte
meinen, es handle sich dabei wieder einmal nur um das Potential-Un-
endliche, das Cantor wohl zu Recht als das Uneigentlich-Unendliche
beschrieb. Dem ist aber keineswegs so. Gewiss ist das Apeiron Richirs
keine aktual-unendliche Menge im Sinne Cantors. Es ist aber auch kei-
ne endliche Menge, weil sich die Mehrdeutigkeit der einzelnen Sinn-
regungen nicht auf endlich viele wohlunterschiedene Bedeutungen
zerlegen lässt, sondern – wie die lebendige Metapher – gleitend-unbe-
stimmt bleibt, selbst wenn sie dabei doch so etwas wie einen einheit-
lichen Richtungssinn aufweist. So gleicht Richirs Apeiron am meisten
noch der inkonsistenten Vielheit Cantors, also dem Absolutunend-
lichen, das allem Anschein nach ebenso sehr der letzte Grund wie der
letzte Abgrund alles Denkens ist.
Man kann aber nicht stark genug betonen, wie wichtig die Unter-
scheidung zwischen dem Transfiniten und dem Absolutunendlichen für
Cantors gesamtes Denken ist. Die zum Teil von ihm selbst, zum Teil
von anderen Mathematikern und Logikern erkannten Antinomien der
Mengenlehre bereiten ihm deshalb keine Überraschung, weil er von
vornherein davon ausgeht, dass der Selbstwiderspruch dem Denken
des Absolutunendlichen niemals erspart bleiben kann. Um dies deutli-
cher zu sehen, ist es lohnenswert, auf Cantors Bemerkungen zur Ge-
schichte der Philosophie des Unendlichen etwas näher einzugehen.

465
B. Das Unendliche der Welt

II. Das Transfinite und das Absolutunendliche in


Cantors Bemerkungen über seine Vorgänger

Cantor stellt das Aktual-Unendliche als das Eigentlich-Unendliche dem


Potential-Unendlichen gegenüber. Als potential unendlich werden seit
Aristoteles unendliche Folgen bezeichnet, die durch wiederholte Hin-
zufügung endlicher Quantitäten zu endlichen Quantitäten oder durch
Teilung endlicher Größen entstehen. Man sieht leicht, dass sämtliche
Glieder derartiger Folgen endlich bleiben. Durch wiederholte Anwen-
dung der Operation »Hinzufügung« und »Teilung« geht man zwar von
einer endlichen Quantität zur anderen und ebenso von einer endlichen
Größe zur anderen über, aber das Unendliche erreicht man eigentlich
nicht. Deshalb hält Cantor das Potential-Unendliche für das Uneigent-
lich-Unendliche.
Wahrhaft unendlich ist in seinen Augen vor allem das Transfinite,
das er in seiner Mengentheorie zu erkunden sucht. Wie steht es jedoch
mit dem Absolutunendlichen, das er ebenfalls zum Bereich des Aktual-
Unendlichen rechnet? Diese Frage erhebt sich deshalb, weil Cantor
»absolut unendliche« Folgen nennt, denen eher nur eine potentiale Un-
endlichkeit zuzukommen scheint. So erwähnt er in einer berühmt ge-
wordenen Fußnote der Grundlage einer allgemeinen Mannigfaltig-
keitslehre etwa die »absolut unendliche Zahlenfolge«. 77 Darunter
versteht er die gesamte Folge aller Ordnungszahlen, die er zugleich als
»ein geeignetes Symbol des Absoluten« beschreibt. 78 In derselben Fuß-
note bezeichnet er auch die gesamte Folge der Kardinalzahlen als »ab-
solut unendlich«. 79 Diese Folgen weisen eine deutliche Ähnlichkeit etwa
mit potential unendlichen Folgen endlicher natürlicher Zahlen auf. Sie
deuten eher die Offenheit des transfiniten Bereichs an, als dass sie un-
mittelbar mit dem Absolutunendlichen gleichgesetzt werden könnten.
Wie könnte auch ein ›geeignetes Symbol des Absoluten‹ identisch mit
dem Absoluten selbst sein? Aus einem bereits herangezogenen Brief
von Cantor an Dedekind geht zugleich hervor, dass sich die beiden ›ab-
solut unendlichen‹ Folgen gesamter Ordnungszahlen und gesamter

77
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2.
78
Ebd.: »Die absolut unendliche Zahlenfolge erscheint mir daher in gewissem Sinne als
ein geeignetes Symbol des Absoluten […].«
79 Ebd.: »[…] es bilden […] auch die Mächtigkeiten eine absolut-unendliche Folge«.

466
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Kardinalzahlen (Ω bzw. ‫ )ת‬als »inkonsistente Vielheiten« erweisen. 80 In


welchem Sinne könnten aber inkonsistente Vielheiten ›absolut unend-
lich‹ genannt werden?
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage ist es vielleicht
angebracht, zwei Seiten des Absolutunendlichen voneinander zu unter-
scheiden: eine positive und eine negative. Seiner positiven Seite nach
käme dann dem Absolutunendlichen die eigentliche Unendlichkeit des
Aktualen, seiner negativen Seite nach dagegen nur die uneigentliche
Unendlichkeit des Potentialen zu. Wie gehören aber die beiden Seiten
miteinander zusammen? Um dies herauszufinden, wollen wir uns den
Bemerkungen von Cantor zur Geschichte der Philosophie des Unend-
lichen näher zuwenden.

1. Das Transfinite als eine Mischung von Grenze und


Unbegrenztem

In der Grundlage einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre stützt sich


Cantor auf Platons Philebos, um deutlich zu machen, was er unter
»Mannigfaltigkeit« oder »Menge« versteht. 81 Zunächst definiert er die-
sen Begriff: Er meint mit ihm »jedes Viele, welches sich als Eines den-
ken läßt, d. h. jeden Inbegriff bestimmter Elemente, welcher durch ein
Gesetz zu einem Ganzen verbunden werden kann«. 82 Cantor setzt hin-
zu, dass dieser Begriff von Mannigfaltigkeit oder Menge mit dem plato-
nischen eidos oder der platonischen Idee verwandt sei – und noch mehr
mit dem, was im platonischen Philebos »Mischung« oder »Gemisch«
(τὸ μεικτόν) heißt. 83 Es handelt sich dabei um eine Mischung von
Grenze (πέραϚ) und Unbegrenztem (ἄπειρον). Das Unbegrenzte
(ἄπειρον) ist der spezifische Unendlichkeitsbegriff der antiken grie-

80
Ebd., S. 443.
81
Zu den nachstehenden Erörterungen vgl. von Prof. Dr. Kai Hauser, mit dem ich meh-
rere Gespräche über das Verhältnis von Platon und Cantor hatte, besonders den Aufsatz
»Cantor’s Concept of Set in the Light of Plato’s Philebus«, in: The Review of Metaphysics
63 (2010), S. 784–805.
82 Ebd., S. 204, Anm. 1.

83
Platon, Philebos, 25 b [Opera, Bd. II]; dt. Sämtliche Werke, griechisch-deutsche zwei-
sprachige Ausgabe, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, ergänzt durch Übersetzun-
gen von Franz Susemihl und anderen, hg. von Karlheinz Hülser, 10 Bände, hier: Bd. VIII,
Frankfurt am Main und Leipzig: Insel 1991.

467
B. Das Unendliche der Welt

chischen Philosophie, der das Unbestimmt-Unbegrenzte, beliebig Va-


riable, damit über jede Grenze Hinausgehende, aber letztlich doch
immer Endliche bezeichnet. Cantor gleicht ihn deshalb seinem eigenen
Begriff des Uneigentlich-Unendlichen an. Mit πέραϚ ist dagegen die
Grenze im Sinne abgrenzender Bestimmung oder Grenzbestimmung
gemeint.
Platon selbst weist darauf hin, dass die beiden Begriffe πέραϚ und
ἄπειρον älteren Ursprungs sind. Sie gehen, wie wir u. a. von Aristoteles
wissen, 84 in der Tat auf die pythagoreische Tradition zurück. In einem
Fragment, das Philolaos, dem berühmtesten Pythagoreer aus dem
5. Jahrhundert zugeschrieben wird, ist davon die Rede, dass alles in der
Welt – wie auch die Welt selbst – aus »Begrenzendem« (περαίνοντα)
und Unbegrenztem (ἄπειρα) besteht. 85
Platon verwandelt jedoch diese Lehre, indem er sie auf das Verhält-
nis der Ideen zur Wahrnehmungswirklichkeit anwendet. Die Wahrneh-
mungswirklichkeit fasst er dabei als einen Bereich des Werdens auf, in
dem alles in ständiger Veränderung begriffen ist, ohne dass darin ein
sich selbst gleichbleibendes Sein und damit eine feste Bestimmtheit
möglich wäre. Als das Hauptmerkmal dieses Bereichs betrachtet Platon,
dass in ihm alles nur mehr oder weniger das ist, was es ist. 86 Gerade das
meint er mit dem Terminus ἄπειρον: einen Bereich, der durch einen
unaufhebbaren Mangel an bestimmender Grenze oder abgrenzender

84
Aristoteles, Metaphysik, A 985 b 23 ff.
85
Diels und Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 44 B 2. Vermutlich kannte Cantor
dieses Fragment aus August Boeckhs Buch über Philolaos (Philolaos des Pythagoreers
Lehren nebst den Bruchstücken seines Werkes, Berlin: Vossische Buchhandlung 1819,
S. 45 ff.), auf das er an einer Stelle selbst hinweist (Gesammelte Abhandlungen, S. 204,
Anm. 1). Ich danke Herrn Prof. Dr. Kai Hauser auch dafür, dass er mir dieses Grundwerk
der klassischen Philosophie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zusammen mit
anderen Quellentexten zu Cantors philosophiehistorischen Bemerkungen (siehe weiter
unten, S. 482, Anm. 128) – zugänglich machte. Seit Erich Franks Plato und die soge-
nannten Pythagoreer (Tübingen: Niemeyer 1923) ist das Werk von August Boeckh al-
lerdings höchst umstritten, weil darin Lehren, die vermutlich aus der platonischen Aka-
demie – so etwa von Speusippos und Xenokrates, den beiden nächsten Nachfolgern von
Platon – stammen, dem Pythagoreer Philolaos zugeschrieben werden. Für einen aus-
gewogenen Standpunkt siehe Walter Burkerts Weisheit und Wissenschaft. Studien zu
Pythagoras, Philolaos und Platon (Nürnberg: Hans Carl 1962). Für eine Textausgabe der
heute anerkannten Fragmente des pythagoreischen Philosophen aus dem 5. Jahrhundert
siehe Carl A. Huffman, Philolaus of Croton, Pythagorean and Presocratic, Cambridge:
Cambridge University Press 1993.
86 Platon, Philebos, 24 a-c.

468
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Bestimmung gekennzeichnet ist. Aber gerade in seinen späten Werken


– so neben dem Philebos vor allem im Timaios – gelangt er zu der Ein-
sicht, dass die Ideen als prägende Muster oder Vorbilder dennoch zur
Generierung gewisser Gebilde im Bereich des Werdens dienen können,
die sich inmitten ständiger Veränderungen dauerhaft erhalten. Es han-
delt sich dabei um durch Ideen bestimmte Gliederungssysteme, die eine
unbestimmt-unendliche Reihe sich ständig wandelnder Elemente um-
fassen, ohne sich zu verändern. Eines der Beispiele für ein derartiges
Gliederungssystem ist bei Platon das Lautsystem der altgriechischen
Sprache. 87 In diesem System gehören die einzelnen Laute von α bis ω
bestimmten Gattungen und Arten zu. Für unsere Zwecke können wir
die Einteilung der altgriechischen Laute, die wir im Philebos finden,
etwas vereinfachen, indem wir als oberste Gattungen einfach die Vokale
(Selbstlaute) und die Konsonanten (Mitlaute) nehmen. In jeder dieser
Gattungen lassen sich dann verschiedene Arten voneinander unter-
scheiden. So umfasst etwa eine bestimmte Art innerhalb der Gattung
der Konsonanten »fließende« Laute wie λ, μ, ν und ρ (voces liquidae),
eine weitere Art innerhalb derselben Gattung schließt dagegen »stum-
me« Laute wie κ, π, τ und andere in sich (voces mutae). Auf Arten
innerhalb der Gattung der Vokale brauchen wir nicht notwendig ein-
zugehen. Die von Platon eigens erwähnten Halbvokale wie z. B. ι oder υ
können wir ebenfalls außer Acht lassen. Auch so ist es schon klar, was
mit einem Gliederungssystem altgriechischer Laute gemeint ist. Jedes
einzelne Moment in dieser umfassenden Artikulation der Sprache gilt
in Platons Augen als eine bestimmende Grenze oder abgrenzende Be-
stimmung (πέραϚ). Auf der untersten Ebene trifft diese Feststellung
sogar auf die einzelnen Laute mit selbstständigem Geltungswert – wie
auf das σ oder das θ – zu. Die einzelnen Laute als immer wieder anders
ausgefallene physikalische Geräusche entsprechen den so verstandenen
Lauten mit selbstständigem Geltungswert allerdings nur mehr oder we-
niger. Manchmal bringen die Sprecher einer Sprache die zu einem Laut
gehörenden physikalischen Geräusche auf unangemessene Weise her-
vor, aber innerhalb gewisser Grenzen bleiben auch diese misslungenen
Produkte ihrer Rede als entsprechende ›Phoneme‹ erkennbar. Oft vor-
kommende Abweichungen von der richtigen Aussprache haben sogar
einen eigenen Namen in der Sprache; eine bestimmte Aussprache des
Lautes ›s‹ nennt man zum Beispiel ›lispelnd‹. Ob die Grenze zwischen

87 Ebd., 18 a-e.

469
B. Das Unendliche der Welt

zwei Phonemen damit überschritten ist, hängt vom eigentümlichen


Lautsystem der jeweiligen Sprache ab. So bleibt etwa ein lispelnd aus-
gesprochenes ›s‹ in der deutschen Sprache ein etwas misslungenes, aber
oft noch erkennbares ›s‹ ; in der englischen Sprache kann es dagegen
leicht schon als ein ›th‹ gelten. Das Altgriechische mag in dieser Hin-
sicht der englischen Sprache ähnlicher als der deutschen gewesen sein.
Es ist nicht schwer zu sehen, dass die sich niemals ganz gleichbleibende
Sphäre physikalischer Geräusche in diesem Beispiel für das Unbe-
stimmt-Unbegrenzte (ἄπειρον) steht.
Das Gliederungssystem sprachlicher Laute ist in Platons Augen
nur ein Beispiel unter anderen für ein Gebilde, das seine Gesamtstruk-
tur inmitten unaufhörlicher Veränderung und Umwandlung seiner Be-
standteile bewahrt. Mit einem Ausdruck, den Platon im Spätwerk Phi-
lebos dafür prägt, ist ein derartiges Gebilde durch eine μεικτὴ καὶ
γεγενημένη οὐσία (»ein gemischtes und gewordenes Sein«) gekenn-
zeichnet. 88 Auch ein anderer Terminus von besonderer Aussagekraft
wird im Philebos verwendet: γένεσιϚ εἰϚ οὐσίαν (»Werden zum
Sein«). 89 Beide Ausdrücke deuten eine bestimmte Verbindung von Sein
und Werden an. Als der Bereich des Werdens bleibt die Wahrneh-
mungswirklichkeit vom Sein der Idee nach wie vor durch eine Kluft
getrennt, aber der Abgrund des χωρισμόϚ wird in Platons späten
Schriften durch eine Reihe sich inmitten ständiger Veränderung gleich-
bleibender Gebilde überbrückt. Als so geartete Gebilde fasst Platon im
Philebos neben dem Lautsystem der Sprache etwa die musikalische
Tonleiter, den regelmäßigen Wechsel der Jahreszeiten oder auch die Ge-
sundheit (wohl als ein Gleichgewicht verschiedener Körpersäfte) auf.
Auch das gute Leben, um das es im Ganzen dieses späten Dialogs geht,
wird als ein Gliederungssystem von Wissensformen und gewissen
Lustarten begriffen. Genauso verhält es sich mit einem anderen späten
Werk, dem Timaios, in dem die Einrichtung des κόσμοϚ zum Gegen-
stand gemacht wird: Die Weltordnung wird ebenfalls als ein Glie-
derungssystem bestimmt, dem ein dauerhaftes Sein im Bereich des
Werdens zukommt.
Cantor hat jedoch nicht einmal nur im Allgemeinen ein derartiges
Gliederungssystem im Auge, sondern er interessiert sich mehr noch für
den gemeinsamen Strukturbau all dieser Systeme, der von Platon als

88
Ebd., 27 b.
89 Ebd., 26 d.

470
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

eine Mischung oder ein Gemisch von bestimmender Grenze und Unbe-
stimmt-Unbegrenztem verstanden wird. Das Bild der Mischung (μεῖ-
ξιϚ) ist dazu bestimmt, den ungleichartigen Ursprung von πέραϚ und
ἄπειρον anzudeuten. Der Ursprung der bestimmenden Grenze liegt im
Reich der Ideen, da die Ideen die Gliederung der Wahrnehmungswirk-
lichkeit nach Gattungen und Arten festlegen. Dagegen ist das Unbe-
stimmt-Unbegrenzte in der Wahrnehmungswirklichkeit heimisch, da
diese nicht nur ein Bereich von Werden und ständiger Veränderung ist,
sondern sich auch als eine Sphäre des mehr oder weniger erweist. Die-
ser ungleichartige Ursprung hat zur Folge, dass ein dauerhaftes Sein
niemals aus der Wahrnehmungswirklichkeit selbst abgeleitet, sondern
ihr nur hinzugefügt – im Bilde gesprochen: ›beigemischt‹ – werden
kann.
Mit der Idee einer Mischung von bestimmender Grenze und Un-
bestimmt-Unbegrenztem verbindet sich im Philebos darüber hinaus
eine Unterscheidung zwischen zwei Vorgehensweisen, eine Vielheit in
einer Einheit zusammenzufassen oder die Einheit einer Vielheit zu be-
greifen. Platon will zeigen, dass die einzig richtige Vorgehensweise, die
zu diesem Zweck führt, gerade darin besteht, dem Unbestimmt-Unbe-
grenzten bestimmende Grenzen oder Grenzbestimmungen ›beizumi-
schen‹. Diese Vorgehensweise wird im Philebos einer anderen Methode
gegenübergestellt, die durch eine unmittelbare Verbindung von Ein-
heit und Vielheit charakterisiert ist. Das Ergebnis dieser weit verbrei-
teten Methode ist aber nach Platon auch nur ein unmittelbares Um-
schlagen der Gegensätze ineinander, wobei die der Vielheit ohne die
Vermittlung eines genau bestimmten Gliederungssystems auferlegte
Einheit im Unbestimmt-Unbegrenzten untergeht. Im Philebos wird
dies vor allem am Beispiel der Lust erwiesen. Platon macht deutlich,
dass ›Lust‹ ein Gattungsbegriff ist, der nicht nur verschiedene, sondern
einander in manchen Fällen geradezu entgegengesetzte Arten um-
fasst. 90 Hält man einfach an der Einheit dieses in sich selbst undiffe-
renzierten Gattungsbegiffs fest, ohne seine innere Artikulation bis in
die letzten Unterteilungen zu beachten, so verliert man jeden Anhalts-
punkt zur Orientierung im Unbestimmt-Unbegrenzten. Da die Einheit
des undifferenzierten Gattungsbegiffs in manchen Fällen einander ge-
radezu entgegengesetzte Arten umfasst, verwickelt man sich dabei so-
gar in Widersprüche mit sich selbst. Diese Vorgehensweise führt folg-

90 Ebd., 12 c–13 a.

471
B. Das Unendliche der Welt

lich leicht zu Fehlschlüssen und Paradoxien. Deshalb konnte sie von


manchen Sophisten mit der bewussten Absicht, Verwirrung zu stiften,
in Debatten eingesetzt werden. Im Hinblick auf diese Tatsache bezeich-
net Platon diese Vorgehensweise als eristisch und stellt ihr seine eigene
Methode als dialektisch gegenüber. 91
Es ist nicht schwer zu sehen, dass Cantor sich gerade deshalb vom
Philebos so sehr angezogen fühlt, weil er in ihm diese Gegenüberstel-
lung von zwei verschiedenen Vorgehensweisen zur Verbindung von
Einheit und Vielheit findet. Er interessiert sich dabei nicht für die Über-
brückungsmöglichkeiten des Abgrundes zwischen der Ideenwelt und
der Wahrnehmungswirklichkeit und auch nicht besonders für die Glie-
derung der Wahrnehmungswirklichkeit nach Gattungen und Arten.
Die Schwierigkeiten von Platons ›Zweiweltentheorie‹, um einen von
Emil Lask geprägten Ausdruck zu gebrauchen, sind für ihn nur noch
von historischer Bedeutung, und es steht ihm auch fern, Platons dihai-
retische Methode zur Verbindung von Einheit und Vielheit zu verwen-
den. Da er dem Geist der neuzeitlichen Wissenschaft verpflichtet ist,
ersetzt er die platonische Gliederung des Unbestimmt-Unendlichen
nach Gattungen und Arten in seiner eigenen Definition von Vielheit
oder Menge von vornherein durch einen Hinweis auf ein Gesetz. In
seiner späteren Definition von Menge wird er – vermutlich unter dem
Einfluss von Husserls Philosophie der Arithmetik – sogar auf diesen
Hinweis verzichten. Gleichwohl hält er dabei nach wie vor an einem
Grundgedanken des platonischen Philebos fest, indem er die Menge als
eine in sich gegliederte Vielheit begreift und ihr eine artikulierte Struk-
turidentität zuschreibt, die sich zwar nicht notwendig auf ein Gesetz
stützt, aber auf jeden Fall voneinander eindeutig getrennte und in die-
sem Sinne wohlunterschiedene Elemente voraussetzt.
Aber die Parallele mit Platons Philebos ist damit noch nicht er-
schöpft. Auch die platonische Unterscheidung zwischen eristischer und
dialektischer Methode hinterlässt eine Spur in Cantors Entwurf zur
Mengentheorie. Es handelt sich um eine Spur, die mit der Unterschei-
dung zwischen dem Transfiniten und dem Absolutunendlichen zusam-
menhängt. Man kann sie darin sehen, dass Cantor das Transfinite als
»ein durchaus bestimmtes Unendliches« 92 dem Absolutunendlichen ge-
genüberstellt, das, wie er hervorhebt, »keinerlei Determination ge-

91
Ebd., 17 a.
92 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 166.

472
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

stattet«. 93 Im Gegensatz zur bestimmten Unendlichkeit von Mengen


bewahren auch die von Cantor als ›absolut unendlich‹ bezeichneten Fol-
gen endlicher und transfiniter Mengen etwas vom Unbestimmt-Un-
endlichen, dem altgriechischen ἄπειρον. Man könnte sagen, dass bei
Platon die sich im Bereich des Werdens dauerhaft erhaltenden Glie-
derungssysteme dem Unbestimmt-Unendlichen abgewonnen werden.
Auf ähnliche Weise wird bei Cantor das Transfinite dem Absolutunend-
lichen abgewonnen.
Diese Sicht auf den Gesamtbereich des Transfiniten drückt sich in
Cantors Unterscheidung zwischen konsistenten Mengen und inkonsis-
tenten Vielheiten deutlich aus. Wenn man sich diesen Zusammenhang
klarmacht, begreift man zugleich, dass die Axiomatisierung der Men-
genlehre, wie sie im 20. Jahrhundert von Ernst Zermelo, Adolf [Abra-
ham] Fraenkel und anderen zum Zweck gesetzt und verschiedentlich
vollzogen wurde, keineswegs etwa als ein rein technischer Notbehelf
zur Abwehr der in der Mengentheorie inzwischen aufgetauchten Anti-
nomien abgetan werden kann. Man kann vielmehr behaupten, dass die
Axiomatisierung der Mengenlehre Cantors ursprünglicher Sichtweise
entspricht, indem sie den Gesamtbereich des Transfiniten vom Absolut-
unendlichen durch ein genau bestimmtes Verfahren der Mengenbil-
dung abgrenzt. Ohne diese technische Umsetzung von Cantors ur-
sprünglicher Unterscheidung zwischen dem Transfiniten und dem
Absolutunendlichen in ihrer Bedeutung schmälern zu wollen, kann
man durchaus zur Einsicht gelangen, dass es eine ›naive‹ Mengenlehre
nicht erst seit Zermelos Abhandlung über die Axiomatisierung von
Cantors Theorie aus dem Jahre 1908, sondern der Sache nach schon seit
Cantors Gegenüberstellung von konsistenten Mengen und inkonsis-
tenten Vielheiten aus dem Jahre 1997 oder sogar seit Cantors erster
Unterscheidung zwischen dem Transfiniten und dem Absolutunend-
lichen aus dem Jahre 1884 (oder – der Abfassungszeit nach – aus dem
Jahre 1983) nicht gibt. 94

93
Ebd., S. 175.
94
Vgl. Walter Purkert, »Georg Cantor und die Antinomien der Mengenlehre«, in: Bul-
letin de la société mathématique de Belgique XXXVIII (1986), S. 313–327, hier: S. 320:
»[…] Cantor [war] mit der Ausarbeitung der Theorie der transfiniten Ordinal- und Kar-
dinalzahlen (also spätestens 1883) auch klar […], daß das System aller Ordinalzahlen
oder das aller Kardinalzahlen keine Mengen sind […].« Schon in diesem Aufsatz, auf
den mich Herr Prof. Dr. Erhard Scholz vom Mathematischen Institut der Bergischen
Universität Wuppertal dankenswerterweise aufmerksam gemacht hat, setzt Purkert hin-

473
B. Das Unendliche der Welt

Die entdeckte Analogie absolut unendlicher Folgen mit dem Unbe-


stimmt-Unbegrenzten der altgriechischen Philosophie bringt allerdings
nur die negative Seite des Cantor’schen Absolutunendlichen ans Licht.
Der Terminus ›negativ‹ deutet hier auf die Inkonsistenz absolut unend-
licher Folgen hin, die zwar jeweils eine Vielheit verschiedener Glieder
oder Elemente umfassen, aber wegen ihrer Inkonsistenz keine Einhei-
ten dieser Vielheiten, also im strengen Sinne des Wortes auch keine
Mengen darstellen.
Wie verhält sich aber diese negative Seite des Absolutunendlichen
zu seiner positiven Seite? Um dieses Verhältnis näher zu beleuchten, ist
es lohnenswert, die platonische Tradition etwas weiter zu verfolgen,
und zwar nicht allein in der Antike, sondern auch im Mittelalter.

2. Das Absolutunendliche als das ›absolute Maximum‹

Setzt Cantor das Absolutunendliche an einer Stelle mit »dem unter-


schiedslosen höchsten Einen« gleich, 95 so stützt er sich damit nicht
mehr auf ein Platonwerk, sondern auf die nachplatonische Entwicklung
der platonischen Tradition. Wie wir von mehreren antiken Autoren
wissen, galt das Eine allerdings bereits in einer mündlich gehaltenen
Vortragsreihe von Platon, die sich auf seine ›ungeschriebene Lehre‹
gründete, als das erste Prinzip. Auch in einem Dialog von Platon –
nämlich im Parmenides – wird das Eine für sich behandelt. Aber diese
platonischen Ansätze erhalten erst etwa sechs Jahrhunderte später, zur
Zeit des beginnenden Neuplatonismus eine wahrhaft bedeutsame Rolle,
indem eine vermutlich auf Platons ungeschriebene Lehre zurückgehen-
de metaphysische Prinzipienlehre mit dem Einen des Platonischen Par-

zu: »Für Cantor war die transfinite Mengenlehre eine mathematische Repräsentation der
göttlichen Idee unendlicher Zahlen bzw. eine Theorie des in natura naturata aufgrund
dieser Idee existierenden Unendlichen. […] Dieser ontologischen Begründung, der der
Logizismus Dedekinds und Freges völlig fern lag, war die Tatsache, daß etwa die Folge
aller Ordinalzahlen, die ja per definitionem alle Unendlichkeiten enthalten mußte, ein
widersprüchlicher Begriff war, gewissermaßen eine Bestätigung dafür, daß alle Unend-
lichkeiten nicht Gegenstand des menschlichen Forschens und damit auch nicht der Ma-
thematik sein können. Für Cantor wäre es im Gegenteil beunruhigend gewesen, wenn
sich das System aller Ordinalzahlen als konsistent herausgestellt hätte.« (S. 322.) Vgl.
Walter Purkert und Hans Joachim Ilgauds, Georg Cantor 1845–1918, Basel, Boston und
Stuttgart: Birkhäuser 1987, S. 154–156.
95 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 391.

474
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

menides verbunden wird. Der Begründer des Neuplatonismus, Plotin


(205–270), verwandelt das Eine als das erste Prinzip in den Gegenstand
einer negativen Theologie. Er sieht es als die letzte Quelle des Seins und
des Geistes an, aber er fügt hinzu, das es in seiner Kraftfülle jenseits des
Seins und jenseits des Geistes angesiedelt sei. Plotin kann als der Urhe-
ber der Jahrtausende alten Tradition betrachtet werden, der sich Cantor
anschließt, indem er – an einer in anderem Zusammenhang bereits he-
rangezogenen Stelle – Folgendes behauptet: »Das Absolute kann nur
anerkannt, aber nie erkannt, auch nicht annähernd erkannt werden.« 96
Für die Frage nach der Zusammengehörigkeit der negativen Seite
des Absolutunendlichen mit seiner positiven Seite ist jedoch noch wich-
tiger, dass Plotin das Eine mit mit dem Unbestimmt-Unendlichen ver-
bindet. Ein kühner Schritt, selbst wenn sich Plotin dabei bis zu einem
gewissen Grad bereits auf Aristoteles stützen konnte, der in seiner phi-
losophischen Theologie den Begriff ἄπειρον auf den ›unbewegten Bewe-
ger‹ angewandt hatte. Natürlich hatte er ihm nicht etwa eine unendliche
Größe oder irgendeine andere quantitative Eigenschaft in unendlichem
Ausmaß zugeschrieben, sondern einzig und allein ein unbestimmt-un-
begrenztes Vermögen oder unbestimmt-unbegrenzte Kraftfülle (δύνα-
μιϚ ἄπειροϚ). 97 Das ist der Fall auch bei Plotin, der sogar einen deutli-
chen Unterschied zwischen diesen beiden Arten des Unbestimmt-
Unbegrenzten macht. 98 Wirft man der Antike und dem Mittelalter
einen horror infiniti vor, so tut man gut daran, im Anschluss an die
gerade zitierte Plotin-Stelle den quantitativ-mathematischen Sinn des
ἄπειρον von seinem dynamisch-metaphysischen Sinn zu trennen.
Denn in seinem dynamisch-metaphysischen Sinn lassen antike und
mittelalterliche Autoren das Unbestimmt-Unbegrenzte oder auch das
Unendliche durchaus zu. Wie Cantor zeigt, wird die Behauptung Infi-

96
Ebd., S. 205, Anm. 2.
97
Aristoteles, Met., Λ 7, 1073 a 7–8: »οὐδὲν δ’ἔχει δύναμιν ἄπειρον πεπερασμένον«.
(In der von Horst Seidl neu bearbeiteten Übersetzung von Hermann Bonitz lautet diese
Stelle wie folgt: »[…] nichts Begrenztes aber hat ein unbegrenztes [unendliches] Ver-
mögen«.) Ein solches Vermögen muss aber nach Aristoteles dem Gott zugeschrieben
werden.
98 Plotinus, Enn. [Opera, hg. von Paul Henry und Hans-Rudolf Schwyzer], VI 9, 6, 10–

12: »ληπτέον δὲ καὶ ἄπειρον αὐτὸν οὐ τῷ ἀδιεξιτήτῳ ἢ τοῦ μεγέθουϚ ἢ τοῦ ἀριθμοῦ
ἀλλὰ τῷ ἀπεριλήπτῳ τῆϚ δυνάμεωϚ«; dt. S. 70: »In dem Sinne muß man ihn [den
Uranfang, das Eine] auch als unendlich auffassen: nicht weil seine Größe oder Anzahl
nicht bis zum Ende durchlaufen werden kann, sondern wegen seiner unfaßbaren Kraft.«

475
B. Das Unendliche der Welt

nitum actu non datur zuerst von Aristoteles aufgestellt, 99 um dann von
der mittelalterlichen Scholastik übernommen und weitergeführt zu
werden, 100 aber die Gültigkeit dieser Behauptung beschränkt sich wäh-
rend der anderthalb Jahrtausende, die Thomas von Aquin von Aristo-
teles trennen, immer nur auf das Unendliche in seinem quantitativ-
mathematischen Sinne. Dagegen wurde das Unendliche in seinem dy-
namisch-metaphysischen Sinne schon von Aristoteles und nach Aristo-
teles dann besonders seit Plotin immer wieder behauptet. So etwa von
Thomas von Aquin, bei dem es von Gott ausdrücklich heißt: »[…] ejus
virtus [est] infinita«, wobei das Wort virtus an dieser Stelle am geeig-
netsten durch Kraft wiedergegeben werden kann. 101 Ähnlich ist es mit
Johannes Duns Scotus bestellt. 102 Seitdem Anaximandros seine Philoso-
phie auf den Begriff des ἄπειρον gründete, gab es keine Blütezeit des
westlichen Denkens, in der die Idee des Unbestimmt-Unbegrenzten
oder des Unendlichen völlig fallengelassen wurde. Gewiss ist ein horror
infiniti für die Periode von Aristoteles bis zu den großen Denkern der
Scholastik bezeichnend, aber nur in dem eingeschränkten Sinne, dass
die aktuelle Existenz des Quantitativ-Unendlichen zu dieser Zeit durch-
weg bestritten wurde.
Allerdings ist es verständlich, wenn sich Cantor als Mathematiker
auch in seinen philosophiehistorischen Bemerkungen vor allem für das
Schicksal des Aktual-Unendlichen im quantitativ-mathematischen Sin-
ne interessiert. Ein Durchbruch zu einem Aktual-Unendlichen in die-
sem Sinne erfolgt erst bei Nikolaus von Kues (1401–1464), in dem Can-
tor einen seiner Vorgänger sieht. 103 Cusanus ist wohl der erste Denker,
der die Grenzlinie zwischen dem Dynamisch-Unendlichen und dem

99 Aristoteles, Met., K 10, 1066 d 11–12: »Καὶ ὅτι οὐκ ἔστιν ἐνεργείᾳ εἶναι τὸ ἄπει-

ρον, δῆλον«. (In der von Horst Seidl neu bearbeiteten Übersetzung von Hermann Bonitz:
»Daß aber nicht in Wirklichkeit das Unendliche sein kann, leuchtet ein«.) Vgl. Aristote-
les, Physik, Γ 4–8.
100
Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., pars I, qu. 7, art. 3, resp., Bd. I, S. 41; dt.
Dominikaner- und Benediktinerausgabe (Lateinisch-Deutsch), hg. vom Kath. Akademi-
kerverband in 33 Bänden, Walberberg und Graz 1933 ff., Bd. I, 133 f.: »Et de corpore
quidem naturali, quod non possit esse infinitum in actu, manifestum est.« (Auf Deutsch:
»Beim naturwirklichen Körper zunächst ist es ohne weiteres klar, daß er nicht tatsächlich
[= aktual] unendlich sein kann.«)
101
Thomas von Aquin, Summa theol., pars I, qu. 7, art. 2, Bd. I, S. 39.
102
Duns Scotus, Lectura, dist. 3, qu. 2, a. 50–53 [Opera omnia, Bd. XVI], S. 244; dt.
S. 30–33.
103 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2.

476
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Quantitativ-Unendlichen verwischt. Er findet einen Anschluss an den


mittelalterlichen Platonismus und knüpft zugleich an die Mystik von
Meister Eckhart an, um sich gegen den spätscholastischen Aristotelia-
nismus zu wenden, den er aus Heidelberg wie auch aus Padua genau
kennt, aber nicht mehr hochzuschätzen vermag. Bereits – oder auch
vor allem – in seinem frühen Werk De docta ignorantia (»Über die
belehrte Unwissenheit«), das aus dem Jahre 1440 stammt, trägt er Ge-
danken vor, die sich in eine Parallele mit Cantors Vorstellungen über
das Absolutunendliche stellen lassen.
Dieses Werk markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der
negativen Theologie, indem es die (aktuale) Unendlichkeit als die ein-
zige Eigenschaft bestimmt, die von Gott auf positive Weise ausgesagt
werden kann. 104 Dabei versteht Cusanus das Aktual-Unendliche nicht
allein in seinem dynamisch-metaphysischen, sondern auch in seinem
quantitativ-mathematischen Sinne. Deshalb bezeichnet er Gott als ma-
ximum absolutum. Selbst wenn Gott in der mittelalterlichen Philoso-
phie seit Anselm von Canterbury immer wieder als summe magnum 105
beschrieben und als id quo maius cogitari non potest 106 begriffen wurde,
bewahrt der Begriff maximum absolutum seine Originalität, da er zum
ersten Mal von Cusanus ausdrücklich mit der Unendlichkeit verbunden
wird. 107
Deshalb ist es eine überaus wichtige Tatsache, dass Cantor in sei-
nen Mitteilungen zur Lehre vom Transfiniten das Absolutunendliche
wiederholt als das »absolute Maximum« bezeichnet. 108 Dieser Ausdruck
verweist aller Wahrscheinlichkeit nach auf Nikolaus von Kues, selbst
wenn der Name des Kardinals in dieser Schrift nicht ausdrücklich ge-

104 Cusanus, De docta ignorantia I [Philosophisch-theologische Werke, 4 Bände, hier:


Bd. I], Hamburg: Meiner 2002, Teil I, S. 112: »Et non reperitur in deo secundum theo-
logiam negationis aliud quam infinitas«. (In der Übersetzung von Paul Wilpert: »Vom
Standpunkt der negativen Theologie findet sich in Gott nichts als Unendlichkeit.«)
105
Anselm von Canterbury, Monologion, lateinisch–deutsche zweisprachige Ausgabe,
übersetzt von Franciscus S. Schmidt, Stuttgart und Bad Cannstatt: Frommann–Holzboog
1964, Kap. 1, S. 44.
106
Anselm von Canterbury, Proslogion – Anrede, lateinisch–deutsche zweisprachige
Ausgabe, Kap. 2, übersetzt von Robert Theis, Stuttgart: Reclam 2005, 2. Kapitel, S. 20 f.
107 Cusanus, De docta ignorantia I, n. 9, l. 7–8 [Philosophisch-theologische Werke,

Bd. I], Teil I, S. 12–14: »Maximum vero tale [sc. maximum simpliciter] necessario est
infinitum.«
108
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 391: »[…] dem Absoluten, dem absoluten
Maximum […]«. Vgl. ebd., S. 405.

477
B. Das Unendliche der Welt

nannt wird. Wir können uns von diesem Zusammenhang eine Klärung
von Cantors Idee des Absolutunendlichen versprechen. Umso mehr, als
wir in dem Werk Über die belehrte Unwissenheit nicht allein Gedanken
von Gottes aktualer Unendlichkeit, sondern auch mathematische Vor-
stellungen von dieser Unendlichkeit finden.
Nikolaus von Kues stützt sich dabei auf ein Gedankenexperiment,
das aus dem 12. Jahrhundert stammt. 109 Er stellt sich die Frage, was
einem Kreis oder einer Kugel von endlichem Radius widerfährt, wenn
er oder sie über alle endlichen Maße hinaus vergrößert wird. Er gibt auf
diese Frage die Antwort, dass der Mittelpunkt des Kreises oder der Ku-
gel plötzlich allgegenwärtig wird, da er sich nicht einmal mehr von den
Punkten der Peripherie unterscheiden lässt. 110 Nach diesem Muster
stellt Cusanus auch weitere Gedankenexperimente an. So versucht er
zu zeigen, dass ein Dreieck im Unendlichen in eine Linie übergeht.
Nikolaus von Kues betrachtet diese Gedankenexperimente als die
eigentlichen Schlüssel zum Verständnis des Unendlichen. Allerdings
liegt es ihm fern, die Unendlichkeit der von ihm untersuchten geo-
metrischen Figuren wie Kreis, Kugel, Dreieck oder Linie unmittelbar
mit der Unendlichkeit Gottes gleichzusetzen. Im ersten Buch von De
docta ignorantia beschreibt er die Unendlichkeit Gottes als eine »abso-
lut einfache Unendlichkeit« (infinitum simplex absolutum 111), die »kei-
ne Teile hat«. 112 Diese absolut einfache Unendlichkeit stellt er dabei
nicht allein der Endlichkeit, sondern auch der Unendlichkeit der über
alle endlichen Maße hinaus vergrößerten geometrischen Figuren ge-
genüber, 113 indem er hervorhebt, dass die geometrischen Figuren selbst
noch im Unendlichen ihre Teile bewahren; allerdings setzt er hinzu,

109 Dieser Hinweis bezieht sich auf die zweite Definition Gottes im so genannten Buch
der 24 Philosophen (die in Rede stehende Definition lautet wie folgt: »Deus est sphaera
infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam«). Siehe Was ist Gott? Das
Buch der 24 Philosophen, lateinisch–deutsche zweisprachige Ausgabe, übersetzt und
kommentiert von Kurt Flasch, München: Beck 32013 (12011), S. 29: »Gott ist die unend-
liche Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist.« Vgl. weiterhin
Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli,
Stuttgart: Reclam 2001, S. 286–292, hier: S. 290; Alexandre Koyré, Du monde clos à
l’univers infini, Paris: Gallimard 1962, S. 30 f.
110 Cusanus, De docta ignorantia I, n. 64, l. 10 [Philosophisch-theologische Werke,

Bd. I], Teil I, S. 86: »[…] centrum est in ipso circumferentia.«


111
Ebd., n. 33, l. 14–15 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 46.
112
Ebd., n. 47, l. 4 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 62.
113 Ebd., n. 33, l. 12–15 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 46.

478
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

dass diese Teile dann ebenfalls unendlich werden. 114 Ein weiterer Unter-
schied ergibt sich daraus, dass die Unendlichkeit mathematischer Ge-
genstände durch die Verwirklichung (Aktualisierung) der Möglichkei-
ten entsteht, die in den endlichen Gestalten dieser Gegenstände
enthalten sind, 115 die absolut einfache Unendlichkeit dagegen schon in
sich selbst eine »unendliche Wirklichkeit« (actualitas infinita) darstellt
und daher keineswegs auf eine Verwirklichung von Möglichkeiten an-
gewiesen ist. 116
Diese Unterschiede werfen die Frage auf, wie sich die Unendlich-
keit mathematischer Gegenstände zur absolut einfachen Unendlichkeit
von Gott verhält. Die Antwort, die auf diese Frage aus De docta igno-
rantia hervorgeht, lässt aufhorchen: Das Mathematisch-Unendliche
wird von Cusanus als ein »Symbol« der absoluten Unendlichkeit be-
stimmt. 117 Diese Antwort verdient in der Tat unsere Aufmerksamkeit,
da sie allem Anschein nach die Hauptquelle für die bereits angeführte
Cantorstelle darstellt, an der die absolut unendliche Zahlenfolge ›als ein
geeignetes Symbol des Absoluten‹ bezeichnet wird. 118
Aus dieser Übereinstimmung lassen sich Schlüsse ziehen, die das
Verhältnis der negativen Seite des Absolutunendlichen zu seiner positi-
ven Seite bei Cantor beleuchten. In De docta ignorantia verwendet Ni-
kolaus von Kues seine mathematischen Beispiele dazu, das Aktual-Un-
endliche durch ein »Zusammenfallen der Gegensätze« (coincidentia
oppositorum) zu charakterisieren. Er hat ja durch die Analyse dieser

114
Ebd., n. 37, l. 10–11 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 52: »quaeli-
bet pars infiniti est infinita«.
115
Ebd., n. 36, l. 21–24 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 50; vgl. n. 36,
l. 5–6 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 48: »quidquid est in potentia
finitae [sc. lineae], hoc est infinita [sc. linea] actu«.
116
Cusanus, De docta ignorantia II, n. 97, l. 11–12 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil II, S. 12.
117
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 32, l. 26 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 44: »per symbola«; vgl. n. 33, l. 6 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 44: »symbolice investigare«; vgl. auch n. 30, l. 8 [Philosophisch-theologi-
sche Werke, Bd. I], Teil I, S. 40.
118
Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 205, Anm. 2. Vgl. S. 405: »Das Transfinite
mit seiner Fülle von Gestaltungen und Gestalten weist mit Notwendigkeit auf ein Ab-
solutes hin, auf das ›wahrhaft Unendliche‹, an dessen Größe keinerlei Hinzufügung oder
Abnahme statthaben kann und welches daher quantitativ als absolutes Maximum anzu-
sehen ist. Letzteres übersteigt die menschliche Fassungskraft und entzieht sich nament-
lich mathematischer Determination […].«

479
B. Das Unendliche der Welt

Beispiele gezeigt, dass in einem unendlichen Kreis oder in einer unend-


lichen Kugel Mittelpunkt, Durchmesser und Peripherie in eins fallen
und dass im Unendlichen kein Unterschied mehr zwischen Linie und
Dreieck besteht. Die Gegensätze, von denen das Endliche durchzogen
ist, sind im Unendlichen aufgehoben. Allerdings stützt sich die Lehre
vom Zusammenfallen der Gegensätze bei Cusanus auf die Annahme,
dass es mehr als ein Unendliches nicht geben kann, 119 da ein Unend-
liches keineswegs größer als das andere sein könnte. 120 Cantors Theorie
des Transfiniten markiert einen radikalen Bruch mit dieser Annahme.
Deshalb kann in dieser Hinsicht keine Rede von einer Verwandtschaft
zwischen Cusanus und Cantor sein. Aber von einem anderen Gesichts-
punkt aus kann man die Cusanische Lehre vom Zusammenfallen der
Gegensätze sehr wohl als einen Schlüssel zum Verständnis des Can-
tor’schen Verhältnisses zwischen der negativen Seite des Absolut-
unendlichen und seiner positiven Seite ansehen. Um eine wahrhafte
Analogie zwischen Cusanus und Cantor zu entdecken, muss man aller-
dings wissen, dass in De docta ignorantia nicht allein von einem Zu-
sammenfallen der Gegensätze, sondern auch von einem Zusammenfal-
len widersprüchlicher Termini die Rede ist; statt von opposita spricht
Nikolaus von Kues an manchen Stellen von contradictoria.121 Kurt
Flasch bemerkt dazu:
»Nikolaus erklärt offen, daß das Zusammenfallen nicht allein die in der Welt
entgegengesetzt auftretenden Vollkommenheiten betrifft, sondern auch die
Widersprüche. […] Die Cusanische Theorie ist keine friedliche Explikation
des christlichen Aristotelianismus des 13. Jahrhunderts; sie ist dessen Kritik.
Sie bezweifelt, ob das Verbot, widersprechende Aussagen bezüglich desselben
zu machen, in einer radikal-denkenden Philosophie als negatives Kriterium
der Wahrheit dienen kann. […] [In verschiedenen Bereichen] haben wir es
mit einem Unendlichen zu tun, von dem wir nichts aussagen können, ohne
uns in Widersprüche zu verwickeln.« 122

119
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 37, l. 13 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 52: »plura infinita esse non possunt«.
120
Ebd., n. 46, l. 2 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 62: »cum infini-
tum non sit maius infinito«.
121 Die wichtigste Stelle findet sich im Schlussteil des Werkes. Siehe ebd., n. 264, 1–2,

Cusanus, De docta ignorantia III [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil III,
S. 100: »simplicitas, ubi contradictoria coincidunt«.
122
Kurt Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt am Main:
Klostermann 22001 (11998), S. 105.

480
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

In dieser Hinsicht lässt sich das Mathematisch-Unendliche im Sinne


von Cusanus durchaus mit der Cantor’schen Idee absolut unendlicher
Folgen vergleichen, da diese Folgen ebenfalls inkonsistente – also in sich
widersprüchliche – Vielheiten bilden.
Noch wichtiger ist es aber, dass nach Cusanus die miteinander zu-
sammenfallenden Gegensätze lediglich im Bereich des Mathematisch-
Unendlichen Widersprüche ergeben. Dagegen gilt die absolut einfache
Unendlichkeit Gottes in De docta ignorantia als völlig widerspruchsfrei,
da nach Cusanus das absolute Maximum »allem Gegensatz vorher-
geht«. 123 Um das Größte zu denken, muss man ebendeshalb »in einem
Begriff das Widersprechende zusammenfassen, indem man den Gegen-
sätzen im Vorgriff voraus ist«. 124 Vom Größten, dem absoluten Maxi-
mum, kann durchaus behauptet werden, dass es ȟber allen Gegen-
sätzen steht« und »frei von irgendeiner Art des Gegensatzes« ist. 125
Das ist die Gestalt, die der Gedanke vom Zusammenfallen der Gegen-
sätze in seiner Anwendung auf die absolut einfache Unendlichkeit Got-
tes annimmt.
Nur dass die menschliche Vernunft (ratio) nach Nikolaus von Kues
gänzlich unfähig ist, zu dieser absolut einfachen Unendlichkeit jenseits
aller Gegensätze vorzudringen, da sie auf ihrem Weg zu ihr immer
wieder auf einander schroff entgegengesetzte, widersprüchliche Termi-
ni stößt, die sie in ihrer Endlichkeit keineswegs miteinander zu vereini-
gen vermag, da sie durch einen geradezu unendlichen Abstand von-
einander getrennt sind. 126 Für den Menschen gibt es folglich keine
andere Möglichkeit, das Absolutunendliche zu erfassen, als eben nur
die eine, angesichts solcher Widersprüche – auf »unbegreifliche Art« –
zu begreifen, dass sie in dem absoluten Maximum notwendig überwun-
den sind, da es unendlich ist und ihm daher nichts entgegengesetzt wer-
den kann. 127 Dieses Begreifen, das nicht mehr die Vernunft (ratio), son-

123
Cusanus, De docta ignorantia I, n. 69, l. 16 [Philosophisch-theologische Werke,
Bd. I], Teil I, S. 92: »maximum omnem anteire oppositionem«.
124
Ebd., n. 57, l. 11–13 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 76: »com-
plecti contradictoria ipsa antecedenter praeveniendo«.
125
Ebd., n. 12, l. 3 und l. 5 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18.
126 Ebd., n. 12, l. 18–23 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18: »Hoc

autem omnem nostrum intellectum transcendit, qui nequit contradictoria in suo princi-
pio combinare via rationis, quoniam […] [natura nostra] ipsa contradictoria per infinitum
distantia connectere simul nequit.«
127 Siehe ebd., n. 12, l. 18–25 [Philosophisch-theologische Werke, Bd. I], Teil I, S. 18:

481
B. Das Unendliche der Welt

dern der Verstand (intellectus) des Menschen vollzieht, und zwar auf
›unbegreifliche Art‹, ist das, was Nikolaus von Kues »belehrte Unwis-
senheit« (docta ignorantia) nennt.
Es ist nicht schwer, die Parallele dieser Konzeption mit Cantors
Verständnis des Absolutunendlichen zu erkennen. Cantor betont eben-
so nachdrücklich wie Cusanus, dass man das Absolutunendliche nie-
mals auch nur annähernd erkennen kann. Wenn auch mit anderen
Denkmitteln, aber keineswegs weniger deutlich als Cusanus zeigt Can-
tor darüber hinaus, wie jeder Versuch, das Absolutunendliche zu erfas-
sen, zu Widersprüchen, Antinomien oder auch zur Bildung inkonsis-
tenter Vielheiten führt. Die strukturelle Analogie dieser Auffassung
mit dem Werk Über die belehrte Unwissenheit ist umso frappierender,
als Cantor dabei die absolut unendliche Folge endlicher und transfiniter
Mengen als ein ›Symbol‹ des Absolutunendlichen zu begreifen sucht
und damit zur Verhältnisbestimmung der negativen und der positiven
Seite des Absolutunendlichen wiederum nur ein Cusanuswort ver-
wendet.
Es kann ein unmittelbarer Einfluss des Werkes Über die belehrte
Unwissenheit auf Cantor vermutet werden, selbst wenn diese Ver-
mutung durch Cantors eigene Hinweise auf die ihm zugängliche Se-
kundärliteratur über Nikolaus von Kues und seinen unmittelbarsten
Nachfolger, Giordano Bruno, nicht eindeutig bewiesen werden kann. 128

»Supra omnem igitur rationis discursum incomprehensibiliter absolutam maximitatem


videmus infinitam esse, cui nihil opponitur, cum qua minimum coincidit.«
128
Der von Cantor auf S. 205 (Anm. 2) der Gesammelten Abhandlungen erwähnte Auf-
satz über Cusanus und Leibniz (R. Zimmermann, »Der Cardinal Nicolaus Cusanus als
Vorläufer Leibnitzens«, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissen-
schaften [Wien], Philosophisch-historische Classe, Bd. VIII [1852], S. 306–328) geht
auf De docta ignorantia nicht ausführlich genug ein, um auch nur Beweismaterial für
diese Vermutung liefern zu können. Ähnlich steht es mit dem Buch über Giordano Bru-
no, das Cantor an derselben Stelle nennt (Hermann Brunnhofer, Giordano Bruno’s Welt-
anschauung und Verhängnis, Leipzig: Fües’s Verlag 1882). Nikolaus von Kues wird in
diesem Buch zwar mehrmals erwähnt (so auf S. 8 und auf S. 64), was jedoch von ihm
gesagt wird, ist nicht spezifisch genug, um als Beleg für unsere Vermutung zu dienen.
Wir wissen aber, dass Cantor eine ganze Reihe philosophischer Texte aus dem Mittelalter
im lateinischen Original kannte, und wir wissen ebenfalls, dass er Nikolaus von Kues
geradezu als seinen Vorgänger oder Vorläufer ansah. Es ist ebenfalls von Bedeutung, dass
seit 1862 eine reichhaltige Auswahl aus den Schriften von Cusanus in deutscher Sprache
vorlag und dass die Übersetzung von De docta ignorantia in dieser Textauswahl an erster
Stelle stand (siehe Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in

482
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Es könnten ja kaum stärkere Indizien von einem derartigen Einfluss


zeugen, als dass der Ausdruck ›absolutes Maximum‹ von Cantor ver-
wendet wird und als dass für ihn genauso wie für Cusanus in diesem
Werk das Mathematisch-Unendliche als ein ›Symbol‹ des Absolut-
unendlichen gilt.
Es ist weitgehend diesem Einfluss zu verdanken, dass Cantor vom
Auftauchen der mengentheorischen Antinomien viel weniger über-
rascht und erschüttert wurde als Frege. Sosehr er sich dagegen sträubte,
Antinomien, Paradoxien oder Inkonsistenzen im vernünftigen Denken
zuzulassen, konnte er sich zumindest auf das Vorbild der mathemati-
schen Theologie von Nicolaus Cusanus stützen, um seine ›inkonsisten-
ten Vielheiten‹ mit ›dem unterschiedslosen höchsten Einen‹ zu ver-
einigen.
Wichtige Anhaltspunkte konnte Cantor bei Nikolaus von Kues –
und ebenfalls bei Giordano Bruno – allerdings nur zu seinen Betrach-
tungen über das Absolutunendliche finden. Erst in der frühneuzeit-
lichen Philosophie stieß er auf Denkansätze, aus denen er auch zu sei-
nem zentralen Vorhaben, dem Absolutunendlichen das Transfinite
abzugewinnen, manche Anregungen schöpfen konnte.

3. Wege zum Zwischenreich des Transfiniten

Cantor fühlt sich am meisten von Spinoza und Leibniz angezogen. In


seinen Schriften zur Geschichte der Philosophie des Unendlichen
spricht er dabei von »den äußerlich zwar verschiedenartigen, innerlich
aber durchaus verwandten Systemen« dieser beiden Denker. 129 Er hält
sogar eine »Wiederaufnahme und Fortbildung der Arbeiten und Bestre-
bungen« von Spinoza und Leibniz für möglich und notwendig. 130 Vor
allem an Spinozas Beispiel macht er diese Aufgabe deutlich. Dieses Bei-
spiel ist daher besonders geeignet, den Begriff des Transfiniten vom
Gesichtspunkt der Philosophiegeschichte aus zu beleuchten.

deutscher Uebersetzung von Dr. F. A. Scharpff, Freiburg i. Br.: 1862 [photomechanischer


Nachdruck, Frankfurt am Main: 1966], S. 3–109).
129
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre«, (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 177.
130 Ebd.

483
B. Das Unendliche der Welt

Man weiß, dass Spinoza nicht nur Gott, die einzige Substanz, als
»absolut unendliches Wesen« bezeichnete, 131 sondern auch »unendliche
Modi« annahm, 132 ohne aber je das Verhältnis zwischen endlichen und
unendlichen Modi ganz aufklären zu können. 133 Gewiss bleibt der un-
endliche Modus bei Spinoza durch eine Kluft von der Substanz ge-
trennt, weil er ja in alio, »in anderem«, ist und per aliud, »durch ande-
res« begriffen wird, die Substanz dagegen in se, »in sich«, ist und per se,
»durch sich« begriffen wird. Da jedoch die Gesamtheit der Modi in der
Ethik zugleich als ein Gesamtausdruck der Substanz gilt, wird diese
Kluft bei Spinoza in gewissem Sinne wieder zugeschüttet. Daher rühre
der Pantheismus, meint Cantor; er bilde »die Achillesferse der Ethik
Spinozas«. 134
Als ein Denker, der in seinem Verständnis des Absolutunendlichen
an die von Plotin ausgehende und von Nicolaus Cusanus erneuerte Tra-
dition der negativen Theologie anknüpft, muss sich Cantor von der Ge-
fahr des Pantheismus allerdings nicht bedroht fühlen. Gleichwohl sieht
er es als seine Aufgabe an, das Problem der unendlichen Modi ins Reine
zu bringen. Diese Aufgabe erfordert nach Cantor nichts Geringeres, als
das Zwischenreich zwischen dem Absolutunendlichen und dem End-
lichen selbst als ein zahlenmäßig bestimmtes Aktual-Unendliches auf-
zufassen. Dieses aktual unendliche und zahlenmäßig bestimmte Zwi-
schenreich, das ständig vermehrbar bleibt und dessen Grenze ebendes-
halb immer weiter hinausgeschoben werden kann, trägt bei Cantor den
Namen des ›Transfiniten‹. Es handelt sich bei den Zahlen, die zu diesem

131
Spinoza, Die Ethik, Teil I, Definition 6.
132
Ebd., Teil I, Lehrsätze 21–23.
133 Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:

»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1983), in: Gesammelte Ab-


handlungen, S. 177: »Ein besonders schwieriger Punkt in dem System des Spinoza ist
das Verhältnis der endlichen Modi zu den unendlichen Modis […].« Als unmittelbar aus
der Substanz folgende unendliche Modi nannte Spinoza einerseits den ›unendlichen Ver-
stand‹ (intellectus infinitus) bzw. ›die Idee Gottes‹ (idea Dei), andererseits ›Ruhe und
Bewegung‹ (quies et motus). Als mittelbar aus der Substanz folgenden Modus im Attri-
but der extensio nahm er das an, was er in einem seiner Briefe als das ›Gesamtantlitz des
Alls‹ (facies totius universi) bezeichnete. Über den mittelbar aus der Substanz folgenden
Modus im Attribut der cogitatio äußerte er sich nicht ausdrücklich. Zum Problem der
unendlichen Modi bei Spinoza siehe Wolfgang Röd, Benedictus de Spinoza. Eine Einfüh-
rung, Stuttgart: Reclam 2002, S. 130–136 und S. 159–169.
134
Cantor, »Über die verschiedenen Standpunkte in bezug auf das aktuelle Unendliche«
(1885), in: Gesammelte Abhandlungen, S. 375.

484
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Bereich gehören, »um eine unbegrenzte Stufenleiter von bestimmten


Modis«, die »ihrer Natur nach nicht endlich, sondern unendlich
sind«. 135 Aus dieser Formulierung tritt der Anspruch auf eine ›Wieder-
aufnahme und Fortbildung‹ des Spinozanischen Lehre von den unend-
lichen Modi besonders deutlich hervor. In philosophiehistorischer Hin-
sicht ist die Theorie des Transfiniten nichts anderes als eine Erneuerung
und Weiterführung dieser Lehre. Vom Gesichtspunkt der Spinoza-
nischen Philosophie aus lassen sich die überendlichen (transfiniten)
Zahlen der Mengenlehre zwanglos als die – bei Spinoza fehlenden –
mittelbaren unendlichen Modi im Attribut des Geistes auffassen.
Allerdings erhält Cantor von Leibniz ebenfalls erhebliche Anstöße.
Nicht allein der unendliche Modus bei Spinoza, sondern auch die un-
endliche Monadenvielheit bei Leibniz ist ja ein Drittes zwischen dem
Endlichen und dem Absolutunendlichen. Auch von der Idee dieser
Monadenvielheit geht daher ein Weg zum Zwischenreich des Transfini-
ten aus.
Leibniz lässt zwar das Aktual-Unendliche im quantitativ-mathe-
matischen Sinne ex officio keineswegs zu. 136 Doch ist es nicht schwer,
Äußerungen bei ihm zu entdecken, »in welchen er« – wie Cantor sagt –
»gewissermaßen im Widerspruch mit sich selbst für das Eigentlich-Un-
endliche (vom Absoluten verschiedene) in der unzweideutigsten Weise
sich ausspricht«. 137 So führt Cantor etwa ein Zitat aus einem Brief von
Leibniz an den Domherrn von Dijon namens Foucher in französischem
Original an, das in deutscher Übersetzung auf folgende Weise wieder-
gegeben werden kann:
»Ich bin so sehr für das Aktual-Unendliche, dass ich, weit entfernt, zuzuge-
ben, dass die Natur, wie man es gemeinhin sagt, vor ihm zurückschreckt, viel-
mehr behaupte, dass es ihr überall zukommt, um die Vollkommenheiten ihres
Urhebers deutlicher hervortreten zu lassen. Auf diese Weise glaube ich, dass

135
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1983), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 176.
136
Gottfried Wilhelm Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, Paris: GF-
Flammarion 1990, S. 125; dt. Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand,
übersetzt von Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 1996 (11915), S. 147: »[…] ein Unend-
liches [kann] kein wahres Ganze sein […].«
137
Cantor, »Über unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten« (1879–1884), Nr. 5:
»Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre« (1883), in: Gesammelte Ab-
handlungen, S. 179.

485
B. Das Unendliche der Welt

es kein Teilchen der Materie gibt, das nicht, ich sage nicht: teilbar, sondern:
aktual geteilt wäre; folglich muss das geringste Stückchen [von ihr] wie eine
Welt voll von einer Unendlichkeit verschiedener Geschöpfe angesehen wer-
den.« 138
Das Aktual-Unendliche wird hier an der Unerschöpflichkeit des mate-
riellen Universums aufgewiesen. Das Interesse an der Unerschöpflich-
keit der Welt teilt Leibniz mit Pascal, von dem er in einer kleinen Schrift
über die Unendlichkeit aus dem Jahre 1697 einen uns heute schon
wohlvertrauten, damals aber noch viel weniger bekannten Gedanken-
gang 139 anführt, dem nicht nur der Zweck gesetzt ist, auf die Unermess-
lichkeit und unendliche Größe des Weltalls hinzuweisen, sondern der
ebenfalls zu zeigen hat, wie der Mensch selbst noch im kleinsten Teil-
chen der Natur, etwa in einem Wesen wie die Milbe, »eine Unendlich-
keit von Welten« entdecken kann, »deren jede ihr Firmament, ihre Pla-
neten, ihre Erde hat in demselben Verhältnis, wie diese sichtbare Welt;
auf dieser Erde Tiere, schließlich auch wieder Milben, an denen er wie-
der findet, was er an den ersten gesehen, und noch an diesen anderen
findet er wieder dasselbe und ohne Ende.« 140 Leibniz bezieht diese Ge-
danken von vornherein auf die Monade, in der er »einen lebenden Spie-
gel« sieht, »der das unendliche Universum, das mit ihm existiert, aus-
drückt«. 141 In dem herangezogenen Gedankengang begreift Pascal den
Menschen als »ein Mittelding zwischen Nichts und All«. 142 Auf ähn-
liche Weise begreift Leibniz die Monade einerseits als eine »verkleinerte

138
Gottfried Wilhelm Leibniz, Antwort auf einen Brief von Foucher, Domherr von Di-
jon, aus dem März 1693, in: Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. I,
S. 416. Cantor hebt unter Berufung auf einen Brief von Leibniz an des Bosses ebenfalls
hervor, dass Leibniz auch den uneigentlichen Charakter des Unendlich-Kleinen deutlich
erkannte, indem er feststellte: »[…] es genügt, an die Stelle des Unendlich-Kleinen ein
beliebig Kleines treten zu lassen, damit der Fehler kleiner ist als ein gegebener, woraus
folgt, dass es keinen Fehler geben kann.« (G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften,
hg. von C. I. Gerhardt, Bd. II, S. 305.)
139
Pascal, Pensées, Nr. 72, S. 25–36; dt. S. 101–109.
140
Dieses Zitat aus Pascals Pensées (S. 28) wird von Leibniz an folgender Stelle ange-
führt: G. W. Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz,
Bd. I: Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, Französisch–Deutsch,
S. 374.
141
Ebd., S. 379 und S. 381.
142
Pascal, Pensées, S. 29: »un milieu entre rien et tout«. Vgl. Leibniz, Philosophische
Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I: Opuscules philosophiques/
Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 375.

486
Das Transfinite und das Absolutunendliche in Cantors Bemerkungen …

Gottheit (divinité diminutive)«, andererseits aber auch als ein »Fast-


Nichts (presque-Néant)«, 143 indem er sie ebenso sehr von Gott wie
vom Weltall im rein physikalischen Sinne unterscheidet: »[…] sie ist
zugleich weniger als Gott und mehr als ein materielles Universum, in-
dem sie alles verworren wahrnimmt, während Gott alles deutlich
weiß […].« 144 Damit entsteht bei Leibniz eine Trichotomie von End-
lichem, unendlicher Monadenvielheit und Absolutunendlichem.
Anders als an die Spinozanische Idee unendlicher Modi knüpft
Cantor an diese Trichotomie nicht unmittelbar mit seiner Lehre von
den überendlichen (transfiniten) Zahlen an. Vielmehr verwendet er sie
dazu, seiner mathematischen Theorie eine ›Metaphysik des Transfini-
ten‹ an die Seite zu stellen. Zu diesem Zweck verwandelt er jedoch die
Monadologie von Leibniz beträchtlich, indem er sie mit der zu seiner
Zeit noch als plausibel bewerteten Ätherhypothese verbindet. In dieser
naturwissenschaftlich umgedeuteten Monadologie meint er die ›tran-
siente Realität‹ zu entdecken, die der ›immanenten Realität‹ des Trans-
finiten im mathematischen Sinne entspricht. 145
Abgesehen davon, dass die Naturwissenschaft die Ätherhypothese
mittlerweile gänzlich fallen ließ, erschöpft dieser Entwurf einer Meta-
physik des Transfiniten allerdings nicht das Potential, das in der Leib-
niz’schen Idee einer unendlichen Monadenvielheit verborgen liegt.
Cantor ist der Erbe der deutschen Aufklärungszeit, in der die ursprüng-
liche Lehre von Leibniz unter dem Einfluss von Newton in eine mona-
dologia physica verwandelt wurde. Schon in den 1740er Jahren arbeite-
te der akademische Lehrer von Kant, Martin Knutzen, an einer
derartigen Synthese von Leibniz und Newton und prägte damit auch
seinen Schüler für eine lange Periode. In der Kritik der reinen Vernunft
sah aber Kant bereits deutlich, dass der Monadenbegriff eher in einer
Besinnung auf das Ich als in einer Analyse der materiellen Dinge bei-
heimatet sein dürfte: »Die eigentliche Bedeutung des Wortes Monas
(nach Leibnizens Gebrauch) sollte wohl nur auf das Einfache gehen,

143
Leibniz, Philosophische Schriften, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz, Bd. I:
Opuscules philosophiques/Kleine Schriften zur Metaphysik, S. 383.
144
Ebd., S. 381.
145 Siehe Hans Bandmann, Die Unendlichkeit des Seins. Cantors transfinite Mengen-

lehre und ihre metaphysischen Wurzeln, Frankfurt am Main, Bern, New York und Paris:
Peter Lang 1992, S. 75–80 und S. 182–192. Vgl. Joseph Warren Dauben, Georg Cantor.
His Mathematics and Philosophy of the Infinity, Princeton, New Jersey: Princeton Uni-
versity Press 1979, S. 291–294.

487
B. Das Unendliche der Welt

welches unmittelbar als einfache Substanz gegeben ist (z. B. im Selbst-


bewußtsein) und nicht als Element des Zusammengesetzten, welches
man besser den Atomus nennen könnte.« 146 Auch Leibniz nennt in sei-
ner kleinen Schrift über das Unendliche aus dem Jahre 1697 die Mona-
den nicht, ohne sogleich hinzuzufügen: »deren eine Ich bin«. 147 Darüber
hinaus dient ihm das Ich ebenfalls als Muster zur Bestimmung der Mo-
nade, da der Monade ja genauso wie dem Ich Wahrnehmung (perceptio)
und Streben (appetitus) zugeschrieben werden. Wird die Monade wei-
terhin als ein ›lebender Spiegel‹ des Universums aufgefasst, 148 so drückt
sich darin ein metaphysischer Perspektivismus aus, der in Cantors Ent-
wurf einer Metaphysik des Transfiniten keine Weiterführung findet.
Dem Begründer der Mengentheorie, der sich in seinen mathema-
tischen Arbeiten als hochorigineller Denker erwies, mangelte es zwar
nicht an philosophischer Bildung, wohl aber an philosophischer Radi-
kalität, um sich diese Grundzüge der Leibniz’schen Monadenlehre wei-
terführend anzueignen. Daher sprechen nicht allein naturwissenschaft-
liche, sondern auch philosophische Gründe dagegen, Cantors Entwurf
einer Metaphysik des Transfiniten als gleichrangig mit seiner mathe-
matischen Theorie des Unendlichen zu betrachten. Es soll im nächsten
Kapitel deutlich gemacht werden, wie Cantor in seiner Auseinanderset-
zung mit dem Problem des Kontinuums die lebensweltliche Perspekti-
ve, die für die aristotelische Physik bezeichnend ist, unbeachtet lässt
oder geradezu verfehlt. Es wird damit die Überzeugung ausgesprochen,
dass Cantors eigener Ansatz zu einer Metaphysik des Transfiniten un-
ter der Last einer fragwürdigen Idealisierungstendenz zusammenbricht.
Als positives Gegenstück zu dieser negativen Überzeugung wird dann
im letzten Kapitel die Behauptung aufgestellt, dass Husserls Phänome-
nologie von Ding und Welt, die der Leibniz’schen Entdeckung des Per-
spektivismus durchaus Rechnung zu tragen vermag, als die eigentliche
Metaphysik des Transfiniten zu gelten hat.

146
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 442 f.
147
Ebd., S. 379.
148
Das Motiv »lebendiges Bild« bzw. »lebendiger Spiegel« geht – unter anderen Autoren
aus dem Mittelalter wie etwa Raimund von Sabunde – auf Nicolaus Cusanus zurück.
Siehe Nicolaus Cusanus, Idiota de mente, n. 106, Zeile 12 [Philosophisch-theologische
Werke, Bd. II], S. 62 f. (samt dem Kommentar von Renate Steiger auf S. 164–166) und
De venatione sapientiae, Kap. XVII, n. 50, Zeilen 2–3 [Philosophisch-theologische Wer-
ke, Bd. IV], S. 70 f.

488
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

III. Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

In § 10 seiner Grundlage einer allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre


macht Georg Cantor deutlich, was unter einem »arithmetischen Kon-
tinuum« zu verstehen ist: Eine Größe oder eine Quantität ist dann und
nur dann ein Kontinuum, wenn sie der Menge der reellen Zahlen äqui-
valent ist. 149 Unter »Äquivalenz« ist dabei eine umkehrbar eindeutige
Zuordnung zwischen den Elementen des Kontinuums und den reellen
Zahlen zu verstehen.
Der Begriff eines arithmetischen Kontinuums spielt eine strategi-
sche Rolle in dem Kampf, den Cantor gegen das aristotelische Urteil
über die Unmöglichkeit des Aktual-Unendlichen führt. Liest man die
Physik des Aristoteles aufmerksam, so sieht man deutlich, wie eng bei
ihm die ablehnende Haltung gegenüber dem Aktual-Unendlichen im
III. Buch mit der im VI. Buch vertretenen Auffassung vom Kontinuum
zusammenhängt. Beiden Gedankengängen ist die Idee einer unend-
lichen Teilbarkeit gemeinsam. Einerseits ist die unendliche Teilbarkeit
die einzige Form der Unendlichkeit, die von Aristoteles anerkannt wird,
andererseits ist sie das Wesensmerkmal des Kontinuums, so wie Aristo-
teles es begreift.
Eine weitere Beobachtung bringt den Hintergrund der Idee einer
unendlichen Teilbarkeit ans Licht. Ein Blick auf das VI. Buch der Physik
genügt, um zu zeigen, dass dieser Begriff von Aristoteles in seiner Po-
lemik gegen die Aporien des Zenon von Elea verwendet wird. Es ist
daher zu vermuten, dass in der Physik letztlich auch die Ablehnung
des Aktual-Unendlichen dem Anliegen dient, Zenons Argumente ge-
gen die Möglichkeit der Bewegung zu entkräften. Man darf dabei nicht
vergessen, dass die Griechen noch nicht über die mathematischen Me-
thoden verfügten, die zur Auflösung der Zenon’schen Schwierigkeiten
erforderlich sind. Aristoteles tut deshalb, was ein Philosoph in einer
derartigen Lage tun kann. Er versucht, den Aporien von Zenon durch
rein philosophische Begriffsanalysen zu begegnen. Seine Auffassung
vom Kontinuum und seine Idee einer unendlichen Teilbarkeit sind Er-
gebnisse dieses Versuchs. Die spätere Entwicklung der Mathematik –
und insbesondere der Cantor’sche Gedanke eines arithmetischen Kon-
tinuums – stellt aber diese rein philosophischen Denkmittel weitgehend

149 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 192.

489
B. Das Unendliche der Welt

in Frage. Aus dieser Sachlage erwächst uns die Aufgabe, die Debatte von
Aristoteles mit Zenon im Licht von Cantors Ergebnissen zu unter-
suchen und dabei die von Aristoteles in dieser Debatte verwendeten
Denkmittel mit Cantors Einwänden zu konfrontieren. Die folgenden
Überlegungen leisten einen Beitrag zu dieser doppelten Aufgabe, indem
sie die wissenschaftliche Gültigkeit dieser Denkmittel zwar einschrän-
ken, dabei aber die lebensweltliche Einsichtigkeit und Berechtigung der
aristotelischen Argumentation betonen.

1. Die aristotelische Deutung von Zenons Aporien


über die Bewegung

Im 2. Kapitel des VI. Buches verweist Aristoteles schon im Voraus auf


die Aporien von Zenon, obgleich er sie erst im 9. Kapitel dieses Buches
ausführlicher behandeln wird. Aus seinem Vorverweis geht hervor, wo-
rin er den Kern dieser Aporien erblickt: Die Argumente von Zenon
versuchen nach ihm zu zeigen, dass es in begrenzter Zeit unmöglich sei,
»das Unendliche durchzugehen« oder »das unendlich Viele Punkt für
Punkt einzeln zu packen«. 150
Der Ausdruck »Punkt für Punkt einzeln« (καθ’ ἔκαστον) deutet
auf eine Grundannahme hin, die wir allem Anschein nach Zenon von
Elea tatsächlich zuschreiben können. Es handelt sich um die Annahme,
dass eine unendliche Mannigfaltigkeit notwendig aus unendlich vielen
unteilbaren Elementen besteht. Von Aristoteles wird diese Auffassung
bekämpft. Werfen wir einen Blick auf das Kapitel 9 des VI. Buches, in
dem die vier Bewegungsaporien von Zenon einer ausführlicheren Ana-
lyse unterzogen werden, so stoßen wir auf eine Eigentümlichkeit des
aristotelischen Gedankenganges, die sich daraus ergibt, dass die dritte
Aporie, in der Tradition als »der fliegende Pfeil« bezeichnet, nicht nur
an ihrem Platz – nämlich an dritter Stelle unter den vier Aporien –
behandelt, sondern bereits am Anfang des Kapitels vorweggenommen
wird. Diese Vorwegnahme dient offenbar zur Hervorhebung der Ze-
non’schen Annahme, der zufolge ein unendlich teilbares Kontinuum
wie die Zeit aus einer unendlichen Anzahl unteilbarer Elemente (im

150
Aristoteles, Physica, Z 2, 233 a 22–23, hg. von William David Ross, Oxford: Claren-
don Press 1950; dt. Physik, griechisch–deutsche zweisprachige Ausgabe, übersetzt und
kommentiert von Hans Günter Zekl, Hamburg: Meiner 1987.

490
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

gegebenen Fall aus einer unendlichen Anzahl von »Jetzten«) besteht.


Aristoteles will zeigen, dass vom fliegenden Pfeil nur deshalb überhaupt
ausgesagt werden kann, er stehe in jedem »Jetzt« still, weil das Jetzt von
vornherein als ein unteilbares Element des Zeitkontinuums betrachtet
wird. Eine ähnliche Grundannahme kann in den Argumenten entdeckt
werden, die gewöhnlich als »Dichotomie« bzw. als »Achilles und die
Schildkröte« bezeichnet werden. Zenon betrachtet ja jede zusammen-
hängende Strecke einer Linie als eine Gesamtheit unendlich vieler Ele-
mente, die in diesem Fall von Aristoteles »Punkte« genannt werden, da
sie nach Zenon nicht weiter teilbar sind.
Es taucht die Frage auf, ob sich die vierte Aporie auf eine ähnliche
Annahme gründet wie die drei anderen. In seinem Buch über die An-
fänge der griechischen Mathematik gibt Árpád Szabó eine bejahende
Antwort auf diese Frage. 151 Bekanntlich besagt der Schlusssatz des vier-
ten Arguments von Zenon in der Formulierung von Aristoteles Folgen-
des: »gleich sei halbe Zeitmenge der doppelten« (ἴσον εἶναι χρόνον τῷ
διπλασίῳ τὸν ἥμισυν). 152 Beachten wir die Grundannahme, von der
nach Szabós Deutung Zenon auch hier ausgeht, so gelangen wir zu
dem Ergebnis, dass in diesem Schlusssatz »zwei unendliche Mengen
miteinander gleich[gesetzt wurden]«. 153 Ein heutiger Mathematiker
würde die in Rede stehenden Mengen als gleichmächtig beschreiben
und hätte keine Schwierigkeit, der Beweisführung von Zenon zuzu-
stimmen. 154 Allerdings war sich Zenon über die Bedeutung seiner Ent-
deckung keineswegs im Klaren: Er hielt den Schlusssatz seines Argu-
ments nicht für ein stichhaltiges Ergebnis, sondern für das unsinnige
Resultat einer reductio ad absurdum. Deshalb hat er aus diesem Resul-
tat die Unhaltbarkeit der Ausgangsvoraussetzung – nämlich die der
Existenz der Bewegung – abgeleitet.
Aristoteles kämpft gegen diese destruktive Tendenz von Zenons
Argumentationsweise. Es geht daher im VI. Buch der Physik um mehr
als eben nur um eine Meinungsverschiedenheit: Die Absicht von Aris-
toteles besteht nicht einfach darin, einige Gedankengänge von Zenon in
Frage zu stellen, sondern durch eine radikal angesetzte Widerlegung der

151 Árpád Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, München/Wien: R. Olden-


bourg 1969, S. 404.
152
Aristoteles, Physik, Z 9, 239 b 33.
153
Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, S. 404.
154 Ebd., S. 405.

491
B. Das Unendliche der Welt

vier Aporien zugleich die ganze Denkweise, die zu derartigen Gedan-


kengängen führt, in ihrer Fragwürdigkeit zu enthüllen. Schon im ersten
Satz des VI. Buches spricht Aristoteles eine These aus, die – wenn sie zu
Recht besteht – Zenons Grundannahme zur Unhaltbarkeit verurteilt: Es
sei »unmöglich, dass aus unteilbaren (Bestandteilen) etwas Zusam-
menhängendes bestehen könnte, etwa eine Linie aus Punkten […]«. 155
Diese These wird in den ersten Kapiteln des VI. Buches erläutert und
erhärtet. Am Ende des zweiten Kapitels wird sie dann neu gefasst, in-
dem behauptet wird: »Nichts von dem, was zusammenhängend ist, ist
teillos.« 156 Die Neufassung der These stützt sich auf eine grundlegende
Unterscheidung, die mittlerweile ausgearbeitet wurde und die von ent-
scheidender Bedeutung für die aristotelische Auffassung vom Kontinu-
um ist. In der Physik werden unteilbare Elemente von den Teilen eines
Körpers unterschieden und als dessen Grenzen begriffen. Aristoteles
stützt sich auf diese Unterscheidung, um behaupten zu können, dass
kein Kontinuum aus unteilbaren Elementen besteht; er versteht darun-
ter, dass derartige Elemente immer nur Grenzen eines Kontinuums,
nicht aber dessen Teile bilden können. Daraus folgt zugleich, dass kein
Kontinuum in unteilbare Elemente zerlegt werden kann, sondern ins
Unendliche teilbar bleibt.
Nicht nur Aristoteles selbst, sondern auch die Mathematiker sei-
ner Zeit haben die Gefahr bemerkt, die Zenons paradoxe Argumentati-
on heraufbeschwört hatte. Vermutlich kannten sie die aristotelische
Unterscheidung zwischen Teil und Grenze. Zwei Jahrzehnte nach dem
Tod des Aristoteles nahm Euklid folgende Definition des Punkts in seine
Elemente auf: »Ein Punkt ist, was keine Teile hat.« 157 Eine weitere De-
finition lautet dann wie folgt: »Die Enden einer Linie sind Punkte.« 158
Der Terminus »Ende« ist hier mit dem aristotelischen Terminus »Gren-
ze« offenbar eng verwandt. Vermutlich dient diese letztere Definition
bei Euklid dazu, eine anders angelegte Auffassung von der Linie, die
nach dem späteren Zeugnis von Proklos den griechischen Denkern
nicht unbekannt war, von vornherein auszuschließen. In seinem Kom-
mentar über Euklids Elemente begreift Proklos die Linie als das »Flie-

155 Aristoteles, Physik, Z 1, 231 a 24.


156
Aristoteles, Physik, Z 1, 233 b 31–32.
157
Euklid, Die Elemente, dt. von C. Thaer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell-
schaft 1973, S. 1.
158 Ebd.

492
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

ßen des Punktes« und die gerade Linie als »ein gleichgerichtetes und
unablenkbares Fließen des Punktes«. 159 Diese Auffassung gründet sich
vermutlich auf die Annahme, dass die Linie aus Punkten besteht. 160
Gerade diese Konsequenz wird von Euklid durch seine Behauptung,
nur die Enden der Linie, nicht aber ihre Teile seien Punkte, bekämpft
und abgewehrt.
Árpád Szabó fasst auch das achte Axiom im ersten Buch von Eu-
klids Elementen als eine Spur des Kampfes gegen Zenons paradoxe Ar-
gumente auf. Überraschenderweise stellt dieses Axiom fest, dass das
Ganze größer ist als der Teil. 161 Warum musste ein so einleuchtender
Satz überhaupt eigens ausgesprochen werden? Warum musste er noch
dazu als eine Behauptung formuliert werden, »zu der die Zustimmung
des Dialogpartners in der Schwebe gelassen bleibt« 162 – das bedeutet
nämlich ursprünglich das Wort »Axiom«? Warum hat Euklid diese
Feststellung am Anfang seines Werkes unbedingt nötig, wenn er sie
dann in seinem Werk nur selten verwendet? Auf all diese Fragen erhal-
ten wir eine Antwort – meint Árpád Szabó –, wenn wir annehmen, dass
ein Kampf gegen Zenons Argumente – und im Besonderen gegen seine
vierte Aporie – schon vor Euklids Zeiten geführt wurde und dass Euklid
das gegen Zenon gerichtete Axiom aus einer älteren Quelle übernom-
men hat. 163
Im VI. Buch der Physik behandelt Aristoteles vornehmlich die Be-
wegung und die Zeit. Er möchte das genaue Gegenteil dessen beweisen,
was Zenon mit seinem als »der fliegende Pfeil« bezeichneten Argument
andeutet. Die zentrale These von Aristoteles findet sich im 3. Kapitel
des VI. Buches. Sie besagt, dass »im Jetzt nichts sich bewegt«. 164 Auf
den ersten Blick scheint dieser Satz schwer verständlich zu sein, aber
seine Bedeutung geht aus dem Textzusammenhang deutlich hervor:
Jede Bewegung – und überhaupt jede Veränderung – findet in einem
bestimmten Zeitraum statt, aber das Jetzt kann nicht als ein Zeitraum

159
Proclus, In primum Euclidis Elementorum librum, hg. von Gottfried Friedlein, Leip-
zig: Teubner 1873, S. 185, Zeilen 8–15; engl. Proclus, A Commentary of the First Book of
Euclid’s Elements, übersetzt von Glenn R. Morrow, Princeton, New Jersey: Princeton
University Press 1970, S. 145.
160 Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, S. 407.

161
Euklid, Die Elemente, S. 3.
162
Szabó, Anfänge der griechischen Mathematik, S. 397.
163
Siehe dazu ebd., S. 394–408.
164 Aristoteles, Physik, Z 3, 234 a 24.

493
B. Das Unendliche der Welt

angesehen werden, da es kein Teil, sondern eben nur eine Grenze der
Zeit ist. Deshalb kann die zentrale These des Aristoteles auch auf fol-
gende Weise formuliert werden: Nichts bewegt sich in einer Grenze der
Zeit, sondern nur in einem ihrer Teile.
Die Auseinandersetzung, die Aristoteles im VI. Buch der Physik
mit Zenon führt, hat allerdings nicht allein zum Zweck, ein physika-
lisches Grundphänomen wie die Bewegung zu retten, sondern sie
schließt ein Ringen mit der Annahme des Aktual-Unendlichen mit ein.
Es liegt keine Übertreibung in der Behauptung, dass zur Zeit des Aris-
toteles diese Annahme die philosophische und die mathematische Ra-
tionalität gleichermaßen gefährdet, weil die Denkmittel, die sich zur
Auflösung der mit ihr verbundenen Schwierigkeiten später als notwen-
dig erweisen werden, zu dieser Zeit noch nicht zur Verfügung stehen.
Die griechischen Mathematiker konnten sich gegen diese unauflös-
baren Schwierigkeiten dadurch wappnen, dass sie geeignete Definitio-
nen formuliert und sich wirksame Axiome ausbedungen haben. Dem
Philosophen ist es nicht gegeben, zu derartigen Veteidigungsmitteln
Zuflucht zu nehmen. Er findet sich ebendeshalb dazu gezwungen, sich
auf eine Debatte einzulassen, in der manche Phänomene neu gedeutet
und manche Begriffe neu gefasst werden. Gerade so verfährt Aristoteles
in der Physik: Einerseits wird er auf den zusammenhängenden Charak-
ter von Bewegung, Zeit und linearer Strecke aufmerksam; andereseits
unterzieht er dann den Begriff des Zusammenhängenden (des Kontinu-
ums) einer begriffsanalytischen Untersuchung.

2. Die aristotelische Auffassung vom Kontinuum

Aristoteles macht von seiner Unterscheidung zwischen Teil und Grenze


Gebrauch, um die Vorstellung von einer zusammenhängenden Größe,
die Zenons Aporien zugrunde liegt, in Frage zu stellen. Er wird dessen
gewahr, dass es zur prophylaktischen Behandlung dieser Schwierigkei-
ten nicht hinreichend ist, die unendliche Teilbarkeit als die Wesens-
eigentümlichkeit einer zusammenhängenden Größe zu spezifizieren.
Vielmehr muss man ein weiteres Merkmal nennen, das sich aus der
bereits erwähnten Einsicht ergibt, der zufolge eine zusammenhängende
Größe niemals teillos ist. Das Kontinuum kann demnach immer nur in
seine Teile oder in die Teile seiner Teile – oder auch in die Teile der Teile
seiner Teile und so weiter ins Unendliche – zerlegt werden; niemals

494
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

kann es jedoch in unteilbare Elemente aufgelöst werden, die als solche


nicht mehr als seine Teile, sondern nur noch als seine Grenzen gelten
können. Das ist der Grund dafür, dass Aristoteles das Kontinuum auf
folgende Weise definiert: »Mit ›zusammenhängend‹ meine ich: Was
teilbar ist in je immer wieder Teilbares.« 165
Aristoteles verwendet auch noch eine dritte Eigentümlichkeit da-
zu, die unendliche Teilbarkeit einer zusammenhängenden Größe ge-
nauer zu bestimmen. Er weist darauf hin, dass die Teile des Kontinuums
der Teilung nicht vorhergehen, sondern erst durch die Teilung selbst
erzeugt werden. Für Aristoteles – wie später für Kant – ist das Kontinu-
um ein Ganzes, das seinen Teilen vorgeordnet ist. Die Teile des Kon-
tinuums sind demnach dem Ganzen nicht vorgegeben, sondern sie
entstehen durch Ausgrenzung aus ihm. Das ist der eigentliche Grund
dafür, dass die aristotelische Auffassung von der unendlichen Teilbar-
keit die Annahme des Aktual-Unendlichen ausschließt. Es trifft zwar
zu, dass die unendliche Teilung einer zusammenhängenden Größe eine
unendliche Reihe von Teilen dieser Größe zur Folge hat. Aber es trifft
gleichfalls zu, dass diese Teile in der zusammenhängenden Größe nicht
der Wirklichkeit, sondern bloß der Möglichkeit nach enthalten sind.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Aristoteles das Kontinu-
um durch drei Eigentümlichkeiten definiert: erstens schreibt er ihm
eine unendliche Teilbarkeit zu, zweitens setzt er hinzu, dass das Kon-
tinuum nur in je immer wieder Teilbares teilbar ist, und drittens hebt er
hervor, dass die Teile eines Kontinuums dem Ganzen nicht vorher-
gehen, sondern erst durch die Teilung dieses Ganzen erzeugt werden.
Angesichts dieser Lehre hat man zunächst leicht den Eindruck, sie blei-
be der Anschauung – oder sogar der sinnlichen Wahrnehmung – ver-
haftet. Dieser Einwand kann wie folgt formuliert werden: Es ist gewiss
wahr, dass die Teilung einer zusammenhängenden Größe durch Messer
und Säge – oder auch durch Lineal und Zirkel – lediglich zu Einheiten
führen kann, die ihrerseits – zumindest grundsätzlich – immer noch
weitere Teilungen zulassen, aber es folgt daraus nicht, dass es sich mit
der unendlichen Teilung auch dann so verhält, wenn sie nicht mehr an
anschauliche Bedingungen gebunden wird.
Selbst wenn dieses Argument an und für sich eine gewisse Plausi-
bilität für sich beanspruchen kann, auf Aristoteles lässt es sich nicht
anwenden. Denn in Wahrheit wird die Idee einer unendlichen Teilung

165 Ebd., Z 2, 232 b 24 f.

495
B. Das Unendliche der Welt

von zusammenhängenden Größen in der Physik – zumindest in dem


hier relevanten Sinne – nicht an die Bedingungen der Anschauung –
und erst recht nicht an die der sinnlichen Wahrnehmung – gebunden.
Vielmehr gründet Aristoteles seine Auffassung auf rein rationale Über-
legungen. Er verschreibt sich deshalb der Ansicht, dass eine zusammen-
hängende Größe immer nur in weiter teilbare Teile zerlegt werden
kann, weil er findet, dass das Gegenteil dieser Behauptung zu einem
Widerspruch führt. Bei der Aufrechterhaltung der Forderung nach un-
endlicher Teilbarkeit macht ja die Annahme einer Zerlegbarkeit zusam-
menhängender Größen in unteilbare Elemente so etwas wie »ein Teilen
des Unteilbaren« erforderlich (συμβήσεται διαιρεῖσθαι τὸ ἄτο-
μον). 166 In dem Gedanken eines Teilens des Unteilbaren liegt aber ein
offensichtlicher und unüberwindlicher Widerspruch.
Wie wird jedoch die Forderung nach einer unendlichen Teilbarkeit
des Zusammenhängenden von Aristoteles verstanden? Aus dem
III. Buch der Physik, in dem der Gedanke eines Potential-Unendlichen
augearbeitet wird, geht eine Antwort auf diese Frage deutlich hervor.
Oft wird darauf hingewiesen, dass Aristoteles hier jede Art des Aktu-
al-Unendlichen verwirft. Es wird aber selten hinzugefügt, dass er eben-
deshalb auch nicht jede Art des Potential-Unendlichen zulässt. Er macht
einen Unterschied zwischen »Teilen« (διαίρεσιϚ) und »Hinzusetzen«
(πρόσθεσιϚ), um zeigen zu können, dass dem Hinzusetzen nach nichts
potentiell unendlich sein kann, ohne ein Aktual-Unendliches voraus-
zusetzen. 167 Daraus folgt, dass, wenn es kein Aktual-Unendliches gibt,
es auch kein Potential-Unendliches dem Hinzusetzen nach geben
kann. 168 Deshalb kann es einzig und allein ein Potential-Unendliches
dem Teilen nach geben.
Die einzige Form des Unendlichen, die von Aristoteles anerkannt
wird, ist demnach die unendliche Teilbarkeit zusammenhängender Grö-
ßen. Aus dieser Tatsache ergibt sich eine Konsequenz, die den Sinn der
Forderung nach unendlicher Teilbarkeit beleuchtet. Nach Aristoteles
setzt diese Forderung keineswegs etwa die unendliche Gesamtheit
gleichzeitig gegebener Teilungspunkte an derjenigen zusammenhän-
genden Größe voraus, um deren Zerlegung in ihre Teile – und in die
Teile ihrer Teile bzw. in die Teile der Teile ihrer Teile und so weiter ins

166
Ebd., Z 2, 233 b 17–18.
167
Ebd., Γ 6, 206 b 20–24.
168 Ebd., Γ 6, 206 b 26.

496
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

Unendliche – es sich handelt. Vielmehr ist diese Forderung an die Be-


dingung der Möglichkeit einer unendlichen Folge aufeinanderfolgender
Teilungsakte gebunden. Nach aristotelischer Sichtweise bilden diese
Teilungsakte keine aktual-unendliche Menge, weil der eine dieser Akte
aufhört zu existieren, bevor der andere anhebt. Folglich kann der
nächstfolgende Akt dem vorhergehenden nicht hinzugesetzt werden.
Deshalb kann Aristoteles das Potential-Unendliche dem Teilen nach
vom Potential-Unendlichen dem Hinzusetzen nach eindeutig trennen.
Für ihn bedeutet die unendliche Teilbarkeit des Kontinuums daher
nichts anderes, als dass dieses Kontinuum stets eine Gelegenheit zur
Wiederholung des Teilungsaktes bietet.
Diese Auffassung von der unendlichen Teilbarkeit macht die Be-
gründung begreiflich, mit der Aristoteles die Zenon’sche Idee einer Zer-
legung des Kontinuums in unteilbare Elemente von der Hand weist.
Denn wie könnten derartige Elemente noch eine Gelegenheit zur Wie-
derholung des Teilungsaktes bieten, wenn sie nun einmal unteilbar sein
sollen? Da die einzelnen Teilungsakte einander nicht hinzugesetzt wer-
den, scheint die Möglichkeit einer unendlichen Wiederholung in kei-
nem Sinne an die Bedingung einer aktual-unendlichen Mannigfaltig-
keit von Teilungspunkten gebunden zu sein.
Es ist aus diesen Betrachtungen ersichtlich, dass sich Aristoteles
nicht bloß auf die Anschauung – oder gar auf die sinnliche Wahrneh-
mung – stützt, um den von Zenon stillschweigend vorausgesetzten Be-
griff des Kontinuums einer Revision zu unterziehen. Vielmehr gründet
er seine eigene Ansicht auf einen regelrechten indirekten Beweis, der
die Zenon’sche Auffassung des Selbstwiderspruchs überführt.
Wir können hinzufügen, dass dieser indirekte Beweis nicht die ein-
zige rein rationale Überlegung ist, die in der Physik gegen Zenons Be-
griff des Kontinuums ins Feld geführt wird. Ein weiteres Argument
gründet sich auf den Gedanken, dass eine zusammenhängende Größe
unmöglich in unteilbare Elemente zerlegt werden kann, weil derartige
Elemente ihrer Natur nach immer nur eine diskrete (das heißt: keine
zusammenhängende) Größe bilden können. Dieser Gedanke wird von
Aristoteles auf folgende Weise formuliert: »[…] Teilloses bildet mit
Teillosem keinen Zusammenhang […]« (αἴτιον δὲ τοῦτου τὸ μή εἶναι
ἀμερὲϚ ἀμεροῦϚ ἐχόμενον). 169
Beide Argumente, die hervorgehoben wurden, nähren sich von

169 Ebd., Z 6, 237 b 7–8.

497
B. Das Unendliche der Welt

wesentlichen Unterscheidungen. Daraus können wir ersehen, dass es in


der Philosophie mehr noch auf sachgemäße Unterscheidungen als auf
formgerechte Argumente ankommt. Es genügt hier, im Rückblick auf
das bisher Gesagte erstens die Unterscheidung zwischen Teil und Gren-
ze, zweitens die Unterscheidung zwischen Potential-Unendlichem und
Aktual-Unendlichem und drittens die Unterscheidung zwischen Poten-
tial-Unendlichem dem Hinzusetzen nach und Potential-Unendlichem
dem Teilen nach hervortreten zu lassen. Erst die an dritter Stelle ge-
nannte Unterscheidung ermöglicht den Aufweis der Unverträglichkeit
zwischen der Zenon’schen Annahme der Zerlegbarkeit eines Kontinu-
ums in unteilbare Elemente und der auch von Zenon erhobenen Forde-
rung nach der unendlichen Teilbarkeit zusammenhängender Größen.
Bei Aristoteles verbindet sich daher der Begriff des Kontinuums mit
der Idee des Potential-Unendlichen zu einer einheitlichen Theorie, die
sich um den grundlegenden Gedanken einer unendlichen Teilbarkeit
zusammenhängender Größen dreht. Diese Theorie dient vor allem da-
zu, die von den Zenon’schen Aporien heraufbeschworene Gefahr zu
bannen. In einem bestimmten Sinne ist es Aristoteles gelungen, diese
Gefahr abzuwehren und dadurch selbst noch der Mathematik einen
Weg zu weisen.
Gleichwohl gilt es zu bedenken, in welchem Sinne hier von Erfolg
die Rede sein kann und in welchem Sinne nicht. Ich versuche, auf diese
Frage eine möglichst differenzierte Antwort zu geben, indem ich der
aristotelischen Auffassung von der unendlichen Teilbarkeit zusammen-
hängender Größen Cantors Lehre vom arithmetischen Kontinuum ge-
genüberstelle.

3. Zwei Betrachtungsweisen des Kontinuums

In seinen Schriften zur Begründung der Mengenlehre wirft Cantor


Aristoteles nicht allein eine Blindheit für das Aktual-Unendliche vor,
sondern er bekämpft auch die aristotelische Auffassung vom Kontinu-
um. Zwar begnügt er sich mit einigen spärlichen Hinweisen auf die
Geschichte des Kontinuumsbegriffs, 170 die obendrein nur allzu oft kryp-
tisch bleiben, aber durch seine Idee eines arithmetischen Kontinuums
gelingt es ihm dennoch, den aristotelischen Begriff einer unendlichen

170 Cantor, Gesammelte Abhandlungen, S. 190 f.

498
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

Teilbarkeit in ein völlig neues Licht zu rücken. Eine unendliche Reihe


aufeinanderfolgender Teilungsakte unterscheidet sich gewiss von einer
unendlichen Menge gleichzeitig gegebener Teilungspunkte, aber es
stellt sich nunmehr erneut die Frage, ob die erstere Art von Unendlich-
keit ohne die letztere Art überhaupt möglich ist. Diese Frage ist gleich-
bedeutend mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Potential-
Unendlichen und dem Aktual-Unendlichen. Aus Cantors Theorie des
arithmetischen Kontinuums geht ein Argument hervor, das dafür
spricht, dass das Potential-Unendliche immer ein Aktual-Unendliches
voraussetzt.
Dieses Argument gründet sich auf den Grundgedanken, dass eine
zusammenhängende Größe von endlichen Ausmaßen keineswegs stets
eine Gelegenheit zur Wiederholung des Teilungsaktes bieten kann,
ohne eine unendliche Menge von Teilungspunkten in sich zu enthalten,
die voneinander – zum Beispiel durch Nummerierung, also durch na-
türliche Zahlen – grundsätzlich unterschieden werden können. Diese
Überlegung zeigt, dass nicht allein das dem Hinzufügen nach betrach-
tete, sondern auch das dem Teilen nach betrachtete Potential-Unend-
liche zumindest ein abzählbares Aktual-Unendliches voraussetzt. Ge-
wiss kann das an zweiter Stelle behandelte Argument von Aristoteles
gegen diese Überlegung noch ins Feld geführt werden: Eine abzählbar
unendliche Menge von Teilungspunkten bildet keineswegs eine zusam-
menhängende, sondern eben nur eine diskrete Größe. Cantor hat aber
gezeigt, dass dieses zweite Argument von Aristoteles nicht gegen alle
Zahlen geltend gemacht werden kann: Es trifft zwar auf die natürlichen
Zahlen – und sogar auf die rationalen Zahlen (die gewöhnlichen Brü-
che) – zu, nicht aber auf die reellen Zahlen. Das ist gerade der Grund für
die Cantor’sche Behauptung, dass ein Kontinuum nur mit einer Menge
reeller Zahlen gleichgesetzt – oder, besser gesagt, in Äquivalenzbezie-
hung gebracht – werden kann.
Daraus ersieht man, dass die Idee eines arithmetischen Kontinu-
ums die Theorie der reellen Zahlen zur unerlässlichen Bedingung hat.
Eine derartige Theorie liegt aber außerhalb des Horizontes der grie-
chischen Mathematik und der griechischen Philosophie. Man weiß
zwar, dass die Menge der reellen Zahlen aus der Vereinigung der ratio-
nalen und der irrationalen Zahlen besteht, und man weiß ebenfalls, dass
nicht nur die rationalen, sondern auch die irrationalen Zahlen den Grie-
chen schon vor Platon und Aristoteles bekannt waren. Dem Geist der
griechischen Mathematik und der griechischen Philosophie ist es aber

499
B. Das Unendliche der Welt

fremd geblieben, diese Größen als vollwertige Zahlen zu behandeln und


so eine einheitliche Zahlentheorie aufzubauen. Man darf nicht verges-
sen, dass selbst die uns geläufigen Brüche von den Griechen immer nur
als Proportionen von natürlichen Zahlen, nicht aber als eigenständige
Zahlen aufgefasst wurden. Sicherlich konnten die irrationalen Größen
nicht auf dieselbe Weise begriffen werden, da sie gerade die Inkommen-
surabilität von je zwei natürlichen Zahlen ausdrückten. Aber wegen
ihrer quadratischen Kommensurabilität konnten sie zumindest in eine
Analogie mit den rationalen Zahlen gebracht werden. In den Augen der
Griechen sind so die natürlichen Zahlen die eigentlichen Zahlen geblie-
ben. Darüber hinaus setzt die Theorie der reellen Zahlen die Begriffe
und die Methoden der mathematischen Analysis voraus, die den Grie-
chen unzugänglich waren.
Cantors Lehre vom arithmetischen Kontinuum markiert vor allem
deshalb einen Bruch mit einer beinahe zweieinhalbtausendjährigen Tra-
dition, weil sie die wesentlichen Unterscheidungen, die dem Nachden-
ken über das Kontinuum seit Aristoteles zugrunde lagen, in Frage stellt.
Das ist der Fall mit der Unterscheidung zwischen dem Potential-Unend-
lichen dem Hinzufügen nach und dem Potential-Unendlichen dem Tei-
len nach. Diese Unterscheidung verliert ihre Bedeutung, sobald sich
herausstellt, dass beide Arten des Potential-Unendlichen ein Aktual-
Unendliches voraussetzen. Durch den Zusammenbruch dieser Unter-
scheidung wird die Unterscheidung zwischen dem Potential-Unend-
lichen und dem Aktual-Unendlichen mitgerissen. Darüber hinaus zeigt
die Lehre vom arithmetischen Kontinuum, dass eine Mannigfaltigkeit
weiter nicht teilbarer Elemente, die in eine umkehrbar eindeutige Zu-
ordnung mit reellen Zahlen gebracht werden können, durchaus eine
zusammenhängende Größe bilden kann. Aus dieser Einsicht ergibt sich
die Unhaltbarkeit der aristotelischen Unterscheidung zwischen Teil und
Grenze einer zusammenhängenden Größe. Die weiter nicht teilbaren
Grenzen eines Kontinuums erweisen sich zugleich als seine Bestand-
teile und umgekehrt. So bröckeln die Grundpfeiler einer nahezu zwei-
einhalbtausendjährigen Tradition des Nachdenkens über das Unend-
liche und das Kontinuum infolge der neuen Entdeckungen von Cantor
Stück für Stück ab.
Es bleibt gleichwohl zu fragen, ob der aristotelische Ansatz zur
Behandlung zusammenhängender Größen damit ein und für alle Mal
ad acta gelegt ist, oder zumindest in einem besonderen Anwendungs-
bereich sein Recht behält. Die Entscheidung dieser Frage hängt davon

500
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

ab, ob es Kontinuumsphänomene nicht-Cantor’scher Natur gibt. Zur


Betrachtung bieten sich dabei vor allem diejenigen Kontinuumsphäno-
mene an, mit denen sich Aristoteles im VI. Buch der Physik vornehm-
lich auseinandersetzt: Bewegung – und noch mehr: Zeit. Sind Be-
wegung und Zeit in demselben Sinne zusammenhängende Größen wie
eine lineare Strecke? Aristoteles selbst scheint hier einen grundlegen-
den Unterschied anzudeuten, indem er hervorhebt, dass Bewegung und
Zeit nicht aus gleichzeitig gegebenen, sondern aus nacheinander auf-
kommenden Einheiten bestehen, von denen die eine zu existieren auf-
hört, bevor die andere zustande kommt. Kann eine Mannigfaltigkeit
derartiger Einheiten nicht etwa schon deshalb als ein Kontinuumsphä-
nomen nicht-Cantor’scher Natur betrachtet werden, weil diese Einhei-
ten einander nicht reell hinzugesetzt werden können?
Denken wir über diese Frage nach, so können wir an Bergsons Idee
einer – von der gewöhnlichen Zeitvorstellung unterschiedenen – Dauer
(durée) selbst dann nicht stillschweigend vorbeigehen, wenn diese Idee
von der aristotelischen Tradition weit entfernt zu liegen scheint. In sei-
nem Buch über Bergson (Le bergsonisme) hat Gilles Deleuze gezeigt,
dass die Bergson’sche Dauer keineswegs notwendig als eine unteilbare
Größe zu gelten hat, obschon eine allzu flüchtige Lektüre von Zeit und
Freiheit oder auch von Materie und Gedächtnis leicht diesen Eindruck
vermitteln könnte. Hätte die Dauer als eine unteilbare Größe zu gelten,
so könnte sie nicht einmal als »Mannigfaltigkeit« (multiplicité) bezeich-
net werden. Bergson bezeichnet sie aber von Anfang an so, indem er sie
der quantitativ bestimmten Mannigfaltigkeit räumlicher Gebilde als
eine völlig anders geartete Mannigfaltigkeit gegenüberstellt. 171 Deleuze
wird auf diesen Wortgebrauch aufmerksam und sucht nach einer Quel-
le, aus der die Idee von zwei verschiedenen Mannigfaltigkeiten stam-
men kann. Die gesuchte Quelle findet er in Bernhard Riemanns Habili-
tationsvortrag Ȇber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde
liegen«. 172 In dieser Schrift wird die Grundidee einer nicht-euklidischen
Geometrie unter weitgehendem Verzicht auf die Verwendung einer ma-

171
Henri Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris: Alcan 1938,
S. 66; dt. Zeit und Freiheit, ohne Angabe des Übersetzers, Jena: Diederichs 1911, S. 68:
»Daraus ergibt sich zuletzt, dass es zweierlei Mannigfaltigkeiten gibt: die der materiellen
Gegenstände, die unmittelbar eine Zahl bildet, und die der Bewusstseinsvorgänge […].«
172
Siehe Bernhard Riemann, Gesammelte mathematische Werke und wissenschaft-
licher Nachlass, hg. (unter Mitwirkung von Richard Dedekind) von Heinrich Weber,
New York: Dover 1902, S. 272–287.

501
B. Das Unendliche der Welt

thematischen Formelsprache dargelegt; der euklidische Raum wird da-


bei als ein Spezialfall n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten mit verschie-
denen Maßverhältnissen und je verschiedenem »Krümmungsmaß« 173
begriffen. Die Untersuchung beginnt jedoch mit prinzipiellen Über-
legungen, in denen wir einen ersten Beitrag zur Ausarbeitung des Men-
genbegriffs erkennen können. Diese Überlegungen begründen eine
Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Mannigfaltigkeiten. Rie-
mann geht dabei von allgemeinen Begriffen aus, die verschiedene »Be-
stimmungsweisen« zulassen; 174 mit »Bestimmungsweisen« sind einer-
seits Anwendungen auf Einzelinstanzen, andererseits aber auch die in
Rede stehenden Einzelinstanzen selbst gemeint. Bei manchen Begriffen
findet, wie Riemann hervorhebt, ein stetiger Übergang von einer Be-
stimmungsweise zur anderen statt; bei anderen ist dies nicht der Fall. 175
Demnach lassen sich »stetige« und »diskrete« Mannigfaltigkeiten von
Bestimmungsweisen voneinander unterscheiden. 176 Riemann sieht
deutlich, dass diskrete Mannigfaltigkeiten miteinander durch Zahlen
verglichen werden können. Bergson wird deshalb die diskreten Man-
nigfaltigkeiten als »numerische Mannigfaltigkeiten« bezeichnen. 177
Die stetigen Mannigfaltigkeiten lassen nach Riemann keine Maß-
bestimmung durch unmittelbares Zählen, sondern nur eine Maß-
bestimmung durch Messung, das heißt durch die Angabe einer Metrik
(also einer Abstandsfunktion) zu, obgleich sie miteinander auch anders
(nämlich im Rahmen einer analysis situs topologisch) verglichen wer-
den können. 178 Wenn wir von diesen Begriffen ausgehen, so können wir
Cantors Lehre vom arithmetischen Kontinuum als einen Versuch kenn-
zeichnen, auch die stetigen Mannigfaltigkeiten als numerische Mannig-
faltigkeiten zu begreifen, wiewohl nicht im Sinne einer Abzählung
durch natürliche Zahlen, sondern im Sinne einer Äquivalenzrelation

173
Ebd., S. 279. Riemann verweist hier auf seinen Doktorvater, Carl Friedrich Gauß, von
dem der Begriff des Krümmungsmaßes stammte.
174
Ebd., S. 273.
175
Ebd.
176
Ebd.
177
Bergson stellt die Anfangserörterungen des zweiten Kapitels Essai sur les données
immédiates de la conscience unter die Überschrift »La multiplicité numérique et l’espa-
ce«; siehe ebd., S. 56–69. In der deutschen Übersetzung des Textes, die unter dem Titel
Zeit und Freiheit erschienen ist, sind die Überschriften im Kopfteil der einzelnen Seiten
nicht enthalten.
178
Vgl. Riemann, Gesammelte mathematische Werke und wissenschaftlicher Nachlass,
S. 274.

502
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

mit einer Menge reeller Zahlen. Einen ganz anderen Weg betritt Berg-
son, indem er die Dauer als eine stetige Mannigfaltigkeit bestimmt, die
sich gerade nicht als numerische Mannigfaltigkeit auffassen lässt.
Wird aber bei Bergson tatsächlich eine Alternative zu Cantors Leh-
re vom arithmetischen Kontinuum deutlich? Man muss sich diese Frage
stellen, zumindest wenn man Zweifel daran hat, ob Bergsons Begriff der
Intuition eine tragfähige Grundlage für die Lehre von den stetigen
Mannigfaltigkeiten bildet. In seiner »Einführung in die Metaphysik«
sagt Bergson: »Wir bezeichnen hier als Intuition die Sympathie, durch
die man sich in das Innere eines Gegenstandes versetzt, um mit dem,
was er als Einzigartiges und infolgedessen Unaussprechliches an sich
hat, zu koinzidieren«. 179 Diese Bestimmung ist dazu angetan, Zweifel
zu erwecken, selbst wenn man mit Gilles Deleuze hinzufügen muss,
dass die Intuition bei Bergson letztlich »keine Gefühlseingebung, Er-
leuchtung oder Seelenverwandtschaft, sondern eine ausgearbeitete
Methode« ist. 180 Trotz all unserer Zweifel können wir aber unter den
verschiedenen Merkmalen, die in Bergsons Arbeiten zur Charakterisie-
rung der Dauer dienen, zumindest eines finden, das uns dazu verhilft,
auf unserem Weg weiterzugehen.
Es gibt in der Tat ein derartiges Merkmal, das von Deleuze mit
besonderem Nachdruck hervorgehoben wird: Die Dauer lässt sich des-
halb auf keine numerische Mannigfaltigkeit zurückführen, weil sie bei
jedem Unterteilungsschritt ihre Natur ändert und sich infolgedessen als
eine unaufhebbar heterogene Mannigfaltigkeit erweist. 181 Darin liegt in
der Tat eine Einsicht, die uns erlaubt, die aristotelische Idee einer un-
endlichen Teilung als eine Alternative zu Cantors Lehre vom arithme-
tischen Kontinuum zu verstehen. Denn bereits Aristoteles geht davon
aus, dass die aufeinanderfolgenden Teilungsakte keine homogene Ge-
samtheit miteinander bilden, sondern ihrer Natur nach einander hete-
rogen bleiben. 182

179
Henri Bergson, La pensée et le mouvant, Paris: PUF [Quadrige] 141999 (11938),
S. 181; dt. Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, übersetzt von
Leonore Kottje, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2008, S. 183.
180
Gilles Deleuze, Le bergsonisme, Paris: PUF [Quadrige] 1997 (11966), S. 1; dt. Bergson
zur Einführung, übersetzt von Martin Weinmann, Hamburg: Junius 1989, S. 23.
181
S. 32; dt. S. 56.
182
Deleuze setzt allerdings hinzu, dass die Dauer bei jedem Unterteilungsschritt das
»Maßprinzip« (principe métrique) abwandelt. Ist hier mit »Maßprinzip« die (auch als
»Metrik« bezeichnete) Maßfunktion gemeint, so wird damit in der Argumentation eine

503
B. Das Unendliche der Welt

Aber welchen Grund hat dann die Heterogeneität der Teilungsakte


bei Aristoteles? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Beob-
achtung, dass die in der Physik zusammengefassten Erörterungen sich
auf eine lebensweltliche Grundlage stützen. In lebensweltlicher Sicht
bildet die Zeit vor allem deshalb keine homogene Mannigfaltigkeit, weil
sie aus Einheiten besteht, die niemals ohne Ausnahme zur Gegenwart,
sondern teilweise zur Vergangenheit oder zur Zukunft gehören. Zwar
ist Aristoteles in der Physik darum bemüht, die Zeit als eine geordnete
Jetztmannigfaltigkeit zu begreifen, die einzig und allein durch das um-
fassende Verhältnis des Früheren und des Späteren, nicht aber durch die
lebensweltlichen Zeitdimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft charakterisiert ist. Seine Zeitauffassung weist aber doch eine
gewisse Lebensweltgebundenheit auf. Das wird besonders dort deutlich,
wo die Frage nach der Unendlichkeit der Zeit auftaucht. Es heißt: »Wie
der Tag ›ist‹ oder der Wettkampf, [nämlich] dadurch, dass immer wieder
etwas Neues eintritt, genauso auch das Unbegrenzte [das Unend-
liche] […]«.183 Hier wird ein Seinsunterschied zwischen dem gegenwär-
tigen Tag und den vergangenen bzw. zukünftigen Tagen angedeutet.
Nur der gegenwärtige Tag ist in vollem Sinne des Wortes, selbst wenn
er als Tag zugleich alle vergangenen und zukünftigen Tage gleichsam in
sich durchblicken lässt. Ähnlich können wir das Beispiel des Wett-
kampfs – das heißt der Olympischen Spiele – verstehen. Aus dem
Seinsunterschied zwischen Gegenwärtigem und Nicht-Gegenwärtigem
ergibt sich bei Aristoteles die Heterogeneität der Jetztmannigfaltigkeit.
Denn vom Tag lässt sich dasselbe sagen, was in der Physik einmal vom
Jetzt gesagt wird: Was er, »irgendwann einmal seiend, ist« – ὃ μέν ποτε
ὂν […] ἐστι –, »das ist (immer) dasselbe«; »im jeweiligen Auftritt« – τὸ
δ’εἶναι – »dagegen ist e[r] verschieden«. 184 Der Tag ist folglich immer
neu, selbst wenn er immer nur Tag bleibt. Was zeichnet aber den immer
neuen Tag aus, wenn nicht seine Gegenwärtigkeit?

Richtung eingeschlagen, die aus der Schwierigkeit nicht herausführt. Denn die verschie-
denen Unterteilungsschritte lassen sich dann in eine umkehrbar eindeutige Zuordnung
mit einer Menge verschiedener Maßfunktionen bringen und so doch auf eine numeri-
sche Mannigfaltigkeit in erweitertem Sinne des Wortes zurückführen. Es spricht aber
nicht viel dafür, dass Deleuze den Gedanken eines ständigen Metrikwechsels, wenn es
sich bei ihm überhaupt um einen solchen handelt, unmittelbar aus Bergsons Schriften
geschöpft hätte. Noch weniger lässt sich dieser Gedanke dem Aristoteles zuschreiben.
183
Aristoteles, Physik, Γ 6, 206 a 22; vgl. Γ 6, 206 b 14.
184 Aristoteles, Physik, Δ 11, 219 b 26–27.

504
Cantor, Aristoteles und das Problem des Kontinuums

Diese lebensweltliche Ansicht der Zeit überträgt sich nicht allein


auf die Bewegung, sondern selbst noch auf die lineare Strecke. Anders
als bei Bergson lässt sich bei Aristoteles ein Kontinuum vom anderen
nicht trennen: Zeit, Bewegung und lineare Strecke gehören zusammen.
Die Gesamtheit der Teilungsakte einer linearen Strecke kann ebenso
wenig als eine homogene Mannigfaltigkeit aufgefasst werden wie die
Zeit als solche. Denn selbst wenn diese Gesamtheit eine ins Unendliche
gehende Teilung zulässt, hört der eine der aufeinanderfolgenden Tei-
lungsakte notwendig zu existieren auf, bevor der andere anhebt. Der
verborgene Gegenwartsbezug der Teilungsakte vereitelt den Versuch,
die unendliche Teilung, wie sie von Aristoteles verstanden wird, auf
eine numerische Mannigfaltigkeit zu reduzieren.
Es gibt, könnten wir sagen, eine lebensweltliche Sicht auf das Un-
endliche. In der aristotelischen Idee einer unendlichen Teilbarkeit
drückt sich diese lebensweltliche Sicht aus, ohne dass sie von Aristoteles
selbst als solche begriffen wird. Die lebensweltliche Sicht auf das Un-
endliche ist gegenwartszentriert. Es wäre aber irreführend zu sagen,
dass eine gegenwartszentrierte Sichtweise das Aktual-Unendliche von
vornherein ausschließt. Gewiss kann das Unendliche in der Lebenswelt
niemals in extenso erfasst werden, sondern nur so, wie etwa der gegen-
wärtige Tag alle vergangenen und zukünftigen Tage in sich durchbli-
cken lässt. Um diesem Unterschied Rechnung zu tragen, ist es jedoch
wohl richtiger, eine intensive Unendlichkeit der extensiven gegenüber-
zustellen, als bei der aristotelischen Unterscheidung zwischen Potenti-
al- und Aktual-Unendlichem zu bleiben. Phänomene von intensiver
Unendlichkeit kann man als nicht-Cantor’sche Kontinuumsphänomene
bezeichnen, obgleich man hinzufügen muss, dass von diesen lebens-
weltlichen Phänomenen durchaus ein Anstoß an das reine Denken aus-
geht, zu einem aktual-unendlichen Kontinuum im Sinne von Cantor
weiterzugehen.
Aber dieser Anstoß ist ein Anstoß zu einer Idealisierung, die über
die Grenzen der Lebenswelt hinausführt. Das Unendliche in der Le-
benswelt ist keineswegs Sache des reinen Denkens; vielmehr bleibt es
an die Anschauung gebunden. In seiner Argumentation gegen Zenon
versucht Aristoteles, wie wir gesehen haben, jede Anschauungsge-
bundenheit hinter sich zu lassen. Gleichwohl bleibt der verborgene
Gegenwartsbezug, der seine Auffassung von der unendlichen Teilung
zusammenhängender Größen beherrscht, das Zeichen einer anschau-
ungsbedingten Ansicht. Es handelt sich dabei allerdings um eine An-

505
B. Das Unendliche der Welt

schauungsgebundenheit, die mit einem Mangel an Abstraktionsfähig-


keit in der Argumentation nichts zu hat, sondern durch die Sache selbst
gefordert und begründet ist. Es ist deshalb kein Zufall, wenn die aristo-
telische Unendlichkeitsauffassung bei denjenigen Denkern auf Reso-
nanz trifft, die der Anschauung selbst ein besonderes Gewicht beimes-
sen. Gemeint ist damit neben Kant mehr noch Husserl als Bergson.

506
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

IV. Husserls Weg zu einer Phänomenologie


des Unendlichen

Am Anfang seiner denkerischen Laufbahn setzte sich Husserl etwa an-


derthalb Jahrzehnte lang vornehmlich mit Problemen der Philosophie
der Mathematik und der philosophischen Logik auseinander. Während
dieser Zeit leitete ihn die enge Bekanntschaft mit Cantor, der an dersel-
ben Universität als Ordinarius für Mathematik lehrte, an der er als Pri-
vatdozent für Philosophie tätig war, allerdings noch nicht dahin, mit
dem Unendlichen philosophisch Ernst zu machen. In seiner Philosophie
der Arithmetik, die aus seiner Habilitationsschrift erwuchs, versuchte
Husserl, den Begriff der Zahl im Ausgang von Franz Brentanos und
Carl Stumpfs philosophischer Psychologie auf neue Grundlagen zu
stellen. Dabei beschränkte er sich weitgehend auf die endlichen Zahlen,
und in der Frage nach dem Unendlichen nahm er einen zurückhalten-
den Standpunkt ein.
Erst viel später, Anfang der 1910er Jahre änderte sich seine Ein-
stellung. Ein erstes Zeichen dafür findet sich in seinem Logos-Aufsatz
über »Philosophie als strenge Wissenschaft«. Husserl greift hier auf die
Idee des Transfiniten zurück, um den Unterschied zwischen Welt-
anschauungsphilosophie und wissenschaftlicher Philosophie deutlich
zu machen. Dieser Unterschied ergibt sich nach ihm daraus, dass sich
die wissenschaftliche Philosophie um die Idee einer unendlichen Auf-
gabe dreht, die Weltanschauung dagegen nichts anderes ist als »die
[Idee] eines im Endlichen liegenden Zieles, in einem Einzelleben in der
Weise steter Annäherung prinzipiell zu verwirklichen, ebenso wie die
Sittlichkeit, die ja ihren Sinn verlieren würde, wenn sie die Idee von
einem prinzipiell transfiniten Unendlichen wäre«. 185 Der Terminus
›transfinit‹ ist hier kein Füllsel, sondern hat eine sachlich durchaus an-
gemessene Bedeutung. Er dient dazu, den Sinn einer unendlichen Auf-
gabe wissenschaftlichen Philosophierens näher zu beleuchten. Husserl
hat nicht etwa eine inhaltlich im Voraus bestimmte Aufgabe oder Ziel-
setzung im Auge, sondern rechnet mit der Möglichkeit neuer Fragestel-
lungen und neu aufkommender Themenbereiche. Es schwebt ihm da-
her das Bild einer offenen Unendlichkeit vor, die jede Beschränkung der
philosophia perennis auf einen im Voraus feststehenden Problem-

185 Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921) [Husserliana, Bd. XXV], S. 52.

507
B. Das Unendliche der Welt

bestand ausschließt. Er greift auf Cantors Begriff des Transfiniten zu-


rück, um den offenen Charakter dieser Unendlichkeit zu betonen. Des-
halb charakterisiert er im Logos-Aufsatz 1911 das Problemfeld der wis-
senschaftlichen Philosophie im Kontrast zur Sittlichkeit und zur
Weltanschauung durch den Ausdruck ›transfinite Unendlichkeit‹.
Dieser Rückgriff auf die Idee des Transfiniten bleibt in den 1910er
Jahren keineswegs eine bloße Episode ohne Folgen. Husserl stützt sich
vielmehr im ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie
und phänomenologischen Philosophie und auch in anderen Schriften
aus den Jahren 1912–1917 immer wieder auf diese Idee, um eine phä-
nomenologische Metaphysik des Unendlichen zu entwerfen. Erst im
zweiten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-
menologischen Philosophie wird er darauf aufmerksam werden, dass
nicht einmal die Idee des Transfiniten die Vorstellung einer geschlosse-
nen Totalität vom phänomenologischen Weltbegriff gänzlich fernhalten
kann. Nunmehr fasst er eine offene Unendlichkeit ins Auge, die er vom
Transfiniten unterscheidet. Ähnlich wie Aristoteles, aber unter völlig
verwandelten Denkbedingungen und mit andersartigen Denkmitteln
fragt er damit nach einer lebensweltlichen Sicht auf das Unendliche.
Bevor wir auf dieses Ringen mit Cantors Idee des Transfiniten ein-
gehen, wollen wir den langen Weg, der Husserl zu einer Phänomenolo-
gie des Unendlichen führte, in einigen Zügen nachzeichnen. Wir begin-
nen mit der Analyse des Zahlbegriffs, die in der Philosophie der
Arithmetik mit einer Kritik an der so genannten Äquivalenztheorie
der Zahl 186 verbunden wird.

1. Kritik an der Äquivalenztheorie der Zahl

Es handelt sich um eine Theorie, die jede einzelne Zahl (im Sinne von
Anzahl oder Kardinalzahl) als eine Äquivalenzklasse bestimmt. Zwei
Annahmen liegen dieser Bestimmung zugrunde. Erstens ist dabei mit
Äquivalenz eine gegenseitig eindeutige Zuordnung der Elemente zwei-
er Mengen oder, allgemeiner, zweier Klassen gemeint (wobei die Klas-
sen auch diejenigen Gesamtheiten umfassen, die keine Mengen, son-
dern z. B. inkonsistente Vielheiten bilden). Diese erste Annahme, die in
der Mengentheorie und damit in der gesamten Mathematik eine grund-

186 Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], Kap. VII, S. 111–125.

508
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

legende Rolle spielt, wird manchmal als das ›Hume’sche Prinzip‹ be-
zeichnet, weil sie bereits an einer Stelle der Treatise of Human Nature
genau formuliert wird. 187 Die zweite Annahme ist spezifischer. Sie be-
sagt, dass jede Anzahl als eine Klasse bestimmter Klassen aufgefasst
werden kann, die ihr – und damit auch paarweise untereinander – äqui-
valent sind. Diese zweite Annahme gründet sich auf ein Verfahren, das
in drei Schritte zerlegt werden kann. Erstens wählt man eine bestimmte
Klasse zum Ausgangspunkt, um dann zweitens weitere Klassen zu be-
trachten, die der ersten äquivalent sind, und schließlich drittens alle
derartigen Klassen in ihrer Gesamtheit als eine Klasse zu erfassen. Die
zuletzt erfasste Klasse nennt man ›Äquivalenzklasse‹, und man setzt sie
mit der zu definierenden Anzahl gleich. So hat etwa die Zahl vier als die
Klasse aller Klassen zu gelten, die vier Elemente haben und deren Ele-
mente ebendeshalb einander paarweise gegenseitig eindeutig zugeord-
net werden können.
Husserl bemerkt in der Philosophie der Arithmetik zu diesem Ver-
fahren: »Die so vollzogene Klassifikation aller erdenklichen Mengen ist
die schärfste, die man sich vorstellen kann.« 188 In der Tat gehört in die-
ser Klassifikation jede Menge zu einer Äquivalenzklasse, und sie gehört
zu keiner anderen. Folglich ist eine Äquivalenzklasse durch jede Menge,
die zu ihr gehört, bereits eindeutig bestimmt. Ebendeshalb kann gesagt
werden, dass die einzelnen Äquivalenzklassen für die verschiedenen
Anzahlen stehen. Obendrein können die verschiedenen Äquivalenz-
klassen in eine sukzessive Ordnung – also in eine Aufeinanderfolge –
gebracht werden. Jede Anzahl kann dann durch diejenige Äquivalenz-
klasse definiert werden, die ihr in der Aufeinanderfolge verschiedener
Äquivalenzklassen entspricht.
Die so entwickelte Äquivalenztheorie der Zahl war zur Abfas-
sungszeit der Philosophie der Arithmetik bereits weit verbreitet. Unter
ihren Vertretern finden wir nicht allein Gottlob Frege, sondern – neben
vielen anderen Logikern und Mathematikern – auch Richard Dedekind,
der für die Ausarbeitung eines mengentheoretischen Zahlbegriffs ne-
ben Cantor wohl das Meiste getan hat. Auch Cantor selbst fasst die

187 Hume, Treatise of Human Nature, Buch I, Teil III, Abschnitt 1, S. 119: »We are pos-

sest of a precise standard by which we can judge of the equality and proportion of num-
bers […]. When two numbers are so combin’d, as that the one has always an unite ans-
wering to every unite of the other, we pronounce them equal […].«
188 E. Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 112.

509
B. Das Unendliche der Welt

Zahlen als Äquivalenzklassen auf. Der junge Husserl tritt keinen Gerin-
geren als Frege 189 und Dedekind 190 entgegen, indem er diese Theorie
einer philosophischen Kritik unterwirft; mit Cantor, den er besonders
hoch schätzt, macht er allerdings eine Ausnahme, die er in einer Fuß-
note zur Philosophie der Arithmetik eigens zu begründen sucht. 191
Vom Gesichtspunkt mathematischer Formalität und Technizität
aus gesehen ist die Äquivalenztheorie der Zahl völlig einwandfrei und
wird auch heute allgemein akzeptiert. In den Jahren nach der Veröffent-
lichung der Philosophie der Arithmetik (1891) begreift Husserl selbst
zunehmend die mathematische Tragweite dieser Theorie. Nach dem
Zeugnis mancher Vorarbeiten zu dem von ihm damals geplanten zwei-
ten Band des Werkes akzeptiert er auch ihre Gültigkeit; besonders im
Falle unendlicher Mengen hält er sie für unentbehrlich, weil ja im Be-
reich des Unendlichen die Kardinalzahlen nicht mit den Ordnungszah-
len zusammenfallen und deshalb von diesen getrennt definiert werden
müssen. 192 Vom philosophischen Gesichtspunkt aus verdient aber Hus-
serls Auseinandersetzung mit den Anhängern der Äquivalenztheorie
der Zahl – und besonders mit Frege – dennoch unsere volle Aufmerk-
samkeit. Umso mehr, als sie sich auf einen durchaus nachvollziehbaren
Haupteinwand gründet. Husserl wirft den Anhängern der Äquivalenz-
theorie der Zahl vor, ›Zahlenaussagen‹ – wie etwa der Behauptung, es
seien in einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend – eine Bedeu-
tung zuzuschreiben, die ihnen in Wahrheit fremd ist. Es heißt in der
Philosophie der Arithmetik:
»Werden die Anzahlen als jene auf Äquivalenz gegründeten Relationsbegriffe
definiert, dann ginge doch jede Zahlenaussage anstatt auf die konkret vorlie-
gende Menge als solche immer nur auf Verhältnisse derselben zu anderen
Mengen. Dieser Menge eine bestimmte Zahl zuschreiben hieße, sie zu einer
bestimmten Gruppe untereinander äquivalenter Mengen klassifizieren, dies
ist aber ganz und gar nicht der Sinn einer Zahlenaussage.« 193
Diese kritische Bemerkung ist in der Tat durchaus nachvollziehbar, da in
einer einzelnen Zahlenaussage – wie etwa der Behauptung, es seien in
einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend – von einer unend-

189 Ebd., S. 118–122.


190
Ebd., S. 125, Anm. 1.
191
Ebd., S. 115, Anm. 2.
192
Husserl, »Zur Lehre vom Inbegriff« [Husserliana, Bd. XII], S. 403.
193 Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 116.

510
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

lichen Vielheit von Klassen, die ebenso viele Elemente haben wie die
Menge der in einem bestimmten Saal anwesenden Menschen und deren
Elemente den Elementen dieser Menge ebendeshalb paarweise gegen-
seitig eindeutig zugeordnet werden können, schlichtweg nicht die Rede
ist. Dieser Einwand zeigt, was in dieser Debatte – und besonders in
Husserls Auseinandersetzung mit Frege – eigentlich auf dem Spiel
steht: Es geht um die Grundsätze, die bestimmen, wie eine Bedeutungs-
analyse von Zahlenaussagen durchgeführt werden soll.
Dieser Einsatz gibt der in der Philosophie der Arithmetik dargeleg-
ten Kritik an der Äquivalenztheorie der Zahl ein besonders großes Ge-
wicht. Frege und Husserl sind die Urheber der beiden Strömungen, die
in der Philosophie des 20. Jahrhunderts vorherrschend geworden sind,
und der Gegensatz der beiden Strömungen erwächst – das hat Michael
Dummett in seinem ansonsten eher umstrittenen Buch über die Ur-
sprünge der analytischen Philosophie wohl richtig erkannt 194 – gerade
aus dem Unterschied zwischen den jeweiligen Vorgehensweisen, auf die
sie sich in der Bedeutungsanalyse stützen. Deshalb ist es höchst auf-
schlussreich, der Frage nachzugehen, wie Husserl in der Periode von
der Philosophie der Arithmetik bis zu den Logischen Untersuchungen
einen phänomenologischen Zugang zur Bedeutung von Zahlenaussa-
gen fand und wie er diesen Zugang von dem Weg zu unterscheiden
suchte, den Frege in seinen Grundlagen der Arithmetik (1884) betreten
hatte und der in der im Anschluss an ihn entwickelten analytischen
Philosophie – von Russell zu Austin und weiter – von vielen Denkern
befolgt werden sollte.
Der Sache nach nimmt Freges Weg von der Äquivalenztheorie der
Zahl seinen Ausgang. Allerdings werden Äquivalenzklassen in den
Grundlagen der Arithmetik nicht ausdrücklich erwähnt; Frege nennt
nur ›Begriffe‹, weil er davon überzeugt ist, dass Zahlen nicht von Ge-
genständen, sondern von Begriffen ausgesagt werden. Nach dieser Deu-
tung wird zum Beispiel die Zahl vier in der Behauptung, es seien in
einem bestimmten Saal vier Menschen anwesend, vom Begriff ›Men-
schen in einem bestimmten Saal‹ ausgesagt. Das ist der Grund dafür,
dass Frege in § 68 seiner Grundlagen der Arithmetik »[d]ie Anzahl,
welche dem Begriff F zukommt«, zu definieren sucht. 195 Wird diese

194
Michael Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, übersetzt von Joachim
Schulte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
195 Gottlob Frege, Grundlagen der Arithmetik, Stuttgart: Reclam 1987, S. 100.

511
B. Das Unendliche der Welt

Anzahl dann von ihm als »der Umfang des Begriffes ›gleichzahlig dem
Begriffe F‹« definiert, 196 so ist diese Definition offensichtlich der Äqui-
valenztheorie der Zahl verpflichtet; denn der Umfang des Begriffes
›gleichzahlig dem Begriffe F‹ ist nichts anderes als die Äquivalenzklasse,
zu der die dem Begriff F zukommende Anzahl gehört.
Husserl verwirft diese Definition aus verschiedenen Gründen. Ers-
tens und vor allem deshalb, weil sie den Sinn der Zahlenaussagen ge-
nauso verfehlt wie andere Fassungen der Äquivalenztheorie. Husserl
hält das Verfahren, das zur Gleichsetzung der Anzahlen mit Äquiva-
lenzklassen führt, für überaus künstlich. Er findet seltsam, dass die An-
hänger der Äquivalenztheorie überhaupt auf die Idee verfallen sind, von
einer gegebenen Menge mit vier Elementen zu einer unendlichen Viel-
heit anderer Mengen mit vier Elementen überzugehen und letztlich
sogar alle Mengen mit vier Elementen in einer einzigen Äquivalenz-
klasse zusammenzufassen. Er formuliert gegen dieses Verfahren den
Einwand, dass es notwendig eine »extrem-relativistische Theorie« 197
zur Folge hat, da es den Sinn der Zahlenaussagen in einem Netzwerk
von Äquivalenzrelationen auflöst, die mit diesem Sinn nichts zu tun
haben. Husserl hat aber auch weitere Gründe, Freges Definition der
Anzahl zu verwerfen. Diese Definition steht im Dienst des Logizismus,
den Frege in der Philosophie der Mathematik vertritt. Husserl lehnt
aber den Logizismus von vornherein ab. Er beurteilt die Zielsetzung,
die Mathematik auf die Logik zurückzuführen, geradezu als »chimä-
risch«. 198 Dazu kommt drittens, dass Husserl sich weigert, eine Bestim-
mung, die nur den Umfang eines Begriffs festlegt, ohne auf seinen In-
halt einzugehen, 199 überhaupt für eine Definition zu halten.
In seinem eigenen Versuch, den Sinn der Zahlenaussagen zu ent-
schlüsseln, hält sich Husserl an die Euklidische Definition der Zahl,
indem er diese als eine Vielheit von Einheiten zu begreifen sucht. Die
Bestandteile dieser Definition – ›Einheit‹ und ›Vielheit‹ – betrachtet er
als undefinierbare Grundbegriffe. In der Philosophie der Arithmetik
heißt es dazu:
»Definieren kann man doch nur das logisch Zusammengesetzte. Sobald wir
auf die letzten, elementaren Begriffe stoßen, hat alles Definieren ein Ende.

196
Ebd.
197
E. Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 115.
198
Ebd., S. 120.
199 Ebd., S. 122.

512
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Begriffe wie Qualität, Intensität, Ort, Zeit u. dgl. kann niemand definieren.
Und dasselbe gilt von den elementaren Relationen und den auf sie gegründe-
ten Begriffen. Gleichheit, Ähnlichkeit, Steigerung, Ganzes und Teil, Vielheit
und Einheit usw. sind Begriffe, die einer formal-logischen Definition gänzlich
unfähig sind.« 200
Allerdings kann man auch derartige Begriffe klären, verdeutlichen und
erläutern. Das ist gerade der Zweck, den Husserl sich in der Philosophie
der Arithmetik setzt. Zu diesem Zweck will er die Begriffe ›Einheit‹ und
›Vielheit‹ allerdings nicht allein »durch verschiedene Umschreibungen
[…] scharf umgrenzen«, um so »Verwechslungen derselben mit ver-
wandten Begriffen vor[zu]beugen«, sondern er ist auch darum bemüht,
»die konkreten Phänomene« aufzuweisen, »aus denen oder an denen sie
abstrahiert sind«. 201 Er bezeichnet diese Phänomene als die ›Grundlagen
der Abstraktion‹ – oder auch als ›Abstraktionsfundamente‹ – und ver-
sucht, »die Art dieses Abstraktionsvorganges« ebenfalls zu bestim-
men. 202 Damit legt er zum ersten Mal – und zunächst eben nur ansatz-
weise – die Grundsätze fest, die einer Bedeutungsanalyse ein phänome-
nologisches Gepräge verleihen. Allerdings wird er erst später, in den
Logischen Untersuchungen klarstellen, dass mit Abstraktion in der
Phänomenologie niemals eine empirische, sondern immer eine ideative
Abstraktion gemeint ist.

2. Das Abstraktionsfundament des Begriffs der Zahl

Der euklidischen Definition entsprechend fasst Husserl die Zahl als eine
›Vielheit von Einheiten‹ auf, und er setzt hinzu, dass statt Vielheit auch
Termini wie »Mehrheit, Inbegriff, Aggregat, Sammlung, Menge« ge-
braucht werden können. 203 Seine Aufgabe sieht er darin, den eigentüm-
lichen Charakter derjenigen Vielheit oder Menge zu bestimmen, die auf
diese Weise mit der Anzahl gleichgesetzt wird. Diese Aufgabe macht
nach ihm die Klärung des Sinnes von Begriffen wie ›Vielheit‹ und ›An-
zahl‹ erforderlich.204 Um diese Begriffe zu klären, gilt es, wie er meint,

200
Ebd., S. 119.
201 Ebd.
202
Ebd.
203
Ebd., S. 14.
204
Ebd., S. 84: »Aufklärung des Sinnes der ›Formbegriffe oder Kategorien‹ ›Vielheit und
Anzahl‹«.

513
B. Das Unendliche der Welt

zwei Fragen zu beantworten: Die erste Frage bezieht sich auf die Ein-
heiten, aus denen die als Anzahl bestimmte Vielheit oder Menge be-
steht, die zweite auf die Beziehung (oder Relation), die in ihr diese Ein-
heiten miteinander verbindet.
Die Antwort auf die erste Frage ist, dass die in Rede stehenden
Einheiten keine spezifische Eigenschaft aufweisen, sondern beliebig ge-
wählt werden können. Um diese Behauptung zu verdeutlichen, führt
Husserl ein etwas bizarres Beispiel an: Ein Gefühl, ein Engel, der Mond
und Italien bilden eine Vielheit von Einheiten, die den Erfordernissen
des Zahlbegriffs vollkommen Genüge tut. 205 Dieses Beispiel erinnert an
Leibniz, der deutlich machen wollte, dass sich die Zahlen keineswegs
allein auf physikalische Körper, sondern auch auf Unkörperliches an-
wenden lassen und dabei die Zahl letztlich als eine unkörperliche Figur
bestimmte, die durch die Vereinigung völlig ungleichartiger Dinge, wie
etwa Gott, ein Engel, ein Mensch und eine Bewegung es sind, entstehen
kann. 206
Da die Einheiten beliebig gewählt werden können, kann die als
Anzahl bestimmte Vielheit eine abstrakte Vielheit genannt werden.
Husserl fügt hinzu, dass jede der Einheiten, aus denen diese Vielheit
besteht, nur als ein Etwas überhaupt in Betracht kommt. Auf welche
Grundlage stützt sich jedoch der Abstraktionsvorgang, der zu einer
Vielheit beliebig gewählter Etwas führt? Zu dieser Fragestellung lässt
sich Husserl durch eine Überzeugung hinleiten, die er auf folgende
Weise formuliert: »Kein Begriff kann gedacht werden ohne Fundierung
in einer konkreten Anschauung.« 207 Wie sieht aber die konkrete An-
schauung aus, die der Bildung des Zahlbegriffs als Abstraktionsfun-
dament zugrunde liegt?
Offenbar ist sie eine Anschauung, die ihre Eigentümlichkeit nicht
der Natur der einzelnen Einheiten zu verdanken hat, aus denen die als
Anzahl bestimmte Vielheit besteht, sondern einzig und allein der Art
und Weise, wie diese Einheiten miteinander verknüpft sind. Damit sind
wir bereits bei der zweiten Frage angelangt, die sich auf die spezifische
Verknüpfungsart der Einheiten in der als Anzahl bestimmten Vielheit
bezieht. Husserl bezeichnet die gesuchte Verknüpfungsart als kollektive
Verbindung und versucht sie mit Hilfe von Franz Brentanos Unter-

205
Ebd., S. 16.
206
Ebd.
207 Ebd., S. 79.

514
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

scheidung zwischen ›physischen‹ und ›psychischen Phänomenen‹ von


anderen Beziehungsarten abzuheben. Er verwendet also die Brenta-
no’sche Unterscheidung dazu, eine Relationstheorie zu entwickeln, in-
dem er den physischen oder primären Verhältnissen psychische oder
sekundäre Beziehungen gegenüberstellt. Wie Brentano in seiner Unter-
scheidung zwischen physischen und psychischen Phänomenen stützt
sich Husserl auf »das Merkmal intentionaler Inexistenz«, um psy-
chische Relationen von den physischen zu trennen. 208 Die kollektive
Verbindung, die Husserl zur Bestimmung des Zahlbegriffs verwendet,
ist aber ebendeshalb einzig und allein in dem Sinne eine ›psychische‹
Relation, dass sie lediglich als Korrelat eines intentionalen Aktes mög-
lich ist.
Dieser Deutungsansatz wird verständlicher, sobald die kollektive
Verbindung von vergleichbaren Beziehungen abgehoben wird. Ver-
gleichbar mit der kollektiven Verbindung sind alle Beziehungen, die
konstitutiv für ein Ganzes sind, das nicht durch die eigentümliche Na-
tur seiner Teile voll bestimmt ist. Husserl betrachtet mehrere Relatio-
nen dieser Art. Die interessantesten unter ihnen sind die ›stetige‹ oder
›kontinuierliche‹ Verbindung und die ›metaphysische‹ Verbindung.
Das Ganze, dessen Teile durch eine kontinuierliche Verbindung
zusammengehalten werden, ist das Kontinuum, von dem in anderem
Zusammenhang bereits ausführlich die Rede war. Ein Kontinuum ist
eine Vielheit, die aus Einheiten ganz verschiedener Natur bestehen
kann. Reelle Zahlen bilden, wie wir gesehen haben, genauso ein Kon-
tinuum wie die Punkte des Raumes oder die Augenblicke der Zeit.
Gleichwohl ist das Kontinuum von der Natur seiner Bestandteile nicht
in jeder Hinsicht unabhängig. Das zeigt sich daran, dass beliebig ge-
wählte Elemente nicht notwendig ein Kontinuum bilden.
Ähnlich ist es mit der ›metaphysischen‹ Verbindung bestellt. Im
Anschluss an Franz Brentano und Carl Stumpf nimmt Husserl eine
notwendige, wenngleich nicht analytische oder logische Verbindung
zwischen gewissen Merkmalen eines materiellen Dinges, so etwa zwi-
schen Ausdehnung und Farbe an. Jede Farbe ist Eigenschaft einer aus-
gedehnten Oberfläche, und jede ausgedehnte Oberfläche hat irgendeine
Farbe. (Die zweite Hälfte dieser Aussage besteht zwar natürlich nur
dann zu Recht, wenn auch durchsichtige Oberflächen für farbig gehal-
ten werden, aber damit ist nichts Unerhörtes gefordert, da zum Beispiel

208 Ebd., S. 70, Anm. 1.

515
B. Das Unendliche der Welt

von weißem und schwarzem oder auch von grünem und braunem Glas
durchaus sinnvoll die Rede sein kann.) Eine derartige Verbindung
nennt Husserl ›metaphysisch‹. Gewiss sind aber nicht allein Ausdeh-
nung und Farbe, sondern auch andersartige Elemente durch eine meta-
physische Relation aneinandergebunden. Derartige Beziehungen gibt
es auch nicht allein im Bereich materieller Dinge. Husserls Phänome-
nologie der intentionalen Akte dreht sich beinahe im Ganzen um meta-
physische Verbindungen. So steht, um nur ein einziges Beispiel anzu-
führen, etwa die Erinnerung in einem notwendigen, aber nicht
analytischen oder logischen Verhältnis mit der ehemaligen Wahrneh-
mung, die sie wachruft. Gleichwohl ist die metaphysische Verbindung
von der Natur derartiger Elemente nicht in jeder Hinsicht unabhängig.
Das geht daraus hervor, dass beliebig gewählte Elemente nicht notwen-
dig auf diese Weise miteinander verbunden sind.
Darin stimmt die metaphysische Verbindung mit der stetigen
(oder kontinuierlichen) Verbindung gänzlich überein. Gerade deshalb
können sie beide zur Gruppe der physischen oder primären Relationen
gerechnet werden, und zwar ungeachtet dessen, ob sie im Bereich ma-
terieller Dinge oder im Bereich intentionaler Akte bestehen. ›Physisch‹
oder ›primär‹ heißt hier nur: ›abhängig von der Natur der miteinander
verbundenen Elemente‹.
Dagegen ist die kollektive Verbindung, wie wir bereits gesehen
haben, von der Natur der durch sie verbundenen Elemente gänzlich
und in jeder Hinsicht unabhängig. Werden beliebig gewählte Elemente
– wie etwa ein Gefühl, ein Engel, der Mond und Italien – auch nur in
Gedanken zusammengestellt, so sind sie bereits durch eine kollektive
Verbindung zusammengehalten. Dieses bizarre Beispiel zeigt jedoch
zugleich, dass der Gedanke – oder, allgemeiner, ein intentionaler Akt
überhaupt – nicht allein hinreichend, sondern auch notwendig für eine
kollektive Verbindung ist. Eine derartige Beziehung unterscheidet sich
von physischen und primären Relationen gerade darin, dass sie nur als
Korrelat eines intentionalen Aktes möglich ist.
Husserl hält das Ergebnis dieser Betrachtung fest, indem er den
Unterschied zwischen den beiden Beziehungsarten auf folgende Weise
hervortreten lässt:
»Indem wir die Fundamente vorstellen, ist in dem ersteren Falle die Relation
unmittelbar mitgegeben als Moment desselben Vorstellungsinhaltes. In dem
zweiten Falle aber, dem der psychischen Relation, bedarf es zur Vorstellung

516
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

der Relation erst eines auf den beziehenden Akt reflektierenden Vorstellens.
Der unmittelbare Inhalt der letzteren ist der die Beziehung stiftende Akt, und
erst vermittels dieses geht es auf die Fundamente. Die bezogenen Inhalte und
die Relation bilden so gewissermaßen Inhalte verschiedener Stufe.« 209
Aus diesen Zeilen geht hervor, dass Husserl in der Philosophie der
Arithmetik den Begriff der psychischen oder sekundären Beziehung
aus einer Reflexion auf den beziehungsstiftenden Akt ableitet. Um das
Abstraktionsfundament zu entdecken, das dem Begriff der Zahl zu-
grunde liegt, gilt es demnach, auf den intentionalen Akt kollektiver
Verbindung zu reflektieren, das heißt auf ihn zu achten oder auch sich
auf ihn zu besinnen. Es gilt also, die physischen Phänomene auf sich
beruhen zu lassen, das Interesse von ihnen abzuziehen und sich in re-
flexiver Einstellung einem psychischen Phänomen zuzuwenden. Nur so
kann der »psychologische Ursprung« 210 des Zahlbegriffs herausgefun-
den werden.
Bekanntlich hat Frege als Erster an dieser Vorgehensweise Anstoß
genommen. In seiner Rezension der Philosophie der Arithmetik warf er
Husserl mit beißendem Hohn vor, »eine Mischung aus Psychologie und
Logik« hergestellt und so mit einer modischen »Lauge« aufgewartet zu
haben. 211 Nachdem dieser Psychologismuseinwand von Frege gegen die
Philosophie der Arithmetik einmal erhoben worden war, wurde es – wie
Jitendranath Mohanty zu Recht bemerkt Рgeradezu ȟblich, dem Werk
von Husserl einen querköpfig psychologistischen Standpunkt zuzueig-
nen, von dem sich Husserl später, so lautet die Legende, zum Teil gerade
unter dem Einfluss von Frege losgemacht habe«. 212 Selbst noch in Mi-
chael Dummetts Buch Ursprünge der analytischen Philosophie aus
dem Jahre 1988 steht ein Satz darüber, dass Husserl in der Philosophie
der Arithmetik »zunächst psychologistische Ansichten vertreten hatte,
die er später fallenließ, um dann den Psychologismus besonders heftig
zu befehden« 213, wenn auch zu dieser Zeit nicht mehr hinzugefügt wird,
dass Freges Besprechung den ersten Anstoß zu Husserls Meinungs-
änderung gegeben habe.

209
Ebd., S. 69 f.:
210
Siehe ebd., S. 91.
211 Gottlob Frege, »Rezension von: E. G. Husserl, Philosophie der Arithmetik«, in: Klei-

ne Schriften, hg. von I. Angelelli, Hildesheim: Olms 1967, S. 181.


212
Jitendranath Mohanty, The Philosophy of Edmund Husserl. A Historical Develop-
ment, New Haven and London: Yale University Press 2008, 2 Bände, Bd. I, S. 4; vgl. S. 19 f.
213 Dummett, Ursprünge der analytischen Philosophie, S. 34.

517
B. Das Unendliche der Welt

In der Tat hatte Mohanty – unter gelegentlicher Bezugnahme auf


Dallas Willard und sich damals vor allem mit Dagfinn Føllesdal aus-
einandersetzend – bereits in seinem Buch Husserl and Frege aus dem
Jahre 1982 deutlich gezeigt, dass der Philosophie der Arithmetik kein
logischer Psychologismus im Sinne von Frege zugeschrieben werden
kann und dass keineswegs Freges Besprechung Husserl dazu bewogen
hat, mit dem Psychologismus in der Logik abzurechnen. 214 Unleugbar
versucht Husserl in der Philosophie der Arithmetik, den ›psychologi-
schen Ursprung‹ mathematischer Begriffe zu enthüllen. Aber er meint
keineswegs, dass die als Anzahl bestimmte Vielheit oder Menge bloß
eine Vorstellung in unserem Geist sei. Er vermengt die mathematischen
Gegenstände nicht mit den Vorstellungen, die wir von ihnen haben. Er
hält auch nicht etwa die logischen Gesetze für empirische Gesetze des
menschlichen Geistes. Deshalb ist es nicht begründet, ihm einen logi-
schen Psychologismus im Sinne von Frege zuzuschreiben. Gewiss ist es
wahr, dass er eine Reflexion auf den intentionalen Akt kollektiver Ver-
bindung in Anspruch nimmt, um den psychologischen Ursprung des
Zahlbegriffs aufzudecken, aber es ist nicht weniger wahr, dass er diesem
Vorgehen eine ganz bestimmte Funktion zuweist, indem er sich von
ihm die Bestimmung des Abstraktionsfundaments verspricht, auf das
wir uns in der Bildung des Zahlbegriffs stützen. Dabei unterscheidet er
jedoch die abstrakte Vielheit, mit der die Anzahl gleichgesetzt wird,
sowohl von dem beziehungsstiftenden Akt als auch von der Rückbesin-
nung auf ihn.
Frege geht ebendeshalb in seiner Kritik viel zu weit. Daher entbehrt
aber auch die Vermutung, diese Kritik habe Husserl entscheidend dazu
angeregt, sich gegen den Psychologismus zu wenden, jeglicher Grund-
lage. Ebenso grundlos ist die Ansicht, die Besprechung von Frege habe
Husserl mit der Unterscheidung zwischen Vorstellung, Bedeutung oder
Sinn und Gegenstandsbeziehung überhaupt erst bekanntgemacht. In
Wahrheit ist Husserl diese Unterscheidung, wie seine Rezension über
Ernst Schröders Vorlesungen über die Algebra der Logik zeigt, schon
vor der Abfassungszeit von Freges Besprechung durchaus geläufig. 215

214
Jitendranath Mohanty, Husserl and Frege, Bloomington: Indiana University Press
1982, S. 20–26.
215
E. Husserl, »[Besprechung von] Schröder, Ernst, Vorlesungen über die Algebra der
Logik«, in: Göttingsche gelehrte Anzeigen, 2, Nr. 7 (1891), S. 243–278; enthalten auch
in: Edmund Husserl, Aufsätze und Rezensionen (1890–1910) [Husserliana, Bd. XXII],
hg. von Bernhard Rang, The Hague, Boston und London: Martinus Nijhoff, 1979, S. 3–43.

518
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Wenn man in der Philosophie der Arithmetik dennoch einen ge-


wissen Psychologismus entdecken kann, so handelt es sich dabei nicht
um einen logischen, sondern um einen kategorialanalytischen Psycho-
logismus, dem der Frege’sche Ansatz nicht abhelfen kann. Einem wahr-
haft psychologistischen Standpunkt bleibt Husserl tatsächlich nur in
der Deutung der Kategorien verhaftet, zu denen sich Frege jedoch gar
nicht äußert. In der Philosophie der Arithmetik werden Begriffe wie
›Etwas‹ und ›Eins‹, ›Vielheit‹ und ›Anzahl‹, ›Unterschied‹ und ›Identität‹
usw. als »Formbegriffe oder Kategorien« bezeichnet. 216 Nach Husserl
kommt den Kategorien eine formale – oder auch transgenerische – All-
gemeinheit zu, da sie »nicht Begriffe von Inhalten bestimmter Gattung
sind, sondern in gewisser Art alle und jede Inhalte in sich befassen«. 217
Wie ist aber diese formale oder transgenerische Allgemeinheit der Ka-
tegorien überhaupt möglich? Husserls Antwort auf diese Frage bringt
den eigentümlich kategorialanalytischen Psychologismus der Philoso-
phie der Arithmetik ans Licht: »Ihr allumfassender Charakter findet
seine einfache Erklärung darin, daß sie Begriffe von Attributen sind,
welche in Reflexion auf psychische Akte entstehen, die an allen Inhalten
ohne Ausnahme geübt werden können.« 218 In den Logischen Unter-
suchungen wird diese Auffassung von den Kategorien einer grundsätz-
lichen Kritik unterzogen werden.
Im nächsten Abschnitt wollen wir uns diese Kritik näher ansehen.
Bevor wir jedoch zu den Logischen Untersuchungen übergehen, soll
noch hervorgehoben werden, dass die gesamte Untersuchung über
den Zahlbegriff in der Philosophie der Arithmetik als eine Kategorial-
analyse gemeint ist. Darin liegt ein weiterer – der Reihenfolge nach
vierter – Grund für Husserl, die Äquivalenztheorie der Zahl zu verwer-
fen: Denn sie gibt keine Rechenschaft vom Kategoriencharakter der
Zahl. Dieser Einwand kann auch gegen die Frege’sche Fassung dieser
Theorie erhoben werden. Husserl zeigt dies in seiner Analyse des § 72
von Freges Grundlagen der Arithmetik. In diesem Paragraphen wird
der Begriff der Gleichzahligkeit eingeführt. Frege bestimmt den Begriff
der Gleichzahligkeit der Begriffe F und G wie folgt: »Es gibt eine Be-
ziehung φ, welche die unter den Begriff F fallenden Gegenstände den
unter den Begriff G fallenden Gegenständen beiderseits eindeutig zu-

216
Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 84.
217
Ebd.
218 Ebd., S. 85.

519
B. Das Unendliche der Welt

ordnet.« 219 Diese Definition erlegt der Beziehung φ keine Einschrän-


kung auf. Husserl wendet ein, dass die Beziehung φ in Wahrheit auf
jeden Fall eine kollektive Verbindung und damit eine psychische (se-
kundäre) Relation sein muss. 220 Als Kategorie ist der Begriff der Anzahl
ein transgenerischer Formbegriff; er kann deshalb auf keine physische
oder primäre Relation gegründet werden, da eine derartige Relation
immer nur zwischen Elementen bestimmter Natur bestehen kann. Ge-
wiss schreibt auch Frege dem Zahlbegriff stillschweigend einen forma-
len und transgenerischen Charakter zu. Aber nach Husserls Vorwurf
versäumt er, die Bedingung anzugeben, unter der die Beziehung φ den
sich daraus ergebenden Erfordernissen entsprechen kann. In manchen
Fällen kann zum Beispiel ein metaphysische Verbindung dazu verwen-
det werden, eine gegenseitig eindeutige Zuordnung zwischen den Um-
fängen zweier Begriffe zu etablieren. So können etwa Gestalten und
Farben einander auf diese Weise zugeordnet werden, wobei etwa Kreis-
förmig und Rot, Quadratisch und Grün, Rechteckig und Gelb usw.
paarweise miteinander verknüpft werden. Dieser Zuordnung liegt die
metaphysische Verbindung zwischen Ausdehnung und Farbe zugrun-
de. Daraus folgt aber keineswegs, dass diese metaphysische Verbindung
konstitutiv für die Anzahl der miteinader verknüpften Paare sein könn-
te. Husserl vermisst bei Frege diese grundlegende Einsicht in den kate-
gorialen Charakter des Anzahlbegriffs. Tatsächlich läßt der Text der
Grundlagen der Arithmetik als Konkretisationen von φ grundsätzlich
alle Beziehungen zu, die eine gegenseitig eindeutige Zuordnung zwi-
schen dem Umfang des Begriffs F und dem Umfang des Begriffs G
etablieren. Daraus ergibt sich aber nach Husserl die Ungereimtheit,
dass »es ebenso viele Arten von Gleichzahligkeit und demgemäß auch
von Anzahlbegriffen geben müsse, als begrifflich verschiedene Arten
von eindeutig-zuordnenden Relationen denkbar sind«. 221 Das ist in
der Tat eine unsinnige Konsequenz, da die Anzahl, wie Husserl zu zei-
gen sucht, eine Kategorie ist, die als transgenerischer Formbegriff ma-
teriale Attribute – wie etwa Gestalt und Farbe in unserem vorigen Bei-
spiel – von der Betrachtung von vornherein ausschließt. Gegenstände,
die einander zwar gegenseitig eindeutig zugeordnet sind, aber abge-
sehen von dieser einzigen Bedingung in ihrer Auswahl keiner anderen

219
Frege, Grundlagen der Arithmetik, S. 105.
220
Husserl, Philosophie der Arithmetik [Husserliana, Bd. XII], S. 107.
221 Ebd., S. 107, Anm. 1.

520
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Einschränkung unterworfen werfen, gehören miteinder ausschließlich


als Gegenstände eines intentionalen Aktes zusammen. Unter ihnen
kann keine andere Beziehung bestehen als eben nur die kollektiver
Verbindung.
Diese Einwände gegen Freges Äquivalenztheorie der Zahl haben
ihr Gewicht. Husserl wird deshalb auch in der Periode, in der er die rein
mathematische Bedeutung der Äquivalenztheorie schon deutlicher
sieht als in der Philosophie der Arithmetik, an seiner Lehre von der
kollektiven Verbindung durchaus festhalten. Aber er wird mittlerweile
einsehen, dass seine ursprüngliche Auffassung von den Kategorien
nicht stichhaltig war. Die Schwäche der Philosophie der Arithmetik er-
gibt sich nicht daraus, dass Husserl in diesem Werk von einer Reflexion
auf intentionale Akte ausgeht, um zu einer Klärung des Zahlbegriffs zu
gelangen, sondern daraus, dass er die intentionalen Akte als solche noch
nicht ohne gewisse Zweideutigkeiten zu beschreiben vermag. Dazu
kommt, dass er von Abstraktion spricht, ohne dabei das Moment der
Ideation vom Moment selektiver Aufmerksamkeit zu unterscheiden.
Kennt man die Logischen Untersuchungen, so bemerkt man leicht, dass
Husserl in der Philosophie der Arithmetik noch nicht über die nötigen
Denkmittel verfügt, eine kategoriale Gegenständlichkeit und den ent-
sprechenden intentionalen Akt terminologisch auseinanderzuhalten. In
Ermangelung derartiger Denkmittel schleichen sich jedoch immer wie-
der Zweideutigkeiten in die Erörterung intentionaler Akte ein. Selbst
die zentrale These des Werkes, der zufolge eine Reflexion auf den Akt
kollektiver Verbindung das Abstraktionsfundament zur Bildung des
Zahlbegriffs ist, bleibt von solchen Zweideutigkeiten nicht unbetroffen.
Im Licht der späteren Entwicklung phänomenologischer Intentionali-
tätsanalyse sieht man nämlich von vornherein, dass damit eigentlich
nicht die Reflexion auf diesen Akt selbst, sondern die Reflexion auf das
gegenständliche Korrelat dieses Aktes gemeint ist. Auf jeden Fall eignet
sich die abstrakte Vielheit oder Menge vier beliebig gewählter Elemente
(wie die eines Gefühls, eines Engels, des Mondes und von Italien) viel
besser dazu, als Abstraktionsfundament zur Bildung des Zahlbegriffs
vier zu dienen, als der entsprechende psychische Akt. Aber erst nach
der Veröffentlichung der Philosophie der Arithmetik gelangt Husserl
dazu, zwischen Akt und Aktinhalt systematisch und terminologisch zu
unterscheiden und dabei auch die verschiedenen Momente des Akt-
inhalts wie Sinn oder Bedeutung und Gegenstandsbezug auseinander-
zuhalten. Schon im Jahre 1891 begann der Prozess, der ihn zu diesen

521
B. Das Unendliche der Welt

intentionalanalytischen Distinktionen führen sollte; aber es kostete ihn


noch zehn volle Jahre, sie mit der nötigen Umsichtigkeit zu einer um-
fassenden Intentionalitätstheorie auszubauen.

3. Die Zahl als Gegenstand kategorialer Anschauung

In der VI. Logischen Untersuchung bringt Husserl einen Grundfehler


in der Deutung der Kategorien zur Sprache, der, wie wir ohne Schwie-
rigkeiten erkennen können, auch seinem eigenen kategorialanalyti-
schen Psychologismus der Philosophie der Arithmetik zugrunde lag.
In § 44 des Textes schreibt er diesen Fehler einer ganzen Strömung der
neuzeitlichen Philosophie zu: »Es ist eine naheliegende, seit Locke all-
gemein verbreitete, aber grundirrige Lehre, daß […] die logischen Ka-
tegorien [–] wie Sein und Nichtsein, Einheit, Mehrheit, Allheit, Anzahl,
Grund, Folge usw. – durch Reflexion auf gewisse psychische Akte, also
im Gebiete des inneren Sinnes, der ›inneren Wahrnehmung‹ entsprin-
gen.«222 Dieser grundirrigen Lehre, der auch er selbst in der Philosophie
der Arithmetik verpflichtet war, setzt er nun eine neue Einsicht ent-
gegen: »[…] nicht in diesen Akten als Gegenständen, sondern in den
Gegenständen dieser Akte finden wir das Abstraktionsfundament für
die Realisierung der besagten Begriffe […].« 223 Damit entwickelt Hus-
serl eine verwandelte Auffassung vom Ursprung der Kategorien. Von
einem ›psychologischen Ursprung‹ von Begriffen wie Vielheit und An-
zahl ist dabei nicht mehr die Rede. In der VI. Logischen Untersuchung
berichtigt Husserl eine Grundidee seiner Philosophie der Arithmetik,
indem er deutlich macht, dass nicht die Reflexion auf einen psychischen
Akt, sondern die Reflexion auf den Gegenstand dieses Aktes einer Ka-
tegorie wie dem transgenerischen Formbegriff ›Zahl‹ als Abstraktions-
fundament zugrunde liegt.
Aus diesen allgemeinen Überlegungen zieht Husserl in der VI. Lo-
gischen Untersuchung einen Schluss, der sich unmittelbar auf die Ka-
tegorie des Inbegriffes (das heißt auf die der Vielheit oder der Menge)
bezieht:
»Ein Inbegriff z. B. ist gegeben und kann nur gegeben sein in einem aktuellen
Zusammenbegreifen, also in einem Akte, der in der Form der konjunktiven

222
Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Untersuchung, Bd. II/2, S. 139.
223 Ebd., S. 141.

522
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Verbindung A und B und C … zum Ausdruck kommt. Aber der Begriff des
Inbegriffs erwächst nicht durch Reflexion auf diesen Akt; statt auf den geben-
den Akt haben wir vielmehr auf das, was er gibt, auf den Inbegriff, den er in
concreto zur Erscheinung bringt, zu achten und seine allgemeine Form ins
allgemeinbegriffliche Bewußtsein zu erheben.« 224
An dieser Stelle macht Husserl deutlich, dass nicht die Reflexion auf
den Akt kollektiver Verbindung, sondern die Reflexion auf den Gegen-
stand dieses Aktes dem Zahlbegriff als Abstraktionsfundament zugrun-
de liegt.
Diese Korrektur seiner früheren Ansicht wird dadurch möglich,
dass die Zweideutigkeiten, die in der Philosophie der Arithmetik der
intentionalanalytischen Begriffsklärung noch anhafteten, in den Logi-
schen Untersuchungen Schritt für Schritt behoben werden. Es ist loh-
nenswert, einen Blick auf die wichtigsten Unterscheidungen zu werfen,
die zu diesem Zweck in der V. und der VI. Logischen Untersuchung
eingeführt werden.
Der erste Schritt ist die Unterscheidung von Akt und Aktinhalt
überhaupt. In einem zweiten Schritt wird dann der Aktinhalt zerglie-
dert. Ähnlich wie Frege ›Sinn‹ und ›Bedeutung‹ (oder, richtiger, Sinn
und Gegenstandsbezug) unterscheidet Husserl ›intentionale Materie‹
und ›intentionalen Gegenstand‹ voneinander. Er trennt aber vom Akt-
vollzug noch weitere Momente ab, die er in dem Begriff der ›intentio-
nalen Qualität‹ oder ›Aktqualität‹ zusammenfasst, um schließlich die
Aktqualität mit der Aktmaterie im Begriff des ›intentionalen Wesens‹
zu vereinigen. Diese Unterscheidungen sind auch für die Kategorialana-
lyse der VI. Logischen Untersuchung von grundlegender Bedeutung.
Deshalb verdienen sie unsere volle Aufmerksamkeit.
Was zunächst den intentionalen Gegenstand eines Bewusstseins-
aktes betrifft, so ist Husserl der Erste, der deutlich sieht, dass die inten-
tionale Beziehung auf einen Gegenstand nicht etwa ein Verhältnis zwi-
schen zwei aktuell existierenden Entitäten ist. Diese Einsicht macht in
den Logischen Untersuchungen einen Bruch mit Brentanos Idee einer
›mentalen‹ oder ›intentionalen Inexistenz‹, auf die sich die Unterschei-
dung zwischen physischen und psychischen Relationen in der Philoso-
phie der Arithmetik stützte, nicht nur möglich, sondern nunmehr auch
unvermeidbar. Brentano nahm eine mentale oder intentionale Inexis-
tenz des jeweils intendierten Gegenstandes an, weil er einerseits davon

224 Ebd., S. 141 f.

523
B. Das Unendliche der Welt

ausging, dass die intentionale Beziehung – wie jede regelrechte Relation


– ein Verhältnis zwischen zwei aktuell existierenden Entitäten sei, an-
dererseits aber bemerkte, dass der jeweils intendierte Gegenstand eines
intentionalen Aktes nicht notwendig aktuell existiert. Daher forderte er
zu jedem intentionalen Akt ein intentionales Objekt mit innermentaler
Existenz (das ist mit ›intentionaler Inexistenz‹ gemeint). Husserl sieht
sich aber von diesem Zwang nunmehr befreit, da er zu folgender Er-
kenntnis gelangt:
»Es sind […] nicht zwei Sachen erlebnismäßig präsent, […] sondern nur Eines
ist präsent, das intentionale Erlebnis […]. Ist dieses Erlebnis präsent, so ist eo
ipso […] die intentionale ›Beziehung auf einen Gegenstand‹ vollzogen, eo ipso
ist ein Gegenstand ›intentional gegenwärtig‹ ; denn das eine und andere besagt
genau dasselbe.« 225
Nach dieser Erkenntnis ist die intentionale Beziehung keine regelrechte,
sondern eine völlig eigenartige Relation, da in ihr ein intentionales Er-
lebnis sich zu einem Gegenstand verhält, der zwar aktuell existieren
kann, aber keineswegs aktuell existieren muss. Dabei sieht aber Husserl
deutlich, dass dieser intentionale Gegenstand auf keinen Fall zum »de-
skriptiven (reellen) Bestande des Erlebnisses« gehört and deshalb »in
Wahrheit gar nicht immanent oder mental« ist. 226
Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass die intentionale Bezie-
hung unabhängig davon besteht, ob der intentionale Gegenstand in der
Wirklichkeit existiert oder nicht existiert: »Für das Bewußtsein ist das
Gegebene ein wesentlich Gleiches, ob der vorgestellte Gegenstand exis-
tiert oder ob er fingiert und vielleicht gar widersinnig ist.« 227 Dagegen
besteht die intentionale Beziehung keineswegs unabhängig davon, wie
– das heißt in welchem genauen Sinne – der intentionale Gegenstand
aufgefasst wird. Wir verhalten uns zum intentionalen Gegenstand
durch intentionale Akte, die wir von unserem jeweiligen Gesichtspunkt
aus vollziehen und erleben. Daher verhalten wir uns zum intentionalen
Gegenstand immer nur von unserem jeweiligen Gesichtspunkt aus.
Folglich meinen wir ihn in jedem besonderen Fall auf eine bestimmte
Weise. Husserl ist ebendeshalb darum bemüht, diese jeweils spezifische
Weise der gegenständlichen Beziehung vom intentionalen Gegenstand
selbst durch Begriffe wie ›intentionale Materie‹ und ›intentionales We-

225
Husserl, Logische Untersuchungen, V. Untersuchung, Bd. II/1, S. 372.
226
Ebd., S. 373.
227 Ebd.

524
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

sen‹ abzuheben. In diesen Begriffen prägt sich sein erster Versuch aus,
den Sinnbestand intentionaler Akte zu erfassen.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen besteht darin,
dass der Begriff des intentionalen Wesens neben dem der intentionalen
Materie auch den der intentionalen Qualität in sich schließt. Mit ›Akt-
qualität‹ ist eine Sinnkomponente gemeint, die vom eigentlich gegen-
ständlichen Sinn eines intentionalen Aktes, wie er im Begriff der Akt-
materie zum Ausdruck kommt, abgehoben werden muss. Der Qualität
nach kann ein intentionaler Akt zum Beispiel Wahrnehmung, Erinne-
rung, Urteil und noch vieles Andere sein. Darüber hinaus kann er zur
Gruppe setzender (positionaler) Akte gehören, die im Glauben an die
reale Existenz ihrer intentionalen Gegenstände vollzogen werden, aber
er kann auch ein nichtsetzender (non-positionaler) Akt sein, der die
reale Existenz seines intentionalen Gegenstandes nicht voraussetzt.
Als setzende Akte können etwa Wahrnehmung, Erinnerung und Urteil
genannt werden; dagegen muss zum Beispiel ein Phantasieakt zur
Gruppe nichtsetzender Akte gerechnet werden. Weiterhin zeigt der
Glaube an die reale Existenz des intentionalen Gegenstandes eine Ab-
stufung, der Husserl durch seine Lehre von den Glaubensmodalitäten
(oder ›doxischen Modalitäten‹) Rechnung zu tragen sucht. Beispiele aus
dem Bereich des Urteils sind dafür Behauptung, Annahme, Mutma-
ßung, Vermutung, Wahrscheinlichkeitsaussage, Zweifelsäußerung usw.
All diese Unterschiede gehören in den Logischen Untersuchungen zur
Aktqualität. Sie können auch bei gleichbleibender Aktmaterie auftre-
ten, woraus deutlich wird, dass sie den eigentlich gegenständlichen Sinn
der intentionalen Akte nicht abändern. Gleichwohl haben sie eine Aus-
wirkung auf die gemeinte Gegenständlichkeit. Sie modifizieren den ge-
genständlichen Sinn nicht, aber sie nuancieren ihn. Deshalb ist es loh-
nenswert, die Aktqualität mit der Akmaterie gleichsam zu einem
erweiterten Sinnbegriff zu verbinden. Als ein derart erweiterter Sinn-
begriff kann in den Logischen Untersuchungen der Begriff des inten-
tionalen Wesens angesehen werden. Das intentionale Wesen der Denk-
akte und ihrer sprachlichen Ausdrücke bezeichnet Husserl als
›bedeutungsmäßiges Wesen‹. Darin findet er das Abstraktionsfun-
dament zur Bildung des Begriffs von Bedeutung.
In der VI. Logischen Untersuchung, die der Aufgabe einer phäno-
menologischen Aufklärung der Erkenntnis gewidmet ist, werden die
bisher kennengelernten Unterscheidungen nicht allein durch neue Be-
griffe wie ›Anschauungsgehalt‹ und ›Fülle‹ angereichert und ergänzt,

525
B. Das Unendliche der Welt

sondern sie werden auch weiterentwickelt. Für unsere Zwecke ist die
Zerlegung des Begriffs ›intentionaler Materie‹ in einen ›sinnlichen Ge-
halt‹ und in eine ›kategoriale Form‹ von der größten Wichtigkeit. Diese
Unterscheidung hat kein Äquivalent bei Frege. Die Bevorzugung rein
extensionaler Definitionen und anderer Methoden, die der Äquivalenz-
theorie der Zahl eigentümlich sind, haben den Weg zur Kategorialana-
lyse im Bereich mathematischer Gegenstände wohl für eine ganze Peri-
ode verbaut. Eine phänomenologische Aufklärung der Erkenntnis
eignet sich aber sehr wohl dazu, diesen Weg wieder zu eröffnen.
Die Phänomenologie lehnt die naheliegende, aber irreführende
Annahme ab, die Erkenntnis sei in einer Beziehung zwischen zwei ak-
tuell existierenden Entitäten verwurzelt, von denen die eine notwendig
dem Bewusstsein immanent ist, die andere dagegen sehr wohl vom Be-
wusstsein unabhängig und für es transzendent sein kann. Fasst man den
Erkenntnisbezug zur Welt auf diese Weise auf, so findet man sich vor
die Frage gestellt, wie die Kluft zwischen dem Immanenten und dem
Transzendenten überbrückt werden kann. Die so formulierte Frage
birgt jedoch eine unüberwindbare Schwierigkeit in sich, die man übli-
cherweise etwas verharmlosend als das ›Transzendenzproblem‹ bezeich-
net. Husserl zeigt jedoch, dass es sich dabei in Wahrheit um ein Pseudo-
Problem handelt, da die Intentionalität die traditionelle Gegenüberstel-
lung von Immanentem und Transzendentem in Frage stellt. Später wird
Husserl das traditionelle Erkenntnisproblem, nämlich das Problem der
Transzendenz schlichtweg als »widersinnig« bezeichnen. 228
Allerdings setzt diese spätere Behandlung des Transzendenzpro-
blems die transzendentale Wende der Phänomenologie voraus. In der
VI. Logischen Untersuchung kommt es zu einer derartigen Wende noch
nicht, und auch vom Transzendenzproblem ist zu dieser Zeit noch nicht
ausdrücklich die Rede. Aber schon in dieser Periode ersetzt Husserl die
traditionelle Auffassung von der Erkenntnis durch die Idee einer an-
schaulichen Erfüllung anschauungsleerer Denkintentionen. Diese Idee
begründet in der Tat eine völlig neue Auffassung von der Erkenntnis.
Nach Husserl ist die Erkenntnis kein unmittelbares Verhältnis des
Bewusstseins zu einer vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit,
sondern eine Synthesis von zwei intentionalen Aktinhalten. Es handelt
sich dabei einerseits um einen Denkakt, der als solcher Träger einer
Bedeutungsintention ist und deshalb als ›symbolischer‹, ›signifikativer‹

228 Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 85.

526
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

oder, einfacher, als ›signitiver‹ Akt bezeichnet wird, andererseits um


einen Anschauungsakt oder um einen ›intuitiven‹ Akt, der als solcher
zwar kein Bedeutungsträger ist, dem aber dennoch eine intentionale
Materie sowie ebenfalls ein intentionales Wesen – und damit ein be-
stimmter ›Auffassungssinn‹ – zukommt. Husserl begreift die Erkennt-
nis als die Erfüllung eines bedeutungstragenden Aktes durch eine ihm
korrespondierende Anschauung. Dabei erweist sich der Auffassungs-
sinn des Anschauungsaktes als ein ›erfüllender Sinn‹, der sich dem be-
deutungsmäßigen Wesen des symbolischen oder signi(fika)tiven Aktes
anpasst:
»Wir erleben es, wie in der Anschauung dasselbe Gegenständliche intuitiv
vergegenwärtigt ist, welches im symbolischen Akte ›bloß gedacht‹ war, und
daß es gerade als das so und so Bestimmte anschaulich wird, als was es zu-
nächst bloß gedacht (bloß bedeutet) war. Es ist nur ein anderer Ausdruck da-
für, wenn wir sagen, das intentionale Wesen des Anschauungsaktes passe sich
(mehr oder weniger vollkommen) dem bedeutungsmäßigen Wesen des aus-
drückenden Aktes an.« 229
Man sollte allerdings nicht meinen, auf diese Weise würde die Idee einer
Korrespondenz zwischen dem Bewusstsein und der vom Bewusstsein
unabhängigen Wirklichkeit nur durch die Idee einer Kohärenz zwi-
schen zwei Vorstellungen ersetzt. Anstatt zwischen zwei wohlbekann-
ten Wahrheitstheorien zu wählen, versucht Husserl vielmehr, einen
neuen Ansatz zur Bestimmung der Wahrheit zu entwickeln. Er hat
nicht etwa eine Synthesis zweier Vorstellungen oder intentionaler Akte,
sondern eine Synthesis zweier Aktinhalte im Auge. Die Erfüllung einer
Bedeutungsintention durch die korrespondierende Anschauung beruht
ja, wie wir gerade gesehen haben, darauf, dass sich der erfüllende Sinn
eines intuitiven Aktes dem bedeutungsmäßigen Wesen eines symboli-
schen oder signi(fika)tiven Aktes anpasst. Es handelt sich dabei also um
eine Synthesis zweier Sinnbestände. In diesen Sinnbeständen können
wir auch zwei Gegebenheitsweisen ein und derselben intentionalen Ge-
genständlichkeit erkennen. Wir können deshalb behaupten, dass Hus-
serl die Wahrheit weder als eine Korrespondenzbeziehung zwischen
dem Bewusstsein und der vom Bewusstsein unabhängigen Wirklichkeit
noch als eine Kohärenz zwischen zwei Vorstellungen, sondern als ein
Entsprechungsverhältnis zwischen zwei Gegebenheitsweisen ein und
derselben intentionalen Gegenständlichkeit bestimmt.
229 Husserl, Logische Untersuchungen, VI. Untersuchung, Bd. II/2, S. 32.

527
B. Das Unendliche der Welt

Allerdings sind mit dieser neuen Auffassung von Erkenntnis und


Wahrheit Schwierigkeiten verbunden. Sie rühren daher, dass sich leere
Bedeutungsintentionen kaum je in ein vollständiges Ensprechungsver-
hältnis mit den ihnen korrespondierenden sinnlichen Anschauungen
bringen lassen, da sie einen Bedeutungsüberschuss enthalten, den der
erfüllende Sinn dieser Anschauungen nicht abdecken kann. Husserl
macht auf das notwendige Auseinanderklaffen von symbolischer Be-
deutung und erfüllendem Anschauungsgehalt selbst aufmerksam. Es
handelt sich dabei nicht nur darum, dass ein sprachlicher Ausdruck der
durch ihn ausgedrückten Bedeutung eine begriffliche Allgemeinheit zu-
kommen lässt, der in einer sinnlichen Anschauung nichts entspricht.
Die Quelle der Schwierigkeiten ist nicht allein die Sprache. In der
VI. Logischen Untersuchung finden wir einen Gedankengang, der
zeigt, wie bereits das Wiedererkennen eines Gegenstandes – die
Kant’sche Synthesis der Rekognition – mit einem Bedeutungsüber-
schuss verbunden ist, der über den entsprechenden sinnlichen An-
schauungsgehalt hinausgeht.
Husserl führt das Beispiel eines weißen Papierblattes an. Wir se-
hen ein Stück weißes Papier vor uns. Auf Grund dessen, was wir vor
uns sehen, sagen wir: ›weißes Papier‹. Indem wir ›weißes Papier‹ sagen,
drücken wir einfach aus, was wir sehen. Nichts scheint selbstverständ-
licher zu sein als dieser einfache Zusammenhang zwischen Sehen und
Sagen, Wahrnehmung und sprachlich-gedanklichem Wahrnehmungs-
ausdruck. Doch meldet sich im Gedachten und Gesagten ein Bedeu-
tungsüberschuss gegenüber dem Gesehenen:
»Das Wort weiß meint sicherlich etwas am weißen Papier selbst, und somit
deckt sich im Status der Erfüllung dieses Meinen mit der auf das Weiß-
moment des Gegenstandes bezüglichen Partialwahrnehmung. Aber die An-
nahme einer bloßen Deckung mit dieser Partialwahrnehmung will nicht aus-
langen. […] Das Papier wird als ›weiß‹, oder vielmehr als ›weißes‹ erkannt, wo
wir, die Wahrnehmung ausdrückend, sagen: weißes Papier. Die Intention des
Wortes weißes deckt sich nur partiell mit dem Farbenmoment des erscheinen-
den Gegenstandes, es bleibt ein Überschuß in der Bedeutung, eine Form, die in
der Erscheinung selbst nichts findet, sich darin zu bestätigen. Weißes, d. h.
weiß seiendes Papier.« 230
Noch wichtiger für uns ist jedoch eine Beobachtung, die sich nicht mehr
auf die Partialwahrnehmung der Farbe, sondern auf die Gesamtwahr-

230 Ebd., S. 130 f.

528
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

nehmung des ganzen Gegenstandes bezieht. Nicht allein beim Beiwort


›weiß‹, sondern auch beim Hauptwort ›Papier‹ ist ein Bedeutungsüber-
schuss erkennbar:
»Nur die in seinem ›Begriff‹ vereinten Merkmalbedeutungen terminieren in
der Wahrnehmung; auch hier ist der ganze Gegenstand als Papier erkannt,
auch hier eine ergänzende Form, die das Sein, obschon nicht als einzige Form,
in sich enthält. Die Erfüllungsleistung der schlichten Wahrnehmung kann an
solche Formen offenbar nicht hinanreichen.« 231
Eine Einsicht in das Auseinanderklaffen symbolischer Bedeutung und
sinnlicher Anschauung bereitet aber deshalb eine ernsthafte Schwierig-
keit für Husserl, weil er ja Erkenntnis und Wahrheit auf die Erfüllung
leerer Bedeutungsintentionen durch korrespondierende Anschauungen
zurückzuführen sucht und weil die Rede von einer derartigen Erfüllung
doch einen gewissen Parallelismus zwischen »bedeutendem Meinen
und erfüllender Anschauung« 232 zu erfordern scheint. Die der Phäno-
menologie eigentümliche Auflösung dieser Schwierigkeit besteht darin,
von der ›sinnlichen‹ – oder auch ›schlichten‹ – Anschauung eine anders-
artige Anschauung zu unterscheiden, die zur Erfüllung des Bedeu-
tungsüberschusses im Gedachten und Gesagten gegenüber dem Gese-
henen geeignet ist. Husserl Originalität ergibt sich hier daraus, dass er
dazu nicht etwa eine ›intellektuelle Anschauung‹ in Anspruch nimmt
wie die metaphysische Tradition vom Platonismus bis zum Deutschen
Idealismus, sondern der schlicht sinnlichen Anschauung eine zwar über
sie hinausgehende, aber sich immer auf sie gründende, auf ihr aufbau-
ende, in ihr ›fundierte‹ Anschauung gegenüberstellt.
Er bildet damit einen Begriff, der einem Unterschied zwischen ver-
schiedenen Wahrnehmungsausdrücken Rechnung trägt. Wenn ich sa-
gen kann: ›Ich sehe ein Stück weißes Papier vor mir‹, kann ich ebenso
wohl sagen: ›Ich sehe, dass dieses Stück Papier vor mir weiß ist‹, obwohl
Wörter wie ›dass‹, ›dieses‹ und ›ist‹ offenkundig auf einen Bedeutungs-
überschuss gegenüber dem wahrhaft und eigentlich Wahrgenommenen
hindeuten. Wenn jedoch eine konkrete Wahrnehmungssituation uns
dazu berechtigt, den ersten Satz zu formulieren, so berechtigt sie uns
auch dazu, den zweiten Satz auszusprechen. In einer derartigen Wahr-
nehmungssituation wird also der zweite Satz keineswegs ins Blaue hi-

231
Ebd., S. 131.
232 Ebd., S. 129.

529
B. Das Unendliche der Welt

nein gesagt, sondern er gründet sich auf den ersten, ohne allerdings in
ihm aufzugehen. Gerade das ist hier mit ›Fundierung‹ gemeint. Gewiss
verweisen Wörter wie ›dass‹, ›dieses‹ und ›ist‹ auf ›ergänzende Formen‹
von Denken und Rede, die über das wahrhaft und eigentlich Gesehene
hinausgehen. Gleichwohl ist der Satz ›Ich sehe, dass dieses Stück Papier
vor mir weiß ist‹ nicht etwa korrekturbedürftig; er wird vielmehr mit
vollem Recht ausgesprochen, wenn die Behauptung ›Ich sehe ein Stück
weißes Papier vor mir‹ zu Recht besteht. Daraus folgt, dass wir mit
›Sehen‹ nicht immer eine schlicht sinnliche Anschauung meinen, son-
dern dieses Wort manchmal in erweitertem Sinne gebrauchen. Der Be-
griff einer nicht schlicht sinnlichen, aber doch sinnlich fundierten An-
schauung wird in der Phänomenologie in Anmessung an diesen
erweiterten Sinn des Wortes ›Sehen‹ gebildet.
Husserl begreift, dass man die Annahme eines vollständigen Paral-
lelismus zwischen symbolischer Bedeutung und erfüllender Anschau-
ung nicht aufrechterhalten kann, wenn man sich nur an das wahrhaft
und eigentlich Wahrgenommene hält; anders steht es jedoch nach ihm,
wenn man auch die Möglichkeit beachtet, von Wahrnehmung in erwei-
tertem Sinne zu sprechen, wobei die Forderung nach einer Fundierung
durch das wahrhaft und eigentlich Wahrgenommene der Sinnerweite-
rung eine sichere Grenze setzt: »[…] unter Voraussetzung der eben an-
gezeigten Möglichkeit stellt sich der Parallelismus wieder her, nur ist
kein Parallelismus zwischen den Bedeutungsintentionen der Ausdrücke
und den entsprechenden bloßen Wahrnehmungen, sondern ein Paralle-
lismus zwischen den Bedeutungsintentionen und jenen in Wahrneh-
mungen fundierten Akten.« 233
Die ›ergänzenden Formen‹ von Denken und Rede, denen in einer
schlicht sinnlichen Anschauung nichts entspricht, verweisen nach Hus-
serl auf transgenerische Formbegriffe oder Kategorien. Im Falle von
Wörtern wie »ist« oder »dieses« leuchtet diese Behauptung unmittelbar
ein; es liegt in ihnen ein Hinweis auf die Kategorien ›Sein‹ und ›Einzel-
heit‹. Durch das Bindewort ›dass‹, mit dem in der Rede ein Nebensatz
beginnt, wird aber ebenfalls eine kategoriale Struktur angezeigt, näm-
lich die des Sachverhalts oder der Tatsache. Ebenso verweist das ›und‹
der kollektiven Verbindung auf eine Kategorie, diesmal auf die des In-
begriffs oder, anders gesagt, auf die der Vielheit oder auch der Menge.
Hierher gehören auch die Zahlwörter wie ›vier‹, denn auch in der Zahl

233 Ebd., S. 132.

530
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

sieht Husserl nach wie vor einen transgenerischen Formbegriff oder


eine Kategorie.
Der aufgewiesene Bedeutungsüberschuss von Denken und Rede
gegenüber dem wahrhaft und eigentlich Wahrgenommenen hängt
demnach unmittelbar mit den Kategorien zusammen. Husserl bezeich-
net deshalb die ›ergänzenden Formen‹, die in diesem Bedeutungsüber-
schuss voneinander unterschieden werden können, auch als ›kategoriale
Formen‹, um sie dem ›sinnlichen Gehalt‹ intentionaler Akte gegenüber-
zustellen. Die Bestimmung von Erkenntnis und Wahrheit als Erfüllung
symbolischer Bedeutungsintentionen durch korrespondierende An-
schauungen verhilft ihm zugleich dazu, eine scharfe Grenzlinie zwi-
schen dem sinnlichen Gehalt und den kategorialen Formen zu ziehen.
Zu den einzelnen Momenten des sinnlichen Gehalts gibt es ja jeweils
ein Gegenstück im erfüllenden Sinn einer schlicht sinnlichen Anschau-
ung; den kategorialen Formen entspricht dagegen nichts im erfüllenden
Sinn einer derartigen Anschauung.
Gleichwohl kann die Idee einer Erfüllung symbolischer Bedeu-
tungsintentionen durch korrespondierende Anschauungen auch auf
die kategorialen Formen bezogen werden, weil eine nicht schlicht sinn-
liche, aber sinnlich fundierte Anschauung sich dazu eignet, einen Auf-
fassungssinn zu erfüllen, der über den sinnlichen Gehalt hinaus auch
noch kategoriale Formen in sich schließt. Deshalb bezeichnet Husserl
diese Anschauung in der VI. Logischen Untersuchung als ›kategoriale
Anschauung‹. So kann etwa der Satz ›Ich sehe, dass dieses Stück Papier
weiß ist‹ als der sprachliche Ausdruck einer kategorialen Anschauung
gelten. Es handelt sich dabei um eine spezielle Art kategorialer An-
schauung, die näher als Tatsachenwahrnehmung bestimmt werden
kann.
Erst die Entdeckung der kategorialen Anschauung in der VI. Logi-
schen Untersuchung macht es Husserl möglich, eindeutig zu sagen, was
er eigentlich bereits in der Philosophie der Arithmetik meinte. Denn
erst durch die Einsicht, dass kategoriale Anschauungen den transgene-
rischen Formbegriffen als Abstraktionsfundamente zugrunde liegen,
wird der kategorialanalytische Psychologismus, an dem dieses Früh-
werk krankte, vollständig überwunden.
Es hängt weiterhin ebenfalls mit der Entdeckung der kategorialen
Anschauung zusammen, dass Husserl nunmehr auch die Art des Abs-
traktionsvorganges genauer bestimmen kann, der zur Bildung all-
gemeiner Begriffe führt. Er stellt zwar bereits in der II. Logischen Un-

531
B. Das Unendliche der Welt

tersuchung klar, dass die selektive Aufmerksamkeit, der die Abstrakti-


onstheorien des Britischen Empirismus die Schlüsselrolle in der Bil-
dung derartiger Begriffe zuweisen, ohne ein Moment der Ideation diese
Funktion nicht erfüllen kann. Aber erst in der VI. Logischen Unter-
suchung kann er die ideative Abstraktion, die er auch als ›eidetische
Anschauung‹ oder ›Wesensschau‹ bezeichnet, von dem ihr anhaftenden
Anklang an einen platonisierenden Intuitionismus befreien, indem er
klarstellt, dass mit ihr auch nur eine kategoriale Anschauung besonde-
rer Art gemeint ist.
Wie kann im Besitz dieser Erkenntnisse der Sinn des Zahlbegriffs
als einer transgenerisch formalen Kategorie bestimmt werden? Die
Antwort ist nicht mehr schwierig. Als Abstraktionsfundament zur Bil-
dung des Zahlbegriffs dient eine Vielheit oder Menge beliebig gewähl-
ter Elemente als Gegenstand einer kategorialen Inbegriffsanschauung.
Von diesem Abstraktionsfundament führt dann eine ideative Abstrak-
tion – und damit wiederum nur eine kategoriale Anschauung – zum
Eidos oder Wesen ›Zahl‹ weiter. Die Zahl als Kategorie ergibt sich dabei
als ein intentionaler Gegenstand, der seinerseits in kategorialen An-
schauungen verschiedenen Sinngehalts erfasst werden kann.
Diese Bedeutungsanalyse des Zahlbegriffs ist in der Erörterung
mathematischer Gegenstände geradezu richtungsweisend. Es ist ein
Grundzug mathematischer Erkenntnis, die in einer Theorie einmal be-
reits definierten Gegenstände im Ausgang von einer anderen Theorie
neu zu definieren. Die Wahrscheinlichkeit wurde zum Beispiel vom
17. Jahrhundert an zum Gegenstand einer Theorie gemacht, die danach
fragte, wie oft ein ausgewähltes Ereignis innerhalb einer Gesamtheit
von Ereignissen bestimmter Art vorkommt, und dabei vor allem aus
Gründen tatsächlicher Erfahrungen annahm, dass die relative Häufig-
keit dieses ausgewählten Ereignisses seiner Wahrscheinlichkeit immer
näher kommt, wenn die Gesamtzahl aller Ereignisse erhöht wird. Die so
etablierte Wahrscheinlichkeitslehre hatte begreiflicherweise lange Zeit
hindurch den Anschein einer quasi-empirischen Theorie. In den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts haben jedoch Mathematiker wie
Maurice Fréchet und Alexander Kolmogorov den Begriff der Wahr-
scheinlichkeit völlig neu definiert, indem sie ihn als eine Maßfunktion
in einem unendlichen Ereignisfeld auffassten. Auf die traditionelle
Wahrscheinlichkeitslehre wandten sie damit die Ergebnisse einer Theo-
rie an, die am Ende des 19. Jahrhunderts von französischen Mathema-
tikern wie René-Louis Baire, Émile Borel und Henri Lebesgue mit einer

532
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

ganz anderen Zielsetzung – nämlich mit derjenigen einer Verbesserung


der Integralrechnung – entwickelt wurde. Auf diese Weise konnten sie
die Wahrscheinlichkeitstheorie auf axiomatische Grundlagen stellen.
Damit änderte sich – können wir mit Husserl sagen – der Auffassungs-
sinn von Wahrscheinlichkeit. Das eigentlich Interessante an diesem Bei-
spiel besteht darin, dass kein begriffsanalytischer Weg von einem Auf-
fassungssinn zum anderen führt. Aus der Wahrscheinlichkeit als der
Grenze der relativen Häufigkeit konnte die Wahrscheinlichkeit als
Maßfuntion in einem unendlichen Ereignisfeld nicht durch einfache
Begriffsanalyse abgeleitet werden; die neue Definition kam vielmehr
als das Ergebnis einer wahrhaften Entdeckung auf. Dabei blieb aber die
Wahrscheinlichkeit als der jeweils gemeinte Gegenstand sich selbst
gleich. Deshalb konnte die neue Theorie als eine Axiomatisierung der
alten Theorie aufgefasst werden.
Husserls begriffliche Unterscheidungen sind durchaus geeignet,
einem Entwicklungsgang mathematischer Erkenntnis wie diesem Rech-
nung zu tragen. Denn sie leiten uns dazu hin, ähnlich wie die Zahl auch
die Wahrscheinlichkeit als einen intentionalen Gegenstand kategorialer
Anschauung zu begreifen, der in intentionalen Akten verschiedenen
Sinngehalts aufgefasst werden kann, dabei aber sich selbst gleich bleibt.
Dass es sich um einen Gegenstand kategorialer Anschauung handelt, ist
deshalb wichtig, weil mathematische Gegenstände nur als intentionale
Gegenstände existieren können. Sie sind bloße Denkobjekte, die nicht
ohne eine Denktradition bestehen können. Die phänomenologische Un-
terscheidung zwischen intentionalem Gegenstand und intentionalem
Sinngehalt erlaubt es jedoch, den mathematischen Denkgebilden eine
wahrhafte Objektivität zuzuschreiben. Man kann behaupten, dass sich
die Objektivität mathematischer Gegenstände daraus ergibt, dass diese
Gegenstände nicht bloß in einer bestimmten Theorie definiert, sondern
zugleich in anderen Theorien neu definiert und dabei reidentifiziert
werden können. Auf diese Weise erweisen sich mathematische Objekte
als unabhängig von derjenigen Theorie, die sie dem Geist ursprünglich
zugänglich gemacht hat. Folglich sind sie im vollen Sinne des Wortes
selbstständige Objekte, selbst wenn sie als ideale Gegenstände – im Ge-
gensatz zu den real existierenden Dingen in der Welt – nur solange
bestehen, als sie von einer Denktradition getragen sind.
Diese Bemerkungen über den Begriff der Wahrscheinlichkeit dürf-
ten hier genügen, um die Leistungsfähigkeit von Husserls Phänomeno-
logie in der philosophischen Auseinandersetzung mit mathematischen

533
B. Das Unendliche der Welt

Theorien zu beleuchten. Sie machen auf jeden Fall verständlich, warum


sich ein Logiker und Mathematiker wie Kurt Gödel in der späten Phase
seines Denkens über die Philosophie der Mathematik von Husserls Phä-
nomenologie angezogen fühlte.

4. Das Unendliche als Erfahrungskategorie

Dass Husserl gerade am Anfang der 1910er Jahre auf Cantors Idee des
Transfiniten zurückzugreifen begann, hing vermutlich mit der Tatsache
zusammen, dass es Ernst Zermelo im Jahre 1908 gelungen war, eine trag-
fähige axiomatische Begründung der Mengenlehre vorzulegen. Damit
waren die Antinomien, die über Cantors Theorie mehr als ein Jahrzehnt
lang Unsicherheit verbreitet hatten, endgültig entschärft worden. Die
innermathematische Sicherung der Schlüsselergebnisse mengentheore-
tischer Forschung hatte auch den Weg zu einer philosophischen Aneig-
nung und Anwendung von Cantors Idee des Transfiniten freigemacht.
Im ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie legt Husserl eine voll ausgearbeitete
Phänomenologie des Unendlichen vor, indem er das Ding als ein allsei-
tig unendliches Erscheinungskontinuum bestimmt und diese Bestim-
mung mit seiner Lehre von der Idee in Kant’schem Sinne verbindet.
Damit nimmt die phänomenologische Abschattungslehre den nach
dem Sturz der Äthertheorie leer gebliebenen Platz einer Metaphysik
des Transfiniten auf eine veränderte Weise ein.
Von Cantors ursprünglichen Vorstellungen entfernt sich Husserl
allerdings in erheblichem Maße. Zu dieser Zeit ist er bereits der von
Kant begründeten transzendentalphilosophischen Tradition verpflich-
tet, die Cantor nicht zu billigen wusste und der er mit Hilfe von Spinoza
und Leibniz begegnen wollte. An Leibniz knüpft Husserl zwar ebenfalls
an, aber er greift auf einen Gedanken der Leibniz’schen Monadologie
zurück, mit dem Cantor seinerseits kaum etwas anfangen konnte: auf
den des Perspektivismus. In ihrer wechselseitigen Durchdringung erge-
ben diese beiden gedanklichen Elemente – der transzendentalphiloso-
phische Ansatz und der phänomenologische Perspektivismus – bei Hus-
serl eine Ansicht über das Unendliche, die sich als eine Metaphysik des
Transfiniten begreifen lässt, ohne mit Cantors ursprünglicher Auffas-
sung von dieser Metaphysik auch nur im Geringsten übereinzustim-
men.

534
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

In Anlehnung an die physikalische Äthertheorie nahm Cantor an,


es gebe unendlich viele, voneinander zumindest in einer ihrer Eigen-
schaften unterschiedene Bestandteile materieller Körper. Nach unserem
heutigen Wissen deutet alles darauf hin, dass diese Annahme unhaltbar
ist. Zu Recht sagt schon Husserl: »Die aktuelle Erfahrung bietet natür-
lich keine Dinge mit unendlich vielen Eigenschaften.« 234 Andererseits
hatte bereits Kant im Antinomiekapitel der Kritik der reinen Vernunft
deutlich herausgestellt, dass ein notwendig immer endlich bleibender
Erfahrungsprozess niemals die Frage, ob die Welt in Raum und Zeit
unendlich sei, eindeutig zu entscheiden vermag. Daraus ergibt sich eine
wichtige Folgerung: Ist das Unendliche in der Welt vorhanden, wie die
Idee einer Metaphysik des Transfiniten es verlangt, so gewiss nicht im
physikalischen Universum selbst, sondern lediglich in unserem – je-
weils perspektivischen – Verhältnis zu ihm. Um es plakativ zu sagen,
kommt das Unendliche nach phänomenologischer Auffassung mit uns
in die Welt.
Diese Auffassung drückt sich in Husserls Versuch aus, das Unend-
liche als eine Kategorie der Erfahrung zu verstehen. Als Erfahrungs-
kategorie ist das Unendliche kein bloßes Denkobjekt, sondern ein
»Formbegriff«, dem eine kategoriale Anschauung entspricht. Wie wir
gesehen haben, liegt die Lehre von der kategorialen Anschauung bereits
in der VI. Logischen Untersuchung fertig vor. Aber sie wird erst in den
1910er Jahren auf das Unendliche angewandt. So heißt es etwa in den
Entwürfe[n] zur Umarbeitung der VI. Logischen Untersuchung aus-
drücklich, »dass originär gebende Intuition, also auch Evidenz, Unend-
lichkeiten umspannen kann […].« 235 Husserl führt diesen Gedanken
auf folgende Weise aus: »Beständig rekurrieren wir, und nicht nur in
Logik und Mathematik, auf Unendlichkeiten, deren wahrhaftes ›Sein‹
uns als vollkommen selbstverständlich und wirklich evident gilt: ›offene
Mengen‹ als Begriffsumfänge, unendliche Reihen, überhaupt unend-
liche durch formulierbare oder nichtformulierbare Bildungsgesetze ge-
regelte Mannigfaltigkeiten.« 236 Er fügt hinzu: »Genau so erfassen wir
auch sonst geordnete und konstruierbare Mannigfaltigkeiten, wie übri-

234 Siehe Husserl, Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, Erster Teil: Entwürfe zur

Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen
Untersuchungen (Sommer 1913) [Husserliana, Bd. XX/1], S. 195.
235
Ebd., S. 199.
236 Ebd.

535
B. Das Unendliche der Welt

gens auch ungeordnete ›Mengen‹, als ›offene‹ Vielheiten (im letzteren


Fall in der Weise von ›Umfängen‹ möglicher Begriffe), demnach auch in
unserem Gebiet die Unendlichkeiten ›möglicher Erfahrungen‹ be-
stimmter Progressionsform […].« 237 Wir fassen die angeführten Ge-
danken nur zusammen, wenn wir hervorheben, dass nach Husserl eine
unendliche Mannigfaltigkeit in ihrem Sein durchaus einsichtig gegeben
sein kann. Es handelt sich um eine Einsichtigkeit, die sich nicht auf
idealisierte Denkgebilde der Mathematik beschränkt, sondern sich auch
auf »die Unendlichkeiten ›möglicher Erfahrungen‹ bestimmter Progres-
sionsform« erstreckt.
Anders als Aristoteles oder Kant hat Husserl keinen Grund, dem
Aktual-Unendlichen das Potential-Unendliche vorzuziehen, weil er der
offenkundigen Tatsache, die einer Einsichtigkeit aktual-unendlicher
Mengen auf den ersten Blick zu widersprechen scheint – dass nämlich
die Elemente einer derartigen Menge niemals zu einer vollständigen
Übersicht gebracht werden können –, durch seine Unterscheidung zwi-
schen adäquater und inadäquater Evidenz Rechnung tragen kann. Statt
zu behaupten, es sei bloß der Fortgang ins Unendliche – und zwar auch
nur seiner Möglichkeit nach – einsichtig, lässt er sich daher von Cantors
Theorie des Transfiniten zu einer Forderung nach regelrechter Einsich-
tigkeit für das Aktual-Unendliche anregen, wobei er allerdings klar-
stellt, dass diese Einsichtigkeit vom Typ inadäquater Evidenz ist. Es
handelt sich dabei um einen Typ der Einsichtigkeit, der für die Erfah-
rung der Dinge in der Welt ohnehin geradezu charakteristisch ist, selbst
wenn er auch in der Sphäre logischer und mathematischer Idealitäten
nicht selten vorkommt.
Spricht Husserl davon, dass die Idee eines allseitig unendlichen
Erscheinungskontinuums eine Einsichtigkeit für sich beanspruchen
kann, so meint er damit nichts anderes, als dass dieser Idee eine katego-
riale Anschauung entspricht. In der phänomenologischen Dinganalyse
wird der Gedanke einer kategorialen Anschauung des Unendlichen auf
den Erfahrungsprozess bezogen. Erst in seiner Anwendung auf die Er-
fahrungsdinge in der Welt wird das Unendliche als »Formbegriff« oder,
genauer, als »kategoriale Form« begreiflich, indem es sich mit einem
leibhaftig gegebenen Sachgehalt verbindet, der Gegenstand sinnlicher
Wahrnehmung ist.
In der Erfahrungssphäre sind kategoriale Anschauungen grund-

237 Ebd.

536
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

sätzlich auf sinnliche Wahrnehmungen angewiesen. In dieser Sphäre


sind sie ja immer durch sinnliche Wahrnehmungen fundiert. Wir müs-
sen diesen Zusammenhang deutlich sehen, um Husserls Gleichsetzung
des Erfahrungsdinges mit einer Idee in Kant’schem Sinne richtig zu
verstehen. Die Phänomenologie ist nicht etwa bestrebt, das Ding an sich
selbst als eine bloße Idee zu enthüllen. Vielmehr begründet sie die
Wirklichkeit des Erfahrungsdinges durch dessen leibhaftige Gegeben-
heit. Für Husserl bleibt die sinnliche Wahrnehmung als Erfassung des
Erfahrungsdinges in seiner leibhaftigen Gegegebenheit die letzte
Rechtsquelle für allen Wirklichkeitsanspruch: »Sehe ich einen Tisch,
so habe ich ein Recht zu sagen: ›Da ist ein Tisch‹, das selbstverständ-
lichste Recht, ein Urrecht. Ich sehe ja den Tisch selbst und leibhaftig.« 238
Mit anderen Worten begreift die Phänomenologie das eigentlich Ding-
hafte und Dingfeste am Ding – oder, wie Husserl sagt, das »Ding-
reale« 239 – als Leibhaftigkeit. 240 Die Gleichsetzung des Erfahrungsdin-
ges mit einer Idee in Kant’schem Sinne dient keineswegs dazu, die so
verstandene Dingrealität in Frage zu stellen. Husserl verfolgt mit ihr
einen anderen Zweck. Er versucht, das zwar leibhaftig, aber in seinem
Erfahrungsgehalt natürlich niemals vollständig gegebene Ding doch als
an sich vollständig bestimmt zu charakterisieren. Deshalb fasst er es
nicht nur als Gegenstand einer aktuellen Erfahrung, sondern zugleich
als ein unendliches System möglicher Erfahrungen auf. Dieses System
beschreibt er als eine – betonterweise mehrdimensionale – Idee in
Kant’schem Sinne. Merleau-Ponty, der früh schon Anregungen von
Ferdinand de Saussure und Claude Lévi-Strauss aufnimmt, prägt einen
angemessenen Terminus zur Bezeichnung dieser Gesamtheit möglicher
Erfahrungen, indem er von einem »diakritischen System« der Wahr-
nehmung spricht. 241 In der Tat bestimmt ein differentielles System
möglicher Erfahrungen die Dingstruktur im unendlichen Welthorizont.
Eine diakritisch gewendete Phänomenologie, die den Husserl’-
schen Ansatz weiterzuführen sucht, sieht sich vor die Schwierigkeit
gestellt, das Dingreale mit dieser Dingstruktur richtig zu verbinden.

238
Husserl, Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921) [Hus-
serliana, Bd. XXXVI], S. 118.
239 Ebd., S. 114 (Zeile 4).

240
Siehe dazu vom Vf., »Die phänomenologische Frage nach dem Ding«, in: Iris Där-
mann (Hg.), »Kraft der Dinge. Phänomenologische Skizzen«, Paderborn: Fink 2014,
S. 177–192.
241 Merleau-Ponty, Le visible et l’invisible, S. 287, dt. S. 296.

537
B. Das Unendliche der Welt

Den Schlüssel zur Auflösung dieser Schwierigkeit gibt uns die Beobach-
tung an die Hand, dass immer nur eine wirkliche Erfahrung das Ding zu
einer leibhaftigen Gegebenheit bringen und damit das Dingreale greif-
bar machen kann. Deshalb können wir davon ausgehen, dass ein dia-
kritisches System möglicher Erfahrungen notwendig immer an eine
wirkliche Erfahrung und infolgedessen auch an ein aktuelles Bewusst-
sein gebunden bleibt. Diese Einsicht ist in vollem Einklang mit dem
methodologischen Transzendentalismus der Phänomenologie. Deutlich
erkennt Merleau-Ponty die Bedeutung dieser Ausgangsthese für den
phänomenologischen Zugangsweg zur Erfahrung. Deshalb begnügt er
sich nicht damit, ein diakritisches System der Wahrnehmung zur Spra-
che zu bringen, sondern sucht darüber hinaus auch das Verhältnis des
jeweiligen Ichsubjekts zu diesem System zu bestimmen. Daher macht
er sich zur Aufgabe, »meine Einschaltung in ein universelles diakriti-
sches System« 242 zu beschreiben.
Damit ist eine Grundeigentümlichkeit des phänomenologischen
Ansatzes markiert. Sie tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die dia-
kritisch gewendete Phänomenologie von anderen Ansätzen abheben.
Zu einer Gegenüberstellung bietet sich die Deleuze’sche Differenzphi-
losophie vor allen anderen Ansätzen an, weil sie einerseits die Überzeu-
gung von einer Ideenbedingtheit der Erfahrung mit der Phänomeno-
logie teilt und weil sie andererseits die Idee, von der sie die Erfahrung
abhängig macht, genauso wie Merleau-Ponty als ein diakritisches Sys-
tem auffasst. Deleuze stützt sich dabei allerdings mehr noch auf Berg-
sons Analyse des Gedächtnisses als auf Ferdinand de Saussures Er-
örterung der Sprache oder auf Claude Lévi-Strauss’ Darstellung der
Verwandtschaftsbeziehungen. Überhaupt führt Deleuze eine zur Phä-
nomenologie parallel verlaufende Tradition der philosophischen Moder-
ne weiter, die vor allem auf Henri Bergson zurückgeht. Er bereichert
diese Tradition, indem er neue Anstöße von Hume und Kant, von Proust
und Kafka, von Duns Scotus, Spinoza und Leibniz sowie allen voran
von Nietzsche aufnimmt, aber er bleibt – wie nicht nur sein Hauptwerk
Différence et répétition, sondern selbst noch seine zweibändige Darstel-
lung des »Bewegungsbildes« und des »Zeitbildes« im Kino deutlich
zeigt – bis ins Letzte hinein Bergsonianer. Auch um den Status der von
ihm anvisierten Idee klarzustellen, knüpft er an Bergson an, indem er
auf den Begriff des Virtuellen zurückgreift und ihn vom Begriff des

242 Ebd.

538
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Möglichen oder des Potentialen abhebt. Schon Bergson stellt das Virtu-
elle dem Aktuellen und das Potentiale (Mögliche) dem Realen (Wirk-
lichen) gegenüber. Deleuze zieht daraus den Schluss, dass das Virtuelle
– im Gegensatz zum Potentialen – real (obwohl nicht aktuell) ist, also
zur Wirklichkeit (wenn auch nicht zur lebendigen Gegenwart) gehört.
Deleuze verfolgt damit eine Tendenz, die Idee als eine der Erfahrung
immer schon zugrunde liegende »Struktur« vom Bewusstsein, dem Ich,
dem Subjekt fernzuhalten und gleichsam im »Unbewussten« unter-
zubringen. 243 So führt seine vor allem an Bergson orientierte Differenz-
philosophie auch das Erbe des Strukturalismus weiter. Es ist daher nicht
unberechtigt, Gilles Deleuze zusammen mit Michel Foucault, Jacques
Derrida und anderen zum so genannten Poststrukturalismus zu rech-
nen, wenngleich diese – mittlerweile eingebürgerte – Bezeichnung ge-
wiss nicht ohne Vorsicht und Zurückhaltung zu verwenden ist, weil sie
eine Denkrichtung anzeigt, ohne sie begrifflich zu erfassen, und weil sie
eine eindeutige Zusammengehörigkeit dort vortäuscht, wo es doch viel
Auseinandergehendes gibt.
Eine diakritisch angelegte Phänomenologie unterscheidet sich von
der Deleuze’schen Differenzphilosophie und von jedem Ansatz post-
strukturalistischer Prägung. Sie hält am Begriff der Potentialität fest,
aber im Anschluss an Husserl versteht sie unter diesem Begriff keine
bloße Möglichkeit in der Welt, sondern vielmehr ein – durchaus real
gegebenes – Vermögen. Sie findet damit zu einem aristotelischen Mög-
lichkeitsbegriff zurück. Doch wiederum anders als Aristoteles begreift
sie die Potentialität mit Husserl ausdrücklich als ein Vermögen – oder
eine »Vermöglichkeit« – des Ichsubjekts. Husserl spricht zum Beispiel
in den Cartesianischen Meditationen von »Möglichkeiten der Wahr-
nehmung als solchen, die wir haben könnten, wenn wir tätig den Zug
der Wahrnehmung anders dirigierten, die Augen etwa statt so, viel-
mehr anders bewegten, oder wenn wir vorwärts oder zur Seite treten
würden usw.« 244 Er setzt hinzu: »Hier überall spielt in diese Möglich-
keiten hinein ein ›Ich kann‹ und ›Ich tue‹ bzw. ›Ich kann anders als ich
tue‹ […].« 245 Demnach ist in der Phänomenologie das unendliche Sys-
tem möglicher Erfahrungen als eine Idee in Kant’schem Sinne von

243
Gilles Deleuze, Différence et répétition, Paris: PUF 1968, S. 237 und 249; dt. Differenz
und Wiederholung, übersetzt von Joseph Vogl, München: Fink 1992, S. 234 und S. 245.
244
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 46 f.
245 Ebd., S. 47.

539
B. Das Unendliche der Welt

einem ichlichen Können getragen. Es handelt sich dabei folglich um


eine Idee, die keineswegs notwendig als bewusste Vorstellung den Gang
der Erfahrung leitet, aber auch nicht im Unbewussten lokalisiert ist,
sondern als ein Ichvermögen im Sinne einer Habitualität – also einer
Ichfertigkeit oder auch einer Befähigung des Ichs – gegeben ist, ohne
dass das Ich sich von dieser seiner Erfahrungskompetenz notwendig
Rechenschaft ablegen kann.
Eine Idee in Kant’schem Sinne umgibt das Dingreale mit einem
unendlichen Erfahrungshorizont. Für Husserl sind die Horizonte aktu-
eller Erfahrung nichts anderes als »vorgezeichnete Potentialitäten«. 246
In seiner Phänomenologie gilt nicht allein das Ding in seiner jeweils
angenommenen Vollbestimmtheit, sondern auch die gesamte Welt als
ein »Könnenshorizont« 247 im Sinne des ›Ich kann‹ und ›Ich tue‹ sowie
des ›Ich kann anders als ich tue‹. Als Könnenshorizont erweist sich die
Gesamtwirklichkeit in Husserls Augen als »eine Korrelatidee zur Idee
einer vollkommenen Erfahrungsevidenz«. 248
Diese Auffassung von Ding und Welt führt allerdings zu einer
Schwierigkeit: Der Ausdruck »vollkommene Erfahrungsevidenz« ver-
weist auf ein Erkenntnisideal, das den Horizont der Erfahrung in seiner
Totalität zu einem bloßen Korrelat des Bewusstseins herabzusetzen
droht. Eine Gleichsetzung des Gesamthorizonts der Erfahrung mit
einem bloßem Korrelat des Bewusstseins hätte jedoch die Ununter-
scheidbarkeit des methodologischen Transzendentalismus der Phäno-
menologie von einem Idealismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes
zur Folge.249 Um diese Gefahr zu bannen, muss eine diakritisch ange-
legte Phänomenologie die Idee eines unendlichen Systems möglicher
Erfahrungen von der Seinstotalität des Dinges und der Gesamtwirklich-
keit der Welt deutlich unterscheiden.
Dazu ist eine Anwendung der diakritischen Methode auf die Hus-

246
Ebd.
247
Bernet, Kern und Marbach, Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, S. 185.
248
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 64.
249
Im V. Kapitel von Erfahrung und Ausdruck wurde vom Vf. ein Versuch unternom-
men, die Wirklichkeit der Welt und ihre Transzendenz durch die Denkfigur des Über-
schusses begreiflich zu machen, die in Husserl Idee einer Horizontintentionalität im
Sinne einer »Mehrmeinung« liegt. Im Folgenden wird ein anderer Versuch zur Auf-
lösung derselben Schwierigkeit gemacht: Nunmehr geht es darum, einen Unterschied
zwischen der Seinstotalität oder der Gesamtwirklichkeit der Welt und dem Unendlichen
als Erfahrungskategorie deutlich zu machen.

540
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

serl’sche Bestimmung der Wirklichkeit eines Dinges als eine Idee in


Kant’schem Sinne vonnöten. Diese Bestimmung trägt die Möglichkeit
einer Täuschung in sich, weil sie den Anschein erweckt, als falle die Idee
einer Gesamtheit möglicher Erfahrungen, wenn auch nicht im End-
lichen, so doch im Unendlichen, mit der Seinstotalität des Dinges wie
auch mit der Gesamtwirklichkeit der Welt zusammen. Dieser Eindruck
verbindet sich leicht mit einem an und für sich völlig richtigen, aber in
diesem Zusammenhang gleichwohl irreführenden Grundsatz der Phä-
nomenologie, den Husserl in den Cartesianischen Meditationen auf
folgende Weise formuliert: »Daß das Sein der Welt […] dem Bewußt-
sein […] transzendent ist und notwendig transzendent bleibt, ändert
nichts daran, daß es das Bewußtseinsleben allein ist, in dem jedwedes
Transzendente als von ihm Unabtrennbares sich konstituiert […].« 250
Dieser Grundsatz bestimmt den Standpunkt des methodologischen
Transzendentalismus. Aber er wird nicht selten als das Prinzip eines
Idealismus im gewöhnlichen Sinne des Wortes missverstanden. Diese
Fehldeutung nährt den Glauben, im Unendlichen enthülle sich die
Wirklichkeit von Ding und Welt ein für alle Mal als eine Idee, verwand-
le sich der Horizont der Erfahrung in ein bloßes Korrelat des Bewusst-
seins und erweise sich der methodologische Transzendentalismus der
Phänomenologie damit als ein Idealismus im gewöhnlichen Sinne des
Wortes. So entsteht ein Trugbild, das jedoch nicht als ein solches ent-
larvt werden kann, ohne dass die stillschweigend vollzogene Gleichset-
zung eines unendlichen Systems möglicher Erfahrungen einerseits mit
der Seinstotalität des Dinges und andererseits mit der Gesamtwirklich-
keit der Welt aufgehoben wird.
Dazu ist es notwendig, wenn auch nicht hinreichend, deutlich zu
machen, dass sich die Seinstotalität des Dinges ebenso wenig je als eine
bloße Idee enthüllt wie die Gesamtwirklichkeit der Welt und dass sich
der Horizont der Erfahrung in Wahrheit niemals in ein bloßes Korrelat
des Bewusstseins verwandelt. Eine Idee in Kant’schem Sinne hört nie-
mals auf, ein regulatives Prinzip zu sein; auch im Unendlichen wird aus
ihr kein konstitutives Prinzip. Husserl wird nicht müde zu betonen,
dass zu jeder aktuellen Erfahrung, die eine potentielle Evidenz verwirk-
licht, abermals »ein vielgestaltiger Horizont unerfüllter, aber erfül-
lungsbedürftiger Antizipationen« gehört. 251 Das Ideal einer vollkom-

250
Husserl, Cartesianische Meditationen, S. 63 f.
251 Ebd., S. 63.

541
B. Das Unendliche der Welt

menen Erfahrungsevidenz ist daher nicht zu realisieren. Die Kluft zwi-


schen aktueller und potentieller Evidenz bleibt unüberbrückbar. Gerade
in ihrer Unüberbrückbarkeit bezeugt sie das Ansichsein des Dinges in
einer Welt, die für das Bewusstsein ein für alle Mal transzendent bleibt:
»Jedes Seiende« – heißt es in den Cartesianischen Meditationen – »ist
in einem weitesten Sinne ›an sich‹ […]. Dieser weiteste Sinn des Ansich
verweist […] auf Evidenz, aber nicht auf eine Evidenz als Erlebnistatsa-
che, sondern auf gewisse im transzendentalen Ich und seinem Leben
begründete Potentialitäten […].« 252 Gemeint sind Potentialitäten, die
niemals vollständig in Aktualitäten übergehen können. Die unüber-
brückbare Kluft zwischen potentieller und aktueller Evidenz drückt sich
in der Erkenntnis aus, dass die Einsichtigkeit einer Idee in Kant’schem
Sinne notwendig vom Typ inadäquater Evidenz ist. Die Unmöglichkeit
einer vollkommenen – oder, anders gesagt, adäquaten – Erfahrungsevi-
denz gilt in der Phänomenologie als ein untrügliches Zeichen der Trans-
zendenz von Ding und Welt.
Allerdings reichen diese Überlegungen für sich allein noch nicht
dazu aus, das Trugbild völlig zu entkräften. Schon deshalb nicht, weil
die phänomenologische Lehre von der Idee in Kant’schem Sinne mit
dem Gedanken einer adäquaten Dinggegebenheit untrennbar verbun-
den bleibt. Husserl scheint am Idealzustand einer vollkommenen Erfah-
rungsevidenz trotz aller Einsicht in dessen Unerreichbarkeit festzuhal-
ten. Der Grund für diese Haltung ergibt sich wohl daraus, dass sich die
phänomenologische Lehre von der Idee in Kant’schem Sinne schwerlich
von der Überzeugung trennen lässt, dass jedes einzelne Ding in der
Welt an sich vollständig bestimmt ist, selbst wenn jede aktuelle Evi-
denz, auch die reichhaltigste, es notwendig zum Teil unbestimmt lässt.
Husserl ist dem Grundsatz durchgängiger Bestimmbarkeit (omnimoda
determinatio) ohne Zweifel voll ergeben. Es handelt sich um einen
Grundsatz, der letztlich auf Leibniz zurückgeht, den wir aber auch aus
Kants Überlegungen zum transzendentalen Ideal kennen. Die vollstän-
dige Bestimmtheit des Dinges gilt im ersten Buch der Ideen zu einer
reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie als eine
unbezweifelbare Realität: Sie ist in Husserls Augen nichts anderes als
die Wirklichkeit des Dinges selbst, sein Ansichsein. Nur dass sich diese
Wirklichkeit, gerade weil sie ein Ansichsein ist, niemals als solche in

252 Ebd., S. 62.

542
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

einer aktuellen Evidenz ausweisen kann! Die Annahme einer derartigen


Wirklichkeit ist ebendeshalb mit dem Grundsatz des methodologischen
Transzendentalismus schlechthin unvereinbar. Daher die Forderung
nach einer vollkommenen Erfahrungsevidenz, die das Ding – sowie die
gesamte Welt – zumindest der Idee nach zu einer adäquaten Gegeben-
heit bringt. Mit anderen Worten erwächst diese Forderung mit einer
gewissen Notwendigkeit aus dem Widerstreit zweier Grundsätze: des
Grundsatzes durchgängiger Bestimmbarkeit und des Grundsatzes des
methodologischen Transzendentalismus.
Innerhalb der Phänomenologie kann dieser Widerstreit wohl nur
dann aufgehoben werden, wenn wir mit der Überzeugung brechen, der
zufolge das Ding in der Welt an sich vollständig bestimmt ist. Die dia-
kritische Aufgabe, die Idee eines unendlichen Systems möglicher Erfah-
rungen von der Seinstotalität des Dinges und der Gesamtwirklichkeit
der Welt zu unterscheiden, mutet uns tatsächlich einen Bruch mit dieser
Überzeugung zu. Der Sinn dieser Erwartung ist jedoch nicht von vorn-
herein verständlich. Die Aussage, das Ding in der Welt sei an sich nicht
vollständig bestimmt, ist alles andere als einleuchtend.
Dass sie gleichwohl einen wohlbegründeten Sinn hat, geht erst aus
den Überlegungen hervor, zu denen Husserl im zweiten Buch der Ideen
zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie
gelangt. Gemeint ist vor allem der allerletzte Paragraph dieses Werkes,
in dem Husserl – wie wir am Ende der Abteilung A des vorliegenden
Teils unserer Untersuchungen gesehen haben – davon ausgeht, dass die
Dinge in der Welt kein von vornherein feststehendes und ein für alle
Mal erfassbares Eigenwesen haben, dass ihnen vielmehr stets nur ein
»offenes Wesen« zukommt, das immer wieder »neue Eigenschaften an-
nehmen kann«. 253 Wie im Zusammenhang mit den »agonalen Weltent-
würfen« davon bereits die Rede war, kommt in diesem Text zugleich ein
Zweifel an der Idee des Transfiniten auf, der Husserl dazu nötigt, die
Frage nach einer offenen Unendlichkeit der Welt zu stellen.

253
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie, Zweites Buch, S. 299.

543
B. Das Unendliche der Welt

5. Die Bedeutung von Husserls Frage nach der Unendlichkeit


als »Offenheit«

Husserls Grund, die Annahme der durchgängigen Bestimmbarkeit der


Einzeldinge in Frage zu stellen, ergibt sich gerade daraus, dass er den
Einzeldingen kein von vornherein feststehendes und ein für alle Mal
erfassbares Eigenwesen zuschreibt, sondern davon ausgeht, dass ihr
»offenes Wesen« immer wieder neue Eigenschaften annehmen kann.
Gemeint sind nicht etwa Eigenschaften, die neu entdeckt werden, son-
dern Eigenschaften, die neu entstehen. Der Ausdruck »offenes Wesen«
hat hier ebendeshalb keinen epistemologischen, sondern einen ontolo-
gischen Sinn. Im zweiten Buch der Ideen zu einer reinen Phänomeno-
logie und phänomenologischen Philosophie hat Husserl in erster Linie
die neu aufkommenden Kulturprädikate der Dinge im Auge: Aus Fels-
blöcken und sonstigem Gestein entstehen Wohnhäuser und Tempel,
Dörfer und Städte. Es handelt sich dabei nicht um neue Erkenntnisse,
sondern um neue Seinsgebilde: Aus der Natur wird Geschichte, Kultur
und geistige Welt. Wird das »offene Wesen« der Dinge so verstanden,
so kann die Welt, zu der die Dinge gehören, nicht mehr als eine in sich
geschlossene und selbstgenügsame Natur aufgefasst werden. Ihren Ort
findet die Natur nunmehr in einer Gesamtwelt, die als Geschichte, Kul-
tur und geistige Welt bestimmt ist. Die Neuverortung der Natur in
dieser Gesamtwelt ist selbst ein geschichtlicher, kultureller und geistig
bestimmter Vorgang. In diesem Prozess kommt der Entdeckung mathe-
matischer Eigenschaften an Naturdingen eine grundlegende Rolle zu.
In einer Natur, die »closed to mind« ist, kann die Sonne, streng genom-
men, gar nicht als »kreisförmig«, sondern nur als »rund« bezeichnet
werden; »kreisförmig« wird sie erst in einer geschichtlich, kulturell
und geistig bestimmten Gesamtwelt, die auch mathematische Idealitä-
ten in sich schließen kann.
Diese Überlegungen machen verständlich, warum Husserl nun-
mehr von Cantors Idee des Transfiniten Abstand nimmt. Bereits diese
Idee bezeichnet zwar eine offene – weil vermehrbare und daher vom
Absolutunendlichen deutlich zu unterscheidende – Unendlichkeit. Aber
sie ist mit dem Grundsatz durchgängiger Bestimmbarkeit untrennbar
verbunden. Eine transfinite Menge besteht von vornherein aus wohl-
unterscheidbaren Elementen.254 Darüber hinaus ist – unabhängig von

254 In seiner Auseinandersetzung mit der Mengenlehre hebt Marc Richir hervor, dass die

544
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

unserem jeweiligen Wissensstand – an sich immer schon entschieden,


welche Elemente sie enthält und welche nicht. Damit ist aber zugleich
ein in sich fertig vorliegendes Universum von Elementen vorausgesetzt,
die im mathematischen Sinne des Wortes ein für alle Mal – oder, wie
wir mit Husserl ebenfalls sagen können, »allzeitig« – existieren. Diese –
innerhalb der Mathematik ganz und gar einwandfreie und auch völlig
unbeanstandete – Voraussetzung führt in der Anwendung der Idee des
Transfiniten auf Erfahrungsdinge zu einer bedenklichen Konsequenz.
Sie kommt – wie Husserl in seiner Frage nach der Unendlichkeit als
»Offenheit« bemerkt – der Annahme gleich, die Welt sei »ein in sich
fertig seiendes, ein allumfassendes Ding oder abgeschlossenes Kollekti-
vum von Dingen, das aber eine Unendlichkeit von Dingen in sich ent-
halte«. Diese Annahme ist deshalb fragwürdig, weil sie dem Gedanken
eines »offenen Wesens« der Dinge widerspricht. In einer Welt, in der
die Dinge kein von vornherein feststehendes und ein für alle Mal er-
fassbares Eigenwesen haben, sondern immer wieder neue Eigenschaften
annehmen können, findet Cantors Idee des Transfiniten ebendeshalb
keine Verwendung. Vermutlich darauf wird Husserl im zweiten Band
der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie aufmerksam. Deshalb betrachtet er das Transfinite nun-
mehr mit kritischem Auge.
Seine Vorbehalte betreffen die Vorstellung von einem in sich fer-
tigen und allumfassenden Universum immer schon vorhandener Ele-
mente. Dieser Kritik kommt eine grundlegende Bedeutung für den Auf-
bau einer phänomenologischen Metaphysik zu. Schon deshalb, weil sie
eine deutliche Unterscheidung zwischen Ding und Welt erforderlich
macht. Husserl verwirft die Gleichsetzung der Welt mit einem in sich
fertigen und allumfassenden Ding ebenso wie mit einem abgeschlosse-
nen Kollektivum von Dingen. Näher besehen geht es jedoch auch noch

wohlunterscheidbaren Elemente, von denen die Mathematik ausgeht, bereits Idealisie-


rungsprodukte sind. Schon in dem vierten Stück der Recherches phénoménologiques aus
dem Jahre 1983, das einer Analyse von Richard Dedekinds Was sind und was sollen die
Zahlen? (siehe in: Was sind und was sollen die Zahlen? – Stetigkeit und irrationale
Zahlen, Braunschweig: Friedrich Vieweg & Sohn 1965) gewidmet ist, stellt er diese The-
se in den Mittelpunkt seiner kritischen Überlegungen, indem er zu zeigen sucht, dass die
»vollständige Individuiertheit« der Elemente, von der die Mathematik ausgeht, auf
einem transzendentalen Schein beruht. Siehe Marc Richir, Recherches phénoménologi-
ques, 2 Bände, Brüssel: Ousia 1981, 1983, Bd. II, S. 12–109, hier besonders S. 22 und
S. 44 f.

545
B. Das Unendliche der Welt

um eine andere Unterscheidung. Es kommt ja ebenfalls darauf an, die


Gleichsetzung des Unendlichen mit einem in sich fertigen und all-
umfassenden Universum immer schon vorhandener Elemente zu be-
kämpfen. Auf die Sphäre der Erfahrung angewandt verlangt diese For-
derung nichts anderes als eine Unterscheidung des Unendlichen
einerseits von der Seinstotalität des Dinges und andererseits von der
Gesamtwirklichkeit der Welt.
Eine diakritisch angelegte Phänomenologie kann sich auf eine alte-
ritätstheoretische Argumentationsweise stützen, um diese Unterschei-
dung zu begründen. Es ist die Möglichkeit neu entstehender and anders
bestimmter Elemente, die den Grundsatz durchgängiger Bestimmbar-
keit in seiner Anwendung auf das Erfahrungsding und die Erfahrungs-
welt in Frage stellt. Denn die Behauptung, das Ding sei an sich voll-
ständig bestimmt, kann unter diesen Umständen nicht auf eine fertig
vorliegende Gesamtheit möglicher Eigenschaften oder Prädikate bezo-
gen werden. Es kommen vielmehr neue Eigenschaften auf, die den Vor-
rat an möglichen Prädikaten auf eine unvorhersehbare Weise erweitern.
Eine diakritische Phänomenologie muss dem damit einhergehenden
Anderswerden der Dinge Rechnung tragen. Auf die Bestimmung des
Dinges als eine Idee in Kant’schem Sinne braucht sie deswegen zwar
nicht zu verzichten, aber sie muss im unendlichen System möglicher
Erfahrungen mehr als bloße Leerstellen einräumen. Im Anschluss an
Aristoteles kann sie von vornherein betonen, dass dem allseitig unend-
lichen Erscheinungskontinuum, dem das Ding seine Unerschöpflichkeit
zu verdanken hat, keine extensiv-transfinite, sondern vielmehr immer
nur eine »intensive« Unendlichkeit zukommt, da das Erscheinen einer
Dingabschattung notwendig mit dem Verschwinden anderer Ding-
abschattungen einhergeht. Aber die »Offenheit«, die Husserl im Auge
hat, unterscheidet sich von Cantors Idee des Transfiniten radikaler noch
als die auf Aristoteles zurückgehende Vorstellung von einer intensiven
Unendlichkeit. Sie verlangt nämlich auch nach einer Dynamisierung
des allseitig unendlichen Erscheinungskontinuums, mit dem das Ding
gleichgesetzt werden kann, indem sie mit der Möglichkeit unverfüg-
barer Erfahrungen rechnet, die im unendlichen System möglicher Er-
fahrungen an die unbesetzten Leerstellen treten, auf dieses System wie
Fremdkörper störend einwirken, in ihm Spuren der Andersheit hinter-
lassen oder es sogar zu sprengen drohen. 255

255 Auf ähnliche Weise versucht Gilles Deleuze, die von ihm als virtuelles System inter-

546
Husserls Weg zu einer Phänomenologie des Unendlichen

Die so verstandene Offenheit unterscheidet das Unendliche nicht


nur von der Seinstotalität des Dinges, sondern auch von der Gesamt-
wirklichkeit der Welt. Als Erfahrungskategorie gehört das Unendliche
mit der Weltwirklichkeit als dem Gesamtausdruck aller Einstimmig-
keitstendenzen aufs Engste zusammen, ohne mit ihr gleichgesetzt wer-
den zu können. Im Gegensatz zu den übrigen Kategorien der Erfahrung
wie Raum, Zeit, Kausalität oder Handlungsteleologie drückt es keines-
wegs etwa eine Einstimmigkeitstendenz unter anderen aus; vielmehr
bringt es den Tendenzcharakter aller Einstimmigkeitstendenzen in die
Gestalt eines einheitlichen Begriffs. So bildet das Unendliche eine Be-
dingung, unter der diese Einstimmigkeitstendenzen ihren Beitrag zur
Konstitution einer Welt überhaupt leisten können. Gemeint ist die Be-
dingung, dass jede Einstimmigkeitstendenz Spuren der Andersheit in
sich trägt, die auf die jeweilige Gesamtwirklichkeit störend einwirken,
weil sie über sie hinausweisen. Ohne solche Spuren der Andersheit wä-
ren die Einstimmigkeitstendenzen keine Tendenzen mehr, sondern voll-
endete Gegebenheiten. Deshalb fällt aber das Unendliche mit der Ge-
samtwirklichkeit der Welt niemals zusammen.
Mit der – in der scotistischen Tradition von langer Hand vorberei-
teten und bei Leibniz zu einer gewissen Vollendung gelangenden – Me-
taphysik, die das Wirkliche aus der Gesamtheit der Möglichkeiten ab-
leitet, versucht bereits Kant zu brechen, indem er die Gesamtheit der
Möglichkeiten nicht mehr kollektiv in einem einzigen Seienden ver-
einigt, sondern in der Erfahrung – distributiv ansiedelt und aus der
Erfahrung zu versammeln sucht. Aber er bleibt gleichsam auf halbem
Wege stehen, indem er die Grenzen möglicher Erfahrung a priori be-
stimmt und das Dasein in der Erscheinungswelt an die Bedingung einer
notwendigen Einstimmigkeit der Erfahrung bindet. Dagegen fasst Hus-

pretierte Idee zu dynamisieren (und damit die »Struktur« mit der »Genese« zu verbin-
den), indem er die Aktualisierung des Virtuellen als eine »Differenzierung« auffasst, die
der inneren Gliederung des in sich differentiellen Systems nicht unmittelbar entspricht
und deshalb ein »Ereignis« darstellt, das über die systeminterne »Differentiation« der
Idee hinausführt. Dieser Versuch drückt sich in der griffigen Formel différent/ciation
(auf Deutsch: Differentiation/ Differenzierung) aus. Siehe Deleuze, Différence et répéti-
tion, S. 242, S. 267, S. 270, S. 274, S. 276, S. 284 f., S. 316 f., S. 319–322, S. 358 und öf-
ters; dt. S. 238, S. 262, S. 265, S. 268, S. 270 f., S. 278 f., S. 310, S. 313–316 und öfters.
Vgl. bereits Gilles Deleuze, »La méthode de dramatisation«, in: Bulletin de la société
française de la philosophie 61 (1967), S. 89–118; wieder abgedruckt in: L’île déserte.
Textes et entretiens 1953–1874, hg. von David Lapoujade, Paris: Minuit 2002, S. 131–
162, hier: S. 140 f.

547
B. Das Unendliche der Welt

serl die Einstimmigkeit der Erfahrung nicht mehr als eine apriorische
Notwendigkeit auf, sondern als eine bloße Urtatsache, die auch nur ten-
denziell zur Geltung kommt. Mit seinem Hinweis auf die Unendlichkeit
als Offenheit betritt er aber erst recht einen Weg, der zur Überwindung
des scotistisch-leibnizianischen Grundtyps traditioneller Metaphysik
führen kann. Denn dieser Hinweis lässt die Möglichkeit erkennen, ei-
nerseits der Wirklichkeit des Weltfaktums die ihr gebührende Stellung
in der Metaphysik zu geben, ohne sie von vornherein in der Gesamtheit
der Möglichkeiten zu verorten, andererseits das Unendliche von der
Gesamtwirklichkeit dennoch deutlich zu unterscheiden. Die Dynami-
sierung des Husserl’schen Erscheinungskontinuums stellt einen Ver-
such dar, diese Möglichkeit mit Hilfe alteritätstheoretischer Überlegun-
gen zu verwirklichen.
Dazu gehört eine abschließende Bemerkung. Eine diakritisch ge-
wendete Phänomenologie versteht den Unterschied zwischen dem Un-
endlichen und der Gesamtwirklichkeit der Welt von vornherein als eine
»diakritische Differenz«. Darin liegt, dass sie die notwendige Zusam-
mengehörigkeit des Unterschiedenen zugibt und anerkennt. Es geht
ihr ebendeshalb zwar um eine Unterscheidung, nicht aber um eine
Trennung des Unendlichen von der Seinstotalität des Dinges und der
Gesamtwirklichkeit der Welt. Mit einem Unendlichen jenseits von Ding
und Welt hat eine diakritische Phänomenologie als solche nichts zu tun.
Ihr kommt es einzig und allein darauf an, das Unendliche dieser Welt zu
erfassen.

548
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

Die Grundlagen einer phänomenologischen Metaphysik liegen uns vor.


Sie tragen einen Weltentwurf, der durch einen metontologischen
Transzendentalismus geprägt ist und dem naturalistischen Autarkismus
deutlich, beinahe schroff – wenn auch nicht ohne agonalen Respekt –
gegenübersteht. Dieser Weltentwurf verortet die Natur in einer Ge-
samtwelt, die im Ganzen als Geschichte, Kultur und geistige Welt be-
stimmt ist. Er räumt neben der Naturkausalität auch der Handlungs-
teleologie einen Platz ein. Der Handlungsfreiheit prägt er dabei den
Charakter partieller Kausalität auf und weist ihr zugleich die Rolle des
(allerdings in sich selbst abgründigen) Grundes aller Gründungszusam-
menhänge zu.
Wollen wir diesen Weltentwurf zusammenfassend charakterisie-
ren, so werden wir auf vier Grundpfeiler aufmerksam, auf denen er
errichtet ist und die sich als »Phänomenologie der Welt«, als »Metaphy-
sik zufälliger Faktizität«, als »transzendentalphänomenologische Kate-
gorialanalyse« und als »Diakritik von Totalität und Unendlichkeit« be-
zeichnen lassen. Zum Abschluss wollen wir diese Grundpfeiler im
Rückblick deutlicher hervortreten lassen.
Erster Grundpfeiler: Weltphänomenologie. Auf den Blättern des
vorliegenden Buches wurde die Phänomenologie im Ganzen als eine
Phänomenologie der Welt verstanden, die den Akzent weder auf die
transzendentale Subjektivität noch auf die ontologische Differenz, son-
dern auf den Unterschied zwischen Ding und Welt setzte und dement-
sprechend die phänomenologische Reduktion als eine Methode ver-
stand, die dazu bestimmt ist, das vergegenständlichte, in idealisierender
Objektivierung verfestigte Ansichsein der Dinge außer Spiel zu setzen,
um im Rückgang auf die lebensweltliche Erfahrung die Horizonte zu
enthüllen, in denen die Dinge von vornherein eingebettet liegen, und
damit zugleich die Welt als den Horizont der Horizonte, als Universal-
horizont aller Dinge zum Aufweis zu bringen. Bei der Deutung des

549
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

damit in den Mittelpunkt gerückten Unterschieds stützten wir uns auf


die von Husserl stammende Idee, dass Ding und Welt als unendliche
Abschattungsmannigfaltigkeiten zu gelten hätten, und wir versuchten,
die damit gemeinten Erscheinungsmannigfaltigkeiten zugleich als in
sich differentielle Systeme der Erfahrung zu begreifen.
Einer strukturalistischen Sichtweise haben wir uns jedoch nicht
verschrieben, da wir mit Merleau-Ponty nach der »Einschaltung« des
jeweiligen Erfahrungssubjekts »in ein universelles diakritisches Sys-
tem« fragten und forschten. Wir schlossen uns auch keiner poststruk-
turalistischen Differenzphilosophie an, da wir den aufgewiesenen Un-
terschied nicht etwa – im Sinne des von Deleuze ausdrücklich
geforderten »Sprunges in die Ontologie« 1 – als ein subjekttranszendie-
rendes Weltprinzip ansetzten, sondern das Erscheinen des Erscheinen-
den samt dem Aufkommen des Unterschieds zwischen Ding und Welt
als ein Widerfahrnis zu begreifen suchten, das von sich aus dem jewei-
ligen Selbst in der Erfahrung begegnet und ihm seine Fremdheit, sein
Anders-als-das-Selbst-sein spürbar macht.
Zu dieser Beschreibung des ersten Grundpfeilers gehören einige
erläuternde Bemerkungen. Bereits Deleuze hatte das Ereignis des Er-
scheinens mit einem »Blitz« verglichen, der sich vom »schwarzen Him-
mel« als Untergrund abhebt, ohne dass sich dieser Untergrund seiner-
seits von ihm unterscheidet. 2 Damit hatte er ein aussagekräftiges Bild
für seinen Versuch geprägt, die Bergson’sche Gegenüberstellung von
Sein und Denken, Raum und Dauer, Materie und Geist durch die Be-
stimmung des Absoluten als Differenz 3 zu überwinden, ohne auf das
Weltverhältnis des Erfahrungssubjekts überhaupt eingehen zu müssen.
Mit diesem differenzphilosophischen Sprung in die Ontologie hat-
te bereits Deleuze den Weg vorgezeichnet, der nach den heutigen An-
hängern eines speculative realism dazu führen soll, das Korrelations-
apriori transzendentalphilosophischer Weltentwürfe und damit die
kopernikanische Wende der Metaphysik grundsätzlich in Frage zu
stellen. 4 Ein mit diesen neueren Bestrebungen verwandtes Anliegen

1
Deleuze, Le bergsonisme, S. 52; dt. S. 76.
2
Vgl. Deleuze, Différence et répétition, S. 43; dt. S. 49.
3 Deleuze, Le bergsonisme, S. 27; dt. S. 50. Vgl. Gilles Deleuze, »La conception de la

différence chez Bergson«, in: Les études bergsoniennes 4 (1956), S. 77–112, wieder abge-
druckt in: L’île déserte et d’autres textes. Textes et entretiens 1953–1974, S. 43–72, hier:
S. 53.
4 Siehe dazu Quentin Meillassoux, Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contin-

550
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

drückte er ja in seinem Buch über das Kino aus, indem er der Hus-
serl’schen Grundthese vom Bewusstsein als einem Bewusstsein von
etwas die von ihm Bergson zugeschriebene Grundthese, das Bewusst-
sein sei etwas, sei also im Sein selbst situiert, entgegensetzte. 5 Diesen
Bestrebungen wurde im vorliegenden Buch die Idee eines metontologi-
schen Transzendentalismus entgegengehalten, der die Existenz einer
der Korrelation von Bewusstsein und Wirklichkeit vorausgehenden
Weltphase durchaus anerkennt, aber darauf besteht, dass diese Welt-
phase uns erst im Ausgang von der nunmehr bestehenden Korrelation
zwischen Bewusstsein und Wirklichkeit durch eine rückläufige Konsti-
tution greifbar wird.
Der metontologische Transzendentalismus ist der Phänomenologie
verpflichtet, nicht aber dem Subjektivismus und dem Idealismus, von
denen die Phänomenologie in manchen ihrer Spielarten bedroht ist. Der
Gefahr des Subjektivismus entkommt er durch eine Sicht aufs Unend-
liche, der des Idealismus durch einen Rückzug auf das Leibhaftige. Das
Ding in der Welt versteht er als ein allseitig unendliches Erscheinungs-
kontinuum und weist so der von Husserl wiederholt behandelten Idee
im Kant’schen Sinn eine grundlegende Rolle in der Erfahrung zu, aber
er verbindet diese Idee mit der von Husserl ebenfalls betonten leibhaf-
tigen Gegebenheit des Dinges in der sinnlichen Wahrnehmung.
Zweiter Grundpfeiler: Metaphysik zufälliger Faktizität. Wir haben
die Existenz der Welt als eine Urtatsache begriffen, der nichts mehr als
eine faktische Notwendigkeit – die Notwendigkeit eines Faktums – zu-
kommt. Wir verbanden diese Urtatsache mit dem Cogito, indem wir
ihm mit Husserl ebenfalls die Notwendigkeit eines Faktums zugestan-
den. Einem Cartesianismus haben wir uns damit allerdings nicht ver-

gence, Paris: Seuil 2006; ders., Le Nombre et la Sirène. Un déchiffrage du Coup de dés de
Mallarmé, Paris: Fayard 2011; Graham Harman, Quentin Meillaissoux. Philosophy in
the Making, Edinburgh: Edinburgh University Press 2011; ders., Towards Speculative
Realism. Essays and Lectures, Winchester, UK und Washington, USA: Zero Books 2010;
Ray Brassier, Nihil Unbound. Enlightenment and Extinction, Hampshire: Palgrave
Macmillan 2007; Ian Hamilton Grant, Philosophies of Nature After Schelling, London
und New York: Continuum 2006. Vgl. Robin Mackey (Hg.), Collapse. The Journal of
Philosophical Research and Development 2 (March 2007), mit Beiträgen von Quentin
Meillassoux, Ray Brassier, Graham Harman, Roberto Trotta und anderen. Hierzulande
zeigt vor allem Markus Gabriel ein gewisses Interesse an dieser in sich vielfältigen Denk-
strömung, die neben Gilles Deleuze hauptsächlich an Alain Badiou orientiert ist.
5
Gilles Deleuze, Cinéma, 2 Bände (Bd. I: L’image-mouvement, Bd. II: L’image-temps),
Paris: Minuit 1983, 1985, hier: Bd. I, S. 83 f. und S. 89 f.

551
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

pflichtet, weil wir die faktische Notwendigkeit des Cogito – im Gefolge


von Husserl und Sartre – von vornherein auch auf andere Urtatsachen –
so etwa auf das Weltfaktum, die Existenz des Anderen und die Ge-
schichtlichkeit – ausdehnten. Ebenso wenig haben wir uns damit einem
Kantianismus verschrieben, da wir die Einsicht in die Zufälligkeit ein-
stimmiger Erfahrung durch keine Deduktion aus der transzendentalen
Apperzeption auslöschen wollten. So sind wir für eine Phänomenologie
eingetreten, die dem metontologischen Transzendentalismus auch darin
treu bleiben konnte, dass sie vom Bewusstsein ausging, ohne jedoch
damit das allzu selbstgenügsame und selbstmächtige Subjekt der neu-
zeitlichen Philosophie in seine keineswegs ohne Grund verlorenen
Rechte wieder einzusetzen.
Ein Weltentwurf, der sich auf einen metontologischen Transzen-
dentalismus gründet, gehört zu keiner Metaphysik im gewöhnlichen
Sinne des Wortes. Er setzt vielmehr geradezu einen Bruch mit der tra-
ditionellen Metaphysik voraus, und zwar schon deshalb, weil er sich auf
Urtatsachen stützt, die dem Sein das Gepräge zufälliger Faktizität auf-
drücken. Husserl hatte aber wohl recht, als er in diesem Bruch nicht
etwa die Überwindung aller Metaphysik sah, sondern auf der Möglich-
keit einer neuartigen, phänomenologisch angelegten Metaphysik be-
stand. In seiner metaphysischen Periode ging Heidegger ähnlich ans
Werk. In der Neuen Phänomenologie Frankreichs zeichnete sich eben-
falls eine Möglichkeit ab, die Phänomenologie als eine andere Erste Phi-
losophie zu verstehen. Diese Ansätze haben dazu geführt, dass sich
heute die phänomenologische Bewegung vor die Aufgabe gestellt sieht,
eine Metaphysik zufälliger Faktizität von der Metaphysik im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes zu unterscheiden. Das vorliegende Buch dürfte
als ein Versuch gelten, diese Aufgabe in einem ersten Anlauf anzu-
packen.
Dritter Grundpfeiler: transzendentalphänomenologische Katego-
rialanalyse. In der phänomenologischen Metaphysik spielt die Katego-
rienforschung eine zentrale Rolle. Sie wurde in der gegenwärtigen Ab-
handlung auf die Grundlage transzendentaler Argumente gestellt, die
den »Experientialien« den Charakter von Einstimmigkeitstendenzen
der Erfahrung zuerkannten und sie als Bedingungen der Möglichkeit
für das Weltfaktum herauszustellen suchten. Allerdings wurden sie da-
bei dem Herrschaftsbereich bestimmender Urteilskraft entzogen und
dem Problemfeld reflektierender Urteilskraft eingeordnet. Als Ausdrü-
cke von Einstimmigkeitstendenzen der Erfahrung sind die Erfahrungs-

552
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

kategorien oder Experientialien – und unter ihnen vor allem Raum,


Zeit, Kausalität, Handlungsteleologie und Handlungsfreiheit – von be-
sonderer Bedeutung für eine phänomenologische Metaphysik. Der
Weltwirklichkeit und der Unendlichkeit kommt eine Sonderstellung
unter den Erfahrungskategorien zu. Die Weltwirklichkeit als Experien-
tial gilt als der Gesamtausdruck aller Einstimmigkeitstendenzen der Er-
fahrung. Im Unendlichen als Erfahrungskategorie bekundet sich dage-
gen der generelle Tendenzcharakter aller Einstimmigkeitstendenzen,
der Spuren der Andersheit und damit Störungen der Einstimmigkeit
nicht aus-, sondern vielmehr einschließt.
Diese beiden Erfahrungskategorien zeigen zugleich, dass nicht al-
lein Experientialien, sondern auch Metakategorien wie Einheit, Ganz-
heit (Totalität), Andersheit (Alterität) oder auch Unterschied (Diffe-
renz) für die phänomenologische Metaphysik von Bedeutung sind.
Derartige Metakategorien treten immer wieder als fungierende oder
operative Begriffe in der Bestimmung der Erfahrungskategorien auf.
Aber sie können auch als thematische Begriffe zum Gegenstand eigener
Erörterungen gemacht werden. So kann eine diakritische Phänomeno-
logie zum Beispiel nicht allein den Unterschied von Ding und Welt so-
wie den Unterschied von Totalität und Unendlichkeit erforschen, son-
dern sie kann sich ebenfalls auf den Unterschied oder die Differenz als
Metakategorie besinnen. Allerdings spielten die Metakagorien in der
vorliegenden Abhandlung nur als fungierende oder operative Begriffe
eine Rolle. Ihre Thematisierung bleibt weiteren Untersuchungen vor-
behalten.
Vierter Grundpfeiler: Diakritik von Totalität und Unendlichkeit.
Aus dem metontologischen Transzendentalismus erwächst ein Weltent-
wurf, der sich als eine Metaphysik des Transfiniten begreifen lässt, ohne
allerdings mit Cantors ursprünglicher Vorstellung von dieser Metaphy-
sik übereinzustimmen. Dieser Weltentwurf bestimmt die Unendlich-
keit des Erscheinungskontinuums, mit dem er das Ding in der Welt
gleichsetzt, von vornherein als eine intensive Unendlichkeit, wie sie
aus der lebensweltlichen Erfahrung nicht-Cantor’scher Kontinua her-
vorgeht und seit Aristoteles auch im philosophischen Denken heimisch
ist. Aber mit einem Rückgriff auf die Idee intensiver Unendlichkeit be-
gnügt sich der metontologische Transzendentalismus nicht. Er verbin-
det sich mit einer diakritischen Phänomenologie, um einen Unterschied
zwischen dem Unendlichen und der Seinstotalität oder Gesamtwirklich-
keit von Ding und Welt herauszustellen. Diesen Unterschied versteht er

553
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

alteritätstheoretisch und begründet ihn, indem er den Grundsatz durch-


gängiger Bestimmung (omnimoda determinatio) in Frage stellt. So ver-
sucht er, die Unendlichkeit – einem Hinweis von Husserl folgend – als
»Offenheit« zu begreifen.
Als Diakritik von Totalität und Unendlichkeit knüpft der metonto-
logische Transzendentalismus an eine Jahrtausende alte Tradition an,
die von der platonischen Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ (»Jenseits des
Seins«) ausgeht und nicht nur von Plotin bis zu Nicolaus Cusanus, son-
dern auch weiterhin bis zu Hegel und Schelling, ja sogar bis zu Levinas
immer wieder neue Früchte getragen hat. Freilich wäre es unbegründet
und irreführend zu meinen, dass diese Tradition als ganze etwa in einen
Gegensatz zur ontotheologisch angelegten Metaphysik gebracht wer-
den könnte. Sie pfropft sich ja, wie Jean-Marc Narbonne deutlich er-
kannt hat, auf die katholou-protologische Grundstruktur der Metaphy-
sik auf und versteht den von ihr ins Auge gefassten Anfangsgrund
genauso wie die von Aristoteles ausgehende Traditionslinie von vorn-
herein als Uranfang, Ursprung oder Ursache und damit als Prinzip einer
Seinshierarchie. Als Lehre vom Einen jenseits des Seins (also als »He-
nologie«) ist sie darüber hinaus eine »Einheitsmetaphysik«, die der pla-
tonischen Teilhabelogik verhaftet bleibt. Die Seinstranszendenz wird in
ihr obendrein keineswegs etwa als Außer-, sondern als Überseiendheit
ausgelegt. So ist es dann nur folgerichtig, wenn für die eigentümliche
Seinsart des Überseienden von späteren Neuplatonikern (besonders von
Proklos und Damaskios) eigene Seinsausdrücke wie ὑπόστασιϚ und
ὕπαρξιϚ geprägt werden. Ebendeshalb taucht aber die Frage auf, was
in dieser Tradition mit der Formel ἐπέκεινα τῆϚ οὐσίαϚ eigentlich ge-
meint ist. Die Antwort auf diese Frage wird von Neuplatonismus-For-
schern wie Gerhard Huber und Jean Marc Narbonne in einer Über-
schreitung des Seins als Totalität zum Einen und zum Unendlichen –
oder vielmehr zum Einen als dem Unendlichen – hin gesucht.
Die von Levinas stammende, aber mit ihm beinahe gleichzeitig
auch von Adorno verwendete Gegenüberstellung von Totalität und Un-
endlichkeit trifft genau den Sinn der damit angedeuteten Antwort, ohne
allerdings den henologischen Kontext mit heraufzubeschwören. Die
Herauslösung dieses Begriffspaars aus dem ursprünglichen Kontext, in
dem es geprägt wurde, ist von entscheidender Bedeutung: Sie begründet
den Unterschied, der eine Diakritik von Totalität und Unendlichkeit von
der traditionellen Metaphysik trennt.
Wir ziehen nur den letzten Schluss aus unseren Untersuchungen,

554
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

wenn wir diesen Unterschied auch durch die Feststellung unterstrei-


chen, dass eine phänomenologische Metaphysik zufälliger Faktizität
eine Metaphysik ohne Ontotheologie ist. Nach Heideggers ursprüng-
licher Auffassung enthält dieser Ausdruck ohne Zweifel eine contra-
dictio in adjecto. Aber die Ersetzung der Heidegger’schen Wesensdefi-
nition der Metaphysik durch eine verfeinerte Typologie in der
französischen Philosophiegeschichtsschreibung der letzten Jahrzehnte
hat deutlich gemacht, dass nicht jeder Metaphysik eine onto-theo-logi-
sche Verfassung im vollen Sinne des Wortes zugeschrieben werden
kann und dass ebendeshalb eigentlich keine Metaphysik darin aufgeht,
eine Ontotheologie zu sein. Eine Metaphysik ohne Ontotheologie ist
daher alles andere als ein Ding der Unmöglichkeit.
Ein Weltentwurf, der das Unendliche in seinem Unterschied zur
Seinstotalität des Dinges und zur Gesamtwirklichkeit der Welt diakri-
tisch und alteritätstheoretisch behandelt, ist keineswegs ontotheolo-
gisch angelegt. Er lässt kein notwendiges Wesen zu, das als höchstes
oder sogar ursprüngliches Seiendes Sein gründen und abkünftiges Sei-
endes begründen könnte. Zugleich ist er aller Jenseitigkeit – jedweder
metaphysischen Hinterwelt – abhold. Er drückt das Unendliche der
Welt in seiner Diesseitigkeit aus. Gerade dadurch eignet er sich dazu,
den Kern einer Metaphysik zufälliger Faktizität zu bilden.
Damit ist allerdings kein Versuch, sich auf das Gottesverhältnis des
Menschen zu besinnen, von vornherein ausgeschlossen. Mit dem Sturz
der Ontotheologie ist das Schicksal der Theologie in unserem Zeitalter
noch nicht entschieden. Bereits Levinas war bestrebt, die Möglichkeit
einer Rede von Gott ohne Ontotheologie zu begründen. In der phäno-
menologischen Bewegung folgten ihm – an Michel Henry ebenfalls an-
knüpfend – manche Denker, wie etwa Jean-Luc Marion oder Jean-Louis
Chrétien, die vor allem in der christlichen Liebestheologie sowie in der
Theologie des Appells eine Alternative zur Ontotheologie erblickten.
Erwähnt sei auch der bekannte Idealismusforscher Miklós Vető, der sich
in L’élargissement de la métaphysique und in gleichzeitig verfassten
Aufsätzen neben Kant, Fichte, Hegel, Schelling und anderen weit-
gehend auch auf die Phänomenologie stützt. 6 Ob der letzte Sinn seines
Versuchs nicht darin besteht, die Ontotheologie wieder in ihre Rechte
einzusetzen, kann hier allerdings nicht entschieden werden.

6
Miklos Vetö, L’élargissement de la métaphysique, Paris: Hermann 2012; vgl. ders,
Explorations métaphysiques, Paris: L’Harmattan 2012.

555
Schluss: Metaphysik ohne Ontotheologie

Vor allem das Beispiel von Levinas zeigt, dass eine Besinnung auf
den Unterschied zwischen Totalität und Unendlichkeit eine grundlegen-
de Rolle in den theologischen Bestrebungen jenseits der Ontotheologie
spielen kann. Dieser Zusammenhang begründet sich wohl dadurch, dass
jedes Gottesverhältnis des Menschen letztlich aus der Wahrnehmung
des Unendlichen der Welt erwächst. Nicht ohne Grund leitet bereits
Friedrich Schleiermacher den Glauben an das Göttliche aus einem »Ge-
fühl des Unendlichen« ab. 7
Selbst wenn sie phänomenologisch angelegt sind, gehen jedoch die
theologischen Bestrebungen notwendig über das eigentlich Phänome-
nologische hinaus, weil sie niemals bloß der jeweils behandelten Sache
selbst, sondern zugleich einer bestimmten Überlieferung religiöser Art
zu entsprechen suchen. Wohl zu Recht bestimmt Cantor das Absolut-
unendliche als den Gegenstand der Theologie. Aber das Unendliche der
Welt ist nicht das Absolutunendliche. Es ist vielmehr ein offenes Un-
endliches, das vielleicht jeder Überlieferung religiöser Art zugrunde
liegt, sich aber in keine von ihnen jemals ganz einschließen lässt.

7
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten
unter ihren Verächtern, hg. von Hans Leisegang, Leipzig: Kröner o. J. [1924], S. 58; vgl.
S. 36.

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losophisch-historische Classe, Bd. VIII [1852], S. 306–328.

580
Nachwort und Nachweise

Im vorliegenden Buch sind die Ergebnisse langjähriger Vorarbeiten zu-


sammengefasst. Über diese Vorarbeiten – Vorträge, Vorlesungen und
Veröffentlichungen –, die den Text inhaltlich mitgeprägt haben oder in
ihn sogar in mehr oder weniger veränderter Gestalt eingegangen sind,
soll hier zum Abschluss Auskunft gegeben werden.
Die wichtigsten Grundgedanken der vorliegenden Abhandlung
gehen auf zwei Vorträge zurück. Den ersten habe ich im Januar 2005
an der Katholischen Universität Leuven unter dem Titel »Experience
and Infinity in Kant and Husserl« gehalten (zuerst veröffentlicht in:
Tijdschrift voor Filosofie 68 [2005], S. 479–500; auf Deutsch in meiner
Aufsatzsammlung Erfahrung und Ausdruck enthalten). Der zweite
Vortrag war unter dem Titel »Die Phänomenologie und die Kategorien
der Erfahrung« mein Beitrag zu einer Tagung, die ich zusammen mit
dem Prager Kollegen Karel Novotný im Herbst 2006 über Phänome-
nologie als Erste Philosophie veranstaltet habe; er wurde unter dem
Titel »La phénoménologie et les catégories de l’expérience« (in: Karel
Novotný, Alexander Schnell und László Tengelyi (Hg.), La phénomé-
nologie comme philosophie première [Mémoires des Annales de Phé-
noménologie], Amiens und Prag: Filosofia 2011, S. 153–167) auf Fran-
zösisch veröffentlicht (und auch ins Ungarische und Spanische
übersetzt). Auf Deutsch erscheint er als Teil des vorliegenden Buches
zum ersten Mal.
Eine dreimonatige Gastprofessur an der University of Memphis
(Tennessee, USA), die als Co-teaching mit Prof. Dr. Thomas Nenon
durch ein Stipendium des Erasmus-Mundus-Masterstudeingangs für
»Deutsche und Französische Philosophie in europäischer Sicht« ermög-
licht wurde, hat mir im Herbst 2009 eine Gelegenheit gegeben, den
Gedankengang des gegenwärtigen Buches in einer ersten Fassung vor-
zutragen. Eine Einladung von Prof. Dr. Antonio Zirión nach Morelia in

581
Nachwort und Nachweise

Mexiko ermöglichte im Juni 2011 eine erneute Besinnung auf diesen


Gedankengang.
Zur Abfassung des Ersten Teils habe ich den Text einer unver-
öffentlichten Vorlesung herangezogen, die ich zum ersten Mal im Jahre
2007 als Gastprofessor an der Université Paris Panthéon–Sorbonne (Pa-
ris I) gehalten und im Jahre 2010 als Gastprofessor an der Université
Laval (Québec, Kanada) wiederholt habe. In der letztgültigen Textfas-
sung des vorliegenden Buches wurde dieser Vorlesungstext allerdings
aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt und erheblich (nahezu
ins Dreifache) erweitert. Einige Teile eines in deutscher Sprache ver-
öffentlichten Aufsatzes (»Der Grund und das Grundlose in Hegels Lo-
gik der Andersheit«, in: M. Wunsch [Hrsg.], Von Hegel zur philosophi-
schen Anthropologie. Gedenkband für Christa Hackenesch, Würzburg:
Königshausen & Neumann 2012, S. 33–41) wurden ins Kapitel über
Hegel eingearbeitet.
In den Zweiten Teil und in die Abteilung A des Dritten Teils sind
vier weitere Aufsätze, die in deutscher Sprache erschienen waren, in
geringfügig veränderter Gestalt eingegangen: »Husserls methodologi-
scher Transzendentalismus« (erschienen in: C. Ierna, Hanne Jacobs und
Filip Mattens [Hg.], Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in
Commemoration of Edmund Husserl, Dordrecht: Springer 2010,
S. 135–153); »Erfahrung in der Lebenswelt« (erschienen in: C. F. Geth-
mann [Hrsg.], Lebenswelt und Wissenschaft, Hamburg: Meiner 2011,
S. 1294–1304), »Die Metaphysik des Daseins und das Grundgeschehen
der Weltbildung bei Heidegger« (erschienen in: Ludger Honnefelder et
alii [Hg.], Kants »Streit der Fakultäten« oder der Ort der Bildung zwi-
schen Lebenswelt und Wissenschaft, Berlin: Berlin University Press,
2012, S. 167–185) und »Das Unendliche in philosophischer Sicht« (er-
schienen in: Michael Staudigl und Christian Sternad [Hg.], Figuren der
Transzendenz. Transformationen eines phänomenologischen Grund-
begriffs, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 51–66.).
Zur Auseinandersetzung mit Cantor hat mich eine langjährige Zu-
sammenarbeit mit dem Mathematikphilosophen Prof. Dr. Kai Hauser
(TU Berlin und Universität Barcelona) und dem Mathematiker Prof. Dr.
Michael Reeken (Universität Wuppertal) ermutigt. Diese Zusammen-
arbeit gab nicht nur zu gemeinsam gehaltenen Lehrveranstaltungen,
sondern auch zu mehreren Vorträgen Anlass, die schließlich in stark
überarbeiteter Form in die Abteilung B des Dritten Teils eingegangen
sind. Auch einen bereits auf Deutsch veröffentlichten Text (»Transfinite

582
Nachwort und Nachweise

Zahl und transzendentaler Schein. Kant und Cantor in der Sicht von
Marc Richirs Phänomenologie«, in: Dieter Hüning, Karin Michel und
Andreas Thomas [Hg.], Aufklärung duch Kritik. Festschrift für Man-
fred Baum zum 65. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin 2004,
S. 451–475) habe ich in diese Abteilung eingebaut.
Während der Arbeit an der gegenwärtigen Abhandlung ist wei-
terhin eine ganze Reihe fremdsprachiger Veröffentlichungen entstan-
den, die manchen Gedanken des vorliegenden Buches Ausdruck geben:
»Experience of Infinity in Levinas« (erschienen in: Levinas Studies 4
[2009], S. 111–125); »L’idée de métontologie et la vision du monde
selon Heidegger« (erschienen in: Heidegger Studies 27 (2011),
S. 137–153); »Transformations in Heidegger’s Conception of Truth
between 1927 and 1930« (erschienen in: Pol Vandevelde–Kevin Herm-
berg [Hg.], Variations on Truth. Approaches in Contemporary Pheno-
menology [Issues in Phenomenology and Hermenutics], London/New
York: Continuum 2011, S. 94–108); »Filozófia és világnézet [Philoso-
phie und Weltanschauung]« (erschienen in: B. Blandl–P. Gulyás–
B. Marosán, »A margók előadója voltam.« Emlékkötet Munkácsy Gyu-
la tiszteletére [»Ich war Ränderforscher«. Festschift zu Ehren von
Gyula Munkácsy«], Budapest: Világosság Könyvek 2011, S. 47–66);
»On Merleau-Ponty’s Debate with Sartre’s Phenomenological Meta-
physics«, in: K. Novotný, P. Rodrigo, J. Slatman und S. Stoller (Hg.),
Corporeity and Affectivity. Dedicated to Maurice Merleau-Ponty, Lei-
den und Boston: Brill 2014, S. 235–249 (ungarische Fassung in: Tamás
Ullmann und Péter Váradi (Hg.), Sartre és Merleau-Ponty, Budapest:
L’Harmattan 2011, S. 42–57; chinesische Fassung in: Journal of Pheno-
menology and the Human Sciences 4 [2011], S. 217–237); »Necessity
of a Fact in Aristotle and in Phenomenology« (erschienen in: Philoso-
phy Today 55 [SPEP Supplement 2011], S. 124–132; »On Absolute
Infinity in Cantor«, in: Dermot Moran und Hans Rainer Sepp (Hg.),
Phenomenology 2010, Bd. 4: Selected Essays from Northern Europe,
Bukarest: Zeta Books 2011, S. 529–550); »Number as a Category in
Husserl« (erscheint in einem von János Tőzsér herausgegebenen Heft
der Zeitschrift Studies in East European Thought); »Agonistic World
Projects. Transcendentalism versus Naturalism« (erschienen in: The
Journal of Speculative Philosophy 27 [2013], S. 236–252); »Categories
of Experience and the Transcendental« (erschienen in: Sara Heinämaa,
Mirja Hartineo und Timo Miettinen, Phenomenology and the Trans-
cendental, New York und London: Routledge 2014, S. 49–60).

583
Nachwort und Nachweise

Nach dem Abschluss der Arbeit an dem vorliegenden Buchtext ist


unter dem Titel Grenzprobleme der Phänomenologie (Husserliana,
Bd. XLII, hg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr, Dordrecht, Hei-
delberg, New York und London: Springer 2014) eine – verschiedene
Gegenstandsbereiche umfassende – Auswahl aus Husserls hinterlasse-
nen Forschungsmanuskripten erschienen, die eine ganze Reihe bisher
mit wenigen Ausnahmen unveröffentlichter Texte zum Thema einer
phänomenologischen Metaphysik enthält (S. 137–263). Es handelt sich
um Aufzeichnungen, die sich zwar überwiegend auf einen – von Hus-
serl wohl zu Recht vorausgesetzten – »Trieb zur universalen Einstim-
migkeit« (S. 226) gründen, dabei aber über das phänomenologisch Aus-
weisbare entschieden hinausgehen, indem sie die Urtatsache der
Teleologie als ein »göttliches Faktum« (S. 253) zu begreifen suchen.
Diese Aufzeichnungen konnten in die hier durchgeführte Unter-
suchung nicht mehr einbezogen werden. Künftige Forschungen haben
herauszustellen, inwieweit ihnen eine mehr als eine bloß historische
Bedeutung zukommt.
Die letztgültige Formulierung des Buchtextes, mit der ich im Jahre
2010 angefangen habe, hat mir die Bergische Universität Wuppertal
durch die Bewilligung eines Forschungsfreisemesters und durch weitere
Begünstigungen gefördert. Hiermit sei der Dank, der den erwähnten
Kollegen und Institutionen gebührt, öffentlich ausgesprochen.
Meinem Freund und Mitarbeiter, Dr. Hans-Dieter Gondek, der den
Text der vorliegenden Abhandlung im Manuskript gelesen hat, danke
ich für seine wertvollen Änderungsvorschläge. Meiner Frau, Eva John,
danke ich für die sorgfältige Bearbeitung des Namensverzeichnisses
und des Sachregisters.

584
Namenregister

Adorno, Theodor Wiesengrund 20–21, Augustinus Triumphus von Ancona


152, 192, 554 87, 114
Aegidius von Rom 71, 111 Austin, John Langshaw 14, 425, 511
Al Fārābī 67 Averroes 67, 96, 101
Albertus Magnus 67, 89, 101, 112 Avicenna 67, 84, 96, 101, 104, 344
Alexander von Alexandrien 87
Alexander von Aphrodisias 54–56, 63– Baire, René-Louis 532
65, 177 Bandmann, Hans 487
Algazel 67 Barbaras, Renaud 16
Alsted, Johann Heinrich 109 Bardout, Jean Christophe 25–26, 104
Altobrando, Andrea 315 Baudelaire, Charles 292
Ammonios Hermeiou 65, 102 Baumgarten, Alexander 86–87, 105,
Anaximander 465 111, 159, 173, 303, 344, 415
Andronikos von Rhodos 34–6, 47 Beaufret, Jean 27–28, 127
Angelus Silesius 199, 338 Beierwaltes, Werner 72, 78, 80, 102,
Anscombe, G. E. M. 365 Bergson, Henri 13, 21, 282, 501–506,
Anselm von Canterbury 98, 119, 538–539, 550–551
477 Bernard von Trilia 113
Antonius Andreas 87 Bernet, Rudolf 81, 201, 208, 274, 316,
Antonius Trombetta s. Trombetta, 318, 321, 347
Antonius Berthold von Moosburg 83, 96
Aristoteles 13, 26–27, 29–39, 45–68, Boeckh, August 468
70–73, 77, 80, 83–84, 86–88, 90, 92– Boethius, Ancius Manlius Severinus
96, 98, 101–103, 107, 109, 112, 126, 78, 101–102, 437
131, 144, 150, 157–158, 172–179, Boethius von Dacien 96
189–190, 194, 229, 234–235, 243, Bonaventura 91, 111–112
253–254, 279, 290, 303, 319, 327, Bonansea, Bernardine M. 70, 85
371, 385, 415–416, 428, 437, 439, Borel, Émile 532
466, 468, 475–477, 480, 488–501, Boulnois, Olivier 25–26, 86–87, 89, 91,
503–506, 508, 536, 539, 546, 553– 92–94, 97–106, 110–111, 113–114,
554 419
Asklepios von Tralleis 54, 65–6 Brague, Rémi 25–26, 46–47, 52, 55–
Aubenque, Pierre 26–27, 34–35, 46, 56, 80, 86, 101, 104
50–52, 54–57, 62–63, 77–79, 99, 235 Brassier, Ray 551
Augustinus 91, 101 Brentano, Franz 507, 514–515, 523

585
Namenregister

Brunnhofer, Hermann 482 204–205, 267, 269, 280, 291, 293,


Bruno, Giordano 437, 482–483 307–308, 322, 330, 337, 344, 376,
Buchheim, Thomas 143, 377 379, 394, 404, 437, 551
Burkert, Walter 468 Descombes, Vincent 21
Diels, Hermann 338, 468
Cantor, Georg 17, 300, 341, 419, 435– Dietrich von Freiberg 83, 96
53, 454–468, 470, 472–490, 498– Dilthey, Wilhelm 239, 407
503, 505, 507–510, 534–536, 544– Ducasse, Curt John 347, 365
546, 553, 556 Dummett, Michael 14, 511, 517
Carnap, Rudolf 14 Duns Scotus, Johannes 13, 25, 27, 49,
Carraud, Vincent 25–26, 104, 122– 69–71, 84–87, 89, 91–100, 102–103,
125, 127–128 106–109, 111–112, 114, 117, 131,
Cassirer, Ernst 241, 260, 485 159, 173, 221, 415, 476, 538
Cavaillès, Jean 455
Chalmers, David J. 424–425 Eckhart 83, 91, 96, 111–112, 477
Chisholm, Roderick 14, 365 Einstein, Albert 214, 223
Chrétien, Jean-Louis 286, 555 Euklid (auch euklidisch und nicht-euk-
Cicero, Marcus Tullius 101 lidisch) 492–493, 501–502, 512–513
Clauberg, Johannes 111, 116–117,
121 Fichte, Johann Gottlieb 13, 107, 144,
Clerselier, Claude 115, 118 153, 413, 555
Cohen, Paul J. 454 Fink, Edmund 186, 196–197, 199
Connolly, William E. 432–433 Flasch, Kurt 83, 478, 480
Cornford, Francis Macdonald 59 Føllesdal, Dagfinn 518
Courtine, Jean François 25–27, 31, 34, Foucault, Michel 105, 539
46–47, 52, 55–57, 62–72, 80, 86, 89, Fraenkel, Adolf 341, 436–437, 441,
91–92, 99–101, 104–114, 143–145, 454, 459, 462–463, 473
153, 156, 158, 163 Frank, Erich 468
Cusanus, Nicolaus 83, 437, 476–484, Frank, Manfred 143
488, 554 Franziskus von Marchia 113
Fréchet, Maurice 532
Damaskios 78, 554 Frege, Gottlob 341, 438, 444–445, 474,
Darge, Rolf 70, 109–110 483, 509–512, 517–521, 523, 526
Dauben, Joseph Warren 487 Fries, Jacob Friedrich 437
Davidson, Donald 347, 368 Fuhrmans, Horst 143
Decke, Lüder 369 Furet, François 199
Dedekind, Richard 438, 444, 455,
461, 463, 466, 474, 501, 509–510, Gabriel, Markus 143, 551
545 Gadamer, Hans-Georg 192, 216
Deleuze, Gilles 125, 501, 503–504, Galilei, Galileo 225, 362, 402,
538–539, 546–547, 550–551 Gaskin, Richard 177
Dennett, Daniel 424 Gauß, Carl Friedrich 502
Derrida, Jacques 218, 277, 539 George, Stefan 435
Descartes, René (auch Cartesius, Carte- Geyer, Christian 369–370
sianisch) 13, 25–26, 38, 115–126, Gilson, Étienne 68, 84–86, 99, 103,
129, 142, 160–161, 186–187, 190, 106–107, 110, 163, 173

586
Namenregister

Giovanni da Ripa 113 Horn, Christoph 78


Göckel (Goclenius), Rudolf 105, Huber, Gerhard 81, 554
116 Huffman, Carl A. 468
Gödel, Kurt 341–343, 454–455, 464, Hume, David 13, 141, 344–349, 351–
534 352, 355, 358, 365, 509, 538
Gondek, Hans-Dieter 130, 433 Hutter, Axel 143, 156
Görland, Ingtraud 389–390
Grant, Ian Hamilton 551 Irwin, Terence 59
Gregorio da Rimini (Gregorius Arimi-
nensis) 113 Jaeger, Werner 30–31, 35, 47, 49
Guschwa, Michael 143 James, William 21, 191
Janicaud, Dominique 25–26, 235, 281,
Habermas, Jürgen 20, 143 286–287, 289
Hackenesch, Christa 146–147, 152 Jankélévitch, Vladimir 143
Hadot, Pierre 27, 77–79, 81 Jaran, François 390
Halfwassen, Jens 72, 80–81 Jaspers, Karl 228, 239
Halmos, Paul R. 451
Hankey, Wayne 80, 82 Kaehler, Klaus 153
Harman, Graham 551 Kafka, Franz 363, 538
Hartmann, Nicolai 54, 149, 172, 176, Kant, Immanuel 13–14, 37, 50, 54, 84,
260–261, 279, 315, 373–5, 378–379, 92, 94, 98–9, 111, 117, 129–144, 147,
381, 399, 403, 416 154–156, 159–163, 165, 168, 171,
Hauser, Kai 467–468 173, 179, 186–188, 198–199, 205,
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 208–210, 228, 233, 239, 284, 289–
21, 37–41, 45, 71–72, 107, 121, 143– 294, 297–298, 303–305, 312–317,
154, 157, 161, 164, 191–192, 195– 320, 325, 327, 329–333, 345–346,
196, 239, 269, 273, 278, 300, 306, 351, 356–367, 373, 376–379, 381–
338, 343, 372–4, 378, 389, 431–2, 384, 387–389, 392, 394–397, 404,
554–5 411–413, 423, 427–428, 432, 437,
Heijenoort, Jean van 341–342, 447 459–461, 464, 487–488, 495, 506,
Heinrich von Gent 86–87, 89, 92, 96, 528, 534–542, 546–547, 551–552,
98–99, 106, 108, 111, 114 555
Held, Klaus 18–19, 183, 333, 335 Kern, Iso 181–182, 184, 316, 540
Hempel, Gustav 346 Kerszberg, Pierre 421
Henry, Michel 192, 286, 307, 555 Kim, Jaegwon 14, 355, 365
Heraklit 41–42, 338–339 Kisiel, Theodore 228
Herrmann, Friedrich-Wilhelm von Klibansky, Raimund 83
228 Knutzen, Martin 487
Hilbert, David 341–342, 463 Koch, Robert 426
Hinske, Norbert 94 Kolmogorov, Alexander 532
Hintikka, Jaakko 190, 349 Kornhuber, Hans 369
Hoeres, Walter 70, 85 Koyré, Alexandre 103, 478
Hogrebe, Wolfram 143 Krämer, Hans-Joachim 51, 72–73
Hölderlin, Friedrich 435 Kranz, Walther 338, 468
Honnefelder, Ludger 27, 70, 85–86, 93, Kremer, Klaus 65
96, 107–108, 111, 173 Kripke, Saul A. 14, 171, 349, 351

587
Namenregister

LaCocque, André 102 227, 264–265, 267, 270–278, 286,


Ladrière, Jean 343, 451 300–301, 398, 435, 438, 537–538,
Landgrebe, Ludwig 183, 185 550
Langlois, Luc 71 Micali, Stefano 183
Lask, Emil 373, 472 Michael von Cesena 113
Lebesgue, Henri 532 Mohanty, Jitendranath 517–518
Leibniz, Gottfried Wilhelm 31, 41, 91, Mojsisch, Burkhard 83
115, 118, 121–122, 124–129, 131, Moore, George Edward 423
136, 139–141, 145–147, 149, 154,
159, 187, 205, 228, 252, 330, 337– Nabert, Jean 247–248
338, 343–344, 351–352, 358, 394, Narbonne, Jean-Marc 71, 80–83, 554
437, 482–483, 485–88, 514, 534, 538, Natorp, Paul 30, 45, 49
542, 547, 548 Newton, Isaac 362, 487
Lesniewski, Stanislaw 444 Nietzsche, Friedrich 13, 15, 37, 127,
Levinas, Emmanuel 16, 20, 71–72, 82, 193, 538
192, 195, 247–249, 264–265, 279– Nikolaus von Kues s. Cusanus, Nico-
290, 297–299, 334–335, 380, 554– laus
556
Lévi-Strauss, Claude 301, 537–538 Occham, Wilhelm von 110, 112–113
Lewis, David Kellog 14, 348–352, 354 Owen, Guilym Ellis Lane 59
Libera, Alain de 27, 67, 71, 84, 96, Owens, Joseph 46, 51
101–102, 114
Libet, Benjamin 369–370 Pareyson, Luigi 156
Lonfat, Joël 71 Parmenides 72
Loux, Michael J. 14, 344 Pascal, Blaise 122, 155, 486
Lowe, E. Jonathan 14, 344 Pereira, Benedito 116
Löwenheim, Leopold 455 Petrillo, Natalia 186
Löwith, Karl 195, 260 Petrus Aureolus 107, 112–113
Luynes, Herzog von 115 Petrus von Alvernia (Pierre d’Au-
vergne) 87
Mabille, Bernard 151–152 Petrus von Trebes (de Trabibus) 87
Mackey, Robin 551 Philolaos 468
Mackie, John Leslie 347–348 Philoponos, Johannes 65–66
Malebranche, Nicolas 25, 122 Platon 30–31, 35, 50–51, 53, 55, 59,
Mann, Thomas 435 61, 63, 66, 68, 71–78, 80–83, 126,
Marbach, Eduard 181, 186, 316, 540 157, 176, 194, 214, 247, 253–255,
Marion, Jean-Luc 16, 25–27, 86, 101, 299, 303, 330, 371, 402, 419, 426,
104, 115–116, 118–121, 130, 138– 442, 467–474, 477, 499, 529, 532,
142, 192, 199, 235, 264, 286, 289– 554
294, 297, 324, 358, 418, 555 Plessner, Helmuth 260, 399
Marius Victorinus 77, 101 Plotin 11, 72–83, 465, 475–476, 484,
Marquet, Jean-François 143, 165 554
Marx, Karl 21, 142 Pöggeler, Otto 70, 234, 256
Meillassoux, Quentin 550–551 Poincaré, Henri 453–455
Merlan, Philip 46, 51, 76 Popper, Karl 346, 464
Merleau-Ponty, Maurice 16, 218, 226– Porphyrios 77, 79, 102

588
Namenregister

Potter, Michael D. 443 Schwarz, Hermann 436


Proklos 65–66, 78, 83, 102, 492–493, Sellars, Wilfried 421–423, 425
554 Seneca, Lucius Annaeus 101
Proust, Marcel 435, 538 Sextus Empiricus 35
Pseudo-Dionysios Areopagites 66–67 Siebeck, Hermann 103
Purkert, Walter 473–474 Siger von Brabant 87, 89–91, 96
Putnam, Hilary 14 Skolem, Thoralf 455
Sorabji, Richard 27, 177
Quidort von Paris, Johannes 87 Sosa, Ernest 14, 344, 347–348, 350,
355–356, 365
Raimund von Sabunde 488 Speusippos 51, 73, 468
Reiner, Hans 35 Spinoza, Baruch 121–126, 148, 150–
Richard, Jules 454–455 151, 337, 344, 375, 383, 437, 483–
Richir, Marc 16, 130, 135–138, 142– 485, 487, 534, 538
143, 168, 183, 218, 226, 264, 286– Stalnaker, Robert C. 349
290, 297–298, 308, 358, 437–438, Steel, Carlos 81
442, 451–461, 464–465, 544–545 Sternberg, Eliezer J. 370
Ricœur, Paul 102, 286, 330, 336, 371, Strawson, Peter Frederick 425
395, 398, 435 Stumpf, Carl 507, 515
Riemann, Bernhard 501–502 Suárez, Francisco 26–27, 36, 49, 69–
Rilke, Rainer Maria 435 70, 84, 86–87, 89, 91, 99–100, 103–
Rist, John M. 82 105, 107–115, 117, 122, 221
Robin, Léon 26, 72 Syrianos 65
Röd, Wolfgang 484 Szabó, Árpád 491, 493
Römer, Inga 72, 229
Ross, William David 34, 47 Taylor, Charles 432–433
Russell, Bertrand 341, 454, 511 Taylor, Richard 365
Ryan, John K. 70, 85 Tengelyi, László 291
Ryle, Gilbert 14, 425 Thomas de Vio (»Il Gaetano«, Caje-
tan) 69
Sartre, Jean-Paul 16, 189, 227, 247– Thomas von Aquin 36, 67–71, 85–92,
249, 264–275, 277–279, 297, 343, 96–97, 99, 101–103, 111–112, 131,
435, 552 324, 437, 476
Saussure, Ferdinand de 301, 537–538 Tilliette, Xavier 143
Scharf, Johannes 109 Timpler, Clemens 105, 109, 111
Scheler, Max 260, 378, 399, 407, 416 Tonelli, Giorgio 94
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Tooley, Michael 344, 347–348, 350,
13, 72, 91, 107, 142–145, 153–159, 355–356, 365
161–168, 195, 239, 377, 413, 432, Trakl, Georg 435
554–555 Trombetta, Antonius 70
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Trotta, Roberto 551
467, 556 Tugendhat, Ernst 256
Schopenhauer, Arthur 13, 126, 385
Schröder, Ernst 444, 518 Vetö, Miklos 143, 555
Schulz, Walter 143 Vollrath, Ernst 92
Schürmann, Reiner 78–82 Vuillemin, Jules 172

589
Namenregister

Walde, Bettina 370 Woolf, Virginia 435


Waldenfels, Bernhard 20, 301, 380– Wundt, Max 105
381
Whitehead, Alfred North 13, 341, Xenokrates 35, 51, 73, 468
420–421, 423, 425, 431
Wieland, Georg 96 Zenon von Elea 489–494, 497–498,
Wieland, Wolfgang 143 505
Willard, Dallas 518 Zermelo, Ernst 341, 436, 444, 447, 473,
Wittgenstein, Ludwig 14, 365, 425 534
Wolff, Christian 49, 86–87, 105, 111, Zimmermann, Albert 85, 87, 89, 90–
159, 173, 303, 344, 415 92, 105, 108, 111, 113
Wolfson, Harry Austryn 67 Zimmermann, R. 482

590
Sachregister

Abstraktionsfundament 513–514, 517– Axiom(atisierung) 340–342, 346, 444,


518, 521–523, 525, 531–532 458, 462, 464, 473, 493–494, 533–
Agonal 428 534
– Agonale Weltentwürfe 17, 411,
425–427, 432, 543 Cogito 15, 121, 186–188, 190, 204–
– Agonaler Respekt 433, 435, 205, 219, 267, 269, 307–308, 323,
549 325, 394–396, 417, 551–552
Analogie, Analogie des Seins (analogia
entis) 56–57, 62–64, 66–70, 93 Deduktion 165–166, 325–327, 352,
– Analogia attributionis 67–70 394–397, 552
– Weg der Analogie 88 Determinationstyp 364, 373–376, 380,
– Analogie der Ursache 120, 122– 382
123 Diagonalverfahren 446, 451–453, 455–
Anschauung 138–139, 205–206, 211, 459
291–293, 321, 328, 331, 356, 365, Diakritik, diakritisch 76, 110, 301, 537–
443, 450, 460, 495–497, 505–506, 538, 543, 550, 555
514, 522, 525–533, 535–536 – Abhebung, Abhebungswert (valeur
Antinomie 20, 187–188, 303–304, 324, diacritique) 76, 301, 312
341, 379, 425–428, 431–433, 459– – Diakritische Methode 301, 540
465, 473, 482–483, 534–535 – Gebrauch des Diakritischen 301,
Apeiron 286–287, 289–290, 330, 442, 312
465 – Diakritische Differenz o. diakriti-
Apperzeption 141–142, 187, 291, 325, scher Unterschied 301, 312, 415,
394–397, 413, 552 417, 436, 548
Apriorizität, apriorisch, a priori 15, 98, – Diakritik von Totalität und Unend-
100, 107, 110, 130, 132, 137, 159– lichkeit 549, 553–554
160, 167, 171–173, 177, 179, 181, – Diakritische (diakritisch gewendete
210, 215, 218, 221–226, 237, 268, o. angelegte) Phänomenologie 537–
291–293, 323, 326–327, 334, 346, 540, 546, 548, 553
358–360, 396–398, 404, 413, 456, Dialektik, dialektisch 41, 137, 145, 147,
547–548, 550 153, 164–165, 178, 186, 272–273,
Aseität 120, 199 275, 300, 405, 464, 472
Äthertheorie 534–535 – Reine Begriffsdialektik 154, 157
Ausweisbar(keit) 188, 205–206, 209, – Dialektische Begriffserzeugung 442,
425–426 450, 459, 461, 463

591
Sachregister

– Hyperdialektik o. Dialektik ohne Einstellung


Synthese 265, 270, 275–278, – natürliche versus transzendental-
300 (phänomenologisch)e Einstellung
Differenz 42, 147, 220–221, 417, 550, 18, 224, 311, 315
553 – naturalistische versus personalisti-
– Ontologische Differenz s. Ontologie, sche Einstellung 400, 405–406, 409,
ontologisch 420, 422, 425–426
– Metaphysische Differenz 79 Einstimmigkeit
– Henologische Differenz 79, 81–82 – Einstimmigkeit der Erfahrung 311,
– Differenzphilosophie 538–539, 550 318, 320, 322–323, 357–359, 393–
– Diakritische Differenz (s. Diakritik, 394, 413, 547–548
diakritisch) – Einstimmigkeitstendenz 16, 197–
Ding 17, 95, 97, 109, 113–116, 147– 198, 320–321, 325–327, 331, 333,
148, 158, 191, 196, 202–212, 237, 335–337, 356, 360, 367, 375, 393–
250–251, 306, 309–314, 317–319, 397, 547, 552–553
321, 328, 338, 352, 400–404, 406, – Einstimmigkeitssysteme 207–209
408, 411, 422–423, 428–430, 515– – Einstimmigkeitsvoraussetzung 364
516, 541, 543–544, 546–547, 555 Ereignis 39–41, 43–44, 79–80, 191–
– Ding und Welt, Ding in der Welt 193, 199, 216, 218–219, 266, 270,
182, 197, 200, 219–221, 300, 303– 278, 288, 290–293, 418–419, 547
305, 307, 311, 313–314, 320, 327– – Erscheinungsereignis 191–192, 199,
329, 414–417, 419, 425, 427, 429, 306–308, 418, 550
436, 488, 536, 540–543, 545, 548– – Ereignisdenken 40, 43, 233, 263,
551, 553 392, 418
– Dingwelt 322–323, 325–326 Erfahrung 14, 17, 31–32, 130, 132–134,
– Dingwahrnehmung, Dingerfahrung, 137–140, 142, 155, 157, 160, 165,
Dingbewusstsein 16, 196, 203, 219– 167, 171–172, 178, 185–186, 191–
221, 300, 303, 314, 318, 325, 436 194, 196–198, 208–210, 213–219,
– Erfahrungsding o. Wahrnehmungs- 221–224, 226, 234, 264, 270, 273–
ding o. Sinnending 305, 313, 401, 275, 277, 279–282, 299–300, 304,
403–405, 536–537, 545–546 306, 309–320, 322–329, 332–333,
– Ding an sich 223, 226, 304–305, 335, 337, 345–347, 357–363, 369,
314–316, 332, 366, 402–405, 415, 384, 388, 393–394, 398–399, 401–
537, 542, 549 405, 411–413, 425–426, 429, 433,
– Das Ding als (allseitig unendliches) 464, 532, 535–542, 545–553
Erscheinungskontinuum – Dingerfahrung 16, 196, 300, 303,
s. Kontinuum 318, 325, 396, 436
– Das Dingreale 537–538, 540 – Erfahrungsgeschehen, Erfahrungs-
– Gedankending 99, 108, 144, prozess 191–194, 197, 324, 345
156 – Erfahrungsereignis 535–536
– Einstimmigkeit der Erfahrung
Eidos, eidetisch 180–184, 189, 206, s. Einstimmigkeit
208, 268, 279, 315–316, 442, 467, – Erfahrungskategorie s. Kategorie
532 Erlebnis 191, 193, 197, 202–204, 216,
Einsichtigkeit s. Evidenz, Einsichtigkeit, 252, 405–408, 424, 524, 542
Gewissheit Erscheinen, Erscheinung 73–74, 112,

592
Sachregister

125, 137–141, 147–148, 167, 190, – Handlungsfreiheit 17, 366–367,


195, 244, 281–283, 285–286, 291– 369, 372, 375, 392, 549, 553
292, 303–308, 315–316, 319, 321– – Freiheit als Mitursache 371, 382–
322, 329–330, 332–333, 337, 356– 384, 392
358, 366, 394–395, 401–405, 408, – Freiheit als Grund des Grundes 234,
410, 421, 425, 438, 442–443, 460, 385–386, 389–392
528, 546–547, 550 Fundierung, fundiert 172, 184, 192, 227,
– Das Erscheinen des Erscheinenden 249, 263, 398, 401, 514, 529–531,
43, 139–142, 192, 194, 199, 264, 280, 537
288, 290, 297, 306, 309, 328, 339,
550 Geist, geistig 38, 73, 75, 82, 152, 187,
– Erscheinungsereignis 191–192, 192, 223, 247, 260, 269, 271, 307,
306–308, 418, 550 405–409, 414, 420–421, 427–428,
– Erscheinungskontinuum 430–432, 441, 475, 485, 544, 549–
s. Kontinuum 550
Ersttheoretisch (protologisch) 52, 63– Geschichte 32, 34, 143, 167, 181, 183,
64, 90 188, 190, 217–218, 251, 270, 406,
Evidenz, Einsichtigkeit, Gewissheit 214– 430–431, 436, 544, 549
215, 267, 315–316, 418, 442, 490, – Geschichtsteleologie 185, 188
535–536, 540–543 – Geschichtsmetaphysik 263
– Adäquate versus inadäquate Evi- Geschichtlich(keit) 106–107, 145, 186–
denz 315, 317, 321, 536, 542 187, 217–218, 251–252, 270, 336,
– Apodiktische Gewissheit 325, 360 372, 412, 427, 436, 544
– Geschichtlichkeit als Urtatsache
Faktizität 168, 181–185, 189, 204, 231, s. Urtatsache
233, 267 – Geschichtliche Philosophie
– Zufällige Faktizität 15–16, 171, 180– s. Philosophie
181, 190–191, 200, 226–227, 231, Grund 14, 41–42, 53–54, 56, 64, 80,
264–266, 297, 299, 306, 322–324, 117–119, 121–122, 124–125, 127–
333, 397, 549, 551–552, 555 129, 151, 234, 266, 337–340, 344,
– Faktizitätsstruktur 184–186, 190, 350, 352–353, 376, 380, 385, 522
298 – Der Grund des Grundes bzw. der
Faktum, faktisch 15, 124, 181–185, 187, Gründungszusammenhänge 234–
189, 195, 198, 205, 207, 209, 211– 267, 382, 385–387, 389–392, 549
212, 218, 231, 233, 246–247, 249, – Zirkel von Gründen und Begrün-
256, 268–270, 280, 288, 317, 323, den 42, 44–45, 51, 64, 88, 99, 118–
386, 416 119
– Weltfaktum s. Welt – Das Grundlose 146–147, 149–153,
– Notwendigkeit eines Faktums o. fak- 338–339, 343
tische Notwendigkeit – Abgrund, abgründig, Grund und
s. Notwendigkeit Abgrund 153–155, 234, 247–248,
Freiheit, Freisein 13, 151–152, 164, 339, 390, 392, 465, 470, 472, 549
166–167, 233, 246, 253, 259, 262, – Der Satz vom Grund 17, 25, 41, 115,
304, 329, 366–367, 369–371, 373– 118, 121–122, 124, 126, 138–141,
374, 376–392, 441 145–148, 337–340, 343–344, 358,
– Transzendentale Freiheit 367, 388 360, 385, 391–392

593
Sachregister

Grundtypen o. Grundstrukturen der – Transzendentalphänomenologischer


Metaphysik 15, 25, 186 Idealismus 191, 201, 204, 210,
– Die katholou-protologische Grund- 317
struktur 46–47, 52, 55–56, 81, 84, – Idealismuseinwand o. Idealismusvor-
86–88, 93, 554 wurf 409, 412–414, 551
– Die katholou-tinologische Grund- Idee 156, 280–281, 321, 393, 411, 436,
struktur 84, 89, 97–99, 114, 129, 474, 476, 478, 481, 484
131, 173 – (Platonische) Idee o. Ideenlehre 72–
– Die epistemologisch-protologische 76, 442, 467–472
Grundstruktur, epistemische Proto- – (Kantische) Idee 131, 133, 135–136,
logie 115–116, 129 160, 304–305, 388
– Die Grundstruktur der Ontotheo- – Idee im Kant’schen Sinn o. in Kanti-
logie 38 schem Sinn o. in Kant’schem Sinn
208–210, 312–317, 534, 537, 539–
Henologie 72–73, 76–83, 554 542, 546, 551
Horizont 82, 105, 280, 310, 312–313, – Konstitutive versus regulative Idee
318, 329–330, 337, 393, 540–541, 208–210, 304, 313–314, 316, 541
549 – Realitätsideen 398–399, 401–403,
– Horizontintentionalität 219, 540 407
– Universalhorizont 18–19, 219, 311, Individuation, indivuduelles 131–132,
393, 549 206, 428, 430, 545
– Welthorizont s. Welt – Absolute versus relative Individua-
– Erfahrungshorizont 309–312, 393, tion 430
540 Intentional(ität) 204, 212, 217, 281,
Hyperdialektik s. Dialektik, dialektisch 308, 399, 515–518, 521, 526, 531,
540
Ideal – Intentionales Bewusstsein 191–193,
– Das transzendentale Ideal 130–132, 200, 216–217, 226, 405, 408
134–138, 142, 147, 160, 162, 168, – Intentionaler Gegenstand 191, 203,
542 205, 285, 406, 523–525, 527, 532–
– Idealer Gegenstand, ideales Sein 533
206, 208, 315, 533 – Intentionale Analyse 218–220, 521–
Idealisierung, idealisierend 15, 131–132, 523
213, 215–216, 222–223, 225, 270, – Intentionale Korrelation o. intentio-
273–275, 279, 442–444, 488, 505, nale Beziehung 218–220, 224, 280,
536, 545, 549 523–524
Idealismus 200–201, 223 – Intentionales und bedeutungsmäßi-
– Idealismus im gewöhnlichen o. ge- ges Wesen 523–525, 527
wohnten Sinne 202, 212, 317, 540– – Intentionales Ineinander 185–186,
541 267
– Deutscher Idealismus 37, 141–143, – Gegenintentionalität 192–193
145, 187, 247, 396, 405, 529 – Interintentionales Moment (einer
– Absoluter Idealismus 144 spontanen Sinnbildung) 193
– Transzendentaler Idealismus Intersubjektiv(ität) 185–186, 210, 247,
200–202, 204–207, 209–212, 317, 249, 252, 267, 319–320, 332–333,
414 394, 407–409, 422

594
Sachregister

Jenseits des Seins (ἐπέκεινα τῆς οὐ- 335–337, 399, 401, 408–409, 436,
σίας) 72, 74, 76, 81–82, 285, 475, 547
554 – Konstitution durch das intentionale
Bewusstsein 212, 272, 541
Kategorie 16–17, 196, 261, 290–293, – Rückwärts laufende o. rückläufige
298–301, 303, 374, 403, 513, 519, (retroaktive) Konstitution 210–212,
522 414, 551
– Aristotelische Kategorien 58–62, Kontingenz, kontingent 155, 168, 178,
64–65, 67, 95, 327 189, 198, 231, 233, 266, 269, 271,
– Kantische Kategorien 294, 327–329, 278, 323, 326
394–396 – Erkenntniskontingenz 195, 198,
– Hegel’sche Kategorien 149–150, 164 323–324
– Formale oder transgenerische Be- – Kontingenz der Welt 154–155, 165,
griffe als Kategorien 519–522, 530– 210, 323–324
532, 536 Kontinuum 490–492, 494–495, 497–
– Erfahrungskategorie o. Experiential 500, 505, 515
16, 194–195, 198–199, 218, 221– – Allseitig unendliches Erscheinungs-
222, 326–331, 334, 360, 367, 375, o. Abschattungskontinuum 306,
393, 396–399, 534–535, 540, 547, 316, 321, 411, 429, 436, 534, 536,
552–553 546, 548, 551, 553
– Erfahrungskategorien als Ausdrücke – Arithmetisches Kontinuum 460,
von Einstimmigkeitstendenzen 16, 489, 498–500, 502–503
197, 326–327, 331, 333, 337, 367, – Linearkontinuum 445, 451–452,
375, 393–394, 396–397, 547, 552– 456–457
553 – (Cantors) Kontinuumsproblem 463,
– Erscheinungs- versus Horizonts- 488–489
kategorien 328–330, 337, 393 – Nicht-Cantor’sches Kontinuums-
– Kategorialanalye 109, 194, 197–198, phänomen 501, 505
222–224, 291–292, 294, 327–329, Korrelation(sapriori) 205–206, 218,
361, 519, 523, 526, 549, 552 280, 317, 550–551
– Kategoriale Anschauung 365, 522,
531–533, 535–536 Leib 223, 274, 276, 307, 332–333, 402–
Kausalität 14, 16–17, 68, 118–119, 403, 405–406
122–124, 126, 148, 198, 221–222, – Leiblich(keit) 186, 190, 210, 308,
293, 329, 331, 337–338, 343–344, 334, 409
346, 348, 350, 352–360, 363–367, – Leibhaftig(keit) 328, 537, 551
372–380, 382–383, 385, 387–390, Logos (λόγος) 38, 41–43, 244, 253,
393, 401–402, 405, 547, 549, 553 256, 308, 339–340
– Kausalität als ständige Verbindung
(constant conjunction) 345, 351 Menge o. Mannigfaltigkeit o. Vielheit o.
– Kausalität als notwendige Verbin- Inbegriff 17, 206, 300, 341, 411, 419,
dung 344–346, 356 435–439, 442–467, 471–474, 481–
– Partielle Kausalität 369, 371–372, 483, 485, 488–491, 497–505, 508–
383, 392 515, 518, 521–523, 530, 532, 534–
Konstitution, konstituieren 186, 251, 536, 544
267, 279–280, 288, 314, 318–319, Metakategorie 330–331, 553

595
Sachregister

Metaphysik, metaphysisch Modalisierbarkeit 196


– Naive Metaphysik 180, 199, 224 – Modalisierung 396
– Traditionelle und nicht-traditionelle – Unmodalisierbarkeit 197, 325–326
Metaphysik 13–15, 26, 34, 46, 171, – Das schlechthin Unmodalisierbare
173, 180, 187–188, 194, 199–200, 196, 396
262–263, 268–269, 289, 297–298, Möglich(keit) (als Seinsbestimmung o. als
303, 324, 548, 552, 554 Erfahrungskategorie) 14, 95, 97, 127–
– Metaphysik im gewohnten Sinne 142, 147, 149–150, 152, 154–155,
180, 200 159–161, 171–176, 178–184, 189,
– Der bibliothekarische versus der tak- 195, 205–207, 209, 266, 268, 304,
tische Ursprung der Metaphysik 314, 317–318, 326, 329, 333, 336,
34–35, 56 346, 349–352, 354, 356, 358–362,
– Metaphysik als Transphysik versus 381, 386, 390, 394, 396, 412, 479,
Metaphysik als Postphysik 36, 54– 495, 536–541, 543, 546–548, 552
56, 299
– Doppelbegriff oder Doppelbestim- Natur 32–33, 36, 125, 144, 164, 187–
mung der Metaphysik 29–30, 47, 188, 211, 231, 239, 261, 291, 293,
49–50, 229, 234, 298 317, 335, 361–362, 366, 375–376,
– Überwindung der Metaphysik 14, 386, 388–389, 400, 402, 405, 408–
20, 33, 79–80, 103, 144–145, 234, 409, 416, 419–421, 425, 427–428,
263, 418, 548, 552 430–431, 435–436, 474, 485–486,
– Grundfrage der Metaphysik 90–91, 544, 549
111 Naturalismus, naturalistisch, naturalisti-
– Grundtypen o. Grundstrukturen der scher Autarkismus 17–19, 187, 212,
Metaphysik s. Grundtypen o. Grund- 223–224, 400, 402, 406, 409, 412,
strukturen der Metaphysik 416, 419–421, 423–425, 427–428,
– Grundlegung der Metaphysik 228, 431, 435–436, 549
234, 263, 297 Notwendig(keit) (als Seinsbestimmung o.
– Phänomenologische Metaphysik als Erfahrungskategorie) 15–16, 95,
14–17, 20, 173, 179, 183, 187, 223, 97, 126, 149–151, 154–155, 160–
226–227, 264–265, 267, 273, 278– 167, 171–173, 175–179, 184, 187–
279, 295, 297–299, 326–327, 333, 190, 197, 203–205, 210, 266–270,
356, 397–398, 418, 435, 437–438, 279, 290, 297, 323, 325–326, 333–
508, 545, 549, 553, 555 334, 337, 344–346, 348–350, 353,
– Metaphysik des Transfiniten 17, 356–360, 362, 365, 374, 376, 380,
300, 487–488, 534–535, 553 393–394, 396–397, 414, 463, 515–
– Metaphysiktypologie, metaphysik- 516, 548, 551–552, 555
typologisch 99–100, 104–108, 110– – Unbedingte o. absolute (schlechthin-
112, 114 nige, logische) Notwendigkeit 151,
Metontologie, metontologisch 16, 19, 154, 176, 177
30–31, 33, 37, 45, 227–236, 238, – Bedingte Notwendigkeit 177, 189
241–243, 250, 256–257, 259–263, – Realnotwendigkeit, reale Notwen-
297–298, 305, 389, 392, 412, 415– digkeit 149, 151, 171–173, 177, 179,
417, 419, 425, 427–429, 431–432, 374
435–436, 549, 551–554 – Hypothetische Notwendigkeit 173,
177, 179, 189

596
Sachregister

– Faktische Notwendigkeit oder Not- – Phänomenologische Ontologie 220,


wendigkeit eines Faktums (nécessité 243, 264, 267–268, 270–271, 279
de fait) 15–16, 187–190, 204–205, – Formale Ontologie 226, 330
266–269, 279, 297, 323, 325–326, – Regionale Ontologie 226, 237, 261–
333, 337, 356, 359–360, 393–394, 262, 398
396, 414, 551–552 – (Rekursive) Ontologie der Lebens-
– Performative Notwendigkeit 190, welt o. lebensweltliche Ontologie
394 220–222, 224, 226, 279, 299, 330
– Notwendige Verknüpfung o. Ver- – Schichtenontologie (von Nicolai
bindung 344–346, 349, 353, 356, Hartmann) s. Schichtentheorie
358, 365 – Ontologische Differenz, Unterschied
– Notwendige Existenz, notwendiges (bzw. Verwechslung) von Sein und
Sein 166–167, 204, 210 Seiendem 39, 42–44, 78–79, 81, 158,
– Notwendiges Wesen o. notwendig 231, 236–237, 244, 256, 282–283,
Seiendes o. notwendige Substanz 285, 300, 414, 549
126, 154–155, 160, 162–166, 175, Ontotheologie, ontotheologisch (o. on-
177, 197, 414, 555 to-theo-logisch) 15, 20, 25–29, 37–
46, 50, 55–57, 64, 68, 70–72, 77, 81,
Objektivität 117, 200, 222–223, 336, 84, 87–89, 98–102, 104, 114–115,
365, 407–408, 414, 429, 533 117–118, 121–122, 128–130, 134–
Objektivismus, objektivistisch 18–19, 135, 141–145, 154, 159, 163–164,
223–224, 403, 405, 408, 415–416, 166, 227, 273, 285, 298, 549, 554–
419 556
Offenbarkeit 243–245, 250–252, 254–
255, 259, 262, 388, 390–391 Phänomenologie, phänomenologisch
Offenheit 89, 299, 309, 314, 385, 417, – Phänomenologische Bewegung 15,
429, 431, 435–436, 466, 544–548, 195–196, 226, 552, 555
554 – Phänomenologische Tradition 14,
Ontologie, ontologisch 31, 38, 50, 54, 16, 105, 297, 299, 334–335, 360, 365,
78–79, 85, 97–98, 102, 105, 108, 111, 420, 430, 435
113, 116–117, 119, 121, 123, 146, – Phänomenologische Methode 197,
149–150, 152–154, 160–163, 166, 286, 404
168, 173, 180, 194–195, 202, 204, – Phänomenologischer Zugang(sweg),
221, 226, 230, 232, 237–238, 244, phänomenologische Zugangsweise o.
255, 267–271, 274, 277–278, 298, Zugangsart 297–298, 399, 429, 437,
300, 324, 330, 336, 385, 389, 403, 511, 538
407, 416–417, 420, 425, 474, 544, – Phänomenologischer Ansatz 344,
550 358, 401, 538
– Griechische Ontologie 39, 44, 77, 79 – Phänomenologische Denkrichtung o.
– Traditionelle Ontologie 198, 221, Denkströmung 297, 307
228, 234, 360–361 – Husserls Phänomenologie, Husserl’-
– Substanzontologie 303, 307, 312, sche Phänomenologie 186, 197, 200,
415–416, 428–429 218, 279, 294, 488, 534
– Transzendentalphilosophische Onto- – Transzendentale Phänomenologie,
logie 109 transzendentalphänomenologisch
15, 18, 181–182, 185, 191, 200–201,

597
Sachregister

204, 210, 224, 226, 317, 411, 413, – Phänomenologisch o. metonto-


526 logisch angelegte Ethik 262, 380,
– Klassische Phänomenologie (von 407
Husserl und Heidegger) 287–288 – Ethik als Erste Philosophie 264, 283,
– Französische Phänomenologie 289–290
171, 195, 264, 286–287, 289, 297, Philosophie 13, 17–21, 37–40, 44, 46,
398 51–52, 86, 94–95, 126, 164–165,
– Neue Phänomenologie Frankreichs 212, 229–230, 251–253, 340, 363,
o. in Frankreich 16, 138, 264, 288– 397, 417–419, 421, 431–433, 498
289, 307, 418, 552 – Erste Philosophie versus Zweite Phi-
– Phänomenologie spontaner Sinn- losophie 29–31, 33–38, 48–50, 53–
bildung (von Marc Richir) 226 54, 56, 65, 88, 115–116, 118–119,
– Responsive Phänomenologie (von 173, 180–182, 184, 194, 198, 200,
Bernhard Waldenfels) 20 235, 264, 284, 289–290, 297, 360,
– Diakritische (diakritisch gewendete 552
o. angelegte) Phänomenologie – Antike (besonders griechische) Phi-
s. Diakritik, diakritsch losophie 37, 57, 131, 243, 467–468,
– Phänomenologische Reduktion 183, 474, 499
200, 244, 549 – Arabische Philosophie 67, 101, 104
– Das phänomenologische Feld 264, – Mittelalterliche Philosophie 95, 103,
286–290, 465 477
– Phänomenologische Wahrneh- – Philosophie der Neuzeit 103, 246,
mungsanalyse 313 375, 417, 483, 522, 552
– Abschattung, phänomenologische – Deutsche Schulphilosophie 99, 105,
Abschattungslehre 203, 206–208, 111, 131, 173
306, 309–313, 315–316, 318–322, – Französische Geistesphilosophie 247
405, 534, 546, 550 – Transzendetalphilosophie
– Phänomenologische Ding- und s. Transzendental
Weltanalyse (phänomenologische – Bewusstseinsphilosophie 21, 271
Auffassung vom Ding, Phänomeno- – Positive versus negative Philoso-
logie der Welt o. Weltphänomeno- phie 143–145, 156–159, 161, 163,
logie) 17–19, 196, 313, 316–317, 165–167
536, 549 – Philosophie des Negativen 271–273
– Phänomenologische Kategorialana- – Analytische Philosophie 14, 21, 172,
lyse o. Experientialanalyse 194, 198, 365, 425, 511
223, 291–292, 294, 326, 359, 361, – Philosophie der Kultur 226
398, 549, 552 – Schulphilosophie versus lebendige
– Phänomenologie des Blicks 274 Philosophie 36, 84
– Phänomenologie der Zeit o. Zeit- – Philosphie in ihrem Verhältnis zu
phänomenologie 334 Wissenschaft und Weltanschauung
– Phänomenologie der Intersubjektivi- 229, 236–243, 426–427, 507–508
tät 247, 249, 252, 267, 332 – Philosophie des Unendlichen 439,
– Phänomenologische Ontologie 465, 467, 483
s. Ontologie, ontologisch – Differenzphilosophie 538–539, 550
– Phänomenologie des Unschein- – Geschichtliche Philosophie 104,
baren 281, 286 107–108, 110, 143

598
Sachregister

Physis (φύσις) 32–34, 290, 339 Rückfrage 184, 217–218, 221, 225
Poststrukturalismus, poststrukturalis-
tisch 539, 550 Schichtentheorie (-ontologie, -modell,
Psychologismus, psychologostisch 445, Stufenbau o. -modell) 260–261, 399,
517–519, 522, 531 403, 416
Seiendes 38, 40, 58–67, 74–75, 81, 84,
Raum, Räumlich(keit) 14, 16, 48, 221– 87–88, 94–95, 109, 131–132, 134,
223, 328, 331–333, 337, 393, 411, 141, 163–164, 167, 173, 220, 241,
460, 493, 501–502, 515, 535, 547, 245, 250–251, 254–259, 261–262,
550, 553 271–272, 282, 385–388, 390, 392,
– Raumzeitliches Ding, räumlich aus- 416–417, 435–436, 542, 547, 554–
gedehntes Ding 202–204, 206, 210, 555
406 – Das Seiende als Seiendes 14, 29, 31,
– Raumdingliches 321 39, 42, 47–54, 59, 72, 77, 89–90, 108,
– Raum-zeitlich-kausale Anschauung 113, 116, 175–177, 194, 199, 229,
211 279, 290, 303, 330, 415
– Räumliche und zeitliche o. raum- – Das Seiende als solches 30, 39, 42,
zeitliche Welt 221, 406 92–93, 97, 115, 158, 230, 235, 259,
– Raumzeitliche Unendlichkeit 221– 388
222, 298, 328 – Das Seiende im Allgemeinen 87–90,
– Raumzeitliche Stellenanweisung 92–95, 176, 235
430 – Das höchste (erste, eigentliche) Sei-
– Phantasieraum 207 ende 29–31, 39, 42–43, 45–46, 49–
Realismus 355, 423 51, 54, 56, 59, 63–66, 68–69, 88–90,
– Begriffsrealismus 402, 441 92, 94, 98, 100, 115, 117–119, 130,
– Naiver Realismus 212, 315 135, 161, 176, 235, 339
– Modaler Realismus 351 – Das notwendig Seiende s. Notwen-
– Idealismus versus Realismus 212 dig(keit)
– Spekulativer Realismus (speculative – Das Seiende im Ganzen o. das Seien-
realism) 550–551 de als solches und im Ganzen 31–34,
Realität 109–110, 133, 200, 209, 212, 43, 45, 91, 230–231, 234, 238, 243,
331, 537, 542 261–262, 391, 417
– Realität als Sachhaltigkeit (»Sach- – Das Seiende als Verursachtes
heit«) 125, 127, 130–131, 133–138, (ens causatum) 118–119, 121, 128–
159, 351, 365 129
– Substantielle Realität 401–403, – Das Seiende als Denkobjekt 99–100,
406–407 117, 121–122, 129, 131, 163
– Realitätsstufe 212, 398, 401, 403, – Transgenerische Bedeutungseinheit
405–406, 408–409 des Seienden 61–64
– Realitätsidee s. Idee – Fokale Bedeutungseinheit des Seien-
– Realitätsanspruch 422–423, 425 den 58–59, 61
– Realität und Zahl 440–441, 445–446 – Analogische Bedeutungseinheit des
– Immanente versus transiente Reali- Seienden (s. auch Analogie, Analogie
tät 441–442, 487 des Seins (analogia entis) 68–69
Reduktionismus 346, 355–356, 420, – Univozität des Seienden 61, 69, 93–
423–424 94, 97, 415

599
Sachregister

– Unterschied (bzw. Verwechslung) – Absolutes versus relatives Sein 200,


von Sein und Seiendem s. Ontologie, 204, 322
ontologisch – Seinsdualismus 409
Sein 16, 29–33, 38–39, 41–46, 63–66, – Ideales Sein s. Ideal
68–69, 76, 79, 87–88, 91, 112, 146– – Phänomenologie des Seins 243–244
148, 150, 157, 160–164, 166, 168, – Sein und Sollen 376
175, 195, 202, 205, 209, 211–212, Sinn
229–231, 235, 237, 250–251, 254, – Sinnanalyse 213
257–259, 266, 268, 270–277, 285, – Gegenständlicher Sinn 525
306–307, 317, 325, 330, 336, 339, – Sinn und Gegenstandsbezug (o. -be-
401–402, 406, 415, 418–419, 440, ziehung) 518, 521, 523
468, 470–471, 475, 522, 529–530, – Sinneseinheit 200
535–536, 550–552, 555 – Sinngehalt 532–533
– Das Sein des Seienden 39, 42, 64, 77, – Sinnbestand 200, 525, 527
88–90, 117–119, 121–122, 128–129, – Auffassungssinn 527, 531, 533
176, 230, 236–238, 256, 258, 390 – Erfüllender Sinn 527–528, 531
– Trennung von Sein und Wesen 88, – Neuer Sinn 194, 197
99, 109, 159 – Sinngebung, sinngebend 191, 193,
– Seinsart 403, 554 200, 216–217, 226
– Seinsweise 220–221, 245, 273, 300 – Sinnbildung(sprozess o. -vorgang)
– Seinsregionen 237, 261, 416 193–194, 215–218, 225–226
– Seinsbereiche 398 – Sinnstiftung 215, 218
– Seinsstrukturen 268, 271 – Sinnansatz 213
– Seinsakt 88, 97, 131 – Sinnkomponente 213–214, 525
– Seinsvorgang, Seinsvollzug 77–79 – Sinnregung 193, 282, 465
– Seinstotalität 76, 81–83, 417, 540– – Sinntendenz 275, 277
541, 543, 546–548, 553, 555 – Sinnsediment(ierung) 193, 218, 226
– Seinstranszendenz 78, 81–82, 285, – Sinngebilde 216, 276, 464–465
475, 554 – Sinngeschehen 217
– Jenseits des Seins s. Jenseits des Seins – Sinngenese 217
– Anderssein 151–152, 182, 306 – Sinnzusammenhang 380
– Sein Gottes 94 – Seinssinn, Sinn von Sein 118, 128,
– Unvordenkliches Sein 157–159, 222, 254
165–167 – Postulat der Eindeutigkeit oder Be-
– Wildes Sein 275–277 stimmtheit des Sinnes 194
– Seinsmangel 271–272 Sollensdetermination, Sollensanspruch,
– Eignung zum Sein (aptitudo ad Sollensforderung 376–382, 423
esse) 108b Strukturalismus, strukturalistisch 111,
– Seinserfahrung 275, 277 301, 550, 539
– Seinsverstehen o. -verständnis 231, Subjektivität 200, 210, 213, 308, 336,
244, 250, 399 389, 406–407, 412, 414, 417, 427–
– Seinsmetaphysik 76–77, 80, 83 429
– Ordnung des Seins versus Ordnung – Transzendentale Subjektivität 211,
der Erkenntnis 116–117 270, 549
– Sein als Erlebnis versus Sein als – Metaphysik der Subjektivität 233,
Ding 202–203 288, 412

600
Sachregister

Subjektivismus 212, 318–320, 409, Transzendental 17–18, 40, 132–135,


412–415, 551 138, 181, 224, 233, 327, 359–361,
Substanz 64, 66, 77, 92, 109, 125–126, 363–365, 388–389, 395, 397, 410,
148, 158, 194, 219, 221–223, 290, 526
307–308, 312, 405, 408, 428, 441, – Transzendentale Begriffe o. Trans-
484, 488 zendentalien 70, 94, 330, 335–336
– Selbstständig existierendes Wesen – Disjunktive Transzendentalien 95,
(bzw. Substanz) 58, 62–63, 67, 77 98, 100
– Substantialität 14, 79, 187, 293, – Transzendentale Begründung o.
401 Fundierung 97, 263
– Substantielle Realität s. Realität – Transzendentale Argumente 326,
– Substanzmetaphysik 77 552
– Substanzontologie s. Ontologie, on- – Transzendentales Ich o. Subjekt(ivi-
tologisch tät) 182, 185, 192, 211, 325, 542
Substruktion 222–223, 307–308 – Transzendentale Deduktion
s. Deduktion
Tinologie 97–99, 108–111, 113, 117, – Transzendentale Wahrheit 244–245
173, 221, 331, 415 – Transzendentaler Schein 439, 459,
Totalität 74–75, 81, 148, 247, 262, 269, 463–464
271, 299, 303, 411, 425, 431, 508, – Transzendentale Freiheit s. Freiheit
540, 553 – Transzendentales Ideal s. Ideal
– Totalität des Seienden 75, 230–231 – Transzendental angelegter Weltent-
– Die Seinstotalität des Dinges und die wurf 18, 550
Gesamtwirklichkeit der Welt 540– – Transzendentale Option 425, 429–
541, 543, 546–548, 553, 555 430
– Totalität (o. Seinstotalität) versus – Transzendentalphilosophie 18, 130,
Unendlichkeit 20, 73, 76, 82–83, 140, 144, 171, 233, 294, 346, 358–
299, 301, 417, 549, 553–554, 360, 411–413, 432, 461, 534
556 – Transzendentalphilosophie der
– Totalität der Bedingungen 125, 149– Alten 94, 132
152, 306, 338, 374–375 – Kantischer Transzendentalismus
Transfinit 341, 429, 431, 439–440, 446, 320, 358
448, 450–451, 459, 463–464, 466– – Methodologischer Transzendentalis-
467, 480, 483–485, 487, 507–508, mus 200, 202, 209, 211–212, 317–
534, 536, 543–546 318, 320, 359, 394, 399, 408–409,
– Das Transfinite (im Gegensatz zum 414, 417, 419, 430, 538, 540–541,
Absolut(unendlich)en, s. auch Un- 543
endlich(keit) ) 300, 431, 440–441, – Metontologischer Transzendentalis-
452, 461, 465–466, 472–473, 477, mus 412, 419, 425, 427–428, 431–
479, 482–483 432, 435–436, 549, 551–554
– Mathematik des Transfiniten 300– – Transzendentale Phänomenologie,
301, 440, 442 transzendentalphänomenologisch
– Metaphysik des Transfiniten s. Phänomenologie, phänomeno-
s. Metaphysik, metaphysisch logisch
– Transfinite Zahl s. Zahl – Transzendentaler Idealismus
– transfinite Totalität 411 s. Idealismus

601
Sachregister

Transzendenz, Überstieg 31, 40, 82, – Transfinite Unendlichkeit s. Trans-


281, 283, 285–286, 392–393, 427, finit
436, 540, 542 – Absolut(unendlich)es 289, 300–301,
– Transzendenz zum Sein hin 81, 440, 452, 461–467, 472–475, 477–
250 485, 487, 544, 556
– Transzendenz über das Sein hinaus o. Univozität s. Seiendes
Übertranszendenz 78, 81, 555 Ursache 14, 41–42, 44, 50, 53, 62, 64,
– Transzendenz zur Welt hin 250, 256, 68, 88–91, 110, 118–126, 128, 148–
258, 386–387, 414–417, 427 150, 167, 175, 177–179, 187, 189–
– Metontologische Transzendenz 256, 190, 199, 234, 269, 290, 297, 324,
417, 419, 435 337–338, 343–346, 348–350, 352–
– Freiheit als Transzendenz 234, 386– 358, 364–366, 371–372, 375–376,
387 383, 385–386, 554
– Transzendenzproblem 526 Urstiftung 118, 215–217, 224–225
Urtatsache, Urfaktum 14–15, 187–191,
Unbedingtes Ganzes 452, 457–459 194–195, 199, 223–224, 267–270,
Unbestimmt-Unendlich(es) 469, 472– 278–279, 297–298, 306–307, 323–
473, 475 324, 360, 393–394, 396–397, 414,
Unendlich(keit) 16–20, 76, 81–83, 94– 548, 551–552
95, 97, 100, 109, 128, 148, 155, 208– – Metaphysik der Urtatsachen 15–16,
210, 221–222, 264, 279–282, 284– 180, 188, 226–227, 231, 234, 264–
285, 287–290, 297–301, 303–305, 265, 267, 279, 297
311, 313–314, 316, 319–321, 328, – Vier Gruppen von Urtatsachen (Ich,
335, 393, 411–412, 417–419, 429, Welthabe, intentionales Ineinander,
431, 435–441, 445–451, 456–462, Geschichtlichtlichkeit und Teleo-
467, 469, 472–494, 496–499, 505– logie) 184–186
510, 512, 532–538, 540–541, 543– Urteilskraft
551, 553–556 – Bestimmende Urteilskraft 198, 327,
– Aktual-Unendliches versus Potenti- 360–361, 363, 397, 552
al-Unendliches 17, 304, 314–316, – Reflektierende Urteilskraft 198–
321, 439–440, 451, 462–463, 465– 199, 327, 359–362, 364, 397, 552
468, 476–479, 484–486, 489, 494–
500, 505, 536 Vermögen, Vermöglich(keit) 58, 62,
– Diakritische versus privative Unend- 64–65, 92, 139–141, 174–175, 184,
lichkeit 76 189, 291, 308, 358, 361, 366, 377,
– Mathematisch(-quantitativ)e versus 381, 383–384, 386, 392, 401, 405,
(metaphysisch-)dynamische Unend- 413, 444, 475, 539–540
lichkeit 436, 475–477, 479, 481, 483,
485 Wahrheit 34, 38, 101, 172, 213–214,
– Unendliche Teilbarkeit 489–490, 236–237, 243–246, 248, 250–259,
492, 494–499, 503, 505 262, 269, 391, 480, 527–528,
– Intensive versus extensive Unend- 531
lichkeit 505, 546, 553 Wahrnehmung 137, 192–193, 197,
– Offene versus transfinite Unendlich- 202–204, 207, 214, 219–221, 249,
keit 429, 431, 480–485, 487, 507– 274, 305–306, 313–315, 317, 346,
508, 543–545, 548 356–359, 395, 413, 420–422, 468,

602
Sachregister

470–472, 488, 495–497, 516, 522, – Frage nach der Welt 26, 31, 230, 241,
525, 528–531, 536–539, 551, 556 299, 303
Welt 17, 105, 107, 127–128, 158, 178, – Die Welt und ihr Unendliches,
181, 185–187, 190, 196–197, 200, s. Unendlich(keit)
210–212, 229–230, 232, 235–238, Weltanschauung 32, 212, 229, 232, 236,
242, 244, 246–247, 254, 257–259, 238–242, 261–262, 436, 482, 507–
266–267, 271, 274, 276, 279–280, 508
285, 297, 303–307, 309–313, 325– Wesen
326, 338–340, 349, 359, 366, 368– – Selbstständig existierendes Wesen,
370, 372–375, 379, 383–386, 388– Einzelwesen (οὐσία, Substanz) 49–
389, 391–393, 400, 406, 416, 420– 50, 52, 54, 58–59, 62–67, 77, 92, 173,
425, 430, 435–436, 468, 472, 486, 175, 179, 189, 208
526, 535–536, 544 – Allervollkommenstes o. allerrealstes
– Welthorizont o. Welt als Universal- Wesen, Urwesen 132, 134–137, 142,
horizont 19, 220, 305–306, 311, 318, 147, 160, 162
330, 425, 537, 540, 549 – Notwendiges Wesen s. Notwendig
– Weltwirklichkeit, Gesamtwirklich- (keit)
keit der Welt 16, 195–198, 303, 330, – Wesen(heit) o. (wesenhaftes) Sosein
360, 393–410, 540–555 (τὸ τί ἦν εἶναι, essentia) 62, 64–65,
– Lebenswelt(lich) 14, 17, 178, 213– 67–68, 86–88, 98–100, 119–120,
226, 279, 298–300, 325, 327–330, 123, 125, 127–128, 131, 147–148,
346–347, 357, 398–405, 416–417, 150, 152, 158–159, 164, 208, 219–
422, 425–426, 438, 442–443, 464, 220, 224, 240, 306, 315–316, 340,
488, 490, 504–505, 549, 553 385–386, 398, 404, 409, 428–429,
– Weltfaktum 323–324, 414, 548, 552 441, 532, 543–545
– Welthabe 184–187 – Reale Wesenheit (essentia realis)
– Weltbildung 229, 236, 250–251, 108–110, 113
260–263, 298, 386, 397, 416–417, – Offenes Wesen 429–430, 543–545
427 – Wesensmöglichkeit 268
– Weltentwurf 17–19, 233, 252, 257– – (Eidetische) Wesensform 184, 404
258, 261, 298, 385–386, 397, 399, – Wesensvariation 184
403, 409, 411–412, 416–417, 419, – Wesensnotwendigkeit 184, 189, 204,
421, 425–427, 432–433, 436, 543, 268–270, 279, 406
549–550, 552–553, 555 – Wesensschau 532
– Weltvernichtung 204, 322 – Intentionales und bedeutungsmäßi-
– Ding und Welt s. Ding ges Wesen s. Intentional(ität)
– Welt versus Sein 16, 256–258, – Wesen o. Wesensverfassung (o.
415 -entwurf o. -bestimmung o. -defini-
– Mögliche Welt 14, 128, 131, 349– tion) der Metaphysik 15, 26, 37, 39,
352, 354, 356 41, 44–46, 71, 84, 100–102, 104, 555
– Erscheinungswelt o. sinnlich wahr- Widerfahrnis 306, 394, 418–419, 550
nehmbare Welt 17, 74–75, 358, 425, Wirklich(keit) (als Seinsbestimmung o.
442–443, 460, 547 als Erfahrungskategorie) 16, 38, 57–
– Weltzeit 334–337, 415 58, 62, 64–65, 68, 78, 92, 95, 97,
– Kontingenz o. Zufälligkeit der Welt 128–131, 133, 136, 142–152, 159–
s. Kontingenz 161, 172–182, 189, 195–198, 200,

603
Sachregister

205–207, 209–211, 268, 303, 313– – Kardinalzahl 444–446, 448–449,


319, 321, 330, 349–352, 354, 358, 451–452, 458–459, 461–462, 466–
360, 365, 372, 393–409, 415, 420, 467, 473, 508, 510
422–423, 425–426, 438, 468, 470– – Ordinalzahl o. Ordnungszahl 447–
472, 476, 479, 495, 524, 526–527, 449, 451, 454, 458–459, 561–463,
537–543, 546–548, 551, 553, 555 466, 473–474, 510
– Vorrang der Wirklichkeit gegenüber – Anzahl 447–448, 454, 475, 490–
der Möglichkeit 130, 144, 159–161, 491, 508–514, 518–520, 522
182, 268, 358, 547 – Unendliche o. überendliche o. trans-
– Die Gesamtwirklichkeit der Welt finite Zahl 438–439, 441–442, 444,
s. Welt 446, 448–450, 461–462, 464, 474,
– Erlebnis-, Lebens-, Erscheinungs- o. 479, 487
Wahrnehmungswirklichkeit 407– – Limeszahl 449–451
409, 426, 438, 468–472 Zeit, Zeitlich(keit) 14, 16, 202–204,
206, 210–211, 221–222, 247, 270,
Zahl 47–48, 206, 208, 245, 291–292, 284, 287, 298, 327–328, 331–332,
315–316, 339, 437, 439–442, 445– 334–338, 374, 384, 389, 393, 395,
451, 453, 455–457, 459–460, 462, 406, 411, 413, 415, 418, 430, 460,
466, 479, 484–485, 489–503, 507– 490–491, 493–494, 501, 504–505,
511, 513, 517, 519–523, 526, 530, 513, 515, 535, 545, 547, 553
532–533

604

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