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Serie Piper:

Hans Albert

Plädoyer für kritischen


Rationalismus
ISBN 3—492—00310—9
Titelnummer 310
2. Auflage 7.-10. Tausend 1971
© R. Piper & Co. Verlag, München 1971
Gesetzt aus der Garamond-Antiqua
Umschlag Wolfgang Dohmen
Gesamtherstellung Pustet, Regensburg
Printed in Germany
Inhalt

Vorw ort 9
Die Idee der kritischen Vernunft 1 1
Tradition und K ritik 30
Kritische Rationalität und politische Theologie
Wissenschaft und Verantwortung 7 6
Hermeneutik und Realwissenschaft 106
Bibliographischer Nachweis 150
Über den Autor 15 1
»Selbst unsere häufigsten
Irrtümer haben den Nutzen,
daß sie uns am Ende gewöhnen
zu glauben, alles könne anders
sein, als wir es uns vorstellen.«
Georg Christoph Lichtenberg
Vorwort
In diesem Bändchen sind fünf Aufsätze vereinigt, die ihrem Thema
nach eng miteinander Zusammenhängen. Es geht in ihnen allen um
eine für uns heute annehmbare Deutung der Idee kritischer Ver­
nunft, eine Deutung, die diese seit der griechischen Antike in unse­
rem Kulturkreis wirksame Idee ohne Einschränkung - das heißt
vor allem auch: ohne Beschränkung ihrer Anwendung auf bestimm­
te eng umschriebene Bereiche des sozialen Lebens wie etwa Wissen­
schaft, Technik und Wirtschaft - zur Geltung bringt. Diese Deu­
tung knüpft an den kritischen Rationalismus an, das heißt an die
philosophischen Auffassungen, die vor allem von K a rl Popper seit
den dreißiger Jahren entwickelt wurden, und zw ar vorwiegend in
Auseinandersetzung mit den analytischen Strömungen des philoso­
phischen Denkens. Diese Auffassungen haben in den letzten Jahren
auch im deutschen Sprachbereich an Einfluß gewonnen, obwohl sie
hier mehr oder weniger groben Fehldeutungen ausgesetzt waren.
Besonders der sogenannte Positivismusstreit in der deutschen Sozio­
logie, der durch einen Vortrag Poppers auf dem Tübinger Soziolo­
gentag im Oktober 19 6 1 eingeleitet worden war, hat deutlich
gemacht, in wie starkem Maße dem hermeneutischen und dem dia­
lektischen Denken verpflichtete Theoretiker dazu neigen, einen
rationalen Kritizismus, der in wesentlichen Punkten an K an t
anknüpft, als Positivismus mißzuverstehen, um ihm dann eine
Einschränkung der Rationalität vorzuwerfen zu können, die ihm
gänzlich fern liegt.
Die Auseinandersetzung dieses neuen Kritizismus mit jenen für das
deutsche Milieu typischeren Denkweisen hat mit dieser Kontroverse
angefangen. Sie ist aber damit keineswegs beendet. In den hier ab­
gedruckten Arbeiten soll der Gegensatz deutlich werden, der zw i­
schen einer kritischen Rationalität im Sinne unserer Auffassung und
einem Denken besteht, das seiner Struktur nach dazu tendiert, ent­
weder sich verstehend einer Tradition einzuordnen, ohne sie kri­
tisch in Frage zu stellen, oder aber sich in eine totale K ritik des Be­
stehenden auf utopischer Grundlage hineinzusteigern - eine Alter­
native, die nicht nur philosophisch bedenklich, sondern auch in
ihren politischen Konsequenzen fragwürdig ist.

9
Schon M ax Weber w ar vor einem halben Jahrhundert mit ähnlichen
Denkweisen konfrontiert. Sowohl seine soziologischen und politi­
schen als auch seine methodologischen Schriften legen davon Zeug­
nis ab. Es ist charakteristisch, daß seine Auffassungen, darunter vor
allem auch die immer wieder mißverstandene Lehre von der Wert­
freiheit, in den letzten fünfzig Jahren scharfen Angriffen von allen
Seiten ausgesetzt waren, Angriffen, in denen sich nicht nur eine an­
dere Auffassung von der Wissenschaft, sondern gleichzeitig nicht
selten auch ein Anti-Liberalismus zu Worte meldet, der, auch wenn
er in der Maske einer totalen Vernunft auftritt, in starkem Maße ro-
mantisch-irrationalistische Züge aufweist. Eduard Baumgarten, dem
ich dieses Bändchen gewidmet habe, gehört nicht nur zu denjenigen,
die M ax Webers Auffassungen verbreitet, kritisch verarbeitet und
weiterentwickelt haben. E r hat darüber hinaus unter dem Einfluß des
Weberschen Denkens und des Pragmatismus eine Rationalitätskon­
zeption ausgearbeitet, die der hier vertretenen eng verwandt ist.
Während die beiden ersten der hier abgedruckten Aufsätze meinem
Buch »Traktat über kritische Vernunft« vorausgingen und dessen
Grundidee im Kern vorwegnahmen, enthalten die letzten drei eine
Auseinandersetzung, die ich in diesem Buch bewußt vernachlässigt
habe. Es geht um die K ritik derjenigen Verbindung hermeneutischer
und dialektischer Denkweisen, die im Zusammenhang mit der poli­
tischen Entwicklung der letzten Jahre zu einer neuen deutschen
Ideologie geworden ist, einer Ideologie, die deutschen Quellen
entstammt, aber offenbar auch außerhalb des deutschen Sprachbe-
reichs viele Anhänger hat. Die letzte dieser Arbeiten ist der Aus­
einandersetzung mit einer Wissenschaftslehre gewidmet, die in die­
sem Zusammenhang in der letzten Zeit entwickelt wurde, einer
Konzeption, in der die universale Hermeneutik Heideggerscher
Prägung mit der Geschichtsphilosophie Hegelscher Provenienz eine
unheilige Allianz eingegangen ist.
Den Text der hier abgedruckten Arbeiten habe ich im wesentlichen
unverändert gelassen und damit einige Überschneidungen in K au f
genommen, die sich aus dem Zusammenhang der behandelten Pro­
bleme ergaben.

Heidelberg, im November 1970 Hans Albert

10
Die Idee der kritischen Vernunft
Zur Problematik der rationalen Begründung und des Dogmatismus

i. Die Tradition des kritischen Denkens

Wenn heute in Festreden und Feierstunden die Werte der abend­


ländischen Kultur beschworen werden, dann wird dabei nicht selten
der Eindruck erweckt, unser kulturelles Erbe biete uns einen ein­
heitlichen Wertehimmel, ein Orientierungssystem verbindlicher und
miteinander vereinbarer normativer Maßstäbe, nach dem w ir unser
Verhalten, unsere Stellungnahmen und Entscheidungen, einrichten
können und das für alle akzeptabel sein müsse. Diese Vorstellung
entspricht aber in keiner Weise der tatsächlichen Sachlage. Jede
einigermaßen unvoreingenommene Untersuchung zeigt uns die D if­
ferenziertheit unserer kulturellen Erbschaft, eine an Widersprüchen
und Konflikten reiche Vielfalt von Traditionen, die nur durch selek­
tive Deutung auf einen einheitlichen Nenner gebracht werden kann.
Wir sind also gezwungen, zwischen verschiedenen Traditionen und
den mit ihnen verbundenen Systemen der Weltorientierung zu wäh­
len, zwischen miteinander unvereinbaren Aspekten unseres kulturel­
len Erbes. Eine bewußte und durchdachte Entscheidung zwischen
ihnen kann uns allerdings dadurch erspart werden, daß w ir mit
H ilfe institutionell ausreichend abgesicherter Erziehungspraktiken
vor dem Einfluß jeweils unerwünschter Bestandteile dieser Erbschaft
geschützt werden. Derartige Tendenzen sind zw ar heutzutage noch
relativ weit verbreitet, aber sie scheinen allmählich an Wirksam­
keit zu verlieren.
Erstaunlicherweise pflegt man im deutschen Sprachbereich gerade
eine der ältesten und darüber hinaus eine der wirksamsten und für
unsere kulturelle und soziale Entwicklung bedeutsamsten Traditio­
nen des europäischen Denkens sehr oft zu vergessen, zu bagatelli­
sieren oder gar zu diffamieren oder aber sie zumindest als fragw ür­
dig zu behandeln: nämlich die Tradition des kritischen Denkens und
der kritischen Diskussion, der unvoreingenommenen Analyse und
Prüfung von Anschauungen, Wertungen, Autoritäten und Institu-

ii
tionefty Die bei uns noch immer weit verbreitete Gewohnheit, kriti­
sches Denken mit einem negativen Wertakzent zu versehen, mag
dazu verleiten, daß man die Rolle und die historische Bedeutung
dieser Tradition vollkommen falsch einschätzt, zumal sich alle mög­
lichen Verfechter durch kritische Untersuchungen gefährdeter A u f­
fassungen große Mühe geben, eine solche Fehleinschätzung zu för­
dern und den Wirkungsbereich dieser Tradition nach Möglichkeit
einzuschränken. Das ist an sich durchaus verständlich, wenn man
sich vor Augen hält, daß diese Tradition ihrem Charakter nach
immer wieder mit anderen Traditionen in Konflikt geraten mußte,
die aus irgendwelchen Gründen ein Interesse an der dogmatischen
Fixierung von Anschauungen hervorbrachten, gleichgültig, ob es
sich dabei um religiöse, metaphysische, moralische, politische oder
andere Anschauungen handelte. Nicht selten wurden nach einem sol­
chen Konflikt die Resultate kritischen Denkens allmählich mehr
oder weniger stillschweigend übernommen und assimiliert, was aber
der kritischen Einstellung an sich keineswegs immer die entsprechen­
de Anerkennung verschafft hat, teilweise sicher deshalb nicht, weil
es den Vertretern anderer Traditionen vielfach möglich w ar, die
Quellen ihres Denkens entsprechend umzudeuten.
Es ist vielleicht nicht ohne Nutzen, die Tradition des kritischen
Denkens einmal in ihrer Eigenart und ihrer Bedeutung zu skizzie­
ren, zumal sie im allgemeinen nicht des Pathos teilhaftig wird, das
man an andere Traditionen zu verschwenden pflegt, auch an solche,
die, wie jeder einigermaßen Gebildete weiß, wenn er auch oft ge­
neigt sein wird, diese seine Kenntnis zu verdrängen oder zu isolieren,
in der geschichtlichen Entwicklung aus Gründen, die unser Inter­
esse verdienen, mit der Verfolgung Andersdenkender, mit gewalt­
samer Bekehrung, mit Unterdrückung und grausamer Justiz ver­
bunden waren. Es ist sehr interessant, daß die geschichtliche Periode,i

i Siehe dazu K arl R. Popper. On the Sources of Knowledge and Ignorance.


Towards a Rational Theory o f Tradition, und andere der in seinem Aufsatz­
band: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge. Lon­
don 1963, abgedruckten Arbeiten. Popper kann das Verdienst für sich in Anspruch
nehmen, diese Tradition in seinem philosophischen Werk weitergeführt und ihr
eine neue Interpretation gegeben zu haben, die frühere Schwierigkeiten über­
windet. Siehe dazu: William Warren Bartley I II , The Retreat to Commitment.
New York 1962.

12
in der bei uns die Tradition des kritischen Denkens zum ersten Male
einen entscheidenden Durchbruch erzielte: nämlich die Aufklärung,
im deutschen Sprachbereich nur selten eine positive Würdigung er-
fährt. M an versieht sie gerne mit schmückenden Beiworten pejorati­
ven Charakters wie »flach«, »unhistorisch« und »trocken«, beschei­
nigt ihr eine Überschätzung des bloß Vernünftigen und dokumen­
tiert die eigene Überlegenheit damit, daß man bereit ist, dunklen,
unklaren, widerspruchsvollen und vieldeutigen Ergebnissen geisti­
ger Anstrengung wegen ihre angeblichen Tiefe den Vorzug vor den
Resultaten klaren, nüchternen und kritischen Denkens zu geben.
Dabei läßt sich kaum bestreiten, daß die Aufklärung zu einigen
erheblichen Änderungen geführt hat, die in der Richtung der H u ­
manisierung des sozialen Lebens liegen und auf die auch manche
ihrer Verächter heute nicht mehr gern verzichten würden2*.
Die Tradition des kritischen Denkens ist keineswegs erst in der
Aufklärung entstanden. Sie läßt sich zumindest bis in die grie­
chische Antike zurückverfolge Allerdings hat sie keine konti­
nuierliche Entwicklung aufzuweisen. Vor allem im europäischen
Mittelalter erfuhr sie unter dem Einfluß der kirAlichenJy|onopoli-
sierung des^gfjistigeji, Lebens eine zeitweise Unterbrechung, mit ent­
sprechenden Konsequenzen für die geistige und soziale Entwick­
lung. Sie hat sich dann vor allem im wissenschaftlichen Denken weit­
gehend durchgesetzt, wenn man auch nicht unbedingt sagen kann,
daß sie sich hier immer unangefochten behaupten kann. Auch im
Bereich der Wissenschaft sind nicht selten Dogmatisierungstendenzen
zu konstatieren, nicht nur dann, wenn außerwissenschaftliche In­
stanzen Einfluß auf die Forschung nehmen, wie das unter religiösen
und politischen Gesichtspunkten geschehen ist, sondern auch im

2 Dabei ist vor allem zu denken an das Vordringen religiöser Toleranz, die
Einführung der Glaubensfreiheit, die Abschaffung der Folter, das Aufhören der
Hexenverfolgung usw. Siehe dazu das Buch Oskar Pfisters, Das Christentum und
die Angst. Zürich 1944. Daß die Reformation mit den üblichen Grausamkeiten
keineswegs aufgeräumt hat, ist ja bekannt; siehe dazu Pfister, a.a.O., S. 298 ff.,
und Pfister, Calvins Eingreifen in die Hexer- und Hexenprozesse von Peney 1545.
Zürich 1947.
3 , K arl Popper führt sie auf die Vorsokratiker zurück.. Siehe dazu seine A r­
beit: Back to the iresocratics, Tn"dem oben genannten Aufsatzband; siehe auch:
Paul K . Feyerabend, Knowledge without Foundations. Oberlin/Ohio 1961.

*3
Wege der endogenen Schulenbildung, wie man sie auch in den N a ­
turwissenschaften mitunter findet4. Der ungeheure wissenschaftliche
Fortschritt in den letzten Jahrhunderten ist vor allem wohl darauf
zurückzuführen, daß in diesem Bereich der Hang zur Dogmatisie-
rung immer wieder überwunden werden, daß sich die Tradition
des kritischen Denkens in der Konkurrenz der I deen und Argumen­
te immer wieder durchsetzen konnte. Die in diesem Bereich oft vor­
herrschende positive Akzentuierung neuer und kühner Ideen, eine
entsprechende Einstellung der relativen Unvoreingenommenheit und
Irrtumstoleranz, bei der der Andersdenkende im allgemeinen nicht
als Ketzer diffamiert, sondern oft sogar als willkommener Dis­
kussionspartner betrachtet wird und man bereit ist, unter Umstän­
den von ihm zu lernen, findet in anderen Bereichen, vor allem da,
wo institutionell verankerte ideologische Bindungen bestehen, im
allgemeinen keine Entsprechung.
Natürlich ist der Geist der kritischen Diskussion keine sozial frei-
sdrwebende und völlig ungebundene Erscheinung, sondern ein T at­
bestand, der eine entsprechende soziale Konstellation voraussetzt,
die historisch gesehen nicht eben häufig realisiert gewesen ist. Eine
in stitu tionelle Sicherung freier und unvoreingenommener kritischer
Forschung und Diskussion scheint sich in vielen Fällen nicht so leicht
bewerkstelligen zu lassen wie die institutionelle Verankerung dog­
matischer Überzeugungen. D er Anspruch", im vollen und alleinigen
Besitz der Wahrheit zu sein und daher kritische Argumente nicht
beachten zu müssen — ein Anspruch, der im engeren Bereich der
Wissenschaft meist als naiv und keineswegs als Zeichen der Überle­
genheit gilt - , erweist sich in anderen Bereichen oft als von erstaun­
licher Durchschlagskraft, wenn er mit der Fähigkeit verbunden ist,
wichtige Bedürfnisse zu befriedigen oder ihre Befriedigung in Aus­
sicht zu stellen. Von solchen Ansprüchen her wird die Freiheit der
Forschung immer wieder gefährdet, auch in Gesellschaften, in denen
es gewisse institutionelle Garantien für sie gibt. Das ist vor allem da
der Fall, wo wissenschaftliches Denken in Konkurrenz tritt mit in­
stitutioneil verankei^enjdeologien, die nicht das Interesse an ”3er
Wahrheit und der freien Wahrheitsfindung in den Vordergrund

4 Siehe dazu die o. a. Schrift von Paul K . Feyerabend.

14
stellen, sondern die Legitimation geistiger und sozialer Tatbestände,
die Rechtfertigung; v o n ^ G l^ ^ m s ä tz ^ ^ e ^ d ia fts fo r m e n undjso-
zialen Ordnungen.

2. Die Methode der kritischen Prüfung und das Problem des Dog­
matismus

Angesichts der Bedeutung, die der Tradition des kritischen Denkens


für die geistige und soziale Entwicklung zukommt, ist es nicht er­
staunlich, daß man sie selbst, ihre Aspekte, Bedingungen und Konse­
quenzen zum Gegenstand der Forschung gemacht hat. Die Proble­
matik der Rationalität, der K ritik und des Dogmatismus wurde
systematisch und historisch analysiert, man hat ihr philosophische,
psychologische und soziologische Untersuchungen gewidmet, und es
hat den Anschein, als ob die Resultate dieser Forschungen in einer
Weise konvergieren, die sie für die verschiedensten Problembereiche
außerordentlich interessant macht. D ie Reflexion über die Grund­
lagen des kritischen Denkens hat in der Philosophie|vor allem zur
Analyse der erkenntnistheoretisch, wissenschaftstheoretisch und
ethisch relevanten logisch-methodischen Aspekte der Idee der kriti­
schen Prüfung geführt, sie hat in der Psychologie Untersuchungen
über kognitive Prozesse und ihren A blauf unter verschiedenen indi­
viduellen Bedingungen, bei offener und geschlossener Einstellung,
1
angeregt, und sie hat schließlich soziologische Forschungen über so­
ziale und institutionelle Bedingungen der Dogmatisierung und über
offene und geschlossene soziale Systeme hervorgerufen. Es hat sich
gezeigt, daß alle diese Aspekte eng miteinander Zusammenhängen:
Methoden, Einstellungen und Institutionen sind in vielfältiger
Weise miteinander verflochten. Anders ausgedrückt: Das Methoden­
problem hat logisch-philosophische, psychische und soziale Aspekte;
2
methodische Strategien können logisch durchkonstruiert, internali-
siert und institutionalisiert werden, und man kann ihre logische
Adäquanz, ihre psychische Verankerung und Auswirkung und ihre
^ ? .l3,k.^.rSüi:^lR a£a.il?.£fiiasJ^LU.fi2Il?lle..,Si(^erung-u^ 4...feg..SfiS~
Sequenzen fü r die Gesellschaft untersuchen.
Die Idee der kritischen Prüfung ist eine methodische Idee, die

U
darauf zurückgeht, daß unser Denken und Handeln der Irrtums­
möglichkeit unterworfen ist, so daß derjenige, der ein echtes Inter­
esse an der Wahrheit hat, daran interessiert sein muß, die Schwä­
chen und Schwierigkeiten seiner Denkresultate und Problemlösun­
gen kennenzulernen, Gegenargumente zu hören und seine Ideen
mit Alternativen konfrontiert zu sehen, um sie vergleichen, modifi­
zieren und revidieren zu können. N ur Anschauungen, die kritischen
Argumenten ausgesetzt werden, können sich bewähren. N ur auf
dem Hintergrund alternativer Auffassungen lassen sich die V or­
züge und Nachteile bestimmter Konzeptionen beurteilen. Es lohnt
sich daher immer, ernsthaft zur Diskussion stehende Ideen in eine
Form zu bringen, die soldie Vergleiche ermöglicht und ihre Prüfung
erleichtert, und sie dann tatsächlich mit Alternativen und Argumen­
ten zu konfrontieren. N ur in diesem Fall haben sie Gelegenheit zu
zeigen, was sie für die Weltorientierung le is te t^ • — 'T -o jp p t f
Es ist zw ar stets möglich, Anschauungen aller A rt gegen jede K ritik
zu immunisieren, sie entsprechend zu formulieren, zu interpretieren
und zu behandeln. Methodische Strategien, die das leisten, können
ohne Schwierigkeit gefunden werden. Man kann in dieser Bezie­
hung auf ein reichhaltiges Repertoire zurückgreifen. Man kann der­
artige Strategien außerdem einstellungsmäßig verankern, indem man
sich eine dogmatische Haltung zu eigen macht oder andere in dieser
Weise beeinflußt. Man kann sie weiter institutionell absichern, in­
dem man die soziale Kommunikation in entsprechender Weise ka­
nalisiert, einschränkt und in bestimmten Richtungen unterbindet, so
daß man gegen kritische Argumente aus bestimmten sozialen Berei­
chen weitgehend geschützt ist. Alles das ist immer wieder mehr oder
weniger erfolgreich praktiziert worden. Aber solche Vorkehrungen
sind nur geeignet, das Wachstum unseres Wissens und unserer Ein­
sicht, die Entdeckung unserer Schwächen, Fehler und Irrtümer auf­
zuhalten oder gar völlig zu unterbinden. Sie können daher niemals
im Interesse einer besseren Wahrheitsfindung, im Interesse der E r­
kenntnis, stattfinden, sondern - wenn man einmal von Mißverständ­
nissen absieht - nur in erkenntnisfremden Motiven wurzeln. Die 5

5 Wer K arl Poppers philosophische Konzeption kennt, wird unschwer erken-


nen, daß ich hier und an anderen Stellen immer wieder auf sic zurückgreife,
ohne das jedesmal besonders anzumerken.

16
Sicherung des einmal Erworbenen, des Gewohnten und Geglaubten
gegen jede Gefährdung steht dabei im Vordergrund, nicht aber
seine Bewährung gegenüber möglichen Alternativen, denn bewähren
können sich Ideen, Systeme und Konzeptionen aller A rt nur inso­
weit, als sie dem Risiko des Scheiterns ausgesetzt werden. Die durch
ihre D o ^ jajisieran g zu erreichende Sicherheit ist also fragwürdig,
nicht nur deshalb, weil sie tatsächlich nur temporären und relativen
Charakter zu haben pflegt, sondern darüber hinaus, weil sie ein in-
teJ4ekiu§|lexÖ 2j[fr voraussetzt: M an muß bis zu einem gewissen
Grade das Interesse an der Wahrheit, an der Erkenntnis und ihrem
Fortschritt opfern, um sie zu erreichen. Die Garantie des Bestehenden
bedeutet die Absicherung gegen mögliche Einsichten, die Festigung
bestehender Irrtümer, die Zementierung erworbener Positionen und
damit: die Hemmung der geistigen und sozialen Entwicklung.
In der neuzeitlichen philosophischen Diskussion hat sich die Idee
der kritischen Prüfung nur ganz allmählich und niemals völlig
durchsetzen können. Als sie sich im klassischen Rationalismus und
Empirismus zeigte, geschah das in einer Form, der man die theolo­
gische Vergangenheit der Philosophie noch anmerkte. Wir haben
hier gewissermaßen eine Pseudomorphose des kritischen Denkens
vor uns, seine Entwicklung in einem von traditionellen theologischen
Formen her bestimmten Gewände. Soweit in der vorhergehenden
Phase der intellektuellen Entwicklung überhaupt rationales Denken
über philosophische Probleme eine Rolle spielte, w ar es weitge­
hend an eine dogmatisierte Tradition gebunden: an Auffassungen,
deren Wahrheit als unbezweifelbar galt. Die Bindung an eine solche
schriftlich oder mündlich fixierte Tradition, in der sich die absolute
Wahrheit historisch offenbart hat, ist ja von jeher für die theolo­
gische Denkweise charakteristisch gewesen. Dabei wird einer be­
stimmten Erkenntnisquelle, z. B. einem heiligen Buch und damit
gleichzeitig einer damit gekoppelten inhaltlichen Auffassung, Auto­
rität zugeschrieben. Eine einmal offenbarte und unwandelbare
Wahrheit wird dadurch ein für allemal gerechtfertigt und jeder K ri­
tik entzogen.
Damit sind allerdings keineswegs alle Änderungen ausgeschlossen.
Es w ird nur das eigentliche Problem auf die Interpretation dieser
Offenbarung verlagert. An die Stelle der kritischen Analyse von

17
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V Sachfragen tritt in den entscheidenden Punkten die Exegese, die
Deutung vorgegebener Texte6. Im Zusammenhang damit taucht
dann die institutioneile Frage auf, welche Personen legitimiert
sind, verbindlidaeTnterpretationen zu geben. Unter Umständen ge-
< lingt es einer relativ geschlossenen und hierarchisch strukturierten
) sozialen Gruppe, ein Interpretationsmonoppl zu errichten, so daß

t
*Tsich mit der Bindung an einen bestimmten Glauben der Gehorsams-
7 anspruch von Inhabern bestimmter sozialer Positionen verbindet,

L die zur Deutung der Offenbarung legitimiert sind und zur Durch-
7 Setzung ihrer Ansprüche und damit auch ihrer Konzeption über
j Sanktionen der verschiedensten A rt verfügen, bis zu den Mitteln
? physischer Gewalt7.
1 Solche Zusammenhänge sind natürlich nicht an ein spezielles Glau­
benssystem gebunden, auch nicht an bestimmte theologische K on­
zeptionen, sie sind nicht inhaltlicher, sondern struktureller Natur.
Auch säkulare Ideologien können in dieser Weise Glaubenspflicht
und Gehorsamsanspruch institutionell verankern und ihre G lau­
benssätze durch Strategien der logischen und sozialen Immunisie­
rung vor K ritik schützen. Auch hier treten Unfehlbarkeitsansprüche
auf, wie sie im theologischen Bereich seit langem üblich sind. Auch
hier bilden sich unter Umständen im Gegensatz zur offiziellen
Orthodoxie Häresien, die der Verfolgung ausgesetzt sind. Die
Neuerung kann, soweit sie sich nicht in der Maskerade der Deutung
durchsetzt, weil sie von offiziellen Instanzen gewünscht wird, nur
als Häresie zum Vorschein kommen. Und wo blinder Gehorsam und
unbedingter Glaube zu obersten Tugenden erhoben werden, wird
man Häresien mit allen verfügbaren Machtmitteln zu Leibe rücken.
Relative Milde ist hier nur bei relativer Ohnmacht zu erwarten.
6 Siehe dazu die kritische Analyse Walter Kaufmanns in seinem Buch: Religion
und Philosophie, München 1966, besonders Kap. IV , und in seinem Buch: Der
Glaube eines Ketzers, München 1965, sowie das o.a. Buch Bartleys.
7 Siehe dazu das interessante Buch von Paul Blanshard: Communism, Demo­
cracy, and Catholic Power, London 1952, das besonders die institutionelle
Seite dieser Problematik analysiert. Um den Zusammenhang zwischen intellek­
tueller und sozialer Autorität, zwischen Glaubensbindung und Gchorsamsan-
spruch festzustellen, kann man z. B. auf das Buch von Ludwig Kösters S. J .,
Die Kirche unseres Glaubens. Eine theologische Grundlegung katholischer Welt­
anschauung, 4. Auflage, Freiburg 1952, zurückgreifen, das mir Musterbei­
spiele theologischen Denkens zu enthalten scheint.

18
Wie schon erwähnt, haben die klassischen Richtungen der neu­
zeitlichen Philosophie, der Rationalismus und der Empirismus, sich
in einer Pseudomorphose entwickelt. Die Loslösung vom alten
Denkschema, das den Erkenntnisprozeß weitgehend auf die Deu­
tung gegebener Aussagen beschränkte, gelang nicht vollständig. Auch
die klassische Erkenntnistheorie entwickelte eine Offenbarungstheo­
rie der Wahrheit8, in der aber gewissermaßen die Offenbarung
naturalisiert und demokratisiert wurde. Sie wurde ihres übernatür­
lichen und gleichzeitig historischen Charakters entkleidet, in die
individuelle Intuition oder die Wahrnehmung verlegt und verlor
andererseits ihren Privilegcharakter. Die Idee eines bevorzugten
Zuganges zur Wahrheit für die Inhaber .bestimmter sozialer Posi­
tionen wurde aufgegeben. Die Naturalisierung und Demokratisie­
rung der O ffenbarungsidee löste die Erkenntnis aus den traditionel­
len Bindungen und machte sie zu einer Offenbarung der Vernunft
oder der Sinne. Nicht mehr durch Berufung auf mit Autorität ver­
sehene Texte, sondern durch Berufung auf geistige Intuition oder
Sinneswahrnehmungen konnte man nun Erkenntnisse legitimieren.
Das heißt aber nur, daß die irrationale Autorität durch rationale
Instanzen mit ähnlicher Funktion ersetzt, das autoritäre Rechtfer­
tigungsschema aber letzten Endes doch beibehalten wurde. Die
Wahrheit w ar nun jedem zugänglich, der sich seiner Vernunft oder
seiner Sinne in richtiger Weise bediente, aber gleichzeitig blieb die
Idee einer Wahrheitsgarantie, die Vorstellung einer sicheren E r­
kenntnis, aufrechterhalten. Durch Intuition oder Wahrnehmung
hatte man einen unmittelbaren Zugang zu einer unbezweifelbaren
Wahrheit, von der aus sich die anderen mittelbaren Wahrheiten
mit H ilfe eines Ableitungsverfahrens, in deduktiver oder indukti­
ver Weise, gewinnen ließen. Man glaubte also immer noch auf einen
sicheren Grund rekurrieren zu müssen und auch zu können.
Wir können also sagen, daß die Philosophie des klassischen R a tio­
nalismus und Empirismus methodisch an der Idee der zureichenden
Begründung orientiert war, die auch heute noch eine erhebliche Rolle
in unserem Denken spielt. Eine methodische I nterpretation des
Satzes vom zureichenden Grunde, nach der alle möglichen Aussa-
8 Siehe dazu K arl Poppers o. a. Aufsatz: On the Sources of Knowledge and
Ignorance.

19
gen und Tatbestände durch Zurüdeführung auf eine sichere Quelle
der Erkenntnis positiv begründet werden müssen, auf eine Quelle,
die mit absoluter und unbez weif eibarer Autorität ausgestattet ist,
scheint mir, auch wo sie sich in dieser Weise nicht ausgesprochen
findet, das Kernstück der klassischen Methodologie zu sein. Schon
die A rt der Fragestellung mußte zu Antworten fuhren, bei denen
die Möglichkeit einer absoluten und positiven Rechtfertigung durch
Rekurs auf autoritative Quellen als selbstverständlich unterstellt
wurde9. In dieser Annahme steckt also ein dogmatischer Rest, der
allerdings in der praktizierten Methodologie schon oft überwunden
wurde, denn nun mußte sich ja in der sozialen Konkurrenz der
Ideen und Argumente sehr oft heraussteilen, daß man trotz angeb­
lich sicherer Quellen zu verschiedenen Auffassungen kommen
konnte. Das institutioneile Deutungsmonopol einer hierarchisch ge­
gliederten und zu intellektuellem Gehorsam verpflichteten Kaste
w ar im wesentlichen gebrochen. Wo es sich heute noch hält, hält sich
auch die traditionelle Methodologie der Exegese mit gebundener
Marschroute. Wo etwas Ähnliches neu geschaffen wurde, als Kon­
sequenz revolutionärer Wandlungen im Zeichen einer säkularen
Ideologie, hat sich sehr schnell wieder eine ähnliche Methode durch­
gesetzt.
In der klassischen Methodologie w ar also K ritik immer noch an
prinzipielles Rechtfertigungsdenken gebunden. Erst heute scheint
sich die Idee der kritischen Prüfung allmählich aus ihrer Verbindung
mit der Idee der zureichenden Begründung und damit vom autori­
tären Muster zu lösen und sich 'm reiner Form durchzusetzen10. Die
theologische Erbschaft der Philosophie, 'S ie den Rekurs auf eine
letzte sichere Quelle, eine irgendwie geoffenbarte Wahrheit, not­
wendig erscheinen ließ, wird nun als fragwürdig enthüllt und zu­
rückgewiesen. Die kritische Methodologie setzt keine »letzten Ge-
/flj gebenheiten« mehr voraus, die als solche prinzipiell vor jeder K ri-
tlls geschützt sind, auch nicht Vernunft oder Erfahrung. Damit sind
auch clie rationalen ReVhtfertigühpihsfänzen der klassischen Me­
thode: intellektuelle Intuition und Sinneswahrnehmung, ihrer auto­
ritären Funktion enthoben. Der neue Kritizismus kqniL.dicL_N£>t_
9 Vgl. dazu Popper, a.a.O.
10 Vgl. Bartley, a.a.O.

20
Wendigkeit nicht mehr anerkennen, irgendwelche Behauptungen ge­
gen jede mögliche K ritik zu immunisieren11.
Bevor ich auf die Konsequenzen dieser Auffassung für verschie­
dene Fragen näher eingehe, ist es vielleicht angebracht, die psychi­
schen und sozialen Aspekte der Idee der kritischen Prüfung und
der Problematik des Dogmatismus zu behandeln. Neuere Untersu­
chungen haben gezeigt, daß zwischen der Struktur von Überzeu­
gungssystemen, dem typischen Ablauf kognitiver Prozesse und ge­
wissen emotionalen und motivationalen Faktoren ein charakteri­
stischer Zusammenhang besteht, der in dieser Beziehung interessant
ist. Personen, die über ein relativ »geschlossenes« System von Über­
zeugungen verfügen, ein System von autoritär-dogmatischer Struk­
tur, legen bei der Lösung von Problemen ein Verhalten an den Tag,
das auf eine relative Isolierung zwischen den verschiedenen Bestand­
teilen dieses Systems schließen läßt. Sie sind nicht so leicht imstande,
interne Widersprüche zu erkennen, zwischen sachlichen Auffassun­
gen und den sie vertretenden Personen zu unterscheiden, ihr System
unter dem Einfluß relevanter Argumente umzustrukturieren, und
neigen zum »Parteiliniendenken« in Abhängigkeit von akzeptierten
A u to ritäre^ ) Der emotionale Faktor, der die Neigung zu geschlos­
senen, dogmatischen Systemen und damit die Tendenz zu einem
derartigen kognitiven Funktionieren begünstigt, ist die Angst.
Offenbar ist ein andauernder Zustand der Bedrohung in der Per­
sönlichkeit eine wesentliche Bedingung für die Entstehung geschlos­
sener Glaubenssysteme. Diese Bedingung kann sich unter dem Ein­
druck von Kindheitserfahrungen herausbilden und in die Persön­
lichkeitsstruktur eingehen, sie kann aber auch rein situativen Cha­
rakter haben13.
Die emotionale Investition in Glaubenssysteme, die auf diesem We-

ii Vgl. auch Morton White, Religion, Politics and the Higher Learning.
Cambridge/Mass. 1959, und Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative.
lunc
München i960.
r a<o iehe dazu
Siehe dazi das außerordentlich interessante Buch von Milton Rokeadi.
_____ The
(Je pen and the Closed ^Mir.d. Investigations into the Nature of Belief Systems
and Personality Systems. New**York i960.
13 Interessant ist bei Rokeadi in dieser Beziehung das Kapitel über die Wir­
kung bedrohlicher Situationen in der Geschichte auf die Dogmatisierung des
Katholizismus, dessen Ergebnisse wieder mit den Pfisterschen Thesen harmo-
. nieren. Dieses Kapitel führt schon in institutionelle Probleme über.

_ ua i v VT A/fi. r ä t * it . *9 »/ .
ZI

(¿ x -n Je A :
ge erworben wird, kann also dazu führen, daß diese Systeme gegen
kritische Argumente, gegen neue Erfahrungen und Informationen
aller A rt weitgehend immun werden. Das Festhalten an alten Dog­
men wird hier prämiiert gegenüber dem Ausprobieren neuer Ideen,
weil von einer emotional verwurzelten Abwehrhaltung her das
Neue als bedrohlich empfunden wird14*. H ier stoßen wir wohl auf
die psychischen Grundlagen der Tatsache, daß in sozialen Bereichen,
die durch relativ geschlossene und dogmatisierte Ideologien theo­
logischer oder säkularer N atur geprägt sind, offene Neuerer sehr
häufig als Ketzer diffamiert und verfolgt werden, daß die Neue­
rung sich, wenn überhaupt, nur in der Maskerade der Interpreta­
tion durchsetzen kann und daß der Irrtum, der z. B. in der wissen­
schaftlichen Entwicklung eine durchaus fruchtbare Wirkung haben
kann, in solchen Bereichen als Sünde diffamiert zu werden pflegt,
da die geoffenbarte Wahrheit als heilig gelten muß. Man sieht hier
den engen Zusammenhang von M ^ h odologie, J^ syc^oiogiejin a^So-
ziologi
Die Anwendung dogmatischer Methoden scheint unter Umständen
in sehr starken Motiven zu wurzeln. Diese Motive sorgen dafür,
daß das System theoretischer Überzeugungen, mit H ilfe dessen sich
die betreffenden Personen in der Welt orientieren, in starkem
Maße den Charakter eines »Verteidigungsnetzwerkes« gegen be­
drohliche Informationen gewinnt, so daß die Abschirmungsfunktion,
die Funktion der Sicherung, über die Orientierungsfunktion domi-

14 Die Prozesse, die eine solche Immunisierung ermöglichen, sind vermutlich


teilweise mit H ilfe der von Leon Festinger und seinen Mitarbeitern ent­
wickelten Theorie der kognitiven Dissonanz zu erklären, die zu einer Fülle
interessanter Experimente geführt KaTtfluehe" dazu u. a. Leon Festinger, A
Theory of Cognitive Dissonance. Evanston/Illinois 1957, und Jack W. Brehm
und Arthur R. Cohen, Explorations in Cognitive Dissonance. New York,
London 1962.
1$ Zur Problematik des Zusammenhangs von Dogmatismus und Fanatismus,
von Dogma, Zwang und Gehorsam siehe auch Eric HofTcrs Buch: The True
Believcr. New York 1958, in dem z. B. die Merkmale des typischen Konvertiten
analysiert werden, der bei radikalem Wechsel des Glaubensinhaltes die auto­
ritär-dogmatische Struktur seines Glaubens beibehält. Die Passagen des Buches
von Margarete Buber-Neumann, Als Gefangene bei Stalin und Hitler (1958).
München 1962, in denen sie das Verhalten der ernsten Bibelforscherinncn in
einem Konzentrationslager schildert, lesen sich wie eine Illustration zu Rokeachs
und Hoffers theoretischen Ausführungen, siehe S. 193 ff.

22
nicrt. Das System wirkt also selektiv nicht in der Richtung system-
rclevanter, sondern in der Richtung Systemkonformer Informatio­
nen. Man tendiert in weit stärkerem Maße dazu, bestätigende In­
formationen zu sammeln, als auf widersprechende Informationen
zu achten, weil man auf diese Weise unerwünschte kognitive Disso­
nanz vermeiden kann. Das heißt also, daß man die Methode der
positiven Rechtfertigung praktiziert, nicht die Methode der kriti­
schen Prüfung, die ja gerade auf relevante Informationen zielt, die
mit bisherigen Anschauungen unvereinbar sind.
Dem entsprechen die institutionellen Vorkehrungen, die von
Gruppen mit dogmatischen Überzeugungen im Rahmen ihrer Mög­
lichkeiten geschaffen werden, um ihre Mitglieder gegen den Einfluß
anderer Anschauungen und gefährlicher Informationen zu immuni­
sieren16. Solche Vorkehrungen reichen bekanntlich von der Erzie­
hung der Kinder unter dogmatischen Gesichtspunkten, ihrer Ab­
schließung gegen Personen mit anderen Anschauungen bis zu in
gleicher Richtung wirkenden Führungs- und Abschirmungsprakti­
ken Erwachsenen gegenüber, die sich im allgemeinen am leichtesten
durchführen lassen, wenn eine Führungshierarchie vorhanden ist,
die ein Monopol in der Entscheidung von Glaubensfragen für sich
in Anspruch nehmen kann und der gegenüber die Mitglieder der
betreffenden Gruppen zu Gehorsam in dieser Beziehung verpflichtet
sind.
Um solche Entscheidungen ohne weiteres akzeptabel und ein­
wandsimmun zu machen, werden off Inhaber bestimmter Positionen
in einer solchen Hierarchie mit einem Unfehlbarkeitsanspruch aus­
gestattet, der mehr oder weniger aus dem Inhalt des betreffenden
Überzeugungssystems legitimiert werden kann. Ein solches Charisma
läßt sich besonders gut mit einer Offenbarungstheorie der Wahrheit
verbinden, die den Erkenntnisprozeß als eine passive Aufnahme
von Eingebungen irgendwelcher A rt deutet, für die die Träger
bestimmter sozialer Positionen speziell privilegiert sein können.
Mit der Methodologie der kritischen Prüfung ist ein derartiger Un­
fehlbarkeitsanspruch natürlich ebensowenig zu vereinbaren wie der

16 Siehe dazu das Buch von Paul Blanshard, a.a.O., das sich auf katholische
und kommunistische Praktiken bezieht, und den Aufsatz von Arthur Schweitzer,
Ideological Strategy. In: The Western Political Quarterly, Vol. X V / i. 1962.

23
in den betreffenden Gruppen institutionell verankerte und durch
verschiedenartige Sanktionen (Strafandrohungen usw.) gesicherte
Anspruch auf Glaubensgehorsam gegen andere Personen. Gehorsam
in geistigen Fragen erscheint hier vielmehr als der beste Weg für
die Zementierung von Irrtümern. Institutioneile Praktiken, die die
Konkurrenz der Ideen ausschalten, das Aufkommen alternativer
Lösungen von Problemen verhindern, religiöses oder politisches
Parteiliniendenken indoktrinieren, und das alles, weil bestimmte
soziale Rollenträger den Anspruch erheben, im alleinigen Besitz
einer absoluten Wahrheit zu sein, haben nur die Wirkung, Intole­
ranz, Engstirnigkeit, Starrheit, Dogmatismus und Fanatismus zu
fördern und die geistige und moralische Entwicklung aufzuhal­
ten. Die Konsequenzen solcher Verfahrensweisen sind vom speziel­
len Inhalt der durch sie geschützten Glaubenssysteme weitgehend
unabhängig17.

j . Konsequenzen des Kritizismus: Zum Problem der Aufklärung

Während sich im philosophischen Denken heute die Idee der kriti­


schen Prüfung unter Lösung vom Rechtfertigungsdenken durchzu­
setzen scheint, ist gleichzeitig eine starke Tendenz zu beobachten,
die Anwendung dieser Idee nach Möglichkeit auf gewisse Bereiche
einzuschränken und für andere Bereiche andere Möglichkeiten zu
postulieren, vor allem: hier ältere Denkformen und traditionelle
Methoden aufrechtzuerhalten. Man versucht gewisse Bereiche gegen
das Eindringen kritischer Gesichtspunkte zu immunisieren, während
man andere dafür freigibt, so, als ob die Annäherung an die Wahr­
heit bzw. die Eliminierung von Irrtümern, Fehlern und Mißver­
ständnissen im einen Falle durch K ritik gefördert werden könne,
während im anderen Falle kritisches Denken eher schädlich sein
müsse. Solche an sich nicht sehr überzeugenden Einteilungsversuche
sind wohl in allen Gesellscharten an der Tagesordnung, da es stets
Überzeugungen zu geben scheint, die so wichtig sind, daß ihre kri­

17 Vgl. dazu Ernst Topitsdi, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wis­


senschaft. Neuwied 1961.

*4
tische Untersuchung Unbehagen erzeugen muß. Man ist daher gerne
bereit, aus dem »Wesen« eines Problembereiches, aus der »Natur
der Sache« der behandelten Gegenstände oder Probleme, ganz ver­
schiedenartige Verfahrensweisen für diese Bereiche zu rechtfertigen.
In diesem Zusammenhang wird oft ein fundamentaler Unter­
schied zwischen Glauben und Wissen behauptet, von dem her solche
methodischen Unterschiede legitimiert werden können. Im Bereich
des Wissens, vor allem in dem der Wissenschaft, scheint die Ver­
nunft, das rationale Denken, eine ganz andere Funktion zu haben
als im Bereich des sogenannten Glaubens. Während im ersten Be­
reich eine kritische Vernunft am Platze ist, neigt man im zweiten
eher dazu, sich für eine deutende, verstehende, hermeneutische Ver­
nunft auszusprechen oder gar die hier adäquate Verfahrensweise
von der der Vernunft überhaupt abzusetzen. Man entwickelt eine
Zwei-Sphären-Theorie, die gewisse tradierte Anschauungen gegen
bestimmte Arten der K ritik abschirmen und einen inselhaften Be­
reich unantastbarer Wahrheiten schaffen soll. In diesem Bereich ist
man unter Umständen sogar bereit, die Logik außer Gefecht zu set­
zen, damit echte Widersprüche akzeptabel werden, allerdings meist
ohne die Tragweite eines solchen Unternehmens und seine Absurdität
voll zu erkennen18. Man ist zw ar im sicheren Besitz der Wahrheit,
hat aber dennoch eine gewisse Angst vor kritischer Prüfung und
opfert daher oft lieber die elementare Moral des Denkens als
diesen angeblich sicheren Besitz. A uf diese Weise kann man
dogmatischen Verfahrensweisen mitunter eine gewisse Anerken­
nung verschaffen, nicht ohne daß die Isolierung verschiedener
Bereiche des Denkens und Handelns voneinander jene milde in­
tellektuelle Schizophrenie fördert, die es gestattet, die konse­
quente Anwendung kritischer Verfahrensweisen als N aivität zu be­
lächeln.
Im Zusammenhang mit solchen Immunisierungsversuchen findet
man sehr oft eine moralische Prämiierung des schlichten und naiven
Glaubens, der keine Zw eifel kennt und daher unerschütterlich ist,
als einer Tugend und dem entsprechend eine Diffamierung kritischen
Denkens für den betreffenden Bereich als unsittlich und zerset-
18 Für eine grundsätzliche Analyse vgl. K arl Popper, What is Dialectic? in
seinem in Anm. i genannten Aufsatzband.

*5
zend19. Die seltsame Idee, man sei einem speziellen Glaubensbestand
verpflichtet und nicht der unvoreingenommenen Wahrheitsfindung,
die Unterdrückung von Zweifeln sei unter Umständen hier von po­
sitiver moralischer Bedeutung, ein Glaube, der sich möglicherweise
unter kritischen Gesichtspunkten als fragwürdig heraussteilen mag,
sei auf jeden Fall vor derartigen Argumenten zu schützen, diese
Idee mag einem Parteiliniendenker und Parteigänger einleuchten.
Tatsächlich können w ir immer wieder den K am pf der institutio­
nell verankerten Glaubenssysteme, der Ideologien, gegen kritische
Methoden und wissenschaftliche Resultate, gegen die Betrachtung
sanktionierter Anschauungen im Lichte unserer übrigen Informa­
tionen, alternativer Möglichkeiten und kritischer Untersuchungen
konstatieren. Immer wieder scheint dieser K am pf aber auch mit
einem Zurückweichen unter gleichzeitiger Etablierung einer neuen
Grenze zu enden, eines engeren Bereiches der Immunität und der
absoluten Gewißheit, in dem angeblich nur ein dogmatisches Be­
gründungsverfahren Geltung beanspruchen kann. Dieser Bereich
unterliegt im Laufe der historischen Entwicklung offenbar dauern­
der Neuinterpretation, ohne daß man so etwas jeweils gerne zuge­
ben möchte, weil das einen berechtigten Zw eifel an der Konstanz
des Geglaubten erwecken könnte. De facto kann man sich nämlich
gegen den Einfluß neuer Erkenntnisse. Erfahrungen und Erlebnisse
niemals effektiv absiciierivf Aber man kann wenigstens versuchen,
die Illusion unveränderlicher Stetigkeit von Glaubensbeständen zu
erwecken bei denjenigen, die man unter geistiger Kontrolle hat.
In Wirklichkeit ist die Methode der kritischen Prüfung an keinen
intellektuellen oder sozialen Bereich gebunden. Es gibt keine sinn­
volle Einschränkung ihrer Anwendung im Interesse der Erkenntnis,
nur eine solche im Interesse der Aufrechterhaltung bestimmter Be­
stände, bestimmter geistiger und sozialer Gegebenheiten, die man
dem historischen Wandel gerne entziehen möchte. Auch die Be­
schränkung der kritischen Vernunft auf die Wissenschaften, die Tech­
nik und die Wirtschaft ist nicht besonders sinnvoll. Es gibt keine
a priori feststehende saubere Trennung der Bereiche, keine Abschot-

19 Der Wille zu glauben wird merkwürdigerweise oft höher geschätzt als das
Streben nach intellektueller Integrität und der Wille, ehrlich zu sein, wie Kauf­
mann mit Recht bemerkt, vgl. sein o. a. Buch: Der Glaube eines Ketzers, Prolog.
O xuA ttX tA A ¿ fa x
tung und Isolierung von Beständen, die sich auf jeden Fall durch­
halten ließe. Audi innerhalb der Wissenschaften haben sich der­
artige Grenzziehungen nie bewährt. Und wer die Wertfreiheit der
Wissenschaft etwa so deuten wollte, daß sich der Bereich des Mora­
lischen, der Werte und der Normen grundsätzlich kritisch-rationaler
Analyse entziehe, der hätte aus der Fragwürdigkeit normativer
Wissenschaften dogmatischen Charakters eine falsche Konsequenz
gezogen. Als Instrument der positiven Begründung, der dogmati­
schen Rechtfertigung, mag die Logik in diesem Bereiche ebensowe­
nig brauchbar sein wie in dem der Wissenschaft. A ls Instrument kri-
tisdher Analyse und Prüfung, als Organon der Kritik , läßt sie sich
nirgends ausschalten. U g * (
Nicht selten findet man in Untersuchungen über das Verhältnis
von Wissenschaft und Praxis eine scharfe Trennung zwischen dem
Reith der Mittel und dem Reich der Zwecke oder Werte, die dazu
führen kann, Fragen der Zielsetzung einer dogmatischen Sozialphi-.
!'’.sophic auszuliefern, während der positiven Wissenschaft nur die
Ifragen der Mittelverwendung zugewiesen werden. Ihre Erkennt­
nisse sollen in praktischer Hinsicht zwar instrumentale Bedeutung
haben, aber im Zusammenhang mit fundamentalen Fragen der
Wertung und der Zielsetzung glaubt man auf sie verzichten zu kön­
nen. Dieses Zweck-Mittel-Denken, nach dem die Zwecke des prak­
tischen Handelns und damit auch der Politik als für die Wissen­
schaft »gegeben« angesehen werden, so daß sie nur über die zu ver­
wendenden Mittel zu diskutieren habe, ist vor allem auch in den
Sozialwissenschaften zu finden, wo es dazu führt, daß man hier das
Zusammenspiel einer dogmatischen Sozialphilosophie mit einer
technologisch orientierten positiven Sozialwissenschaft mitunter als
Idealzustand deklariert findet, dem sich die in manchen Bereichen
praktizierte Methode zu nähern scheint. Eine in dieser Weise orien­
tierte Sozialwissenschaft darf sich natürlich bei den jeweiligen herr­
schenden Mächten einer Gesellschaft und den ihre Herrschaft legiti­
mierenden Ideologen einer gewissen Beliebtheit erfreuen, da sie re­
lative Ungefährlichkeit mit einer gewissen Nützlichkeit zu verbin­
den scheint. A uf dieser Grundlage kann es dann zum Beispiel »zu A
einer verhältnismäßig friedlichen Koexistenz zwischen einer emsi­
gen Kleinsoziologie und einer recht massiven Ideologie kommen«20

27
und darüber hinaus zu einer Zusammenarbeit, bei der das methodi­
sche Prinzip der Wertfreiheit der positiven Sozialwissenschaft in
ganz eigenartiger Weise zum Schutzschild für ideologische Kon­
struktionen wird.
Wer die moderne Diskussion um die Wertfreiheitsproblematik
kennt, wird ein solches Mißverständnis dieses methodischen Prin­
zips leicht verstehen und durchschauen können. Man wird dazu
feststellen können, daß eine solche Einengung der praktischen Rele­
vanz sozialwissenschaftlicher Erkenntnis auf instrumentale Pro­
bleme keineswegs in der Konsequenz des Wertfreiheitsprinzips
i >

liegt. Wenn die Sozialwissenschaft sich nicht für ideologische K on­


struktionen hergibt, so heißt das noch lange nicht, daß sie deshalb
diesen Bereich vollkommen unberührt lassen müßte. Ihre praktische
Bedeutung kann vor allem auch darin bestehen, daß sie derartige
Konstruktionen und ihren sozialen Wirkungszusammenhang kri­
tisch durchleuchtet und auf diese Weise in Verbindung mit einer
kritischen Sozialphilosophie einen Beitrag zur Aufklärung leistet.
Schon durch die Wahl ihrer Probleme kann auch eine werturteils­
freie Sozialwissenschaft für dogmatisierte sozialphilosophische Po­
sitionen aller A rt gefährlich sein. Man kann von ihr allerdings nicht
erwarten, daß sie jeweils die Dogmen fremder Gruppen durchleuch­
tet und die eigenen ungeschoren läßt. Die oben berührte allgemeine
Problematik des Dogmatismus und der Dogmatisierung ist selbst
schon ein Fragenkreis, der in dieser Beziehung außerordentlich rele­
vant sein dürfte. Der natürliche Zug zum Dogmatismus im sozialen
Leben, zur Verfestigung und Erstarrung von Anschauungen und, da­
mit verbunden, zur sozialen Abschließung, zur Abschirmung gegen
Argumente, Tatsachen und Informationen, die mit den bisher akzep­
tierten Auffassungen nicht harmonieren, die Immunisierung gegen
jede kritische Prüfung, die unter bestimmten sozialen Bedingungen
auf tritt, ist selbst ein sozialer Tatbestand, der die Neugier des So­
zialwissenschaftlers ebenso herausfordern muß wie die des kritischen
Sozialphilosophen.
Wenn w ir nicht im Namen eines sozialwissenschaftlichen Instru-20

20 So Emst Topitsch in seinem interessanten Aufsatz: Begriff und Funktion


der Ideologie. In: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft. Neu­
wied 1961, S. 48.

28
mcntalismus rationales Denken auf technologisch relevante Bereiche
und Probleme beschränken und die in unserer Gesellschaft herr­
schenden Irrationalismen für unverletzbar erklären wollen, dann
kann auch die positive Sozialwissenscbaft eine durchaus kritische
l'unktion für die sozialen Zustände und die soziale Entwicklung
haben. Sie mag dann mit Ideologien aller A rt in Konflikt geraten,
für eine kritische Sozialphilosophie bleibt sie immer akzeptabel.
Möglicherweise ist der Beitrag, den eine solche Sozialwissenschaft
zur Aufklärung leisten kann, ebenso groß wie ihr Beitrag zur Lö­
sung sozialtechnologischer Probleme in einem engeren Sinne. Die
Methode der kritischen Prüfung, für deren Anwendung sie keine
Grenzen anerkennen muß, gehört zu einer M ojaJdesD gnkens, von
der Verfechter moralischer Dogmen vielfach keine allzu hohe Mei­
nung zu haben pflegen, auch wenn sie im Interesse der Wahrheit zu
argumentieren scheinen. Dabei scheint die Achtung vor der Wahr­
heit doch dem Unbefangenen sicher eine positive Beziehung zum
I nteresse an kritischer Prüfung haben zu müssen. Wer irgendwelche
Probleme ernst nimmt, wird einer kritischen Untersuchung mög­
licher Problemlösungen im allgemeinen freundlich gegenüberstehen.
Wenn man die praktischen Früchte dogmatischen Denkens zur
Kenntnis nimmt, dann muß man starke Zweifel daran bekommen,
ob es sich lohnt, dogmatischen Glauben zu prämiieren und kritisches
Denken zu diffamieren und einzuschränken. In einer Zeit, in der das
Engagement so große Wertschätzung genießt, wird ein Engagement
ür die kritische .yerpttpft nicht zurückgewiesen werden dürfen.
Die Tradition der Aufklärung, für die man im deutschen Sprach-
bereich so selten einen Fürsprecher findet, wird von einem neu
durchdachten konsequenten Kritizismus her erneuert werden müs­
sen.
Tradition und Kritik
Zur Problematik der sozialen Verankerung von Überzeugungen

Es gehört zu den fragwürdigen Gewohnheiten des heutigen Den­


kens, daß man dazu neigt, Tradition und Traditionalismus weit­
gehend zu identifizieren, das heißt also: den Unterschied zu über­
sehen, der zwischen der für alle Bereiche des sozialen Lebens be­
deutsamen Überlieferung von Wissens- und Glaubensbeständen,
Normen und Wertorientierungen einerseits und andererseits jener
sehr speziellen Einstellung besteht, die darauf hinausläuft, das Über­
lieferte an sich heiligzusprechen, die Tradition mit einer höheren
Weihe zu versehen und sie dadurch der kritischen Analyse zu ent­
ziehen. Wer sich einer Tradition verpflichtet fühlt, glaubt daher
oft der Verpflichtung enthoben zu sein, seine Vernunft anzuwenden,
um diese Tradition zu analysieren, zu durchleuchten und sie unter
Umständen zu revidieren. Den Kritikern des Traditionalismus er­
scheinen dagegen Traditionen oft nur als Konsequenz eines Tatbe­
standes der sozialen Trägheit, der überwunden werden muß, da­
mit der Fortschritt zu seinem Recht kommt1.
Die Sozialwissenschaften haben solche Erscheinungen unroreinge-
nommen zu untersuchen, die Mechanismen, die bei ihnen eine Rolle
spielen, aufzuhellen und ihre Wirkungszusammenhänge bloßzule­
gen, ganz unabhängig davon, ob dabei gewisse Tabus der eigenen
Gesellschaft berührt werden.

i. Tradition als sozialer Tatbestand

Ausgangspunkt einer Analyse der Tradition können die von moder­


nen Sozialpsychologen untersuchten Phänomene sein, die beim
menschlichen Verhalten in relativ unstrukturierten Situationen auf­
tauchen. Menschliche Verhaltensweisen pflegen bekanntlich hoch­
gradig selektiv zu sein, ebenso wie die Situationswahrnehmung, die

i Siehe dazu vor allem K arl R . Popper, Towards a Rational Theory of


Tradition (1948), abgedruckt in seinem Aufsatzband: Conjectures and Refuta­
tions. London 1963 .

JO
ihnen vorausgeht. Diese ist jeweils abhängig von bestimmten Bezugs­
rahmen, die in inneren und äußeren Faktoren verschiedener A rt
verankert sind, wobei motivationale und soziale Tatbestände eine
mehr oder weniger große Rolle spielen2. Die sozialen Gebilde, die
für die Verankerung der Bezugsskalen einer Person und damit ihrer
kognitiven und normativen Weltorientierung relevant sind, pflegt
man ihre Bezugs-Gruppen zu nennen. Ein Wechsel des sozialen M i­
lieus und damit der Bezugsgruppen hat im allgemeinen entspre­
chende Auswirkungen auf die Einstellungen und Überzeugungen
der betreffenden Person.
Es gibt nun Situationen, die in objektiver Hinsicht relativ un­
strukturiert sind, so daß die äußeren Reize einen erheblichen Spiel­
raum für ihre Deutung offenlassen. In ihnen zeigt sich die große
Bedeutung innerer und sozialer Verankerung besonders deutlich.
Je unstrukturierter eine Situation nämlich ist, desto stärker ist die
Tendenz, sie auf Grund motivationaler und sozialer Faktoren zu
strukturieren, desto stärker treten Motive, Einstellungen und Emo­
tionen sowie die Bezugs-Gruppen der betreffenden Personen als
Verankerungspunkte für den sich herausbildenden Bezugsrahmen
der Orientierung in den Vordergrund. Bei starker sozialer Ver­
ankerung ist es durchaus möglich, daß Überzeugungen, die in kei­
ner Weise der Realität entsprechen, sich dennoch als außerordent­
lich stabil erweisen. Realitätsentsprechung kann weitgehend durch
soziale Verankerung ersetzt werden, wie zum Beispiel das Studium
bestimmter Sekten zeigt, die den Fehlschlag ihrer Prophetie durch
eifrige Missionstätigkeit erfolgreich kompensieren konnten3. Der
Verlust stabiler Verankerungen für die Orientierung im natürlichen
und sozialen Milieu und der daraus resultierende Zustand der Un­
gewißheit, Normenlosigkeit und Desorientierung scheint dagegen
außerordentlich schwer ertragbar zu sein.

2 Siehe dazu und zum Folgenden: Muzafer Sherif/Carl I. Hovland, Social


Judgment. New Haven/London 1961, und: Muzafer u. Carolyn W. Sherif, An
Outline of Social Psychology. Rev. ed. New York 1966.
3 Siehe dazu die empirischen Untersuchungen in: Leon Fcstinger/Henry W.
Riecken/Stanley Schächter, When Prophecy Fails. Minneapolis 1956. Diese Un­
tersuchungen und ihre theoretische Grundlage scheinen von großer Bedeutung
für die Analyse millenarischer und messianischer Bewegungen überhaupt zu sein,
und damit u. a. auch für die des Frühchristentums.

31
Für unser Thema ist nun der Tatbestand wichtig, daß soziale
Verankerung jene Konvergenz der Erwartungen herbeiführen kann,
die für die Koordination menschlicher Handlungen notwendig ist.
Sie kann die gemeinsamen Orientierungspunkte liefern, auf deren
Existenz das soziale Leben beruht. Die Bedeutung dieser Konver­
genz zeigt sich vielleicht am besten in Situationen, in denen zwar
ein gemeinsames Interesse zweier Partner vorliegt, aber keine Ver­
ständigung über das einzuschlagende Verhalten erfolgen kann. Ein
einfaches Beispiel dafür ist eine Situation, in der zwei Personen
darauf angewiesen sind, sich ohne die Möglichkeit einer Verabre­
dung in einer Stadt oder in einem Warenhaus zu treffen. Das Pro­
blem der Koordination ihrer Erwartungen und Verhaltensweisen
findet hier sehr oft eine einfache Lösung, bei der zum Beispiel ge­
wisse auffallende Stellen der betreffenden Umgebung eine Rolle
spielen. Man trifft sich etwa um 12 Uhr mittags am Portal des
Hauptbahnhofs und einigt sich damit ohne jede Kommunikation
auf eine Raum-Zeit-Stelle, die beiden Partnern plausibel erscheint4.
Die meisten Situationen enthalten irgendeinen Schlüssel für eine
solche Koordination des Verhaltens. Eine zunächst ziemlich un­
strukturierte Situation pflegt sich unter dem Einfluß eines gemein­
samen Interesses in Richtung auf einen gemeinsamen Anhaltspunkt
für das Verhalten zu strukturieren. Es zeigt sich aber, daß auch bei
teilweise divergierenden Interessen, zum Beispiel in geschäftlichen
oder politischen Verhandlungen, die Suche nach gemeinsamen A n­
haltspunkten eine erhebliche Rolle spielt, denn auch hier wird letzten
Endes Koordination angestrebt, und auch hier ist die gegenseitige
Kommunikation behindert, weil keine Partei ihre Karten offen auf
den Tisch zu legen wünscht. Die Strukturierung erfolgt hier eben­
falls unter dem Einfluß des gemeinsamen Problems, das gelöst wer­
den muß. Vielfach bieten sich dabei einfache Prinzipien für seine
Lösung an, zum Beispiel ein Grundsatz der Gleichheit oder der
Proportionalität zu irgendeiner Größe bei der Verteilung von G e­
winnen oder Verlusten. Oder aber - und damit kommen w ir in

4 Siehe dazu die interessanten, teilweise experimentellen Untersuchungen, über


die Thomas C . Schelling in: The Strategy of Conflict (i960). New York 1963,
berichtet und deren Relevanz über die hier angeführten Tatbestände weit hin­
ausgeht.

32
den engeren Bereich unserer eigentlichen Problematik - ein Präze­
denzfall wird herangezogen, um eine Einigung herbeizuführen. Das
Vakuum der Unbestimmtheit wird gefüllt, indem man nach früheren
Entsdieidüngen in Fällen sucht, die in irgendeiner Hinsicht ähnlich
gelagert waren. Die frühere Problemlösung mag dabei keinen ande­
ren Vorzug haben, als daß sie eben als solche bekannt ist und früher
einmal akzeptiert wurde, daher also geeignet erscheint, die neue
Situation in entscheidungsrelevanter Weise zu strukturieren. Es gibt
gewissermaßen keinen Grund, eine andere Lösung vorzuziehen.
Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß ein solches »Koordi­
nationsspiel« wahrscheinlich hinter der Stabilität von Institutionen
und Traditionen und vielleicht sogar hinter dem Phänomen der
Führerschaft selbst liegt5. Man kann ja offenbar eine Tradition als
eine soziale Gewohnheit ansehen, immer wieder auf frühere Pro­
blemlösungen bestimmter Art zurückzugreifen, also als eine Erwei­
terung der Verfahrensweise, die auch schon im einmaligen Rückgriff
auf einen Präzedenzfall zum Ausdruck kommt. Eine einmal voll­
zogene Weise, ein Problem zu lösen, wird immer wieder prakti­
ziert und unter Umständen von Generation zu Generation fast
unverändert weitergegeben. Dabei fällt oft die relative Zufälligkeit
oder - wenn man so w ill - die W illkür einer solchen Lösung auf.
Nicht selten kann man sich ohne weiteres andere Lösungen von
gleicher Güte oder sogar solche mit eindeutigen Vorzügen vor­
stellen. Die praktizierte Lösung scheint einer gewissen Allgemein­
heit zu entbehren, wenn man sie unvoreingenommen untersucht,
aber sie w irkt trotzdem weiter und wird unter Umständen in dem
betreffenden Kulturmilieu allmählich zu einer »Selbstverständlich­
keit«. Sie gewinnt den Anschein der Allgemeingültigkeit, bis etwa
ein interkultureller Kontakt eines Tages ihren speziellen Charak­
ter offenbart.
Man könnte sich natürlich hier die Frage vorlegen, ob solche so­
zialen Tatbestände nicht als »irrational« anzusehen sind, ob solche
Besonderheiten, die durch Weitergabe und Ausbreitung in einem
bestimmten Sozialmilieu allgemeine Geltung erlangen können, ange­
sichts der Möglichkeit in irgendeinem Sinne »besserer« Lösungen

j So Thomas C. Schelling, a.a.O., S. 91.

33
nicht als unvereinbar mit einem Prinzip der Rationalität angesehen
werden müssen. Die Antwort auf diese Frage hängt offenbar da­
von ab, was man von einer rationalen Problemlösung erwarten
würde, und zw ar: unter der meist realisierten Bedingung unvoll­
ständiger Information über die Möglichkeiten. Wir kommen auf
diese Frage der Rationalität noch einmal zurück.
Zunächst sind w ir jedenfalls auf etwas gestoßen, was w ir die Der
terminationskraft vorhergehender Entscheidungen nennen könnten.
Es scheint sich dabei um ein Entlastungsphänomen zu handeln, um
eine Ersparnis an neuen Entscheidungen, wie sie angesichts der N ot­
wendigkeit, ohne zureichende Gründe zu handeln, ohne weiteres
verständlich ist. Eine solche »Vererbung« einmal praktizierter Pro­
blemlösungen kann außerdem, wie w ir gesehen haben, vor allem
deshalb vorteilhaft sein, weil sie zu stabilen und konvergenten E r­
wartungen führt, wie sie für die soziale Koordination des Verhal­
tens und damit für die Existenz dauerhafter sozialer Gebilde er­
forderlich sind.
D ie biologischen Grundlagen dieser sozialen Erscheinung sind in
letzter Zeit eingehend untersucht worden6. Der wichtigste Faktor
ist hier die Entwicklung des menschlichen Gehirns, also des Organs,
das in der Lage ist, Instruktionen aus der Umwelt zu empfangen,
und das uns befähigt, begrifflich - und das heißt: unter Verwen­
dung von Symbolen - zu denken, in großem Maßstab zu lernen
und das Gelernte weiterzugeben. Das menschliche Gehirn ist die
Grundlage jener für den Menschen charakteristischen exosomatischen
Evolution, die - im Gegensatz zur endosomatischen, durch den Pro­
zeß der Vererbung vermittelten, Evolution — vermittelt ist durch
Tradition, also durch den Transfer von Information; im weitesten
Sinne über nicht-genetische Kanäle von einer Generation zur an­
deren, für den Konrad Lorenz sonst nur bei Ratten einige rudimen­
täre Ansätze gefunden hat. W ir haben hier also zum ersten Male
jene Vererbung erworbener Eigenschaften vor uns, die sich im Be-

6 Siehe dazu z. B. Julian H uxley, Der Mensch in der modernen Welt. Nürn­
berg 1950; P. B. Medawar, Tradition: The Evidence of Biology, in seinem Buch:
The Uniqueness of the Individual. London 1957; derselbe, Die Zukunft des
Menschen. Frankfurt 1962; und Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Zur N a­
turgeschichte der Aggression. 2. Auflage, Wien 1964.

34
reich der endosomatischen Entwicklung weitgehend als illusorisch
herausgestellt hat.
Diese A rt der Vererbung ist allerdings nicht durch somatische,
sondern durch soziale Mechanismen gesichert. Der Mensch besitzt
nicht nur als einzelner eine »historische Reaktionsbasis«, eine durch
individuelles Lernen veränderbare Grundlage für sein Verhalten;
er ist darüber hinaus imstande, diese Grundlage mit H ilfe der sozial
vermittelten Erfahrungen früherer Generationen zu verändern.
Darin liegt eine Bedeutung der Tradition, die über die bloße K o­
ordination von Erwartungen und Verhaltensweisen hinausgeht. In
gewissen Bereichen der deutschen Philosophie pflegen derartige T at­
bestände mit dem pathetischen Hinweis auf die sogenannte »Ge­
schichtlichkeit des Menschen«, die angeblich mit Gesetzmäßigkeiten
des sozialen Lebens unvereinbar ist, mehr aufgebauscht und ver­
dunkelt als nüchtern analysiert und durchleuchtet zu werden.
Wir können in bezug auf den bisher erörterten Sachverhalt eine
Unterscheidung machen zwischen der Tradition als Prozeß, als Me­
chanismus der Übertragung, und der Tradition als Produkt, als dem
übertragenen Gehalt selbst, dem also, was in diesem Prozeß mehr
oder weniger unverändert weitergegeben wird. Dabei kann es sich
um Verschiedenes handeln: einmal um Wissen, sachliche Überzeu­
gungen und Glaubensgehalte, andererseits um Regeln, Normen und
Einstellungen oder aber um ein Amalgam von beidem, wie w ir es
zum Beispiel in den religiösen Traditionen der Menschheit vor uns
haben. Wir können weiter unterscheiden zwischen kurz- und lang­
lebigen, starren und flexiblen, relativ speziellen und mehr oder we­
niger allgemein verbreiteten Traditionen.

2. Vielfalt und Konflikt der Traditionen: Bewahrung und Be­


währung

Statt uns weiter mit den verschiedenen möglichen Einteilungen zu


befassen, wollen wir nun auf einen Tatbestand eingehen, der für
die moderne komplexe Gesellschaft von großer Bedeutung ist: die
Tatsache nämlich, daß es in vielen Bereichen eine Vielfalt von T ra­
ditionen gibt, die verschiedenartige Beziehungen zueinander haben

35
können. Miteinander unvereinbare Traditionen können kollidieren
und in Konflikt geraten, wie das heute zum Beispiel in Polen einer­
seits bei der alten Tradition des Katholizismus und der jungen des
Kommunismus der Fall ist, andererseits auch beim Marxismus
und der Warschauer Schule der Philosophie, die mehr dem Positivis­
mus nahe steht7. Ähnliche, wenn auch weniger dramatische Ent­
wicklungen scheint es in vielen osteuropäischen Ländern zu geben.
Die Auseinandersetzungen in solchen Kollisionsbereichen bringen
im allgemeinen Modifikationen bestimmter A rt an allen beteiligten
Traditionen mit sich, wobei einerseits Kontrast-, andererseits auch
Assimilationseffekte zu beobachten sind. Es kann sogar zu Ver­
schmelzungen kommen, wie zum Beispiel bei der Entstehung des
Katholizismus, der ja ein sehr wirkungsvolles und dauerhaft es Amal­
gam aus Elementen frühchristlicher Religion, griechischer Philoso­
phie und des römischen Rechts darstellt, wenn man einmal von den
Bestandteilen archaischer Religiosität absieht, die vor allem nach
der Konstantinischen Wende einen erheblichen Einfluß auf seine
Entwicklung gewannen8. Daß Traditionen nicht nur eine Fusion
miteinander eingehen, sondern daß sie sich auch spalten können,
zeigt die Geschichte der Reformation. Das russisch-chinesische
Schisma im Kommunismus mag zu ähnlichen Auseinandersetzungen
führen. Zwischen solchen durch ein Schisma entstandenen Traditio­
nen ergeben sich vielfach besonders heftige Spannungen, da sich
hier die Rekrutierungsbereiche oft stark überschneiden und gegen­
seitige Existenzgefährdung eine große Rolle spielt. Der Ketzer wird
daher meist sehr viel stärker verfolgt als der Außenstehende.
Es kommt mitunter vor, daß Traditionen in eine Sackgasse ge­
raten, weil sich ihre verschiedenen Komponenten als unvereinbar
erweisen. Das hat vor kurzem Bartley am Beispiel des liberalen
Protestantismus der Jahrhundertwende gezeigt9, der in eine Krise
7 Einen vorzüglichen kritisch-historischen Bericht über diese Auseinanderset­
zung bringt das umfangreiche Buch von 2 . A. Jordan, Philosophy and Ideo-
logy. Dordrecht 1963.
8 Siehe dazu das instruktive Buch von Rudolf Herncgger, Macht ohne A u f­
trag. Die Entstehung der Staats- und Volkskirche. Oltcn/Freiburg 1963, vor
allem Kapitel 7. Auch die Entstehung der politischen Theologie wird in diesem
Buch eingehend behandelt.
9 Siehe dazu und zum Folgenden William Warren Bartley III, The Retreat
to Commitment. New Y ork 1962. Das Buch enthält eine durchgreifende Kritik

36
geriet, weil sein von liberalen Wertungen geprägtes Christusbild
sich als mit den Ergebnissen der historisdien Bibelkritik inkompa­
tibel erwies. Die A rt der Überwindung dieser Krise zeigt sehr deut­
lich, zu welchen intellektuellen Opfern man bereit sein kann, wenn
es darum geht, ein theologisches Engagement auf jeden Fall durch­
zuhalten. Der liberale Protestantismus wurde abgelöst durch die
Neo-Orthodoxie Barthscher Prägung und andere theologische Rich­
tungen - die Theologie Reinhold Niebuhrs, Paul Tillichs usw. - ,
die alle ein etwas prekäres Verhältnis zur kritischen Vernunft un­
terhalten, das nur durch eine gewisse methodische und verbale Flexi­
bilität verdeckt wird. Diese Flexibilität mag zuweilen taktische
Vorteile mit sich bringen, aber sie kann doch nur Eindruck auf den­
jenigen machen, der sie nicht durchschaut. Wenn Vertreter der Theo­
logie ihre nach üblichem Verständnis atheistischen Auffassungen
mit H ilfe eines theistischen Vokabulars - unter entsprechenden im­
pliziten oder expliziten Umdefinitionen - zum Ausdruck bringen
in der Meinung, durch eine solche Strategie der K ritik zu entgehen,
dann zeigt sich darin bestenfalls eine äußerst fragwürdige Metho­
dologie. Daß in einer Atmosphäre der Unklarheit und Verwirrung,
die durch solche Praktiken gefördert wird, Bücher, die eine etwas
klarere Sprache verwenden, großes Aufsehen erregen, ist keines­
wegs verwunderlich10. Solche Bücher sind relativ selten. Im allge­
meinen scheint das Problem, eine Tradition aus einer Sackgasse

der protestantischen Neo-Orthodoxie und anderer Formen einer Kompromißtheo­


logie, wie man sie heute gerade in Deutschland gern als für die kritische Auf­
klärung unerreichbar darstellt, eine Vorstellung, die wie viele Irrtümer auf ein­
seitiger geistiger Diät beruht. Man kennt die kritische Literatur nicht; vgl. auch
Richard Robinson, An Atheist’s Values, Oxford 1964.
10 Ich denke hier 2. B. an das Buch von John A. T. Robinson, Gott ist
anders. München 1964, das allerdings immer noch Tillichschen Methoden ver­
haftet ist, Methoden also, wie sie von Bartley in seinem o. a. Buch wirksam
kritisiert werden. Das Staunen Helmut Gollwitzers über den Erfolg dieses Bu­
ches (siehe seine Rezension in: Der Spiegel Nr. 26/1964) wird nur der ver­
ständlich finden, der seine These akzeptieren kann, die in Robinsons Buch expli­
zit geopferten Auffassungen (z. B. der Supranaturalismus) seien nie wesentliche
Bestandteile des Christentums gewesen. »Der Widerspruch des Atheisten geht
ins Leere«, sagt Gollwitzer — nun ja : wenn man zuvor die Theologie ent­
leert hat, z. B. zu einer Grund-des-Seins-Metaphysik im Stile neudeutschen Phi-
losophierens. Angelsächsische Theologen scheinen mitunter die Einwände ihrer
Gegner ernster zu nehmen; siehe dazu z. B .: Einwände gegen das Christentum,
herausgegeben von A. R . Vidier. München 1964.

37
herauszumanövrieren, viele Denker zu äußerst zweifelhaften me­
thodischen Tricks zu inspirieren.
Damit sind wir bei einem Thema angelangt, das in bezug auf alle
Traditionen von Bedeutung ist. Offenbar kann man sich zu den
überlieferten Auffassungen und Haltungen, mit denen man kon­
frontiert wird, sehr verschieden verhalten. Z w ar scheinen wir ohne
Traditionen nicht leben zu können, aber das bedeutet keineswegs,
daß w ir ihnen in jeder Beziehung ausgeliefert sind. Zumal wenn
verschiedene Traditionen miteinander konkurrieren, haben wir die
Möglichkeit, die von ihnen angebotenen Problemlösungen zu ver­
gleichen, sie auf dem Hintergrund alternativer Lösungen zu prüfen
und einer Kritik zu unterziehen. Man kann eine solche Situation der
V ielfalt also zum Ausgangspunkt kritischen Nachdenkens machen,
zum Anlaß einer Reflexion, die unter Umständen zur Revision tra­
dierter Glaubensbestände führen kann. Eine Einstellung, die auf
bloße Bewahrung zielt, kann einer Haltung Platz machen, die auf
Bewährung Wert legt und nur das Bewährte zu bewahren wünscht.
Eine solche Haltung mag auch in einem mehr homogenen Sozialmi­
lieu mitunter auf treten; durch die in modernen Gesellschaften herr­
schende Vielfalt tradierter Bestände wird sie vermutlich erleichtert.
Derartige Einstellungen zu Traditionen können naturgemäß wie­
der tradiert werden. Sie können sich selbst in Traditionen höherer
Ordnung verkörpern11, die selbst wieder mit anderen Traditionen
eine Verbindung eingehen können. Vor allem zwei Arten von sol­
chen Meta-Traditionen sind in unserem Zusammenhang also von
Interesse: der Dogmatismus, der auf eine Bewahrung um jeden
Preis, und der Kritizismus, der auf Bewährung im Lichte kritischer
Prüfungen gerichtet ist. Beide können in verschiedenen Schattierun­
gen und Ausprägungen Vorkommen. Der eingangs erwähnte Tra-
ditionalismus, der oft mit Tradition an sich fälschlich identifiziert
wird, entspringt einer dogmatischen Einstellung, die vielfach selbst
zum integrierenden Bestandteil inhaltlicher Traditionen wurde. Die
Dogmatisierung überkommener Glaubensbestände, Verhaltenswei­
sen und Lebensstile ist nicht selten eine wesentliche Komponente

ii Darauf hat vor allem Karl Popper aufmerksam gemacht. Siehe dazu und
zum Folgenden seine o. a. Aufsatz: Towards a Rational Theory of Tradition,
und andere Arbeiten seines Aufsatzbandes.

38
religiöser Traditionen, die in theologischen Reflexionen ihrer Ver­
fechter oft sehr deutlich zum Ausdruck kommt. In den großen Welt­
religionen findet man z. B. historisch fixierbare Erkenntnisquellen,
denen ebenso wie den mit ihnen verbundenen inhaltlichen A uf­
fassungen unbedingte Autorität zugesprochen wird. Die Anhänger
solcher Traditionen glauben sich im Besitz unantastbarer und un-
revidierbarer Wahrheiten, deren Geltung durch diese Erkenntnis­
quellen garantiert wird. Für einen mitunter schwer identifizierbaren
Kernbestand von Überzeugungen pflegen sie Immunität gegen kri­
tische Argumente jeder A rt in Anspruch zu nehmen12.
Es ist natürlich äußerst schwierig, solche Dogmatisierungen in
einem sich wandelnden Sozialmilieu über längere Zeitperioden
durchzuhalten, insbesondere dann, wenn konkurrierende Glau­
bensweisen auftauchen, die einer gewissen Überzeugungskraft nicht
entbehren. Die Schwierigkeiten, die durch solche Entwicklungen her­
vorgerufen werden, pflegen im allgemeinen so umgangen zu wer­
den, daß man Änderungen im Gewände der Interpretation zu­
läßt, gleichzeitig aber immer wieder mit Nachdruck behauptet,
im Grunde genommen habe sich nichts geändert, da der wesentliche
Kernbestand des betreffenden Überzeugungssystems der gleiche ge­
blieben sei13. Diese Methode empfiehlt sich den Verfechtern solcher
dogmatisierter Traditionen vor allem dann, wenn sonst die Glaub­
würdigkeit einer mit einem Unfehlbarkeitsanspruch ausgestatteten
Offenbarungsquelle in Frage gestellt würde. So kann man die Fik­
tion einer konstanten Wahrheit aufrechterhalten und die notwen-
12 Die Schwierigkeit der Identifikation, die mit dem Deutungsproblem zu­
sammenhängt, gilt keineswegs nur für protestantische Auffassungen, sondern
auch für den Katholizismus. Siehe dazu Wolfgang Gröbner, Grenzprobleme­
wissenschaft und Religion. In: Der Kirchenfreie, 9. Jg . 1. Folge. Graz 1964. Für
die Unterdrückung solcher Seminare kann man in diesem Fall wohl nicht die
Kommunisten verantwortlich machen. Vertreter autoritärer Auffassungen, die
die freie Diskussion nicht schätzen, sind auch in westlichen Ländern nicht ohne
Einfluß. Leider nimmt die Presse von solchen Fällen kaum Notiz.
13 Siehe dazu etwa die frappierende Behauptung Helmut Gollwitzers in
seiner o. a. Rezension des Buches von Robinson, frühere Theologen hätten
den »symbolischen« Charakter der religiösen Sprache immer schon vor Augen
gehabt. Zu dieser »symbolischen« Deutung, die wir vor allem Tillich verdan­
ken, siehe die beiden letzten Kapitel des erwähnten Buches von Bartley. Hoffent­
lich werden wir nicht eines Tages zu hören bekommen, das Christentum sei im
Grunde genommen immer schon eine atheistische Liebesmetaphysik gewesen,
sofern man den geläufigen Begriff des Atheismus verwenden wolle.

39
digen Anpassungen als Exegese maskieren. Hinter einer ehrwürdigen
terminologischen Fassade können sich außerordentlich weitgehende
Wandlungen der einzelnen Glaubensbestände vollziehen, die dann
mitunter explicite abgeleugnet werden14.
Mitunter werden auch für das Verständnis verschiedener Schich­
ten einer Glaubensgemeinschaft unterschiedliche Deutungen ein und
desselben tradierten Aussagenzusammenhanges bereitgehalten, so
daß de facto gleichzeitig sehr verschiedene Überzeugungen durch
ein einheitliches sprachliches Gewand gedeckt werden. Man ver­
fügt zum Beispiel über eine esoterische Deutung für eine kleine
intellektuelle oder politische Elite und über eine exoterische für die
übrigen Mitglieder1516
. Unter solchen verdeckten Differenzen braucht
natürlich die äußere Einheit und die Aktionsfähigkeit einer solchen
Gruppe nicht unbedingt zu leiden. Die Tradition kann bewahrt
werden. Ob sie sich damit auch schon bewährt hat, wird davon ab-
hängen, was man hier unter Bewährung verstehen will. Taktisch­
politische Gesichtspunkte mögen unter Umständen zu einer positi­
ven Beantwortung dieser Frage führen.
Es gibt eine grundsätzlich andere Möglichkeit, sich tradierten
Glaubensbeständen gegenüber zu verhalten, nämlich den eben er­
wähnten Kritizismus, der selbst auf eine lange Tradition zurück­
blichen kann. K arl Popper vertritt mit guten Gründen die A uffas­
sung, daß er bis auf die Vorsokratiker zurückgeführt werden kann,
von denen vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte eine Ein­
stellung entwickelt und weitergegeben wurde, die die freie kritische
Diskussion aller in Frage kommenden Überzeugungen positiv
akzentuierte10 und jene Verbindung von Glauben und Gehorsam
zurückwies, die sich in vielen sozialen Bereichen bis auf die heutige
Zeit erfolgreich behaupten konnte. Man kann zw ar den Tatbestand

14 Zur theologischen Deutungspraxis siehe auch: Walter Kaufmann, Religion


und Philosophie. München 1966. Zur allgemeinen Deutungspraxis im ideologi­
schen Bereich: Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wis­
senschaft. Neuwied 1961. Topitsch hat diese Züge praktizierter Deutungsmetho­
den immer wieder klar herausgearbeitet und ihre praktisch-politische Bedeutung
aufgezeigt.
15 Siehe dazu Ernst Topitsch, a.a.O., S. 132, sowie William W. Bartley,
a.a.O., S. 190, 194 ff, 206 ff.
1 6 Siehe dazu Karl Popper, Back to the Presocratics (1958) vgl. Anm. 3, S.
13 oben.

40
der Tradition akzeptieren und die bedeutende Rolle von Traditio­
nen im sozialen Leben anerkennen, aber sich dennoch jeder einzel­
nen gegenüber seine relative Freiheit wahren, indem man bereit ist,
sie kritischer Prüfung zu unterwerfen. D a es sich dabei selbst um eine
alte Tradition handelt, ist der eingangs erwähnte Gegensatz zw i­
schen kritischer Vernunft und Tradition, wie Popper mit Recht
feststellt, als ein Schein-Gegensatz erwiesen. Die bei uns noch immer
weit verbreitete Gewohnheit, kritisches Denken als »zersetzend« in
einem negativen Sinne dieses Wortes anzusehen, mag dazu verlei­
ten, daß man die Rolle und die historische Bedeutung dieser Tradi­
tion falsch einschätzt, zumal sich viele Vertreter durch kritische Un­
tersuchungen gefährdeter Auffassungen große Mühe geben, eine sol­
che Fehleinschätzung zu fördern und den Wirkungsbereich dieser
Tradition nach Möglichkeit einzuschränken, wobei sie übrigens das
rationale Argument meist gerade so lange gelten lassen, wie es für
ihre Zwecke brauchbar erscheint, im übrigen aber die Grenzen der
Vernunft betonen, sobald erfolgreiche Gegenargumente sichtbar
werden. Das theologische Wort von der Hure Vernunft hat hier
durchaus eine brauchbare Bedeutung.
Das alles ist durchaus verständlich, wenn man sich vor Augen
hält, daß die Tradition des kritischen Denkens ihrem Charakter
nach immer wieder mit anderen Traditionen in Konflikt geraten
mußte, die aus irgendwelchen Gründen ein Interesse an der dog­
matischen Fixierung von Anschauungen hervorbrachten, gleichgül­
tig, ob es sich dabei um religiöse, metaphysische, moralische, politi­
sche oder andere Überzeugungen handelte. Nicht selten wurden
nach einem solchen Konflikt die Resultate kritischen Denkens all­
mählich stillschweigend übernommen und assimiliert, was aber der
kritischen Einstellung an sich keineswegs immer die entsprechende
Anerkennung verschafft hat.

j . Die soziale Bedeutung des Kritizismus

Die Tradition der kritischen Vernunft ist gerade in der modernen


Welt von großer Bedeutung für alle sozialen Bereiche. Sie ist heute
vor allem in zwei Bereichen oft institutionell verankert: nämlich

41
* 5 /
fcAeu <
? . .
im Bereich der Wissenschaft und in dem der Politik. Natürlich soll
damit nicht gesagt werden, daß es im wissenschaftlichen Bereich
keine Dogmatisierungen und keinen Dogmatismus gibt. Sie sind
besonders in Gebieten zu finden, in denen die Methode der kriti­
schen Prüfung noch nicht ausreichend Fuß gefaßt hat, und in sol­
chen, in denen die Freiheit der Forschung nicht genügend gegen reli­
giös-weltanschauliche und politische Einflüsse geschützt werden
kann. Immerhin scheinen die Institutionen der wissenschaftlichen
Forschung und Lehre in den meisten Ländern einen gewissen Schutz
gegen Außeneinflüsse zu gewähren, womit freilich die Wirkungen
internen Konformitätsdrucks noch keineswegs ausgeschaltet sind.
Die Sozialwissenschaften erfreuen sich allerdings in vielen Ländern
keiner für die freie Forschung ausreichenden Sicherung.
Was den politischen Bereich angeht, so sind stabile demokratische
Institutionen, die die kritische Prüfung und Diskussion der getroffe­
nen Maßnahmen durch die Betroffenen ermöglichen, nicht allzuweit
verbreitet. Vielfach wird der egalitäre Aspekt der demokratischen
Tradition sehr viel stärker betont als derjenige Aspekt, der sich vor
allem in den repräsentativen Institutionen und in gewissen garan­
tierten Freiheitsrechten ausdrückt. Man kann den Kern der demo­
kratischen Tradition darin sehen, daß die öffentlichen Angelegen­
heiten durch kritische Diskussion aller Beteiligten weitergebracht
werden und daß vor allem auch die jeweiligen Machthaber mit ihren
Entscheidungen der K ritik durch die ihrer Herrschaft Unterworfe­
nen unterliegen. Dazu können alle möglichen institutioneilen V or­
kehrungen dienen, nicht nur die bisher in dieser Weise funktionie­
renden. Auch diese Intitutionen selbst sind dabei ständiger K ritik
ausgesetzt.
Die Tradition der kritischen Prüfung macht weder vor Glaubens­
beständen aller A rt noch vor Institutionen halt. Sie kultiviert in
bezug auf alle Tatbestände eine Einstellung, die nicht auf bloße
Bewahrung, sondern auf Bewährung zielt, wobei auch die jeweili­
gen Kriterien der Bewährung keineswegs von der K ritik ausgenom­
men sind. Sie hat im Laufe der Geschichte auf immer neue Probleme
und Bereiche übergegriffen und hat älteren Weisen, die Probleme zu
behandeln: dogmatisch-spekulative, naiv-empirische und habituell­
tradierte Verfahrensweisen, dabei in Frage gestellt. Nicht nur die

42
Ergebnisse der Wissenschaft, gerade auch ihre Methoden haben sich
immer wieder als revolutionär erwiesen. In den Methoden vor
allem - in der Methodologie der kritischen Prüfung, die sich hier
herausgebildet hat - verkörpert sich nämlich die kritische Einstel­
lung, die die Wissenschaften zum Paradigma für die Wirksamkeit
der Tradition der kritischen Vernunft gemacht hat.
Wir haben allen Grund, zwischen den Resultaten der Wissen­
schaften und der für sie maßgebenden methodischen Einstellung
scharf zu unterscheiden, wenn auch beide in kausaler Betrachtung
ohne Zw eifel eng zusammengehören. Die Unterscheidung ist unter
anderem für die Probleme der Bildung und Erziehung wichtig. Es
gehört wohl zu den üblichen Erziehungspraktiken der meisten Län­
der, bestimmte Wissensbestände, die Ergebnisse wissenschaftlichen
Denkens sind, an die nächste Generation weiterzugeben. Gleichzei­
tig ist aber, wie Bertrand Russell mit Recht festgestellt hat17, vielfach
eine Tendenz zu erkennen, gerade diejenige Einstellung, die die
Fortschritte der Wissenschaft ermöglicht hat, nicht übermäßig zu
fördern und sie in manchen Bereichen sogar mit negativen Sanktio­
nen zu versehen, weil sie dazu beiträgt, überkommene Glaubens­
bestände und liebgewordene Denkgewohnheiten in Frage zu stellen,
vor allem aber auch ideologische Auffassungen problematisch zu
machen, in die genügend starke Interessen und Gefühle investiert
wurden. Daß man den Unterschied zwischen wissenschaftlichen R e­
sultaten und wissenschaftlicher Einstellung beachten muß, zeigt sich
sehr schnell, wenn es gelingt, bestimmte Ideen und Systeme gewis­
sermaßen aus dem wissenschaftlichen Verkehr zu ziehen und gegen
jede weitere K ritik zu schützen, wie das in bestimmten Bereichen
der Welt zeitweise zum Beispiel dem Marxismus widerfahren ist, der
im übrigen eine erhebliche Auswirkung auf die Sozialwissenschaf­
ten hatte. Man sieht dann sofort, wie solche Resultate versteinern,
degenerieren und zu Bestandteilen unantastbarer Überzeugungen
werden, die den Charakter von Scholastiken haben.
Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß eine Immunisierung
irgendwelcher Überzeugungen gegen jede Kritik in irgendeinem
Falle die Erkenntnis fördern könne, ganz gleichgültig, welcher Pro-
17 Siehe dazu Bertrand Russell, Skepsis. Frankfurt am Main 1964, S. 135 ff.
und passim.

43
blembereidi in Frage kommt. Die heute sehr oft akzentuierte Un­
terscheidung zwischen Glauben und Wissen, die darauf abzielt, ge­
wisse Anschauungen gegen die methodische Einstellung der Wissen­
schaft in Schutz zu nehmen, gehört zu den fragwürdigen Praktiken,
die bestenfalls geeignet sind, dogmatisierte Glaubensinseln in unse­
rem Weltbild zu konservieren. Es lohnt sich daher vielleicht, einmal
darauf hinzuweisen, daß es eine E th ik d e s k n tis ^ ^ D e n k e n s gibt,
die sich keineswegs auf engum grenzteBereiaie einscnränken läßt,
sondern den Anspruch macht, keine willkürlichen Schranken aner­
kennen zu brauchen. Es wäre ein Mißverständnis, wenn man, wie
das heute vielfach geschieht, über der instrumentalen Funktion der
Wissenschaft für die technische Daseinsbewältigung das hinter ihr
stehende Ethos der kritischen Rationalität, wie es etwa M ax Weber
verstanden hat18, vergessen oder verkennen würde.
Die moderne Gesellschaft ist auf die Tradition des kritisch-ratio­
nalen Denkens in hohem Maße angewiesen, und zw ar nicht nur
im Hinblick auf ihre technischen, sondern darüber hinaus auch auf
ihre sozialen, politischen und moralischen Probleme. Eine wesent­
liche Grundlage für die allenthalben erforderlichen Reformen be­
steht darin, daß man die kritische Diskussion über die betreffenden
Tatbestände und Probleme zuläßt. Immer gibt es natürlich Inhaber
von Machtpositionen, die die K ritik als unangenehm betrachten und
ihre Mittel einsetzen, um sie zu verhindern oder zu hemmen. Sie
pflegen sich dabei sehr oft auf ehrwürdige Traditionen zu berufen.
Die Tatsache, daß eine Problemlösung von früheren Generationen
übernommen wurde, daß sie eine alte Abstammung aufweisen kann,
gewinnt dabei nicht selten die Funktion einer Legitimation. Wir
haben aber allen Anlaß, unsere kritische Vernunft einzusetzen, auch
wo es um die Prüfung von Traditionen geht. Damit huldigen wir
keineswegs der Traditionslosigkeit, sondern w ir verhalten uns im
Sinne einer der ältesten Traditionen unserer Geschichte, die sich
selbst immer wieder bewähren konnte: der Tradition des kritischen
Denkens.

18 Siehe dazu Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1919). In: Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Auflage, besorgt von Johannes Winckclmann.
Tübingen 19 5 1; siehe dazu auch K arl Löwith, Die Entzauberung der Welt durch
Wissenschaft. In: Club Voltaire II. München 1965.

44
Kritische Rationalität und politische Theologie
Zur Analyse der deutschen Situation

i. Rationalität und Engagement

In der modernen Industriegesellschaft hat man sich seit langem dar­


an gewöhnt, den Begriff der Rationalität vor allem mit Wissen­
schaft, Technik und Wirtschaft in Verbindung zu bringen und mit
den Verfahrensweisen, die in diesen sozialen Bereichen in den letz­
ten Jahrhunderten ausgebildet, entwickelt und ständig weiter ver­
vollkommnet worden sind. Die Ideale der Exaktheit, der Präzision
und der Effizienz stehen im Vordergrund, wenn es darauf an­
kommt, die Rationalität von Methoden und Resultaten aller A rt zu
beurteilen, und Mathematisierung, Quantifizierung und Formali­
sierung scheinen die hervorstechendsten Merkmale jedes Fortschritts
zu sein, der dieser Idee der Rationalität entspricht. In den Wis­
senschaften ist das axiomatisch-deduktive Denken im Vordringen
begriffen, ebenso wie andererseits die Benutzung statistischer Ver­
fahrensweisen, und zw ar selbst in Gebieten, die nach bisher üblicher
Auffassung solchen Methoden kaum zugänglich sind, wie zum Bei­
spiel in den sogenannten Geisteswissenschaften. Messen, Kalkulieren,
Steuern, Programmieren und Prognostizieren sind Tätigkeiten, die
für die Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft und
damit für den Bestand der Zivilisation immer wichtiger werden und
deren Ergebnisse den Lebensstil der Bevölkerung in den industriel­
len Gesellschaften in immer stärkerem Maße zu prägen scheinen.
In diesen sehr auffallenden Zügen, die offenbar in erheblichem
Kontrast zu wesentlichen Merkmalen des Lebens in früheren
Hochkulturen und in den sogenannten primitiven Gesellschaften
stehen, ist das Resultat eines sich über große Zeiträume erstrecken­
den Rationalisierungsprozesses zu sehen, der schon unter den ver­
schiedensten Gesichtspunkten analysiert worden ist. Angesichts
ihrer Bedeutsamkeit scheint es nicht unplausibel zu sein, die Idee der
Rationalität vor allem im Hinblick auf diese Aspekte unseres mo­
dernen Lebensstils zu bestimmen, gleichgültig, ob man mehr dazu

45
neigt, positiv oder negativ zu ihnen Stellung zu nehmen. D a mit
dieser A rt von Rationalität allem Anschein nach ein hohes Maß von
Objektivität, Neutralität und Wertfreiheit verbunden ist, wie
man das für den Bereich der reinen Erkenntnis nicht selten als selbst­
verständlich voraussetzt, besteht überdies die Neigung anzuneh­
men, daß sich die betreffenden Phänomene weitgehend einer Beur­
teilung unter ästhetischen, moralischen oder gar politischen Gesichts­
punkten entziehen und daß auch die sozialen Bereiche, in denen
sie dominieren, weitgehend gegen Stellungnahmen, die von solchen
Gesichtspunkten ausgehen, geschützt sind. Zwischen Wissenschaft
und Technik einerseits und Politik und M oral andererseits scheint
ein fundamentaler Unterschied zu bestehen, der die Autonomie die­
ser Sphären gewährleistet und Bewertungen, die diese Abgrenzung
mißachten, als illegitim erscheinen läßt. Daß in der politisch-mora­
lischen Sphäre Irrationalität, unbegründbare Stellungnahme und
subjektive Entscheidung ein gewisses Heimatrecht haben, pflegt da­
gegen nur selten bestritten zu werden. Die Einsichten der reinen
Wissenschaft reichen offenbar nicht aus, um die Entscheidungen der
sozialen Praxis mit einem ausreichenden Fundament zu versehen.
Es gehört zweifellos zu den bedeutsamsten Wirkungen des Neo-
Marxismus, der das Denken der neuen Linken bestimmt, auf das
öffentliche Bewußtsein, daß er die oben skizzierte Konzeption der
Rationalität einigermaßen wirksam in Frage gestellt und dadurch
bei vielen ihrer Verfechter und auch bei anderen, denen sie zumin­
dest bis zu einem gewissen Grade plausibel oder gar selbstverständ-
lich erschien, einen Prozeß der Neubesinnung hervorgerufen hat,
dessen Konsequenzen noch abzuwarten sind. Das ist vielleicht we­
niger den großenteils selbst recht fragwürdigen Argumenten dieser
Gruppe zu verdanken als den vielfach provokativen und effekt­
vollen Formulierungen, durch die sie sich auszeichnet, einem Stil
der Darstellung und der Selbstinszenierung, der die Grenze zw i­
schen Argumentation und Agitation längst überschritten hat, wenn
auch der Jargon, der dabei bevorzugt wird, den Charakter einer
wissenschaftlichen Fachsprache imitiert.
Die »kritische Theorie« der Frankfurter Schule1, die für dieses

i V g l . d a z u d ie A r b e it e n v o n M a x H o r k h e im e r , T h e o d o r W . A d o r n o , J ü r g e n
H a b e r m a s u n d H e r b e r t M a r c u s e , d e r f ü r d ie V e r b r e it u n g d ie se s D e n k e n s im a n g e l-

46
Denken repräsentativ ist, hat interessanterweise die Probleme des
ökonomischen Unterhaus weitgehend aus den Augen verloren. Sie
verzichtet zw ar nicht auf Andeutungen und Hinweise in dieser Be­
ziehung, aber doch auf ökonomische Analyse im strengen Sinne und
auf die Auseinandersetzung mit der herrschenden Neo-Klassik im
ökonomischen Denken. Der historische Materialismus ist in dieser
Version - ebenso wie in ähnlichen Versionen, die mehr auf den frü­
hen als auf den späten M arx rekurrieren - teilweise zu einer A uf­
fassung degeneriert, in der die Erörterung ideologischer und ästheti­
scher Probleme die der ökonomischen Problematik ersetzt hat. Sieht
man einmal von der vulgärökonomischen Folklore einer romantisie­
renden Kapitalismus-Kritik ab, in der theoretisches Denken durch
die Anwendung marxistischer Schablonen ersetzt wird, dann gilt
dies im wesentlichen auch für andere Autoren der neuen Linken2.
Die der Hegelschen Philosophie entstammende These, daß es dar­
auf ankomme, stets den Totalzusammenhang des Geschehens zu
bedenken, hat in Verbindung mit der Betonung des kritischen Cha­
rakters einer adäquaten Gesellschaftsanalyse zu jener totalen Kritik
geführt, in der die für eine realistische Praxis notwendigen theore­
tischen Analysen und technologischen Untersuchungen nicht etwa
»aufgehoben«, sondern untergegangen sind. Daß die extremen Ver­
treter der neuen Linken inzwischen zur K ritik ihrer geistigen Väter
übergegangen sind und daß diese Väter selbst sich von den exzessi­
ven Wirkungen zu distanzieren beginnen, die ihre Ideen bei ihren
früheren Jüngern hervorgerufen haben3, von der Praxis des poli-

sächsischen Bereich gesorgt hat; etwa, Horkheimer, Kritische Theorie. Band I,


und II, herausgegeben von Alfred Schmidt. Frankfurt am Main 1968; derselbe,
Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft, herausgegeben von Alfred Schmidt.
Frankfurt am Main 1967; Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung. Am­
sterdam 1947; Jürgen Fiabermas, Theorie und Praxis. Neuwied/Berlin 1963;
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Neuwied/Berlin 1967.
2 Einen Beitrag zur ordnungspolitischen Problematik, der den heutigen Stand
der Diskussion berücksichtigt, wird man in diesem Bereich vergeblich suchen.
Die sogenannte bürgerliche Ökonomie pflegt zwar abgelehnt zu werden, aber
man scheint sie kaum zu kennen. Damit w ill ich nicht etwa sagen, daß die
moderne ökonomische Theorie keine Schwächen hat. Aber ein für Zwecke der
Agitation brauchbarer Jargon scheint mir jedenfalls keine theoretische Alternative
zu sein, mit der man sich zufriedengeben kann.
3 Vgl. dazu etwa das Vorwort Horkheimers im I. Band seiner eben erwähnten
Aufsatzsammlung »Kritische Theorie«, a.a.O., S. X I I ff., sowie das Nachwort

47
tisdien Expressionismus, die sich bei ihnen ausbreitet, tut in unserem
Zusammenhang nichts zur Sache. Zweifellos haben sie, als sie ihre
Gedanken formulierten, im allgemeinen nicht an Entwicklungen
dieser A rt gedacht - etwa an den Übergang zu Gewalttätigkeiten,
zu deren Rechtfertigung die kritische Theorie nun herhalten soll.
Dennoch scheint mir ein sinnvoller Zusammenhang zu bestehen
zwischen ihrer Denkweise und diesen Phänomenen. Nicht daß sie
gewisse Aspekte der industriellen Zivilisation und bestimmte Züge
moderner mit dieser Zivilisation verbundener Denkgewohnheiten
in Frage stellen, ist hier gemeint, sondern: die Weise, in der sie das
tun, das heißt vor allem: die Konzeption, von der sie dabei ausge­
hen, die ihren Denkstil, ihre Methode, bestimmt und die es ihnen
erlaubt, historische Totaldeutungen mit kritischem Anspruch - etwa:
eine Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht - zu vertreten,
die sich selbst jeder K ritik entziehen, da in ihnen eine kritische
Vernunft zum Ausdruck kommt, die über die Methoden und Resul­
tate normaler Wissenschaft erhaben ist und ihnen bestenfalls einen
Stellenwert zuweist. Derartige Deutungen sind bekanntlich im all­
gemeinen hinreichend vage und unbestimmt, sie haben einen so gro­
ßen Spielraum, daß sie zur Rechtfertigung fast jeder beliebigen
Praxis dienen können4, auch einer solchen, die nur noch der unmit­
telbaren Jetztbewältigung und der Abreaktion von Affekten dient.
Was die allenthalben erhobene Forderung der Politisierung der
Wissenschaft angeht, so ist schwer zu sehen, was von der Wissen-

des Herausgebers im II. Band: Zur Idee der kritischen Theorie, S. 333 ff., in dem
im übrigen die Struktur der sogenannten kritischen Theorie auch nicht klarer
wird als etwa in Horkheimers Aufsatz: Traditionelle und kritische Theorie (im
gleichen Band, S. 137 ff.) oder in anderen Arbeiten aus diesem Kreis; vgl. auch
das Gespräch mit Adorno — »Keine Angst vor dem Elfenbeinturm« - im Spiegel,
(23/19 vom 5. Mai 1969, S. 204 ff.), aus dem nicht nur die Ablehnung des kurz­
schlüssigen theorielosen Praktizismus hervorgeht, der heute in Teilen der linken
Studentenbewegung zu beobachten ist, sondern auch die Tatsache, daß man von
der Frankfurter Schule, die in ihren Verlautbarungen stets die Problematik des
Zusammenhanges von Theorie und Praxis akzentuiert hat, kaum einigermaßen
klare Lösungsversuche für diese Probleme zu erwarten hat; vgl. dazu auch meine
Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas in: Adorno/Albert/Dahrendorf/Ha-
bermas/Pilot/Popper, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Neu-
wied/Berlin 1969.
4 A u f diese Tatsache hat vor allem Ernst Topitsch immer wieder hingewiesen.
Vgl. z. B. sein Buch: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft.
2. Auflage, Neuwied/Berlin 1 9 6 6 .

48
schaftslehre des Neo-Marxismus her kritisch dazu gesagt werden
könnte, einer Wissenschaftslehre, die von Anfang an die beschränkte
Rationalität der neutralen Wissenschaft aufzuweisen und ihre Schein­
neutralität zu enthüllen versucht hat. Das Dilemma dieser Rich­
tung zeigt sich darin, daß sie gerade für die Problematik, die sie in
den Mittelpunkt ihrer Analysen stellt: für das Problem des Zu­
sammenhangs von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und Ent­
scheidung, von Rationalität und Engagement, keine brauchbare Lö­
sung vorzuschlagen hat, keine Lösung vor allem, die der Bedeutung
der Wissenschaften für die moderne Zivilisation Rechnung trägt.
Das hängt, wie wir sehen werden, teilweise mit ihrer Deutung der
Wissenschaften und der daraus resultierenden Einstellung zum na­
turwissenschaftlichen Denkstil zusammen. Um es anders auszudrük-
ken: Das Dilemma dieser - wie übrigens auch anderer - A uffas­
sungen liegt in der unbewältigten Ideologieproblematik.
Es lohnt sich vielleicht, etwas weiter auszuholen, um die Eigenart
und die Bedeutung dieser Problematik ins rechte Licht zu setzen.
Die Tatsache, daß Ideologien im gesellschaftlichen Leben eine er­
hebliche Rolle spielen, ist heute ebenso selbstverständlich geworden
wie das Vorhandensein einer Ideologiekritik, die darauf abzielt,
die hinter solchen Denkweisen stehenden Motive, Interessen und
Einstellungen aufzudecken und dadurch unter Umständen ihre G ül­
tigkeit in Frage zu stellen. Nicht die Existenz und die Effizienz
ideologischer Denkweisen überhaupt ist aber das Problem, das in
unserem Zusammenhang in Betracht kommt, sondern vielmehr der
radikale Ideologieverdacht, der im Zusammenhang mit der These
von der sogenannten »Seinsverbundenheit des Denkens« aufge­
taucht ist6, der Verdacht einer durchgehenden ideologischen Struktur
alles Denkens überhaupt, der sich daraus ergeben hat, daß sich die
Idee einer »reinen Vernunft« als eine erkenntnistheoretische Fik­
tion erwiesen hat.
Die Vorstellung eines im Erkenntnisprozeß natürlichen Bedürf­
nissen, Bindungen und Beschränkungen vollkommen enthobenen5

5 Der Ausdruck stammt bekanntlich von K arl Mannheim, vgl. dazu sein
Buch: Ideologie und Utopie. 3. Auflage, Frankfurt am Main 1952, aber die These
geht auf M arx zurück, vgl. sein berühmtes Vorwort zu seinem Buch von 1859:
Zur Kritik der politischen Ökonomie.

49
Geistes, dem sich in interesseloser Schau unmittelbar die Wahrheit
offenbart, ein theologisches Residuum in der klassischen Erkennt­
nistheorie6, ist fast überall der Einsicht gewichen, daß auch die
Erkenntnislehre mit dem in den Zusammenhang von N atur und
Gesellschaft eingebetteten Individuum zu rechnen hat. Durch die­
se Einsicht wurde aber nicht nur die immanente Erkenntnistheo­
logie der Philosophie des klassischen Rationalismus destruiert, son­
dern darüber hinaus schien nun der Geltungsanspruch des Denkens
überhaupt radikal in Frage gestellt zu sein: vor allem für Denk­
resultate, die sich auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Bereich be­
ziehen, denn vor allem auf diesen ihnen vertrauten Bereich ha­
ben sich die Verfechter des radikalen Ideologieverdachts im all­
gemeinen bezogen. Allerdings ist die Scheu, auch Mathematik und
Naturwissenschaften in diesen Verdacht einzubeziehen, die bisher
noch meist zu beobachten war, unter dem Einfluß des Neo-M arxis-
mus ziemlich weitgehend beseitigt worden7.
Wie immer man zu dieser Radikalisierung des Ideologieverdachts
stehen mag: mit der Einsicht in die Zusammenhänge, wie sie unter
den erwähnten komplexen Tatbestand der Seinsverbundenheit des
Denkens fallen, schien jedenfalls der Anstoß gegeben zu sein, das
Verhältnis von Denken und Sein erneut zu analysieren. Die Mög­
lichkeiten einer neuen Lösung dieser Problematik kristallisierten sich
im wesentlichen um drei Strömungen des modernen philosophischen
Denkens, die noch heute die Konturen der geistigen und bis zu ge­
wissem Grade auch der politischen Landschaft der industriellen Z i­
vilisation bestimmen. Sie lassen sich in idealtypischer Stilisierung
etwa folgendermaßen charakterisieren:
6 Zur Analyse und K ritik des Offenbarungsmodells der Erkenntnis vgl. vor
allem K arl Popper, On the Sources of Knowledge and Ignorance, in seinem
Aufsatzband: Conjectures and Refutations, London 1963; vgl. auch mein Buch:
Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968. Eine kritische Untersuchung der
Erkenntnistheologie findet man auch bei Ernst Topitsch in: Mythische Modelle
in der Erkenntnislehre, in seinem Aufsatzband: Mythos - Philosophie — Politik.
Zur Naturgeschichte der Illusion. Freiburg 1969.
7 Die Parole »Zerschlagt die Wissenschaft«, die neuerdings da und dort auf­
taucht, ist wohl ein deutliches Symptom dieser Enthemmung im Wirkungsbe­
reich der neuen Linken. Die M a s c h in e n s t ü r m e r des vorigen Jahrhunderts haben
nun ihre Nachfolger in den I n s t i t u t i o n e n s t ü r m e r n von heute gefunden. Daß dabei
auch Maschinen nicht geschont werden, zeigt die Zerstörung eines Rechenzentrums
im Werte von etwa 2 Millionen D ollar in Montreal vor kurzer Zeit.

50
1. das hermeneutische Denken, das im westlichen Kontinental­
europa und in seinem geistigen Einflußbereich, vor allem in Süd­
amerika, bis vor kurzem noch fast ausschließlich dominierte, eine
Strömung, die vor allem die verschiedenen Varianten des Existen­
zialismus hervorgebracht hat. In ihr kulminiert ein Prozeß der ent­
schiedenen Subiektivierung des Denkens, der eine Abwendung von
erkenntnistheoretischen Fragestellungen und vom methodischen Stil
der Naturwissenschaften involviert, wobei rationale Argumentation
und sachliche Orientierung in ihrer Relevanz für die Erkenntnis
stark herabgemindert werden. Dagegen wird die Bedeutung der
existenziellen Entscheidung und einer persönlichen, der objektiven
Analyse nicht zugänglichen Wahrheit akzentuiert, für deren E r­
fassung offenbar die Ergebnisse der Wissenschaften ohne Bedeu­
tung sind. Im Einflußbereich dieses Denkens wird der Geschichte
und überhaupt den Geisteswissenschaften im allgemeinen ein metho­
dologischer Sonderstatus zuerkannt, der darauf beruht, daß man
im »Verstehen« ein Substitut für die in den Naturwissenschaften
geforderte Erklärung gefunden zu haben gla u b © Dabei besteht
die Neigung, diesen am Muster der Interpretation von Texten
gewonnenen Erkenntnisbegriff so überzustrapazieren, daß sich
die Hermeneutik zu einer universalen Ontologie ausweitet, in
der letzten Endes die Welt also solche ausgelegt und verstanden
wird.
2. das dialektische Denken, das sich vor allem im sowjetischen
Herrschafts- und Einflußbereich durchgesetzt hat, aber inzwischen,
außer der dort herrschenden orthodoxen Version des Marxismus,
eine V ielfalt anderer Versionen hervorgebracht hat, deren A ttrakti­
vität, auch für den westlichen Geschmack, bedeutend größer zu sein
scheint8
9. In dieser Tradition wurde, besonders unter dem Einfluß
Leninscher Thesen, die Politisierung des Denkens auf die Spitze ge­
trieben. Die Forderung der Parteilichkeit auch für die Erkenntnis-

8 Eines der im deutschen Sprachbereich einflußreichsten Werke dieser Rich­


tung ist Wahrheit und Methode. 2. Auflage, Tü­
bingen 1965, das vor allem unter dem Einfluß der Auffassungen Martin Heideg­
gers entstanden ist.
9 Daß die Dialektik Hegelsdier Provenienz auch außerhalb der verschiedenen
Schattierungen des Marxismus noch sehr einflußreich ist, vor allem im hermcneu-
tischen Denken, soll hier nidit bestritten werden.

51
Sphäre führte zu einem kompromißlosen Freund-Feind-Denken10,
das nur schwer mit dem Objektivitätsideal zu vereinbaren ist, auch
wenn Versuche in dieser Richtung unternommen werden. A uf der
Grundlage einer Geschichtsphilosophie, in der einem bestimmten
Teil der Gesellschaft ein Erkenntnisprivileg zugestanden wird, das
den Anspruch legitimiert, im Besitz der politisch relevanten gesell­
schaftlichen Wahrheit zu sein und damit gleichzeitig im Bunde mit
den sinngebenden Kräften der Geschichte, werden politische Wer­
tung und Tatsachenanalyse miteinander in einer Weise verschmol­
zen, die es erlaubt, die Neutralität der »bürgerlichen« Wissenschaft
zu attackieren und als Schein zu enthüllen, andererseits aber ihre
brauchbaren Ergebnisse zu übernehmen.
j. das analytische Denken, das man vor allem im angelsächsisch­
skandinavischen Sprachbereich findet, wo extreme Versionen des
Positivismus nur noch sehr selten vertreten sein dürften, dagegen
viele Schattierungen des logischen Empirismus, der sprachanalyti-
schen Strömung und vom Pragmatismus beeinflußter Auffassun­
gen, die nichtsdestoweniger hierzulande nicht selten in polemischer
Absicht einem verwaschenen Positivismus-Begriff subsumiert wer­
den, der es erleichtert, Auffassungen dieser A rt auf der Basis gewis­
ser Familienähnlichkeiten - Bevorzugung bestimmter Problemstel­
lungen, Verwendung der symbolischen Logik usw. - zu bekämpfen.
In diesem Bereich ist die Neigung zu beobachten, die Neutralisierung
des Denkens durch Eliminierung aller persönlichen und politischen
Elemente zu versuchen. Dabei werden die Mittel einer am Objekti­
vitätsideal und am naturwissenschaftlichen Denkstil orientierten E r­
kenntnislehre und Ideologiekritik bevorzugt, die sich meist einer
reinen, von den Lebensinteressen distanzierten Philosophie verpflich­
tet weiß. Es geht unter anderem darum, den durch akademische In­
stitutionen gegen das übrige soziale Leben einigermaßen isolierten
Bereich methodisch sicherbarer Erkenntnis zu schützen und zu för­
dern, der mit einigem Recht als ein zentraler Bereich der modernen
io Vgl. dazu W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Be­
merkungen über eine reaktionäre Philosophie, 1908, wo dieses Parteilichkeits­
postulat in der Behandlung philosophischer Fragen wirksam wird. Zur Analyse
dieser Forderung vgl. Friedrich Rapp, Parteilichkeit und Erkenntnis. In: Studies
in Soviet Thought V III, 1968, S. 259 ff., wo auch die neuere Entwicklung dieser
Lehre berücksichtigt wird.
Zivilisation angesehen wird. Der Geltungsansprudi des methodi­
schen Stils der Naturwissenschaften wird dabei im allgemeinen auch
auf andere Gebiete - die der Sozial- und Kulturwissenschaften -
ausgedehnt, der Anspruch anderer - etwa hermeneutischer oder dia­
lektischer - Erkenntnisweisen unter Verwendung logischer Analyse
zurückgewiesen. Diese Skizze der Situation ist, wie gesagt, eine
idealtypische Stilisierung, die naturgemäß der Kompliziertheit der
tatsächlichen Lage nicht Rechnung trägt. Sie wird außerdem in zu­
nehmendem Maße durch die gegenwärtige Entwicklung überholt,
die dafür sorgt, daß die durch das politische Geschehen seit den 30er
Jahren mitbedingte relative Isolierung der geistigen Einflußgebiete
allmählich einem regen Austausch weicht, der zu Auseinandersetzun­
gen, Umorientierungen und Annäherungen führt.

2. Die deutsche Ideologie: zwischen Hermeneutik und Dialektik

Auch die deutsche Szene beginnt allmählich bunter zu werden. Der


Einfluß der im angelsächsischen Bereich dominierenden Strömungen
macht sich bemerkbar, wenn man auch vielfach versucht, ihn auf
eine als Domäne von Spezialisten aufgefaßte Wissenschaftslehre
einzuschränken, die den Naturwissenschaften Hilfsdienste zu leisten
hat, oder ihn in einer Hermeneutik aufzufangen, in deren Rahmen
sich die Beiträge angelsächsischer Autoren als brave, aber wegen
mangelnder Tiefe oder wegen Vernachlässigung der historischen D i­
mension doch letzten Endes unzulängliche Lösungen von Proble­
men auffassen lassen, die in der deutschen philosophischen Tradi­
tion seit langem angemessener behandelt werden. Das Klischee von
der Oberflächlichkeit angelsächsischen Philosophierens und von der
deutschen Tiefe, das vor allem geeignet erscheint, unklare, vage
und in esoterischer Sprache abgefaßte Formulierungen aufzuwerten
und gegen kritische Untersuchung zu schützen11, scheint sich teil­

ii Vgl. dazu die kritischen Äußerungen Günther Patzigs in seinem Nach­


wort zur Neuausgabe von Rudolf Carnaps Buch: Scheinproblcme der Philoso­
phie. Frankfurt 1966, sowie: Walter Kaufmann, Deutscher Geist heute, Texte
und Zeichen, 3. Jahr, 1957, wo der Eindruck geschildert wird, den ein kompeten­
ter Besucher aus den U SA damals von der Situation der deutschen Philosophie
gewonnen hat.

53
weise immer noch zu halten. Das deutsche Vorurteil gegen die K la r­
heit, das auch politisch so bedenklich ist, sorgt dafür, daß philoso­
phische Lehren sich schon dadurch der allgemeinen Aufmerksamkeit
empfehlen, daß sie in einer hinreichend unverständlichen und tief­
sinnig klingenden Sprache abgefaßt sind, einer Sprache, die sich aus­
gezeichnet dazu eignet, Trivialitäten aller A rt als höhere Weisheiten
zu drapieren, gleichgültig, ob es sich nun um den Jargon der Eigent­
lichkeit oder um den der Verdinglichung und der Entfremdung han­
delt. Angesichts solcher offenbar tiefverwurzelter Einstellungen
ist es nicht erstaunlich, daß das analytische Denken im deutschen
Sprachbereich noch immer stark unterrepräsentiert ist.
Dagegen hat sich, vor allem unter dem Einfluß des Neo-M arxis-
mus, bei uns eine Verschmelzung dialektischer und hermeneutischer
Komponenten angebahnt, deren Ergebnis nicht nur einem Bedürfnis
bestimmter Teile der deutschen Bildungsschicht, sondern auch den
Interessen vieler geisteswissenschaftlich orientierter Studenten inso­
fern entgegenkommen dürfte, als es mit einer dezidierten K ritik am
sogenannten Positivismus und mit einer gleichzeitigen Zurückwei­
sung des naturwissenschaftlichen Denkstils für viele Bereiche ver­
bunden ist, die man solchen Verfahrensweisen nicht ausliefern
möchte. Die Hegel-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg hat
die Zusammenhänge zwischen dem dialektischen und dem hermeneu­
tischen Denken deutlicher gemacht, sie hat auch im marxistischen
Bereich den Rückgang auf Hegel und gleichzeitig den Dialog mit
dem Westen gefördert und hat hierzulande das Verständnis für den
Marxismus und im Osten das Verständnis für die deutsche Herme­
neutik erleichtert, so daß es zu Konvergenzerscheinungen wie etwa
dem »verstehenden Materialismus« Leszek Kolakowskis12 oder der
Apel-Habermasschen hermeneutischen Lehre von den Wissensfor­
men13 gekommen ist, in der die Geschichtsphilosophie den Platz des
Schelerschen Heils- und Erlösungswissens eingenommen hat.
Wenn auch die Auflockerung in der deutschen Diskussion der

12 Vgl. dazu etwa sein Buch: Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft.
München 1967.
13 Vgl. dazu etwa Karl-Otto Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekri­
tik, Wiener Jahrbuch für Philosophie, Band 1. 1968, S. 15 ff., und meine Kritik
in: Hermeneutik und Realwissenschaft, in diesem Band.

54
letzten Jahre durch den Zwang, auf angelsächsische Denkweisen
einzugehen, und den Drang, das Gespräch mit dem Marxismus auf­
zunehmen, unverkennbar ist, so muß man doch feststellen, daß sich
in den bei uns bevorzugten Problemen und Lösungen doch noch die
Wirksamkeit einer philosophischen Orientierung zeigt, die von ihrer
Fixierung an Hegel und Heidegger nicht loszukommen scheint und
daher im allgemeinen nur Themen ernsthaft in Betracht zieht, die
sich von diesen Bezugspunkten her in den G riff bekommen lassen.
Diese neue deutsche Ideologie, die sich durch den Einfluß Herbert
Marcuses auf die radikale Studentenbewegung nun weltweite Be­
achtung verschafft, hat zwei wesentliche Züge, die sie ihrer A b­
stammung aus der Philosophie des nacfakantisdien deutsche?!
Idealismus v erdankt: die starke Betonung der Geschichte als einer
sinngebenden Instanz und der damit zusammenhängende entschie­
dene Anti-NaturaUsmus in ontologischer und in methodologischer
Hinsicht, mit anderen Worten, die Zurückweisung der Idee, den
Menschen als »bloßes« Naturwesen, als einen Teil der lebendigen
Natur aufzufassen, und gleichzeitig die Weigerung, für alle Be-
reiche des Wissens die Anwendung der naturwissenschaftlichen Me­
thode zq akzeptieren. Selbst K a rl M arx und Sigmund Freud, die
sich beide in ihren Analysen dem Stil der naturwissenschaftlichen
Forschung verpflichtet fühlten, werden im Kontext dieser deutschen
Ideologie bewußt so umgedeutet, daß ihre Resultate in den Rahmen
eines verstehenden J^ildu n g^ otJe; Erlösungswissens einzuordnen
sind. Damit soll natürlich nicht geleugnet*"wer3 en, 3 aß es bei bei­
den Forschern Ansatzpunkte für solche Interpretationen gibt. Aber
es gehört schon ein ziemliches Maß illusionären Wunschdenkens da­
zu, gerade solche Deutungsmöglichkeiten für zukunftsträchtig zu
halten, die sich als hilfreich anbieten, wenn es darum geht,
die Konsequenzen zu bagatellisieren, die sich für das menschliche
Selbstverständnis daraus ergeben, daß die alte theologisch motivierte
Auffassung vom Menschen durch die Entdeckungen des letzten Ja h r­
hunderts unhaltbar geworden ist.
Die Tendenz, die darin zum Ausdruck kommt, den naturwissen­
schaftlichen Denkstil in seine Schranken zu weisen, ist dabei um so
fragwürdiger, als sich in der bisherigen Geschichte der Wissenschaf­
ten noch jede solche Barriere als unzureichend erwiesen hat. Man

55
braucht sich nur daran zu erinnern, daß es vor nicht allzulanger
Zeit in der Biologie eine spezielle Rechtfertigung für ganz analoge
Abschirmungsversuche gab, den Vitalismus, eine philosophische
Auffassung, über die hinweg die Forschung zur Tagesordnung über­
gegangen ist. Geht man noch weiter zurück, dann entdeckt man
auch in der Geschichte der Physik entsprechende Tendenzen, die
dem wissenschaftlichen Fortschritt zum O pfer gefallen sind. Der
Anti-Naturalismus der deutschen Ideologie ist - so darf man wohl
sagen - mit einer konservativen Wissenschaftslehre verbunden, die
darauf abzielt, das Vordringen des naturwissenschaftlichen Denk­
stils aufzuhalten und die gegenwärtigen Abgrenzungen in dieser
Hinsicht aufrechtzuerhalten, teilweise sogar darauf, sich anbahnen­
de Fortschritte rückgängig zu machen. Das ist um so interessanter,
als sich diese Ideologie in einer bestimmten Variante als politisch
revolutionär präsentiert, eine Selbstdarstellung, die allerdings
auch nicht in jeder Beziehung überzeugt14.
Der Anti-Naturalismus dieser Lehren ist übrigens im allge­
meinen mit einer Auffassung der Naturwissenschaften verbunden,
die paradoxerweise als charakteristisch für den Positivismus im
üblichen Sinne des Wortes angesehen werden kann, nämlich mit
einer instrumentalistischen Deutung, in der diese Wissenschaften als
bloße Werkzeuge praktischer Lebensbewältigung ohne darüber hin­
ausgehenden Erkenntniswert aufgefaßt und dadurch für die Gestal­
tung des Weltbildes weitgehend sterilisiert werden. Das wirft auf
den in den Verlautbarungen dieser Richtung deutlich erkennbaren
Anti-Positivismus ein seltsames Licht, denn sie ist offenbar in diesem
Punkt von einem Bazillus infiziert, den sie - vielfach ganz zu U n­
recht - bei ihren Gegnern zu finden vorgibt. So fällt zum Beispiel
der kritische Rationalismus K arl Poppers, der sich selbst dezidiert
gegen die zentralen Thesen des Positivismus wendet, unter die ziem­
lich undifferenzierte und pauschale K ritik der Frankfurter Schule
14 Das verbindet sie übrigens mit bestimmten Vertretern der modernen Theo­
logie, die in erkenntnistheoretischer Hinsicht und — damit zusammenhängend —
in bezug auf den theologischen Kern ihrer Überzeugungen geradezu als reaktio­
när gelten können, das aber durch bewußte revolutionäre Formulierungen in
bezug auf den politisch-sozialen Bereich kompensieren. In beiden Fällen besteht
eine merkwürdige Inkonsistenz zwischen kognitiver und politischer Einstellung,
die allerdings verständlich wird, wenn man den philosophischen Hintergrund
dieser Denkweisen in Betracht zieht.

5<$
an dieser Richtung, obwohl die in dieser Schule übliche Deutung
der Naturwissenschaften dem Positivismus viel mehr entgegen­
kommt als die Poppersche Philosophie.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht angebracht, nochmals
auf unsere anfänglichen Bemerkungen zur Idee der Rationalität
in der modernen Industriegesellschaft zurückzukommen. Wenn
nämlich den Naturwissenschaften in der hier erörterten Auffassung
nur eine partielle und beschränkte technologische Rationalität zu­
gestanden wird, der gegenüber es darauf ankomme, die höhere
Rationalität einer kritischen Vernunft ins Spiel zu bringen, dann kann
diese Argumentation nur auf der Basis dieser Fehldeutung des na­
turwissenschaftlichen Denkens aufrechterhalten werden, die die E r­
klärungsleistung dieser Wissenschaften und ihre Funktion für die
Erkenntnis der Realität und damit auch für die Gestaltung unseres
Weltbildes unterschlägt und die darüber hinaus den paradigmati­
schen Charakter des methodischen Stils dieser Wissenschaften für
rationales Problemlösungsverhalten überhaupt nicht sichtbar macht15.
Es ist nicht überraschend, daß die übergeordnete Vernunft dann
da zu finden sein soll, wo das spezifische Engagement der Verfech­
ter solcher Auffassungen wirksam wird, das sie zu Totaldeutungen
mehr oder weniger normativen Charakters inspiriert, zur sinnge­
benden Interpretation der konkreten historischen Wirklichkeit. Die­
se Art, die Idee einer doppelten Wahrheit ins Spiel zu bringen, ist
nun keineswegs ohne Vorbild. In dieser Hinsicht sitzen interessan­
terweise etwa Vertreter des heutigen Neo-Marxismus im gleichen
Boot wie seinerzeit Kardinal Bellarmin und andere Verteter des
etablierten Katholizismus, die naturwissenschaftliche Ergebnisse zu­
gunsten der höheren Wahrheit ihrer theologischen Heilslehre umzu­
deuten und abzuwerten suchten. Die Wissenschaftslehre der Frank­
furter Schule scheint bisher von dieser aufschlußreichen Familien­
ähnlichkeit noch keine Kenntnis genommen zu haben. Dies ist nicht
der einzige Punkt, hinsichtlich dessen man mit einigem Recht be­
haupten kann, daß Hermeneutik und Dialektik gemeinsam das
Erbe der Theologie angetreten haben.

IS I n m e in e m in A n m . 6 erw ä h n ten B u c h h a b e ich v e r s u c h t , d ie s e P r o b le m a t ik


in d e r W e is e z u a n a l y s ie r e n , d a ß d e r Z u s a m m e n h a n g z w is c h e n E r k e n n t n is t h e o r ie
E t h i k , I d e o l o g i e k r i t i k u n d r a t i o n a l e r P o l i t i k d e u tlic h w ir d .

57
l^J- JA 1*4cA. ¿t

Es handelt sich hier aber keineswegs nur um strukturelle und


funktionale ^halogien, sondern darüber hinaus um einen histori­
schen Zusammenhang, dessen Analyse das Fortbestehen solcher
Denkweisen in unserer Gesellschaft verständlich machen kann. Wir
haben hier nämlich in der T at eine theologische Erbschaft im heutigen , .
^ilosoß Jjisdie^_D «iken, die sich geistesgeschichtlich nachweisen-"
läßt16. Hinter der in ihm heute noch wirksamen Gescmcntsphiloso-
phie, die dem deutschen Idealismus entsprungen ist, steht nämlich
die eschatologisdt¿^Sjkalyptischs,Tr^dition, in deren Kontext, wie
unter anderen Albert Schweitzer gezeigt hat17, auch die Jesus-Bot­
schaft verstanden werden muß. Die Auffassung der Weltgeschichte
als eines Heilsdramas mit dem Einbruch des Reiches Gottes als ent­
scheidender Wende hat natürlich kaum Berührungspunkte mit dem
naturwissenschaftlichen Denken - im Gegensatz etwa zur Philoso­
phie der Vorsokratiker. Verständlich ist aber in einer solchen Per­
spektive ohne weiteres die Deutung der Naturwissenschaft als eines
Herrschaftsinstrumentes, wie sie im Instrumentalismus vertreten
wird, die Ausstattung historischer Entwicklungen mit überindivi­
duellen Zielsetzungen und Sinnoffenbarungen sowie die Behauptung
historischer Notwendigkeiten, die von ihnen her eingesehen wer­
den können.
Die Geschichtsphilosophie, die daraus hervorging, hat nun die
Fiktion des naturenthobenen Geistes, die in der Erkenntnistheorie
allmählich verschwunden ist, auf^ontologischer Ebene wieder zur
Geltung gebracht, indem sie den Gesamtprozefr derfcieschichtc mit
einer die Interessen der Beteiligten überschreitenden Zielsetzung
ausstattete und damit ein überindividuelles sinngebendes Subjekt

1 6 Vgl. dazu etwa: K arl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theo­
logischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1963; derselbe:
Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche.
Göttingen 1967, sowie die beiden Aufsätze von Ernst Topitsch: Marxismus und
Gnosis, und: Entfremdung und Ideologie. Zur Entmythologisierung des Marxis­
mus, in seinem Aufsatzband: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissen­
schaft, 2. Auflage. Neuwied/Berlin 1966, vgl. auch seine Schrift: Die Sozial­
philosophie Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideologie. Neuwied/Berlin 1967.
17 Vgl. dazu seine: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung. 6 . Auflage, Tübingen
I 951 » vor allem das X X I . Kapitel über die Lösung der konsequenten Eschato­
logie; vgl. auch Rudolf Bultmann, Das Christentum im Rahmen der antiken
Religionen. Reinbek 1962, S. 83 und passim. »
0 'tj-'axt h**-*sC piu (ffae* ~
fingierte, das sich in den Kräften, die die historische Entwicklung
bestimmen, offenbaren soll. Die Sinnoffenbarungen der Geschichts­
philosophie sind, wie die historische Analyse zeigt, nicht weniger
eine Erbschaft des theologischen Supranaturalismus, wie es früher
die entsprechenden erkenntnistheoretischen Annahmen waren. Die­
ser Zusammenhang macht die anti-naturalistischen Tendenzen ver­
ständlich, die in solchen Konzeptionen vorherrschen. Die Heraushe­
bung und Abgrenzung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklich­
keit als einer außernatürlichen Sphäre, die den methodologischen
Separatismus der Geisteswissenschaften motiviert, kann sicher teil­
weise als ein Restbestand theologischen Denkens angesehen werden.
Ein anderes, ebenso bedeutsames Residuum ist das ^.idstro£Ä e«-
<lenken, die Hoffnung auf die große Wende, die hier nicht selten in
Erscheinung tritt. D arauf ist noch zurückzukommen. Die kritische
Vernunft, die sich in solchen Auffassungen angeblich zeigt, invol­
viert tatsächlich meist, wie mit Recht festgestellt wurde, »in gewis­
sem Umfang eine Kapitulation der Rationalität und eine Rückkehr
zu religiösen und quasi-religiösen Auffassungen«18.

j . Zwischen autoritärem Traditionalismus und anti-autoritärem


Radikalismus: die deutsche Ideologie in Aktion

Zwischen philosophischen Ideen und der gesellschaftlichen Praxis


- moralischen und politischen Einstellungen, institutioneilen V or­
kehrungen, sozialen Verhaltensweisen - bestehen Zusammenhänge,
die sich nicht immer in explizit formulierten Thesen niederschla-
gen, sondern mitunter auf ganz andere Weise zum Ausdruck: kom­
men: in der A rt, wie man die Problemsituation sieht, wie man an
die Lösung von Problemen herangeht, wie man Problemlösungen
beurteilt, kritisiert und bewertet. Theorie und Praxis sind durch
Traditionen des Problemlösungsverhaltens miteinander verbunden,

. -f A 'ScA !■! c. (¿9


18 Diese Feststellung stammt nicht von einem scharfen Gegner der neuen Lin­
ken, sondern vielmehr von einem Sozialwissenschaftler, der mit ihren Zielen
durchaus sympathisiert, vgl. dazu Barrington Moore, Toleranz und wissenschaft­
liche Einstellung. In: R. P. Wolff / B. Moore / H. Marcuse, K ritik der reinen
Toleranz. Frankfurt 1967, S. 74.

59
die sehr unterschiedliche methodische Stile repräsentieren können.
Wenn man unter diesem Gesichtspunkt wiederum die deutsche
Szene ins Auge faßt, dann kann man zu folgenden Feststellungen
kommen: In der deutschen Gesellschaft sind autoritär-dogmatische
Denk- und Verhaltensweisen in vielen Bereichen noch nicht über­
wunden. Die hermeneutischen Strömungen in der Philosophie und
in den Geisteswissenschaften tragen wenig dazu bei, derartige Ein­
stellungen abzubauen. Im Gegenteil, sie kultivieren teilweise gera­
dezu eine Denkweise, die bewußt konservativ ist und der Tradition
der Aufklärung und des kritischen Denkens entgegenwirkt, die in
unserer bisherigen Geschichte eine weit geringere und weniger w irk­
same Rolle gespielt hat als in der anderer westlicher Länder. Die
Dominanz einer verstehenden Methodik, die so aufgefaßt wird,
daß sie K ritik an der Überlieferung oft geradezu als philosophisch
inadäquat erscheinen läßt, prägt in weiten Bereichen, vor allem auch
im Bereich der Erziehung und der Bildung, den Stil des Problemlö­
sungsverhaltens in einer Weise, die Unabhängigkeit des Denkens,
Suche nach neuen Alternativen und kritische Einstellung als vor­
witzig und unerwünscht abstempelt. Die universale Hermeneu­
tik, die in der Nachfolge Heideggers entwickelt wurde, nimmt sich
bewußt dogmatische Denkweisen zum Vorbild, und sie verzichtet
charakteristischerweise im allgemeinen auf kritische Auseinanderset­
zungen etwa mit den Methoden und Resultaten der modernen Theo­
logie, die sich vielmehr sehr erfolgreich des methodischen Instru­
mentariums dieser philosophischen Richtung bedient. Der institutio­
neil stark verankerte theologische Denkstil, in dem Glaubensforde­
rung und Gehorsamsanspruch miteinander verschmolzen sind, findet
in dieser Version der Hermeneutik keine ausreichende Korrektur,
sondern im wesentlichen nur Unterstützung.
Der bewußte Anti-Positivismus dieses Denkens ist de facto nichts
anderes als ein Anti-Modernismus, der einer Abwehrhaltung gegen
Züge der modernen Zivilisation entstammt, welche die überliefer­
ten Bildungswerte zu bedrohen scheinen. E r ist ein System des
Selbstbehauptungswillens der Vertreter einer durch das erfolgreiche
Vordringen des naturwissenschaftlichen Denkstils in die Defensive
gedrängten Wissensform, nämlich des an der Beherrschung des
sprachlichen Ausdrucks orientierten Bildungswissens, das gegenüber

60
der typischen Wissensform der modernen Industriegesellschaft ins
Hintertreffen zu geraten scheint19. Dabei ist nicht einzusehen, inwie­
fern die durch ein Vordringen der naturwissenschaftlichen Methode
zu erwerbenden neuen Einsichten sich als schädlich für die Bildung
erweisen müssen. Die Neigung, die Überlieferung in jeder Form -
auch in der Form einer etablierten Methode - zum Selbstwert zu
erheben, kann letzten Endes nur dazu dienen, bestimmte Denk-
und Verhaltensweisen gegen K ritik zu immunisieren und damit vor
Revision zu schützen. Solche Tendenzen sind natürlich auch unter
politischem Gesichtspunkt als problematisch anzusehen, denn sie
beeinträchtigen die Rationalität des Problemlösungsverhaltens
überhaupt, gleichgültig, welcher soziale Bereich dabei in Betracht
kommt. Etablierte Ordnungen, auch wo sie große Schwächen auf­
weisen, werden von dieser A rt des Denkens ebensowenig in Frage
gestellt wie etablierte Problemlösungen im Bereich der Erkenntnis.
Z w ar kann sich dieser Denkstil in der Sphäre der Naturwissen­
schaft, der Technik und der Wirtschaft im allgemeinen kaum mehr
zur Geltung bringen, aber er kann immerhin dazu beitragen, daß
die politische und soziale Ordnung sich nicht so weiterentwickelt,
wie das der Fall sein könnte, wenn sich in diesen Bereichen eine
kritisch-rationale Einstellung durchsetzen würde. —Das ist der eine
Aspekt der geistig-politischen Szenerie im deutschen Sprachbe-
reich.
Andererseits haben w ir —gewissermaßen als Kontrastelement im
Rahmen der gleichen ideologischen M atrix - das betont anti-autori­
täre radikale Denken dialektischer Herkunft vor uns, das sich in den
verschiedenen Nuancierungen des Neo-Marxismus präsentiert und
das vor allem in der Opposition der neuen Linken wirksam gewor­
den ist. In ihm wird, wie schon erwähnt, auf der Basis einer das
Ganze der historischen Entwicklung, die konkrete Totalität, ins A u­
ge fassenden Geschichtsphilosophie eine totale K ritik der Gesell­
schaft angeboten, die praktisch in einem Alternativ-Radikalismus

19 Vgl. dazu Ernest Gcllner, Thought and Change. Chicago 1964, Kap. V I II :
Knowledge and Society, S. 179 ff.; vgl. auch Leszek Kolakowski, Die großen
und die kleinen Komplexe der Humanisten, in seinem in Anm. 12 genannten
Buch, wo er den Versuch macht, die Funktion des Humanisten in der technischen
Zivilisation neu zu bestimmen.

6l
gipfelt, das heißt in einer Einstellung, die auf dem Hintergrund ei­
ner letzen Endes^utogisdien^dee derjrollkommen herrschaftsfreien
Gesellschaft das gegenwärtige~3 yitern als radikal verwerflich er­
scheinen läßt, so daß im Grunde genommen nur seine totale Um ­
wandlung in Betracht gezogen werden kann20. Die »kritische Theorie«
der Frankfurter Schule, die das Verhältnis von Theorie und Praxis
zu einer ihrer Hauptprobleme erhoben und im Zusammenhang da­
mit die Analyse und K ritik der beschränkten Rationalität anderer
Denkweisen zu einem Modethema der neuen Linken gemacht hat,
enthält selbst keine einigermaßen identifizierbare Lösung dieses
Problems, die über die Benutzung einer esoterischen Terminologie
hinausgeht. Sie hat durch ihre Weise der Argumentation, wohl teil­
weise ohne es zu wollen, dem anti-liberalen Pathos, der Diffamie­
rung liberaler Einstellungen, Denkweisen und Institutionen V or­
schub geleistet, die in dieser Bewegung an der Tagesordnung ist.
V or allem hat sie dieser Bewegung einen anspruchsvoll klingen­
den, aber höchst unklaren und darüber hinaus gut manipulierbaren
Jargon vermittelt, der sich ausgezeichnet dazu eignet, ideologische
Verschleierung mit politischer Agitation zu verbinden, und hat da­
mit eine deutsche Krankheit gefördert, die sie offenbar nur dann
zu diagnostizieren in der Lage ist, wenn sie bei ihren Gegnern in
Erscheinung tritt21.
Dieser Jargon wird verwendet, um den gegenwärtigen Zustand
der Gesellschaft als Ganzes zu denunzieren, in ähnlicher Weise,
dis ¡jiJfo « .' -v
20 Es ist nicht uninteressant, daß ein solcher Alternativ-Radikalismus mit-/
unter auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums zu finden ist, etw av
seinerzeit in der Auffsassung Carl Schmitts, der die parlamentarische Demokratie
von rechts her bekämpfte; vgl. dazu das Buch von Jürgen Fijalkowski, Die
Wendung zum Führerstaat. Köln und Opladen 1958.
21 Vgl. dazu etwa Theodor W. Adornos Kritik in: Jargon der Eigentlich­
keit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt 1964. Walter Kaufmann hat seinerzeit
mit Recht bemerkt, daß deutsche Philosophen Scheinpräzision und die Kunst
des Scheinbeweises aus dem Werk Hegels gelernt haben; vgl. seinen Aufsatz:
Hegel: Contribution and Calamity, in seinem Band: From Shakespeare to E xi­
stentialism. Garden C ity i960, S. 163 ff. Diese Kunst ist zweifelsohne mit der
Sprache der Dialektik verbunden, die in der Frankfurter Schule bis zum Exzeß
kultiviert und in einen Jargon verwandelt wurde, der den Vergleich mit der von
ihr kritisierten Sprache Heideggers durchaus verträgt. In beiden Sprechweisen
spiegelt sich die Misere des deutschen Denkens, die mit dem schon erwähnten
Kult der Unklarheit verbunden ist. «■ .
A*c

(
wie das in der Phase nach dem Ersten Weltkrieg von beiden E x ­
tremen - der radikalen Rechten und Linken - praktiziert wurde.
Alle vorhandenen Übelstände werden nach Möglichkeit dem »Sy­
stem« als solchem angelastet. Dadurch wird der Eindruck er­
weckt, als ob durch einzelne Reformen nichts Wesentliches er­
reicht werden könnte, so daß die von liberalen Reformern bevor­
zugten Methoden keine Aussicht auf wesentliche Erfolge haben.
In diesem Zusammenhang kommt dann die Hoffnung auf die
reinigende Katastrophe, das eschatologische Element in diesem Den­
ken, zum Vorschein, das man im revolutionären Messianismus aller
Schattierungen zu finden pflegt. Durch sie soll die tabula rasa, das
soziale Vakuum, geschaffen werden, die Vorbedingung dafür, daß
die Gesellschaft von Grund auf neu errichtet werden kann. Ein »lan­
ger Marsch durch die Institutionen« wird unter Umständen als er­
forderlich angesehen, um diese Wende herbeizuführen. D a der jetzige
Zustand als irreparabel schlecht und der erhoffte als vollkommen
erscheint, ist ein gewisses Maß an Gewaltanwendung zu seiner H er­
beiführung ohne weiteres zu rechtfertigen. Die Avantgarde der­
jenigen, die den Sinn des geschichtlichen Geschehens durchschaut
haben und daher im Besitz der Wahrheit sind, ist auch einer Mehrheit
von Andersgesinnten gegenüber auf jeden Fall historisch im Recht.
Man stößt hier also wieder auf eine alte theologische V or­
stellung: die Idee eines privilegierten Zuganges zur Wahrheit für
die Träger des Heilswissens, wie sie im Bereich der Heilslehren üb­
lich ist. Eine elitäre Erkenntnistheorie verbindet sich paradoxer­
weise mit der politischen Forderung nach radikaler Demokratie,
wie sie für den revolutionären Messianismus charakteristisch ist. Die
Verfechter solcher Denkweisen berücksichtigen dabei nicht, daß
zwischen politischen und erkenntnistheoretischen Auffassungen Zu­
sammenhänge bestehen, die eine solche Verbindung fragwürdig ma­
chen. Nun ist diese Ungereimtheit hier interessanterweise gerade in
der Auffassung von Gruppen zu finden, die sich einer alle Bereiche
umfassenden sinnhaften Totaldeutung rühmen, in der Theorie und
Praxis zu einer Einheit verschmolzen sind. Da die Wahrheit eviden­
termaßen auf der Seite einer Partei ist, kann Parteilichkeit des Den­
kens als eine Tugend gelten, gleichgültig, um welche Probleme es
geht. Wertfreiheit, Neutralität und Objektivität lassen sich auf

63
dieser Basis ohne Schwierigkeit als bürgerliche Vorurteile diffamie­
ren. Angesichts der erheblichen intellektuellen, moralischen und po­
litischen Ansprüche, die da erhoben werden, ist die Vagheit der
Charakterisierung des angestrebten Zustandes und die Tendenz,
sich in dieser Hinsicht in keiner Weise festzulegen, einigermaßen
überraschend. Totale K ritik am Gegebenen und erhebliche Dürftig­
keit in der konkreten Programmatik gehen hier H and in Hand.
Die A rt, in der dabei an die Lösung politischer Probleme heran­
gegangen wird, hängt zweifellos damit zusammen, daß der Neo-
Marxismus gerade in bezug auf seine zentrale Problematik: das
Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis, so gut wie voll­
kommen versagt hat, was wiederum viel mit seiner Mißachtung des
Problems der Realisierbarkeit und seiner Abwertung des naturwis­
senschaftlichen Denkstils zu tun hat. Alternativ-Radikalismus und
totale Kritik lassen nur zwei Möglichkeiten offen: Revolution oder
Resignation. Welche der Möglichkeiten gewählt wird, scheint
teilweise ein Generationen-Problem zu sein: Während die Väter
nach Enttäuschungen oft resignieren, träumen die Söhne noch vom
totalen Umsturz und gehen dazu über, diejenigen zu diffamieren,
denen sie ihre Ideen verdanken. Man sieht hier übrigens, wie sich
die beiden Pole der deutschen Ideologie: die hermeneutische Philo­
sophie der Stagnation und die dialektische Philosophie der Revolu­
tion, berühren. Wenn die Hoffnung auf die Katastrophe der Resi­
gnation weicht, bietet sich als Refugium der Bereich der ästhetischen
Probleme an, welche die Hermeneutik von jeher den politischen
Problemen vorgezogen hat.
Charakteristisch für die deutsche Szene ist die Tatsache, daß ein
breiter philosophischer Hintergrund für liberales Denken zu fehlen
scheint oder daß jedenfalls Ideen dieser A rt hierzulande kaum auf
eine erhebliche Breiten- und Tiefenwirkung rechnen können. Die
deutsche Ideologie bewegt sich zwischen Konservatismus und Revo­
lution, zwischen unkritischer Hinnahme von Gegebenheiten und to­
taler K ritik am Gegebenen22. Eine politisch wirksame philosophische

22 Hermann Lübbe hat den Versuch unternommen, zu zeigen, daß im vorigen


Jahrhundert die Philosophie der Hegelschen Rechten eine Grundlage für libe­
rales Denken bot, aber politischen Erfolg hatten auf dem europäischen Konti­
nent im allgemeinen nur die konservativen und die radikalen Verwalter des

64
Tradition mit liberalen Implikationen ist hier kaum zu entdecken.
Man könnte versucht sein, diese Tatsache in Zusammenhang zu brin­
gen mit dem geringen Einfluß, den das analytische Denken, die
dritte der oben skizzierten philosophischen Strömungen, im deut­
schen Sprachbereich hat23. Das ist insofern nicht ganz unberechtigt,
als die Verfechter positivistischer und verwandter Auffassungen bei
uns meist politisch zum Liberalismus tendierten, und zw ar zu
einem Liberalismus, der die Notwendigkeit sozialer Reformen
einbezog. Andererseits läßt sich kaum leugnen, daß die typischen
Vertreter dieser Denkweise dazu neigten, die Autonomie der E r­
kenntnissphäre und anderer Bereiche so zu akzentuieren, daß ein
wesentlicher Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik im
Rahmen ihrer Auffassungen kaum herzustellen war. Ihre Tendenz,
die Philosophie auf eine an der reinen Wissenschaft orientierte E r­
kenntnislehre zu reduzieren, führte dazu, daß man die allgemeine
Bedeutung des Rationalitätsmodells übersah, das in der wissen­
schaftlichen Forschung wirksam ist, und im Zusammenhang da­
mit das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft so eng interpre­
tierte, daß es als ein Mittel aufgefaßt werden konnte, politische
Auffassungen, Einstellungen und Entscheidungen gegen K ritik zu
immunisieren. Es gibt also ohne Zw eifel liberale Denkweisen im
deutschen Sprachbereich, bei Journalisten24, Schriftstellern, Politi­
kern, Wissenschaftlern usw., aber sie können sich kaum auf in den
akademischen Institutionen verankerte und im öffentlichen Leben
wirksame philosophische Orientierungen stützen, wie das etwa in
den angelsächsischen Ländern der Fall ist. Diese Situation macht
selbst Verfechter liberalen Denkens mitunter für Formulierun­
gen anfällig, deren Abstammung aus der deutschen Ideologie unver­
kennbar ist.

Hegclschen Erbes, vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland,


Studien zu ihrer Geschichte. Basel/Stuttgart 1963. Im England der zweiten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts dagegen war ein liberaler Hegelianismus auch
bis zu einem gewissen Grade politisch erfolgreich; vgl. dazu Melvin Richter, The
Politics of Conscience. T. G. Green and his Age. London 1964.
23 Vgl. dazu K arl Acham, Wissenschaftliche Politikberatung aus der Sicht
der analytischen Philosophie (erscheint demnächst).
24 Es ist kaum nötig, hier auf die allgemeine Orientierung der Wochenzeitung
hinzuweisen, für die Marion Gräfin Dönhoff als Chefredakteurin verantwortlich
ist.

65
4 • Kritischer Rationalismus als Alternative

Dabei gab es seinerzeit Ansätze zu einer liberalen politischen Philo-


spphie im Denken des großen deutschen Soziologen M ax Weber,
dessen Konzeption, als wissenschaftliche Leistung ein Torso, einer­
seits durchaus das Format und die Bedeutung eines philosophischen
Gedankengebäudes erreicht hatte - wenn auch nicht den Charakter
einer Philosophie im Schulsinne - , andererseits aber deutlich poli­
tische Implikationen enthielt, ungeachtet der Tatsache, daß Weber
gerade für den Bereich der Wissenschaft jenes vielfach attackierte
und nicht selten mißverstandene Wertfreiheitsprinzip formuliert
hat, von dem schon die Rede war. Es ist bezeichnend, daß M ax We­
ber mit seinem Werk bei uns weder als Soziologe noch als politischer
Philosoph Schule gemacht hat. In philosophischer Hinsicht pflegt
man ihn heute meist als Verfechter einer A rt von Positivismus oder
als einen Vorläufer des Existentialismus oder gar des Dezisionismus
anzusehen, der durch die politischen Eskapaden Carl Schmitts in
den 30er Jahren genügend diskreditiert ist, so daß diese Einordnung
benutzt werden kann, die Auffassungen Webers als fragwürdig
hinzustellen. In Wirklichkeit hat sein Werk aufklärerische Züge,
sein Beitrag zur Wertproblematik, der sich keineswegs auf die For­
mulierung des erwähnten Prinzips beschränkt, und zur Analyse der
Rationalität und des Ethos der Wissenschaft ist heute noch diskuta­
bel - die Einwände seiner Gegner beruhen großenteils auf einer un-
gemein fahrlässigen Weise der Argumentation25 - , und seine War­
nung vor illusionärem Denken, die sich unter anderem gegen den
politischen Messianismus seiner Zeit richtete, ist heute aktueller denn
je. Sein Eintreten für eine Politik ohne Illusionen, eine Politik der
praktikablen, realisierbaren Alternativen, steht in enger Beziehung
zu seiner Konzeption der Rationalität, wie sie auch für seine Wis­
senschaftsauffassung maßgebend ist. In ihr ist der Impuls einer kri­
tischen Vernunft wirksam, die keine Totalansprüche kennt, weder
im theoretischen noch im praktischen Bereich, weder für die E rklä­
rung noch für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens.
Die Webersche Auffassung hat, wie schon erwähnt, im deutschen
25 Vgl. dazu meine K ritik in: Theorie und Praxis. In: Die Philosophie und
die Wissenschaften. Simon Moser zum 6 j. Geburtstag. Meisenheim 1967.

66
Sprachbereich nicht Schule gemacht. Es ist aber nicht ganz unberech­
tigt, ihn in mancher Beziehung als einen Vorläufer des kritischen
Rationalismus anzusehen, der in den letzten Jahrzehnten vor allem
von K a rl Popper entwickelt wurde, dem wir nicht nur einen Neu­
ansatz in der Wissenschaftslehre, sondern unter anderem auch eine
Philosophie der offenen Gesellschaft verdanken. Hinter beiden Bei­
trägen steht eine Konzeption der Rationalität, die sich nicht auf
einen bestimmten Bereich einschränken läßt, weil sie die Struktur
eines adäquaten Problemlösungsverhaltens überhaupt betrifft26.
Dieses Rationalitätsmodell, das auf eine konsequente Formulierung
des in der Wissenschaft wirksamen Prinzips der kritischen Prüfung
und seine Loslösung vom Rechtfertigungsdenken zurückgeht, macht
cs unter anderem möglich, gewisse Schwierigkeiten zu überwinden,
die in der Weberschen Auffassung noch enthalten sind und die mit
der weitverbreiteten Idee der Kritikimmunität sogenannter letzter
Voraussetzungen Zusammenhängen27. Die Tatsache, daß dieser neue
Kritizismus vor allem im angelsächsischen Bereich entwickelt wurde
- eine Tatsache, die darauf zurückzuführen ist, daß Popper wie viele
Philosophen der analytischen und anderer Richtungen in den 30er
Jahren zur Emigration gezwungen w ar - , hat zu merkwürdigen
Assoziationen geführt, unter anderem auch zu der Suggestion, diese
A rt von Philosophie sei auf angelsächsische Verhältnisse abgestellt
und daher für uns problematisch. Der Umstand, daß sie tatsächlich
ebenso an eine Revision des Kantianismus wie an eine K ritik des
Positivismus anknüpft, ist wenig bekannt28. Die Fahrlässigkeit, mit
der die der Verteidigung der deutschen Ideologie dienende pauschale
Positivismus-Kritik hierzulande verfährt, läßt sich daraus ersehen,
daß man dem neuen Kritizismus, der in diese K ritik einfach mitein-
bezogen wird, dabei Thesen unterstellt, die offenbar der Diskussion

26 Vgl. dazu K arl Popper, Conjectures and Refutations, London 1963; der­
selbe, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944). 2 Bände, Bern 1957/58;
derselbe, Das Elend des Historizismus (1957). Tübingen 1965.
27 Vgl. dazu Kapitel I I I : Erkenntnis und Entscheidung, meines o. a. Buches.
28 Immerhin hätte sich das Fehlurteil Theodor \V. Adornos, es handele sich
hier um eine geradezu vor-kantische A rt des Rationalismus, schon vermeiden
lassen, wenn Adorno seiner Beurteilung nur das erforderliche Minimum an In­
formation zugrunde gelegt hätte. Das Gleiche gilt für seine übrigen Fehldeutungen
und Mißverständnisse; vgl. dazu seine Einleitung zu dem in Anm. 3 erwähnten
Buch sowie mein kurzes kritisches Nachwort zu diesem Buch.

67
der 30er Jahre entnommen sind, ohne daß geprüft wird, inwiefern
solche Unterstellungen zutreffen. Überhaupt scheint der Ausdruck
»Positivismus«, wie er in der Polemik konservativer und radikaler
Verfechter der deutschen Ideologie gebraucht zu werden pflegt,
längst den Status einer systematisch irreführenden Ausdrucksweise
erreicht zu haben. Im sogenannten Positivismus bekämpfen konser­
vative Hermeneutiker die Tradition der Aufklärung, während ra­
dikale Dialektiker in ihm die angeblich beschränkte Rationalität
des naturwissenschaftlichen Denkens verkörpert sehen, die ihnen
ebenfalls kritikwürdig erscheint. In beiden Fällen zeigt sich bei
genauerer Betrachtung ein Gemeinsames, das dem Verdikt zugrunde
liegt: ein Anti-Modernismus, der sich nur im zweiten Falle die
Maske der Modernität zugelegt hat.
In Wirklichkeit führt dieser Kritizismus in bewußter Anknüpfung
an Kant die Tradition der A ufklärung fort und nimmt gleichzeitig
das naturwissenschaftliche Denken ernst, und zw ar nicht nur als
Grundlage von Technik und Industrie, sondern als Basis des moder­
nen Weltbildes. E r weist mit dem oben erwähnten Instrumentalis­
mus gleichzeitig das Märchen von der beschränkten Rationalität
zurück, die mit diesem Denken angeblich verbunden sein soll, und
zeigt die ideologische Funktion dieser Fehldeutung bei der Abschir­
mung angeblich höherer Erkenntnisweisen. Der Anti-Naturalismus
des hermeneutischen und des dialektischen Denkens enthüllt sich da­
bei als theologisches Residuum. Theoretisches Denken, wie es vor
allem jin den Naturwissenschaften ausgebildet wurde, Erklärung des
t ^ s ä ^ i ^ " A u f k l ä r u n g gehören eng zusammen.
Sie sind überdies auch unentbehrlich als Grundlagen einer rationa­
len Politik, einer Politik der praktischen Vernunft. Die totale K ri­
tik utopischen Charakters, die mit dem schon erwähnten Alter-
nativ-Radikalismus verbunden ist, muß in dieser Perspektive dem
Verdikt der Irrationalität verfallen, weil in ihr die Rolle des nomo-
logischen Wissens, des Gesetzeswissens naturwissenschaftlichen Cha­
rakters, mißachtet und damit gleichzeitig das Problem der Realisier­
barkeit unterschlagen wird. Sie scheint auf der stillschweigenden
Voraussetzung zu beruhen, daß alle guten Dinge miteinander ver­
einbar und damit auch zusammen realisierbar sind, einer Voraus­
setzung, die jedem äußerst problematisch erscheinen muß, der mit

68
dem ökonomischen Denken ernsthaft in Berührung gekommen
ist. _ r^ > , 0 ■
In der Vernachlässigung des Realisierbarkeitsproblems rächt sichv
die Abneigung gegen den naturwissenschaftlichen Denkstil, die man
bei Vertretern der neuen deutschen Ideologie findet, denn: Gesetz-*
mäßigkeiten enthalten bekanntlich Einschränkungen möglirhpn
Geschehens29 und damit auch Beschränkungen für menschliche Wir­
kungsmöglichkeiten und für die Herstellung angestrebter idealer Zu- '
stände. Wir tun gut daran, mit solchen Beschränkungen nicht nur;
im anorganischen Bereich, sondern auch im organischen und damit*
auch im Bereich des sozialen Lebens zu rechnen: mit Beschränkungen, •
die zum Beispiel die Unvereinbarkeit bestimmter möglicher Ziel­
setzungen involvieren, wie das in der jedem Nationalökonomen be­
kannten T h e se v o m Tatbestand der Knappheit zum Ausdruck
kommt. Weifnomologisdies WissenUm sozialwissenschaftlichen Be­
reich für unerreichbar oder uninteressant erklärt, hat mehr Möglich­
keiten, die Wunschphantasien seiner Anhänger fiktiv zu befriedigen
und praktikable, aber unattraktive Alternativen zurückzuweisen,
weil sie Kompromisse enthalten, die ideologisch anstößig sind. Abe:
eine Sozialkritik, die sich dei^ldee der kationalitatjjlerpflichtet weiß,
wird stets das Problem der Realisierbarkeit mitberucksichtigen müs­
sen und daher von einer Möglichkeitsanalyse ausgehen, die das vor­
handene nomologische Wissen in Rechnung stellt. Gerade das viel­
berufene Problem der Vermittlung vom Theorie und Praxis, das
von Denkern hegelianischer Provenienz so häufig erwähnt wird,
kann ohne eine solche Analyse nicht gelöst werden, wenn man ratio­
nale Politik treiben will, Politik als Kunst des Möglichen, als Wahl
zwischen realisierbaren Alternativen.
Das führt allerdings zu einer Auffassung, die weder die Konser­
vierung bestehender Ordnungen und Zustände um jeden Preis noch
die totale Umwandlung der Gesellschaft mit allen Mitteln im Sinne
der Ideale einer Gruppe als vernünftige Zielsetzung anerkennen

29 Vgl. dazu K arl Popper, Logik der Forschung (1934). 3. Auflage, Tübingen
1969. Auf die praktische Bedeutung solcher Einschränkungen hat seinerzeit Ernst
Mach schon hingewiesen im Abschnitt: Sinn und Wert der Naturgesetze, vgl. sein
Buch: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. 3. Auflage,
S. 449 nff..
Leipzig 19 17 , a. /

69

fl* ¿ ¿ Ä j
kann, sondern vielmehr eine schrittweise Umgestaltung30 des sozialen
Lebens für erstrebenswert hält, bei der auf die tatsächlichen Be­
dürfnisse, Wünsche und Zielsetzungen aller Mitglieder der Gesell­
schaft nach Möglichkeit Rücksicht genommen und das vorhandene
Wissen für die Situationsanalyse und die Entwicklung von Pro­
grammen ausgenutzt wird. Daß ein solcher liberaler und sozialer
Reformismus nicht in den Rahmen der deutschen Ideologie paßt,
scheint mir eher ein Einwand gegen diese zu sein als ein Argument
dafür, daß man eine Auffassung akzeptiert, die fast nur noch die
Wahl zwischen Revolution und Resignation freigibt und bei Leu­
ten, die an der Möglichkeit einer Revolution verzweifeln, aber zur
Resignation nicht bereit sind, zu einer Praxis des politischen E x ­
pressionismus mit punktueller Gewaltanwendung führt, die an
Kurzschlüssigkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Man sollte sich dar­
über klar sein, daß es sich dabei um Konsequenzen einer Konzep­
tion handelt, in der gegen naturwissenschaftliches Denken für eine
Wissenschaft als Anklage, Appell oder Denunziation plädiert wird.

y. Die Tradition der kritischen Vernunft und die Zukunft der in­
dustriellen Gesellschaft

Der kritische Rationalismus ist eine Theorie der Fehlbarkeit mensch­


licher Vernunft, die, wie w ir gesehen haben, politische Konsequen­
zen hat, vor allem die Konsequenz, daß die Ordnung der Gesell­
schaft dieser Fehlbarkeit Rechnung tragen muß. Sie zeigt, daß es,
y ie in der Wissenschaft, so auch im sozialen und politischen Leben,
keine perfekten und daher unrevidierbaren Problemlösungen ge-
ben kann und daß die Gewißheit, sich im Besitze einer solchen L ö ­
sung zu befinden, etwa der Konzeption einer vollkommenen - herr­
schaftsfreien, konfliktslosen, harmonischen - Gesellschaftsordnung,
die Träger dieses Bewußtseins nicht etwa als Vertreter kritisch-
30 Der Begriff des >p ie c e m e a l e n g in e e r i n g «, der »Stückwerk-Technik«, der von
Popper im Kontrast zur utopischen Technik gesdiichtsphilosophisch orientierter
Denker eingeführt wurde - vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, a.a.O.,
passim - , ist hier oft kritisiert worden, weil man dieses Vorgehen zu Unrecht
mit einer Praxis systemloser punktueller Eingriffe in das soziale Gesdtehen ver-
w e d u e lO ta t ^ ^ ^ ¿¿¿^ M l 1W

¿JoCjUl' (
9*6 iuZJtk hK- ^ !
rationalen Denkens auszeichnet, sondern sie eher verdächtig ma-
dien muß. Institutioneile Vorkehrungen aller Art, ob im Bereich
der Bildung und Erziehung, der industriellen Produktion, der poli­
tischen Willensbildung oder in anderen Bereichen, sind stets als auf
jeden Fall unvollkommene Lösungen sozialer Probleme anzusehen,
die sich zu bewähren haben und auch bei Bewährung noch der K ri­
tik und der Revision offenstehen müssen. Daß sie mehr oder we­
niger große Schwächen haben, ist daher ohne weiteres vorauszuset­
zen. Diese Schwächen im einzelnen kausal und funktionell zu ana­
lysieren ist jederzeit eine wichtige Aufgabe, zu der die Sozialwissen­
schaften ebenso wie andere Wissenschaften ihren Beitrag leisten kön­
nen. D a man aber davon ausgehen kann, daß auch die jeweils reali­
sierbaren Alternativen mit Schwächen behaftet sind, muß die poli­
tische Praxis von einer vergleichenden Beurteilung der in Betracht
kommenden Änderungen und des bisherigen Zustands ausgehen und
darüber hinaus die Kosten in Betracht ziehen - Kosten nicht nur
im finanziellen, sondern im sozialen Sinne - , die sich durch die
Maßnahmen ergeben, die für eine Reform erforderlich sind, eben­
so wie die Kosten der Aufrechterhaltung des bisherigen Zustandes.
Heilslehren aller A rt können schwerlich dazu beitragen, eine solche
Situationsanalyse zu erleichtern, da die Vollkommenheit des in ihnen
skizzierten Idealzustandes und die Dürftigkeit seiner konkreten
Charakterisierung realistische Überlegungen dieser A rt ausschließen.
Aus der Auffassung der institutionellen Arrangements einer Ge­
sellschaft als grundsätzlich revidierbarer Problemlösungen, die eben­
sowenig der Dogmatisierung anheimfallen dürfen wie etwa be­
stimmte Ergebnisse des Erkenntnisprozesses, ergibt sich die Forde­
rung, Institutionen so zu gestalten, daß in ihnen Kritik möglich ist
und effektiv werden kann. Es gehört zu den Errungenschaften des
liberalen Zeitalters, daß für die Institutionen der politischen W il­
lensbildung diesem Grundsatz in vielen Gesellschaften weitgehend
Geltung verschafft wurde, so daß in diesem Bereich eine Kontrolle
a e r Herrsaiaft durch die von ihr Betroffenen bis zu einem gewissen h
Grade ermöglicht wurde. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß
es möglich ist, diese Forderung auch in anderen institutioneilen Be­
reichen in höherem Maße zu realisieren, als das bisher der Fall war.
Nach unserem bisherigen Wissen ist zw ar die Forderung nach einem

7i
vollkommen herrschaftslosen Zustand für moderne Gesellschaften
von hoher Komplexität utopisch, aber eine wirksamere Institutiona­
lisierung von Kritik und Kontrolle der Herrschaft unter Aufrecht­
erhaltung der Möglichkeit, erfolgreich zu planen und zu entscheiden,
ist keineswegs ausgeschlossen. Allerdings gehört ein großes Maß
konstruktiver sozialtechnologischer Phantasie dazu, die dafür in Fra­
ge kommenden OrganisatTonsTormen zu entwerfen, da es darauf
ankommt, eine Mehrzahl unter Umständen schwer zu vereinbaren­
der Zielsetzungen zu realisieren. Es gilt gewissermaßen, die Errun­
genschaften des liberalen Zeitalters so zu transformieren, daß sie in
die postindustrielle Gesellschaft hinübergerettet werden können, in
eine Gesellschaft, in der Planung eine erhebliche größere Rolle spie­
len muß als im früheren sozialen Leben.
In dieser Gesellschaft wird offenbar die Wissenschaft zu den zen­
tralen institutionellen Bereichen gehören, schon deshalb, weil alle
anderen Bereiche für ihre Weiterentwicklung auf die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Forschung angewiesen sind. Für eine steigende
Anzahl von Mitgliedern der Gesellschaft wird daher wissenschaft­
liche Ausbildung in Betracht kommen, und das heißt nicht etwa nur
eine Ausbildung, in der Resultate der Forschung rezipiert, sondern
eine solche, in der die Methoden vermittelt werden, die der wissen­
schaftlichen Erkenntnis zugrunde liegen. Es kommt für eine solche
Erziehung also nicht nur darauf an, Kenntnisse weiterzugeben, son­
dern darüber hinaus kritisches Denken zu fördern, die Fähigkeit zu
rationaler Argumentation zu entwickeln und die konstruktive
Phantasie zu wecken, auf der der Erkenntnisfortschritt beruht31. Die
Prämiierung des schlichten Glaubens, die immer noch einen Teil der
heutigen Erziehungspraxis bildet, dürfte mit diesem Erziehungsziel
unvereinbar sein. Die moderne Gesellschaft braucht keineswegs auf
Traditionen zu verzichten, aber: eine der wesentlichsten Traditio­
nen für sie muß jene Tradition der kritischen Vernunft sein,

31 Bertrand Russell hat mit Recht darauf hingewiesen, daß bisher die Schulen
oft gleichzeitig dazu benutzt wurden, Kenntnisse zu vermitteln und Aber­
glauben zu fördern, also die Resultate der Wissenschaft weiterzugeben und gleich­
zeitig eine Einstellung hervorzurufen, die im Gegensatz zur wissenschaft­
lichen Haltung steht; vgl. z. B. den Abschnitt: Freies Denken und offizielle
Propaganda, in seiner Schrift: Skepsis. Frankfurt am Main/Bonn 1964. Diese
Praxis wird wohl auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten sein.

7*
die zu den ältesten Überlieferungen des Abendlandes gehört.
Angesichts des Rationalitätsanspruchs, der heute mit quasi-theolo­
gischen Totaldeutungen verbunden zu werden pflegt, die einen
deutlich anti-naturalistischen Akzent tragen, ist es nicht überflüssig,
darauf hinzu weisen, daß diese Tradition der kritischen Vernunft
sich heute gerade und vor allem im naturwissenschaftlichen Denken
verkörpert. Individuen und soziale Gruppen, die sich davon emanzi­
pieren wollen, werden auf die Dauer kaum großen Einfluß auf die
soziale Entwicklung gewinnen können, denn die Lebensbedingun­
gen der postindustriellen Gesellschaft sind auf die Wissenschaft ge­
gründet.
Allerdings scheint die Übergangsphase zu dieser Gesellschaftsform
für viele Länder mit schwachen liberalen und demokratischen
Traditionen eine spezifische Gefahr in sich zu bergen, nämlich die
Gefahr jener Kombination von Theokratie und Technokratie, wie
sie zum Beispiel in denjenigen Ländern akut geworden ist, in denen
kommunistische Revolutionen zum Herrschaftsmonopol einer ideo­
logisch gebundenen Partei geführt haben. Die Verbindung dog­
matisch-ideologischer Steuerung mit technologischer Wissensverwer­
tung, ob unter marxistischen oder anderen Vorzeichen, ist eine
Realität, die nicht unterschätzt werden sollte. Aber man muß sich
auch darüber klar sein, daß in den Gesellschaften, die diese Ge­
fahrenzone zu durchschreiten haben, der größte Teil der Bevöl­
kerung noch relativ wenig Berührung mit wissenschaftlichem Den­
ken hat und daß ihm politisch relevante Informationen nicht in
dem Maße zugänglich sind, wie das zur Urteilsbildung notwen­
dig wäre. Beides wird sich zweifellos in Zukunft auf Grund der
sozialen und technologischen Entwicklung ändern. Die Bedeutung
des Bildungssektors und speziell der wissenschaftlichen Ausbildung
wird sich laufend erhöhen, so daß die Möglichkeit für herrschende
Gruppen, Glaubensgehorsam zu fordern, langsam der natürlichen
Erosion anheimfällt. In den westlichen Gesellschaften zeigt sich das
heute schon in den Wandlungsprozessen, denen der Katholizismus
unterworfen ist, diejenige soziale Macht, in der die Verbindung
von Glaube und Gehorsam bisher am eindrucksvollsten und am
dauerhaftesten institutionalisiert worden ist.
Es ist interessant, daß die neuen Mittelschichten, die der M arxis­

73
mus sowohl in seiner Kapitalismus-Analyse als auch in seiner Pro­
gnose der sozialen Entwicklung im Kommunismus übersehen oder
in ihrer Bedeutung falsch eingeschätzt hatte, nun auf der Grundlage
wissenschaftlicher Ausbildung in allen modernen Gesellschaften eine
Position und einen Einfluß zu gewinnen scheinen, der soziale Wand­
lungen zur Konsequenz hat, an die vorher nicht zu denken war. Die
historische Prophetie hat auch, in dieser Hinsieilt. Sdaiftjjpuch erlit-,
ten, was allerdings für die wahren Gläubigen als Einwand kaum ins
Gewicht fällt. Der Revisionismus, der bereit ist, unangenehme T at­
sachen zu berücksichtigen — was, wie zum Beispiel M ax Weber
seinerzeit mit Recht bemerkte, zu den wesentlichen Kennzeichen
einer wissenschaftlichen Haltung gehört - , fällt der Verachtung der
Ideologen anheim, die von jeher den Willen zu glauben über den
Willen zur Entdeckung und zur Revision gestellt haben.
Tatsächlich ist der Revisionismus, der sich heute auch in den Län­
dern mit etablierter kommunistischer Herrschaft regt, nichts anderes
als eine liberale Reaktion auf die Enttäuschungen, die dadurch ent­
standen sind, daß der Kommunismus als System forcierter Indu­
strialisierung so gut wie alle Übel hervorgebracht hat, die er am
Kapitalismus vorher diagnostiziert hatte32, während der Kapitalis­
mus Wandlungen durchgemacht hat, die die marxistische Analyse
von damals obsolet machen. Offenbar besteht in den Mittelschichten
kommunistischer Gesellschaften teilweise schon heute eine starke
Tendenz, ihre jeweilige soziale Ordnung in einer Weise zu reformie­
ren, die K ritik und Kontrolle von unten in höherem Maße ermög­
licht, als das bisher der Fall war, was unter anderem bedeutet, daß
die dazu notwendigen institutionellen Vorbedingungen, wie Presse­
freiheit, Versammlungsfreiheit und Demonstrationsfreiheit, ge­
schaffen werden. Daß eine solche Liberalisierung nicht von heute
auf morgen und daß sie auch nicht gegen eine intakte Militärmacht

32 Diese Tatsache wird 11. a. betont von Milovan Djilas in seinem neuen
Buch: Die unvollkommene Gesellschaft. Jenseits der »Neuen Klasse«. Wien/Mün-
dhen/Zürich 1 9 6 9 , S. 159. Ein scharfsinniger und realistischer Beobachter wie
Bertrand Russell hatte diese Entwicklung schon 1920 vorhergesehen, nach seinem
Besuch in der Sowjetunion; vgl. dazu sein Buch: The Practice and Theory of
Bolshevism (1920). 2. Auflage, London 1949. Ihm lagen allerdings geschichts­
philosophische Totaldeutungen seit jeher fern, die den Blick für die Tatsachen
zu trüben pflegen.

74
mit G ewalt durchgesetzt werden kann, liegt auf der Hand. Auch
wird sie zweifellos zu institutionellen Formen führen, die in den
westlichen Ländern nicht üblich sind. Daß sie auf revolutionäre
Weise zustande kommt, ist meines Erachtens äußerst unwahrschein­
lich. Es ist vielmehr anzunehmen, daß der Kommunismus sich eben­
so wie der Kapitalismus auf dem Wege schrittweiser Reformen all­
mählich wandelt, also durch A nwendung jener hierzulande viel i
|~kritisierten Stück werk-Technologie^ die Popper~[als rationale Me- [
thode"cIer Pol ItHTvorgeschlagen hat33. ' ' " »
Daß entwickelte Industriegesellschaften westlichen Stils von der
Anwendung revolutionärer Gewalt eher profitieren könnten als
kommunistische Systeme, scheint mir angesichts der Komplexität
solcher Sozialkörper ebenfalls eine romantische Vorstellung zu sein,
die man auf politische Abwege geratenen Lyrikern nachsehen kann.
Dem humanistischen Anspruch, der nicht selten mit solchen Ideen
verbunden zu sein pflegt, darf man wohl das Wort entgegenhalten:
An ihrerlJTifethodei sollt ihr sie erkennen - ein Wort, das allerdings
nicht nur auf Revolutionäre anzuwenden ist.

h.'yf-O-tyiiA.

33 Vgl. dazu Milovan Djilas, a.a.O ., S. 233 ff., wo die Gründe dargelegt
werden, die dafür sprechen, daß eine reformative Umwandlung dieser Systeme
mit gewaltlosen Mitteln, wenn auch natürlich unter Druck von unten, möglich
und wahrscheinlich ist.

75
W isse n sc h a ft u n d V e r a n t w o r t u n g

Max Webers Idee rationaler Praxis und die totale Vernunft der
politischen Theologie

i. Anklage contra Analyse: Der Angriff gegen die moderne Wissen­


schaft

Seit einiger Zeit sind w ir mit einem Angriff gegen die moderne
Wissenschaft konfrontiert, der sich den Anschein gibt, er habe die
wahre, kritische und umfassende Vernunft auf seiner Seite, während
die positive Wissenschaft - zumindest insoweit sie sich dem natur-
wisscnschaftlichen Denkstil verschrieben hat - jene bloß instrumen­
tale Rationalität verkörpere, die lediglich dazu beitrage, den Status
cjuo_zu zementieren, das heißt: die gegenwärtigen gesellschaftlichen
Zustände aufrechtzuerhalten, in denen die fundamentale Irratio­
nalität des Waltens blinder und w illkürlicher Kräfte zum Ausdrude
komme. Die Wissenschaft selbst habe insofern Anteil an dieser Irra­
tionalität, als sie sich ihrer gesellschaftlichen Einbettung - ihrer A b­
hängigkeit von den sozialen, Bedingungen und ihrer sozialen Wir-
kungen - nicht bewußt, mithin eine unpolitische und damit unkri­
tische Wissenschaft sei, die sich zu technischer Verwertung im Dienste
beliebiger Zielsetzungen hergebe, aber nicht imstande sei, die Wer­
tungen und Interessen zu reflektieren, die in ihrem eigenen Bereich
und im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang wirksam seien, und
dadurch die Gestaltung der Gesellschaft im Sinne jener wahren Ver­
nunft zu fördern, deren die Verfechter dieser K ritik offenbar teil­
haftig sind.~
Eines der wichtigsten Ziele dieses Angriffs ist das von M ax Weber
seinerzeit formulierte Wertfreiheitsprinzip, in dem jener Mangel
der modernen Wissenschaft anscheinend mit wünschenswerter Deut­
lichkeit zum Ausdruck kommt, denn — so etwa läßt sich der Ein­
wand dieser Kritiker formulieren - de facto könne es überhaupt
keine wertfreie Wissenschaft geben, und eine Wissenschaft, die sich
den Anschein der Wertfreiheit gebe, habe damit in Wirklichkeit nur
die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Forschungen von

76
sich gewiesen, vor allem für die systemstabilisierenden Wirkungen,
die für sie charakteristisch seien - wobei mehr oder weniger deutlich
gemacht zu werden pflegt, daß das System, das sie stützen helfe,
ein durch und durch schlechtes sei. Gerade sie also, die sich oft
explizit dem ideologischen Denken entgegenstelle, habe demnach
den Charakter der Ideologie - des falschen Bewußtseins - ,
den sie ihrerseits dem politisch engagierten Denken zuzusprechen
pflege.
Charakteristische Äußerungen dieser A rt findet man zum Bei­
spiel in den Arbeiten Herbert Marcuses, vor allem in seiner K ritik
an der Weberschen Lehre1, die nicht nur die Stoßridrtung dieser
Bewegung klar erkennen läßt, sondern gleichzeitig auch ihre Frag­
würdigkeit und das Mißverständnis der positiven Wissenschaft, von
dem sie gespeist wird. Marcuses Vorw urf geht in dieser Ausein­
andersetzung mit M ax Weber dahin, daß dessen Theorie der inter­
nen Wertfreiheit darauf abziele, die Wissenschaft frei zu machen
für verbindliche Wertsetzungen, die ihr von außen auf getragen
werden. Damit sei gleichzeitig auch »das Seinsollen«, das aus der
Wissenschaft herausgenommen werde, »vor der Wissenschaft ge­
schützt und gegen die wissenschaftliche K ritik abgedidhtet«. In sei­
ner Untersuchung der Weberschen Gedanken zum Problem der R a ­
tionalität sucht Marcuse dann nachzuweisen, daß in ihnen letzten
F.ndes doch die Neutralität dem Sollen gegenüber nicht durchge­
halten wird. Das »Seinsollen« zeige sich im »Seienden«, »die uner­
müdliche Anstrengung des Begriffs« bringe es »zum Erscheinen«2,
der »wertfreie Begriff der kapitalistischen Rationalität« werde »im
Vollzug der Weberschen Analyse zum kritischen Begriff«, aber die
K ritik, die in ihm enthalten sei, mache dann vorzeitig halt, sie
werde »zur Apologetik — schlimmer noch: zur Denunziation der
möglichen Alternative: einer qualitativ anderen geschichtlichen R a ­
tionalität«. Die von Weber in Anspruch genommene und analysier­
te Vernunft bleibe »bürgerliche Vernunft - und sogar nur ein Teil
1 Vgl. dazu Herbert Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus. In: Max
Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. deutschen Soziologen­
tages, herausgegeben von Otto Stammer. Tübingen 1965, S. 161 ff.; vgl. auch
sein Buch: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrit­
tenen Industriegesellschaft. 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1967.
2 Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, a.a.O., S. 162.

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W isse n sc h a ft u n d V e r a n t w o r t u n g

Max "Webers Idee rationaler Praxis und die totale Vernunfl der
politischen Theologie

i. Anklage contra Analyse: Der Angriff gegen die moderne Wissen­


schaft

Seit einiger Z eit sind w ir mit einem Angriff gegen die moderne
Wissenschaft konfrontiert, der sich den Anschein gibt, er habe die
wahre, kritische und umfassende Vernunft auf seiner Seite, während
die positive Wissenschaft - zumindest insoweit sie sich dem natur­
wissenschaftlichen Denkstil verschrieben hat - jene bloß instrumen­
tale Rationalität verkörpere, die lediglich dazu beitrage, den Status
£uo_zu zementieren^das heißt: die gegenwärtigen gesellschaftlichen
Zustände aufrechtzuerhalten, in denen die fundamentale Irratio-
nalität des Waltens blinder und willkürlicher Kräfte zum Ausdruck
komme. Die Wissenschaft selbst habe insofern Anteil an dieser Irra­
tionalität, als sie sich ihrer gesellschaftlichen Einbettung - ihrer A b­
hängigkeit von den sozialen Bedingungen und ihrer sozialenW ir-
kungen - nicht bewußt, mithin eine unpolitische und damit unkri-
tische Wissenschaft sei, die sich zu technischer Verwertung im Dienste
beliebiger Zielsetzungen hergebe, aber nicht imstande sei, die Wer­
tungen und Interessen zu reflektieren, die in ihrem eigenen Bereich
und im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang wirksam seien, und
dadurch die Gestaltung der Gesellschaft im Sinne jener wahren V er­
nunft zu fördern, deren die V erfechter dieser K ritik offenbar teil­
haftig sind. 'j q c f f n j h /
Eines der wichtigsten Ziele dieses Angriffs ist das von M ax Weber
seinerzeit formulierte Wertfreiheitsprinzip, in dem jener Mangel
der modernen Wissenschaft anscheinend mit wünschenswerter Deut­
lichkeit zum Ausdruck kommt, denn - so etwa läßt sich der Ein­
wand dieser Kritiker formulieren - de facto könne es überhaupt
keine wertfreie Wissenschaft geben, und eine Wissenschaft, die sich
den Anschein der Wertfreiheit gebe, habe damit in Wirklichkeit nur
die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Forschungen von

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sich gewiesen, vor allem für die systemstabilisierenden Wirkungen,
die für sie charakteristisch seien - wobei mehr oder weniger deutlich
gemacht zu werden pflegt, daß das System, das sie stützen helfe,
ein durch und durch schlechtes sei. Gerade sie also, die sich oft
explizit dem ideologischen Denken entgegenstelle, habe demnach
den Charakter der Ideologie - des falschen Bewußtseins - ,
den sie ihrerseits dem politisch engagierten Denken zuzusprechen
pflege.
Charakteristische Äußerungen dieser A rt findet man zum Bei­
spiel in den Arbeiten Herbert Marcuses, vor allem in seiner K ritik
an der Weberschen Lehre1, die nicht nur die Stoßrichtung dieser
Bewegung klar erkennen läßt, sondern gleichzeitig auch ihre Frag­
würdigkeit und das Mißverständnis der positiven Wissenschaft, von
dem sie gespeist wird. Marcuses V orw urf geht in dieser Ausein­
andersetzung mit M ax Weber dahin, daß dessen Theorie der inter­
nen Wertfreiheit darauf abziele, die Wissenschaft frei zu machen
für verbindliche Wertsetzungen, die ihr von außen aufgetragen
werden. Damit sei gleichzeitig auch »das Seinsollen«, das aus der
Wissenschaft herausgenommen werde, »vor der Wissenschaft ge­
schützt und gegen die wissenschaftliche K ritik abgedichtet«. In sei­
ner Untersuchung der Weberschen Gedanken zum Problem der R a ­
tionalität sucht Marcuse dann nachzuweisen, daß in ihnen letzten
lindes doch die Neutralität dem Sollen gegenüber nicht durchge­
halten wird. Das »Seinsollen« zeige sich im »Seienden«, »die uner­
müdliche Anstrengung des Begriffs« bringe es »zum Erscheinen«2,
der »wertfreie Begriff der kapitalistischen Rationalität« werde »im
Vollzug der Weberschen Analyse zum kritischen Begriff«, aber die
K ritik, die in ihm enthalten sei, mache dann vorzeitig halt, sie
werde »zur Apologetik - schlimmer noch: zur Denunziation der
möglichen Alternative: einer qualitativ anderen geschichtlichen R a ­
tionalität«. Die von Weber in Anspruch genommene und analysier­
te Vernunft bleibe »bürgerliche Vernunft - und sogar nur ein Teil
1 Vgl. dazu Herbert Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus. In: Max
Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. deutschen Soziologen­
tages, herausgegeben von Otto Stammen Tübingen 19 6 $ , S. 161 ff.; vgl. auch
sein Buch: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrit­
tenen Industriegesellschaft. 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1967.
2 Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, a.a.O., S. 162.

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von ihr, nämlich kapitalistische Vernunft«3. Dabei wird von ihm
ein Zusammenhang hergestellt mit Webers Selbstdefinition als »Bür­
ger«, mit der er hellsichtig »die Grenze seiner Begriffsbildung« be­
stimmt habe.
Durch diese A rt der Argumentation gelingt es Marcuse, den Ein­
druck zu erwecken, im M ax Weberschen Denken zeige sich selbst
die Unhaltbarkeit und Undurchführbarkeit des von ihm akzeptier­
ten Ideals der wertfreien Wissenschaft, so daß die Weberschen Un­
tersuchungen, soweit sie brauchbar seien, im Grunde genommen für
jene andere A rt von Wissenschaft in Anspruch zu nehmen seien, wie
sie etwa von Marcuse und seinen Geistesverwandten vertreten
werde. Sein Versuch aber, dennoch an diesem Ideal festzuhalten,
führe zu einer Beschränkung des kritischen Denkens und damit zur
Apologetik, also zu einer nur unvollkommenen Realisierung jenes
Ideals engagierter Wissenschaft Marcusescher Observanz, das auch
für viele andere Kritiker der Wertfreiheitsidee verbindlich gewor­
den zu sein scheint. Die »Funktion der wahren Wissenschaft« näm­
lich sei, so werden w ir von Marcuse belehrt, »die Anklage «4, was
auch bei Weber, weil er ein »wahrer Soziologe« sei, gegen seine eige­
nen bewußten Absichten letzten Endes durchschlage. So kann M ar­
cuse den Verfechter des Wertfreiheitsprinzips für den eigenen Wis­
senschaftsbegriff in Anspruch nehmen und gleichzeitig dessen A u f­
fassung als durch die eigene überwunden erklären.
Wenn man allerdings die für die Beurteilung dieses Angriffs in
Betracht kommenden Passagen der Arbeiten M ax Webers genauer
untersucht, dann wird man zu dem Schluß kommen müssen, daß er
auf relativ leicht vermeidbaren Mißverständnissen beruht, daß
er methodologisch fragwürdig ist und daß er im Ganzen eher
den Charakter einer »Denunziation« - um einmal diesen in der
Frankfurter Schule so beliebten Ausdruck zu gebrauchen - als

3 Marcuse, a.a.O., S. 1 6 6 . Vorher hat er sie bereits mit zwei weiteren Merk­
malen ausgestattet: sie sei te c h n is c h e und f o r m a l e Vernunft.
4 Marcuse, a.a.O., S. 172, Kursivsatz von mir, d. V., vgl. auch sein o. a. Buch:
Der eindimensionale Mensch, S. 147 ff., wo der »zweidimensionale Denkstil«
der dialektischen Logik und »aller Philosophie, die die Wirklichkeit in den
G riff bekommt«, charakterisiert wird. Es handelt sich darum, daß normative
Sätze formuliert werden, in denen die Verhältnisse verurteilt werden, allerdings
Sätze, die mit ontologischen Ansprüchen ausgestattet sind.

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den einer auf gründlicher Analyse beruhenden K ritik hat. Mög­
licherweise kann man hier an einem exemplarischen Fall einen Ein­
blick darin gewinnen, wie diese Wissenschaft als Anklage funktio­
niert.
Zunächst muß gegen diese Darstellung der Einwand erhoben wer­
den, daß sie in einer Weise an die Freiburger Antrittsvorlesung M ax
Webers anknüpft, die man eigentlich nur als fahrlässig bezeichnen
kann. Marcuse w ill nämlich seine Leser glauben machen, dieser V or­
trag habe die Funktion der Weberschen Wissenschaftslehre klar ge­
macht, so wie er sie dann in seiner Kritik zu charakterisieren sucht5.
Wer dagegen die Entwicklung des Weberschen Denkens einigerma­
ßen kennt, dem dürfte die Flaltlosigkeit dieser These ziemlich offen­
kundig sein, denn diese Antrittsrede stammt aus einer Periode, in
der Weber die methodologischen Auffassungen noch gar nicht ent­
wickelt hatte, die in den späteren Kontroversen eine so bedeutende
Rolle spielen sollten6. Gerade hinsichtlich der beiden Punkte, auf
die es Marcuse zunächst ankommt, hat sich Weber später in einer
so eindeutigen Weise gegen die ihm von Marcuse unterstellten An-
s(Lauungen gewendet, daß die Selbstverständlichkeit, mit der sein
Kritiker hier auftritt, erstaunlich erscheinen muß7. In einem seiner
methodologischen Aufsätze hat er explizit darauf hingewiesen8,
daß eine wertfreie Lehre von der Wirtschaftspolitik möglich sei, und
zwar als Voraussetzung jeder rein wissenschaftlichen Behandlung
der Politik, und er hat darüber hinaus gezeigt, wie man sich eine
solche Lehre vorzustellen habe. Aber nicht nur in dieser Hinsicht

5 Vgl. Marcuse, Industrialisierung und Kapitalismus, a.a.O., S. 160. Es handelt


»ich um den Vortrag »Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik«. In:
Weber, Gesammelte politische Schriften. 2. Auflage, Tübingen 1958, den Max
Weber im Jahre 1895 in Freiburg als Antrittsvorlesung bei Übernahme eines
Lehrstuhls für Nationalökonomie hielt. Zur Kritik der Weber-Kritik, die viel­
fach in mißverständlicher Weise an diesen Vortrag anknüpft, vergleiche meinen
Beitrag zur Moser-Festschrift: Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem
der Wertfreiheit und der Rationalität. In: Die Philosophie und die Wissen-
sdiaften, herausgegeben von Oldemeyer. Meisenheim 1967, S. 246 ff.
6 Vgl. dazu etwa: Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Heidel­
berg 1950, Kap. io und passim.
7 Vgl. dazu meinen in Anm. j erwähnten Aufsatz.
8 Vgl. Max Weber, Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und öko­
nomischen Wissenschaften. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3.
Auflage, herausgegeben von Johannes Winckelmann. Tübingen 1968, S. 537.

79
- in der Frage der Offenheit für exogene Wertungen - hat er seine
Ausführungen in der erwähnten Freiburger Rede ausdrücklich re­
vidiert, sondern außerdem hat er sich in diesem Zusammenhang von
dem Machtstaatsideal, von dem er damals ausgegangen war, deut­
lich distanziert. Im übrigen ist M ax Weber des öfteren auf die Be­
deutung der Wissenschaft für die Wertdiskussion ausführlich einge­
gangen, und zw ar so, daß sich daraus die Unhaltbarkeit der oben
erwähnten Marcuseschen Immunisierungsthese ergibt®.
Marcuses Vorgehensweise ist hier wie auch sonst sehr befremdlich.
E r ist äußerst sparsam, wenn es um die Darstellung der Weberschen
Position geht. Hätte er sie genauer dargestellt, so wäre von seiner
Analyse nicht viel übriggeblieben. Man sehe sich einmal an, wie er
verfährt, um die Webersche Auffassung zum Verhältnis von wissen­
schaftlicher Erkenntnis und Sollensproblematik zu unterminieren.
Nicht nur unterschlägt er zur Gänze das, was Weber zum Problem
der Wertkritik geäußert hat, er zitiert außerdem so nebenbei zum
Beleg seiner Immunisierungsthese eine Behauptung Webers, derzu-
folge aus dem Material der wissenschaftlichen Arbeit der Wert eines
Ideals niemals deduziert werden könne9 10. Dazu ist zweierlei zu
sagen: Erstens ergibt sich aus diesem Passus bei Weber keine negative
Stellungnahme zur Möglichkeit der Wertkritik, wie man aus Marcu­
ses Zitierweise schließen könnte, und zweitens hätte ein Kritiker,
der mit dem Hinweis auf diesen Passus schon eine Bloßstellung
der Weberschen Anschauung erreichen w ill, doch wohl die Aufgabe
zu zeigen, inwiefern Weber in diesem Punkte einem Irrtum unter­
legen ist. Man wird aber nicht nur bei Marcuse, sondern auch bei
den übrigen Kritikern M ax Webers vergeblich nach einem solchen
Nachweis suchen, wie denn überhaupt gründliche methodologische
Auseinandersetzungen von der A rt, wie sie für Weber selbstver­

9 In seinem Aufsatz: Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozial­


politischer Erkenntnis, a.a.O., S. 149 ff., und später in seinem Diskussionsbeitrag
auf der Tagung des Vereins für Sozialpolitik im Jahre 1909, den Marcuse selbst
zitiert, vgl. dazu: Weber, Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpoli­
tik. Tübingen 1924, S. 417 f. Marcuse führt nur einen kleinen Passus von S. 419
an.
10 Marcuse, a.a.O., S. 162; vgl. dazu Weber, Gesammelte Aufsätze zur Sozio­
logie und Sozialpolitik, a.a.O., S. 402, aus der Debatterede zu den Verhand­
lungen der Mannheimer Tagung des Vereins für Sozialpolitik 1905.

80
ständlich waren, bei seinen Gegnern kaum zu finden sind. Wie hier
durch Marcuse so wird auch sonst häufig eine Lösung der Wert­
problematik postuliert, die noch keiner geleistet hat, und auf dem
Hintergrund dieser imaginären Lösung wird die Webersche A uffas­
sung als unzureichend dargestellt, ohne daß man im einzelnen auf
seine Argumente eingeht11.
Auch die weitere Analyse Marcuses, in der er einerseits Weber
für seine engagierte Wissenschaft in Anspruch nimmt, ihm anderer­
seits aber gerade in dieser Hinsicht bürgerliche Beschränkungen
nachweisen möchte, ist ein Musterbeispiel für Fehldeutungen, wie sie
daraus entstehen, daß man die am reinen Erkenntnisinteresse orien­
tierten Zielsetzungen des kritisierten Theoretikers als unerheblich
beiseite schiebt und die eigene Unfähigkeit, einen Unterschied zwi-
sdien Wertung und Analyse zu machen, in dessen geistige Produktion
hineinprojiziert. Dabei kommt ein Wesen und Wert verschmelzender
Esscntialismus ins Spiel, der sich in keiner Weise auf eine Diskussion
der gegen solche Konfundierungen kritischen Auffassungen Webers
cinläßt — vor allem in bezug auf den Rationalitätsbegriff, dem in
der Weberschen Analyse des Kapitalismus ausschließlich Erklärungs­
funktionen zukommen. Daß »die Ratio der kapitalistischen Indu­
strialisierung« unter gewissen Gesichtspunkten als irrational ange­
sehen werden könne12, ist eine Bemerkung, die - ganz abgesehen
von der Frage ihrer Richtigkeit - für die Beurteilung dieser We­
berschen Untersuchungen überhaupt nicht ins Gewicht fällt. Und
daß ein Theoretiker, der schwerwiegende sachliche Gründe gegen
die Realisierbarkeit bestimmter einem geschichtstheologischen Den­
ken entsprungener Zielsetzungen vorzubringen hat, dadurch zum
Apologeten der bestehenden Ordnung werde und ihm darüber hin­
aus die Denunziation einer möglichen Alternative zur Last zu le­
gen sei, das dürfte selbst dann kein ernstzunehmender Vorw urf sein,
wenn seine Gegner die Möglichkeit einer solchen Alternative gezeigt
hätten. Gerade das aber läßt sich angesichts des heute vorliegenden

1 1 »Die Methode, das zu >postulieren<, was man braucht«, sagt Russell, »hat
viele Vorteile. Es sind dieselben, wie die Vorteile des Diebstahls gegenüber
der ehrlichen Arbeit.« Bertrand Russell, Einführung in die mathematische Phi­
losophie (1919). Darmstadt/Genf, o. J ., S. 8j.
12 Marcuse, a.a.O., S. 1 6 5 .

8l
Materials kaum behaupten. Allerdings ist dieser V orw urf verständ­
lich, wenn man berücksichtigt, daß er von einem Denker stammt,
der in inhaltlicher wie in methodischer Beziehung der eschatologi-
schen Tradition verpflichtet ist und daher Fragen der Realisierbar­
keit als zweitrangig behandelt13, Fragen also, deren Bedeutung
M ax Weber als Vertreter einer realistischen Wissenschaftskonzeption
und eines politischen Realismus höher einschätzen mußte.
Marcuses Angriff auf der Heidelberger Tagung ist symptomatisch
für eine Bewegung, die sich in allen Bereichen der Wissenschaft - vor
allem in den sogenannten Geisteswissenschaften - Geltung zu ver­
schaffen sucht: eine romantische Reaktion von der Art, wie man sie
früher von der Rechten zu hören gewohnt w ar14 auf bestimmte
Züge der modernen Gesellschaft und der ihr zugehörigen Wissens­
form: der Wissenschaft naturwissenschaftlichen Denkstils. Charak­
teristisch für sie ist die Tatsache, daß sie mit marxistischen Klischees
zu arbeiten pflegt, ohne sich jedoch auf einen konsequenten M arxis­
mus einzulassen, da die in dieser Lehre enthaltenen Fehlprognosen
und die Fehlentwicklungen in den politischen Verbänden, in denen
sie zur offiziellen Doktrin wurde, kaum mehr zu übersehen sind.
Die Revision des Marxismus, mit der sie verbunden ist, besteht nicht
etwa darin, daß man unter den methodischen Gesichtspunkten mo­
derner Wissenschaft seine Ideen, soweit sie sich als brauchbar erwie­
sen haben, in erklärungskräftigen Theorien verwertet15 und sie, so­
weit das nicht der Fall ist, eliminiert. Sie knüpft vielmehr gerade an
die krypto-theologischen Züge dieses Denkens, an das eschatologi-

13 Vgl. dazu K arl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 1953;


Ernst Topitsch, Die Sozialphilosophie Hegels als Heilslehre und Herrschafts­
ideologie. Neuwied/Berlin 1967; Hans Albert, Politische Theologie im Gewände
der Wissenschaft. Zur Kritik der neuen deutschen Ideologie. In: Club Voltaire IV.
Jahrbuch für Kritische Aufklärung, herausgegeben von Gerhard Szczesny. Rein­
bek bei Hamburg 1970.
14 Eine gewisse Konvergenz der konservativen und der radikalen Kultur­
kritik an der industriellen Gesellschaft ist allerdings schon seit langem zu beob­
achten, vgl. dazu: Reinhard Bendix, Der Einzelne und die Gesellschaft: Gestern,
heute, morgen. In: Willy Hochkeppel (Hrsg.), Soziologie zwischen Theorie und
Empirie. Soziologische Grundprobleme. München 1970; vgl. auch neuerdings:
Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Stuttgart 1970.
15 Für einen Versuch in dieser Richtung vgl. Andrzej Malewski, Der empi­
rische Gehalt der Theorie des historischen Materialismus. In: Kölner Zeitschrift
für Soziologie und Sozialpsychologie, 1 1 . Jg . 1959, S. 281 ff.

82
sclie Erbe an, das in ihm wirksam ist16. Wie das für den theologischen
1»cnkstil typisch ist, pflegen sich die Verfechter dieser Lehren ein
Erkenntnisprivileg zuzusprechen. Sie nehmen für sich das »wahre
Bewußtsein« in Anspruch, während sie ihren Gegnern von vorn­
herein - das heißt ohne Rücksicht auf die Argumentationslage -
ein »falsches Bewußtsein« zuschreiben. Sie sprechen im Namen einer
umfassenden Vernunft, die in der Lage ist, die Wissenschaft zu ent­
larven, ihre Schwächen zu enthüllen, ihre Scheinneutralität aufzu­
weisen und sie als integrierenden Bestandteil eines verwerflichen
Systems zu charakterisieren, einer Vernunft, die sich etwas darauf
zugute hält, den konkreten historischen Totalzusammenhang zu
erfassen, wobei offenbar auf die Methode der Wissenschaft verzich-
i et werden kann. Allerdings gibt es bisher noch keine einigermaßen
klare Auskunft über das Funktionieren dieses Instruments, aus der
zu entnehmen wäre, inwiefern die Ansprüche, die an seine H and­
habung geknüpft werden, vertretbar sind.
Dabei taucht als einer der wichtigsten Vorwürfe immer wieder
die These auf, daß die wertfreie Wissenschaft die Werte - und da­
mit die Gesellschaft - an die Irrationalität willkürlicher Entschei­
dungen ausliefere, eine These, mit der mehr oder weniger ausdrück­
lich der Anspruch verbunden zu sein pflegt, die Inhaber des »wahren
Bewußtseins« seien imstande, eine Lösung der Wertproblematik
vorzuweisen, in der diese Irrationalität nicht zum Zuge komme. In
Wirklichkeit läßt sich zeigen, daß eine im M ax Weberschen Sinne
wertfreie Wissenschaft dabei helfen kann, den Irrationalismus und
die mit ihm verbundenen Wertungen zu unterminieren17. Es kommt
ja nicht darauf an, daß man Wertungen aus der Erkenntnis »dedu­
zieren«, »ableiten« oder »derivieren« kann18. Ein solches Kunststück

1 6 Vgl. dazu Ernst Topitsdi, Entfremdung und Ideologie. Zur Entmytholo-


gisicrung des Marxismus, in seinem Aufsatzband: Sozialphilosophie zwischen
Ideologie und Wissenschaft. 2. A ufl., Neuwied/Berlin 1966, sowie: Shlomo
Avineri, The Social and Political Thought of Karl Marx. Cambridge 1968, S.
250 ff. Vgl. auch meinen o. a. Aufsatz: Politische Theologie im Gewände der
Wissenschaft. In: Club Voltaire IV , und R o lf Hochhuth, Der alte Mythos vom
»neuen« Menschen. Eine Kritik an Herbert Marcuse, im gleichen Band, S. 113 ff.
17 Vgl. dazu mein Buch: Traktat über kritische Vernunft. 2. Auflage, Tübin­
gen 1969, Kap. I I I : Erkenntnis und Entscheidung.
18 Letzteres scheint mir eine etwas verschämte Bezeichnung für das gleiche
Verfahren zu sein, die von denjenigen vorgezogen wird, die sich der Problematik

83
kann nur unter Mißachtung der Logik vollzogen werden, die ja
offenbar bei vielen Verfechtern solcher Ideen keine wesentliche Be­
ziehung zur Rationalität hat19. Es kommt vielmehr darauf an, daß
man die kognitiven Grundlagen für rationale Bewertungen und
Entscheidungen erweitert und verbessert. Für ein solches Verfah­
ren gibt es im Weberschen Denken genügend Anhaltspunkte, an die
man konstruktiv und weiterführend anknüpfen kann.

2. Wertfreiheit und Wirklichkeitsanalyse: Max Webers Beitrag zur


Wissenschaftslehre

Wenn man sich über die Funktion der Weberschen Wissenschafts­


lehre Klarheit verschaffen will, dann ist es angebracht, sich nicht an
die schon erwähnte Freiburger Antrittsrede, sondern an die metho­
dologischen Arbeiten zu halten, die er nach der Jahrhundertwende
verfaßt hat, in jener Periode wissenschaftlicher Selbstbesinnung, in
der ihm das auf Erkenntnis der Wirklichkeit gerichtete Denken
selbst zum Problem wurde20. Damals wurden in der Abwehr des
vordringenden Naturalismus Versuche unternommen, mit ontologi­
schen oder epistemologischen Argumenten den Autonomieanspruch
der Geistes- oder Kulturwissenschaften zu begründen. In diesen
Versuchen wirkte sich vor allem die Tatsache aus, daß die Akzen­
tuierung der Geschichtsproblematik seit der Periode der Romantik
und des nachkantischen deutschen Idealismus —besonders im Hegel-
schen Denken - einem Historismus zum Siege verholfen hatte, der
dazu verführte, nicht nur inadäquate Übertragungen naturwissen­
schaftlicher Modelle in den Bereich des geisteswissenschaftlichen Den­
kens zurückzuweisen, sondern darüber hinaus einen radikalen Un-

des naturalistischen Fehlschlusses bewußt sind, aber keine sachliche Lösung


anzubieten haben. Sie bieten statt dessen eine verbale »Lösung« an, in der H off­
nung, wo ein neues Wort zur Verfügung stehe, stelle sich ein neues Verfahren
von selber ein.
19 Vgl. zu diesem Problem: Hans Lenk, Philosophische Logikbegründung
und rationaler Kritizismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 24,
1970, S. 183 ff.
20 Vgl. dazu Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Heidelberg 1950,
10. Kapitel: Die neue Phase der Produktion, S. 346 ff.

84
tcrsdiied zu den Naturwissenschaften, auch in methodologischer H in­
sicht, zu postulieren. Die Betonung der Individualität, Besonderheit
und Einzigartigkeit der in den Geisteswissenschaften analysierten
Tatbestände, Zusammenhänge und Entwicklungen ließ ganz all­
gemein nomologisches Wissen, wie es in den Naturwissenschaften
seit langem im Vordergrund gestanden hatte, wenn nicht als uner­
reichbar, so doch zumindest als relativ unerheblich und für die Lö­
sung der wesentlichen Probleme dieser Wissenschaft uninteressant
erscheinen. An die Stelle der Erklärung auf der Grundlage allgemei­
ner Gesetzmäßigkeiten, so wurde behauptet, solle hier das Ver­
stehen individueller Zusammenhänge treten, deren Sinn dem
menschlichen Geist unmittelbar zugänglich sei, wobei nicht selten
sogar der Anspruch erhoben wurde, ein solches Sinnverstehen er­
öffne für diese Wissenschaften einen Zugang zum Wesen der Dinge,
der den unvermeidlich an der Oberfläche der Erscheinungen verblei­
benden Naturwissenschaften verschlossen sei21.
Darüber hinaus wurde in diesem Zusammenhang mitunter die
Möglichkeit einer Werterkenntnis auf dieser Grundlage behauptet,
oder man war zumindest bereit, mehr oder weniger impliziten Wer­
tungen innerhalb der Analyse einen breiten Raum zu gewähren.
Der für die sogenannten Geisteswissenschaften propagierte und
in ihnen vorherrschende Denkstil war jedenfalls vor allem in die­
sen beiden Punkten - hinsichtlich der Rolle von Wertungen und
der Bedeutung nomologischen Wissens - vom naturwissenschaftli­
chen Denkstil radikal verschieden, und ein wesentlicher Teil der
damaligen Argumentation läßt sich als Versuch der Abschirmung
gegen das Vordringen des letzteren in die von den Geisteswissen-
schaften okkupierten Bereiche auffassen.
Man hat nun die Leistung M ax Webers in diesem Zusammenhang
wegen seiner Betonung der Bedeutung des Verstehens und der soge­
nannten Idealtypen oft als einen Beitrag zu dieser Abwehr ver­
meintlich inadäquater Methoden interpretiert und seine Forderung

21 Derartige Auffassungen sind noch vor kurzem im deutschen Sprachbereich


vertreten worden; vgl. dazu Georg Weippert, Sozial Wissenschaft und Wirklich­
keit. Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Band I. Göttingen 1966, sowie meine
Kritik dazu in: Soziologie als politische Wissenschaft. Georg Weipperts herme-
ncutische Wissenschaftslehre. In: Soziale Welt, Jg . 18. 1967, S. 241 ff.

85
nach Wertfreiheit als einen Irrtum dargestellt, der aus seiner be­
sonderen Situation verstanden werden könne, den man aber zu
korrigieren habe. In dieser Perspektive erscheint Weber als Vertre­
ter eines - wenn auch nicht ganz konsequenten - geisteswissenschaft­
lichen Denkens, der noch heute für den K am pf gegen den vordrin­
genden Naturalismus in Anspruch genommen werden kann22. Aber
diese Deutung wird dem Beitrag M ax Webers zur Entwicklung der
Sozial- oder Kulturwissenschaften in keiner Weise gerecht. Wenn
man die damalige Situation berücksichtigt und die Auseinander­
setzungen M ax Webers mit den damals vorherrschenden Auffassun­
gen analysiert23, dann drängt sich eher eine entgegengesetzte Inter­
pretation der Weberschen Leistung - seines Beitrages zur Grundla­
gendiskussion - auf.
Schon in seinen ersten methodologischen Abhandlungen2425kommt
es ihm offenbar darauf an, klar zu machen, daß es möglich und für
eine adäquate Deutung auch erforderlich sei, die sozialen Vorgänge
und Entwicklungen als Wirkungszusammenhänge zu begreifen, als
Zusammenhänge also, die der kausalen Erklärung zugänglich sind
wie die in den Naturwissenschaften analysierten Tatbestände23.
Soweit er dabei auf die Methode des Verstehens eingeht, wird aus
seiner Analyse deutlich, daß er sie im Rahmen einer auf Kausaler­
klärung des Geschehens abzielenden Erkenntnisweise verstanden
wissen will. Außerdem wird von ihm betont, daß es sich bei der E r­
fassung des Sinnes von Handlungen, wie sie sich beim verstehenden

22 Allerdings ist es heute meist üblich, auf »konsequentere« Verfechter des


Verstehens zurückzugreifen. So spielt z. B. in den diesbezüglichen Untersuchun­
gen Gadamers und Apels Max Weber keine Rolle mehr.
23 Max Weber hat, wie Marianne Weber mit Recht betont —a.a.O., S. 346 ff. —,
seine Konzeption in kritisch polemischer Weise, in scharfer und detaillierter
Auseinandersetzung mit den Anschauungen führender Vertreter der geisteswis­
senschaftlichen Methode entwickelt.
24 Vgl. dazu: Max Weber, Roscher und Knies und die logischen Probleme der
historischen Nationalökonomie. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,
a.a.O., S. 1 ff.
25 Vgl. etwa: a.a.O., S. 7 1 ff., wo er ausdrücklich die Wissenschaftslehre
Münsterbergs kritisiert, der die Anschauung vertritt, der gänzlich andere Ob­
jektbereich der Psychologie lasse die Gültigkeit aller Kategorien des »objekti­
vierenden« Erkennens - z. B. »Kausalität«, »Gesetz« und »Begriff« (!) — pro­
blematisch werden. Manches in der von Münsterberg entwickelten Auffassung hat
übrigens große Ähnlichkeit mit heute wieder modern gewordenen Thesen der
»Nicht-Objektivierbarkeit«.

86
Verfahren ergibt, immer um »eine zum Zwecke der >Deutung< vor­
genommene Hypothese« handele29 und daß hier eine Kontrolle
durch Erfahrung im logisch gleichen Sinne wie bei den Hypothesen
der Naturwissenschaften notwendig sei. Weber war sich dessen be­
wußt, daß an der Erkenntnis sozialer Zusammenhänge nomologi-
sches Wissen notwendig beteiligt ist27. Der Anschein, es verhalte
sich anders, entsteht seiner Auffassung nach nur dadurch, daß die
ausdrückliche Formulierung dieser Regeln im allgemeinen als »un­
ökonomisch« unterlassen wird. Das heißt wohl nichts anderes, als
daß man im Bereich der sogenannten Geisteswissenschaften meist
- oder vielleicht besser: bisher noch meist - mit den Erklärungs­
gewohnheiten des Alltags arbeitet, die dabei wegen ihrer T riviali­
tät nicht nomologisch expliziert zu werden pflegen28.
In seinen späteren Arbeiten wird darüber hinaus deutlich, daß
er die Soziologie als theoretische Sozialwissenschaft verstanden wis­
sen wollte, die nach nomologischem Wissen strebt, nach einem Wis­
sen, dessen Anwendung auf konkretes Geschehen in der Geschichte
erfolgen könne. Aus dem, was M ax Weber in seinen seit der Ja h r­
hundertwende entstandenen Arbeiten zu derartigen Problemen ge­
äußert hat, scheint mir ziemlich eindeutig hervorzugehen, daß er
seine Auffassungen in Richtung auf eine Rezeption des naturwis­
senschaftlichen Denkstils in den Sozialwissenschaften weiterentwik-
16 A. a.O., S. 99 f., zum Folgenden vgl. a.a.O., S. i n ff.
27 Vgl. Weber, a.a.O., S. i n : »Und die Verwendung von >Erfahrungsregeln<
zum Zwecke der Kontrolle der >Deutung< des menschlichen Handelns ist dabei
nur dem alleroberflächlichsten Anschein nach von der gleichen Prozedur bei kon­
kreten >Naturvorgängen< verschieden.«
28 In seinem Aufsatz über »Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und so­
zialpolitischer Erkenntnis« (1904). In : Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,
a.a.O., S. 170 ff., hat Weber noch einen wesentlichen Unterschied zwischen Natur-
und Sozialwissenschaft darin sehen wollen, daß das eigentliche Interesse in der
letzteren auf die Erkenntnis der konkreten individuellen Wirklichkeit gerichtet
sei, so daß für sie — im Gegensatz zur Naturwissenschaft — die Kenntnis von
Gesetzen nur als Mittel in Betracht komme. Aber diese Auffassung scheint er
später revidiert zu haben; vgl. dazu: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft.
3. Auflage, Tübingen 1947, § 1, besonders S. 9, wo der Akzent auf der Ge­
winnung nomologischen Wissens liegt. Darauf und auf andere Wandlungen in
der Weberschen Auffassung hat Emerich Francis aufmerksam gemacht in seinem
Beitrag: Kultur und Gesellschaft in der Soziologie Max Webers. In: Max Weber.
Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wie­
derkehr seines Geburtstages 1964, herausgegeben von K arl Engisch / Bernhard
Pfister / Johannes Winckelmann. Berlin 1966, S. 89 ff., S. 109 f.

87
kelt hat29, und zw ar in Auseinandersetzung mit Verfechtern gei­
steswissenschaftlicher Methoden, die mit Nachdruck auf die Beson­
derheiten des Objektbereiches dieser Wissenschaften hinwiesen und
daraus methodologische Konsequenzen zogen, die ihm nicht akzep­
tabel erschienen. Seine Leistung besteht vor allem darin, daß es
ihm gelang, im Rahmen seiner methodologischen Auffassung diesen
Besonderheiten Rechnung zu tragen, ohne den Denkstil der moder­
nen Wissenschaft preiszugeben.
Das trifft auch auf seine Stellungnahme zur Wertproblematik zu.
Schon in seinen ersten methodologischen Abhandlungen gegen die
von mehr oder weniger versteckten oder als selbstverständlich pro­
pagierten Wertungen durchsetzten Analysen von Vertretern der
Kulturwissenschaften, die sich insofern vom Ideal der reinen Wahr­
heitssuche entfernen, ohne die Fragwürdigkeit dieses Verfahrens zu
erkennen, läßt sich das feststellen. Auch in dieser Hinsicht sucht er
die Konsequenzen des durch die Entwicklung der modernen N atur­
wissenschaften bestimmten Weltbildes für die Kulturwissenschaften
zu ziehen, jenes Weltbildes, das der theologisch bestimmten morali­
schen Interpretation des Weltgeschehens ein Ende bereitet hat, wenn
auch Residuen einer solchen Deutung sich als einigermaßen zäh­
lebig zu erweisen scheinen.
Der Hintergrund seiner Lösung der Wertproblematik besteht
wohl darin, daß er sich gezwungen sah, Werte, Normen und Ideale
nach Wegfall ihrer Verankerung in einem von objektivem Sinn
durchherrschten Kosmos als menschliche Konstruktionen zu behan­
deln statt als objektiv erkennbare Wesenheiten. Wenn aber das
Streben nach Erkenntnis solcher Wesenheiten sich im Rahmen des
modernen Weltbildes als ein sinnloses Unternehmen erwies und eine

29 Vgl. dazu z. B. auch seine Äußerungen zur Problematik des Idealtypus, in


der ja von vielen ein Sonderproblem der Geisteswissenschaften vermutet wird,
etwa in: Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen N a­
tionalökonomie (1903—1906), a.a.O ., S. 130 f., wo noch ein Gegensatz zum
naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff konstruiert wird, und in: Soziologische
Grundbegriffe (19 21), a.a.O., S. 560, wo vergleichsweise auf physikalische Reak­
tionen hingewiesen wird, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raumes
errechnet wurden. In diesem Vergleich steckt meines Erachtens der durchaus
richtige Hinweis, daß es zweckmäßig ist, die Rolle der Idealisierungen in den
Naturwissenschaften in Betracht zu ziehen, wenn man eine adäquate Behand­
lung der Idealtypen-Problematik in den Sozialwissenschaften erreichen will.

88
kognitive Deutung von Werturteilen nicht möglich war, dann gab
es keinen Grund, solche Aussagen in einem auf Erkenntnis gerich­
teten Zusammenhang zuzulassen. Wohl aber war es angebracht, die
sozialen Wirkungszusammenhänge zu analysieren, in denen solche
Konstruktionen eine Rolle spielen, und sie als Tatbestände des so­
zialen Lebens und damit »wertfrei« zu behandeln. In dieser H in­
sicht besteht also ein enger Zusammenhang zwischen seinem Wert­
freiheitsprinzip und jener Entzauberung der Welt durch den Fort­
schritt der Wissenschaft, die ein zentrales Thema seiner soziologi­
schen Forschung w ar30.
Natürlich hat Weber dabei keineswegs behauptet, die Wissen­
schaft sei als solche »wertfrei« in dem Sinne, daß Wertungen, N o r­
men und Ideale keine Bedeutung für den Erkenntnisprozeß haben.
Derartige Anschauungen scheinen ihm die Kritiker des Wertfrei-
heitsprinzips vielfach zu unterstellen, um ihre Angriffe plausibel zu
machen31. Daß für ihn die Wissenschaft ein soziales Unternehmen,
ein institutionell geprägter und damit normativ geregelter Bereich
war, in dem Wertungen, Ideale und Entscheidungen eine wesentliche
Bedeutung haben, dürfte für den Kenner seiner einschlägigen Arbei­
ten kaum zweifelhaft sein. M it der Formulierung seiner Wertfrei­
heitsthese wollte er nicht etwa die soziale Einbettung des wissen­
schaftlichen Erkenntnisprozesses - und damit die erwähnten T at­
bestände - leugnen, im Gegenteil: dieses Prinzip, das selbst norma­
tiven Charakter hat, soll dabei helfen, angesichts dieser Tatbestände
wenigstens eine relative Autonomie des wissenschaftlichen Bereichs
sicherzustellen, damit der Erkenntnisprozeß sich in optimaler Weise
- und das heißt unter anderem: frei von unmittelbaren Einwirkun­
gen politischer Tagesinteressen und frei von ideologischen Einflüs­
sen - entfalten kann32. Es hat überdies eine kritische Funktion ge­

30 Es ist wohl nicht allzu schwierig, nun die Pointe seiner von Marcuse so
leichtfertig behandelten These zu erkennen, daß man Werturteile nicht aus dem
Material der wissenschaftlichen Arbeit deduzieren könne.
31 Vgl. dazu meinen in Anm. j erwähnten Beitrag zur Moser-Festschrift.
32 Talcott Parsons hat mit Recht darauf hingewiesen, daß »der Einbau einer
Reihe empirischer Verallgemeinerungen in eine Ideologie eine Tendenz zur
>Einfrierung< des empirischen Wissens hervorruft. Denn eine Überprüfung dieser
empirischen Verallgemeinerungen würde die ideologische Synthese desorganisie­
ren«. Vgl. Parsons, Intellektuelle Reaktionen auf den Rationalisierungsprozeß. In:
Hochkeppel (Hrsg.), Soziologie zwischen Theorie undEmpirie. München 1970, S. 163.

89
genüber traditionalen Wissensformen und Denkstilen, die die Über­
nahme gängiger Wertungen in den Erkenntnisprozeß erleichtern.
Nicht die Wissenschaft für exogene Wertungen frei zu machen - wie
Marcuse behauptet - ist sein Ziel, sondern gerade: ihre endogenen
Wertungen deutlich zu machen und zur Geltung zu bringen und sie
von exogenen Wertungen so weit unabhängig zu machen, daß eine
unvoreingenommene Wahrheitssuche möglich wird33.
Wie diese endogenen Wertungen beschaffen sind, darüber kann
es kaum einen Zw eifel geben: Orientierung am Wahrheitsideal,
illusionslose Erfassung sozialer Wirkungszusammenhänge, Aufdek-
kung unangenehmer Tatsachen und Ablehnung jenes bloßen Wunsch­
denkens, wie es auch in den Vorstellungen seiner heutigen Gegner
wieder zum Vorschein kommt, stehen für ihn im Vordergrund34.
H ier taucht bei ihm eine Idee rationaler Erkenntnispraxis auf, die
ein Analogon in der politischen Sphäre hat: nämlich in seiner Idee
einer rationalen Politik, wo außer Leidenschaft und Verantwor­
tungsgefühl Augenmaß und Distanz und damit Realismus und Illu-
sionslosigkeit akzentuiert35 und die Distanzlosigkeit und sterile
Aufgeregtheit politischer Dilettanten sowie die Verantwortungslo­
sigkeit rein gesinnungsethischer Aktionen kritisiert werden, wie wir
sie heute wieder im politischen Expressionismus der neuen Linken
vor Augen haben.
Die M ax Webersche Wissenschaftslehre hat also eine ausgespro­
chene kritische Funktion. Die in den traditionellen Wissensformen,
die für die vorindustrielle Gesellschaft typisch sind, dominierenden
und als selbstverständlich akzeptierten Denkgewohnheiten verste-
hend-wertenden Charakters werden von ihm radikal in Frage ge­
stellt. Insofern ist seine Leistung - und zw ar nicht nur in inhalt­
licher, sondern gerade audi in methodisdier Hinsicht - selbst ein Bei­
trag zu jenem Prozeß der Modernisierung, den er zum zentralen
Thema seiner historisch-soziologischen Analyse gemacht hat. Von

33 Vgl. dazu auch Talcott Parsons* Heidelberger Vortrag: Wertgebundenheit


und Objektivität in den Sozialwissenschaften. In: Max Weber und die Soziolo­
gie heute, a.a.O., S. 45 ff.
34 Vgl. dazu u. a. seinen Vortrag: Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, a.a.O.
35 Vgl. dazu Max Weber, Politik als Beruf. In: Gesammelte politische Schrif­
ten, herausgegeben von Johannes Winckelmann. 2. Auflage, Tübingen 1958, S. 533 ff.

90
einer nomologisch orientierten wertfreien Sozialwissenschaft her,
die nur auf Erkenntnis realer Zusammenhänge ausgerichtet ist, wer­
den die überlieferten Wissensformen, die im sogenannten geistes­
wissenschaftlichen Bereich bis zu einem gewissen Grade »aufgeho­
ben« und damit konserviert sind, problematisiert und wegen der
in ihnen vorherrschenden Tendenz, die an sich kognitiv und wertfrei
analysierbaren Wirkungszusammenhänge in objektive Sinnzusam­
menhänge - Residuen des theologisch-metaphysischen Weltbildes -
umzudeuten und einzuordnen und sie dementsprechend werthaft
zu interpretieren, in Frage gestellt. Dabei wird mit der Aufdeckung
der nomologischen Hintergründe gleichzeitig das beschränkte Recht
von Sinndeutungen und Wertsetzungen im Rahmen des modernen
Weltbildes aufgewiesen.
Es ist von daher durchaus verständlich, daß gerade die Verfech­
ter von sozialen Heils- und Erlösungslehren, in denen die Be­
standteile des alten Weltbildes - vor allem seine eschatologisch-
apokalyptischen Komponenten - noch virulent sind, gegen seine
Wissenschaftsauffassung Protest anmelden und sie zu denunzieren
suchen36. Die für die vorindustrielle Gesellschaft charakteristischen
Wissensformen stehen der Alltagssprache und dem Alltagsdenken
noch sehr nahe37, vor allem in der einen Hinsicht, daß sie den na­
türlichen Wertplatonismus dieses Denkens akzeptieren. Im Kon­
text dieser Wissensformen erscheint daher die Forderung nach
Wertfreiheit unplausibel und jedenfalls schwer praktizierbar. Den­
noch liegt der Fortschritt in der von M ax Weber skizzierten Rich­
tung. Die Bereiche, die bisher mehr oder weniger dem Alltags-
denken ausgeliefert waren, das sich ja auch in den Geisteswissen­
schaften bis zu einem gewissen Grade fortgesetzt und behauptet

36 Daß sidi die Vertreter der neuen Linken in die Rückzugsgefechte der
traditionellen Weltauffassung verwickeln lassen in der Annahme, auf diese
Weise theoretische Grundlagen für eine bessere soziale Ordnung in der Zu­
kunft zu gewinnen - vgl. dazu z. B. die Analyse Ernst Topitschs in: Die reak­
tionäre Ideologie der »studentischen Revolution«, in: Club Voltaire IV , a.a.O.,
S. 28 ff. - , erscheint nur dann paradox, wenn man übersieht, daß das Verlan­
gen nach Gewißheit in solchen Bewegungen bedeutend stärker zu sein pflegt
als das Interesse an nüchterner und illusionsloser Erkenntnis.
37 Vgl. dazu das interessante Kapitel 8: Knowledge and Society, in Ernest
Gcllners Buch: Thought and Change, besonders S. 196 ff. und S. 203, vgl. auch
S. 84 ff. zur Bedeutung des platonischen Modells.

9*
hat, werden nun in die moderne Wissenschaft naturalistischen Stils
einbezogen, die um des Erkenntnisfortschritts willen gezwungen ist,
den unmittelbaren Zusammenhang mit der Alltagspraxis durch Bil­
dung abstrakter Theorien und Eliminierung von erkenntnisfrem­
den Wertungen zu lösen. Die Gegner der Weberschen Auffassung
verteidigen hier ein überholtes Ideal der Einheit von Theorie und
Praxis, einer Einheit, die dadurch erzielt wird, daß die praktischen
Wertungen und Entscheidungen in die Analyse des Gegebenen zu­
rückprojiziert und mit ihr verschmolzen werden, so daß der A n­
schein entsteht, sie ergäben sich zwanglos aus dieser Analyse selbst.
Nachdem heute die Mechanismen des Wertplatonismus durchschaut
sind und die Bedeutung des theoretischen Denkens für die Erkennt­
nis und für das praktische Handeln in allen Bereichen offenkundig
wurde, ist diese A rt der Koppelung von Theorie und Praxis frag­
würdig geworden.

j . Wissenschafl und Politik: Wertfreie Erkenntnis und soziale Praxis


im Lichte der Weberschen Konzeption

Das Verhältnis der älteren Wissensformen zur sozialen Praxis er­


schien früher relativ unproblematisch, da in ihnen die praktischen
Entscheidungen - wenigstens prinzipiell - vorweggenommen waren.
Soweit überhaupt Probleme auftraten, waren es vor allem Inter­
pretationsprobleme, und gerade die Interpretation - die Auslegung
von Texten - w ar ja eines der wesentlichen Geschäfte, die sie zu be­
sorgen hatten. Eine hermeneutische Praxis, die darauf angelegt war,
Entscheidungen als Erkenntnisse zu camouflieren, sorgte dafür, daß
die Interessen des alltäglichen Lebens sich innerhalb des Bereichs der
Erkenntnis Geltung verschaffen konnten, ohne daß dieser Einfluß
exogener Wertungen auf den Erkenntnisprozeß zu prinzipiellen
Bedenken Anlaß gab.
Das Vordringen des naturwissenschaftlichen Denkstils mit seiner
Akzentuierung des wertfreien kognitiven Denkens und des nomolo­
gischen Wissens führte, wie schon erwähnt, dazu, daß das Verhält­
nis der Wissenschaft zur sozialen Praxis überhaupt zum Problem
wurde, da eine »reine« Erkenntnis dieser A rt offenbar nicht zur

92
Handlungsorientierung ausreicht. Wohl lassen sich aus ihr unter
Umständen Einsichten über Möglichkeiten des Handelns, über rea­
lisierbare Alternativen sozialer Einwirkung, gewinnen, aber einen
Anhaltspunkt für die richtige Entscheidung zwischen solchen Mög­
lichkeiten scheinen sie nicht mehr zu geben. Der Wille scheint hier
aller Bindungen durch das Wissen entraten zu müssen. Darin darf
man wohl auch die Grundlage des neomarxistischen Vorwurfs se­
hen, die moderne Wissenschaft liefere durch ihre positivistische
Wertabstinenz die Werte der Irrationalität willkürlicher Entschei­
dungen aus, während sie andererseits durch ihre relative Autonomie
sich in ihrer Entwicklung von den wahren Interessen der Gesellschaft
emanzipiert habe. Die Auflösung der traditionellen Einheit von
Theorie und Praxis scheint also nicht nur die Gesellschaft, sondern
darüber hinaus auch die Wissenschaft selbst steuerlos dem Zufall
und der Willkür preisgegeben zu haben. Angesichts dieser Tatsache
scheint sich die Frage stellen zu müssen, wie bei Dominanz oder gar
bei ausschließlicher Geltung dieser modernen Form des Wissens eine
rationale Praxis möglich sei: für den Bereich der Erkenntnis wie für
den der Politik. Mit ihr hängt die weitere Frage zusammen, wie
dann das Verhältnis von Wissenschaft und Politik unter dem G e­
sichtspunkt der Rationalität zu bestimmen sei.
Wissenschaft und Politik sind, so scheint es, soziale Bereiche, die
im Zeichen der Wertfreiheit scharf voneinander geschieden sein
müssen. Zw ar sei, so könnte man annehmen, auf dieser Grundlage
eine genaue Abgrenzung zwischen ihnen möglich, aber eben diese
Abgrenzung müsse das Problem einer möglichen rationalen Praxis
erst so schwierig machen. Die Politik wird - ebenso wie die Wis­
senschaft selbst - gewissermaßen »freigesetzt« und damit abge-
sdiirmt gegen exogene Einflüsse, aber damit scheint sie auch ihren
H alt zu verlieren. Das hermeneutische Halteseil, das ihr von den
älteren Wissensformen angeboten wurde, wird ihr nun entzogen.
Diejenigen, denen die dadurch gewonnene Freiheit problematisch
erscheint, sind gerne bereit, dieses Halteseil zu erneuern: durch In­
stallierung einer neuen politischen Theologie. An dieser Situation
hat sich seit M ax Webers Analysen nicht allzuviel geändert. Es ist
daher nicht ganz abwegig, in seinen Arbeiten nach Anhaltspunkten
für die Lösung dieser Probleme zu suchen.

93
Was zunächst die Frage der Abgrenzung von Wissenschaft und
Politik angeht, so handelt es sich hier um einen Spezialfall eines
sehr allgemeinen Problems. Zwischen den verschiedensten Bereichen
unseres sozialen und intellektuellen Kosmos pflegt man immer wie­
der Abgrenzungen vorzunehmen, die nicht selten mit Autonomie­
ansprüchen für diese Bereiche verbunden sind. Oft scheint die Ab­
sicht im Vordergrund zu stehen, eine gewisse Kompetenzregelung
herbeizuführen, um »Obergriffe« zu verhindern. Durch adäquate
Abgrenzung w ill man sich gegen Einflüsse aus anderen Bereichen
abschirmen. Das mag sehr oft einen guten Sinn haben, besonders
wenn es sich um die Abwehr von Zwang handelt. Allerdings gibt es
da auch Gefahren, die man sich deutlich machen sollte, vor allem die
Gefahr der Immunisierung gegen relevante Ideen und Argumente
aus anderen Bereichen, und, damit zusammenhängend: die Gefahr
der Dogmatisierung bereichsgebundener Problemlösungen. Gefah­
ren dieser A rt können sich zum Beispiel ergeben, wenn die Abgren­
zungen zwischen Metaphysik und Wissenschaft, zwischen Ethik und
Wissenschaft, zwischen Kunst und Wissenschaft oder auch die zw i­
schen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen - etwa der So­
ziologie, der Psychologie und der Ökonomie - zu ernst genommen
werden. Die institutionelle Sicherung solcher Bereichsabgrenzun­
gen - wie sie ja zum Beispiel oft in der wissenschaftlichen Arbeits­
teilung gegeben ist - kann negative Folgen für den Erkenntnis­
fortschritt haben, sosehr andererseits auch die Möglichkeit der
Konzentration auf enge Problembereiche oft von Vorteil sein
mag.
Nicht selten stößt man auf ein essentialistisches Mißverständnis
solcher Abgrenzungen, das der Immunisierung gegen K ritik aus
anderen Bereichen besonders förderlich ist. Man glaubt, das Wesen
einer bestimmten Wissenschaft oder der Wissenschaft überhaupt, das
Wesen von Kunst, Wirtschaft, Recht oder Politik zu bestimmen, wo
es sich in Wirklichkeit um historisch wandelbare normative Regulie­
rungen und institutionelle Abgrenzungen handelt, wo es um Ideale,
Programme und Paradigmata geht, die in den betreffenden Berei­
chen dominieren und insofern für sie wesentlich sind.
In bezug auf unser spezielles Problem, die Beziehungen zwischen
Wissenschaft und Politik, kann also keineswegs behauptet werden

94
und es wäre ein Mißverständnis, M ax Webers diesbezügliche Aus­
führungen so zu deuten die Wissenschaft sei ihrem Wesen nach
wertfrei und daher der Politik gegenüber autonom, aus dem Wesen
von Wissenschaft und Politik ergebe sich also eine scharfe Abgren­
zung beider Bereiche, die deren gegenseitige Immunität involviere.
Die Wissenschaft läßt sich vielmehr als ein institutionell - wenn
auch nicht sehr genau - abgrenzbarer Bereich auffassen, in dem de
lacto die verschiedensten Denkstile, Erkenntnisprogramme und
Wissensformen auf treten, auch solche, in denen Sinndeutungen und
Wertsetzungen aller A rt an der Tagesordnung sind. Dieser Bereich
ist in modernen Gesellschaften großenteils auf den Erkenntnisfort-
siliritt hin organisiert, wobei sich das naturwissenschaftliche Para­
digma, das mit den auffallendsten Erfolgen in dieser Hinsicht ver­
bunden ist, in immer stärkerem Maße durchsetzt. Die institutioneile
Abschirmung dieses Bereichs gegen unmittelbaren exogenen politi­
schen Druck ist meist keineswegs vollkommen, aber doch in vielen
I ändern und für einen großen Teil wissenschaftlicher Disziplinen
einigermaßen weit entwickelt. Damit sind natürlich nicht alle Mög­
lichkeiten von Einflüssen zwischen diesen sozialen Bereichen ausge-
schaltet.
Wenn w ir nun auf unsere oben formulierte Rationalitätsproble­
matik zurückkommen, dann ist es meines Erachtens angebracht, sie
durchaus im Einklang mit wesentlichen Zügen der Webersdien
Konzeption - als ein Überbrückungsproblem aufzufassen, das Pro­
blem nämlich, wie zwischen wertfreier Erkenntnis und sozialer
Praxis eine Brücke hergestellt werden kann, so daß rationale Pro­
blemlösungen erreichbar sind38.
Für die Lösung dieses Problems kann man davon ausgehen, daß
die am Prinzip der kritischen Prüfung orientierte Erkenntnispraxis
im Bereich der Wissenschaft, wie sie vor allem für den naturwissen­
schaftlichen Denkstil charakteristisch ist, selbst ein Modell der Ratio­
nalität exemplifiziert, das auch für andere soziale Bereiche in Be­
tracht kommt39. Darüber hinaus können die Erkenntnisse, die in

38 Zur Überbrückungsproblcmatik vgl. mein in Anm. 17 erwähntes Buch,


a.a.O., S. I X f., S. 73 ff., S. 104 ff., S. 173 ff. Die Philosophie hat es immer
wieder typischerweise mit derartigen Überbrückungsproblemen zu tun.
39 Vgl. dazu mein o. a. Buch.

95
diesem Bereich produziert werden, soweit sie dafür relevant sind,
bei der Lösung sozialer und politischer Probleme aller A rt verwer­
tet werden, da grundsätzlich alle Problemlösungen einen kognitiven
Aspekt besitzen. Insoweit erlaubt die im Sinne M ax Webers wert­
freie Wissenschaft natürlich die Analyse und Diskussion von Pro­
blemen aller Art, so daß der Einwand, die Forderung der Wertfrei­
heit involviere eine wesentliche Beschränkung, nicht stichhaltig ist.
Die relative Autonomie der Wissenschaft in modernen Gesellschaf­
ten bedeutet unter anderem auch die institutioneile Sicherung eines
Bereiches der freien und ungehinderten Diskussion von Problemen
und Problemlösungen aller Art, auch von solchen, die große mora­
lische oder politische Relevanz besitzen. Die Relevanz bestimmter
Probleme unter gewissen Wertgesichtspunkten bedeutet ja nicht,
daß ihre Diskussion die Produktion von Werturteilen erforderlich
machen würde. M ax Weber selbst hat sich bekanntlich ausdrücklich
über das Problem einer sachlichen Wertdiskussion geäußert und da­
bei unter anderem die Möglichkeit einer rationalen K ritik von
Werturteilen gezeigt40.
Wenn man sich nun die Frage stellt, inwieweit die Auffassungen,
die M ax Weber über die Eigenart der wissenschaftlichen Arbeit und
über den Charakter des politischen Handelns entwickelt hat, unter
ethischem Gesichtspunkt Gemeinsames enthalten, so muß die Ant­
wort meines Erachtens lauten, daß diese Gemeinsamkeit in einer
nach Weber für beide Bereiche gültigen Verantwortungsethik zu
sehen ist. Weber ist, wie aus seinen Arbeiten zu diesen Problemen
hervorgeht, der Überzeugung, daß man nicht nur für seine Hand­
lungen - im üblichen engeren Sinne dieses Wortes - , sondern darüber
hinaus für sein Denken und damit auch für die durch dieses Denken
geformten Überzeugungen verantwortlich ist. Das ist, wenn man
die Rolle von Entscheidungen in der Erkenntnis berücksichtigt, ohne
weiteres zu verstehen41. Wer bereit ist, von Erkenntnispraxis zu

40 Vgl. dazu z. B. Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlidier


und sozialpolitischer Erkenntnis, a.a.O., S. 149 ff.
41 Vgl. dazu: J . W. N. Watkins, Entscheidung und Überzeugung. In: Albert/
Topitsch (Hrsg.), Werturteilsstreit. Darmstadt 1970; sowie das III. Kapitel mei­
nes o. a. Buches; vgl. dazu auch den Abschnitt über Loyalität und Wahrheit in
Walter Kaufmanns Buch: Religion und Philosophie. München 1966, S. 389 ff., so­
wie sein Buch: Der Glaube eines Ketzers. München 1965, passim.

96
•prcchen, der wird gegen die Ausdehnung der ethischen Fragestel­
lung auf den Bereich des Denkens und Erkennens und damit auf
den Bereich der Wissenschaft kaum Einwände zu machen
haben.
'/.wischen der Weberschen Forderung nach intellektueller Recht-
'¡iliaiTenheit - einer Forderung, die ohne Zweifel ethischen Charak-
irr hat - und seinem methodisdien Wertfreiheitsprinzip scheint mir
«in enger Zusammenhang zu bestehen, der sich etwa auf folgende
Formulierung bringen läßt: Wer im Bereich der dem Wahrheits-
iilc.il verpflichteten Wissenschaft verantwortlich vorgehen will, muß
intellektuelle Rechtschaffenheit praktizieren, und das bedeutet nach
unserem heutigen Erkenntnisstand unter anderem, daß er keinen
Versuch machen darf, seine Wertungen im Namen der Erkenntnis
/ u verkünden und zu propagieren, obwohl er sich darüber klar sein
muß, daß der Erkenntnisprozeß von Wertungen und Entscheidun­
gen durchsetzt ist. Ähnliches dürfte auch für Versuche gelten, im
Namen der Erkenntnis dem Kosmos oder der Geschichte einen ob-
jrluiven Sinn zu unterlegen. Daraus ergibt sich unter anderem, daß
Wissenschaft als Anklage, Appell oder Verheißung, daß Prophetie
im Gewände der Wissenschaft verantwortungslos und daß illusio­
näres Denken und die Erweckung von Illusionen irgendwelcher Art
unter Ausnutzung des Prestiges der Wissenschaft ebenfalls nicht
vertretbar ist42. Intellektuelle Rechtschaffenheit w ar für ihn in kei­
ne! Weise damit vereinbar, daß man dem alltäglichen Verlangen
nach absoluter Gewißheit, nach Rechtfertigung und nach Illusionen
ii gendwelcher A rt entgegenzukommen versuchte. Parteilichkeit
des Denkens und ideologische Aussagesteuerung im Namen irgend­
einer politischen Theologie - sei sie nun katholischer, protestan-
i im her, marxistischer oder anarchistischer Provenienz - ist mit sei­
ner Idee rationaler Erkenntnispraxis ebensowenig vereinbar wie4 1

41 Max Weber war, wie Marianne Weber in ihrem o. a. Buch schildert —


e.i O., S. 644 ff. —, zu Ende des Ersten Weltkrieges mit der Sehnsucht der Jun­
gen nach neuer Prophetie konfrontiert, aber er gab diesem Verlangen nicht —
wir das heute von manchem für legitim gehalten wird - nach, sondern er ver­
nichte ihnen die Bedeutung der »verhaßten Wissenschaftlichkeit« klar zu
machen, »die keinen einfachen Weg zur Lösung der praktischen Probleme
zeigt, weil sie ein ganzes Gewebe ineinander verschlungener Vorgänge über­
sieht«.

97
eine Politisierung der Universität unter solchen Gesichtspunk­
ten43.
Auch über die Bedeutung der Wissenschaft für die soziale Praxis
in anderen Bereichen hat sich M ax Weber bekanntlich in seinen A r­
beiten geäußert. Die Problematik einer »Vermittlung« von Theorie
und Praxis w ar ihm wohlvertraut, und sein Wertfreiheitsprinzip
hat ihn nicht daran gehindert, brauchbare Lösungen dafür vorzu­
schlagen. In dieser Hinsicht sind vor allem seine Äußerungen zur
Rolle der Wissenschaft in der Wertdiskussion und zur Konstruier-
barkeit praktisch verwertbarer technologischer Systeme von Bedeu­
tung44, darüber hinaus aber auch seine Erörterungen über die Lei­
stung der Wissenschaft für das praktische und persönliche Leben45.
Aus seinen Ausführungen zu diesen Problemen geht eindeutig her­
vor, daß für ihn die Bedeutung der Wissenschaft für die Praxis
keineswegs nur in ihrer technischen Verwertbarkeit bestand, wie
man auf Grund der heute üblichen K ritik am Wertfreiheitsprinzip
annehmen müßte, sondern daß gerade die in seinem Sinne wertfreie
Wissenschaft darüber hinaus erhebliche Bedeutung für die Wert­
orientierung und damit auch für die Bildung von Zielsetzungen und
für die praktische Stellungnahme hat, und zw ar im wesentlichen
dadurch, daß sie K ritik auf der Grundlage von Erkenntnissen er­
möglicht46.
Daraus geht also hervor, daß nach Weber die wertfreie Wissen­
schaft sowohl kritisch als auch konstruktiv für die soziale Praxis in
anderen Bereichen verwertbar ist. Wenn man die für seine histo­
risch-soziologische Gesamtkonzeption ohne Zweifel zentrale Rolle
der Rationalisierung und Intellektualisierung und die Bedeutung

43 Selbstverständlich ist die Untersuchung sozialer Bedingungen und Kon­


sequenzen der wissenschaftlichen Forschung und der technischen Entwicklung ein
mögliches Thema wertfreier Wissenschaft. Eine Politisierung der Universität
dürfte allerdings für Untersuchungen dieser Art eher hinderlich sein.
44 Vgl. dazu z. B. Max Weber, die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher
und sozialpolitischer Erkenntnis, a.a.O ., S. 149 ff., und: Der Sinn der »Wert­
freiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, a.a.O., S. 537 ff.
4j Vgl. dazu: Max Weber, Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte Aufsätze zur
Wissenschaftslehre, a.a.O., S. 607 ff.
46 Allerdings hat Weber eine These der Kritikimmunität letzter Wertungen
vertreten, die eine Grenze dieser Möglichkeit andeutet; vgl. dazu kritisch meinen
o. a. Aufsatz: Theorie und Praxis, und das I II . Kapitel meines o. a. Buches.

98
der Wissenschaften für diesen Prozeß berücksichtigt, die ja großen­
teils in einer K ritik überlieferter Glaubensbestände besteht, dann
kann man die beiden Weisen der praktischen Verwertung der Wis­
senschaft wohl einigermaßen zutreffend umschreiben mit den Wor­
ten »Aufklärung« und »Steuerung«*1. Daß eine wertfreie, auf nomo-
logisches Wissen abzielende Wissenschaft nicht nur zur Steuerung
natürlicher und sozialer Prozesse - etwa mittels adäquat konstruier­
ter technologischer Systeme - , sondern auch zur K ritik an Wert-
und Sachauffassungen aller A rt auf Grund neuer Erkenntnisse und
damit zur Aufklärung herangezogen werden kann, ist eine Tat-
iche, die von den Kritikern der Weberschen Auffassung im allge­
meinen nicht berücksichtigt wurde, obwohl diese kritische Verwen­
dung wissenschaftlicher Ergebnisse gerade auch zur Unterminierung
derjenigen Auffassungen führen muß, von denen her die Webersche
l’osition heftigen Angriffen ausgesetzt war, zum Beispiel der ver-
sdiiedenen Versionen politischen Heils- und Erlösungswissens. In
beiden Funktionen kann die auf den Erkenntnisfortschritt hin orien-
lierte Wissenschaft als möglicher Schrittmacher der Modernisierung
und der Reform, der Verbesserung bisheriger Problemlösungen in
•tllen Bereichen der Gesellschaft, auch im politischen Bereich, ange­
sehen werden.
Audi seine Konzeption rationaler Praxis für den politischen Be­
reich verweist meines Erachtens zurück auf das, was er über die
Bedeutung der Wissenschaft gesagt hat. Es kann kaum einem Zw ei­
fel unterliegen, daß er rationales Problemlösungsverhalten in die­
sem Bereich vor allem durch Rekurs auf Gesichtspunkte der Verant­
wortungsethik kennzeichnet48. Wer in der Politik rational entschei­
den will, muß die Konsequenzen seines Handelns in Rechnung stel­
len und muß daher, so darf man folgern, die Realisierbarkeit seiner
Pläne bedenken. Es kommt also für ihn nicht darauf an, seiner rei-
47 Vgl. dazu meinen Rezensionsaufsatz: Sozialwissenschaft und politische
Praxis. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 1968, L IV , S. 271 ff.
48 Wolfgang Schluchter weist allerdings mit Recht darauf hin, daß hier eine
Unklarheit bei Weber vorliegt, die auf mehrdeutige Verwendung der beiden
Ausdrücke »Verantwortungsethik« und »Gesinnungsethik« zurückgeht; vgl.
Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik: Zum Verhältnis von Wis­
senschaft und Politik bei Max Weber, S. 1 6 (erscheint demnächst). Ich knüpfe an
die Verwendungsweise an, nach der hier a l t e r n a t i v e und daher miteinander u n ­
v e r e in b a r e Gesichtspunkte vorliegen.

99
nen Gesinnung Ausdruck zu verleihen, sondern zwischen realisier­
baren Alternativen zu wählen, um bestimmte verantwortbare E r­
folge zu erzielen49. Der Politiker bedarf nach Weber vor allem »des
Augenmaßes, der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung
und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Din­
gen und Menschen«50. E r muß also offenbar trotz leidenschaftlicher
Hingabe an eine Sache den gleichen Wirklichkeitssinn und die gleiche
sachliche Nüchternheit besitzen, die Weber vom Wissenschaftler er­
wartete. Dazu gehört vor allem die Bereitschaft, unangenehme T at­
sachen zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, und der Ver­
zicht auf Illusionen.
Wenn man das, was Weber in seinen wissenschaftstheoretischen Un­
tersuchungen zur Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis ge­
sagt hat, zur Deutung seiner Konzeption politischer Rationalität
mit heranzieht, so ergibt sich hier ein wesentlicher Zusammenhang
zwischen einer nomologisch orientierten Wissenschaft und einem
verantwortungsethisch geprägten politischen Handeln, wobei Wert­
diskussionen und technologische Transformation des Wissens eine
Uberbrückungsfunktion haben. Soweit die Wissenschaft zu politi­
schen Problemlösungen beitragen kann, wird der unter verantwor­
tungsethischem Gesichtspunkt handelnde Politiker die Ergebnisse
und Methoden der Wissenschaft für seine Entscheidungen heranzie­
hen müssen. Das bedeutet natürlich nicht, daß diese Entscheidungen
aus Resultaten der Wissenschaft deduzierbar, wohl aber, daß ent­
scheidungsrelevante Überzeugungen sachlichen wie werthaften
Charakters auf Grund solcher Resultate korrigierbar sind und daß
daher Zielsetzung und Mittelwahl letzten Endes einer kritischen
Durchleuchtung unter Verwertung solcher Ergebnisse unterliegen.
Hinsichtlich der Mittel, deren sich der Politiker bedienen muß,
um Erfolge zu erreichen, hat M ax Weber besonders darauf hinge­
wiesen, daß er vor allem auf ein sehr spezifisches Mittel angewiesen
ist, nämlich: »Macht, hinter der Gewaltsamkeit steht«51. D a nach
ihm »keine Ethik der Welt« etwas darüber sagen kann, »wann und

49 Vgl. dazu Max Weber, Politik als Beruf. In: Gesammelte politische
Schriften, a.a.O., S. 539 ff.
50 A.a.O ., S. 334.
51 A.a.O ., S. 338.

IOO
in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen
Mittel und Nebenerfolge >heiligt<«, und da in zahlreichen Fällen
der Krfolg an die Verwendung bedenklicher oder gefährlicher Mittel
gebunden ist52, entsteht hier ein schwieriges Abwägungsproblem, spe­
ziell hinsichtlich der Anwendung von Gewalt. Gerade die Lösung
dieses Problems erfordert aber unter verantwortungsethischem G e­
sichtspunkt in besonderem Maße Nüchternheit und Illusionslosigkeit.
Weber geht in diesem Zusammenhang auf eine alte Erfahrung
ein, die auch heute wieder gemacht werden kann, die Erfahrung
nämlich, daß die gesinnungsethischen Gegner aller Gewaltanwen­
dung nicht selten zu chiliastischen Propheten werden, die zur letzten
Gewalt aufrufen, um einen Zustand herbeizuführen, der das Ende
■ illcr Gewaltsamkeit bringen soll53. Illusionär-utopisches Denken,
d.is sich etwas auf seine moralische Überlegenheit zugute hält, kann
so zu erhöhter Gewaltanwendung, zur Verhinderung rationaler
I Äsungen im politischen Bereich und damit zu verantwortungslosen
Entscheidungen führen, für die eine Rechtfertigung in rational un­
vertretbaren sinnhaften Totaldeutungen des Kosmos oder der G e­
schichte gesucht zu werden pflegt. Der religiöse und der revolutio­
näre Glaubenskämpfer, der auf diese Weise denkt und handelt,
kann die Wissenschaft bestenfalls partiell und technisch gebrauchen.
Da ihm eine instrumentale Deutung ihrer Wissensbestände für seine
/wecke genügt, pflegt er ihre kritische Funktion zu übersehen und
sich dafür die totale, aber irrationale K ritik zu eigen zu machen, die
sich aus religiösen oder säkularen Heilslehren ableiten läßt.

4. Kritik der politischen Theologie

Es ist also keineswegs so, daß die Annahme des Wertfreiheitsprin-


zips im Weberschen Sinne die Lösung des Problems einer rationalen
Praxis - insbesondere: des Problems einer rationalen Politik - un­
möglich machen würde; im Gegenteil, sie ermöglicht sogar eine be­
stimmte Lösung dieses Problems, eine solche allerdings, die von den
Verfechtern einer totalen Vernunft geschichtsphilosophischer Prä-
52 A.a.O ., S. 540.
53 A.a.O ., S. 541.

IOI
gung, den modernen politischen Theologen, abgelehnt wird. P oli­
tische Problemlösungen aus dem Sinn der Geschichte zu deduzieren
ist ein Unterfangen, das von einem Rationalitätsmodell Weberscher
Prägung her als in höchstem Grade irrational zurückgewiesen wer­
den muß. Der Anspruch, »das Ganze« als sinndurchwirkte Einheit
in für alle verbindlicherWeise zu erfassen, wenn auch in einerWeise,
die offenbar nur wenigen möglich ist — denjenigen nämlich, denen
auf irgendeine A rt ein Erkenntnisprivileg zuteil geworden ist —,
und aus dem »Begriff des Ganzen« für alle verbindliche Ent­
scheidungen gewinnen zu können, ein solcher Anspruch kann sich
nur auf Illusionen über menschliche Möglichkeiten, auf ein Wunsch­
denken gründen, wie es in theologisdien Lehren immer schon hei­
misch war.
Was haben die Verfechter der modernen politischen Theologie,
die sich mit solcher Vehemenz gegen die Webersche Lehre wenden,
als Alternative zu bieten? Worin besteht die Eigenart und worin
bestehen die Vorzüge der von ihnen vertretenen Lösung des Pro­
blems einer rationalen Praxis? Um es kurz zu sagen: Die Eigenart
dieser Lösung besteht darin, daß man die Bewertungen und Ent­
scheidungen, die man bevorzugt, in irgendeiner Weise in den Ge­
schichtsprozeß als ganzen projiziert, so daß schon die Analyse der
jeweiligen sozialen Situation damit infiziert wird und sich daraus
mehr oder weniger zwanglos praktische Konsequenzen ergeben, die
nun durch die A rt ihrer Gewinnung die Weihe einer dem normalen
wissenschaftlichen Denken überlegenen Vernunft erhalten.
Der wesentliche Vorteil dieses Verfahrens kann wohl darin gese­
hen werden, daß es durch radikale Vereinfachung der zu bewälti­
genden Situation die Entscheidung erleichtert und darüber hinaus
den Handelnden nicht nur subjektiv von der Verantwortung ent­
lastet, sondern ihm überdies die Gewißheit verschafft, auf der rich­
tigen Seite zu kämpfen, der Seite, die das Recht und auf die Dauer
auch den Erfolg für sich buchen kann. Daß sich unter diesem Ge­
sichtspunkt auch die Frage der Gewaltanwendung leicht beantwor­
ten läßt, versteht sich von selbst. Als legitim kann die Anwendung
von Gewalt dann nur erscheinen, wenn sie zugunsten derjenigen
Kräfte erfolgt, denen der Sinn der Geschichte in dieser Weise geof-
fenbart wurde.

102
Nun ist die Tatsache, daß für das praktische Handeln im allge­
meinen die Notwendigkeit besteht, relativ komplexe Situationen
zu vereinfachen, sie auf wenige einigermaßen überschaubare Alter­
nativen zu reduzieren, um einen Entschluß zu ermöglichen, jedem
vertraut, der sich mit der Analyse von Entscheidungen befaßt hat54.
Auch wer sich Mühe gegeben hat, die Konsequenzen der in Betracht
kommenden Alternativen zu analysieren, muß sich bei realistischer
Einstellung doch darüber im klaren sein, daß er jedenfalls auf ra­
tionale Weise keine Gewißheit über die Richtigkeit seiner Entschei­
dung erlangen kann5556 . Eine politische Theologie, die die für prak­
tische Entscheidungen notwendige Vereinfachung komplexer Situa­
tionen durch extreme Polarisierung radikalisiert und sie schon in
die Kosmos- oder Geschichtsdeutung zurückverlegt, trägt also den
subjektiv oft sehr belastenden Schwierigkeiten menschlicher Ent-
•.dieidungssitutionen in geschickter Weise Rechnung. Sie erleichtert
die Parteinahme durch ein Freund-Feind-Denken auf höherer kos-
mologischer oder geschichtsphilosophischer Ebene und erzeugt sub­
jektive Gewißheit auch da, wo bei realistischer Betrachtung nur
mehr oder weniger große Ungewißheit herrschen kann.
Die Verbindung von totaler K ritik und Alternativ-Radikalis-
mus, die dadurch zustande kommt58, ist eine in der Geschichte immer
wieder auf getretene und sehr wirksame Denkweise, die man nach
einer ihrer religionsgeschichtlich bedeutendsten Ausprägungen »Ma-
nichäismus« genannt hat57. Dieser Manichäismus wird, wie Walter
Kaufmann feststellt, so leicht nicht aussterben, weil er die Menschen
dazu einlädt, sich selbst als die Kinder des Lichts zu sehen und ihre
Feinde als die Mächte der Finsternis. Der Hunger nach dem

54 Vgl. dazu z. B. David Braybrooke/Charles E. Lindblom, A Strategy of


Decision. Policy Evaluation as a Social Process. New York/London 1963,
passim, sowie G. L. S. Shackle, Decision, Order and Time in Human Affairs.
Cambridge 1961, passim.
55 Auch in den ökonomischen Disziplinen scheint man heute im allgemeinen
die Entscheidung bei Gewißheit als einen irrealen Grenzfall anzusehen, der
bestenfalls als Idealisierung theoretische Bedeutung erhalten kann.
56 Vgl. dazu meinen o. a. Aufsatz: Politische Theologie im Gewände der
Wissenschaft.
57 So Walter Kaufmann in seiner außerordentlich interessanten historischen
Analyse und Kritik in seinem Aufsatz: Black and White. In: Survey, No. 73,
Autumn 1969, S. 22 ff.

103
Schwarz-Weiß-Denken des Manichäismus scheint vielmehr heute, in
einer Zeit, in der die Weltsituation und die Gesellschaftsstruktur
von außerordentlicher Komplexität sind, vor allem in der Jugend
größer zu sein denn je zuvor58. Das Gewißheitsverlangen, das hinter
dieser Bereitschaft zu erkennen ist, derartige Totaldeutungen dicho-
tom wertenden Charakters zu akzeptieren, steht zu der in der mo­
dernen Wissenschaft verkörperten Idee rationaler Wahrheitssuche
in diametralem Gegensatz; daher der verständliche Eifer, einen
neuen »Wissenschaftsbegriff« durchzusetzen, der diesem Heilswis­
sen in ausreichendem Maße Rechnung trägt.
Herbert Marcuse ist ein klassischer Vertreter solchen Denkens
und damit ein natürlicher Feind der M ax Weberschen Lehre59. Seine
K ritik unserer Gesellschaft enthält, wie Kaufmann betont, wenig,
was nicht schon von anderen gesagt wurde. Im Gegensatz zu ande­
ren Kritikern schreibt aber Marcuse alle vorhandenen Übelstände
einem System zu, dessen radikale Beseitigung die Realisierung einer
quasi vollkommenen Gesellschaft ermöglichen würde60. Sein
Glaube an die Notwendigkeit einer totalen Umkehr, einer reini­
genden Katastrophe, läßt ihm nur die Wahl zwischen Revolution
und Resignation, so daß seine Anhänger die für Reformen wenig
zuträgliche Disposition erwerben, zwischen Apathie und Gewalt
zu schwanken, wobei allerdings die Anwendung von Gewalt de
facto oft symbolisch-expressiver N atur ist. Daß, wer in dieser Weise
die komplizierte historische Situation zu simplifizieren vermag, den
Denkstil der modernen Wissenschaft - als »eindimensionales Den­
ken« etwa61 - zu diffamieren versucht, ist nur allzu verständlich.
Daß er, der auf Grund solcher Simplifikation die ganze Wahrheit
und das ganze Recht nur auf einer Seite sieht, die Toleranz in einem
zugestandenermaßen unvollkommenen sozialen System als repres­

58 Vgl. Walter Kaufmann, a.a.O., S. 29 ff. und S. 33.


59 Walter Kaufmann bemerkt mit Recht über seinen Essay »Repressive Tole­
ranz« (in: R. P. Wolff/B. Moore/H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz.
Frankfurt 1966, S. 93 ff.), daß es schwer sein würde, einen in stärkerem Maße
manichäischen Traktat eines Philosophen von einigem Ruf zu finden. Darin be­
stehe das Geheimnis seiner Popularität; vgl. Kaufmann, a.a.O., S. 35 f.
60 Zur Marcuse-Kritik vgl. auch Rolf Hochhuths Beitrag: Der alte Mythos
vom >neuen< Menschen. In: Club Voltaire IV.
61 Vgl. dazu Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 139 ff.

104
siv zu denunzieren sucht, so daß Intoleranz zur Tugend wird, ist
durchaus konsequent.
Marcuses Auffassungen stellen zwar in mancher Hinsicht eine
extreme Version des Neo-Marxismus dar, aber gewisse Züge dieser
Version sind auch in den anderen zu finden, so die Inanspruchnahme
höherer Vernunft für eine Geschichtsphilosophie, von deren Sinn­
offenbarungen her die Praxis bestimmt werden soll62, und die totale
Kritik, die von dieser Konzeption gespeist wird.
A uf dem Hintergrund einer kritischen Rationalität, wie sie in
den Arbeiten M ax Webers zum Ausdruck kommt, müssen sich der­
artige Lehren, obwohl sie sich nicht nur im Gewände der Wissen­
schaft präsentieren, sondern darüber hinaus mit einer höheren Ver­
nunft auch noch gleichzeitig eine höhere Moral für sich in Anspruch
nehmen, als Produkte unverantwortlichen Denkens ausnehmen, die
geeignet sind, verantwortungsloses Handeln zu inspirieren. Wer
die Wissenschaft benutzt, um den religiösen oder politischen Glau-
benskampf zu legitimieren, statt um Nüchternheit und Realismus zu
verbreiten und daher die Illusionen zu zerstören, von denen sich
kompromißlose Glaubenskämpfer zu Aktionen stimulieren lassen,
der muß sich gefallen lassen, daß man ihn des Rückfalls in über­
wundene Denkmuster zeiht, in Denkmuster, die den Wissensformen
der vorindustriellen Gesellschaft zuzurechnen sind. M ax Weber hat
sich nie dazu verstehen können, dem starken Verlangen nach sinn-
liafter Totaldeutung entgegenzukommen, das auch er damals zu
spüren bekam. Seine Idee verantwortlichen Denkens und Handelns
hat es ihm nicht erlaubt, sich im Namen der Wissenschaft als Pro­
phet zu gerieren und dabei ein Wissen für sich zu beanspruchen, das
auf dem Hintergrund des modernen Weltbildes nicht mehr akzepta­
bel ist.

62 Für eine knappe Analyse der Dekomposition des Neo-Marxismus vgl. Ernst
Topitsch, Die Freiheit der Wissenschaft und der politische Auftrag der Universi­
tät, 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1969, Nachwort zur zweiten Auflage, S. 61 ff.
Hermeneutik und Realwissenschaft:
Die Sinnproblematik und die Frage der theoretischen Erkenntnis

i. Der theologische Hintergrund des modernen Anti-Naturalismus


und die Lehre von den Wissensformen

Daß theologische Denkweisen in starkem Maße die Voraussetzun­


gen, Fragestellungen und Antworten der neuzeitlichen Philosophie
bestimmt haben - und zw ar sowohl in ontologischer wie in episte-
mologischer Hinsicht gehört zu den Tatsachen, die heute kaum
mehr besonders betont werden müssen1. Die Bedeutung des Offen­
barungsmodells für die Erkenntnistheorie und die des eschatolo-
gischen Denkens für die Geschichtsphilosophie2 hat man in den letz­
ten Jahren zum Gegenstand kritischer Untersuchungen gemacht, de­
ren Resultate vieles fragwürdig erscheinen lassen, was uns heute
gerade auch im deutschen Sprachbereich als Ergebnis einer philoso­
phischen Neuorientierung präsentiert wird, denn die Grundlagen
dieser Neubesinnung gehören zu eben den Ingredienzien des neu­
zeitlichen Philosophierens, die durch diese K ritik getroffen werden.
Das bezieht sich unter anderem auch auf das hermeneutische Den­
ken, das vor allem durch Heidegger und seine Schüler zu einer uni­
versalen Sichtweise mit eigenartigen ontologischen Ansprüchen er­
hoben wurde3 und seitdem nicht nur die Entwicklung der Philo­
sophie, sondern darüber hinaus das Selbstverständnis der Geistes-
1 Vgl. dazu etwa K arl R . Popper, On the Sources of Knowledge and Igno-
rance, in seinem Aufsatzband: Conjectures and Refutations. London 1963; K arl
Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietz­
sche. Göttingen 1967, sowie Ernst Topitsch, Vom Ursprung und Ende der Meta­
physik. Eine Studie zur Weltanschauungskritik. Wien 1958, und andere Arbeiten
dieses Autors.
2 Zum ersten Problem vgl. Popper, a.a.O., zum zweiten: Löwith, Weltge­
schichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichts­
philosophie. Stuttgart 1953, sowie Topitsch, Marxismus und Gnosis, und: Ent­
fremdung und Ideologie. Zur Entmythologisierung des Marxismus, beides in
seinem Aufsatzband: Sozial Philosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft. 2.
Auflage, Neuwied/Berlin 1966.
3 Vgl. dazu Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927). 7. Auflage, Tübingen
1953, sowie Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer
philosophischen Hermeneutik. 2. Auflage, Tübingen 1965.

10 6
Wissenschaften und die in ihnen wirksamen methodologischen A u f­
fassungen erheblich beeinflußt hat, vor allem, indem es den für diese
Wissenschaftsgruppe seit langem charakteristischen methodologi­
schen Separatismus mit Argumenten zu stützen suchte, die einem neuen
transzendentalen Idealismus hermeneutischer Prägung entstammen4.
Die theologische Abstammung dieses hermeneutischen Denkens
kommt vor allen Dingen darin zum Ausdruck, daß zu seinen we­
sentlichen Merkmalen ein ontologisch an der Bereichsabgrenzung
von N atur und Geschichte orientierter Anti-Naturalismus gehört,
dessen methodologisches Korrelat in der - mitunter qualifizierten -
Ablehnung der naturwissenschaftlichen Methode für die Analyse
der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit besteht. Dieser Anti-
Naturalismus geht letzten Endes darauf zurück, daß in der auf
biblische Vorstellungen gegründeten christlichen Theologie das G e­
schehen im menschlichen Bereich nur unter heilsgeschichtlichen A s­
pekten - das heißt unter dem Gesichtspunkt der Einordnung in den
göttlichen Heilsplan - in Betracht kam5 und eine Einordnung dieses
( Jcschehens in die N atur - wie w ir sie etwa in der griechischen Kos­
mologie finden —von daher keine Bedeutung erlangen konnte. Mit
der Säkularisierung des abendländischen Denkens ist die suprana­
turalistische Betrachtungsweise dieses Geschehens dann zu jenem
bereichsbeschränkten Anti-Naturalismus verblaßt, der für die Ge­
schichtsphilosophie und einen wesentlichen Teil der geisteswissen­
schaftlichen Forschung charakteristisch ist. Mit dem Streben, die in
der theologischen Tradition begründete absolute Sonderstellung des
Menschen zu retten, w ar verständlicherweise der Versuch verbun­
den, wenigstens für den Bereich, den man als in dieser Hinsicht we­
sentlich ansehen zu müssen glaubte - den des »Geistes«, der »Kultur«
oder der »Geschichte« —, die in der Naturforschung bewährte Me-
I bode für unzuständig zu erklären. Daß schon die Abgrenzung die­
ses Bereichs - etwa angesichts der vordringenden biologischen For­
schung - zu erheblichen Schwierigkeiten führen mußte, wurde im
4 Hier ist besonders an die linguistisch orientierte Transzendentalphilosophie
Karl-Otto Apels zu denken, auf die ich noch eingehen werde. Vgl. dazu etwa:
Apcl, Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. In: Wiener Jahrbuch für Philo-
tophie, Band i, 1968.
5 Karl Löwith hat darauf hingewiesen, daß sich die unmittelbare Zuordnung
von Mensch und Gott unter Ausklammerung der Natur bis in die Betrachtungs-

io7
Rahmen eines Denkens, das vom Vorhandensein a priori wohlab-
gegrenzter Gegenstandsbereiche ausgehen zu können meinte, im all­
gemeinen nicht in Rechnung gestellt.
Dementsprechend geht das Erkenntnisprogramm des Historismus,
wie man es etwa bei Droysen formuliert findet8, von einer - bei
ihm durch sehr merkwürdige Spekulationen über Raum und Zeit
notdürftig gestützten - Dichotomie von N atur und Geschichte aus,
in der die Geschichte willkürlich auf die Welt des Menschen einge­
schränkt wird7, eine Welt, die vom Wirken der Willenskräfte be­
stimmt ist und für die die sittlichen Mächte, an denen der Mensch
teilhat, an die Stelle der Naturgesetze treten8. Unter diesen Mäch­
ten, in denen sich das »Allgemeine« in der geschichtlichen Welt ver­
körpern soll, sind im wesentlichen die historisch wandelbaren insti­
tutionellen Strukturen zu verstehen, in denen die normative Regu­
lierung des sozialen Lebens sich zu vollziehen pflegt, der »objektive
Geist«, der dem »Verstehen« ebenso zugänglich zu sein scheint wie
die Äußerungen des subjektiven Willens in Rede und Handlung.
In diesem Gedankengang zeigt sich die enge Verbindung des H i­
storismus mit dem hermeneutischen Denken, eine Verbindung, die
für die Methodologie der sogenannten Geisteswissenschaften bis
heute charakteristisch geblieben ist. Zw ar lassen sich die Phänomene
der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt nicht unter Verwendung no­

weise des deutschen Idealismus — man denke zum Beispiel an die Hegelsche Ab­
wertung der Natur und der Naturphilosophie — und noch der transzendentalen
Phänomenologie und der Existential-Ontologie - wo z. B. bei Heidegger die
Natur nur in ihrer Bedeutung für das »Dasein« in Betracht kommt — ausge­
wirkt hat; vgl. Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes
bis zu Nietzsche, a.a.O ., S. 116 ff. und S. 45 ff. In dieser Hinsicht bilden Nietz­
sche und vorher schon Spinoza die großen Ausnahmen; vgl. a.a.O., S. 156 ff.
und S. 197 ff. Den theologiekritischcn Naturalismus Nietzsches hat vor allem
Walter Kaufmann betont in seinem Buch: Nietzsche. Philosopher, Psychologist,
Antichrist (1950). Cleveland/New York.
6 Vgl. Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie
und Methodologie der Geschichte. 4. Auflage, München i960. S. 6 ff. und passim.
7 Vgl. D r o y s e n , a.a.O., S. 13 : » G e s c h ic h te im e m in e n te n S in n is t n u r d ie d e s
s ittlic h e n K o s m o s , d ie d e r M e n sc h e n w e it .«
8 Die Tragweite der naturwissenschaftlichen Methode endet nach Droysen
dementsprechend »da, wo das Gebiet des individuellen Lebens, des persönlichen
Seins, der Willensfreiheit anfängt: die ganze sittliche Welt, d. h. die des Fort-
schreitens und der fortschreitenden steten Steigerung, ist ihr verschlossen. —
Dies Gebiet gehört der historischen Forschung.« Droysen, a.a.O., S. 186.

108
niologischen Wissens - also in der Weise der Naturwissenschaft - er­
klären, so pflegt man zu argumentieren, aber w ir haben ein anderes
Verfahren zu unserer Verfügung, das zu ihrer Analyse geeignet ist,
nämlich die Methode des Verstehens, die zudem der naturwissen­
schaftlichen Methode gegenüber den Vorteil hat, sich nicht mit der
äußeren Ordnung von Tatsachen begnügen zu müssen, sondern das
Innere der treibenden Kräfte des geschichtlichen Lebens zu erschlie­
ßen, indem sie uns die Augen für ihren Sinn öffnet9. »Das Ver­
stehen ist«, wie Droysen sagt, »das vollkommenste Erkennen, das
uns menschlicherweise möglich ist«10. Die These von der besonde­
ren Qualität und vom epistemologischen Primat des Verstehens,
die sich letzten Endes wohl aus der theologischen Akzentuierung
des Hörens und Vernehmens in der Tradition des Bibelglaubens
licrleiten läßt, hat sich im hermeneutischen Denken bis auf den
heutigen Tag gehalten, auch da, wo sich das Plädoyer für diesen
Denkstil mehr von den früher üblichen ontologischen zu transzen­
dentalen Argumenten verschoben hat.
Durch die fundamental-ontologischen Untersuchungen Heideg­
gers, die eine Vertiefung des hermeneutischen Ansatzes zu bieten
beanspruchen und de facto auf eine Deutung der gesamten mensch­
lichen Erkenntnispraxis unter hermeneutischem Gesichtspunkt hin­
auslaufen11, hat die Sinn-Problematik eine Dramatisierung erfah­
ren, die sich - im Zusammenhang mit einer starken Betonung sprach-
philosophischer Probleme, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg
- in einer zunehmenden Absorption des philosophischen Interesses
im deutschen Sprachbereich durch Ideen dieser A rt auszuwirken
scheint. Die Tatsache, daß vor allem unter dem Einfluß der Spät­
philosophie Wittgensteins ähnliche Probleme auch im angelsächsi­
schen Denken eine erhebliche Bedeutung gewonnen haben, hat diese
Tendenz noch verstärkt, denn ihre Verfechter können aus dieser
Konvergenz mit dem analytischen Ansatz, der von seiner positivi­
stischen Abstammung her doch eher für eine gegensätzliche Orien­
tierung prädisponiert erschien, scheinbar eine Bestätigung für die

9 Vgl. dazu Droysen, a.a.O., S. 22 ff.


10 Vgl. Droysen, a.a.O., S. 26.
1 1 Vgl. dazu Martin Heidegger, Sein und Zeit, a.a.O .; zur K ritik vgl. mein
Huch: Traktat über kritische Vernunft. Tübingen 1968, S. 137 ff.
prinzipielle Richtigkeit ihrer Auffassungen herleiten12, zumal diese
Konvergenz aus einer Selbstkorrektur des Positivismus hervorge­
gangen zu sein scheint, einer Korrektur in Richtung auf den bei
den Hermeneutikern längst etablierten Anti-Naturalismus. Der dem
analytischen Ansatz entsprungene neue Idealismus hat dabei zu­
mindest drei Merkmale mit dem sich im deutschen Sprachbereich
herausbildenden hermeneutischen Idealismus gemeinsam, die hier
nur angedeutet werden sollen, nämlich:
(1) die linguistische Orientierung und damit die Betonung der
Problematik des sprachlichen Sinnes;
(2) die transzendentalphilosophische Tendenz, das heißt: das Z u ­
rücktreten ontologischer Argumente zugunsten eines Apriorismus,
in dem die Sprache zu einem unhintergehbaren transzendentalen
Faktor erhoben w ird; und
(3) den methodologischen Autonomieanspruch für die Geisteswis­
senschaften auf hermeneutischer Grundlage, der schon für den frü­
hen Historismus charakteristisch w ar13.
Die für die hermeneutische Methode erhobenen Ansprüche sind
dabei nicht selten - das gilt wenigstens für die deutsche Version
dieser Auffassung - mit einer instrumentalistischen Ausdeutung und
Abwertung des naturwissenschaftlichen Denkens verbunden, die
übrigens gerade bei positivistisch gesinnten Vertretern der N atur­
wissenschaft und Naturphilosophie eine Stütze findet14.

12 Für einen interessanten Hinweis auf das Ausmaß dieser Konvergenz zwi­
schen den Tendenzen des hermeneutischen und des analytischen Denkens vgl.
Walter Cerfs ausführliche Rezension: How to do things with words. By J . L.
Austin. In: Mind. Vol. L X X V . No. 298, 1966, S. 262 ff.
13 Diese Merkmale findet man mehr oder weniger ausgeprägt sowohl in den
Arbeiten von Peter Winch —vgl. dazu sein Buch: The Idea of a Social Science and
its Relation to Philosophy. London/NewYork 1958 — als auch in denen K arl-
Otto Apels — vgl. etwa seine Aufsätze: Die Entfaltung der »sprachanalytischen«
Philosophie und das Problem der »Geisteswissenschaften«. In: Philosophisches
Jahrbuch. 72 Jg ., 1965, sowie: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik, a.a.O., —,
was natürlich Unterschiede zwischen den von den beiden Autoren vertretenen
Auffassungen nicht ausschließt; vgl. dazu etwa die Kritik Apels an Winch im
ersten der erwähnten Aufsätze. Zur Kritik anWinchs analytischem Idealismus vgl.
vor allem: Ernest Gellner, The New Idealism — Cause and Meaning in the So­
cial Sciences. In: Lakatos/Musgrave (eds), Problems in the Philosophy of Scien­
ce. Amsterdam 1968, S. 377 ff.
14 Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, daß ein solcher In­
strumentalismus in der Geschichte der Erkenntnis immer wieder der Abschir-

IIO
Dabei wird neuerdings eine ad hoc konstruierte Lehre von den
/ rkcnntnisinteressen zugunsten dieser Auffassung ins Feld geführt,
die in mancher Hinsicht an die nicht minder problematische Sche-
Icrsche Lehre von den Wissensformen erinnert15. In dieser neuen
I ehre vom transzendentalen Subjekt der Erkenntnis wird den so­
genannten empirisch-analytischen Wissenschaften ein technisches,
den historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und
den kritisch orientierten Wissenschaften ein emanzipatorisches E r­
kenntnisinteresse zugeordnet, so daß eine Trichotomie von Wissens­
arten entsteht, die ihrer Konstruktion und der mit ihr verbundenen
Uewertung nach ziemlich genau der Schelerschen Hierarchie von
* / Ierrschafts- oder Leistungswissen«, »Bildungswissen« und »Heils­
t e r Erlösungswissen« entspricht16. Man kann diese Lehre mit eini­
gem Recht das Produkt einer Säkularisierung der Schelerschen
Konzeption nennen, einer Reinigung dieser Auffassung von Ele­
menten einer religiös bestimmten Metaphysik, wobei charakteristi-
seherweise eine geschichtsphilosophisch fundierte Ideologiekritik die
Stelle des Schelerschen Heils- oder Erlösungswissens einnimmt17.

mung spezieller Glaubensbestände gegen von der naturwissenschaftlichen Er­


kenntnis her mögliche Kritik gedient hat; vgl. dazu K arl Popper, Three Views
concerning Human Knowledge (1956), in seinem o.a. Aufsatzband: Conjectures
und Refutations, sowie die andere im theologiekritischen Kapitel meines o.a.
Buches (S. 106) erwähnte Literatur. Man findet ihn charakteristischerweise auch
bei den Erben Hegels, die den Versuch unternehmen, den Naturwissenschaften
einen Stellenwert in ihrem Denken zuzuweisen.
15 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. In: Merkur, X IX .
Jhg., Heft 12 , 1965, S. 113 9 ff., und: Karl-O tto Apel, Szientistik. Hermeneutik,
Idcologiekritik, a.a.O ., sowie Max Scheler, Probleme einer Soziologie des Wis­
sens, und: Erkenntnis und Arbeit, in seinem Buch: Die Wissensformen und die Ge-
\ellschaft. Leipzig 1926, und derselbe, Bildung und Wissen. 3. Auflage, Frank­
furt am Main 1947.
16 Vgl. dazu etwa Habermas, a.a.O., S. 1145 und passim, und Scheler, Bildung
und Wissen, a.a.O ., S. 2 6 und passim, nur daß bei Scheler an der Stelle der »er-
kcnntnisleitenden Interessen« sogenannte »oberste Werdenszielc« stehen, die aber
immerhin, wenn man von der bei Scheler stärker zum Ausdruck kommenden
metaphysisch-theologischen Orientierung abstrahiert, den in der neuen Lehre
postulierten Interessen eindeutig zuzuordnen sind. Um so mehr darf man sich
darüber wundern, daß die Schelersche Auffassung von Habermas in diesem Zu­
sammenhang weder diskutiert noch überhaupt erwähnt wird und der Name
Schelers bei Apel nur einmal auftaucht, und zwar in Klammern hinter dem Aus­
druck »Arbeitswissen«, a.a.O., S. 31.
17 Wenn man die Entstehungsgeschichte der Geschichtsphilosophie in Rechnung
stellt und sie mit dem Hintergrund des Schelerschen Denkens in Zusammenhang

III
Das sogenannte Leistungs- oder Herrschaftswissen - gemeint sind
die nach naturwissenschaftlicher Methode verfahrenden Wissen­
schaften - gehört in beiden Rangordnungen auf den untersten Platz,
eine Einordnung, die den typischen Illusionen des geisteswissen­
schaftlichen Arbeiters entgegenkommen mag, aber de facto nur die
Werthierarchie vorindustrieller Gesellschaften widerspiegelt18, in
denen die Nähe zur theologischen Denkform für die Bewertung des
Wissens entscheidend war.
In beiden Lehren von den Wissensformen, die sich auch in Ein­
zelheiten der Argumentation frappierend ähnlich sind19, wird durch
den Versuch einer sauberen Abgrenzung der Konkurrenz und dem
Konflikt zwischen den Erkenntnisweisen, wie w ir sie tatsächlich in
der Geschichte der geistigen Entwicklung konstatieren können, ein
Riegel vorgeschoben - eine Tatsache, welche die Immunisierungs­
funktion dieser Lehren deutlich erkennbar macht20. Daß dabei an die
Stelle einer mehr ontologischen Fundierung dieser Bereichsabgren­
zung in der neuen Lehre eine transzendentalphilosophische getreten
ist, dürfte an dieser Konsequenz wenig ändern, da diese Verschie­
bung den Autonomieanspruch unberührt läßt, der für diese Wis­
sensformen erhoben wird. Darüber hinaus enthüllen sich diese Leh­
ren bei genauer Betrachtung selbst als Resultate eines hermeneuti­
schen Denkens, das darauf abzielt, durch Bemühungen reinen Ver­
stehens transzendentale Probleme zu lösen, ohne daß dabei der
theoretische Hintergrund einer solchen Verfahrensweise reflektiert
wird. Die Relativierung der Erkenntnisweisen auf die angeblich
hinter ihnen stehenden Interessen verschleiert die Tatsache, daß die
dazu gehörigen theoretischen Überzeugungen selbst hinsichtlich ih-
bringt, so liegt es nahe, die Schelersche Lehre als die katholische und die Haber-
mas-Apelsche als die protestantische Version ein und derselben Auffassung anzu­
sehen. Gemeinsam ist beiden Versionen eine dem Baconsdien Mythos verwandte
Deutung der Naturwissenschaft, die populären Anschauungen sehr entgegenkommt.
18 Für eine kritische Analyse solcher Wertungen vgl. das auch sonst sehr instruk­
tive Buch von Ernest Gellner, Thought and Change. Chicago/London 1964, S. 194 ff.
19 Wem die Schelersche Lehre vertraut ist - ich habe vor etwa 20 Jahren
selbst einmal den Versuch gemacht, für die Bearbeitung eines Problems Honig
aus ihr zu saugen der dürfte kaum in der Lage sein, in der neuen Lehre ent­
scheidende Fortschritte zu erkennen; aber der Mangel an geistesgeschichtlicher
Information macht ja nicht selten solche Neuauflagen attraktiv.
20 Zur Frage der Funktion dogmatischer Abschirmungsprinzipien in der Er­
kenntnis vgl. mein o. a. Buch, S. 106 ff., S. 152.

112
rer Realitätsentsprechung zur Diskussion stehen, zumindest inso­
weit, als man sich in dieser Hinsicht nicht auf eine reine »Dezision«
zu rückziehen will.

Zur Analyse und Kritik der hermeneutischen Erkenntnislehre

Was die ontologische Fundierung des geisteswissenschaftlichen Auto-


iiomieanspruchs angeht, die w ir zum Beispiel im methodologischen
I listorismus und der mit ihm verbundenen Hermeneutik finden, so
dürfte sie durch das Vordringen der nach naturwissenschaftlicher
Methode verfahrenden Forschung in den menschlichen Bereich und
durch die damit verknüpfte Entwicklung theoretischer - das heißt:
auf nomologischer Grundlage erklärender - Realwissenschaften, die
sich mit Problemen dieses Bereichs befassen, obsolet geworden sein.
Die Leugnung der Möglichkeit nomologisch fundierter Erklärungen
für diesen Bereich auf der Grundlage einer aprioristisch verfahren­
den Ontologie konnte im übrigen niemals eine kritische, sondern
sicts nur eine apologetische Funktion für die Erkenntnispraxis der
Geisteswissenschaften haben. Sie diente nicht der kritischen Durch-
leuchtung, sondern nur der Legitimierung dieser Erkenntnispraxis
und ihrer Abschirmung gegen das Eindringen nicht vertrauter -
man möchte fast sagen: revierfremder - Methoden21. Auch der im
Ansdiluß an die Spätphilosophie Wittgensteins im angelsächsischen
Sprachraum etablierte linguistisch aufgezäumte Essentialismus, der
mit H ilfe reiner Begriffsanalysen einen unüberwindlichen Abgrund
zwischen dem menschlichen Bereich und dem des übrigen Lebens
zu konstatieren sucht und entsprechende methodologische Konse­
quenzen daraus zieht, läßt sich in dieser Weise kritisieren22.
Die transzendentalphilosophische Lehre von den erkenntnislei-
21 Solche Methoden sind aber nun mit der Entwicklung der theoretischen
Biologie, Psychologie, Soziologie und Linguistik und schon vorher der theoreti­
schen Ökonomie in die Sphäre eingedrungen, die man etwa nach Droysenscher
Auffassung für eine Domäne der Geisteswissenschaften halten mußte, so daß
die Immunisierung dieser Erkenntnispraxis zumindest erhebliche Umdeutungen
erforderlich macht. Diesem Umstand versuchen die Vertreter der neuen Lehre ge­
recht zu werden.
22 Vgl. dazu etwa die K ritik von John King-Farlow und Elton A. H all in
ihrem Aufsatz: Man, Beast, and Philosophical Psydiology. In: British Journal for
tenden Interessen, die im Rahmen der deutschen Hermeneutik ent­
wickelt wurde, scheint zunächst jedenfalls gegen solche Einwände
immun zu sein, da sie der Existenz theoretischer Realwissenschaften
für diese Sphäre Rechnung trägt. Sie insistiert dennoch auf einer
Abgrenzung wesensverschiedener Erkenntnisweisen, deren Eigenart
durch die erwähnten unterschiedlichen Interessen konstituiert sein
soll. Grundlage für diese Abgrenzung ist bei Apel eine »Erkennt­
nisanthropologie«, die eine Erweiterung der kantischen Frage nach
den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, also: eine be­
stimmte Interpretation der transzendentalen Problematik, invol­
viert23. Dabei sollen alle Bedingungen in Betracht kommen, die
»eine wissenschaftliche Fragestellung als sinnvolle Fragestellung
möglich machen«. Nun zielt diese Formulierung offenbar nicht ei­
gentlich auf die Konstituierung der vielen Einzelprobleme, die in
den verschiedenen Wissenschaften auftauchen, denn um zu zeigen,
inwiefern diese ihren Sinn haben, müßte man jeweils Überlegungen
anstellen, die auf Einzelheiten der betreffenden Problemsituationen
eingehen. Das scheint nicht die Aufgabe der Apelschen Erkenntnis­
lehre zu sein. Sie hat vielmehr den Sinn, die tatsächliche Erkennt­
nispraxis in den verschiedenen Wissensgruppen transzendental zu
unterbauen und damit gleichzeitig die unterschiedlichen Erkenntnis­
weisen, die in ihnen offenbar vorherrschen, zu rechtfertigen.
Was aus diesem Unternehmen resultiert, sind teils relativ triviale,
teils auch recht fragwürdige Feststellungen, die durch die transzen­
dentale Ausdrucksweise unnötig interessant gemacht werden. Wir
hören da von einem Leibapriori der Erkenntnis, das etwa in der
Rolle der Sinnesorgane und des experimentellen Eingriffs zum Aus­
druck komme, und von einem Bewußtseinsapriori, für das die Zei­
chen der Sprache von wesentlicher Bedeutung seien. Wer menschli­
che Erkenntnisprozesse in das natürliche Geschehen einzuordnen be­
reit ist, wie das von einem kritischen Realismus her notwendig er­
scheint, wird sich kaum über die Feststellung wundern, daß Wahr­
nehmungen, Handlungen bestimmter A rt und Sprachverwendung

the Philosophy of Science, Vol X V I. N. 6 2, 1965, S. 81 ff., an den einschlä­


gigen Konzeptionen von Geach, Winch und Bennett.
23 Vgl. dazu und zum Folgenden: Apel, Szientistik, Hermeneutik, Ideologie­
kritik, a.a.O.
wesentliche Bedeutung für solche Prozesse haben. Ihn werden viel­
mehr die Einzelheiten dieser Zusammenhänge interessieren, und
diese Einzelheiten sind, wie w ir wissen, selbst wieder der realwis­
senschaftlichen Forschung zugänglich24. Um so seltsamer klingt dem­
gegenüber die Apelsche Feststellung, daß »die Zeichen der Spra­
che . . . in erkenntnisanthropologischer Sicht ebensowenig wie die
Sinnesorgane oder die technischen Instrumente, über die vermittelt
die Sinnesorgane in die äußere N atur eingreifen, zu den Objekten
der Erkenntnis« gehören, »denn auch die Zeichen sind, als Bedin­
gung der Möglichkeit jeder Sinnintention, schon vorausgesetzt, da­
mit Objekte der Erkenntnis sich konstituieren können«. D a redet
der Philosoph in durchaus realistisch anmutender Ausdrucksweise
über Zeichen und Organe und sagt im gleichen Satz, daß er sie gera­
de eben innerhalb seiner erkenntnistheoretischen Perspektive nicht
zu Erkenntnisgegenständen machen wolle oder könne, und das bei
einer Lehre, die sich als anthropologisch kostümiert25.
Ein weiteres Apriori der Erkenntnis besteht nach Apel darin, daß
der »Art des leibhaften Engagements unserer Erkenntnis . . . ein
bestimmtes Erkenntnisinteresse« entspricht. Diese Lehre vom E r­
kenntnisinteresse, die Apel, soweit ich sehe, im wesentlichen überein-
■ ■ timmend mit Habermas entwickelt, ist insofern eine Kuriosität,
als sie offenbar bewußt in vacuo konstruiert wurde und daher den
Anschein der Unwiderlegbarkeit zu erwecken geeignet ist. Das P a­
radebeispiel ist wie bei Habermas die Konstruktion eines bloß tech­
nischen Erkenntnisinteresses für die moderne Naturwissenschaft,

24 In dieser Hinsicht scheint mir eine Philosophie, die auf solche Forschungen
Rücksicht nimmt, wie die Eduard Baumgartens, gegenüber diesem sprachphilo-
xophischen Apriorismus große Vorzüge zu haben; vgl. dazu z. B. Baumgarten,
Versuch über die menschlichen Gesellschaften und das Gewissen. In: Studium Genc-
i.dc, 3. Jhg. 1950, S . 519 ff., und derselbe, Versuche über mögliche Fortschritte
1in theoretischen und praktischen Umgang mit Macht. In: Studium Generale, 4.
Jhg. 1951, S. 540 ff.; vgl. auch Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und
•n inc Stellung in der Welt. 4. Auflage, Bonn 1950; Konrad Lorenz, Vom Welt­
bild des Verhaltensforschers. München 1968; sowie die Arbeiten von George
11. Mead in seinem Buch: Mind, Seif and Society. Chicago 1934.
i S Es könnte natürlich sein, daß der Satz einen la p s u s li n g u a e enthält und de
lacto auf die Perspektive des praktizierenden Wissenschaftlers Bezug nehmen
ftollte, aber auch dann wäre er nicht in dieser Form akzeptabel, denn es gibt
M eben Wissenschaften, die sich mit Zeichen, Sinnesorganen oder Instrumenten
al# Objekten befassen.
besonders: die Physik. Die Tatsache, daß weder die subjektive Mo­
tivation vieler - und gerade der großen - Naturforscher dieser These
zu entsprechen scheint, noch die institutionellen Bedingungen der
Forschungsarbeit im Einklang damit stehen - die reine Grundlagen­
forschung ist gerade institutionell »freigesetzt« vom Druck der tech­
nologischen Verwendung - , ist nach Auffassung der Interessentheo­
retiker für ihre Thesen ungefährlich. Was zu Buche schlägt, ist nur
das, was Apel die »vorgängige Bindung der Fragestellung an die
prinzipiell vorausgesetzte Möglichkeit der operativen Verifikation«
nennt. In diesem Sinne müsse der moderne Naturforscher von einem
technischen Interesse geleitet sein.
Daraus geht hervor, daß dieses Interesse zunächst nur ein solches
an der Prüfung der von den betreffenden Theoretikern entworfe­
nen Erklärungsansätze ist. Und dieses Interesse kann wieder ohne
Zw ang auf ein Interesse an der Eliminierung von Irrtümern und
der Annäherung an die Wahrheit zurückgeführt werden. D arf man
annehmen, daß die andern beiden Wissensformen sich weiterent­
wickeln, ohne daß solche Interessen eine Rolle spielen?26 Eine solche
Unterstellung liegt vermutlich nicht in der Absicht der Erkennt­
nisanthropologen. Was soll dann diese auf die Naturwissenschaften
zugespitzte Konstruktion? Die A rt, in der in ihnen Prüfungen
durchgeführt werden, hängt im einzelnen weitgehend vom schon
erreichten Erkenntnisstand - auch zum Beispiel in den hilfsweise
herangezogenen Wissenschaften - und von der jeweils spezifischen
Problemsituation ab. Einfache Beobachtungen haben dabei in der
Geschichte der Naturwissenschaften ebenso eine Rolle gespielt wie
experimentelle Eingriffe und schließlich die Verwendung kompli­
zierter Apparaturen. N u r wer die Geschichte dieser Wissenschaften
vernachlässigen wollte - und auch die heutige Situation in manchen

26 Bei Gadamers explizit gegen das Methodenideal der modernen Wissen­


schaft gerichteter Konzeption der Hermeneutik könnte man diese Vermutung
haben, vgl. dazu Gadamers o. a. Buch und meine K ritik in meinem Buch: Trak­
tat über kritische Vernunft, a.a.O., S. 139 ff. Inzwischen hat sich aber Habermas
von diesen Aspekten des Gadamerschen Denkens distanziert, vgl. dazu seine
Schrift: Zur Logik der Sozialwissenschaften. In: Beiheft 5 der Philosophischen
Rundschau. Tübingen 1967, S. 172 ff.; und auch Apel scheint damit nicht einver­
standen zu sein, vgl. etwa seinen o. a. Aufsatz: Szientistik, Hermeneutik, Ideo­
logiekritik, S. 34 ff.

116
Naturwissenschaften, man denke nur zum Beispiel an die Tierver-
lialtensforschung könnte sie auf das Klischee eines im nicht-trivia­
len Sinne technisch-apparativen Kontrollverfahrens festlegen, das
sie von anderen Wissenschaften wesentlich unterscheiden würde.
Sieht man von dieser unhaltbaren Extremthese ab, so muß man
.illcrdings nicht nur das in den Sozialwissenschaften übliche Inter­
view, sondern darüber hinaus jede Daten konstatierende A ktivität
als einen Eingriff auffassen, und es dürfte keine Realwissenschaft -
oder besser überhaupt keine Wissenschaft - geben, die nicht auf
solche Aktivitäten angewiesen ist27. Auch die sogenannte »kommuni­
kative Erfahrung« - eine A rt der Erfahrung, bei der die Wahrneh­
mung von Symbolen eine erhebliche Rolle spielt - läßt sich zwang­
los so begreifen.
Es hat keinen Sinn, die Unterschiede zwischen Wissenschaften wie
der Physik, der Nationalökonomie, der Geschichte und der Philo­
logie auf so vordergründige A rt in ein »transzendentales« Schema
zu bringen. Wer in dieser Weise verfährt, wird in ziemliche Ver­
legenheit geraten, wenn eines Tages die Fortschritte der Linguistik
dazu führen sollten, daß die Prüfungsverfahren in der Philologie
durch Apparate irgendwelcher A rt verbessert werden. Es gehört
nicht allzuviel Phantasie dazu, sich solche Erkenntnisfortschritte
vorzustellen. Wer eine Erkenntnistheorie konstruiert, die mit sol­
chen Möglichkeiten unvereinbar ist, setzt sich angesichts der Tat­
sache, daß die naturwissenschaftliche Methode immer wieder in Be­
reiche eingedrungen ist, die durch ein theologisches oder quasi-theo­
logisches Apriori abgeschirmt waren, dem Verdacht aus, daß er nur
den Status quo legitimieren w ill28 - eine Intention, die für eine kriti­
sche Wissenschaftslehre eigentlich kaum in Betracht kommt.
Hinsichtlich des rein technischen Erkenntnisinteresses, das angeb-

27 Hier wäre an die schon von Dilthey analysierte Rolle der Widerstandser-
f.ihrung für das Realitätsbewußtsein zu erinnern, die Karl Bühler folgerichtig
mit dem Verstehen in Zusammenhang bringt; vgl. dazu sein Buch: Die Krise
tlcr Psychologie (1927). 3. Auflage, Stuttgart 1965, S. 98.
28 Auch das wäre gewissermaßen ein — nicht eben sehr seltenes — Interesse,
das im Wissenschaftsbetrieb teilweise heimisch ist und Einfluß auf die Erkennt­
nispraxis hat. Es mag teilweise mit der Revier- und Territoriumssorge Zusam­
menhängen, die Baumgarten mit Recht auch in den Sphären des »reinen Geistes«
wirken sieht; vgl. dazu Baumgarten, Fortschritte im theoretischen und prakti­
schen Umgang mit Macht, a.a.O., S. 547.

XI7
lieh den Naturwissenschaften zugrunde liegt — anders ausgedrückt:
in bezug auf die pragmatisch-positivistische Deutung dieser Wissen­
schaften scheinen Apel und Habermas übereinzustimmen. Inwie­
weit das auch im Hinblick auf die beiden anderen Interessen und
ihre Zuordnung zu bestimmten Erkenntnisweisen zutrifft, ist mir
aus ihren Ausführungen nicht ganz klar geworden. Jedenfalls ist bei
ihnen beiden offenbar die hermeneutische Fragestellung mit der so­
zialen Praxis gekoppelt. Ähnliches gilt aber auch für die kritische
— bzw. ideologiekritische - Problematik, die einem emanzipatori-
schen Interesse dient und wohl geschichtsphilosophisch zu formulie­
ren ist. Apel bestimmt die Zielsetzung der hermeneutischen Wissen­
schaften als komplementär zu der der Naturwissenschaften. Beide
Fragestellungen, so behauptet er, schlössen einander aus und ergänz­
ten einander eben dadurch29. Der Naturwissenschaftler sei in seiner
Forschungsarbeit auf intersubjektive Verständigung angewiesen.
Diese Verständigung könne, eben weil sie die Bedingung der Mög­
lichkeit der objektiven Wissenschaft sei, niemals durch ein Verfah­
ren der objektiven Wissenschaft ersetzt werden. H ier stoße man also
auf die absolute Grenze jedes Programms objektiv-erklärender
Wissenschaft. Dabei werde aber die intersubjektive Verständigung
gleichwohl zum Thema einer anderen wissenschaftlichen Fragestel­
lung, nämlich der der von Apel so genannten »Verständigungswis-
senschaften«, die unter anderem auch der TraditionsVermittlung
dienten. Paradigmatisch für diese Wissenschaftsgruppe seien vor
allem die Philologien, die zugestandenermaßen ja bisher von der
sogenannten analytischen Wissenschaftslehre etwas stiefmütterlich
behandelt worden sind30.
29 Apel, a.a.O., S. 30.
30 Allerdings wäre hier darauf hinzuweisen, daß man bei Otto Neurath,
einem der wesentlichen Exponenten des Neopositivismus und der Lehre von der
Einheitswissenschaft, der Apel mit seiner Erkenntnisanthropologie den Garaus
machen will, im Rahmen eben jener Lehre schon vor mehr als zwanzig Jahren
die Traditionsvermittlung — »systematized transfer of traditions« - als eine Auf­
gabe der Ökonomik, der Jurisprudenz und der Pädagogik findet, freilich ohne
daß diese der sozialen Praxis abgelauschte Einordung von ihm in den tran­
szendentalen Jargon gebracht worden wäre; vgl. dazu Otto Neurath, Foundations
of the Social Sciences. In: International Encyclopedia of Unified Science, II/ i,
Chicago 1944, S. 38 ff. Diese Feststellungen sehen im neopositivistischen Ge­
wände bedeutend schlichter aus, als wenn man sie in der Sprache des Neo-Idea-
lismus hört.

Il8
An diesen Formulierungen ist nun meines Erachtens so viel Irre-
liihrcndes und Gewaltsames, daß man sich fragt, wie eine solche
Argumentation zustande kommen konnte. Daß die Naturwissen­
schaftler sich verständigen müssen, wird natürlich niemand bestrei­
ten wollen, obwohl man daran zweifeln kann, ob es zweckmäßig
r.t, diesen schlichten Sachverhalt durch seine transzendentale For­
mulierung zu dramatisieren. Die Verständigung als Kommunika-
iionsphänomen läßt sich natürlich nicht ohne weiteres durch ein
Verfahren der objektiven Wissenschaft ersetzen, etwa in dem Sinne,
daß man an seine Stelle eine Erklärung auf nomologischer Grund­
lage oder einen experimentellen Eingriff in das außermenschliche
N.iturgeschehen zu setzen versuchte. Ich wüßte übrigens nicht, wer
auf die Idee gekommen wäre, so etwas vorzuschlagen. - Sie ge­
flu cht vielmehr im allgemeinen, ohne daß man überhaupt eine
Wissenschaft eigener A rt dafür bemühen müßte, auch nicht eine so-
| r na nnte »Verständigungswissenschaft«.
I )as schließt allerdings nicht aus, daß die intersubjektive Ver-
•ii.indigung selbst zum Thema einer Wissenschaft erklärenden Cha-
i .duers gemacht wird, einer objektiven Kommunikationswissenschaft,
die unter anderem auch die technologische Grundlage für die Verbes-
i rung der »Verständigung« und das Aufdecken von Mißverständ­
nissen liefert. Wir haben sogar allen Grund, das Programm der
,liieren Hermeneutik bis zu Dilthey in dieser Weise aufzufassen.
Ihr Ziel scheint mir die Entwicklung einer Technologie der Interpre­
tation gewesen zu sein31. Allerdings handelt es sich dabei um eine
Verbesserung einer sozialen Praxis, mit der ja bei Apel und Haber-
m.is die hermeneutische Fragestellung gekoppelt ist. Aber nur von
einem sehr engen Begriff der Technik her - einem Begriff zudem,
der mit dem oben analysierten »technischen Erkenntnisinteresse«
.. Ii werlich harmonieren dürfte - wird man sich dazu verstehen kön­
nen, ein genuin technisches Interesse hinter einer solchen Kunstlehre
ui Abrede zu stellen. Wir können hier die frappierende Feststellung
machen, daß die Apel-Habermassche Lehre zwar freigiebig mit dem
Worte »technisch« umgeht, wenn es sich um den Bereich der N atur­
wissenschaften im üblichen Sinne handelt - wobei schon das de fac-
\ i Auf dieses Thema wird bei der Darstellung unserer Alternative zur Ha-
Itriiius-Apelsdien Lehre zurückzukommen sein; vgl. unten Abschnitt 3.
to allen Wissenschaften gemeinsame Interesse an intersubjektiver
Prüfung von Hypothesen genügt, um mit diesem Worte zu operie­
ren32 daß sie aber für den hermeneutischen Bereich dieses Wort
selbst dann zu vermeiden sucht, wenn seine Verwendbarkeit der
Sache nach kaum zu bestreiten ist.
Es ist also schwerlich einzusehen, warum das Thema der Ver­
ständigung in einen anderen Wissenschaftsbereich verwiesen wer­
den sollte als den der von Apel hier abgelehnten objektiven Wis­
senschaft. Aber die These, daß die Philologien die Verständigung
zum Thema machen, ist selbst eine höchst fragwürdige - oder zu­
mindest sehr unglücklich formulierte - Behauptung. Sie pflegen
wohl meist einfach zu interpretieren, ohne daß die Verständi­
gung thematisch für sie würde, und zw ar ganz ähnlich wie die N a ­
turwissenschaften. Man kann ihre Erkenntnispraxis, ohne die Tat­
sachen zu vergewaltigen, als die Produktion und Prüfung von
Deutungshypothesen auffassen, die, da es sich jeweils um dem histo­
rischen Ereigniszusammenhang entstammende Texte handelt, deren
Sinn im Kontext dieser Ereignisse - das heißt: der betreffenden
menschlichen Handlungen - zu eruieren ist, als historische Aussagen
betrachtet werden können33. Wir werden sehen, daß es nicht ange­
bracht ist, in einer epistemologischen Untersuchung den theoreti­
schen Hintergrund einer solchen A ktivität zu unterschlagen. Ob es
richtig ist, ihr als Zielsetzung immer die »Traditionsvermittlung«
zu vindizieren, möchte ich hier dahingestellt sein lassen. Andere

32 Dabei wird natürlich die Assoziation mit »Technologie« als angewandter


Wissenschaft und »Technik« als Ergebnis dieser Anwendung in d ie s e m Falle
voreilig ausgebeutet, während für den Bereich der sogenannten Geisteswissen­
schaften sogar dann, wenn ein entsprechendes Interesse offensichtlich dominant
ist, durch andere Wortwahl solche Assoziationen vermieden werden. Man sollte
sich nicht durch die verbale Paraphrasierung solcher Tatbestände täuschen lassen,
auch wenn diejenigen, die zu solchen Formulierungen neigen, einer Selbsttäu­
schung unterliegen.
33 Ich bin mir durchaus darüber klar, daß die Gadamersche Hermeneutik
eine solche »Objektivierung« ablehnt, weil sie vom Deutenden eine Einordnung
in das sinnhafte Seinsgeschehen fordert. Aber diese Forderung ist meines Er­
achtens von einer kritischen Philosophie her schärfstens zurückzuweisen; vgl.
mein o. a. Buch, S. 139 ff. und passim. Sie ist seinerzeit von Emilio Betti mit
Recht kritisiert worden; vgl. seine Schrift: Die Hermeneutik als allgemeine Me­
thode der Geisteswissenschaften. Tübingen 1962; sowohl Apel als auch Haber­
mas scheinen sich in diesem Punkt ebenfalls von Gadamer distanzieren zu wol­
len.

120
Zielsetzungen, zum Beispiel die Förderung anthropologischer E r­
kenntnis, sind zumindest ebenso plausibel. Ich sehe also vorderhand
nidit, was mit der Apelschen Komplementaritätsthese gewonnen ist.
Ebenso fragwürdig ist die Behauptung, daß das kritische oder
emanzipatorische Interesse eine weitere Erkenntnisweise erforder-
lidi mache, die sich auch methodologisch von den andern unter­
scheiden ließe. Apel spricht in diesem Zusammenhang von einer dia­
lektischen Vermittlung von objektiv-szientistischen und hermeneu­
tischen Methoden in der Ideologiekritik34, die angeblich notwendig
wird, weil die Menschen sich im allgemeinen nicht selbst durchsichtig
seien in ihren Intentionen. Wäre das der Fall, so seien nur die ersten
beiden Erkenntnisinteressen gerechtfertigt. D a aber das Verstehen
eine Grenze habe - und zw ar in der Endlichkeit und mangelnden
Selbsttransparenz des Interpreten selbst wie auch in den Wider-
.prüdien innerhalb der zu verstehenden Lebensäußerungen - , müsse
man insoweit mit den Mitteln der objektiven Wissenschaft ar­
beiten3536
. Das bedeute aber die partielle Suspendierung der Kom ­
munikation, wie sie auch in der Praxis des Psychotherapeuten
eine Rolle spiele. Die mit den Mitteln der objektiven Wissenschaft
/.n leistende Erklärung müsse dann aber, statt - wie es nach Apel
dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse entsprechen würde
in Herrschaft umgesetzt zu werden - und das bedeute hier Siche-
mng und Erweiterung der Herrschaft von Menschen über Men­
schen - , dialektisch vermittelt werden mit der nachfolgenden »A uf­
hebung« der »Erklärung« in ein vertieftes Selbstverständnis38. So
wird die Leistung der am emanzipatorischen Interesse orientierten
Wissenschaft - das heißt hier: der Ideologiekritik - von ihm nach
dem Modell der Psychoanalyse und der Psychotherapie gedeutet37.

34 Apel, a.a.O., S. 39 ff.


J5 Diese Wissenschaft wird hier charakteristischerweise wieder — ganz wie
111 der älteren Hermeneutik üblich — dem Bereich des Faktisch-Kontingenten,
Sinnlosen, bloß Natürlichen zugeordnet, so als könne es keine erklärende Wis-
»rnschaft vom sinnvollen Handeln geben, ein Rückfall, wie mir scheint, in die
i*lio ontologische Argumentation, die zeigen dürfte, daß die transzendental-
pliilosophische Einkleidung der Argumentation nicht unbedingt ernstzunehmen
int.
36 Vgl. Apel, a.a.O., S. 44.
y / Ähnliche Gedanken findet man auch bei Habermas, vgl. seine o. a. Schrift:
Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 185 ff.

121
Audi in diesem Falle muß man sich fragen, inwiefern es notwen­
dig ist, eine eigenständige - und damit methodisch autonome - Wis­
sensform zu proklamieren, um diesem emanzipatorischen Interesse
zu genügen. Zunächst einmal wird hier ja zugestanden, daß die
Erklärung im üblichen Sinne auch in dieser Wissensart eine Rolle
spielt. Nun hat aber Apel unter dem Einfluß seines instrumentali­
stischen Vorurteils offenbar keine Möglichkeit, sich die praktische
Verwendung einer erklärenden Wissenschaft unter einer anderen
Zielsetzung vorzustellen als der der Erweiterung der Herrschaft,
obwohl selbst unter einem vernünftig verstandenen instrumentali­
stischen Gesichtspunkt eine Sozialtechnologie der Herrschaftsver­
minderung durchaus im Bereich des Möglichen liegt und darüber
hinaus sogar schon historisch erhebliche Bedeutung gehabt hat. Aber
ganz abgesehen davon haben die Verfechter des kritischen Ratio­
nalismus im allgemeinen wohl keinen Zweifel daran gelassen, daß
sie selbst eines der wesentlichen Ziele der Verbreitung von Erkennt­
nis in der Aufklärung sehen, einer Aufklärung freilich, die sich ge­
rade der theoretischen und historischen Durchdringung der tatsäch­
lichen Verhältnisse und einer Konfrontation der wissenschaftlichen
Erkenntnis mit den in der Gesellschaft vorherrschenden Meinungen
bedient38. In den Apelschen Ausführungen zu diesem Problem ist
übrigens nicht zu erkennen, inwiefern das von ihm in diesem Zu­
sammenhang herausgestellte Erkenntnisinteresse eine methodolo­
gische Sonderstellung bestimmter Wissenschaften begründet und
worin die in Frage kommenden methodologischen Neuerungen im
einzelnen bestehen.
Abschließend läßt sich also feststellen, daß die im hermeneuti­
schen Neo-Idealismus vollzogene Zuordnung von Erkenntnisinter­
esse und Wissensform auf erheblichen Mißverständnissen beruht
und daß die daraus hervorgegangene Trichotomie von Wissenschafts-

38 Vgl. dazu die einschlägigen Arbeiten von K arl Popper, Ernst Topitsch
und anderen Autoren; vgl. auch meine Auseinandersetzung mit Klaus Lompe
im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. L IV , 1968, S. 247 ff., be­
sonders S. 271 ff., wo ich explizit auf diesen Punkt eingegangen bin. Übrigens
besteht meines Erachtens kein Grund, unter ideologiekritischem Gesichtspunkt
den Beitrag der Naturwissenschaften zur Erkenntnis zu vernachlässigen; vgl.
dazu mein o. a. Buch, S. 89 und passim. Seine Berücksichtigung bereitet im Rahmen
des kritischen Rationalismus keine Schwierigkeiten.

122
.irten auf einer vordergründigen Untersuchung basiert. Man braucht
durchaus nicht die von Apel apostrophierte These von der Einheits­
wissenschaft zu vertreten, um diesen Versuch, diese These ad absur­
dum zu führen, für unzulänglich zu halten. Die Tatsache, daß sich
dieser Versuch als eine neue Version der Transzendentalphilosophie
präsentiert, vermindert keineswegs seine Fragwürdigkeit. Im Ge­
genteil, transzendentalphilosophische Bemühungen dieser A rt pfle­
gen nicht selten auf die Idee der Notwendigkeit einer Letztbegrün-
dung aller Erkenntnis zurückzugehen und sind in diesem Falle schon
deshalb schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt89. Die Vorstellung,
man müsse die vorhandenen Wissensformen durch transzendentale
Überlegungen hermeneutischen Charakters unterbauen und damit
legitimieren, scheint mir auch hinter dem Apelschen Versuch zu ste­
hen. Der Rückgang auf verstehend erschlossene und daher »einsich-
lige« letzte Bedingungen scheint in diesem Falle den Begründungs-
regreß an einem Punkt zu suspendieren, der Gewißheit verbürgt. So
gewinnt die Apelsche These von der Unhintergehbarkeit der
Sprache40 eine gewisse Plausibilität, die allerdings sofort verschwin­
det, wenn man versucht, sich ihren Sinn und ihre Funktion klar zu
machen. Unmöglichkeitsthesen dieser A rt pflegen nur zum Ausdruck
zu bringen, daß ihr Verfechter nicht in der Lage ist, sich einen wei­
teren Regreß vorzustellen41, daß er also bei einem Punkt angelangt
ist, der ihm evident erscheint. Solche Punkte lohnt es sich nicht sel­
ten von alternativen Auffassungen her zu beleuchten, damit sie ihre
Selbstverständlichkeit verlieren. Ein kritischer Realismus zum Bei­
spiel wird die von diesem neuen Idealismus als »unhintergehbar«
deklarierten Tatbestände der sprachlichen Kommunikation und ih­
rer sozialen Einbettung durch erklärende Verfahrensweisen zu
••hintergehen« suchen und sich dabei etwa auf die vorliegenden

V) Vgl. dazu die ersten beiden Kapitel meines o. a. Buches.


40 In seinem Vortrag auf den Alpbacher Hochschulwochen 1967 wurde sie von
Apel in folgender Weise formuliert: »Hinter die Voraussetzung der sprachlichen
Kommunikation kann in der Erkenntnistheorie nicht zurückgegangen werden.«
41 Übrigens bleibt außerdem völlig im Dunkeln, was hier unter »Voraus­
setzung« oder »Bedingung« zu verstehen ist, wie das auch sonst bei transzen­
dentalen Thesen oft der Fall zu sein scheint. Das macht solche Thesen meist
•<hwer diskutierbar, ist aber natürlich keineswegs ein Grund, sie unbesehen zu
akzeptieren.

I23
einschlägigen biologischen, psychologischen und soziologischen For­
schungsergebnisse stützen.
Dabei wird gleichzeitig die Idee in Frage gestellt, daß man
auf hermeneutischem Wege zu Letztgegebenheiten vorstoßen kann,
deren Notwendigkeit über jeden Zweifel erhaben ist. Denn auch
das ist ein wesentlicher Zug der Apelschen Erkenntnislehre: Sie
stellt die hermeneutische Erkenntnisweise insofern über jede an­
dere und postuliert damit deren Primat, als sie alle Wissens­
formen - darunter auch wieder die hermeneutischen Wissenschaften
selbst - mit ihrer H ilfe zu begründen sucht, übersieht aber da­
bei, daß die Hermeneutik selbst nicht nur daraufhin untersucht wer­
den kann, wie ihre eventuelle nomologische Grundlage aussieht,
sondern daß sich diese Frage von ihrem eigenen Selbstverständnis
her als adäquat erweisen läßt, daß man sie also stellen muß, wenn
man sich Klarheit über diese Lehre verschaffen w ill oder, um eine
beliebte Formel ihrer Vertreter zu benutzen, wenn man sie besser
verstehen will als diese selbst.
Daß die neue linguistisch orientierte Transzendentalphilosophie
solche Fragen nicht in Betracht zieht - bzw. sie durch ihre Lehre
von den Erkenntnisinteressen sogar desavouiert - , läßt sich mit
ihrem Anti-Naturalismus in Zusammenhang bringen, mit ihrer
Weigerung, das Geschehen im Bereich der gesellschaftlich-geschicht-
lichen Wirklichkeit und damit auch die menschliche Erkenntnis als
natürliches Geschehen in Kontinuität mit dem übrigen Naturge­
schehen aufzufassen, einer Haltung, in der, wie schon erwähnt, ihre
theologische Abstammung zum Ausdruck kommt. Wie in der Ge­
schichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts das Absolute, der Geist
oder die Geschichte an die Stelle Gottes getreten sind, so nimmt in
dieser neuen Version des Idealismus nun die Sprache diesen Platz
ein.

j . Erklärung des Verstehens: die naturalistische Alternative

Bevor die Alternative genauer charakterisiert wird, die sich unter


den hier vertretenen Gesichtspunkten für die Lösung der Verste­
hens-Problematik ergibt, ist es vielleicht angebracht, auf einen

124
I’unkt einzugeilen, der im deutschen Sprachbereich bisher nicht ge­
nügend berücksichtigt wurde und dessen Nicht-Berücksichtigung zu
II lu blidien Mißverständnissen Anlaß gegeben hat. Die im vorigen
Abschnitt analysierte Erkenntnislehre wurde in ausdrücklicher
l i Umstellung gegen den sogenannten Positivismus entwickelt, wo­
hn eine ganze Reihe sehr verschiedenartiger Auffassungen, auch
■ .oklier, die außerhalb des deutschen Sprachraums als positivismus-
k i uisdi bekannt sind, unter diese Kategorie subsumiert, andererseits
aber vielfach extreme Thesen des frühen Neo-Positivismus zum
<Gegenstand von Einwendungen gemacht wurden, so daß ein ver­
zerrtes Bild der Problemsituation entstanden ist. Durch die von ihren
Verfechtern bevorzugte Darstellungsweise wird der Eindruck er­
weckt, wer nicht positivistischen Vorurteilen verfallen sei, könne
diese Lehre ohne weiteres akzeptieren. N ur ein dogmatischer Szientis­
mus, der seine eigenen Voraussetzungen nicht mehr reflektieren
könne, so wird man von dieser Seite belehrt, müsse sich der Lehre
von der V ielfalt der Erkenntnisinteressen und der ihnen zuzuord-
iicndcn Erkenntnisweisen entgegenstellen, einer Lehre, die den rea­
len Gegebenheiten in der Sphäre der wissenschaftlichen Erkenntnis
Rechnung trage, während die Gegenauffassung alle Erscheinun­
gen dieser Sphäre schematisch über den Leisten einer Einheitswis-
■ •enschaft schlagen wolle, die de facto nach dem einseitigen Vorbild
der mathematischen Naturwissenschaft konstruiert sei.
Diese Darstellung der Problemsituation ist, wie gesagt, durchaus
n reführend. Die These der Einheitswissenschaft spielt als Ausgangs­
punkt der K ritik an der hermeneutischen Philosophie und der in
ihrem Rahmen entwickelten Beiträge zur Wissenschaftslehre für
viele ihrer K ritiker42 keine Rolle. Von einem Kritizismus her, der
wesentliche Thesen des Positivismus selbst seit langem einer K ritik
unterworfen hat43, läßt sich gegen diese hermeneutische Lehre viel­
mehr zunächst der Einwand erheben, daß sie darauf abzielt oder
jedenfalls die Wirkung hat, das hermeneutische Denken und die her-

42 Ähnliches gilt übrigens für die K ritik an den im Rahmen des analytischen
Denkens entwickelten Auffassungen, die in die gleiche Richtung zielen, zum
Beispiel für die diesbezüglichen Arbeiten Ernest Gellners, dessen Argumentation
gegen Peter Winch bisher hier kaum beachtet wurde.
43 Vgl. dazu die Arbeiten von K arl Popper, Paul Feyerabend, Joseph Agassi,
William Warren Bartley, Imre Lakatos, J . W. N . Watkins und anderen.

125
meneutische Verfahrensweisen benutzenden Wissenschaften gegen
kritische und konstruktive Argumente abzuschirmen, die anderen
Erkenntnisweisen entstammen, sie also gegen andere Wissenschaften
zu isolieren, die in einen fruchtbaren Zusammenhang mit ihnen ge­
bracht werden können. Eine kritische Wissenschaftslehre hat aber
nicht die Aufgabe, dogmatische Abschirmungsprinzipien zu etablie­
ren, welche die unter anderem von höchst zufälligen Faktoren ab­
hängigen Grenzen zwischen den Einzelwissenschaften auf ontolo­
gischer oder transzendentaler Grundlage unüberschreitbar machen;
sie hat vielmehr dafür zu sorgen, daß man solche Abgrenzungen
nicht allzu ernst nimmt, vor allem, daß sie nicht in Abgründe ver­
wandelt werden, wie das zum Beispiel durch die oben erörterte
Apelsche Komplementaritätsthese geschieht. Statt die gegenseitige
Immunisierung der Wissensbereiche, die ohnehin schon groß genug
ist, zu verstärken, kann sie es sich angelegen sein lassen, versteckte
Problemzusammenhänge aufzudecken, die eine Überwindung der
Isolierung erlauben, so daß diese Bereiche und die in ihnen üblichen
Verfahrensweisen füreinander kritisch und konstruktiv fruchtbar
gemacht werden können. Es kommt für eine unter kritizistischen
Gesichtspunkten aufgebaute Wissenschaftslehre nicht darauf an, den
Status quo in den Wissenschaften zu legitimieren, also: bestehende
Grenzen, Wissensbereiche, Verfahrensweisen und Problemlösungen
zu rechtfertigen, sondern zur Verbesserung der Erkenntnispraxis in
den Wissenschaften beizutragen.
In dieser Perspektive erscheinen Autonomieansprüche einzelner
Wissenschaften und Wissenschaftsgruppen, auch wenn sie durch die
gegebene Erkenntnispraxis gedeckt werden, äußerst problematisch.
Die Tatsache dagegen, daß die Traditionen der verschiedenen Be­
reiche der Erkenntnis sich nicht selten als unvereinbar miteinander
erweisen und daher in Kollision geraten44, ist unter kritizistischen
Gesichtspunkten keineswegs als beklagenswert zu beurteilen. Sie
kann, wenn man auf Harmonisierungsversuche verzichtet, für den
Erkenntnisfortschritt fruchtbar gemacht werden. Konflikte dieser
Art, die den Sonderstatus gewisser Wissenschaften in Frage stellen
oder oft auch nur die Fragwürdigkeit eines solchen Status stärker
44 Das gilt natürlich nicht nur für den Bereich der Erkenntnis, vgl. dazu
meinen Aufsatz: Tradition und Kritik, in diesem Band.
■ ik/.cntuieren, der schon von innen her eigentlich in Frage gestellt
werden muß - wie es zum Beispiel heute hinsichtlich der Soziologie
und Ökonomie, bis zu gewissem Grade auch schon der Philologie
und Historiographie der Fall ist durch Abwehrlösungen zu über­
decken, hat höchstens im Rahmen einer Wissenschaftslehre einen
Sinn, der es um die Konservierung bisheriger Problemlösungen geht,
nicht aber einer solchen, die den Entwicklungsgesichtspunkt betont45
und Neuerungen positiv beurteilt46. Fleute hat die Entwicklung der
wissenschaftlichen Erkenntnis einen Punkt erreicht, an dem die Be­
deutung der theoretischen Realwissenschaften für die historischen
( h'istcswissenschaften auf breiter Front zur Diskussion steht. Ver­
suche, diese Problematik durch Revierabgrenzungen oder Bereichs-
ruitcilungen zu lösen, widersprechen nicht nur einem wohlverstan­
denen Kritizismus, sie dürften auch längst nicht mehr dem internen
Stand der Forschung in den einzelnen Wissensbereichen entspre­
chen47.
Wenn man davon ausgeht, daß die von der hermeneutischen
Wissenschaftslehre postulierte Autonomie der Geisteswissenschaften
auf die Beeinflussung des neuzeitlichen philosophischen Denkens
durch offenbarungstheologische Vorstellungen zurückgeht, daß sich
in ihr also gewissermaßen die theologische Restproblematik dieses
I )cnkens zeigt, die den darin vorherrschenden Anti-Naturalismus
hervorgebracht hat, dann ergibt sich als Alternative zu den im Rah ­
men dieses Denkens entwickelten Problemlösungen konsequenter­
weise eine Behandlung der in ihm akzentuierten Sinnproblematik
im Rahmen eines naturalistischen Erkenntnisprogramms. Dabei

45 Zum Entwicklungsgesichtspunkt vgl. z. B. Karl Popper, Conjectures and


Réfutations, a.a.O ., passim; vgl. auch Gérard Radnitzky, Contemporary Schools
of Meta-Science. Göteborg 1968, mit einer Kritik am neoklassischen Empirismus,
*0wie mein o. a. Buch.
46 Man darf sich die Einzelwissenschaften ja nicht als abgeschlossene und
methodisch ein für allemal etablierte Erkenntnisgebiete mit wohlumgrenzten
Gegenstandsbereichen vorstellen, die sich gewissermaßen gegenseitig nichts her­
anzureden haben, als souveräne Duodezkönigreiche des Wissens.
47 Das Eindringen des theoretischen Denkens in die Domäne der Geistes-
wisscnschaften ist kein Hirngespinst positivistischer Philosophen, das auf Grund
luchfremder Überlegungen zustande gekommen wäre, sondern es wird von Ver­
tretern dieser Gebiete selbst als notwendig angesehen und gefördert und hat
schon zu interessanten Problemlösungsvorschlägen geführt, die von der herme-
ncutischen Wissenschaftslehre kaum richtig gewürdigt wurden.

I27
wird zu zeigen sein, daß im hermeneutischen Denken selbst durch­
aus Ansatzpunkte für eine derartige Behandlung dieser Probleme
zu finden sind und daß für sie auf vorliegende Forschungsergebnisse
der Realwissenschaften zurückgegriffen werden kann, die von den
Verfechtern des neuen Idealismus nicht nur de facto vernachlässigt
zu werden pflegen, sondern die darüber hinaus in ihrem Erkenntnis­
programm de jure keinen Platz finden können.
Ausgangspunkt für eine entsprechende Reformulierung der Sinn­
problematik kann dabei etwa die Auffassung der Hermeneutik sein,
die von Dilthey im Anschluß an die ältere hermeneutische Tradi­
tion entwickelt wurde, eine Auffassung, die bei modernen Verfech­
tern des methodologischen Autonomieanspruchs der Geisteswissen­
schaften als durch die von Heidegger und Gadamer entwickelten
Vorstellungen - durch die »Wendung zur universalen Hermeneutik«
- teilweise überholt zu gelten scheint. Für Dilthey ist die Herme­
neutik noch eine Kunstlehre, die das für die geisteswissenschaftliche
Erkenntnis charakteristische Verfahren der Interpretation auf R e­
geln oder Formeln bringt48, also die Grundlage einer Technik, die
in ihrer Anwendung zumindest der Absicht nach nicht an eine be­
stimmte historische Epoche oder einen bestimmten Kulturkreis ge­
bunden ist, also Allgemeinheit für sich in Anspruch nehmen kann,
mithin: eine Technologie im üblichen Sinne dieses Wortes49. Dilthey
scheint sich auch bis zu einem gewissen Grade darüber klar gewesen
zu sein, daß eine solche Technologie eine theoretische Grundlage
benötigt und daß diese theoretische Grundlage eine adäquate Ana­
lyse des Verstehens involvieren muß, eine Analyse, in der Verstehen
als allgemeinmenschliche A ktivität - als zur allgemeinen Menschen­
natur gehörig - seiner Struktur nach zu erfassen ist. Vom naturali-

48 Vgl. dazu vor allem Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Hermeneutik
(1900), in seinen: Gesammelten Schriften. Band V, 4. Auflage, Stuttgart 1964,
S. 317 ft.
49 Um es genauer zu sagen: in dem Sinne, in dem dieses Wort etwa in der
Popperschen Wissenschaftslehre verwendet wird, vgl. dazu K arl Popper, Das
Elend des Historizismus. Tübingen 1965, passim. Die Ausführungen Diltheys
lassen sich meines Erachtens mühelos in diesem Sinne verstehen. Schwierigkeiten
dürften daraus bestenfalls für eine Wissenschaftslehre entstehen, die versucht,
Hermeneutik und technisches Erkenntnisinteresse gewaltsam auseinanderzuhal­
ten, weil sie das Eindringen des naturwissenschaftlichen Denkens in den Bereich
der Geisteswissenschaften verhindern möchte.

128
siisdien Erkenntnisprogramm her drängt sich bei dieser Behandlung
der Verstehensproblematik die Konsequenz auf, daß Dilthey eine
Technologie auf nomologischer Grundlage angestrebt habe, eine
l ehre also, die sich nach Aufbau und Verwendungsweise ohne
weiteres unter den Gesichtspunkten dieses Programms begreifen
läßt.
Eine Deutung dieser Diltheyschen Auffassungen, die sich mit der
im modernen hermeneutischen Denken üblichen Ablehnung nomo­
logischen Wissens für diesen Problembereich vereinbaren ließe, habe
ich bisher nirgends finden können. Die oft unterstellte, aber meist
unreflektierte These der notwendigen Koppelung von Hermeneu­
tik und Historismus dürfte für die Lösung der hier erörterten Pro­
bleme irrelevant sein. Daß die theoretische Grundlage der von
Dilthey ins Auge gefaßten Technologie bis heute — mindestens in
den typisch geisteswissenschaftlichen Disziplinen - offensichtlich nur
in sehr rudimentärer Form, wenn überhaupt, vorhanden ist und
daß darüber hinaus auch diese Technologie selbst mehr einer hand­
werklichen als einer wissenschaftlichen Kunstlehre gleicht50, ist für
die Analyse der hier vorliegenden grundsätzlichen Problematik ohne
lledcutung51. Wenn in dieser Sicht der Probleme die transzenden-
i .11 klingende Frage: Wie ist Verstehen mögliche’62 überhaupt in Be­
tracht kommen kann, dann nur als eine Frage nach den realen Be­
dingungen der verstehenden Aktivität, und diese Frage wird ad­

50 Beides hängt vermutlich zusammen, denn eine Ausarbeitung der nomo-


I«'Kochen Grundlage hat im allgemeinen positive Bedeutung für die Entwicklung
•Ir 1 damit zusammenhängenden technologischen Disziplinen.
j 1 Übrigens findet man bei Dilthey, soweit ich sehe, noch nicht jenen aus
einer Abwehrhaltung gegen das Eindringen nicht vertrauter Methoden ent-
i|uingenden Drang der durch Heidegger geprägten jüngeren Hermeneutiker, sich
i.< r,< n die Naturwissenschaften abzuschirmen. Er scheint vielmehr eine ver-
i*Iridis weise offene Haltung eingenommen zu haben, von der aus die Kon­
tinuität der Geisteswissenschaften mit den Naturwissenschaften, vor allem mit
<l« 1 Biologie, nicht aus dem Blickfeld geraten konnte. In seiner Baseler An­
ti ms Vorlesung von 1867 findet sich noch die These, es gelte »die Gesetze, welche
dir gesellschaftlichen, intellektuellen, moralischen Erscheinungen beherrschen, zu
erkennen«, Gesammelte Schriften. Band V, a.a.O., S. 27; auch sonst wird die
Bedeutung von Gleichförmigkeiten und die Rolle vergleichender Methoden in
den Wissenschaften von ihm betont.
W Diese Frage wurde von Winch ausdrücklich unter Hinweis auf Kant for­
muliert, a.a.O., S. 22.

I29
äquaterweise aufzufassen sein als ein Problem der nomologischen
Realwissenschaften.
Das bedeutet aber nichts anderes, als daß auch nach der in den
diesbezüglichen Diltheyschen Formulierungen - zumindest impli-
cite - enthaltenen Auffassung als Grundlage der Fiermeneutik nur
eine Theorie in Frage kommt, mit deren H ilfe man in der Lage
ist, das Verstehen zu erklären. Das mag in den Ohren geisteswissen­
schaftlicher Methodologen, denen seit langer Zeit die methodische
Alternative »Verstehen oder Erklären«53 vertraut ist, zunächst pa­
radox klingen, und auch Theoretiker, die eher einer positivistischen
Lösung der Verstehensproblematik zuneigen - also sich etwa damit
begnügen, das Verstehen in die Fleuristik zu verweisen54 - , werden
dieser These unter Umständen mit einem gewissen Mißtrauen be­
gegnen. Das ist aber nur deshalb zu erwarten, weil die Fixierung
auf die erwähnte Alternative die ganze Diskussion um diese Pro­
bleme in eine Sackgasse geführt zu haben scheint. Es ist durch diese
Fixierung der Eindruck entstanden, man habe hier zwei Verfahrens­
weisen vor sich, die auf gleicher Ebene lägen und zwischen denen
man sich daher zu entscheiden habe, wenn man die Probleme der
Geisteswissenschaften methodisch einwandfrei lösen wolle. Die
Verfechter einer autonomen geisteswissenschaftlichen Methodologie
meinten sich für das Verstehen entscheiden zu müssen und daher das
Erklären opfern zu können, was ihnen insoweit keine Sorge berei­
tete, als sie ohnehin unter dem Einfluß des Historismus im allge­
meinen nicht an die Möglichkeit nomologischen Wissens über die sie
interessierenden Bereiche der Erkenntnis glaubten. Für ihre Gegner
lag verständlicherweise die umgekehrte Entscheidung nahe, da sie
keinen Grund sahen, a priori in irgendeinem Bereich auf die Suche
nach nomologischem Wissen zu verzichten, zumal ein derartiger
Apriorismus nicht nur extrem unplausibel war, sondern darüber
53 Gerade der starke Einfluß Diltheyscher Gedanken war ja teilweise für die
Formulierung einer solchen Alternative und für die sich daran entzündende Jah r­
zehnte währende Kontroverse in den Geisteswissenschaften verantwortlich.
54 Vor einiger Zeit habe ich selbst einer solchen Lösung noch den Vorzug ge­
geben, da die Vorschläge der Hermeneutiker, die für diese Probleme zuständig
zu sein beanspruchten, offenkundige Mängel aufwiesen. Inzwischen habe ich midi
davon überzeugt, daß diese Mängel im wesentlichen auf die idealistische Fehl­
entwicklung der hermeneutischen Lehre zurückgehen, die wir dem Flistorismus
und dem Existenzialismus verdanken.

130
hinaus bestenfalls als Forschungshindernis betrachtet werden konnte.
Entsprechende Erfahrungen waren in der Geschichte der Wissen­
schaften ja nicht eben selten gemacht worden.
Die oben erörterte Apelsche Komplementaritätsthese sucht aus
der N ot eine Tugend zu machen und beiden Seiten damit gerecht zu
werden, krankt aber daran, daß sie von einer unzureichenden Ana­
lyse des Verstehens ausgeht und die Frage einer nomologischen
Grundlage daher überhaupt nicht in Erwägung zieht. Das mag da­
mit Zusammenhängen, daß Apel im wesentlichen auf die nicht eben
sehr klaren und theoretisch wie methodologisch zudem unergiebi­
gen Ausführungen Heideggers und Gadamers zur Sinnproblema-
lik rekurriert55. Die von niemandem bestrittene triviale Tatsache,
daß Theorien, Erklärungen und überhaupt sinnhafte Tatbestände in
den Wissenschaften faktisch auf Kommunikation und damit auf
Verstehen angewiesen sind, wird von ihm durch transzendental­
philosophische Paraphrasierung so stark in den Vordergrund ge­
rückt, daß die Frage nach der allgemeinen Struktur dieser A k tivi­
tät selbst und ihrer eventuellen nomologischen Durchleuchtung aus
dem Blickfeld verschwindet, obwohl die für das geisteswissenschaft­
liche Erkenntnisprogramm wesentliche Konzeption der Hermeneu­
tik - die Konzeption nämlich, die zum Beispiel von Dilthey ent­
wickelt wurde - eine solche Durchleuchtung geradezu herausfordert.
Auch für die Frage, wo eine solche Analyse anzusetzen hätte,
gibt es bei Dilthey und auch sonst in dieser Tradition einige Anhalts­
punkte, die nicht übersehen werden sollten. Dilthey sah es als
selbstverständlich an, daß in den Natur- und in den Geisteswissen­
schaften »dieselben elementaren logischen Operationen« auftreten,
nämlich: »Induktion, Analysis, Konstruktion, Vergleichung«, wobei
sich die Induktion, »deren Data die sinnlichen Vorgänge sind«, nach
ihm »hier wie überall auf der Grundlage eines Wissens von einem
Zusammenhang« vollzieht56. Dieser Zusammenhang wird von ihm

5$ Vgl. schon etwa seinen Artikel: Das Verstehen. In: Archiv für Begriffsge-
»diichte. Band i, 195*, S. 189 ff., wo die Radikalisierung des hermeneutischen
Denkmotivs bei Heidegger als eine Art Gipfel der Entwicklung gefeiert wird,
und spätere Arbeiten dieses Autors, in denen diese Auffassung nie revidiert
wird.
j 6 Vgl. dazu und zum Folgenden Wilhelm Dilthey, Die Entstehung der Her­
meneutik, a.a.O ., S. 334 ff. Audi wer gegen die o. a. Aufzählung von Opera-
für die Geistes Wissenschaften als »die Struktur der seelischen Leben­
digkeit« charakterisiert, und im Hinblick auf die »Natur des sprach­
lichen Ausdrucks«, der für die in Frage kommenden Operationen
maßgebend sein soll, wird die »Theorie der Sprache: die Gramma­
tik« von ihm als wesentliche Grundlage herausgestellt. Im übrigen
ist davon die Rede, daß »allgemeine Einsichten durch ein der De­
duktion analoges Verfahren, nur ungelöst, als Sachkenntnis in jedem
Verstehen mitwirken«, daß aber da, wo »bewußt und methodisch
die allgemeinen Einsichten angewandt werden, um das Singulare zu
allseitiger Erkenntnis zu bringen, . . . der Ausdruck Erklären für
die Art der Erkenntnis des Singulären seinen Ort« behält. Die Phi­
lologie »als der Zusammenhang der Tätigkeiten, durch welche das
Geschichtliche zum Verständnis gebracht wird«, wird vorher von
ihm aber als »auf Erkenntnis des Singulären gerichtet« charakteri­
siert. So skizzenhaft diese Gedanken auch sein mögen, sie scheinen
jedenfalls zu zeigen, daß Dilthey sich bis zu einem gewissen Grade
über die für die Hermeneutik notwendige theoretische Grundlage
und damit auch über die Bedeutung theoretischer Komponenten
für die historische Erkenntnis im klaren war.
Es liegt durchaus in der Richtung vieler im älteren hermeneuti­
schen Denken wirksamer Vorstellungen, wenn Bühler in seiner theo­
retischen Analyse des Verstehens von der Idee einer allgemeinen Se­
masiologie, einer Lehre von den semantischen Einrichtungen, aus­
geht, die der gegenseitigen Steuerung des sinnvollen Benehmens der
Gemeinschaftsmitglieder dienen57. Es geht also um eine allgemeine
Lehre von den Zeichen und ihrer Verwendung in sozialen Wirkungs­
zusammenhängen, wobei die menschliche Sprache als ein hochent­
wickelter Spezialfall erscheint, nämlich als ein Zeichensystem - oder
besser: eine Menge von solchen Systemen mit ähnlicher Struktur - ,
das außer der auch bei semantischen Einrichtungen des tierischen
Bereichs zu findenden Ausdrucks- und der Appellfunktion noch eine
Darstellungsfunktion hat, auf der alle höheren Erkenntnisleistun-
t io n e n im e in z e ln e n B e d e n k e n h a t , b r a u c h t sich in u n s e re m Z u s a m m e n h a n g n ich t
d a r a n z u s tö r e n .
57 Vgl. dazu Karl Bühler, Die Krise der Psychologie (1927). 3. Auflage,
Stuttgart 1965, S. 37 ff. und passim.
58 Vgl. dazu auch Karl Bühler, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der
Sprache (1934). 2. Auflage, Stuttgart 1965, passim. In seinem Geleitwort zur

13 2
gen basieren58. Im übrigen legt Bühler - ganz im Sinne des hier er­
örterten naturalistischen Erkenntnisprogramms - großen Wert dar­
auf, daß zwischen tierischem und menschlichem Verhalten auch ge­
rade im Hinblick auf die hier interessierenden Zusammenhänge eine
Kontinuität besteht, so daß seine psychologische Analyse ganz von
selbst als biologisches Unternehmen erscheint50. Das Verstehen von
Symbolen und Symbolverbindungen, um das es in der älteren
I lermeneutik im wesentlichen zu gehen scheint, kann im Rahmen
seiner Lehre als ein Sonderfall der Wahrnehmung aufgefaßt wer­
den. Dadurch wird keineswegs die Deutungskomponente im Ver­
sieben bagatellisiert, wie man annehmen könnte, wenn man die
Wahrnehmung als deutungsfreies Erleben des unmittelbar sinnlich
Gegebenen charakterisieren zu müssen glaubt60. Bühler betont viel­
mehr mit Recht - und die neuere wahrnehmungspsychologische For­
schung hat diese Auffassung bestätigt61 - , daß in jeder normalen

a. Auflage macht Friedrich Kainz mit Recht darauf aufmerksam, daß in dei
menschlichen Sprache die Darstellung als grundlegende Leistung hinter a lle n
Funktionen steht. — Daß eventuell auch gewisse Darstellungsleistungen in
Tiersprachen zu finden sind, soll hier nicht bestritten werden, wenn auch die
von Bühler aufgezeigten Einschränkungen sehr plausibel erscheinen; vgl. Bühler,
Die Krise der Psychologie, a.a.O., S. 51 ff.
59 Vgl. etwa seine These, daß sowohl das Gesamtverhalten der Amöben wie
das wissenschaftliche Denken der Menschen unter die zwei gemeinsamen Be­
griffe des ganzheitsgeregelten und des sinnvollen Geschehens gebracht werden
kann — Die Krise der Psychologie, a.a.O ., S. 65 —, oder die andere, daß das
Seelische, nach dem der Psychologe forscht, vielleicht das Deutungsgeschäft, die
Deutungszentrale der Organismen ist, mit allen Hilfseinrichtungen, die dazu
gehören, a.a.O., S. 66. Dabei sind für ihn Deutung, Steuerung, Wahrnehmung
und ähnliche Tatbestände des organischen Bereichs ohne Zweifel nomologischer
Forschung zugänglich.
60 Diese »positivistische« Auffassung von der Wahrnehmung kommt inter­
essanterweise gerade denjenigen Hermeneutikern entgegen, die den Abstand
zwischen N atur- und Geistes Wissenschaften dramatisieren. Ihre Konzeptionen ha­
ben vor allem auf der Folie einer kruden positivistischen Klischees — nicht einmal
mehr den Ideen des modernen Empirismus — entsprechenden Deutung der na­
turwissenschaftlichen Forschung eine gewisse Plausibilität. In bezug auf die so­
genannte »innere« Wahrnehmung findet man übrigens bei Dilthey und anderen
( icistcswissenschaftlern eben den gleichen »Positivismus« — den »Mythos des
Gegebenen« —, den moderne Wissenschaftstheoretiker am neoklassischen Empiris­
mus erfolgreich kritisiert haben; vgl. dazu etwa: Dilthey, Ideen über eine be­
schreibende und zergliedernde Psychologie, a.a.O., S. 139 ff.
6 1 Vgl. dazu z. B. William N. Dember, The Psychology of Perception. New
York usw. i960, S. 271 ff. und passim. Die Bedeutung von Annahmen für die
Auffassung von Bildern hat vor allem Ernst H . Gombrich herausgearbeitet,
Wahrnehmung, in der die Sinnesdaten ja als Zeichen, als »Anzei­
chen für Eigenschaften der wahrgenommenen Dinge und Ereignisse«
fungieren, eine Deutungskomponente enthalten sein muß62, gleich­
gültig also, ob es sich bei den Gegenständen der Wahrnehmung um
tote Dinge, um niedere Organismen oder um Menschen, gleichgültig
auch, ob es sich um Selbst- oder Fremdwahrnehmung handelt. Die
Wahrnehmung von Kommunikationshandlungen unter Symbolver­
wendung oder die von dauerhaften Produkten solcher Handlun­
gen - wie etwa von Texten - bildet in dieser Hinsicht durchaus
keine Ausnahme63. Die Tatsache, daß jeweils unterschiedliche Deu­
tungsmuster in Betracht kommen, Deutungsmuster, die in verschie­
denen Bezugsrahmen verankert sind, macht keinen wesentlichen Un­
terschied. In allen Fällen, nicht nur im Falle der Anwendung wis­
senschaftlicher Begriffsapparate, haben die mit Wahrnehmungen
verbundenen Deutungen prinzipiell hypothetischen Charakter64,
auch wenn keine expliziten und bewußten Deutungshypothesen für
Symbolkomplexe vorliegen, wie das im hermeneutischen Geschäft
an der Tagesordnung ist65. Das mag genügen, um zu zeigen, wo

vgl. dazu etwa seinen Aufsatz: Illusion and Visual Deadlock, in seinem A u f­
satzband: Meditations on a Hobby Horse and other Essays on the Theory of
Art. London 1963, der auch sonst in dieser Beziehung interessante Arbeiten ent­
hält. Gombrich hat seine Kunsttheorie auf wahrnehmungspsychologischer Grund­
lage entwickelt; vgl. dazu auch sein bekanntes Werk: Art and Illusion. A Study
in the Psychology of Pictorial Representation. 2. Auflage, New York 1961.
Daß seine Betrachtungsweise dennoch gerade auch historisch aufschlußreich ist
und das »Verstehen« von Kunstwerken fördert, wird ein Leser seiner Arbeiten
schwerlich bezweifeln können. — Über die Deutungskomponenten in wissen­
schaftlichen Beobachtungen vgl. z. B. Paul K . Feyerabend, Bemerkungen zur Ge­
schichte und Systematik des Empirismus (erscheint demnädist).
62 Vgl. Bühler, Die Krise der Psychologie, a.a.O., S. 96 f.; vgl. dazu übri­
gens schon Charles Sanders Peirce, Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen
(1868). In: Charles Sanders Peirce, Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatis­
mus, herausgegeben von Karl-Otto Apel. Frankfurt 1967, S. 215 ff. und passim.
63 Vgl. dazu z. B. die Bühlersche Skizze einer Analyse des Lesens, a.a.O.,
S. 75 f. Dort auch die These, daß »mit den genannten drei Sinnfunktionen, S i g ­
n a le , A n z e i c h e n und S y m b o l e , das Gesamtgebiet der Wahrnehmungen theo­
retisch zu bewältigen ist«.
6 4 Vgl. dazu den o. a. Aufsatz von E. H. Gombrich: Illusion and Visual
Deadlock, sowie sein Buch: Art and Illusion, a.a.O.
65 Dabei kann es — besonders im Bereich der symbolverwendenden Kommuni­
kation — zu mehrstufigen Deutungen kommen, so zum Beispiel, wenn bestimmte
Aussagen ihrem Darstellungssinn nach einen bestimmten Sachverhalt anzeigen,
aber darüber hinaus als Symptome entsprechender Überzeugungen oder damit

134
die Ansatzpunkte für eine nomologische Durchleuchtung und damit
für eine Erklärung des Verstehens zu suchen sind, wie man sie als
Grundlage der Hermeneutik und möglicherweise anderer technolo­
gischer Disziplinen ähnlicher A rt in Betracht zu ziehen hat, wenn
anders man an einer Verfeinerung und Verbesserung solcher Lehren
interessiert ist.
Allerdings muß noch darauf hingewiesen werden, daß der Sinn­
begriff eine weitere Verwendung hat, die nicht auf die Deutung von
/eichen bezogen ist, obwohl auch sie für die Analyse der Deutungs­
aktivität selbst in Betracht kommt. Wenn man tatsächlich, wie das
in den Sozialwissenschaften auch sonst üblich ist, davon spricht, daß
es darauf ankomme, den Sinn von Handlungen zu erfassen und sie
in diesem Sinne zu verstehen, dann haben w ir nicht den vorher
erörterten semasiologischen, sondern einen teleologischen Sinnhe­
griff vor uns, der auf die Struktur zweckorientierten - oder, wenn
man so w ill: intentionalen, zielgerichteten, absichtsgesteuerten -
Verhaltens zielt, darunter natürlich auch des Deutungsverhaltens
bzw. des zu ihm komplementären Kundgabeverhaltens66. Die der

z u s a m m e n h ä n g e n d e r A b s ic h t e n ih r e s P r o d u z e n t e n a n g e se h e n w e r d e n k ö n n e n , d ie
s e lb st w ie d e r a ls s y m p t o m a t is c h f ü r b e s tim m t e E in s t e llu n g s ä n d e r u n g e n a u f z u f a s ­
sen s in d . D a r ü b e r h in a u s k a n n m a n n a t ü r lic h n o ch d ie m it e in e m K o m m u n ik a ­
t io n s a k t v e r b u n d e n e Absicht s e lb s t a ls d e n Sinn d ie se s A k t e s a n se h e n u n d in
d ie s e r H in s ic h t v o n e in e mteleologischen V e r s t e h e n s p re c h e n , a b e r d a m it g e h t
m an m e in e s E r a c h t e n s z u e in e m nichtsemasiologischen V e r s t e h e n s b e g r iff ü b e r,
so e n g a u ch d e r Z u s a m m e n h a n g z w is c h e n Z e ic h e n v e r s t e h e n u n d H a n d l u n g s v e r -
s tc h e n se in m a g . Ü b e r h a u p t sc h e in t m ir d ie U n d u r c h s ic h t ig k e it d e r V e r s t e h e n s ­
p r o b le m a t ik v o r a lle m d a r a u f z u b e r u h e n , d a ß in ih r g a n z v e r s c h ie d e n e P r o ­
b le m e m it e in a n d e r v e r s c h m o lz e n w u r d e n . S c h o n B ü h le r h a t v e r s u c h t , d ie s e P r o ­
b le m e z u e n t w ir r e n .
66 Max Weber hat im Anschluß an Simmel den Unterschied der beiden Ver-
•.telicnsarten zu klären versucht; vgl. dazu seinen Aufsatz: Roscher und Knies
und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903—06), in
.( inen: Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre, 2. Auflage, besorgt von
Johannes Winckelmann. Tübingen 19 5 1, S. 93 ff. Er unterscheidet mit Simmel
/wischen dem objektiven Verstehen des Sinnes einer Äußerung und der subjek­
tiven Deutung der Motive eines sprechenden oder handelnden Menschen, also:
etwa zwischen dem Verstehen des Gesprochenen und dem des Sprechenden, und
weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß unter Umständen die Frage
nach den Motiven aufgeworfen werden muß, um die Frage nach dem Sinn zu be­
antworten. Das bedeutet natürlich, daß eine diagnostische Technologie, die für
die Feststellung derartiger Sinnzusammenhänge brauchbar sein soll, die Struktur
von Handlungen berücksichtigen müßte. Selbst wenn man also die beiden Sinn-
urten - den Sinn in der semasiologischen und den in der teleologischen Bedeu-

135
Hermeneutik zugrunde liegende Zielsetzung wird bekanntlich nicht
selten auf die teleologische Deutung von sinnhaften Verhaltenswei­
sen, von Handlungen, ausgedehnt. Auch dieses »Verstehen« wird
von den Verfechtern einer autonomen hermeneutischen Methodolo­
gie meist als ein von nomologischem Wissen unabhängiges Verhalten
angesehen. Die Erfassung des Sinnes einer Handlung erscheint ihnen
als ein unmittelbar auf einen singulären Zusammenhang zielender
Verstehensakt, der keinen solchen Hintergrund benötigt. Das ist be­
sonders plausibel, wenn es um eine Handlung geht, über deren
Zweck der Handelnde selbst durch entsprechende Aussagen Aus­
kunft gegeben hat. Daraus scheint sich wieder zwanglos die These
zu ergeben, daß man in diesem Falle auf Erklärung nicht angewie­
sen sei.
Aber hier liegen die Dinge ganz ebenso wie im Falle des se-
masiologischen Verstehens. Zunächst handelt es sich wieder um eine
Aktivität, die in den Bereich der Wahrnehmung gehört, deren Struk­
tur selbst nomologischer Analyse zugänglich ist. Eine Hermeneutik,
die der Identifizierung des Sinnes von Handlungen dienen soll, hat
also ebenso einen nomologischen Hintergrund wie eine solche, die
sich auf die Identifizierung des Sinnes von Texten beschränkt. Es
handelt sich ja im Falle sowohl der Deutungsaktivität selbst wie
ihres Gegenstandsbereiches um Verhaltensweisen, deren Struktur
und Bedingungen einer theoretischen Analyse unterworfen werden
können. Eine apriorische Zurückweisung der Möglichkeit von E r­
klärungen in diesem Bereich ist weder mit den in den methodolo­
gischen Stellungnahmen der Hermeneutiker zumindest teilweise
enthaltenen Annahmen - die ja die Allgemeinheit des Ver­
stehens involvieren - noch mit einer Methodologie der kritischen
Prüfung vereinbar. Daß sich das alltägliche Verstehen seines nomo­
logischen Hintergrundes nicht bewußt zu sein pflegt, ist kein Grund,
bei der Ausbildung entsprechender für die Wissenschaften in Frage
kommender diagnostischer Techniken von der Vorstellung auszu­
gehen, es gebe in diesem Bereich keine Gesetzmäßigkeiten. Diese

t u n g d ie se s W o r t e s — s c h a r f u n t e r s c h e id e t, m u ß d a s n ic h t d ie F o lg e h a b e n , d a ß
d ie d ia g n o s tis c h e n T e c h n o lo g ie n , d ie fü r d ie E rfa s s u n g d ie s e r S in n a r t e n e n t­
w ic k e lt w e r d e n , v o n e in a n d e r u n a b h ä n g ig s in d . E in e n o m o lo g is c h e A n a l y s e der
S t r u k t u r m e n sc h lic h e n H a n d e l n s m u ß f ü r b e id e r e l e v a n t se in .

136
Vorstellung wäre mit der Idee einer für diesen Bereich spezifischen
diagnostischen Technologie schwerlich zu vereinbaren.
Wer sich über die durch diese Argumentation beleuchtete Pro-
blcmsituation nicht ganz klar ist, könnte nun darauf verfallen, zwar
die nomologische Fundierung einer solchen Technologie - und da­
mit auch der traditionellen Hermeneutik - als sinnvoll zuzugeste­
hen, aber den Anwendungsbereich der entsprechenden Techniken für
nomologisch unstrukturiert zu halten, so daß für ihn die Suche nach
Erklärung nicht in Betracht käme. Das wäre aber sehr kurzschlüssig
gedacht, denn die Deutungsaktivität gehört ja selbst zu den sinn­
vollen Verhaltensweisen, auf deren Erfassung sie zugeschnitten ist.
Zudem setzt die Möglichkeit diagnostischer Techniken dieser A rt eo
ipso eine entsprechende Strukturiertheit ihres Anwendungsbereiches
voraus. Die Erklärung des Verstehens, die als Möglichkeit von den
Verfechtern des hermeneutischen Denkens auf Grund der in ihren
eigenen Zielsetzungen enthaltenen Annahmen schwerlich zu leug­
nen ist, impliziert also Ait Erklärbarkeit sinnvollen Verhaltens über­
haupt, die von den geisteswissenschaftlichen Verfechtern der Alter­
native von Verstehen und Erklären meist zurückgewiesen wird.

Die Erklärung des Verhaltens und das Problem der historischen


Geisteswissenschaften

Das Vordringen des theoretischen Denkens in den Bereich der Wis­


senschaften vom Menschen seit der Entstehung der klassischen N a ­
tionalökonomie hat den methodologischen Historismus, der in den
Geisteswissenschaften seit langer Zeit heimisch ist, zunehmend frag­
würdig und die Frage immer dringender gemacht, wie denn das Ver­
hältnis der theoretischen Wissenschaften vom Menschen - zum Bei­
spiel der Psychologie, der Ökonomie, der Soziologie und der Lin­
guistik - zu den übrigen zu bestimmen sei, besonders insoweit, als
die methodologische Antithese von Verstehen und Erklären für
diese Frage relevant zu sein scheint67. Schon M ax Weber hat seiner-
67 Für eine instruktive Analyse dieser Probleme vgl. Jürgen v. Kempski, Die
Logik der Geisteswissenschaften und die Geschichte (1958), in seinem Aufsatz­
lund: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Reinbek
1964, S. 79 ff.

137
zeit versucht, mit seiner Auffassung der theoretischen Soziologie als
einer verstehenden Wissenschaft, die auf verstehende Erklärung der
Erscheinungen in der Kulturwirklichkeit abzielt, diese Antithese
und damit den extremen Historismus zu überwinden, der für theo­
retische Konzeptionen in diesem Bereich überhaupt keine Verwen­
dung sah. E r hat dabei die kausale Einbettung sinnvollen Verhal­
tens betont und den Anti-Naturalismus zeitgenössischer Autoren
ad absurdum geführt68, obwohl auch er für die Kulturwissen­
schaften einen gewissen Sonderstatus zu retten versucht hat. Vor
allem seine Vorstellungen über die Rolle des nomologischen Wis­
sens und - im Zusammenhang damit - der idealtypischen Begriffs­
bildung sind zumindest teilweise problematisch69. Aber das meiste,
was er zu dieser ganzen Problematik geäußert hat, unterscheidet
sich dennoch höchst vorteilhaft von den unscharfen und kurzschlüssi­
gen Beiträgen späterer Verfechter der verstehenden Methode in den
Sozialwissenschaftcn, die die Webersche Auffassung in Richtung auf
ein an Heidegger und seinen Schülern orientiertes hermeneutisches
Denken überwinden zu müssen glaubten. E r w ar sich darüber klar,
daß Regeln aller A rt - Normen und Maximen - kausale Bedeutung
für das individuelle Handeln und damit für den sozialen Ge­
schehenszusammenhang haben können und daß sie insoweit für die
Erklärung solcher Tatbestände in Betracht kommen70.
Die »teleologische Rationalisierung« menschlicher Verhaltenswei-

68 Vgl. dazu etwa Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,


a.a.O., S. 64 ff. und S. 74 ff., wo in seiner K ritik an Münsterberg Argumente
auftauchen, die sich auch Verfechter der an Heidegger orientierten Hermeneutik
entgegenhalten lassen müssen; weiter S. 134 f., besonders Anm. 1, wo Weber
u. a. betont, daß es keinerlei ersichtlichen Grund dafür gibt, »daß die Prinzipien
der empirischen Kausalbetrachtung an der Grenze der »verständlichem Motiva­
tion haltmachen sollten«, eine Bemerkung, die man heute gegen Winch und Peters
ebenso wie gegen Apel und Habermas wiederholen kann.
69 Vgl. dazu die kritische Untersudiung von J . W. N. Watkins, Ideal Types
and Historical Explanation (1952), abgedruckt in: Herbert Feigl/May Brodbeck
(eds.), Readings in the Philosophy of Science. New York 1953, S. 723 ff., wo
auch auf die Entwicklung dieser Anschauungen bei Weber eingegangen wird; so­
wie Carl G . Hempel, Typological Methods in the Social Sciences (1952), abge­
druckt in: Theorie und Realität. Tübingen 1964.
70 Vgl. dazu Weber, R . Stammlers »Überwindung« der materialistischen Ge­
schichtsauffassung, a.a.O., S. 322 ff., wo unter anderem — S. 324 ff. — eine sehr
interessante Parallele zwischen natürlichen und sozialen »Mechanismen« aufge­
wiesen wird.

138
scn, die von ihm wegen ihrer kausalen Bedeutung, aber auch wegen
ihrer heuristischen Fruchtbarkeit besonders akzentuiert wurde, weil
man bei ihr von psychologischen Erwägungen ganz abstrahieren
und sich auf die Analyse von Zweck-Mittel-Relationen im Objekt­
bereich - also die Analyse der »objektiven Situation« - des H an­
delns beschränken könne71, wurde von ihm allerdings meines E r­
achtens zu sehr in einer Weise aufgefaßt, durch die die Komplexität
der tatsächlich in Betracht kommenden Wirkungszusammenhänge
riwas aus dem Blickfeld geriet, denn Weber hat hier mitunter so
.1 rgumentiert, als ob das in Betracht kommende nomologische Wis­
sen in diesem Falle nur als vom Handelnden selbst verwertetes, das
heißt: als Element seiner Situationsanalyse - oder jedenfalls als
mögliches Element dieser Analyse — eine Rolle spiele, ohne darauf
zu aditen, daß sinnhaftes Verhalten auch im Falle der Situations-
adäquatheit selbst einen nomologischen Hintergrund hat, der mit
dem nomologischen Wissen des Handelnden nicht identisch zu sein
pflegt, wenn er sich auch teilweise mit ihm decken mag. Eine E r­
klärung solchen Verhaltens kann sich also nicht auf die Herausar-
beitung dieser Situationsadäquatheit durch teleologische Rationali­
sierung beschränken. Sie hat vielmehr denjenigen Bedingungen Rech­
nung zu tragen, unter denen mehr oder weniger in diesem Sinne
■ adäquate« Handlungen zu erwarten sind, das heißt der »inneren«
Kausalität in der Verkettung von Situationswahrnehmung, P la­
nung und Durchführung gefaßter Entscheidungen, die hinter den
betreffenden Verhaltensweisen steht72.

71 Vgl. dazu Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie,


.1 .1.0., S. 432 ff., aber auch schon: Knies und das Irrationalitätsproblem, a.a.O.,
N. 126 ff. Man kann Webers Verfahren wohl mit einem gewissen Recht als Vor­
teile der Popperschen »Situationslogik« ansehen.
72 Insofern ist die Zurüdeweisung psychologischer Analyse, die bei Weber
häufig in diesem Zusammenhang auftritt, problematisch, wenn auch aus dem
Grunde verständlich, daß die Entwicklung der Psychologie damals noch nicht so
weit gediehen war, daß man solche Probleme erfolgreich in Angriff nehmen
Konnte. In dieser Beziehung hat sich die Situation — vor allem auf Grund der
I .»rsdiungen Kurt Lewins und seiner Schüler — entscheidend geändert; vgl. dazu
i'iwa: George A. Miller/Eugene Galanter/Karl H. Pribram, Plans and the Struč­
nu c of Behavior. New York i960. Daß die Finalität der betreffenden Vorgänge
Urin Einwand gegen ihre kausale Erklärung ist, dazu vgl. auch die Bemerkungen
Konrad Lorenz’ in: Induktive und teleologische Psychologie (1942). In: Vom
Weltbild des Verhaltensforschers, a.a.O., S. 18 ff.

139
Daß eine Erklärung sinnvollen Verhaltens sich nicht darauf be­
schränken kann, sinnhafte Elemente in den betreffenden Verhaltens­
weisen aufzusuchen und daran anknüpfend das betreffende Verhal­
ten in irgendeiner Weise - durch teleologische Rationalisierung oder
gar durch emotionalen Nachvollzug — mehr oder weniger »ver­
ständlich« erscheinen zu lassen, dürfte von der Logik der Erklärung
her ohne weiteres klar sein. Wenn für die Erklärung solchen Ver­
haltens »verstehende« Verfahrensweisen überhaupt eine Rolle spie­
len, dann dadurch, daß sie dabei helfen, solches Verhalten zu identi­
fizieren, das heißt: die zu erklärenden Phänomene aufzuweisen73.
Soweit sich das Resultat der Anwendung solcher Verfahrensweisen
in Aussageform niederschlägt, handelt es sich um Beobachtungsaus­
sagen, die bekanntlich stets Interpretationen enthalten. Verstehende
Methoden gehören also zu den Forschungstechniken, die für die A n­
wendung theoretischen Wissens in den Sozialwissenschaften in Frage
kommen. Sie bieten keinen Ersatz für die theoretische Erklärung
von Verhaltensweisen, sondern sie schaffen unter Umständen die
Voraussetzung für diese. Die Forschungstechnologie ist in den R eal­
wissenschaften, wie w ir wissen, stets bereichsspezifisch und entwik-
kelt sich im Zusammenhang mit relevanten inhaltlichen Erkennt­
nissen. Daß das auch für die in Betracht kommenden verstehenden
Verfahrensweisen gilt, wurde schon im Zusammenhang mit unserer
Analyse der Hermeneutik gezeigt.
Damit die Anwendung solcher Methoden für die Erklärung des
Verhaltens relevant werden kann, muß sie natürlich Feststellungen
ermöglichen, in denen nach den vorhandenen theoretischen Gesichts­
punkten Ansatzpunkte für eine solche Erklärung liegen. Diese Fest­
stellungen müssen sich also in theoretisch relevanten Beschreibungen
der zu erklärenden Phänomene niederschlagen74. Die Idee, daß die

73 Vgl. dazu Frank Cunningham, More on Understanding in the Social


Sciences. In: Inquiry, Vol. 10/3, 1967, wo in aller Kürze einige wesentliche Pro­
bleme im Zusammenhang mit dem Verstehen geklärt werden; vgl. auch Abraham
Kaplan, The Conduct of Inquiry. Methodology for Behavioral Science. San
Francisco 1964, S. 32 f., S. 139 ff. und S. 358 ff.
74 Uber die Problematik der Möglichkeit verschiedener Beschreibungen des
gleichen Realitätsausschnitts gab es im angelsächsischen Bereich in letzter Zeit
eine Diskussion, die vor allem den Bemühungen von Vertretern des analyti­
schen Denkens entsprang, die Autonomie der Geisteswissenschaften zu retten, also
Bemühungen, die mit denen deutscher Hermeneutiker konvergieren. Zur Kritik

140
unterschiedliche N atur der Beobachtungsbasis in den Sozial wissen-
schaften, die sich in der Anwendbarkeit verstehender Methoden zei­
ge, einen wesentlichen methodologischen Unterschied zu den N a ­
turwissenschaften mit sich bringe75, dürfte auf Mißverständnisse in
bezug auf das Wahrnehmungsproblem zurückgehen, die bei Be-
rikksiditigung der erwähnten Bühlerschen Untersuchungen nicht zu
entstehen brauchen. Die theoretischen Wissenschaften vom Menschen
brauchen nicht nur keine methodologische Autonomie zu beanspru­
chen, sie schließen auch inhaltlich an die nomologischen Real Wissen­
schaften an, die man üblicherweise zu den Naturwissenschaften
zählt78.
Nach Auffassung vieler Hermeneutiker gibt es, wie w ir gesehen
haben, zwischen den nomologisch verfahrenden Realwissenschaften
und den typischen Geisteswissenschaften keine Brücke. Ein Abgrund
scheint zum Beispiel zwischen den philologischen Disziplinen und
den Naturwissenschaften zu klaffen. Dieser Eindruck beruht aber,
wie schon gezeigt wurde, im wesentlichen darauf, daß man das
noinologische Wissen zu vernachlässigen pflegt, das in der Herme­
neutik selbst verkörpert ist, und daß man daher auch die Möglich­
keit übersieht, diese Technologie durch theoretische Forschung zu
verbessern. Inzwischen dürfte dieser Gesichtspunkt aber durch die
Entwicklung einer theoretischen Linguistik auch den Vertretern die-
ser geisteswissenschaftlichen Disziplinen verständlicher geworden
■ •ein, zumindest, wenn sie sich darüber Gedanken machen, welcher
Zusammenhang zwischen ihren eigenen Forschungen und dieser Wis-
M-nschaff bestehen könnte. Im übrigen scheint mir auch die extreme
Kritik am Psychologismus in der älteren Lehre vom Verstehen, wie
man sie heute vielfach zu hören bekommt, infolge neuerer For­
schungsergebnisse korrekturbedürftig zu sein, denn es hat sich ja

»Iirbezüglicher Irrtümer vgl. z. B. Geoffrey Madell, Action and Causal Explana-


non. In: Mind, Vol. L X X V I, No. 301, 1967. Vgl. dazu aber auch schon die
Argumentation Max Webers gegen Rudolf Stammler in seinem in Anm. 70 ge­
nannten Aufsatz — a.a.O., S. 331 ff. —, die im Grunde genommen schon das We-
»entliehe enthält.
75 So etwa Arnold Levison in seinem Aufsatz: Knowledge and Society. In:
Inquiry, Vol. 9, No. 12, 1966, S. 132 ff.
76 Der Zusammenhang von Biologie, Psychologie und Linguistik wird heute
immer deutlicher; ich verweise hier nur auf die Arbeiten von Lorenz, Tinbergen,
Lcnncbcrg, Chomsky und schon Buhler, auch auf George H . Mead und Gehlen.
herausgestellt, daß die Linguistik selbst auf psychologische Gesichts­
punkte nicht verzichten kann77 und daß die Psychologie Symbol­
verhalten in ihren Erklärungsbereich einbeziehen muß78.
Soweit sich die Philologie auf die Interpretation von Texten
beschränkt, ist sie als eine rein historische Disziplin zu betrachten,
der es um die Feststellung unter gewissen Wertgesichtspunkten inter­
essanter singulärer Tatbestände geht79, die sich mit H ilfe hermeneu-
tischer Techniken aufhellen lassen. Dabei werden also Deutungs­
hypothesen produziert und geprüft80, und in dem dazu erforderlichen
Verfahren können Gesetzmäßigkeiten aller A rt hilfsweise herange­
zogen werden, soweit sie für die Beurteilung der Richtigkeit solcher
Deutungen relevant erscheinen. Das gilt auch für Gesetzmäßigkei­
ten sinnvollen Verhaltens, denn meist ist ja der motivationale und
soziale Kontext der Entstehung der betreffenden Texte für ihre
adäquate Deutung äußerst interessant. Daß man sich in dieser H in­
sicht mit dem Wissen des Alltags begnügen muß, ist nur so lange
plausibel, als die in Betracht kommenden theoretischen Wissen­
schaften keine einschlägigen Resultate zu liefern imstande sind.
In bezug auf Jurisprudenz und Theologie scheinen sich die Ver­
fechter der hermeneutischen Lehre zunächst in einer besseren Posi­
tion zu befinden, zumal sie ihre Lehre teilweise sogar auf das Mo-
77 Vgl. dazu etwa Eric H. Lenneberg, Biological Foundations of Language.
New York/London/Sidney 1967.
78 Vgl. dazu die seit langem bekannten Untersuchungen Buhlers, auf die schon
hingewiesen wurde. Der revisionsbedürftige Aspekt des älteren Psychologismus
scheint mir darin zu bestehen, daß man seinerzeit den Akzent zu sehr auf un­
mittelbares Erleben und auf Bewußtseinstatsachen legte, dabei aber Verhaltens-
gewohnheitcn und andere Tatbestände dispositionalen Charakters zu wenig be­
achtete. Eine in dieser Hinsicht ziemlich extreme Position ist in dem trotz eini­
ger gelungener Analysen im ganzen recht unglücklichen Versuch von Alfred
Schütz zu finden, die Webersche Auffassung durch Unterbauung mit der in dieser
Beziehung sehr belasteten Lehre Husserls neu zu fundieren, vgl. dazu: Alfred
Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die ver­
stehende Soziologie (1932). 2. Auflage, Wien i960. In diesem Werk werden ge­
rade die Schwächen der Husserlschen Konzeption, ihr extremer Positivismus und
ihre Bewußtseinsorientierung, zu Leitlinien einer Bemühung erhoben, die von
Weber vorgeschlagenen Problemlösungen auf ein gesickertes philosophisches Fun­
dament zurückzuführen. Zur K ritik eines solchen Fundamentalismus vgl. mein
o. a. Buck.
79 Vgl. dazu die o. a. Gedanken Diltheys.
80 Auf den Hypothesencharakter solcher Deutungen hat schon Max Weber
hingewiesen. Demgegenüber scheinen manche Hermeneutiker immer noch Ge­
wißheit für sie in Anspruch nehmen zu wollen.

142
ilcll solcher dogmatischer Disziplinen zugeschnitten haben, die aller­
dings von ihren Gegnern gerade wegen ihres dogmatischen Charak­
ters aus der Wissenschaft herausverwiesen werden81. Was die Theo­
logie angeht, so brauche ich mich in diesem Zusammenhang nicht
mehr damit zu beschäftigen82. Soweit die Jurisprudenz, wie be­
hauptet wird, dem gleidaen Typus angehört, bedarf sie natur­
gemäß einer analogen Kritik. Eine Wissenschaftslehre, die allem
<iegebenen »gerecht« wird, kann kaum den Anspruch machen,
ein kritisches Unternehmen zu sein. Immerhin habe ich nicht den
I in druck, daß es keine mögliche Auffassung der Jurisprudenz
gibt, die nicht genötigt sei, sie dem theologischen Muster ent-
• |»rechend zu deuten.
Soweit die Rechtswissenschaft sich nicht damit begnügt, die Rechts­
normen im sozialen Wirkungszusammenhang zu sehen und sie da­
her als soziale Tatbestände zu beschreiben und zu erklären, soweit
sie darüber hinaus der sozialen Praxis unmittelbare H ilfe leisten
will - und das scheint gerade die Zielsetzung der typischen Jurispru­
denz zu sein, die als »dogmatisch« charakterisiert zu werden pflegt - ,
kann sie Deutungsvorschläge für faktisch geltende Normen und
Änderungsvorschläge für sie produzieren, die von technologischen
Überlegungen unter bestimmten Wertgesichtspunkten ausgehen.
I >a rüber hinaus ist eine kritische Rechtsphilosophie möglich, die
die institutionellen Tatbestände des Rechtslebens und die mit ihnen
verbundenen Deutungen auf der Grundlage unserer Erkenntnis der
Kritik unterwirft und damit deren Dogmatisierung zu verhindern
sucht83. Daß die Jurisprudenz in ihrem Kern eine dogmatische Dis-
/iplin sein muß, steht also keineswegs so fest, wie aus den Äuße­
rungen auch liberaler und kritischer Vertreter dieser Disziplin her-
vorzugehen scheint84.

Ki Vgl. dazu etwa: Julius Kraft, Die Unmöglichkeit der Geisteswissenschaft


(1934). 2. Auflage, Frankfurt 1957, wo der »theologische« Charakter der Ju ­
risprudenz sehr akzentuiert wird, a.a.O., S. 50 ff.
Ki Vgl. dazu mein o. a. Buch, vor allem das V. Kapitel: Glaube und Wissen.
H3 Vgl. dazu Kapitel III und IV meines o. a. Buches, wo u. a. Möglichkeiten
der Wert-, Ideologie- und Sozialkritik erörtert werden.
H4 So z. B. aus den Bemerkungen Norberto Bobbios in seinem Aufsatz: Über
den Begriff der »Natur der Sache« (1958), abgedruckt in: Arthur Kaufmann
(llrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts. Darmstadt 1965, S. 102; v g l .
dazu auch Hermann Kantorowicz, Der Begriff des Rechts (1957). Göttingen o. J.,
Ober das Verhältnis der theoretischen Realwissenschaften zur
eigentlichen Historiographie gibt es seit einiger Zeit im angelsächsi­
schen Sprachraum eine Diskussion, die vor allem durch die Argu­
mente von Analytikern der Wittgenstein-Schule gegen den Natura­
lismus entstanden ist, gegen die Auffassung also, man könne in der
Geschichte nomologisches Wissen üblicher A rt zur Erklärung des
Geschehens anwenden85. Gegen diese Vorstellung von den Möglich­
keiten der Geschichtswissenschaft wurden allerlei Einwände geltend
gemacht, die im wesentlichen daran anknüpfen, daß die sprachliche
Form historischer Darstellungen üblicherweise mit dem bekannten
Modell der nomologischen Erklärung nichts zu tun zu haben scheint.
Die tatsächliche Praxis der Historiographie scheint also einem episte-
mologischen Ideal zu widersprechen, das den historischen Disziplinen
von außen her - das heißt unter anderem auch: von einem ihnen
fremden Erkenntnisinteresse her - aufoktroyiert werden soll86.
Diese auf sprachanalytische Überlegungen gestützten Einwände
vernachlässigen erstens die Tatsache, daß die Struktur einer Erkennt­
nisweise nicht durch die grammatische Analyse der Darstellungsform
ihrer Resultate ohne weiteres eruierbar sein muß87, zweitens die
Frage, welche Bedeutung denn die theoretischen Sozialwissenschaften
für die Geschichtswissenschaft haben oder haben können, und drit-

S. 40, wo der Rekurs auf ein Absolutum als unumgänglich hingestellt wird, ob­
wohl der Verfasser später — in seiner Kritik an Kelsen, a.a.O., S. 46 f. — ganz
von selbst auf das Problem des Regresses stößt, ohne allerdings dessen grund­
sätzliche Bedeutung für das Begründungsproblem zu erkennen.
85 Vgl. dazu etwa William Dray, Laws and Explanations in History. Lon­
don 1957, W. H. Walsh, An Introduction to the Philosophy of History, j. Auf­
lage, London 1957, sowie eine Reihe von Arbeiten in der Zeitschrift: History
and Theory; vgl. auch das Buch von Morton White, Foundations of Historical
Knowledge. New York/London 1965, wo eine vermittelnde Position formuliert
wird, in der allerdings die kausale Deutung des Geschehens aufrechterhalten
bleibt; dazu kritisch: Rudolf H . Weingartner in: History and Theory, V II,
No. 2, 1968.
86 Einige Historiker scheinen zu fürchten, daß die Rezeption der Methoden
der theoretischen Sozialwissenschaften die Historiographie zugrunde richten
würde; vgl. dazu etwa die Mommsensche Besprechung des von Ernst Topitsch
herausgegebenen Aufsatzbandes: Logik der Sozialwissenschaft. In: History and
Theory, Vol. V II, No. 1, 1968, S. 158 ff.
87 Vgl. dazu den kritischen Aufsatz William Warren Bartleys, Achilles, the
Tortoise, and Explanation in Science and History. In: British Journal for the
Philosophy of Science, X III/49 , 1962.

144
tens scheinen sie davon auszugehen, daß eine Methodologie der hi­
storischen Erkenntnis die Aufgabe haben müsse, den bestehenden
Zustand zu rechtfertigen, das heißt also: daß sie die traditionellen
Methoden der historischen Erkenntnis auf jeden Fall unberührt zu
lassen habe. Eine echte K ritik der historischen Vernunft, die über
die Zielsetzungen der Sprachanalyse hinausgeht, wäre mit einer sol-
dien Einstellung wohl nicht zu vereinbaren.
Daß das Erkenntnisinteresse im Bereich der historischen D iszipli­
nen nicht primär auf die Aufstellung erklärender Theorien nomo­
logischen Charakters gerichtet ist, darüber braucht natürlich kein
Wort verloren zu werden. Die Frage ist nur, ob ein Interesse an
der Erklärung des tatsächlichen Geschehens besteht, das nur unter
Verwendung solcher Theorien — also durch Analyse individueller
Kausalzusammenhänge mit ihrer H ilfe - befriedigt werden kann.
I in solches Interesse ist aber nicht nur möglich und sinnvoll, sondern
es scheint auch hinter den Bemühungen vieler Historiker seit Thuky-
dides zu stehen. Daß die Historiker im allgemeinen ihre Darstel­
lung nicht in die Form expliziter erklärender Argumente bringen,
läßt sich schon dadurch verständlich machen, daß sie sich sehr häufig
damit zufriedengeben - unter Umständen auch damit zufrieden
sein müssen - , die Erklärungsgewohnheiten des Alltags in Anspruch
zu nehmen, deren Explizierung wegen ihrer Trivialität die D ar­
stellung nur belasten würde88. D er nomologische Hintergrund der
historischen Darstellung zeigt sich in diesem Falle oft nur in der
Auswahl der geschilderten Tatsachen. Im übrigen wird davon aus­
gegangen, daß der Leser in der Lage ist, auf Grund seines eigenen
Wissens diesen Hintergrund zu identifizieren und eventuell sogar
die in den betreffenden Punkten skizzenhafte Darstellung zu ergän­
zen. In diesem Falle wird also die Vertrautheit bestimmter Regel­
mäßigkeiten unterstellt und für die Schilderung der interessierenden

88 Auf diesen Punkt hat schon M ax Weber deutlich aufmerksam gemacht —


vgl. dazu seine Arbeit über Knies und das Irrationalitätsproblem, abgedruckt in
seinen Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre, a.a.O., S. i n ff. —, und
zwar im Zusammenhang mit einer sehr instruktiven Erörterung des Problems der
»Intuition« in der historischen Erkenntnis. Vgl. auch seine Studie über: Objektive
Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, im
gleichen Bande, besonders S. 277 ff.

145
Wirkungszusammenhänge ausgenutzt89, und zw ar um der Ökono­
mie der Darstellung willen. Jedenfalls kann die kausale Bedeutung
bestimmter Tatsachen im historisdien Denken nur auf nomologischer
Grundlage beurteilt werden, auch wenn diese Grundlage in der
jeweiligen Schilderung der Geschehenszusammenhänge nur andeu­
tungsweise oder skizzenhaft zum Ausdruck kommt90.
Der Hinweis auf die Rolle der Erklärungsgewohnheiten des A ll­
tags in der historischen Analyse gibt aber gleichzeitig einen Anhalts­
punkt dafür, worin die Bedeutung der theoretischen Realwissen­
schaften für die Geschichtsforschung besteht. Es ist ja gerade die
Aufgabe dieser Wissenschaften, die im Alltagsdenken üblichen V or­
stellungen über die Beschaffenheit der Realität zu überwinden und
damit also auch die Erklärungsgewohnheiten, die in diesem Denken
verwurzelt sind, der K ritik zu unterwerfen. Das gilt natürlich auch
für die Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft. Daß
die historischen Disziplinen auch da noch mit den vertrauten Denk­
mustern des Alltags operieren sollen, wo der Erkenntnisfortschritt
in den theoretischen Wissenschaften sie überwunden hat, dürfte wohl
keineswegs eine Maxime sein, die von Vertretern dieser Disziplinen
in vollem Bewußtsein ihrer Konsequenzen akzeptiert werden
könnte. Eine Geschichtswissenschaft jedenfalls, die von einer Metho­
dologie der kritischen Prüfung ausgeht, wird daher Wert darauf
legen müssen, diejenigen Resultate der theoretischen Wissenschaften
zu assimilieren, die für ihre Untersuchungen jeweils erklärungsrele­
vant zu sein scheinen. Sie w ird also die Tatsache in Rechnung stel­
len, daß die Erklärungsgewohnheiten des Alltags auf Grund neuen

89 Man kann hier in einem sehr unspezifischen Sinne natürlich von »Verste­
hen« sprechen, nämlich im Sinne der Einordnung von Tatbeständen in altver­
traute Auffassungsmuster; vgl. dazu Heinrich Gomperz, Über Sinn und Sinnge­
bilde. Verstehen und Erklären. Tübingen 1929, wo von einem solchen Begriff des
Verstehens her gewisse Züge des hermeneutischen Denkens, die im Gegensatz
zum naturwissenschaftlichen Denkstil stehen, beleuchtet werden.
90 Schon M ax Weber hat in seiner Auseinandersetzung mit Eduard Meyer auf
diesen Punkt hingewiesen. Diese Auseinandersetzung zeigt außerdem, daß sich
Weber offenbar darüber klar war, daß aus den in Frage kommenden Theorien
irreale Konditionalsätze (contrary-to-fact-conditionals) zu folgern sind, Aussa­
gen also, die dem Historiker suspekt zu sein pflegen. Er hat in seiner Analyse die
Relevanz solcher Aussagen für die historische Forschung zeigen können, vgl. dazu
seine o. a. Studie über: Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der
historischen Kausalbetrachtung, S. 26 6 ff.

146
nomologischen Wissens möglicherweise kritisierbar und korrigierbar
sind9192.
Es kommt also für die historische Forschung keineswegs darauf
an, die Darstellung der analysierten Wirkungszusammenhänge mit
der ausführlichen Explikation aller in Betracht kommenden trivia­
len Gesetzmäßigkeiten auszuschmücken, und schon gar nicht darauf,
jeweils induktiv ad hoc-Generalisierungen von der A rt zu kon­
struieren, wie sie in den durch die Vertreter der analytischen Philo­
sophie O xforder Prägung in diesem Zusammenhang formulierten
Argumenten eine Rolle spielen02, sondern vielmehr darauf, das no­
mologische Wissen der theoretischen Sozialwissenschaften adäquat
zu verwerten, vor allem da, wo sich neue Erklärungsmöglichkeiten
ergeben und wo es möglich ist, bisherige Analysen von Wirkungs­
zusammenhängen einer Kritik auf Grund dieses Wissens zu unter­
werfen. Dabei kann sich durchaus eine völlig neue Beschreibung aus
früheren Darstellungen bekannter Ereignisse und Zustände ergeben
oder besser: eine Änderung der Auffassung über den tatsächlichen
Verlauf des historischen Geschehens - , denn die Konstruktion der
historischen Zusammenhänge auf Grund der vorhandenen Quellen
ist selbst ein Verfahren, das in erheblichem Maße vom Stand des
theoretischen Wissens abhängt.
Nicht nur die für die Erklärung zu benutzenden Gesetze, auch die
Tatsachenfeststellungen des historischen Denkens haben den Cha­
rakter von Hypothesen. Daß schon die in der Quellendeutung an-
gcwendete diagnostische Technologie theoretische Grundlagen hat,

91 Max Weber, der, wie seine Ausführungen über den Charakter des nomolo-
gi sehen Wissens in den Sozialwissenschaften zeigen, im allgemeinen wohl von
der Trivialität der meisten Bestandteile dieses Wissens überzeugt war, hat nichts­
destoweniger die M ö g li c h k e it in Rechnung gestellt, daß neue interessante Resul­
tate dieser A rt für die historische Forschung in Betracht kommen; vgl. seine o. a.
Arbeit über Knies und das Irrationalitätsproblem, S. 78 und S. 11 2 . Inzwischen
hätte er wohl angesichts der Fortschritte der Psychologie und anderer Disziplinen
noch mehr Anlaß, solche Möglichkeiten zu berücksichtigen.
92 Zur K ritik dieser Argumentation, die erhebliche Mißverständnisse über den
Charakter des nomologischen Denkens involviert, vgl. Leon J . Goldstein, Theory
in History. In : Philosophy of Science, Vol. 34, 1, 1967, S. 23 ff.; vgl. auch die
frühere Arbeit des gleichen Autors: Evjdence and Events in History. In: Philo-
»ophy of Science, Vol. 29, 2, 19(52, s. 175 ff. In beiden Arbeiten findet man
wichtige Argumente zu unserer Problematik und zur angelsächsischen Kontroverse
über diese Probleme.

147
darauf wurde bereits in unserer Analyse der Hermeneutik hinge­
wiesen. Es können sich also durchaus auch Korrekturen an soge­
nannten Tatsachen ergeben, und zwar auf Grund neuer Ergebnisse
der Quellenforschung wie auf Grund neuen nomologischen Wissens.
Darüber hinaus können sich aus Fortschritten der theoretischen Wis­
senschaften neue Problemstellungen auch für die Historiographie
ergeben. N ur eine Geschichtswissenschaft, die sich gegen solche
Neuerungen abschirmen und ihre Konstruktionen und Kausalana­
lysen gegen mögliche K ritik immunisieren wollte, hätte ein M otiv,
die Resultate und Methoden der theoretischen Realwissenschaften
zu ignorieren. Daß die Rezeption des von der Philosophie des spä­
ten Wittgenstein ausgehenden analytischen wie des durch Heidegger
beeinflußten hermeneutischen Denkens die Geschichtswissenschaft in
eine solche Richtung drängen würde, scheint mir außer Zw eifel zu
stehen.

y. Hermeneutik und Aufklärung

Damit kommen w ir auf einen wesentlichen Zug des hermeneutischen


Erkenntnisprogramms zurück, der durch die oben erörterte Haber-
mas-Apelsche Interessenlehre nur verdeckt wird, nämlich seine
durch und durch konservative Tendenz, die, wie w ir gesehen haben,
mit seiner Abstammung aus dem theologischen Denken und ver­
wandten Denkweisen zusammenhängt. Bei Gadamer kommt diese
Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck, aber auch in den A r­
beiten derjenigen seiner Schüler, die sich in letzter Zeit in diesem
Punkt explizit von seinen Auffassungen distanziert haben, läßt sie
sich unschwer erkennen. Es handelt sich dabei ja nicht nur darum,
daß etwa, wie bei Gadamer selbst, in bezug auf theologische Argu­
mentationen oder in anderer Hinsicht ausdrücklich konservative
Intentionen zum Vorschein kämen, sondern darüber hinaus um die
impliziten Tendenzen, die den in diesem Lager verfochtenen metho­
dologischen Auffassungen inhärent sind.
Der Prim at des Verstehens, der die Erkenntnislehre dieser Rich­
tung auszeichnet - der sich schon darin zeigt, daß sie selbst als her-
meneutisches Unternehmen in transzendentaler Maskerade auf­
gezogen ist und die damit verbundene instrumentalistische Ab-

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Wertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sind symptomatisch
für einen Denkstil, der dazu tendiert, die Deutung des Geschehens
mit H ilfe vertrauter Auffassungsmuster zu begünstigen und die auf
theoretische Neuerungen und die Entdeckung bisher unbekannter
Tatbestände zielende Methode, die sich in den Naturwissenschaf­
ten bewährt hat, a limine abzuweisen. Es geht darum, den Einbruch
der naturwissenschaftlichen Methode in das Revier der Geisteswis­
senschaften, der de facto schon seit langem im Gange ist, aufzuhal­
ten und die noch nicht davon berührten Teile dieser Wissenschaften
abzuschirmen, ein Unternehmen, das in den früheren theologischen
Bemühungen, die seit der Entstehung der modernen Naturwissen­
schaften entwickelten neuen Auffassungen unschädlich zu machen,
seine Präzedenzfälle hat.
Der deutsche Geist hat sich mit der Aufklärung nie besonders
anfreunden können. E r hat in der Romantik und im deutschen Idea­
lismus seine Gegentendenzen zur Geltung gebracht, und er scheint
auch in philosophischen Strömungen, die sich selbst als kritisch und
darüber hinaus mitunter als revolutionär auffassen und diese
Selbstauffassung durch ein entsprechendes politisches Engagement
unter Beweis zu stellen suchen, eher noch seinem theologischen
Erbe verpflichtet zu sein93 als jener Tradition des kritischen Den­
kens, die in der griechischen Antike entsprungen ist und nach langer
theologischer Pseudomorphose seit der Renaissance wieder zuneh­
mend an Einfluß gewonnen und Wirkungen auf alle Lebensbereiche
gezeitigt hat. Hinter der Ideologiekritik, die hermeneutische Phi­
losophen heute im Geiste des deutschen Idealismus auf der Grund­
lage einer Geschichtsphilosophie in praktischer Absicht in Aussicht
stellen, kann man, wenn man ihren methodologischen und ontolo­
gischen Anti-Naturalismus und die hinter ihm stehenden Tenden­
zen durchleuchtet, selbst eine Ideologie erkennen, nämlich jene neue
deutsche Ideologie des hermeneutischen Idealismus, die der Radika­
lisierung des hermeneutischen Denkmotivs durch Heidegger ent­
scheidende Impulse verdankt und im übrigen gerade diejenigen Mo-
tive des Hegelschen Denkens übernimmt, die der theologischen T ra­
dition entstammen.
93 Vgl. dazu Ernst Topitsch, Die Freiheit der Wissenschaft und der politische
Auftrag der Universität. Neuwied/Berlin 1968.

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Bibliographischer Nachweis

Die Idee der kritischen Vernunft. In: Club Voltaire. Jahrbuch für
kritische Aufklärung I. Verlag Gerhard Szczesny, München 1963.

Tradition und Kritik. In : Club Voltaire. Jahrbuch für kritische


Aufklärung II. Verlag Gerhard Szczesny, München 1965.

Kritische Rationalität und politische Theologie. In: Das 198. Ja h r­


zehnt, Hrsg. v. Claus Grossner, Arend Oetker, Hans-Hermann
Münchmeyer, C arl Christian von Weizsäcker. Verlag Christian
Wegner, Hamburg 1969.

Wissenschaft und Verantwortung. In: Mens en Maatschappij. 45. Jg.,


N r. 5, September/Oktober 1970.

Hermeneutik und Real Wissenschaft. In: Sozialtheorie und soziale


Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Hans
Albert. Verlag Anton Hain, Meisenheim/Glan 19 7 1.
Hans Albert

geboren 8. 2. 19 2 1 in Köln, 1939 Abitur, bis 1945 Wehrdienst,


nach 1945 Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft
und Beginn des Studiums der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft
an der Universität Köln, 1950 D ipl.-Kfm ., 1952 Dr. rer. pol.
mit soziologisch-philosophischer Arbeit (Rationalität und E x i­
stenz), 19 52-19 58 Assistent am Forschungsinstitut für Sozial- und
Verwaltungswissenschaften an der Universität Köln, 1957 P rivat­
dozent in Köln, 1963 R u f nach Mannheim, Lehrstuhl für Sozio­
logie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim.

V eröffentlichungen

ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen, 1954


Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Berlin/Neuwied, 1967
Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, 2. Aufl. 1969
Plädoyer für kritischen Rationalismus, München 19 71
Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (mit Adorno/
Dahrendorf/Habermas/Pilot/Popper), Neuwied/Berlin 1969
Aufsätze in philosophischen, soziologischen, ökonomischen Zeit­
schriften und Sammelbänden.

Herausgeber

Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung, Festschrift für Ger­


hard Weisser, Berlin 1963 (mit Friedrich Karrenberg)
Theorie und Realität. Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre
der Sozialwissenschaften, Tübingen 1964
Werturteilsstreit, in: Wege der Forschung, B d .C L X X V , Darmstadt
1971 (mit Ernst Topitsch)
Sozialtheorie und soziale Praxis. Festschrift für Eduard Baumgar­
ten, Meisenheim/Glan 1971

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