Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Sigrid Weigel, geb. 1950, ist Direktorin des Zentrums für Litera-
tur- und Kulturforschung in Berlin sowie Professorin am Institut
für Literaturwissenschaft an der dortigen Technischen Universität.
Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt »Genea-Logik. Generation,
Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaf-
ten« (München 2006) und »Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blut-
zeugen und Heiligen Kriegern« (München 2007).
Walter Benjamin
Die Kreatur, das Heilige,
die Bilder
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Vorwort
Begriff der Kreatur ist für ihn insofern Symptom einer Verwechs-
lung des Schöpfungs- mit dem Naturzustand (Kap. 1).
Seine Bemerkung zum Prädikat der Heiligkeit als belletristi-
scher Floskel bedeutet allerdings nicht, daß ihm das Heilige für die
Dichtung unwichtig wäre, im Gegenteil. Benjamins Kritik richtet
sich gegen Kunstprogramme, die das dichterische Schaffen heilig-
sprechen und dem Dichter damit gleichsam ein göttliches Mandat
zuschreiben. Dagegen sieht er den Dichter eher als Nachfahren
von kultischen Praktiken, die in der Geschichte – verstanden als
Entfernung von der Schöpfung – verlorengegangen sind, betrach-
tet er die Dichtung eher als Asyl für Anliegen, die der Theologie
entglitten sind. Das hat weniger mit dem Dichter zu tun als mit der
Sprache, da jede Sprache in irgendeiner Weise in der Nachfolge der
biblischen Sprache, des Mediums der Offenbarung, steht – wenn
auch meist im Modus von Abfall, Übersetzung und Konventio-
nalisierung, von Abstand und Entstellung. Denn der Abstand von
der Schöpfung, an der auch die Sprache in der Geschichte teil-
hat, wird von Benjamin als strukturelle Differenz zur Offenbarung
behandelt. Wenn jedoch der poetische Umgang mit Sprache an
die Heiligung des Namens erinnert, weil die Worte ›beim Namen
genommen‹ werden, dann wird die Dichtung zu einer Einbruch-
stelle für Bedeutungen, die einer höheren Ordnung entstammen.
Sie wird jedoch niemals mit dieser identisch und auch niemals zu
ihrem profanen Substitut (Kap. 4).
Benjamins Anerkennung der Tatsache, daß nicht wenige, insbe-
sondere die gewichtigsten Begriffe des europäischen Denkens – wie
etwa Leben, Mensch, Gerechtigkeit – der biblischen Überlieferung
entstammen, sowie die Konsequenzen, die diese Anerkennung für
seine Theoriebildung, für den Umgang mit Sprache und Geschich-
te, mit Dichtung und Kunst hat, stehen im Zentrum dieses Bu-
ches. Benjamins rhetorische Frage erheischt heute eine eindeutige
Antwort: Es ist nötig. Angesichts der Tatsache, daß er die Bemer-
kung zum Heiligen als eigentlich überflüssig bewertet hat, ist es
erstaunlich, wie schwer sich die Benjamin-Rezeption mit seiner
Auseinandersetzung mit Theologie, Religion und dem Heiligen
tut (Kap. 1). Denn in dieser Hinsicht läßt sich eine strukturbil-
12 Vorwort
Wort fällt« (Kap. 4). Insofern fügt sich sein Umgang mit der Über-
lieferung auch nicht in den Gegensatz von Theologie und Philoso-
phie. Benjamins Position jenseits von Theologie und Philosophie
kommt vor allem in seinem Bilddenken zum Ausdruck, in seinen
Sprachbildern, Denkbildern und dialektischen Bildern. Da dieser
genuine Benjaminsche Umgang mit der Sprache in den meisten
Übersetzungen seiner Schriften in andere Sprachen regelförmig
verschwindet, weil die Denkbilder entweder in Metaphern oder
aber Begriffe übersetzt werden, verliert seine Theorie in der inter-
nationalen Rezeption nicht selten ihre spezifische Signatur. Wäh-
rend seine Überlegungen hierdurch sehr viel leichter kompatibel
erscheinen mit aktuellen theoretischen Diskursen, wird dabei oft
gerade jene Dimension der Sprache unkenntlich, die an religiöse
Zitate in profanen Begriffen erinnert (Kap. 7).
Vergessene Bilder:
die Bedeutung der Kunst für Benjamins Epistemologie
Andererseits hat die Dominanz der Denkbilder in Benjamins Schrif-
ten bislang die zentrale und unersetzliche Bedeutung von aistheti-
scher Wahrnehmung und gesehenen Bildern für seine Erkenntnis-
weise verdeckt. Tatsächlich nämlich nehmen Kunstwerke, Gemälde
und Drucke, d. h. Bilder aus der Kunstgeschichte, eine heraus-
gehobene Stellung in seinen Schriften ein: nicht nur die beiden
Ikonen seines Werks, Dürers Melencolia und Klees Angelus Novus,
ohne deren Erwähnung nur wenige Benjamin-Bücher und -Artikel
auskommen; und nicht nur die photo- und kinematographischen
Bilder, die für seine Kulturtheorie der Moderne so wichtig sind
(Kap. 10), sondern Bilder von Künstlern unterschiedlichster Prove-
nienz, vom Mittelalter über die Renaissance und das Barock bis zur
Moderne, zu Expressionismus, Kubismus und Surrealismus. Wäh-
rend sich viele Arbeiten mit Benjamins Kunstbegriff, Kunstkritik
und Kunsttheorie auseinandergesetzt haben, ist eine Untersuchung
der Frage, welche epistemische Bedeutung den Kunstwerken selbst
zukommt, bislang ausgeblieben.
Auch die Bilder der Kunst stehen bei Benjamin – wie die
Vorwort 15
gar nicht in der Funktion von Termini technici, d. h. von fachsprach-
lichen Begriffen. Denn der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt
seiner Kritik der Gewalt besteht ja gerade darin, sie jenseits juristi-
scher oder staatsrechtlicher Fachgrenzen – und jenseits des positiven
Rechts – zu erörtern, indem er die geschichtstheoretischen Vor-
aussetzungen der Rechtsetzung und Rechtserhaltung in den Blick
nimmt. Und was die konkreten Begriffe betrifft, die von Agamben
als Schmittscher Wortschatz in Benjamins Essay gedeutet werden,
so zeigt die genauere Lektüre, daß Benjamin zwar vom ›Ernstfall‹
spricht, dies aber im Zusammenhang seiner Analyse des Kriegs-
rechts. Dessen Widersprüche bestehen für ihn gerade darin, daß
Rechtssubjekte damit eine Gewalt sanktionieren, »deren Zwecke
[…] mit ihren eigenen Rechts- und Naturzwecken im Ernstfall in
Konflikt geraten« (185). Der Ernstfall meint hier also das Wirksam-
werden des Kriegsrechts durch das Eintreten des Kriegsfalls, d. h.
des Ernstfalls. Und der Begriff ›Entscheidung‹ ist mit Bedacht in
Anführungsstriche gesetzt, wenn Benjamin ausführt, daß durch
diese metaphysische Kategorie, die vom Recht anerkannt werde,
das Recht »Anspruch auf Kritik« erhebt (189). Er betrachtet die
Inanspruchnahme der Kategorie der Entscheidung durch das Recht
also als kritikwürdig.
Ebenso wird man die Bedeutung des für Benjamins Betrach-
tungsweise zentralen Begriffs der ›reinen Gewalt‹ verfehlen, wenn
man ihn – wie Agamben – als Terminus technicus von Benjamins
Essays versteht (Agamben 2004, 73). Die zentralen Begriffe der
zeitgenössischen Debatte über revolutionäre Gewalt werden von
Benjamin vielmehr im Hinblick auf ihre mythischen und religi-
onsgeschichtlichen Begründungen beschrieben, die in ihnen ein-
geschlossen sind und damit in vermittelter Weise in Anspruch ge-
nommen werden. Insbesondere die zitierte Passage über das Gebot
fällt in ihrer Diktion aus jeder fachsprachlichen Gewißheit heraus,
ist darin doch von ungeheuren Fällen, von Einsamkeit, Verantwor-
tung und der Absehung vom Gebot die Rede – anstelle von einer
Entscheidung im Ausnahmezustand.
20 Vorwort
ben als unvergleichliches Märtyrertum preist, die Tote als ›Heilige‹ be-
zeichnet und sie gleichsam in die Nachfolge Christi stellt. Seine Kritik
gilt in diesem Text aber mehr noch einem zeitgenössischen Dichter-
Kult Georgescher und Gundolfscher Provenienz, in dem der Dichtung
sakrale Attribute zugeschrieben werden. Durch die Konstruktion der
Dichtung als Quasi-Religion werde, so Benjamin, eine Remythisie-
rung vollzogen, die hinter die Trennung von Kunst und Philosophie
beim Ausgang des Mythos in der griechischen Antike zurückgeht. Die-
ser Remythisierung der Kunst als Krypto-Religion stellt er eine strikte
Grenzziehung zwischen dem Kunstdiskurs und einer ›Rede vor Gott‹
entgegen, die er am Text von Goethes Roman entwickelt. Der Text
argumentiert entlang einer systematischen Unterscheidung zwischen
den Begriffen menschlicher und göttlicher Ordnung, wie beispielsweise:
zwischen ›Aufgabe‹ und ›Forderung‹, zwischen ›Gebilde‹ und ›Geschöpf‹,
zwischen der ›Aussöhnung‹, die unter Menschen stattfindet, überwelt-
licher ›Versöhnung‹ und der Vorstellung einer ›Entsühnung‹ durch eine
göttliche Instanz. In Gestalt der dabei erörterten Dialektik von natür
lichem und übernatürlichem Leben und dem Motiv vom »Schuldzusam-
menhang des natürlichen Lebens« unterhält der Goethe-Essay direkte
Verbindungen zur Kritik der Gewalt, einem Text, in dem sich Benjamins
Bemühung um begriffliche Differenzen auf Recht und Gerechtigkeit
konzentriert (Kap. 4).
Auf der Schwelle von Schöpfung
und Weltgericht
1. Die K r eatur und das Heilige
Benjamins Umgang mit der Säkularisierung
Zunächst springt dabei das Wort »schnöde« ins Auge. Es grenzt die
Stiftersche Version poetischer Säkularisierung der Naturphänomene
sowohl von einer andersgearteten, irgendwie nicht schnöden Säku-
larisierung ab als auch von einer mehr als schnöden, womöglich
verwerflichen Säkularisierung. Ebenso auffällig ist die Charakteri-
sierung des Gesetzesbegriffs als bescheiden, doch bedenklich. Die
Mehrdeutigkeit des Attributs bescheiden, das soviel wie genügsam
heißt, aber auch als dürftig oder ungenügend gelesen werden kann,
wiederholt sich im Changieren des Bedenklichen zwischen besorg-
niserregend und bedenkenswert.
Benjamins Kommentar zu dieser schnöden Säkularisierung setzt
sich aus zwei Argumenten zusammen: erstens, daß in Stifters Rede
von der »Wirkung höherer Gesetze« das Konzept des Heiligen durch
den Gesetzesbegriff ersetzt wird und daß diese Substitution, in-
dem sie stillschweigend erfolgt, zugleich verborgen bleibt. Die Be-
denklichkeit des Gesetzesbegriffs ergibt sich nicht zuletzt aus dieser
stillschweigenden Form der Ersetzung, mit der die Formel ›höhere
Gesetze‹ auch dann noch von der Bezugnahme auf das Heilige pro-
fitiert, wenn sie dessen Sphäre hinter sich gelassen zu haben scheint.
Das zweite Argument wird mit einem »aber« eingeleitet und hebt
die Transparenz der Stifterschen Natur und Sittenwelt hervor, durch
die ihr kreatürlicher Status erkennbar bleibt und deshalb nicht mit
der Kantschen Sittenwelt verwechselt werden kann. Eine nähere
Ausführung über das Gegenteil, d. h. über eine Erscheinungsform,
in der die Kreatürlichkeit der Stifterschen Natur unkenntlich wür-
de, weil sie nicht transparent, sondern obskur wäre, bleibt Benja-
min an dieser Stelle schuldig. Sie wird allenfalls angedeutet mit dem
Hinweis auf die »kantische Sittenwelt«. Der Pathosformel der Kritik
der praktischen Vernunft über die »[z]wei Dinge«, die »das Gemüt mit
immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht« er-
füllen, der vielzitierten Formulierung »Der bestirnte Himmel über
mir, und das moralische Gesetz in mir« (Kant 1956, 300), wi-
dersprechen die Bunten Steine durch Stifters Unterscheidung dieser
›zwei Dinge‹. »Auffälliges« in der Natur betrachtet er als Äußerung
allgemeiner, still und unauf hörlich in der Natur wirkender Geset-
ze, während »Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten«
30 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
für ihn nur kleine Merkmale einer allgemeinen Kraft sind, näm-
lich eines Sittengesetzes, das, so Stifter, »still und seelenbelebend
durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen« (zit.
nach II .1/340) wirkt. Damit wird das Bewunderungswürdige der
Naturgesetze von demjenigen unterschieden, das auf Sittengeset-
ze zurückgeht. Auf dem Wege seines Stifter-Kommentars kritisiert
Benjamin hier indirekt Kants Ethik, die in der Annahme eines »von
der ganzen Sinnenwelt unabhängige[n] Leben[s]« der »Intelligenz«
(Kant 1956, 300) den kreatürlichen Kern der Natur – auch der
menschlichen – verkennt. Im Gegensatz zur größeren Transparenz
in der Stifterschen Differenzierung von Natur und Sittenwelt, die
Benjamin hervorhebt, nimmt er aber an dessen Umgang mit dem
Gesetzesbegriff Anstoß. Er kritisiert ihn als Deckbegriff für eine
verschwiegene Vorstellung vom Heiligen.
Die Bestimmung einer nicht schnöden Säkularisierung bleibt in
Benjamins Text allerdings eine Leerstelle, sie sich vorzustellen den
Lesern aufgegeben. Immerhin aber soviel wird klar: Die mit dem
»schnöde« unwillkürlich aufgeworfene Frage nach den Möglichkei-
ten und Formen einer andersgearteten Säkularisierung erhält eine
bestimmte Richtung. Sie verweist auf die Erkennbarkeit jener Er-
setzungen, denen sich Operationen der Säkularisierung verdanken.
Der Hinweis auf das Stillschweigende impliziert zugleich, daß Er-
kennbarkeit einen anderen sprachlichen oder rhetorischen Modus
erforderte. Säkularisierung, die nicht schnöde verfährt, ist damit
als eine reflexive Haltung im Umgang mit dem religiösen Erbe in
der Moderne bestimmt. Bis hierhin läßt sich soviel festhalten: Im
Kontext der Säkularisierung wird der Begriff des Gesetzes von Ben-
jamin insoweit als Deckbegriff kritisiert, als sich in ihm die genaue
Beziehung zwischen Heiligem und Kreatürlichem verbirgt. Damit
versammelt diese Passage drei Zentralbegriffe – das Gesetz, das Hei-
lige, die Kreatur –, die in der jüngsten Benjaminrezeption eine er-
höhte Aufmerksamkeit erfahren haben.
Um nun zu erörtern, was die schnöde Säkularisierung mit Karl
Kraus zu tun hat, muß zunächst der textuelle Zusammenhang er-
läutert werden. Die zitierte Passage stammt aus dem ersten Teil
des – als Triptychon komponierten – Kraus-Essays aus dem Jahre
Die Kreatur und das Heilige 31
Ironie: Die Kreatur sei für Kraus »der wahre Tugendspiegel der
Schöpfung, in welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns aus ver-
lorener Zeitenferne herüberlächeln«. Seine Ironie gilt der Projek
tion eines Zustands, der die Unschuld des Paradieses mit den erst in
der Kulturgeschichte entstandenen Tugendwerten verwechselt und
diese ›Reinheit‹ ausgerechnet in den Tieren sieht. Für genau die-
se Projektion eines Schöpfungsstandes in der Geschichte steht der
Name der Kreatur. Schaut der Mensch im Spiegelbild der Kreatur
sich selbst ins Antlitz, dann verschwimmen ihm Schöpfung und
Historie. In den Tieren als Emblemen von Kraus’ Haltung ent-
deckt Benjamin deshalb auch etwas »unendlich Fragwürdige[s]«.
Das liegt vor allem darin, daß es sich um seine eigenen ›Geschöpfe‹
handelt, da »sie allein aus denen sich rekrutieren, die Kraus selber
geistig erst ins Leben gerufen« hat, »die er in ein und demselben
Akt zeugte und überzeugte«. – Damit konstatiert Benjamin am
Beispiel von Kraus ein autopoietisches System, in dem die eige-
nen Imaginationen als Verkörperungen der Schöpfung betrachtet
werden, in deren Spiegelung ein Widerschein der Schöpfung auf
den Autor zurückfällt. Zugespitzt wird diese Kritik im Bild vom
»Tempel der Kreatur«. Benjamin formuliert gegen dieses Verfahren
einen gewichtigen Einwand, der für die gegenwärtigen Debatten
über fiktionalisierte ›Zeugnisse‹ des Holocaust 2 zentral ist: »Bestim-
men kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden
kann.« (341) Damit kritisiert Benjamin nicht nur eine Bezugnahme
auf Tiere als Stellvertreter eines kreatürlichen, gleichsam gottes-
geschöpflichen Status von Unschuld, der nicht nur von den wirk
lichen, leiblichen Tieren absieht. Er reserviert das Zeugnis auch für
eine Konstellation, die frei von ›geistiger‹ Zeugung, d. h. von einer
imaginären Generierung von ›Leben‹ ist.
Die Art und Weise, wie Benjamin die Reden und Schriften von
Karl Kraus im Hinblick auf ihre Zweideutigkeit kommentiert,
kann hier nicht en détail ausgeführt werden. In der Erörterung der
2 In diesem Sinne habe ich versucht, im Hinblick auf die Nachgeschichte des
Holocaust die Geste des Zeugnisses von historischer und juristischer Zeugenschaft
zu unterscheiden (vgl. Weigel 2000b).
34 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Mit zwei der zentralen Motive, der Kreatur als Tugend- oder Mo-
ralspiegel und der Betrachtung von Geschichte als Natur, schließt der
Kraus-Essay an das Trauerspielbuch an und schreibt dortige Überle-
gungen zur Säkularisierung fort. Darin hatte Benjamin die barocke
Welthaltung untersucht, für die Geschichte selbst als Trauerspiel
erscheint und von der Schöpfung ununterscheidbar geworden ist.
Genau das ist die theologische Erbmasse von Spekulationen aus
dem 17. Jahrhundert, die für Benjamin in die Vorgeschichte jener
schnöden Säkularisierung gehören, in der im 19. Jahrhundert ›Na-
turwunder‹ als Wirkungen höherer Gesetze betrachtet wurden.
Kritik der Gewalt, hat Benjamin vom Doppelsinn solcher Worte wie
Dasein und Leben »aus ihrer Beziehung auf je zwei Sphären« gespro-
chen (II .1/201). Es ist also das, was am Dasein mehr und anderes ist
als das »bloße natürliche Leben« (200), was dem Menschen in der
»Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande« entzogen
wird. Einer biblischen Vorstellung entstammend, ist das mensch
liche Dasein als natürlich und übernatürlich zugleich ein Produkt
der Geschichte. Im Wissen um diese andere Sphäre ist das Bewußt-
sein eines Verlustes, der sich im Begriff der Kreatur ausdrückt, doch
von diesem Wissen geprägt. Wenn Personen, die sich zurückge-
worfen finden auf das bloße Leben, sich im Zustand der Schöpfung
begreifen, dann betrifft der Begriff der Kreatur den Verlust, nicht
aber den ursprünglichen Zustand der Schöpfung. Insofern ist dem
Begriff der Kreatur die Herkunft aus der Schöpfung ebenso einge-
schrieben wie der Abstand zum »harmlosen ersten Schöpfungsstan-
de« (I .1/253). Das bedeutet, daß der Begriff der Säkularisierung
im Trauerspielbuch als eine Art Gegenbegriff zum Messianismus
verwendet wird. Während das Messianische auf die Erlösung in der
Vollendung der Historie zielt, meint die Säkularisierung hier einen
Entzug sakraler Bedeutung in der Geschichte, die Rückverwand-
lung von Dasein in den Zustand der Kreatur bzw. von Geschichte
in Natur.
An anderer Stelle, wo es Benjamin um den Tyrannen geht,
schreibt er der Diktatur des Tyrannen die Utopie einer »Restau-
ration der Ordnung im Ausnahmezustand« zu, auch dies eine Art
Rückverwandlung von Geschichte in Natur, genauer in »die eherne
Verfassung der Naturgesetze« (253), womit er Stillstellung als Ideal
und Zweck diktatorischer Gewalt bewertet. Leitmotivisch wird im
Hinblick auf das barocke Trauerspiel das Bild einer gegen- bzw. wi-
derhistorischen Haltung gezeichnet, die der Verfassung des Barock
die Richtung vorgibt, ohne den Abstand zum »harmlosen ersten
Schöpfungsstande« verringern zu können. Insofern es die Rück-
kehr in jenen paradiesischen Zustand, als Natur und Schöpfung
noch identisch waren, nicht geben kann, trägt dasjenige Weltbild,
das Produkt einer widerhistorischen Haltung ist, die Züge einer
– letztlich unmöglichen – Nachahmung der Schöpfung: »Die Fol-
38 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Kraus-Essay: Knotenpunkt
kontroverser Benjamin-Lektüren
In der Lektüre des Kraus-Essays verschränken sich etliche Aspekte
und Stränge der Benjamin-Rezeption. Das betrifft zunächst die Aus-
einandersetzung mit Benjamins Stellung zu Theologie und Säkulari-
sierung, die mit der Diagnose »der rettenden Preisgabe der Theo-
logie, ihrer rückhaltlosen Säkularisierung« einsetzte, wie Adorno
sie in der Einleitung zur ersten, zweibändigen Ausgabe von Benja-
mins Schriften 1955 formuliert hat (Adorno 1955, X XII ). Sie wur-
de fortgesetzt z. B. von Hans Heinz Holz, der bei Benjamin eine
Verbindung von »religionsphilosophisch gegründeter Metaphysik«
und marxistischer Geschichtsphilosophie entdecken wollte (Holz
1992), und mit Heinz-Dieter Kittsteiners Zurückweisung, »Ben-
jamin theologisch zu interpretieren« (Kittsteiner 1975, 38). In
dieser Debatte hat Gerhard Kaiser interveniert, indem er sich vor
allem gegen Adorno wendet und feststellt, »daß Benjamin nicht in
die Geistesgeschichte der Säkularisierung gehört, sondern in sei-
nem Denken eine Gegenbewegung vollzieht, die Profanität und
Messianisches mit aller Schärfe voneinander abhebt« (Kaiser 1975,
74). Zugleich hat er an Benjamin eine Freiheit beobachtet, »streng
theologisch zu denken und doch den Menschen ohne Widerspruch
zu diesem Ansatz seiner Autonomie zu überantworten« (73).
Diese Debatte gründet weitgehend im Übertragungsparadigma:
Säkularisierung verstanden als Übertragung religiöser oder theolo-
gischer Bedeutungen auf Weltliches. Sie ist durch einen Gegensatz
zwischen Messianismus und Historie motiviert und kreist über wei-
te Strecken um die Frage, welcher Seite in den Schriften Benjamins
der Vorrang gebühre – während dieser, wie das Theologisch-politische
Fragment belegt, das in Frage stehende Verhältnis doch gerade als
eine gegenstrebige Fügung konzipiert hat. 1992 hat Uwe Steiner
das Säkularisierungsthema dem Lagerstreit zwischen Parteigängern
der Theologie und solchen des Marxismus entzogen, indem er es
zurückgestutzt hat auf die Frage nach der Verwendung der Säku-
larisierung als historischer Beschreibungskategorie (Steiner 1992,
141). Dieser im Blick auf den festgefahrenen Streit sinnvolle und
40 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
»die heute bekanntlich klein und häßlich ist«, durch »die Puppe, die
man ›historischen Materialismus‹ nennt«, wie im ersten der Denk-
bilder Über den Begriff der Geschichte (I .2/693), Indikator für eine
Entheiligung der Theologie, die einen solchen Einsatz als Mittel
überhaupt erst ermöglicht. Das erinnert an die Diagnose aus dem
Kraus-Essay, daß Kultus und Schöpfung zu Weihrauchnebel und
Kirche geworden sind. – Die Vorstellung des Heiligen als Reso-
nanzraum widerspricht prinzipiell einem Sprachgebrauch, in dem
›heilig‹ als Attribut benutzt wird, sei es als Merkmal des Überir-
dischen, einer himmlischen Instanz, einer theologischen Autorität
oder irgendeiner anderen Einheit. Schon von daher wird es plau-
sibel, daß Benjamin in der Kritik der Gewalt das »Dogma von der
Heiligkeit des Lebens« zurückweist, weil darin eine Einheit wie
das bloße Leben, manchmal »alles animalische oder gar vegetabile
Leben«, oder nur das menschliche Leben, heiliggesprochen wird
(II .1/202, 201). Als Attribut kommt heilig allein der Sprache zu,
sofern diese sich im Resonanzraum des heiligen Textes bewegt, wie
dies in der Aufgabe des Übersetzers (1921) thematisiert wird. Dort ist
von den »heiligen« »Schriften« und vom »heilige[n] Wachstum der
Sprachen« die Rede (IV.1/21, 14).
In den folgenden Schriften Benjamins tritt der Begriff des Hei-
ligen eher in den Hintergrund, bis er an prominenten Stellen im
Kraus-Essay wieder auftaucht und dort nach verschiedenen Seiten
hin zum Einsatz kommt. Während der Kommentar zum Stifter-
Zitat kritisiert, daß das Heilige im Gesetzesbegriff verborgen wur-
de, erhält die Heiligung des Worts eine zentrale Bedeutung für die
poetische Sprache. In einer Passage über die Sprachgebärde von
Kraus wird dessen »Heiligung des Worts« der Georgeschen Ver-
wendung der Sprache als bloßes Mittel zum Aufstieg in den Olymp
entgegengesetzt. Es geht um Musik. Zunächst beobachtet Ben-
jamin, daß Kraus in seinen Offenbach-Vorlesungen die Musik in
engere Schranken weise, »als je die Manifeste der George-Schule
sich’s erträumten« (II .1/359). Doch wird Kraus mit dieser anti-
musikalischen Haltung für Benjamin noch nicht zum Parteigänger
einer Schule, deren Programm er im Goethe-Aufsatz, in den Pas-
sagen zur George-Schule, als Inanspruchnahme eines ›göttlichen
46 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
der Sprache folgt dem Muster von Ende und Vollendung der Ge-
schichte in der Erlösung. Denn es heißt weiter: Nur wo Ursprung
und Ziel sich durchdringen – im Zitat –, ist die Sprache vollendet.
Damit nimmt das Zitat im Verhältnis zur Sprache eine vergleich-
bare Stellung ein wie die Erlösung im Verhältnis zur Historie. Der
Sprachpraxis, die sich an der Heiligung des Wortes orientiert, liegt
ein messianisches Konzept zugrunde.
Der Schlußsatz von Benjamins Theorie des Zitats nimmt noch
einmal den Kontrast dieser Haltung zum kritisierten allmensch
lichen Kreaturbegriff auf. Während die Kreatur, in deren Namen
sich Kraus den Tieren zuwendet, im ersten Abschnitt des Essays als
Tugendspiegel der Schöpfung karikiert wurde, »in welchem Treue,
Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener Zeitferne herüberlä-
cheln« (341), wird das Zitat hier zum Spiegel der »Engelsprache, in
welcher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes
aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöpfung geworden sind«
(363). Wenn im Umgang mit der religiösen Tradition in der Mo-
derne ein Spiegelverhältnis zur Schöpfung hergestellt wird, dann
kann dies nur in der Sprache geschehen, denn die Idee der Schöp-
fung entspringt dem Buch der Schöpfung, der Genesis. – Der zwei-
te Abschnitt des Essays widmet sich Kraus’ Bemühen, denselben
Resonanzraum der Sprache als Mater der Gerechtigkeit in seiner
Rechtskritik zu entfalten, was Benjamin im treffenden Bild der
»Sprachprozeßordnung« faßt. Er sieht in diesem Versuch allerdings
einen »jüdischen Salto mortale«: »Das Bild der göttlichen Gerech-
tigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist
der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons
zu sprengen sucht.« (349)
Die im Kraus-Essay verhandelten Konzepte stehen in enger
Verbindung zu Benjamins langjähriger Arbeit am Kafka-Beitrag.
Schon die erste Aufzeichnung zu dieser Arbeit, die Idee eines My-
steriums (1927), stellt eine vergleichbare Konstellation her, wie sie
Kraus an der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht versinn-
bildlicht: »Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß in welchem
der Mensch zugleich als Sachwalter der stummen Natur Klage führt
über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias.«
Die Kreatur und das Heilige 49
(3/303) Und von der Poetologie, die dem Prinzip einer Heiligung
des Worts folgt, ist es nicht weit zu Kafkas Literatur, die sich, so
Benjamin, jener Fragen annimmt, die in einer Welt ohne Religion
verwaist sind:
Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des
menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich
Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dichter an-
genommen haben), hat seine dichterische Größe eben daher,
daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt,
nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auf-
tritt. (IV.1/467; Hvhg. S. W.)
Es wird Benjamin dann nicht darum gehen, dieses theologische
Geheimnis aufzuklären, sondern darum, die Art und Weise zu un-
tersuchen, in der die Gesetze und Riten der Tradition in Kafkas
Welt der Kreaturen fortleben, ohne diesen als solche kenntlich zu
sein. Von Willy Haas übernimmt er die Deutung, daß das »geheim-
nisvolle Zentrum« von Kafkas Prozeß, das Vergessen, der jüdischen
Religion entstamme, und zitiert Haas: »der heiligste … Akt des …
Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächt-
nisses« (II .2/429).
Das Zentrum von Benjamins eigenen Reflexionen über die
Kreatur und die Schöpfung ist nicht das Heilige, sondern die Frage,
auf welche Weise die mit der Säkularisierung verschwundene Hal-
tung religiösen Kulten gegenüber in der Moderne zum Ausdruck
gebracht wird. Daß bei der Verfolgung dieser Frage eher seltener
die Begriffe Säkularisierung und Heiliges zum Einsatz kommen,
muß wiederum als Benjamins theologisches Geheimnis betrach-
tet werden. Da seine Reflexionen sich weitgehend in Denkbildern
vollziehen, soll sein Umgang mit der Säkularisierung im folgenden
anhand jener Figuren, Bilder und Schauplätze verfolgt werden, in
denen seine Arbeit an der Dialektik der Säkularisierung zum Aus-
druck kommt. Dabei geht es sowohl um Säkularisierung als einer
historischen Beschreibungskategorie als auch um eine Haltung, die
die Dignität einer Methode hat.
50 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
1 Eine erste Fassung des ersten Teils erschien in Pannewick 2004, 63–73 (in
englischer Übersetzung in The New Centennial Review, Vol. 4, Issue 3, Michigan U P
2005, 109–123; in italienischer Übersetzung in La responsabilità della critica. L’ospite
integrato. Annuario del Centro Studi Franco Fortini 1, 2004, 91–103), eine erste Fassung
des zweiten Teils in After the Totalitarianism, Part I , Telos No. 135, Summer 2006,
61–76.
58 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
einer der zentralen Begriffe der aktuellen Debatte, der des »bloßen
natürlichen Lebens« (II .1/200), entstammt.
Die Frage nach dem Verhältnis des bloßen oder auch nackten
Lebens zu Politik und Recht, die Giorgio Agambens Buch Homo
sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben erörtert, hat sich durch
die weltpolitischen Ereignisse seit seinem Erscheinen vor nunmehr
dreizehn Jahren deutlich in den Vordergrund gedrängt. Vor al-
lem der Figur des homo sacer, in der sich diese Frage verdichtet,
kommt heute eine unheimliche Aktualität zu. Die Bilder, die aus
Guantánamo um die Welt gehen, wirken wie Visualisierungen des
homo sacer, der dadurch definiert ist, daß er »getötet werden kann, aber
nicht geopfert werden darf« (Agamben 2002, 18) – oder mehr noch die
Photos aus Abu Ghraib, auf denen die Körper der Gefangenen wie
Wiedergänger jener lebenden Statuen erscheinen, mit denen Agam-
ben den homo sacer verglichen hat (109). Auch seiner im Anschluß
an Schmitt entwickelten Lesart des Ausnahmezustands, in dem die
souveräne Macht und das bloße Leben aneinander gebunden seien
(76), wurde durch die Irakpolitik von George W. Bush ein Fallbei-
spiel zugespielt, das durchaus Lehrbuchtauglichkeit besitzt. »Aus-
nahmezustand als Weltordnung« lautete denn auch der Untertitel
eines Feuilletonartikels zum Gewahrsam (FAZ , 19. 4. 2 003), in dem
Agamben das amerikanische Gefangenenlager als Signum der neuen
Weltordnung interpretiert – mit Bezug auf seine These aus Homo
sacer, die das »Lager als nómos der Moderne« interpretiert (Agamben
2002, 175–189) und die Vernichtungslager der Nationalsozialisten
als historischen Prototyp des Lagers begreift. In demselben Artikel
werden aber auch die Grenzen eines theoretischen Modells deut-
lich, das eine biopolitische Fortschreibung von Schmitts Souverä-
nitätstheorie unternimmt und derart Geopolitik und Biopolitik
engführt. Agamben bewertet hier nämlich »die neue amerikanische
Weltordnung« als strategische »Verknüpfung der beiden Paradigmen
des Ausnahmezustands und des Bürgerkriegs« und folgert: »In die-
ser Perspektive bilden Terrorismus und Staat am Ende ein einziges
System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur
dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern
jedes sogar vom anderen ununterscheidbar wird.« Die »Symmetrie
Souverän und Märtyrer 59
zwischen dem Körper des Souveräns und dem des homo sacer« (112)
aus der sechs Jahre vor 9/11 publizierten Theorie des Homo sacer
wird nun – nach den New Yorker Ereignissen und dem Irakkrieg –
auf das Verhältnis von Staat und Terrorismus übertragen. Damit
tritt in Agambens Version des aktuellen Szenarios nicht nur der
Gefangene an die Stelle des homo sacer, sondern der Terrorismus
insgesamt.
Problematisch ist an dem zitierten Statement nicht nur die The-
se einer Ununterscheidbarkeit von Staat und Terrorismus, sondern
mehr noch, daß diese Gleichsetzung nach der Seite des Terroris-
mus hin weitgehend unbeleuchtet bleibt. Wird auf diese Weise der
US -amerikanische Staat als terroristisch beschrieben, so bleibt die
umgekehrte Gleichsetzung des Terrorismus mit einem Staatssystem
ohne weitere Erläuterung. Dieser Mangel verweist auf einen blin-
den Fleck, der symptomatisch ist für den intellektuellen Diskurs
zum 11. September und zum Irakkrieg. Besetzt durch die Kritik
an der Bush-Politik, sind die theoretischen Bemühungen um eine
den aktuellen Ereignissen angemessene Kritik der Gewalt oder eine
Fortschreibung politischer Theologie mehrheitlich blind für die
neuen Formen terroristischer Gewalt. Offenbar stellen diese eine
sehr viel schwierigere Herausforderung dar für die Versuche, die
neue Weltordnung zu analysieren.
Dabei wäre die in Homo sacer erörterte Frage nach dem Verhältnis
von bloßem Leben und Politik gerade dafür zentral. Denn diese
Frage hat derzeit nicht allein in den Gefangenenbildern eine kon-
krete Gestalt angenommen, sondern auch in der Figur des Selbst-
mordattentäters, der immer mehr Schauplätze der internationalen
Auseinandersetzungen und Kampf handlungen besetzt. Der Selbst-
mordattentäter, der im Kampf gegen den ›Feind‹ oder Besatzer sein
eigenes Leben opfert und sich als Märtyrer definiert, bzw. der Ter-
rorist, der seinen bewaffneten Körper als Bombe einsetzt – diese Fi-
gur erscheint wie ein genaues Gegenbild zum homo sacer. Während
letzterer das bloße Leben darstellt, das getötet, aber nicht geopfert
werden darf, verkörpert der Selbstmordattentäter ein Leben, das
sich selbst opfert, um zu töten. Durch diesen Akt wird sein eigenes
Leben als mehr und anderes definiert denn als bloßes Leben, wird
60 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
2 So etwa, wenn Horst Bredekamp im Gespräch mit Ulrich Raulff über die »Bild-
strategien des Krieges« von einem »emphatisch angewendeten und banalisierten
Strauss« spricht: »Es kommt für die dritte Generation der Straussianer offenbar dar-
auf an, den metaphysisch begründeten Angriffen von Feinden auf einer Ebene zu
begegnen, die ihrerseits jenseits der Banalität etwa des Ökonomischen liegt.« In:
FAZ , 7. 4. 2 003.
Souverän und Märtyrer 61
auch der Partisan, der einen illegalen Kampf gegen die militärische
Übermacht, meist eine Besatzerarmee, führt und den Schmitt mit
vier Kriterien definiert: »Irregularität, gesteigerte Mobilität, Inten-
sität des politischen Engagements und tellurischer [d. h. erdgebun-
dener – S. W.] Charakter« (28).
Historisch brüchig wird das Konzept des klassischen Partisanen
allerdings bereits dort, wo Interessen einer dritten Seite ins Spiel
kommen, von der die Partisanen etwa durch Waffenlieferungen un-
terstützt werden – was für fast alle »Befreiungskämpfer« im Nahen
und Fernen Osten zutrifft. Seine Grenze findet der Begriff des Par-
tisanen, so Schmitt, im ideologisch motivierten Kampf, mehr noch
im »Berufsrevolutionär des Weltbürgerkrieges« (94), den er in Lenin
verkörpert sah: »Der Partisan hat also einen wirklichen, aber nicht
einen absoluten Feind. […] Eine andere Grenze der Feindschaft
folgt aus dem tellurischen Charakter des Partisanen. Er verteidigt
ein Stück Erde, zu dem er eine autochthone Beziehung hat. Seine
Grundposition bleibt defensiv trotz der gesteigerten Beweglichkeit
seiner Taktik.« (93) Eine weitere Überschreitung des Partisanen-
begriffs sah Schmitt schließlich in einer möglichen Anpassung des
Partisanen an die Technik durch die Entwicklung eines neuen Typs,
»sagen wir de[s] Industrie-Partisanen« (81). Mit den Flugzeugatten-
taten des 11. September ist auch dieser Fall eingetreten, so daß sich
die gegenwärtigen Kämpfe jenseits der konventionellen Begriffe
von Krieg und Partisan abspielen, wie Schmitt sie analysiert hat.
Allerdings ist mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märty-
rer inszenieren und als Gotteskrieger bezeichnen, eine Gestalt an
die Stelle des klassischen Partisanen getreten, die im Horizont der
Schmittschen Argumentation nicht aufgetaucht ist und auch nicht
auftauchen konnte. Die Kriegsschauplätze werden gegenwärtig nicht
allein von den technisch aufgerüsteten Abkömmlingen von Armeen
und Partisanen beherrscht, sondern von Souverän und Märtyrer. Die
Tatsache, daß Schmitt eine solche Entwicklung nicht ins Auge fassen
konnte, läßt sich mit dem Verschwinden aller religionshistorischen
Bezüge aus seiner politischen Theologie in der Theorie des Partisa-
nen erklären – womit auch die Möglichkeit ausfällt, den Topos des
›heiligen Krieges‹ in der Moderne zu reflektieren. Das ist um so
Souverän und Märtyrer 69
3 Zu diesem Ergebnis kommt auch Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden,
Frankfurt/M. 2000, 167. Er spricht davon, »daß Schmitt eine atheistische politisch-
theologische Tradition ad extremum führt« (170).
Souverän und Märtyrer 71
die in diesem Nachwort wiederholt wird, lautet, daß dem Staat des
JPE der »bis auf den heutigen Tag größte rationale ›Fortschritt‹ der
Menschheit in der völkerrechtlichen Lehre vom Kriege gelungen
[ist], nämlich die Unterscheidung von Feind und Verbrecher« (86).
Da Schmitt diesen Fortschritt an der Epochenschwelle zur Neuzeit
situiert, an der das Silete Theologi! ertönte, ergibt sich daraus folgen-
des Problem: »So wird ein Blick auf das Schicksal des Feindbegrif-
fes in einer folgerichtig enttheologisierten und nur noch mensch-
lichen neuen Wirklichkeit für uns unvermeidlich.« (92) Waren die
juristischen Begriffe dieser Epoche nach Schmitt »ganz vom Staat
geprägt«, so sieht er das Nachkriegseuropa an einer erneuten Epo-
chenschwelle: »Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende«,
wie er im 1963 verfaßten Vorwort zur Wiederauflage von Der Be-
griff des Politischen schreibt (Schmitt 2002, 10). Die Frage, welche
Bedeutung die Theologie an dieser Epochenschwelle des 20. Jahr-
hunderts einnimmt, bleibt in Schmitts Polemik gegen Blumenberg
eingeschlossen, ohne explizit erörtert zu werden.
Auf die Probe gestellt wird Schmitts Aktualisierungs- und Ret-
tungsversuch politischer Theologie – allgemeiner gesagt: ein Säku-
larisierungsverständnis, das von einer Überwindung und Auf he-
bung religiöser Bedeutungen in säkulare Begriffe ausgeht – durch
das Auftauchen bzw. die Wiederkehr von Figuren aus vormoder-
nen, vorsäkularen Kontexten inmitten der Moderne. Im Kontext
von Schmitts Schriften betrifft dies den Topos des ›gerechten Krie-
ges‹. Es sollte deutlich geworden sein, daß diese Konstellation von
besonderer Relevanz für die Gegenwart ist, weil der Terminus der
›Schurkenstaaten‹ ebenso wie die Feindbilder in der Propaganda
der Gegenseite die Unterscheidung zwischen Verbrecher und hostis
negieren.
Jenseits des Jus Publicum Europaeum –
zur Wiederkehr des ›gerechten Krieges‹
Das Wiederauftauchen des ›gerechten Krieg‹ spielt im letzten Ka-
pitel von Nomos der Erde, in dem Schmitt die Auflösung des JPE
und die »Frage eines neuen Nomos der Erde« diskutiert, eine si-
gnifikante Rolle. Soll die Rhetorik eines ›gerechten Krieges‹ im
Souverän und Märtyrer 73
20. Jahrhundert nicht einfach als Rückfall hinter das JPE gedeutet
werden, so ist dafür ein anderes Deutungsmodell zu entwickeln.
Auf der manifesten Textebene wird dies aus der Rolle Amerikas
abgeleitet, insofern die mit der Monroedoktrin beanspruchte neue
Raumordnung – »Amerika den Amerikanern« (1823) – ein Ende
der Raumordnung des JPE bedeutete. In diese 1950 veröffentlich-
ten Überlegungen Schmitts mischen sich aber deutlich auch Ein-
drücke aus der jüngsten Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges.
Diese kommen vor allem in der Metaphorik zum Ausdruck, etwa
in den Bildern, in denen Amerika beschrieben wird. Der Ort der
Vereinigten Staaten und ihre Rolle für das Ende des JPE werden zu
Beginn dieses Kapitels in einem nahezu poetischen Bild eingeführt:
»Der erste lange Schatten war von Westen her auf das jus publicum
Europaeum gefallen.« (Schmitt 1997, 200) Erst 65 Seiten später
folgt eine Bewertung dieses Bildes: »Was ist also, nach dieser neuen
Linie, der völkerrechtliche Status der westlichen Hemisphäre ange-
sichts einer europäischen Völkerrechtsordnung? Etwas ganz Außer-
ordentliches, Auserwähltes.« (265; zweite Hvhg. S. W.)
Wenn der Bruch des JPE durch die Entscheidung einer anderen,
außerhalb Europas stehenden souveränen Macht, eine Art Ausnah-
mezustand auf völkerrechtlicher Ebene, bei Schmitt das Bild der
Auserwähltheit evoziert, dann scheint das selbstauferlegte Schwei-
gen der Theologie auf eine schwere Probe gestellt zu sein. Denn
Schmitts Rhetorik durchbricht hier ein säkulares Deutungsmuster,
ohne daß dieser Bruch im Hinblick auf die theoretischen Konse-
quenzen reflektiert wird. Und weiter:
Es wäre, wenigstens für eine extrem folgerichtige Meinung,
noch zu wenig gesagt, wenn man Amerika als ein Asyl der
Gerechtigkeit und Tüchtigkeit bezeichnete. Vielmehr liegt
der eigentliche Sinn dieser Auserwähltheitslinie darin, daß
überhaupt erst auf amerikanischem Boden die Bedingungen
gegeben sind, die als normale Situation sinnvolle Haltungen
und »habits«, Recht und Frieden ermöglichen. (265)
Kurz nach dem Ende des Dritten Reichs und des Zweiten Welt-
kriegs formuliert, sind die antisemitischen Konnotationen dieser
74 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
4 Die Frage nach dem christlichen Erbe des Islam wird sehr kontrovers diskutiert
und kann hier nicht erörtert werden. Zur Bedeutung unterschiedlicher religionsge-
schichtlicher Spuren für die Kulturgeschichte von Märtyrerfiguren vgl. die Einlei-
tung der Verf. und die Fallbeispiele in der Sammlung von Märtyer-Porträts (Weigel
2007a).
Souverän und Märtyrer 79
auftritt, sei es als Kämpfer für den ›rechten Glauben‹ gegen jene
Verfälschungen der Idee des einen Gottes, die Mohammed den Ju-
den und den Christen vorwarf, sei es als Kämpfer um die Etablie-
rung und Ausbreitung der Lehre des Propheten. Dagegen stellt sich
der christliche Märtyrer, zumindest im Ursprung, als eine Figur des
Erleidens dar. Von gr. martys = Zeuge abgeleitet, geht der christ-
liche Märtyrer auf seine Rolle als Zeuge der Passion und Opfe-
rung Christi zurück: der Märtyrer als Zeuge des Christusgesche-
hens, der auch um den Preis von Verfolgung, Folter und Tötung
an seinem Bekenntnis festhält, womit sein Martyrium als imitatio
Christi erscheint. Weil das Blut des Märtyrers als Zeugnis seines
Glaubensbekenntnisses gilt, hat Lessing es in seiner Schrift Rettung
des Hier. Cardanus auch »ein sehr zweideutiges Ding« genannt (Les-
sing 1976, 20). Zweideutig ist das Blut des Märtyrers dadurch, daß
ihm neben dem physiologischen Status noch eine andere, transzen-
dentale Bedeutung zukommt, als Symbol der Blutzeugenschaft, die
den Körper des Märtyrers in eine andere, geheiligte Sphäre erhebt.
Wenn das Blut den Märtyrer als Blutzeugen auszeichnet, verdichtet
sich in ihm gleichsam eine sakrale Evidenz: als Zeichen einer Zeu-
genschaft der Passion. Insofern zeichnet das Blut den Märtyrer im
doppelten Sinne aus, es markiert ihn und es nobilitiert ihn.
Dementsprechend stellt sich die christliche Ikonographie des
Martyriums als grausames und erhabenes Tableau erfindungsreicher
Torturen dar. In den einschlägigen Gemälden aus dem 15. bis 17.
Jahrhundert, von Cranach und Dürer über Altdorfer, van Dyck und
de Ribera bis Tiepolo, beherrschen standhafte gefolterte Märty-
rer die Szene. Im Bild als Heilige verehrt, haben sie zuvor alle
erdenklichen Formen der körperlichen Peinigung ertragen müs-
sen – deren Repertoire der Grausamkeiten den Berichten von Mas-
sakern im jüngsten Balkankrieg nicht so fernsteht. Genau gegen
diese zweideutige Symbolik richtet sich das Diktum aus Benjamins
Kritik der Gewalt: »Denn Blut ist das Symbol des bloßen Lebens.«
(II .1/199) Das bedeutet, daß Benjamin dem Blut jede nicht-physi-
sche, symbolische Bedeutung abspricht, so wie er überhaupt, wie
noch zu zeigen sein wird, seine Kritik der Gewalt von Märtyrer
und Tyrann aus deren Doppelreferenz auf eine kreatürliche und
80 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Leben ins Zentrum und entwickeln daraus eine Arbeit an der Dia-
lektik der Säkularisierung. Dabei richtet sich Benjamins Kritik der
Gewalt vor allem gegen eine prekäre Vermischung von Begriffen
der göttlichen Gewalt mit den Begriffen des Politischen, gegen eine
Inanspruchnahme der Theologie als Mittel politischer oder recht-
licher Zwecke ebenso wie gegen eine pure Übertragung sakraler
Begriffe in profane, in denen Aspekte religiöser Gewalt in ver-
schwiegener Form fortwirken. Er geht von einer unhintergehba-
ren Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung aus,
vor deren Horizont erst die spezifischen Formen von Übertragung
und die Figuren eines – verwandelten und verschobenen – Fortle-
bens religionsgeschichtlicher Bedeutungen in säkularen Kontexten
untersucht werden können. Es soll nicht behauptet werden, daß
Benjamins Kritik der Gewalt in der Lage sei, die gegenwärtige Kon-
fliktlage vollends zu erklären; sie dringt jedoch in eine Sphäre vor,
gegen die sich die politische Theologie mit Hilfe säkularisierter
theologischer Begriffe abgedichtet hat.
3. Absehung vom Gebot
in ungeheur en Fällen
Gerechtigkeit scheint sich nicht auf den guten Willen des Sub-
jekts zu beziehen, sondern macht einen Zustand der Welt aus,
Gerechtigkeit bezeichnet die ethische Kategorie des Existen-
ten, Tugend die ethische Kategorie des Geforderten. Tugend
kann gefordert werden, Gerechtigkeit letzten Endes nur sein,
als Zustand der Welt oder als Zustand Gottes. In Gott haben
alle Tugenden die Form der Gerechtigkeit, das Beiwort all in
all-gültig, all-wissend u. a. deutet darauf hin. (Scholem 1995,
401)
Nachdem er den göttlichen, gleichsam a-humanen Charakter der
Gerechtigkeit festgestellt hat, versucht Benjamin auch hier schon,
deren Stellung zum Recht zu begreifen, und spricht von einer
»ungeheure[n] Kluft, die zwischen Recht und Gerechtigkeit dem
Wesen nach klafft«. Offenbar geht er davon aus, daß diese Kluft
in der etymologischen Verwandtschaft der deutschen Begriffe un-
kenntlich ist, denn er notiert, daß andere Sprachen diese Kluft be-
zeichnet hätten. Als Beleg stellt er dann die lateinischen Begriffe ius
und fas gegenüber, gefolgt von deren griechischer und hebräischer
Übertragung:
ius jémir [themis] tqea [mischpat, Recht]
-
fas díkh [dike] f]r [zedek, Gerechtigkeit] (402).
In der Entgegensetzung von ius und fas bezieht Benjamin sich hier
offensichtlich auf eine ältere altphilologische Deutung, die fas ein-
deutig als göttliches Recht interpretiert und dem menschlichen
Recht ius gegenübergestellt hat. Auch wenn solche Gegensätze
nicht als statische angesehen werden können, bezieht sich fas auf
die kultischen Voraussetzungen des Rechts, die zumeist eher in den
ungeschriebenen Gesetzen fortleben. Im Römischen Recht ist fas
der Name für eine Handlung, die durch kein Tabu belegt war, die
also nicht als sacer betrachtet wurde, d. h. nicht als »etwas, dem eine
unheimliche Macht innewohnt und das darum Tabu ist« (Latte
1950, 50 f.). Im Hinblick auf solche etymologischen Überlegungen
ließe sich nun streiten, ob das lateinische fas im Griechischen nicht
besser durch hosiē, was soviel wie heiliger Brauch oder göttliches
94 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Recht heißt, übersetzt wäre als durch dikē wie bei Benjamin. Denn
im Griechischen betont hosiē offenbar den heiligen Charakter des
Rechts stärker als dikē. Doch macht der Bedeutungswandel von
dikē zwischen Mythos – Dikē als Personifikation, die der gött
lichen Sphäre angehört – und Rechtsbegriffen – Dikē als Begriff für
die Klage vor Gericht – deutlich, auf welche Weise die religiösen
Konnotationen in die Rechtsgeschichte eingegangen und darin un-
kenntlich geworden sind. – An Benjamins Notiz aus dem Jahre
1916 ist bemerkenswert, daß er mit dem Verweis auf die Sprache
indirekt auch verschiedene kulturelle Kontexte zitiert und seine
Frage nach der Beziehung zwischen Recht und Gerechtigkeit un-
merklich aus einem biblischen, monotheistischen Kontext – der
Gerechtigkeit göttlicher Gewalt – auch in einen antiken Kontext
hinüberspielt. In den Schlußpassagen seines Essays Zur Kritik der
Gewalt wird er diese Spur fünf Jahre später – nun explizit – wieder
aufnehmen. Hier weist er u. a. darauf hin, daß es die Konsequenz
ungeschriebener Gesetze ist, daß deren Übertretung nicht durch
Strafe geahndet wird, sondern durch Sühne. Denn deren Schuld-
begriff entstammt einer antiken Schicksalsvorstellung.
Im ersten Teil von Zur Kritik der Gewalt macht Benjamin die Ge-
walt zunächst am Grund des Rechts selbst aus: in der Dialektik von
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Erstere betrifft die – be-
stehendes Recht umstürzende – Setzung neuen Rechts, sei es durch
verbrecherische oder revolutionäre Gewalt, sei es durch äußere oder
innere Kriegführung erzwungen, während letztere die Gewalt als
Mittel zu Rechtszwecken bzw. die Gewalt als Mittel zu Zwecken
des Staates betrifft, die auch als »drohende« (II .1/188) bezeichnet
wird. Die Gewalt als Mittel wird in Benjamins Kritik der Gewalt
dabei zum zentralen Kriterium einer grundlegenden »Problematik
des Rechts« (190). Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt gilt Benjamins Auf-
merksamkeit dann aber gerade der strukturellen Vermischung und
dem Zusammenwirken der beiden Gewalten. – So konstatiert er für
die Todesstrafe, daß in ihrem Auftreten jene – vorgeschichtlichen –
Ursprünge der Rechtsordnung, die die Herkunft des Rechts aus der
Sphäre des Schicksals betreffen, »in das Bestehende hineinragen und
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 95
In ungeheuren Fällen
Die Einführung des Begriffs einer »reinen unmittelbaren Gewalt«
kommt also über die zweite Eingrenzung einer irgendwie anderen
Art von Gewalt ins Spiel: erstens überhaupt nicht als Mittel gefaßt,
zweitens rein. Während das Merkmal »unmittelbar« aus einer Kri-
tik des rechtstheoretischen Dogmas von berechtigten Mitteln und
gerechten Zwecken gewonnen wurde, wird das Merkmal »rein« als
Gegensatz zur mythischen Gewalt eingeführt. Die Grundlage des
Gegensatzes mythisch – rein bildet aber das Verhältnis von mythischer
und göttlicher Gewalt, denn das Urbild der reinen Gewalt entdeckt
Benjamin in der göttlichen Gewalt: dort die mythische Gewalt, die er
als rechtsetzend, grenzsetzend, verschuldend und sühnend zugleich,
als drohend und blutig bezeichnet; hier die göttliche reine Gewalt, die
er als rechtsvernichtend, als grenzenlos vernichtend, entsühnend,
schlagend und auf unblutige Weise letal beschreibt (199).
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 101
Benjamin geht hier also davon aus, daß in der Rechtsordnung eine
archaische Beziehung der Menschen zu den Göttern nachlebt. Im
Begriff des Schicksals verdichtet sich die daraus stammende Vorstel-
lung einer verschuldeten Person.
Die »göttliche Gewalt« dagegen folgt einer anderen Zeit- bzw.
Geschichtskonzeption, die er als Gegenwärtigkeit kennzeichnet:
»Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse
Überlieferung allein, vielmehr findet sie mindestens in einer ge-
heiligten Manifestation sich auch im gegenwärtigen Leben vor.« (200;
Hvhg. S. W.) Diese Vorstellung erinnert an die Gottesunmittelbar-
keit eines jeden Tages, wie Gershom Scholem sie in seinem Auf-
satz Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum beschreiben
wird (Scholem 1986). Dabei betont Benjamin die Ungleichzeitig-
keit zwischen der Sprache des Gebots auf der einen Seite und den
Kriterien von Rechtsurteilen oder Verurteilungen von Menschen
durch Menschen andererseits.
Hinsichtlich des anderen zitierten Theorems, des »Dogmas von
der Heiligkeit des Lebens« (202), widerspricht Benjamin der Vor-
stellung, daß das bloße Leben höher stehe als »Glück und Gerech-
tigkeit eines Daseins«, eine Vorstellung, mit der das kreatürliche,
natürliche Leben bzw. sein leiblicher Aggregatzustand als heilig
bewertet oder heiliggesprochen wird. Dagegen Benjamin: »Der
Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Le-
ben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie
mit irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften, ja
nicht einmal mit der Einzigkeit seiner leiblichen Person.« Damit
faßt er das bloße Leben als einen Zustand des Menschen, nicht aber
als »Dasein an sich«, wie in Kurt Hillers Anti-Kain, gegen den Ben-
jamin hier argumentiert. Ein Absatz aus dem Anti-Kain steht dabei
für jene Denker, die auf den Satz von der Heiligkeit des bloßen
Lebens zurückgehen:
Ihre Argumentation sieht in einem extremen Fall, der auf die
revolutionäre Tötung der Unterdrücker exemplifiziert, fol-
gendermaßen aus: »töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr
das Weltreich der Gerechtigkeit … so denkt der geistige Ter-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 105
rorist … Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und
Gerechtigkeit eines Daseins … Dasein an sich steht« (201).
Genau dieses Postulat weist Benjamin zurück, mit der Gewißheit,
daß es »falsch, sogar unedel« sei, und kommt dabei noch einmal auf
das Gebot zu sprechen, mit der Verpflichtung, »nicht länger den
Grund des Gebotes in dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten,
sondern in dem, was sie an Gott und am Täter selbst tut«. Die Un-
antastbarkeit des Menschenlebens begründet sich für Benjamin so
gerade nicht aus dem bloßen natürlichen Leben, sondern aus einer
Teilhabe des Menschen an einem Leben, das mehr ist als das bloße,
natürliche Leben. Die Vorstellung von diesem anderen Lebensbe-
griff entspringt u. a. der biblischen Schöpfungsidee, nach der Gott
die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.
Diese Doppelreferenz des Lebensbegriffs auf das natürliche und
das übernatürliche Leben wird Benjamin wenig später in seinem
Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften ausführlich erörtern. Doch
schon im Zusammenhang einer Kritik des Dogmas von der Hei-
ligkeit des bloßen Lebens zählt er den Begriff des ›Lebens‹ zu je-
nen Worten, deren Doppelsinn sich aus ihrer Beziehung zu je zwei
Sphären erhellt. Richtig würde die Feststellung, daß das Dasein an
sich höher steht, erst, »wenn Dasein (oder besser Leben) – Worte,
deren Doppelsinn durchaus dem des Wortes Frieden analog aus ihrer
Beziehung auf je zwei Sphären aufzulösen ist – den unverrückbaren
Aggregatzustand von ›Mensch‹ bedeuten« (201; Hvhg. S. W.). Die
Anführungszeichen bedeuten, daß Benjamin hier über den Begriff
des Menschen spricht, von dem das natürliche Leben nur einen
Zustand bezeichnet. Nur dem Menschen in diesem umfassenden
Sinne kommt das Attribut des Heiligen zu: »So heilig der Mensch
ist (oder auch dasjenige Leben in ihm, welches identisch in Erden-
leben, Tod und Fortleben liegt), so wenig sind es seine Zustände,
so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches
Leben.« Diese Art Doppelreferenz des Lebens- und Menschenbe-
griffs meint etwas gänzlich anderes als das Doppelwesen im Leib-
Seele-Paradigma. Es geht vielmehr darum, daß dem Begriff eine
zweifache Bezugnahme eingeschrieben ist, wobei jene Dimension
106 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
des Lebens, die über das Kreatürliche hinausweist, sich letztlich bi-
blischen Vorstellungen verdankt.
Erst der historische Verlust des Heiligen habe das Dogma von
der – kosmischen – Heiligkeit des natürlichen Lebens hervorbrin-
gen können, so Benjamin. Er bewertet dieses Dogma damit als
Effekt der Säkularisierung und kritisiert es als Rückübertragung
verlorengegangener sakraler Momente auf die Naturgesetze. Was
einer kultischen Welt entstammt, wird nach deren Verlust als Na-
tur reformuliert. Insofern bezeichnet Benjamin das Dogma auch
als »letzte Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition«,
um »den Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch Undurchdring-
lichen zu suchen«. Und weiter: »Zuletzt gibt es zu denken, daß, was
hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach
der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Leben.«
(202) – Es ist also kein Zufall, daß Benjamins Text, der genau jenes
Theorem von der ›Heiligkeit des bloßen Lebens‹ verwirft, welches
Agamben zum Ausgangspunkt seines Homo sacer genommen hat,
zugleich auch eine Kritik der Gewalt entwickelt, die mit der Ab-
sehung vom Gebot eine Figur einführt, die auf die Dialektik der
Säkularisierung antwortet – jenseits einer politischen Theologie des
Ausnahmezustands, in der die theologische Herkunft der säkulari-
sierten staatsrechtlichen Begriffe aufgehoben ist.
»Nicht also dies nazarenische Wesen, sondern das Symbol des über
die Liebenden herabfahrenden Sterns ist die gemäße Ausdrucks-
form dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke
einwohnt.« (I .1/200; Hvhg. S. W.) In der letzten Passage seines
Wahlverwandtschaften-Essays, der in zwei Folgen 1924 und 1925 in
den Neuen Deutschen Beiträgen erschien, formuliert Benjamin mit
dieser Entgegensetzung von nazarenischem Wesen und herabfah-
rendem Stern einen gewichtigen Einspruch gegenüber Goethes
Roman, den er ansonsten als geradezu ideale Vorlage für die Erör-
terung einer Reihe von Themen und Motiven nutzt, die ihm am
Herzen lagen und die er schon in einigen seiner vorausgegangenen
Essays untersucht hatte, wie etwa den Begriff der Kritik, wie die
Konzepte von Mythos, Schicksal und Charakter, von Hoffnung,
Erlösung und Offenbarung, wie den Zusammenhang von natür-
lichem und übernatürlichem Leben. Während sein Goethe-Essay
sich ansonsten einer Wertung des Romans enthält und statt des-
sen an seiner Lektüre grundlegende kunstphilosophische Über-
legungen zur Dichtung entwickelt, verwirft Benjamin mit dem
deutigen Art und Weise zum Ausdruck gebracht und sich auch klar
zu unterschiedlichen Jenseitskonzepten geäußert. Das Jenseits ist für
ihn allein Ort der Erlösung, nicht aber der Wiederauferstehung.
Und indem er ausdrücklich betont, daß die Hoffnung sich nicht
auf die eigene Erlösung bezieht, wird der Messianismus von ihm
nicht als Glaubenssache behandelt – Glauben bezeichnet die Ein-
stellung eines Subjekts gegenüber einer Religion, ursprünglich das
Bekenntnis zu ihr, confessio. Das Messianische ist für ihn ein kul-
turgeschichtliches Phänomen, das der Haltung der Gemeinschaft
gegenüber den Toten entspringt.
Das bedeutet nicht, daß es für ihn keine irdische Hoffnung gibt.
Tatsächlich bildet ja die Hoffnung den Fluchtpunkt des Essays,
wie auch die Disposition in Benjamins Aufzeichnungen zur Ar-
beit am Text belegt. Im Triptychon des Essays – Das Mythische
als Thesis, Die Erlösung als Antithesis, Die Hoffnung als Synthesis
(I .3/835–837) – bildet die Hoffnung den Endpunkt einer dialek-
tischen Komposition. Ihr Ort ist die Literatur. »Denn unter dem
Symbol des Sterns war einst Goethe die Hoffnung erschienen, die
er für die Liebenden fassen mußte.« (I .1/199) So wie wir Hoffnung
für die Toten hegen, so verhält sich der Erzähler zu seinen Figuren,
wie Benjamin an dem eingangs zitierten Symbol des herabfahren-
den Sterns in den Wahlverwandtschaften erläutert:
»Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über
ihre Häupter weg«. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht
deutlicher konnte gesagt werden, daß die letzte Hoffnung nie-
mals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die
sie gehegt wird. Damit tritt denn der innerste Grund für die
»Haltung des Erzählers« zutage. Er allein ist’s, der im Gefühle
der Hoffnung den Sinn des Geschehens erfüllen kann.
Als Haltung des Erzählers betrachtet, betrifft diese Hoffnung nicht
das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, in der sich der
»Sinn des Geschehens erfüllen kann«. Insofern ist sie nicht Teil des
Dargestellten, sondern ein Moment der Darstellung selbst – oder
ein Moment des Kunstwerks. Diese Art ›letzter Hoffnung‹, deren
Erscheinung sich gleichzeitig mit dem ›Gesiegelten Ende‹ ereignet,
Die Dichtung als Einbruchstelle 117
läßt sich nicht in einem Bild – wie dem eines dereinstigen Erwa-
chens aus dem Tode – festhalten und stillstellen. Als »paradoxeste,
flüchtigste Hoffnung« sperrt sie sich der Übertragung in eine posi-
tive Vorstellung oder in die Sprache rhetorischer Konvention.
Damit stellt Benjamin die Haltung des Erzählers in eine Nähe
zur messianischen Hoffnung, ohne sie doch damit gleichzusetzen.
Nicht auf Erlösung, sondern auf Erfüllung des Sinns des Roman-
geschehens ist die Hoffnung des Erzählers ausgerichtet. Darüber
hinaus wird diese literarische Version der Hoffnung nicht als eine
beschrieben, die das Romangeschehen durchzieht oder es trägt;
vielmehr taucht sie, wie Benjamin schreibt, nur flüchtig auf, im
selben Moment, in dem der »Schein der Versöhnung« erlischt.
Wenn er den »Schein der Versöhnung« dann als »Haus der äußer-
sten Hoffnung« bezeichnet, konzipiert er beider Wechselbeziehung
analog zum Verhältnis von Nicht-Mitteilbarem und Mitteilbarem
(im Sprachaufsatz 1916) bzw. von Mimetischem und Semiotischem
in der Sprache (Lehre vom Ähnlichen, 1933): »Jene pardoxeste, flüch-
tigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung.« –
Eine solche Konstellation wird in dem Wahlverwandtschaften-Essay
an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Bildern umschrie-
ben. In der Schlußpassage reflektiert Benjamin sie im Hinblick auf
den Begriff des Mysteriums, genauer hinsichtlich »dessen, was vom
Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt« (200; Hvhg.
S. W.). Wird das Werk hier als Aufenthaltsort nicht für das My-
sterium, sondern für etwas von ihm beschrieben, dann verdichtet
sich genau dieses ›etwas‹ im Bild des über die Liebenden herab-
fahrenden Sterns. Benjamin versteht das Bild als Symbol, als Aus-
druck für das Mysterium im Werk, und zugleich als eine Zäsur
des Werks: »Jener Satz, der, mit Hölderlin zu reden, die Cäsur des
Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende be-
siegeln, alles inne hält.« An einer anderen Stelle wird diese kom-
plexe Konstellation in der bündigeren, aber vieldeutigeren Wen-
dung, »daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt«,
zum Ausdruck gebracht (182). Dieses kleingeschriebene jenseits ist
dabei nicht mit der christlichen Jenseitsvorstellung zu verwech-
seln, in der dasjenige, was außerhalb der Autorität des Dichters
118 Etwas jenseits des Dichters
stes« (II .1/153), hervor, in der die paradiesische Sprache ihrer ma-
gischen Momente verlustig geht und die Sprache sich statt dessen
in ein Zeichensystem verwandelt, so ist Sprache nun »nicht allein
Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-
Mitteilbaren« (156). Diese Funktion der Sprache als Symbol eines
in Worten nicht Faßbaren wird in Goethes Wahlverwandtschaften sehr
plastisch als ein Ereignis beschrieben, das die Worte selbst betrifft.
Denn wenn es jetzt heißt, »daß etwas jenseits des Dichters der
Dichtung ins Wort fällt«, dann wird dieses ›ins Wort fallen‹ als ein
Ereignis beschrieben, das als Zäsur bzw. gegenrhythmische Unter
brechung erscheint und einer Eruption durchaus nahe ist. Die-
selbe Wendung ›ins-Wort-fallen‹ benutzt Benjamin kurz vor der
Formulierung, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins
Wort fällt, im Hinblick auf das Ausdruckslose, das der Harmonie
ins Wort falle und dem Schein Einhalt gebiete. Das Ausdruckslose
zwingt, so Benjamin, »die zitternde Harmonie einzuhalten und
verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben« (181). – Wenn dieses
jenseits in Goethes Wahlverwandtschaften überwiegend auf eine höhe-
re oder göttliche Sphäre verweist, so bildet diese Konstellation, die
Einbruchstelle eines anderen Wissens, gerade auch in ihrer Bild-
lichkeit, doch auch eine Voraussetzung dafür, daß Benjamin sie in
späteren Arbeiten mit der Sprache des Unbewußten in Verbindung
bringen wird, wie Freud sie in der Psychoanalyse konzipiert hat.7
Das setzt allerdings ein Verständnis der Psychoanalyse und einen
Umgang mit der Sprache des Unbewußten voraus, dem es nicht
um die Enthüllung einer ›Wahrheit‹, sondern um die spezifische
Weise eines anderen Sichtbarwerdens geht. Auch die Sprache des
Unbewußten weist eine Art virtueller Formulierung einer ›Wahr-
heit‹ auf, die nicht in eine ideale Problemformulierung aufgelöst
oder übersetzt werden kann.
8 Als Prototyp dafür wäre Barnett Newman zu nennen, der mit seinem program-
matischen Text The Sublime is Now (1948) eine Renaissance des Erhabenen einleitete
und in seine eigenen Bilder recht unterschiedslos christliche, jüdische und indiani-
sche Religionsmotive integriert. Vgl. Newman 1990; vgl. auch Herrmann u. a.
1998.
Die Dichtung als Einbruchstelle 125
zieht sich eine strikte Grenzlinie durch Benjamins Essay, mit der
die Begriffe des Kunstdiskurses von solchen Begriffen unterschie-
den werden, die einem anderen, göttlichen Bedeutungssystem an-
gehören. Während seine kritischen Reflexionen zum Mythos, die
eine Art Leitmotiv insbesondere des ersten Teils darstellen, in der
Rezeption viel Beachtung gefunden haben, ist diese Arbeit an der
Sprache, die als Reflexion der Begriffe eine für Benjamins Denken
grundlegende, strukturbildende Rolle im Essay spielt, bisher weit-
gehend überlesen worden. Sie soll im folgenden in einigen ihrer
Stationen nachgezeichnet werden.
Aufgabe vs. Forderungen – »Dichtung im eigentlich Sinn« kann
für Benjamin erst dort entstehen, wo das Wort sich vom Banne der
Aufgabe frei macht. Die Kritik an einer Verwechslung von Dich-
tung mit einer göttlichen Sendung richtet sich hier gegen den Dich-
ter in der Rhetorik der George-Schule.
Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe
von ihr [der George-Schule – S. W.] zugesprochen und somit
sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen
dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen,
und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen
Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Auf-
gabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist. (158 f.;
Hvhg. S. W.)
Diese radikale Verwerfung einer Aufgabe in der Kunst richtet sich
gegen die Legitimierung von Dichtung aus einer ihr fremden, wie
auch immer gearteten und bezeichneten Instanz. Aus der Befrei-
ung der Sprache aus einer Aufgabenbestimmung erst entspringt
für Benjamin das »wahre Kunstwerk«. Mit dem Hinweis darauf,
von Gott kämen einzig Forderungen, nicht Aufgaben, wird zu-
gleich eine Profanierung kritisiert, die die göttliche Instanz zu einer
Art Auftraggeber macht und damit die unhintergehbare Differenz
Gott – Mensch einebnet, ohne die die göttlichen Begriffe ihren
Sinn verlieren.
Geschöpf vs. Gebilde – Daß er in der zeitgenössischen »heroisie-
renden Ansicht vom Dichter« eine Fortschreibung jener Hybris
126 Etwas jenseits des Dichters
wer was oder wen zu opfern bereit sei. So ist in den Gesprächen
zwischen Eduard und Charlotte über ihre Lebensgestaltung leit-
motivisch davon die Rede, ob man etwas »aufopfern« müsse oder
könne. Daß dieser profanierte Sprachgebrauch die Begleiterschei-
nung einer viel weiter reichenden Kultvergessenheit der aufgeklär-
ten, säkularen Gesellschaft darstellt, die die Herkunft ihrer Kultur
aus dem Kult überwunden zu haben glaubt oder verdrängt hat,
wird in der berühmten Friedhofsszene des Romans erkennbar. Als
das Paar, das mit der Anlage eines Landschaftsgartens beschäftigt ist,
gemeinsam den Weg über den alten Kirchhof nimmt, bewundert
Eduard, ohne daß er das Sakrileg, das sich ihm darbietet, auch nur
bemerkt, wie Charlotte hier »mit möglichster Schonung der alten
Denkmäler« einen angenehmen Raum geschaffen habe: »Auch dem
ältesten Stein hatte sie eine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren
sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der
hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und ge-
ziert.« (Goethe 1996, 23 f.)
In dieser knappen Beschreibung verdichtet sich ein radika-
ler Bruch mit den Überlieferungen. Die Umgruppierung der al-
ten Grabsteine, die Charlotte vorgenommen hat, verwandelt eine
Stätte des Totenkults in einen Bestandteil des Landschaftsgartens,
in dessen Gestaltung sich die zeitgenössische Ordnung der Din-
ge spiegelt: eine Harmonie von Wissen und Schönheit, in der die
chronologische Anordnung der Steine nach ihrem Alter mit ih-
rer Funktion als Zierde übereinstimmt. Goethes Bemerkung, daß
Eduard den Pfad über den Kirchhof sonst zu vermeiden pflegte, ist
ein Hinweis auf das Tabu, das den Ort umgibt. Weil die Herkunft
des Tabus aus dem Verbot, die Ruhe der Toten zu stören, verges-
sen wurde, ist von ihm nur mehr das Gefühl einer unbestimmten
Furcht geblieben. Darum ist es kein Wunder, daß die solcherma-
ßen über die Grundlagen ihrer eigenen aufgeklärten Kultur un-
aufgeklärten Protagonisten von der verdrängten religiösen Gewalt
eingeholt werden, die jenen Dingen und Worten innewohnt, von
denen sie einen profanierten Gebrauch machen.
So kommt mit dem Experiment, das sie mit der Naturlehre und
der Anwendung des chemischen Gesetzes der Wahlverwandtschaf-
130 Etwas jenseits des Dichters
ten auf sich selbst machen, eine tödliche Dynamik in Gang, die
der Gleichsetzung von Naturelementen und menschlicher Natur,
d. h. deren Reduktion auf das bloße, natürliche Leben, innewohnt.
Das geschieht zunächst durch den Tod von Charlottes Sohn, der
im Wasser umkommt, das sich auf diese Weise, anders als in der
Lehre von den chemischen Elementen, als unbeherrschbares Ele-
ment zeigt. Die Art, wie sein ›Opfer‹ von den Protagonisten ge-
deutet wird, bleibt in der Schwebe zwischen einem durch das
Experiment (selbst-)verschuldetem Tod, dem ersten »Opfer eines
ahnungsvollen Verhängnisses« (346), einerseits und ›nötigem‹ Opfer
»zu ihrem allseitigen Glück« (342), d. h. einem Opfer, mit dem eine
neue Ordnung gestiftet werden könne, andererseits. Doch mit dem
nachfolgenden Tod Ottilies verschafft sich die in der aufgeklärten
Opferrhetorik verkannte religiöse Gewalt des sacrificium Geltung:
indem Ottilie sich, von den anderen unbemerkt, in Askese aufzehrt
und als Märtyrerin stirbt. Ottilie, die als Verkörperung der Schön-
heit und als eine Art lebendes Bild den Schauplatz des Roman
geschehens betreten hatte, ist damit endgültig zum Bild gewor-
den – und zwar zu jenem Bild, dessen Herkunft aus dem Totenkult
ebenso verdrängt ist wie die Profanierung des Opfers in der bür-
gerlichen Verzichtsethik.
Analog zu Eduards unreflektierter Furcht vor dem Friedhof
empfindet Charlotte nämlich eine ebenso unbestimmte Abnei-
gung gegen Porträtbilder, zumal gegen den Anspruch, diese mögen
das »schönste Denkmal« eines Menschen sein, um dessen »lebende
Form zu erhalten«. Dabei thematisiert sie, gleichsam ahnungslos,
den Zusammenhang von Bilderkult und Totenkult. Sie wider-
spricht nämlich der Idee, daß das Bild eines Menschen sein Denk-
mal bezeichne, was im damaligen Sprachgebrauch soviel heißt wie
»die eigentliche Grabstätte«, um daran anschließend ihre »wunder-
liche Abneigung gegen Bildnisse« damit zu erklären, daß diese im-
mer auf etwas »Abgeschiedenes« deuten (193 f.). Die Abbilder von
Verstorbenen als deren sichtbare Stellvertreter, das benennt einen
der Ursprünge der abendländischen Bildkultur. Mit diesen Bildern
wird die Ruhestätte der Toten als Kultstätte gekennzeichnet, die
damit für die Äußerungen des Lebens tabuisiert ist. Insofern sind
Die Dichtung als Einbruchstelle 131
die lebenden Bilder, mit denen die Gesellschaft sich im Roman die
Zeit vertreibt, gefährliche Unternehmungen, sind es doch Nach-
ahmungen von Denkmälern im ursprünglichen Sinne: Bilder als
Stellvertreter von Toten.
Dabei charakterisiert Goethe die Gesellschaft der Wahlverwandt-
schaften in ihrem Umgang mit Bildern in doppelter Weise. Im ge-
nau entgegengesetzten Verhältnis zur Entweihung der Grabsteine
steht der nahezu weihevolle Umgang mit den Überresten der Ver-
gangenheit, die gesammelt, geordnet, wiederhergestellt werden.
Derart verwandeln sie sich in Objekte für die Einbildungskraft, um
sich in »die ältere Zeit« zu versenken. Die Gesellschaft der Wahl-
verwandtschaften frönt so einem Bilderkult, der die Überreste und
alten Abbildungen, Reliquien gleich, verehrt: »Das Gemeinste,
was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine
gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.«
(198 f.) So hat der Kult um die Schönheit und die Bildnisse den Zu-
sammenhang zwischen Totenkult und Bild verdrängt und vergessen
gemacht, während er doch zugleich den Kultwert der Bilder beerbt
hat. Die allmähliche Angleichung der Ottilie ans Bild läßt die inne-
wohnende Dynamik zutage treten, in der Opfer und Sakralisierung
zusammenwirken: in der Figur der Märtyrerin als Heiliger. Indem
Goethes Roman davon erzählt, wie mit der Profanierung der To-
tenstätte und des Opferbegriffs eine Sakralisierung der Bilder und
eine Betrachtung der Überreste des Vergangenen als Reliquien ein-
hergeht, reflektiert er eine signifikante Logik in der Dialektik der
Säkularisierung. In ihr wirken die Elemente der Märtyrerkultur in
der Aufklärung – unbemerkt – fort, und ihre Verkennung in einer
scheinbar profanen Kultur setzt eine Wiederkehr des Verdrängten
in Gang.
det. Die »schicksalhafte Art des Daseins«, der das Goethesche Per-
sonal verhaftet bleibt, wird für ihn in den Wahlverwandtschaften als
Vorstellungswelt erkennbar, in der das Leben als »Zusammenhang
von Schuld und Sühne« begriffen wird. In ihm erscheint Ottilies
Tod als eine Art mythisches Opfer. Dabei führt die Leugnung einer
Bindung des natürlichen Lebens an ein höheres/übernatürliches
zur Entfaltung eines »verschuldeten Leben[s]«, zu einer Vorstellung
von »Schuld, die am Leben sich forterbt« (I .1/138). Insofern ist es
gerade das bloße Leben, bar jedes übernatürlichen Anspruchs, das zur
Schuld wird: »Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im
Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne daß es im Handeln
gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband
des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet.«
(139) Diese Überlegungen zum »Schuldzusammenhang von Le-
bendigem« (138) korrespondieren mit den Ausführungen über die
Befangenheit der »Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens« im
Mythos und mit der Verwerfung des »Dogmas von der Heiligkeit
des Lebens« im Essay Zur Kritik der Gewalt, der ein Jahr vor der Fer-
tigstellung von Goethes Wahlverwandtschaften publiziert wurde.
Im Goethe-Essay erläutert Benjamin diese Überlegungen an der
Episode von Charlottes und Eduards Kind sowie der Deutung von
dessen Tod als Sühne einerseits und der Betrachtung von Ottilies
Tod als Märtyrertod andererseits:
Also nicht allein als »Opfer des Geschicks« fällt Ottilie – ge-
schweige daß sie wahrhaft selbst »sich opfert« – sondern uner-
bittlicher, genauer, als das Opfer zur Entsühnung der Schul-
digen. Die Sühne nämlich ist im Sinne der mythischen Welt,
die der Dichter beschwört, seit jeher der Tod der Unschuldi-
gen. Daher stirbt Ottilie, wundertätige Gebeine hinterlassend,
trotz ihres Freitods als Märtyrerin. (140)
Im Hinblick auf Ottilies Tod, der von ihr selbst »zweideutig« als
heilig angesprochen werde, gilt Benjamins Kritik dem Zusam-
menhang von Heiligkeit und Sühne in der Deutung ihres Sterbens
durch das Personal des Romans. Dabei geht es um diejenige Vermi-
schung von mythischen und christlichen Vorstellungen, die schließ-
Die Dichtung als Einbruchstelle 133
leiht, ist Teil seiner Kritik am Umgang mit dem Tragischen, in dem
dessen Bedeutung, die sich aus der griechischen Tragödie herleitet,
verkannt und das Wort tragisch nur mehr als Worthülse fürs Pathos
genutzt wird. In der Gestalt der Ottilie Tragisches zu sehen, sei »das
falscheste Urteil«. U. a. die Entscheidungslosigkeit Ottilies, die Art,
wie sie sich treiben läßt, steht dem Tragischen entgegen, denn im
tragischen Wort sieht Benjamin den »Grat der Entscheidung erstie-
gen, unter dem Schuld und Unschuld des Mythos sich als Abgrund
verschlingen«. Und auf einem Grat läßt es sich schlecht wandeln,
schon gar nicht dahintreiben. Insofern das Tragische immer ans
Wort gebunden ist, gehört es zur Persona der Tragödie, zum tragi-
schen Helden. Dessen Ort wird von Benjamin ebenfalls als Jenseits
umschrieben – in diesem Falle allerdings im Sinne einer Negation,
die ein spezifisches Diesseits konstituiert. »Jenseits von Verschuldung
und Unschuld ist das Diesseits von Gut und Böse gegründet, das
dem Helden allein […] erreichbar ist.« Insofern weist Benjamin die
Formel von der tragischen Läuterung Ottilies mit dem Satz zurück:
»Untragischer kann nichts ersonnen werden als dieses trauervolle
Ende.« (I .1/176 f.; Hvhg. S. W.)
Die Kategorie des Ausdruckslosen bildet in Goethes Wahlver-
wandtschaften die Schnittstelle zwischen »wahrem Kunstwerk« und
Tragischem. Um zu demonstrieren, daß das Ausdruckslose »[e]ine
Kategorie der Sprache und Kunst, nicht des Werkes oder der Gat-
tungen« sei, unternimmt Benjamin einen Umweg über Hölderlins
Begriff der Zäsur in seinen Anmerkungen zum Ödipus. Diesem Text
schreibt er eine über die Theorie der Tragödie hinausweisende Be-
deutung zu, mehr noch eine für die Kunst schlechthin grundle-
gende Bedeutung, und zitiert Hölderlins Beschreibung der Zäsur
als reines Wort bzw. als »gegenrhythmische Unterbrechung« (181)
in der rhythmischen Aufeinanderfolge der Vorstellungen, als die
der tragische Transport sich darstellt. Es sei jene »Cäsur, in der mit
der Harmonie zugleich jeder Ausdruck sich legt, um einer inner-
halb aller Kunstmittel ausdruckslosen Gewalt Raum zu geben«. So
erscheint die Zäsur entweder als Verstummen, als Einspruch oder
aber als Ins-Wort-Fallen oder Einbruch: »In der Tragödie als Ver-
stummen des Helden, in der Hymne als Einspruch im Rhythmus
Die Dichtung als Einbruchstelle 137
1 Eine erste Fassung erschien in mahagonny.com. Das Brecht-Jahrbuch 29, hg. v. Marc
Silberman, Florian Fassen, 2004, 253–267.
142 Etwas jenseits des Dichters
vom Gericht zum Tode verurteilt wurde, das zuvor – ähnlich wie
Pilatus den Barnabas freigesprochen – den Fall Higgins mit einem
durch Bestechung bewirkten Freispruch beendet hatte,2 wird seine
imitatio Christi in der Hinrichtungsszene vollendet. Denn die letzten
Worte Paul Ackermanns enden mit der Bitte »Gebt mir doch ein
Glas Wasser!« (386) und spielen damit auf die biblische Golgatha-
Szene und die letzten Worte des gekreuzigten Jesus »Mich dürstet!«
an (Joh. 19, 28). Insofern die Inszenierung seiner Geschichte dem
Modell des christlichen Märtyrers folgt und ihm darüber hinaus das
Privileg zukommt, die Erkenntnis aus der Mahagonny-Geschichte
zu formulieren und deren spirituellen Mangel zu beklagen, kann
diese Szene auch so gelesen werden, daß er als Messias an die Stelle
des negierten alten Gottes tritt. Dessen Schauspielername Dreiei-
nigkeitsmoses klingt ohnehin wie die synthetische Inkarnation ei-
ner überkommenen ›jüdisch-christlichen Tradition‹.
Allerdings verbindet sich mit Brechts moderner Passionsgeschich-
te gerade kein Erlösungsversprechen, wie die Schlußszene mit
den Demonstrationen der »noch nicht Erledigten für ihre Ideale«
(Brecht 1988, 386) zeigt. In ihrer Mitte wird auch die Leiche von
Paul Ackermann in einem Begräbniszeremoniell herumgetragen.
»… auf leinenen Kissen Uhr, Revolver und Scheckbuch Paul Acker-
manns und auf einer Stange das Hemd« (388) – ein Schlußbild, das
gleichermaßen Assoziationen an das Motiv von Triumphzügen auf
Renaissancegemälden (etwa Andrea Mantegnas Triumph Cäsars), an
Investiturzeremonien wie auch an Staatsbegräbnisse weckt. In die-
ser Lesart mündet die Mahagonny-Oper in die Reinszenierung ei-
ner Passionsgeschichte nach dem Rücktritt Gottes. Damit wäre das
Stück als Fortschreibung christlicher Märtyrermoral nach dem Tod
Gottes und nach der Enttäuschung jeder Erlösungshoffnung zu le-
sen – oder auch: als Autorisierung enttäuschter Glücksversprechen
durch eine der Bibel entlehnte Gleichnisrhetorik. Der Schlußsatz
des Stücks »Können uns und euch und niemand helfen« (389) ist
dabei durch den Untergang Mahagonnys und die Passionsgeschich-
3 Einschlägig vor allem Wizisla 1993 und 2004; vgl. auch Yun 2000.
148 Etwas jenseits des Dichters
5 Wie z. B. Sehm 1976, der sich meines Wissen erstmals der Mühe unterzogen
hat, die zahlreichen Bibelanspielungen in Mahagonny en détail zu entschlüsseln.
150 Etwas jenseits des Dichters
episches Theater? übernimmt, fügt er den Satz ein: »Sie [die Interval-
le – S. W.] lähmen seine Bereitschaft zur Einfühlung.« (538)
Wie ein roter Faden zieht sich durch die zahlreichen Brecht-
Texte Benjamins die Beschreibung von Geste und Unterbrechung,
wobei er diesen zwei dramaturgischen Modi, die eine spezifische
Zeitstruktur ins Spiel bringen, eine erkenntnistheoretische Qualität
zuschreibt: als Einbruchstelle in der Handlung, die »den Ausblick auf
die Theorie freigibt« (512), so in der Besprechung zur Mutter, die
1932 in der Literarischen Welt erschien, und als Dialektik im Stillstand,
so in der ersten Studie zum epischen Theater. Darin sieht Benjamin
den Schauspieler – mit der Geste – an der Seite des Philosophen.
Denn die Geste macht in seinen Augen »die Probe auf die Zustände
am Menschen«. Insofern stellt sie für ihn eine Möglichkeit dar, das
Theater unmittelbar physiognomisch mit dem body politic zu ver-
koppeln, mit dem »Körper der Gesellschaft«:
Die Dialektik, auf die das epische Theater es abgesehen hat,
ist aber nicht auf eine szenische Abfolge in der Zeit angewie-
sen, sie bekundet sich vielmehr bereits in den gestischen Ele-
menten […]. Immanent dialektisches Verhalten ist es, was im
Zustand – als Abdruck menschlicher Gebärden, Handlungen
und Worte – blitzartig klargestellt wird. Der Zustand, den das
epische Theater aufdeckt, ist die Dialektik im Stillstand. Denn
wie bei Hegel der Zeitverlauf nicht etwa die Mutter der Dia-
lektik ist, sondern nur das Medium, in dem sie sich darstellt,
so ist im epischen Theater nicht der widersprüchliche Verlauf
der Äußerungen oder der Verhaltungsweisen die Mutter der
Dialektik sondern die Geste selbst. (530; Hvhg. S. W.)
6 Eine Synkope, gr. Verkürzung, kommt durch den Wegfall eines kurzen Vokals in
der Mitte eines Wortes zustande.
154 Etwas jenseits des Dichters
des Prinzip, nämlich eine Ökonomie seines Daseins, in der »in der
Tat einige wenige gezählte Beziehungen eine Rolle« spielen, die
es ihm ermöglichen, »einen, dem Pol meines ursprünglichen Seins
entgegengesetzten zu behaupten«. Und er bittet um Vertrauen,
»daß diese Bindungen, deren Gefahren auf der Hand liegen, ihre
Fruchtbarkeit zu erkennen geben werden«. Auf Gretel Adornos in-
time Kenntnis seiner Person anspielend, erläutert er die genannte
Ökonomie, ohne sich direkt über Brecht zu äußern:
Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben
so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt.
Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und
Gedanken, die als unvereinbar gelten, nebeneinander zu be-
wegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr,
die im allgemeinen auch meinen Freunden nur in Gestalt jener
›gefährlichen‹ Beziehungen augenfällig erscheint. (A B , 156)
Dieser Selbstkommentar erklärt, daß Benjamin in der Beziehung
zu Brecht die Auseinandersetzung mit einem Gegenpol zu seiner
eigenen intellektuellen Disposition bewußt gesucht hat. Was er hier
allerdings offenläßt, ist, worin dieser Gegenpol genau besteht.
Ließen sich dafür, was Brecht zum Gegenpol Benjamins prädis-
poniert, nicht wenige Merkmale nennen, so gehörten dazu sicher-
lich Brechts satirische Haltung wie auch sein Hang zum Infernali-
schen. In diesem Zusammenhang ist Benjamins Besprechung des
Dreigroschenromans aus dem Jahre 19359 interessant, weil sie diesen
Prosatext als »einen satirischen Roman großen Formats« (III /440)
würdigt. In der Besprechung kommt Benjamin auf eine Äußerung
zu Dostojewski aus seinen Studien zum Sürrealismus-Essay zurück,
in der er programmatisch gegen die »unheilvolle Verkupplung
von idealistischer Moral mit politischer Praxis« argumentiert hat-
te (II .1/304). Einige Notizen aus seinen Paralipomena zu diesem
Beitrag, die um das Dämonische und den Kult des Bösen kreisen,
9 Er hatte sie im Auftrag der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift Die
Sammlung geschrieben. Sie ist dann aber aufgrund von Unstimmigkeiten über das
Honorar nicht erschienen.
Biblische Pathosformeln und irdische Hölle 159
10 Daß in ebenjenen Monaten des Jahres 1938, in denen Benjamin seine Kom-
mentare zu den Gedichten Brechts in Angriff nahm, in Buchenwald bereits die
»Sonderbehandlung« der internierten Juden praktiziert wurde, mit der die Schoah
eingeleitet wurde, ist z. B. durch den Totenwald (1946) von Ernst Wiechert bezeugt,
der dort im Juli und August interniert war und seine Erinnerungen daran 1939 nie-
derschrieb. Vgl. dazu das Nachwort von Klaus Briegleb zur Neuauflage des Textes
Frankfurt/M. 2008.
162 Etwas jenseits des Dichters
11 Ausführlich hat diesen Gegensatz der Lektüren Stéphane Mosès herausgearbei-
tet (Mosès 1986, 248).
Biblische Pathosformeln und irdische Hölle 167
Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug
der herrschenden Klasse herzugeben.« (I .2/695)
Es ist auffällig, daß Benjamin in dieser fünften These nicht nur
von Tradition spricht, sondern auch von der Überlieferung, die in
jeder Epoche wieder neu dem Konformismus abgerungen werden
müsse – ohne diese näher zu spezifizieren. Da aber im folgenden
Satz umstandslos vom Messias und von demjenigen Geschichts-
schreiber die Rede ist, der davon durchdrungen sei, den Funken
der Hoffnung anzufachen, meint Überlieferung ganz offensicht-
lich den Ort des Messianischen im Geschichtsverständnis. Vor dem
Hintergrund, daß in Brechts Texten jeglicher Messianismus ausfällt,
sie aber die christliche Ikonographie und biblische Sprache für ihre
negative Theologie des Kapitalismus nutzen, kann man vermuten,
daß Benjamin wohl nicht zuletzt auch an ihn gedacht hat, als er
1940 das Denkbild des Schachautomaten entwarf. In ihm beschreibt
er, auf welche Weise sich die Siegesgewißheit des ›historischen Ma-
terialismus‹ – »Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›histori-
schen Materialismus‹ nennt« – einer Indienstnahme der Theologie
verdankt, wenn diese in einer raffinierten Spiegel-Apparatur ver-
borgen ist: »Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn
sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich
klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.«
(693)
6. Jüdisches Denken
in einer Welt ohne Gott1
Benjamins Kafka-Lektüre
als Kritik an christlichen und jüdischen Theologumena
1 Der Titel dieses Kapitels ist dem Titel der Festschrift für Stéphane Mosès ent-
nommen (Mattern et al. 2000). Zuerst erschien es in Benjamin-Handbuch. Leben –
Werk – Wirkung, hg. v. Thomas Küpper u. a., Stuttgart u. a. 2006, 543–557.
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 171
dieses Dichters sind hier in einer Deutung, die mit der höchsten
Energie überall zu den theologischen Sachverhalten hindurchstößt,
die Wege gewiesen.« (III /277)
Schon der Titel Theologische Kritik der im Februar 1931 in der
Neuen Rundschau publizierten Besprechung signalisiert, daß sie
Benjamins Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Gren-
zen theologischer Deutung enthält. Der esoterische Charakter von
Kafkas Dichtung, jenes »theologische Geheimnis«, das in poetischer
Sprache artikuliert wird, ohne doch ausgesprochen zu werden,
taucht hier im Topos der »bezeugten Erfahrungen« wieder auf: Er-
fahrungen, »für die er immer zeugen und die er nie verraten, nie-
mals ausplaudern wird«. Unter den Gestalten der Zeit sind zwei, »de-
nen der Verfasser des Buches solch unmitteilbare, zur Zeugenschaft
verpflichtende Erfahrungen dankt, denen er die Treue gehalten hat,
und die nun sein Buch als Schutzpatrone auf dem Weg durch die
Zeitgenossenschaft leiten: Franz Kafka und Hugo von Hofmanns
thal« (275; Hvhg. S. W.). Benjamins Rede vom Unmitteilbaren grün-
det in seiner Sprachtheorie und der darin formulierten Möglich-
keit, daß das Nichtmitteilbare – oder auch die magische Seite der
Sprache bzw. das Mimetische – an ihrem semiotischen Fundus zur
Darstellung kommt. Während diese Auffassung in den nur wenige
Jahre später, 1933 in Berlin und auf Ibiza, aufgeschriebenen Texten
Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen aber gerade
aus einem theologischen Begründungszusammenhang herausgelöst
und in eine kulturanthropologische Perspektive eingetragen wird,
kommt im Kafka-Komplex das theologische Moment des Nicht-
mitteilbaren zur Sprache. Die von Benjamin in Willy Haas’ Buch
beobachtete Nähe von Theologie und Schein (276) erinnert dabei
an den im Goethe-Essay erörterten Begriff des Ausdruckslosen und
an die Rede vom »göttliche[n] Seinsgrund der Schönheit«, der im
Geheimnis liege (I .1/195).
In der Haas-Rezension wird das Unmitteilbare dagegen mit ei-
ner Zeugenschaft verknüpft: mit den Dichtern als Zeugen für das
Kommen des Messias und für das »theologische Geheimnis«, das
er in Kafkas Prozeß-, Gerichts- und Gesetzes-Geschichten verbor-
gen sieht. Benjamin beschreibt Kafka dabei in einer Stellung, die
182 Etwas jenseits des Dichters
2 Vgl. zu dieser Zeitstruktur Hiebel 1983, 138, und Müller 1996, 11 ff.
184 Etwas jenseits des Dichters
sich selber einfügen zu können«. Ihm bliebe nur, mit Staunen und
panischem Entsetzen auf die Entstellungen des Daseins zu antworten
(678). Im Unterschied zu Brechts Rede von den »unverständlichen
Entstellungen des Daseins« (II .3/1204) rückt Benjamin, indem er
diese als »Symptome von Verschiebungen« faßt, Kafkas bildliches
Erzählen in die Nähe zu Freuds Sprache des Unbewußten.3 Es sei
kein Vorgang denkbar, der unter Kafkas Beschreibung bzw. Un-
tersuchung »sich nicht entstellt. Mit anderen Worten, alles, was
er beschreibt, macht Aussagen über etwas anderes als sich selbst.«
(II .2/678) Im Unterschied zu konventionalisierten Formen einer
übertragenen, ›anderen‹ Redeweise – wie Allegorie, Parabel oder
Gleichnis – ist das Symptom bei Freud als Erinnerungssymbol gefaßt,
dessen verschobener Darstellung stets ein Vergessen eingeschrie-
ben ist. Und Entstellung und Verschiebung sind – zusammen mit
der Verdichtung – die wichtigsten Mittel der Traumarbeit. Auch
Benjamin verknüpft die Entstellung bei Kafka mit dem Vergessen:
»Denn die präziseste Entstellung, die so bezeichnend für Kafkas
Welt ist«, rühre daher, daß wegen des undurchschauten Gewesenen
das Neue sich in der Figur der Sühne darstelle, so daß die unbe-
kannte Schuld als Vergessen verstanden werden muß. Und Kafkas
Dichtung sei von »Konfigurationen des Vergessens« erfüllt (682).
– Die Begriffe Symptom und Entstellung, die in Benjamins Kafka-
Arbeiten hier erstmals auftauchen, sind Leitmotive seiner weiteren
Auseinandersetzung mit Kafkas Werk. Die Entstellung, verstanden
als »Axenverschiebung in der Erlösung« (II .3/1201), wird eine zen-
trale Rolle im Dissens mit Scholem über dessen Kafka-Deutung
spielen, als Signum von Kafkas Welt, das Benjamins Deutung von
der Welt der Kabbala und der jüdischen Überlieferung unterschei-
det. Mit der Entstellung, bewertet als Differenz zur Offenbarung,
korrespondiert auch das Unabgeschlossene von Kafkas Werk. In der
Form eines unaussprechlichen Gesetzes kehrt hier das Unmitteilbare
des »theologischen Geheimnisses« wieder: »Daß das Gesetz als sol-
3 Die Entstellung als Konzept, in dem bei Benjamin Messianismus und Psycho-
analyse verknüpft werden, steht im Zentrum meines früheren Benjamin-Buches
Entstellte Ähnlichkeit (Weigel 1997).
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 185
ches bei Kafka sich nirgends ausspricht, das und nicht anderes ist die
gnädige Fügung des Fragments.« (II .2/679)
Das angeblich geplante, von Brod kolportierte Ende des Schloß-
Romans (K. stirbt, als ihm endlich durch einen Boten aus dem
Schloß die Erlaubnis zum Leben im Dorf überbracht wird) bewer-
tet Benjamin insofern auch nicht als Auflösung des Rätsels oder
Vollendung des Romans. Er erkennt darin vielmehr eine »talmudi-
sche Legende« wieder, die von einem Gleichnis handelt: Eine Prin-
zessin (bzw. die Seele), die sich in einem Dorf (das ist der Körper)
in der Verbannung unter einem Volke befindet, dessen Sprache sie
nicht versteht, und die schmachtet, erfährt durch einen Brief, daß
ihr Verlobter (bzw. der Messias) auf dem Weg zu ihr sei. Mit dem
Mahl, das die Seele dem Körper richtet, »weil sie denen, die ihre
Sprache nicht kennen, anders keine Botschaft von ihrer Freude ge-
ben kann«, gibt diese Legende Antwort auf die Frage, »warum am
Freitagabend der Jude ein Festmahl rüstet«. Allerdings ist noch eine
Verschiebung vonnöten, damit aus dieser Legende eine Kafka-Ana-
logie werden kann: »Eine kleine Akzentverschiebung in dieser Tal-
mudgeschichte, und wir sind mitten in Kafkas Welt. So wie der K.
im Dorf am Schloßberg lebt der heutige Mensch in seinem Körper:
ein Fremder, Ausgestoßener, der nichts von den Gesetzen weiß,
die diesen Leib mit den höheren weiteren Ordnungen verbinden.«
(680; Hvhg. S. W.)
Während die zitierte talmudische Legende eine Erklärung anbie-
tet für die sakrale Bedeutung profaner Handlungen in den jüdischen
Kultgesetzen, zu diesem Zweck auf das Leib-Seele-Paradigma zu-
rückgreift und den Kult mit der Erfahrung sprachlicher Fremdheit
in der Diaspora vergleicht, bringt die »kleine Akzentverschiebung«
eine ganz andere Dimension ins Spiel. Es geht nicht mehr ums Ver-
stehen, sondern um völlige Unkenntnis der Gesetze der Religions-
ausübung. Denn »der nichts von den Gesetzen weiß«, ist nicht nur
in Unkenntnis ihres Inhalts, sondern ihres kultischen Sinns über-
haupt. Ihm ist die Verbindung des Leibes zu höheren Ordnungen
abhanden gekommen – die Verbindung zwischen dem Kreatür
lichen bzw. dem bloßen Leben und dem höheren Leben. Die Ent-
stellung der talmudischen Legende, die uns »mitten in Kafkas Welt«
186 Etwas jenseits des Dichters
4 Vgl. dazu Gaschés Untersuchung zu Kafkas Gesetz zwischen Judaismus und Hel-
lenismus (Gasché 2002).
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 187
7 Stéphane Mosès hat darauf aufmerksam gemacht, daß bei Scholem Offenba-
rung für das hebräische Wort Tora steht, »das gemäß der Polysemie dieses Begriffs
noch die Bedeutung von Gesetz und Lehre umfaßt. Das ›Nichts der Offenbarung‹
bezeichnet also einen paradoxen Augenblick in der Geschichte der Tradition, den
eines entscheidenden – aber nicht endgültigen – Bruchs, wo das Gesetz das Prinzip
seiner Autorität schon verloren hat, sein Schatten indes sich noch vor dem Hinter-
grund der Kultur abzeichnet.« (Mosès 1994, 199)
192 Etwas jenseits des Dichters
ren Differenz zur »reinen Sprache« markiert – und deutet die Figur
der Erlösung insofern als Zurechtrücken der Entstellung.
Ohne daß der zugrundeliegende Horizont der unterschied-
lichen Sprachtheorien von Scholem und Benjamin8 im Brief-
wechsel berührt würde, kommen diese im Mißverständnis um die
Legende vom großen Rabbi indirekt zur Sprache. In Benjamins
Essay heißt es: »der Insasse des entstellten Lebens […] wird ver-
schwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein großer Rabbi
gesagt hat, daß er nicht mit Gewalt die Welt verändern wolle, son-
dern nur um ein Geringes sie zurechtstellen werde.« (II .2/432)
Für diese Legende beansprucht Scholem die Urheberschaft: »Der
auch bei Bloch erscheinende große Rabbi mit dem tiefen Diktum
über das messianische Reich bin ich selber; so kommt man noch
zu Ehren!« (BS 154), und beruft sich dafür auf eine frühere, von
ihm stammende Fassung: »Alles wird sein wie hier – nur ein ganz
klein wenig anders« (156). Der Unterschied zwischen »ein ganz
klein wenig anders« und »entstellt«, den Scholem hier übersieht,
kann als Symptom der sprachtheoretisch begründeten Kontroverse
über den Begriff der Offenbarung gelesen werden. Wenn Benjamin
die Entstellung zugleich als Form deutet, die die »Dinge in der
Vergessenheit annehmen« (II .2/431), wird für ihn die Differenz der
Geschichte zur Offenbarung erst in der Perspektive der Erinnerung
erkennbar.
Dieses genau ist der Schnittpunkt seiner Kontroversen mit
Brecht einerseits und Scholem andererseits. Liegt das Datum seiner
Scholem-Entgegnung, der 11. August 1934, zwischen dem zweiten
und dritten Gespräch mit Brecht, so kommt Benjamins aus der
Perspektive der Erinnerung gewonnene Figur der Umkehr, durch
die sich das Leben in Schrift wandelt, schon in diesem Brief zum
Tragen: »Kafkas messianische Kategorie ist die ›Umkehr‹ oder das
›Studium‹.« Daraus erklärt sich auch Benjamins These zur »Frage
der Schrift« (BS 167), die an einen besonders empfindlichen Punkt
rührt, wie Scholems Bemerkung signalisiert: »Hierüber werden
8 Vgl. dazu meine Untersuchung von Scholems Dichtungstheorie, die er aus der
Kina entwickelt hat, im Kontrast zu Benjamin (Weigel 2000a).
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 193
Lektüre in Legenden
Im Unterschied zur strengen Komposition des Kraus-Essays als Tri-
ptychon aus den drei Teilen Allmensch, Dämon und Unmensch
entfaltet der vierteilige Essay Franz Kafka ein komplexes Netz
von Motiven, Legenden, Figuren, Begriffen und Zitaten: aus Kaf-
kas Texten, aus vorliegenden Interpretationen (etwa von Brod,
194 Etwas jenseits des Dichters
Blick auf die Vorwelt und auf die Unterseite der Geschichte. Unter
dem Motto eines ›anderen Odysseus‹ kommentiert er Kafkas Welt
als Welt des Ungeschiedenen, noch ohne Ordnungen und Hierar-
chien, die älter sei als der Mythos, während Kafka dem Versprechen
des Mythos, sie zu erlösen, jedoch nicht gefolgt sei. Insofern sieht
er Kafka, ähnlich wie Odysseus, »an der Schwelle, die Mythos und
Märchen trennt«, dort, wo durch List und Vernunft die mythischen
Gewalten auf hören, während zugleich die Märchen als »Überlie-
ferung vom Siege über sie« entstehen. Mit der Rede von Kafkas
»Märchen für Dialektiker« wird die Differenz zu seinen antiken
»Ahnen« betont, so daß das Schweigen der Sirenen dem »andere[n]
Odysseus« (415) entspricht, als den Benjamin Kafka darstellt. Wenn
er die Überlieferung vom Sieg über die mythischen Gewalten als
Märchen bewertet, so nimmt das »Märchen für Dialektiker« eine
Umkehr dieser Betrachtung vor, durch welche die geschichtstheo-
retische Bedeutung der Überlieferung frag-würdig wird. Dazu
nimmt Benjamins Kafka-Lektüre eine exakte Gegenstellung zur
Dialektik der Aufklärung ein, in der Odysseus als Allegorie auf die
Selbsterhaltung und den Ursprung der Kunst aus der Abspaltung
von körperlicher Arbeit auftritt.
Eine dem »anderen Odysseus« verwandte Perspektive zurück
auf die Vorwelt, buchstäblich vor das Gesetz – oder auch auf die
Unterseite der Geschichte –, entwirft auch der Sisyphos-Vergleich.
Im Anschluß an die Beobachtung, daß die Scham, Kafkas »stärk-
ste Gebärde«, keine persönliche sei, sondern eine »gesellschaftlich
anspruchsvolle Reaktion«, die in seinen Texten aus der Nötigung
einer – unbekannten – Familie erklärt wird, heißt es:
Dem Geheiß dieser Familie folgend, wälzt er den Block des
geschichtlichen Geschehens wie Sisyphos den Stein. Dabei ge-
schieht es, daß dessen untere Seite ans Licht gerät. Sie ist nicht
angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, den Anblick zu
ertragen. […] Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm
keinen Fortschritt über die Uranfänge. (428)
Die Vorwelt in der Gegenwart sichtbar zu machen, erscheint so als
Schwerstarbeit. Das erklärt die Langsamkeit und Schwere der Be-
196 Etwas jenseits des Dichters
11 In diesen Kontext von »Durchschnittsmenschen«, die selbst rätsellos sind, denen
die Welt aber rätselvoll ist, gehören auch die Bezüge zum chinesischen Kulturkreis,
die Benjamin mehrfach herstellt: mit Zitaten aus Rosenzweigs Stern der Erlösung
(1921) und aus Léon Metchnikoffs La civilisation et les grands fleuves historiques
(1889).
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 199
12 Zur Geste bei Kafka und Benjamin vgl. Hamacher 1998.
200 Etwas jenseits des Dichters
begleiten, und es spricht nicht wenig dafür, daß dabei viele von den
›unverständlichsten‹ unterkämen.« (111)
Die Bedeutung naturwissenschaftlicher Studien für Benjamins
Denken, die auf die Studienzeit zurückgeht, insbesondere auf die
Gespräche mit dem notorisch mit Mathematik und Zahlentheo-
rie beschäftigten Scholem,14 gehört zu den bislang ungeschriebe-
nen Kapiteln der Benjamin-Rezeption. Bei der zitierten Passage
von Eddington handelt es sich um eine Raumbeschreibung aus
dem letzten Kapitel aus dem Weltbild der Physik, in welchem der
Physiker unter der Überschrift Wissenschaft und Mystizismus die
»fremdartigen neuen Vorstellungen über das Wesen der physikali-
schen Welt« zum Ausgangspunkt für eine Erörterung philosophi-
scher Auswirkungen von Relativitäts- und Quantentheorie nimmt
und diese Überlegungen bis in die allgemeine »Weltanschauung,
einschließlich der Religion« verfolgt (Eddington 1931,V ). Die
zitierte Passage handelt von dem komplizierten Unternehmen, in
Kenntnis und unter Berücksichtigung aller physikalischen Gege-
benheiten (wie Schwerkraft der Atmosphäre, Geschwindigkeit der
Erdrotation, Kugelform des Planeten) überhaupt noch ein Zimmer
betreten zu können. Das Zitat mündet in folgendem Bild:
Wahrlich, es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr
gehe, denn daß ein Physiker eine Türschwelle überschreite.
Handle es sich um ein Scheunentor oder eine Kirchentür,
vielleicht wäre es weiser, er fände sich damit ab, nur ein ge-
wöhnlicher Mensch zu sein, und ginge einfach hindurch, an-
statt zu warten, bis alle Schwierigkeiten sich gelöst haben, die
mit einem wissenschaftlich einwandfreien Eintritt verbunden
sind. (Eddington 1931, 335; 6/111)
Eddington beschreibt den Physiker also gleichsam vor dem Gesetz
der Physik stehend, ähnlich handlungsunfähig wie das Kafkasche
14 In der Korrespondenz mit Scholem ist z. B. die Lektüre von Natorps Grundla-
gen der exakten Wissenschaften (1910) belegt, im Verzeichnis der gelesenen Schriften – ne-
ben wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Schriften etwa von Mannheim und
Meyerson – z. B. Ernst Barthels Die geometrischen Grundbegriffe (1916).
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 205
Indem sie die jeweils andere Seite ein und derselben Problematik
betonen – Scholem die Nichttradierbarkeit der Wahrheit und die
Verborgenheit der Tradition, Benjamin Kafkas Festhalten an der
Tradierbarkeit unter Preisgabe der Wahrheit –, haben Benjamin
und Scholem sich in ihrer Kafka-Lektüre doch noch auf denselben
Punkt zubewegt, ähnlich den zwei entgegengesetzten Bewegun-
gen, die sich gegenseitig befördern, ähnlich also jener Konfigu-
ration, die ein strukturierendes Denkbild in Benjamins Schriften
darstellt.
Mit Benjamins Bewertung der Literatur als Medium der Tradie-
rung unter Preisgabe der Wahrheit bzw. Lehre muß aber der Status
von Kafkas Erzählungen als Gleichnisse (wie die talmudische Le-
gende) problematisch werden. Insofern werden seine Reflexionen
zum Problem des Gleichnishaften hier noch einen Schritt weiter
geführt als im Essay: »von Hause aus Gleichnisse«, sind Kafkas Dich-
tungen doch zugleich mehr als das, weil sie sich nicht der Lehre un-
terwerfen, sondern gegen diese zugleich auch die »Pranke« heben.
So bleiben für Benjamin bei Kafka nur Zerfallsprodukte der Weisheit
(wie Gerücht, eine »Art von theologischer Flüsterzeitung« [6/113],
und Torheit). Indem sie Zerfallsprodukte der Weisheit darstellt, lie-
fere Kafkas Literatur aber – im Scheitern – unendlich viel mehr als
alle Versuche einer ins Profane hinübergeretteten Lehre:
Um Kafkas Figur in ihrer Reinheit und in ihrer eigentüm-
lichen Schönheit gerecht zu werden, darf man das Eine nie
aus dem Auge lassen: es ist die von einem Gescheiterten. Die
Umstände dieses Scheiterns sind mannigfache. Man möchte
sagen: war er des endlichen Mißlingens erst einmal sicher, so
gelang ihm alles unterwegs wie im Traum. Nichts denkwür-
diger als die Inbrunst, mit der Kafka sein Scheitern unterstri-
chen hat. (114)
Im Unterschied zum Goethe-Aufsatz, in dem noch die Hoffnung
und das Ausdruckslose mit einem »göttliche[n] Seinsgrund der
Schönheit« (I .1/195) in Verbindung gebracht wurden, entdeckt
Benjamin in Kafkas Literatur nun eine andere, eine gleichsam un-
menschliche Schönheit, Heiterkeit und Hoffnung: »So ist denn, wie
Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott 209
Kafka sagt, unendlich viel Hoffnung vorhanden, nur nicht für uns.
Dieser Satz enthält wirklich Kafkas Hoffnung. Es ist die Quelle
seiner strahlenden Heiterkeit.« (6/113) Diese Heiterkeit verdankt
sich offensichtlich dem Spielraum der komplementären Welt. Wenn
Bühne und Welttheater, die Bilder für Kafkas gestische Erfahrung
im Essay, hier zu einem Spiel-Raum geworden sind, dann steht
dieses Bild in der Reihe jener Topoi, mit denen Benjamin Kafkas
Welt als Signatur, nicht aber Abbild der Moderne kennzeichnet –
topographische Figuren, die den Abstand der Historie zur Schöp-
fung in die Jetztzeit fortschreiben. Es sind Topoi, die prinzipiell
vom Spiegelbild unterschieden sind: als Spiegelung im Gegensinn,
Entstellung und Symptom im Rundfunkessay, als Entstellung und
Umkehr im Essay von 1934, als Komplement und Spielraum in
dem Text von 1938.
Aus der Mitte seiner Bilderwelt
7. Übersetzung als vor läufiger
Umgang mit der Fr emdheit der Spr ache
Vom Verschwinden des Bilddenkens
in Übersetzungen Benjaminscher Schriften1
2 Den Hinweis auf das Zitat verdanke ich der Lektüre von Andrew Benjamin in
Hirsch 1997, 232.
Übersetzung als vorläufiger Umgang 215
immer schon sowohl zitieren – und ein »Wort zitieren heißt es beim
Namen rufen« (II .1/362) – als auch übersetzen – und übersetzen
heißt, in der anderen Sprache das Echo des Originals zu erwecken
bzw. einen sprachlichen Ort zu finden, »wo jeweils das Echo der
eigenen den Widerhall eines Werkes der fremden Sprache zu geben
vermag« (IV.1/16).
Diese andere Stimmigkeit wird von Benjamin im Zusammen-
hang seiner kleinen Theorie des Zitats (im Kraus-Essay) nicht als
Gereimtheit qualifiziert, sondern als Erscheinung zur Sprache ge-
bracht, die er als »nicht ungereimt« und als klingend und stim-
mig benennt: »Nicht ungereimt erscheint es [das Zitat – S. W.],
klingend, stimmig, in dem Gefüge eines neuen Textes.« (II .1/363)
Wenn das Wort ungereimt hier auf die übertragene Bedeutung von
nicht-gereimt, also unstimmig im logischen Sinne, anspielt,4 dann
entspräche das im Englischen in etwa der Wendung »without rhyme
and reason«, die soviel wie »ohne Sinn und Verstand« bedeutet. In
der Form der Negation »nicht ungereimt« wird in Benjamins Text
die übertragene Bedeutung verworfen, um in der Operation ei-
ner doppelten Negation wieder auf die wörtliche Bedeutung von
Gereimtheit – assoziiert mit Stimme/Klang, nicht mit Logos/Ver-
nunft – zurückgeführt zu werden und um daraus eine andere als
die allein im Logos begründete Gereimtheit, eine Stimmigkeit zu
gewinnen; durch die Ergänzung »klingend, stimmig« wird sie als
eine kenntlich, die in oder mit dem Klang aufscheint. Diese Arbeit
an der Bedeutung von ›ungereimt‹ entspricht dem Benjaminschen
Verfahren einer Transformation von Metaphern und übertragenen
Bedeutungen in dialektische Bilder, bei dem er von der eingeschlif-
fenen übertragenen Bedeutung ausgeht, um die darin verborgene
und erstarrte Dialektik wieder hervorzutreiben.5 Auch in der Be-
schreibung des Zitats verfährt er also mit der Sprache als Zitat,
denn: »Es [das Zitat – S. W.] ruft das Wort beim Namen auf, bricht
es zerstörend aus dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es
4 Ungereimt mhd. ungerîmet, seit dem 15. Jh. übertr. ›nicht stimmig, absurd‹.
Nach Paul 1992, 941.
5 Vgl. zu diesem Verfahren ausführlicher die Kap. III . und VI . in Weigel 1997.
220 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
sein Begriff des Bildes, der hinter diese Aufspaltung in Begriff und
Metapher zurückgeht. Er erinnert daran, daß in jedem Bild eine
Heterogenität von Intelligiblem und Sinnlichem zu einer Konstel-
lation zusammentritt. Mit dem Verfahren, das Wort beim Namen
aufzurufen, nähern sich die Worte den Eigennamen und damit ei-
ner Schicht der Sprache, in der das Gesetz ihrer Übersetzung auf
eine genuine Unübersetzbarkeit stößt, die der Gleichzeitigkeit von
Buchstäblichkeit und Bedeutung geschuldet ist. So hat Stéphane
Mosès in einer Untersuchung der biblischen Namen zeigen können,
daß deren Namenslogik, die der Struktur der hebräischen Sprache
eingeschrieben ist, »per definitionem unübersetzbar ist«. Trifft die-
ses für den göttlichen Namen ohnehin zu, so zeigt Mosès auch an
solchen Namen wie z. B. jiZH ’aK (Isaak) eine Gleichzeitigkeit von
Buchstäblichkeit und Sinn, die in den lateinischen und deutschen
Bibel-Übersetzungen dann regelmäßig in der Alternative zwischen
semantischer oder onomatopoetischer Übertragung verschwindet
(Mosès 1997).
In der Schlußpassage des Übersetzer-Aufsatzes, an der Schwelle
zwischen den Hölderlinschen Sophokles-Übersetzungen und dem
Heiligen Text, steht bei Benjamin der Satz: »Aber es gibt ein Hal-
ten.« (IV.1/21) Wo im Begriff des Halts, der sowohl Stillstand als
auch Stütze meint, die Differenz von innehalten, anhalten, festhal-
ten verschwunden wäre, eröffnet »ein Halten« eine andere Spur. Im
Wort halten verbirgt sich nämlich auch eine vorausgegangene Be-
deutung im Sinne von hüten, achten auf, beobachten, womit sich
das Halten, das derart zwischen verschiedenen Sinnen changiert
und auch als sorgendes Schauen gelesen werden kann, als Haltung
einer spezifischen Wahrnehmungsmöglichkeit erweist.
Da diese Erörterung des Benjaminschen Sprachgebrauchs als
Bilddenken in einer unabschließbaren Serie fortgesetzt werden
könnte, greife ich, um an dieser Stelle abbrechen zu können, zur
Übersetzungs-Stütze, wo es für »Aber es gibt ein Halten« heißt:
»There is, however, a stop.« (SW 262)
8. Bildwissenschaft
aus dem Geiste wahr er Philologie
Zur Odyssee des Trauerspielbuchs
in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg 1
1 Eine erste Fassung erschien in Detlev Schöttker (Hg.), Schrift Bilder Denken.
Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt/M. 2004, 112–126.
Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie 229
zur Schau stellen, als die jähe Willkür eines jederzeit umschla-
genden Affektsturms, in dem zumal Lohensteins Gestalten wie
zerrißne, flatternde Fahnen sich bäumen. (I .1/250 f.)
Die erregten Gebärden und flatternden Gestalten sind für Benja-
min Zeichen einer A-Souveränität und untermauern seine These
von der Entschlußunfähigkeit, durch die der Souverän zum Tyran-
nen wird. Der Bezug zur Malerei folgt dabei nicht einem Diskurs
über den Vergleich oder Wettstreit der Künste; auch geht es weni-
ger um eine visuelle Argumentation. Vielmehr begreift Benjamin
die Ausdrucksgebärden des barocken Theaters als Symptom einer
spezifischen Souveränitätskonzeption, die in einem »Mißverhältnis
der unbeschränkten hierarchischen Würde, mit welcher Gott ihn
investiert, zum Stande seines armen Menschenwesens« (250) grün-
det. Das Mißverhältnis zwischen dem politischen und sterblichen
Körper des Königs, zwischen gottähnlicher Position und Kreatur,
wird von ihm als Widerstreit gedeutet, der der politischen Theo-
logie des barocken Herrscherkonzepts inhärent ist und unmittelbar
in den Affekten des Souveräns zum Ausdruck kommt: als »Wider-
streit, in welchem Ohnmacht und Verworfenheit seiner Person mit
der Überzeugung von der sakrosankten Gewalt seiner Rolle im
Gefühl des Zeitalters liegen« (251). Dieser direkten Beziehung zwi-
schen Politik und Affektmodulierung kommt die Tatsache entge-
gen, daß das Trauerspiel im zeitgenössischen Bewußtsein sowohl die
dramatische Gattung als auch den historischen Zustand bezeich-
nete. Dadurch können die Ausdrucksgebärden der theatralischen
Figuren als unmittelbare Darstellung der historischen Problematik
verstanden werden: Die theatralischen Figuren sind die Bilder des
barocken Zeitalters.
Pathosformeln
Wenn Benjamin einzelne Bilder oder Gemälde zitiert, dann geht es
sehr häufig um Gesten, Gebärden und den körperlichen Ausdruck
im Bildraum. Solche Pathosformeln sind ein unverzichtbares ›Ma-
terial‹ für seinen physiognomischen Blick, der Ausdrucksgebärden
230 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
ist, sich einander zu« (351). In diesem Fall wird mit dem »Beispiel
der Wiener Genesis« der Schauplatz einer ausführlicheren Bildbe-
schreibung auf den Miniaturen eröffnet, die fast über die ganze
Seite reicht und die Diskussion des Schuldgefühls nach dem Ersten
Weltkrieg anhand der Körpersprache der Bilder fortschreibt. Im
Baudelaire-Buch bleibt es dagegen bei der knappen Erwähnung
der »Ausdruckskraft der Iracundia des Giotto in Padua«, mit der
Benjamin Baudelaires Jähzorn und Spielwut in den Fleurs du mal
charakterisiert (I .2/637). Hier zitiert er eine Figur aus der Kunstge-
schichte als Bild der Verkörperung eines spezifischen Affektbildes,
womit die Ikonographie der Renaissance als Vergleichsregister für
die poetische Sprache der Moderne genutzt wird: Nachleben von
Pathosformeln der Renaissance in der Moderne.
6 Vgl. den Brief von Linfert vom 13. 12. 1932 (III /653–657) und den Brief von
Benjamin vom 18. 7. 1933 (5/260–262).
Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie 239
Der Grenzfall –
Überschreitung des Gebietscharakters der Wissenschaft
Neben einem aus dem Geiste der Philologie erwachsenen Sinn
für die Bedeutung des Unscheinbaren wird die neue Kunstwissen-
schaft gekennzeichnet durch ihre Beschäftigung mit dem Grenz-
fall – von Kunstwerk und Kunstgattungen. Als Beispiel dafür steht
in Benjamins Besprechung der Beitrag von Linfert zur Architek-
turzeichnung.8 Auch hier wird Riegl als Vorbild genannt, in dessen
Spätrömischer Kunstindustrie sich der Grenzfall, so Benjamin, schon
»als Ausgangspunkt der bedeutsamsten Überwindung der konven-
tionellen Universalhistorie« erwiesen habe. Denn es ist der von
der Universalhistorie verschmähte Grenzfall,9 »in dessen Durchfor-
schung die Sachgehalte ihre Schlüsselposition am entschiedensten
geltend machen« (373). An Linferts Tafeln mit den Architektur-
zeichnungen interessiert Benjamin besonders, daß es sich nicht um
Abbilder handelt, sondern gleichsam Signaturen ihrer Epoche:
Man kann nicht sagen, daß sie Architekturen wiedergeben. Sie
geben sie allererst. Und seltener der Wirklichkeit des Planens
als dem Traum. […] Wie tun die architektonischen Prospekte
sich auseinander, um in ihren Kern Allegorien, Bühnenbilder,
Denksteine aufzunehmen! Und jede dieser Formen weist nun
7 Zur erkenntnistheoretischen Stellung des Details bei Warburg, Freud und Ben-
jamin vgl. das erste Kapitel in Weigel 2004.
8 An diesem Beitrag dürfte Benjamin nicht zuletzt auch gefreut haben, daß Linfert
sich – darauf hat schon Kemp hingewiesen (Kemp 1978) – auf Benjamins Allego-
riekonzeption bezieht.
9 Die Arbeit am Grenzfall dürfte der Grund dafür sein, daß Benjamin neben Riegl
in einem der von ihm verfaßten Lebensläufe auch Carl Schmitt nennt, »der in seiner
Analyse der politischen Gebilde einen anlogen Versuch der Integration von Erschei-
nungen vornimmt, die nur scheinbar gebietsmäßig zu isolieren sind.« (VI /219).
242 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
Versäumte Wahlverwandtschaft –
Benjamin und die Warburg-Schule
Benjamins Bezeichnung des »neuen Forschergeistes«, der sich in
Grenzgebieten daheim fühle, als Bewegung, signalisiert, daß er in
seinen Schriften nicht zuletzt auch eine intellektuelle Topographie
entwarf, in der er selbst sich »daheim« fühlen konnte, um so mehr,
als er über keinen konkreten Wohnort mehr verfügte. Desto bitte-
rer muß die Enttäuschung über die vergeblichen Versuche gewesen
246 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
sein, diese Topographie auch personell durch ein Netz von brief-
lichen Korrespondenzen und Kontakten zu knüpfen. Dabei war
die Wahlverwandtschaft, die er zur Kulturwissenschaftlichen Bibliothek
Warburg empfand, besonders innig, weil sich Benjamins Betrach-
tungsweise mit der von Aby Warburg in nicht wenigen Punkten
eng berührte. Im größeren Kontext der Generierung kulturwis-
senschaftlicher Perspektiven aus der Überschreitung fachwissen-
schaftlicher Methoden, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ver-
dichtete, ist die Nähe zwischen Warburg und Benjamin besonders
auffällig. So teilen sie vor allem die Hervorhebung bedeutsamer
Details im Blick auf die Bedeutung des ›Unscheinbaren‹, das Inter-
esse an den Erregungsspuren und den Gebärden als Ausdruck von
Affekten, an der Schrift der Bilder und am Bildgedächtnis, an den
kultischen und religionsgeschichtlichen Ursprüngen der Künste
und an der Entwicklung von Technik und neuen Medien. Sie teilen
einen Begriff der Geschichte, der – indem er die kulturgeschicht
liche Entwicklung eidetisch, nämlich am Faden des Bildgedächtnisses
betrachtet – insbesondere Phänomene des Nachlebens von künstle-
rischen, kulturellen Ausdrucksformen vorausgegangener Epochen
in den Blick nimmt, um auf diese Weise vielfältige historische Kor-
respondenzen zu konfigurieren: zwischen Antike und Renaissance,
Antike und Moderne oder Renaissance und Moderne.
So läßt sich beispielsweise Benjamins Formulierung über den
Grund des geschichtlichen Gewesenseins, aus dem dem Unbedeu-
tenden und Unscheinbaren Bedeutung zuwächst, nicht nur auf sein
eigenes allegorisches Verfahren beziehen, sondern auch unter die
durch Aby Warburg prominent gewordene Formel »der liebe Gott
steckt im Detail«10 stellen. Die Ähnlichkeiten könnten kaum deutli-
cher und dichter sein. Im Kontext der Schriften Warburgs sind die
Begriffe vom »bewegten Beiwerk« und den »erregten Gebärden«,
die sich in der Wirkungsgeschichte der Warburg-Schule untrenn-
bar mit seinem Namen verbinden sollten, einem bereits in seiner
Botticelli-Dissertation (1893) entwickelten Detailsinn entsprungen.
11 Weigel 2000c, 77. – Der Brief von Jolles und eines der abgebrochenen Ant-
wortschreiben von Warburg sind jetzt vollständig abgedruckt in Thys 2000.
Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie 249
»Zu gescheit« –
das Scheitern des Trauerspielbuchs in der K BW
Im einzelnen stellt sich der Umgang mit dem Buch wie folgt dar:
Der K BW war vom Rowohlt Verlag ein Rezensionsexemplar von
Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels zugeschickt
worden. Darauf hin hatte eine Mitarbeiterin Warburgs, Clara
Hertz, am 28. 1. 1928 einen Postscheck über zwölf Mark an den
Verlag geschickt, da der »Herr Professor grundsätzlich nicht Exem-
plare annimmt, auf denen die Verpflichtung der Rezension liegt,
das Buch ihn aber interessiert und in den Rahmen der Bibliothek
passt«. Danach muß sie das Exemplar an Aby Warburg übergeben
haben, denn er selbst hat Benjamins Buch am 4. 6. 1928 mit einer
Widmung versehen13 und es an Fritz Saxl geschickt, der sich ge-
rade zu Archivstudien in London auf hielt. Diesem war das Buch
bereits in einem Brief Scholems vom 24. 5. 1928, in dem dieser sich
nach dem Erscheinen der zweiten Auflage von Saxl und Panofskys
Melancholie-Buch erkundigte, empfohlen worden:
13 Das Titelblatt mit der Widmung von Warburgs Hand ist abgebildet bei Bro-
dersen 1991, 90.
Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie 251
14 Der Brief befindet sich im Scholem-Nachlaß in Jerusalem; er ist jetzt auch
abgedruckt in Panofsky 2001, 275 f.
Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie 253
des Abû Ma’sar belegt und dieses nach Panofskys und Saxls Dürer-
Studie von 1923 zitiert hatte (I .1/334), macht den phantasmatischen
Status dieser Bewegung noch deutlicher. Denn die Nichtbeachtung
seiner Melancholie-Deutung wird vermutlich sehr banale Motive
haben, die in der Verteidigung eines Gebiets zu suchen sind. Doch
solche Motive verweisen auf den Abstand, der zwischen dem er-
kenntnistheoretischen Bedeutungsgehalt des Wortes »Gebietscha-
rakter« und seinem wissenschaftspolitischen Sachgehalt liegt. Und
daß das Schreiben an Wahlverwandtschaften sich aus einer Erfahrung
des Versäumten speist, hatte Benjamin – mit Bezug auf Goethe –
schon in seinem Essay über dessen Wahlverwandtschaften reflektiert.
Anhang
Dokumentation der Korrespondenz
zur Odyssee von Benjamins Trauerspielbuch
in der K BW
Ausschnitte aus Briefwechseln
denn ich glaube, daß Sie kaum viele Leute finden werden, die ein
so außerordentliches Verständnis für die Probleme der Geschichte, die
den Warburg-Kreis beschäftigen, mitbringen wie dieser Mann, der
von ganz andren Ausgangspunkten aus auf Sie gestoßen ist.
1 Eine erste kurze Fassung dieser Überlegungen erschien in Trajekte. Zeitschrift des
Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Nr. 13, September 2006.
266 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
2 Das betrifft selbst noch Studien wie die von Howard Caygill zur Bedeutung der
Farbe in Benjamins Schriften (Caygill 1998). Auch der von Andrew Benjamin
herausgegebene Band Walter Benjamin and Art (2005) kommt praktisch ohne Berück-
sichtigung von Benjamins Kunstbetrachtung aus.
Die unbekannten Meisterwerke 269
Faszinationsgeschichte3 gesehener
Bilder als Latenz von Denkbildern
Beides sind Bilder, die Benjamin über einen langen Zeitraum
begleitet haben, ehe sie in seine Texte Eingang gefunden haben.
Dürers Melencolia zählte schon der 20jährige Benjamin bei einem
Museumsbesuch in Basel im Juli 1913 zu seinen »größten oder voll-
kommensten Eindrücke[n]«: »Erst jetzt habe ich eine Vorstellung
von Dürers Gewalt und vor allem die Melancholie ist ein unsagbar
tiefes, ausdrucksvolles Blatt«, schrieb er in einem Brief an Franz
Sachs (1/143). Doch seinen Auftritt erhielt der Kupferstich erst
mehr als ein Jahrzehnt später, in der 1925 verfaßten Habilitations-
schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels, die allerdings schon 1916
entworfen wurde. Hier erhält das Bild eine Hauptrolle auf jenem
Schauplatz, auf dem sich allegorische Anschauung und melancho-
lisches Wissen begegnen. In Dürers Stich sieht Benjamin (ähnlich
wie die von ihm zitierten Gewährsmänner Karl Giehlow, Aby
Warburg und Fritz Saxl/Erwin Panofsky) eine Zuspitzung der satur-
nischen Dialektik – in der Spannung von Erdenschwere und Spiri-
tualität –, die in der Renaissance zu einer Umdeutung der saturni-
schen Melancholie führte. Im Zuge dieser Umdeutung gerieten die
tradierten Sinnbilder antiken und mittelalterlichen astrologischen
Wissens in Bewegung, um – und dafür steht Dürers Stich – »in den
saturnischen Gesichtszügen auch die divinatorische Geisteskon-
zentration auszudrücken«, wie Benjamin mit Karl Giehlow for-
muliert (I .1/329). Insofern verdichtet sich in dem Stich nicht nur
eine spezifische kulturgeschichtliche Konstellation, sondern auch
jener »allegorische Tiefblick«, dem Benjamins ganze analytische
Aufmerksamkeit gilt, weil sich durch ihn »mit einem Schlage« Din-
ge und Werk in eine »erregende Schrift« verwandeln (352). Dürers
Melencolia ist in seinem Buch also ein Denkbild im buchstäblichsten
Sinne: Schauplatz einer Betrachtungsweise, die die konventionelle
Ikonographie in Schrift verwandelt, um deren »Bedeutungsgehalt«
zu erhellen. »Giehlows Deutung der ›Melencolia‹ Dürers« (III /372)
nennt Benjamin später, in der Rezension der Kunstwissenschaftlichen
Forschung, als Beispiel für die neue Kunstwissenschaft.
Die unbekannten Meisterwerke 271
als oft unterstellt wird, ist Klees Bild keineswegs als Darstellung
oder gar Verkörperung des Geschichtsengels zu verstehen. Vielmehr
steht dessen Ausdrucksgebärde – mit starrenden, aufgerissenen Au-
gen und offenem Mund – in Benjamins Text als Gegenbild zu je-
nem Wunsch nach Rückkehr zum Ursprung, wie er im zitierten
Motto aus dem Scholem-Gedicht formuliert wird: »Ich kehrte gern
zurück.« Erst aus dieser Spannung zwischen dem lyrischen Wunsch
nach Rückkehr und dem Bild der Starre entsteht die Konstellation
einer gegenstrebigen Fügung im Sturm des Fortschritts: zwischen
dem ›Engel der Geschichte‹ und ›uns‹, zwischen seinem Blick auf die
Trümmer der Katastrophe und der Kette von Begebenheiten, die
»uns erscheint« (I .2/697).4 Der Angelus Novus ist hier also Medium
und Reflexionsbild für Benjamins geschriebenes Bild, für die Her-
stellung eines Denkbildes zum Begriff der Geschichte.
Auch diesem Einsatz eines Bildes im Text von Benjamin war eine
lange Latenz vorausgegangen, in diesem Falle sogar von mehr als
zwei Jahrzehnten. Denn bereits im Oktober 1917, als er einen Brief
aus Bern an den in Jena weilenden Gershom Scholem adressierte,
um darin seine Aufzeichnungen Über die Malerei mit Überlegungen
zum Kubismus zu kommentieren, war Paul Klee derjenige Maler,
an dessen Beispiel er die Unvereinbarkeit großer Kunst mit derar-
tigen »Schulbegriffe[n]« (wie Kubismus) erörtert (1/394). Fortan
bildete Klees Name und an erster Stelle der Angelus Novus in den
hin und her geschickten Briefen und Gedichten der Freunde eine
Art Dauerspur – bis Benjamin schließlich 1940 den Angelus Novus
in ein Denkbild übersetzt, an dem er den zentralen Schulbegriff
nicht der Kunstgeschichte, sondern der Geschichtsphilosophie, den
Begriff der Geschichte, diskutiert. Und obwohl Benjamin das Aquarell
von Klee besessen hat, war doch auch dieses Bild über den längsten
Zeitraum Teil seiner imaginären Bildergalerie, da seine Lebensver-
hältnisse es ihm nur zeitweilig erlaubten, es bei sich aufzuhängen
und in Echtzeit anzuschauen. Weitaus länger war das Bild in der
4 Zur Lektüre dieses Bildes nicht als allegorisches, sondern dialektisches Bild, in
dem Klees Angelus weder mit dem Motto, den Versen Scholems, noch dem »Engel
der Geschichte« identifiziert werden kann, vgl. Weigel 1997, 62 ff.
274 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
5 Vgl. den Artikel Literaturkritik, Avantgarde, Medien, Publizistik von Uwe Steiner
in BH 301–310.
Die unbekannten Meisterwerke 275
(363). Vor diesen Überlegungen zum Zitat wird deutlich, daß Ben-
jamin, wie noch zu zeigen sein wird, mit Kunst-Zitaten in anderer
Weise umgeht als mit Literatur- oder Text-Zitaten.
Für den Dürer-Stich und das Klee-Blatt gilt aber, daß deren Stel-
lung in Benjamins Schriften über ein Kunst-Zitat nicht nur quanti-
tativ weit hinausgeht. Aufgrund der ganz anderen Sprache der Bil-
der werden diese für ihn zu Reflexionsmedien, zu Verkörperungen
von Bedeutungen, mit denen er sich in Gedanken auseinandersetzt:
das Bild als Vis-à-vis in jenem inneren Zwiegespräch, das Hannah
Arendt in ihrem Denktagebuch einmal als »tonlosen Dialog des Den-
kens«, als »Zwei-in-Einem« beschrieben hat (Arendt 2002, 721).
Die Kunstwerke sind für Benjamin Erinnerungsbilder, die im Er-
kenntnisvorgang an etwas gemahnen, das – noch – nicht sprachliche
Gestalt gewinnen kann. Das gesehene und erinnerte Bild geht dem
Denkbild nicht nur voraus, es wirkt auch als wesentlicher Antrieb
zur Differenzierung und Vergenauerung der Erkenntnis. Damit
nutzt Benjamin den genuinen Wahrnehmungs- und Erkenntnis-
modus von Bildern der Kunst für die Ausarbeitung seiner theore-
tischen Vorstellungen.
Erst 23 Jahre nachdem Benjamin seinem Freund Gershom Scho-
lem im Brief mitgeteilt hat, auf welche Weise ihn Klee unter den
neuen Malern »berührt« habe (22. 10. 1917, 1/394), und erst zwei
Jahrzehnte nach dem Erwerb des Angelus Novus, nach einer langen
Faszinationsgeschichte also, erhielt das Bild seinen Auftritt im Kon-
text der theoretischen Arbeit am Geschichtsbegriff: als Bild eines
Künstlers, in dessen Betrachtung ein Vorstellungsbild – die Figur
vom ›Engel der Geschichte‹ – schärfere Konturen gewinnt: das Bild
als eine Art imaginäres Gegenüber für die Generierung des Denk-
bildes. Der Berührung beim ersten Blick und einer lang andauernden
Verborgenheit und Abwesenheit – im doppelten Sinne: Abwesen-
heit des Bildes vom Besitzer Benjamin7 und Unsichtbarkeit in den
publizierten Schriften – folgt seine Zentralstellung für Benjamins
Begriff der Geschichte. Nachdem er sich nach einem Jahrzehnt vom
7 Nur vorübergehend und kurz hat er das Bild bei sich hängen, so z. B. 1931 in
Berlin, wo der Angelus Novus »zum ersten Mal richtig hängt« (4/64).
Die unbekannten Meisterwerke 277
8 »Der alte Dreiköpfige Christus, den Du kennen mußt, eine Nachbildung eines
byzantinischen Elfenbeinreliefs, ein Trickbild – drei verschiedene Heiligendarstel-
lungen, je nachdem wie man draufblickt – aus dem bayrischen Wald, ein Sebastian
und als einziger Botschafter der Kabbala der Angelus Novus, zu schweigen von der
›Vorführung des Wunders‹, die auch von Klee ist.« So schreibt er aus derselben Situa-
tion im Brief an Scholem (4/62). Die Vorführung des Wunders hatte Benjamin 1920,
noch vor dem Angelus Novus, von seiner Frau Dora geschenkt bekommen.
278 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
9 Grünewald taucht noch ein weiteres Mal auf, wenn er ihn, zusammen mit Gre-
co, im Essay über Bachofen als künstlerischen Zeugen für den Expressionismus
nennt (II /220).
Die unbekannten Meisterwerke 281
nen Studium führt. – Die Bedeutung der Bilder für die Initialsze-
ne ist bei Grünewald ähnlich wie im Falle von Dürer und Klee.
Während dort die Bilder selbst aber nach einer langen Latenz in
Benjamins Text wiederauftauchen, sind es hier die aus der blitzarti-
gen Erkenntnis aufgetauchten Phänomene und Konzepte, an denen
eine langjährige Arbeit beginnt.
Moderne), sondern Bilder der Natur, in deren Sog auch die ande-
ren dargestellten Dinge mit hineingeraten. Diese erscheinen dann,
auch wenn es Artefakte und Kulturprodukte sind, als Teil eines
Naturzusammenhangs.
Ein weiterer Eintrag stellt fest, Meryon habe »aus den Mietska-
sernen von Paris Denkmäler der Moderne« gemacht (487), wobei
Benjamin voraussetzt, daß ein Kriterium der modernen Stadt ge-
rade die Abwesenheit von Denkmälern sei. Damit stehen Meryons
Ansichten der Stadt buchstäblich für eine Ansicht der Moderne, in
der diese mythisiert bzw. antikisiert wird. An seinen Radierun-
gen sieht Benjamin also jene »pariser Antike« (I .2/592) bzw. das
»antike Antlitz der Stadt«, das im Zentrum des Passagen-Projekts
steht: Paris, die Hauptstadt der Moderne, als Schauplatz einer Ur-
geschichte der Moderne, in der Industrieepoche und Antike über-
blendet werden. Der Gewährsmann dieser Ansicht ist Baudelaire,
der von Benjamin im dritten Kapitel über Die Moderne der ersten
Fassung des Baudelaire-Buchs Das Paris des Second Empire bei Bau-
delaire (1937/38) nicht nur zitiert, sondern auch als Wahlverwandter
Meryons beschrieben wird:
Weniges in seinen Prosastücken läßt sich mit dem kurzen Text
über Meryon messen. Von Meryon handelnd, huldigt er der
Moderne; er huldigt aber dem antiken Gesicht in ihr. Denn
auch bei Meryon durchdringen einander die Antike und die
Moderne; auch bei Meryon tritt die Form dieser Überblen-
dung, die Allegorie, unverkennbar auf. (591)
Das Prosastück, auf das Benjamin sich bezieht, ist der Abschnitt über
Meryon im Kapitel über Landschaftsmalerei von Baudelaires Salon
1859. Er mündet in dem poetischen Bild, Meryon habe die »schwar-
ze Majestät der unheimlichsten aller Hauptstädte« gemalt (Bau-
delaire 1989, 195). Im Anschluß daran spricht Benjamin – mit
Baudelaire – von der »dichterischen Kraft« von Meryons Darstel-
lungen. In seinen Kommentaren wird deutlich, daß sich nicht nur
Baudelaire und Meryon nahe sind, sondern daß im allegorischen
Verfahren auch Dichtung und Kunst zu Wahlverwandten werden.
In diesem Falle geben die Bilder demnach weniger den Einsatz für
Die unbekannten Meisterwerke 287
Gegenpart dazu spielt bei ihm Man Ray. Mit ihm »gelingt es der
Photographie, die Malweise der modernsten Maler zu reproduzie-
ren« (504 f.). Doch das gehört ins folgende Kapitel.
10 Fresken von Giotto hat Benjamin sich auch in Assisi angesehen, wie er im No-
vember 1924 in einem Brief an Scholem berichtet. Statt der wegen der Dunkelheit
kaum sichtbaren Fresken von Piero della Francesca konnte er »desto besser« die »der
Oberkirche von Giotto studieren«. Bemerkenswert ist der Nachsatz, der etwas dar-
über verrät, was geschieht, wenn ein Zuviel des Studiums eintritt: »Zuletzt habe ich,
in Ansehung der Einsamkeit meiner Streifereien, zuviel Bilder zu sehen bekommen
und doch soviel Zeit nicht gehabt, mich auf Architektur zu konzentrieren.«(2/502)
292 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
11 Man geht davon aus, »daß die Illustrationen nicht dem Bibeltext selbst fol-
gend entworfen wurden, sondern anhand jüdisch-aramäischer ›Bibel-Romane‹, die
nicht so rigoros wie die Heilige Schrift dem hebräischen Bilderverbot unterlagen«.
(Clausberg 1984, 2).
294 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
12 Das wird schon darin deutlich, daß Benjamin durchweg von frühmittelalter
lichen Handschriften oder Miniaturen redet, während es Wickhoff doch gerade um
eine Aufwertung spätantiker Kunst ging.
Die unbekannten Meisterwerke 295
Der Name »jener namenlosen Macht, der sich die Rücken der
Menschen entgegenkrümmten«, wird von ihm umgehend genannt;
es ist Schuld. Die Illustration wird in Benjamins Beschreibung zu
einem Bild der Geschichte, Dialektik im Stillstand. Wenn Benja-
min als historischen Index seiner Betrachtung die Schuldgefühle
nach dem Ersten Weltkrieg nennt, die im Expressionismus zum
Ausdruck kommen, dann verdichtet sich die Konstellation, in der
Gewesenes und Jetzt hier zusammentreten, im Bild der gekrümm-
ten Rücken. Die Gebärde des gebeugten Rückens wird von ihm
als Ausdruck einer Schuld gedeutet, für die die Zeitgenossen keine
andere Sprache haben.
Wenig später nimmt er diese Spur in seiner Arbeit am Kafka-Es-
say wieder auf: »Es ist also der Rücken, dem es aufliegt.« (II .2/432)
Sei es der des Buckligen, des »Urbilde[s] der Entstellung« (431), sei
es der Rücken der Schuldigen in der Strafkolonie. Von der Bildbe-
trachtung der Illuminationen aus der spätantiken Handschrift führt
das Motiv vom »Rücken der Schuldigen« über den Expressionis-
mus und Kraus bis zu der Welt von Kafka, die Benjamin als Schau-
platz einer entstellten, unerlösten Welt diskutiert. Wenn die Erlö-
sung dort im Bild des Messias erscheint, der die Welt nur um ein
geringes zurückstellen wird, dann wird diese Form der Erlösung
im Schlußsatz des Kafka-Essays buchstäblich als Zurecht-Rücken
entworfen, als Entlastung des Rückens von der Entstellung: »wenn
nur die Last vom Rücken genommen ist« (438). Die Ausdrucksge-
bärden der Figuren auf den Bildern, die den Warburgschen Pathos-
formeln ähnlich sind, gehören bei Benjamin einer Praxis sprach
licher und visueller Bilder an, in der die Buchstäblichkeit, die den
Grund seines Bilddenkens bildet, gleichermaßen in Bild und Text,
entweder als Wörtlichkeit oder als Leibhaftigkeit, erscheinen kann.
Der physiognomische Blick verbindet Kunst und Literatur, Poli-
tik und Religion, Gewesenes und Jetztzeit in der Gebärde, die als
Symptom der Entstellung verstanden wird – bzw. der Entfernung
von Schöpfung und Erlösung.
In den erkenntnistheoretischen Reflexionen und Thesen des
Passagen-Projekts spielt der Begriff des Bildes eine zentrale Rolle.
Wenn Benjamin dort das Bild als »Dialektik im Stillstand« definiert
296 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
oder als dasjenige, worin das »Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu
einer Konstellation zusammentritt« (V.1/578), dann schließt dieser
Bildbegriff auch die Bilder der Kunstgeschichte ein – sofern sie
betrachtet oder gelesen werden. Doch hat die Untersuchung der
Kunst-Zitate, Bildkommentare und -betrachtungen gezeigt, daß
den Kunstwerken dabei eine ganz besondere Bedeutung zukommt,
die sich der spezifischen Erkenntnisweise der Kunst verdankt, ohne
die Benjamin seinen Bildbegriff nicht hätte ausbilden können. Es ist
also nicht so, daß er mit einem erweiterten, umfassenden Bildbe-
griff unterschiedliche Modi von sprachlichen, gemalten, imaginä-
ren u. a. Bildern einschließt; sondern sein epistemischer Bildbegriff
ist bei den Kunstwerken in die Schule gegangen.
10. Detail, photogr aphische
und kinematogr aphische Bilder
Zur Bedeutung der Mediengeschichte für Benjamins Kulturtheorie1
Lange Zeit war die Rezeption von Benjamins Schriften zu Film und
Photographie durch den Topos der Reproduzierbarkeit geprägt.
Auf eine allzu schlichte Formel gebracht, wurde seine Medientheo-
rie in die These übersetzt, daß mit den technischen Möglichkeiten
zur Reproduktion der Künste deren Aura verschwinde. Tatsächlich
stellt sich das Verhältnis von Aura und Technik in Benjamins me-
diengeschichtlichen Studien aber sehr viel komplexer und diffe-
renzierter dar. Doch wichtiger ist, daß nicht die Reproduktion der
Künste im Mittelpunkt dieser Studien steht, sondern jene Verän-
derungen von Bild- und Zeitstruktur, die durch den Einsatz von
Apparaten zustande kommen und radikal veränderte Konfiguratio-
nen zwischen den technischen Bildern und den physiologisch-psy-
chischen Aktivitäten der visuellen Wahrnehmung hervorbringen.
Diejenigen Schriften Benjamins, die sich den optischen Medien
widmen, vor allem der 1931 in drei Folgen in der Literarischen
Welt publizierte Artikel Kleine Geschichte der Photographie und der
in zweifacher Version vorliegende, in dieser Form zu Lebzeiten
unpubliziert gebliebene Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit (1935), sind dadurch geprägt, daß Ben-
Erkenntnistheoretische Vorrede
zu Benjamins Medientheorie
Der unveröffentlicht gebliebene Pariser Brief über Malerei und
Photographie, den Benjamin 1936 für die in Moskau erscheinende
Zeitschrift Das Wort geschrieben hatte, enthält eine kritische Be-
sprechung der Debatten zweier zeitgenössischer Künstlerkongresse,
eines Venezianer und eines Pariser Kongresses, in denen die Lage
der Malerei vor allem im Topos von Krise und Nutzen verhandelt
wurde. Benjamin wiederum nutzt seine Besprechung dieser Debat-
ten, um einen unterbelichteten Aspekt der zeitgenössischen Kunst-
kritik und -theorie zur Sprache zu bringen und daraus eine eigene
Erörterung der sogenannten Krise abzuleiten. Diese konzentriert
sich auf das Verhältnis der Malerei zur Photographie:
Die gegenwärtige Debatte hat ihren Höhepunkt an den Stel-
len, an denen sie, die Photographie in die Analyse einbezie-
Detail, photographische und kinematographische Bilder 299
2 Wiertz’ Text ist aufgenommen in die von Wolfgang Kemp edierte Anthologie
zur Theorie der Fotografie. Dort wird statt »die Daguerreotypie« übersetzt »der
Daguerreotyp« (Kemp 1999–2000, 1/96 f.).
302 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
3 So etwa, wenn Rolf H. Krauss, der in seinem Buch Walter Benjamin und der neue
Blick auf die Photographie den Einfluß Benjamins auf die Photographiediskussion der
60er Jahre untersucht und dabei moniert, daß Benjamin sich um die Diskussion, ob
Detail, photographische und kinematographische Bilder 303
der Frage, ob »Photographie Kunst sei«, kritisiert und als Falle be-
wertet, um sie in die weit produktivere Frage zu verschieben, wie
sich der Begriff von Kunst angesichts der Photographie verändert
habe und verändern müsse.
Es lassen sich mindestens drei methodische Grundsätze in Ben-
jamins Analyse der Medien ausmachen, deren Mißachtung nahezu
zwangsläufig dazu führt, daß die Lektüre an seinen genuinen Ar-
gumenten und spezifischen Betrachtungsweisen vorbeiführt, seine
Medientheorie also verfehlt. Zu diesen Grundsätzen gehören:
(1) die Notwendigkeit, den Diskurs über den Kunststatus der Pho-
tographie ebenso hinter sich zu lassen wie die daran anschlie-
ßende Debatte über den Charakter der Malerei, die mit dem
Auftreten der Photographie einerseits in ihrer Darstellungs-
funktion eingeschränkt, in ihrem künstlerischen Charakter
(jenseits von Abbildung, Zeugnis, Realismus u. ä.) andererseits
aber gestärkt wird;
(2) die notwendige Überschreitung der Begriffe von Form und
Inhalt mit Hilfe der technischen Frage: »Die technische Frage-
stellung liquidiert die unfruchtbare Alternative von Form und
Inhalt.« (Fragment, 1934, VI /183);
(3) das Niederlegen »der Schranke zwischen Schrift und Bild«, wie
Benjamin im Hinblick auf die Photographie in der Rede Der
Autor als Produzent 1934 postuliert (II .2/693).
Erst jenseits eines Diskurses über den Kunstcharakter, über Form/
Inhalt und jenseits des Bild-Schrift-Gegensatzes öffnet sich das Feld
von Benjamins Medientheorie.
Photographie auch Kunst sein könne, »gedrückt habe« (Krauss 1998, 34), während
Benjamin genau diese Frage als Sackgasse hinter sich gelassen hatte.
304 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
der Idee als Monade, die dort vorgenommen wird: »Die Idee ist
Monade – das heißt in Kürze: jede Idee enthält das Bild der Welt.
Ihrer Darstellung ist zur Aufgabe nichts Geringeres gesetzt, als die-
ses Bild der Welt in seiner Verkürzung zu zeichnen.« (228) Indem
die Idee hier nicht mehr im platonischen Sinne als Vorstellungsbild
begriffen wird, sondern als gleichsam komprimierte Darstellung
des Ganzen, und zwar im Sinne aller virtuell möglichen Extreme
(227), nähert sich die Bedeutung von Idee dem Begriff der Struktur.
Und die Struktur wiederum, verstanden als Medium der wissen-
schaftlichen Erkenntnis, korrespondiert mit dem Detail, verstanden
als Medium der künstlerischen Erkenntnis. Für die Zielsetzung,
Wissen und Schönheit zu vereinigen – oder einer »gegenseitige[n]
Durchdringung von Kunst und Wissenschaft« (I .2/499), wie Ben-
jamin im Kunstwerkaufsatz formulieren wird –, müssen Struktur
und Detail denselben Gesetzen unterstellt werden. Gegen die Vor-
stellung einer Opposition von Kunst und Wissenschaft – diskutiert
anhand der Auffassung, daß die Landschaft des Künstlers und die
von Geologen und Botanikern nichts miteinander zu tun hätten –
führt Benjamin das Zusammenspiel von Struktur und Detail ins
Feld, das ihn im folgenden Schritt zum Topos der allegorischen
Zerstückelung führt: »Struktur und Detail sind letzten Endes stets
historisch geladen.« (I .1/358)
Aufgabe der philosophischen Kritik sei die Umbildung der hi-
storischen Sachgehalte, die jedem bedeutenden Werk zugrunde
liegen, zu Wahrheitsgehalten – eine Arbeit, in der der Verfall je-
ner Wirkung, die in zeitbedingten Reizen gründet, mit der Entste-
hung eines anderen einhergeht, einer Neugeburt, »in welcher alle
ephemere Schönheit vollends dahinfällt und das Werk als Ruine
sich behauptet. Im allegorischen Aufbau des barocken Trauerspiels
zeichnen solch trümmerhafte Formen des geretteten Kunstwerks
von jeher deutlich sich ab.« (358) In dieser Passage, die einen be-
grifflichen Austausch zwischen Struktur, Detail, Ruine und Alle-
gorie organisiert, wird Benjamins Lektüreverfahren einer rettenden
Kritik in nuce entwickelt: als Blick einer philosophischen Kritik, die
am Detail die historische Ladung wahrnimmt und in den Überre-
sten oder Bruchstücken die Spuren der Geschichte zu entziffern
Detail, photographische und kinematographische Bilder 307
versteht. Auch dieser Blick stellt sich dar als eine wissenschaftliche
Erkenntnisweise, die durch die Kunst bzw. die Schönheit hindurch-
gegangen ist. Als Vorlage dient ihr die allegorische Zerstückelung.
Insofern wird der Allegoriker mit seiner detailversessenen Lektüre
hier zum historischen Vorbild für Benjamins Theorie des Details.
Nicht das allegorische Schema der translatio ist es, durch das die
Dinge in Schrift verwandelt werden, sondern der Blick des Allego-
rikers aufs Bruchstück.
Von dieser gleichsam melancholischen Variante allegorischer
Zerstückelung, die Benjamin am Beispiel des barocken Trauerspiels
erörtert, müssen aber jene allegorischen Verfahren unterschieden
werden, die er auf den verschiedenen Schauplätzen der Moderne
ansiedelt. Während das allegorische Verfahren des Barock sich am
bildlichen Bruchstück vollzieht, liegt dem allegorischen Verfahren
in der »Urgeschichte der Moderne«, das auf das Herausbrechen
von Bildern aus dem Kontinuum der Geschichte hinausläuft, eine
Zeitstruktur zugrunde, die beim Film in die Schule gegangen ist:
Zerstückelung und Zerstreuung im Fortgang der Bilder. Dieser
Topos bildet das theoretische Scharnier zu den geschichtstheore-
tischen Thesen, die eine radikale Kritik an der Vorstellung vom
Fortgang als einem basalen Begriff der Geschichtstheorie formulie-
ren, die herausgebrochene Geschichtsbilder, die Details der Histo-
rie, mit dem Zitieren, dem Herausbrechen von Texten und Bildern
zusammenführen. Im Abstand zwischen den beiden Allegoriemo-
dellen, zwischen Barock und Moderne, hat sich auch der göttlich-
dämonische Charakter der Bruchstücke verändert. Wenn Benjamin
nämlich die allegorische Detailoptik in seiner »Urgeschichte der
Moderne« auf die moderne Ding- und Phänomenwelt überträgt,
dann kann dieses nicht mehr unter den Vorzeichen einer Dialektik
von Immanenz und Transzendenz stattfinden, dann ist der allegori-
sche Blick aufs Detail auf eine radikale Immanenz in der Ordnung
der Dinge verwiesen. Entsprechend wird die Moderne von Ben-
jamin im Passagen-Projekt auch als »Zeit der Hölle« beschrieben
(V.2/676). Die sprachtheoretische Erscheinung dieser Herrschaft
des Dämonischen in der Moderne hat Benjamin im zweiten Teil
des Karl Kraus unter dem Titel des Dämons porträtiert. Vollständig
308 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
6 Vgl. neben der Edition von Kemp auch die von Wilfried Wiegand zusammen-
gestellte Textsammlung, die außer theoretischen Beiträgen auch zahlreiche kultur-
geschichtliche Zeugnisse wie z. B. Briefe enthält, die über die Reaktionen auf das
neue Medium Auskunft geben (Wiegand 1981).
Detail, photographische und kinematographische Bilder 311
Auffällig ist zunächst die Erwähnung der Zeitlupe, die nicht un-
bedingt zu den Mitteln der Photographie gehört. Sie zeigt jedoch
den historischen Index der Betrachtung an: im Rückblick, d. h. im
Lichte einer mediengeschichtlichen Position, die um die Weiter-
entwicklung der photographischen zu den laufenden Bildern weiß.
Der Film als Inkognito von Benjamins Photographietheorie lei-
stet hier also Hilfestellung für die Gewinnung der Kategorie des
Optisch-Unbewußten. In theoretischer Hinsicht bedeutsamer ist
aber die Tatsache, daß der Vergleich zwischen dem Unbewußten der
Psychoanalyse und dem der Kamera hier nicht auf eine schlichte
Analogiebildung zwischen technischem und psychischem Apparat
hinausläuft, wie sie aus zahlreichen Konzepten der Psychophysio-
logie aus dem sogenannten nervösen Zeitalter und auch aus der
Kybernetik bekannt ist. Vielmehr argumentiert Benjamin hier jen-
seits von Freuds bekanntem Bonmot, der Mensch sei ein »Pro-
thesengott«, das in der Vorstellung gründet, die Werkzeuge seien
Organprojektionen, mit denen der Mensch seine Organe vervoll-
kommnet. Die Kamera tritt in Benjamins Photographietheorie an
die Stelle des Auges nämlich gerade nicht, um dessen Funktion
zu verstärken. Vielmehr kommt durch die Kamera eine Ersetzung
dessen zustande, was hervorgebracht wird. Erst mit Hilfe der Tech-
nik wird dem Wissen etwas zugänglich, das zuvor buchstäblich un-
durchschaut – weil unsichtbar – war.7 Der Vergleich operiert bei
Benjamin dagegen allein auf der epistemologischen und begriff
wenn ich erkläre, […] daß ich von einem Menschen, für den
ich tiefe Liebe empfand, lieber ein derartiges Andenken besä-
ße als das größte Kunstwerk aller Zeiten.
(Barrett in Wiegand 1981, 43)
Diese materielle Spur der Photographie stellt nach Benjamin einen
Rest dar, der nicht in die Kunst eingehen kann. Insofern ist es ein
a-semiotisches Mehr als Kunst, das die Differenz der Photographie
zur Malerei ausmacht, nicht aber die technische Reproduzierbar-
keit der Bilder, die die Photographie von der Kunst ausschließt
– wie eine Legende der Benjamin-Rezeption wissen will. Auch
die Zerstörung der Aura geht nicht automatisch mit den reprodu-
zierbaren Bildern einher; sie wird vielmehr als Effekt spezifischer
ästhetischer Verfahren beschrieben. Denn die photographischen
Bilder machen ja erst »die Differenz von Technik und Magie als
durch und durch historische Variable ersichtlich« (371 f.). Und so
gilt für einige frühe Photographien, daß die Technik in ihnen eine
Art Überschuß produziert, denn »die exakteste Technik kann ihren
Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn
ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann«. Im Hinblick auf die
Aura umspannen Benjamins Beispiele denn auch einen Bogen, der
vom »technischen Bedingtsein der auratischen Erscheinung« in den
»Inkunabeln der Photographie« (376) bis zur Zerstörung der Aura
auf den Parisphotos von Atget reicht.
10 Zur Bedeutung dieser einzelnen technischen Elemente für die Genese von
Photographie und Film vgl. Kittler 2002, 155 ff.
11 1934 wurde das Buch von den Nazis zensiert, weil Sanders »deutsche Men-
schen« nicht mit den Vorstellungen der Nazis über diese ›Rasse‹ übereinstimmten,
vgl. Barthes 1985, 44 f.
318 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
Abb. 2: Orte des Abjekts als ideale Schauplätze der frühen Photographie:
Félix Nadar, Die Pariser Kanalisation, um 1860.
Detail, photographische und kinematographische Bilder 323
13 Siehe dazu den Beitrag von Peter Geimer zu Blow Up in Schäffner, Weigel,
Macho 2003.
Detail, photographische und kinematographische Bilder 327
griff der Chocks markiert also exakt die Schwelle von der Kleinen
Geschichte der Photographie zum Film bzw. zum Kunstwerkaufsatz
(1935), der sich in seinen größeren Teilen der Wahrnehmungsöko-
nomie des Films widmet. Mit dem Übergang von der Photogra-
phie zum Film führt Benjamin hier nun, zusätzlich zur »Betonung
versteckter Details« (I .2/499) durch Großaufnahmen, das »Dynamit
der Zehntelsekunde« ein: »Unter der Großaufnahme dehnt sich der
Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung« (500). Während die Ver-
größerung dort »neue Strukturbildungen« sichtbar machte, werden
hier nun durch die Zeitlupe, eine Art temporaler Vergrößerung,
ganz unbekannte Bewegungsmotive erkennbar.
Der Chock aber wird nicht allein an die Technik der Zeitlupe,
sondern an das Phänomen der beweglichen Bilder überhaupt ge-
bunden, d. h. an das durch die Kamera vielfältig zerstückelte kine-
matographische Bild, »dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze
zusammen finden« (496). Stellen die Filmbilder auf diese Weise
gleichsam das zeitliche Pendant zum Bruchstück dar, so verlängert
sich der Effekt der Detailoptik auf diesem Wege in die Physis hin-
ein:
In der Tat wird der Assoziationsablauf dessen, der diese Bilder
betrachtet, sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Dar-
auf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chock-
wirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein
will. Kraft seiner technischen Struktur hat der Film die physische
Chockwirkung, welche der Dadaismus gleichsam in der moralischen
noch verpackt hielt, aus dieser Emballage befreit. (503)
Als besonderes Merkmal des Films hebt Benjamin das Phänomen
hervor, daß es dabei auf dem Wege einer »intensivsten Durchdrin-
gung mit der Apparatur« zur Herstellung eines »apparatefreien As-
pekts der Wirklichkeit« kommt. Das Optisch-Unbewußte erhält
hier also die Bedeutung, daß mit Hilfe des Apparats Bilder herge-
stellt werden, in deren Wahrnehmung die Voraussetzungen ihrer
technischen Herstellung verschwinden, während deren mediale
Struktur sich jedoch gleichzeitig in die Physis einschreibt. Insofern
erhält das Optisch-Unbewußte des Films – über den Zeittakt der
328 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
sondern auch die Optik der Photographie, mit der diese sich in
eine Kultur des allgemeinen Chocks einfügt. Den Anschluß für
dieses Moment bildet die mémoire involontaire:
Wenn man das Unterscheidende an den Bildern, die aus der
mémoire involontaire auftauchen, darin sieht, daß sie eine
Aura haben, so hat die Photographie an dem Phänomen eines
›Verfalls der Aura‹ entscheidend teil. Was an der Daguerreo-
typie als das Unmenschliche, man könnte sagen Tödliche muß-
te empfunden werden, war das (übrigens anhaltende) Her-
einblicken in den Apparat, da doch der Apparat das Bild des
Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben.
(I .2/646; Hvhg. S. W.)
Diese Passage zeigt, daß bei der Aufnahme der Photographie in die
Urgeschichte der Moderne jene höllischen Momente zurückkeh-
ren, die Benjamin in der Kleinen Geschichte der Photographie hatte
vergessen wollen.
Wurde mit dem Eindringen des Chocks in die Physis, mit Bezug
auf den Film, im Kunstwerkaufsatz diese Darstellung vorbereitet,
so sind nun die wimmelnden Ungetüme aus der Hölle des Details,
die Benjamin seiner photographischen Detailtheorie geopfert hat-
te, zurückgekehrt. Als höllisches Moment der Moderne sind sie im
Baudelaire-Buch in das Dispositiv des Chocks eingegangen – wo-
mit sich auch jene Notiz in den Passagen erklärt, in der es heißt:
»Das ›Moderne‹ die Zeit der Hölle« (V.2/676). Für die Wiederauf-
nahme dieser höllischen Momente (auch in die Photographie) bil-
det allerdings die Verzeitlichung des Details im Begriff des Chocks
eine wesentliche theoretische Voraussetzung, nämlich den Über-
gang vom Blick- und Bildraum der optischen Medien zum kultur-
geschichtlichen Schauplatz der Theorie.
Wenn man von diesem Bild einer technisch bedingten Hölle des
Details einen Seitenblick auf die in zeitlicher Nähe entstandenen
Kommentare zu Brechts Mahagonnygesängen (1938) wirft, wird noch
einmal der im Brecht-Kapitel thematisierte Kontrast zwischen den
Brecht gewidmeten Texten und Benjamins eigenen theoretischen
Überlegungen deutlich. In Abwandlung von Benjamins Feststel-
332 Aus der Mitte seiner Bilderwelt
Siglen
BA = Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940,
Frankfurt/M. 1994.
A B = Gretel Adorno, Walter Benjamin, Briefwechsel 1930–1940,
Frankfurt/M. 2005.
BS = Walter Benjamin, Gershom Scholem, Briefwechsel 1933–1940,
Frankfurt/M. 1980.
BH = Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Thomas Küp-
per u. a., Stuttgart u. a. 2006.
BB = Benjamins Begriffe, hg. v. Michael Opitz, Erdmut Wizisla,
Frankfurt/M. 2000, 2 Bde.
BK = Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hg. v. Her-
mann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1981.
SW = Walter Benjamin, Selected Writings, hg. v. Marcus Bullock,
Michael W. Jennings, Vol. 1: 1913–1926, London 1996.
OWS = Walter Benjamin, One-Way-Street and Other Writings, translated
by Edmund Jephcott, Kingsley Shorter, London, New York 1979.
IL = Walter Benjamin, Illuminations, ed. by Hannah Arendt, translated
by Harry Zohn, Fontana 1973.
334 Bibliographie
Barth, Hans (1959), Masse und Mythos. Die Theorie der Gewalt: Georges
Sorel, Hamburg.
Barthes, Roland (1985), Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie,
Frankfurt/M.
Baudelaire, Charles (1989), Aufsätze zur Literatur und Kunst
1857–1860, in: ders., Sämtliche Werke/Briefe, hg. von Friedhelm Kemp,
Claude Pichois, Wolfgang Drost, Bd. 5, München.
Becker, Jochen (1989), Passagen und Passanten. Zu Walter Benjamin
und August Sander, in: Zeitschrift für Fotogeschichte 32, S. 37–48.
Benjamin, Andrew (1997), Ursprünge übersetzen. Psychoanalyse und
Philosophie, in: Hirsch (Hg.), S. 231–262.
Benjamin, Walter (1972–1999), Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiede-
Bibliographie 335
Eddington, A. S. (1931), Das Weltbild der Physik und ein Versuch seiner
philosophischen Deutung, Braunschweig (The Nature of the Physical
World).
Encyclopaedia of Islam (2000), Bd. 10, Leiden.
Enzyklopaedie des Islam (1934), hg. v. M. Th. Houtsma u. a., Leiden.
Faber, Richard (2000), Walter Benjamin und das »Vater unser« – mehr
als eine historisch-philologische Glosse, in: Zeitschrift für Religions- und
Geistesgeschichte, S. 70–74.
Festschrift (2000), für Stéphane Moses: Jüdisches Denken in einer Welt
ohne Gott, hg. v. Mattern, Jens, Garbriel Motzkin, Shimon Sand-
bank, Berlin.
Flusser, Villem (1996), Die Auswanderung der Zahlen aus dem alpha-
numerischen Code, in: Dagmar Reichert (Hg.), Räumliches Denken, Zü-
rich, S. 267–301.
Freud, Sigmund (1975), Jenseits des Lustprinzips, in: ders., Studienausga-
be, Bd. 3, Frankfurt/M., S. 213–272.
Freud, Sigmund (1986), Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hg. v. Jeffrey
Moussaieff Masson, Frankfurt/M.
Friedrich, Marcus A. (2001), Liturgische Körper. Der Beitrag von Schau-
spieltheorien und -techniken für die Pastoralästhetik, Stuttgart u. a.
Bibliographie 337
Krauss, Rolf H. (1998), Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photo-
graphie, Ostfildern.
Schmitt, Carl (1990), Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der
Souveränität, Berlin.
Schmitt, Carl (1996), Politische Theologie II . Die Legende von der Erledi-
gung der Politischen Theologie, Berlin 1996.
Schmitt, Carl (1997), Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum
Europaeum, Berlin.
Schmitt, Carl (2002), Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Be-
griff des Politischen, Berlin.
Schöttker, Detlev (2004), Hg., Schrift Bilder Denken. Walter Benjamin
und die Künste, Frankfurt/M.
Scholem, Gershom (1973a), Der Name Gottes und die Sprachtheorie der
Kabbala, in: ders., Judaica 3, Frankfurt/M., S. 7–70.
Scholem, Gershom (1973b), Zehn unhistorische Sätze über Kabbala, in:
ders., Judaica 3, Frankfurt/M., S. 264–271.
Scholem, Gershom (1975), Walter Benjamin – die Geschichte einer Freund-
schaft, Frankfurt/M.
Scholem, Gershom (1986), Zum Verständnis der messianischen Idee im
Judentum, in: ders., Judaica 1, Frankfurt/M., S. 7–74.
Scholem, Gershom (1995), Tagebücher 1913–1917 nebst Aufsätzen und Ent-
würfen bis 1923, 1. Halbbd. 1913–1917, hg. v. Karlfried Gründer, Fried-
rich Niewöhner, Herbert Kopp-Oberstebrink, Frankfurt/M.
Scholem, Gershom (2000), Tagebücher 1913–1917 nebst Aufsätzen und Ent-
würfen bis 1923. 2. Halbbd. 1917–1923, hg. v. Karlfried Gründer, Her-
bert Kopp-Oberstebrink, Friedrich Niewöhner, Karl E. Grözinger,
Frankfurt/M.
Schwarz, Heinrich (1931), David Octavius Hill. Der Meister der Photogra-
phie, Leipzig.
Sehm, Gunter G., Moses, Christus und Paul Ackermann. Brechts Aufstieg
und Fall der Stadt Mahagonny, in: Brecht-Jahrbuch 1976, Frankfurt/M.,
S. 83–100.
Sorel, Georges (1969), Über die Gewalt. Mit einem Nachwort von George
Lichtenheim, Frankfurt/M.
Steiner, Uwe (1992), Säkularisierung. Überlegungen zum Ursprung und
zu einigen Implikationen des Begriffs bei Benjamin, in: Steiner (Hg.),
S. 139–187.
Steiner, Uwe (1992), Hg., Walter Benjamin, 1892–1940, Bern.
342 Bibliographie
Tawada, Yoko (1999), Ein Email für japanische Gespenster, in: Corina
Caduff, Johanna Pfaff-Czarnecka (Hg.), Ritual heute. Theorien, Kontrover-
sen, Entwürfe, Berlin, S. 219–225.
Thieme, Karl (1931–1932), Des Teufels Gebetbuch? Eine Auseinander-
setzung mit dem Werke Bertolt Brechts, in: Hochland. Monatsschrift für
alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, hg. v. Karl Munch, 29,
H. 1 (Oktober 1931 – März 1932), S. 397–413.
Thys, Walter (2000), Hg., André Jolles (1874–1946). »Gebildeter Vagant«.
Brieven en Documenten, Amsterdam, S. 218–223.
van Reijen, Willem, Herman van Doorn (2001), Hg., Aufenthalte und
Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins, Frankfurt/M.
Wagner, Monika (2001), Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte
der Moderne, München.
Warburg, Aby (1998), Sandro Botticellis »Geburt der Venus« und »Früh-
ling«, in: ders., Gesammelte Schriften, Studienausgabe, hg. v. Horst Brede-
kamp u. a., Bd. I .1, Berlin, S. 1–59
Weber, Samuel (1992), Taking Exception to Decision: Theatrical-Theo-
logical Politics. Walter Benjamin and Carl Schmitt, in: Steiner (Hg.).
Weber, Samuel (2002), Exterritorialité et théâtralité chez Benjamin et
Kafka, in: Nicole Fernandez-Bravo (Hg.), L’Exterritorialité de la littérature
allemande, Paris, S. 91–106.
Weber, Samuel (2004), Theatricality as Medium, New York.
Weidner, Daniel (2002), Jüdisches Gedächtnis, mystische Tradition und
moderne Literatur. Walter Benjamin und Gershom Scholem deuten
Kafka, in: Weimarer Beiträge 46, H. 2, S. 234–249.
Weigel, Sigrid (1996), Body- and Image-Space. Re-Reading Walter Benjamin,
übers. v. Georgina Paul, Rachel McNicholl, Jeremy Gaines, London.
Weigel, Sigrid (1997), Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische
Schreibweise, Frankfurt/M.
Weigel, Sigrid (2000a), Gershom Scholems Gedichte und seine Dich-
tungstheorie – Klage, Adressierung, Gabe und das Problem einer
Sprache in unserer Zeit, in: Mosès, Weigel (Hg.), S. 16–47.
Weigel, Sigrid (2000b), Zeugnis und Zeugenschaft. Klage und Anklage.
Zur Geste des Bezeugens in der Differenz von identity politics, juristi-
schem und historiographischem Diskurs, in: Zeugnis und Zeugenschaft.
Einstein Forum Jahrbuch 1999, Berlin, S. 111–135.
Weigel, Sigrid (2000c), Aby Warburgs Göttin im Exil, in: Vorträge aus
dem Warburg-Haus, Bd. 4, S. 65–103.
Bibliographie 343
Yun, Mi-Ae (2000), Walter Benjamin als Zeitgenosse Bertolt Brechts. Eine
paradoxe Beziehung zwischen Nähe und Ferne, Göttingen.
Bildnachweise
Kapitel 8
Abb. 1 Wiener Genesis, fol. 5r; aus: Barbara Zimmermann, Die Wiener
Genesis im Rahmen der antiken Buchmalerei. Ikonographie, Darstellung, Illu-
strationsverfahren und Aussageintention, Wiesbaden 2003, Abb. 9.
Abb. 2 Giotto: Ira, Ausschnitt aus Le Virtù e i Vizi, um 1305, Fresco, Pa-
dua, Cappella degli Scrovegni; aus: Alberto Busignani: Giotto, Florenz
1993, S. 156.
Kapitel 8 Dokumentation
Abb. 3 Titelblatt von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels
mit einer Widmung von Warburg an Saxl: »Ihrem (lieben) Saxl/die
K. B. W./4. Vi. 1928«; aus: Detlev Schöttker (Hg.): Schrift Bilder Denken.
Walter Benjamin und die Künste, Frankfurt/M. 2004, S. 124, Abb. 7.
Kapitel 9
Abb. 1 Albrecht Dürer: Melencolia I , 1514, Kupferstich, Kupferstichka-
binett der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kultur-
besitz.
Abb. 2 Paul Klee: Angelus Novus, 1920/32, Ölpause auf Aquarell; aus:
Johann Konrad Eberlein: »Angelus Novus«. Paul Klees Bild und Walter
Benjamins Deutung, Freiburg i. Br. 2006, S. 42.
Bildnachweise 345
Abb. 6 Charles Meryon: Les nuits de mai, 1871, Radierung; aus: Charles
Meryon, David Young Cameron, 3 avril–31 may 1981, Cabinet des Estam-
pes, Musée d’art et d’histoire (Ausstellungskatalog), Genf 1981, S. 84.
Abb. 8 Wiener Genesis, fol. 14r; aus: Barbara Zimmermann: Die Wiener
Genesis im Rahmen der antiken Buchmalerei. Ikonographie, Darstellung, Illu-
strationsverfahren und Aussageintention, Wiesbaden 2003, Abb. 27.
Abb. 9 Wiener Genesis, fol. 15r; aus: Barbara Zimmermann: Die Wiener
Genesis im Rahmen der antiken Buchmalerei. Ikonographie, Darstellung, Illu-
strationsverfahren und Aussageintention, Wiesbaden 2003, Abb. 29.
Kapitel 10
Abb. 1 David Octavius Hill: Auf dem Friedhof von Greyfriars in Edinburgh,
1843–48; aus: Heinrich Schwarz: Der Meister der Photographie, Leipzig
1931, Abb. 57.
Abb. 2 Félix Nadar: Die Pariser Kanalisation, um 1860: Orte des Abjekts
als ideale Schauplätze der frühen Photographie; aus: Helmuth Th. Bos-
sert, Heinrich Guttmann: Aus der Frühzeit der Photographie 1840–70,
Frankfurt/M. 1930, Abb. 185.
346 Bildnachweise
Die Arbeit an diesem Buch und das Bemühen, die Bedeutung der
Religion für Benjamins Denken genauer zu verstehen, hat unmit-
telbar nach der Publikation meines ersten Buches über Benjamins
theoretische Schreibweise Entstellte Ähnlichkeit (1997) begonnen. Sie
verdankt wesentliche Anstöße den Gesprächen mit Stéphane Mosès,
dem ich dafür nun, nach seinem viel zu frühen Tod im Dezember
2007, nicht mehr danken kann. Ihm ist das Buch gewidmet, weil
seine Erläuterungen zur Lektüre der Torah, die er als häufiger Gast-
wissenschaftler in die Diskussionen der Projektgruppe zur Dialektik
der Säkularisierung am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL)
eingebracht hat, besonders wichtig waren. Den Wissenschaftlern
dieses Projekts, Ernst Müller, Martin Treml und Daniel Weidner, dan-
ke ich für die gemeinsame Arbeit am Konzept der Säkularisierung,
die in meine Relektüren der Schriften Benjamins eingegangen ist.
Sie und andere Mitarbeiter des ZfL haben durch ihr anhaltendes
Interesse an Benjamin dazu beigetragen, daß ich die aufgenom
mene Spur weiterverfolgen konnte, Sabine Flach, Romy Marschall
und Christina Pareigis haben durch ihr Engagement die Durchfüh-
rung einer internationalen Benjamin-Konferenz ermöglicht, die
Gelegenheit zum Austausch mit vielen anderen Benjamin-Lesern
gab. Die Studierenden der verschiedenen Lehrveranstaltungen an
der TU Berlin und in Princeton haben durch Neugier und Fragen
auf manche rätselhafte Passagen in Benjamins Schriften aufmerksam
348 Danksagung