Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
Sigrid Weigel, geb. 1950, ist Direktorin des Zentrums für Litera-
tur- und Kulturforschung in Berlin sowie Professorin am Institut
für Literaturwissenschaft an der dortigen Technischen Universität.
Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt »Genea-Logik. Generation,
Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaf-
ten« (München 2006) und »Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blut-
zeugen und Heiligen Kriegern« (München 2007).
Walter Benjamin
Die Kreatur, das Heilige,
die Bilder
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Vorwort
Begriff der Kreatur ist für ihn insofern Symptom einer Verwechs-
lung des Schöpfungs- mit dem Naturzustand (Kap. 1).
Seine Bemerkung zum Prädikat der Heiligkeit als belletristi-
scher Floskel bedeutet allerdings nicht, daß ihm das Heilige für die
Dichtung unwichtig wäre, im Gegenteil. Benjamins Kritik richtet
sich gegen Kunstprogramme, die das dichterische Schaffen heilig-
sprechen und dem Dichter damit gleichsam ein göttliches Mandat
zuschreiben. Dagegen sieht er den Dichter eher als Nachfahren
von kultischen Praktiken, die in der Geschichte – verstanden als
Entfernung von der Schöpfung – verlorengegangen sind, betrach-
tet er die Dichtung eher als Asyl für Anliegen, die der Theologie
entglitten sind. Das hat weniger mit dem Dichter zu tun als mit der
Sprache, da jede Sprache in irgendeiner Weise in der Nachfolge der
biblischen Sprache, des Mediums der Offenbarung, steht – wenn
auch meist im Modus von Abfall, Übersetzung und Konventio-
nalisierung, von Abstand und Entstellung. Denn der Abstand von
der Schöpfung, an der auch die Sprache in der Geschichte teil-
hat, wird von Benjamin als strukturelle Differenz zur Offenbarung
behandelt. Wenn jedoch der poetische Umgang mit Sprache an
die Heiligung des Namens erinnert, weil die Worte ›beim Namen
genommen‹ werden, dann wird die Dichtung zu einer Einbruch-
stelle für Bedeutungen, die einer höheren Ordnung entstammen.
Sie wird jedoch niemals mit dieser identisch und auch niemals zu
ihrem profanen Substitut (Kap. 4).
Benjamins Anerkennung der Tatsache, daß nicht wenige, insbe-
sondere die gewichtigsten Begriffe des europäischen Denkens – wie
etwa Leben, Mensch, Gerechtigkeit – der biblischen Überlieferung
entstammen, sowie die Konsequenzen, die diese Anerkennung für
seine Theoriebildung, für den Umgang mit Sprache und Geschich-
te, mit Dichtung und Kunst hat, stehen im Zentrum dieses Bu-
ches. Benjamins rhetorische Frage erheischt heute eine eindeutige
Antwort: Es ist nötig. Angesichts der Tatsache, daß er die Bemer-
kung zum Heiligen als eigentlich überflüssig bewertet hat, ist es
erstaunlich, wie schwer sich die Benjamin-Rezeption mit seiner
Auseinandersetzung mit Theologie, Religion und dem Heiligen
tut (Kap. 1). Denn in dieser Hinsicht läßt sich eine strukturbil-
12 Vorwort
Wort fällt« (Kap. 4). Insofern fügt sich sein Umgang mit der Über-
lieferung auch nicht in den Gegensatz von Theologie und Philoso-
phie. Benjamins Position jenseits von Theologie und Philosophie
kommt vor allem in seinem Bilddenken zum Ausdruck, in seinen
Sprachbildern, Denkbildern und dialektischen Bildern. Da dieser
genuine Benjaminsche Umgang mit der Sprache in den meisten
Übersetzungen seiner Schriften in andere Sprachen regelförmig
verschwindet, weil die Denkbilder entweder in Metaphern oder
aber Begriffe übersetzt werden, verliert seine Theorie in der inter-
nationalen Rezeption nicht selten ihre spezifische Signatur. Wäh-
rend seine Überlegungen hierdurch sehr viel leichter kompatibel
erscheinen mit aktuellen theoretischen Diskursen, wird dabei oft
gerade jene Dimension der Sprache unkenntlich, die an religiöse
Zitate in profanen Begriffen erinnert (Kap. 7).
Vergessene Bilder:
die Bedeutung der Kunst für Benjamins Epistemologie
Andererseits hat die Dominanz der Denkbilder in Benjamins Schrif-
ten bislang die zentrale und unersetzliche Bedeutung von aistheti-
scher Wahrnehmung und gesehenen Bildern für seine Erkenntnis-
weise verdeckt. Tatsächlich nämlich nehmen Kunstwerke, Gemälde
und Drucke, d. h. Bilder aus der Kunstgeschichte, eine heraus-
gehobene Stellung in seinen Schriften ein: nicht nur die beiden
Ikonen seines Werks, Dürers Melencolia und Klees Angelus Novus,
ohne deren Erwähnung nur wenige Benjamin-Bücher und -Artikel
auskommen; und nicht nur die photo- und kinematographischen
Bilder, die für seine Kulturtheorie der Moderne so wichtig sind
(Kap. 10), sondern Bilder von Künstlern unterschiedlichster Prove-
nienz, vom Mittelalter über die Renaissance und das Barock bis zur
Moderne, zu Expressionismus, Kubismus und Surrealismus. Wäh-
rend sich viele Arbeiten mit Benjamins Kunstbegriff, Kunstkritik
und Kunsttheorie auseinandergesetzt haben, ist eine Untersuchung
der Frage, welche epistemische Bedeutung den Kunstwerken selbst
zukommt, bislang ausgeblieben.
Auch die Bilder der Kunst stehen bei Benjamin – wie die
Vorwort 15
gar nicht in der Funktion von Termini technici, d. h. von fachsprach-
lichen Begriffen. Denn der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt
seiner Kritik der Gewalt besteht ja gerade darin, sie jenseits juristi-
scher oder staatsrechtlicher Fachgrenzen – und jenseits des positiven
Rechts – zu erörtern, indem er die geschichtstheoretischen Vor-
aussetzungen der Rechtsetzung und Rechtserhaltung in den Blick
nimmt. Und was die konkreten Begriffe betrifft, die von Agamben
als Schmittscher Wortschatz in Benjamins Essay gedeutet werden,
so zeigt die genauere Lektüre, daß Benjamin zwar vom ›Ernstfall‹
spricht, dies aber im Zusammenhang seiner Analyse des Kriegs-
rechts. Dessen Widersprüche bestehen für ihn gerade darin, daß
Rechtssubjekte damit eine Gewalt sanktionieren, »deren Zwecke
[…] mit ihren eigenen Rechts- und Naturzwecken im Ernstfall in
Konflikt geraten« (185). Der Ernstfall meint hier also das Wirksam-
werden des Kriegsrechts durch das Eintreten des Kriegsfalls, d. h.
des Ernstfalls. Und der Begriff ›Entscheidung‹ ist mit Bedacht in
Anführungsstriche gesetzt, wenn Benjamin ausführt, daß durch
diese metaphysische Kategorie, die vom Recht anerkannt werde,
das Recht »Anspruch auf Kritik« erhebt (189). Er betrachtet die
Inanspruchnahme der Kategorie der Entscheidung durch das Recht
also als kritikwürdig.
Ebenso wird man die Bedeutung des für Benjamins Betrach-
tungsweise zentralen Begriffs der ›reinen Gewalt‹ verfehlen, wenn
man ihn – wie Agamben – als Terminus technicus von Benjamins
Essays versteht (Agamben 2004, 73). Die zentralen Begriffe der
zeitgenössischen Debatte über revolutionäre Gewalt werden von
Benjamin vielmehr im Hinblick auf ihre mythischen und religi-
onsgeschichtlichen Begründungen beschrieben, die in ihnen ein-
geschlossen sind und damit in vermittelter Weise in Anspruch ge-
nommen werden. Insbesondere die zitierte Passage über das Gebot
fällt in ihrer Diktion aus jeder fachsprachlichen Gewißheit heraus,
ist darin doch von ungeheuren Fällen, von Einsamkeit, Verantwor-
tung und der Absehung vom Gebot die Rede – anstelle von einer
Entscheidung im Ausnahmezustand.
20 Vorwort
ben als unvergleichliches Märtyrertum preist, die Tote als ›Heilige‹ be-
zeichnet und sie gleichsam in die Nachfolge Christi stellt. Seine Kritik
gilt in diesem Text aber mehr noch einem zeitgenössischen Dichter-
Kult Georgescher und Gundolfscher Provenienz, in dem der Dichtung
sakrale Attribute zugeschrieben werden. Durch die Konstruktion der
Dichtung als Quasi-Religion werde, so Benjamin, eine Remythisie-
rung vollzogen, die hinter die Trennung von Kunst und Philosophie
beim Ausgang des Mythos in der griechischen Antike zurückgeht. Die-
ser Remythisierung der Kunst als Krypto-Religion stellt er eine strikte
Grenzziehung zwischen dem Kunstdiskurs und einer ›Rede vor Gott‹
entgegen, die er am Text von Goethes Roman entwickelt. Der Text
argumentiert entlang einer systematischen Unterscheidung zwischen
den Begriffen menschlicher und göttlicher Ordnung, wie beispielsweise:
zwischen ›Aufgabe‹ und ›Forderung‹, zwischen ›Gebilde‹ und ›Geschöpf‹,
zwischen der ›Aussöhnung‹, die unter Menschen stattfindet, überwelt-
licher ›Versöhnung‹ und der Vorstellung einer ›Entsühnung‹ durch eine
göttliche Instanz. In Gestalt der dabei erörterten Dialektik von natür
lichem und übernatürlichem Leben und dem Motiv vom »Schuldzusam-
menhang des natürlichen Lebens« unterhält der Goethe-Essay direkte
Verbindungen zur Kritik der Gewalt, einem Text, in dem sich Benjamins
Bemühung um begriffliche Differenzen auf Recht und Gerechtigkeit
konzentriert (Kap. 4).
Auf der Schwelle von Schöpfung
und Weltgericht
1. Die K r eatur und das Heilige
Benjamins Umgang mit der Säkularisierung
Zunächst springt dabei das Wort »schnöde« ins Auge. Es grenzt die
Stiftersche Version poetischer Säkularisierung der Naturphänomene
sowohl von einer andersgearteten, irgendwie nicht schnöden Säku-
larisierung ab als auch von einer mehr als schnöden, womöglich
verwerflichen Säkularisierung. Ebenso auffällig ist die Charakteri-
sierung des Gesetzesbegriffs als bescheiden, doch bedenklich. Die
Mehrdeutigkeit des Attributs bescheiden, das soviel wie genügsam
heißt, aber auch als dürftig oder ungenügend gelesen werden kann,
wiederholt sich im Changieren des Bedenklichen zwischen besorg-
niserregend und bedenkenswert.
Benjamins Kommentar zu dieser schnöden Säkularisierung setzt
sich aus zwei Argumenten zusammen: erstens, daß in Stifters Rede
von der »Wirkung höherer Gesetze« das Konzept des Heiligen durch
den Gesetzesbegriff ersetzt wird und daß diese Substitution, in-
dem sie stillschweigend erfolgt, zugleich verborgen bleibt. Die Be-
denklichkeit des Gesetzesbegriffs ergibt sich nicht zuletzt aus dieser
stillschweigenden Form der Ersetzung, mit der die Formel ›höhere
Gesetze‹ auch dann noch von der Bezugnahme auf das Heilige pro-
fitiert, wenn sie dessen Sphäre hinter sich gelassen zu haben scheint.
Das zweite Argument wird mit einem »aber« eingeleitet und hebt
die Transparenz der Stifterschen Natur und Sittenwelt hervor, durch
die ihr kreatürlicher Status erkennbar bleibt und deshalb nicht mit
der Kantschen Sittenwelt verwechselt werden kann. Eine nähere
Ausführung über das Gegenteil, d. h. über eine Erscheinungsform,
in der die Kreatürlichkeit der Stifterschen Natur unkenntlich wür-
de, weil sie nicht transparent, sondern obskur wäre, bleibt Benja-
min an dieser Stelle schuldig. Sie wird allenfalls angedeutet mit dem
Hinweis auf die »kantische Sittenwelt«. Der Pathosformel der Kritik
der praktischen Vernunft über die »[z]wei Dinge«, die »das Gemüt mit
immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht« er-
füllen, der vielzitierten Formulierung »Der bestirnte Himmel über
mir, und das moralische Gesetz in mir« (Kant 1956, 300), wi-
dersprechen die Bunten Steine durch Stifters Unterscheidung dieser
›zwei Dinge‹. »Auffälliges« in der Natur betrachtet er als Äußerung
allgemeiner, still und unauf hörlich in der Natur wirkender Geset-
ze, während »Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten«
30 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
für ihn nur kleine Merkmale einer allgemeinen Kraft sind, näm-
lich eines Sittengesetzes, das, so Stifter, »still und seelenbelebend
durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen« (zit.
nach II .1/340) wirkt. Damit wird das Bewunderungswürdige der
Naturgesetze von demjenigen unterschieden, das auf Sittengeset-
ze zurückgeht. Auf dem Wege seines Stifter-Kommentars kritisiert
Benjamin hier indirekt Kants Ethik, die in der Annahme eines »von
der ganzen Sinnenwelt unabhängige[n] Leben[s]« der »Intelligenz«
(Kant 1956, 300) den kreatürlichen Kern der Natur – auch der
menschlichen – verkennt. Im Gegensatz zur größeren Transparenz
in der Stifterschen Differenzierung von Natur und Sittenwelt, die
Benjamin hervorhebt, nimmt er aber an dessen Umgang mit dem
Gesetzesbegriff Anstoß. Er kritisiert ihn als Deckbegriff für eine
verschwiegene Vorstellung vom Heiligen.
Die Bestimmung einer nicht schnöden Säkularisierung bleibt in
Benjamins Text allerdings eine Leerstelle, sie sich vorzustellen den
Lesern aufgegeben. Immerhin aber soviel wird klar: Die mit dem
»schnöde« unwillkürlich aufgeworfene Frage nach den Möglichkei-
ten und Formen einer andersgearteten Säkularisierung erhält eine
bestimmte Richtung. Sie verweist auf die Erkennbarkeit jener Er-
setzungen, denen sich Operationen der Säkularisierung verdanken.
Der Hinweis auf das Stillschweigende impliziert zugleich, daß Er-
kennbarkeit einen anderen sprachlichen oder rhetorischen Modus
erforderte. Säkularisierung, die nicht schnöde verfährt, ist damit
als eine reflexive Haltung im Umgang mit dem religiösen Erbe in
der Moderne bestimmt. Bis hierhin läßt sich soviel festhalten: Im
Kontext der Säkularisierung wird der Begriff des Gesetzes von Ben-
jamin insoweit als Deckbegriff kritisiert, als sich in ihm die genaue
Beziehung zwischen Heiligem und Kreatürlichem verbirgt. Damit
versammelt diese Passage drei Zentralbegriffe – das Gesetz, das Hei-
lige, die Kreatur –, die in der jüngsten Benjaminrezeption eine er-
höhte Aufmerksamkeit erfahren haben.
Um nun zu erörtern, was die schnöde Säkularisierung mit Karl
Kraus zu tun hat, muß zunächst der textuelle Zusammenhang er-
läutert werden. Die zitierte Passage stammt aus dem ersten Teil
des – als Triptychon komponierten – Kraus-Essays aus dem Jahre
Die Kreatur und das Heilige 31
Ironie: Die Kreatur sei für Kraus »der wahre Tugendspiegel der
Schöpfung, in welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns aus ver-
lorener Zeitenferne herüberlächeln«. Seine Ironie gilt der Projek
tion eines Zustands, der die Unschuld des Paradieses mit den erst in
der Kulturgeschichte entstandenen Tugendwerten verwechselt und
diese ›Reinheit‹ ausgerechnet in den Tieren sieht. Für genau die-
se Projektion eines Schöpfungsstandes in der Geschichte steht der
Name der Kreatur. Schaut der Mensch im Spiegelbild der Kreatur
sich selbst ins Antlitz, dann verschwimmen ihm Schöpfung und
Historie. In den Tieren als Emblemen von Kraus’ Haltung ent-
deckt Benjamin deshalb auch etwas »unendlich Fragwürdige[s]«.
Das liegt vor allem darin, daß es sich um seine eigenen ›Geschöpfe‹
handelt, da »sie allein aus denen sich rekrutieren, die Kraus selber
geistig erst ins Leben gerufen« hat, »die er in ein und demselben
Akt zeugte und überzeugte«. – Damit konstatiert Benjamin am
Beispiel von Kraus ein autopoietisches System, in dem die eige-
nen Imaginationen als Verkörperungen der Schöpfung betrachtet
werden, in deren Spiegelung ein Widerschein der Schöpfung auf
den Autor zurückfällt. Zugespitzt wird diese Kritik im Bild vom
»Tempel der Kreatur«. Benjamin formuliert gegen dieses Verfahren
einen gewichtigen Einwand, der für die gegenwärtigen Debatten
über fiktionalisierte ›Zeugnisse‹ des Holocaust 2 zentral ist: »Bestim-
men kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden
kann.« (341) Damit kritisiert Benjamin nicht nur eine Bezugnahme
auf Tiere als Stellvertreter eines kreatürlichen, gleichsam gottes-
geschöpflichen Status von Unschuld, der nicht nur von den wirk
lichen, leiblichen Tieren absieht. Er reserviert das Zeugnis auch für
eine Konstellation, die frei von ›geistiger‹ Zeugung, d. h. von einer
imaginären Generierung von ›Leben‹ ist.
Die Art und Weise, wie Benjamin die Reden und Schriften von
Karl Kraus im Hinblick auf ihre Zweideutigkeit kommentiert,
kann hier nicht en détail ausgeführt werden. In der Erörterung der
2 In diesem Sinne habe ich versucht, im Hinblick auf die Nachgeschichte des
Holocaust die Geste des Zeugnisses von historischer und juristischer Zeugenschaft
zu unterscheiden (vgl. Weigel 2000b).
34 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Mit zwei der zentralen Motive, der Kreatur als Tugend- oder Mo-
ralspiegel und der Betrachtung von Geschichte als Natur, schließt der
Kraus-Essay an das Trauerspielbuch an und schreibt dortige Überle-
gungen zur Säkularisierung fort. Darin hatte Benjamin die barocke
Welthaltung untersucht, für die Geschichte selbst als Trauerspiel
erscheint und von der Schöpfung ununterscheidbar geworden ist.
Genau das ist die theologische Erbmasse von Spekulationen aus
dem 17. Jahrhundert, die für Benjamin in die Vorgeschichte jener
schnöden Säkularisierung gehören, in der im 19. Jahrhundert ›Na-
turwunder‹ als Wirkungen höherer Gesetze betrachtet wurden.
Kritik der Gewalt, hat Benjamin vom Doppelsinn solcher Worte wie
Dasein und Leben »aus ihrer Beziehung auf je zwei Sphären« gespro-
chen (II .1/201). Es ist also das, was am Dasein mehr und anderes ist
als das »bloße natürliche Leben« (200), was dem Menschen in der
»Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande« entzogen
wird. Einer biblischen Vorstellung entstammend, ist das mensch
liche Dasein als natürlich und übernatürlich zugleich ein Produkt
der Geschichte. Im Wissen um diese andere Sphäre ist das Bewußt-
sein eines Verlustes, der sich im Begriff der Kreatur ausdrückt, doch
von diesem Wissen geprägt. Wenn Personen, die sich zurückge-
worfen finden auf das bloße Leben, sich im Zustand der Schöpfung
begreifen, dann betrifft der Begriff der Kreatur den Verlust, nicht
aber den ursprünglichen Zustand der Schöpfung. Insofern ist dem
Begriff der Kreatur die Herkunft aus der Schöpfung ebenso einge-
schrieben wie der Abstand zum »harmlosen ersten Schöpfungsstan-
de« (I .1/253). Das bedeutet, daß der Begriff der Säkularisierung
im Trauerspielbuch als eine Art Gegenbegriff zum Messianismus
verwendet wird. Während das Messianische auf die Erlösung in der
Vollendung der Historie zielt, meint die Säkularisierung hier einen
Entzug sakraler Bedeutung in der Geschichte, die Rückverwand-
lung von Dasein in den Zustand der Kreatur bzw. von Geschichte
in Natur.
An anderer Stelle, wo es Benjamin um den Tyrannen geht,
schreibt er der Diktatur des Tyrannen die Utopie einer »Restau-
ration der Ordnung im Ausnahmezustand« zu, auch dies eine Art
Rückverwandlung von Geschichte in Natur, genauer in »die eherne
Verfassung der Naturgesetze« (253), womit er Stillstellung als Ideal
und Zweck diktatorischer Gewalt bewertet. Leitmotivisch wird im
Hinblick auf das barocke Trauerspiel das Bild einer gegen- bzw. wi-
derhistorischen Haltung gezeichnet, die der Verfassung des Barock
die Richtung vorgibt, ohne den Abstand zum »harmlosen ersten
Schöpfungsstande« verringern zu können. Insofern es die Rück-
kehr in jenen paradiesischen Zustand, als Natur und Schöpfung
noch identisch waren, nicht geben kann, trägt dasjenige Weltbild,
das Produkt einer widerhistorischen Haltung ist, die Züge einer
– letztlich unmöglichen – Nachahmung der Schöpfung: »Die Fol-
38 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Kraus-Essay: Knotenpunkt
kontroverser Benjamin-Lektüren
In der Lektüre des Kraus-Essays verschränken sich etliche Aspekte
und Stränge der Benjamin-Rezeption. Das betrifft zunächst die Aus-
einandersetzung mit Benjamins Stellung zu Theologie und Säkulari-
sierung, die mit der Diagnose »der rettenden Preisgabe der Theo-
logie, ihrer rückhaltlosen Säkularisierung« einsetzte, wie Adorno
sie in der Einleitung zur ersten, zweibändigen Ausgabe von Benja-
mins Schriften 1955 formuliert hat (Adorno 1955, X XII ). Sie wur-
de fortgesetzt z. B. von Hans Heinz Holz, der bei Benjamin eine
Verbindung von »religionsphilosophisch gegründeter Metaphysik«
und marxistischer Geschichtsphilosophie entdecken wollte (Holz
1992), und mit Heinz-Dieter Kittsteiners Zurückweisung, »Ben-
jamin theologisch zu interpretieren« (Kittsteiner 1975, 38). In
dieser Debatte hat Gerhard Kaiser interveniert, indem er sich vor
allem gegen Adorno wendet und feststellt, »daß Benjamin nicht in
die Geistesgeschichte der Säkularisierung gehört, sondern in sei-
nem Denken eine Gegenbewegung vollzieht, die Profanität und
Messianisches mit aller Schärfe voneinander abhebt« (Kaiser 1975,
74). Zugleich hat er an Benjamin eine Freiheit beobachtet, »streng
theologisch zu denken und doch den Menschen ohne Widerspruch
zu diesem Ansatz seiner Autonomie zu überantworten« (73).
Diese Debatte gründet weitgehend im Übertragungsparadigma:
Säkularisierung verstanden als Übertragung religiöser oder theolo-
gischer Bedeutungen auf Weltliches. Sie ist durch einen Gegensatz
zwischen Messianismus und Historie motiviert und kreist über wei-
te Strecken um die Frage, welcher Seite in den Schriften Benjamins
der Vorrang gebühre – während dieser, wie das Theologisch-politische
Fragment belegt, das in Frage stehende Verhältnis doch gerade als
eine gegenstrebige Fügung konzipiert hat. 1992 hat Uwe Steiner
das Säkularisierungsthema dem Lagerstreit zwischen Parteigängern
der Theologie und solchen des Marxismus entzogen, indem er es
zurückgestutzt hat auf die Frage nach der Verwendung der Säku-
larisierung als historischer Beschreibungskategorie (Steiner 1992,
141). Dieser im Blick auf den festgefahrenen Streit sinnvolle und
40 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
»die heute bekanntlich klein und häßlich ist«, durch »die Puppe, die
man ›historischen Materialismus‹ nennt«, wie im ersten der Denk-
bilder Über den Begriff der Geschichte (I .2/693), Indikator für eine
Entheiligung der Theologie, die einen solchen Einsatz als Mittel
überhaupt erst ermöglicht. Das erinnert an die Diagnose aus dem
Kraus-Essay, daß Kultus und Schöpfung zu Weihrauchnebel und
Kirche geworden sind. – Die Vorstellung des Heiligen als Reso-
nanzraum widerspricht prinzipiell einem Sprachgebrauch, in dem
›heilig‹ als Attribut benutzt wird, sei es als Merkmal des Überir-
dischen, einer himmlischen Instanz, einer theologischen Autorität
oder irgendeiner anderen Einheit. Schon von daher wird es plau-
sibel, daß Benjamin in der Kritik der Gewalt das »Dogma von der
Heiligkeit des Lebens« zurückweist, weil darin eine Einheit wie
das bloße Leben, manchmal »alles animalische oder gar vegetabile
Leben«, oder nur das menschliche Leben, heiliggesprochen wird
(II .1/202, 201). Als Attribut kommt heilig allein der Sprache zu,
sofern diese sich im Resonanzraum des heiligen Textes bewegt, wie
dies in der Aufgabe des Übersetzers (1921) thematisiert wird. Dort ist
von den »heiligen« »Schriften« und vom »heilige[n] Wachstum der
Sprachen« die Rede (IV.1/21, 14).
In den folgenden Schriften Benjamins tritt der Begriff des Hei-
ligen eher in den Hintergrund, bis er an prominenten Stellen im
Kraus-Essay wieder auftaucht und dort nach verschiedenen Seiten
hin zum Einsatz kommt. Während der Kommentar zum Stifter-
Zitat kritisiert, daß das Heilige im Gesetzesbegriff verborgen wur-
de, erhält die Heiligung des Worts eine zentrale Bedeutung für die
poetische Sprache. In einer Passage über die Sprachgebärde von
Kraus wird dessen »Heiligung des Worts« der Georgeschen Ver-
wendung der Sprache als bloßes Mittel zum Aufstieg in den Olymp
entgegengesetzt. Es geht um Musik. Zunächst beobachtet Ben-
jamin, daß Kraus in seinen Offenbach-Vorlesungen die Musik in
engere Schranken weise, »als je die Manifeste der George-Schule
sich’s erträumten« (II .1/359). Doch wird Kraus mit dieser anti-
musikalischen Haltung für Benjamin noch nicht zum Parteigänger
einer Schule, deren Programm er im Goethe-Aufsatz, in den Pas-
sagen zur George-Schule, als Inanspruchnahme eines ›göttlichen
46 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
der Sprache folgt dem Muster von Ende und Vollendung der Ge-
schichte in der Erlösung. Denn es heißt weiter: Nur wo Ursprung
und Ziel sich durchdringen – im Zitat –, ist die Sprache vollendet.
Damit nimmt das Zitat im Verhältnis zur Sprache eine vergleich-
bare Stellung ein wie die Erlösung im Verhältnis zur Historie. Der
Sprachpraxis, die sich an der Heiligung des Wortes orientiert, liegt
ein messianisches Konzept zugrunde.
Der Schlußsatz von Benjamins Theorie des Zitats nimmt noch
einmal den Kontrast dieser Haltung zum kritisierten allmensch
lichen Kreaturbegriff auf. Während die Kreatur, in deren Namen
sich Kraus den Tieren zuwendet, im ersten Abschnitt des Essays als
Tugendspiegel der Schöpfung karikiert wurde, »in welchem Treue,
Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener Zeitferne herüberlä-
cheln« (341), wird das Zitat hier zum Spiegel der »Engelsprache, in
welcher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes
aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöpfung geworden sind«
(363). Wenn im Umgang mit der religiösen Tradition in der Mo-
derne ein Spiegelverhältnis zur Schöpfung hergestellt wird, dann
kann dies nur in der Sprache geschehen, denn die Idee der Schöp-
fung entspringt dem Buch der Schöpfung, der Genesis. – Der zwei-
te Abschnitt des Essays widmet sich Kraus’ Bemühen, denselben
Resonanzraum der Sprache als Mater der Gerechtigkeit in seiner
Rechtskritik zu entfalten, was Benjamin im treffenden Bild der
»Sprachprozeßordnung« faßt. Er sieht in diesem Versuch allerdings
einen »jüdischen Salto mortale«: »Das Bild der göttlichen Gerech-
tigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist
der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons
zu sprengen sucht.« (349)
Die im Kraus-Essay verhandelten Konzepte stehen in enger
Verbindung zu Benjamins langjähriger Arbeit am Kafka-Beitrag.
Schon die erste Aufzeichnung zu dieser Arbeit, die Idee eines My-
steriums (1927), stellt eine vergleichbare Konstellation her, wie sie
Kraus an der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht versinn-
bildlicht: »Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß in welchem
der Mensch zugleich als Sachwalter der stummen Natur Klage führt
über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias.«
Die Kreatur und das Heilige 49
(3/303) Und von der Poetologie, die dem Prinzip einer Heiligung
des Worts folgt, ist es nicht weit zu Kafkas Literatur, die sich, so
Benjamin, jener Fragen annimmt, die in einer Welt ohne Religion
verwaist sind:
Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des
menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich
Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dichter an-
genommen haben), hat seine dichterische Größe eben daher,
daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt,
nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auf-
tritt. (IV.1/467; Hvhg. S. W.)
Es wird Benjamin dann nicht darum gehen, dieses theologische
Geheimnis aufzuklären, sondern darum, die Art und Weise zu un-
tersuchen, in der die Gesetze und Riten der Tradition in Kafkas
Welt der Kreaturen fortleben, ohne diesen als solche kenntlich zu
sein. Von Willy Haas übernimmt er die Deutung, daß das »geheim-
nisvolle Zentrum« von Kafkas Prozeß, das Vergessen, der jüdischen
Religion entstamme, und zitiert Haas: »der heiligste … Akt des …
Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächt-
nisses« (II .2/429).
Das Zentrum von Benjamins eigenen Reflexionen über die
Kreatur und die Schöpfung ist nicht das Heilige, sondern die Frage,
auf welche Weise die mit der Säkularisierung verschwundene Hal-
tung religiösen Kulten gegenüber in der Moderne zum Ausdruck
gebracht wird. Daß bei der Verfolgung dieser Frage eher seltener
die Begriffe Säkularisierung und Heiliges zum Einsatz kommen,
muß wiederum als Benjamins theologisches Geheimnis betrach-
tet werden. Da seine Reflexionen sich weitgehend in Denkbildern
vollziehen, soll sein Umgang mit der Säkularisierung im folgenden
anhand jener Figuren, Bilder und Schauplätze verfolgt werden, in
denen seine Arbeit an der Dialektik der Säkularisierung zum Aus-
druck kommt. Dabei geht es sowohl um Säkularisierung als einer
historischen Beschreibungskategorie als auch um eine Haltung, die
die Dignität einer Methode hat.
50 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
1 Eine erste Fassung des ersten Teils erschien in Pannewick 2004, 63–73 (in
englischer Übersetzung in The New Centennial Review, Vol. 4, Issue 3, Michigan U P
2005, 109–123; in italienischer Übersetzung in La responsabilità della critica. L’ospite
integrato. Annuario del Centro Studi Franco Fortini 1, 2004, 91–103), eine erste Fassung
des zweiten Teils in After the Totalitarianism, Part I , Telos No. 135, Summer 2006,
61–76.
58 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
einer der zentralen Begriffe der aktuellen Debatte, der des »bloßen
natürlichen Lebens« (II .1/200), entstammt.
Die Frage nach dem Verhältnis des bloßen oder auch nackten
Lebens zu Politik und Recht, die Giorgio Agambens Buch Homo
sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben erörtert, hat sich durch
die weltpolitischen Ereignisse seit seinem Erscheinen vor nunmehr
dreizehn Jahren deutlich in den Vordergrund gedrängt. Vor al-
lem der Figur des homo sacer, in der sich diese Frage verdichtet,
kommt heute eine unheimliche Aktualität zu. Die Bilder, die aus
Guantánamo um die Welt gehen, wirken wie Visualisierungen des
homo sacer, der dadurch definiert ist, daß er »getötet werden kann, aber
nicht geopfert werden darf« (Agamben 2002, 18) – oder mehr noch die
Photos aus Abu Ghraib, auf denen die Körper der Gefangenen wie
Wiedergänger jener lebenden Statuen erscheinen, mit denen Agam-
ben den homo sacer verglichen hat (109). Auch seiner im Anschluß
an Schmitt entwickelten Lesart des Ausnahmezustands, in dem die
souveräne Macht und das bloße Leben aneinander gebunden seien
(76), wurde durch die Irakpolitik von George W. Bush ein Fallbei-
spiel zugespielt, das durchaus Lehrbuchtauglichkeit besitzt. »Aus-
nahmezustand als Weltordnung« lautete denn auch der Untertitel
eines Feuilletonartikels zum Gewahrsam (FAZ , 19. 4. 2 003), in dem
Agamben das amerikanische Gefangenenlager als Signum der neuen
Weltordnung interpretiert – mit Bezug auf seine These aus Homo
sacer, die das »Lager als nómos der Moderne« interpretiert (Agamben
2002, 175–189) und die Vernichtungslager der Nationalsozialisten
als historischen Prototyp des Lagers begreift. In demselben Artikel
werden aber auch die Grenzen eines theoretischen Modells deut-
lich, das eine biopolitische Fortschreibung von Schmitts Souverä-
nitätstheorie unternimmt und derart Geopolitik und Biopolitik
engführt. Agamben bewertet hier nämlich »die neue amerikanische
Weltordnung« als strategische »Verknüpfung der beiden Paradigmen
des Ausnahmezustands und des Bürgerkriegs« und folgert: »In die-
ser Perspektive bilden Terrorismus und Staat am Ende ein einziges
System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur
dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern
jedes sogar vom anderen ununterscheidbar wird.« Die »Symmetrie
Souverän und Märtyrer 59
zwischen dem Körper des Souveräns und dem des homo sacer« (112)
aus der sechs Jahre vor 9/11 publizierten Theorie des Homo sacer
wird nun – nach den New Yorker Ereignissen und dem Irakkrieg –
auf das Verhältnis von Staat und Terrorismus übertragen. Damit
tritt in Agambens Version des aktuellen Szenarios nicht nur der
Gefangene an die Stelle des homo sacer, sondern der Terrorismus
insgesamt.
Problematisch ist an dem zitierten Statement nicht nur die The-
se einer Ununterscheidbarkeit von Staat und Terrorismus, sondern
mehr noch, daß diese Gleichsetzung nach der Seite des Terroris-
mus hin weitgehend unbeleuchtet bleibt. Wird auf diese Weise der
US -amerikanische Staat als terroristisch beschrieben, so bleibt die
umgekehrte Gleichsetzung des Terrorismus mit einem Staatssystem
ohne weitere Erläuterung. Dieser Mangel verweist auf einen blin-
den Fleck, der symptomatisch ist für den intellektuellen Diskurs
zum 11. September und zum Irakkrieg. Besetzt durch die Kritik
an der Bush-Politik, sind die theoretischen Bemühungen um eine
den aktuellen Ereignissen angemessene Kritik der Gewalt oder eine
Fortschreibung politischer Theologie mehrheitlich blind für die
neuen Formen terroristischer Gewalt. Offenbar stellen diese eine
sehr viel schwierigere Herausforderung dar für die Versuche, die
neue Weltordnung zu analysieren.
Dabei wäre die in Homo sacer erörterte Frage nach dem Verhältnis
von bloßem Leben und Politik gerade dafür zentral. Denn diese
Frage hat derzeit nicht allein in den Gefangenenbildern eine kon-
krete Gestalt angenommen, sondern auch in der Figur des Selbst-
mordattentäters, der immer mehr Schauplätze der internationalen
Auseinandersetzungen und Kampf handlungen besetzt. Der Selbst-
mordattentäter, der im Kampf gegen den ›Feind‹ oder Besatzer sein
eigenes Leben opfert und sich als Märtyrer definiert, bzw. der Ter-
rorist, der seinen bewaffneten Körper als Bombe einsetzt – diese Fi-
gur erscheint wie ein genaues Gegenbild zum homo sacer. Während
letzterer das bloße Leben darstellt, das getötet, aber nicht geopfert
werden darf, verkörpert der Selbstmordattentäter ein Leben, das
sich selbst opfert, um zu töten. Durch diesen Akt wird sein eigenes
Leben als mehr und anderes definiert denn als bloßes Leben, wird
60 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
2 So etwa, wenn Horst Bredekamp im Gespräch mit Ulrich Raulff über die »Bild-
strategien des Krieges« von einem »emphatisch angewendeten und banalisierten
Strauss« spricht: »Es kommt für die dritte Generation der Straussianer offenbar dar-
auf an, den metaphysisch begründeten Angriffen von Feinden auf einer Ebene zu
begegnen, die ihrerseits jenseits der Banalität etwa des Ökonomischen liegt.« In:
FAZ , 7. 4. 2 003.
Souverän und Märtyrer 61
auch der Partisan, der einen illegalen Kampf gegen die militärische
Übermacht, meist eine Besatzerarmee, führt und den Schmitt mit
vier Kriterien definiert: »Irregularität, gesteigerte Mobilität, Inten-
sität des politischen Engagements und tellurischer [d. h. erdgebun-
dener – S. W.] Charakter« (28).
Historisch brüchig wird das Konzept des klassischen Partisanen
allerdings bereits dort, wo Interessen einer dritten Seite ins Spiel
kommen, von der die Partisanen etwa durch Waffenlieferungen un-
terstützt werden – was für fast alle »Befreiungskämpfer« im Nahen
und Fernen Osten zutrifft. Seine Grenze findet der Begriff des Par-
tisanen, so Schmitt, im ideologisch motivierten Kampf, mehr noch
im »Berufsrevolutionär des Weltbürgerkrieges« (94), den er in Lenin
verkörpert sah: »Der Partisan hat also einen wirklichen, aber nicht
einen absoluten Feind. […] Eine andere Grenze der Feindschaft
folgt aus dem tellurischen Charakter des Partisanen. Er verteidigt
ein Stück Erde, zu dem er eine autochthone Beziehung hat. Seine
Grundposition bleibt defensiv trotz der gesteigerten Beweglichkeit
seiner Taktik.« (93) Eine weitere Überschreitung des Partisanen-
begriffs sah Schmitt schließlich in einer möglichen Anpassung des
Partisanen an die Technik durch die Entwicklung eines neuen Typs,
»sagen wir de[s] Industrie-Partisanen« (81). Mit den Flugzeugatten-
taten des 11. September ist auch dieser Fall eingetreten, so daß sich
die gegenwärtigen Kämpfe jenseits der konventionellen Begriffe
von Krieg und Partisan abspielen, wie Schmitt sie analysiert hat.
Allerdings ist mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märty-
rer inszenieren und als Gotteskrieger bezeichnen, eine Gestalt an
die Stelle des klassischen Partisanen getreten, die im Horizont der
Schmittschen Argumentation nicht aufgetaucht ist und auch nicht
auftauchen konnte. Die Kriegsschauplätze werden gegenwärtig nicht
allein von den technisch aufgerüsteten Abkömmlingen von Armeen
und Partisanen beherrscht, sondern von Souverän und Märtyrer. Die
Tatsache, daß Schmitt eine solche Entwicklung nicht ins Auge fassen
konnte, läßt sich mit dem Verschwinden aller religionshistorischen
Bezüge aus seiner politischen Theologie in der Theorie des Partisa-
nen erklären – womit auch die Möglichkeit ausfällt, den Topos des
›heiligen Krieges‹ in der Moderne zu reflektieren. Das ist um so
Souverän und Märtyrer 69
3 Zu diesem Ergebnis kommt auch Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden,
Frankfurt/M. 2000, 167. Er spricht davon, »daß Schmitt eine atheistische politisch-
theologische Tradition ad extremum führt« (170).
Souverän und Märtyrer 71
die in diesem Nachwort wiederholt wird, lautet, daß dem Staat des
JPE der »bis auf den heutigen Tag größte rationale ›Fortschritt‹ der
Menschheit in der völkerrechtlichen Lehre vom Kriege gelungen
[ist], nämlich die Unterscheidung von Feind und Verbrecher« (86).
Da Schmitt diesen Fortschritt an der Epochenschwelle zur Neuzeit
situiert, an der das Silete Theologi! ertönte, ergibt sich daraus folgen-
des Problem: »So wird ein Blick auf das Schicksal des Feindbegrif-
fes in einer folgerichtig enttheologisierten und nur noch mensch-
lichen neuen Wirklichkeit für uns unvermeidlich.« (92) Waren die
juristischen Begriffe dieser Epoche nach Schmitt »ganz vom Staat
geprägt«, so sieht er das Nachkriegseuropa an einer erneuten Epo-
chenschwelle: »Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende«,
wie er im 1963 verfaßten Vorwort zur Wiederauflage von Der Be-
griff des Politischen schreibt (Schmitt 2002, 10). Die Frage, welche
Bedeutung die Theologie an dieser Epochenschwelle des 20. Jahr-
hunderts einnimmt, bleibt in Schmitts Polemik gegen Blumenberg
eingeschlossen, ohne explizit erörtert zu werden.
Auf die Probe gestellt wird Schmitts Aktualisierungs- und Ret-
tungsversuch politischer Theologie – allgemeiner gesagt: ein Säku-
larisierungsverständnis, das von einer Überwindung und Auf he-
bung religiöser Bedeutungen in säkulare Begriffe ausgeht – durch
das Auftauchen bzw. die Wiederkehr von Figuren aus vormoder-
nen, vorsäkularen Kontexten inmitten der Moderne. Im Kontext
von Schmitts Schriften betrifft dies den Topos des ›gerechten Krie-
ges‹. Es sollte deutlich geworden sein, daß diese Konstellation von
besonderer Relevanz für die Gegenwart ist, weil der Terminus der
›Schurkenstaaten‹ ebenso wie die Feindbilder in der Propaganda
der Gegenseite die Unterscheidung zwischen Verbrecher und hostis
negieren.
Jenseits des Jus Publicum Europaeum –
zur Wiederkehr des ›gerechten Krieges‹
Das Wiederauftauchen des ›gerechten Krieg‹ spielt im letzten Ka-
pitel von Nomos der Erde, in dem Schmitt die Auflösung des JPE
und die »Frage eines neuen Nomos der Erde« diskutiert, eine si-
gnifikante Rolle. Soll die Rhetorik eines ›gerechten Krieges‹ im
Souverän und Märtyrer 73
20. Jahrhundert nicht einfach als Rückfall hinter das JPE gedeutet
werden, so ist dafür ein anderes Deutungsmodell zu entwickeln.
Auf der manifesten Textebene wird dies aus der Rolle Amerikas
abgeleitet, insofern die mit der Monroedoktrin beanspruchte neue
Raumordnung – »Amerika den Amerikanern« (1823) – ein Ende
der Raumordnung des JPE bedeutete. In diese 1950 veröffentlich-
ten Überlegungen Schmitts mischen sich aber deutlich auch Ein-
drücke aus der jüngsten Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges.
Diese kommen vor allem in der Metaphorik zum Ausdruck, etwa
in den Bildern, in denen Amerika beschrieben wird. Der Ort der
Vereinigten Staaten und ihre Rolle für das Ende des JPE werden zu
Beginn dieses Kapitels in einem nahezu poetischen Bild eingeführt:
»Der erste lange Schatten war von Westen her auf das jus publicum
Europaeum gefallen.« (Schmitt 1997, 200) Erst 65 Seiten später
folgt eine Bewertung dieses Bildes: »Was ist also, nach dieser neuen
Linie, der völkerrechtliche Status der westlichen Hemisphäre ange-
sichts einer europäischen Völkerrechtsordnung? Etwas ganz Außer-
ordentliches, Auserwähltes.« (265; zweite Hvhg. S. W.)
Wenn der Bruch des JPE durch die Entscheidung einer anderen,
außerhalb Europas stehenden souveränen Macht, eine Art Ausnah-
mezustand auf völkerrechtlicher Ebene, bei Schmitt das Bild der
Auserwähltheit evoziert, dann scheint das selbstauferlegte Schwei-
gen der Theologie auf eine schwere Probe gestellt zu sein. Denn
Schmitts Rhetorik durchbricht hier ein säkulares Deutungsmuster,
ohne daß dieser Bruch im Hinblick auf die theoretischen Konse-
quenzen reflektiert wird. Und weiter:
Es wäre, wenigstens für eine extrem folgerichtige Meinung,
noch zu wenig gesagt, wenn man Amerika als ein Asyl der
Gerechtigkeit und Tüchtigkeit bezeichnete. Vielmehr liegt
der eigentliche Sinn dieser Auserwähltheitslinie darin, daß
überhaupt erst auf amerikanischem Boden die Bedingungen
gegeben sind, die als normale Situation sinnvolle Haltungen
und »habits«, Recht und Frieden ermöglichen. (265)
Kurz nach dem Ende des Dritten Reichs und des Zweiten Welt-
kriegs formuliert, sind die antisemitischen Konnotationen dieser
74 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
4 Die Frage nach dem christlichen Erbe des Islam wird sehr kontrovers diskutiert
und kann hier nicht erörtert werden. Zur Bedeutung unterschiedlicher religionsge-
schichtlicher Spuren für die Kulturgeschichte von Märtyrerfiguren vgl. die Einlei-
tung der Verf. und die Fallbeispiele in der Sammlung von Märtyer-Porträts (Weigel
2007a).
Souverän und Märtyrer 79
auftritt, sei es als Kämpfer für den ›rechten Glauben‹ gegen jene
Verfälschungen der Idee des einen Gottes, die Mohammed den Ju-
den und den Christen vorwarf, sei es als Kämpfer um die Etablie-
rung und Ausbreitung der Lehre des Propheten. Dagegen stellt sich
der christliche Märtyrer, zumindest im Ursprung, als eine Figur des
Erleidens dar. Von gr. martys = Zeuge abgeleitet, geht der christ-
liche Märtyrer auf seine Rolle als Zeuge der Passion und Opfe-
rung Christi zurück: der Märtyrer als Zeuge des Christusgesche-
hens, der auch um den Preis von Verfolgung, Folter und Tötung
an seinem Bekenntnis festhält, womit sein Martyrium als imitatio
Christi erscheint. Weil das Blut des Märtyrers als Zeugnis seines
Glaubensbekenntnisses gilt, hat Lessing es in seiner Schrift Rettung
des Hier. Cardanus auch »ein sehr zweideutiges Ding« genannt (Les-
sing 1976, 20). Zweideutig ist das Blut des Märtyrers dadurch, daß
ihm neben dem physiologischen Status noch eine andere, transzen-
dentale Bedeutung zukommt, als Symbol der Blutzeugenschaft, die
den Körper des Märtyrers in eine andere, geheiligte Sphäre erhebt.
Wenn das Blut den Märtyrer als Blutzeugen auszeichnet, verdichtet
sich in ihm gleichsam eine sakrale Evidenz: als Zeichen einer Zeu-
genschaft der Passion. Insofern zeichnet das Blut den Märtyrer im
doppelten Sinne aus, es markiert ihn und es nobilitiert ihn.
Dementsprechend stellt sich die christliche Ikonographie des
Martyriums als grausames und erhabenes Tableau erfindungsreicher
Torturen dar. In den einschlägigen Gemälden aus dem 15. bis 17.
Jahrhundert, von Cranach und Dürer über Altdorfer, van Dyck und
de Ribera bis Tiepolo, beherrschen standhafte gefolterte Märty-
rer die Szene. Im Bild als Heilige verehrt, haben sie zuvor alle
erdenklichen Formen der körperlichen Peinigung ertragen müs-
sen – deren Repertoire der Grausamkeiten den Berichten von Mas-
sakern im jüngsten Balkankrieg nicht so fernsteht. Genau gegen
diese zweideutige Symbolik richtet sich das Diktum aus Benjamins
Kritik der Gewalt: »Denn Blut ist das Symbol des bloßen Lebens.«
(II .1/199) Das bedeutet, daß Benjamin dem Blut jede nicht-physi-
sche, symbolische Bedeutung abspricht, so wie er überhaupt, wie
noch zu zeigen sein wird, seine Kritik der Gewalt von Märtyrer
und Tyrann aus deren Doppelreferenz auf eine kreatürliche und
80 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Leben ins Zentrum und entwickeln daraus eine Arbeit an der Dia-
lektik der Säkularisierung. Dabei richtet sich Benjamins Kritik der
Gewalt vor allem gegen eine prekäre Vermischung von Begriffen
der göttlichen Gewalt mit den Begriffen des Politischen, gegen eine
Inanspruchnahme der Theologie als Mittel politischer oder recht-
licher Zwecke ebenso wie gegen eine pure Übertragung sakraler
Begriffe in profane, in denen Aspekte religiöser Gewalt in ver-
schwiegener Form fortwirken. Er geht von einer unhintergehba-
ren Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung aus,
vor deren Horizont erst die spezifischen Formen von Übertragung
und die Figuren eines – verwandelten und verschobenen – Fortle-
bens religionsgeschichtlicher Bedeutungen in säkularen Kontexten
untersucht werden können. Es soll nicht behauptet werden, daß
Benjamins Kritik der Gewalt in der Lage sei, die gegenwärtige Kon-
fliktlage vollends zu erklären; sie dringt jedoch in eine Sphäre vor,
gegen die sich die politische Theologie mit Hilfe säkularisierter
theologischer Begriffe abgedichtet hat.
3. Absehung vom Gebot
in ungeheur en Fällen
Gerechtigkeit scheint sich nicht auf den guten Willen des Sub-
jekts zu beziehen, sondern macht einen Zustand der Welt aus,
Gerechtigkeit bezeichnet die ethische Kategorie des Existen-
ten, Tugend die ethische Kategorie des Geforderten. Tugend
kann gefordert werden, Gerechtigkeit letzten Endes nur sein,
als Zustand der Welt oder als Zustand Gottes. In Gott haben
alle Tugenden die Form der Gerechtigkeit, das Beiwort all in
all-gültig, all-wissend u. a. deutet darauf hin. (Scholem 1995,
401)
Nachdem er den göttlichen, gleichsam a-humanen Charakter der
Gerechtigkeit festgestellt hat, versucht Benjamin auch hier schon,
deren Stellung zum Recht zu begreifen, und spricht von einer
»ungeheure[n] Kluft, die zwischen Recht und Gerechtigkeit dem
Wesen nach klafft«. Offenbar geht er davon aus, daß diese Kluft
in der etymologischen Verwandtschaft der deutschen Begriffe un-
kenntlich ist, denn er notiert, daß andere Sprachen diese Kluft be-
zeichnet hätten. Als Beleg stellt er dann die lateinischen Begriffe ius
und fas gegenüber, gefolgt von deren griechischer und hebräischer
Übertragung:
ius jémir [themis] tqea [mischpat, Recht]
-
fas díkh [dike] f]r [zedek, Gerechtigkeit] (402).
In der Entgegensetzung von ius und fas bezieht Benjamin sich hier
offensichtlich auf eine ältere altphilologische Deutung, die fas ein-
deutig als göttliches Recht interpretiert und dem menschlichen
Recht ius gegenübergestellt hat. Auch wenn solche Gegensätze
nicht als statische angesehen werden können, bezieht sich fas auf
die kultischen Voraussetzungen des Rechts, die zumeist eher in den
ungeschriebenen Gesetzen fortleben. Im Römischen Recht ist fas
der Name für eine Handlung, die durch kein Tabu belegt war, die
also nicht als sacer betrachtet wurde, d. h. nicht als »etwas, dem eine
unheimliche Macht innewohnt und das darum Tabu ist« (Latte
1950, 50 f.). Im Hinblick auf solche etymologischen Überlegungen
ließe sich nun streiten, ob das lateinische fas im Griechischen nicht
besser durch hosiē, was soviel wie heiliger Brauch oder göttliches
94 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
Recht heißt, übersetzt wäre als durch dikē wie bei Benjamin. Denn
im Griechischen betont hosiē offenbar den heiligen Charakter des
Rechts stärker als dikē. Doch macht der Bedeutungswandel von
dikē zwischen Mythos – Dikē als Personifikation, die der gött
lichen Sphäre angehört – und Rechtsbegriffen – Dikē als Begriff für
die Klage vor Gericht – deutlich, auf welche Weise die religiösen
Konnotationen in die Rechtsgeschichte eingegangen und darin un-
kenntlich geworden sind. – An Benjamins Notiz aus dem Jahre
1916 ist bemerkenswert, daß er mit dem Verweis auf die Sprache
indirekt auch verschiedene kulturelle Kontexte zitiert und seine
Frage nach der Beziehung zwischen Recht und Gerechtigkeit un-
merklich aus einem biblischen, monotheistischen Kontext – der
Gerechtigkeit göttlicher Gewalt – auch in einen antiken Kontext
hinüberspielt. In den Schlußpassagen seines Essays Zur Kritik der
Gewalt wird er diese Spur fünf Jahre später – nun explizit – wieder
aufnehmen. Hier weist er u. a. darauf hin, daß es die Konsequenz
ungeschriebener Gesetze ist, daß deren Übertretung nicht durch
Strafe geahndet wird, sondern durch Sühne. Denn deren Schuld-
begriff entstammt einer antiken Schicksalsvorstellung.
Im ersten Teil von Zur Kritik der Gewalt macht Benjamin die Ge-
walt zunächst am Grund des Rechts selbst aus: in der Dialektik von
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Erstere betrifft die – be-
stehendes Recht umstürzende – Setzung neuen Rechts, sei es durch
verbrecherische oder revolutionäre Gewalt, sei es durch äußere oder
innere Kriegführung erzwungen, während letztere die Gewalt als
Mittel zu Rechtszwecken bzw. die Gewalt als Mittel zu Zwecken
des Staates betrifft, die auch als »drohende« (II .1/188) bezeichnet
wird. Die Gewalt als Mittel wird in Benjamins Kritik der Gewalt
dabei zum zentralen Kriterium einer grundlegenden »Problematik
des Rechts« (190). Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt gilt Benjamins Auf-
merksamkeit dann aber gerade der strukturellen Vermischung und
dem Zusammenwirken der beiden Gewalten. – So konstatiert er für
die Todesstrafe, daß in ihrem Auftreten jene – vorgeschichtlichen –
Ursprünge der Rechtsordnung, die die Herkunft des Rechts aus der
Sphäre des Schicksals betreffen, »in das Bestehende hineinragen und
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 95
In ungeheuren Fällen
Die Einführung des Begriffs einer »reinen unmittelbaren Gewalt«
kommt also über die zweite Eingrenzung einer irgendwie anderen
Art von Gewalt ins Spiel: erstens überhaupt nicht als Mittel gefaßt,
zweitens rein. Während das Merkmal »unmittelbar« aus einer Kri-
tik des rechtstheoretischen Dogmas von berechtigten Mitteln und
gerechten Zwecken gewonnen wurde, wird das Merkmal »rein« als
Gegensatz zur mythischen Gewalt eingeführt. Die Grundlage des
Gegensatzes mythisch – rein bildet aber das Verhältnis von mythischer
und göttlicher Gewalt, denn das Urbild der reinen Gewalt entdeckt
Benjamin in der göttlichen Gewalt: dort die mythische Gewalt, die er
als rechtsetzend, grenzsetzend, verschuldend und sühnend zugleich,
als drohend und blutig bezeichnet; hier die göttliche reine Gewalt, die
er als rechtsvernichtend, als grenzenlos vernichtend, entsühnend,
schlagend und auf unblutige Weise letal beschreibt (199).
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 101
Benjamin geht hier also davon aus, daß in der Rechtsordnung eine
archaische Beziehung der Menschen zu den Göttern nachlebt. Im
Begriff des Schicksals verdichtet sich die daraus stammende Vorstel-
lung einer verschuldeten Person.
Die »göttliche Gewalt« dagegen folgt einer anderen Zeit- bzw.
Geschichtskonzeption, die er als Gegenwärtigkeit kennzeichnet:
»Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse
Überlieferung allein, vielmehr findet sie mindestens in einer ge-
heiligten Manifestation sich auch im gegenwärtigen Leben vor.« (200;
Hvhg. S. W.) Diese Vorstellung erinnert an die Gottesunmittelbar-
keit eines jeden Tages, wie Gershom Scholem sie in seinem Auf-
satz Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum beschreiben
wird (Scholem 1986). Dabei betont Benjamin die Ungleichzeitig-
keit zwischen der Sprache des Gebots auf der einen Seite und den
Kriterien von Rechtsurteilen oder Verurteilungen von Menschen
durch Menschen andererseits.
Hinsichtlich des anderen zitierten Theorems, des »Dogmas von
der Heiligkeit des Lebens« (202), widerspricht Benjamin der Vor-
stellung, daß das bloße Leben höher stehe als »Glück und Gerech-
tigkeit eines Daseins«, eine Vorstellung, mit der das kreatürliche,
natürliche Leben bzw. sein leiblicher Aggregatzustand als heilig
bewertet oder heiliggesprochen wird. Dagegen Benjamin: »Der
Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Le-
ben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie
mit irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften, ja
nicht einmal mit der Einzigkeit seiner leiblichen Person.« Damit
faßt er das bloße Leben als einen Zustand des Menschen, nicht aber
als »Dasein an sich«, wie in Kurt Hillers Anti-Kain, gegen den Ben-
jamin hier argumentiert. Ein Absatz aus dem Anti-Kain steht dabei
für jene Denker, die auf den Satz von der Heiligkeit des bloßen
Lebens zurückgehen:
Ihre Argumentation sieht in einem extremen Fall, der auf die
revolutionäre Tötung der Unterdrücker exemplifiziert, fol-
gendermaßen aus: »töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr
das Weltreich der Gerechtigkeit … so denkt der geistige Ter-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 105
rorist … Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und
Gerechtigkeit eines Daseins … Dasein an sich steht« (201).
Genau dieses Postulat weist Benjamin zurück, mit der Gewißheit,
daß es »falsch, sogar unedel« sei, und kommt dabei noch einmal auf
das Gebot zu sprechen, mit der Verpflichtung, »nicht länger den
Grund des Gebotes in dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten,
sondern in dem, was sie an Gott und am Täter selbst tut«. Die Un-
antastbarkeit des Menschenlebens begründet sich für Benjamin so
gerade nicht aus dem bloßen natürlichen Leben, sondern aus einer
Teilhabe des Menschen an einem Leben, das mehr ist als das bloße,
natürliche Leben. Die Vorstellung von diesem anderen Lebensbe-
griff entspringt u. a. der biblischen Schöpfungsidee, nach der Gott
die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.
Diese Doppelreferenz des Lebensbegriffs auf das natürliche und
das übernatürliche Leben wird Benjamin wenig später in seinem
Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften ausführlich erörtern. Doch
schon im Zusammenhang einer Kritik des Dogmas von der Hei-
ligkeit des bloßen Lebens zählt er den Begriff des ›Lebens‹ zu je-
nen Worten, deren Doppelsinn sich aus ihrer Beziehung zu je zwei
Sphären erhellt. Richtig würde die Feststellung, daß das Dasein an
sich höher steht, erst, »wenn Dasein (oder besser Leben) – Worte,
deren Doppelsinn durchaus dem des Wortes Frieden analog aus ihrer
Beziehung auf je zwei Sphären aufzulösen ist – den unverrückbaren
Aggregatzustand von ›Mensch‹ bedeuten« (201; Hvhg. S. W.). Die
Anführungszeichen bedeuten, daß Benjamin hier über den Begriff
des Menschen spricht, von dem das natürliche Leben nur einen
Zustand bezeichnet. Nur dem Menschen in diesem umfassenden
Sinne kommt das Attribut des Heiligen zu: »So heilig der Mensch
ist (oder auch dasjenige Leben in ihm, welches identisch in Erden-
leben, Tod und Fortleben liegt), so wenig sind es seine Zustände,
so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches
Leben.« Diese Art Doppelreferenz des Lebens- und Menschenbe-
griffs meint etwas gänzlich anderes als das Doppelwesen im Leib-
Seele-Paradigma. Es geht vielmehr darum, daß dem Begriff eine
zweifache Bezugnahme eingeschrieben ist, wobei jene Dimension
106 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht
des Lebens, die über das Kreatürliche hinausweist, sich letztlich bi-
blischen Vorstellungen verdankt.
Erst der historische Verlust des Heiligen habe das Dogma von
der – kosmischen – Heiligkeit des natürlichen Lebens hervorbrin-
gen können, so Benjamin. Er bewertet dieses Dogma damit als
Effekt der Säkularisierung und kritisiert es als Rückübertragung
verlorengegangener sakraler Momente auf die Naturgesetze. Was
einer kultischen Welt entstammt, wird nach deren Verlust als Na-
tur reformuliert. Insofern bezeichnet Benjamin das Dogma auch
als »letzte Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition«,
um »den Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch Undurchdring-
lichen zu suchen«. Und weiter: »Zuletzt gibt es zu denken, daß, was
hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach
der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Leben.«
(202) – Es ist also kein Zufall, daß Benjamins Text, der genau jenes
Theorem von der ›Heiligkeit des bloßen Lebens‹ verwirft, welches
Agamben zum Ausgangspunkt seines Homo sacer genommen hat,
zugleich auch eine Kritik der Gewalt entwickelt, die mit der Ab-
sehung vom Gebot eine Figur einführt, die auf die Dialektik der
Säkularisierung antwortet – jenseits einer politischen Theologie des
Ausnahmezustands, in der die theologische Herkunft der säkulari-
sierten staatsrechtlichen Begriffe aufgehoben ist.
»Nicht also dies nazarenische Wesen, sondern das Symbol des über
die Liebenden herabfahrenden Sterns ist die gemäße Ausdrucks-
form dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke
einwohnt.« (I .1/200; Hvhg. S. W.) In der letzten Passage seines
Wahlverwandtschaften-Essays, der in zwei Folgen 1924 und 1925 in
den Neuen Deutschen Beiträgen erschien, formuliert Benjamin mit
dieser Entgegensetzung von nazarenischem Wesen und herabfah-
rendem Stern einen gewichtigen Einspruch gegenüber Goethes
Roman, den er ansonsten als geradezu ideale Vorlage für die Erör-
terung einer Reihe von Themen und Motiven nutzt, die ihm am
Herzen lagen und die er schon in einigen seiner vorausgegangenen
Essays untersucht hatte, wie etwa den Begriff der Kritik, wie die
Konzepte von Mythos, Schicksal und Charakter, von Hoffnung,
Erlösung und Offenbarung, wie den Zusammenhang von natür-
lichem und übernatürlichem Leben. Während sein Goethe-Essay
sich ansonsten einer Wertung des Romans enthält und statt des-
sen an seiner Lektüre grundlegende kunstphilosophische Über-
legungen zur Dichtung entwickelt, verwirft Benjamin mit dem
deutigen Art und Weise zum Ausdruck gebracht und sich auch klar
zu unterschiedlichen Jenseitskonzepten geäußert. Das Jenseits ist für
ihn allein Ort der Erlösung, nicht aber der Wiederauferstehung.
Und indem er ausdrücklich betont, daß die Hoffnung sich nicht
auf die eigene Erlösung bezieht, wird der Messianismus von ihm
nicht als Glaubenssache behandelt – Glauben bezeichnet die Ein-
stellung eines Subjekts gegenüber einer Religion, ursprünglich das
Bekenntnis zu ihr, confessio. Das Messianische ist für ihn ein kul-
turgeschichtliches Phänomen, das der Haltung der Gemeinschaft
gegenüber den Toten entspringt.
Das bedeutet nicht, daß es für ihn keine irdische Hoffnung gibt.
Tatsächlich bildet ja die Hoffnung den Fluchtpunkt des Essays,
wie auch die Disposition in Benjamins Aufzeichnungen zur Ar-
beit am Text belegt. Im Triptychon des Essays – Das Mythische
als Thesis, Die Erlösung als Antithesis, Die Hoffnung als Synthesis
(I .3/835–837) – bildet die Hoffnung den Endpunkt einer dialek-
tischen Komposition. Ihr Ort ist die Literatur. »Denn unter dem
Symbol des Sterns war einst Goethe die Hoffnung erschienen, die
er für die Liebenden fassen mußte.« (I .1/199) So wie wir Hoffnung
für die Toten hegen, so verhält sich der Erzähler zu seinen Figuren,
wie Benjamin an dem eingangs zitierten Symbol des herabfahren-
den Sterns in den Wahlverwandtschaften erläutert:
»Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über
ihre Häupter weg«. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht
deutlicher konnte gesagt werden, daß die letzte Hoffnung nie-
mals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die
sie gehegt wird. Damit tritt denn der innerste Grund für die
»Haltung des Erzählers« zutage. Er allein ist’s, der im Gefühle
der Hoffnung den Sinn des Geschehens erfüllen kann.
Als Haltung des Erzählers betrachtet, betrifft diese Hoffnung nicht
das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, in der sich der
»Sinn des Geschehens erfüllen kann«. Insofern ist sie nicht Teil des
Dargestellten, sondern ein Moment der Darstellung selbst – oder
ein Moment des Kunstwerks. Diese Art ›letzter Hoffnung‹, deren
Erscheinung sich gleichzeitig mit dem ›Gesiegelten Ende‹ ereignet,
Die Dichtung als Einbruchstelle 117
läßt sich nicht in einem Bild – wie dem eines dereinstigen Erwa-
chens aus dem Tode – festhalten und stillstellen. Als »paradoxeste,
flüchtigste Hoffnung« sperrt sie sich der Übertragung in eine posi-
tive Vorstellung oder in die Sprache rhetorischer Konvention.
Damit stellt Benjamin die Haltung des Erzählers in eine Nähe
zur messianischen Hoffnung, ohne sie doch damit gleichzusetzen.
Nicht auf Erlösung, sondern auf Erfüllung des Sinns des Roman-
geschehens ist die Hoffnung des Erzählers ausgerichtet. Darüber
hinaus wird diese literarische Version der Hoffnung nicht als eine
beschrieben, die das Romangeschehen durchzieht oder es trägt;
vielmehr taucht sie, wie Benjamin schreibt, nur flüchtig auf, im
selben Moment, in dem der »Schein der Versöhnung« erlischt.
Wenn er den »Schein der Versöhnung« dann als »Haus der äußer-
sten Hoffnung« bezeichnet, konzipiert er beider Wechselbeziehung
analog zum Verhältnis von Nicht-Mitteilbarem und Mitteilbarem
(im Sprachaufsatz 1916) bzw. von Mimetischem und Semiotischem
in der Sprache (Lehre vom Ähnlichen, 1933): »Jene pardoxeste, flüch-
tigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung.« –
Eine solche Konstellation wird in dem Wahlverwandtschaften-Essay
an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Bildern umschrie-
ben. In der Schlußpassage reflektiert Benjamin sie im Hinblick auf
den Begriff des Mysteriums, genauer hinsichtlich »dessen, was vom
Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt« (200; Hvhg.
S. W.). Wird das Werk hier als Aufenthaltsort nicht für das My-
sterium, sondern für etwas von ihm beschrieben, dann verdichtet
sich genau dieses ›etwas‹ im Bild des über die Liebenden herab-
fahrenden Sterns. Benjamin versteht das Bild als Symbol, als Aus-
druck für das Mysterium im Werk, und zugleich als eine Zäsur
des Werks: »Jener Satz, der, mit Hölderlin zu reden, die Cäsur des
Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende be-
siegeln, alles inne hält.« An einer anderen Stelle wird diese kom-
plexe Konstellation in der bündigeren, aber vieldeutigeren Wen-
dung, »daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt«,
zum Ausdruck gebracht (182). Dieses kleingeschriebene jenseits ist
dabei nicht mit der christlichen Jenseitsvorstellung zu verwech-
seln, in der dasjenige, was außerhalb der Autorität des Dichters
118 Etwas jenseits des Dichters
stes« (II .1/153), hervor, in der die paradiesische Sprache ihrer ma-
gischen Momente verlustig geht und die Sprache sich statt dessen
in ein Zeichensystem verwandelt, so ist Sprache nun »nicht allein
Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-
Mitteilbaren« (156). Diese Funktion der Sprache als Symbol eines
in Worten nicht Faßbaren wird in Goethes Wahlverwandtschaften sehr
plastisch als ein Ereignis beschrieben, das die Worte selbst betrifft.
Denn wenn es jetzt heißt, »daß etwas jenseits des Dichters der
Dichtung ins Wort fällt«, dann wird dieses ›ins Wort fallen‹ als ein
Ereignis beschrieben, das als Zäsur bzw. gegenrhythmische Unter
brechung erscheint und einer Eruption durchaus nahe ist. Die-
selbe Wendung ›ins-Wort-fallen‹ benutzt Benjamin kurz vor der
Formulierung, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins
Wort fällt, im Hinblick auf das Ausdruckslose, das der Harmonie
ins Wort falle und dem Schein Einhalt gebiete. Das Ausdruckslose
zwingt, so Benjamin, »die zitternde Harmonie einzuhalten und
verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben« (181). – Wenn dieses
jenseits in Goethes Wahlverwandtschaften überwiegend auf eine höhe-
re oder göttliche Sphäre verweist, so bildet diese Konstellation, die
Einbruchstelle eines anderen Wissens, gerade auch in ihrer Bild-
lichkeit, doch auch eine Voraussetzung dafür, daß Benjamin sie in
späteren Arbeiten mit der Sprache des Unbewußten in Verbindung
bringen wird, wie Freud sie in der Psychoanalyse konzipiert hat.7
Das setzt allerdings ein Verständnis der Psychoanalyse und einen
Umgang mit der Sprache des Unbewußten voraus, dem es nicht
um die Enthüllung einer ›Wahrheit‹, sondern um die spezifische
Weise eines anderen Sichtbarwerdens geht. Auch die Sprache des
Unbewußten weist eine Art virtueller Formulierung einer ›Wahr-
heit‹ auf, die nicht in eine ideale Problemformulierung aufgelöst
oder übersetzt werden kann.
8 Als Prototyp dafür wäre Barnett Newman zu nennen, der mit seinem program-
matischen Text The Sublime is Now (1948) eine Renaissance des Erhabenen einleitete
und in seine eigenen Bilder recht unterschiedslos christliche, jüdische und indiani-
sche Religionsmotive integriert. Vgl. Newman 1990; vgl. auch Herrmann u. a.
1998.
Die Dichtung als Einbruchstelle 125
zieht sich eine strikte Grenzlinie durch Benjamins Essay, mit der
die Begriffe des Kunstdiskurses von solchen Begriffen unterschie-
den werden, die einem anderen, göttlichen Bedeutungssystem an-
gehören. Während seine kritischen Reflexionen zum Mythos, die
eine Art Leitmotiv insbesondere des ersten Teils darstellen, in der
Rezeption viel Beachtung gefunden haben, ist diese Arbeit an der
Sprache, die als Reflexion der Begriffe eine für Benjamins Denken
grundlegende, strukturbildende Rolle im Essay spielt, bisher weit-
gehend überlesen worden. Sie soll im folgenden in einigen ihrer
Stationen nachgezeichnet werden.
Aufgabe vs. Forderungen – »Dichtung im eigentlich Sinn« kann
für Benjamin erst dort entstehen, wo das Wort sich vom Banne der
Aufgabe frei macht. Die Kritik an einer Verwechslung von Dich-
tung mit einer göttlichen Sendung richtet sich hier gegen den Dich-
ter in der Rhetorik der George-Schule.
Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe
von ihr [der George-Schule – S. W.] zugesprochen und somit
sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen
dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen,
und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen
Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Auf-
gabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist. (158 f.;
Hvhg. S. W.)
Diese radikale Verwerfung einer Aufgabe in der Kunst richtet sich
gegen die Legitimierung von Dichtung aus einer ihr fremden, wie
auch immer gearteten und bezeichneten Instanz. Aus der Befrei-
ung der Sprache aus einer Aufgabenbestimmung erst entspringt
für Benjamin das »wahre Kunstwerk«. Mit dem Hinweis darauf,
von Gott kämen einzig Forderungen, nicht Aufgaben, wird zu-
gleich eine Profanierung kritisiert, die die göttliche Instanz zu einer
Art Auftraggeber macht und damit die unhintergehbare Differenz
Gott – Mensch einebnet, ohne die die göttlichen Begriffe ihren
Sinn verlieren.
Geschöpf vs. Gebilde – Daß er in der zeitgenössischen »heroisie-
renden Ansicht vom Dichter« eine Fortschreibung jener Hybris
126 Etwas jenseits des Dichters
wer was oder wen zu opfern bereit sei. So ist in den Gesprächen
zwischen Eduard und Charlotte über ihre Lebensgestaltung leit-
motivisch davon die Rede, ob man etwas »aufopfern« müsse oder
könne. Daß dieser profanierte Sprachgebrauch die Begleiterschei-
nung einer viel weiter reichenden Kultvergessenheit der aufgeklär-
ten, säkularen Gesellschaft darstellt, die die Herkunft ihrer Kultur
aus dem Kult überwunden zu haben glaubt oder verdrängt hat,
wird in der berühmten Friedhofsszene des Romans erkennbar. Als
das Paar, das mit der Anlage eines Landschaftsgartens beschäftigt ist,
gemeinsam den Weg über den alten Kirchhof nimmt, bewundert
Eduard, ohne daß er das Sakrileg, das sich ihm darbietet, auch nur
bemerkt, wie Charlotte hier »mit möglichster Schonung der alten
Denkmäler« einen angenehmen Raum geschaffen habe: »Auch dem
ältesten Stein hatte sie eine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren
sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der
hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und ge-
ziert.« (Goethe 1996, 23 f.)
In dieser knappen Beschreibung verdichtet sich ein radika-
ler Bruch mit den Überlieferungen. Die Umgruppierung der al-
ten Grabsteine, die Charlotte vorgenommen hat, verwandelt eine
Stätte des Totenkults in einen Bestandteil des Landschaftsgartens,
in dessen Gestaltung sich die zeitgenössische Ordnung der Din-
ge spiegelt: eine Harmonie von Wissen und Schönheit, in der die
chronologische Anordnung der Steine nach ihrem Alter mit ih-
rer Funktion als Zierde übereinstimmt. Goethes Bemerkung, daß
Eduard den Pfad über den Kirchhof sonst zu vermeiden pflegte, ist
ein Hinweis auf das Tabu, das den Ort umgibt. Weil die Herkunft
des Tabus aus dem Verbot, die Ruhe der Toten zu stören, verges-
sen wurde, ist von ihm nur mehr das Gefühl einer unbestimmten
Furcht geblieben. Darum ist es kein Wunder, daß die solcherma-
ßen über die Grundlagen ihrer eigenen aufgeklärten Kultur un-
aufgeklärten Protagonisten von der verdrängten religiösen Gewalt
eingeholt werden, die jenen Dingen und Worten innewohnt, von
denen sie einen profanierten Gebrauch machen.
So kommt mit dem Experiment, das sie mit der Naturlehre und
der Anwendung des chemischen Gesetzes der Wahlverwandtschaf-
130 Etwas jenseits des Dichters
ten auf sich selbst machen, eine tödliche Dynamik in Gang, die
der Gleichsetzung von Naturelementen und menschlicher Natur,
d. h. deren Reduktion auf das bloße, natürliche Leben, innewohnt.
Das geschieht zunächst durch den Tod von Charlottes Sohn, der
im Wasser umkommt, das sich auf diese Weise, anders als in der
Lehre von den chemischen Elementen, als unbeherrschbares Ele-
ment zeigt. Die Art, wie sein ›Opfer‹ von den Protagonisten ge-
deutet wird, bleibt in der Schwebe zwischen einem durch das
Experiment (selbst-)verschuldetem Tod, dem ersten »Opfer eines
ahnungsvollen Verhängnisses« (346), einerseits und ›nötigem‹ Opfer
»zu ihrem allseitigen Glück« (342), d. h. einem Opfer, mit dem eine
neue Ordnung gestiftet werden könne, andererseits. Doch mit dem
nachfolgenden Tod Ottilies verschafft sich die in der aufgeklärten
Opferrhetorik verkannte religiöse Gewalt des sacrificium Geltung:
indem Ottilie sich, von den anderen unbemerkt, in Askese aufzehrt
und als Märtyrerin stirbt. Ottilie, die als Verkörperung der Schön-
heit und als eine Art lebendes Bild den Schauplatz des Roman
geschehens betreten hatte, ist damit endgültig zum Bild gewor-
den – und zwar zu jenem Bild, dessen Herkunft aus dem Totenkult
ebenso verdrängt ist wie die Profanierung des Opfers in der bür-
gerlichen Verzichtsethik.
Analog zu Eduards unreflektierter Furcht vor dem Friedhof
empfindet Charlotte nämlich eine ebenso unbestimmte Abnei-
gung gegen Porträtbilder, zumal gegen den Anspruch, diese mögen
das »schönste Denkmal« eines Menschen sein, um dessen »lebende
Form zu erhalten«. Dabei thematisiert sie, gleichsam ahnungslos,
den Zusammenhang von Bilderkult und Totenkult. Sie wider-
spricht nämlich der Idee, daß das Bild eines Menschen sein Denk-
mal bezeichne, was im damaligen Sprachgebrauch soviel heißt wie
»die eigentliche Grabstätte«, um daran anschließend ihre »wunder-
liche Abneigung gegen Bildnisse« damit zu erklären, daß diese im-
mer auf etwas »Abgeschiedenes« deuten (193 f.). Die Abbilder von
Verstorbenen als deren sichtbare Stellvertreter, das benennt einen
der Ursprünge der abendländischen Bildkultur. Mit diesen Bildern
wird die Ruhestätte der Toten als Kultstätte gekennzeichnet, die
damit für die Äußerungen des Lebens tabuisiert ist. Insofern sind
Die Dichtung als Einbruchstelle 131
die lebenden Bilder, mit denen die Gesellschaft sich im Roman die
Zeit vertreibt, gefährliche Unternehmungen, sind es doch Nach-
ahmungen von Denkmälern im ursprünglichen Sinne: Bilder als
Stellvertreter von Toten.
Dabei charakterisiert Goethe die Gesellschaft der Wahlverwandt-
schaften in ihrem Umgang mit Bildern in doppelter Weise. Im ge-
nau entgegengesetzten Verhältnis zur Entweihung der Grabsteine
steht der nahezu weihevolle Umgang mit den Überresten der Ver-
gangenheit, die gesammelt, geordnet, wiederhergestellt werden.
Derart verwandeln sie sich in Objekte für die Einbildungskraft, um
sich in »die ältere Zeit« zu versenken. Die Gesellschaft der Wahl-
verwandtschaften frönt so einem Bilderkult, der die Überreste und
alten Abbildungen, Reliquien gleich, verehrt: »Das Gemeinste,
was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine
gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.«
(198 f.) So hat der Kult um die Schönheit und die Bildnisse den Zu-
sammenhang zwischen Totenkult und Bild verdrängt und vergessen
gemacht, während er doch zugleich den Kultwert der Bilder beerbt
hat. Die allmähliche Angleichung der Ottilie ans Bild läßt die inne-
wohnende Dynamik zutage treten, in der Opfer und Sakralisierung
zusammenwirken: in der Figur der Märtyrerin als Heiliger. Indem
Goethes Roman davon erzählt, wie mit der Profanierung der To-
tenstätte und des Opferbegriffs eine Sakralisierung der Bilder und
eine Betrachtung der Überreste des Vergangenen als Reliquien ein-
hergeht, reflektiert er eine signifikante Logik in der Dialektik der
Säkularisierung. In ihr wirken die Elemente der Märtyrerkultur in
der Aufklärung – unbemerkt – fort, und ihre Verkennung in einer
scheinbar profanen Kultur setzt eine Wiederkehr des Verdrängten
in Gang.
det. Die »schicksalhafte Art des Daseins«, der das Goethesche Per-
sonal verhaftet bleibt, wird für ihn in den Wahlverwandtschaften als
Vorstellungswelt erkennbar, in der das Leben als »Zusammenhang
von Schuld und Sühne« begriffen wird. In ihm erscheint Ottilies
Tod als eine Art mythisches Opfer. Dabei führt die Leugnung einer
Bindung des natürlichen Lebens an ein höheres/übernatürliches
zur Entfaltung eines »verschuldeten Leben[s]«, zu einer Vorstellung
von »Schuld, die am Leben sich forterbt« (I .1/138). Insofern ist es
gerade das bloße Leben, bar jedes übernatürlichen Anspruchs, das zur
Schuld wird: »Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im
Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne daß es im Handeln
gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband
des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet.«
(139) Diese Überlegungen zum »Schuldzusammenhang von Le-
bendigem« (138) korrespondieren mit den Ausführungen über die
Befangenheit der »Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens« im
Mythos und mit der Verwerfung des »Dogmas von der Heiligkeit
des Lebens« im Essay Zur Kritik der Gewalt, der ein Jahr vor der Fer-
tigstellung von Goethes Wahlverwand