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Unhintergehbare Differenzen wie die zwischen Recht und Ge-


rechtigkeit, Klage und Anklage, Kreatur und Gesetz, Schöpfung
und Weltgericht erhellen sich bei Benjamin aus der gleichzeitigen
Entfernung von und Orientierung an Begriffen der Offenbarung.
Daraus wird auch die Nähe seines Bilddenkens, Grundlage seiner
Kunst-, Medien- und Kulturtheorie, zu Aby Warburgs Figur des
»Nachleben« plausibel.

Sigrid Weigel, geb. 1950, ist Direktorin des Zentrums für Litera-
tur- und Kulturforschung in Berlin sowie Professorin am Institut
für Literaturwissenschaft an der dortigen Technischen Universität.
Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt »Genea-Logik. Generation,
Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaf-
ten« (München 2006) und »Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blut-
zeugen und Heiligen Kriegern« (München 2007).

Unsere Adressen im Internet: www.fischerverlage.de


www.hochschule.fischerverlage.de
 Sigrid Weigel

Walter Benjamin
Die Kreatur, das Heilige,
die Bilder

Fischer Taschenbuch Verlag


Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag,
einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH,
Frankfurt am Main, September 2008
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2008
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen
Printed in Germany
isbn 978-3-596-18018-9
In Erinnerung an Stéphane Mosès
(1931–2007)
Inhalt

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

AUF DER SCHWELLE


VON SCHÖPFUNG UND WELTGERICHT  . 25

1. Die Kreatur und das Heilige


Benjamins Umgang mit der Säkularisierung  . . . . . . . . 27

2. Souverän und Märtyrer


Das Dilemma politischer Theologie
angesichts der Wiederkehr der Religion  . . . . . . . . . . . 57

3. Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen


Kritik der Gewalt jenseits von Rechtstheorie und
›Ausnahmezustand‹  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88

ETWAS JENSEITS DES DICHTERS, DAS DER


DICHTUNG INS WORT FÄLLT . . . . . . . . . . . 111

4. Die Dichtung als Einbruchstelle


Zur Dialektik von göttlicher und menschlicher
Ordnung in Goethes Wahlverwandtschaften  . . . . . . . . . . . 113
8 Inhalt

  5. Biblische Pathosformeln und irdische Hölle


Brecht als Gegenpol zu Benjamins Umgang
mit der ›Heiligen Schrift‹  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

  6. Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott


Benjamins Kafka-Lektüre als Kritik
an christlichen und jüdischen Theologumena  . . . . . . . 170

AUS DER MITTE SEINER BILDERWELT  . . . 211

  7. Übersetzung als vorläufiger Umgang


mit der Fremdheit der Sprache
Vom Verschwinden des Bilddenkens
in Übersetzungen Benjaminscher Schriften  . . . . . . . . . 213

  8. Bildwissenschaft aus dem Geiste wahrer Philologie


Zur Odyssee des Trauerspielbuchs
in der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg   . 228

  9. Die unbekannten Meisterwerke


in Benjamins Bildergalerie
Zur Bedeutung der Kunst
für Benjamins Epistemologie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

10. Detail, photographische


und kinematographische Bilder
Zur Bedeutung der Mediengeschichte
für Benjamins Kulturtheorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Bibliographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Bildnachweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
Danksagung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
Vorwort

Das Heilige, das Leben und die Kreatur


Ein Brief Benjamins, den er im Juni 1938 aus Paris an Scholem in
Jerusalem sandte, enthält eine Bemerkung, die eine grundlegende
Klärung seiner Haltung zum Heiligen erlaubt. Sie kommt in Gestalt
einer rhetorischen Frage daher, so als sei es eigentlich überflüssig,
darüber ein Wort zu verlieren: »Ist es nötig, anzumerken, daß Hei-
ligkeit eine dem Leben vorbehaltene Ordnung ist, der das Schaffen
unter gar keinen Umständen zugehört? und bedarf es des Hinwei-
ses darauf, daß das Prädikat der Heiligkeit außerhalb einer tradi-
tionell begründeten Religionsverfassung einfach eine belletristische
Floskel ist?« (6/106; Hvhg. S. W.) Diese en passant geäußerte Unter-
scheidung wirft Licht auf ein möglicherweise prinzipielles Mißver-
ständnis in der Auseinandersetzung mit Benjamin, wie es in nicht
geringen Teilen der Rezeption seiner Schriften anzutreffen ist.
Die Dimension des Sakralen in seiner Theorie wurde über
Jahrzehnte vor allem im Hinblick auf seinen Umgang mit Schrift,
Literatur und Bildern diskutiert. Erst in jüngster Zeit ist die Be-
deutung des Heiligen für seinen Lebens-Begriff ins Zentrum der
Aufmerksamkeit getreten, dies insbesondere im Zusammenhang
der Wiederentdeckung des Konzepts des bloßen bzw. natürlichen
Lebens in dem Essay Zur Kritik der Gewalt. Obwohl dieser Begriff,
von dem Agambens Homo sacer seinen Ausgang nimmt, auf Benja-
min zurückgeht und in dessen Schriften tatsächlich, weit über den
Gewalt-Essay hinaus, eine zentrale Rolle spielt, scheint die aktuelle
10 Vorwort

Debatte die Bedeutung des Benjaminschen Begriffs weitgehend zu


verfehlen. Denn ihm ging es gerade nicht um die Heiligkeit des
Lebens, im Gegenteil; denn er bewertet das »Dogma von der Hei-
ligkeit des bloßen Lebens« als »letzte Verirrung der geschwächten
abendländischen Tradition«; er sieht darin eine Reaktion auf den
Verlust des Heiligen und deutet die Vorstellung, daß das bloße Le-
ben heilig sei, als einen mythischen Ersatz, der dem »kosmologisch
Undurchdringlichen« entstammt (II .1/202). Im Gegensatz zu die-
sem Dogma bedeutet seine Feststellung, die Heiligkeit sei eine dem
Leben vorbehaltene Ordnung, daß der Begriff des Lebens gerade
mit jener Dimension, die über das bloße natürliche Leben hinausgeht,
auf die Ordnung des Heiligen verwiesen ist. Erst durch eine Be-
zugnahme auf die heilige Ordnung wächst dem Begriff des Lebens
eine Bedeutung zu, durch die es mehr ist als das bloße Leben. Diese
über-natürliche Dimension des Lebensbegriffs geht auf die biblische
Vorstellung des menschlichen Lebens als Teil der göttlichen Schöp-
fung zurück und erhält ihre besonderen Konturen durch die dieser
Überlieferung innewohnende Vorstellung einer Gottebenbildlich-
keit des Menschen – und das selbst dort und dann noch, wenn
dieses ›Mehr-als-das-natürliche-Leben‹ in andere philosophische
oder ethische Vorstellungen transformiert worden ist, nachdem
die Bibel ihren Autoritäts- und Geltungsanspruch eingebüßt hat
(Kap. 3). Ganz anders das menschliche Schaffen, das grundsätzlich
unterschieden ist von der Schöpfung: Seine Ergebnisse oder Pro-
dukte sind Artefakte oder, wie Benjamin sagt, Gebilde.
Als Teil der Schöpfung selbst ein Geschöpf, hat der Mensch hin-
gegen Teil an der Welt der Kreaturen – jedenfalls so lange, wie er
sich im Schöpfungsstande befindet. Der Begriff, das Selbstverständ-
nis und die Deutung des Menschen als Kreatur spielen in den von
Benjamin untersuchten Vorstellungen, Texten und Bildern aus Ba-
rock und Moderne eine leitmotivische Rolle. In seinen Kommenta-
ren dazu deutet er den Begriff der Kreatur als Ausdruck und Anzei-
chen einer »widerhistorischen« Haltung: nicht einer a-historischen,
sondern einer der Historie gegenläufigen Haltung. Sie folgt dem
Wunsch, in den Schöpfungsstand zurückzukehren, und führt dazu,
daß Geschichte in eine Art Naturzustand rückverwandelt wird. Der
Vorwort 11

Begriff der Kreatur ist für ihn insofern Symptom einer Verwechs-
lung des Schöpfungs- mit dem Naturzustand (Kap. 1).
Seine Bemerkung zum Prädikat der Heiligkeit als belletristi-
scher Floskel bedeutet allerdings nicht, daß ihm das Heilige für die
Dichtung unwichtig wäre, im Gegenteil. Benjamins Kritik richtet
sich gegen Kunstprogramme, die das dichterische Schaffen heilig-
sprechen und dem Dichter damit gleichsam ein göttliches Mandat
zuschreiben. Dagegen sieht er den Dichter eher als Nachfahren
von kultischen Praktiken, die in der Geschichte – verstanden als
Entfernung von der Schöpfung – verlorengegangen sind, betrach-
tet er die Dichtung eher als Asyl für Anliegen, die der Theologie
entglitten sind. Das hat weniger mit dem Dichter zu tun als mit der
Sprache, da jede Sprache in irgendeiner Weise in der Nachfolge der
biblischen Sprache, des Mediums der Offenbarung, steht – wenn
auch meist im Modus von Abfall, Übersetzung und Konventio-
nalisierung, von Abstand und Entstellung. Denn der Abstand von
der Schöpfung, an der auch die Sprache in der Geschichte teil-
hat, wird von Benjamin als strukturelle Differenz zur Offenbarung
behandelt. Wenn jedoch der poetische Umgang mit Sprache an
die Heiligung des Namens erinnert, weil die Worte ›beim Namen
genommen‹ werden, dann wird die Dichtung zu einer Einbruch-
stelle für Bedeutungen, die einer höheren Ordnung entstammen.
Sie wird jedoch niemals mit dieser identisch und auch niemals zu
ihrem profanen Substitut (Kap. 4).
Benjamins Anerkennung der Tatsache, daß nicht wenige, insbe-
sondere die gewichtigsten Begriffe des europäischen Denkens – wie
etwa Leben, Mensch, Gerechtigkeit – der biblischen Überlieferung
entstammen, sowie die Konsequenzen, die diese Anerkennung für
seine Theoriebildung, für den Umgang mit Sprache und Geschich-
te, mit Dichtung und Kunst hat, stehen im Zentrum dieses Bu-
ches. Benjamins rhetorische Frage erheischt heute eine eindeutige
Antwort: Es ist nötig. Angesichts der Tatsache, daß er die Bemer-
kung zum Heiligen als eigentlich überflüssig bewertet hat, ist es
erstaunlich, wie schwer sich die Benjamin-Rezeption mit seiner
Auseinandersetzung mit Theologie, Religion und dem Heiligen
tut (Kap. 1). Denn in dieser Hinsicht läßt sich eine strukturbil-
12 Vorwort

dende Konfiguration beobachten, die seine Schriften, insbesondere


seinen Umgang mit Begriffen – mal sichtbarer, mal verschwiege-
ner – durchzieht. Deren Matrix besteht in der unhintergehbaren
Unterscheidung zwischen der Welt der Schöpfung dort und der Welt
der Historie hier; ihr kommt eine grundlegende epistemische Rolle
in Benjamins Schriften zu. Sie stellt buchstäblich den Grund sei-
nes Denkens dar: »Geschichte wird zugleich mit Bedeutung in der
Menschensprache.« (II .1/139) Einen ersten sprachlichen Ausdruck
hat diese epistemische Figur im frühen Sprachaufsatz im Bild vom
Sündenfall des Sprachgeistes gefunden. Aus der biblischen Szene von
der Vertreibung aus dem Paradies hat Benjamin die grundlegende
epistemische Unterscheidung für sein Denken und Schreiben geformt.
Durch die Gleichursprünglichkeit von Historie und Zeichen findet
menschliches Agieren und Sprechen strukturell, d. h. immer schon
im Abstand von Schöpfung und Offenbarung statt. Insofern befin-
det sich das historische Subjekt in einem Zustand unauf hebbarer
Entstellung, während seine Begriffe doch zugleich stets darauf be-
zogen bleiben, wovon sie unterschieden wurden: das Recht auf die
Gerechtigkeit, das Wort auf den Namen, die Bilder auf die Ähn-
lichkeit, die Kunst auf den Kult. Insofern gibt es für Benjamin kein
Denken, das frei ist von einem irgendwie gearteten Rückbezug
auf Vorstellungen, die der religionsgeschichtlichen Überlieferung
entstammen.

Weder theologisch noch säkular


Dabei ist seine eigene Haltung keineswegs theologisch zu nennen.
Vielmehr ist sie denjenigen Fragen verpflichtet, die der Theologie
entraten sind, nachdem diese ihren privilegierten Deutungsanspruch
eingebüßt hat. Sie ist aber auch nicht als säkular in dem Sinne zu
bezeichnen, wie ihn Hans Blumenberg in seiner Kritik des Säku-
larisierungsparadigmas charakterisiert hat: als eine »Umbesetzung
vakant gewordener Positionen von Antworten […], deren zugehö-
rige Fragen nicht eliminiert werden konnten«, in deren Übertra­
gungen aber eine »Fortgeltung der religiösen Ursprungssphäre« fest­
zustellen ist (Blumenberg 1988, 75, 115). Wenn Blumenberg eine
Vorwort 13

s­ olche Säkularisierungspraxis zu Recht als letztes Theologumenon


bewertet, so gilt auch Benjamins Kritik derartigen Theologumena,
wie vor allem in seiner Auseinandersetzung mit vorliegenden Kaf-
ka-Lektüren deutlich wird (Kap. 6). Vielleicht läßt sich Benjamins
Denk- und Schreibweise am besten als nach-biblisch beschreiben,
denn sie entspringt einer Würdigung der biblischen Sprache, der
heiligen Ordnung und der Idee der Erlösung, ohne doch konfessio-
nell daran gebunden zu sein. Ein Fixpunkt seines Denkens besagt,
daß die Begriffe der göttlichen Ordnung singuläre Bedeutungen
haben, die nicht in Konzepte der profanen Ordnung, des mensch­
lichen Handelns und der sozialen Kommunikation übertragbar sind.
Diese Anerkennung der biblischen Sprache bei abwesendem Glau-
ben kann als Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott beschrieben
werden, wie der schöne Titel der Festschrift für Stéphane Mosès
lautet (Festschrift 2000). Dieses Denken ist nicht mit negativer
Theologie zu verwechseln, für die der Deus absconditus selbst zum
Zentrum und Bezugspunkt einer religiösen Haltung wird – oder,
in einer kapitalismuskritischen Variante der negativen Theologie,
die bürgerliche Welt im Bild der Hölle zum Gegenstand einer qua-
si-religiösen Beschwörung (Kap. 5).
Hans Blumenberg hat einmal bemerkt, daß der Gott der Phi-
losophen unempfindlich, der der Bibel aber überempfindlich sei.
»Deshalb sprechen die Theologen das Idiom der Philosophie, um
ihren Gott zu schonen: Könnte er die Sprache der Bibel ertragen?«
(Blumenberg 1998, 19) Mit Benjamin muß man dieser Deutung
insoweit widersprechen, als in seiner Sicht die Theologie als eine
Rede über Gott ohnehin bereits von der Sprache der Bibel unter-
schieden ist, impliziert doch auch sie immer schon ein Sprechen
in der Geschichte, nach dem »Sündenfall des Sprachgeistes«, in der
Entfernung von der Schöpfung, so daß sich eher daraus die Nähe
des theologischen Idioms zur Sprache der Philosophie erklären läßt.
Dagegen gibt es für Benjamin durchaus ein Nachleben der bibli-
schen Sprache, und zwar in der Dichtung. Diese beerbt die Über-
lieferung nicht im Sinne eines verfügbaren Vermögens, sondern in
dem Sinne, daß die Dichtung einen Schauplatz für Einbruchstellen
darstellt, an denen »etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins
14 Vorwort

Wort fällt« (Kap. 4). Insofern fügt sich sein Umgang mit der Über-
lieferung auch nicht in den Gegensatz von Theologie und Philoso-
phie. Benjamins Position jenseits von Theologie und Philosophie
kommt vor allem in seinem Bilddenken zum Ausdruck, in seinen
Sprachbildern, Denkbildern und dialektischen Bildern. Da dieser
genuine Benjaminsche Umgang mit der Sprache in den meisten
Übersetzungen seiner Schriften in andere Sprachen regelförmig
verschwindet, weil die Denkbilder entweder in Metaphern oder
aber Begriffe übersetzt werden, verliert seine Theorie in der inter-
nationalen Rezeption nicht selten ihre spezifische Signatur. Wäh-
rend seine Überlegungen hierdurch sehr viel leichter kompatibel
erscheinen mit aktuellen theoretischen Diskursen, wird dabei oft
gerade jene Dimension der Sprache unkenntlich, die an religiöse
Zitate in profanen Begriffen erinnert (Kap. 7).

Vergessene Bilder:
die Bedeutung der Kunst für Benjamins Epistemologie
Andererseits hat die Dominanz der Denkbilder in Benjamins Schrif-
ten bislang die zentrale und unersetzliche Bedeutung von aistheti-
scher Wahrnehmung und gesehenen Bildern für seine Erkenntnis-
weise verdeckt. Tatsächlich nämlich nehmen Kunstwerke, Gemälde
und Drucke, d. h. Bilder aus der Kunstgeschichte, eine heraus-
gehobene Stellung in seinen Schriften ein: nicht nur die beiden
Ikonen seines Werks, Dürers Melencolia und Klees Angelus Novus,
ohne deren Erwähnung nur wenige Benjamin-Bücher und -Artikel
auskommen; und nicht nur die photo- und kinematographischen
Bilder, die für seine Kulturtheorie der Moderne so wichtig sind
(Kap. 10), sondern Bilder von Künstlern unterschiedlichster Prove-
nienz, vom Mittelalter über die Renaissance und das Barock bis zur
Moderne, zu Expressionismus, Kubismus und Surrealismus. Wäh-
rend sich viele Arbeiten mit Benjamins Kunstbegriff, Kunstkritik
und Kunsttheorie auseinandergesetzt haben, ist eine Untersuchung
der Frage, welche epistemische Bedeutung den Kunstwerken selbst
zukommt, bislang ausgeblieben.
Auch die Bilder der Kunst stehen bei Benjamin – wie die
Vorwort 15

Dichtung – im Zusammenhang eines Nachlebens der Religion.


Während die poetische Sprache für das Nachleben der biblischen
Sprache bedeutsam ist, geht es bei den Bildern um das Nachleben
kultischer, sakraler und magischer Bedeutungen. Wenn die Reli­
gion ihr heiliges Reich in die Wolken versetzt, wie Benjamin ein-
mal formuliert (VII .1/25), dann wird in den gemalten Wolken der
Künstler ein Vorschein dieses »heiligen Reiches« wahrnehmbar. Es
sind weniger die religionsgeschichtlichen, meist christlichen Mo­tive
und Gegenstände, die für Benjamin interessant sind, als vielmehr
Farbe und Material der Kunst. Aus ihnen scheint nahezu unmittel-
bar Sakrales auf. In oft kurzen, äußerst verdichteten Passagen spie-
len unterschiedlichste Bilder aus der Kunstgeschichte eine zentrale
Rolle in Benjamins Schriften, nicht selten ähnlich jener blitzhaften
Erkenntnis, zu der der Text den langrollenden Donner darstellt,
wie eines der Denkbilder aus dem erkenntnistheoretischen Block
der Passagen-Arbeit formuliert (Kap. 9). Das Sehen der Bilder von
Künstlern wirkt nicht selten wie ein Modus der Erkenntnis, in dem
die Offenbarung nachwirkt: die blitzartige Wahrnehmung eines
Gleichzeitigen, die nicht in Begriffe übersetzbar ist. Die Aufla-
dung, die das Denken durch diese den Bildern eigene Erkenntnis-
weise erfährt, wirkt in Benjamins Schreibweise fort und kommt vor
allem in seinen Denkbildern zum Ausdruck. Insofern ist Benjamins
Epistemologie nicht denkbar ohne die Erfahrung der Kunst.
Neben dem Nachleben der Religion in der Moderne interes-
sierte Benjamins physiognomischer Blick sich auch für die körper-
lichen Gesten, Pathosformeln und Ausdrucksgebärden in Malerei
und Kunstgeschichte. Doch ist es Benjamin trotz wiederholter Be-
mühungen nicht gelungen, die latente Nähe zur Kulturwissenschaft
des Warburg-Kreises in einen echten Austausch zu überführen, wie
die Odyssee seines Trauerspielbuchs in der Kulturwissenschaftlichen
Bibliothek Warburg bezeugt (Kap. 8). Das Gewicht dieser versäumten
Begegnung wird u. a. darin deutlich, daß er die Warburg-­Schule als
Teil einer Bewegung sah, die sich in Grenzgebieten heimisch fühlt,
so wie er selbst mit seiner eigenen Arbeit. Diese Art, heimisch zu
sein, wurde um so existentieller für ihn, je mehr er realiter aus-
geschlossen war, zunächst – durch die Ablehnung seiner Habilita-
16 Vorwort

tionsschrift – aus der Institution der Universität, dann – mit dem


Beginn des Hitler-Reiches – aus dem Lande. Zu der von ihm be-
schworenen virtuellen Bewegung zählte er auch die Kunstbetrach-
tung einer neuen Kunstwissenschaft, die (wie Riegl und Linfert) dem
Unbedeutenden Bedeutung zuschreibt. Er hat sie als eine Bildwis-
senschaft »aus dem Geiste wahrer Philologie« gewürdigt.
Der versäumte Dialog zwischen Benjamin und der Warburg-
Schule reiht sich in die Serie von Versäumnissen ein, die Benjamins
eigene Bemühungen ebenso kennzeichnen, wie sie sich in der Re-
zeption fortsetzen. Dazu gehört neben dem Versäumnis, die epi-
stemische Bedeutung der Kunst für sein Denken ernst zu nehmen,
auch die Tatsache, daß eine Passage seiner Kritik der Gewalt, die für
den Zusammenhang seiner Haltung zur biblischen Überlieferung
äußerst signifikant ist, bislang weitgehend überlesen wurde.

»In ungeheuren Fällen« –


eine weitgehend überlesene Passage der Kritik der Gewalt
Angesichts der gegenwärtigen Ereignisse auf den internationalen
Schauplätzen von Krieg und Terrorismus ist eine Kritik der Gewalt
im Spannungsverhältnis von Recht und Gerechtigkeit, wie Wal-
ter Benjamin sie in seinem im August 1921 im Archiv für Sozi-
alwissenschaft und Sozialpolitik publizierten Essay erörtert hat, von
drängender Aktualität. Sie betrifft zum einen jene Gewalt, die im
Widerstreit zwischen Völkerrecht und den unilateralen Souveräni-
tätsansprüchen des US -Imperiums von der Bush-Politik im Irak, in
Guantánamo und anderswo ausgeübt wird. Sie betrifft aber ebenso
die verschiedenen Formen nicht-staatlicher Gewalt, die mit Begrif-
fen wie Gerechtigkeit und Menschenrecht legitimiert werden, bis
hin zu jener terroristischen Gewalt, die sich auf Grundsätze eines
›gerechten‹ oder ›heiligen Krieges‹ beruft und damit auf Instanzen
zurückgreift, die dem Staats- und Völkerrecht übergeordnet sind
(Kap. 2). Gerade für die Diskussion dieser nicht-staatlichen Formen
der Gewalt ist Benjamins Essay besonders einschlägig, widmet er
sich doch der Frage, »ob Gewalt jeweils in bestimmten Fällen Mit-
tel zu gerechten oder ungerechten Zwecken sei« (II .1/179). Neben
Vorwort 17

Phänomenen wie dem Streikrecht und dem Kriegsrecht setzt Ben-


jamin sich in diesem Zusammenhang mit der Legitimität revolu-
tionärer Gewalt überhaupt auseinander und spitzt diese Frage zum
Ende seiner Argumentation auf den Fall eines Tyrannenmords zu,
wörtlich auf den »extremen Fall«, »der auf die revolutionäre Tötung
der Unterdrücker exemplifiziert« (201).
Sosehr Benjamins Kritik der Gewalt durch die aktuelle Debatte
wieder ins Zentrum politischer Theorie gerückt ist, so auffällig ist
die Tatsache, daß in den Lektüren des gewiß sehr schwer zugäng-
lichen Textes durchweg eine bestimmte Passage übersehen, wenn
nicht umgangen wird – und zwar jene knapp zwei Seiten über
die ›göttliche Gewalt‹, auf denen Benjamin davon spricht, was es
bedeute, »in ungeheuren Fällen« vom Gebot »Du sollst nicht tö-
ten« abzusehen (200 f.). Die Tatsache, daß diese Passage in der ge-
genwärtig intensiven Diskussion über Benjamins Beitrag zu einer
Kritik der Gewalt keine wesentliche Rolle spielt, ist um so bemer-
kenswerter, als es sich um die einzige des ganzen Textes handelt,
in der er sich nicht nur mit den Argumenten seiner Zeitgenossen
zur Legitimierung oder prinzipiellen Verwerfung revolutionärer
Tötung auseinandersetzt, sondern eine eigene Antwort formuliert.
Diese erfolgt allerdings nicht unter dem Titel der Legitimität, sie
handelt vielmehr von der Verantwortung der handelnden Subjekte.
Im Anschluß an die Feststellung, daß diejenigen nicht im Recht
seien, »welche die Verurteilung einer jeden gewaltsamen Tötung
des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot begrün-
den«, heißt es nämlich: »Dieses [das Gebot – S. W.] steht nicht als
Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die
handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsam-
keit sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verant-
wortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben.« (Kap. 3)
Hier soll nun nicht die Frage erörtert werden, aus welchen Mo-
tiven Benjamins Erörterungen über die Einsamkeit in der Verant-
wortung, vom Gebot »Du sollst nicht töten« abzusehen, nahezu re-
gelförmig übersehen oder umgangen werden. Mit Bezug auf seine
berühmte Aussage »Umweg ist Methode« läßt sich aber festhalten:
Auch Umgehung ist und hat Methode. In diesem Falle scheint sie
18 Vorwort

die unabdingbare Voraussetzung dafür, Benjamins Überlegungen


zur Gewalt in die Nähe einer Theorie des Ausnahmezustands stellen
zu können und den Text Kritik der Gewalt damit in das Paradigma
politischer Theologie zu integrieren. Der Autor, dem dabei derzeit
das größte Gewicht zukommt, ist Giorgio Agamben. So konstatiert
Agamben zwar, daß Benjamin »in seinem Essay den Ausnahmezu-
stand nicht erwähnt«, fährt jedoch einschränkend fort, »auch wenn
er den Terminus Ernstfall benutzt, der bei Schmitt als Synonym für
Ausnahmezustand auftaucht«, um dann noch ein anderes Indiz für
die behauptete Nähe zu Schmitt in Anschlag zu bringen: »Aber
ein anderer Terminus technicus aus Schmitts Wortschatz kommt im
Text vor: Entscheidung. Das Recht, schreibt Benjamin, erkennt ›in
der nach Ort und Zeit fixierten ‹Entscheidung› eine metaphysische
Kategorie an‹«, so Agamben (2004, 65 f.).
Die Behauptung, Benjamin bediene sich Schmittscher Begriffe,
ist ein wichtiger Baustein nicht nur für Agambens Lesart einer »Ge-
heimdebatte zwischen Benjamin und Schmitt« (67), sondern auch
für seine Deutung des Verhältnisses zwischen beider Theorien, die
auf eine Unterscheidung diesseits und jenseits des Rechts im Um-
gang mit der Gewalt im Ausnahmezustand hinausläuft: »Auf den
Gestus von Schmitt, der Gewalt jedesmal neu in den juristischen
Kontext hineinzuschreiben versucht, antwortet Benjamin, indem
er ihr – als reiner Gewalt – jedesmal eine Existenz außerhalb des
Rechts zu sichern sucht.« (72). – In diesem Resümee Agambens
aber wird nicht nur die Argumentation Benjamins, es werden auch
Gestus und Diktion seines ganzen Essays verkannt. Denn dieser
argumentiert nicht nur fern einer Sicherung reiner Gewalt jenseits
des Rechts, sondern steht jeder Sicherheit in der Entscheidung über
Gewalt überhaupt fern. Sicher ist Benjamin nur in seinem Bemü-
hen um klare geschichtsphilosophische Begriffe für seine Analy-
se der Gewalt in ihrem Verhältnis »zu Recht und Gerechtigkeit«
(179): »Die Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte.«
(II .1/202)
In diesem Bemühen kommt Sprache und Begriffen eine zentrale
Bedeutung zu. Bei genauer Lektüre seines Essays läßt sich die Be-
hauptung, daß er Schmitts Wortschatz benutze, nicht halten, schon
Vorwort 19

gar nicht in der Funktion von Termini technici, d. h. von fachsprach-
lichen Begriffen. Denn der erkenntnistheoretische Ausgangspunkt
seiner Kritik der Gewalt besteht ja gerade darin, sie jenseits juristi-
scher oder staatsrechtlicher Fachgrenzen – und jenseits des positiven
Rechts – zu erörtern, indem er die geschichtstheoretischen Vor-
aussetzungen der Rechtsetzung und Rechtserhaltung in den Blick
nimmt. Und was die konkreten Begriffe betrifft, die von Agamben
als Schmittscher Wortschatz in Benjamins Essay gedeutet werden,
so zeigt die genauere Lektüre, daß Benjamin zwar vom ›Ernstfall‹
spricht, dies aber im Zusammenhang seiner Analyse des Kriegs-
rechts. Dessen Widersprüche bestehen für ihn gerade darin, daß
Rechtssubjekte damit eine Gewalt sanktionieren, »deren Zwecke
[…] mit ihren eigenen Rechts- und Naturzwecken im Ernstfall in
Konflikt geraten« (185). Der Ernstfall meint hier also das Wirksam-
werden des Kriegsrechts durch das Eintreten des Kriegsfalls, d. h.
des Ernstfalls. Und der Begriff ›Entscheidung‹ ist mit Bedacht in
Anführungsstriche gesetzt, wenn Benjamin ausführt, daß durch
diese metaphysische Kategorie, die vom Recht anerkannt werde,
das Recht »Anspruch auf Kritik« erhebt (189). Er betrachtet die
Inanspruchnahme der Kategorie der Entscheidung durch das Recht
also als kritikwürdig.
Ebenso wird man die Bedeutung des für Benjamins Betrach-
tungsweise zentralen Begriffs der ›reinen Gewalt‹ verfehlen, wenn
man ihn – wie Agamben – als Terminus technicus von Benjamins
Essays versteht (Agamben 2004, 73). Die zentralen Begriffe der
zeitgenössischen Debatte über revolutionäre Gewalt werden von
Benjamin vielmehr im Hinblick auf ihre mythischen und religi-
onsgeschichtlichen Begründungen beschrieben, die in ihnen ein-
geschlossen sind und damit in vermittelter Weise in Anspruch ge-
nommen werden. Insbesondere die zitierte Passage über das Gebot
fällt in ihrer Diktion aus jeder fachsprachlichen Gewißheit heraus,
ist darin doch von ungeheuren Fällen, von Einsamkeit, Verantwor-
tung und der Absehung vom Gebot die Rede – anstelle von einer
Entscheidung im Ausnahmezustand.
20 Vorwort

Zum Problem doppelter Übersetzung


Die Subsumierung von Benjamins Kritik der Gewalt unter den Dis-
kurs über den Ausnahmezustand und die politische Theologie ist
natürlich nicht allein das Ergebnis von Agambens Interpretationen,
sondern u. a. auch der Effekt von Übersetzungsproblemen in einer
Debatte, die überwiegend englischsprachig geführt wird. Denn in
der englischen Übersetzung sind aus den ungeheuren Fällen »ex-
ceptional cases« geworden (SW 1/250), womit die Differenz der
Benjaminschen Formulierung »in ungeheuren Fällen« zum Aus-
nahmezustand verschwindet. Aus der Wendung »von ihm absehen«
ist in der Übersetzung »ignoring it« geworden, was eher meint,
keine Notiz oder Kenntnis davon zu nehmen, während ›davon ab-
zusehen‹ dagegen eine Unterlassung meint, die als eine Art negati-
ver Handlung jedoch eine Anerkenntnis voraussetzt. Und wenn die
Auseinandersetzung mit dem Gebot mit der Wendung »to wrestle
with it in solitude« übersetzt wird, dann erhält diese von Benjamin
als verantwortungsprekär bewertete Handlungssituation gleichsam
einen tragischen Zug; sie wird zum einsamen Kampf einer Per-
son, was die Szene für die Souveränitätskonzeption der politischen
Theologie tauglich macht: Souverän ist, wer über den Ausnahme-
zustand entscheidet.
Mir geht es nicht um eine Kritik an »falschen« Übersetzungen,
sondern um das Problem der Übersetzbarkeit überhaupt. Daß Ben-
jamins Argumentation, zusammen mit dem spezifischen sprach­
lichen Duktus seiner Analysen, selbst in den besten Übersetzungen
oft verlorengeht und manchmal sogar ins Gegenteil verkehrt wird,
ist Effekt einer doppelten Assimilation: erstens der Assimilation an
einen ›verständlichen‹, d. h. üblichen Sprachgebrauch durch die
Übersetzung, und zweitens der Angleichung seines sehr eigensin-
nigen Sprachgebrauchs an die gegenwärtige Theoriesprache, mit
der die spezifische Schreibweise Benjamins inkompatibel ist, da
er häufig auf ungewohnte, aus dem Gebrauch gekommene, ältere
sprachliche Wendungen und Worte zurückgeht. Die Differenz zwi-
schen der heute kommunizierten Sprache und den von Benjamin
favorisierten Worten betrifft nicht zuletzt die Differenz zwischen
Vorwort 21

sakraler oder biblischer Sprache und modernem, säkularem Dis-


kurs. Benjamins Haltung gegenüber jüdischer Tradition und bib­
lischer Sprache, gegenüber Religion und Säkularisierung zeigt sich
nicht allein in seinen expliziten Aussagen über das Verhältnis von
Messianismus und Geschichte – wie etwa im Theologisch-politischen
Fragment und in den Thesen Über den Begriff der Geschichte –, nicht
nur in seinen Ausführungen über Literatur und Religion – wie etwa
im Aufsatz über Goethes Wahlverwandtschaften und im Kafka-Essay –
oder seinen Reflexionen zu Sprache und Offenbarung – wie etwa
im Kraus-Essay und im Aufsatz Über die Aufgabe des Übersetzers. Sie
wird vor allem in seinem Umgang mit der Sprache wirksam. Sein
Postulat ›die Worte beim Namen zu nehmen‹ bedeutet, den pro-
fanen Sprachgebrauch buchstäblich auf die biblische bzw. kultische
Herkunft der Sprache zurückzubiegen.
Herkommen und Abkunft – und das heißt auch Absetzung – pro-
faner Konzepte von biblischen Begriffen spielen im Essay Zur Kritik
der Gewalt eine zentrale Rolle. Wenn Benjamin z. B. das Nach-
denken über die »Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lösung
menschlicher Aufgaben« um den Einschub ergänzt »ganz zu ge-
schweigen einer Erlösung aus dem Bannkreis aller bisherigen welt-
geschichtlichen Daseinslagen«, dann eröffnet das Begriffspaar Lö-
sung und Erlösung einen Horizont für die Kritik der Gewalt, in dem
die ›Lösung‹ als Begriff menschlichen Handelns auf dessen Abkunft
von der biblischen Idee der Erlösung hin reflektiert wird: als Über-
tragung göttlicher Begriffe in die Sphäre menschlicher Politik. Die
Lösung verhält sich zur Erlösung wie das Recht zu Gerechtigkeit.
Und wieder kommt dieses spezifische Wortspiel in der englischen
Übersetzung des Begriffspaares Lösung-Erlösung als »solution« und
»deliverance« weitgehend abhanden. Die Kritik der Gewalt ist bei
Benjamin aber nicht zu trennen von seiner Haltung im Umgang
mit der Dialektik der Säkularisierung. Deren Schauplatz ist seine
Arbeit an und Umgangsweise mit Begriffen und Bildern.
22 Vorwort

Dialektik der Säkularisierung


Eine Auseinandersetzung mit säkularisierten theologischen Begrif-
fen zieht sich wie ein Leitmotiv durch Benjamins Schriften. Die
Kritik richtet sich vor allem gegen Strategien, die die schwindende
Legitimität der Theologie nach dem Tod Gottes mit einer Beleh-
nung von oder einer Partizipation an deren gleichsam verwaisten
Begriffen beantworten. Dagegen bietet Benjamin jene beschrie-
bene theoretische Anstrengung auf, die als Arbeit an Konstellatio-
nen einer historischen Dialektik von Schöpfung und Geschichte
zu beschreiben ist. Während die politische Theologie die theolo-
gischen Begriffe beerbt, geht es in Benjamins Denken um Phäno-
mene und Bedeutungen, in denen verschwundene religiöse und
kultische Praktiken in der Moderne fortleben. Die Herausforde-
rung des Benjamin-Studiums besteht darin, daß in keiner seiner
Schriften eine zusammenhängende Theorie der Säkularisierung
formuliert ist. Vielmehr spannt sich zwischen seinen Texten ein
Netz von Bezügen zwischen Denkbildern, Figuren und Begriffen,
so wie beispielsweise eine Spur von Reflexionen zum Begriff des
Lebens und zur Kreatur von dem kleinen Text Schicksal und Charakter
(1919) über die Kritik der Gewalt (1921), Goethes Wahlverwandtschaf-
ten (1924/25), das Trauerspielbuch (1927) und Karl Kraus (1931) bis
zu Franz Kafka (1935) reicht.
In diesem Kontext weist Benjamin immer wieder solche Begrif-
fe zurück, die die unreflektierte Übernahme eines göttlichen Man-
dats in profane kulturelle Kontexte darstellen – ohne daß er deshalb
für eine absolute Reinheit religiöser Konzepte plädiert. Vielmehr
geht es ihm – in Anerkenntnis der unhintergehbaren Differenz
zwischen Offenbarung und Historie – um die Beleuchtung von
Schwellenkonstellationen, so beispielsweise wenn er Gestalt und
Stimme von Karl Kraus auf der Schwelle zwischen der Welt der
Schöpfung und dem Weltgericht, zwischen Klage und Anklage si-
tuiert. Von seinem frühen sprachtheoretischen Entwurf aus dem
Jahre 1916, in dem der »Sündenfall des Sprachgeistes« jene Scheide-
linie ausmacht, die die reine paradiesische Sprache von der Sprache
in der Geschichte menschlicher Kommunikation trennt, über den
Vorwort 23

Essay Die Aufgabe des Übersetzers (1921), in dem die Übersetzung


als Probe auf die Entfernung der vielen Sprachen von der reinen
Sprache der Offenbarung verstanden wird, bis hin zu den Thesen
Über den Begriff der Geschichte (1940) läßt sich eine beständige und
ständig weitergedachte Arbeit an Konstellationen einer Dialektik
der Säkularisierung beobachten. Ihre Grundlagen sind die Sprach-
und Geschichtsphilosophie. Mit Bezug auf die Idee der Erlösung,
die mit dem Ende der Geschichte zusammenfällt, sind die Bilder
der Geschichte notwendig entstellt – ähnlich den Traumbildern.
Benjamins Kritik betrifft vor allem die Übernahme religiöser
Konzepte wie Gerechtigkeit oder Erlösung in die politische Philo-
sophie oder Historiographie. Sie betrifft auch das Feld einer Rhe-
torik und Metaphorik, die von der Fortschreibung biblischer und
sakraler Terminologie profitiert: all jene Praktiken, in denen die
Theologie zu jenem kleinen, häßlichen Zwerg wird, der, wie im
ersten der Denkbilder Über den Begriff der Geschichte beschrieben,
für anderes in »Dienst genommen« und im Apparat einer raffinier-
ter Repräsentation unsichtbar wird. – Als erkenntnistheoretische
Konfiguration ist Benjamins Auseinandersetzung mit der Säku-
larisierung in seinem Theologisch-politischen Fragment in verdichte-
ter Form formuliert, in einem Denkbild, das die Beziehung der
Ordnung des Profanen auf das Messianische als »Lehrstück der Ge-
schichtsphilosophie« bezeichnet. Darin verwirft er die Übernahme
der ›Theokratie‹ als politischen Begriff. Statt dessen betont er die
prinzipielle Ungleichzeitigkeit zwischen dem historischen Gesche-
hen und der Ausrichtung der profanen Ordnung an der Idee des
Glücks zum einen und dem Messianischen, das mit dem Ende des
Historischen zusammenfällt, zum anderen. Erst von dieser funda-
mentalen Geschiedenheit her kann die spezifische Art und Weise
diskutiert werden, in der sich innerhalb der Dynamis des Profanen
die Glückssuche am Messianischen orientiert, nämlich im »Rhyth-
mus der messianischen Natur«, in der Glücksstreben und Vergäng-
nis zusammenwirken (Kap. 1).
Benjamins Essay über Goethes Wahlverwandtschaften bildet dabei
eine Art Gegenstück zur Kritik der Gewalt. So, wenn Benjamin eine
›nazarenische Verfehlung‹ darin erkennt, daß Eduard Ottilies Ster-
24 Vorwort

ben als unvergleichliches Märtyrertum preist, die Tote als ›Heilige‹ be-
zeichnet und sie gleichsam in die Nachfolge Christi stellt. Seine Kritik
gilt in diesem Text aber mehr noch einem zeitgenössischen Dichter-
Kult Georgescher und Gundolfscher Provenienz, in dem der Dichtung
sakrale Attribute zugeschrieben werden. Durch die Konstruktion der
Dichtung als Quasi-Religion werde, so Benjamin, eine Remythisie-
rung vollzogen, die hinter die Trennung von Kunst und Philosophie
beim Ausgang des Mythos in der griechischen Antike zurückgeht. Die-
ser Remythisierung der Kunst als Krypto-Religion stellt er eine strikte
Grenzziehung zwischen dem Kunstdiskurs und einer ›Rede vor Gott‹
entgegen, die er am Text von Goethes Roman entwickelt. Der Text
argumentiert entlang einer systematischen Unterscheidung zwischen
den Begriffen menschlicher und göttlicher Ordnung, wie beispielsweise:
zwischen ›Aufgabe‹ und ›Forderung‹, zwischen ›Gebilde‹ und ›Geschöpf‹,
zwischen der ›Aussöhnung‹, die unter Menschen stattfindet, überwelt-
licher ›Versöhnung‹ und der Vorstellung einer ›Entsühnung‹ durch eine
göttliche Instanz. In Gestalt der dabei erörterten Dialektik von natür­
lichem und übernatürlichem Leben und dem Motiv vom »Schuldzusam-
menhang des natürlichen Lebens« unterhält der Goethe-Essay direkte
Verbindungen zur Kritik der Gewalt, einem Text, in dem sich Benjamins
Bemühung um begriffliche Differenzen auf Recht und Gerechtigkeit
konzentriert (Kap. 4).
Auf der Schwelle von Schöpfung
und Weltgericht
1. Die K r eatur und das Heilige
Benjamins Umgang mit der Säkularisierung

Die ebenso faszinierende wie schwierige Signatur der Benjamin-


schen Schreibweise ist dadurch gekennzeichnet, daß er seine Ge-
danken weder systematisch, nach Gegenständen, Themen und As-
pekten geordnet, diskursiv entwickelt noch begrifflich resümiert;
statt dessen legt er die gedankliche Systematik als Komposition sei-
nen Texten zugrunde, während er die Argumente und die Arbeit
an Begriffen und Theoremen entlang von Lektüren, Zitaten und
Denkbildern entfaltet. Diese Schreibweise sorgt selbst nach vielfa-
cher Lektüre seiner Schriften dafür, daß der Blick immer wieder
auf Passagen fällt, die bisher von der Forschung wenig beachtet
wurden – und die dann eine erneute, veränderte Lektüre seiner
Schriften in Gang setzen. Ein Beispiel dafür ist ein langes, mehr als
eine halbe Seite in Anspruch nehmendes Zitat von Stifter im Essay
Karl Kraus (1931), das bisher wenig Beachtung gefunden hat.1 Es ist
eine der nicht sehr zahlreichen Stellen im Werk Benjamins, in der
er ausdrücklich von Säkularisierung spricht. Sie soll hier den Aus-
gangspunkt für eine Untersuchung seines Säkularisierungskonzepts
bzw. seines Umgangs mit Säkularisierung bilden. Denn Benjamin

1  Auch nicht in meiner eigenen Untersuchung des Kraus-Essays (Weigel 1997). –


Eine Ausnahme bildet jüngst der Karl-Kraus-Artikel im Benjamin-Handbuch von
Honold, der die zentrale Bedeutung von Literaturzitaten schon früher untersucht
hatte (Honold 2000).
28 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

arbeitet weniger mit einer Theorie der Säkularisierung und benutzt


diesen Begriff seltener explizit, als daß sein Umgang mit der Spra-
che, mit Begriffen und Bildern selbst eine rhetorische und episte-
mologische Praxis auf Schauplätzen der Säkularisierung darstellt.

»Jene schnöde säkularisierten Gewitter« –


das Heilige, das Gesetz und die Kreatur
Bei der erwähnten Textstelle handelt sich um den Kommentar zu
einem langen, über eine halbe Seite gehenden Zitat aus der Vorrede
zu den Bunten Steinen (1853), in der Stifter die Naturerscheinungen
als »Wirkungen viel höherer Gesetze« beschreibt und deren »Wun-
der« mit dem Walten des Sittengesetzes im »unendlichen Verkehr
der Menschen mit Menschen« vergleicht. Benjamin kommentiert
die Passage aus Stifters Text wie folgt:
Stillschweigend ist in diesen berühmten Sätzen das Heilige
dem bescheidenen, doch bedenklichen Begriff des Gesetzes ge-
wichen. Aber transparent genug ist diese Natur Stifters und
seine Sittenwelt, um mit der kantischen ganz unverwechselbar
und in ihrem Kern als Kreatur erkennbar zu bleiben. (II .1/340;
Hvhg. S. W.)
In seiner Lektüre von Stifters auf den ersten Blick harmlos erschei-
nender Naturbeschreibung greift Benjamin dessen Erklärung der
Naturerscheinungen als Wirkung »viel höherer Gesetze« heraus
und entdeckt darin eine keineswegs harmlose Operation: eine still-
schweigende Substitution des Heiligen durch einen Begriff des Ge-
setzes, dessen Abkunft aus der Religion nur mehr im Attribut des
Höheren kenntlich ist. Und weiter:
Und jene schnöde säkularisierten Gewitter und Blitze, Stür-
me, Brandungen und Erdbeben – der Allmensch hat sie der
Schöpfung wieder zurückgewonnen, indem er sie zu deren
weltgerichtlicher Antwort auf das frevelhafte Dasein der Men-
schen gemacht hat. Nur daß die Spanne zwischen Schöpfung
und Weltgericht hier keine heilsgeschichtliche Erfüllung, ge-
schweige denn geschichtliche Überwindung findet.
Die Kreatur und das Heilige 29

Zunächst springt dabei das Wort »schnöde« ins Auge. Es grenzt die
Stiftersche Version poetischer Säkularisierung der Naturphäno­mene
sowohl von einer andersgearteten, irgendwie nicht schnöden Säku-
larisierung ab als auch von einer mehr als schnöden, womöglich
verwerflichen Säkularisierung. Ebenso auffällig ist die Charakteri-
sierung des Gesetzesbegriffs als bescheiden, doch bedenklich. Die
Mehrdeutigkeit des Attributs bescheiden, das soviel wie genügsam
heißt, aber auch als dürftig oder ungenügend gelesen werden kann,
wiederholt sich im Changieren des Bedenklichen zwischen besorg-
niserregend und bedenkenswert.
Benjamins Kommentar zu dieser schnöden Säkularisierung setzt
sich aus zwei Argumenten zusammen: erstens, daß in Stifters Rede
von der »Wirkung höherer Gesetze« das Konzept des Heiligen durch
den Gesetzesbegriff ersetzt wird und daß diese Substitution, in-
dem sie stillschweigend erfolgt, zugleich verborgen bleibt. Die Be-
denklichkeit des Gesetzesbegriffs ergibt sich nicht zuletzt aus dieser
stillschweigenden Form der Ersetzung, mit der die Formel ›höhere
Gesetze‹ auch dann noch von der Bezugnahme auf das Heilige pro-
fitiert, wenn sie dessen Sphäre hinter sich gelassen zu haben scheint.
Das zweite Argument wird mit einem »aber« eingeleitet und hebt
die Transparenz der Stifterschen Natur und Sittenwelt hervor, durch
die ihr kreatürlicher Status erkennbar bleibt und deshalb nicht mit
der Kantschen Sittenwelt verwechselt werden kann. Eine nähere
Ausführung über das Gegenteil, d. h. über eine Erscheinungsform,
in der die Kreatürlichkeit der Stifterschen Natur unkenntlich wür-
de, weil sie nicht transparent, sondern obskur wäre, bleibt Benja-
min an dieser Stelle schuldig. Sie wird allenfalls angedeutet mit dem
Hinweis auf die »kantische Sittenwelt«. Der Pathosformel der Kritik
der praktischen Vernunft über die »[z]wei Dinge«, die »das Gemüt mit
immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht« er-
füllen, der vielzitierten Formulierung »Der bestirnte Himmel über
mir, und das moralische Gesetz in mir« (Kant 1956, 300), wi-
dersprechen die Bunten Steine durch Stifters Unterscheidung dieser
›zwei Dinge‹. »Auffälliges« in der Natur betrachtet er als Äußerung
allgemeiner, still und unauf hörlich in der Natur wirkender Geset-
ze, während »Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten«
30 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

für ihn nur kleine Merkmale einer allgemeinen Kraft sind, näm-
lich eines Sittengesetzes, das, so Stifter, »still und seelenbelebend
durch den unendlichen Verkehr der Menschen mit Menschen« (zit.
nach II .1/340) wirkt. Damit wird das Bewunderungswürdige der
Naturgesetze von demjenigen unterschieden, das auf Sittengeset-
ze zurückgeht. Auf dem Wege seines Stifter-Kommentars kritisiert
Benjamin hier indirekt Kants Ethik, die in der Annahme eines »von
der ganzen Sinnenwelt unabhängige[n] Leben[s]« der »Intelligenz«
(Kant 1956, 300) den kreatürlichen Kern der Natur – auch der
menschlichen – verkennt. Im Gegensatz zur größeren Transparenz
in der Stifterschen Differenzierung von Natur und Sittenwelt, die
Benjamin hervorhebt, nimmt er aber an dessen Umgang mit dem
Gesetzesbegriff Anstoß. Er kritisiert ihn als Deckbegriff für eine
verschwiegene Vorstellung vom Heiligen.
Die Bestimmung einer nicht schnöden Säkularisierung bleibt in
Benjamins Text allerdings eine Leerstelle, sie sich vorzustellen den
Lesern aufgegeben. Immerhin aber soviel wird klar: Die mit dem
»schnöde« unwillkürlich aufgeworfene Frage nach den Möglichkei-
ten und Formen einer andersgearteten Säkularisierung erhält eine
bestimmte Richtung. Sie verweist auf die Erkennbarkeit jener Er-
setzungen, denen sich Operationen der Säkularisierung verdanken.
Der Hinweis auf das Stillschweigende impliziert zugleich, daß Er-
kennbarkeit einen anderen sprachlichen oder rhetorischen Modus
erforderte. Säkularisierung, die nicht schnöde verfährt, ist damit
als eine reflexive Haltung im Umgang mit dem religiösen Erbe in
der Moderne bestimmt. Bis hierhin läßt sich soviel festhalten: Im
Kontext der Säkularisierung wird der Begriff des Gesetzes von Ben-
jamin insoweit als Deckbegriff kritisiert, als sich in ihm die genaue
Beziehung zwischen Heiligem und Kreatürlichem verbirgt. Damit
versammelt diese Passage drei Zentralbegriffe – das Gesetz, das Hei-
lige, die Kreatur –, die in der jüngsten Benjaminrezeption eine er-
höhte Aufmerksamkeit erfahren haben.
Um nun zu erörtern, was die schnöde Säkularisierung mit Karl
Kraus zu tun hat, muß zunächst der textuelle Zusammenhang er-
läutert werden. Die zitierte Passage stammt aus dem ersten Teil
des – als Triptychon komponierten – Kraus-Essays aus dem Jahre
Die Kreatur und das Heilige 31

1931 mit den drei Kapiteln: Allmensch, Dämon, Unmensch. Darin


wird Karl Kraus vorgestellt als Polemiker mit einer Haltung, die
Walter Benjamin als Noblesse im Harnisch charakterisiert. Kraus’
Maßstab für weltgeschichtliche Schurkerei liege außerhalb jener
bürgerlichen Moral, die nur hausbackenen Schurkereien gewachsen
sei. Benjamin bezeichnet diesen Krausschen Maßstab als »theologi-
schen Takt«. Denn Takt sei nicht etwa eine Gabe des gesellschaftli-
chen Umgangs, sondern:
»Takt ist die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse, doch
ohne von ihnen abzugehen, als Naturverhältnisse, ja selbst als
paradiesische zu behandeln und so nicht nur dem König, als
wäre er mit der Krone auf der Stirne geboren, sondern auch
dem Lakaien wie einem livrierten Adam entgegenzukom-
men.« (339)
Takt bedeutet damit keineswegs die Befolgung gesellschaftlicher
Norm, sondern gleichsam eine Weise des Umgangs mit der Kreatur
als einem göttlichen Geschöpf.

Kraus »im Tempel der Kreatur«


Um zu erläutern, was es mit dem Theologischen auf sich hat, deu-
tet Benjamin den Kreaturbegriff von Kraus als Erbe der Theologie.
Kraus’ »Kreaturbegriff enthält die theologische Erbmasse von Speku-
lationen, die zum letzten Mal im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamt­
europäische Geltung besessen haben.« (339; Hvhg. S. W.) Diese
seien zwar nicht unverändert gültig, vielmehr habe sich am theolo-
gischen Erbe des Kreaturbegriffs seither eine Wandlung vollzogen,
um etwa im »allmenschlichen Kredo österreichischer Weltlichkeit«
(339 f.) zum Ausdruck zu kommen. Dieses Kredo kennzeichnet
Benjamin in einem sprechenden Bild: dem Weihrauchnebel, der
hin und wieder an den Ritus gemahnt, und zwar in jener Kirche,
zu der die Schöpfung geworden sei. Weihrauchnebel und Kirche
werden damit nur mehr als Schwundstufen von Ritus und Schöp-
fung bewertet. Für Benjamin ist der Kreaturbegriff bei Kraus also
Symptom für das theologische Erbe in einer Welt, in der die Schöp-
32 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

fungsidee sich in eine kirchliche Ordnung verwandelt hat – an-


ders gesagt: in welcher der Kult institutionalisiert worden ist. Diese
Konstellation ist es, die jene schnöde Säkularisierung markiert, als
deren Vertreter Stifter eingeführt wird.
Im Unterschied zur eindeutigen Positionierung von Stifter als
Vertreter eines »allmenschlichen Kredo[s] österreichischer Weltlich-
keit« (339 f.) oder eines »altväterische[n] Kredo[s]« (341) ist die Stel-
lung, die Benjamin Karl Kraus zuweist, weniger eindeutig, auch
wenn der Stifter-Kommentar bruchlos in eine Beschreibung von
Kraus übergeht. So gilt auch für ihn die Diagnose, daß er in der
»Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht« operiert, ohne eine
heilsgeschichtliche Lösung zu finden (340). Was die Landschaft in
Stifters Prosa, ist die Geschichte bei Kraus: So »sind ihm, Kraus, die
Schreckensjahre seines Lebens nicht Geschichte, sondern Natur, ein
Fluß, verurteilt durch eine Höllenlandschaft sich zu winden«. Das
Bild macht deutlich, daß Benjamins kritischer Blick sich nicht nur
auf den Vorgang einer Mythisierung richtet, auf eine Wahrneh-
mung von Geschichte als Natur, sondern daß es ihm um die dabei
virulente theologische Topologie geht (Höllenlandschaft). Die Ge-
schichte sei für Kraus nur die Einöde, »die sein Geschlecht von der
Schöpfung trennt, deren letzter Aktus der Weltenbrand ist«. Und
weiter: »Als Überläufer in das Lager der Kreatur – so durchmißt
er diese Einöde.« (341) Apokalyptische Weltsicht und Abwertung
der Historie sind also nicht nur zwei Seiten einer Medaille. Dar-
über hinaus evozieren sie nach Benjamin eine Haltung, in der das
menschliche Subjekt sich mit der Kreatur verbündet und in ihr
spiegelt. Die Rolle der Kreatur wird damit zum Symptom einer wi-
derhistorischen theologischen Mythisierung der Moderne, eine Haltung,
die Benjamin als Erbmasse des Barock bewertet.
Dabei erörtert Benjamin die Haltung gegenüber der Kreatur
nach ihren beiden Seiten hin: sowohl Zuneigung, d. h. Hinwen-
dung, als auch Verwandlung in einen Tugendspiegel der Schöpfung,
d. h. Imagination. So sieht er einen Widerhall des »allmenschlichen
Kredo[s]« (339) überall dort, »wo Kraus mit Tieren, Pflanzen, Kin-
dern sich befaßt« (340). Die Tatsache, daß er sich den Tieren im
Namen der Kreatur zuwende, deutet Benjamin mit unverhohlener
Die Kreatur und das Heilige 33

Ironie: Die Kreatur sei für Kraus »der wahre Tugendspiegel der
Schöpfung, in welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns aus ver-
lorener Zeitenferne herüberlächeln«. Seine Ironie gilt der Projek­
tion eines Zustands, der die Unschuld des Paradieses mit den erst in
der Kulturgeschichte entstandenen Tugendwerten verwechselt und
diese ›Reinheit‹ ausgerechnet in den Tieren sieht. Für genau die-
se Projektion eines Schöpfungsstandes in der Geschichte steht der
Name der Kreatur. Schaut der Mensch im Spiegelbild der Kreatur
sich selbst ins Antlitz, dann verschwimmen ihm Schöpfung und
Historie. In den Tieren als Emblemen von Kraus’ Haltung ent-
deckt Benjamin deshalb auch etwas »unendlich Fragwürdige[s]«.
Das liegt vor allem darin, daß es sich um seine eigenen ›Geschöpfe‹
handelt, da »sie allein aus denen sich rekrutieren, die Kraus selber
geistig erst ins Leben gerufen« hat, »die er in ein und demselben
Akt zeugte und überzeugte«. – Damit konstatiert Benjamin am
Beispiel von Kraus ein autopoietisches System, in dem die eige-
nen Imaginationen als Verkörperungen der Schöpfung betrachtet
werden, in deren Spiegelung ein Widerschein der Schöpfung auf
den Autor zurückfällt. Zugespitzt wird diese Kritik im Bild vom
»Tempel der Kreatur«. Benjamin formuliert gegen dieses Verfahren
einen gewichtigen Einwand, der für die gegenwärtigen Debatten
über fiktionalisierte ›Zeugnisse‹ des Holocaust 2 zentral ist: »Bestim-
men kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie werden
kann.« (341) Damit kritisiert Benjamin nicht nur eine Bezugnahme
auf Tiere als Stellvertreter eines kreatürlichen, gleichsam gottes-
geschöpflichen Status von Unschuld, der nicht nur von den wirk­
lichen, leiblichen Tieren absieht. Er reserviert das Zeugnis auch für
eine Konstellation, die frei von ›geistiger‹ Zeugung, d. h. von einer
imaginären Generierung von ›Leben‹ ist.
Die Art und Weise, wie Benjamin die Reden und Schriften von
Karl Kraus im Hinblick auf ihre Zweideutigkeit kommentiert,
kann hier nicht en détail ausgeführt werden. In der Erörterung der

2  In diesem Sinne habe ich versucht, im Hinblick auf die Nachgeschichte des
Holo­caust die Geste des Zeugnisses von historischer und juristischer Zeugenschaft
zu unterscheiden (vgl. Weigel 2000b).
34 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

konkreten Themen, Gegenstände und Motive der Krausschen Tex-


te kommt Benjamin jedoch immer wieder auf die Grundstruktur
einer signifikanten geschichtsphilosophischen Topographie zurück:
auf die »Spanne zwischen Schöpfung und Weltgericht«. Kraus ver-
körpert für Benjamin eine Haltung, die – inmitten der Moderne
und im Angesicht der Technik – eine Bezugnahme auf das theo-
logische Erbe solcher Konzepte wie das der ›Kreatur‹ einnimmt,
ohne daß diese Vorstellung in Heilsgeschichte mündet. Er stellt uns
Kraus als eine persona vor, die im komplexen und komplizierten
Zwischenraum zwischen der Welt der Genesis und der Gegenwart
operiert. Mit der Negation von Historie, die diesen Zwischen-
raum in Form einer Zeitspanne ausfüllte, findet er sich in einer
Position auf der »Schwelle des Weltgerichts« (348) wieder. Deren
Perspektive vergleicht Benjamin mit der Verkürzung der barocken
Altarmalerei. Wo Schöpfung und Weltgericht unmittelbar – un-
ter Ausfall der historischen Zeit – aneinanderstoßen, befinden sich
ihre Ordnungen in einem prinzipiellen Widerstreit: »Kehrt er der
Schöpfung je den Rücken, bricht er ab mit Klagen, so ist es nur,
um vor dem Weltgericht anzuklagen.« (349; Hvhg. S. W.) Anklage,
die Sprache des Rechts, und Klage, die Sprache der Kreatur, rich-
ten sich an verschiedene Instanzen; sie sind nicht nur unvereinbar,
sie stehen vielmehr im Widerstreit. Dieser Widerstreit kommt in
einer Vielstimmigkeit sprachlicher und gestischer Gebärden zum
Ausdruck. Polemik, Halsstarrigkeit, biblisches Pathos, theologi-
scher Takt, Klage, dämonische Stimme sind Effekte einer Haltung,
mit der sich der Sprechende – auf der Schwelle verharrend – in
je unterschiedliche Richtungen wendet und dabei an unterschied­
liche Instanzen adressiert. – Es geht in dem in vier Folgen in der
Frankfurter Zeitung veröffentlichten Aufsatz Karl Kraus weniger um
die Gestalt des historischen Karl Kraus als vielmehr darum, den
genannten Zwischenraum zu beleuchten und die Nachwirkungen
des theologischen Erbes in der Gegenwart mit Blick auf einzelne
Begriffe zu erörtern. Dabei richtet sich Benjamins Engagement auf
eine präzise Analyse verschiedener Überlagerungen, Ersetzungen,
Umformungen und Referenzen zwischen aktuellen Konzepten
und jenen Begriffen, die einer göttlichen Ordnung entstammen.
Die Kreatur und das Heilige 35

Mit zwei der zentralen Motive, der Kreatur als Tugend- oder Mo-
ralspiegel und der Betrachtung von Geschichte als Natur, schließt der
Kraus-Essay an das Trauerspielbuch an und schreibt dortige Überle-
gungen zur Säkularisierung fort. Darin hatte Benjamin die barocke
Welthaltung untersucht, für die Geschichte selbst als Trauerspiel
erscheint und von der Schöpfung ununterscheidbar geworden ist.
Genau das ist die theologische Erbmasse von Spekulationen aus
dem 17. Jahrhundert, die für Benjamin in die Vorgeschichte jener
schnöden Säkularisierung gehören, in der im 19. Jahrhundert ›Na-
turwunder‹ als Wirkungen höherer Gesetze betrachtet wurden.

Säkularisierung des Historischen


im Schöpfungsstande im Barock
Das Barock ist im Trauerspielbuch nicht nur Schauplatz jenes Sou-
veräns, der aufgrund seiner Janusgestalt, seiner Stellung zwischen
»der unbeschränkten hierarchischen Würde, mit welcher Gott ihn
investiert«, und dem »Stande seines armen Menschenwesen«, so-
wohl zum Tyrannen werden kann als auch zum »Opfer eines Miß-
verhältnisses«. (I .1/250) In diesem Buch kommt auch der Kreatur
eine ähnliche Bedeutung zu wie im Kraus-Text:
Die Kreatur ist der Spiegel, in dessen Rahmen allein die mora-
lische Welt dem Barock sich vor Augen stellte. Ein Hohl­spiegel;
denn das war nur mit Verzerrungen möglich. Da im Sinne
des Zeitalters alles historische Leben der Tugend abging, so
wurde sie bedeutungslos auch für das Innere der dramatischen
Personen selbst. Sie ist nie uninteressanter erschienen als in
den Helden dieser Trauerspiele, in denen nur der physische
Schmerz des Martyriums dem Anruf der Geschichte erwidert.
Und wie das Innenleben der Person im Kreaturzustand, sei es
auch unter Todesqualen, sich mystisch genugzutun hat, so
trachten die Autoren auch historisches Geschehen einzufrie-
den. Die Folge der dramatischen Aktionen rollt sich wie in
den Schöpfungstagen ab, da nicht Geschichte sich ereignete.«
(270; Hvhg. S. W.)
36 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Unter geschichtlichen Bedingungen, in denen Tugend und histo-


risches Leben auseinandergetreten sind, gerät die Person in den
Zustand der Kreatur – eine Konstellation, für die nach Benjamin
drei Elemente kennzeichnend sind: Stillstellung von Geschichte,
physische Martern und die Bedeutungslosigkeit innerer Tugend.
Von dieser Beschreibung her erklärt sich Benjamins nicht leicht
zugängliche Deutung des Barock als »restlose Säkularisierung des
Historischen im Schöpfungsstande« (271).
Dabei nimmt das Tauerspielbuch insofern eine besondere Stel-
lung ein, als Benjamin darin auch von der Säkularisierung spricht,
den Begriff der Säkularisierung also explizit nutzt. Weniger auffäl-
lig ist es, wenn vom barocken Trauerspiel als einem »säkularisierten
christlichen Drama« (257) die Rede ist oder beispielsweise das Kö-
nigtum im spanischen Drama als »säkularisierte Heilsgewalt« (260)
bewertet wird. Doch die bemerkenswerte Formulierung, daß »rest-
lose Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande […] in
der Weltflucht des Barock das letzte Wort« habe (271), erschließt
sich nicht so leicht. Bereits die ungewöhnliche Rede von der »Sä-
kularisierung des Historischen«, die der landläufigen Vorstellung
von Säkularisierung als einem Transformationsprozeß widerspricht,
der vom Sakralen oder Theologischen zum Historischen verläuft
und nicht umgekehrt, führt eine komplizierte Dialektik in die Sä-
kularisierung ein. Benjamin thematisiert mit der »Säkularisierung
des Historischen im Schöpfungsstande« eine Art Rückverwandlung
von Geschichte in eine prekäre Version von Naturzustand, eine Art
»Restauration paradiesischer Zeitlosigkeit« (271), mit dem Effekt,
daß die Geschichte in den Schauplatz hineinwandert – und damit
als Historie verschwindet.
Für den zitierten Begriff der Säkularisierung ist das Bild der
Kreatur also zentral. Wenn die Reduktion des Menschen auf den
Zustand der Kreatur von Benjamin als Säkularisierung bewertet
wird, dann muß mit diesem Vorgang der Entzug einer Bedeutung
einhergehen, die über seinen kreatürlichen Stand hinausweist und
dem Historischen angehört. Auch wenn sie dem Menschen in der
Geschichte zugewachsen ist, weist diese Bedeutung doch auf die
Abkunft aus einer anderen Sphäre zurück. An anderer Stelle, in Zur
Die Kreatur und das Heilige 37

Kritik der Gewalt, hat Benjamin vom Doppelsinn solcher Worte wie
Dasein und Leben »aus ihrer Beziehung auf je zwei Sphären« gespro-
chen (II .1/201). Es ist also das, was am Dasein mehr und anderes ist
als das »bloße natürliche Leben« (200), was dem Menschen in der
»Säkularisierung des Historischen im Schöpfungsstande« entzogen
wird. Einer biblischen Vorstellung entstammend, ist das mensch­
liche Dasein als natürlich und übernatürlich zugleich ein Produkt
der Geschichte. Im Wissen um diese andere Sphäre ist das Bewußt-
sein eines Verlustes, der sich im Begriff der Kreatur ausdrückt, doch
von diesem Wissen geprägt. Wenn Personen, die sich zurückge-
worfen finden auf das bloße Leben, sich im Zustand der Schöpfung
begreifen, dann betrifft der Begriff der Kreatur den Verlust, nicht
aber den ursprünglichen Zustand der Schöpfung. Insofern ist dem
Begriff der Kreatur die Herkunft aus der Schöpfung ebenso einge-
schrieben wie der Abstand zum »harmlosen ersten Schöpfungsstan-
de« (I .1/253). Das bedeutet, daß der Begriff der Säkularisierung
im Trauerspielbuch als eine Art Gegenbegriff zum Messianismus
verwendet wird. Während das Messianische auf die Erlösung in der
Vollendung der Historie zielt, meint die Säkularisierung hier einen
Entzug sakraler Bedeutung in der Geschichte, die Rückverwand-
lung von Dasein in den Zustand der Kreatur bzw. von Geschichte
in Natur.
An anderer Stelle, wo es Benjamin um den Tyrannen geht,
schreibt er der Diktatur des Tyrannen die Utopie einer »Restau-
ration der Ordnung im Ausnahmezustand« zu, auch dies eine Art
Rückverwandlung von Geschichte in Natur, genauer in »die ­eherne
Verfassung der Naturgesetze« (253), womit er Stillstellung als Ideal
und Zweck diktatorischer Gewalt bewertet. Leitmotivisch wird im
Hinblick auf das barocke Trauerspiel das Bild einer gegen- bzw. wi-
derhistorischen Haltung gezeichnet, die der Verfassung des Barock
die Richtung vorgibt, ohne den Abstand zum »harmlosen ersten
Schöpfungsstande« verringern zu können. Insofern es die Rück-
kehr in jenen paradiesischen Zustand, als Natur und Schöpfung
noch identisch waren, nicht geben kann, trägt dasjenige Weltbild,
das Produkt einer widerhistorischen Haltung ist, die Züge einer
– letztlich unmöglichen – Nachahmung der Schöpfung: »Die Fol-
38 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

ge der dramatischen Aktionen rollt sich wie in den Schöpfungsta-


gen ab, da nicht Geschichte sich ereignete.« (270) In diesem Sinne
spricht Benjamin von einer widerhistorischen Neuschöpfung. Die
Neuschöpfung richtet sich also nicht allein gegen die Historie, son-
dern sie vermeint – in einer Gegenstellung zur Geschichte –, sich
an der Welt der Schöpfung orientieren zu können.
Die Verkörperung einer »widerhistorische[n] Neuschöpfung« er-
örtert Benjamin u. a. in der »keusche[n] Fürstin« im Märtyrerdra-
ma, die dem Tyrannen – wie die Catharina des Gryphius – trotz
Martern widersteht. Deren ›Keuschheit‹ ist von der ›Unschuld‹
ebenso weit entfernt wie die Natur vom Paradies. Sie ist vielmehr
Ergebnis stoischer Technik, vergleichbar den ›ehernen Naturgeset-
zen‹, die der Tyrann an die Stelle der Geschichte zu setzen sucht;
nur ist sie im Unterschied zum Tyrannen nicht das Ergebnis un-
begrenzter absoluter Herrschaft, sondern eine Art Ermächtigung
»für einen Ausnahmezustand der Seele, die Herrschaft der Affekte«,
durch »stoische Technik« (253). – Analog dazu stehen im Kraus-
Essay biblisches Pathos und Phrase, die Benjamin als »Ausgeburt der
Technik« beschreibt (II .1/336 f.).
Im Vergleich mit der komplexen Säkularisierungskonstellation
im Trauerspielbuch ist die Relevanz der Säkularisierung für die
Moderne im Kraus-Essay deutlich zurückgetreten, während die
theologische Erbmasse des Barock vor allem an den Kreaturbegriff
gebunden bleibt. Vielleicht erklärt auch dies, daß in Karl Kraus nur
mehr von einer schnöden Säkularisierung die Rede ist. Wenn es
heißt, der »Allmensch« habe die »schnöde säkularisierten Gewitter
[…] der Schöpfung wieder zurückgewonnen, indem er sie zu deren
weltgerichtlicher Antwort auf das frevelhafte Dasein der Menschen
gemacht hat«, betont Benjamin hier die andere Seite der Säkulari-
sierung: weniger den Entzug einer übernatürlichen Bedeutung im
Naturzustand als vielmehr die verschwiegene Heiligung von ›Na-
turwundern‹ als »Wirkungen viel höherer Gesetze« (340), die mit
der Idee der Schöpfung einhergeht.
Die Kreatur und das Heilige 39

Kraus-Essay: Knotenpunkt
kontroverser Benjamin-Lektüren
In der Lektüre des Kraus-Essays verschränken sich etliche Aspekte
und Stränge der Benjamin-Rezeption. Das betrifft zunächst die Aus-
einandersetzung mit Benjamins Stellung zu Theologie und Säkulari-
sierung, die mit der Diagnose »der rettenden Preisgabe der Theo-
logie, ihrer rückhaltlosen Säkularisierung« einsetzte, wie Ado­rno
sie in der Einleitung zur ersten, zweibändigen Ausgabe von Benja-
mins Schriften 1955 formuliert hat (Adorno 1955, X XII ). Sie wur-
de fortgesetzt z. B. von Hans Heinz Holz, der bei Benjamin eine
Verbindung von »religionsphilosophisch gegründeter Metaphysik«
und marxistischer Geschichtsphilosophie entdecken wollte (Holz
1992), und mit Heinz-Dieter Kittsteiners Zurückweisung, »Ben-
jamin theologisch zu interpretieren« (Kittsteiner 1975, 38). In
dieser Debatte hat Gerhard Kaiser interveniert, indem er sich vor
allem gegen Adorno wendet und feststellt, »daß Benjamin nicht in
die Geistesgeschichte der Säkularisierung gehört, sondern in sei-
nem Denken eine Gegenbewegung vollzieht, die Profanität und
Messianisches mit aller Schärfe voneinander abhebt« (Kaiser 1975,
74). Zugleich hat er an Benjamin eine Freiheit beobachtet, »streng
theologisch zu denken und doch den Menschen ohne Widerspruch
zu diesem Ansatz seiner Autonomie zu überantworten« (73).
Diese Debatte gründet weitgehend im Übertragungsparadigma:
Säkularisierung verstanden als Übertragung religiöser oder theolo-
gischer Bedeutungen auf Weltliches. Sie ist durch einen Gegensatz
zwischen Messianismus und Historie motiviert und kreist über wei-
te Strecken um die Frage, welcher Seite in den Schriften Benjamins
der Vorrang gebühre – während dieser, wie das Theologisch-politische
Fragment belegt, das in Frage stehende Verhältnis doch gerade als
eine gegenstrebige Fügung konzipiert hat. 1992 hat Uwe Steiner
das Säkularisierungsthema dem Lagerstreit zwischen Parteigängern
der Theologie und solchen des Marxismus entzogen, indem er es
zurückgestutzt hat auf die Frage nach der Verwendung der Säku-
larisierung als historischer Beschreibungskategorie (Steiner 1992,
141). Dieser im Blick auf den festgefahrenen Streit sinnvolle und
40 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

für die Benjamin-Rezeption befreiende Schritt umgeht allerdings


das Problem, daß es keinen Beitrag zur Geschichte der Säkulari-
sierung wird geben können, der nicht auch eine Haltung zu deren
Voraussetzungen einnimmt, weil Säkularisierungstheorien immer
auch bestimmte Umgangsweisen mit Begriffen implizieren, die den
Feldern von Kult, Theologie, der Heiligen Schrift und der Reli­
gion entstammen. Und das trifft für Benjamin allemal zu.
Bereits beim Einsatz dieser Kontroverse wird dieser Umstand
deutlich, so z. B. wenn Adorno eine Nähe Benjamins zu Karl Kraus
konstatiert: »Unter den Operationen zur Säkularisierung der Theo-
logie um ihrer Rettung willen ist nicht die letzte die, profane Texte
so zu betrachten, als wären es heilige. Darin lag Benjamins Wahl-
verwandtschaft mit Karl Kraus.« Wenn aber Adorno davon ausgeht,
daß bei Benjamin das Geschichtliche selber so aussähe, »als wäre
es Natur«, dann entgeht ihm, daß Benjamin von der Säkularisie-
rung des Historischen, nicht der Theologie spricht. Dasselbe gilt
für Adornos Diagnose eines mythischen Zugs im »Bildcharakter
von Benjamins Spekulationen«, der daher käme, »daß unterm Blick
seines Tiefsinns Geschichtliches in Natur sich verwandelt kraft der
eigenen Hinfälligkeit und alles Natürliche in ein Stück Schöpfungs-
geschichte« (Adorno 1955, XVI ). Dabei verkennt er, daß Ben-
jamin diesen Vorgang als »Weltflucht des Barock« analysiert, aber
keineswegs selbst erzeugt.
Dieser Lesart liegt ein Mißverständnis über den Begriff der Na-
tur im Trauerspielbuch zugrunde. Adorno liest ihn als Beleg für
eine »tiefe, leise antiquarische Bindung Benjamins an Kant, vor
allem an dessen bündige Unterscheidung von Natur und Über-
natur«, und er will bei Benjamin eine »unwillentliche Umbildung
und Verfremdung« Kantscher Kategorien entdecken, wobei er die
Idee des Übernatürlichen bei Benjamin darüber hinaus auch noch
mit Versöhnung gleichsetzt (XVIII  f.). Während die Kategorie des
Übernatürlichen in Kants Schrift Der einzig mögliche Beweisgrund zu
einer Demonstration des Daseyns Gottes (1763) aber den übernatürli-
chen Charakter der göttlichen Schöpfung betrifft, setzt Benjamin
dieses Wort ein, um den Doppelsinn des Begriffs Leben zu disku-
tieren: als bloßes und höheres bzw. als natürliches und übernatür-
Die Kreatur und das Heilige 41

liches, wie im Essay über Goethes Wahlverwandtschaften nachzulesen


ist (I .1/139). Doch davon später.
Ein Abkömmling der Kontroverse um Benjamins Stellung zur
Theologie ist die Schmitt-Benjamin-Debatte, auf die sich der im Streit
um die Theologie abgeflaute konfessionelle Gestus streckenweise
verschoben hat. Zwar werden hier immer noch Pro- und Con­
tra-Debatten geführt, doch sind in etlichen Beiträgen inzwischen
die Momente gegenseitiger Bezugnahme ebenso wie signifikante
Unterschiede herausgearbeitet worden: sowohl die Unterschiede
zwischen Benjamins Deutung der barocken und Schmitts Theorie
moderner Souveränität, die im folgenden Kapitel diskutiert wer-
den, als auch die zwischen ihren spezifischen Begriffen des Ausnah-
mezustands. Allerdings sind die Konsequenzen dieser Unterschiede
für das Verständnis von und den Umgang mit Säkularisierung noch
wenig beachtet.
Eine andere Fortsetzung hat die Kontroverse um das Theolo-
gische in der Auseinandersetzung mit Benjamins Stellung zur jüdi-
schen Tradition und zur Lehre gefunden. In deren Zentrum steht der
komplizierte Dialog mit dem Freund Gershom Scholem, der hier
im sechsten Kapitel eine Rolle spielen wird. Diese Kontroverse
berührt die aus Scholems Sicht strikt zu ziehende Demarkationsli-
nie zwischen jüdischer und christlicher Tradition (Scholem 1986),
die von Benjamin in seinen Arbeiten permanent unterlaufen wird,
insbesondere dort, wo er sich auf die biblische oder adamitische
Sprache bezieht. Den wichtigsten Schauplatz dieses Streits bilden
Benjamins Kafka-Essay und die daran anschließenden Differenzen
im Kafka-Verständnis von Scholem und Benjamin. Jüngst hat Sté-
phane Mosès den intellektuellen Dialog der ungleichen Freunde im
Zusammenhang des Gesamtwerks und ihrer sensiblen persönlichen
Beziehung im Scholem-Artikel des Benjamin-Handbuchs ausführ-
lich gewürdigt (Mosès 2006).
Als Seitenstück der Beiträge zu Benjamins Umgang mit der
jüdischen Tradition hat sich, ausgehend von der Bedeutung der
Kreatur und solcher Kafkascher Wesen wie Odradek, ein Diskurs
über die Bedeutung der Kreatur und des Kreatürlichen im Kon-
text der deutsch-jüdischen Tradition entwickelt. Darin wurde ein
42 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Kanon literarischer Bezüge ausgebildet, der auch für die dekon-


struktivistische Benjamin-Rezeption paradigmatisch ist: Büchner,
Kierkegaard, Nietzsche, Rilke, Kafka, Benjamin, Heidegger und
Celan (etwa Hanssen 1998). Jüngst wurde dieser Kanon von Eric
Santner in seinem Buch On Creaturely Life (2006), in dem er für
eine Naturgeschichte der Gegenwart und eine Ethik des Nächsten
plädiert, fortgeschrieben bis in die nachbenjaminsche Gegenwart
und um den Namen von W. G. Sebald erweitert.
Und schließlich ist da die Auseinandersetzung mit dem Konzept
des ›bloßen Lebens‹, die durch Agamben angestoßen wurde, dessen
Buch Homo sacer (1995, engl. 1998, dt. 2002) durch die Bemerkung
in Benjamins Kritik der Gewalt motiviert ist, es möchte sich verloh-
nen, dem »Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens
nachzuforschen«, ohne daß diese Debatte allerdings dem darauf-
folgenden Satz die gleiche Aufmerksamkeit widmete. In ihm wird
dieses Dogma nämlich als eine Art Surrogat betrachtet, als »letzte
Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition«, die dar-
auf zielt, »den Heiligen, den sie verlor«, nun statt dessen »im kos-
mologisch Undurchdringlichen zu suchen«. – Schon hier also, ein
Jahrzehnt vor dem Kraus-Text, hatte Benjamin die stillschweigende
Ersetzung des Heiligen durch ein kosmologisches Dogma im Visier:
im Kraus-Essay die Ersetzung durch höhere Gesetze, in der Kritik
der Gewalt durch die Sakralisierung des bloßen Lebens. Und schon
in diesem Zusammenhang wurde diese Substitution als bedenklich
bzw. bedenkenswürdig bewertet: »Zuletzt gibt es zu denken, daß,
was hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken
nach der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Le-
ben.« (II .1/202) Dieser Zusammenhang wird hier im dritten Kapi-
tel ausführlicher untersucht.

In den im Kraus-Aufsatz diskutierten Konzepten – neben dem


Dreigespann Gesetz-Heiliges-Kreatur sind dies: die Gerechtigkeit, die
Beziehung zwischen Weltgericht und Schöpfung sowie die zwischen
Zeugnis und Zeugung – verschränken sich die Themen der genann-
ten Rezeptions-Linien auf einem einzigen Schauplatz. Zugleich
laufen in ihm verschiedene Spuren von Benjamins Arbeit an ei-
Die Kreatur und das Heilige 43

ner Dialektik der Säkularisierung zusammen, die er in vorausge-


gangenen Texten je einzeln anhand verschiedener Register – wie
beispielsweise Eros, Sprache, Gerechtigkeit, Geschichte, Souverä-
nität – thematisiert hatte. Blickt man vom Kraus-Essay auf die-
se vorausgegangenen Texte zurück, dann wird die Arbeit an ei-
ner Dialektik der Säkularisierung als ein durchgängiges Motiv der
Benjaminschen Schriften erkennbar. Dieses betrifft seine aus der
Zäsur zwischen adamitischer Sprache und Zeichensprache gewon-
nene Sprachtheorie in den Frühschriften. Es betrifft die Deutung
der Übersetzung als Maßstab für die Entfernung von der reinen
Sprache im Übersetzeraufsatz, seine Analyse des Verhältnisses von
Gerechtigkeit und Recht in der Kritik der Gewalt wie auch die Figur
einer gegenstrebigen Fügung zwischen Messianismus und der Dy-
namis des Profanen als geschichtstheoretisches Lehrstück – all dies
Reflexionen, die Anfang der 20er Jahre entstanden sind. Es betrifft
auch die Kritik an der Inanspruchnahme eines göttlichen Mandats
durch die Dichtertheologie einer George-Schule und die Auseinan-
dersetzung mit der Vorstellung vom natürlichen Schuldzusammen-
hang im Goethe-Aufsatz wenige Jahre darauf, die Untersuchung
der Janusgestalt von Souverän und Allegorie im Trauerspielbuch
und die Figur der profanen Erleuchtung im Sürrealismus-Aufsatz
Ende der 20er Jahre – um nur die wichtigsten Stationen zu nennen.
Und selbstverständlich setzt sich diese Spur auch nach dem Kraus-
Essay fort, beispielsweise in der Art und Weise, wie Benjamin das
Nachleben theologischer Konzepte wie Erbsünde, Schuld und
Scham in jener Prozeß-Welt Kafkas erörtert, die ihrem Personal,
dem die Lehre und das Wissen um die theologische Herkunft ihrer
Begriffe verlorengegangen sind, als rein kreatürliche Welt erscheint;
so auch in der Urgeschichte der Moderne, in der die Phänomene
einer technik- und apparatedurchwirkten Welt ihren eigenen Pro-
duzenten als Naturgeschichte und die Moderne als Zeit der Hölle
erscheinen; und so schließlich im Konzept der ›Jetztzeit‹ als Modell
der messianischen Zeit in den geschichtstheoretischen Thesen.
44 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Der Resonanzraum des Heiligen


Um diese Projekte als Benjamins spezifischen Beitrag zur Säkula-
risierung zu lesen, sind verschiedene Wege oder Umwege – »Umweg
ist Methode« – denkbar. Eine Möglichkeit besteht im Durchgang
durch seine Schriften entlang signifikanter Begriffe, wie etwa dem
Heiligen. Wenn man sich an diesen Begriff hält, könnte man von
dem kurzen Text Sokrates (1916) ausgehen: von jener heiligen, auf
eine Antwort wartenden Frage, die Benjamin als Kontrast zur so-
kratischen Frage einführt. Letztere kritisiert der 24jährige Benja-
min als »bloßes Mittel zur Erzwingung der Rede« und karikiert sie
als »Erektion des Wissens«. Hier bildet das Heilige einen Horizont,
vor dem die Degradierung der Frage zum bloßen pädagogischen
Mittel einer beißenden Kritik anheimgegeben ist.
Die sokratische ist nicht die heilige Frage, die auf Antwort
wartet und deren Resonanz erneut in der Antwort wieder auf-
lebt, sie hat nicht wie die reine erotische oder wissenschaftliche
Frage den Methodos der Antwort inne, sondern gewaltsam, ja
frech, ein bloßes Mittel zur Erzwingung der Rede verstellt
sie sich, ironisiert sie – denn allzugenau weiß sie schon die
Antwort. (II .1/131)
Vom bloßen Mittel ist die heilige Frage vor allem durch das Aufle-
ben ihrer Resonanz in der Antwort unterschieden, dadurch, daß sie
dem ›Leben‹ der Sprache einen Raum eröffnet. Dieser Resonanz-
raum erhellt sich aus dem im selben Jahr entstandenen Text Über
die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in dem das
Sprechen über die Natur mit Hilfe der Sprache als Mittel von jener
Szenerie unterschieden wird, in der Erkennen und Benennen, als
eine Übersetzung des Stummen ins Lauthafte, zusammenfallen.
Von hier aus läßt sich die Kritik am bloßen Mittel als eines der
wichtigsten Leitmotive Benjaminschen Denkens verfolgen. Wenn
etwas zum bloßen Mittel für einen anderen Zweck, wenn etwas in
Dienst genommen wird, wie eine Benjamin-typische Wendung lau-
tet, dann ist das ein Indikator dafür, daß die Dimension des Heili-
gen darin getilgt ist. Insofern ist die Indienstnahme der Theologie,
Die Kreatur und das Heilige 45

»die heute bekanntlich klein und häßlich ist«, durch »die Puppe, die
man ›historischen Materialismus‹ nennt«, wie im ersten der Denk-
bilder Über den Begriff der Geschichte (I .2/693), Indikator für eine
Entheiligung der Theologie, die einen solchen Einsatz als Mittel
überhaupt erst ermöglicht. Das erinnert an die Diagnose aus dem
Kraus-Essay, daß Kultus und Schöpfung zu Weihrauchnebel und
Kirche geworden sind. – Die Vorstellung des Heiligen als Reso-
nanzraum widerspricht prinzipiell einem Sprachgebrauch, in dem
›heilig‹ als Attribut benutzt wird, sei es als Merkmal des Überir-
dischen, einer himmlischen Instanz, einer theologischen Autorität
oder irgendeiner anderen Einheit. Schon von daher wird es plau-
sibel, daß Benjamin in der Kritik der Gewalt das »Dogma von der
Heiligkeit des Lebens« zurückweist, weil darin eine Einheit wie
das bloße Leben, manchmal »alles animalische oder gar vegetabile
Leben«, oder nur das menschliche Leben, heiliggesprochen wird
(II .1/202, 201). Als Attribut kommt heilig allein der Sprache zu,
sofern diese sich im Resonanzraum des heiligen Textes bewegt, wie
dies in der Aufgabe des Übersetzers (1921) thematisiert wird. Dort ist
von den »heiligen« »Schriften« und vom »heilige[n] Wachstum der
Sprachen« die Rede (IV.1/21, 14).
In den folgenden Schriften Benjamins tritt der Begriff des Hei-
ligen eher in den Hintergrund, bis er an prominenten Stellen im
Kraus-Essay wieder auftaucht und dort nach verschiedenen Seiten
hin zum Einsatz kommt. Während der Kommentar zum Stifter-
Zitat kritisiert, daß das Heilige im Gesetzesbegriff verborgen wur-
de, erhält die Heiligung des Worts eine zentrale Bedeutung für die
poetische Sprache. In einer Passage über die Sprachgebärde von
Kraus wird dessen »Heiligung des Worts« der Georgeschen Ver-
wendung der Sprache als bloßes Mittel zum Aufstieg in den Olymp
entgegengesetzt. Es geht um Musik. Zunächst beobachtet Ben-
jamin, daß Kraus in seinen Offenbach-Vorlesungen die Musik in
engere Schranken weise, »als je die Manifeste der George-Schule
sich’s erträumten« (II .1/359). Doch wird Kraus mit dieser anti-
musikalischen Haltung für Benjamin noch nicht zum Parteigänger
einer Schule, deren Programm er im Goethe-Aufsatz, in den Pas-
sagen zur George-Schule, als Inanspruchnahme eines ›göttlichen
46 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Mandats‹ kritisiert hatte (I .1/159). Und so nimmt er die mit beider


Musikfeindlichkeit hergestellte Nähe zwischen Kraus und George
umgehend zurück:
Das kann natürlich über den Gegensatz in beider Sprachgebär-
de nicht hinwegtäuschen. Vielmehr besteht die genaueste Ver-
bindung zwischen den Bestimmungsgründen, die Kraus die
beiden Pole des sprachlichen Ausdrucks – den depotenzier-
ten des Summens und den armierten des Pathos – zugänglich
machen und denen, die seiner Heiligung des Worts verbieten,
die Formen des Georgeschen Sprachkultus anzunehmen. Dem
kosmischen Auf und Nieder, das für George »den Leib vergot-
tet und den Gott verleibt«, ist die Sprache nur die Jakobs­lei­
ter mit den zehntausend Wortsprossen. Demgegenüber Kraus:
seine Sprache hat alle hieratischen Momente von sich getan.
Weder ist sie Medium der Seherschaft noch der Herrschaft.
Daß sie der Schauplatz für die Heiligung des Namens sei – mit
dieser jüdischen Gewißheit setzt sie der Theurgie des »Wort-
leibs« sich entgegen. (II .1/359; Hvhg. S. W.)
Dort die Sprache als Vehikel für den Aufstieg des Genius, hier die
Sprache als Schauplatz für die Heiligung des Worts. Letztere sieht
Benjamin in der Tradition der Heiligung des Namens begründet, in
Kiddusch Haschem (nach Leviticus 22, 32), dem höchsten Prinzip der
jüdischen Religion. Die poetische Sprache wird von Benjamin da-
mit als Erbe dieser religiösen Tradition betrachtet, als eine Art Re-
sonanzraum des biblischen Sprachschauplatzes.
Wenn er im Anschluß die poetische Praxis von Kraus’ Verlassenen
unter das vielzitierte Motto »Je näher man ein Wort ansieht, desto
ferner sieht es zurück« stellt und als »platonische Sprachliebe« be-
zeichnet, dann betrachtet er sie als eine Sprache, die »an den Eros
gebunden worden« ist. Zur poetologischen Praxis, in der dieser an
die Sprache gebundene Eros zum Ausdruck kommt, gehören Reim
und Name, Widmung und Zitat: »Als Reim steigt die Sprache aus
der kreatürlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu sich
empor.« (362; Hvhg. S. W.) Damit wird der poetischen Sprache das
Vermögen zugeschrieben, der Kreatur den Zugang zu einer ande-
Die Kreatur und das Heilige 47

ren Sphäre jenseits der kreatürlichen Welt zu ermöglichen. – Auch


diese Vorstellung erhellt sich, wenn man an die Urszene des Benen-
nens und Erkennens im frühen Sprachaufsatz zurückdenkt, an die
Übersetzung der stummen Sprache der Natur in die menschliche
Sprache, jene biblische Urszene des Namens, in der die Schöpfung
eine Sprache erhält, indem sie benannt wird.
Wie in der anfangs zitierten Passage des Stifter-Kommentars ste-
hen auch hier das Heilige und die Kreatur wieder in einem Zusam-
menhang, der sich jedoch radikal vom Kommentar Stifters unter-
scheidet. Wenn dem Heiligen hier nun eine überraschend positive
Bedeutung zukommt, dann weder als einer abgetrennten Sphäre –
wie etwa in der Entgegensetzung von sakralen und profanen Berei-
chen – noch als Eigenschaft, die einer Instanz, einer Gattung oder
einem Begriff zugeschrieben wird. Vielmehr geht es bei der Heili-
gung des Wortes, die am Beispiel von Kraus’ poetischem Verfahren
beschrieben wird, um eine Sprachpraxis, die in der Nachfolge einer
historisch verschwundenen kultischen Haltung steht. Im Unterschied
zur theologischen Erbmasse des allmenschlichen Kreaturbegriffs, der
eine schnöde Säkularisierung zur Folge hatte, geht es hier um eine
aktive Gestaltung des Nachlebens der Religion in der Moderne –
was nun als Perspektive für eine nicht schnöde Säkularisierung be-
trachtet werden kann.
Das hat nichts mit Kunstreligion zu tun, nichts mit der Anbetung
von Kunst nach dem ›Tod Gottes‹, sondern schreibt sich von der
biblischen Sprache her. Die von Benjamin gewürdigte poetische
Praxis steht im Resonanzraum des »Bild[es] der göttlichen Gerech-
tigkeit als Sprache« (349). Diese jüdisch-biblische Vorstellung be-
gründet auch die Rede von der Sprache als Mater der Gerechtigkeit
in Benjamins vielzitierter Theorie des Zitats: »Im rettenden und
strafenden Zitat erweist die Sprache sich als die Mater der Gerech-
tigkeit. Es ruft das Wort beim Namen auf, bricht es zerstörend aus
dem Zusammenhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zu-
rück an seinen Ursprung.« (363) Wenn im folgenden Ursprung und
Zerstörung als die zwei »Reiche« bezeichnet werden, die sich im
Zitat »[v]or der Sprache« ausweisen, dann entwirft Benjamin seine
Zitattheorie nach dem Vorbild des Messianismus. Die Vollendung
48 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

der Sprache folgt dem Muster von Ende und Vollendung der Ge-
schichte in der Erlösung. Denn es heißt weiter: Nur wo Ursprung
und Ziel sich durchdringen – im Zitat –, ist die Sprache vollendet.
Damit nimmt das Zitat im Verhältnis zur Sprache eine vergleich-
bare Stellung ein wie die Erlösung im Verhältnis zur Historie. Der
Sprachpraxis, die sich an der Heiligung des Wortes orientiert, liegt
ein messianisches Konzept zugrunde.
Der Schlußsatz von Benjamins Theorie des Zitats nimmt noch
einmal den Kontrast dieser Haltung zum kritisierten allmensch­
lichen Kreaturbegriff auf. Während die Kreatur, in deren Namen
sich Kraus den Tieren zuwendet, im ersten Abschnitt des Essays als
Tugendspiegel der Schöpfung karikiert wurde, »in welchem Treue,
Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener Zeitferne herüberlä-
cheln« (341), wird das Zitat hier zum Spiegel der »Engelsprache, in
welcher alle Worte, aus dem idyllischen Zusammenhang des Sinnes
aufgestört, zu Motti in dem Buch der Schöpfung geworden sind«
(363). Wenn im Umgang mit der religiösen Tradition in der Mo-
derne ein Spiegelverhältnis zur Schöpfung hergestellt wird, dann
kann dies nur in der Sprache geschehen, denn die Idee der Schöp-
fung entspringt dem Buch der Schöpfung, der Genesis. – Der zwei-
te Abschnitt des Essays widmet sich Kraus’ Bemühen, denselben
Resonanzraum der Sprache als Mater der Gerechtigkeit in seiner
Rechtskritik zu entfalten, was Benjamin im treffenden Bild der
»Sprachprozeßordnung« faßt. Er sieht in diesem Versuch allerdings
einen »jüdischen Salto mortale«: »Das Bild der göttlichen Gerech-
tigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu verehren, das ist
der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann des Dämons
zu sprengen sucht.« (349)
Die im Kraus-Essay verhandelten Konzepte stehen in enger
Verbindung zu Benjamins langjähriger Arbeit am Kafka-Beitrag.
Schon die erste Aufzeichnung zu dieser Arbeit, die Idee eines My-
steriums (1927), stellt eine vergleichbare Konstellation her, wie sie
Kraus an der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht versinn-
bildlicht: »Die Geschichte darzustellen als einen Prozeß in welchem
der Mensch zugleich als Sachwalter der stummen Natur Klage führt
über die Schöpfung und das Ausbleiben des verheißnen Messias.«
Die Kreatur und das Heilige 49

(3/303) Und von der Poetologie, die dem Prinzip einer Heiligung
des Worts folgt, ist es nicht weit zu Kafkas Literatur, die sich, so
Benjamin, jener Fragen annimmt, die in einer Welt ohne Religion
verwaist sind:
Kafkas Werk, in dem es um die dunkelsten Anliegen des
menschlichen Lebens geht (Anliegen, deren je und je sich
Theologen und selten so wie Kafka es getan hat, Dichter an-
genommen haben), hat seine dichterische Größe eben daher,
daß es dieses theologische Geheimnis ganz in sich selbst trägt,
nach außen aber unscheinbar und schlicht und nüchtern auf-
tritt. (IV.1/467; Hvhg. S. W.)
Es wird Benjamin dann nicht darum gehen, dieses theologische
Geheimnis aufzuklären, sondern darum, die Art und Weise zu un-
tersuchen, in der die Gesetze und Riten der Tradition in Kafkas
Welt der Kreaturen fortleben, ohne diesen als solche kenntlich zu
sein. Von Willy Haas übernimmt er die Deutung, daß das »geheim-
nisvolle Zentrum« von Kafkas Prozeß, das Vergessen, der jüdischen
Religion entstamme, und zitiert Haas: »der heiligste … Akt des …
Ritus ist die Auslöschung der Sünden aus dem Buch des Gedächt-
nisses« (II .2/429).
Das Zentrum von Benjamins eigenen Reflexionen über die
Kreatur und die Schöpfung ist nicht das Heilige, sondern die Frage,
auf welche Weise die mit der Säkularisierung verschwundene Hal-
tung religiösen Kulten gegenüber in der Moderne zum Ausdruck
gebracht wird. Daß bei der Verfolgung dieser Frage eher seltener
die Begriffe Säkularisierung und Heiliges zum Einsatz kommen,
muß wiederum als Benjamins theologisches Geheimnis betrach-
tet werden. Da seine Reflexionen sich weitgehend in Denkbildern
vollziehen, soll sein Umgang mit der Säkularisierung im folgenden
anhand jener Figuren, Bilder und Schauplätze verfolgt werden, in
denen seine Arbeit an der Dialektik der Säkularisierung zum Aus-
druck kommt. Dabei geht es sowohl um Säkularisierung als einer
historischen Beschreibungskategorie als auch um eine Haltung, die
die Dignität einer Methode hat.
50 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Schauplatz der Säkularisierung:


Entfernung von der Schöpfung
Benjamins Auseinandersetzung mit der Säkularisierung folgt einem
topographischen Denken, in dem geschichtliche Konstellationen
als Denkbild und als Schauplatz erscheinen, in den die Geschichte
hineingewandert ist. Eines dieser Bilder, das seine Geschichtstheo-
rie von Grund auf prägt, ist die Entfernung von der Schöpfung: Diese
Figur kann buchstäblich als Grund und Denkbild seiner geschichts-
theoretischen Reflexion betrachtet werden.
Der wichtigste Bezugspunkt dieser Figur ist der frühe Sprachauf-
satz, in dem Benjamin die Genesis als geschichtstheoretische Erzäh-
lung liest: In ihr ist das Ende des paradiesischen Sprachzustands bzw.
der adamitischen Sprache des Namens als »Sündenfall des Sprach-
geistes« gefaßt, gleichursprünglich mit dem Eintritt in eine Sprache
im Stande der Geschichte. Mit dem Beginn dieser Zeichensprache,
in der die Menschen über die Dinge reden, gekennzeichnet durch
Merkmale wie Urteilen, Unterscheidung von Gut-Böse und Mög-
lichkeit zur Abstraktion, d. h. mit dem Eintritt in diese in der Ge-
schichte waltende Sprache ist der Zugang zur adamitischen Sprache
der Schöpfung abgeschnitten. Deren Eigenschaften können nun al-
lein noch in verschiedenen Modi des Nichtmitteilbaren zum Aus-
druck kommen. Im Unterschied zur stummen Sprache der Natur
und der Dinge, die im adamitischen Sprachzustand in die verbale
Sprache des Menschen übersetzt wird, beginnt nach der Zäsur des
Sündenfalls eine »andere Stummheit«, insofern aus der Überbenen-
nung der Natur nun die Klage entspringt (II .1/155). Die Klage wird
also als Ausdrucksform der Kreatur im Zustand der Entfernung von
der Schöpfung betrachtet.
Die Figur des Sündenfalls, Konstellation einer Zäsur, in der das
Ende des Paradieses und der Ursprung der Historie zusammenfal-
len, hat Benjamin fünf Jahre später in Die Aufgabe des Übersetzers
(1921) zu jenem Raum hin geöffnet, der sich jenseits des Sünden-
falls auftut und der nun als Entfernung von der Schöpfung und als
Entfernung von der Offenbarung gedacht wird. Denn im Lichte
einer messianischen Perspektive richtet sich der Blick hier nicht
Die Kreatur und das Heilige 51

zurück auf das Verlorene, sondern auf jene Offenbarung, die am


Ende der Geschichte steht. Für eine Theorie der Übersetzung be-
steht der entscheidende epistemische Schritt nun darin, darauf zu
verzichten, den bekannten Streit zwischen wörtlicher und sinnge-
mäßer Übersetzung fortzuführen. Statt dessen schreibt Benjamin
der Übersetzung einen symptomatischen Charakter zu: als Probe
auf die Entfernung von der Offenbarung. Auch wenn er die Inter-
linearversion des heiligen Textes als »Urbild oder Ideal aller Über-
setzung« (IV.1/21) bewertet, dann geht es nicht darum, sich diesem
Ideal anzunähern, sondern eher darum, den Abstand von diesem
Urbild zu reflektieren. Da sich die Aufgabe der Übersetzung am
ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen Aufleben der
Sprache entzünde, sei es an ihr, die Probe auf das Wachstum der
Sprachen zu machen:
Wenn aber diese [die Sprachen – S. W.] derart bis ans messiani-
sche Ende ihrer Geschichte wachsen, so ist es die Übersetzung,
welche am ewigen Fortleben der Werke und am unendlichen
Aufleben der Sprachen sich entzündet, immer von neuem die
Probe auf jenes heilige Wachstum der Sprachen zu machen:
wie weit ihr Verborgenes von der Offenbarung entfernt sei,
wie gegenwärtig es im Wissen um diese Entfernung werden mag.
(14; Hvhg. S. W.)
Insofern auch bewertet Benjamin »alle Übersetzung« als eine »ir-
gendwie vorläufige Art, sich mit der Fremdheit der Sprachen aus-
einanderzusetzen«. Die Übersetzung ist also ein Symptom für den
Abstand von der Schöpfung und für die Entfernung von der Offen-
barung. – Übersetzung und Klage bilden bei Benjamin in gewisser
Weise eine gegenstrebige Konfiguration. Während die Überset-
zung ein Wissen um den Abstand zu Schöpfung und Offenbarung
voraussetzt, ist die Klage eher ein unreflektierter Ausdruck dieser
Entfernung, indem sie sich in der Geschichte unmittelbar an die
Schöpfung adressiert.
In dem wiederum ein Jahrzehnt später publizierten Kraus-Essay
wird die beschriebene Position »an der Schwelle des Weltgerichts«
(II .1/348) zur Probe auf die Wirkung von Sprachgebärden, in de-
52 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

nen in der Moderne auf die Schöpfung Bezug genommen wird.


Das Bild von Kraus an der Schwelle zwischen Schöpfung und Welt-
gericht ist als dialektische Figur gestaltet. Der Gestus der Klage
wird darin als eine Haltung gedeutet, die sich – als gäbe es keine
Entfernung von der Schöpfung – unmittelbar an diese adressiert,
sich zurückwendet, ähnlich wie das lyrische Ich von Scholems Ge-
dicht Gruß vom Angelus in dem Vers »Ich kehrte gern zurück«, das
hier im neunten Kapitel eine Rolle spielen wird. Der Gestus der
Anklage entspringt dagegen einer Umkehr bzw. einer Unterbre-
chung der Klage, wobei die Instanz, an die sich die Anklage in der
schöpfungsabgewandten Welt adressiert, nach dem Bild des gött­
lichen Gerichts modelliert ist: als Weltgericht. Während die Klage
vollkommen einer Schöpfungsvorstellung unterworfen ist, die die
Geschichte nur als Warteraum vor dem Reich der Erlösung be-
trachtet, ist die Anklage dagegen eine profane Rede, die sich jedoch
am Modell der Schöpfung orientiert. Aus dieser Schwellenposition,
die als Zugleich unvereinbarer Sprachgebärden beschrieben ist und
insofern keine eindeutige, dauerhafte Ausdrucksweise zuläßt, er-
klärt sich das Schlußbild des Textes, in dem ein »neuer Engel«, ein
»Unmensch«, auftaucht. Dieser »schnell verfliegenden Stimme« sei
»das ephemere Werk von Kraus nachgebildet. Angelus – das ist der
Bote der alten Stiche« (367).
In den Denkbildern der geschichtstheoretischen Thesen (1940)
taucht dieser Unmensch ein Jahrzehnt später als »Angelus Novus«
wieder auf, nunmehr deutlich und explizit von den Menschen
unterschieden. Die Umkehr zwischen Schöpfung und Weltgericht,
Klage und Anklage in der beschriebenen Schwellenposition ist
jetzt in eine gegenstrebige Konfiguration überführt. In ihr werden
die Klage und der Blick auf die Entfernung von der Schöpfung
dem stummen Engel zugeordnet, der seinen starren Blick auf die
Katastrophe heftet, während »eine Kette von Begebenheiten vor
uns erscheint« (I .2/697). Der Januston von Klage und Anklage ist
hier auf zwei Positionen mit entgegengesetzten Blickrichtungen
verteilt: auf den Blick von »uns« in der Position historischer Sub-
jekte in der Geschichte, aus der wir nicht austreten können, es sei
denn um den Preis des Status als Mensch, und auf den Engel, der
Die Kreatur und das Heilige 53

in Richtung des Paradieses blickt, dorthin, wo mit dem Sündenfall


die Geschichte ihren Anfang nahm. Als Double des historischen
Subjekts verkörpert der Engel ein Wissen um die Entfernung von
der Schöpfung, die das Wissen von der Kette der Begebenheiten
buchstäblich konterkariert. D. h. aber auch, daß der Blick von uns
und der des Engels nicht in einer Perspektive zu versöhnen sind.
Im Angelus Novus hat Benjamin das dialektische Bild einer gegen-
strebigen Fügung entworfen, die er nahezu zwei Jahrzehnte zuvor
im Theologisch-politischen Fragment in einem begrifflichen Denkbild
diskutiert hatte: im Bild zweier Pfeilrichtungen, in denen messia-
nische Intensität und die Dynamis des Profanen sich auf entge-
gengesetztem Wege gegenseitig befördern (II .1/203 f.). In diesem
»Lehrstück der Geschichtsphilosophie« entwickelt Benjamin den
philosophischen Kerngedanken seiner Dialektik der Säkularisie-
rung aus der Kritik an einer politischen Theokratie – weshalb seine
Geschichtstheorie auch nicht mit politischer Theologie verwechselt
werden sollte. Dieser Kerngedanke besagt, daß die Ordnung des
Profanen nicht am Gedanken des Gottesreiches aufgebaut werden
könne. Vielmehr ist die messianische Intensität dem Profanen als
Rhythmus eingeschrieben. Wenn Benjamin hier den messianischen
Rhythmus der Natur als Glück bezeichnet und ausführt, daß die
weltliche restitutio in integrum, d. h. die welt­liche Wiedereinsetzung
in den vorherigen Stand, in die Ewigkeit des Untergangs führe,
dann erinnert das sowohl an die biblische Vorstellung, der Mensch
sei aus Erde gemacht und werde wieder zur Erde, als auch an zeit-
genössische biologische Vorstellungen von Sterblichkeit als einer
Angleichung des Organischen ans Anorganische – wie Sigmund
Freud sie zu gleicher Zeit auch in Jenseits des Lustprinzips (1920) auf-
genommen hat. Darin sind Todestrieb als »allgemeinste[s] Streben
alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukeh-
ren«, und Eros als lebenserhaltender Trieb einander entgegengesetzt
(Freud 1975, 270; vgl. 262). Während Freud eine gegenstrebige
Triebbewegung von Eros und Todestrieb beschreibt, ist dieselbe
Konfiguration bei Benjamin aus Vergängnis und Glückssuche ge-
bildet: »Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und tota-
len Vergängnis.« (II .1/204) Wenn es heißt, daß sich das Erstreben
54 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

des Irdischen auf eine Gleichzeitigkeit von Glück und Untergang


ausrichtet – auf seinen Untergang im Glück –, dann referiert dieser
Rhythmus auf messianische und moderne naturwissenschaftliche
Vorstellungen zugleich. Benjamins Lehrstück der Geschichtsphilo-
sophie, das mit einer Zurückweisung der Theokratie für die Ord-
nung des Profanen beginnt, mündet damit in einer Doppelreferenz
auf biblische und wissenschaftliche Vorstellungen.

Die Sprache der Säkularisierung:


Zweideutigkeit oder Doppelreferenz
Was bedeuten diese Überlegungen für die Begriffe und die Sprache
auf dem Schauplatz der Säkularisierung? Um diese Frage zu erör-
tern, drängt sich zunächst Benjamins Beobachtung auf, daß sich in
Kraus’ Polemik, in seiner Rhetorik und seinen Gebärden Fortschritt
und Archaik verschränken. So beschreibt Benjamin Kraus’ Polemik
als »Verschänkung einer, mit den vorgeschrittensten Mitteln arbeiten-
den, Entlarvungstechnik und einer, mit archaischen [Mitteln – S. W.]
operierenden, Kunst des Selbstausdrucks«. (345 f.; Hvhg. S. W.) Ein
Leitmotiv des Kraus-Textes ist denn auch die Zweideutigkeit, die
als sprachlicher Effekt der genannten Position an der Schwelle von
Schöpfung und Weltgericht, von Klage und Anklage gedeutet wer-
den muß.
Den Sensationen und Meinungen, die Kraus als schlechte
Prinzipien der Tagespresse anprangert, begegne dieser einerseits
mit Klage, so wenn er der Tagespresse »die ewig neue ›Zeitung‹
gegenüber[stellt], die von der Geschichte der Schöpfung zu mel-
den ist: die ewig neue, die unausgesetzte Klage« (345). Andererseits
führe er einen sprachlichen Kampf im Namen der Gerechtigkeit,
die schon erwähnte Sprachprozeßordnung. Denn in Kraus’ Gerichts-
kammer habe die Sprache den Vorsitz. Gerechtigkeit und Sprache
blieben ihm »ineinander gestiftet«. Was aber bedeutet und was folgt
aus diesem Ineinandergestiftetsein?
In diesem Zusammenhang charakterisiert Benjamin Kraus als Ei-
ferer, der die Rechtsordnung selbst in den Anklagestand versetzt,
insofern er die Justiz nicht in einzelnen Urteilen, d. h. in Fehl-
Die Kreatur und das Heilige 55

urteilen, sondern in ihrer Substanz unter Anklage stellt. Denn er


klagt das Recht des Hochverrats an der Gerechtigkeit an – und er-
gänzend fügt Benjamin hinzu: »Genauer, [Hochverrat – S. W.] des
Begriffs am Worte, aus dem er sein Dasein hat« (349; Hvhg. S. W.).
Diese Abbreviatur hat es in sich. Sie besagt folgendes: Ebenso wie
der Begriff ein Abkömmling des Wortes ist, so ist das Recht ein
Abkömmling der Gerechtigkeit. Und Kraus bezichtigt beide Ab-
kömmlinge – Recht und Begriff – des Hochverrats an jeweils genau
jener Idee, der sie ihr Dasein verdanken. Seine Anklage betrifft also
den Verrat von Konzepten wie Gerechtigkeit und Wort, in deren Na-
men die Anklage zugleich doch auch erhoben wird. Das bedeutet,
daß diese Art Anklage, die in der Historie bzw. in der Ordnung des
Profanen geführt wird, die sich jedoch auf Begriffe der göttlichen
Ordnung beruft, eine paradoxe Situation produziert. In ihr sind
die Opfer des Verrats (Gerechtigkeit und Wort) und jene Instanzen,
die angerufen werden, identisch. Erst aufgrund dieser Konstellation
erschließt sich der volle Sinn jenes Salto mortale, den Benjamin
in Kraus’ Sprachprozeßordnung erkennt: »Das Bild der göttlichen
Gerechtigkeit als Sprache – ja in der deutschen selber – zu vereh-
ren, das ist der echt jüdische Salto mortale, mit dem er den Bann
des Dämons zu sprengen sucht.« (349)
In dieser Passage verdichtet sich Benjamins Auseinandersetzung
mit der Gerechtigkeit als einer Idee, die dem positiven Recht
vorausgegangen ist, da sie einem biblischen Kontext entstammt.
Insofern die Rechtsordnung, als eine historische Instanz, sich an
der Idee göttlicher Gerechtigkeit orientiert, während das positive
Recht, als menschliche, d. h. von Menschen gemachte Ordnung,
doch zugleich auch die Entfernung von der Sphäre göttlicher Ge-
rechtigkeit markiert, ist das Recht durch eine strukturelle Zwei-
deutigkeit gekennzeichnet. So spricht Benjamin im Kraus-Aufsatz
von »konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes«. Damit formu-
liert er die Einsicht, daß der konstruktiven Funktion des Rechts-
systems in der Geschichte eine unhintergehbare Zweideutigkeit
eingeschrieben ist, weil die Justiz mit der Idee der Gerechtigkeit
einen vor-juristischen, biblischen Index mit sich führt. Demgegen-
über verhält sich die Gerechtigkeit, wenn sie in der Gegenwart
56 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

gegen die konkrete Rechtssprechung angerufen wird, destruktiv


gegenüber dem Recht, wie Benjamin in der Schlußpassage von
Karl Kraus formuliert: »Zerstörend ist denn auch die Gerechtigkeit,
die destruktiv den konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes
Einhalt gebietet.« (367)
Vor dem Horizont der herrschenden Säkularisierungstheorien,
deren avancierteste Version davon ausgeht, daß Säkularisierung als
Übertragungs- und Übersetzungsphänomen zu begreifen ist, und
insofern die Rhetorik der Säkularisierung ins Zentrum stellt (Blu-
menberg 1988), läßt sich für Benjamin zusammenfassend sagen: Er
operiert demgegenüber auf einem Schauplatz der Geschichte, auf
dem Säkularisierung als Probe auf die Entfernung von der Schöp-
fung/Offenbarung gedacht wird; d. h. stets als Differenz zur Schöp-
fung, aber im Wissen um die Abkunft der eigenen von der bibli-
schen Sprache, um eine als immer schon abgetrennten Ursprung zu
denkende Abkunft. Deren Begriffe können nicht einfach in säku-
lare Konzepte übertragen werden – wie etwa die Gerechtigkeit in
Ethik. Vielmehr fungieren sie als gleichermaßen unhintergehbare
und uneinholbare Maßstäbe. In diesem Raum der Entfernung von
der Schöpfung gewinnt die Sprache ihren Doppelsinn allerdings
erst auf dem Umweg einer klaren Distinktion zwischen Begriffen,
die der göttlichen oder biblischen Ordnung entstammen, und sol-
chen der profanen Ordnung. Deren Referenz und die spezifische,
je unterschiedliche Art und Weise der Bezugnahme auf die bibli-
sche Sprache, auf die göttliche Gerechtigkeit und die Schöpfungs-
idee können erst auf der Grundlage dieser Distinktion reflektiert
werden. Eine reflexive Säkularisierung, die im Wissen um diese
Konstellation der Historie agiert, drückt sich nicht in Übertragun-
gen und Übersetzungen aus, deren Ergebnisse als Produkte voll-
ständiger Säkularisierung daherkommen, tatsächlich aber von einer
prekären Zweideutigkeit oder Janusgestalt gekennzeichnet sind.
Dagegen setzt Benjamin Denkbilder und Figuren, die nicht auf
eine Nivellierung oder Versöhnung von Schöpfung und Geschich-
te aus sind, sondern die doppelte Bezugnahme auf profane und
religiöse Vorstellungen reflektieren: Doppelreferenz anstelle von
Zweideutigkeit.
2. Souver än und Märtyr er
Das Dilemma politischer Theologie
angesichts der Wiederkehr der Religion1

Terrorismus in religiöser Gestalt –


Gegenfigur zum Homo sacer

Seit dem 11. September werden die internationalen Schauplätze von


Krieg und Terrorismus durch eine Wiederkehr von Bildern und
Topoi geprägt, von denen man zuvor annahm, daß sie historisch
vergangenen, wenn nicht überwundenen Rhetoriken und Ikono-
graphien angehören. Die Rede vom heiligen oder gerechten Krieg
und von Schurkenstaaten, das Phänomen der Selbstmordattentäter,
die sich als Märtyrer verstehen, sowie die Kontroversen um Völ-
kerrecht, Souveränität und Menschenrechte haben zahl­reiche Deu-
tungsversuche motiviert, die den Diskurs der politischen Theorie
im engeren Sinne überschreiten, indem sie auf Erklärungen der
politischen Theologie zurückgreifen oder die Rolle von religiösen
Traditionen und Vorbildern aus künstlerisch-politischen Avantgar-
debewegungen untersuchen. In diesem Zusammenhang ging es vor
allem um Carl Schmitt und Leo Strauss, es ging aber auch um den
Situationismus von Guy Debord (Weber 2004) und immer wie-
der auch um Walter Benjamins Kritik der Gewalt, jenen Essay, dem

1  Eine erste Fassung des ersten Teils erschien in Pannewick 2004, 63–73 (in
englischer Übersetzung in The New Centennial Review, Vol. 4, Issue 3, Michigan U P
2005, 109–123; in italienischer Übersetzung in La responsabilità della critica. L’ospite
integrato. Annuario del Centro Studi Franco Fortini 1, 2004, 91–103), eine erste Fassung
des zweiten Teils in After the Totalitarianism, Part I , Telos No. 135, Summer 2006,
61–76.
58 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

einer der zentralen Begriffe der aktuellen Debatte, der des »bloßen
natürlichen Lebens« (II .1/200), entstammt.
Die Frage nach dem Verhältnis des bloßen oder auch nackten
Lebens zu Politik und Recht, die Giorgio Agambens Buch Homo
sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben erörtert, hat sich durch
die weltpolitischen Ereignisse seit seinem Erscheinen vor nunmehr
dreizehn Jahren deutlich in den Vordergrund gedrängt. Vor al-
lem der Figur des homo sacer, in der sich diese Frage verdichtet,
kommt heute eine unheimliche Aktualität zu. Die Bilder, die aus
Guantánamo um die Welt gehen, wirken wie Visualisierungen des
homo sacer, der dadurch definiert ist, daß er »getötet werden kann, aber
nicht geopfert werden darf« (Agamben 2002, 18) – oder mehr noch die
Photos aus Abu Ghraib, auf denen die Körper der Gefangenen wie
Wiedergänger jener lebenden Statuen erscheinen, mit denen Agam-
ben den homo sacer verglichen hat (109). Auch seiner im Anschluß
an Schmitt entwickelten Lesart des Ausnahmezustands, in dem die
souveräne Macht und das bloße Leben aneinander gebunden seien
(76), wurde durch die Irakpolitik von George W. Bush ein Fallbei-
spiel zugespielt, das durchaus Lehrbuchtauglichkeit besitzt. »Aus-
nahmezustand als Weltordnung« lautete denn auch der Untertitel
eines Feuilletonartikels zum Gewahrsam (FAZ , 19.  4.  2 003), in dem
Agamben das amerikanische Gefangenenlager als Signum der neuen
Weltordnung interpretiert – mit Bezug auf seine These aus Homo
sacer, die das »Lager als nómos der Moderne« interpretiert (Agamben
2002, 175–189) und die Vernichtungslager der Nationalsozialisten
als historischen Prototyp des Lagers begreift. In demselben Artikel
werden aber auch die Grenzen eines theoretischen Modells deut-
lich, das eine biopolitische Fortschreibung von Schmitts Souverä-
nitätstheorie unternimmt und derart Geopolitik und Biopolitik
engführt. Agamben bewertet hier nämlich »die neue amerikanische
Weltordnung« als strategische »Verknüpfung der beiden Paradigmen
des Ausnahmezustands und des Bürgerkriegs« und folgert: »In die-
ser Perspektive bilden Terrorismus und Staat am Ende ein einziges
System mit zwei Gesichtern, in dem jedes der Elemente nicht nur
dazu dient, die Handlungen des anderen zu rechtfertigen, sondern
jedes sogar vom anderen ununterscheidbar wird.« Die »Symmetrie
Souverän und Märtyrer 59

zwischen dem Körper des Souveräns und dem des homo sacer« (112)
aus der sechs Jahre vor 9/11 publizierten Theorie des Homo sacer
wird nun – nach den New Yorker Ereignissen und dem Irakkrieg –
auf das Verhältnis von Staat und Terrorismus übertragen. Damit
tritt in Agambens Version des aktuellen Szenarios nicht nur der
Gefangene an die Stelle des homo sacer, sondern der Terrorismus
insgesamt.
Problematisch ist an dem zitierten Statement nicht nur die The-
se einer Ununterscheidbarkeit von Staat und Terrorismus, sondern
mehr noch, daß diese Gleichsetzung nach der Seite des Terroris-
mus hin weitgehend unbeleuchtet bleibt. Wird auf diese Weise der
US -amerikanische Staat als terroristisch beschrieben, so bleibt die
umgekehrte Gleichsetzung des Terrorismus mit einem Staatssystem
ohne weitere Erläuterung. Dieser Mangel verweist auf einen blin-
den Fleck, der symptomatisch ist für den intellektuellen Diskurs
zum 11. September und zum Irakkrieg. Besetzt durch die Kritik
an der Bush-Politik, sind die theoretischen Bemühungen um eine
den aktuellen Ereignissen angemessene Kritik der Gewalt oder eine
Fortschreibung politischer Theologie mehrheitlich blind für die
neuen Formen terroristischer Gewalt. Offenbar stellen diese eine
sehr viel schwierigere Herausforderung dar für die Versuche, die
neue Weltordnung zu analysieren.
Dabei wäre die in Homo sacer erörterte Frage nach dem Verhältnis
von bloßem Leben und Politik gerade dafür zentral. Denn diese
Frage hat derzeit nicht allein in den Gefangenenbildern eine kon-
krete Gestalt angenommen, sondern auch in der Figur des Selbst-
mordattentäters, der immer mehr Schauplätze der internationalen
Auseinandersetzungen und Kampf handlungen besetzt. Der Selbst-
mordattentäter, der im Kampf gegen den ›Feind‹ oder Besatzer sein
eigenes Leben opfert und sich als Märtyrer definiert, bzw. der Ter-
rorist, der seinen bewaffneten Körper als Bombe einsetzt – diese Fi-
gur erscheint wie ein genaues Gegenbild zum homo sacer. Während
letzterer das bloße Leben darstellt, das getötet, aber nicht geopfert
werden darf, verkörpert der Selbstmordattentäter ein Leben, das
sich selbst opfert, um zu töten. Durch diesen Akt wird sein eigenes
Leben als mehr und anderes definiert denn als bloßes Leben, wird
60 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

es geweiht oder geheiligt. Es wird in Bildern überlieferter Passions-


und Märtyrer-Ikonographie präsentiert, die durch Videos, Bro-
schüren und Plakate medial verbreitet werden. Insofern ist diese
Figur nicht nur das genaue Gegenbild zum homo sacer; sie fügt sich
auch nicht in die enge Verknüpfung von bloßem Leben und »sou-
veräner Macht«, die Agambens »nómos der Moderne« kennzeichnet.
Die zentrale Rolle der Selbstmordattentäter und der neue Terroris-
mus mit religiösem Gesicht bedürfen daher einer Betrachtung, die
den Horizont der Souveränitätstheorie überschreitet.

Selbstmordattentäter – die Frage


der politischen Theologie in Gestalt
Daß sich die aktuelle europäische Debatte so stark an Carl Schmitts
Konzept des Ausnahmezustands orientiert, koinzidiert mit der Tat-
sache, daß sich die gegenwärtige Kritik der Gewalt vor allem auf
die Kritik der US -amerikanischen Politik konzentriert. So wird
Schmitt nicht nur für eine Kritik der Politik von George W. Bush
in Anspruch genommen, sondern auch gemutmaßt, daß der Bera-
terstamm um George Bush jr. selbst durch intellektuelle Erbschaft
von Leo Strauss und Carl Schmitt geprägt sei.2 Und schließlich
spielt Schmitt in dem neu aufgebrochenen Gegensatz zwischen den
USA und Europa eine Rolle, beispielsweise, wenn seine Groß-
raumtheorie als Vorlage für den Entwurf eines Europäischen Im-
periums genutzt wird, beispielsweise, wenn Carlo Masala in sei-
nem Feuilletonartikel »Europa sollte ein Reich werden« postuliert,
daß Carl Schmitt helfen könnte, »dem imperialen Universalismus
der Vereinigten Staaten auf kluge Weise zu entkommen« (FAZ ,
10. 10.  2 004).

2  So etwa, wenn Horst Bredekamp im Gespräch mit Ulrich Raulff über die »Bild-
strategien des Krieges« von einem »emphatisch angewendeten und banalisierten
Strauss« spricht: »Es kommt für die dritte Generation der Straussianer offenbar dar-
auf an, den metaphysisch begründeten Angriffen von Feinden auf einer Ebene zu
begegnen, die ihrerseits jenseits der Banalität etwa des Ökonomischen liegt.« In:
FAZ , 7.  4.  2 003.
Souverän und Märtyrer 61

Bushs Bewertung des Flugzeugattentats auf die Twin Towers als


existentielle Bedrohung des amerikanischen Staates, als Ausnah-
mezustand also, und die umgehend erfolgte Erklärung, daß sich
Amerika im Krieg befinde, wie alle nachfolgenden Erklärungen
und Schritte, lassen sich tatsächlich sehr gut unter Schmitts Motto
stellen: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«
(Schmitt 1990, 11) Als Grenzbegriff und Grenzfall der Staatslehre
wurde diese Definition der Souveränität durch Schmitt definiert,
weil damit eine Aussetzung fundamentaler Rechte im Rahmen des
Staatsrechts geregelt wird. Die jüngste amerikanische Politik stellt
nun insofern einen Grenzfall dar, als sich in deren Politik der Inter-
vention Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung mit solchen For-
men der Kriegführung vermischen, die im 20. Jahrhundert durch
internationale Abkommen (wie die Genfer Konventionen) in den
Normalbegriff internationaler Politik integriert worden sind. Im
Vorfeld des Irakkrieges hat vor allem der Versuch, die Ausübung
von Souveränität im Ausnahmezustand von der staatsrechtlichen
auf die völkerrechtliche Ebene zu verschieben und auf der inter-
nationalen Arena in Anspruch zu nehmen, die schweren Konflikte
zwischen UNO und USA ausgelöst. Für die Kämpfe und Kriege
des 20. Jahrhunderts hatte Carl Schmitt schon in seinen Büchern
Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950)
und Theorie des Partisanen (1963) die Tendenz zur Überschreitung
des Normalfalls diagnostiziert und diese Tendenz als Auflösung
jener Kriegsordnung des Jus Publicum Europaeum (JPE ) analysiert,
deren Geltung er als Epoche der ›gehegten Kriege‹ beschreibt. In
dieser hatte die Figur des Partisanen als illegales Komplement zur
Armee ihren Ort, und zwar aufgrund der Phänomene von ›Welt-
bürgerkrieg‹ und technisch aufgerüstetem ›Industrie-Partisan‹ und
der Ersetzung des konkreten, deklarierten Feindes durch einen ab-
soluten Feind. Vor dem Horizont des neuen Terrorismus hat nun
auch Schmitts Theorie des Partisanen eine Renaissance erfahren; der
Text wurde 2004 erstmals ins Englische übersetzt und in der Zeit-
schrift The New Centennial Review (Vol. 4, No. 3, Winter 2004)
veröffentlicht. Da dieser Text aber jeglicher Erörterung religions-
kultureller Zusammenhänge entbehrt, ist er wenig geeignet, die
62 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

aktuellen Phänomene des Terrorismus zu untersuchen, in denen


sich religiöse und politische Motive vermischen.
Damit stellt sich die Frage nach Bedeutung und Ort der
Religion(en) und nach dem Verhältnis von religiöser Gewalt
und Staatsgewalt in der politischen Theologie. Da die Akteure
der gegenwärtigen Märtyreroperationen, nicht zuletzt durch ihre
Rückgriffe auf die frühislamische Tradition und auf eine – auch
christliche – Märtyrerikonographie, wie Wiedergänger aus der
Vormoderne erscheinen, geht es damit auch um Fragen der Säkula-
risierung und des Fortlebens religiöser Figurationen in der Moder-
ne. Für eine politische Theologie in der Nachfolge Carl Schmitts
könnte man – mit Bezug auf die vielzitierte Formel aus seinem
Begriff des Politischen: »Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt«
– formulieren: Die Figur des Selbstmordattentäters ist die Gestalt,
die sich als Frage an die politische Theologie richtet, die sich die
Schmitt-Rezeption mithin als Frage vorlegen muß. Im folgenden
sollen die erkenntnistheoretischen Probleme erörtert werden, die
aus den Kategorien der politischen Theologie für eine Kritik der
aktuellen Gewaltphänomene erwachsen.

Szenarien eines modernen Trauerspiels


Anders als Partisanen und Widerstandskämpfer, die im geheimen
und versteckt operieren, um den militärisch überlegenen Feind in
gezielter Aktion an einer strategisch empfindlichen Stelle zu tref-
fen, agieren die heutigen Untergrundkämpfer vorzugsweise im
grellen Scheinwerferlicht. Auf dem Schauplatz eines Theaters, den
die tschetschenischen Terroristen für ihre Geiselnahme in Moskau
gewählt haben, hat sich die Bedeutung spektakulärer Inszenierun-
gen für die gegenwärtige Politik der Selbstmordattentate symbo-
lisch verdichtet: Politik der Gewalt als blutiges Schauspiel. Indem
sie Theatralität und Gewalt vereinen, haben die Fernsehbilder von
den Märtyreroperationen in Israel und Tschetschenien, von den
Kriegen im ehemaligen Jugoslawien, von den Selbstmordanschlä-
gen in Afghanistan, im Irak und in Islamabad das Theater der Grau-
samkeit längst überholt. Was die terroristische Politik allerdings vom
Souverän und Märtyrer 63

Theater radikal unterscheidet, ist die Tatsache, daß ihre Aktionen


nicht allein vor großem Publikum stattfinden, sondern das Publi-
kum selbst zur Zielscheibe nehmen. Das ist der Grund, warum
nach 9/11 die Kontroverse über eine mögliche Nähe von Avant-
garden und Terrorismus entbrannte, ausgelöst durch Jean Clairs
Artikel Le Surréalisme et la démoralisation de l’Occident (Le Monde,
12. 12.  2 001), in dem er den Surrealismus (z. B. mit André Bretons
Phantasie, auf die Passanten zu schießen) als Wegbereiter des Ter-
rorismus betrachtet.
Angesichts der Attentatsbilder scheinen mir andere Assoziatio-
nen, die historisch weiter ausgreifen, passender. Die öffentlichen,
vorzugsweise an dichtbevölkerten Orten plazierten blutigen Ge-
waltaktionen, die Präsentation von Opfern und zerstückelten Lei-
bern, die Inszenierung von Selbstmordattentätern als Märtyrern
und die rituelle Zurschaustellung der Verwundeten und Toten mi-
litärischer Vergeltungsaktionen, von ihren Kombattanten durch die
Straßen getragen, erwecken den Eindruck, als hätte auf der Bühne
der Politik das Barocktheater die Regie übernommen. In Umkehr
von Walter Benjamins Feststellung über die »radikale Konsequenz
der Angleichung der theatralischen an die historische Szenerie« im
17. Jahrhundert, als das Trauerspiel gleichermaßen als Name für das
historische Geschehen wie für das Drama galt (I .1/244), scheint
derzeit eine Angleichung der Politik an ein mediales Begehren
nach theatralischen Bildern stattzufinden.
Die Aktualität von Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels
(1927) geht aber über solche Assoziationen heutiger Gewaltszenen
zur Ausstellung zerstückelter Körper in der barocken Dramaturgie
hinaus – vor allem dadurch, daß Benjamin das barocke Theater
als Tyrannen- und Märtyrerdrama beschreibt. Schon aufgrund der
Hauptfiguren (Souverän, Tyrann und Märtyrer) und der Schau-
plätze, die nicht selten in den Osten verlegt sind und gern orien-
talische Herrscher auf die Bühne bringen, drängt sich dessen Lek-
türe gegenwärtig auf, mehr noch wegen Benjamins Erörterung des
Trauerspiels in der Dialektik der Säkularisierung. Denn angesichts
der politischen Bedeutung der Religion, die sich jüngst schockar-
tig wieder ins Bewußtsein gedrängt hat, scheint es wenig hilfreich,
64 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

eine »andernorts entgleisende Säkularisierung« von einer angeblich


»postsäkularen« westlichen Common-Sense-Kultur, eine schlech-
te also von einer guten Säkularisierung abzugrenzen, wie Jürgen
Habermas in seiner Paulskirchenrede (Habermas 2001, 12). Im
Interesse einer Einsicht in die Wirkungsmacht des Religiösen ist
es hilfreicher, wenn sich die Europäer auch mit den eigenen, über
lange Zeit wenig beachteten religionsgeschichtlichen Spuren ihrer
Kultur auseinandersetzen. Für ein solches Projekt halten eine Reihe
von Benjamins Schriften noch zu wenig beachtete Deutungsmuster
bereit, nicht zuletzt seine Lektüre des barocken Trauerspiels.
Während sich die Rezeption des Trauerspielbuches vor allem auf
Benjamins Sicht von Melancholie und Allegorie, barocker Souve-
ränität und auf seine erkenntnistheoretische Vorrede konzentriert
hat, liegt die gegenwärtige Aktualität vor allem darin, daß er das
Trauerspiel als Suche nach einer weltlichen Antwort auf religiöse An-
liegen in einer Zeit deutet, der trotz des unerschütterten Fortwir-
kens des Christentums religiöse Lösungen oder Heilsversprechen
nicht mehr zu Gebote standen: »Denn wenn die Verweltlichung
der Gegenreformation in beiden Konfessionen sich durchsetzte, so
verloren darum nirgends die religiösen Anliegen ihr Gewicht: nur
die religiöse Lösung war es, die das Jahrhundert ihnen versagte, um
an deren Stelle eine weltliche ihnen abzufordern oder aufzuzwin-
gen.« (I .1/258). Umgekehrt läßt sich für viele der gegenwärtigen
Konflikte beobachten, daß religiöse Deutungs- und Handlungsmu-
ster gerade dort an Attraktivität gewinnen, wo politische Lösungen
aussichtslos erscheinen.
Vor allem der im Trauerspielbuch entfaltete Horizont einer
Dialektik von Geschichte, Religion und Theater ist es, der Ben-
jamins Konzept von Souveränität von der Souveränitätstheorie
Carl Schmitts unterscheidet. Carl Schmitts Begriff des Politischen
gründet nämlich in der Aufhebung theologischer in staatsrecht­
liche Begriffe, während Benjamin deren Wechselbeziehung und
Spannungsverhältnis untersucht. Die Unterschiede zwischen der
Schmittschen und der Benjaminschen Diskussion politischer Theo-
logie treten deutlicher zutage, wenn der Vergleich zwischen beiden
nicht, wie in der Benjamin-Schmitt-Debatte üblich, allein über die
Souverän und Märtyrer 65

Konzepte von Ausnahmezustand, Souveränität und Entscheidung dis-


kutiert wird, sondern wenn dieser durch seinen jeweiligen Coun-
terpart, hier der Partisan, dort der Märtyrer, in ein verändertes Licht
gerückt wird.

Zur Reichweite von Carl Schmitts politischer Theologie


Was die jüngere Schmitt-Rezeption betrifft, soweit sie über fach-
wissenschaftliche, d. h. staats- und völkerrechtliche Debatten hin-
ausgeht und seine politische Theologie berührt, so ist zunächst auf-
fällig, daß diese sich nahezu ausschließlich auf zwei seiner Texte
bezieht, die aus der Zeit vor 1933 stammen: auf die Begriffe Souve-
ränität und Ausnahmezustand aus dem schmalen Bändchen Politi-
sche Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922) und
auf die Freund-Feind-Figur aus der Schrift Der Begriff des Politischen
(erstmals 1927, erw. Auflage 1932). Der Nachhall dieser Zentralbe-
griffe politischer Theologie in Schmitts eigenen Publikationen nach
1945 beschreibt dagegen keineswegs eine Kontinuität. Zwar läßt
sich eine Kontinuität der für Schmitt charakteristischen Reserven
gegenüber dem Gesetz, der Legalität, den Juden, dem Liberalismus,
dem Ökonomischen und der Technik feststellen. Doch ist auffällig,
daß er selbst in seinen eigenen Schriften, die nach dem Zweiten
Weltkrieg entstanden sind, gerade nicht auf die spezifische Ver-
knüpfung von Ausnahmezustand und Souveränitätstheorie zurück-
greift, die heute am engsten mit seinem Namen verknüpft wird.
So ist festzuhalten, daß seine gewichtigste Studie aus der Zeit
nach 1945, die Schrift Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Pu-
blicum Europaeum (1950), die Begriffe von Politik und Souveränität
von der Ebene der Staatslehre auf die des Völkerrechts verlagert –
womit jener Souveränitätsbegriff, der bis heute als Pathosformel
der Schmitt-Rezeption gelten kann: »Souverän ist, wer über den
Ausnahmezustand entscheidet« (Schmitt 1990, 11), in den Hin-
tergrund tritt. Im Zentrum steht nun vielmehr das Europäische
Völkerrecht. Dessen Geschichte wird als Epoche einer gelungenen
»Hegung des Krieges« bewertet (Schmitt 1997, 180) und durch
folgende Elemente gekennzeichnet: Überwindung der durch kon-
66 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

fessionelle Rechthaberei geschürten Bürgerkriege und Umwand-


lung der mittelalterlichen Kreuzzüge, Fehden und »heiligen Krie-
ge« in Kriege zwischen gleich-souveränen Staaten (128). Basierend
auf der im Römischen Recht eingeführten Abgrenzung des hostis
vom Räuber und Verbrecher tritt der Feind im Jus Publicum Euro-
paeum ( JPE ) als Kriegsgegner auf, womit dieser Feindbegriff gegen-
über der Differenz zwischen justus hostis oder hostis injustus gleich-
gültig ist und auf jede außerpolitische Legitimierung verzichtet.
Ist das Ideal des souveränen Staates für Schmitt im Ancien régime
verkörpert und Frankreich der erste mit juristischem Bewußtsein
souveräne Staat (97), so bezieht sich das JPE historisch auf die zwi-
schenstaatlichen Kriege der europäischen Flächenstaaten im 18. und
19. Jahrhundert, die durch die Kolonisierung nicht-europäischer
Territorien gleichsam ergänzt und vervollkommnet werden.
Der Begriff des Ausnahmezustands taucht hier nun an signifikanter
Stelle wieder auf, wenn Schmitt ihn als Analogie zum Rechtsinstitut
der occupatio bellica anführt, jener »verzwickten, zwischen den bei-
den staatlichen Souveränitäten hindurchsteuernden, Konstruktion«,
mit der die »militärisch[e] Besetzung feindlichen Gebietes« geregelt
wurde, ohne dessen Status als weiterbestehender, souveräner Staat
in Frage zu stellen (180). Im Anschluß an die Erörterung der Le-
gitimitätsprinzipien der occupatio bellica spricht Schmitt von einer
»merkwürdige[n] Wesensverwandtschaft«, »die das völkerrechtliche
Rechtsinstitut des kriegerisch besetzten Gebietes mit dem Bela-
gerungs- oder Ausnahmezustand innerhalb eines konstitutionellen
Verfassungsstaates hat« (182). Was das Verhältnis zwischen dem Aus-
nahmezustand als Begriff der Schmittschen Staatslehre von 1922
und der völkerrechtlich definierten Okkupation feindlichen Gebiets
im 1950 publizierten Nomos der Erde betrifft, so geht mit dieser
Wahlverwandtschaft allerdings eine entscheidende Verschiebung in
der Bedeutung von Souveränität einher. Nicht mehr wer über den
Ausnahmezustand entscheidet, ist souverän, sondern: Der Besetzer
– oder: wer gesiegt hat – ist souverän!
Zu fragen ist nun, was diese Wahlverwandtschaft für die Art und
Weise bedeutet, in der Schmitts politische Theologie die Säkulari-
sierung deutet: Wenn alle prägnanten Begriffe der modernen Staats-
Souverän und Märtyrer 67

lehre säkularisierte theologische Begriffe sind, wie die zweite em-


blematische Formel aus seiner Politischen Theologie lautet, wie stellt
sich die Säkularisierung dann im JPE dar? Seine Nomos-Studie, in
der die Geschichte der Säkularisierung in den Figuren von Über-
windung und Auf hebung auftritt, gibt hierauf eine emphatische
Antwort: »Am Anfang des neuen europäischen Völkerrechts steht
ein Ausruf des Albericus Gentilis, der den Theologen in der Frage
des gerechten Krieges Schweigen gebietet: Silete Theologi in munere
alieno!« (96) Tatsächlich durchzieht eine noch absolutere Version,
die Kurzfassung des Gebots in Gestalt von »Silete Theologi!«, wie
ein Leitmotiv Schmitts Spätwerk. Das Schweigen der Theologie
ist damit Anfang und Begründung seiner in Raum und historische
Zeit projizierten politischen Theologie der Moderne.
Schmitt hat dieses Gebot seinem eigenen Denken konsequent
auferlegt, auch der Theorie des Partisanen (1963) mit dem Unterti-
tel Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Aus diesem Text
springt heute vor allem die Aktualität der Kategorie des »absolu-
ten Feindes« ins Auge. Denn die Tendenz zur Überschreitung des
»normalen Krieges« wird darin vor allem an die Verwandlung des
wirklichen Feindes in einen absoluten Feind gebunden, mit wel-
cher der Krieg zum absoluten Krieg wird. Diese Situation ist heute
tatsächlich eingetreten: auf seiten der USA mit dem Entwurf einer
»Achse des Bösen« und der Erklärung »Wer nicht für uns ist, ist ge-
gen uns«. Und auch auf der anderen Seite wird gegen einen absolu-
ten Feind gekämpft, ob er den Namen des Westens, Israels oder der
Globalisierung trägt. Damit haben zwei komplementäre politische
Begriffe vollends ihre Geltung verloren. Einerseits gilt der europäi­
sche völkerrechtliche Kriegsbegriff nicht mehr, dessen Entstehung
im Nomos der Erde an die »Überwindung« älterer, vormoderner und
religiös besetzter Kämpfe (Schmitt 1997, 112), die Eingrenzung
auf einen konkreten Gegner, einen »wirklichen Feind«, und die
Anerkennung von Regeln wie etwa der Kriegserklärung gebun-
den war. In der dreizehn Jahre nach der Nomos-Studie publizierten
Theorie des Partisanen heißt es entsprechend: »Eine Kriegserklärung
ist immer eine Feind-Erklärung.« (Schmitt 2002, 87) Anderer-
seits verschwindet mit der Überschreitung des »normalen Krieges«
68 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

auch der Partisan, der einen illegalen Kampf gegen die militärische
Übermacht, meist eine Besatzerarmee, führt und den Schmitt mit
vier Kriterien definiert: »Irregularität, gesteigerte Mobilität, Inten-
sität des politischen Engagements und tellurischer [d. h. erdgebun-
dener – S. W.] Charakter« (28).
Historisch brüchig wird das Konzept des klassischen Partisanen
allerdings bereits dort, wo Interessen einer dritten Seite ins Spiel
kommen, von der die Partisanen etwa durch Waffenlieferungen un-
terstützt werden – was für fast alle »Befreiungskämpfer« im Nahen
und Fernen Osten zutrifft. Seine Grenze findet der Begriff des Par-
tisanen, so Schmitt, im ideologisch motivierten Kampf, mehr noch
im »Berufsrevolutionär des Weltbürgerkrieges« (94), den er in Lenin
verkörpert sah: »Der Partisan hat also einen wirklichen, aber nicht
einen absoluten Feind. […] Eine andere Grenze der Feindschaft
folgt aus dem tellurischen Charakter des Partisanen. Er verteidigt
ein Stück Erde, zu dem er eine autochthone Beziehung hat. Seine
Grundposition bleibt defensiv trotz der gesteigerten Beweglichkeit
seiner Taktik.« (93) Eine weitere Überschreitung des Partisanen-
begriffs sah Schmitt schließlich in einer möglichen Anpassung des
Partisanen an die Technik durch die Entwicklung eines neuen Typs,
»sagen wir de[s] Industrie-Partisanen« (81). Mit den Flugzeugatten-
taten des 11. September ist auch dieser Fall eingetreten, so daß sich
die gegenwärtigen Kämpfe jenseits der konventionellen Begriffe
von Krieg und Partisan abspielen, wie Schmitt sie analysiert hat.
Allerdings ist mit den Selbstmordattentätern, die sich als Märty-
rer inszenieren und als Gotteskrieger bezeichnen, eine Gestalt an
die Stelle des klassischen Partisanen getreten, die im Horizont der
Schmittschen Argumentation nicht aufgetaucht ist und auch nicht
auftauchen konnte. Die Kriegsschauplätze werden gegenwärtig nicht
allein von den technisch aufgerüsteten Abkömmlingen von Armeen
und Partisanen beherrscht, sondern von Souverän und Märtyrer. Die
Tatsache, daß Schmitt eine solche Entwicklung nicht ins Auge fassen
konnte, läßt sich mit dem Verschwinden aller religionshistorischen
Bezüge aus seiner politischen Theologie in der Theorie des Partisa-
nen erklären – womit auch die Möglichkeit ausfällt, den Topos des
›heiligen Krieges‹ in der Moderne zu reflektieren. Das ist um so
Souverän und Märtyrer 69

bemerkenswerter, als seine Politische Theologie zuvörderst mit dem


vielzitierten Diktum identifiziert wird, daß alle prägnanten Begriffe
der modernen Staatslehre säkularisierte theologische Begriffe seien.

Das Dilemma der politischen Theologie


im Umgang mit der Säkularisierung
Konkretisiert hat Carl Schmitt seine These säkularisierter theologi-
scher Begriffe am Beispiel der Souveränität, deren Begriff sich in sei-
ner Sicht seit dem 17. Jahrhundert nicht wesentlich verändert habe.
Das wird mit der Vorstellung begründet, daß der Monarch in der
Staatslehre des 17. Jahrhunderts mit Gott identifiziert werde und der
Staat die genau analoge Position einnehme, die dem Gott des karte-
sianischen Systems in der Welt zukomme (Schmitt 1990, 60).
Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säku-
larisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen
Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staats-
lehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige
Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch
in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwen-
dig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe. Der
Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Be-
deutung wie das Wunder für die Theologie. […] Seit langem
habe ich auf die fundamentale systematische und methodische
Bedeutung solcher Analogien hingewiesen. (Schmitt 1990,
49; Hvhg. S. W.)
Aus dieser Argumentation ergibt sich aber eine doppelte Begren-
zung für das Schmittsche Verständnis von Säkularisierung: methodisch
auf die Figuren von Analogie und Übertragung zwischen Theologie
und Recht, thematisch auf das Feld der Staatslehre. Folgt seine These
von einer Übertragung der Begriffe einem relativ geradlinigen hi-
storischen Entwicklungsmodell von Säkularisierung, so ergibt sich
daraus konsequent, daß nach einer vollzogenen Übertragung theo-
logischer Konzepte in andere Register in diesen dann religiöse Mo-
tive nicht weiter in Betracht zu ziehen sind. Wenn die Legitimität
70 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

der Souveränität in der Moderne vollends im Staatsrecht aufgeho-


ben ist, dann bleibt paradoxerweise die Religion aus dem Blickfeld
dieser Art politischer Theologie im weiteren ausgeblendet – und
damit auch die Möglichkeit, andersgeartete Beziehungen zwischen
Politik und Theologie – jenseits der Figur der Übertragung – zu
denken.
Weil Schmitts Begriff des Politischen – auch in seiner Zwischen-
bemerkung zum Begriff des Politischen in der Theorie des Parti-
sanen – de facto dem Gebot Silete Theologi! untersteht, bleibt die
Frage unberücksichtigt, ob und welche Spuren religiöser Gewalt in
»säkularisierten theologischen Begriffen« der Politik wirksam sind.
Dieser Umstand bedeutet, daß Carl Schmitt als Repräsentant, nicht
als Analytiker der Säkularisierung zu sehen ist, und zwar als Vertre-
ter jenes Typs von Säkularisierung, der die Moderne genealogisch
aus der christlichen Tradition herleitet und in einer Auf hebung
christlicher Konzepte in politische Begriffe mündet, was im Effekt
zu einer – mehr oder minder – verschwiegenen theologischen Auf-
ladung dieser Begriffe führt. Insofern läuft politische Theologie im
Sinne Schmitts auf eine Theologisierung des Politischen hinaus.3
Dieser Umstand erklärt, warum Carl Schmitt so polemisch,
wenn nicht gereizt auf Hans Blumenbergs Legitimität der Neuzeit
(1966) reagierte, ein Buch, in dem der Säkularisierungsbegriff als
letztes Theologumenon kritisiert wird. Und es erklärt auch, warum
Schmitt seine Entgegnung – nur – im Nachwort zu seiner 1970
veröffentlichten Schrift Politische Theologie II plazierte. Die im Un-
tertitel Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie klar
formulierte Absicht, diese Legende zu widerlegen und den An-
spruch politischer Theologie zu retten bzw. zu bestätigen, kommt
im Gestus einer philosophischen Streitschrift zum Tragen, die sich
in ihrem Hauptteil mit einem dreieinhalb Jahrzehnte zurückliegen-
den Text auseinandersetzt, als sei dieser soeben veröffentlicht wor-
den: mit Erik Petersons 1935 erschienener Schrift Der Monotheismus

3  Zu diesem Ergebnis kommt auch Raphael Gross: Carl Schmitt und die Juden,
Frankfurt/M. 2000, 167. Er spricht davon, »daß Schmitt eine atheistische politisch-
theologische Tradition ad extremum führt« (170).
Souverän und Märtyrer 71

als politisches Problem. Während Schmitt seine Kritik an Petersons


Argumenten mit einem Hinweis auf die Erörterung der »großen
Thomas-Hobbes-Frage« in seiner eigenen Schrift Politische Theologie
von 1922 abschließt (Schmitt 1996, 84), folgt im Nachwort die
Auseinandersetzung mit einer anderen Art von Erledigung politi-
scher Theologie, als welche Carl Schmitt Blumenbergs Buch offen-
bar empfunden hatte.
In sieben Thesen entwirft er hier zum Schluß das Bild einer
restlos »enttheologisierten, modern-wissenschaftlichen Erledigung
jeder Politischen Theologie« und bezeichnet dieses Szenario als
Gegenbild zur eigenen Position, das durch die Blumenberg-Lek-
türe für ihn deutlicher geworden sei. Seine Thesen wirken wie die
Karikatur einer von jeglichem Säkularisierungsbezug gereinigten
Welt, d. h. einer Moderne ohne jede Genealogie. Das klingt dann
so: »Der Prozeß-Progreß produziert nicht nur sich selbst und den
Neuen Menschen, sondern auch die Bedingungen der Möglich-
keit seiner eigenen Neuheits-Erneuerungen.« Oder: »Der Neue
Mensch ist aggressiv im Sinne des unauf hörlichen Fortschritts
und unauf hörlicher Neu-Setzungen.« (97) Wenn jede Referenz
auf theologische Ursprünge diskreditiert ist, wie Blumenberg in
Schmitts Lektüre meint, dann können historische Phänomene des
Neuen nur aus sich selbst heraus erklärt werden. Insofern fördert
Schmitts Polemik ein durchaus gewichtiges geschichtstheoretisches
Problem von Blumenbergs Buch zutage, die Tatsache nämlich, daß
man auch nach aller noch so differenzierten Kritik von Säkularisie-
rungsbegriff und -rhetorik ohne eine Referenz auf das Säkularisie-
rungsparadigma nicht wird auskommen können.
Dieses Nachwort, in dem Schmitt 1970 noch einmal zentrale
Thesen seiner Theorie resümiert, und zwar im »Horizont des
Problems in seiner heutigen Lage« (85), macht jedoch auch deren
eigenes Dilemma lesbar: das Dilemma politischer Theologie im
Zeichen des an die Theologie adressierten Schweigegebots. Dort,
wo Schmitt sich explizit mit der erkenntnistheoretischen Rolle der
Säkularisierung konfrontiert sieht, scheint die eigene Position nur
in Form eines Gegenbildes zur verworfenen Karikatur formuliert
werden zu können. Eine der Kernthesen aus dem Nomos der Erde,
72 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

die in diesem Nachwort wiederholt wird, lautet, daß dem Staat des
JPE der »bis auf den heutigen Tag größte rationale ›Fortschritt‹ der
Menschheit in der völkerrechtlichen Lehre vom Kriege gelungen
[ist], nämlich die Unterscheidung von Feind und Verbrecher« (86).
Da Schmitt diesen Fortschritt an der Epochenschwelle zur Neuzeit
situiert, an der das Silete Theologi! ertönte, ergibt sich daraus folgen-
des Problem: »So wird ein Blick auf das Schicksal des Feindbegrif-
fes in einer folgerichtig enttheologisierten und nur noch mensch-
lichen neuen Wirklichkeit für uns unvermeidlich.« (92) Waren die
juristischen Begriffe dieser Epoche nach Schmitt »ganz vom Staat
geprägt«, so sieht er das Nachkriegseuropa an einer erneuten Epo-
chenschwelle: »Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende«,
wie er im 1963 verfaßten Vorwort zur Wiederauflage von Der Be-
griff des Politischen schreibt (Schmitt 2002, 10). Die Frage, welche
Bedeutung die Theologie an dieser Epochenschwelle des 20. Jahr-
hunderts einnimmt, bleibt in Schmitts Polemik gegen Blumenberg
eingeschlossen, ohne explizit erörtert zu werden.
Auf die Probe gestellt wird Schmitts Aktualisierungs- und Ret-
tungsversuch politischer Theologie – allgemeiner gesagt: ein Säku-
larisierungsverständnis, das von einer Überwindung und Auf he-
bung religiöser Bedeutungen in säkulare Begriffe ausgeht – durch
das Auftauchen bzw. die Wiederkehr von Figuren aus vormoder-
nen, vorsäkularen Kontexten inmitten der Moderne. Im Kontext
von Schmitts Schriften betrifft dies den Topos des ›gerechten Krie-
ges‹. Es sollte deutlich geworden sein, daß diese Konstellation von
besonderer Relevanz für die Gegenwart ist, weil der Terminus der
›Schurkenstaaten‹ ebenso wie die Feindbilder in der Propaganda
der Gegenseite die Unterscheidung zwischen Verbrecher und hostis
negieren.
Jenseits des Jus Publicum Europaeum –
zur Wiederkehr des ›gerechten Krieges‹
Das Wiederauftauchen des ›gerechten Krieg‹ spielt im letzten Ka-
pitel von Nomos der Erde, in dem Schmitt die Auflösung des JPE
und die »Frage eines neuen Nomos der Erde« diskutiert, eine si-
gnifikante Rolle. Soll die Rhetorik eines ›gerechten Krieges‹ im
Souverän und Märtyrer 73

20. Jahrhundert nicht einfach als Rückfall hinter das JPE gedeutet
werden, so ist dafür ein anderes Deutungsmodell zu entwickeln.
Auf der manifesten Textebene wird dies aus der Rolle Amerikas
abgeleitet, insofern die mit der Monroedoktrin beanspruchte neue
Raumordnung – »Amerika den Amerikanern« (1823) – ein Ende
der Raumordnung des JPE bedeutete. In diese 1950 veröffentlich-
ten Überlegungen Schmitts mischen sich aber deutlich auch Ein-
drücke aus der jüngsten Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges.
Diese kommen vor allem in der Metaphorik zum Ausdruck, etwa
in den Bildern, in denen Amerika beschrieben wird. Der Ort der
Vereinigten Staaten und ihre Rolle für das Ende des JPE werden zu
Beginn dieses Kapitels in einem nahezu poetischen Bild eingeführt:
»Der erste lange Schatten war von Westen her auf das jus publicum
Europaeum gefallen.« (Schmitt 1997, 200) Erst 65 Seiten später
folgt eine Bewertung dieses Bildes: »Was ist also, nach dieser neuen
Linie, der völkerrechtliche Status der westlichen Hemisphäre ange-
sichts einer europäischen Völkerrechtsordnung? Etwas ganz Außer-
ordentliches, Auserwähltes.« (265; zweite Hvhg. S. W.)
Wenn der Bruch des JPE durch die Entscheidung einer anderen,
außerhalb Europas stehenden souveränen Macht, eine Art Ausnah-
mezustand auf völkerrechtlicher Ebene, bei Schmitt das Bild der
Auserwähltheit evoziert, dann scheint das selbstauferlegte Schwei-
gen der Theologie auf eine schwere Probe gestellt zu sein. Denn
Schmitts Rhetorik durchbricht hier ein säkulares Deutungsmuster,
ohne daß dieser Bruch im Hinblick auf die theoretischen Konse-
quenzen reflektiert wird. Und weiter:
Es wäre, wenigstens für eine extrem folgerichtige Meinung,
noch zu wenig gesagt, wenn man Amerika als ein Asyl der
Gerechtigkeit und Tüchtigkeit bezeichnete. Vielmehr liegt
der eigentliche Sinn dieser Auserwähltheitslinie darin, daß
überhaupt erst auf amerikanischem Boden die Bedingungen
gegeben sind, die als normale Situation sinnvolle Haltungen
und »habits«, Recht und Frieden ermöglichen. (265)
Kurz nach dem Ende des Dritten Reichs und des Zweiten Welt-
kriegs formuliert, sind die antisemitischen Konnotationen dieser
74 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Passage unüberhörbar. Dabei geht es weniger darum, noch ein-


mal Schmitts Antisemitismus zu diskutieren, da diese Frage mit der
materialreichen Studie von Raphael Gross hinreichend untersucht
worden ist. Vielmehr geht es um die rhetorische Rolle, die der
Topos der ›Auserwähltheit‹ hier spielt. Wenn der Begriff aus der
jüdischen Theologie, der den Ort des jüdischen Volkes gegenüber
Gott bezeichnet, hier als Metapher für die Beschreibung des – völ-
kerrechtlichen – Ortes jener Macht genutzt wird, die sich jenseits
des Europäischen Völkerrechts und dieses in den Augen Schmitts
buchstäblich in den Schatten stellt, dann wirken die Metaphern
wie rhetorische Abdichtungen der eigenen Theorie gegenüber ei-
ner Befragung religiöser Deutungsmuster in der Moderne. Wenn
Schmitt am Ende der Epoche der Staaten, in der die theologischen
Begriffe in den »säkularisierten theologischen Begriffen« der mo-
dernen Staatslehre aufgehoben waren, die Heraufkunft einer aus-
erwählten Macht beschreibt, dann ist es bemerkenswert, daß dies
bei ihm nicht zu einer Analyse der Wiederkehr religiöser Topoi
in den Begriff des Politischen führt. Insofern sind die Metaphern
hier Symptom für den Mangel einer Reflexion religiöser Spuren
in der europäischen, im Nomos der Erde ausschließlich christlichen
Säkularisierung.
Die Auflösung der europäischen Kriegsordnung – und damit der
theoretischen Analogie zwischen der Freund-Feind-Konstellation
in Schmitts Begriff des Politischen und dem JPE – wird im letzten
Kapitel von Nomos der Erde an den Debatten über Kriegsverbre-
chen in der Folge des Ersten und Zweiten Weltkriegs diskutiert.
Zeichen der Auflösung der alten Ordnung ist für ihn vor allem
die Aufnahme von Verbrechenskategorien in den völkerrechtlichen
Diskurs. Die Beendigung des Amnestiegebots von Friedensschlüs-
sen, die »Diskriminierung des Besiegten« und die Kriminalisierung
des Angriffskriegs (235) führen für Schmitt in »das Dilemma zwi-
schen einer juristischen und einer politischen Denkart« (253). Vom
Versailler Vertrag 1919 über die Haager und Genfer Konventionen
bis zum Londoner Statut 1945 zieht er eine Linie, die im »Unter-
gang Europas« mündet. »Osten und Westen trafen sich schließlich
im Londoner Statut vom 8. August 1945, um dort für einen Au-
Souverän und Märtyrer 75

genblick zu verschmelzen. Die Kriminalisierung nahm jetzt ihren


Lauf.« (255)
Auch für das »Problem des gerechten Krieges«, das die Studie
beschließt, spielt das Verhältnis zwischen Amerika und Europa,
mehr noch das zwischen Amerika und Deutschland eine wichti-
ge Rolle. Schon im zweiten Kapitel des Buches über das Zeitalter
der Entdeckungen, das von der historischen Genese des ›gehegten
Krieges‹ handelt, bricht in eine Beschreibung des »gehegten Krie-
ges« – anstelle einer Ableitung aus dem Gegenteil der überwunde-
nen Vorgeschichte – plötzlich und unerwartet die Gegenwart ein:
»Dagegen erstrebt die heutige Theorie des gerechten Krieges ge-
rade die Diskriminierung des Gegners, der den ungerechten Krieg
führt.« (92) Zwar nennt Schmitt hier weder Hitler noch die Alli-
ierten. Doch für die Diskussionen über eine neue Weltordnung ist
es durchaus von Belang, daß der Topos des ›gerechten Kriegs‹ im
20. Jahrhundert im Kampf gegen Hitler auftauchte und daß sich
die Position der USA als imperiale, souveräne Macht – jenseits der
Konventionen der Vereinten Nationen – historisch aus dem Krieg
gegen das Dritte Reich ableitet. Insofern kommt Deutschland im-
mer schon ein unwillentlicher Part im gegenwärtigen Szenario zu:
als historisch erster und am schwersten zu widerlegender Anlaß für
die Legitimität eines völkerrechtlichen Ausnahmezustands.
So wenig wie der Name Deutschlands an dieser Stelle genannt
wird, so wenig taucht er auf, wenn Schmitt zum Abschluß seiner
Studie in dem Abschnitt »Der Krieg der modernen Vernichtungs-
mittel« zwei Phänomene zusammenführt, in denen sich die Auf-
lösung des JPE für ihn zuspitzt: zum einen das eher technische
Phänomen des modernen Luftkriegs, mit dem sich die alte Raum-
ordnung aus Landkrieg und Seekrieg auflöse und auf diese Weise
zu einer »Entortung« führe, die »den reinen Vernichtungscharakter
des modernen Luftkrieges« zeige (298), zum anderen das Problem
des gerechten Kriegs, in dem der Überlegene den Feind zum Verbre-
cher erkläre und damit die Anwendung solcher Vernichtungsmittel
rechtfertige. Auch an dieser Stelle kommt in der Rhetorik dasjeni-
ge zur Sprache, was die Argumentation verschweigt:
76 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Der Bomben- oder Tiefflieger gebraucht seine Waffe gegen


die Bevölkerung des feindlichen Landes vertikal wie der heilige
Georg seine Lanze gegen den Drachen gebrauchte. Indem man
heute den Krieg in eine Polizeiaktion gegen Störenfriede,
Verbrecher und Schädlinge verwandelt, muß man auch die
Rechtfertigung der Methoden dieses »police bombing« stei-
gern. So ist man gezwungen, die Diskriminierung des Geg-
ners ins Abgründige zu treiben. Nur in einer Hinsicht können
mittelalterliche Thesen vom gerechten Krieg auch heute noch
von unmittelbarer Aktualität sein. (299; Hvhg. S. W.)
Man kann diese Rhetorik aus einer spezifischen Befangenheit von
Funktionsträgern des NS -Staats nach 1945 erklären. Das würde
bedeuten, daß in der Thematisierung eines modernen völker-
rechtlichen Ausnahmezustands den Alliierten ein mittelalterliches
Deutungsmuster zugeschrieben wird, bestehend aus christlicher
Drachentöter-Ikonographie und Aktualisierung des Topos vom
›gerechten Krieg‹, während der Versprecher der Schädlingsmeta-
pher zugleich auf den verschwiegenen anderen Krieg verweist, den
Hitlerdeutschland mit modernen Vernichtungsmitteln gegen die
Juden geführt hat.
Daher berührt Agambens Homo sacer eine signifikante Leerstelle
der politischen Theologie. Wenn das gleichnamige Buch allerdings
den Anspruch stellt, die neue Weltordnung zu beschreiben, das La-
ger als Materialisierung des Ausnahmezustands und »als nómos der
Moderne« (Agamben 2002, 175 ff.), dann bleiben auch bei Agam-
ben relevante Konstellationen ausgeblendet. Bei ihm, der im Ge-
gensatz zu Schmitt die Theologie wieder stark macht, sind es vor
allem geopolitische und völkerrechtliche Horizonte. Insofern Homo
sacer im Horizont der Souveränitätstheorie argumentiert, beerbt das
Buch auch deren theoretische Grenzen. Und diese sind im Hin-
blick auf die Analyse der gegenwärtigen Konflikte weitreichender
als die Befangenheiten ihres Diskursbegründers Carl Schmitt.
Das Versagen politischer Theologie angesichts gegenwärtiger
Phänomene betrifft vor allem die neu aufgetauchten Akteure auf
den Konflikt- und Kriegsschauplätzen, auf denen sich Völkerrecht,
Souverän und Märtyrer 77

Bürgerkrieg und Religionskrieg mischen. Es betrifft den Terro-


rismus mit religiösem Gesicht, insbesondere die Figur des Selbst-
mordattentäters bzw. Märtyrerakteurs, den Topos des ›gerechten‹
oder gar ›heiligen Kriegs‹, der von beiden Seiten in Anspruch ge-
nommen wird. Und es betrifft die Überlagerung von religiösem
und Verbrechensdiskurs in den Feindbildern beider Seiten ebenso
wie die Legitimierung des Handelns mit universellen Begriffen wie
Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde oder Menschenrechten.
Insofern Carl Schmitts Begriff des Politischen das Fortwirken
religiöser Traditionen ausblendet, weil er den Topos des ›gerechten
Kriegs‹ in der Moderne allein im Muster einer Kriminalisierung der
Politik interpretiert, wird deutlich, auf welche Art und Weise säku-
larisierte Begriffe, die eine vollständige Übertragung des Theologi-
schen in die Staatslehre unterstellen, es vermögen, sich gegenüber
religionskulturellen Zusammenhängen zu immunisieren. Dieser
Mechanismus betrifft selbst noch die Figur des Märtyrers. Wenn
diese am Ende der Politischen Theologie II einmal kurz auftaucht,
dann nur als Übergangsfigur zwischen Kirche und Staat, an der
die Säkularisierung von Charisma als Umwandlung erörtert wird.
Prototyp dafür ist Tertullian, von dem es heißt, daß er »am Charisma
des Märtyrers festgehalten hat und der vollen Umwandlung des Cha-
rismas in ein Amts-Charisma widersprach« (Schmitt 1996, 81).
Hier, am Ende der Politischen Theologie II , werden die ungelö-
sten Probleme der Säkularisierung lesbar, insbesondere dadurch,
daß der Text unentschieden bleibt und in Bildern und Gegenbil-
dern, Zitaten und Gegenzitaten spricht. So auch, wenn Schmitt
die theologische Vorstellung vom Doppel-Wesen des Menschen ei-
nerseits zurückweist (83), sie andererseits aber wieder einführt mit
der Frage, »was Geistlich und was Weltlich ist und wie es sich mit
den res mixtae verhält, die nun einmal in dem Interim zwischen der
Ankunft und der Wiederkunft des Herrn die ganze irdische Exi-
stenz dieses geistig-weltlichen, spiritual-temporalen Doppelwesens
Mensch ausmachen?« (84). Dieses sei die »große Thomas-Hobbes-
Frage« seiner Politischen Theologie von 1922 – eine Frage, die in den
»säkularisierten theologischen Begriffen« jenes Buches aber gerade
verschwunden bzw. aufgehoben war.
78 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Die Wiederkehr des Märtyrers


Der Auftritt des Selbstmordattentäters als eines von seiner Gemein-
schaft gefeierten ›Märtyrers‹ muß als eines der aktuellsten Phäno-
mene für das genannte Problem der res mixtae betrachtet werden.
Denn er konfrontiert die gegenwärtige Kritik der Gewalt mit ei-
ner Figur, welche die Kampfplätze als Umschlagsorte zwischen
menschlicher und göttlicher Dramaturgie definiert. Zugleich stel-
len die neuen Märtyrer eine Herausforderung für die europäische
bzw. westliche Kultur dar, weil ihr in dieser Gestalt rhetorische
Muster und Bilder aus der eigenen christlichen Vorgeschichte wie-
derbegegnen, die längst der Vergangenheit anzugehören schienen.
Die Figur des Märtyrers gehört zu denjenigen Motiven, mit denen
der Islam bei seiner Begründung im 7. Jahrhundert das Christen-
tum beerbt hat – eine Erbschaft, die ihre kulturgeschichtliche Be-
deutung auch dann entfaltet, wenn man nicht von einer direkten
Übernahme ausgeht.4 Selbst wenn die Bedeutung von schahid als
Märtyrer nicht direkt aus dem Koran abgeleitet werden kann –
anders als das Gebot zum dschihad, zum heiligen Krieg –, so ge-
hört die Ausbildung eines Märtyrerkultes in die Frühgeschichte des
­Islam, da dieser Kult auf die Urszenen der sunnitischen Schlacht-
feldmärtyrer in den Kämpfen von Bar und Uhud (624/25) und auf
den Tod des Husain, eines Enkels des Propheten Mohammed, in
der Schlacht von Kerbala (im Jahre 680) zurückgeführt wird. Bis
heute sind diese Ereignisse Gegenstand ritueller Verehrung, insbe-
sondere bei den Schiiten, die am Aschura, einem ihrer wichtigsten
Feiertage, den Todestag Husains mit Geißelungsprozessionen und
Passionsspielen begehen.
Der muslimische Märtyrer unterscheidet sich von seinem christ-
lichen Vorläufer aber dadurch, daß er von Anbeginn als Kämpfer

4  Die Frage nach dem christlichen Erbe des Islam wird sehr kontrovers diskutiert
und kann hier nicht erörtert werden. Zur Bedeutung unterschiedlicher religionsge-
schichtlicher Spuren für die Kulturgeschichte von Märtyrerfiguren vgl. die Einlei-
tung der Verf. und die Fallbeispiele in der Sammlung von Märtyer-Porträts (Weigel
2007a).
Souverän und Märtyrer 79

auftritt, sei es als Kämpfer für den ›rechten Glauben‹ gegen jene
Verfälschungen der Idee des einen Gottes, die Mohammed den Ju-
den und den Christen vorwarf, sei es als Kämpfer um die Etablie-
rung und Ausbreitung der Lehre des Propheten. Dagegen stellt sich
der christliche Märtyrer, zumindest im Ursprung, als eine Figur des
Erleidens dar. Von gr. martys = Zeuge abgeleitet, geht der christ-
liche Märtyrer auf seine Rolle als Zeuge der Passion und Opfe-
rung Christi zurück: der Märtyrer als Zeuge des Christusgesche-
hens, der auch um den Preis von Verfolgung, Folter und Tötung
an seinem Bekenntnis festhält, womit sein Martyrium als imitatio
Christi erscheint. Weil das Blut des Märtyrers als Zeugnis seines
Glaubensbekenntnisses gilt, hat Lessing es in seiner Schrift Rettung
des Hier. Cardanus auch »ein sehr zweideutiges Ding« genannt (Les-
sing 1976, 20). Zweideutig ist das Blut des Märtyrers dadurch, daß
ihm neben dem physiologischen Status noch eine andere, transzen-
dentale Bedeutung zukommt, als Symbol der Blutzeugenschaft, die
den Körper des Märtyrers in eine andere, geheiligte Sphäre erhebt.
Wenn das Blut den Märtyrer als Blutzeugen auszeichnet, verdichtet
sich in ihm gleichsam eine sakrale Evidenz: als Zeichen einer Zeu-
genschaft der Passion. Insofern zeichnet das Blut den Märtyrer im
doppelten Sinne aus, es markiert ihn und es nobilitiert ihn.
Dementsprechend stellt sich die christliche Ikonographie des
Martyriums als grausames und erhabenes Tableau erfindungsreicher
Torturen dar. In den einschlägigen Gemälden aus dem 15. bis 17.
Jahrhundert, von Cranach und Dürer über Altdorfer, van Dyck und
de Ribera bis Tiepolo, beherrschen standhafte gefolterte Märty-
rer die Szene. Im Bild als Heilige verehrt, haben sie zuvor alle
erdenklichen Formen der körperlichen Peinigung ertragen müs-
sen – deren Repertoire der Grausamkeiten den Berichten von Mas-
sakern im jüngsten Balkankrieg nicht so fernsteht. Genau gegen
diese zweideutige Symbolik richtet sich das Diktum aus Benjamins
Kritik der Gewalt: »Denn Blut ist das Symbol des bloßen Lebens.«
(II .1/199) Das bedeutet, daß Benjamin dem Blut jede nicht-physi-
sche, symbolische Bedeutung abspricht, so wie er überhaupt, wie
noch zu zeigen sein wird, seine Kritik der Gewalt von Märtyrer
und Tyrann aus deren Doppelreferenz auf eine kreatürliche und
80 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

sakrale Ordnung ableitet. Die Verehrung der Selbstmordattentäter


als Märtyrer setzt die Reduktion ihres Lebens auf das bloße, nackte
Leben voraus, denn erst als solches kann es, in eine tödliche Waffe
verwandelt, zum Instrument im heiligen Krieg werden – um an-
schließend postmortal sakralisiert zu werden.
Aus der Zweideutigkeit des Bluts in der Märtyrerkultur hat sich
im Christentum die Dynamik einer Affektökonomie entwickelt,
in der das passive Erleiden in Erregung umschlägt. War schon in
den frühchristlichen Märtyrerakten häufig von Beständigkeit und
von einer freudig-erregten Hingabe an die Martern und den Tod
die Rede, so wurde die nachfolgende poetische, musikalische und
ikonographische Märtyrerverehrung zu einer Kultur der Verwand-
lung von Leid in Leidenschaft, Voraussetzung für eine Kulturge-
schichte, in der die passio zur Passion im Sinne von Leidenschaft
werden konnte (Auerbach 1967). Aus diesem Umschlag entfaltet
auch die Dramaturgie der barocken Trauerspiele ihre Dynamik,
so wenn etwa Catharina von Georgien bei Gryphius nicht nur dem
Werben des sie gefangenhaltenden persischen Königs, sondern
auch den Martern standhält und schließlich ihr »jammer-volles
Leben voll freudiger Geduld auf dem Holtzstoß vollendet« (Gry­
phius 1975, 7).
Eine Aufrüstung des Märtyrers zum Gotteskrieger oder Soldaten
Christi hat im Christentum erst im Kontext der Kreuzzüge stattge-
funden. Erst in den Kämpfen um Jerusalem hat sich der christliche
Märtyrer in einen Aggressor verwandelt. Anders in der islamischen
Tradition, in der die Figur des Märtyrers dem Schauplatz von –
überwiegend innerarabischen bzw. innerislamischen – Kämpfen
entstammt. Sein Opfertod privilegiert ihn, indem er ohne Gericht
einen Platz im Paradies erhält. Auch wenn das Blut des muslimischen
Märtyrers nicht als Zeugnis gedeutet wird, ist er durch sein Blut
ausgezeichnet. So wenn es heißt, daß die beim dschihad erhaltenen
Wunden des schahid am Jüngsten Tag wie Blut leuchten und nach
Moschus duften werden. Oder auch in jener Hierarchie der Märty-
rer, durch die diejenigen, die ihr Leben im Kampf gelassen haben
(schuhada al-ma’raka), immer schon über andere Märtyrer gestellt
sind, die keines blutigen Todes gestorben sind (schuhada al’akhira),
Souverän und Märtyrer 81

und durch die den ersteren ein besonderes Begräbnisritual zusteht.


Damit beim Jüngsten Gericht ihr Blut von ihrem heldenhaften Tod
zeugen kann, wird ihr Körper nicht der sonst üblichen rituellen
Waschung unterzogen. Oft wird der Tod der Märtyrer auch als rite
de passage interpretiert, der in poetischen Bildern als Hochzeit (’urs al
schahid) stilisiert wird. An diese Tradition anschließend, werden die
Bombenattentate palästinensischer Akteure heute oft metaphorisch
als Vermählung mit der Heimaterde dargestellt (Neuwirth 2004).
Anders als in einer nachträglichen Verwandlung von Opfern, die
im Krieg, im Widerstand oder auch als Verfolgte ihres Glaubens
umkamen, in Märtyrer, durch die einem unerträglichen Tod durch
diejenigen, die ihn erinnern, nachträglich Sinn verliehen wird, ist
mit der aktuellen Inanspruchnahme des Märtyrerbegriffs durch
Selbstmordattentäter der religiöse Begriff in ein programmatisches
politisches Instrument verwandelt worden. Der Märtyrer selbst
wird darin zur tödlichen Waffe. In seiner Inszenierung kommt es
zu einem Knoten von politischen und religiösen Deutungen, der
nicht so leicht zu lösen ist. Im Anschluß an Benjamins Trauerspiel-
buch ließen sich diese Phänomene als radikale Angleichung der
politischen an eine theologische Szenerie beschreiben, als Rück-
griff auf religiöse Deutungsmuster im Dilemma politischer – als
modernes Trauerspiel. Dem Übergang zwischen christlicher Escha-
tologie und der Säkularisierung des Historischen, die im 17. Jahr-
hundert in Anbetracht allgemeiner Trostlosigkeit die Weltflucht des
Barock auf eine absolute Immanenz verwiesen hat, steht heute eine
umgekehrte Übergangskonstellation gegenüber. In ihr werden die
uneingelösten Versprechungen der Moderne durch eine Flucht in
den religiösen Fundamentalismus beantwortet, der eine Transzen-
dierung der aussichtslosen Kämpfe verspricht.

Der Souverän als Tyrann – der Tyrann als Märtyrer


Walter Benjamins Trauerspielbuch hält für eine Untersuchung der
gegenwärtigen Wiederkehr religiöser Ikonographie und Rhetorik
in die Politik deshalb interessante Deutungsmuster bereit, weil er
darin die Figuren von Märtyrer, Souverän und Tyrann im Kontext
82 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

einer Souveränitätstheorie analysiert, die anders als Carl Schmitts


Politische Theologie nicht mit säkularisierten theologischen Begriffen
arbeitet, sondern die bei Schmitt offenbleibende Frage nach den
res mixtae ins Zentrum stellt. So bezeichnet Benjamin das baroc-
ke Trauerspiel als Tyrannen- und Märtyrerdrama und betont dabei
besonders die Art und Weise, wie sich beide Bedeutungen vermi-
schen bzw. wie sie ineinander umschlagen. Denn im Trauerspiel,
in dem der Monarch die Geschichte repräsentiert, verkörpert dieser
auch den Umschlag des Souveräns in den Tyrannen, der sich selbst,
zusammen mit seinem (Hof-)Staat, in den Untergang treibt:
Tyrann und Märtyrer sind im Barock die Janushäupter des Ge-
krönten. Sie sind die notwendig extremen Ausprägungen des
fürstlichen Wesens. Das ist, was den Tyrannen angeht, leicht
ersichtlich. Die Theorie der Souveränität, für die der Sonder-
fall mit der Entfaltung diktatorischer Instanzen exemplarisch
wird, drängt geradezu darauf, das Bild des Souveräns im Sinne
des Tyrannen zu vollenden. (I .1/249)
In der Vollendung des Souveräns im Tyrannen reflektiert Benjamin
die Doppelstellung des barocken Souveräns zwischen Theologie
und Staatslehre im Hinblick auf ihre fatalen Wirkungen. In der
tyrannischen Gestalt nämlich wird jener Ausnahmezustand, der
der gottähnlichen Stellung des Souveräns in der Sphäre weltlicher
Macht latent eingeschrieben ist, manifest und kehrt dabei seine
gewaltsamen Momente hervor. Die Lehre, die Benjamin hier im
Trauerspielbuch (1927) aus seiner Kritik der Gewalt (1921) einbringt,
diesmal nicht auf revolutionäre, sondern staatliche Gewalt bezogen,
handelt vom Umschlag verkörperter Gewalt in körperliche, physische
Gewalt.
Wenn alle Begriffe der modernen Staatslehre säkularisierte theo-
logische Begriffe sind, dann wird erst in der Untersuchung ihrer
theologischen Vorgeschichte das Erbe erkennbar, das in ihnen fort-
wirkt. Im Barock hieß es aber nicht: Souverän ist, wer über den
Ausnahmezustand entscheidet, sondern umgekehrt: Wer Souverän
ist, verfügt über die Gewalt, über den Ausnahmezustand zu bestim-
men! Diese signifikante Umkehr zwischen dem historischen, d. h.
Souverän und Märtyrer 83

barocken, und dem modernen Souveränitätsbegriff ist in Benjamins


Text in einer kaum merklichen Wendung verborgen: »Wenn der
moderne Souveränitätsbegriff auf eine höchste, fürstliche Exekutiv-
gewalt hinausläuft, entwickelt der barocke sich aus einer Diskussion
des Ausnahmezustandes und macht zur wichtigsten Funktion des
Fürsten, den auszuschließen.« (245; Hvhg. S. W.)5 Während also der
Ausnahmezustand Grundlage und Ausgangspunkt für die barocke
Souveränität ist, ist er umgekehrt Effekt des modernen Souveräni-
tätsbegriffs. Diese Passage in Benjamins Text ist durch die vieldis-
kutierte Fußnote mit dem Verweis auf Schmitts Politische Theologie
ergänzt. Unmittelbar nach dieser Fußnote fährt Benjamins Text
jedoch – in Umkehrung des Arguments von Schmitts These »Sou-
verän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« – fort, näm-
lich: »Wer herrscht ist schon im vorhinein dafür bestimmt, Inhaber
diktatorischer Gewalt im Ausnahmezustand zu sein, wenn Krieg, Re-
volte oder andere Katastrophen ihn heraufführen.« (245 f.; Hvhg.
S. W.) Der Zweck dieser Gewalt im Ausnahmezustand wird als eine
Art Stillstellung von Geschichte und deren Rückverwandlung in
Natur beschrieben, die Benjamin als Utopie einer Diktatur be-
zeichnet: »Sache des Tyrannen ist die Restauration der Ordnung
im Ausnahmezustand: eine Diktatur, deren Utopie immer bleiben
wird, die eherne Verfassung der Naturgesetze an Stelle schwanken-
den historischen Geschehns zu setzen.« (253)
In Benjamins Darstellung unterscheiden sich barocker und mo-
derner Souveränitätsbegriff also grundlegend voneinander. Das
theologische Fundament absoluter Herrschaft im barocken Souve-
rän bildet die Möglichkeitsbedingung für seine tyrannische Ver-
wandlung, mehr noch für seine Vollendung als Tyrann: »der Sou-
verän des XVII . Jahrhunderts, der Gipfel der Kreatur, ausbrechend
in der Raserei wie ein Vulkan und mit allem umliegenden Hofstaat
sich selber vernichtend.« Das Trauerspiel wird von Benjamin also
als Schauplatz gedeutet, auf dem diese Vollendung inszeniert ist.
Deren Dynamik gründet in jenem Widerspruch, der aus der Idee

5  Zu dieser Differenz vgl. auch Weber 1992, 152.


84 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

eines sterblichen Gottes notwendig hervorgeht, insofern dieser zwi-


schen Allmacht und einem Leben im Stande der Kreatur – zwi-
schen ›Fürst der Welt‹ und ›himmlischem Tier‹ – gefangen ist. Und
in ebendieser Doppelgestalt wird er zum Märtyrer, nämlich zum
»Opfer eines Mißverhältnisses der unbeschränkten hierarchischen
Würde, mit welcher Gott ihn investiert, zum Stande seines armen
Menschenwesens« (250). Der Tyrann als Märtyrer ist also nicht Op-
fer seines Glaubens, sondern Opfer einer theologisch begründeten
Politik, die keine Unterscheidung zwischen Person und Instanz
und damit keine Grenzen kennt.
Es liegt nahe, angesichts solcher Beschreibungen an Saddam
Hussein zu denken und die Tyrannei und den Fall Saddam Hus-
seins als Trauerspiel zu betrachten. Mit solchen Assoziationen stellt
sich jedoch die Frage, welche Rolle in seinem Fall die Religion
für die Legitimierung der Souveränität spielte, im Falle eines Dik-
tators inmitten einer religiös geprägten Kultur also. Anders als in
der traditionellen Idee eines ›islamischen Staats‹ gründete Saddam
Husseins Diktatur zwar nicht im Gebot einer Einheit von Religion
und Politik – deren Mangel übrigens von einigen muslimischen
Gelehrten als Gefahr bewertet wurde, daß der Staat sich in eine
tyrannische Organisation verwandeln könne. Und doch konnte
Saddam Hussein sich – trotz der unterschiedlichen Auslegungen,
die die Frage politischer Herrschaft und ihrer Legitimität im Islam
erfährt – auf die darin u. a. begegnende Idee stützen, daß, wer auch
immer herrscht, mit Gottes Willen herrscht. Und als der Krieg
gegen den Irak sich streckenweise als Krieg gegen die Person des
Herrschers, vielleicht mehr noch gegen dessen Bild darstellte und
amerikanische Soldaten dessen monumentale Statuen, überlebens-
große Abbildungen und die Repräsentationszeichen seiner Macht
vor laufenden Kameras zerstörten, schien der Tyrann sich für ­seine
Anhänger in einen Märtyrer zu verwandeln, in dessen Namen
Widerstandsaktionen gegen die Besatzer entbrannten. Allerdings
implodierte das Bild einer durch die größte Armee der Welt ge-
jagten Einzelperson, die allein dadurch, daß sie Zielscheibe einer
überlegenen Militärmacht ist, sich für ihre Anhänger in einen Hel-
den verwandelt, spätestens durch die klägliche Erscheinung Saddam
Souverän und Märtyrer 85

Husseins bei seiner Auffindung im Erdloch. In der medialen Prä-


sentation des Gefangenen taugte dessen schwaches Bild weder zur
Figur eines Helden für seine Anhänger noch zur Figur eines gefähr-
lichen Feindes für die Besatzer. Diese Implosion des Tyrannen – in
seiner Janusgestalt als Märtyrer und Feind – hat der Dramaturgie
des modernen Trauerspiels einen neuen Akt hinzugefügt.
Die Verwandlung des Souveräns in einen Tyrannen und die Dis-
kussion über den Tyrannenmord bildeten, wie Benjamin zeigt, schon
in der frühen Neuzeit einen schwierigen Komplex: »Der alte Schul-
fall des Tyrannenmordes« behauptete sich, so Benjamin, im 17. Jahr-
hundert im Brennpunkt der Ausbildung eines neuen Souve­räni­täts­
be­griffs in der Auseinandersetzung mit den juristischen Lehren des
Mittelalters – ein Streit, der nicht zuletzt durch die Ermordung
Heinrich IV. von Frankreich Zündstoff erhalten hatte: »Unter den
Arten der Tyrannis, welche die frühere Staatslehre unterschied, ist
die des Usurpators von jeher besonders kontrovers erörtert wor-
den. Die Kirche hatte ihn preisgegeben, darüber jedoch, ob von
dem Volke oder vielmehr vom Gegenkönig oder auch einzig von
der Kurie das Signal, ihn zu beseitigen, gegeben werden könne,
ging die Debatte.« Daß sich schließlich die Position einer absoluten
Unverletzlichkeit der Souveränität vor der Kurie durchsetzte, deutet
Benjamin als Verabschiedung eines theokratischen Anspruchs, die
er vor allem auf den Protestantismus zurückführt. »Diese extreme
Lehre von der fürstlichen Gewalt ist in ihren – trotz der Gruppie-
rung der Parteien gegenreformatorischen – Ursprüngen geistvoller
und tiefer gewesen als ihre neuzeitliche Umbildung.« (245) Es folgt
der bereits zitierte Hinweis auf die Aufgabe des barocken Fürsten,
den Ausnahmezustand auszuschließen. Das bedeutet, daß eine Tö-
tung dieses Fürsten schlecht aus demselben Zustand legitimiert
werden kann, den auszuschließen seine Souveränität garantieren
soll. Es ist auffällig, daß Benjamin in diesem Zusammenhang die
Lehre von der absoluten Fürstengewalt als »extreme Lehre« bewer-
tet, womit er die unbegrenzte Ausübung der Souveränität selbst als
Extremfall der Gewalt bewertet.
Gab es im historischen Streit um den Tyrannenmord keine ein-
fache Antwort, so ist das heute nicht anders, wenn nicht noch weit
86 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

schwieriger, steht doch der ›Unverletzlichkeit des Souveräns‹ keine


Instanz mehr entgegen, deren Normen eine ein- oder begrenzende
Wirkung für die absolute Souveränität haben. Es sei denn, man
wollte den bi- und multilateralen Verträgen und völkerrechtlichen
Vereinbarungen eine vergleichbare Gegenstellung zum Souverän
zusprechen wie der Kurie in der frühen Neuzeit. Jede Begründung
eines Tyrannenmords erfordert die Legitimierung durch eine an­
dere Ordnung – mit der der Souveränitätsbegriff als solcher aber
stets angegriffen und relativiert wird. Aus diesem Grunde konn-
te die amerikanische Regierung die Beseitigung Saddam Husseins
nicht als Kriegsziel definieren, hätte das doch womöglich den po-
litischen Begriff von Souveränität überhaupt geschwächt oder in
Frage gestellt. Für die USA standen sich in George W. Bush und
Saddam Hussein gleichsam ein imperialer und ein tyrannischer Sou-
verän gegenüber. Deshalb nahmen die USA zu der Begründung
Zuflucht, der Irak habe die Konvention zur Begrenzung der Atom-
waffen verletzt, womit auf internationale Verträge zurückgegriffen
wurde. Diese binden die Entscheidung über den Ausnahmezustand
an Regeln und begrenzen damit den Souveränitätsanspruch des
amerikanischen Präsidenten in der Arena internationaler Politik.
Insofern bewegte sich die Bush-Politik zwischen einem imperialen
Akt souveräner Gewalt, der die Souveränität als solche in Frage
stellt, und der Unterwerfung unter Völkerrechtskonventionen, die
die Entscheidungsgewalt absoluter Souveränität qua Vertrag be-
grenzt.
In Benjamins Lektüre des Trauerspiels an der Schwelle zwischen
Theologie und Politik sind seine vorausgegangenen Überlegungen
zur Kritik der Gewalt (1921) eingegangen, aus jenem Text, dem die
Kategorie des »bloßen Lebens« entstammt. Dieser überschreitet die
beschriebenen Grenzen einer solchen politischen Theologie, deren
Säkularisierungsbegriff in geschichtsphilosophischen Figuren wie
Überwindung und Auf hebung gründet. Statt dessen gehen Benja-
mins Überlegungen vom Problem der Ableitung politischer, recht-
licher und philosophischer Begriffe aus theologischen oder bibli-
schen Überlieferungen aus, stellen das Problem der Doppelreferenz
menschlicher Existenz zwischen natürlichem und übernatürlichem
Souverän und Märtyrer 87

Leben ins Zentrum und entwickeln daraus eine Arbeit an der Dia-
lektik der Säkularisierung. Dabei richtet sich Benjamins Kritik der
Gewalt vor allem gegen eine prekäre Vermischung von Begriffen
der göttlichen Gewalt mit den Begriffen des Politischen, gegen eine
Inanspruchnahme der Theologie als Mittel politischer oder recht-
licher Zwecke ebenso wie gegen eine pure Übertragung sakraler
Begriffe in profane, in denen Aspekte religiöser Gewalt in ver-
schwiegener Form fortwirken. Er geht von einer unhintergehba-
ren Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Ordnung aus,
vor deren Horizont erst die spezifischen Formen von Übertragung
und die Figuren eines – verwandelten und verschobenen – Fortle-
bens religionsgeschichtlicher Bedeutungen in säkularen Kontexten
untersucht werden können. Es soll nicht behauptet werden, daß
Benjamins Kritik der Gewalt in der Lage sei, die gegenwärtige Kon-
fliktlage vollends zu erklären; sie dringt jedoch in eine Sphäre vor,
gegen die sich die politische Theologie mit Hilfe säkularisierter
theologischer Begriffe abgedichtet hat.
3. Absehung vom Gebot
in ungeheur en Fällen

Kritik der Gewalt jenseits


von Rechtstheorie und ›Ausnahmezustand‹

Für die gegenwärtige Auseinandersetzung mit den aktuellen For-


men von Gewalt ist das analytische Potential des Essays Zur Kritik
der Gewalt aus dem Jahre 1921 bei weitem noch nicht erschöpft.
Denn Benjamin unterzieht darin nicht nur Grenzfälle der mo-
dernen Rechtsordnung – wie Kriegsrecht und Todesstrafe – ei-
ner geschichtstheoretischen Analyse ihrer Gewaltformen, sondern
auch solche Ausdrucksformen von Gewalt, die sich auf eine höhere
Legitimität berufen, die ihre Handlungen also jenseits geltenden
Rechts als gerechtfertigt begründen und sich damit gleichsam ein
göttliches Mandat anmaßen. Im Hinblick auf die Reflexion säku-
larisierter theologischer Begriffe, die auch dieser Text unternimmt,
untersucht Benjamin hier die Herkunft zentraler Titel der Rechts-
theorie aus Vorstellungen, die dem Recht vorausgegangen sind.
Dabei geht es um das Fortwirken mythischer Gewalt oder göttlicher
Gewalt in modernen Formen staatlicher und revolutionärer Gewalt.
Anlaß und Ausgangspunkt ist die zeitgenössische Debatte über
revolutionäre Gewalt, insbesondere jene Argumente, die sich auf
absolute Grundsätze berufen, deren Abkunft aus der Sphäre des
Schicksals und des Heiligen von Benjamin analysiert wird.
Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß der Begriff der
Gewalt hier in einem umfassenden Sinne zu verstehen ist, der über
physische Gewalt hinausgeht. Das ist schon deshalb der Fall, weil
der Horizont der Untersuchung weit hinter die historische Ausdif-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 89

ferenzierung von potestas und violentia, von legitimer und illegitimer


Gewalt, zurückreicht. Doch wird oft übersehen, daß der Essay den
Begriff der »Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes« in einer ganz
anderen Bedeutung einführt, weder als physische Gewalt (violence)
noch als institutionelle Gewalt (power), sondern als eine Ursache,
die »in sittliche Verhältnisse eingreift«. Benjamin fügt hinzu, daß
die Sphäre dieser Verhältnisse durch die Begriffe Recht und Ge-
rechtigkeit bezeichnet werde (II .1/179). Es geht ihm also weniger
um die Ausübung von Gewalt als um das Eingreifen einer Ursache
in Recht und Gerechtigkeit, d. h. um deren Begründung oder Le-
gitimation. Genauer: Es geht um die Verwandlung einer Ursache in
Gewalt durch ihr Eingreifen in die Begriffe von Recht und Gerech-
tigkeit. Um Maßstäbe für eine Diskussion der Rechtmäßigkeit der
Gewalt zu gewinnen, wählt Benjamin eine »geschichtsphilosophi-
sche Rechtsbetrachtung« (182). Die Komplexität seines Textes er-
klärt sich aber vor allem daraus, daß er die geschichtstheoretischen
Voraussetzungen der Rechtsordnung in einer doppelten Belichtung
darstellt: zum einen im Blick auf die Herkunft des Rechts aus der
mythischen Sphäre des Schicksals und zum anderen hinsichtlich der
Ableitung der Idee gerechter Gewalt aus dem Begriff göttlicher
Gerechtigkeit. Der umfangreichere erste Teil des Essays (179–196)
konzentriert sich auf ersteres, der kürzere, ungemein verdichtete
zweite Teil (196–203) auf letzteres.

Grenzfälle – zum Mythos


der Schmitt-Benjamin-Korrespondenz
Lange Zeit wurde Benjamins Essay vorwiegend in Rücksicht auf
seine Auseinandersetzung mit Georges Sorels Réflexions sur la vio-
lence (1908)1 rezipiert. Spätestens aber seit Jacques Derridas Gesetzes-
kraft (1991) ist die Lektüre der Kritik der Gewalt durch die Konstella-
tion Carl Schmitt – Walter Benjamin geprägt und wird in jüngster
Zeit vorwiegend im Kontext von politischer Theologie und dem

1  Zu Sorel vgl. Barth 1959.


90 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Konzept des ›Ausnahmezustands‹ diskutiert. Dabei wurde der ein-


zige Brief Benjamins an Carl Schmitt durch Derridas Rede von
einer »Korrespondenz« Schmitts »mit Benjamin« (Derrida 1991,
67) erheblich aufgewertet und auf diese Weise eine Verbindung
zwischen beiden Denkern konstruiert, die es so nie gegeben hat.
Benjamins Brief an Schmitt vom 9. 12. 1930, mit dem er diesem
1930 das Trauerspielbuch überreicht hat, belegt die Lektüre von
Schmitts Schriften Politische Theologie (1922) und Die Diktatur, letz-
tere in der zweiten Auflage von 1928 (3/558). Der einzige weitere
Beleg einer Erwähnung von Schmitt in Benjamins Korrespondenz
ist der Brief an Richard Weissbach vom 23.  3. 1923, in dem Ben-
jamin erwähnt, er habe die Politische Theologie von Schmitt beim
Adressaten vergessen (2/327).
Doch die Tatsache, daß Benjamins Briefe eine Auseinanderset-
zung mit Schmitts Schriften belegen, daß er im Trauerspielbuch
Schmitts Souveränitätstheorie zitiert und hier ebenso wie in sei-
nem Text Über den Begriff der Geschichte (1940) das Konzept des
Ausnahmezustands verwendet – all dies hat in der Debatte über
politische Theologie eine so enge Verknüpfung mit Schmitt herge-
stellt, daß man von einem Schmitt-Benjamin-Paradigma sprechen
muß, auch noch, nachdem Samuel Weber 1992 darauf hingewie-
sen hat, daß Benjamins Definition barocker Souveränität »diverges
ever so slightly, but significantly« (Weber 1992, 130) von Schmitts
Satz »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«.
Die Verknüpfung der beiden Namen in der Forschung ist dadurch
nicht geringer geworden. Im Gegenteil, sie ist jüngst noch einmal
verstärkt worden, als Agamben in seinem Buch Ausnahmezustand
(2003, dt. 2004) Schmitts ein Jahr nach Benjamins Essay Zur Kritik
der Gewalt erschienene Politische Theologie als Reaktion auf Benjamin
interpretiert und die Einführung des Begriffs Entscheidung dort als
»Gegenzug zu Benjamins Kritik« bewertet hat (Agamben 2004,
66), um Benjamins Schmitt-Zitat im Trauerspielbuch wiederum als
Reaktion darauf zu deuten und damit von einem »Geheimdossier«
Benjamin – Schmitt sprechen zu können. Erst durch die Annahme
eines solchen dialogischen Kontinuums gerät der Essay Zur Kritik
der Gewalt in den Horizont des Ausnahmezustands.
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 91

Die Tatsache, daß Benjamin den Begriff Ausnahmezustand in


diesem Zusammenhang noch gar nicht benutzt, sondern, wie be-
reits zitiert, von »einem extremen Fall« und von »ungeheuren Fäl-
len« spricht, ist allerdings Teil und Anzeichen einer gewichtigeren
Differenz. Es geht bei dem von ihm diskutierten extremen Fall
nämlich nicht um einen Begriff des Staatsrechts, sondern um die
Legitimität revolutionärer Gewalt, speziell um die Rechtfertigung
eines Tyrannenmordes bzw. um die Frage, ob sich die »revolutio­
näre Tötung der Unterdrücker« (II .1/201) durch ein universelles
Tötungsverbot verbiete. Mit diesem extremen Fall verläßt der Essay
Zur Kritik der Gewalt die Gebiete von Staatsrecht und Rechtsord-
nung, die in den Passagen über Streik- und Kriegsrecht diskutiert
werden, und geht von der Rechtstheorie, vom »ganzen Bereich
der Gewalten, die Naturrecht wie positives Recht absehen« und
in denen sich keine findet, welche von der »schweren Problematik
jeder Rechtsgewalt frei wäre« (195 f.), zur Geschichtsphilosophie
über. Und genau an dieser Stelle kommt der Begriff der Erlösung
ins Spiel. Die Annahme, daß Vorstellungen für denkbare Lösungen
menschlicher Aufgaben oder gar eine Erlösung aus »alle[n] bisheri-
gen weltgeschichtlichen Daseinslagen« nicht unter Ausschluß jeg­
licher Gewalt möglich seien, wirft die Frage nach einer Gewalt auf,
die frei ist von der im ersten Teil des Essays beschriebenen »schwe-
ren Problematik« (196), und damit die Frage nach einem Begriff
von Gewalt jenseits der Rechtstheorie. Insofern markiert die Idee
der Erlösung die Grenze rechtstheoretischer Begriffe.
Es ist also richtig, daß Benjamin hier Phänomene diskutiert,
die – ähnlich wie in Schmitts Politischer Theologie – als Grenzfall der
Rechtsordnung betrachtet werden müssen. Während Schmitt aber
den staatsrechtlichen Grenzfall in der Figur des Souveräns, der über
den Ausnahmezustand entscheidet, personifiziert, sind die Grenz-
fälle für Benjamin Exempel, um eine grundlegende Problematik
jeder Rechtsgewalt zu erörtern – nämlich deren Verwiesenheit auf
vor- und außerrechtliche Begriffe wie Schicksal und Gerechtigkeit.
Wenn Schmitt als Rechtstheoretiker die politischen und staatsrecht-
lichen Begriffe als säkularisierte theologische Begriffe definiert, ist
bei ihm die Theologie im Staatsrecht aufgehoben, während Ben-
92 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

jamin an einer Dialektik der Säkularisierung arbeitet, indem er die


prekäre Beziehung zwischen Recht und Gerechtigkeit für unter-
schiedliche Fälle und historische Konstellationen en détail disku-
tiert. Dies führt ihn an die Grenzen rechtstheoretischer Begriffe
und in geschichtsphilosophische Überlegungen hinein. In ihnen
geht es um den Ursprung solcher Begriffe wie göttliche Gewalt
und Gerechtigkeit, die sich einer Umwandlung in profane Begriffe
widersetzen. Grundlage seiner Kritik der Gewalt ist die Abgrenzung
der rechtserhaltenden Gewalt menschlicher Rechtsordnungen von
ihren mythischen Vorläufern und religionsgeschichtlichen Voraus-
setzungen: sowohl von der mythischen rechtsetzenden Gewalt, de-
ren Urbild Benjamin in der bloßen Manifestation der (antiken)
Götter sieht, als auch von der rechtsvernichtenden göttlichen Ge-
walt (des Monotheismus), die jenseits der Sphäre blutiger Gewalt
und des bloßen, nackten oder natürlichen Lebens angesiedelt ist:
»Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht
das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.« (198)

Zur Kritik der Gewalt –


Diptychon aus Recht und Gerechtigkeit
In dem schwer zugänglichen Text Zur Kritik der Gewalt, der sich erst
bei mehrfachem Studium erschließt, lassen sich zwei thematisch
deutlich unterschiedene Teile ausmachen. Der erste steht unter dem
Titel des Rechts, der zweite im Zeichen der Gerechtigkeit jenseits der
Sphäre der Rechtstheorie. Der erste analysiert das Wechselverhält-
nis von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt, der zweite das
von rechtsetzender und rechtsvernichtender Gewalt, und zwar mit Be-
zug auf die mythische und die göttliche Gewalt.
Schon in einer durch Gershom Scholems Abschrift überlieferten
Aufzeichnung Benjamins, Notizen zu einer Arbeit über die Katego-
rie der Gerechtigkeit, die auf den Bericht über einen gemeinsamen
Lektüreabend in Scholems Tagebuch aus dem Jahre 1916 folgt, hatte
Benjamin den göttlichen Ursprung der Gerechtigkeit reflektiert:
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 93

Gerechtigkeit scheint sich nicht auf den guten Willen des Sub-
jekts zu beziehen, sondern macht einen Zustand der Welt aus,
Gerechtigkeit bezeichnet die ethische Kategorie des Existen-
ten, Tugend die ethische Kategorie des Geforderten. Tugend
kann gefordert werden, Gerechtigkeit letzten Endes nur sein,
als Zustand der Welt oder als Zustand Gottes. In Gott haben
alle Tugenden die Form der Gerechtigkeit, das Beiwort all in
all-gültig, all-wissend u. a. deutet darauf hin. (Scholem 1995,
401)
Nachdem er den göttlichen, gleichsam a-humanen Charakter der
Gerechtigkeit festgestellt hat, versucht Benjamin auch hier schon,
deren Stellung zum Recht zu begreifen, und spricht von einer
»ungeheure[n] Kluft, die zwischen Recht und Gerechtigkeit dem
Wesen nach klafft«. Offenbar geht er davon aus, daß diese Kluft
in der etymologischen Verwandtschaft der deutschen Begriffe un-
kenntlich ist, denn er notiert, daß andere Sprachen diese Kluft be-
zeichnet hätten. Als Beleg stellt er dann die lateinischen Begriffe ius
und fas gegenüber, gefolgt von deren griechischer und hebräischer
Übertragung:
ius   jémir [themis] tqea [mischpat, Recht]
-
fas   díkh [dike] f]r [zedek, Gerechtigkeit] (402).
In der Entgegensetzung von ius und fas bezieht Benjamin sich hier
offensichtlich auf eine ältere altphilologische Deutung, die fas ein-
deutig als göttliches Recht interpretiert und dem menschlichen
Recht ius gegenübergestellt hat. Auch wenn solche Gegensätze
nicht als statische angesehen werden können, bezieht sich fas auf
die kultischen Voraussetzungen des Rechts, die zumeist eher in den
ungeschriebenen Gesetzen fortleben. Im Römischen Recht ist fas
der Name für eine Handlung, die durch kein Tabu belegt war, die
also nicht als sacer betrachtet wurde, d. h. nicht als »etwas, dem eine
unheimliche Macht innewohnt und das darum Tabu ist« (Latte
1950, 50 f.). Im Hinblick auf solche etymologischen Überlegungen
ließe sich nun streiten, ob das lateinische fas im Griechischen nicht
besser durch hosiē, was soviel wie heiliger Brauch oder göttliches
94 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Recht heißt, übersetzt wäre als durch dikē wie bei Benjamin. Denn
im Griechischen betont hosiē offenbar den heiligen Charakter des
Rechts stärker als dikē. Doch macht der Bedeutungswandel von
dikē zwischen Mythos – Dikē als Personifikation, die der gött­
lichen Sphäre angehört – und Rechtsbegriffen – Dikē als Begriff für
die Klage vor Gericht – deutlich, auf welche Weise die religiösen
Konnotationen in die Rechtsgeschichte eingegangen und darin un-
kenntlich geworden sind. – An Benjamins Notiz aus dem Jahre
1916 ist bemerkenswert, daß er mit dem Verweis auf die Sprache
indirekt auch verschiedene kulturelle Kontexte zitiert und seine
Frage nach der Beziehung zwischen Recht und Gerechtigkeit un-
merklich aus einem biblischen, monotheistischen Kontext – der
Gerechtigkeit göttlicher Gewalt – auch in einen antiken Kontext
hinüberspielt. In den Schlußpassagen seines Essays Zur Kritik der
Gewalt wird er diese Spur fünf Jahre später – nun explizit – wieder­
aufnehmen. Hier weist er u. a. darauf hin, daß es die Konsequenz
ungeschriebener Gesetze ist, daß deren Übertretung nicht durch
Strafe geahndet wird, sondern durch Sühne. Denn deren Schuld-
begriff entstammt einer antiken Schicksalsvorstellung.
Im ersten Teil von Zur Kritik der Gewalt macht Benjamin die Ge-
walt zunächst am Grund des Rechts selbst aus: in der Dialektik von
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Erstere betrifft die – be-
stehendes Recht umstürzende – Setzung neuen Rechts, sei es durch
verbrecherische oder revolutionäre Gewalt, sei es durch äußere oder
innere Kriegführung erzwungen, während letztere die Gewalt als
Mittel zu Rechtszwecken bzw. die Gewalt als Mittel zu Zwecken
des Staates betrifft, die auch als »drohende« (II .1/188) bezeichnet
wird. Die Gewalt als Mittel wird in Benjamins Kritik der Gewalt
dabei zum zentralen Kriterium einer grundlegenden »Problematik
des Rechts« (190). Auf der Grundlage der Unterscheidung zwischen
rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt gilt Benjamins Auf-
merksamkeit dann aber gerade der strukturellen Vermischung und
dem Zusammenwirken der beiden Gewalten. – So konstatiert er für
die Todesstrafe, daß in ihrem Auftreten jene – vorgeschichtlichen –
Ursprünge der Rechtsordnung, die die Herkunft des Rechts aus der
Sphäre des Schicksals betreffen, »in das Bestehende hineinragen und
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 95

in ihm sich furchtbar manifestieren«. Wenn er betont, daß der Sinn


der Todesstrafe nicht in der Bestrafung des Rechtsbruchs bestehe,
sondern darin, »das neue Recht zu statuieren«, dann weist er auf ein
fortwirkendes Moment rechtsetzender Gewalt in der Todesstrafe
hin, auf »etwas Morsches im Recht«, das sich in der höchsten Ge-
walt, der »Gewalt über Leben und Tod«, ankündigt (188). – Dagegen
beschreibt er das Polizeirecht als »gespenstische Vermischung« beider
Arten von Gewalt und entdeckt das »Schmachvolle« darin, daß »die
Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt« darin
aufgehoben sei. Andererseits erinnert er an die – notwendige – la-
tente Anwesenheit der Gewalt in demjenigen Rechtssystem, das ihr
seine Herrschaft verdankt:
Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der
Gewalt in einem Rechtsinstitut, so verfällt es. Dafür bilden
in dieser Zeit die Parlamente ein Beispiel. Sie bieten das be-
kannte jammervolle Schauspiel, weil sie sich der revolutio-
nären Kräfte, denen sie ihr Dasein verdanken, nicht bewußt
geblieben sind. […] Ihnen fehlt der Sinn für die rechtsetzende
Gewalt, die in ihnen repräsentiert ist (190).
Das sind Symptome eines Zusammenwirkens von rechtsetzender
und erhaltender Gewalt, dessen historische Wechselbeziehungen
als Schwankungsgesetz resümiert werden: »Dessen Schwankungsge-
setz beruht darauf, daß jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer
die rechtsetzende, welche in ihr repräsentiert ist, durch die Unter-
drückung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst schwächt.«
(202) Es geht um ein historisches Gesetz, durch das in jeder Gewalt,
die eine bestehende Macht erfolgreich umstürzt, im Moment ihrer
Etablierung jene Momente tendenziell verschwinden, die Umsturz
und Neusetzung bewirkten.22

2  Ein reguläres verfassungsrechtliches Pendant erhält dieses Schwankungsgesetz in


2  Einvoluntaristischen
einem reguläres verfassungsrechtliches
Akt erwünschten Pendant erhältim
Vergessens, dieses Schwankungsgesetz
Grundsatz der damnatio
in einem voluntaristischen
memoriae. Akt Vernichtung
Dieser gebietet die erwünschten von
Vergessens, im Grundsatz der damna-
Verhandlungsprotokollen verfas-
tio memoriae. Dieser
sunggebender gebietet dieund
Versammlungen Vernichtung von Verhandlungsprotokollen
anderer Gründungsdebatten, verfas-
um die etablierten
sunggebender
Rechtstitel Versammlungen
davor zu bewahren,und anderer
durch Gründungsdebatten,
nachträgliche um die
hermeneutische etablierten
Kontroversen
Rechtstitel
über deren davor zu bewahren,
Intentionen geschwächtdurch nachträgliche
werden hermeneutische Kontroversen
zu können.
über deren Intentionen geschwächt werden zu können.
96 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Obwohl die Analyse der Rechtsgewalt und der ihr innewohnen-


den mythischen Gewalt den meisten Raum des Essays einnimmt,
bildet der Begriff der Gerechtigkeit doch den Antrieb für das Un-
terfangen, die Kritik der Gewalt über die Grenzen der Rechtstheo-
rie hinauszuführen. Dieses Jenseits der Rechtstheorie kommt vor
allem im letzten Teil des Essays zur Sprache, in dem Benjamin »die
Frage nach andern Arten der Gewalt« aufwirft, »als alle Rechts-
theorie ins Auge faßt« (196). Diese Frage muß mit dem Problem
umgehen, daß die Sphäre politischer Gewalt strukturell von jener
Sphäre geschieden ist, die die biblische Herkunft des Gerechtig-
keitsbegriffs betrifft, und dennoch auf diese Idee verwiesen bleibt.
Denn als Urbild der Gerechtigkeit macht Benjamin jene göttliche
Gewalt aus, die »niemals Mittel heiliger Vollstreckung« ist, wie es
im Schlußsatz des Essays heißt.
Beide Teile des Essays sind durch die rechtsetzende Gewalt ver-
bunden, insofern diese jeweils nach einer anderen Richtung hin
beleuchtet wird: im ersten Teil im Hinblick auf das Hineinreichen
rechtsetzender Gewalt in bestehende Rechtsinstitute, im zweiten
Teil mit Blick auf ihre mythischen Vorformen. Die rechtsetzen-
de, d. h. die eine bestehende Ordnung umstürzende und neues
Recht etablierende Gewalt stellt damit denjenigen Schauplatz dar,
auf dem Benjamin die intrikate Beziehung zwischen Gerechtigkeit
und Recht vor allem untersucht. Ein Ausdruck dieser durch Ge-
walt gestifteten Verbindung zwischen der Rechtstheorie und den
Debatten über die Legitimität revolutionärer Gewalt ist die – auf
beiden Seiten begegnende – Diskussion über gerechte Zwecke und
berechtigte Mittel. So beschreibt Benjamin im ersten Teil ein gemein-
sames Grunddogma der Rechtstheorie, in dem sich Naturrecht und
positives Recht treffen: »Gerechte Zwecke können durch berech-
tigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke ge-
wendet werden. Das Naturrecht strebt, durch die Gerechtigkeit der
Zwecke die Mittel zu ›rechtfertigen‹, das positive Recht durch die
Berechtigung der Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu ›garan-
tieren‹.« (180) Für eine Auflösung dieser Antinomie, die ohnehin in
einer zirkulären Argumentation gründet, muß man, so Benjamin,
den Zirkel verlassen und einen anderen Gesichtspunkt gewinnen,
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 97

um »unabhängige Kriterien für gerechte Zwecke sowohl als für


berechtigte Mittel« zu gewinnen (181). Das aber ist, so Benjamin,
zumindest hinsichtlich der Zwecke, nicht möglich, solange man
sich im Rahmen der Gesichtspunkte der Rechtstheorie bewegt.
Insofern wird Benjamin die Frage nach gerechten Zwecken und
berechtigten Mitteln im zweiten Teil des Essays, der jenseits der
Rechtstheorie argumentiert, wiederaufnehmen – der Begriff der
Gerechtigkeit wird dort in ein neues Licht getaucht.

Jenseits der Rechtstheorie


Diese Überschreitung der Grenze rechtstheoretischer Begriffe wird
im Essay, wie erwähnt, durch den Begriff der Erlösung – als re-
ligiöses Palimpsest der Lösung – getriggert. Nachdem Benjamin
festgestellt hat, daß sich innerhalb von Naturrecht und positivem
Recht kein Bereich der Gewalt finde, der von der schweren Pro-
blematik jeder Rechtsgewalt frei wäre, setzt er mit einer Geste des
»dennoch« neu an:
Da dennoch jede Vorstellung einer irgendwie denkbaren Lö-
sung menschlicher Aufgaben, ganz zu geschweigen einer Er-
lösung aus dem Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen
Daseinslagen, unter völliger und prinzipieller Ausschaltung
jedweder Gewalt unvollziehbar bleibt, so nötigt sich die Frage
nach andern Arten der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins
Auge faßt. (196; Hvhg. S. W.)
Die Frage nach »andern Arten der Gewalt«, die hier – durch den
Begriff der Erlösung – mit einer messianischen Perspektive asso-
ziiert wird, führt nicht nur über die Begriffe der Rechtstheorie
hinaus. Sie wird umgehend einer nun grundsätzlichen Befragung
jenes Grunddogmas überantwortet, das die Gewaltfrage in Form
einer Abwägung zwischen gerechten Zwecken und berechtigten Mit-
teln stellt und derart zum Gegenstand einer vernünftigen Erörte-
rung macht. Dagegen entdeckt Benjamin in dem Dogma einen
»unversöhnliche[n] Widerstreit«, der daher rührt, daß die in Fra-
98 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

ge stehenden Konzepte, berechtigte Mittel und gerechte Zwec-


ke, Abkömmlinge ganz unterschiedlicher Sphären sind, erstere des
Schicksals, letztere einer göttlichen Instanz: »Entscheidet doch über
Berechtigung von Mitteln und Gerechtigkeit von Zwecken nie-
mals die Vernunft, sondern schicksalhafte Gewalt über jene, über
diese aber Gott.« (196)
In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Gerechtigkeit
eine zentrale Rolle. Er besetzt die signifikante Schwelle zwischen
Rechtstheorie und jener Sphäre, die Benjamin in einem Seitenstück
zum Essay, im Theologisch-politischen Fragment, ein »Lehrstück der
Geschichtsphilosophie« (203) nennt. Während die Gerechtigkeit in
der Rede von »gerechten Zwecken« zum Attribut von Zwecken
modelliert wird, um in die rechtstheoretischen Begriffe integriert
werden zu können, insistiert Benjamin auf der unterschiedlichen
Herkunft der Begriffe, die im zitierten rechtstheoretischen Dogma
verknüpft sind. – In diesem Kontext ist die Semantik des Gewalt-
begriffs bedeutsam, die in der englischen Übersetzung Critique of
Violence unkenntlich wird, weil Benjamin hier den Begriff einer
ausgeübten Gewalt, der erst die Vorstellung von einer Gewalt als
Mittel ermöglicht, zurückbindet an die ausübende Gewalt, die Ge-
walt als Instanz bzw. als Macht. Ihr Urbild ist die mythische Gewalt:
»Macht [ist] das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.« (198)
Es ist der aller Rechtstheorie vorausgehende mythische Gewaltbe-
griff, der, wie Benjamin zeigt, allen rechtlichen Begriffen zugrunde
liegt, insofern die rechtsetzende Gewalt dem Urbild der mythischen
Gewalt nachgebildet ist. »Rechtsetzung ist Machtsetzung und inso-
fern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.« (198)
Und es ist diese, der Rechtssetzung immer schon eingeschriebene
Gewalt, durch die eine rechtstheoretische Erörterung von Gewalt
als Mittel zu einer »schweren Problematik jeder Rechtsgewalt« wird
(196). Wenn dann aber im bestehenden Recht im Interesse einer
Abwägung der Gewalt die Kategorie der Gerechtigkeit – nämlich
in der Figur »gerechter Zwecke« – eingeführt wird, so wird damit
wiederum auf eine vor- oder außerrechtliche Sphäre verwiesen.
Diese entstammt nun jedoch einer anderen Vorstellungswelt, nicht
dem Mythos, sondern der Religion. D. h., daß das rechtstheoreti-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 99

sche Dogma, das einer Abwägung der Gewalt dient, in zweifacher


Weise auf außerrechtliche Begriffe verwiesen ist, auf die mythische
Gewalt der Götter ebenso wie auf die göttliche Gerechtigkeit, an-
ders formuliert: auf Athen/Rom und Jerusalem. Erst diese Über-
legungen bilden die Voraussetzungen, um die Frage reiner Gewalt
erörtern zu können. Das Jenseits des rechtstheoretischen Dogmas,
in das die Frage nach anderen Arten der Gewalt hinüberführt, wird
von Benjamin damit in einen doppelten religions- und kulturge-
schichtlichen Verweisungszusammenhang gestellt, den des Mythos
und der Bibel. Nicht zuletzt dieser doppelte religionsphilosophi-
sche Index macht die Komplexität der Schlußpassagen des Essays
aus. Wenn eine revolutionäre Gewalt sich auf die Gerechtigkeit be-
ruft, legitimiert sie sich nach dem Vorbild göttlicher Zwecksetzung,
während sie in ihrer Intention der Begründung eines neuen Rechts
das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung nachahmt. Das folgt aus
dem Satz, mit dem Benjamin diese Passage schließt: »Gerechtigkeit
ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller
mythischen Rechtsetzung.« (198; Hvhg. S. W.)
Die andere Art von Gewalt, die in ein Denken jenseits die-
ses Dogmas führt, wird von Benjamin im zweiten Teil des Essays
zunächst als eine umschrieben, die sich »überhaupt nicht als Mit-
tel« zu gerechten Zwecken verhält, weder als berechtigtes noch
als unberechtigtes Mittel, sondern, wie er formuliert, »irgendwie
anders«. Dieses »irgendwie anders« betrifft »[e]ine nicht mittelbare
Funktion der Gewalt«. Benjamin entdeckt diese andere Art von
Gewalt zunächst in der Manifestation. Das einzige Beispiel, das er
dafür anzuführen vermag, entnimmt er der täglichen Lebenserfah-
rung: »Was den Menschen angeht, so führt ihn zum Beispiel der
Zorn zu den sichtbarsten Ausbrüchen von Gewalt, die sich nicht
als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht.« (196) – Die of-
fensichtlichen Schwierigkeiten, in der Erörterung einer irgendwie
andersgearteten Gewalt jenseits der Rechtstheorie konkreter zu
werden und eine größere Anschaulichkeit zu gewinnen, machen
deutlich, daß Benjamin sich hier darum bemüht, in ein neues er-
kenntnistheoretisches Terrain vorzudringen, für dessen Diskussi-
on in der bisherigen Geschichte keine Beispiele zur Verfügung zu
100 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

stehen scheinen. Das Jenseits der Rechtstheorie ist U-Topos im


buchstäblichen Sinne. Die Tatsache aber, daß an dieser Stelle ein
Wechsel der Perspektive stattfindet, indem Benjamin nun auf die
mythische Gewalt zu sprechen kommt, indem er die »bloße Mani-
festation der Götter« (197) als urbildliche Form der mythischen Ge-
walt thematisiert, macht deutlich, daß erst im Jenseits der Rechts-
theorie der Horizont der religionsgeschichtlichen Vorgeschichte
des Rechts wieder erkennbar und verhandelbar wird, der in der
Genese der Rechtsordnung im verborgenen wirkte. Benjamins
Diskussion der Manifestation als einer andersgearteten Gewalt auf
dem Umweg über die mythische Gewalt führt zu einer Verwer-
fung dieser Idee. Die mythische Manifestation der unmittelbaren
Gewalt eröffnet keine »reinere Sphäre«, vielmehr erweist sich, daß
sie die Problematik aller Rechtsgewalt teilt. Daraus gewinnt Ben-
jamin die Gewißheit von der Verderblichkeit ihrer geschichtlichen
Funktion, aus der heraus die Frage nach einer irgendwie anderen
Art von Gewalt nun spezifiziert wird in Richtung auf eine »reine
unmittelbare Gewalt«, »welche der mythischen Einhalt zu gebieten
vermöchte« (199).

In ungeheuren Fällen
Die Einführung des Begriffs einer »reinen unmittelbaren Gewalt«
kommt also über die zweite Eingrenzung einer irgendwie anderen
Art von Gewalt ins Spiel: erstens überhaupt nicht als Mittel gefaßt,
zweitens rein. Während das Merkmal »unmittelbar« aus einer Kri-
tik des rechtstheoretischen Dogmas von berechtigten Mitteln und
gerechten Zwecken gewonnen wurde, wird das Merkmal »rein« als
Gegensatz zur mythischen Gewalt eingeführt. Die Grundlage des
Gegensatzes mythisch – rein bildet aber das Verhältnis von mythischer
und göttlicher Gewalt, denn das Urbild der reinen Gewalt entdeckt
Benjamin in der göttlichen Gewalt: dort die mythische Gewalt, die er
als rechtsetzend, grenzsetzend, verschuldend und sühnend zugleich,
als drohend und blutig bezeichnet; hier die göttliche reine Gewalt, die
er als rechtsvernichtend, als grenzenlos vernichtend, entsühnend,
schlagend und auf unblutige Weise letal beschreibt (199).
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 101

In der darauffolgenden Passage, die zu den schwierigsten des


Textes gehört, wird der Begriff des bloßen Lebens eingeführt. Es geht
dabei um die Frage, ob das bloße Leben ein Argument für oder ge-
gen die revolutionäre Gewalt sein könne. Benjamins Argumenta­
tion bewegt sich im folgenden auf einer doppelten Spur, permanent
zwischen mythischem und göttlichem Recht wechselnd – oder an-
ders formuliert: zwischen Athen/Rom und Jerusalem. – Während
Giorgio Agamben aus dieser Passage das »Dogma von der Heilig-
keit des Lebens« (202) aufgegriffen und zum Ausgangspunkt seines
Buches über den Homo sacer gemacht hat, ist es gerade die andere,
die biblische Spur, die gänzlich aus der Sphäre des Ausnahmezu-
stands herausführt. Denn in dieser Perspektive geht es nicht um
eine ›Entscheidung im Ausnahmezustand‹, der sich die Souverä-
nität des dann Herrschenden verdankt. Hier geht es vielmehr um
die Verantwortung, in »ungeheuren Fällen«, wie es heißt, vom Ge-
bot »Du sollst nicht töten« abzusehen (201) – eine Absehung, die
den Handelnden keineswegs in eine souveräne Position bringt und
die vor allem die weitere Geltung des Gebots nicht beeinträchtigt.
Denn das Gebot wird als unverrückbare Antwort auf die Frage
»Darf ich töten?« bewertet. Während der Ausnahmezustand als Ur-
sache in die Rechtsordnung eingreift – und damit im Sinne der
Kritik der Gewalt als »Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes« zu
bewerten ist, vermag die Absehung vom Gebot »Du sollst nicht
töten« das Gebot nicht außer Kraft zu setzen. Denn: »Dieses Gebot
steht vor der Tat wie Gott ›davor sei‹, daß sie geschehe. Aber es
bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein darf, die zu
seiner Befolgung anhält, unanwendbar, inkommensurabel gegen-
über der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über diese kein Urteil.«
(200) Während der Souverän im Ausnahmezustand eine gottähn-
liche Position einnimmt, bleibt der Handelnde, der ungeheuer-
licherweise vom Gebot absieht, der göttlichen Gewalt unmittelbar
unterstellt.
Dieses [das Gebot – S. W.] steht nicht als Maßstab des Ur-
teils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde
Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit
102 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

sich auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fällen die Verant-


wortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben. So
verstand es auch das Judentum, welches die Verurteilung der
Tötung in der Notwehr ausdrücklich abwies. (200 f.; Hvhg.
S. W.)
In dieser Passage springt die Formulierung »ungeheure Fälle« be-
sonders ins Auge. Bei einem so kongenialen Hölderlin-Leser wie
Benjamin fällt es schwer, bei dieser Formulierung nicht an Höl-
derlins Übersetzung der Verse »Ungeheuer ist viel. Doch nichts
ist ungeheuerer als der Mensch« zu denken, an jene eigenwillige
Übersetzung des Chors im Zweiten Akt von Sophokles’ Antigone.
Wenn Hölderlin deinóv (deinos) nicht mit furchtbar, schrecklich
oder gewaltig übersetzt, sondern mit ungeheuer (Hölderlin 1988,
299), dann schwingt darin eine Nähe zum Ungeheuer, zum Unmen-
schen mit. Daraus erhält Benjamins Hinweis, daß es beim Gebot
nicht um einen Maßstab des Urteils, sondern eine Richtschnur des
Handelns geht, eine weitere Bedeutung. Wenn die Einhaltung des
Gebots nicht zuletzt um des Handelnden selbst willen geschieht,
dann deshalb, weil er sich dadurch als Mensch beweist, sich selbst in
die Position des Menschen bringt – würdig eben jener Gotteben-
bildlichkeit, die ihn aus der Sphäre der Kreatur heraustreten läßt.
Daraus erklärt sich Benjamins Bemerkung, daß das Gebot nicht
anwendbar sei. Als unverrückbare Antwort kann es nicht zur Ur­
sache des Eingreifens in sittliche Verhältnisse werden, also nicht zur
»Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes«. – Das Gebot »Du sollst
nicht töten« berührt also gerade jene Dimension des Menschen,
die über das bloße natürliche Leben hinausgeht. Im Kontext der
Diskussion über die Legitimität einer »revolutionäre[n] Tötung der
Unterdrücker«, über jenen »extremen Fall«, den der Schlußteil des
Essays verhandelt, setzt Benjamin seine Überlegungen zum Gebot
direkt jenem »fernere[n] Theorem« entgegen, das eine heilige Un-
antastbarkeit des bloßen Lebens postuliert: »Dieses ist der Satz von
der Heiligkeit des Lebens« (201).
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 103

Dogma von der Heiligkeit des bloßen Lebens


Doch folgen wir zunächst der Systematik von Benjamins Argumen-
tation. Für die Frage revolutionärer Gewalt setzt er sich mit zwei
Typen einer absoluten Verneinung jeder gewaltsamen Tötung aus-
einander: erstens mit einer Verneinung aufgrund des Gebots »Du
sollst nicht töten«, einer jüdisch-christlichen Begründung, zweitens
mit jenem »ferneren Theorem«, dem Satz von der Heiligkeit des
Lebens, einer mythischen Begründung. Er verknüpft diese mit sei-
nem Gegensatz der beiden außer- und vorrechtlichen Urbilder der
Gewalt, der mythischen und der göttlichen, wenn er sie im Hin-
blick auf entgegengesetzte Opfertheorien diskutiert: »Die mythi-
sche Gewalt ist Blutgewalt über das bloße Leben um ihrer selbst, die
göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen.
Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.« (200; Hvhg. S. W.)
Wichtig ist dabei auch die unterschiedliche Zeitlichkeit, der un-
terschiedliche historische Charakter beider außerrechtlichen Re-
ferenzen. Die mythische Gewalt stellt einen Begründungszusam-
menhang aus der Vorgeschichte dar, die in Mythen wie z. B. der
Vorstellung von einer schicksalhaften »Verschuldung des bloßen
natürlichen Lebens« fortlebt (200). In dem zwei Jahre zuvor ent-
standenen Text Schicksal und Charakter hieß es: »Schicksal ist der
Schuldzusammenhang des Lebendigen.« (175) Wobei diese Schuld,
die nichts mit einem religiösen Kontext zu tun hat, nicht als Grund
für eine rechtliche Verurteilung erscheint, sondern bei ihr umge-
kehrt das Urteil der Schuld vorausgeht; genauer müßte es heißen,
daß das Urteil der Götter der Schuld des Menschen vorausgeht. Auch
hier schon ging es um Recht und Gerechtigkeit.
Mißverständlich, auf Grund ihrer Verwechslung mit dem Rei-
che der Gerechtigkeit, hat die Ordnung des Rechts, die nur
ein Überrest der dämonischen Existenzstufe des Menschen
ist, in der Rechtssatzungen nicht deren Beziehungen allein,
sondern auch ihr Verhältnis zu den Göttern bestimmten, sich
über die Zeit hinaus erhalten, welche den Sieg über die Dä-
monen inaugurierte. (174)
104 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Benjamin geht hier also davon aus, daß in der Rechtsordnung eine
archaische Beziehung der Menschen zu den Göttern nachlebt. Im
Begriff des Schicksals verdichtet sich die daraus stammende Vorstel-
lung einer verschuldeten Person.
Die »göttliche Gewalt« dagegen folgt einer anderen Zeit- bzw.
Geschichtskonzeption, die er als Gegenwärtigkeit kennzeichnet:
»Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse
Überlieferung allein, vielmehr findet sie mindestens in einer ge-
heiligten Manifestation sich auch im gegenwärtigen Leben vor.« (200;
Hvhg. S. W.) Diese Vorstellung erinnert an die Gottesunmittelbar-
keit eines jeden Tages, wie Gershom Scholem sie in seinem Auf-
satz Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum beschreiben
wird (Scholem 1986). Dabei betont Benjamin die Ungleichzeitig-
keit zwischen der Sprache des Gebots auf der einen Seite und den
Kriterien von Rechtsurteilen oder Verurteilungen von Menschen
durch Menschen andererseits.
Hinsichtlich des anderen zitierten Theorems, des »Dogmas von
der Heiligkeit des Lebens« (202), widerspricht Benjamin der Vor-
stellung, daß das bloße Leben höher stehe als »Glück und Gerech-
tigkeit eines Daseins«, eine Vorstellung, mit der das kreatürliche,
natürliche Leben bzw. sein leiblicher Aggregatzustand als heilig
bewertet oder heiliggesprochen wird. Dagegen Benjamin: »Der
Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Le-
ben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie
mit irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften, ja
nicht einmal mit der Einzigkeit seiner leiblichen Person.« Damit
faßt er das bloße Leben als einen Zustand des Menschen, nicht aber
als »Dasein an sich«, wie in Kurt Hillers Anti-Kain, gegen den Ben-
jamin hier argumentiert. Ein Absatz aus dem Anti-Kain steht dabei
für jene Denker, die auf den Satz von der Heiligkeit des bloßen
Lebens zurückgehen:
Ihre Argumentation sieht in einem extremen Fall, der auf die
revolutionäre Tötung der Unterdrücker exemplifiziert, fol-
gendermaßen aus: »töte ich nicht, so errichte ich nimmermehr
das Weltreich der Gerechtigkeit … so denkt der geistige Ter-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 105

rorist … Wir aber bekennen, daß höher noch als Glück und
Gerechtigkeit eines Daseins … Dasein an sich steht« (201).
Genau dieses Postulat weist Benjamin zurück, mit der Gewißheit,
daß es »falsch, sogar unedel« sei, und kommt dabei noch einmal auf
das Gebot zu sprechen, mit der Verpflichtung, »nicht länger den
Grund des Gebotes in dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten,
sondern in dem, was sie an Gott und am Täter selbst tut«. Die Un-
antastbarkeit des Menschenlebens begründet sich für Benjamin so
gerade nicht aus dem bloßen natürlichen Leben, sondern aus einer
Teilhabe des Menschen an einem Leben, das mehr ist als das bloße,
natürliche Leben. Die Vorstellung von diesem anderen Lebensbe-
griff entspringt u. a. der biblischen Schöpfungsidee, nach der Gott
die Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat.
Diese Doppelreferenz des Lebensbegriffs auf das natürliche und
das übernatürliche Leben wird Benjamin wenig später in seinem
Essay zu Goethes Wahlverwandtschaften ausführlich erörtern. Doch
schon im Zusammenhang einer Kritik des Dogmas von der Hei-
ligkeit des bloßen Lebens zählt er den Begriff des ›Lebens‹ zu je-
nen Worten, deren Doppelsinn sich aus ihrer Beziehung zu je zwei
Sphären erhellt. Richtig würde die Feststellung, daß das Dasein an
sich höher steht, erst, »wenn Dasein (oder besser Leben) – Worte,
deren Doppelsinn durchaus dem des Wortes Frieden analog aus ihrer
Beziehung auf je zwei Sphären aufzulösen ist – den unverrückbaren
Aggregatzustand von ›Mensch‹ bedeuten« (201; Hvhg. S. W.). Die
Anführungszeichen bedeuten, daß Benjamin hier über den Begriff
des Menschen spricht, von dem das natürliche Leben nur einen
Zustand bezeichnet. Nur dem Menschen in diesem umfassenden
Sinne kommt das Attribut des Heiligen zu: »So heilig der Mensch
ist (oder auch dasjenige Leben in ihm, welches identisch in Erden-
leben, Tod und Fortleben liegt), so wenig sind es seine Zustände,
so wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches
Leben.« Diese Art Doppelreferenz des Lebens- und Menschenbe-
griffs meint etwas gänzlich anderes als das Doppelwesen im Leib-
Seele-Paradigma. Es geht vielmehr darum, daß dem Begriff eine
zweifache Bezugnahme eingeschrieben ist, wobei jene Dimension
106 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

des Lebens, die über das Kreatürliche hinausweist, sich letztlich bi-
blischen Vorstellungen verdankt.
Erst der historische Verlust des Heiligen habe das Dogma von
der – kosmischen – Heiligkeit des natürlichen Lebens hervorbrin-
gen können, so Benjamin. Er bewertet dieses Dogma damit als
Effekt der Säkularisierung und kritisiert es als Rückübertragung
verlorengegangener sakraler Momente auf die Naturgesetze. Was
einer kultischen Welt entstammt, wird nach deren Verlust als Na-
tur reformuliert. Insofern bezeichnet Benjamin das Dogma auch
als »letzte Verirrung der geschwächten abendländischen Tradition«,
um »den Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch Undurchdring-
lichen zu suchen«. Und weiter: »Zuletzt gibt es zu denken, daß, was
hier heilig gesprochen wird, dem alten mythischen Denken nach
der gezeichnete Träger der Verschuldung ist: das bloße Leben.«
(202) – Es ist also kein Zufall, daß Benjamins Text, der genau jenes
Theorem von der ›Heiligkeit des bloßen Lebens‹ verwirft, welches
Agamben zum Ausgangspunkt seines Homo sacer genommen hat,
zugleich auch eine Kritik der Gewalt entwickelt, die mit der Ab-
sehung vom Gebot eine Figur einführt, die auf die Dialektik der
Säkularisierung antwortet – jenseits einer politischen Theologie des
Ausnahmezustands, in der die theologische Herkunft der säkulari-
sierten staatsrechtlichen Begriffe aufgehoben ist.

Salto mortale der ›reinen Gewalt‹


Nach der Diskussion von Gebot und Dogma nimmt die Schlußpas-
sage des Essays die Gewaltfrage wieder auf, und zwar als Frage nach
einer reinen Gewalt, deren Horizont sich erst jenseits des Schwan-
kungsgesetzes von rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt
eröffnet. Benjamin identifiziert diesen Horizont mit nichts Ge-
ringerem als dem Anbruch eines neuen geschichtlichen Zeitalters,
begründet durch eine »Entsetzung des Rechts samt den Gewalten,
auf die es angewiesen ist wie sie auf jenes, zuletzt also der Staats-
gewalt«. Erst nach einer solchen Entsetzung des Rechts – und das
hieße nicht: dem Angriff auf eine bestimmte, bestehende Rechts-
ordnung, sondern auf das Recht als solches – wäre der Gewalt auch
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 107

jenseits des Rechts ihr Bestand gesichert. Unter solchen Umständen


scheint auch die Gefahr gebannt, daß die Manifestation von reiner
Gewalt wieder zu mythischer Gewalt wird. Denn hier nun – »jen-
seits des Rechtes« – entwirft Benjamin die Möglichkeit revolutio-
närer Gewalt. Dies sei der Name für die »höchste Manifestation
reiner Gewalt durch den Menschen« (202). Unmittelbar kann diese
Gewalt nur sein, wenn sie nicht als Mittel zu gerechten Zwecken
zum Einsatz kommt, rein nur, wenn sie sich am Maßstab göttlicher
Gewalt ausrichtet. Insofern kommentiert Benjamin diese Perspek-
tive umgehend mit der Schwierigkeit, eine solche reine Gewalt
in der Geschichte bzw. Wirklichkeit überhaupt erkennen zu kön-
nen, mit der Unmöglichkeit, zu entscheiden, »wann reine Gewalt
in einem bestimmten Falle wirklich war«. Da ein genuines Merk-
mal der göttlichen Gewalt ihre Verborgenheit ist, wird sie »sich als
solche«, wie Benjamin formuliert, nicht »erkennen lassen«. – Das
erkenntnistheoretische Dilemma einer Theorie reiner unmittelba-
rer Gewalt jenseits des Rechts, die die Möglichkeit reiner Gewalt
am Maßstab göttlicher Gewalt und am Begriff der Gerechtigkeit
ausrichtet, besteht also in deren prinzipieller Verborgenheit und
damit in der Ungewißheit gegenüber ihrer Erkennbarkeit. Wenn
die Schlußgeste des Essays noch einmal die »reine göttliche Gewalt«
zitiert, so wird das Konzept der reinen Gewalt gleichsam an Gott
zurückgegeben. So bleibt am Ende – zumindest was die Frage rei-
ner Gewalt betrifft – nur eine Gewißheit: »Die göttliche Gewalt,
welche Insignium und Siegel, niemals Mittel heiliger Vollstreckung
ist, mag die waltende heißen.« (203)
In einer enormen Beschleunigung und Verdichtung münden die
Argumente und Begriffe in der Schlußpassage des Essays in Re-
flexionen über reine Gewalt jenseits des Rechts. Die Textbewe-
gung wirkt dabei so, als ob sich die Begriffe am Ende überschlagen
würden – ähnlich jenem salto mortale, den Benjamin ein Jahrzehnt
später an Karl Kraus’ Versuch, das Bild der göttlichen Gerechtig-
keit als Sprache zu verehren, beobachten wird (349). Indem der
Schlußsatz der Kritik der Gewalt die reine Gewalt wieder den Göt-
tern überantwortet, bleibt die aufgeworfene Frage letztlich offen. –
Eine Passage aus dem wenig später entstandenen Essay über Goethes
108 Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht

Wahlverwandtschaften läßt sich durchaus auch als kritische Reflexion


der Diskussion über die Möglichkeit reiner Gewalt im Horizont
menschlichen Handelns lesen. Es geht um die Anmaßung eines
göttlichen Mandats in der Rede von einer Aufgabe. In der Passage
über die George-Schule kritisiert Benjamin dort die Vorstellung
vom dichterischen Werk als Aufgabe:
Ihm [dem Dichter – S. W.] nämlich wird, gleich dem Heros,
sein Werk als Aufgabe von ihr zugesprochen und somit sein
Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen dem
Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen […].
Wie denn übrigens der Begriff der Aufgabe auch vom Dich-
ter aus betrachtet unangemessen ist. Dichtung im eigentlichen
Sinne entsteht erst da, wo das Wort vom Banne auch der größ-
ten Aufgabe sich frei macht. (I .1/158 f.)
Was hier für die Dichtung formuliert wird, wirft auch ein Licht
zurück auf Benjamins Versuch, in der Kritik der Gewalt das Kon-
zept reiner Gewalt aus einer Aufgabe zu gewinnen, nämlich aus der
Aufgabe zur Vernichtung der »Verderblichkeit« der »geschichtlichen
Funktion« mythischer Gewalt, wie sie auch noch in der Rechtsge-
walt zum Ausdruck kommt: »Gerade diese Aufgabe legt in letzter
Instanz noch einmal die Frage nach einer reinen unmittelbaren Ge-
walt vor, welche der mythischen Einhalt zu gebieten vermöchte.«
(II .1/199) Es mag die Ahnung von der Problematik einer solchen
Aufgabe gewesen sein, die Benjamin 1921 veranlaßt hat, diese an
die göttliche Gewalt zurückzugeben. – Bemerkenswert ist, wie er
in diesem Zusammenhang das Wort Entscheidung verwendet, näm-
lich diametral entgegengesetzt zum Konzept ›Ausnahmezustand‹.
Lautet die Definition des Ausnahmezustands bei Schmitt, »Souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, dann geht es bei
Benjamin hier um die Unentscheidbarkeit der reinen Gewalt für
Menschen, konkret darum, daß für Menschen die Entscheidung,
»wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle wirklich war«, nicht
möglich ist. – Wenn Benjamin den Begriff des Ausnahmezustands
später tatsächlich explizit verwenden wird, dann geschieht das in
einer gänzlich anderen historischen Situation und in ganz ande-
Absehung vom Gebot in ungeheuren Fällen 109

rer Weise als in der Politischen Theologie. Nachdem das NS -Regime


dem staatsrechtlichen Ausnahmezustand Permanenz verliehen hat-
te, wird Benjamin in den geschichtstheoretischen Thesen schrei-
ben, daß »der ›Ausnahmezustand‹, in dem wir leben, die Regel
ist«, und dagegen die Herbeiführung des »wirklichen Ausnahme-
zustands« als Aufgabe formulieren (I .2/697). Daß er 1940 wieder
im programmatischen Sinne eine Aufgabe formuliert, erklärt sich
aus der historischen Konstellation, die jenen »extremen Fall« akut
werden läßt, den Benjamin 1921 theoretisch diskutiert hatte. Die
Frage eines Hitlerattentats stellt die denkbar konkreteste Form je-
nes ungeheuren Falles dar, für den Benjamin zwei Jahrzehnte vor
seinen geschichtstheoretischen Thesen die Möglichkeit einer Abse-
hung vom Gebot erörtert hatte.
Obwohl sein Essay Zur Kritik der Gewalt die Frage reiner unmit-
telbarer Gewalt im ungewissen läßt, hat er in der Auseinanderset-
zung mit der damaligen Debatte über Gewalt eine Reihe grundle-
gender Einsichten und Begriffe gesichert. Neben einer Kritik der
»Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes«, einer Kritik der Legiti-
mation von Eingriffen in Recht und Gerechtigkeit, entwickelt der
Essay eine grundlegende geschichtstheoretische Analyse des Ver-
hältnisses von Recht und Gerechtigkeit und eine Sicherung so zen-
traler Konzepte wie Leben und Mensch. Die eigene Antwort auf
die akute Diskussion über den extremen Fall des Tyrannenmordes
hat Benjamin dabei in seinen Überlegungen zur Verantwortung, in
ungeheuren Fällen vom Gebot abzusehen, verborgen.
Etwas jenseits des Dichters,
das der Dichtung ins Wort fällt
4. Die Dichtung als Einbruchstelle
Zur Dialektik von göttlicher und
menschlicher Ordnung in Goethes Wahlverwandtschaften1

»Nicht also dies nazarenische Wesen, sondern das Symbol des über
die Liebenden herabfahrenden Sterns ist die gemäße Ausdrucks-
form dessen, was vom Mysterium im genauen Sinn dem Werke
einwohnt.« (I .1/200; Hvhg. S. W.) In der letzten Passage seines
Wahlverwandtschaften-Essays, der in zwei Folgen 1924 und 1925 in
den Neuen Deutschen Beiträgen erschien, formuliert Benjamin mit
dieser Entgegensetzung von nazarenischem Wesen und herabfah-
rendem Stern einen gewichtigen Einspruch gegenüber Goethes
Roman, den er ansonsten als geradezu ideale Vorlage für die Erör-
terung einer Reihe von Themen und Motiven nutzt, die ihm am
Herzen lagen und die er schon in einigen seiner vorausgegangenen
Essays untersucht hatte, wie etwa den Begriff der Kritik, wie die
Konzepte von Mythos, Schicksal und Charakter, von Hoffnung,
Erlösung und Offenbarung, wie den Zusammenhang von natür-
lichem und übernatürlichem Leben. Während sein Goethe-Essay
sich ansonsten einer Wertung des Romans enthält und statt des-
sen an seiner Lektüre grundlegende kunstphilosophische Über-
legungen zur Dichtung entwickelt, verwirft Benjamin mit dem

1  Erste Überlegungen zu Goethes Wahlverwandtschaften erschienen in Paragrana,


H. 7, 1998, 140–151 (in englischer Übersetzung in Beatrice Hanssen, Andrew
Benjamin [Hg.], Walter Benjamin and Romanticism, New York, London 2002,
197–207).
114 Etwas jenseits des Dichters

zitierten Einspruch gleich den ganzen Schluß des Romans, »jene


christlich-mystischen Momente«, wie er formuliert, »die sich am
Ende […] aus dem Bestreben alles Mythische der Grundschicht
zu veredeln, eingefunden haben«. Er bewertet diese Elemente als
»fehl am Ort«.

Versöhnung vs. Hoffnung


Wenn er genau diese Aspekte der Wahlverwandtschaften als das »na-
zarenische Wesen« des Romans deutet, dann wendet er sich da-
mit prinzipiell gegen eine literarische Erzählweise, die den Tod in
Bildern christlicher Versöhnung verklärt. Diese Kritik trifft ganz
besonders den letzten Satz der Wahlverwandtschaften, der das – aus
der antiken Mythologie bekannte – Motiv einer ›Vereinigung der
Liebenden im Tod‹ in das – christliche – Bild einer dereinstigen
Wiederauferstehung münden läßt: »So ruhen die Liebenden ne-
beneinander. Friede schwebt über ihrer Stätte, heitere, verwandte
Engelsbilder schauen vom Gewölbe auf sie herab, und welch ein
freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zu-
sammen erwachen.« (Goethe 1996, 386 f.) Benjamins Urteil einer
nazarenischen Verfehlung betrifft aber auch die unmittelbar vor-
angehende Passage im Roman, in der Eduard Ottilies Sterben als
Märtyrertum preist, an sie als eine Heilige denkt und über diesem
Gedanken stirbt – genauer: selig einschläft, denn es heißt bei Goe-
the: »und wie er in Gedanken an die Heilige eingeschlafen war, so
konnte man wohl ihn selig nennen.« Dabei gilt Walter Benjamins
Kritik weniger einer Profanierung des christlichen Märtyrers in
Form einer menschlichen imitatio Christi als umgekehrt der christ-
lichen Nobilitierung eines mythischen Motivs. Die Vermischung
von Mythos und christlicher Versöhnung produziert ein gesteiger-
tes Pathos, das bei heutigen Lesern den Eindruck des Kitsches er-
weckt. Benjamin sieht darin christliche Mystik am Werk.
Seine Sorge aber gilt einem anderen Moment, denn, wie er er-
läutert, geschieht seine Kritik am Nazarenischen der Hoffnung we-
gen. In Goethes Roman steht dafür jene Hoffnung, die der Erzähler
im dreizehnten Kapitel des zweiten Teils, also sechs Kapitel vor
Die Dichtung als Einbruchstelle 115

dem kritisierten Schluß, für die Liebenden hegt und im Symbol


eines Sterns darstellt: »Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom
Himmel fällt, über ihre Häupter weg.« Benjamin nimmt diesen
Satz zum Anlaß einer Reflexion über einen Begriff von Hoffnung,
der sich bei ihm deutlich von der umgangssprachlichen, profanen
Bedeutung des Wortes unterscheidet. Denn es geht ihm dabei nicht
um die Hoffnung als subjektiven Ausdruck einer selbstbezüglichen
Empfindung; es geht vielmehr um jene Hoffnung, die Teil einer
Kultur des Totenkultes und der Sorge um die Toten ist, um »die
Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen«. Dieser Art
von Hoffnung schreibt Benjamin eine ganz einzigartige Bedeutung
zu, wenn er bemerkt: »Sie ist das einzige Recht des Unsterblich-
keitsglaubens, der sich nie am eigenen Dasein entzünden darf.« Als
Empfindung der Lebenden, die sich auf die Toten und deren Erlösung
richtet, stellt sein Essay die Hoffnung in eine religionsgeschichtliche
Perspektive. Am Ursprung religiöser Vorstellungen steht nicht nur
der Unsterblichkeitsglaube als menschliche Antwort auf die Erfah-
rung der Sterblichkeit;2 diesem Zusammenhang entstammt auch
die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits. Damit ist Benjamins Begriff
von Hoffnung gerade kein profanes Pendant zum Begriff der Er-
lösung, nicht das Konzept eines säkularisierten Messianismus. Das
kann durch einen Seitenblick auf das Theologisch-politische Fragment
bestätigt werden. Denn dort wird der Rhythmus messianischer In-
tensität in der Ordnung des Profanen nicht mit Hoffnung, son-
dern mit Glück bezeichnet. – Damit hat Benjamin am Ende des
Goethe-Essays seine Haltung gegenüber der christlichen und der
jüdischen Religionsgeschichte in einer unmißverständlichen, ein-

2  In diesem Zusammenhang sind Benjamins Aufzeichnungen anläßlich der Lek-


türe von François-Poncet interessant: »Die nazarenischen Momente sind strengster
Kritik bedürftig. Poncet hat mit Recht die Unfähigkeit, dem nackten Tod entge-
genzutreten, bei Goethe betont. Entweder er bleibt fast unmerklich sanft oder man
begegnet ihm mit verschönerndem heitern Gepränge […]. Das Nazarenische gibt
hier tiefe mildernde Heiterkeit und die katholische Tendenz darin ist der sonst tie­
fern heidnischen Tendenz des Romans verwandt – doch nicht gemäß. […] Poncet
vermerkt auch, daß Goethe die Beisetzung und späterhin das Grab seiner Mutter
gemieden habe.« (I .3/839)
116 Etwas jenseits des Dichters

deutigen Art und Weise zum Ausdruck gebracht und sich auch klar
zu unterschiedlichen Jenseitskonzepten geäußert. Das Jenseits ist für
ihn allein Ort der Erlösung, nicht aber der Wiederauferstehung.
Und indem er ausdrücklich betont, daß die Hoffnung sich nicht
auf die eigene Erlösung bezieht, wird der Messianismus von ihm
nicht als Glaubenssache behandelt – Glauben bezeichnet die Ein-
stellung eines Subjekts gegenüber einer Reli­gion, ursprünglich das
Bekenntnis zu ihr, confessio. Das Messianische ist für ihn ein kul-
turgeschichtliches Phänomen, das der Haltung der Gemeinschaft
gegenüber den Toten entspringt.
Das bedeutet nicht, daß es für ihn keine irdische Hoffnung gibt.
Tatsächlich bildet ja die Hoffnung den Fluchtpunkt des Essays,
wie auch die Disposition in Benjamins Aufzeichnungen zur Ar-
beit am Text belegt. Im Triptychon des Essays – Das Mythische
als Thesis, Die Erlösung als Antithesis, Die Hoffnung als Synthesis
(I .3/835–837) – bildet die Hoffnung den Endpunkt einer dialek-
tischen Komposition. Ihr Ort ist die Literatur. »Denn unter dem
Symbol des Sterns war einst Goethe die Hoffnung erschienen, die
er für die Liebenden fassen mußte.« (I .1/199) So wie wir Hoffnung
für die Toten hegen, so verhält sich der Erzähler zu seinen Figuren,
wie Benjamin an dem eingangs zitierten Symbol des herabfahren-
den Sterns in den Wahlverwandtschaften erläutert:
»Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über
ihre Häupter weg«. Sie gewahren sie freilich nicht und nicht
deutlicher konnte gesagt werden, daß die letzte Hoffnung nie-
mals dem eine ist, der sie hegt, sondern jenen allein, für die
sie gehegt wird. Damit tritt denn der innerste Grund für die
»Haltung des Erzählers« zutage. Er allein ist’s, der im Gefühle
der Hoffnung den Sinn des Geschehens erfüllen kann.
Als Haltung des Erzählers betrachtet, betrifft diese Hoffnung nicht
das Geschehen selbst, sondern die Art und Weise, in der sich der
»Sinn des Geschehens erfüllen kann«. Insofern ist sie nicht Teil des
Dargestellten, sondern ein Moment der Darstellung selbst – oder
ein Moment des Kunstwerks. Diese Art ›letzter Hoffnung‹, deren
Erscheinung sich gleichzeitig mit dem ›Gesiegelten Ende‹ ereignet,
Die Dichtung als Einbruchstelle 117

läßt sich nicht in einem Bild – wie dem eines dereinstigen Erwa-
chens aus dem Tode – festhalten und stillstellen. Als »paradoxeste,
flüchtigste Hoffnung« sperrt sie sich der Übertragung in eine posi-
tive Vorstellung oder in die Sprache rhetorischer Konvention.
Damit stellt Benjamin die Haltung des Erzählers in eine Nähe
zur messianischen Hoffnung, ohne sie doch damit gleichzusetzen.
Nicht auf Erlösung, sondern auf Erfüllung des Sinns des Roman-
geschehens ist die Hoffnung des Erzählers ausgerichtet. Darüber
hinaus wird diese literarische Version der Hoffnung nicht als eine
beschrieben, die das Romangeschehen durchzieht oder es trägt;
vielmehr taucht sie, wie Benjamin schreibt, nur flüchtig auf, im
selben Moment, in dem der »Schein der Versöhnung« erlischt.
Wenn er den »Schein der Versöhnung« dann als »Haus der äußer-
sten Hoffnung« bezeichnet, konzipiert er beider Wechselbeziehung
analog zum Verhältnis von Nicht-Mitteilbarem und Mitteilbarem
(im Sprachaufsatz 1916) bzw. von Mimetischem und Semiotischem
in der Sprache (Lehre vom Ähnlichen, 1933): »Jene pardoxeste, flüch-
tigste Hoffnung taucht zuletzt aus dem Schein der Versöhnung.« –
Eine solche Konstellation wird in dem Wahlverwandtschaften-Essay
an verschiedenen Stellen mit unterschiedlichen Bildern umschrie-
ben. In der Schlußpassage reflektiert Benjamin sie im Hinblick auf
den Begriff des Mysteriums, genauer hinsichtlich »dessen, was vom
Mysterium im genauen Sinn dem Werke einwohnt« (200; Hvhg.
S. W.). Wird das Werk hier als Aufenthaltsort nicht für das My-
sterium, sondern für etwas von ihm beschrieben, dann verdichtet
sich genau dieses ›etwas‹ im Bild des über die Liebenden herab-
fahrenden Sterns. Benjamin versteht das Bild als Symbol, als Aus-
druck für das Mysterium im Werk, und zugleich als eine Zäsur
des Werks: »Jener Satz, der, mit Hölderlin zu reden, die Cäsur des
Werkes enthält und in dem, da die Umschlungenen ihr Ende be-
siegeln, alles inne hält.« An einer anderen Stelle wird diese kom-
plexe Konstellation in der bündigeren, aber vieldeutigeren Wen-
dung, »daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins Wort fällt«,
zum Ausdruck gebracht (182). Dieses kleingeschriebene jenseits ist
dabei nicht mit der christlichen Jenseitsvorstellung zu verwech-
seln, in der dasjenige, was außerhalb der Autorität des Dichters
118 Etwas jenseits des Dichters

liegt, in konkrete theologische Vorstellungen übersetzt wird. In-


sofern hat Benjamins Dichtungs- und Kunstphilosophie nichts mit
Kunst­religion zu tun, in der die Kunst sich theologischer Begriffe
bedient.

Die Dichtung als Einbruchstelle


Jenseits christlicher Bildprogramme kann dieses kleingeschrie­bene
jenseits im Diesseits der Dichtung nur in Gestalt eines Symbols zum
Ausdruck gebracht werden. Wo der Romanautor den herabfah-
renden Stern als Vergleich einführt – »die Hoffnung fuhr wie ein
Stern« –, betrachtet Benjamin ihn als Symbol, das das Moment des
Mysteriums im Kunstwerk markiert. Über eine Analogie mit dem
Mysterium im Dramatischen – »dasjenige Moment, in dem die-
ses aus dem Bereiche der ihm eigenen Sprache in einen höheren
und ihr nicht erreichbaren hineinragt«, das »daher niemals in Wor-
ten, sondern einzig und allein in der Darstellung zum Ausdruck
kommen« kann – begreift Benjamin den fallenden Stern in den
Wahlverwandtschaften als »analoges Moment der Darstellung«. Das
bedeutet, daß der Stern auf eine Sphäre verweist, die jenseits des
Kunstwerks liegt bzw. auf einen anderen Modus der Sprache. Dabei
wird die Stellung des Mysteriums zum Werk oder die Beziehung
des jenseits-der-Dichtung zur poetischen Sprache von Benjamin in
Figuren des Hereinragens, des Einwohnens oder Einfallens umschrie-
ben. Als »gemäße Ausdrucksform dessen, was vom Mysterium im
genauen Sinn dem Werke einwohnt«, bedeutet das Symbol des
Sterns zugleich die Anerkennung einer Bedeutungssphäre, die über
die der Dichtung hinausgeht und sich nicht im dargestellten Ge-
schehen ausdrückt, sondern in der Haltung des Erzählers und in der
Darstellungsweise.
Die damit formulierte Theorie des Kunstwerks impliziert, daß
der Dichter sich einerseits auf sein (menschliches) Vermögen zu
beschränken hat, andererseits aber in der Darstellung oder in der
Erzählhaltung die Grenze der eigenen Sprache zu reflektieren und
zu durchbrechen hat, indem er die poetische Sprache als Symbol ei-
nes anderen, jenseits gelegenen Bereichs nutzt und in seinem Werk
Die Dichtung als Einbruchstelle 119

einem »Mysterium im genauen Sinn«, d. h. einem geheimen Wissen


(gr. mysterion = geheimes Wissen) Einlaß und Behausung gewährt,
es ›ein-wohnen‹ läßt. Allerdings ist eine derartige Konfiguration nur
möglich, wenn sie in einer klaren Unterscheidung der Bereiche und
Sprachen gründet – hier die der Dichtung oder dem Dramatischen
eigene Sprache, dort eine Sprache, die auf einen höheren und von
ihr nicht erreichbaren Bereich referiert. Ein solches Moment der
Darstellung ist also nur möglich unter der Voraussetzung, daß die
Differenz zwischen Begriffen, die der menschlichen, und solchen,
die einer göttlicher Ordnung angehören, anerkannt und reflektiert
wird. Denn ebenso wie die Historie bei Benjamin strukturell als
Abstand zur Schöpfung gedacht wird, ist die menschliche Spra-
che durch ihre Differenz zu jenen Begriffen definiert, die einer
göttlichen Ordnung angehören. Dagegen betrifft das Nazarenische
in Goethes Romanschluß die Nachahmung eines göttlichen Ver-
mögens, der Auferstehung, die in der theologischen Überlieferung
einzig dem christlichen Gottessohn zusteht, durch das mensch­
liche Personal des Romans – mit dem Effekt einer Einebnung der
Grenze zwischen menschlicher und göttlicher Ordnung. Während
in den Wahlverwandtschaften das menschliche Personal des Romans
eine göttliche Stelle einnimmt, wird dem Göttlichen in Benjamins
Kunstphilosophie eine Stelle in der Sprache des Kunstwerks einge-
räumt – besser: eine Einbruch­stelle, durch die dasjenige, was jenseits
des Kunstwerks liegt, in dessen Sprache hineinzuragen vermag. In
den Ausführungen zu Hoffnung und Mysterium verdichtet sich am
Ende von Benjamins Essays ein Motiv, das den ganzen Text als
kompositorisches oder strukturbildendes Moment durchzieht, nicht
im thematischen Sinne, sondern als Moment der Darstellung: die
Grenzziehung zwischen menschlichem Vermögen und jenem jen-
seits des Dichters, das auch den Namen des Göttlichen trägt.

Zum Vergessen des Göttlichen in der Rezeption


Bemerkenswerterweise bildet dieses Moment der Darstellung von
Goethes Wahlverwandtschaften wie überhaupt die Bedeutung sakraler
Begriffe darin in der Rezeption von Benjamins Essay ein weit-
120 Etwas jenseits des Dichters

gehend vergessenes oder verschwiegenes Motiv.3 Im Zentrum der


Rezeption stehen eher jene Passagen des Essays, in denen Benjamin
die Gestalt der Ottilie als Allegorie des Kunstwerks betrachtet und
daraus seine These von der Unenthüllbarkeit als Wesen der Schön-
heit entwickelt. Daneben fangen vor allem die Unterscheidungen
von Kommentar und Kritik, von Sach- und Wahrheitsgehalt Be-
achtung, ferner die Ausführungen zum mythischen Gehalt des Ro-
mans wie auch die Kategorie des Ausdruckslosen – als Gegensatz
zum Schein im Kunstwerk gefaßt –, die eine Anschlußstelle von
Goethes Wahlverwandtschaften an die Geschichte ästhetischer Theo-
rie, etwa der Ästhetik des Erhabenen,4 darstellt.
Die Bedeutung von Begriffen, die einer göttlichen Ordnung
entstammen, und die Spur des jenseits, die den Essay durchzieht,
wurde in der Rezeption dagegen wenig beachtet, übergangen oder
ausgeblendet. Dies ist um so erstaunlicher, als die zentrale Bedeu-
tung der »göttlichen Prägung« seiner Theorie bereits im ersten Ab-
schnitt zu Kritik und Kommentar zur Sprache kommt,5 in dem Ben-
jamin das Verhältnis von Gehalt und Sache im Kunstwerk in dem
berühmten Siegel-Bild6 darstellt: Der Gehalt müsse als das Siegel
erfaßt werden, das die Sache darstellt. Bleibt in diesem Bild der
Begriff der Prägung noch implizit, so heißt es einige Zeilen weiter,
der Gehalt der Sache sei »erfaßbar allein in der philosophischen
Erfahrung ihrer göttlichen Prägung, evident allein der seligen An-
schauung des göttlichen Namens« (128). Diese Aussage steht im
Zusammenhang von Überlegungen zur Ehe, in denen Benjamin
Kants Definition der Ehe ebenso wie die mythischen Grundlagen
des Eherechts kritisch reflektiert, um festzustellen, daß nicht die

3  Eine Ausnahme bildet das Kapitel über Goethes Wahlverwandtschaften in Astrid


Deuber-Mankowskys Buch über den frühen Benjamin und Hermann Cohen
(2000).
4  Etwa bei Mennighaus 1992.
5  Die Überschriften der einzelnen Abschnitte, durch deren Streichung der Text
sehr viel hermetischer wirkt, als seine systematische Komposition tatsächlich ist, las-
sen sich durch die detaillierte Disposition rekonstruieren, die in den Aufzeichnungen
erhalten ist (I .3/835–837).
6  Zum Siegel vgl. Gutbrodt 1991.
Die Dichtung als Einbruchstelle 121

Ehe, sondern die Gattenliebe in Goethes Roman thematisch sei. –


Und auch in dem Zusammenhang, in dem er von der Anschauung
des Schönen als Geheimnis spricht, bringt Benjamin das Attribut
göttlich ins Spiel, indem er das Geheimnis den »göttliche[n] Seins-
grund der Schönheit« nennt (195). Insofern läuft die am Ende des
Essays formulierte Dichtungstheorie, die aus einer Dialektik von
Dichtung und einem höheren Bereich gewonnen wird, derjeni-
gen Kunsttheorie nicht zuwider, die Benjamin im Kontext der
Ottilie-Allegorie formuliert, wenn er Ottilie als Verkörperung
der Schönheit und die Schönheit als Schein reflektiert. Denn mit
der Rede vom »göttlichen Seinsgrund der Schönheit« findet auch
die Erscheinung des Schönen als Kunst den Grund ihres ›Seins‹ in
einem Göttlichen, nämlich im Geheimnis, »[w]eil nur das Schö-
ne und außer ihm nichts verhüllend und verhüllt wesentlich zu
sein vermag«. Dabei kann es der Kunstkritik nach Benjamin nicht
darum gehen, »die Hülle zu heben, vielmehr durch deren genaue-
ste Erkenntnis als Hülle erst zur wahren Anschauung des schönen
sich zu erheben«. Deshalb sind Verhüllung, Schein und Geheimnis
für ihn genuine Merkmale des »wahre[n] Kunstwerk[s]«: »Niemals
noch wurde ein wahres Kunstwerk erfaßt, denn wo es unausweich-
lich als Geheimnis sich darstellte«, woraus sich begründet, daß er
das Geheimnis als göttlichen Seinsgrund der Schönheit begreift.
Daraus folgt ein Begriff des Scheins, der nichts mit einem ideolo-
giekritischen Diskurs vom ›falschen Schein‹ oder vom ›Scheinzu-
sammenhang‹ zu tun hat. Der Schein wird vielmehr als genuine
Ausdrucksform der Kunst verstanden, die sich von philosophischen
Formulierungen bzw. von diskursiven Erörterungen im Medium
begrifflicher Rede unterscheidet. Den Schein der Schönheit be-
stimmt Benjamin wie folgt:
nicht die überflüssige Verhüllung der Dinge an sich, sondern
die notwendige von Dingen für uns. Göttlich notwendig ist
solche Verhüllung zu Zeiten, wie denn göttlich bedingt ist,
daß, zur Unzeit enthüllt, in nichts jenes Unscheinbare sich
verflüchtigt, womit Offenbarung die Geheimnisse ablöst. […]
Alle Schönheit hält wie die Offenbarung geschichtsphiloso-
122 Etwas jenseits des Dichters

phische Ordnungen in sich. Denn sie macht nicht die Idee


sichtbar, sondern deren Geheimnis. (195 f.)
Diese Theorie des Kunstwerks erklärt sich aus Benjamins Ausfüh-
rungen über das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie, das er
als Geschwisterbeziehung definiert. Deren Verwandtschaft leitet er
aus einer ihnen gemeinsamen Arbeit am »Ideal des Problems« (173)
ab, womit er die ideale, tatsächlich aber unmögliche Formulierung
eines Problems meint, das tatsächlich doch nur in seiner Vielheit
in Erscheinung tritt. Aus der Überlegung, daß die »Wahrheit nicht
an sich sichtbar« sei, folgt, daß ihr Sichtbarwerden nur auf einem
»ihr nicht eigenen Zuge« (195; Hvhg. S. W.) beruhen könne, näm-
lich auf der dem Kunstwerk eigenen Art »virtuelle[r] Formulier-
barkeit«. Dasjenige, was also die Kritik im Kunstwerk aufweist, »ist
die virtuelle Formulierbarkeit seines Wahrheitsgehalts als höchsten
philosophischen Problems«. Aus dieser Bestimmung der Kunst als
Ort einer virtuellen Formulierbarkeit des Wahrheitsgehalts folgt das
für Benjamin eigene Verfahren der Kritik: die Förderung des Pro-
blems, das in seiner Vielheit im Werk vergraben ist. Allerdings fügt
er hinzu, daß die Ehrfurcht vor dem Werk und die Achtung vor
der Wahrheit es gebiete, vor dieser »Formulierung selbst« innezu-
halten (173). Was nichts anderes meint, als daß die Formulierungen
der Kunstwerke nicht in Problemformulierungen übersetzt werden
können, ohne das ihnen Wesentliche dabei einzubüßen. Das be-
deutet, daß der Wahrheitsgehalt des Kunstwerk lesbar ist, nicht aber
in Begriffe übersetzbar. Das Innehalten der Kritik vor der Formu-
lierung selbst entspricht damit der Anerkennung des Geheimnisses
als »göttlicher Seinsgrund der Schönheit«, so daß letzterer eine Art
Matrix von Benjamins Kunsttheorie darstellt, die nur um den Preis
einer groben Entstellung seiner Kunstphilosophie übergangen wer-
den kann.
Dabei sollte deutlich geworden sein, wie exakt diese Theo-
rie der Kunst, die er in dem 1922 abgeschlossenen Manuskript
entwickelt, mit seinem sechs Jahre zuvor geschriebenen Sprach­-
aufsatz korrespondiert. Geht darin die Geschichte der (mensch­
lichen) Sprache aus einer Zäsur, dem »Sündenfall des Sprachgei-
Die Dichtung als Einbruchstelle 123

stes« (II .1/153), hervor, in der die paradiesische Sprache ihrer ma-
gischen Momente verlustig geht und die Sprache sich statt dessen
in ein Zeichensystem verwandelt, so ist Sprache nun »nicht allein
Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-
Mitteilbaren« (156). Diese Funktion der Sprache als Symbol eines
in Worten nicht Faßbaren wird in Goethes Wahlverwandtschaften sehr
plastisch als ein Ereignis beschrieben, das die Worte selbst betrifft.
Denn wenn es jetzt heißt, »daß etwas jenseits des Dichters der
Dichtung ins Wort fällt«, dann wird dieses ›ins Wort fallen‹ als ein
Ereignis beschrieben, das als Zäsur bzw. gegenrhythmische Unter­
brechung erscheint und einer Eruption durchaus nahe ist. Die-
selbe Wendung ›ins-Wort-fallen‹ benutzt Benjamin kurz vor der
Formulierung, daß etwas jenseits des Dichters der Dichtung ins
Wort fällt, im Hinblick auf das Ausdruckslose, das der Harmonie
ins Wort falle und dem Schein Einhalt gebiete. Das Ausdrucks­lose
zwingt, so Benjamin, »die zitternde Harmonie einzuhalten und
verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben« (181). – Wenn dieses
jenseits in Goethes Wahlverwandtschaften überwiegend auf eine höhe-
re oder göttliche Sphäre verweist, so bildet diese Konstellation, die
Einbruchstelle eines anderen Wissens, gerade auch in ihrer Bild-
lichkeit, doch auch eine Voraussetzung dafür, daß Benjamin sie in
späteren Arbeiten mit der Sprache des Unbewußten in Verbindung
bringen wird, wie Freud sie in der Psychoanalyse konzipiert hat.7
Das setzt allerdings ein Verständnis der Psychoanalyse und einen
Umgang mit der Sprache des Unbewußten voraus, dem es nicht
um die Enthüllung einer ›Wahrheit‹, sondern um die spezifische
Weise eines anderen Sichtbarwerdens geht. Auch die Sprache des
Unbewußten weist eine Art virtueller Formulierung einer ›Wahr-
heit‹ auf, die nicht in eine ideale Problemformulierung aufgelöst
oder übersetzt werden kann.

7  Die zunehmende Durchdringung von Benjamins Schriften durch Begriffe der


Freudschen Psychoanalyse ist Gegenstand meines vorausgegangenen Benjamin-Bu-
ches Entstellte Ähnlichkeit und soll hier nicht noch einmal ausgeführt werden (vgl.
Weigel 1997).
124 Etwas jenseits des Dichters

Die Grenzziehung zwischen Kunst und Erlösung


In Goethes Wahlverwandtschaften nimmt die aus einer Dialektik von
menschlicher und göttlicher Ordnung gewonnene Theorie der
Kunst für Benjamin die Stellung eines Gegenentwurfs zum Kunst-
verständnis Gundolfs und der George-Schule ein. Mit Gundolfs
Überhöhung Goethes wie des Dichters überhaupt werden der
Dichtung selbst göttliche Attribute zugeschrieben, so daß die Kunst
zu einer Pseudo- oder Quasi-Religion wird. Während die Tren-
nung von Kunst und Philosophie in der Antike mit dem Ausgang
des Mythos und einer dem Mythos eigenen Indifferenz gegenüber
der Kategorie der Wahrheit zusammenfiel, wie Benjamin feststellt,
beobachtet er am Programm einer Dichtung als Quasi-Religion die
Tendenz zur Remythisierung. Dieser Tendenz setzt er selbst eine
strikte Grenzziehung zwischen Kunstdiskurs und einer ›Rede vor
Gott‹ entgegen. Und genau damit berührt sein Essay ein aktuelles
Phänomen, den gegenwärtigen Hang nämlich zur Re-Etablierung
von Kunst als Kult oder als Mysterium, die sich nicht zuletzt über
die Ästhetik des Sublimen vollzieht: die Kunst als Religionsersatz
oder als eine Art neuer Religion in einem post-säkularisierten Zeit-
alter.8
Seine Kritik an der Anmaßung eines göttlichen Mandats entwic-
kelt Benjamin zu Beginn des zweiten Teils seines Essays, in dem er
sich mit den Problemen der Biographie auseinandersetzt, und zwar
im Zusammenhang der Kommentare zu Gundolfs Goethe-Buch
(158–160). Seine Kritik betrifft die Vermischung von Kunst und
Religion, vor allem in Gundolfs Verständnis des Autors als mythi-
scher Heros, als »Halbgott«, als »Zwitter von Heros und Schöpfer«
und als »übermenschliche[r] Typus des Erlösers«, der durch sein
Werk die Menschheit am Sternenhimmel vertrete. Von hier aus

8  Als Prototyp dafür wäre Barnett Newman zu nennen, der mit seinem program-
matischen Text The Sublime is Now (1948) eine Renaissance des Erhabenen einleitete
und in seine eigenen Bilder recht unterschiedslos christliche, jüdische und indiani-
sche Religionsmotive integriert. Vgl. Newman 1990; vgl. auch Herrmann u. a.
1998.
Die Dichtung als Einbruchstelle 125

zieht sich eine strikte Grenzlinie durch Benjamins Essay, mit der
die Begriffe des Kunstdiskurses von solchen Begriffen unterschie-
den werden, die einem anderen, göttlichen Bedeutungssystem an-
gehören. Während seine kritischen Reflexionen zum Mythos, die
eine Art Leitmotiv insbesondere des ersten Teils darstellen, in der
Rezeption viel Beachtung gefunden haben, ist diese Arbeit an der
Sprache, die als Reflexion der Begriffe eine für Benjamins Denken
grundlegende, strukturbildende Rolle im Essay spielt, bisher weit-
gehend überlesen worden. Sie soll im folgenden in einigen ihrer
Stationen nachgezeichnet werden.
Aufgabe vs. Forderungen – »Dichtung im eigentlich Sinn« kann
für Benjamin erst dort entstehen, wo das Wort sich vom Banne der
Aufgabe frei macht. Die Kritik an einer Verwechslung von Dich-
tung mit einer göttlichen Sendung richtet sich hier gegen den Dich-
ter in der Rhetorik der George-Schule.
Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe
von ihr [der George-Schule – S. W.] zugesprochen und somit
sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen
dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen,
und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen
Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Auf-
gabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist. (158 f.;
Hvhg. S. W.)
Diese radikale Verwerfung einer Aufgabe in der Kunst richtet sich
gegen die Legitimierung von Dichtung aus einer ihr fremden, wie
auch immer gearteten und bezeichneten Instanz. Aus der Befrei-
ung der Sprache aus einer Aufgabenbestimmung erst entspringt
für Benjamin das »wahre Kunstwerk«. Mit dem Hinweis darauf,
von Gott kämen einzig Forderungen, nicht Aufgaben, wird zu-
gleich eine Profanierung kritisiert, die die göttliche Instanz zu einer
Art Auftraggeber macht und damit die unhintergehbare Differenz
Gott – Mensch einebnet, ohne die die göttlichen Begriffe ihren
Sinn verlieren.
Geschöpf vs. Gebilde – Daß er in der zeitgenössischen »heroisie-
renden Ansicht vom Dichter« eine Fortschreibung jener Hybris
126 Etwas jenseits des Dichters

sieht, die schon dem alten Genie-Konzept anhaftete, zeigt sich


in Benjamins Ausführungen zur Schöpfungs-Metaphorik in der
Rede über die Kunstproduktion: »Und in der Tat ist der Künstler
weniger der Urgrund oder Schöpfer als der Ursprung oder Bildner
und sicherlich sein Werk um keinen Preis sein Geschöpf, vielmehr
sein Gebilde.« (159; Hvhg. S. W.) Diese Differenz zwischen Gebilde
und Geschöpf geht jedoch nicht in der schlichten Unterscheidung
zwischen Kultur und Natur auf, wie im folgenden deutlich wird,
wenn Benjamin den Begriff der Erlösung ins Spiel bringt: »Zwar
hat auch das Gebilde Leben, nicht das Geschöpf allein. Aber was
den bestimmenden Unterschied zwischen beiden begründet: nur
das Leben des Geschöpfes, niemals das des Gebildeten hat Anteil,
hemmungslosen Anteil an der Intention der Erlösung.«
Während er mit dem Leben des Gebildes hier u. a. auf das Nach-
leben der Werke anspielt, über das er sich an anderen Stellen aus-
führlicher geäußert hat, bedeutet die Ausschließlichkeit, mit der die
Erlösung dem Leben des Geschöpfes zugeschrieben wird, letztlich
einen Ausschluß des Kunstwerks aus der Sphäre des Messianischen.
Wie bereits ausgeführt: Nicht auf Erlösung, sondern auf Erfüllung
des Sinns des Romangeschehens ist die Hoffnung des Erzählers aus-
gerichtet. In Benjamins Kunsttheorie kann also der Dichtung selbst
keine messianische Qualität zukommen. Nur in der Haltung des
Autors/Künstlers kann Hoffnung zum Ausdruck kommen. Diese
gilt allerdings nicht ihm, sondern seinen Figuren – so wie Benja-
min meint, daß Goethe im Namen der Ottilie »wahrhaft eine Ver-
gehende zu erretten, eine Geliebte in ihr zu erlösen« suchte (199).
Wahl vs. Entscheidung – Auch in der Diskussion von Liebes- und
Ehekonzepten spielt die genannte Grenzziehung eine bedeutsame
Rolle. Gundolfs Beschreibung der Ehe als Mysterium und Sakra-
ment qualifiziert Benjamin als Mystizismus. Er selbst diskutiert
die Ehe ähnlich solchen Begriffen wie Leben und Mensch in der
Kritik der Gewalt als Vorstellungen, deren Doppelsinn sich aus ih-
rer Beziehung zu je zwei Sphären bestimmt. Die Bedeutung von
Ehe erklärt er hier aus dem Zusammenspiel ihres »natürliche[n]
Moment[s]«, der Sexualität, und eines »göttlichen«, der Treue (163).
Da das »dunkle Ende der Liebe, deren Dämon Eros«, eine natür­
Die Dichtung als Einbruchstelle 127

liche Unvollkommenheit der Liebe impliziert, insofern der Eros


»die wahrhafte Einlösung der tiefsten Unvollkommenheit [ist],
­welche der Natur des Menschen selber eignet« (187), enthält die
Ehe, als Ausdruck für das Bestehen der Liebe, d. h. für ihre gleich-
sam übernatürliche Dauer, und als Bestreben ihrer Vollendung und
Vervollkommnung ein transzendentes Moment. Benjamin sieht
dieses Moment in der Entscheidung, einem Begriff, den er strikt
von dem der Wahl unterschieden wissen möchte: Die Entscheidung
»annihiliert die Wahl, um die Treue zu stiften: nur die Entschei-
dung, nicht die Wahl ist im Buche des Lebens verzeichnet. Denn
Wahl ist natürlich und mag sogar den Elementen eignen; die Ent-
scheidung ist transzendent.« (189)
Wird diese Entscheidung in einen Rechtsakt eingebunden, so
ragt mit dem ›göttlichen Moment‹ der Ehe die Theologie in das
bürgerliche Leben hinein. »Dem wahrhaft Göttlichen eignet näm-
lich der Logos, es begründet das Leben nicht ohne die Wahrheit,
den Ritus nicht ohne die Theologie.« (163) Dabei ist ihm wichtig
zu betonen, daß die Ehe nicht aus dem Recht ihre Rechtfertigung
beziehe, weil sie dann lediglich als Institution betrachtet würde;
vielmehr legitimiert sich die Ehe für Benjamin allein daraus, daß
sie Ausdruck für das Bestehen der Liebe sei. Wenn er fortfährt, daß
die Liebe diesen Ausdruck, d. h. den Ausdruck einer beständigen
Liebe, »von Natur im Tod eher suchte als im Leben«, dann wird da-
mit noch einmal das übernatürliche (nicht unnatürliche) Moment
der Ehe begründet. Benjamins Lektüre sieht in Goethes Roman
denn auch nicht die Darstellung konkurrierender Gesetze, etwa
den Streit zwischen Natur- und Ehegesetzen. Für ihn werden darin
vielmehr jene Kräfte erkennbar, welche im Verfall der Ehe aus ihr
hervorgehen: »Dieses aber sind freilich die mythischen Gewalten
des Rechts.« (130)
In diesem Fall ist es also das Personal von Goethes Roman, an
dem gezeigt wird, wie eine Verkennung des ›göttlichen Moments‹
der Ehe zu einer Wiederkehr des Mythischen führt. Die Unfähig-
keit zur Entscheidung, der Rückfall in einen Opfer-Mythos und
die Beschwörung des ›Schicksals‹, durch das die Handlungen des
Doppelpaars charakterisiert sind, wird von Benjamin denn auch
128 Etwas jenseits des Dichters

aus ihrem »chimärische[n] Freiheitsstreben« erklärt (170). Als ge-


bildete Menschen, die sich selbst als aufgeklärt empfinden, wähnen
sie sich den Naturkräften überlegen und der Bindung ans Ritual
entwachsen, wie am eindrücklichsten in der Szene der von ihrem
Platz versetzten Grabplatten deutlich wird:
Keine bündigere Lösung vom Herkommen ist denkbar, als die
von den Gräbern der Ahnen vollzogene, die im Sinne nicht
nur des Mythos sondern der Religion den Boden unter den
Füßen der Lebenden gründen. Wohin führt ihre Freiheit die
Handelnden? Weit entfernt, neue Einsichten zu erschließen,
macht sie sie blind gegen dasjenige, was Wirkliches dem Ge-
fürchteten einwohnt. (132)
Und auch Benjamins Zurückweisung von Ottilies Bezeichnung
als Heilige, im Roman wie auch bei Gundolf, wird von ihm an
das Moment ihrer Entscheidungslosigkeit geknüpft: »Nicht so sehr
darum ist das Dasein der Ottilie, das Gundolf heilig nennt, ein
ungeheiligtes, weil sie sich gegen eine Ehe, die zerfällt, vergangen
hätte, als weil sie, im Scheinen und im Werden schicksalhafter
Gewalt bis zum Tod unterworfen, entscheidungslos ihr Leben da-
hinlebt.« (176)

Dialektik des Opfers in der Säkularisierung


Goethes Wahlverwandtschaften (1809) erzählt u. a. davon, wie hin-
ter dem Rücken seiner aufgeklärten Protagonisten eine Märtyrerin
produziert wird. Vor dem Horizont von Benjamins Arbeit an einer
Unterscheidung profaner und sakraler Bedeutungen wird der Ro-
man als Darstellung einer prekären Säkularisierung lesbar, die u. a.
über die Einebnung unterschiedlicher Dimensionen des Opfers
funktioniert: einerseits jenes Opfers, das im Sinne eines sacrificium
religionshistorische Ursprünge hat und ein Lebens-Opfer meint,
andererseits der Profanierung der Opfersemantik in der alltäg­
lichen Rede, daß etwas geopfert wird. In den Wahlverwandtschaf-
ten geschieht letzteres vor allem in den Verhandlungen zwischen
den aufgeklärten Partnern, in denen es immer wieder darum geht,
Die Dichtung als Einbruchstelle 129

wer was oder wen zu opfern bereit sei. So ist in den Gesprächen
zwischen Eduard und Charlotte über ihre Lebensgestaltung leit-
motivisch davon die Rede, ob man etwas »aufopfern« müsse oder
­könne. Daß dieser profanierte Sprachgebrauch die Begleiterschei-
nung einer viel weiter reichenden Kultvergessenheit der aufgeklär-
ten, säkularen Gesellschaft darstellt, die die Herkunft ihrer Kultur
aus dem Kult überwunden zu haben glaubt oder verdrängt hat,
wird in der berühmten Friedhofsszene des Romans erkennbar. Als
das Paar, das mit der Anlage eines Landschaftsgartens beschäftigt ist,
gemeinsam den Weg über den alten Kirchhof nimmt, bewundert
Eduard, ohne daß er das Sakrileg, das sich ihm darbietet, auch nur
bemerkt, wie Charlotte hier »mit möglichster Schonung der alten
Denkmäler« einen angenehmen Raum geschaffen habe: »Auch dem
ältesten Stein hatte sie eine Ehre gegönnt. Den Jahren nach waren
sie an der Mauer aufgerichtet, eingefügt oder sonst angebracht; der
hohe Sockel der Kirche selbst war damit vermannigfaltigt und ge-
ziert.« (Goethe 1996, 23 f.)
In dieser knappen Beschreibung verdichtet sich ein radika-
ler Bruch mit den Überlieferungen. Die Umgruppierung der al-
ten Grabsteine, die Charlotte vorgenommen hat, verwandelt eine
Stätte des Totenkults in einen Bestandteil des Landschaftsgartens,
in dessen Gestaltung sich die zeitgenössische Ordnung der Din-
ge spiegelt: eine Harmonie von Wissen und Schönheit, in der die
chronologische Anordnung der Steine nach ihrem Alter mit ih-
rer Funktion als Zierde übereinstimmt. Goethes Bemerkung, daß
Eduard den Pfad über den Kirchhof sonst zu vermeiden pflegte, ist
ein Hinweis auf das Tabu, das den Ort umgibt. Weil die Herkunft
des Tabus aus dem Verbot, die Ruhe der Toten zu stören, verges-
sen wurde, ist von ihm nur mehr das Gefühl einer unbestimmten
Furcht geblieben. Darum ist es kein Wunder, daß die solcherma-
ßen über die Grundlagen ihrer eigenen aufgeklärten Kultur un-
aufgeklärten Protagonisten von der verdrängten religiösen Gewalt
eingeholt werden, die jenen Dingen und Worten innewohnt, von
denen sie einen profanierten Gebrauch machen.
So kommt mit dem Experiment, das sie mit der Naturlehre und
der Anwendung des chemischen Gesetzes der Wahlverwandtschaf-
130 Etwas jenseits des Dichters

ten auf sich selbst machen, eine tödliche Dynamik in Gang, die
der Gleichsetzung von Naturelementen und menschlicher Natur,
d. h. deren Reduktion auf das bloße, natürliche Leben, innewohnt.
Das geschieht zunächst durch den Tod von Charlottes Sohn, der
im Wasser umkommt, das sich auf diese Weise, anders als in der
­Lehre von den chemischen Elementen, als unbeherrschbares Ele-
ment zeigt. Die Art, wie sein ›Opfer‹ von den Protagonisten ge-
deutet wird, bleibt in der Schwebe zwischen einem durch das
Experiment (selbst-)verschuldetem Tod, dem ersten »Opfer eines
ahnungsvollen Verhängnisses« (346), einerseits und ›nötigem‹ Opfer
»zu ihrem allseitigen Glück« (342), d. h. einem Opfer, mit dem eine
neue Ordnung gestiftet werden könne, andererseits. Doch mit dem
nachfolgenden Tod Ottilies verschafft sich die in der aufgeklärten
Opferrhetorik verkannte religiöse Gewalt des sacrificium Geltung:
indem Ottilie sich, von den anderen unbemerkt, in Askese aufzehrt
und als Märtyrerin stirbt. Ottilie, die als Verkörperung der Schön-
heit und als eine Art lebendes Bild den Schauplatz des Roman­
ge­sche­hens betreten hatte, ist damit endgültig zum Bild gewor-
den – und zwar zu jenem Bild, dessen Herkunft aus dem Totenkult
ebenso verdrängt ist wie die Profanierung des Opfers in der bür-
gerlichen Verzichtsethik.
Analog zu Eduards unreflektierter Furcht vor dem Friedhof
empfindet Charlotte nämlich eine ebenso unbestimmte Abnei-
gung gegen Porträtbilder, zumal gegen den Anspruch, diese mögen
das »schönste Denkmal« eines Menschen sein, um dessen »lebende
Form zu erhalten«. Dabei thematisiert sie, gleichsam ahnungslos,
den Zusammenhang von Bilderkult und Totenkult. Sie wider-
spricht nämlich der Idee, daß das Bild eines Menschen sein Denk-
mal bezeichne, was im damaligen Sprachgebrauch soviel heißt wie
»die eigentliche Grabstätte«, um daran anschließend ihre »wunder-
liche Abneigung gegen Bildnisse« damit zu erklären, daß diese im-
mer auf etwas »Abgeschiedenes« deuten (193 f.). Die Abbilder von
Verstorbenen als deren sichtbare Stellvertreter, das benennt einen
der Ursprünge der abendländischen Bildkultur. Mit diesen Bildern
wird die Ruhestätte der Toten als Kultstätte gekennzeichnet, die
damit für die Äußerungen des Lebens tabuisiert ist. Insofern sind
Die Dichtung als Einbruchstelle 131

die lebenden Bilder, mit denen die Gesellschaft sich im Roman die
Zeit vertreibt, gefährliche Unternehmungen, sind es doch Nach-
ahmungen von Denkmälern im ursprünglichen Sinne: Bilder als
Stellvertreter von Toten.
Dabei charakterisiert Goethe die Gesellschaft der Wahlverwandt-
schaften in ihrem Umgang mit Bildern in doppelter Weise. Im ge-
nau entgegengesetzten Verhältnis zur Entweihung der Grabsteine
steht der nahezu weihevolle Umgang mit den Überresten der Ver-
gangenheit, die gesammelt, geordnet, wiederhergestellt werden.
Derart verwandeln sie sich in Objekte für die Einbildungskraft, um
sich in »die ältere Zeit« zu versenken. Die Gesellschaft der Wahl-
verwandtschaften frönt so einem Bilderkult, der die Überreste und
alten Abbildungen, Reliquien gleich, verehrt: »Das Gemeinste,
was geschah, hatte einen Zug von himmlischem Leben, und eine
gottesdienstliche Handlung schien ganz jeder Natur angemessen.«
(198 f.) So hat der Kult um die Schönheit und die Bildnisse den Zu-
sammenhang zwischen Totenkult und Bild verdrängt und vergessen
gemacht, während er doch zugleich den Kultwert der Bilder beerbt
hat. Die allmähliche Angleichung der Ottilie ans Bild läßt die inne-
wohnende Dynamik zutage treten, in der Opfer und Sakralisierung
zusammenwirken: in der Figur der Märtyrerin als Heiliger. Indem
Goethes Roman davon erzählt, wie mit der Profanierung der To-
tenstätte und des Opferbegriffs eine Sakralisierung der Bilder und
eine Betrachtung der Überreste des Vergangenen als Reliquien ein-
hergeht, reflektiert er eine signifikante Logik in der Dialektik der
Säkularisierung. In ihr wirken die Elemente der Märtyrerkultur in
der Aufklärung – unbemerkt – fort, und ihre Verkennung in einer
scheinbar profanen Kultur setzt eine Wiederkehr des Verdrängten
in Gang.

Vom »Schuldzusammenhang des Lebendigen« –


Kritik an Schicksal und Sühnetod
Überall dort, wo der Goethe-Kult ein ›Übermenschliches‹ preist,
setzt Benjamin eine Subjektposition dagegen, die in einer Doppel-
referenz auf natürliche und übernatürliche Momente des Lebens grün-
132 Etwas jenseits des Dichters

det. Die »schicksalhafte Art des Daseins«, der das Goethesche Per-
sonal verhaftet bleibt, wird für ihn in den Wahlverwandtschaften als
Vorstellungswelt erkennbar, in der das Leben als »Zusammenhang
von Schuld und Sühne« begriffen wird. In ihm erscheint Ottilies
Tod als eine Art mythisches Opfer. Dabei führt die Leugnung einer
Bindung des natürlichen Lebens an ein höheres/übernatürliches
zur Entfaltung eines »verschuldeten Leben[s]«, zu einer Vorstellung
von »Schuld, die am Leben sich forterbt« (I .1/138). Insofern ist es
gerade das bloße Leben, bar jedes übernatürlichen Anspruchs, das zur
Schuld wird: »Mit dem Schwinden des übernatürlichen Lebens im
Menschen wird sein natürliches Schuld, ohne daß es im Handeln
gegen die Sittlichkeit fehle. Denn nun steht es in dem Verband
des bloßen Lebens, der am Menschen als Schuld sich bekundet.«
(139) Diese Überlegungen zum »Schuldzusammenhang von Le-
bendigem« (138) korrespondieren mit den Ausführungen über die
Befangenheit der »Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens« im
Mythos und mit der Verwerfung des »Dogmas von der Heiligkeit
des Lebens« im Essay Zur Kritik der Gewalt, der ein Jahr vor der Fer-
tigstellung von Goethes Wahlverwand