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August Verlag
Ouurage publiC auec /e soutien duCentre !\iational du Livre- AJinistJre
Franr;ais ch1iryC de Ia Cu/tun'.
Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung des Cenrrc
National du Line- MinistE-re Fram,:ais charge de Ia Culture.
INHALT
Einleitung 7
Di<•ses Vorkommnis hat 2004 die fram:i:isische Presst' hc�cl1äfligt: Eine 24-jährigl'
Frau gab vor, in der Pari�er Vorstadtbahn RER D mil ihn•m Baby von Jugendlichen
ang•;hlich maghn•hiniscl1er fl•:rkunft aus vorgeblich antiscmitisclwn Beweggründen
ang<-:griff<:'n worden zu �ein. EitJ<• \Velle d�'r Entrüstung nnd Solidnrit�it mit dt'm
ilngehlidwn Opfer ging durch die frilnzösisclw Ges••:bchaft und entfachte eine hef
tig.- Obkussion iiber .-\ntisemirisrnus und da� Zu5,\HJJJH�nkh,,n der j(idisch<.'n und
awbischen G•:meinschaft sowi i?Ubcr Jk Gewa!tberd:scbaft arahiseher jugendlicher.
Spät,•r stellte skh herau�, lb�s die junge Fn1u, die sel!.ht nicht jüdis("h WM. den Angrifr
nm yorg?tÜUS(ht hatte. [A.d.Ü.J
Das Jnstitut d"t."tmles l'o/itiques in P<lris hat irn Jahr 2001 wm Prsten Mal ein parallele�
Bewerbungswrbhrcn für ßewc•rb<.'r aus bildungsfernen S,hichtcn eingdtihrt, um so
den Jugendlichen mit l'vligrationshintergrund den Zugang tu E'rleichtcm. [t\.d.Üj
/)er f[,IS> der Demokratie
w
VON DER SIEGREICHEN ZUR
KRIMINELLEN DEMOKRATIE
.. Democracy stirs in the Midd!e East", in: The t:wnomist5/!l (März 2005).
"
f
Der lht�_\ der !Jenw�-rtllie
rung des Volkes durch sich selbst, sondern die Unordnung der
nach Befriedigung durstenden Leidenschaften ist, kann und
muss sie sogar von außen und beschützt durch die Waffen einer
Supermacht eingeführt ,,_"erden. Wobei Supermacht hier nicht
einbch einen Staat meint, derüber eine disproportionale Mili
tärmacht verfügt, sondern allgemeiner die Macht, die demo
kratische Unordnung zu beherrschen.
Die Kommentare zu den Expeditionen, deren Ziel es ist, die
Demokratie in der Welt zu verbreiten, rufen ältere Argumente
in Erinnerung, die ihrerseits die unaut"haltsame Ausbrei tu ng
der Demokratie heraufbeschworen haben, ,wenn auch auf eine
sehr viel \·veniger triumphale Art. Tatsächlich paraphrasieren
sie jene Analysen, die dreißig Jahre zuvor auf der Trilateralen
Konferenz unter dem Titel The Crisis of Democracy von Michel
Crozier, Samuel P. Huntington und Jöji \Vatanaki vorgestellt
worden waren, um die sogenannte Krise der Demokratie z u
untersuchen.'
Die Demokratie ethebt sich im Kiehvasser der amerikani
schen Armeen, und das trotz der genannten Idealisten, die i m
Namen des Rechts auf Selbstbestimmung dagegen protestie�
ren. Schon vor dreH�ig Jahren klagte der Bericht der Trilatera�
lcn Kommission genau diese Idealisten an, namentlich die
"va{ue-oriented inteflectuafs", deren Oppositionskultur und ex�
zessive demokratische Aktivität fatal waren für die Autorität
des Gemeimvesens t.tnd die pragmatischen Handlungen der
Michel Crozier, S:unud P. Huntington, Jclji W,nanaki. TheCrisi> (lf Dem(lcranr Report
nn tlw l}m/emability of derrwcrades to lile Trilrlleral Commission 11\ew York: N\.'W York
University Pn,'ss 19751. Die Trilatcralt• Kommission war ein 1 972 ins Leben geruFener
runder Tbch (duh de ritlexion), dem Staat�männc•r, ExjKrten und Ge�chäftsmünner
au� den LS!\, \Vest-Eu1.;1pa l!nd Japan angehörten, und von dem ofl gesagt l"ird, hier
-'>ekn die j(\een dt'r zukünftigen ,.neut•n VVeltordnung" <Cr;trheitet ;vonleu.
hm der .1ieyreic!u:n wr kriminellen Demokratie
,,
/)er flas.1 der Demokmlie
'4
\{m der sieyreichm zur kriminellen Demokrafit'
Form der Regierung und des sozialen Lebens sein, die in der
Lage \var, diesen doppelten Exzess der kollektiven Aktivität und
des individuellen Rückzugs, \Vie er dem demokratischen Leben
eingeschrieben ist, zu beherrschen.
Von Expertenseite vvird das demokratische Paradox übli
cherv..reise so dargestellt: Die Demokratie als politische und
gesellschaftliche Lebensform ist die Herrschaft des Exzesses.
Dieser Exzess nun bedeutet den Ruin der demokratischen
Regierung und muss deshalb von ihr wieder unterdrückt \-ver
den. [n früherer Zeit hätte eine solche Quadratur des Kreises
noch die Erfindungsgabe der Verfassungskünstler gereizt;
heute allerdings \vird diese Art von Kunst kaum mehr geschätzt.
Die Regierenden kommen sehr gut ohne sie aus. Dass die De
mokratien "unregierbar" sind, beweist nur allzu gut, wie sehr
sie einer Regierung bedürfen, und dies ist den Regierenden
eine hinreichende Legitimierung der Sorgfalt, mit der sie regie
ren. Doch die Tugenden des Regierungsempirismus können
ausschließlich diejenigen überzeugen, die selbst regieren. Die
Intellektuellen h ingegen benötigen eine andere V ährung, vor �
allem auf dieser Seite des Atlantiks und vor allem in uriserem
Land, in dem sie i n großer Nähe zur Macht leben, von ihrer
Ausübung jedoch ausgeschlossen sind. Für diese Gruppe kann
ein empirisches Paradox nicht durch die B\\s rclcicn der Regie
rung aufgelöst werden. Dieses Paradox gilt ihnen vielmehr als
die Folge einer ursprünglichen Verfehlung, einer Perversion
im Herzen der Zivilisation, deren Ursprung sie aufzuspüren
suchen. Worum es diesen Intellektuellen geht, ist mithin, die
Z\veideutigkeit des �amens aufzulösen, d.h. "Demokratie"
nicht mehr zugleich als den Namen eines Übels und des Guten,
das ersteres beseitigt, zu verstehen, sondern ausschließlich als
den Namen des Übels, d�s uns verdirbt.
Während die amerikanisc,hen Armeen die demokratische
Expansion im Irak vorbereiteten, erschien in Frankreich ein
Buch, das die Frage der Demokratie im Mittleren Orient in ein
'5
Der- H(i.S.I Ju- Demokrc;lie
' )t-an-Clnude Milner, Les Penchants crimine/s dP I'Etwope Jhnocratique {P<Jris: Vt'rdier
zoo;J.
hm der ,lir•greü:hen ::ur kriminellen Demokratie
· VgL dazu das lvlcistenwrk von jean·Ciaude Mi!rwr, /.i'S :Voms inJi�IÜICts (Pari�: Le
s,,uil J<Jß3L
'7
Der f{ass der Demokmlie
'9
Der 1-/a�.<. der Demokratif
' Die�e Thesen wurden verötf<>ntlicht in: Ciaulk Lefort, l.'fnvention dbnocratiqi.Je: /es
Iimite-> de Ia domirwtion fola/itoire (Paris: Fayard 1981).
�-Im der sieqrrichcn zur kriwinc!lrn T'emokr,;til'
nim mt- aufder These Auguste Cochins, die aufdie Rolle der
"geistigen Gemeinschaften" {.societCs de pen.sJe) am Ursprung der
Französischen Revolution hinweist.9 Furet unterstreicht, dass
Cochin nicht nur Monarchist und Anhänger der Action Fram;:aise,
�sondern auch ein durch die soziologische \Vissenschaft durk
heimscher Prägung geschulter Geist war. Er·war also ganz klar
ein Vertreter jener "individualistischen" Kritik an der Revolu
tion, die von der Konterrevolution auf das "liberale" Denken
und die republikanische Soziologie übertragen wurde und die
als die eigentliche Grundlage für die Verurteilung eines revo
lutionären "Totalitarismus" diente. Der Liberalismus, den die
französische Intelligenzija seit den 1980er Jahren zur Schau
stellt, ist eine Doktrin mit doppeltem Boden. Denn hinter der
Verneigung vor der Autldärung und der angloamerikanischen
Tradition der liberalen Demokratie und der individuellen
Rechte steht die allzu französische Anklage der individualisti
schen Revolution, die den Gesellschaftskörper zerreißt.
Diese doppelte Bewegung der Revolutionskritik macht das
Entstehen des zeitgenössischen Anti-Demokratismps verständ
lich und sie zeigt, iny.,riefern die Umkehrungdes Diskurses über
djc Demokratie aus dem Zusammenbruch des Sowjetischen
Imperiums hervorgeht. Einerseits \\'urde dieser Zusammen
bruch für eine kurze Zeit als Sieg der De'fnokratie über den
Totalitarismus, als Sieg der individuellen Freiheiten über die
staatliche Unterdrückung begrliBt, und er wurde von den Men
schenrechten symbolisiert, die die sow,ietischen Dissidenten
und die polnischen Arbeiter eingefordert hatten. Diese "for
-malen" Rechte waren die erste Zielscheibe der marxistischen
Kritik gewesen, und das Zusammenbrechen jener Regime, die
aufdem Anspruch gründeten, eine "reale Demokratie" zu fcir-
�"".
dern, erschien \vie ihre Revanche. Doch während im Vorder-
grund die Verbeugung vor den siegreichen Menschenrechten
., t\ugu�te Cuchin, Les sociPrh de pr:n.w;r rt Ia dönocratie moderne {Paris: Copernic 19781.
'l
Drr lla�s der /)crnokrutie
Giorgill Agatnhen, 1/omo Sucer. Dir souuertilll' Macht tmd dl)s nackt(' Ltl>en (Frankfurtil\L
Snhrkamp 2002) und jacques RanciCrc, "\Ver i�t das Subjekt der Menschenre('hte?",
in: !Jic Rc<N.>il<liau ch>r :Hcm(_henrechtt•, hg. l. Cbrls!oph rvlenh> II. Francl'.'.r;J Raimondi
(h,tnkfur!/M.: Suhrkamp. im Erscheinen).
rechtsstaat war. Die zeitgenössische gelehrte Meinung hinge
gen sieht die Dinge anders. Und tatsikhlieh genügt es, eine
Reih e ·von kleinsten Verschiebungen vorzunehmen, um den
egois tischen Individuen ein ganz anderes Gesicht zu geben.
Ersetzen wir zunächst, das \Vird man uns umstandslos zugeste
hen, "egoistische Individuen" durch "gierige Verbraucher". Set
zen ·wir dann diese gierigen Verbraucher mit einer historischen
sozialen Spezies gleich, dem .,demokratischen Menschen". Und
erinnern wir uns zuletzt daran, dass die Demokratie das Re
gime der Gleichheit ist, so ist es nicht weit zu der Schlussfolge
rung, dass die egoistischen Individuen die demokratischen
['vlenschen sind. Letztlich lässt sich also schlussfolgern, dass die
Aus\veitung der Marktbeziehungen, deren Emblem die Men
schenrechte sind, nichts anderes ist als die Verwirklichung des
fiebrigen Verlangens nach Gleichheit, das die demokratischen
Individuen beherrscht und das vom Staat verkörperte Streben
nach Allgemeinvmhl zerrüttet.
Lauschen wir zum Beispiel dem Tonfall jener Sätze, die uns
den traurigen Zustand beschreiben, in den uns die Herrschaft
�
der von Dominique Schnapper sogenannten fürsorylichen
Denwkratie (dCmocratie prouidentielle) versetzt: "Die Beziehungen
zwischen dem Kranken und dem Arzt, dem Anwalt und seinem
Klienten, dem Pfarrer und dem Gläubigeß, dem Lehrer uml
dem Schüler, dem Sozialarbeiter und dem Sozialhilfeempfän
ger passen sich immer mehr dem Modell der vertraglich gere
gelten Beziehungen zwischen gleichen Individuen an, das sich
seinerseits am Modell der grundlegenden Gleichheitsbezie
hung orientiert, die zvvischen einem Dienstleister und seinem
Klienten besteht. Der demokratische Mensch wird angesichts
jeder Kompetenz ungeduldig, die seine eigene Souveränität
infrage stellt, auch bei de r des Arztes oder des Amvalts. Die
Beziehungen, die er zu den anderen unterhält, verlieren ihren
politischen oder metaphysischen Horizont. Jede professioneJlc
Tätigkeit tendiert dazu, banal zu v..rerden [... ]. Der Arzt \·vird
'5
Der [-Jas) der Demokratie
,,
Von der siegreichen zur kriminellen Demokratie
Ehd.
'' Schnapper, (<l dCmocratie providenfiel/e, S. !69- 170 (Hcrl'odwbung J.R.).
Der E-/Qs.\ der Demokrat!�:
1\)e;,:h dc- Tocqul'vil!e, Ober die Demokrutie i n Amerika (Dktzingen: Reclam 1986).
\iim drr .1ieyreic!Jen wr kriminellen Dmwkratie
'"'
l.Jberdie verschiedenen und manchmal krummen \Vege. die zum zeitgenössi'ichen
Nt'o-Tocqut>villismu� geführt haben, und V()r allf'm üher die Umkehrung der tradi
tionaliotisc!wn katholischen lnterpretatiun Tocquevilles in t•ine po�tmoderne Sot.io
log:it·. vg:L Serge Audier. JiJcqueville re/rouvf. Gcnt•se r/ enjeux d11 n:nml!'eilu tocql!evillien
fran�ais (Paris: Vrin 2004).
Drr lhJ.�S der Demokratie
die sich nur für die private Sphäre ihres Lebens interessieren,
sind der demokratischen Funktionsvveise der Gesellschaften
durch den Personalisierungsprozess verbunden."'8
Danid Bell, Oie k!AÜ!Irelfen �Videnpn'icfle dt's Kopiti;!ismus, tihcß. v. lnge Presser
(Frankfurt/Main: Campus !99!J. Es muss hervnrgehohen wenlen. da&s dn� Strd:wn
lHKi1 der Rückkehr purit<mischcr \Verte bei Bell m i t der Sorgt• um soziale Gerechtig
k<.'it verbunden WM, die bei denjenigen. die dksc Problematik in Fr<1nkrdrh aufge
grifFen haben, vers<:hwunden ist.
'0 Gilles Lipov�bky, LTrr du Fide: esoai.1 mr l'indiviua!isme umtempomin (Paris: Galli
" Jean ß;wdril!ard, La Sociflf de consommutio11. Sc� mythe'i, ses structures (Paris: S.G.P.P.
1970), S. fl8 IHervorhebung j.ru.
l'
Der //,1.\S d�r Dcmokrutie
und das Streben nach dem Gemeimvohl \var; und dass das
Prinzip dieser Kunst und dieses Strcbens die klare Unterschei
dung Z\Visc:hen dem Bereich der gemeinsamen Angelegenhei
ten und dem der egoistischen, kleinlichen Herrschaft des Pri
vatleb�ns und der hil usli e hen Interessen \"-lar. Das "soziolog�
sche" Porträt der fröhlichen postmodernen Demokratie stand
so für den Ruin der Politik, die von nun an einer vom · Gesetz
des individuellen Verbrauchers regierten Gesellschaftsform
untergeordnet \var. Um die Politik \'or diesem Ruin zu retten,
m usste mit Aristoteles, Bannah J\rendt und Leo Strauss die
Bedeutung einer reinen Politik y.,riederhergestellt werden, die
vor den Anfechtungen durch den demokratischen Verbraucher
sicher wäre. In der Praxis fand dieses Verbraucherindividuum
ganz natürlich seine Entsprechung i n der Figur des Angestell
ten, der egoistisch seine archaischen Privilegien verteidigt. Man
erinnere sich an die Flut von Literatur über die Streiks und
Demonstrationen im Herbst 1995, die diesen Privilegierten ein
Be\nJsstsein für das Zusammenleben und d e n R u h m des
öffentlichen Lebens, die sie durch ihre egoistischen Interessen
in den Schmutz zogen, in Erinnerung rufen sollten. Doch v.'ich
tiger noch ist die solide Identifizierung zwischen dem demo7
kratischen Menschen und dem Verbraucherindividuum. Der
Konflikt zwischen den postmodernen Soziologen und den Phi
losophen, die sich als Fortführer der antiken Tradition sehen,
etabliert diese Identifizierung umso geschickter, als die Anta
gonisten lediglich dieselbe Gleichung in zv.,reierlei Lesarten
präsentierten, und zv•lar i n einem von jener Zeitschrift, die iro
nischenveisc den Namen Dribat [das Streitgespräch] trägt, gut
arrangierten Duett.
\Nie bereits gezeigt, ging es in einem ersten Schritt also
darum, die Demokratie auf einen Gesellschaftsstaat zu redu �
zieren. Im zweiten Schritt dieses Prozesses, dt:'r nun zu unter
suchen ist, \Nird aus der sokhermagen bestimmten Demokra
tie nicht mehr nur ein Sozialstaat gemacht, der" unberechtig-
Von der -�ieyreichen zur krinwwllen Demokratie
delt sich ttm eine Bestimmung der Schule, die ihr historisches
Modell in Jules Ferrys "Republikanischer Schule" hatte und die
republikanische These musste, um wirksam zu sein, dieser
Bestimmung erneut Bedeutung verleihen.
Allem Ansch�in nach besrh�lftigte sich diese Debatte also
mit deh Fonn�n der Ungleichheit und den Mitteln der Gleich
heit. Dabei \Varcn ihre Begriffe hö<._·hst zweideutig. Die ]3.tsache,
dass das zentrale Buch in dieser Diskussion Jean-Claude Mil
ners De l'Ecolc /Von der Schule] \-var, verstiirkt diese Zweideutig
keit. Denn J\.1 ilners Buch sagt eigentlich etwas ganz anderes, als
man darin zu jener Zeit lesen \.vollte. I h m ging es nicht darum,
das Universale in den Dienst der Gleichheit zu stellen; vielmehr
betraf seine Sorge die Beziehung zwischen Wissen, Freiheiten
und Eliten. Und mehr noch als von Ferry wurde es von Ernest
Renan und dessen Verständnis der VVissenscliten beeinflusst,
die in einem Land, das bedroht \Vird durch den dem Katholi
zismus inhärenten Despotismus, Garanten der Freiheit sind.10
Bei dem Gegensatz zwischen einer "r�publikanischen" und
einer "soziologischen" Doktrin handelt es sich im Grunde um
den Gegensatz z·.vischen z\vei Soziologien. Der Begriff des
"republikanischen Elitismus" aber verstellt die Sicht auf diese
Doppeldeutigkeit, anders gesagt: solange das republikanische
Universale und die sozialen Partjkularitäten und Ungleichhei
ten einander entgegen stehen, wird der harte Ket:n
der These überdeckt. Oemrt schien die Debatte von der Frage
b�:herrscht zu sein, was die Öffentlichkeit tun konnte und sollte,
um mit eigenen Mitteln gegen die sozialen Ungleichheiten vor-
"' Renans .'\rgurnent ist ü, sein<'!ll Buch La I�Cjorme illtdlectuelle el mnmfe zusammen·
gefasst: Emest R<"nan, La R�/llrme inte/Jectue/le et 11Wmle, in: Jers.. O:"rwres Complt;tes,
Bd. l {Paris: Calmann·Lt">vy 1947), S. )25- 546. Die Tat�ache, llass dit'se Ü berkgungen
b<-i Renan mit einer spürbar!:'n Nostalgie für das mi!tei<Jitt'r!iche katholische Volk
einhergehen. Jie seine Arheit und SPinen Ghuben in den Dit•nst dergroßen Bauwerke
der Kathedralen stellt, ist kein \-Vidt.•rspruch. Die Eliten müssen �prote�tanthch",d.h.
in.Ji<·idua!istisch und mlf/;t•kliin, und das Volk muss ,katholisch", d.h. kompakt und
eher gläubig als gelehrt, �ein. So hwtet der Kern de; Denkens der Eliten im 19. Jahr�
hundert von Guizot übc•r R<.•nan his Tainc.
J4
hm der siegreichen zur kriminellen Demokratie
zuge hen. Sehr schnell konnte man jedoch sehen, \vie sich die
Perspektive neu j ustierte und die Atmosphäre veränderte. Und
während man nicht müde \Vurde, den ausgreifenden Bildungs
mahgel zu kritisieren, so vvie er durch die alles überflutende
Supermarktkultur unabvvendbar he�orgerufen \\'ttrde, konnte
auch die VVurzel des Übels identifiziert werden: Es vvar, natür
lich, der demokratische Individualismus. Der Feind der repu
blikanis chen Schule \var mithin nicht mehr die ungleiche
Gesellschaft, der sie den Schüler entreißen musste, sondern der
Schüler selbst, der zum Repräsentanlen des demokratischen
Menschenpar excellence \Vurde, zum unmündigen Wesen, zum
jungen, vor Gleichheit trunkenen Verbraucher, dessen Verfas
sung die Menschenrechte sind. Die Schule, so vvurde bald
gesagt, leide unter einem einzigen Übel, der Gleichheit, verkör
pert von demjenigen, den sie unterrichten sollte. Auch die
Autorität des Lehrers ftihrte demnach nicht mehr zum Univer
salen des Wissens, sondern stand im Dienste der Ungleichheit,
die m,mmehr selbst den Platz einer "Transzendenz" einzuneh
1
mcn schien: "Es gibt keinen Platz mehr für irgendeine Trans�
zendcnz, das I ndividuum \Vird zum <Jbso!uten w t; und sollte ei
etwas Heiliges überdauern, dann nur als Heiligsprechung des
Individuums durch Menschenrechte und Demokratie [ ]. Das ...
1\ir eine Ausführung diesn Thesen kann der intt:rl'ssienP Les<.'r auf die Arlwiten
von Alain FinkiPlkraut zurückgreifen, vor allem Cfmpar{ait dti prJserll (Paris: Galli111ard
2002), oder, i n kürzerer Form, aufdas interview desselben Alltors mit .rvlarcel G<Jurhct,
".'VlJbise dan� la democt;ttie. L'Ecole, Ia culture, l'individualisme", in: Le Dibat 5l
(Sl'[-lt<:mher/Oktoher 1988). Vgl. ftir eim.' hippe v·ersion im neo-L1tholischen Punk-Stil
die Vv'erke von 1Vlnurice Dantec.
Finkielb-:wr, Dmrllrjtli! du prJsenl, S. 164.
Ebd., S. 2oo.
]ean·Jncques Ddfour, "Loft Story: une ma(:hine tutalitaire", in: [.e Monde (19. Mai
200!1. Zwn selben Them;J - und im se!ben Ton - vgL Damien Le Gu<l)', LLmp{re de fa
tJh!·rCulitC: comment accroitre le "temps de cerlleau hwnain disponible·' ( Pnris: Pre�ses de !a
Re.1<dssam:c 2005).
,,
hm Jer sie;veichen wr kriminellen Demukratie
Lllci<•n Karpik, ,.Etre victime, c'e�t ehereher un restwnsable" ( lnrervkw mit Cedk
Pril'ttrl, in: Le A-fomle (22. -23. Augu�t 2004). Man kennt das Gewicht, da> die /\nprnn
gerung der demokratischen ·ryrannei durch ihre Opfer für di<' vorherr�chende öffent·
liehe Meinung hat. Vgl . in di<:'S('OJ Ztlsanunenhang Gil!es \Vil!iam Goldnage I, Le.1
Matrymcml<>s: JPriue> Pt imposturrs de l'idc;olouie victimaire (Pari�: Pion 2004).
37
[)er /{as_; der Demokrulie
Aus diesem Blickwinkel liest man mit Gewinn Li'Solairede 1'/J#o/: Ia thi!oriede.\ th>Ses
etde Ia nd/ur!' au XX' siCde
(Paris: Le Scui! 1997), i n dem dersdbe ;\clilner in den marxi
stisdwn Begriffen d<�r unglücklichen Bestimmung einer "angestelht.'n Bourg<'oisie& -
) lm der si<'qr�;i(hcn zur kriminellen Dmwkmtic
(bourgeoisw salarie), (lie für die AUS\H'itung de� Kapitalisn1u� unbrauchbar gewurden
ist, jenco Pro1esst' untersucht, die hier der LH.llt•n Emwitk!ung der demokratis·�hen
l!nb<.•gn:nzth<.'it lugeschriebcn werden.
39
verständlichen Namen der Demokratie zu tragen. Gestern hieß
sie Republik. Doch ist Republik ursprünglich nicht der Name
der Regierung des Gesetzes, des Volkes oder seiner Repräsen
tanten. Republik ist seit Platon der Name derjenigen Regie
rung, \velche die Reproduktion der menschlichen Herde
sicherstellt, indem sie diese vor dem Ansch\vcllen ihres Verlan
gens nach individuellen Gütern und kollektiver i'vlacht schützt.
Sie kann daher einen anderen Namen annehmen, der die Vor
führung des demokratischen Verbrechens auf verstohlene,
aber entscheidende VVeise durchquert: Die gute Regierung fin-'
det heute den Namen \Vicder, den sie hatte, bevor der Name
der Demokratie sich ihr in den Weg stellte� sie heißt pastorale
Regierung. Das demokratische Verbrechen findet seinen Ur
sprung in einer Urszene -· dem Vergessen des Hirten.'A
Das hat vor kurzer Zeit ein Buch mit dem Titel Le Aifeurtre du
pasteur [Der A1ord des Hirten ] dargelegt.N Dieses Buch hat einen
unbestreitbaren Vorteil: Indem es die Logik der Einheiten und
Tot<1litäten illustriert, \Vie sie der Autor von Les Penchants crimi�
nels de l'EL!rope drhnocratique entfaltet, umreißt es zugleich eine
konkrete Figur jener auf so seltsame VVcise von den neuen
Meistem der laizistischen und republikanischen Schule bean
spruchten ,,Transzendenz''. So zeigt der Autor, dass die Hilflo�
sigkeit der demokratischen Individuen die Hilflosigkeit von.
Menschen ist, die das Maß verloren haben, durch das das Eine
mit dem Vielen übereinkommen kann und die Einzelnen sich
zu einem Alle verbinden können. Dieses Maß kann auf keiner
menschlichen Abmachung gegründet sein, sondern einzig auf
der Sorge des göttlichen l-linen, der sich um alle seine Schafe
und um jedes einzelne von ihnen kümmert Dieser Hirte mani-
'' Milner, Les Pcm.!umts criminels dr /'Europe dimocratique, S. 2). Ich danke fcan·Claude
rvlilner fi.ir die :\ntworten, die· er cmf meirw Anrnerkungt.'n zu llen Thesen seines
Buches gegeben h<lt.
Benny Lb·y, Le Meurtre du ptüteur, Critique de Iu l'ision po/ithjW' du monde (Paris: Gras
set-Verdier 2002\.
40
hm da sicyreic!Jen ::ur kriminellen Dmwkratie
fes tiert sich in einer Kraft, die dem demokratischen Wort auf
im mer fehlen \Vird, die Kraftder Stimme, deren Erschütterung
in der Nacht des Feuers alle Hebräer spürten, \.vährend allein
dem menschlichen Hirten Moses die Aufgabe zuteil \vurde, die
Worte de l· Stimme zu hören, zu verdeutlichen und sein Volk
gemäß ihrer Anweisung zu organisieren.
Seitdem kann alles auf einfache Art erklärt \verden - smvohl
die dem "demokratischen Menschen" eigenen Übel als auch
die simple Aufteilung zwischen einer dem Gesetz der Abstam
'
mung trcuen und einer ihm untreuen Menschheit. Die Verlet-
zung der Gesetze der Abstammung ist zunächst die Verletzung
des Bandes zwischen dem Schaf und seinem göttlichen Vater
und Hirten. An den Platz der Stimme haben die Modernen laut
Benny U�vy den Gott-Menschen oder das königliche Volk
gesetzt, jenen unbestimmten Menschen der Menschenrechte,
mit dem der Demokratietheoretiker Lefort einen leeren Ort
besetzt hat. Anstatt von der "Stimme-an-Moses" \Verden wir
nun von einem "toten Gott-Menschen" regiert. Dieser kann nur
' regieren, indem er zum Garanten der "kleinen Freuden'' (petites
I
jouissances) wird, die unsere große Hilflosigkeit - unsere Hilflo-
sigkeit als Waisen - zu Geld machen. Denn als solche sind wir
dazu verdammt, im Reich der Leere umherzuirren, das glei
clu�rmaßen die Herrsch aft der Demokratit�: des IndiYiduums
oder des Konsums bedeutet.3"
Ebd., S. 313.
OIE POliTIK O DE R DER
VERLORENE HIRTE
4)
flrr H,bs der VcnwkNtie
44
/)/(' Politik oJ('r der r'crlorene f-lwle
45
De.v Hass der LJemnkratw
gungen und Rechten ist. Aber sie ist nicht nur die Herrschaft der
Individuen, die alles nach Lust und Laune tun. Sie ist im eigent
lichen Sinne die Umkehrung aller Beziehungen, die die--'mensch
liche Gesellschaft strukturieren: Die Obrigkeiten steHen sich wie
Untergebene und UntergPhene wie Obrigkeiten an; die Frauen
sjnd den Männern gleich; ein Vater gev.,röhnt sich, dem Knaben
ähnlich zu werden; ejn Hintersasse und ein Fremder sind dem
Bürger gleich; der Lehrer zittert und schmeichelt seinen Zuhö
rern, die sich ihrerseits nichts aus dem Lehrer machen; die Jün
geren stellen sich den Älteren gleich und die Alten suchen, es
der Jugend gleichzutun; selbst die Tiere sind frei, und die Pferde
und Esel .sind gewöhnt, ganz frei und vornehm immer geradeaus
zu gehen, \venn sie einem auf der Straße begegnen, der ihnen
nicht aus dem Wege geht.'
Man sieht, es fehlt nichts in der Aufzählung der Übel, die
uns der Triumph der demokratischen Gleichheit zu Beginn des
3· Jahrtausends beschert: Herrschaft des Basars und seiner bun
ten Waren, Gleichheit von Meister und Schüler, Versagen der
Autorität, Jugendku.lt, Gleichheit von M�innern und Frauen,
Minderheiten-, Kinder- und Tierrechte. Die lange Klage über
die verhängnisvollen Auswirkungen des Massenindividualis
mus in Zeiten der Einkaufszentren und des MobilteldOns fügt
der platonischen Fabel vom unzähmbaren demokratischen'
Esel lediglich ein paar zeitgenössische Accessoires hinzu.
Man kann sich darüber amüsieren, aber vor allem kann man
sic-h darüber wundern. Werden \Vir nicht unautbörlich daran
erinnert, dass wir im Zeitalter der Technik, der modernen Staa
ten, der tentakelartigen Städte und des Weltmarktes leben, die
allesamt nichts m i t jenen griechischen Mnrktplätzen zu tun
haben, aufdenen einstmals die Demokratie erfunden vvurde?
Die Schlussfolgerung, die wir aus dieser Tatsache ziehen sol-
'
Vgl. PJ;Jtun, Po/ilda, ßuch V l l l l561d-}63d), ülwrs� v. Fricdrich S("h!eierma<;:hcr, in:
ders. . Siimllkhe \Verkr, Bd. 2 (Reinhek: Rowohh 1994l.
Die l'ohtik oder der ! ·erlorel!e flirte
len, tautet, dass die Demokratie eine politische Form aus einer
an deren Zeit ist und unserer Zeit nicht entspricht, es sei denn
urn den Preis ernsthafter Veränderungen, insbesondere der
Einschriinkung der besagten Utopie von der Milcht des Volkes.
Doch wenn die Demokratie der Vergangenheit angehört, wie
ist es dann zu verstehen, dass die Beschreibung des demokra
tischen Dorfes, die vor 2500 Jahren ein offe ner Gegner der De
mokratie verfasste, heute als exaktes Porträt des demokrati
schen Menschen zu Zeiten des Massenkonsums und der pla
newrischen Vernetzung gelten kann? Man sagt uns, dass die
griechische Demokratie einer Gesellschaftsform angemessen
war, die mit der heutigen Gesellschaft nichts mehr gemein hat.
Doch nur, um uns direkt im Anschluss zu zeigen, dass die Ge
sellschaft, der sie angemessen \var, genau dieselben Züge trägt
wie unsere. Wie ist diese paradoxe Beziehung Z\vischen einer
radikalen Differenz und einer perfekten Ähnlichkeit zu verste
hen? Um dies zu erläutern, stelle ich folgende Hypothese auf:
Das immer noch zutreffende Porträt des demokratischen Men
schen ist das Resultat eines Vorgangs, der zug[eich eine Eröff
1
nung und eine unbegrenzte Wiederholung ist und darauf
abzielt, einen Ldschen Gebrauch zu unterbinden, derdas Prin
zip der Politik selbst berührt. Die amüsante Soziologie eines
Volkes von unbcschwenen Verbrauchern, ,;ersperrten Straßen
und auf den Kopfgestellten sozialen Rollen beschvvön die Vor�
ahnung eines tieferen Übels herauf: die Vorahnung, dass die
unsägliche Demokratie nicht jene Gesellschaftsform ist, die der
guten Regierung widerstrebt und der schlechten Regierung
zustrebt, sondern vielmehr das Prinzip der Politik selbst, das
Prinzip also, das die "gute" Regierung auf dem Fehlen ihrer
eigenen Grundlage begründet.
�0
Um dies zu verstehen, sollten \Vir uns die Liste der Umwäl-
zungen, in denen die demokratische Maßlosigkeit zum Aus
druck kommt, noch einmal ansehen: Die Regierenden sind wie
die Regierten, die Alten wie die Jungen, die Sklaven wie die
47
Der Has_\ der Demokratie
Herren, die Schüler \Vie die Lehrer, die Tiere vvie ihre Herren.
Alles ist umgekehrt, ge>viss. Doeh diese Unordnung ist beruhi
gend. Wenn alle Beziehungen im se\ben Moment umgekehrt
werden, zeigt sich, dass sie alle gleicher Natur sind, dass aile
diese Umkehrungen diesellw {Jmkehrungder natürlichen Ord
nung übersetzen und weiterhin, dass diese Ordnung folglich
existiert und die politische Beziehung Teil dieser Natur ist. Das
amüsante Porträt der Unordnung des demokratischen Men
schen und der demokratischen Gesellschaft ist eine tviöglich
keit, die Dinge wieder in eine Ordnung zu bringen: \Nenn - die
Demokratie die Beziehung z\vischen Regierendem und Regier
tem umkehrt, so \.vie sie alle anderen Beziehungen verkehrt,
stellt sie umgekehrt zugleich sicher, dass diese Beziehung mit
den anderen homogen ist und dass es Z"\vischen dem Regie
renden und dem Regierten ein Distinktionsprinzip gibt, das
genauso gewiss ist \Vie die Beziehung z>vischcn demjenigen, der
zeugt und dem, der gezeugt wird, Z\-vischen demjenigen, der
zuerst kommt, und dem, der danach kommt. Dieses Prinzip
sichert die Kontinuität z>vischen der GeselJsch<:tftsordnung und
der Ordnung der Regierung, weil es zuerst die Kontinuität ZV\'i.
schen der Ordnung der menschlichen Bestimmung und der
Ordnung der Natur sichert.
[\ennen wir dieses Prinzip arkht'. Hannah Aremit hat damn
erjnncrt, dass dieses griechische Wort zugleich den "Anfang"
und das "Gebot" benennt. Und sie zieht die logische Konse
quenz, dass es für die Griechen die Einheit dieser beiden Be- '
deutungen bezeichnete. Arkhe ist das Gebot dessen, was
beginnt, was zuerst kommt. Es ist die Antizipation des Herr
sc haftsrechts im Vollzug des Anfangs und die Verifizierungder
i'vlacht, et\vas in der Ausübung des Gebots, der Herrschaft, zU
beginnen. So wird das Ideal einer Regierung definiert, mit der
jenes Prinzip realisiert \Vird, durch das die Regierungsmacht
beginnt zu existieren, eine Regierung, die die aktive Ausstel
lung der Legitimierung ihres eigenen Prinzips ist. Demnach ist
IJie l'olilik oderder l'er/orene ll1rte
'- Phtton, Nomoi lJI [69oa -69ori, liher�. v. Hieronl'nltl.'> �.liiller u. Friedrkh Schleier
macher, in: ders., Srimtliclw �h,rke, Bd. 4 iRcinlwk; Rowoi11 t 1994).
49
Der H11�s Jer Demokratie
jD
Dif Politik oder der twlorwe Hirte
Doch der "siebte Titel" zeigt uns, dass der Bruch mit der Herr
schaft der Abstammung keinerlei Opfer oder Frevel voraus
setzt. Es reicht völlig, die Würfel entscheiden zu lassen. Der
Skandal ist ganz einfach folgender: Unter den Herrschaftstiteln
gibt es einen, der die Kette zerbricht, einen Anspruch, der sich
selbst \Viderlegt: Der siebte Titel ist das Fehlen jeglichen Titels.
Das ist die tiefe Unordnung, die das Wort Demokratie bedeutet.
Es geht hier weder u m ein großes brüllendes Tier noch um
einen stolzen Esel oder ein Individuum, das allein von seinen
Vergnügen gesteuert wird. Es zeigt sich vielmehr ganz klar, dass
diese Bilder verschiedene Weisen sind, den Grund des Pro�
blems zu verdecken. Die Demokratie ist nicht das Belieben der
Kinder, der Sklaven oder der Tiere. Sie ist das Belieben eines
Gottes, des Zufallsgottcs, d.h. das Belieben einer Natur, die sich
selbst als Legitimitätsprinzip ruiniert. Die demokratische Maß
losigkeit hat nichts mit Konsum\vahnsinn zu tun. Sie ist einfach
nur der Verlust jenes Maßes, nach dem die Natur dem gesell
schaftlichen Artefakt ihr Gesetz gegeben hat, indem sie die
Autoritätsbeziehungen innerhalb des sozialen Körpers struk
turierte. Der Skandal ist der eines Herrschaftstitels, der voll
kommen getrennt ist von der Analogie zu jenen Titeln, die die
sozialen Beziehungen ordnen, wie auch von der Analogie der
menschlichen Bestimmung zur natürliche�h Ordnung. Es ist
der Skandal einer Überlegenheit, die aufkeinem anderen Prin
zip als dem Fehlen jeder Überlegenheit gründet.
Demokratie bedeutet also zunächst Folgendes: eine anar
chische "Regierung", die auf nichts anderem gründet- als auf
dem Fehlen jedes Herrschaftsanspruchs. Doch es gibt verschie
dene \.Yeisen, mit diesem Paradox umzugehen. Man kann den
demokratischen Herrschaftsanspruch einfach ausschließen,
'"
insofern er der Gegensatz jedes Herrschaftstitels ist. Ebenso
kann man den Zufall als Prinzip der Demokratie zurückweisen
und Demokratie und Losverfahren voneinander trennen, Das
tun unsere Modernen, die, wie wir gesehen haben, Experten
5'
Dn fhll's der f)rnwkmt!c
Da Beweis hierfür wurde erbracht, als man unter t.'incr S\l'�ia!iqischen Regierung
in Frankreich auf die Idee kam, die iVlitglicder der unil'ersitiiren Kommissionen,
dt·m•n e<; obliegt, die Aufnahnwverfahren zu leiten, durch Losv•nf;1hren Hl hcstim
men. Dieser �1af.ltl<lhme konnte kt'in praktischPs Argument entgegengesellt werden,
denu man halt<' mit ihr <eine h(·gn"nzk .'\nzahl nm Jndh•idut•n nad1 (\em Prinzip der
gleichwertigen wi.>senschaft!khen Hihigkdten vet5<lmmelt. Eirweinzigc Kompetent
war a�tlkr Acht gelassen won.!,•n, dit> ungleiche Kompeten�, da� l\1ani:ivri<>rgeschkk
im Dic•nstc bestimmkr lntere�sensgruppen. \Na� so viel hieG, wie dass dieser Ver,uch
keine Zuhmft hattt'.
,,
Die Politik oder der t'crlorme 1/.rtc
' Vg!. hier;cu: lkrnard t>1anin, Principcs du _qouuemement ··cprisentatif (Paris: Flamma
rion f99b).
5)
Der fia.s� der Demokratie
trachten, der Philosoph genau die Laster hat, die dieser selbst
wiederum den Demokraten 7.uschreibt. Auch er verkörpert die'
Umkehrung aller natürlichen Autoritätsbeziehungen: Er ist der
Alte, der Kind spielt und der Jugend beibringt, V:-=iter und Leh
rer zu missach1en; der Mann, der mlt ;:�llen Tr8rlitionen bricht,
die die'\Vohlgeborenen Männer der polis zur Führung bestim
men und die sie einander von Generation zu Generation wei
tergeben. Der Philosophenkönig hat mindestens einen Punkt
mit dem Volkskönig gemeinsam: Ein göttlicher Zufall muss ihn
zum König machen, ohne dass er es gewoilt hätte.
Es gibt keine gerechte Regierung, ohne dass der Zufall sei
nen Anteil hätte, d.h. ohne Anteil dessen, .,.,--as der Identifizie
rungder Regierungstätigkeit mitder Ausübun g ei n er begehrten
und er-oberten Macht widerspricht. Das ist das paradoxe Prin
zip, das sich dort durchsetzt, wo das Regierungsprinzip vom
Prinzip der natürlichen und sozialen Unterschiede getrennt ist,
also dort, wo es Politik gibt. Und das ist auch der Einsatz der
platonischen Diskussion Jer "Regierung des Stärkeren". VVie
ist die Politik zu denken, wenn sie V·ieder die 'vVeiterführung der
Unterschiede ist, d.h. der natüriichen'und sozialen Ungleich
heiten, noch der Platz, den die professionellen Machtgicrjgen
ei nnehmc'n? Doch ·wen n der Philosoph sich diese Frage stellt
bzw. damit er sie sich überhaupt stellen kann, muss die Demo
krutie schon die logischste und unerträglichste Ant'>vort gege
ben haben, eine Ant\vort, die nicht die Tötung eines Königs
oder Hirten voraussetzt: Um politisch zu sein, muss eine Regie
rung die Bedingung erfüllen, auf dem Fehlen eines Herr
schaftstitels gegründet zu sein.
Das ist der zweite Grund, \Vt�sha!b Platon das Losverfahren
nicht von seiner Liste streichen kan n . Der "Titel, der keiner ist",
wirktsich aufdje anderen Machtansprüche aus, indem er einen
Zweifel an der von ihnen etablierten Art der Legitimität weckt.
Sicher handelt es sich u m \Vahrc Hcrrschaftstitel, insofern sie
eine natürliche Hierarchie zwisch�n Regierenden und Regier-
Die Pu!itik oder der uerlurene f-lirte
ten bestimmen. Doch bleibt die Frage offen, vvas für eine Regie
rung sie genau begründen. Dass die Wohlgeborenen sich von
den in niederer Herkunft Geborenen untersc-heiden, \.Vil! man
gerne zugeben und ihre Regierung Aristokratie nennen. Doch
Platon vvciß ganz genau, v·...as Aristoteles im Politikos sagen wird:
dass diejenigen, die man die "Besten'' in den Stadtstaaten nennt,
ganz einfach die Reichsren sind, und dass die Aristokratie nie
etv,ras anders ist als eine Oligarchie, die Herrschaft des Reich
rums. Die Politik beginnt tats�ichlJch dort, '"'"0 man die Geburt
infrage stellt, indem die Macht der ·wohlgeborenen, die sich auf
irgendeinen Gründungsgott eines Stammes beruft, als das aus
gestellt \Vird, \vas sie ist - als die Macht der Besitzenden. Dies
hat die Reform des Clisthenes, die die athenische Demokratie
begründet hat, gezeigt. Clisthenes hat die Stämme Athens neu
bestimmt, indem er verschiedene, geographisch voneinander
getrennte demes territoriale Bezirke -· künstlich, also durch
-
; \'gl. \
1 \ilner, Les penchant-', crimirll'is de /'furope di•mocratique, S. 81.
Der flriY> der Demokr11tic
)6
Die l'olitik oder der verlorene /IhN
Vg!. ;acq\H'� Ranciüe, Das Un11ernehmcn. Politik und Philosophie (Frankh1rt/M : Suhr
kamp 2002) und ders.,A11x hords du Po/itique (Paris: Gilllimard 2004).
;8
Die Politik oder der ucr/onne Hirte
59
Der I-Ids; der Demokratie
6o
DEMOKRATIE, REPUBliK,
REPRÄSENTATION
6)
Der !Ia\,\ der Demoknllie
Zit. n. Pkrn.' Ros;ltll'<lllon, l.e Swre dti citnyen. 11i;.tnirv du su_jfrage Uniuersel en Fnmce
(Parb: Gallimard !9<)2), S. 281.
Demokratie, [?.epublik, Repräsentution
' So schreibt )ohn Adam'i: Die Dcmokr.!!ie bed<.'Utet nichts <mden•s als .,der Begriff
"
eines Volkes, llns gar keine Regierung bar". Zit. n. Benlinde J.aniel. Le Mot ,.democracy
et son histoire c:wx Etats-[Jrds de q8o a t8'J6 (Saim· Etienne: Pressö Universitaires de
Saim·Etiennt• 19951, S. 65.
66
fkmoknJ!ie, Republik, Rcprilsei'ilation
Folgen, gerade \Veil sie die Teilung der "Natur" ist, das zer
schnittene Band zwischen natürlichen Fähigkeiten und Regie
rungs formen. Dem gegenüber ist das allgemeine VVa hlrech \
eine aus der Oligarchie geborene, durch den demokratischen
Kampf ent\vendete und von der Oligarchie immer wieder
zurückeroberte Mischform, die ihre Kandidaten der Entschei
dung der \..Vählerschaft anbietet, ohne je das Risiko ausschlie
ßen zu können, dass die VVählerschaft sich verhält, als würde
sie Lose ziehen,
Die Demokratie identifiziert sich niemals mit einer jpri
disch··politischen Form. 'Nas allerdings nicht heißt, dass sie die
sen Formen gleichgültig gegenübersteht, sondern vielmehr
dass die Macht des Volkes immer diesseits oder jenseits von
ihnen steht. Diesseits, weil diese Formen nicht funktionieren
können, ohne sich in letzter Instanz aufjene Macht der Unfa
higen zu beziehen, die die Macht der Fähigen sov·mhl begrün
det wie verneint, auf eine Gleichheit, die für das Funktionieren
der ungleichheitliehen Maschinerie notwendig ist. jenseits, \veil
die Machtformen selbst vom Spiel der Regierungsqwschinerie
beständig neu vereinnahmt werden und sich in die ,,natürli
che" Logik der Regierungstitel einschreiben, d.h. in die Logik
der Ununterscheidbarkeit von Privatem und Öffentlichem.
"
?_obald die Verbindung zur Natur unterbrochen wird und die
Regierungen gezwungen sind, sich als Instanzen des Gemein
samen der Gemeinschaft zu verstehen, d.h. getrennt von der
Logik der Autoritätsbeziehungen, die der Reproduktion des
Gesellschaftskörpers immanent sind, existiert ein öffentlicher
Raum. Dieser Raum isteiner der Begegnung und des Konflikts
,
zwischen den zwei entgegengesetzten Logiken der Polizei und
der Poll.tik, zwischen de:J;,patürlichen Regierung der sozialen
Kompetenzen und der Regierung der Beliebigen. Es ist die
spontane Praxis einer jeden Regierung, dass sie versucht, die
sen öffentlichen Raum zu verkleinern, ihn zu ihrer Privatange
legenheit zu machen, indem sie die Interventionen und Inter-
Der Hass der Dernokrurü•
68
Demokratie, Republik, Repn:isentation
6g
die selbst in sich gedoppelt ist. Einerseits gibt sie vor, den
Bereich des Öffentlichen von den gesellschaftlichen Privatin
teressen zu trennen, I n diesem Sinne deklariert sie, dass dort,
wo sie anerkannt \vird, die Gleichheit der "Menschen" und der
" Bürger" ausschließlich im Hinblick auf die konstituierte poli
tisch-juridische Sphäre existiere, und dass dort, wo das Vol k
der Souverän ist, e s dies n u r durch die Handlungen seiner
Repräsentanten und seiner Regierenden sei. Die Herrschaft
unterscheidet das Öffentliche, das allen gehört, vom Privaten,
in dem die Freih ei t eines jeden regiert. Doch diese Freiheit
eines jeden ist die Freiheit- d.h. die Herrschaft - derer, die über
die gesellschaftsimmanenten Mächte verfügen. Es ist die Herr
schaft des Gesetzes zur Reichtumssteigerung. Die angeblich
von Privatinteressen gereinigte Sphäre des Öffentlichen wird
so zugleich zu einer begrenzten, privatisierten öffentlichen
Sphäre, die dem Spiel der Institutionen und dem Monopol
derer, die die Märkte bestimmen, vorbehalten ist. Diese beidel)
Bereiche werden prinzipiell nur deshalb unterschieden, Uf!!
besser unter dem oligarchischen Gesetz vereint zu werden. Die
amerikanischen Gründungsväter oder die französischen Par
teigänger des Zensussystems (n!gime censitaire) haben n'ichts
Böses darin gesehen, die Figur des öffentlichen Menschen, der ·
sich über die kleinlichen Interessen des ökonomischen und
sozialen Lebens erheben kann, mit der Figur des Besitzers zu
identifizieren. Die demokratische Bewegung ist somit tatsäch
lich eine doppelte Bevvegung der Grenzüberschreitung: Sie
zielt einerseits darauf ab, die Gleichheit des öffentlichen Men
schen auf andere Bereiche des gemeinschaftlichen Lebens aus
zmveiten und insbesondere auf all jene, die von der kapitalis
tischen Grenzenlosigkeit des Reichtums regiert werden; und
andererseits unterstreicht sie, dass diese ohne Unterlass priVa�
tisierte öffentliche Sphäre allen und jedem gehört.
(
Hier konnte nun die oft kommentierte Dualitätvon Mensch
und Bürger ins Spiel kommen. Diese Dualität ist von ihren Kri-
Demokratie, Republik, Repnhelllation
7'
Der Hass der Oernokmtie
Vgl. Olympe de Gouges: "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin", in: Kar!
fkinz Burmeister: Olymp<' de Gouges. Die Rechtr der Fruu 1791 (ßern: Stämpfli 1999}.
- S. !60-163. [A.(\.
Ü.]
7J
Der 1/,JS.\ der Demokratie
jene These stützt, die aus der Bestrafung das "Recht" des Schul
digen macht: Wenn die Frauen das Recht haben, "das Schafott
zu besteigen", wenn eine revolutionä-re Macht sie dazu verurtei
len kann, dann nur, weil ihr nacktes Leben selbst politisch _ist'
Die Gleichheit des Todesurteils hebt die Selbstverständlichkeit
der Unterscheidung von häuslichem und politischem Leben
auf. Und die Frauen können so ihre Rechte als Frauen und Bür
gerinnen einfordern, ein identisches Recht, das sich jedoch nur
in dieser Form des Zusatzes (supplement) durchsetzt.
Damit widerlegen sie defacto das Argument von Burke ?der
Arendt. Denn diesen zu folge sind entweder die Menschen
rechte die Bürgerrechte, d.h. die Rechte derer, die Rechte
haben, und folglich eine Tautologie; oder die Bürgerrechte sind
die Menschenrechte. Da aber der nackte Mensch keine Rechte
hat, sind sie dann die Rechte derer, die keine Rechte haben und
damit eine Absurdität. Olympe de Gouges und ihre Mitstreite
rinnen fügen jedoch in die imaginären Klemmen dieser
logischen Zange eine dritte Möglichkeit ein: Die "Rechte der
Frau und Bürgerin" sind die Rechte derjenigen, die nicht die
Rechte haben, die sie haben, und die die Rechte haben, die sie ')
nicht haben. Willkürlich vverden ihnen die Rechte vorenthal
ten, die die Erkfärung der A'fenschenrechte unterschiedslos den
Mitgliedern der französischen Nation und der menschlichen
Gattung zuspricht. Durch ihr Handeln aberüben sie gleichzei-
tig das Recht von Bürger( innen) aus, das das Gesetz ihnen nicht
zugesreht und dadurch zeigen sü•, dass sie sehr wohl diese
ihnen venvehrten Rechte haben. "Haben" und "Nichthaben"
)
sind Begriffe, die sich verdoppeln. Und die Politik ist der Vor-
gang dieser Verdoppelung. Die junge schwarze Frau, die a n (
einem Dezembertag im Jahr I955 in Montgomery (Alabam<i) im
Autobus auf ihrem Platz sitzen blieb, der nicht ihr Patz war,
beschloss damit zugleich, dass sie als Bürgerirr der Vereinigten
Staaten von Amerika ein Recht hatte, das sie \Viederum nicht
hatte als die Bewohnerirr eines Staates, der es jedem Bürger mit
Demokratie, Republi( Rqmiwntution
Zu clen Raswngeseu.gebungen der Süllstaaten vgl. l'aLJ!i Munily (Hg.), St'-1/e�· Law�
on Raceand Color. Studies in the legal history o{tht' South (Athens: Uniwrsity ofGeorgia
Press 1997). Denen, die zu jedem Anlass Jie Fahrwdes " Kommunitarlsmus'' hoch hal
ten. kann di<.>se Lt•ktüre einen präliseren Begriff davon geben, was der Schutz einer
Identität Jer Gemeinsch<1ft im strengen Sin11e bedeuten bnn.
75
Der Iias:. der Demokratie
Form aufs Spie! setzen. Er ist der Prozess dieses ständigen Aufs�
Spiel-Setzens, der Erfindungvon Subjektivierungsformen und
von Situationen der Erprobung oder Verifizierung, die die fort�
laufende Privatisierung des ölfentlichen Lebens stören. Demo�
kra.ti€ bedeutet in diesem Sinne sehr wohl die Unreinheit der
Politik: ? ie bedeutet, den Anspruch der Regierungen zurück�
zuweisen, ein einziges Prinzip des öffentlichen Lebens zu ver
körpern und so das Verständnis und das Ausmaß dieses öffent
lichen Lebens zu begrenzen. VVenn es eine "Grenzenlosigkeit"
gibt, die der Demokratie eigen ist, dann besteht sie nicht in der
exponentiellen Vervielfachung der individuellen Bedürfnisse
oder Begehren, sondern in jener Bewegung, die ohne Unterlass
die Grenzen Z'A'ischen dem Öffentlichen und dem Privaten, dem
Politischen und dem Sozialen verschiebt.
Die sogenannte republikanische Ideologie lehnt diese inhä
rente Verschiebung der Politik ab. Stattdessen verlangt sie die
strikte Abgrenzung der politischen von der sozialen Sphäre
und begreift die Republik als die Herrschaft eines Gesetzes, das
allen Besonderheiten gegenüber gleichgültig ist. So hat sie in
den I980er Jahren im Streit über die Schulreform argumentiert:
Sie hat die einfache Doktrin einer republikanischen und lai
zistischen Schule propagiert, die allen Schülern, ungeachtet
der sozialen Unterschiede, dasselbe Wissen vermittelt. Sie hat
die Trennung zwischen der schulischen Bildung, d.h. der Über
mittlung von Wissen, die eine ö ffentliche Angelegenheit ist,
und der Erziehung, die Privatsache ist, als republikanisches
Dogma durchgesetzt. Schließlich hat sie darin, dass die Gesell
schaft in die schulische Institution eingedrungen sei, die Ursa
che für die "Krise der Schule" erkannt und die Soziologen
beschuldigt, zu Instrumenten dieser Invasion gevvorden zu sein (
- denn sie hätten Reformen vorgeschlagen, die die Venvechs
lung von Erziehung und schulischer Bildung nachdrücklich
forciert hätten. Dieser Auffassung nach schien sich die Repu
blik also als Herrschaft der Gleichheit zu begreifen, die in der
Demokratie. Rep1.1blik, Repräsenta•irm
77
Der f-iiJss Jer Demokratie
dem man sie folglich nur herauslösen muss: Die Logik der
Geburt und des Reichtums bringt eine Elite der "Fähigkeiten"
hervor, die über Zeit �nd Mittel verfügt, um sich zu bilden und
derdemokratischen Anarchie das repu�likanische Maß aufzu�
nvingen. Das ist der Gedanke, der bei den amerikanischen
Gründervätern vorherrscht. Für andere hingegen ist das Sys
tem der Fähigkeiten zerfallen, und das Wissen muss eine neue
Harmonie zwischen Staat und Gesellschaft schaffen. Dieses
Denken hat in Frankreich das erzieherische Unternehmen der
Dritten Republik begründet. Allerdings hat sich dieses Unter
nehmen nie aufdas einfache Modell reduziert, das die ,,Repu
blikaner" unserer Zeit entworfen haben. Denn es war ein
Kampf an nvei Fronten. Es wollte die Eliten und das Volk
sowohl der Macht der katholischen Kirche als auch der Monar
chie, der sie diente, entreißen. Zugleich hat dieses Programm
nichts mit dem Projekt einer Trennung von Staat und Gesell
schaft, schulischer Bildung und Erziehung gemeinsam. Die
junge Republik unterschreibt tatsächlich das soziologische Pro
gramm, das ein homogenes soziales Gewebe neu schaffen Vl'ill,
das, jenseits des revolutionären und demokratisc en Risses, h
die Nt:�chfolge des alten Geflechts von Monarchie und Religion
antritt. Daher ist es für sie wesentlich, dass schulische Bildung
und ErLiehung ineinander greifen. Die Sähe, die die Grund
schüler in die Welt des Lesensund Schreibens einführen, müs
sen untrennbar mit den moralischen Tugenden verbunden
sein, die deren Gebrauch festlegen. Und am anderen Ende des
Spektrums sollen die Beispiele aus der lateinischen Literatur
ohne unnötige philologische Subtilitäten der herrschenden
Elite ihre Tugenden vermitteln.
Das ist auch der Grund, warum die republikanische Schule
"
von An�:'lng an z�,ovisch-e n"" Z\vei entgegengesetzten Visionen
gespalten ist Dem Program m von Jules Ferry liegt die Glei
chung zugrunde, die zwischen der Einheit des Wissens und der
Einheit des Volksvvillens aufgestellt wird. Indem Ferry Repu-
79
Der fla_�_� der Dcrnokmtie
Vgl. die Discoun rt opinions dejules Ferry, hg. ""· Pau! Robiquet {Paris: Armaml Colin
189)- 1898}. Dk Bünde l l l und !V befassen sich mit den Schulgesetzen. Ferdinand
Buisso;l unterstrdcht in seiner Rede anlässlk:h der CCn;monie de Ia Sorbonne en
l'hmme,ir de }irlö Ferry du 20 drkembre I905 die pädagogischt• Radikalität des modera·
ten Ferrv und zitiert insbesondere seine Erklärung aufdem ConqrPs pediiqoqiquevom
19. April 1881: "Von nun ;;n gibt co keint't1 unüberbrückbaren Abgrund mehr zwischen
der Ohersrhule und der Grundschule, wedt•r im Hinblick auf dn.s Person;;! noch auf
die :Vlethoden.'' Man erinnere sich in diesem Zusammenh;,ng an die Kampagne der
"Republikaner'' der 198oer Jahre, die das Eindringen der Grund�rhull(•hrer als ..Lehr
kräfte ft.lrden allgemeinen Unterricht'' in die Oberschulen verurteilten und, ohnedie
materielle \.Virklichkeit ihrer Fähigkeiten ll! untersuchen, die ,,"Vergrundschulung"
(primarisation) der Oberschulen beklagten.
' VgL Alfi-ed Fouill€e, I-es Etwiesrlassiques et Ia dfmocmtie (Paris: Armami Colin 1898).
Um die Bedeutsamkeil von Fouill€e zu jener Zeit zu verstehen, muss man sich daran
erinnern, d<1ss s<'ine Frau die Autorin des Bestsellers der republikanischen piidago
gischen Lit<.'ratur Le Ti>ur de Prancr de deux enfant.l ist.
8o
Denwkn11ie. Republik, Repri<sentation
eus" und eines "Körpers" sein, durch die Menschen ihrer sozi
alen Bestimmung zugeführt vverden. Das absolut Böse ist die
Vermischung der Milieus. Indessen liegt die ·wurzel solcher Ver
mischung in einem Laster, das zwei bedeutungsgleiche Namen
hat: l:�qalitarismus und Individualismus. Die "Ltlsche Demokra
tie", die "individualistische" Demokratie führt diesen Kritikern
zufolge die Zivilisation in ein Meervon Übeln, die Alfred Fouil
Jee im Jahr 1905 beschreibt - in denen der Zeitungsleser von
2005 aber ohne Schvvierigkeiten die katastrophalen Folgen von
r968, der sexuellen Befreiung und der Herrschaft des Massen
konsums erkennt: "Der absolute Individualismus, dessen Prin
zipien die Sozialisten allzu oft übernehmen, möchte, dass die
Söhne [ ... ] sich in keiner Weise mit ihren Familien solidarisie
ren, dass sie jeder wie ein X-beliebiges Individuum seien [ ... ]
vom Himmel gefallen, zu allem zu gebrauchen, ohne andere
Regeln als die Zufalle ihrer Vorlieben. Alles, \:VilS die Menschen
untereinander verbinden kann, scheint eine sklav_ische Verket
tung mit der individualistischen Demokratie zu sein.
Diese beginnt, sich selbst gegen den Unterschied der
Geschlechter und gegen die Pflichten, die diese nterschiedeJ
mit sich bringen, aufzulehnen: Warum werden die Frauen
anders als die Männer erzogen, getrennt von ihnen und für
andere Berufe? Bringen wit sie alle zusamthen unter dasselbe
Regime und in dieselbe \vissenschaftliche, historische und geo
grafische Suppe, geben wir ihnen dieselben geometrischen
Übungen; öffnen \vir allen zu gleichen Teilen dieselben Karri
eren [ . . . j. Das anonyme, asexuelle fndividuum ohne Vorfilhren,
ohne Tradition, ohne Milieu, ohne Verbindung gleich welcher
Art, genau das - Taine hatte es vorausgesagt - ist der Mensch
der falschen Demokratie, derjenige, der wählt und dessen
�
Stimme für einen zählt, egal ob er Thiers, Gambetta, 1:1.ine,
Pasteur oder auch Vacher heißt. Das Individuum wird letztlich
alleine bleiben mit seinem Ich, anstelle aller ,kollektiven Geis
ter', anstelle alle � professionellen Milieus, die im Lauf der Zeit
,,
Der Has.1 der Demokratie
Alfred Fouil!ioe, l.a D(;mocratie politique et sociale en Fn.mce (Paris: Felix Alcan 1910},
S.\3l- IJ2.
Demokratie, l?.epub!ik, Repriisent,Jtion
8)
Der Jlw;s der Demokratie
Gemei;t ist die Ecole Natimwle d!\dministration (ENA), eine Elitehochschule zur
Ausbildung des Nachwuch,es für hoh<c- Sta<Hsi:imter, an derdie :Vlehrheit der fmnzö
sisrhen Politiker nusgebi!det wird. [ A.d.Ü.j
88
Die Gründefiir einen Hass
89
lJer f/as� der Dt'mokmlic
90
Die Gründe für einen Nass
,,
Der Has.s Jrr Drmokrat1e
9'
JJie Gründefür einen !-las�
9)
Der f-lir�s der Demokratir
94
Die Gründe (iir dnen /-lass
denn sie ergeben sich aus der Kenntnis der objektive-n Sachlage,
die eine Angelegenheit des Expertenwissens und nicht des
Volksentscheids ist.
Die Zeiten, in denen die Teilung des Volks aktuell genug und
das Wissen bescheiden genug waren, um die gegensätzlichen
Prinzipien in ihrer Koexistenz zu erhalten, sind vorbei. Die oli�
garchisehe Allianz von Reichtum und Wissen fordert heutzu
tage die gesamte Macht und macht es dem Volk auf diese Weise
unmöglich, sich weiter zu teilen und zu vervielfältigen. Doch
die aus den Prinzipien vertriebene Teilung kehrtvon allen Sei
ten zurück: so etwa mit dem Aufschwung der rechtsextremen
Parteien, der identitären Bewegungen und der religiösen Fun
damentalismen, die sich gegen den oligarchischen Konsens
wieder auf das alte Prinzip der Geburt und der Abstammung
berufen, auf eine Gemeinschaft, die im Boden, im Blut und in
der Religion der Vorfahren verv•illrzelt ist. Sie kehrt auch in der
VielzahLder Kämpfe gegen eine globale wirtschaftliche Not
\vendigkeit wieder, die sich .die Konsens-Ordnung zunutze
macht, um die Gesundheits- und Rentensvstem } oder das
Arbeitsrecht infrage zu stellen. Zuletzt macht sich Chese Ruck
kehr auch im \Vahlsystem selbst geltend, wenn die einzigen
Lösungen, die sich den Regierenden und den Regierten auf
zwingen, der umvägbaren Wahl durch die :t:'c tLteren ob l iegen .
Das kürzlich erfolgte Europäische Referendum hat den Beweis
dafür erbracht.1 lm ,Geiste derer, die die Frage durch ein Refe
rendum beantwortet h(}hen wollten, sollte die Stimmabgabe
im primitiven Sinn der westlichen "Wahlen" verstanden wer
den -- als eine Zustimmung, die das versammelte Volk an die
jenigen ausspricht, die für seine Führungqualifiziert sind. Dies
war um so mehr der Fall, als die Elite der staatlichen Experten
"'
einstimmig erklärt hatte, dass die Frage sich gar nicht \Virk\ich
' Es handeh skh hicrbd um das Referendum zur Ratifizierung des Europiiischen
Verfassungsvertrags, das am 29. Mai 2005 in Frankreich abgehalten wurde. Die \Vah!
betei!igung betrug 69%, davon stimmten 55% gl'gen die Ratifizierung. [A.d.Ü.]
95
Der Hass .der Demokmtie
stellte, dass es einzig darurp ging, die Logik der bereits existie
renden und dem allgemeinen Interesse entsprechenden Ver
träge weiterzuverfolgen. Die große Überraschung des Referen
dums war daher die Entscheidung der Mehrheit der Wahlbe
rechtigten, dass diese Frage im Gegenteil eine richtige Frage
vvar, da5s � ie nicht die Zustimmung der Bevölkerung, sondern
die Souveränität des Volks betraf, und dass das Volk sie also
genauso gut mit Nein wie mit Ja beantvvorten konnte. Der Aus
gang ist bekannt. Bekannt ist auch, dass die Oligarchen, ihre
Experten und_ihre Ideologen ft.ir dieses Missgeschick, wie für
alle Störungen des Konsenses, eine Erklärung gefunden haben:
Wen n das 'Wissen nicht in der Lage ist, seine Legitimität durch
zusetzen, dann liegt der Grund dafür im Nichtwissen. Wen n
der Fortschritt nicht voranschreitet, sind die Nachzügler daran
schuld. Ein YVort, das ewig von den Klerikern psalmodiert wird,
bringt diese Erklärung auf den Punkt: der "Populismus". Man
will darunter alle Formen der Abspaltung vom herrschenden
Konsens einordnen, egal ob sie aus der demokratischen Affir
mation oder den rassistisc_hen bzw. religiösen Fanatismen her \
vorgehen. Und man will dem derart geschaffenen Ensemble
ein einziges Prinzip geben: das Unwissen der Zur:ückgebliebe
nen, das Festhalten an der Vergangenheit, egal ob es sich dabei
um vormalige SOL:i<:tlleislungen, revolutionäre I deale oder um
die Religion der Vorfahren handelt. Populismus ist das
bequeme Wort, hinter dem sich der heftige Widerspruch zwi
schen Volks- und VVissenslegitimität versteckt, die Schwierig
keit der Expertenregierung, sich mit den Erscheinungen der
Demokratie und selbst der Mischform des repräsentativen Sys
tems abzufinden. Dieser Name verdeckt und offenhart glei
chermaßen den großen Wunsch der Oligarchie - ohne Vol k
regieren, d.h. ohne die Teilung des Volks regieren; ohne Politik
regieren. Und er erlaubt der Expertenregierung, die alte Aporie
auszutreiben, die lautet: Wie kann das Wissen jene regieren,
die es nicht verstehen? Diese immerv.'ährende Frage trifft auf
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Die Gründefür einen /-fass
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Der /luss der Demokra.rie
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ihres F<>hkn� kombiniert, ilufdt'm Markt des fn i n \Vetdwwerbs und in dt>r Finan
zierung der arncrikanisc!wn Stmtbschulden lwkornmen hat, zeugt auf andl'rt' \Vt'isc
1·on die�em LnterschieJ.
Vgl. Limb VVei%, The Myth oj the powerle�s Stare: youernmq tlu: Ecoml!IIIJ in a glnlml
Era (lthaca: Poliry Press 1998).
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Der Hass der Demokratie
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Die Gründefür einen Hass
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Der /-fa.\5 der Demokratie
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Ü ber d;1s <\t!lhc-tcn dieser Figur und ihre Neuheit gegt>nüber der traditionellen
Figur des ln:elkktudkn als Sprecher cks Universellen und ckr Unterdri.ickten, vgl.
Danielk und jacgues Ranciere, "La !Cgcnde des intd!ectue!s , in: Jarqu<.'S Rancit; re,
Les ScfJJe.1 d11 peuple (Paris: !-!orlieu 200J).
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Die Grtinde (iir einen fla�.-.
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Ver Hass der Demokratie
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Ver fla_\.\ der Demokratie
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Die GriJ11de (iir ei11ell Has.1
Damit setzt die Zeit der Beschwörer ein, die die neuen Formen
der Waremverbung mit den Äußerungen derer verschmelzen,
die sich ihren Gesetzen widersetzen, den lauwarmen "Respekt
flir die Differenz" mi,t den neuen Formen des Rassenhasses, den
religiösen Fanatismus mit dem Verlust des Heiligen. Aus der Ver
bindung einer jeden Sache mit ihrem Gegenteil envächst die
fatale M anifestation dieses demokratischen Individuums, das
die Menschheit einem Verlust zuführt, den die Prediger unter
tausend Vervvünschungen beklagen, den sie jedoch noch mehr
beklagen �,-vürden, hätten sie ihn nicht zu beklagen. Man beweist,
dass dieses unheilvolle Individuum zugleich die Zivilisation der
Aufklärung zu Grabe trägt und ihr Todeswerk vollendet, dass es
gemeinschaftlich und ohne Gemeinschaft ist, dass es den Sinn
ftir Familiemverte und den Sinn ftir ihre Transgression verloren
hat, den Sinn fürdas Heilige und den fUrdas Sakrileg. Man malt
die alten erbaulichen Themen in den unheimlichen Farben der
Hölle und der Blasphemie - der Mensch kann nicht ohne Gott
leben, Freiheit ist nicht gleichbedeutend mit Zügellosigkeit, der
Friede \'enveichlicht die Charaktere, der Gcrechtigkejtsvvillen
fUhrt zum Terror. Die einen verlangen im Namen Sades die
Rückkehr zu den christlichen Werten; die anderen vermählen
Nietzsche, L€on Bloy und Guy Debord, um auf eine punkige Art
i
die Positionen der amerikanischen Evangelister "zu vertreten; die
Bewunderervon Louis-Ferdinand Celine verfolgen Antisemiten
an vorderster Front, •vobei sie einfach aH jene als Antisemiten
bezeichnen, die nicht wie sie denken.
Manche von denen, die diese Verwünschungen ausstoßen,
geben sich mit dem Ruf bitterer Klarsicht und unüberwind
barer Einsamkeit zufrieden, den sie sich dadurch enverben,
dass sie unentwegt im Chor_,gen Refrain vom "täglich gegen das
Denken begangenen Verbrechen"i' des vergnügungssüchtigen
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Der Elass der Demokratie
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Die Grtinde fiir einen !-fass
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Die Gründe fiir einen /lass
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Der Ha�s rifr Demokmlie
" Vgl. Ulrich Beck, Lkmocracy u:itlwut enemies (Cambridge: Polity Press Jqg8). !m deut
schen Original vgl. :iers., Politikder C/ohalisi('nmg (Fr;wkfurt/M.: Suhrkamp 199S} . .Vgl.
;�uch Pascal ßruckn<.' r, La ,\fdancholie dimocratiqrw: Commnl/ d�·re sans ermemis? {Paris:
Seuil 199�l.
Die Griindefiir einen I-hm
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Der f-las,\ t/('r /Jemokmfie
'" VgL Michael !-lardt und Antonio Negri, Empire: Die neue H·eltord11unq (Frankfun/,\-1./
Ncw York: Campus 20031 uml dies., ,\1u/titude. Krieg und Demokra/ir im Empire
(Frankfurt/M./New York: Campus 1004).
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