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Teil 1
1. Fast alle sind sich über die Kunst der siebziger Jahre einig. Sie ist
diversifiziert, zersplittert, in Gruppen zerfallen. Anders als die Kunst
der letzten Jahrzehnte scheint ihre Energie nicht durch einen einzi
gen Kanal zu strömen, für den sich ein synthetischer Begriff wie »Ab
strakter Expressionismus« oder »Minimalismus« finden ließe. Die Vor
stellung von einem kollektiven Unternehmen verwerfend, die schon
der Idee einer künstlerischen »Bewegung« zugrunde liegt, ist die
Kunst der siebziger Jahre stolz auf ihre Zersplitterung. »Post-Move
ment Art in America« lautet der neueste dafür verwendete Aus
druck.1 Wir sollen eine Fülle von Möglichkeiten aus jener Liste
sondieren, die man heute heranziehen muß, um die Kunst der Ge
genwart zu umreißen: Videokunst; Performance; Body Art; Konzept
kunst; Fotorealismus in der Malerei und ein paralleler Hyperrealismus
in der Bildhauerei; Story Art; monumentale abstrakte Skulptur (Earth
works) und abstrakte Malerei, die sich heute nicht durch Strenge,
sondern durch einen willkürlichen Eklektizismus auszeichnet. Es ist,
als präfiguriere diese Notwendigkeit einer Liste oder rasch wachsen
den Kette von Kategorien ein Bild persönlicher Freiheit - vielfältiger
Optionen, die heute der Entscheidung oder dem Willen des einzel
nen überlassen sind, während sie vormals durch die restriktive Vor
stellung eines historischen Stils ausgeschlossen waren.
Kritiker wie Praktiker der neueren Kunst haben ihre Reihen um die
sen »Pluralismus« der siebziger Jahre geschlossen. Aber was sollen
wir wirklich von diesem Bild der Vielfalt halten? Es ist sicherlich zu
treffend, daß die einzelnen Eintragungen der Liste nicht alle gleich
aussehen. Wenn sie irgend etwas Einheitliches besitzen, dann nicht
nach den Kriterien einer traditionellen Vorstellung von »Stil«. Aber
ist die Abwesenheit eines kollektiven Stils das Anzeichen einer wirk
lichen Differenz? Oder gibt es vielleicht etwas anderes, für das all die
se Ausdrucksweisen mögliche Manifestationen sind? Marschieren all
diese »Individuen« nicht in Wirklichkeit im Gleichschritt, lediglich
nach einem anderen Trommler als dem, den man Stil nennt?
1 So der ntel eines Buches, das Alan
Sondheim herausgegeben hat. /ndivi
duals: Post-Movement Art in America, 2. Am Anfang meiner Liste stand die Videokunst, über die ich schon
New York {Dutten) 1977. früher einmal geschrieben habe. Damals habe ich versucht, die Re-
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Unterwegs zur Postmoderne
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Anmerkungen zum Index
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Unterwegs zur Postmoderne
Marcel Duchamp, Tu m' 1918 6. Tu m' ist ein Gemälde von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1918.
Man könnte es als ein Panorama des Index bezeichnen. Über die ge
samte Breite von mehr als drei Metern paradiert eine Reihe von
Schlagschatten, in denen Duchamps Ready-mades mit Hilfe des In
dex in Erscheinung treten. Die Ready-mades selbst sind nicht abge
bildet. Vielmehr sind das Fahrrad-Rad, der Huthalter und ein Kor
kenzieher als fixierte Schlagschatten auf die Oberfläche der Leinwand
projiziert. Schlagschatten. die auf diese Gegenstände als indexik�li
sche Spuren verweisen. Damit uns die Pointe auch nicht entgeht, pla
ziert Duchamp im Zentrum des Werks eine realistisch gemalte Hand,
eine zeigende Hand, deren Zeigefinger die Herstellung der Verbin
dung zwischen dem sprachlichen Shifter »dies ... « und seinem Refe
renten ausführt. Angesichts der Rolle des indexikalischen Zeichens in
diesem speziellen Gemälde sollte uns sein Titel nicht überraschen.
Tu m' heißt einfach »du«/«(m)ich« - die beiden Personalpronomen,
die als Shifter selbst eine Spezies des Index sind.
7. Als Lucy Lippard einen Essay zum Katalog der jüngsten Duchamp
Retrospektive beisteuerte, entschied sie sich für eine ironische Short
4 Lucy R. Lippard, »ALLREADYMADE Story über eine Person, die sie im Titel als »ALLREADYMADESO
SOMUC HOFF«, in: Marcel Duchamp, MUC HOFF«4 charakterisierte. In der Tat, der scheinbar endlose Strom
hrsg. v. Anne d'Harnoncourt und
an Duchamp-Essays, die in den letzten Jahren erschienen sind, er
Kynaston McShine, Ausstellungskata
log The Museum of Modem Art New
mutigt wahrhaftig nicht dazu, dem wachsenden Berg von Literatur
York und Philadelphia Museum of Art. über den Künstler noch ein Wort hinzuzufügen. Doch Duchamps
1973 (Neuauflage: München [Prestel] Beziehung zur Frage des Index-Zeichens oder vielmehr die Art und
1989, S. 117-124). Weise, wie seine Kunst als Matrix für ein zusammenhängendes Ideen-
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Anmerkungen zum Index
geflecht dient, dessen gemeinsames Bindeglied der Index ist, ist ein
zu wichtiger Präzedenzfall (ich beschäftige mich allerdings nicht mit
der Frage des >Einflusses<) für die Kunst der siebziger Jahre, als daß
ich ihn hier übergehen könnte. Denn wie wir sehen werden, hat
Duchamp als erster die Verbindung zwischen dem Index (als Zei
chentyp) und der Fotografie hergestellt.
8. Der Gebrauch des Shifters zur Verortung des Selbst in der Welt
bricht nicht nur bei der Aphasie zusammen; dieser Zusammenbruch
kennzeichnet auch das Sprechen autistischer Kinder. Bruno Bettel
heim beschreibt den Fall von Joey, einem der Patienten in seiner Chi
cagoer Klinik, und vermerkt: »Obgleich er nie aus seinem Autismus
herauskam, begann er - wie übrigens die meisten autistischen Kin
der - nach einiger Zeit Personalpronomen zu benutzen, allerdings
stets verkehrt herum. Wenn er sich selbst meinte, sagte er >Du< und
erwachsene Personen redete er, wenn überhaupt, mit >Ich< an. Ein
Jahr später nannte er seine Therapeutin beim Namen, aber er sagte
noch immer nicht >Du< zu ihr. Wenn er selbst etwas von ihr verlang
te, konnte er zum Beispiel sagen: >Wollen Miss M. dich schaukeln<. «5
5 Bruno Bettelheim, Die Geburt des In einem wichtigen Essay, der Parallelen zwischen den Symptomen,
Selbst: erfolgreiche Therapie autisti die das psychopathologische Syndrom des Autismus bilden, und be
scher Kinder, mit einem Vorwort v. stimmten Aspekten von Duchamps Kunst herausarbeitet, verweist
Jochen Stark, übers. v. Edwin Ort
Annette Michelson auf die charakteristische Begeisterung des Auti
mann. Frankfurt a. M. (Fischer), 1983,
5. 319 f. Ich wurde durch Annette sten für rotierende Scheiben, die Fantasie (in manchen Fällen), eine
Michelsons unten zitierten Essay auf Maschine zu sein, und die Absage an die Sprache als Kommunika
diese Passage aufmerksam. tionsform durch das Sprechen in geheimen Anspielungen und Rät-
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Anmerkungen zum Index
meisten dieser Porträts zeigt sich ein betonter Naturalismus, eine un
mittelb;:ire Darstellung der Personen, die das Umfeld von Duchamps
privater Welt bildeten. Erst am Ende dieser Phase, im Jeune homme
triste ... , wird diese Unmittelbarkeit der Darstellung durch die Über
nahme einer kubistisch geprägten Bildsprache verdrängt, einer Spra
che, die Duchamp lediglich sechs weitere Monate benutzte, um sich
dann, in einer ziemlich bitteren und anhaltenden Serie scharfer kriti
scher Äußerungen, für immer von ihr loszusagen. Es war, als hätte
der Kubismus für Duchamp die Frage zugespitzt, ob die Sprache des
Bildes die Dinge weiterhin direkt bezeichnen könne, ob sie eine Welt
mit so etwas wie einem verständlichen Repertoire von Inhalten ab
bilden könne. Aber das Selbstporträt wurde in Duchamps folgenden
Unternehmungen nicht etwa verdrängt, sondern das Projekt der Dar
Marcel Duchamp als Rrose Selavy, stellung des Selbst nahm nun lediglich jene Merkmale rätselhafter
1921 (Fotografie von Man Ray) Verweigerung und Maskierung an, mit denen wir vertraut sind.
10. Das Große Glas ist natürlich ein weiteres Selbstporträt. Auf einer
der kleinen Skizzen, die Duchamp dafür anfertigte und die in der Grü
nen Schachtel enthalten ist, beschriftet er das obere Verzeichnis mit
»MAR« und das untere mit »CEL«. Und er behält diese Silben seines
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Anmerkungen zum Index
deutlicht nur, was für jede Fotografie gilt. Jede Fotografie ist das Er
gebnis eines physikalischen Abdrucks, der durch Lichtreflexion auf
eine lichtempfindliche Oberfläche übertragen wird. Die Fotografie ist
also eine Form des lkons, d. h. einer visuellen Ähnlichkeit, die eine in
dexikalische Beziehung zu ihrem Gegenstand hat. Ihr Unterschied
zum echten lkon wird in der Absolutheit dieser physikalischen Gene
se erfahrbar; sie scheint die Prozesse der Schematisierung oder sym
bolischen Intervention, welche in den grafischen Darstellungen der
meisten Gemälde wirksam sind, kurz- oder auszuschließen. Wenn in
die Malerei durch das menschliche Bewußtsein, das hinter den For
men der Darstellung am Werk ist und eine Verbindung zwischen den
Gegenständen und ihrer Bedeutung schafft, das Symbolische ein
dringen kann, so kann es das in der Fotografie nicht. Ihr Vermögen
besteht darin, daß sie ein Index ist, und ihre Bedeutung liegt in jenen
Modi der Identifikation, die mit dem Imaginären zusammenhängen.
In seinem Essay »Ontologie des photographischen Bildes« beschreibt
Andre Bazin die indexikalische Beschaffenheit der Fotografie:
Und ist nicht auch die Malerei nur eine unvollkommene Methode der Nachah
mung, ein Ersatz [dt. i. Orig.] für Reproduktionsverfahren? Allein das Objektiv gibt
uns ein Bild von dem Objekt, das imstande ist, in unserem Unterbewußtsein die
Sehnsucht nach mehr als nur einer annähernden Abbildung des Objektes zu be
friedigen: nach dem Objekt selbst, ohne dessen zeitliche Begrenzungen. Das Bild
kann verschwommen sein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es
wirkt durch seine Entstehung durch die Ontologie des Modells, es ist das Modell.9
Welches Vermögen die Fotografie auch sonst noch haben mag, man
könnte sie sub- oder präsymbolisch nennen, überläßt sie doch die
Sprache der Kunst wieder dem Sich-Aufdrängen der Dinge.
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Anmerkungen zum Index
Wenn Duchamp das Große Glas wirklich als eine Art Fotografie ver
stand, dann wird das, was darin geschieht, absolut logisch: nicht nur
die Markierung der Oberfläche mit Beispielen des Index und das ln
schwebehalten der Bilder als physikalische Substanzen innerhalb des
Bildfeldes, sondern auch die Undurchsichtigkeit des Bildes hinsicht
lich seiner Bedeutung. Die Notizen zum Großen Glas bilden eine rie
sige erweiterte Bildunterschrift, und wie die Bildlegenden von Foto
grafien in Zeitungen, die für ihre Verständlichkeit absolut notwendig
sind, bezeugen die Notizen Duchamps- ihre Aufbewahrung und Ver
öffentlichung - das veränderte Verhältnis zwischen Zeichen und Be
deutung in diesem Werk. Im Zusammenhang mit dem Aufstieg der
Fotografie im späten 19. Jahrhundert schrieb Walter Benjamin: »Weg
weiser beginnen ihm [dem Betrachter] gleichzeitig die illustrierten Zei
tungen aufzustellen. Richtige oder falsche- gleichviel. In ihnen ist die
Beschriftung zum ersten Mal obligat geworden. Und es ist klar, daß
sie einen ganz anderen Charakter haben als der Titel eines Gemäldes.
Die Direktiven, die der Betrachter von Bildern in den illustrierten Zeit
schriften durch die Beschriftung erhält, werden bald darauf noch prä
ziser und gebieterischer im Film, wo die Auffassung von jedem ein
zelnen Bild durch die Folge aller vorangegangenen vorgeschrieben
erscheint.«10 Die Fotografie leitet eine Unterbrechung in der Auto
nomie des Zeichens ein. Eine Bedeutungslosigkeit umgibt sie, die nur
durch das Hinzufügen eines Textes ausgefüllt werden kann.
Es ist daher auch nicht überraschend, daß Duchamp das Ready
made mit eben diesen Begriffen beschreiben sollte. Es sollte eine
»Momentaufnahme« sein, die mit einer ungeheuren Willkür hin
sichtlich ihrer Bedeutung behaftet war, ein Scheitern der Bezughaf
tigkeit des sprachlichen Zeichens:
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Die Parallele von Ready-made und Fotografie ergibt sich aus seinem
Herstellungsprozeß. Es geht dabei um die physische Transposition ei
nes Gegenstands aus dem Kontinuum der Realität in den fixierten Zu
stand eines Kunst-Gebildes durch einen Moment der Isolation oder
Selektion. Und in diesem Prozeß erinnert es auch an die Funktion des
Shifters. Es ist ein Zeichen, das von Natur aus »leer« ist, seine Be
deutung ist eine Funktion nur dieses einen Beispiels, verbürgt durch
die existentielle Präsenz genau dieses Gegenstands. Was mit der
Struktur des Index eingeführt wird, ist die bedeutungslose Bedeu
tung.
12. Es gibt eine späte Arbeit von Duchamp, welche dieses veränder
te Verhältnis zwischen Zeichen und Bedeutung, das mit der Ein
führung des Index in das Kunstwerk entsteht, zu kommentieren
scheint. With My Tongue in My Cheek (1959) ist ein weiteres Selbst
porträt. Diesmal ist es aber nicht auf der Ebene der sexuellen Iden
tität gespalten, sondern vielmehr entlang der semiotischen Achse von
lkon und Index. Auf einem Blatt Papier skizziert sich Duchamp im Pro
fil, porträtiert sich selbst mit den Repräsentationsmitteln des gra
fischen lkons. In diese Zeichnung ist parallel zu einem Teil ihres Um
risses die Kinn- und Wangenpartie seines eigenen Gesichts als
Gipsabguß eingefügt. Index und lkon stehen nebeneinander, und
beide bekommen eine Bildunterschrift. »With my tongue in my
cheek« 12 ist offensichtlich ein Hinweis auf den ironischen Modus,
eine verbale Doppelung zur Umleitung von Bedeutung. Aber der Aus
druck kann auch wörtlich genommen werden. Tatsächlich seine Zun
ge in die Wange zu legen, heißt, das Sprechvermögen verlieren. Und
dieser Bruch zwischen Bild und Sprechen, oder, genauer, Sprache, ist
es, worüber Duchamps Kunst nachdenkt und wofür sie Beispiele
liefert.
So wie ich Duchamps Werk vorgestellt habe, offenbart sich dar
in ein gewisses Trauma der Signifikation, das für Duchamp durch
zwei Ereignisse ausgelöst wurde: die Entwicklung einer abstrakten
(oder abstrahierenden) Bildsprache in den frühen zehner Jahren und
den Aufstieg der Fotografie. Seine Kunst war zum Teil eine Flucht vor
der ersteren und eine eigentümlich aufschlußreiche Analyse der letz
teren.
13. Wenn wir uns fragen, was die Kunst der siebziger Jahre mit all
dem zu tun hat, so können wir die Antwort stark verkürzt mit dem
12 Anm. d. übers.: Der englische Aus
druck »tongue-in-cheek« bedeutet so Hinweis darauf zusammenfassen, daß die Fotografie in ihr das allge
viel wie »nicht ernst gemeint«, »mit ei genwärtige Repräsentationsmittel ist. Sie kommt nicht nur im nahe
nem ironischen Unterton gesagt«. liegenden Fall des Fotorealismus vor, sondern auch in all den Formen,
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Anmerkungen zum Index
tung dieser drei Werke ergibt sich daraus, daß das »leere« indexika
lische Zeichen mit einer besonderen Präsenz ausgefüllt wird, mit der
Implikation, daß es unabhängig oder abgesehen von dieser Präsenz
keine Konvention in bezug auf die Bedeutung gibt.
Dieses Gefühl des Abgeschnittenseins von den Prozessen einer
Konvention, die die Malerei und Bildhauerei mit Bezug auf eine Ge
schichte des Stils als eine Abfolge von Bedeutungen ausgebildet hat,
ist charakteristisch für den Fotorealismus. Die indexikalische Präsenz
des Fotos oder Körperabdrucks verlangt hier nämlich, das Werk als
eine bewußte Ausschaltung von Stilfragen zu sehen. Die mögliche
formale Intervention des Künstlers unterbindend, ist das Werk die
überwältigende physische Präsenz des ursprünglichen Objekts, fixiert
in der Spur des Abdrucks.
14. Das Funktionieren des Index in der Gegenwartskunst, die Art, wie
er die stärker artikulierte Sprache ästhetischer Konventionen (und die
Geschichte, die in ihnen kodiert ist) durch das Registrieren schierer
physischer Präsenz ersetzt, wird das Thema des zweiten Teils dieser
Anmerkungen sein. Die Beispiele erstrecken sich auf ein viel weiteres
Feld als die Art der Objekte, die ich gerade benannt habe. Sie um
fassen auch eine sich verändernde Konzeption von abstrakter Kunst,
wofür ein kollektives Beispiel im letzten Frühjahr in der Eröffnungs
ausstellung der P. 5.1 installiert wurde.
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Anmerkungen zum Index:
Teil 2
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tasie totaler Selbstpräsenz: mit der Bewegung jeder Zelle des Körpers
in Verbindung zu stehen. Die dritte ist ein verbaler Diskurs, durch den
die Person die einfache Tatsache wiederholt, daß sie anwesend ist
auf diese Weise verdoppelt sie durch das Sprechen den Inhalt der
zweiten Komponente. Interessant oder wichtig ist die Auflistung der
Komponenten von Hays Performance deshalb, weil es eine logische
Beziehung zwischen ihnen zu geben scheint und weil diese Logik of
fenbar auch in einem großen Teil der gegenwärtig produzierten Kunst
am Werk ist. Diese Logik impliziert die Reduktion des konventionel
len Zeichens auf eine Spur, die dann das Bedürfnis nach einem sup
plementären Diskurs erzeugt.
In der Konvention des Tanzes werden Zeichen durch Bewegung
erzeugt. Durch den Raum des Tanzes können diese Zeichen sowohl
in Relation zueinander als auch korrelativ zur Tradition anderer mög
licher Zeichen kodiert werden. Aber sobald man Bewegung nicht
mehr als etwas vom Körper Hervorgebrachtes, sondern vielmehr als
etwas auf dem K örper (oder unsichtbar im Körper) Wahrgenomme
nes versteht, hat das eine grundlegende Veränderung in der Natur
des Zeichens zur Folge. Die Bewegung funktioniert nicht länger sym
bolisch, sondern nimmt einen indexikalischen Charakter an. Unter In
dex verstehe ich den Zeichentyp, der als physische Manifestation ei
ner Ursache entsteht; Beispiele dafür sind Spuren, Abdrücke und
Indizien. Die Bewegung, der sich Hay zuwendet-eine Art Brownsche
Bewegung des Selbst-, hat diese Eigenschaft einer Spur. Sie zeugt
von einer buchstäblichen Manifestation der Präsenz, die mit dem An
zeigen des Winds durch eine Wetterfahne vergleichbar ist. Aber im
Unterschied zur Wetterfahne, die ein Naturphänomen kulturell ko
diert, ist die Zellbewegung, von der Hay spricht, in spezifischer Wei
se unkodiert. Sie liegt außerhalb der Tanzkonvention, die einen Code
dafür bereitstellen könnte. Und obwohl eine Botschaft existiert, die
aus dieser Spur der Körperaktivität ablesbar oder ableitbar ist (eine
Botschaft, die sich in die Aussage »Ich bin hier« übersetzen läßt), ist
diese Botschaft von den Codes des Tanzes abgeschnitten. Im Kontext
von Hays Performance ist sie damit eine Botschaft ohne Code. Und
weil sie unkodiert - oder besser: unkodierbar- ist, muß sie durch ei
nen gesprochenen Text ergänzt werden, einen Text, der die Botschaft
der reinen Präsenz in einer gegliederten Sprache wiederholt.
Wenn ich hier den Ausdruck »Botschaft ohne Code« verwende,
um die Eigenart von Hays Körperperformance zu beschreiben, so,
weil ich einen Zusammenhang zwischen den Merkmalen dieses Er
eignisses und den inhärenten Merkmalen der Fotografie herstellen
will. Der Ausdruck »Botschaft ohne Code« stammt aus einem Essay,
in dem Roland Barthes auf die grundlegend unkodierte Natur des fo-
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Beweismitteldepot benutzt. (Weil das nicht länger eine Frage der Kon
vention, sondern lediglich eine der Bequemlichkeit ist, kann der
Träger für den Index offensichtlich jede Form annehmen, eine zwei
dimensionale genauso wie eine dreidimensionale.) Alle diese Trans
formationen weisen auf die Fotografie als Funktionsmodell. Der Sta
tus der Fotografie als Spur oder Index, ihre konstitutive Selektion
mittels Bildausschnitt aus der natürlichen Ordnung, ihre Indifferenz
hinsichtlich des Bildträgers (die Holografie konstituiert eine dreidi
mensionale Ausdehnung dieses Trägers), all das läßt sich in Pozzis Ver
suchen im P. 5.1 finden. Und natürlich nicht nur in seinen. Die Arbeit
von Michelle Stuart - ein Abrieb - ist noch unverhüllter mit dem Prin
zip der Spur verbunden, während sich Matta-Clarks Schnitt durch das
Gebäudeinnere als Beispiel für den Bildausschnitt erweist, wodurch
die durch den Schnitt geschaffene leere buchstäblich mit einem
natürlichen Hintergrund gefüllt wird.
In jedem dieser Werke wird das Gebäude selbst als eine Botschaft
genommen, die präsentiert, aber nicht kodiert werden kann. Die Ab
sicht der Arbeiten liegt darin, die Präsenz des Gebäudes einzufangen,
Strategien zu finden, die es dazu zwingen, auf dem Feld des Werks
aufzutauchen. Aber in dem Maße, wie diese Präsenz auftaucht, er
füllt sie das Werk mit einem ungewöhnlichen Flair von vergangener
Zeit. Obgleich von einer physischen Ursache erzeugt, ist die Spur, der
Abdruck, die lndizie nur ein Relikt jener Ursache, die in dem jeweili
gen Zeichen selbst nicht mehr anwesend ist. Wie Spuren repräsen
tieren die von mir beschriebenen Arbeiten das Gebäude durch das
Paradox, daß sie zwar physisch präsent sind, aber zeitlich zurücklie
gen. Dieses Gefühl kommt explizit im Titel von Stuarts Arbeit zum
Ausdruck, wo die Künstlerin von der Ortsverschiebung als einer Form
der Erinnerung spricht. Bei Matta-Clark kann der Schnitt das Gebäu
de nur durch einen Prozeß des Entfernens oder Wegschneidens be
zeichnen - auf es hinweisen. Der Prozeß der Ausgrabung rückt das
Gebäude in einer geisterhaften Form in das Bewußtsein des Be
trachters. Bei Pozzi folgt der Akt, einen Abdruck zu nehmen, der Lo
gik der Auslöschung. Die gestrichene Wand wird durch die Arbeit als
etwas bezeichnet, das da war, aber nun überdeckt ist.
Wie die anderen Merkmale dieser Arbeiten, so ist auch das der
zeitlichen Distanz ein auffälliger Aspekt der fotografischen Botschaft.
Barthes weist auf dieses Paradox einer als vergangen wahrgenom
menen Präsenz hin, wenn er über die Fotografie sagt
Das Bewußtsein, das sie impliziert, ist ohnegleichen: Die Photographie bewirkt
nicht mehr ein Bewußtsein des Daseins der Sache (das jede Kopie hervorrufen
könnte), sondern ein Bewußtsein des Dagewesenseins. Dabei handelt es sich
um eine neue Kategorie der Raum-Zeitlichkeit: örtlich unmittelbar und zeitlich
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