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Abigail Solomon‐Godeau  

Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie 
 
________________ 
In: Herta Wolf (Hg.): Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 2, S. 53‐74, Suhrkamp Verlag 2003: 
Frankfurt a. M. 
 
Was ist ein Dokumentarfoto? Die Antwort auf diese Frage könnte mit gleichem Recht lauten: »so ziem‐
lich alles« und »so ziemlich nichts«. Zugunsten der ersten Antwort könnte man anführen, daß jedes 
fotografische Bild, insofern es zu dem, was sich im Augenblick der Belichtung vor der Kamera befand, 
eine indexikalische Beziehung unterhält, ein Dokument von etwas ist. In diesem weiten Sinn ist kein 
Foto mehr oder weniger dokumentarisch als ein anderes. Umgekehrt könnte man argumentieren, daß 
die  Auffassung  der  Fotografie  als  einer  naturgetreuen,  unvermittelten  Transkription  physischer  Er‐
scheinungen (trotz der Spuren, die sich von dem alten Glauben gehalten haben) seit langem aufgege‐
ben wurde. Wir halten es demnach heute für gegeben, daß die Kamera Repräsentationen – ikonische 
Zeichen – hervorbringt, die Wirkliches in Bildliches übersetzen. Zwar sind Fotografien nach wie vor das 
einzige vor Gericht zugelassene bildliche Beweismittel, doch dereinst universelle Glaube an die Wahr‐
heit der Kamera ist durch fotografische Praktiken, die von ausgesprochenen Täuschungen bis hin zu 
den porenlosen Gesichtern der Vogue‐Models reichen, Lügen gestraft worden. 
Trotz  ihrer  logischen  Ungereimtheiten,  ihrer  schwammigen  Definition  und  ihrer  epistemologischen 
Vagheit ist die Kategorie des Dokumentarischen jedoch immer noch als nützliche, wenn auch theore‐
tisch nicht fundierte Rubrik in Gebrauch. Zwischen den scheinbar unmittelbaren (aber immer noch in 
hohem Maße vermittelten) Bildern der elektronischen Überwachungskamera ‐ dem Nullpunkt der Ka‐
mera als visuellem Aufzeichnungsgerät ‐ und Gilles Peress’ betont persönlichen und expressiven Foto‐
grafien vom nachrevolutionären Iran etwa liegt allerdings ein sehr weites und graues Gebiet. Dieses 
Gebiet müssen wir genauer kartografieren, wenn wir einige der ‐ impliziten und expliziten ‐ Vorausset‐
zungen untersuchen wollen, die dieser Praxis sowohl historisch als auch in der Gegenwart zugrunde 
liegen. 
Spricht man von der Dokumentarfotografie entweder als einer eigenen Praxis oder als einem identifi‐
zierbaren Korpus von Arbeiten, begibt man sich geradewegs in einen Morast von Widersprüchen, [53] 
Verwechslungen und Mehrdeutigkeiten. Der Begriff dokumentarisch selbst fand erst spät Aufnahme in 
das Lexikon der Fotografie1; er ist erst seit den späten 1920er Jahren, nahezu ein Jahrhundert nach 

1
Der Begriff dokumentarisch wurde erstmals 1926 vom britischen Filmproduzenten John Grierson zur
Beschreibung eines bestimmten Typs von Sachfilm verwendet. In einer Besprechung von Robert Flahertys
Film Moana in einer New Yorker Zeitung charakterisierte er diesen wie folgt: »Als visueller Bericht von den
Ereignissen im täglichen Leben eines polynesischen Jugendlichen hat er dokumentarischen Wert« (zit. nach
William Stott, Documentary Expression in Thirties America, New York: Oxford University Press 1973. S.9).
Zwei Jahre später tauchte der Begriff dann in Frankreich auf, wo er vom Kritiker Christian Zevros auf die
Arbeiten von Eugene Atget, Andre Kertesz, Charles Sheeler u. a. angewandt wurde. Bei dieser
Verwendungsweise wurde dokumentarisch eher ästhetisch als sozial konnotiert. Vgl. Maria Morris Hambourg,
»Atget, Precursor of Modern Documentary Photography«, in: David Featherstone (Hg.), Observations. Essays
on Documentary Photography, Carmel: The Friends of Photography 1984, S. 18-30. [54]
Erfindung der Fotografie, mit einiger Regelmäßigkeit in Gebrauch. Daß die Mehrzahl der Verwendungs‐
weisen der Fotografie vor der Einführung des Begriffs zu dem zählten, was wir heute als dokumenta‐
risch bezeichnen würden, macht deutlich, daß das Dokumentarische eine historische und keine onto‐
logische Kategorie ist. Mehr noch legen die Permutationen des Wortes Zeugnis davon ab, daß sich die 
Verwendungsweisen der Fotografie und die ihnen zugeschriebenen Bedeutungen ständig im Fluß be‐
finden und im Einklang mit den sie hervorbringenden umfassenderen Diskursen neu positioniert und 
ausgerichtet werden. 
Die späte Aufnahme der Kategorie des Dokumentarischen in den Jargon der Fotografie impliziert, daß 
die Fotografie bis dahin als etwas aufgefaßt wurde, das von Natur aus unweigerlich eine dokumenta‐
rische Funktion erfüllt. Abgesehen von der sich selbstbewußt als künstlerisch definierenden Fotografie 
müßte dem 19. Jahrhundert schon der Begriff dokumentarische Fotografie als Tautologie erschienen 
sein. Und in der Tat bestand ja das historische Programm der künstlerischen Fotografie während des 
gesamten 19. und eines großen Teils des 20. Jahrhunderts darin, der populären Auffassung von der 
Fotografie  als  einem  seelenlosen  Transkriptionsmedium  entgegenzutreten,  indem  man  für  sie  eine 
subjektive und expressive Vermittlungstätigkeit reklamierte. Es überrascht daher nicht, daß man den 
Begriff  des  Dokumentarischen  erst  zu  einem  Zeitpunkt  auf  eine  bestimmte  Gattung  fotografischer 
Praktiken  anzuwenden  begann,  nachdem  Symbolismus  und  Ästhetizismus  (in  der  stilisti[54]schen 
Form des Piktorialismus) den fotografischen Diskurs mehr als dreißig Jahre lang dominiert hatten. 
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was man unter dem Dokumentarischen versteht und ver‐
standen hat, müssen wir es aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchten. Als historisches Konstrukt 
muß es in den Zusammenhang der mit ihm zeitgleichen Diskurse, Praktiken und Verwendungsweisen 
gestellt  werden.  Wie  ist  der  Begriff  der  dokumentarischen  Fotografie  rückblickend  vom  vielfältigen 
Produktionsfeld des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden? Soll man das Dokumentarische eng als inves‐
tigative oder didaktische Unternehmung definieren, oder soll man es weiter fassen, so daß es sämtli‐
che nichtästhetischen, informationsbezogenen Verwendungen mit einbezieht? Ist die Verkörperung 
der Dokumentarfotografie das Verbrecherfoto mit seinem Status als Beweismittel2, das Zielfoto bei 
Pferderennen  oder  die  sozial  engagierte  Fotografie?  Solche  Fragen  legen  überhaupt  einen  anderen 
theoretischen Rahmen nahe – eine semiotische Zugangsweise zur Fotografie. Als Teil eines umfassen‐
deren Systems visueller Kommunikation, als Medium wie Agens der Ideologie, als Lieferantin empiri‐
scher Beweise und visueller Wahrheiten läßt sich die Dokumentarfotografie als ein Zeichensystem mit 
einem  eigenen  Vorrat  an  visuellen  Signifikationscodes  analysieren,  die  seine  Rezeptions‐  und  Ge‐
brauchsweisen bestimmen.3 Dabei können eine Reihe von Faktoren berücksichtigt werden, darunter 
etwa jene, die zum effet de réel – wie ihn Roland Barthes beschrieben hat – beitragen, aber auch be‐
stimmte Inhalte, die praktisch zu Zeichen für das Dokumentarische geworden sind. 

2
Die Implikationen dieser Frage waren ein wichtiges Thema in den Arbeiten von Allan Sekula. Vgl. vor allem »Der
Körper und das Archiv«, in diesem Bd., S. 269-334. [55]
3
Die klassischen Aufsätze über das Signifikationssystem von Fotos sind Roland Barthes’ »Die Fotografie als
Botschaft« und »Rhetorik des Bildes«, beide in: ders. Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, übers. v.
Dieter Hornig, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 11-46. [55]
Um ein besseres Verständnis für die Rolle zu bekommen, die die Dokumentarfotografie spielt, die Ver‐
mutungen und Haltungen, die sie nährt, und die Glaubenssysteme, die sie bestätigt, wollen wir uns zu 
guter Letzt die Stellung der Dokumentarfotografie innerhalb der diskursiven Räume der Massenme‐
dien (oder – in neuerer Zeit – innerhalb jener der Galerie und des Museums) ansehen. 
Diese drei Fragestellungen konvergieren letztlich alle im Problem [55] des Realismus – und leiten sich 
zu einem gewissen Grad von diesem ab – denn sowohl die Brauchbarkeit als auch das Überzeugungs‐
vermögen der Fotografie werden materiell vor allem durch ihren vermeintlichen Zugriff auf das Reale 
determiniert. Brechts Bemerkung »Realismus ist eine Angelegenheit nicht nur der Literatur, sondern 
eine große politische, philosophische, praktische Angelegenheit und muß als solche, große allgemein 
menschliche Angelegenheit behandelt und erklärt werden«4 muß auf das Feld der Fotografie übertra‐
gen werden. Dort wird der Realismus zweifellos einer eigenen Analyse und Kritik unterzogen werden 
müssen – die Fotografie ist schließlich ein mechanisches Reproduktionsmedium aber die Homologien 
zu realistischen Konstruktionen in anderen Medien liegen auf der Hand. 
Mit: Überlegungen dieser Art will ich  nicht irgendeine Vorstellung von einer  authentischen, reinen, 
unkompromittierten  dokumentarischen  Praxis  wiederbeleben,  sondern  vielmehr  die  Bedingungen 
skizzieren, unter denen eine solche Fotografie in der Vergangenheit funktioniert hat und auch heute 
noch funktioniert. Denn den dokumentarischen Praktiken, die sich selbst als kritisch gegenüber dem 
Status quo oder zumindest ihrer Intention nach reformistisch definiert haben, liegt das Paradoxon zu‐
grunde, daß sie normalerweise innerhalb größerer Systeme operieren, die sie einschränken, umschlie‐
ßen und schließlich neutralisieren. Das Problem dabei ist nicht eigentlich die Vereinnahmung, sondern 
die strukturell eingeschränkte Fähigkeit konventioneller Dokumentarbilder, die in sie eingeschriebe‐
nen und sie umschließenden textlichen, epistemologischen und ideologischen Systeme zu erschüttern. 
Die Konsequenz, wie Martha Rosler bemerkt hat, lautet: »Moralistische Betrachtungsweisen lagen der 
Dokumentarfotografie  immer  näher  als  revolutionäre  Forderungen.«5  Für  jene,  die  eine  neue,  mili‐
tante dokumentarische Praxis fordern, die die Repräsentation der Politik ebenso berücksichtigt wie die 
Poli[56]tik der Repräsentation6, ist eine gründliche Kenntnis dessen, was traditionelle dokumentari‐
sche Darstellungsweisen vorgegeben haben, eine Grundvoraussetzung für jeden Versuch, über sie hin‐
auszugehen. 

4
Bertolt Brecht, »Über den formalistischen Charakter der Realismustheorie« [1938I] in: ders., Gesammelte
Werke. Bd. 19, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, S.298-307: 307. [56]
5
Martha Rosler, »Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie)«, in: Sabine
Breitwieser (Hg.), Martha Rosler. Positionen in der Lehenswelt, übers. v. Roger M. Buergel,
Ausstellungskatalog Generali Foundation Wien, Köln: König 1999, S. 105-148: 108. Roslers Essay ist immer
noch die definitive Analyse und Entmystifizierung der liberal-humanistischen Voraussetzungen, die der von ihr
als »Opferfotografie« charakterisierten traditionellen Dokumentarpraxis zugrunde liegen. [56]
6
Die Forderung nach einer fotografischen Praxis, die sich durch Berücksichtigung einer gewissen
Repräsentationspolitik auszeichnet, tauchte bezeichnenderweise in den Arbeiten mehrerer Kritiker aus den
späten siebziger Jahren auf. Der Untertitel von Allan Sekulas 1978 erschienenem Essay »Den Modernismus
demontieren, das Dokumentarische neu erfinden« lautet: »Bemerkungen zur Politik der Repräsentation«.
Victor Burgins Essays »Fotografien betrachten« (1977) und »Photography, Phantasy, Fiction« (1980)
beschäftigen sich grundlegend mit Repräsentationspolitik. Und in Roslers Kritik des Dokumentarischen geht es
ebenfalls um dieses Konzept. Diese Autoren kamen – ausgehend von verschiedenen kritischen Methoden und
Ansätzen (Marxismus, psychoanalytische Theorie, Semiotik, Poststrukturalismus) – zu ähnlichen (und
einander ergänzenden) Schlußfolgerungen. Sekulas Aufsatz ist wiederabgedruckt in: ders., Photography
In  der  Geburtsstunde  der  Fotografie  beruhte  deren  Stellenwert  auf  ihrem  vermeintlich  objektiven 
Transkriptionsvermögen.  Die  fotografische  Literatur  aus  den  folgenden  beiden  Jahrzehnten  betet 
zwanghaft, ja fast schon rituell die Litanei von der fotografischen Wahrheit nach. Die Welt und ihre 
Objekte böten sich dem Objektiv der Kamera dar und versprächen ein. enzyklopädisches visuelles Re‐
gister – ein Inventar, das in den Dienst der Wissenschaft, des Handels, der Physiognomie, der Nation 
und der Kunst gestellt werden sollte.7 Unter den Fotografien aus diesen frühen Jahren befinden sich 
Bilder von Alltagsgegenständen, dem Inhalt: von Ateliers und Bibliotheken, von Winkeln in Landhaus‐
gärten, landwirtschaftlichen Geräten, unbedeutender Architektur, dem gesamten Treibgut des tägli‐
chen Le‐[57] 
 

 
Abb. 1: Felice Beato, China. Fort Taku nach dem englisch‐französischen Angriff, 1861 (Zweiter Opium‐
krieg) 

against the Grain. Essays and Photo Works 1973-1983. Halifax: The Press of the Nova Scotia College of Art
and Design 1984. S.53-76. Die beiden Aufsätze von Burgin finden sich in: Victor Burgin (Hg.), Thinking
Photogntpby, London: Macmillan, 1982, S.142-153 bzw. 177-216. Anm. d. Ü.: Der Aufsatz von Sekula (in
gekürzter Form) und Burgins »Fotografien betrachten« liegen in deutscher Übersetzung vor in: Hubertus von
Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie. Bd. 4, übers, v. Joachim Schmid, München: Schirmer/Mosel 2001,
S.120-129, bzw. Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 3, übers, v. Reinhard Kaiser, München:
Schirmer/Mosel 1983, S. 251- 260.) [57]

7
Die früheste Beschreibung der Kamera als visueller Enzyklopädistin wurde von Dominique Francois Arago 1839
anläßlich der Präsentation des Daguerreotypieverfahrens vor der französischen Deputiertenkammer
vorgetragen. Vgl. Das Daguerreotyp oder die Erfindung des Daguerre, die mittelst der Camera obscura und
des Sonnenmikroskops auf Flächen dargestellten Lichtbilder zu fixieren. Beschrieben von dem berühmten
Physiker Arago, aus dem Französischen übersetzt von einem deutschen Physiker, Stuttgart: Scheible’s
Buchhandlung 1839. [57]
 
bens, ausgenommen einzig die Dinge, die sich für die lange Belichtungszeit zu schnell bewegten. In 
direktem Gegensatz zu Fotos, die klar von dem Wunsch zeugen, ein Andenken an das Einzigartige und 
Ungewöhnliche (Monstrositäten und Wunder, Berühmte und Mächtige, das Exotische, den anderen) 
zu bewahren, verraten diese Bilder eine begeisterte Freude am Akt der fotografischen Reproduktion 
selbst. Daß solche Bilder in letzter Zeit als Kunst für die Kunst reklamiert worden sind, sagt zwar eine 
Menge über den gegenwärtigen Fotografiediskurs aus, wirft aber wenig Licht auf die Bedeutung dieser 
Fotos als historische Objekte. 
Bis in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte sich die fotografische Praxis, die wir heute ge‐
wöhnlich als dokumentarisch bezeichnen, vollständig etabliert: Desire Charnays Bilder von Maya‐ Rui‐
nen und den Eingeborenen Madagaskars, Samuel Bournes Fotografien aus Indien und Nepal, Felice 
Beatos Fotografien vom Krimkrieg und vom Opiumkrieg (Abb. 1), die Reportage über den Amerikani‐
schen Bürgerkrieg vom Team Matthew Bradys, die Platten von Francis Frith aus Ägypten und dem Hei‐
ligen Land – sie alle waren von dem Wunsch beseelt, die wahrgenommene Realität im [58] 
 

 
Abb. 2: Allan Hughan, Musikalischer Abend französischer Offiziere auf der Ile des Pins, Neukaledonien, 
um 1870‐71 
 
zweidimensionalen Raum der Repräsentation festzuhalten und aufzuzeichnen. 
Aber worin, so müssen wir fragen, besteht das Reale der Repräsentation? Und, was noch wichtiger ist, 
welchen Verwendungen wurden diese Repräsentationen zugeführt? In einer Arbeit über die sozialen 
Gebrauchsweisen der Fotografie schrieb der französische Soziologe Pierre Bourdieu: »Indem sie der 
Photographie Realismus bescheinigt, bestärkt die Gesellschaft sich selbst in der tautologischen Gewiß‐
heit, daß ein Bild der Wirklichkeit, das der Vorstellung entspricht, die man sich von der Objektivität 
macht, tatsächlich objektiv ist.«8 Demzufolge dient die Fotografie dazu, das komplexe ideologische Ge‐
füge zu ratifizieren und zu bestätigen, das in einem jeweiligen historischen Augenblick als Realität tout 
court wahrgenommen wird. S0 werden etwa die Fotografien, die die leeren Räume Palästinas und [59] 
Ägyptens abbilden, selbst zu einem wichtigen (visuellen) Vasallen für den imperialen Fortschritt, die 
Fotografien, die den exotischen anderen darstellen, zur Nahrung für die mission civilisatrice (Abb. 2). 
Ähnlich beweisen und demonstrieren auch die von Dr. Charcot an der Salpêtrière in Auftrag gegebenen 
Fotos von den hysterischen Insassen zugleich die spiegelbildliche Morphologie der Hysterie.9 
Obwohl dies etwas einseitige (besonders repressive Gebrauchsweisen des Mediums hervorhebende) 
Beispiele sind, handelt es sich doch keineswegs um Ausnahmen. Der Erfolg der Fotografie als Bildtech‐
nologie – ihre erstaunlich rasche Ausbreitung und Einverleibung in sämtliche Wissens‐ und Machtdis‐
kurse – war gerade eine Folge ihrer affirmativen Aspekte. Daraus wird wiederum klar, daß wir nicht 
wirklich von einer dokumentarischen Praxis des 19. Jahrhunderts sprechen können, die in irgendeiner 
Weise gegen den Strich der herrschenden Ideologien gewirkt hätte. Friedrich Engels etwa wäre wohl 
nie auf den Gedanken gekommen, Die Lage der arbeitenden Klasse in England mit Fotografien von den 
erbärmlichen Wohnbedingungen in Manchester zu illustrieren. 
Auf diesen Gedanken kam aber Jacob Riis, der das 1887 zu einem Teil seiner Tätigkeit als Polizeirepor‐
ter  und  kämpferischer  Journalist  machte,  und  das  ist  wohl  der  Hauptgrund  dafür,  weshalb  die  ret‐
rograde  Konstruktion  des  Dokumentarischen  üblicherweise  mit  ihm  beginnt.10  Nach  diesem  Modell 
des Dokumentarischen wird das [60] 

8
Pierre Bourdieu, Eine illegitime Kunst, übers, v. Udo Rennert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S.89, zit. nach
Rosalind Krauss, »Eine Bemerkung über die Photographie und das Simulakrale«, in: dies., Das
Photographische. Eine Theorie der Abstände, übers, v. Henning Schmidgen, München: Fink 1998, S. 210-223:
215. [59]
9
In Buchform erörtert werden Dr. Charcots fotografisches Projekt und seine Implikationen in: Georges Didi-
Huberman, Erfindung der Hysterie. Die photographisch Klinik von Jean-Martin Charcot, übers. v. Silvia Henke,
München: Fink 1997. Zu den Fotografien von Dr. Hugh Diamond vgl. Sander L. Gilman (Hg.), The Face of
Madness. Hugh W. Diamond and the Origin of Psychiatric Photography, Secaucus: Brunner-Mazel 1976. Zur
Expeditionsfotografie vgl. meinen Aufsatz »A Photographer in Jerusalem, 1855. Auguste Salzman and His
Times«, in: October, Nr. 18, Herbst 1981, S. 91-107, wiederabgedruckt in: Abigail Solomon-Godeau, Photogra-
phy at the Dock. Essays on Photographic History. Institutions and Practices, Minneapolis: University of
Minnesota Press 1991, S.150-168. Eine exzellente Darstellung der verschiedenen politischen
Gebrauchsweisen der französischen Fotografie im späten 19. Jahrhundert bietet Donald English, The Political
Uses of Pbotography in the Third Frensh Republic. 1871-1914, Ann Arbor, Mich.: UMI Press 1984. Zu den
strukturellen Wechselbeziehungen zwischen Fotografie, Imperialismus und Exotismus vgl. Malek Alloula,
Haremsphantasien. Aus dem Postkartenalbum der Kolonialzeit, übers. v. Stephan Egghart, Freiburg: Beck und
Glückler 1994. [60]
10
Erwähnung finden sollten hier verschiedene Vorläufer, deren Existenz die Berechtigung einer eigenen
Dokumentartradition weiter in Frage stellt. Es sind dies: Charles Marville, der in den 1860er Jahren die zum
Abriß bestimmten alten Stadteile von Paris fotografierte, und zwar im Auftrag des Präfekten des Departe-
[60]ments Seine, Baron Haussmann; Thomas Annan, der vom City Improvement Trust der Stadtverwaltung
von Glasgow beauftragt wurde, die Glasgower Elendsviertel zu fotografieren (diese Fotos wurden 1868 unter
dein Titel Old Closes and Streets of Glasgow veröffentlicht); John Thomson, der Fotograf und Mitautor von
Street Life in London (1877-78) und Illustrations of China and its People (einem veritablen Prospekt für
europäische Investitionen und wirtschaftliche Ausbeutung); Colonel Willoughby Hoopers Fotografien von der
 

 
Abb. 3: Jacob Riis, Mitternacht in der Ludlow Street, 1888‐90 
 
Genre im Sinne reformistischer oder verbessernder Intentionen  definiert, und  zwar im Hinblick auf 
Dinge wie die Adressierung einer Öffentlichkeit, die Rezeption, Verbreitung, und die Idee eines Projekts 
oder  einer  Erzählung  (im  Gegensatz  zum  Einzelbild)  usw.  Nach  dieser  Definition  scheint  Riis  (1849‐
1914) der logische Ahnherr zu sein, insofern seine Arbeiten zu dem Zweck entstanden, seinen refor‐
mistischen  Traktat  How  the  Other  Half  Lives  durch  einen  aufsehenerregenden  visuellen  Apparat  zu 
ergänzen. Riis, der als Polizeireporter und später als freier Journalist für die New Yorker Tagespresse 
arbeitete, hat nur wenige Jahre lang Ende der 1880er Jahre fotografiert und Fotos in Auftrag gegeben). 
Diese Fotos (meist mit dem kurz [61] 

Hungersnot in Madras, 1876-1877. Vgl. dazu John Taggs wichtige Diskussion des von Annan und anderen
[61] repräsentierten Genres, »Power and Photography — Part 1, A Means of Surveil- lance. The Photograph
as Evidence in Law«, in: Screen Education, Nr. 36, Herbst 1980. S. 17-55, wiederabgedruckt in: ders., The
Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Amherst: University of Massachusetts
Press 1988, S. 66-116 (vgl. dort auch Kap. 5, »God’s Sanitary Law. Slum Clearance and Photography in Late
Nineteenth Century Leeds«, und Kap. 6, »The Currency of the Photograph. New Deal Reformism and
Documentary Rhetoric«). Eine andere Konstruktion des Dokumentarischen, die aus dem Bereich der
künstlerischen Fotografie hervorgegangen ist, findet ihr Musterbeispiel und ihre Verkörperung in Eugene Atget.
In diesem revisionistischen Unternehmen wird die Kategorie der straight photography unter das
Dokumentarische subsumiert. Vgl. dazu Maria Morris Hambourg, Eugene Atget, 1857-1927. The Structure of
the Work, unveröffentlichte Dissertation, Columbia University 1980. [62]
 
 Abb. 4: Aaron Siskind, Mann im Bett, 1940 
 
zuvor erfundenen Magnesiumblitz aufgenommen, der es den Fotografen erlaubte, in dunklen Innen‐
räumen zu arbeiten) wurden entweder im Rasterdruck als Abbildungen für sein Buch reproduziert oder 
als Dias vorgeführt. Sally Stein hat in ihrem wichtigen Artikel »Making Connections with the Camera, 
Photography and Social Mobility in the Career of Jacob Riis« eine detaillierte und rundum überzeu‐
gende Analyse der eher latenten denn manifesten Bedeutun[62]gen von Riis’ Fotografien vorgelegt. 
Diese Analyse verknüpfte sie mit einer genauen Untersuchung von Riis’ Schriften, so daß die Konver‐
genz beider Aktivitäten in einer dichten Matrix bürgerlicher sozialer Ängste und dem Bedürfnis, sie zu 
beschwichtigen, sichtbar wurde. Diese Matrix war ein Geflecht aus der Bedrohung, die die zahlreichen 
armen, unassimilierten Neueinwanderer darstellten, aus dem Gespenst sozialer Unruhen, aus der Ver‐
wendung der Fotografie für die größere Aufgabe der Überwachung, Eindämmung und sozialen Kon‐
trolle sowie aus den Imperativen der Amerikanisierung. Innerhalb dieses Bezugsrahmens untersucht 
Stein die Rolle, die Riis’ persönliche Ambitionen sowie deren Kaschieren unter dem Deckmantel des 
Kreuzzuges als Mittel des sozialen Aufstiegs spielten. Mit ihrer rigorosen Vermessung des kontextuel‐
len Feldes, in dem dieses Werk funktionierte, leistete Stein einen wesentlichen Beitrag zur aktuellen 
Kritik traditioneller Formen des Dokumentarischen, deren Schwerpunkt unter anderem in einer Befra‐
gung der durch eine solche Fotografie normativ eingesetzten Subjekt‐Objekt‐Verhältnisse besteht. 
Im Zusammenhang mit einer Beschreibung von Riis’ Neigung, seine Sujets auf eine Weise ins Bild zu 
setzen, die jeglichen Begriff vom fotografischen Akt als Transaktion leugnet, macht Stein etwa die fol‐
gende Beobachtung: »Wir können uns über die Konsistenz von Riis’ Fotografie, in der kaum einmal ein 
Foto eine Person zeigt, die gefaßt genug ist, den Blick des Fotografen zu erwidern, in der Tat nur wun‐
dern. Daß er die wenigen Fotos, in denen die fotografierte Person tatsächlich zurückblickte, ablehnte, 
zeigt, wie sehr diese Wirkung beabsichtigt war. [...] Der abgewandte Blick, der Eindruck von Bewußt‐
losigkeit oder Abgestumpftheit, sind nur einige  der wiederkehrenden Merkmale, die Riis’  Bilddoku‐
menten in Verbindung mit dem Text stilistische Einheit und ideologische Kohärenz verliehen.«11 (Abb. 
3 und 4) Indem sie sich weigert, die übliche Pietät gegenüber Repräsentationen von Armen und Aus‐
gegrenzten walten zu lassen, und verborgene, in diese Art von Fotografie eingeschriebene Agenden 
ans Licht bringt, legt Stein eine zweite Bedeutungsebene frei, die eine allzu einfache Gleichsetzung von 
Opferfotografie mit Progressivität und Reform radikal in Frage stellt. Aber die Fragen, denen Stein in 
bezug auf diesen spezifischen Korpus von Fotografien [63] nachgeht, sind auch in einem viel allgemei‐
neren Sinn relevant. Wir müssen uns fragen, ob der Ort des für einen mächtigeren Betrachter konstru‐
ierten dokumentarischen Sujets nicht schon immer in gewisser Weise vorgegeben ist. Wir müssen uns, 
mit anderen Worten, fragen, ob der dokumentarische Akt nicht einen doppelten Akt der Unterjochung 
impliziert: erstens in der sozialen Welt, die die Opfer hervorgebracht hat; und zweitens im Regime des 
Bildes, das innerhalb desselben Systems und für dasselbe System produziert wird, welches die Bedin‐
gungen, die es re‐präsentiert, schafft.12 
Der Dokumentardiskurs, der Jacob Riis an den Anfang des Dokumentarischen stellt, legt ein gewisses 
Gewicht auf die Gebrauchsweise (als würden nicht auch alle anderen Formen der Fotografie unwei‐
gerlich instrumentalisiert). Diese Konzeption der Dokumentarfotografie ist eine, deren Prestige und 
Einfluß verschiedentlich gewachsen und geschrumpft ist, die mehrmals ihre ideologischen Parameter 
geändert und ihre konstitutiven Begriffe modifiziert und neu gefaßt hat. In den 1930er Jahren, einer 
Zeit, in der (wenigstens in den USA) dokumentarische Formen in Film, Fotografie und Literatur großes 
Ansehen genossen, betrachteten sie sowohl Liberale als auch Radikale als die angemessene Form für 
explizit definierte politische Ziele. Ungeachtet der von Bertolt Brecht und Walter Benjamin in Gang 
gesetzten (und von Theorien der sowjetischen Avantgarde inspirierten, wenn auch nicht an ihr model‐
lierten)  zeitgenössischen  Kritik  an  der  Transparenz  und  Autonomie  der  Fotografie  war  die  vorherr‐
schende Konzeption des politisch engagierten Dokumentarischen vorwiegend inhaltsbezogen. Daß die 
Wahrnehmungs‐ und Repräsentationskritik, die von so unterschiedlichen Kunstbewegungen wie dem 
Kubismus, dem Dadaismus, dem Surrealismus, dem Konstruktivismus und natürlich der Fotomontage 
ausging, irgendeinen wesentlichen Einfluß auf die Theorie oder die Praxis des Dokumentarischen ge‐
habt hätte, kann man wohl kaum behaupten. 
 

11
Sally Stein, »Making Connections with the Camera. Photography and Social Mobility in the Career of Jacob
Riis«, in: Afterimage, 10. Jg., Nr. 10, Mai 1983, S.9-16: 14. [63]
12
Dieser beunruhigende Aspekt dokumentarischer Projekte zieht sich durch die gesamte Argumentation von
Rosler und Stein. Er ist natürlich für politisch avancierte Praktiker (im Gegensatz zu politisch besorgten) die
Krux des Ganzen. Vgl. z. B. auch Jo Spences Kommentar zum Dilemma des Dokumentaristen in Putting
Myself in the Picture. A political, personal and photographic Autobiography, London: Camden Press 1986. [64]
So war es zum Beispiel für Projekte wie das dokumentarische Unternehmen der Farm Security Admi‐
nistration13 – einer gewalti‐[64] 

  
Abb. 5: Arthur Rothstein, Frau eines Tagelöhners, 
Arkansas, 1935 
 

13
Das gewaltige, unter dem Name F.S.A. bekannte dokumentarische Projekt wurde von Rexford Guy Tugwell,
dem stellvertretenden Landwirtschaftsminister der [64] Roosevelt-Regierung, ins Leben gerufen, 1935
ernannte Tugwell Roy Stryker, der damals an der Columbia-Universität Ökonomie lehrte, zum Leiter der
Fotogra-[65]fieabteilung der Resettlement Administration im U.S.-Landwirtschaftsministerium, die dann wenig
später in Farm Security Administration umbenannt wurde. Zu Beginn waren es fünf Fotografen, die Stryker
anheuerte und auf die Lohnliste der Regierung setzte; Walker Evans, Dorothea Lange, Carl Mydans, Arthur
Rothstein und Ben Shahn. Im folgenden Jahr stellte er John Collier Jr., Jack Delano, Russell Lee, Gordon
Parks, Marion Post Wolcott und John Vachon ein. Obwohl ursprünglich zur Produktion von Bildern geschaffen,
die dazu beitragen sollten, um Unterstützung für verschiedene, hauptsächlich zur Linderung der Not der armen
Landbevölkerung eingerichtete Hilfsprogramme zu werben, verschob sich Ende der dreißiger Jahre im
Zusammenhang mit den Kriegsvorbereitungen und dem Bedarf an patriotischen, erhebenden Bildern der
Schwerpunkt des Projekts. Es endete offiziell 1943. Für eine überaus interessante Untersuchung dieser
Bundesprojekte in Hinblick auf die daran beteiligten Fotografinnen vgl. Andrea Fisher, Let Us Now Praise
Famous Women. Women Photographers for the US Government 1935 to 1944, London u. New York: Pandora
Press 1987. [66]
gen, vom Bund finanzierten Propagandamaschine, die ursprünglich zur Unterstützung der Sozialpro‐
gramme des New Deal ins Leben gerufen worden war – selbstverständlich, daß eine Fotografie, die für 
Reformen eintritt, sich effektiv auf Objekte konzentrieren sollte. Und das Objekt war – in jedem Sinn 
des Wortes – das Gegebene; Roy Stryker, der Leiter des Projekts, schrieb bei der Auftragsvergabe nicht 
nur die Region, das Milieu oder die Tätigkeit genau vor, sondern gab darüber hinaus häufig auch an, 
welche Art von Stimmung, Ausdruck oder Gefühl er sehen wollte – wir würden das heute als Rhetorik 
des Bildes bezeichnen (Abb. 5). Fotografen, die – wie Wal[65]ker Evans – ihr eigenes ästhetisches Pro‐
gramm hatten, ging es in der F. S.A. nicht gut. 
Wiewohl ich in keiner Weise bestreiten möchte, daß sich die Art, wie Riis seine Objekte repräsentierte, 
deutlich von der eines Lewis Hine oder später der F. S.A.‐Fotografen unterschied, sind wir nichtsdes‐
totrotz mit einigen gleichbleibenden Tropen konfrontiert. Eine dieser Tropen ist die Art und Weise, wie 
Personen – und ihre Umstände – als bildliches Spektakel dargestellt wurden, das sich in der Regel an 
ein anderes Publikum oder eine andere Klasse richtete. Eine andere betrifft die lähmende Wirkung, die 
sich daraus ergab, daß die visuelle Tatsache einzelner ungerechter Schicksale oder einzelner Fälle von 
Unterdrückung als Metonym für die (unsichtbaren) Bedingungen präsentiert wurde, die diese hervor‐
gerufen haben. Eine solche Wirkung kann sich unabhängig von den guten Absichten, der persönlichen 
oder  institutionellen  Politik  oder  dem  Wunsch,  die  Verhältnisse  zu  verbessern,  einstellen.  In  dem 
Maße, in dem die Fotografie besser dazu geeignet ist, mit Individualität als mit Kollektivität umzuge‐
hen, zeigt sich in Arbeiten wie dem F.S.A.‐Projekt zudem ein möglicherweise unvermeidliches Abglei‐
ten vom Politischen zum Anekdotischen oder Emblematischen. Tatsächlich zeugen schon die Arbeits‐
methoden  einiger  der  F.S.A.‐Fotografen  davon,  daß  sie  das  Ergreifende  dem  Militanten  vorzogen. 
Wenn die Personen in die Kamera lächelten, wurden sie aufgefordert, düsterere Posen einzunehmen; 
Tagelöhner, die zum Fotografieren ihr bestes Gewand angelegt hatten, wurden aufgefordert, wieder 
ihre  zerrissene  Alltags[66]kleidung  anzuziehen,  und  überredet,  sich  nicht  der  Kamera  wegen  die 
schmutzigen Gesichter und Hände zu waschen.14 
Wie William Stott deutlich macht, hatte das F.S.A.‐Projekt etwas ausgesprochen Doktrinäres. Da das 
Mandat des Programms darin bestand, die Unterstützung der Öffentlichkeit und der Regierung für die 
Hilfsmaßnahmen der New‐Deal‐Politik zu gewinnen, wurden vor allem die Bilder der würdigen im Ge‐
gensatz zu den unwürdigen Armen gefördert. Über die Arbeiten von Dorothea Lange etwa notierte der 
Filmemacher Pare Lorentz: »Sie traf ihre Auswahl mit einem untrüglichen Auge. Die Vagabunden, die 
Nomaden, die Landstreicher, den unglücklichen, antriebslosen Abschaum eines Landes wird man in 

14
Vgl. Stott, Documentary Expression. Eine Parallele zu diesem Ansatz kann man in der aktuellen Produktion von
Fotografien von AIDS-Opfern sehen, und zwar sowohl in ihrer journalistischen als auch in ihrer künstlerischen
Form. In beiden Ausprägungen liegt das Schwergewicht üblicherweise entweder auf den spektakulären
visuellen Krankheitszeichen (Abmagerung, Kaposi-Sarkom) oder auf dem mitleiderregenden Anblick und der
Hilflosigkeit der Leidenden. Menschen, die ein mehr oder weniger normales Leben mit AIDS führen, oder
Bilder, die auf individuelle Handlungsfähigkeit oder kollektiven Kampf verweisen, kommen wesentlich weniger
häufig vor. Besonders auffällig ist der Unterschied zwischen der Selbstrepräsentation von AIDS (z. B. Filme,
Fotos und Videos, die innerhalb der Community von Menschen mit AIDS und AIDS-Aktivisten entstanden sind)
und der Repräsentation in den Medien. Vgl. dazu das October-Themenheft mit dem Titel AIDS, Cultural
Analysis, Cultural Activism (Nr. 43, Winter 1987), insbesondere Simon Watneys Aufsatz »The Spectacle of
AIDS« und das Portfolio der People with Aids Coalition. [67]
ihrer Porträtgalerie vergeblich suchen.«15 Der an den Betrachter gerichtete Appell bestand mit anderen 
Worten in der Beteuerung, daß die Opfer der Depressionszeit würdige Arme waren; ihr Anspruch auf 
Hilfeleistung wurde also mit individuellem Unglück begründet und nicht mit einem systematischen po‐
litischen, Ökonomischen oder sozialen Versagen. Lange, die mit dem Ökonomen Paul Schuster Taylor 
verheiratet war (mit dem sie bei Büchern wie An American Exodus auch zusammengearbeitet hat), 
wußte genausogut wie jeder andere, daß die Verhältnisse, die sie fotografierte, die Folge einer durch 
den Kapitalismus verursachten Krise waren und nicht irgendeine Gottesstrafe oder ein zufälliges Un‐
glück. Doch ihr Instinkt als Fotografin gebot ihr, zu individualisieren und zu personalisieren – ihre Sub‐
jekte als Objekte von Mitleid und Betroffenheit darzustellen (Abb. 6). 
 
Der Wunsch des Fotografen, Pathos und Mitgefühl in das Bild [67] 

  
Abb. 6: Dorothea Lange »Migrant Mother« 1935 
 

15
Stott, Documentary Expression, S. 61. [67]
zu legen, das Sujet mit einer emblematischen oder archetypischen Bedeutung auszustatten, Arbeit und 
Armut visuell mit Würde auszustatten, ist insofern ein Problem, als solche Strategien das Politische, 
dessen Determinanten, Handlungen und Instrumentalisierungen selbst nicht‐visueller Natur sind, aus‐
blenden oder verschleiern. Dazu kommt, daß Fotos ihre historische Spezifität nur kurz behalten; das 
fotografische  Vermächtnis  der  F.S.A.  wird  gegenwärtig  in  einer  kollektiven  Dreißigerjahre‐Nostalgie 
mumifiziert, zum humanistischen Denkmal für den zeitlosen Kampf gegen widrige Umstände erhoben 
oder als Zeugnis individueller fotografischer Errungenschaften verehrt.16 Ob Kinderarbeiter, Pachtfar‐
mer, rechtloser Schwarzer – das [68] (einstmals) lebendige Subjekt, dessen Existenz von den durch ein 
politisches und soziales System hervorgebrachten Ungerechtigkeiten und Verletzungen zeugte, wird 
nun zum Beweis für das Auge und die Kunst des Fotografen. 
Doch ist die Tatsache, daß der Kontext eines Fotos eine sehr einflußreiche Determinante seiner wahr‐
genommenen Bedeutung ist, nur ein Teil des Problems. Es muß auch betont werden, daß der Einfluß 
des Veröffentlichungskontextes auf die Bedeutung des Fotos über den offensichtlichen Gegensatz von 
Galerie und Zeitschrift hinausgeht. Denn in letzterer wirken sich das redaktionelle Umfeld, die Art der 
Bildunterschrift und des Textes, die Anordnung der Bilder und die Fülle der damit konkurrierenden 
anderen  Bilder  (z.  B.  die  möglicherweise  auf  derselben  Seite  erscheinenden  Anzeigen)  auf  ver‐
schiedenste Art auf die Lektüre und Interpretation der Bilder aus. 
In ihrem mittlerweile klassischen Aufsatz zur Dokumentarfotografie weist Martha Rosler darauf hin, 
daß »[d]er Imperialismus [...] auf allen Stufen des kulturellen Lebens eine imperialistische Sensibilität 
[erzeugt]«.17 In der Tat gilt einer der Schwerpunkte ihrer Argumentation der Art und Weise, wie beim 
Abbilden derer, die selbst keinen Zugang zu den Repräsentationsmitteln haben, die dominanten ge‐
sellschaftlichen  Verhältnisse  unweigerlich  nicht  nur  reproduziert,  sondern  auch  verstärkt  werden. 
Wenn es der Dokumentarfotografie an einem progressiven oder reformistischen politischen und sozi‐
alen Umfeld, das das Werk von Lewis Hine oder der F.S.A. beförderte, fehlt, nimmt die Dokumentarfo‐
tografie schnell eine andere Wendung. »Leidenschaft und Zorn wie auch das entlarvende Moment, all 
jenes, das sich der Dokumentarfotografie aufgrund ihres reformerischen Engagements eingeprägt hat, 
ist übergegangen in Mixturen aus Exotismus, Tourismus, Voyeurismus, Psychologismus und Metaphy‐
sik, Trophäenjagd – und Karrierismus.«18 
Mögen Fotografen ihre Bilder auch in Hinblick auf eine bestimmte Bedeutung komponieren und orga‐
nisieren, so ist doch schon der Ausgangspunkt eines Fotos kaum jemals neutral oder bedeutungslos. 
Zur Bedeutung des Sujets auf der denotativen und konnotativen [69] Ebene und zur Bedeutung, die 
durch die kontextuellen Faktoren geschalten wird, kommen noch jene Elemente hinzu, die durch die 
internen  Mechanismen  des  Apparats  hinzugefügt  werden.  Sie  sind  ebenfalls  bedeutungsstrukturie‐
rend. Diese Mechanismen bringen an und für sich schon bestimmte Wirkungen hervor, worunter die 

16
Als paradigmatisches Beispiel dafür, welch gewundene Arabesken an Ausflüchten, Auslassungen und
flehentlichen Appellen die humanistische Verteidigung der [68] Dokumentarfotografie der dreißiger Jahre
hervorbringt, vgl. Robert: Coles, »Dorothea Lange. The Politics of Photography«, in: Raritan, 1. Jg., Nr, 2.,
Herbst 1981, S. 19-53. [69]
17
Rosler, »Drinnen, Drumherum und nachträgliche Gedanken (zur Dokumentarfotografie)«, S. 127. [69]
18
Ebd., S. 109. [69]
in der Fotografie wichtigste wahrscheinlich Barthes’ Realitätseffekt ist. Zum Teil ergibt sich dies aus 
dem Umstand, daß die Fotografie, so wie alle mit der Kamera erzeugten Bilder – auch Film und Video 
die Spuren ihrer Herstellung (und ihres Herstellers) mir dem Klicken des Verschlusses zum Verschwin‐
den bringt. Ein Foto scheint etwas Selbstgeneriertes zu sein – so als hätte es sich selbst geschaffen. Wir 
wissen, daß der Fotograf vor Ort gewesen sein muß – ja, das dient sogar als zusätzliche Garantie für 
die Wahrheit des Bildes aber im Feld des Bildes ist er manifest abwesend. Statt dessen befinden wir 
uns dort, sehen, was der Fotograf im Moment der Aufnahme gesehen hat. Diese strukturelle Kongru‐
enz des Blickpunkts (des Auges des Fotografen, der Kamera und des Betrachters) verleiht dem Foto die 
Qualität einer reinen, aber täuschenden Gegenwart. Ein Foto ist, wie Victor Burgin einmal bemerkt 
hat, ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.19 Überdies scheint das Bild beim Foto, anders als bei 
handgefertigten Bildern, nicht auf der Papier‐ oder Leinwandoberfläche, sondern in ihr zu liegen, un‐
trennbar mit seinem Untergrund verbunden; das Foto ist begrifflich nicht von seinem Trägermaterial 
zu trennen.20 Phänomenologisch schlägt sich das Foto als reines Bild nieder, und dieser Effekt ist auch 
der Grund dafür, weshalb wir der Fotografie gewöhnlich den mythischen Wert der Transparenz zu‐
schreiben. 
Eine weitere strukturierende Instanz ist das perspektivische Repräsentationssystem, das in den Kin‐
dertagen der Fotografie in die Kameraoptik eingebaut wurde. Modelliert nach dem klassischen System 
der in der Renaissance erfundenen auf einen Punkt gerichteten monokularen Perspektive, sollte die 
Kameraoptik eine analoge Bildstruktur erzeugen. Während das natürliche Sehen und die natürliche 
Wahrnehmung keinen Fluchtpunkt besitzen, binokular und unbegrenzt sind, sich in ständiger Bewe‐
gung befinden und an den Rän[70]dern an Schärfe verlieren, liefert das Kamerabild – wie die Renais‐
sancemalerei – ein statisches, einheitliches Feld, in dem orthogonale 
Linien auf einen einzelnen Fluchtpunkt zulaufen. Ein solches System der Bildorganisation, das mittler‐
weile so in das westliche Bewußtsein eingegraben ist, daß es ihm als vollkommen natürlich erscheint, 
hat gewisse Folgewirkungen. Die wichtigste davon ist die beherrschende visuelle Position, die damit 
dem Betrachter eingeräumt wird; sein ideales, alles überblickendes Auge wird zur Kommandozentrale 
des Bildfeldes. Diese perspektivisch und piktural mächtige Betrachterposition ist in der Theorie als eine 
inhärent ideologische Konstruktion beschrieben worden. »Die Welt ist nicht mehr nur ein ›offener und 
unbestimmter Horizonte‹, eingeschränkt durch die Bestimmung der Kadrierung, anvisiert, in der rich‐
tigen Entfernung aufgestellt. liefert sie ein durch Sinn gestiftetes Objekt, ein intentionales Objekt, im‐
pliziert von der Handlung des ›Subjekts‹ – welches das Objekt anvisiert – und diese andeutend.«21 Aus 

19
Eine luzide Darstellung der verschiedenen Implikationen des fotografischen Blickpunkts gibt Victor Burgin in
den beiden zitierten Aufsätzen »Fotografien betrachten« (1977) und »Photography, Phantasy, Fiction« (1980).
[70]
20
Den Hinweis auf diesen Aspekt der fotografischen Wahrnehmung verdanke ich Rosalind Krauss. [70]
21
Jean-Louis Baudry, »Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat«, übers. v. Gloria Custance u. Siegfried
Zielinski, in: Eikon, Nr. 5, Wien 1993, S.40. Zur Anpassung der Kamera an dieses Modell des Bildes vgl. Joel
Snyder, »Das Bild des Sehens«, in: Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des
fotografischen Zeitalters. Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2002, S. 23-59. [71]
derartigen Analysen des Apparats wird um einiges besser verständlich, warum der Gebrauch der Ka‐
mera im Lauf der Geschichte ein Vokabular der Beherrschung, des Besitzes, der Aneignung und der 
Aggression entstehen ließ: ein Bild schießen, eine Aufnahme machen, etwas ins Visier nehmen usw. 
Wenn wir die Aussage akzeptieren, daß dem Apparat ideologische Effekte innewohnen und daß diese 
Effekte in erster Linie von der Bemächtigung, der Kontrolle durch den Blick, und der Sicherung von 
Subjektpositionen ausgehen, so wird ein sich allein auf das Sujet gründendes Verständnis der politisch 
dokumentarischen Praxis sogar noch problematischer. Denn nach einer solchen theoretischen Konzep‐
tion der Fotografie sind Repräsentationsstrukturen immer mit einer Reihe ideologischer Formationen 
im Bunde, die dem Werk unabhängig von der persönlichen Politik des Fotografen oder der jeweiligen 
Intention eine Sichtweise einschreiben. Bedenken wir außerdem noch den Akt des Betrachtens von 
Fotos unter Gendergesichtspunkten und im Hinblick auf die Operationen der Psyche – die komplexen 
Vorgänge der Projektion, des Voyeurismus, der Besetzung, der Phantasie und des Begehrens, die unser 
Sehen prägen dann müssen wir uns wohl von dem früheren naiven Glauben verab[71]schieden, daß 
die dokumentarische Kamera visuelle Fakten liefert, die sich einfach nur da draußen befinden und die 
wir nun einfach und interesselos betrachten und zur Kenntnis nehmen. 
Wenn ich in bezug auf das Dokumentarische die Frage »Wer spricht so?« gestellt habe, so hatte ich 
damit dreierlei im Sinn. Erstens wollte ich die Kategorie des Dokumentarischen als etwas Kontingentes 
und historisch Relatives etablieren, so daß es sich als etwas innerhalb eines bestimmten historischen 
Bezugsrahmens Gesprochenes betrachten läßt. Zweitens wollte ich – wenn auch äußerst kursorisch – 
darauf hinweisen, daß einzelne dokumentarische Projekte, die selbst Produkte ganz bestimmter histo‐
rischer Umstände und Milieus sind, gleichermaßen von offenen wie von versteckten, von persönlichen 
wie von institutionellen Programmen sprechen, die sich in ihre Inhalte einschreiben und – mehr oder 
weniger – unsere Lektüre von ihnen vermitteln. Diese encodierten und verborgenen Bedeutungen ans 
Licht zu bringen, die historischen und formalen Strategien aufzudeken, die die Herstellung, den Sinn, 
die  Rezeption  und  den  Gebrauch  einer  Arbeit  determiniert  haben,  ist  die  eigentliche  Aufgabe  von 
Kunsthistorikern und ‐kritikern. Gleichwohl obliegt es dem intelligenten Betrachter, eine fadenschei‐
nige  universalistische  Lesart  zurückzuweisen,  die  dazu  dient,  die  Fotografie  von  ihrer  ideologischen 
Arbeit,  ihrer  (normativen)  Verbreitung  der  Doxa freizusprechen.  Und  drittens  spricht  die  Dokumen‐
tarfotografie, wie auch jede andere Fotografie, innerhalb der Sprache und der Kultur. Ihre Bedeutun‐
gen werden im Rahmen dieser Repräsentationssysteme, die a priori ihre Sujets und unseren Bezug zu 
diesen auf eine bestimmte Art kennzeichnen, sowohl hervorgebracht als auch gesichert. Der Umstand, 
daß ein Foto – wie realistische Formen überhaupt – für sich selbst zu sprechen scheint, sollte uns (wie 
Roland  Barthes  unermüdlich  betonte)  auf  die  Operationen  der  Ideologie  aufmerksam  machen,  die 
stets dahingehend wirken, das Kulturelle natürlich erscheinen zu lassen. 
Die neuere Kritik an traditionellen Dokumentarformen, der sich viele der Ideen in diesem Aufsatz ver‐
danken (insbesondere die Arbeiten von Victor Burgin, Martha Rosler, Allan Sekula und Sally Stein), 
ist bezeichnenderweise eine Kritik, die von der Linken kommt. Und was vielleicht noch wichtiger ist: 
Die  drei  letzteren  Kritikerinnen  beschäftigen  sich  alle  mit  einer  Erneuerung  (im  Gegensatz  zu  einer 
Wiederbelebung) der dokumentarischen Praxis, die auf dem Bewußtsein der Rolle basiert, die der Kon‐
text, das Subjekt‐Objekt‐Ver[72]hältnis und die verschiedenen, die fotografische Bedeutung determi‐
nierenden Strukturmechanismen spielen. Erwähnt werden sollte auch, daß Rosler, Sekula und Stein 
jeweils eigene Dokumentarprojekte realisiert haben, wenn es den Apologeten traditioneller Formen 
des Dokumentarischen auch zuwider sein dürfte, ihre Arbeiten als solche anzuerkennen.22 Zwar lassen 
sich manche der dem Ruf nach einem militanten, oppositionellen Dokumentarismus zugrundeliegen‐
den Ideen auf Brechts und Benjamins Position zurückführen, daß eine einfache Wiedergabe der Reali‐
tät nichts über die Realität auszusagen vermag und daß eine wirklich politische fotografische Praxis 
geplant und konstruiert sein muß (wie z. B. die Fotomontagen von John Heartfield); doch ist dies nur 
eines der Themen und bei weitem nicht das einzige. Von noch größerer Bedeutung ist die Aufmerk‐
samkeit, die die Proponenten eines radikalisierten Dokumentarismus den Fragen des Publikums, der 
Rezeption und der Adressierung entgegengebracht haben, begleitet von der damit einhergehenden 
Überzeugung, daß eine politisch brauchbare Form der passiven Kontemplation oder voyeuristischen 
Konsumtion von Bildern entgegenwirken müsse. 
Es scheint zunehmend gerechtfertigt, von einer neuen Generation von Fotografen zu sprechen, die 
sich einer rigorosen und ernsthaften Neuerkundung des Dokumentarischen verschrieben haben. Ob‐
wohl es nicht möglich ist, so unterschiedliche Zugangsweisen zum Dokumentarischen wie die von De‐
borah Bright, Carol Condé und Karl Beveridge, Connie Hatch, Lisa Lewenz, Fred Lonidier, Martha Rosler, 
Allan Sekula und Elizabeth Sisco (um nur einige zu nennen) [73] allgemein zu charakterisieren, lassen 
sich doch einige wenige Gemeinsamkeiten anführen. Dazu gehört unter anderem das Beharren darauf, 
die Kontrolle über die Arbeit im Hinblick auf ihre Ausstellung, Veröffentlichung oder Distribution zu 
behalten. Während eine Fotografin wie Dorothea Lange zwar sehr gut über die multiple Determinie‐
rung fotografischer Bedeutung Bescheid wußte (sie war es, die den Gedanken von einem Dreisatz der 
Bedeutung – Bild, Bildunterschrift und Text — formulierte), hatte sie in Wirklichkeit sehr wenig Einfluß 
auf die Verwendung ihrer Bilder, ausgenommen bei den Büchern, an denen sie mitarbeitete. Ferner 
berücksichtigt diese neue Form des Dokumentarischen die Textualität der Fotografie, ihre Einbettung 
in diskursive oder institutionelle Systeme, die der Fotograf im voraus zu verstehen versuchen muß. Das 
ist zweifellos der Grund dafür, weshalb Textstrategien eine so wichtige Rolle in formal und inhaltlich 
so unterschiedlichen Arbeiten wie Fred Lonidiers Health and Safety Game oder Martha Roslers The 
Bowery in Two Inadequate Descriptive Systems spielt. 

22
Während die Bastionen der fotografischen Orthodoxie Arbeiten wie die von Rosler, Hatch, Lonidier oder Sekula
einfach als nicht-dokumentarisch verwerfen würden, treibt die Herausforderung, die ihre kritischen
Interventionen darstellen, Verteidiger des wahren Glaubens wie A. D. Coleman zu außergewöhnlich
feindseligen und kommunistenhetzerischen Reaktionen. Coleman, dessen Heroe der dokumentarischen
Fotografie Eugene Smith ist, hat folgendes geschrieben: »Der allgemeine Tenor dieses neu erfundenen
Dokumentarismus ist herzlos [!], hinterhältig, ironisch, feindselig: feindselig gegenüber der Vergangenheit,
feindselig gegenüber der Gegenwart. Ich spüre hier das Potential für die Errichtung geistiger Gulags, einen
ästhetischen Stalinismus.« (A. D. Coleman, »Light Readings. Information, Please«, in: Lens on Campus, 7.
Jg., Nr. 1, Februar 1985, S. 9.) Schon die Begrifflichkeit solcher Angriffe, mit ihrer Unterstellung von
Konspiration und ihrer durchgehenden Gleichsetzung von Mengenappell (z. B. durch die Benutzung von
Massenmedien) und politischer Effizienz, sollte uns zu Bewußtsein bringen, was bei diesen unterschiedlichen
Loyalitäten dokumentarischen Formen gegen- über auf dem Spiel steht. [73]
Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß diese neuen Formen des Dokumentarischen zu einer Zeit, in der 
sich ein großer Teil der neueren Kritik und Theorie (und einer bestimmten Kunstproduktion) zuneh‐
mend mit der instrumentellen und ideologischen Wirkungsweise der Fotografie beschäftigen, sowohl 
im Bereich der Fotografie als auch in dem der Kunst immer stärker marginalisiert werden. Neben den 
unvermeidlichen  Problemen  des  Ausstellungsortes  und  der  Ausstellungsform  werden  solche  Unter‐
nehmungen auch von Fragen und Problemen der Selbstdefinition, der Intention, der Adressierung und 
des praktischen Funktionierens geplagt. Daß diese Fragen so beharrlich auftauchen, ist eine Folge der 
Ernsthaftigkeit und Ambitioniertheit der Arbeiten, nicht ihrer Schwäche. Indem sie die Grenzen des 
konventionellen Verständnisses der dokumentarischen Form erweitern und die Textualität der foto‐
grafischen Bildsprache thematisieren, versuchen diese Arbeiten, in einem doppelten Sinn kritisch zu 
wirken: nach außen hin, indem sie sich mit der sozialen und politischen Realität auseinandersetzen, 
und im Inneren, indem sie ihr kritisches Verfahren gleichermaßen auf sich selbst anwenden. 
 
Übersetzt von Wilfried Prantner [74] 
 

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