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Der Barbar als Kulturheld

Bazon Brock III: gesammelte Schriften 1991–2002,


Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man
wird, der man nicht ist

Buch
Erschienen
01.01.2002
Autor
Brock, Bazon
Herausgeber
Zika, Anna
Seite im Original: b-g

emergentia praecox
Von zivilisatorischen Minimalstandards liest man öfter,
von Inszenierung des Lebens,
von Arbeitsbiographien,
von Ohnmacht der Macht,
von affirmativer Überhöhung als Strategie des Widerspruchs,
von Fundamentalismus der Künste,
von ästhetischem Terror der Gottsucherbanden,
von der subversiven Macht des Alters,
von den Utopien als Ressourcen der Wahrheitskritik,
oder der Erzwingung von Dauer in der Politik der Unsterblichkeit,
bzw. von Avantgarden als den Repräsentanten des Neuen,
welches uns veranlaßt, das Alte, Überkommene mit neuen Augen zu sehen.

Das, wie gesagt, liest man immer öfter, und da freut man sich über die Bestätigung,
etwas Richtiges erkannt und etwas Wichtiges benannt zu haben, als man derartige
Neologismen kreierte, derartige Konzepte entwarf und derartige Strategien zur
Diskussion stellte. Ist mehr erwartbar, als diese Bestätigung nach Jahren und
Jahrzehnten? Leider doch: die Erfahrung, daß man den rechten Augenblick der
Wirkung der in der eigenen loyalen Kulturbande verpaßt hat, weil man fast immer
zu früh kam mit den Ein-, An-, und Aussichten: Ich leide an Emergentia praecox.
Und weil man sich die Loyalität von niemandem abfragen, gar abpressen ließ, also
alle kulturelle Legitimation seiner Arbeit aufgab, bleibt man ohne Stallgeruch, ohne
Identitätsmarke, ohne Heimat, ohne Partei, ohne kollegialen Kartellverbund, ohne
Marktmacht, ohne irgendeine Mitgliedschaft. Man ist also Künstler.

Künstler ist, wei seine eigenen Aussagenansprüche allein aus sich heraus vertritt
– beispielhafte Individualität; das ist nicht mehr Selbstverwirklichungsbohéme,
sondern Individualisierungszwang, die Zumutung der Bodenlosigkeit für jedermann.

Vier Bewegungsformen, jenen Zwängen zu entsprechen, werden im Titel dieser


jüngsten Arbeitsbiographie angegeben:
die Kritik an der Wahrheit,
die Ästhetik des Unterlassens,
der Barbar als Kulturheros und:
wie man wird, der man nicht ist.

1 Zur Kritik der Wahrheit


Wahr ist, daß wir gegenwärtig erleben, wie alles das, was wir verabredungsgemäß
bisher als genuin faschistisch verstanden, demokratisch legitimiert für unseren
Alltag bestimmend wird: Euthanasie; Eugenik; extralegale und präventive Tötung
von Staatswegen; Sippenhaft, Vertreibung/Deportation;
Lagerhaltung/Schutzhaft/Ghettoisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen;
Rechtsstaatsgarantie nur für Leute mit hinreichendem Vermögen, um alle
Instanzen über viele Jahre Prozeßdauer durchstehen zu können etc.
Das alles ist unabweislich wahr – aber wir müssen lernen, die Wahrheit mit den
alten Argumenten zu kritisieren: wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht Dasselbe.
Quod licet lovi non licet bovi. Mehr nicht?

2 Der Barbar als Kulturheld


Mitten im Bosnienkrieg wurde von deutschen Kulturgrößen Frank Castorf mit
hohem Preis ausgezeichnet „für seine Radikalität!“. Ein Skandal der präpotenten
Dummheit solcher Kulturgrößen? Seit Richard Wagners Regenerationsschriften ist
die Hymnik zum ästhetischen Terrorismus, zur Barbarei der Unmittelbarkeit und der
Erzwingung von dauerhaften Verbindlichkeiten nie verstummt – selbst in Zeiten
blutiger Kriege nicht, die eben als notwendige Maßnahme galten, die Dekadenz der
normalitätssüchtigen Bürger mit Stumpf und Stil auszurotten. Der Barbar war und
ist beraunte und berühmte Leitfigur des 20. Jahrhunderts, das so schnell nicht
enden wird. Von chirurgisch realisierter Körperkunst bis zur größten
Landschaftszerstörung aller Zeiten durch politisch korrekte Windkraftwerke, vom
Festterror per Musikmaschinen in jedem Dorf bis zur Vernichtung jeden politischen
Arguments durch die Deklaration der Love-Paradeals Polit-Demo mit Priveligierung
wird heute die Barbarei beschworen als Erlösung durch Auslöschung. Das eben
kennzeichnet Barbarei. Sie ist Investition ins Ende, in Götterdämerung, in
Untergang als Auferstehung. Fin-Invest heißt nicht nur Berlusconis
Megamachination, sondern unser aller Kulturheroismus.

3 Wie man wird, der man nicht ist


Nietzsche forcierte mit dem Imperativ zu werden, der man sei, die bürgerliche
Selbstzerstörung. Kulturnationales Idenditätspathos färbte alle Politik, sie wurde
blutrot oder erdbraun. Zwei Weltkriege reichten nicht als als pflichtgemäße
Einübung in die Prädestinationslehre: Werdet als Volk, was ihr zu sein vom
Schicksal bestimmt ward, nämlich Verteidiger Eurer genuinen, homogenen Kultur,
Ethnie und Rasse, deren Idenditätsanspruch Ihr mit allen Mitteln herauszubilden
und durchzusetzen habt.
Heute ist die Behauptung der eigenen kulturellen Idendität eine soziale Pflicht von
jedermann. Gegen die katastrophalen Auswirkungen solcher Idenditätspolitik im
Alltag von jedermann ergreife man möglichst schnell die postmodernen
Rollenspiele, deren Erfahrung nur eines vermittelt: jederzeit in jedem Kontext
anders sein zu wollen als man leider ist und in jeder Rolle sein zu müssen, der man
eben nicht ist. Das heißt Selbstaufklärung.

4 Die Ästhetik des Unterlassens


Säkularisierung der Kulturen als Legitimation des Politischen ist heute unsere
Aufgabe, wie es die früherer Generationen war, die Trennung von Kirche und Staat
durchzusetzen. Für zwei Drittel unserer Welt steht selnst diese erste
Säkularisierung noch aus, von der Säkularisierung der Kultur ganz zu
schweigen. Säkularisierung heißt Zivilisierung, charakterisiert durch das
Ernstfallverbot (Null-Tote-Doktrin), die Selbstfesselung (Stärke und Besitz
verpflichten zur Verantwortung), das Handeln als Unterlassen (Du sollst nicht …
omnipotenzkindisch oder machtwahnsinnig, also realitätsblind werden, denn
wirklich ist nur das, worauf wir bei aller Macht keinen Einfluß haben).

Wie ein Tun als Unterlassen betrieben werden kann und in die
Geschcihtsschreibung auch jene großen Ereignisse eingehen können, die nicht
geschahen, weil man sie verhinderte (wie in der erfolgreichen Bekämpfung des
Terrors), das üben wir in der Praxis der Künste; in der Beschränkung, heißt es dort,
liegt erst die Meisterschaft; less is more, less irritation is more clarity; Vollendung ist
eine Frage des rechtzeitigen Aufhörens und nicht die der Vollständigkeit. Und
herausragende Literatur, Kunst, Dramatik sind Arbeiten, die so perfekt erscheinen,
daß man nicht auf die Idee käme, sie außerhalb von Atelier, Theater und Museum
zu verwirklichen. Sie bleiben im musealen Containment als Archiv auf Dauer
gestellt, als Archiv der Erinnerung an das, was Gottseidank nie geschah.

In der Dekade, aus der die hier versammelten Texte als Bewegungsindikatoren für
Individualisierungszwang stammen, habe ich rund 900 Aktivitäten in Universitäten,
Museen, Galerien, Kunstvereinen, Unternehmen, Theatern, Fernsehstudios,
Redaktionen absolviert. Dieses umfassende Programm zu leisten, ermöglichte mir
Monika Hoffmann, Beauftragte des Volkes für die Bewahrung der Hoffnung, daß
Liebe dennoch gelingt.
Die vorliegende vierte Arbeitsbiographie realisierte Anna Zika, die als Muse des
Müssens zwischen Pflicht und Erschöpfungslust vermittelte.

Bazon Brock,
Wuppertal 2002
Seite im Original: 4
I Biographiepflichtig
Wie man wird, der man nicht ist. Mihilismus für Ich-Schwache

 1 Die Macht des Alters

 2 Wohin führt der lange Marsch? – Ein Gespräch mit Sabine Hering und Hans-
Georg Lützenkirchen

 3 Action teaching. Eine Privatvorlesung

 4 Animierte Animatoren

 5 Animation

 6 Tätertypen der Postmoderne – Trainer – Therapeuten – Moderatoren als


zeitgenössische Intellektuelle

 7 Rumorologie – Das Frankfurt der 60er Jahre – mein Gerücht

 8 Wer nicht über sich selbst spricht, hat nichts zu sagen. – Ein Gespräch mit
Jörg-Uwe Albig

 9 Mihilismus – Von der lustvoll-egoistischen Selbstverwirklichungsbohème zum


Terror der Individualisierung als Zuschreibung der Folgen dessen, was man nie
getan hat

 10 Future Sex. Die Zukunft von Liebe und Erotik – Ein Gespräch mit Jutta
Winkelmann und Gisela Getty

 11 Ich als Lothar

 12 Biographiedesign – Ulrich Löchter bitte zur Anprobe!

 13 Generativitätsquotient GQ – Maßzahl für Wirksamkeit – genetisch und


extragenetisch

 14 Psychopompos

 15 Der Hase im Staatswappen

 16 Selbstergänzung des Regenwurms

 17 Litanei für Wuppertaler


siehe auch:
Abschnitt Das Leben als Baustelle - Scheitern als Vollendung
in: Lustmarsch durchs Theoriegelände, – Musealisiert Euch!, Buch
Bazon malt als Apelles Fliegen auf Trauben – Zeuxis und Parrhasios bewundern
ihn.

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