Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Die „Renaissance des Humanismus“ durch die Rezeption des literarischen Erbes
mitzutragen, von der Klassik über den Realismus bis zur Exilliteratur: dieses Interesse wurde
von der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in den 40 Jahren ihrer Existenz stets
behauptet und bestimmte ihren Literaturkanon. Ansätze einer wahrhaft proletarischen
Literatur wurden – wie im Falle Bertolt Brechts – von den Kulturfunktionären als
„sektiererisch“1 angeprangert. Selbst nach den Erschütterungen von 1956 und der
sozialistischen Kulturrevolution ergaben sich an dieser Situation keine grundlegenden
Änderungen2, trotz des offenen Hervortretens von direkten oppositionellen marxistischen
Auffassungen im folgenden Jahrzehnt3. Der Widerspruch zwischen revolutionären und
restaurativen Bestrebungen bestimmte somit stets das Literaturfeld der DDR4.
Einigkeit herrschte allenfalls im Ressentiment gegen die „dekadente“ Moderne. Um
die äußerst widersprüchliche Entwicklung dieser Rezeption zu verstehen, gilt es in die
dreißiger Jahre zurückzuschauen, in denen sich die Radikalisierung politischer
Stellungnahmen im gesamten Spektrum zuspitzte. In diesem Sinne paradigmatisch war die
Rezeption Gottfried Benns: seine kurzfristige Sympathie für den nationalsozialistischen Staat
wurde ihm seitens der Kommunisten und Emigranten nie verziehen. Dieses Verdikt bestimmte
seine literarische Zukunft in der DDR: Benn wurde gestrichen. Seine Schriften durften weder
veröffentlicht noch verkauft werden, während er in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) in
1 Werner Mittenzwei, „Die Brecht-Lukács Debatte“, in: Sinn und Form, 1967/19, S.242.
2Nach der Bitterfelder Konferenz vom 24.4.1959 wurde der sog. „Bitterfelder Weg“ eingeleitet: Berufs- und
Laienkunst sollten mit der Perspektive ihrer Verschmelzung enger miteinander verbunden werden. Lukács war
zuvor ins Blickfeld der Kritik geraten, da er 1956 in Ungarn einer der führenden Theoretiker der Bewegung zur
Reform des politischen Systems in Richtung einer klassischen bürgerlich-parlamentarischen Demokratie war.
Schon 1964 auf der 2. Bitterfelder Konferenz wurde von Laienkunst jedoch kaum mehr gesprochen. Siehe dazu:
DDR-Geschichte in Dokumenten, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1998.
3 Am 11. Plenum des ZK der SED 1965 z.B. wurden literarische Positionen attackiert, die gesellschaftliche
Widersprüche und Erscheinungen der Entfremdung und der Bürokratisierung in der DDR angeblich völlig zu
unrecht darstellten und damit der von der SED entfalteten Ideologie von der harmonischen Entwicklung der
sozialistischen Gesellschaft in die Quere kamen.
4Für die Aufarbeitung des Themas, siehe: Wolfram Schlenker, Das „kulturelle Erbe“ in der DDR.
Gesellschaftliche Entwicklung und Kulturpolitik 1945-1965, Stuttgart 1977.
den fünfziger Jahren „trotz des zwölfjährigen Veröffentlichungsverbotes bald zum Thema
moralischer und literarischer Diskussionen“5 wurde. Moralisch wurde die Frage nach der
geschichtlichen Verantwortung des Schriftstellers gestellt, literarisch wurde er als
grundlegende Figur der modernen Dichtung gewürdigt. Es gibt demnach in der Beurteilung
Benns keinesfalls ein klares Oppositionsbild zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Frage
nach Benns Rezeption in der DDR bleibt gleichwohl zunächst eine Zumutung, da sie durch
eine offensichtlich limitierte Anzahl an Quellen erschwert wird. Wie in dieser Arbeit gezeigt,
hat jedoch eine späte Rezeption Benns stattgefunden, möglich geworden durch die
Neudefinition des Dekadenzbegriffes, sowie ein aufgearbeitetes Verhältnis zu Nietzsche und
zum Expressionismus. Um die Rezeptionsgeschichte Benns in der DDR in ihrer Entwicklung
nachvollziehen zu können, werden die relevanten Literaturdebatten der Vor- und
Nachkriegszeit zunächst kurz skizziert.
5 P.U. Hohendahl , G. Benn, Wirkung wider Willen, Frankfurt a.M. 1971 (im folgenden als WWW zitiert), S.21.
6 Max Hermann – Neiße, „Gottfried Benns Prosa“, Die Neue Bücherschau, 1929, S.376-380. In: WWW, S.35.
7 In Die Neue Bücherschau, Oktober 1929 (H.10 ). Zitiert nach GW II, S.277-283.
8 „Zur Problematik des Dichterischen“ in: Die Neue Rundschau, April 1930. Zitiert in: Gottfried Benn:
Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke (4 Bde), hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt a.M. 2000.
Band III: Essays und Reden, S.83-97. Im Folgenden abgekürzt als GW I, II, III, IV wobei Band I die Gedichte
sind, Band II Prosa und Autobiographie, Band III Essays und Reden und Band IV Szenen und Schriften.
und Becher gegenüberstellte: „Können Dichter die Welt ändern?“9 Während in Benns
Vorstellung das „Selbsterlebnis“ „turmhoch“ über das „Zeiterlebnis“10 gesetzt wird, stellte
Becher die Frage nach der „Wendung in der Zeit“, die auch den Dichter vor neue Aufgaben
stelle, um eine „bessere Zukunft“ mit aufzubauen. Die Debatte eskalierte vor dem
Hintergrund der politischen Radikalisierung bis zur Machtergreifung Hitlers. In seinem „Brief
an Gottfried Benn“ versuchte Klaus Mann 1933 ein letztes Mal erfolglos Benn für das Exil
und für das Engagement gegen den Staat Hitlers zu gewinnen, denn, schrieb er, „wer sich in
dieser Stunde zweideutig verhält, wird für heute und immer nicht mehr zu uns gehören“11.
Klaus Mann sprach das Urteil aus, das für die Emigranten und Kommunisten verbindlich
bleiben sollte.
1937 wurde der Meinungsstreit um den Expressionismus in der Emigrantenzeitschrift
Das Wort im marxistischen Lager ausgetragen, weitgehend bestimmt durch die Artikel
„Größe und Verfall des Expressionismus“ von Georg Lukács12 und „Nun ist dies Erbe
zuende“13 von Alfred Kurella14. Beide verwarfen den Expressionismus als verzerrte, in den
Faschismus mündende Antwort auf den aufsteigenden Imperialismus, obwohl jener in seinen
Anfängen von dem progressiven, anti-bürgerlichen Literatenkreis als revolutionäre Bewegung
gefeiert worden war. Werner Mittenzwei schreibt in Bezug auf die Expressionismusdebatte:
„Wichtig ist diese Literaturdiskussion weniger im Hinblick auf die Einschätzung, die der
Expressionismus erfuhr, als vielmehr durch das neue Verhältnis zum literarischen Erbe, das
damals von den Marxisten eingenommen wurde“15. Dieses Verhältnis kommt später
insbesondere im Streit klar zum Ausdruck, der Brecht und Lukács gegenüberstellte.
9 „Können Dichter die Welt“ ändern?“, gedruckt in: Literarische Welt 6, 1930. Zitiert in: GW III, S.97-103.
10 GW II, S.278f.
11 Zitiert nach: WWW, S.165.
12Georg Lukács, „Größe und Verfall des Expressionismus“ (1934), in: Essays über Realismus, Werke Bd.4,
Luchterhand 1971, S.115.
13Kurella zitiert Benn, der in Doppelleben (GW II, S.370) schreibt: „In diesem Hirn [dem von Pameelen] zerfällt
etwas, was seit vierhundert Jahren als Ich galt und wahrhaft legitim für diesen Zeitraum den menschlichen
Kosmos in vererbbaren Formen durch die Geschlechter trug. Nun ist dies Erbe zu Ende[…]“.
14 Erschienen 1937. In: WWW, S.200-204.
15 Werner Mittenzwei, „Die Brecht-Lukács-Debatte“ in: Sinn und Form 1967/19 S.235-269.
16Fritz Raddatz, „Mythos, Rausch und Reaktion. Rezeption der westdeutschen Literatur in der DDR-
Literaturkritik“, Frankfurter Hefte, 1973/88, S.197-208.
17 Siehe Fußnote 2.
18 Ernst Fischer, „Entfremdung, Dekadenz, Realismus“, Sinn und Form 1962/5, S.816-854. Zitat S.821.
19 Werner Mittenzwei, „Die Brecht-Lukács Debatte“, op.cit., S.251.
Dekadenz ist weit mehr in den Werken von Stefan George, Filippo Marinetti und Gottfried
Benn zu finden“20. Die Assoziation der Namen Marinetti und Benn erläutert, was Mittenzwei
unter Dekadenz verstanden wissen will, nämlich jeden Bezug zum Faschismus. Er orientiert
sich damit an die Neudefinierung des Begriffs, die Fischer 1962 unternommen hatte, um
daraus ein Plädoyer für Franz Kafka abzuleiten: trotz wachsender Dekadenzerscheinungen
sah Fischer, dass auch im gesellschaftlichen Niedergang neue, bedeutsame Ausdrucksmittel
zu entdecken seien. Fischers These war, dass die Frage der Dekadenz nicht notwendig an die
Auflösung des Kapitalismus geknüpft ist. Er zerlegte die herkömmliche Dekadenz-Theorie
„indem er den kulturbiologischen Begriff der Dekadenz durch den soziologischen Ausdruck
‚Entfremdung’ ersetzt[e]“21. Fischer hat sich energisch für Kafka eingesetzt, aber nie für
Benn, der als inhuman und faschistisch abgetan wurde. Ähnlich argumentiert Stephan
Hermlin dessen Definition von Dekadenz, darin besteht, „Literatur und Kunst dann als
dekadent zu bezeichnen, wenn sie barbarische Zustände apologetisch behandeln, wozu er das
Schaffen Jüngers und Benns rechnet, ohne zu leugnen, dass Benn eine Reihe bedeutender
Gedichte geschrieben habe. Diese Definition erlaubt, bisher als dekadent verschrieene
Autoren, aber auch künstlerische Techniken für die sozialistische Literaturentwicklung zu
nutzen“22. Somit wurden die Weichen für die Rezeption einiger Autoren der Moderne gestellt,
doch bei weitem noch nicht für Gottfried Benn.
20 Ebd.
21 H. Politzer, „Wer hat Angst vor dem bösen Franz. Franz Kafka erscheint im Osten“. In: Das Schweigen der
Sirenen, Stuttgart 1968, S.49.
22Lutz-Henner Richter, Die Rezeption Franz Kafkas durch die Schriftsteller der DDR, Actes du Colloque de
1983, Paris, S.114.
23 Helmut Kaiser, Mythos, Rausch und Reaktion. Der Weg Gottfried Benns und Ernst Jüngers, Berlin (Ost) 1962.
Helmut Kaiser, „Die ideologische Entwicklung G. Benns und E. Jüngers“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der
24
Humbolt-Universität Berlin, Gesellschaft und sprachwissenschaftliche Reihe 9 H.4, 1959, S.510-511.
25 Ebd.
26Stephan Hermlin, „Lektüre“ von Joseph Wulfs Buch Literatur und Dichtung im Dritten Reich , in: Sinn und
Form 1968/6, S.1487-1490.
27Weimarer Beiträge 1961/3, S.645-651: Rezensionen von: Ernst Nef, Das Werk G. Benns. Zürich, Verlag der
Arche, 1958; Günther Klemm, Gottfried. Benn. Wuppertal-Barmen: Emil Müller Verlag 1958; Dieter
Wellershoff, Gottfried Benn – Phänoptyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werkes.
Köln, Berlin, Kiepenheuer & Witsch 1958.
28Peter Reichel, „Artistenevangelium. Zu den theoretischen Grundlagen von Werk und Wirken des späten
Gottfried Benn“, Weimarer Beiträge 1973/1, S.128-160.
29 Ebd., S.128.
30 Ebd.
erwarten, die Geschichtlichen und die Tiefen, Verbrecher und Mönche“ gegen diejenigen, die
„handeln und hochwollen“31, haben ihn, so Reichel, schon immer von den „sozialistischen“
bzw. „progressiven bürgerlich-humanistischen Schriftstellern“ getrennt und „fast folgerichtig
ins Lager der Nationalsozialisten“ geführt32. Reichel sieht in Benns Forderung „aktuell“ zu
sein nur eine Scheinaktualität. Das moderne Vokabular setze nur ungenutzte Potenzen frei,
weil „die Sprache nur Oberflächenphänomene fixiert, ohne ihnen auf den Grund zu gehen.“
Benn halte zwar den gegenwärtigen Zustand der Welt fest, doch geschehe dies unter Verzicht
auf gesellschaftliche Wirksamkeit, unter rein formalen Gesichtspunkten. „Benn bereitet damit
wesentlich jene die westdeutsche Lyrik der fünfziger Jahre bestimmende Trennung von
Politik und Dichtung, Kunst und Gesellschaft vor“33. Reichels Artikel führt uns wieder zum
Kern der Debatten der dreißiger Jahre „über die Rolle des Schriftstellers in seiner Zeit“ und
die Rezeption Benns in der DDR nimmt die Positionen der Kommunisten und Emigranten
von damals wieder auf.
Mit Klaus Schuhmann ändert sich jedoch das Bild der Benn-Rezeption in der DDR. In
seinem Buch Weltbild und Poetik beschäftigt er sich mit der „Wirklichkeitsdarstellung in der
Lyrik der BRD bis zur Mitte der siebziger Jahre“ (Untertitel)34. In seiner einführenden
Problemstellung wird deutlich, dass er Benn keineswegs als isoliertes Phänomen betrachtet,
sondern seine Rönne- Novellen in direkter Nachfolge von Hofmannsthals Chandos- Brief und
Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge sieht, da alle drei Zeugnisse einer
„andauernden Krise des spätbürgerlichen Wirklichkeitsbewusstseins“ darstellen würden35. Die
Intention Schuhmanns ist, „die geschichtliche Genesis der theoretischen Postulate Gottfried
Benns sichtbar zu machen und ihre für die spätbürgerliche Lyrik des 20. Jahrhunderts
charakteristische Eigenart nachzuweisen“36. Seine Arbeit hat das Verdienst, sich ausführlich
zitierend mit dem Werk Benns auseinander zusetzen und sie dem Leser zu vermitteln, obwohl
er versucht, das sozialistisch-realistische Weltbild als das eigentlich Wahre herauszustellen
31 Ebd.
32 Ebd., S.129.
33 Ebd., S.134.
34 Klaus Schuhmann, Weltbild und Poetik, Berlin (Ost) 1979. Schon 1966 veröffentlichte Klaus Schumann den
Artikel „Lyrikprobleme der Jahrhundertmitte in theoretischer Sicht. (Die Theorie des Gedichts im Alterswerk
J.R. Bechers und G. Benns)“, in: Weimarer Beiträge 1966 S-Heft, S.81-99. Darauf kommen wir noch zurück.
35 Ebd. S.7.
36 Ebd. S.12.
und eine eindeutig positive Kritik Benns verweigert. Er verweist auf Benns „Probleme der
Lyrik“ von 1951 und setzt sich mit Benns Postulaten auseinander, nach denen die Dichtung
sich im wirklichkeitsfremden Selbstgespräch des lyrischen Subjekts genüge und die
Subjektivierung von Raum und Zeit zum Prinzip mache. Benn habe, so Schuhmann, „die
Resultate der modernen Naturwissenschaft [Relativitätstheorie und Quantenphysik] ganz im
Sinne seines Weltbildes“ interpretiert, um die Wirklichkeit als „ ‚unexistentes Sein’ ad
absurdum zu führen“37. Hier knüpft Schuhmann an die Expressionismusdebatte von 1937 an
und widerspricht Kurellas Standpunkt. Benn sei überhaupt nicht der Prototyp des
Expressionisten gewesen, ganz im Gegenteil: Zu den Expressionisten zählt Schuhmann jene
Künstler, die sich für den Sozialismus engagiert haben, für die meisten von ihnen sei das
Gedicht voller Glaube an den „neuen Menschen“ und an die Zukunft unvereinbar mit dem
Bennschen Isolationismus gewesen. „Weltbild“ und „Poetik“ werden unlösbar miteinander
verknüpft. Schuhmann räumt zwar ein, Benn habe einigen bedeutenden Dichtern der
Nachkriegszeit wie Peter Rühmkorf oder Hans Magnus Enzensberger38 „wichtige
Anregungen“ geliefert, so z.B. der Bruch mit vorgezeichneten Sprachklischees oder das
Montageverfahren (von Brecht als formalistisch angeprangert). Diese seien aber radikal
anders gewertet worden, v.a. um die „Wirklichkeit transparent zu machen“39. Schuhmann
macht hier einen Schritt in eine Richtung, die dem Verhältnis Brechts zur Moderne gleicht40:
anregende Methoden sind zu übernehmen und neu zu verwerten.
37 Ebd.
38 beide fanden in der DDR einige Anerkennung.
39 Ebd. S.30.
40 Siehe dazu: Werner Mittenzwei, „Brecht und Kafka“, in: Sinn und Form, Berlin 1963/15, S.618-625.
41 Becher war zudem von 1954 bis 1958 Minister für Kultur.
42 Klaus Schuhmann, „Lyrikprobleme der Jahrhundertmitte in theoretischer Sicht“, op.cit.
Weimarer Zeit erst in der letzten Periode seines Schaffens in den Bemühungen und genauer
im Poetischen Prinzip erneut zu sprechen:
Er ist geschieden, wie er lebte: streng, / Und diese Größe einte uns: die Strenge. / Uns beiden war
vormals die Welt zu eng. / Wir blieben beide einsam im Gedränge.
Unwürdig wäre ein: nihil nisi bene. / Der Juli summt ein Lied dir: „Muß i denn…“ / Mein Vers weint
eine harte, strenge Träne, / Denn er nahm Abschied von uns: Gottfried Benn.43
43 J. R. Becher, „Das poetische Prinzip“, in: Ausgewählte Werke, Bd. 3, Berlin 1971, S.332.
Einsamkeit und Strenge vereinte sie. Beide leugneten nie ihre Überzeugungen. Becher
bestätigt das Bild des unabhängigen Geistes, worauf auch Benn so großen Wert legte. Dieses
Gedicht entstand zu einer Zeit, in der Becher im Selbstzweifel vom diktatorischen Regime
Abstand nahm, dem er ein Leben lang verpflichtet war. Dies wirft ein nuancierteres Licht auf
Benns eigene politische Irrtümer und auf seine Einsamkeit, die als intellektuelle
Überlegenheit in Bechers Gedicht anerkannt wird. „Ich hatte die Wahl, Becher oder Benn zu
werden, und auch Benn konnte wählen. Wir haben uns für die entschieden, die wir geworden
sind. Damit soll gesagt sein, daß Benn ebenso die Möglichkeit hatte, ein Becher zu werden,
wie umgekehrt“44, schreibt Becher. Was Gemeinsamkeit stiftet bleibt jedoch relativ – so sieht
es auch Schuhmann der in seinem Artikel in erster Linie die Unterschiede zwischen den
beiden Dichtern hervorhebt. „Mehr denn je“, schreibt Schuhmann, „ging es [Becher] zu
Beginn der fünfziger Jahre […] darum, die gesellschaftlichen Zusammenhänge aufzuhellen,
die Benn ausdrücklicher denn je eliminierte“45. Benn hat im Alter nichts von seinen früheren
Positionen aufgegeben: In seinem Rundfunkgespräch mit A. Lernet-Holenia 1955 nimmt er
die gleichen Thesen wieder auf, die er in seiner Rundfunkdiskussion mit Becher 1929
vertreten hatte. In seinem Vortrag „Probleme der Lyrik“ von 1951 zitiert er sich selbst aus
„Epilog und lyrisches Ich“ von 1927. Schuhmann betont, dass Weltbild und Dichtung von
Becher und Benn auf die Lyrikprobleme der Jahrhundertmitte verweisen, denn ihr Werk stehe
„im Zeichen der historischen Alternative unserer Epoche“ und könne „als Modell
sozialistischer und spätbürgerlicher Dichtungsproblematik betrachtet werden“46.
Analog kann auch Brecht als Gegenposition zu Benn verstanden werden. Dem
Bennschen Motto „Im Dunkel leben, im Dunkel tun, was wir können…“47 steht Brechts Wort
„Jene lob ich, die sich ändern /, Und dadurch sie selber bleiben“48 gegenüber49. Brechts
Äußerungen zu Benn sind stets beißende Schmähschriften, so in Bezug auf Benns Gedicht
„Gesänge“ und insbesondere den Eingangsversen „Oh, daß wir unsre Ur-ur-ahnen wären. /Ein
Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“50. Dieses Gedicht Benns aus dem Band Alaska I
von 1913 entfaltet das Thema der Regression als Protest gegen die Vorrangigkeit der
Rationalität in der europäischen Kultur. Brecht schreibt dazu 1928: „Dieser Schleim legt Wert
darauf, mindestens eineinhalb Millionen Jahre alt zu sein. Während dieser Zeit ist er immer
von neuem geworden, mehrmals vergangen, leider immer wieder geworden. Ein Schleim von
höchstem Adel“51. Gegen Benns Definition des Denkens als a-kausale Funktion steht Brechts
Forderung nach einer Kunst, die der „sozialen Kausalität“52 auf den Grund geht. Brecht
gehört 1933 zu den literarischen Emigranten, die gegen Benn Stellung nehmen. Er ironisiert
Benns Dogma der Geschichtslosigkeit und kritisiert sarkastisch die dadurch bedingte
ästhetische Unverbindlichkeit: „In diesen Tagen las man in einer Zeitung, die sehr geachtet
war […] den Aufruf des deutschen Lyrikers an die literarischen Emigranten. Er war ebenfalls
sehr geachtet, teils weil seine Verse nur von wenigen gelesen werden konnten, was man ihm
als Reinheit anrechnete, […] teils weil er eine schöne Sprache hatte und im Zusammenstellen
von Wörtern aparter Art sehr gewandt war. […] Jetzt bekannte er sich emphatisch zum Dritten
Reich“53. Benns „Aristokratismus“ wird von Brecht zugleich politisch und ästhetisch
angegriffen, weil er nur inhaltlose Formen zusammenführe, weil er von den Schicksalen der
führenden Kräfte der Gesellschaft, nämlich der Arbeiterklasse, nicht bewegt werde und weil
er schließlich zu politischer Kurzsichtigkeit und nicht zuletzt zum Faschismus führe. „Schöne
Wörter zusammenzusetzen“, schreibt Brecht an anderer Stelle, „das ist keine Kunst. Wie soll
47 Aus der Hörszene Die Stimme hinter dem Vorhang, 1951, in: G.W. Bd. IV.
48 Bertolt Brecht, Gedichte, 9 Bände, Frankfurt/M. 1960-65. Zitat: Bd. 6, S.61.
49Die folgenden Ausführungen stützen sich auf: Theo Buck, „Autonomie und Gebrauchswert der Kunst: Benn
und Brecht“. In: Text und Kritik 44, 1985/3, S.34-48.
50 G.W. Bd. I, S.47.
51Bertolt Brecht, „Die Lyrik als Ausdruck“, in: Schriften zur Literatur und Kunst, Gesammelte Werke18&19,
Suhrkamp 1967, S.59. Zitiert nach: Theo Buck, op.cit, S.35.
52 Ebd., „Formalismus und Realismus“, S.290.
53 Ebd., „Notizen zu Gottfried Benn“, S.432f. Zitiert nach: Theo Buck, op.cit., S.36.
Kunst die Menschen bewegen, wenn sie selber nicht von den Schicksalen der Menschen
bewegt wird?“54 Das aristotelische „movere“ wird zum Politikum. Danach äußert sich Brecht
kaum noch zu Benn55. Die Formulierung Bechers trifft auch auf Brecht zu: die Gegensätze
zwischen Benn und Brecht sind Reflexe persönlicher Entscheidungen und Haltungen. Doch
nimmt man den Maßstab möglicher Wirkung, so gehören der Vertreter der
Gesellschaftslosigkeit und der absoluten Dichtung und jene der Gesellschaftlichkeit und der
„Literatur des Eingreifens“ zu den Prototypen unserer Lebensweisen und Denkpole. Das Bild
des Menschen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gewinnt durch sie die ganze
Weite seiner Möglichkeiten.
sei“59. Mehr noch als einen Prä-Expressionisten60 und Prä-Nihilisten sieht Benn in Goethe den
Mann der Verschlossenheit und des Schweigens, zwei Eigenschaften, die laut Butzlaff in der
modernen Lyrik von Mallarmé, Rimbaud und später in Hofmannsthals Chandos-Brief, „als
Grenzsituation des Dichters durchdacht und durchlebt wurden“ und von Benn „zum
Schlüsselwort seiner Gedichte“ erhoben wurden61. Mit einem solchen Vergleich wird erstens
die Frage der Rezeption der Romantik und der französischen „poètes maudits“ aufgeworfen
und zweitens wird Benn selbst in große Tradition eingegliedert. Butzlaff sieht wohl ein, dass
Benn aus solcher Nähe zu Goethe versucht hat, „seine eigene Position abzusichern, indem er
behauptet, sie sei schon bei Goethe vorgeprägt“,62 wobei er Goethe teilweise missbrauche. Zu
Benns Geschichtsverhältnis schreibt er: „Obwohl Benn einerseits als Anhänger der
Spenglerschen Kulturkreislehre63 jeglichen Fortschritt und jeglichen Sinn der Geschichte
leugnet, hat er andererseits ein scharfes Auge für die historischen Gegebenheiten seiner
eigenen Zeit und eine scharfe Zunge, um seine realitäts- und ausdrucksgeladene
Gegenwartsanalyse festzuhalten“64. Eben diesen Bezug zur Gegenwart hatte zuvor Peter
Reichel als formalistisch und leer angeprangert65… Wichtig bleibt die Tatsache, dass Butzlaff
diesen Vergleich macht und die Hauptkritik des Realitätszerfalls bei Benn dadurch mildert,
dass diese Erfahrung in den großen Werken der literarischen Tradition zu finden sei. Butzlaff
erkennt zwar, dass Benns Bekenntnis zur Verabsolutierung der Kunst neben dem „politischen
Irrweg“ der Jahre 1933/34 „eine der Hauptangriffsflächen, die Benn der Literaturkritik, und
namentlich der soziologisch orientierten bietet“66, doch geht er in diesem Artikel darauf nicht
ein. Relevant genug ist, dass Benns Beziehung zum Faschismus beschwichtigend als „Irrweg“
bezeichnet wird. In seiner Schlussfolgerung stellt Butzlaff die Frage nach dem aktuellen Wert
59 Ebd., S.396.
60 In seinem Aufsatz „Expressionismus“ bezeichnet Benn Goethe als Vorläufer des Expressionismus.
61 W. Butzlaff, op. cit., S.241. Benn bezieht sich auf den Satz Goethes aus den Wanderjahren: „Wenn man
einmal weiß, worauf alles ankommt, hört man auf, gesprächig zu sein.“ Zitiert nach: G.W. Bd. III, S.396.
62 Ebd. S.240.
63 Der Geschichtsphilosoph Oswald Spengler hat 1918 in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes
eine allgemeine Morphologie der Weltgeschichte entwickelt, deren Verlauf durch das organische Schema des
Dreierschritts von Blüte, Reife und Verfall bestimmt ist. Das Abendland befände sich laut Spengler in ihrem
Verfallstadium, was v.a. als Erlöschen der kulturellen Schöpferkraft zu verstehen ist.
64 W. Butzlaff, op. cit., S. 239.
65 Peter Reichel, „Artistenevangelium…“, op. cit.
66 Ebd. S.255f.
solcher Dichtung. Diesen Wert bejaht er auf unerwartete Weise: Er widersetzt sich dem
Vorwurf der „Flucht nach innen, eines Eskapismus weg von den Problemen der Menschheit“
und fragt „ob wir im Widerstand gegen Gewalt und Wohlstandsdenken nicht gerade bei Benn
Kraft schöpfen.“ Benn, der die Auffassung vertrat, dass an dieser „schaurigen“,
kapitalistischen, gewaltsamen Welt nichts zu ändern ist, denn alles sei „weder gut noch böse,
sondern rein fänomenal (sic.)“67! Ob übertrieben oder nicht, dieses engagierte Benn-Bild
stellte zweifellos einen großen Einschnitt in der Rezeption Benns in der DDR dar.
69 Ebd.
70 Ebd., S.155.
Siehe dazu: Christoph Eykman, Die Funktion des Hässlichen in der Lyrik Georg Heyms, Georg Trakls und
71
Gottfried Benns, Bonn 1965.
72 Ebd., S.157.
73 Thomas Böhme, „Das Erbe verfügbar besitzen“, Sinn und Form 1988/1, S.186-189.
der DDR eingebettet ist. Diese befindet sich wie Thomas Böhme in seinem Beitrag
hervorhebt74 1988 „im Zuge einer gerade beginnenden Expressionismus-Rezeption“75. Damit
will gesagt sein, dass die seit Brecht und Fischer immer wieder angesetzten und von den
Kulturfunktionären unterdrückten Ansätze nun endgültig durchbrechen. Symptomatisch ist
auch die nun ansetzende Rezeption Nietzsches: 1988 erschien im 1. Heft von Sinn und Form
ein maßgeblicher kollektiver Artikel unter dem Titel „Meinungen zu einem Streit“. Stephan
Hermlin betont darin, dass in den achtziger Jahren „manches Tabu gefallen“ sei und „nicht
nur eine Reihe Klassiker der Moderne […], sondern auch umstrittene Werke“ gedruckt
worden seien76. Er setzt sich hier mit den Meinungen von Wolfgang Harich auseinander, der
Nietzsche als „eine Art Satan“ betrachtet und mit ihm ganze Epochen der Weltkunst verwirft.
Hermlin dagegen sieht in Nietzsche „einen der anregendsten Schriftsteller der letzten hundert
Jahre, an dem kein Künstler unserer Zeit vorbeikam, […] als einen kranken Querdenker, […]
als einen Dichter, […] als einen Philosophen, von dem leider mehr als eine Verbindung zum
Faschismus hin reicht, was uns daran erinnern sollte, dass selbst Hegel unter den Faschisten
seine Adepten hat. Nietzsche existiert nicht in der DDR; ich halte das für einen Mangel, weil
Sozialisten an keiner wesentlichen Gestalt vorbeigehen können.“ Hermlin kann zudem nicht
akzeptieren, dass „alles, was je mit [Nietzsches] Werk in Berührung gekommen ist oder
gekommen sein könnte“ dem Verdikt Harichs unterliegt. Unter dieses fallen nicht nur Georg
Lukács oder Anna Seghers, sondern auch die ganze literarische Epoche „von Georg Heym,
Trakl und Werfel über Lorca, Aragon und Breton bis zu Majakowski“. Sicher trennt die
zitierten Schriftsteller ein wesentliches Merkmal von Benn: sie glaubten an den Menschen,
und setzten die Literatur für ihre Ziele ein. Doch auch Benn ist ein berechtigter Erbe
Nietzsches … Hermlin hat Benns politischen Irrweg nie für überwunden gehalten, obwohl
Benn sich ab 1936 vom Regime abkehrt, aber Benns Werke gehören zur den „umstrittene[n]“,
die nun gedruckt wurden. Rudolf Schottländer betont im nächsten Aufsatz77, dass es „kein
verzerrter, sondern der originale Nietzsche war, der auf Mussolini und damit auf den
italienischen Faschismus bestimmend eingewirkt hat“. Nietzsche gilt demnach genauso wie
Benn für Helmut Kaiser als „präfaschistischer Autor“. Hier kann ausgemessen werden,
74 Ebd.
75Dies geschah im Kontext einer Verschärfung des kulturpolitischen Klimas: offene Formen des Protests
organisierten sich und fanden insbesondere über den Westmedien den Weg zur Öffentlichkeit.
76 Stephan Hermlin, „Von älteren Tönen“, ebd., S.179-183.
77 Rudolf Schottländer, „Richtiges und Wichtiges“, ebd., S.183-186.
welchen Weg die marxistische Aneignung des Erbes zurückgelegt hat, seitdem Lukács und
Kurella einen Zug geradewegs vom Expressionismus in den Faschismus konstatierten.
78Siehe in Weimarer Beiträgen (1991/1) eine Umfrage an Schriftsteller „Zur Situation der Literatur-, Kunst-, und
Kulturwissenschaften“, die im 2. Band fortgeführt wurde. Selbstkritische Haltung, Aufschließung neuer
Wissensbereiche, Anschluss an den internationalen Dialog der Geisteswissenschaften wurden unter anderem
gefordert.
79 Sinn und Form 1990/3, S.555.
von Gerd Irrlitz: „Postmoderne-Philosophie, eine ästhetische Konzeption“80 mit dem vorher
herrschenden „Unverständnis gegenüber Avantgarden oder Postmoderne“81 brechen.
Interessant ist die neuansetzende Diskussion um Friedrich Nietzsche82. Der Akzent wird auf
den gesellschaftskritischen Erneuerer gesetzt, um das Image des „Präfaschisten“ zu
relativieren und den Missbrauch durch die Nazis zu entlarven83 und ebenso auf die
erkenntnistheoretische Wirkung und die Ästhetik Nietzsches84. Während sich um Ernst Jünger
ab 1992 eine rege Diskussion entfacht, sieht sie um Benn hingegen ziemlich spärlich aus.
Jens-F. Dwars kritisiert in seiner Rezension von Jürgen Haupts Duographie Gottfried Benn/
Johannes R. Becher85, dass „Benns faschistisches Engagement von 1933/34 verständnisvoll
als Konsequenz einer „totalitären Kunst-Theorie“ nach[ge]zeichnet“ wird, während das „Bild
des Antifaschisten Becher nicht frei vom Gestus verächtlicher Entlarvung“ sei. Daraufhin geht
es Dwars mehr darum, Becher gegen die Klischees des Parteifunktionärs zu verteidigen – die
Geschichte hat sich gewendet. Werner Jung86 zieht Wellershoffs Arbeiten über Benn heran,
um die Kritik letzteren an dem „Mitläufertum“ Benns herauszuarbeiten87. Benn ist eben nicht
„über alle Kritik erhaben“. Jung geht auch feinfühlig auf Wellershoffs Auslegungen von
Benns Ästhetik ein. Alles in einem ein Bild, das frei von werkimmanentem Lob und
polemischer Kritik ein angemessenes, dualistisches Bild Benns schafft – das hatte Wellershoff
schon in den fünfziger Jahren erreicht.
Dieter Wellershoff, Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines
87
Werkes, Köln 1958, S.244. Zitiert nach: Ebd.