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Nihilismus

X. Einleitung. 1. Zur Grammatik und Logik der Negationapart ikel. 2. Der Streit tun die
Begriffsgenesc. ü . Vorgeschichte in Mittelalter und Neuzeit: Annihilation und Nihilianis-
mus. 1. Kosmologisch-theologischer Kontext: Schöpfung aus Nichts und Weltvemichtung.
2. MotophyBisch-politischer Kontext: Nominalismus und mothodischer Annihilismus in
Naturrecht and Physik der Neuzeit. HI. Der Übergang zur modernen Welt: Nihilismus als
E ntw irklichung von Natur und Geschichte. 1. Idealismus und Nihilismus: D. Jonisch,
P. H. Jacohi, J. G. Fichte. 2. Ästhetizismus und Nihilismus: Dichtung und Kunstphilo-
sophio der Bomantik. 3. Religiöser und politischer Nihilismus: Atheismus, Egoismus und
Atomismus. 4. Dialektik und Geschichtlichkeit des Nihilismus: Hegel. 5. Nihilismus und
Hegelianismus: Der Geist der Revolution. IV. Pathogenese der Moderne: Nihilismus als
Entwertung der Werte. 1. Postrevolutionäre Begriffsdiagnosen. 2. Zwischen Pessimismus
und Anarchismus: Passiver und aktiver Nihilismus. 3. Theorie des Nihilismus: Nietzsche.
7 . Ausblick: Verwirklichungen des Nihilismus in Natur und Geschichte.

I. Einleitung

1. Zur Grammatik und Logik der Negationspartikel

Das Wort ‘Nihilismus’ ist abgeleitet von lat. ‘nihil’ , „nicht“ , ‘nihilnm’ , „nichts“ .
Die Negationspartikel ‘nicht’, mhd. ‘niht’, ‘nicht’, ahd. ‘niwit’, ‘neowiht’ , ist zusam­
mengesetzt aus ‘ni (co) wiht’, d. h. „nicht was“ , „nicht irgend etwas“ (‘wiht’ =
„kleines Ding“ , „Kleinigkeit“ ), analog zu lat. ‘nihil’, ‘ne hilum’ (d. h. ‘filum’, „nicht
ein Faden“ ), ital. ‘niente’ (von ‘ens’ , „Ding“ , hzw. ‘ne ette’, mundartlich: „nicht ein
Pünktchen“ ), franz. ‘ne pas’ (von ‘passus’ , „nicht einen Schritt“ ) bzw. ‘riens’ (von
‘res’). Die sprachliche Zusammensetzung bestätigt den logischen Sachverhalt, daß
sich jede Negation immer schon auf ein „Etwas“ bezieht. Primäres Verneinungs­
element ist im Deutschen die Partikel ‘ni', die noch in Ausdrücken wie ‘nie’, ‘nur’,
‘nimmer’, ‘niemals’ enthalten ist. ‘Nicht’ ist logisch wie etymologisch die Negation
zu ‘etwas’, so wie ‘niemand’ die Negation zu ‘jemand’ darstellt. Wortgeschichtlich
fungiert der Ausdruck zunächst als Substantiv an Stelle des heutigen ‘nichts’ , das,
aus der alten Doppelvcrstiirkung ‘nichtes-nicht’, ‘ganz und gar nicht’, gebildet, seit
dem 14. Jahrhundert mit ihm konkurriert und cs im Laufe des 16. Jahrhunderts aus
dieser Funktion verdrängt. Zurückgeblieben sind davon die Wendungen ‘mitnich­
ten’,‘zunichte werden’ und ‘zunichte machen’ 1.
Die Substantivierung der Ncgationspartikel ist sprachlich durch Voranstcllung des
bestimmten Artikels möglich, so daß es den Anschein hat, als wäre „das Nichts“
ein Eigenname oder ein Begrif&wort, das einen Gegenstand benennt. Diese Möglich­
keit ist vor allem in der theologisch-philosophischen Sprache (schon im Griechischen
t¿ fif¡ Sv) vielfältig genutzt worden, wo auoh Zusammensetzungen mit ‘Nicht’ (wie
Nichtwissen, Nichtachtung, Nichtchristen usw.) zuerst gebildet wurden. Wie der

1 Vgl. H e b m a k n P a u l , Deutsches Wörterbuch, 4. Aufl. (Hallo 1925), 378 mit dem Ver­
weis auf den älteren Sprachgebrauch in G o e t h e s Satz: Das schön geschriebene Buch, es ging
zunichte.

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Nihilismus I. 2. Streit um die Begriffrgeoeje

substantivierte Infinitiv des Verbum ‘sein’ , so verleitet auch die Substantivierbar-


keit der Negationspartikel ‘nicht’ immer wieder zu metaphysischer Spekulation, da
beide Worte (‘Sein’ und ‘Nichts’) den grundlegendsten Gegensatz zu formulieren
scheinen, der überhaupt denkbar ist2. Zwischen diesen Polen spannt sich die Be-
griffegeschichte des ‘Nihilismus’ im Sinne eines selber geschichtlichen, zur modernen
Welt gehörigen Versuchs, den Anspruch dessen, was ist (einer Tradition, Religion,
Institution usw.), in Frage zu bteilen oder ganz „in Nichts aufzulösen“ .

2. Der Streit am die BegrijQjsgcncso

‘Nihilismus’ ist ein Schlagwort der politisch-sozialen Bewegung und ein Grundbegriff
ihrer Theorie'zugleich. Am Ausgang der neuzeitlichen Aufklärung und im Übergang
zur Revolution der modernen Welt neu geprägt, erwächst er dem sprachlichen K on­
text von Wörtern wie ‘Fatalismus’ — der Vernichtung der Freiheit durch die kau­
sale Notwendigkeit alles Geschehens in der “Welt — , ‘Atheismus’ — der Behauptung
der Nicht-Existenz Gottes — , ‘Pantheismus’ — der Auflösung Gottes in der W elt—
und ‘Egoismus’ — der Reduktion der Welt auf das denkend-vorstellende Ich. Die
Endung -ismus drückt so etwas wie eine Lehrmeinung aus ; sie kann allen möglichen
Wortarten angehängt werden, ebenso die entsprechende Endung -ist, die den An­
hänger einer solchen Lehre ausweist. Parallel zu den Begriffsbildungen des ‘Egoisten’,
‘Pantheisten’ , ‘Atheisten’ usw. entsteht so der ‘Nihilist’ als eine den Skeptiker und
Weltmann des 17., den Aufklärer und Weisen des 18. Jahrhunderts ablösende Figur
des öffentlichen Bewußtseins — jene spezifisch „intellektuelle" Mischung von Philo­
soph, Skeptiker und Verneiner, die zuerst in der Französischen Revolution politisch
explosiv und von deren Gegnern aus dem Geist der französischen Aufklärung her-
geleitet wird: Nihiliste ou Rienniste. Qui ne croil à rien, qui ne s’intéresse à rien. Beau
résultat de la mauvaise philosophie, qui se pavane dans le gros Dictionnaire encyclo­
pédique! Que veut-elle /aire de nous? Des Nihilistes3.
Als Neologismus zuerst in Frankreich und dann in Deutschland notiert und in beiden
Sprachbereichen zwischen 1800 und 1850 weit verbreitet, fällt seine Gesohichtc nach
der Mitte des 19. Jahrhunderts zunäohst dem Vergessen anheim. Die Wortbildung
wird 1884 von J. T u r g e n j e w beansprucht, der in „Väter und Söhne“ (1862) eino
zentrale Romanfigur als ‘Nihilisten’ eingeführt und mit der politisch-sozialen Be­
wegung im Rußland der fünfziger Jahre verknüpft hatte: Die Figur des Basaroio
ist das Ebenbild eines jungen, kurz vor dem Jahre 1860 verstorbenen . . . Arztes, den
ich Icennengelernt hatte und in dem mir das verkörpert zu sein schien, was man später
Nihilismus nannte . . . Das von mir erfundene Wort „ Nihilist“ wurde von vielen auf­

* Vgl. J ea n P a u l S ar th e , L 'être e t le n ca n t (Paris 1943).


3 M e r c ie r t. 2 (1801), 143. Der „Nihilist“ ist .nach Mercier die Endgcstalt des „Frei­
geistes“ , „Atheisten“ und „Materialisten“ , dio zugleich die Gestalt des „Egoisten“ an-
nimmt-: Er ist ein Mensch, der sich ganz isoliert und zum Mittelpunkt des Universums gemacht
hat. Wünsche und Hoffnungen kennt er keine mehr. Er ist ein Egoist und hat das höchste
Wesen nur getötet, um selber an seine Stelle zu treten. Heute und ewig muß er allein leben, denn
die Hölle, das ist die Einsamkeit. L’an 2440, t. 3 (Paris 1791), 165.

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I. 2. Streit am die BcgrüTageneae Nihiliamiu

gegriffen, die nur auf eine Gelegenheit, einen Vorwand warteten, die Bewegung, die sich
der russischen Gesellschaft bemächtigt hatte, aufzuhalten*.
Obwohl unter Berufung auf diese und ähnliche Aussagen (z. B. bei F.Dostojcwsldj)
und z. T. auch im Anschlag an das Selbstverständnis der russisch-revolutionären,
zum Anarchismus tendierenden Bewegung ‘Nihilismus* uls Schlagwort einen spe­
zifischen Bedeutungskontext erhalten hat, besitzt ‘Nihilismus’ a b Grundbegriff der
Theorie des Übergangs zur modernen Welt eine Geschichte, die über die hier ge­
zogenen Linien weit hinausgreift. Sowohl für die Semantik des Begriffs als auch für
Beine pragmatische Verwendung ist der gemeincuropäische Ursprung nioht un­
wesentlich. Entgegen früheren Annahmen liegt er weder im Bußland des 19. Jahr­
hunderts5 noch im deutschen Sprachbcruich des späten 18. Jahrhunderts6. Die Be-
griffsgeschichte beginnt vielmehr mit den Versuchen der mittelalterlichen Philo­
sophie, den Inhalt der christlichen Offenbarungsreligion zu denken und den ursprüng-
lich-eschatologischen Glauben mit der Geschichte der Welt zu verbinden. Die mittel­
lateinsichen Vorbegriffe zu ‘Nihilist’ und ‘Nihilismus’ heißen ‘nichilianista’ = „der
an nichts glaubt“ , „Ketzer“ und ‘annihilare’ = „vernichten, verneinen“ , wobei
letzterer Ausdruck immer eine vollständige Vernichtung, nicht bloß die Zerstörung
im Sinne der Auflösung in Teile meint. Das ‘Nihilismus’ genannte Phänomen der
modernen Welt geht zuerst aus der Einheit von Christentum und Metaphysik (II),
dann aus dem Zusammenspiel von neuzeitlicher Naturwissenschaft, Metaphysik und
Aufklärung (DI) und zuletzt aus dem Umschlag der Aufklärung in die politisch-

1 Iwan Turgenjew , Literatur- und Lcbcnscrinncrungcn, Dt. Rundschau 10/5 (1884), 249.
253. Vgl. „Väter und Söhne", Kap. 5, wo cs im Original heißt: On nigilist . . . Eto ot
latinskogo nihil: niievo, in dt. Übers.: Er itl ein Nihilist . . . Das Wort muß aus dem latei­
nischen nihil = nichts kommen.
5 Dos ist seit M e ie e 4. Aufl., Bd. 12 (1888), 176 communis opinio in Wörterbüchern und
Lexika. Sic wird in der Gegenwart durch die für die engtischsprachige Welt grundlegende
„Enoyclopaedia Brittanica“ , vol. 10 (Ausg. 1967), 512 reproduziert: Nihilism is a philo-
sophy of skepticism that originated in 19th-century Bussia during the early ytars of the reign
of Alexander I I and was most dearly expressed in the literary criticism of Dimitri Pisarev.
The term (/rom the Latin nihil, nothing) was first used by Nikolai I Nadezhdin in an artide
in the Messenger of Europe, and it later was popularized by Ivan Turgenev in his edebrated
novd Fathers and Sons (1862). Vgl. auch das philosophische Standardwerk: The Encyclo-
pedia o f Philosophy, ed. F a u l E d w a r d s , vol. 5 (New York 1967), 514 if. sowie, für das
deutsche Bildungsbewußtsein repräsentativ, die irreführende Genealogie bei G o ttfr ie d
Bekn, Nach dem Nihilismus, Ges. Werke, hg. v. Dieter Wcllerahoff, Bd. 3 (München 1975),
718: Dieser Begriff gewann in Deutschland Gestalt im Jahre 1885j86, als das Werk „Der Wille
zur Macht" teils konzipiert, teils geschrieben wurde, dessen erstes Buch ja den Untertitd führt:
„D er europäische Nihilismus". Aber dieses Buch enthält schon eine Kritik dieses Begriffs und
Entwürfe zu seiner Überwindung. Wollen wir ihn noch weiter zurück verfolgen, wollen wir fest-
stdlen, wo und wann dieser schicksalhafte Begriff zum ersten Male in der europäischen Geistes­
geschichte als Wort und sedisches Erlebnis auftritt, müssen wir uns, bekanntlich, nach Bußland
wenden.
‘ Vgl. G eorg JX k o s k a , Zur Geschichte des Nihilismus, Sfcudia Philos. 29 (1970), 10 f.;
O t t o P ö o o e le b , Hegel und die Anfango der Nihilismus-Diskussion, Man and World 3
(1970), 165. Vgl. dagegen jetzt die Untersuchungen von G ü n t h e r B a u m , Vernunft und
Erkenntnis. Die Philosophie F. H. Jacobis (Bonn 1969), der auf die Begriffsverbindung zur
mittelalterlichen Theologie und Metaphysik aufmerksam gemacht hat.

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Nihilismus ü . 1. Koamologuch-iheologisclier Kontext

soziale und der Naturwissenschaft in die industrieE-technische Revolution (IV)


hervor, der das „Ende der Metaphysik“ herbeiführt. Die Geschichte des Begriffe ist
dadurch gekennzeichnet, daß sie in mehrere Phasen zerfällt, mit denen sich ganz
verschiedene Bedeutungen verbinden. Jede Phase ist von der anderen unterschie­
den, weshalb der Eindruck entstehen konnte, daß bei der Feststellung der späteren
Bedeutung eine Erinnerung an die frühere überhaupt nicht vorhanden war, sondern
jedesmal eine Neubildung aus demselben Wort ‘nihil’ vorliegt7.

n . Vorgeschichte in iVfittelnltAr nnri Nttiirait; Annihilntion nnri NihilinniBmnq

1. Kosmologisch-thcologischcr Kontext: Schöpfung ans Nichts und Weltvernich-


tung

Nach spätantiker Doxographie geht der Grundsatz, daß nichts sei (ovx laxtv), auf
den Sophisten P r o t a g o r a s zurück8. Der Gedanke des Nichts ist in der klassisch­
antiken Philosophie (Aristoteles) ontologisch, in der Doppelung des Seins nach dem
Begrifispaar von Möglichkeit (Svvd/iei Sv) und Wirklichkeit (¿vcQyeltf, h x oi>),
aufgehoben. Das der Möglichkeit nach Seiende ist ein N icht-Soiendes, das
seine Wirklichkeit noch nicht erlangt hat. Das „Nichts“ bezeichnet einen Mangel an
Sein — „Beraubung“ (ar^gijaic) seiner Seinswirklichkeit und nicht ihre Vernich­
tung oder den Hervorgang „aus Nichts“ . Seine Entfaltung findet der Gedanke des
Nichts erst mit der Umdeutung des Dynamis-Begrifis zur Schöpferkraft Gottes in
Spätantike und frühem Christentum (Augustin). Das Christentum läßt darüber hin­
aus den Menschen als dasjenige „Seiende“ sehen, das inmitten der Vernichtung, des
Leidens und des Todes seine Auferstehung und den Durchgang zu neuem Leben
gewinnt, da es überhaupt in der ihm eigenen Weltauslegung mit dem Gedanken der
Schöpfung aus Nichts das „Sein“ der Welt mit dem „Nichts“ zusammondenkta.
In der spekulativ-theologischen Ausdeutung dieses Zusammenhangs ist die früh­
christliche Philosophie merklich zurückhaltend. A t jo u s t in spricht vom „Nichts“
nur bedingungsweise, nämlich im Hinblick auf die für den Menschen und überhaupt
alle Geschöpfe notwendige Erhaltung der Schöpfung durch G ott : S i potenliam suam,
ul ita dicam, fabricatoriam rebus subtrahat, ita non erunt, sicut ante quam fierent non
juerunt10. Ähnlich argumentiert G r e g o r d e r G r o s s e , wenn er die Größe dor
Schöpferkraft Gottes mit dem Hinweis auf eine kosmologisch sonst unaufhebbare
Tendenz alles Geschaffenen zum „Nichts“ beschreibt: Cuncta quippe ex nihilo facta
sunt, eorumque essentia rursum ad nihilum, tenderet, nisi eam auclor omnium regiminis
manu retinerel11. Der Gedanke des Nichts oder der einer Vernichtung aller Dinge

7 Ich beziehe mich auf Formulierungen von W ilhelm WuNnT, Völkerpsychologie, 2. Aufl.,
Bd. 1/2 (Leipzig 1904), 679. Vgl. noch den Aufsatz von H ermann W ein : Zur Rechtferti­
gung des Nihilismus. Aus Anlaß seines 100. Geburtstages, Merkur 17 (1963), 821 ff.
* S e x t u s Eiipnuros, Advereus mathematicos 7, 05, 77 ff.
* Vgl. den Diskussionsbeitrag von H a n s T h o s i z u W e in s Nihilismus-Aufsatz: Wie alt ist
der Nihilismus ?, Merkur 18 (1964), 496 ff.
10 A uqüstin, De civitato Dei 12, 25; Be genesi ad litteram 4, 12.
11 G h e c o r d e b G r o s s e , Moralium libri 16, 37. Mioke, Potr. Lat., Bd. 75 (o. J.), 1143.

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0 ,1 . Kosmologuch-lheologucher Kontext Nihilkmiu

ist für sich selber grundlos; jedenfalls kann der Gott, der die Welt aus dem Nichts
geschaffen hat, nicht selber Grund eines solchen Gedankens sein. Nach A n s e l m v o n
Ca>terbury hätte er sonst die Schöpfung unterlassen: Non ideo, id guod erat redil
in non esse, quia ipse jacit non esse; sed quia cessal /acere esse12.
X)er zusammenfassende Ausdruck für die kosmologisch-theologische Problematik
des „Nichts“ und der „Vernichtung“ heißt ‘annihilatio’ . Abgeleitet aus mittellat.
‘annihilare’, „vernichten“ , tritt er explizit erst in der hochmittelalterlichen Scho­
lastik (Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Bonaventura) auf. Im exegetischen
Kontext der christlichen Esohatologie bildet er den Gegenbegriff zur Lehro von der
Schöpfung.aus Nichts und deren Fortsetzung in der Erhaltung des Geschaffenen.
Zusammen mit den kosmo-theologischen Grundtermini ‘creatio’ und ‘transsubstan-
tiatio’ gehört dabei ‘annihilatio’ begriffssystematisch zum Genus m eta p h y sisch er
Veränderung (mutatio metaphysica). Während im Genus p h y s isc h e r (einschließ­
lich g e s c h ic h tlich e r) Veränderungen beide Pole (Ausgangs- und Endpunkt) posi­
tiv, als verschiedene, in der Erfahrung gegebene Zustände bcschreibbar sind, wild
dem Genus metaphysischer Veränderungen zufolgo im Fall der S ch öp fu n g der
Ausgangspunkt, im Fall der V e rn ich tu n g der Endpunkt der Veränderung als
„negativ" gedacht. ‘Annihilatio' meint nicht bloß die Zerstörung, Umwandlung
oder Auflösung eines Gegebenen in Teile, sondern dessen Verschwinden.
Der neutestamentlichen Konzeption der Eschatologie, eines (tiber-natürlichen)
„Endes aller Dingo“ durch Annihilation im Sinne einer totalen „destructio rei in
nihilum“ steht das alttestamentarische Konzept der Aichaiologie, die Vorstellung
des übernatürlichen Schöpfungsanfangs, gegenüber, das dem Vernichtungsgedanken
seine Schärfe nimmt. Die Fähigkeit zur Vernichtung kann nur dem Schöpfer aller
Dinge, d. h. Gott, zugesprochen werden. Weil Gott aber sein Schöpfungswort nicht
widerruft (Pred. 1, 4; 3; Weish. 1,14), bleibt die Annahme einer vollständigen Ver­
nichtung des Geschaffenen ein bloßes Begriffsspiel. Das esohatologische Geschehen
wird keine Weltvcmichtung, sondern nur eine verklärende Umgestaltung der be­
stehenden Schöpfungsordnong bringen13.
Daß die Annihilation im kosmo-theologischen Bahmen christlicher Heilsgeschichte
keine positive Bedeutung besitzt, haben gegenüber frühchristlichen Endzeiterwar-
tungen und ihrem Wiederaufleben im Mittelalter Bonaventura und Thomas von
Aquin hervorgehoben. Gegen H uoo v o n St. V i c t o r , der die Rückführung aller
Dinge ins Nichts als eines der Werke Gottes aufgezählt hatte (sexlum opus hoc est
aliquid in nihilum redigere)1*, merkt B o n a v e n t u r a an, daß cs sich hierbei nicht um
eine positive Wirkursache, sondern allein um das Fehlen einer Ursache zur Erhal­
tung des Geschaffenen handeln könne: Gott ziemt (decet) es, die Schöpfungsordnung
zu erhalten15. Nach T h o m a s v o n A q u i n schließen die Gott zuzusprechenden Prä­
dikate der Unveränderlichkeit und Selbständigkeit den Vemichtungsgedanken.aus,
während für alles Geschaffene der Satz gilt: inquantum ab ipso (i. e. Deo) ex nihilo

11 A n s e l m v o n C iN T E itm m Y , De casu diaboli 1.


13 Vgl. H e l m u t K o h l e n b e b o e b , Art. Annihilation, Hist. Wb. d. Philos., Bd. 1 (1971), 333.
14 Huoo v o n St. V i c t o r , Db sacramentis christianae fidei 1, 0, 37.
19 B o n a v e n t u h a , In secundum librum sententiarum, dist. 37, art. 1, qu. 2. Opera omnia,
t. 2. (Quaracchi 1885), 866.

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Nihilismus ü . 2. MeUphyiLtch-politiicher Kontext

potuerunt produci in esse, ei de esse possuni reduei in non essclt. Thomas differenziert
zwischen M ö g lich k e it und T a ts ä ch lic h k e it einer Annihilation aller Dinge,
"Während er die erstere boj aht, verneint er— in Anknüpfung an den Seinsbegriff der
griechischen (Aristotelischen) Philosophie — die zweite: Simpliciter dicendum esc
quod nihil omnino in nihilum redigetur11.
Neben der Verwendung des Annihilatio-Begriffs in der Eucharistielehre18 treten
weitere Ausdrücke zur Umschreibung der Negätionspartikel in der Christologie so­
wie in der spätmittelalterlichcn Mystik auf. Umstritten ist im 12./13. Jahrhundert
die von Poter Abälard und anderen verteidigte Lehre, daß Christus nach seiner
menschlichen Natur keine Selbständigkeit besitzt und folglich in gewisser Weise
„nichts“ (kein Individuum usw.) sei. Diese Lehre wird von ihren Gegnern ‘Nihilianis-
mus’, ihre Anhänger werden ‘Nihilianisten’ genannt — eine Bezeichnung, die bald
auf alle „Andersgläubigen“ oder „Ketzer“ , nicht zuletzt auch auf die Vertreter einer
„negativen Theologie“ (Meister Eckardt) übertragen werden konnte.

2. Metaphysisch-politischer Kontext: Nominalismus und methodischer


Annihilismus in Naturrecht und Physik der Neuzeit

Parallel zu einer im Offenbarungsmysterium fundierten Glaubensfrömmigkeit löst


sich im Übergang vom Hohen Mittelalter zur Neuzeit die Annihilatio-Spekulation
aus dem tradierten Kontext von Schöpfungslehre und Eschatologie. Dio Kosmo-
Theologie wird in eine nominalistische Denkweise übersetzt, die Materie und Form
der Dinge schroff gegenüberstellt. W il h e l m v o n O c k h a h versteht unter ‘annihila-
tio‘ teils traditionell den Gegenbegriff zu ‘creatio’ (wonach gilt: creatura non polest
annihilare)19, teils neuzeitlich die „Negation“ der Form, dio keinerlei fundamenttun
in re besitzt: Sic forma per corruplionem verissime annihilalur, sicut enim ante pro-
duclioncm. sui juit purum nihil, sicut post erit purum nihil20. Indem derNominalismus
die Form nicht mehr kosmologisch in ihrem Bezug zum doppelten Seinsbegriff der
Aristotelischen Tradition versteht, kann sie auf das erkennend-wahmehmendo Sub­
jekt zurückbezogen und nls sprachliche „Sotzung“ verstanden werden.
Im Zuge der Erweiterung der nominalistischen Interpretation gewinnt damit der
Begriff ‘annihilatio’ einen neuen Bedeutungsaspekt. Der Gedanke der Weltvernich­
tung wird methodisiert und darüber hinaus mit dem der Sohöpfung synthetisiert.
Das Nichts ist nicht weniger wirklich als das Sein: Ens particulare finito esse constal
et infinito non-esse, heißt es in C a m p a n e l l a s „Metaphysik“ , mit der Folgerung:
Ergo non-esse jacit ul sit aliquid non minus quam esse11. Nach N. T a u h e l l u s ist dio

“ T homas vo n A q u in , Summa thcologiac 1, qu. 9, art. 2.


17 Ebd. 1, qu. 104, art. 3—4. Vgl. auch De potentia Dei quaestiones, qu. 5, art. 3 f.
11 Vgl. P et r u s L o m b a b d u s , In quartum librum sontentianun, dist. 11, c. 2. 108; A l u e e -
tü s M a o n u s , In quartum Iibram sententiarum, dist. 11, a 7; T homas v o n A q u in , S. th. 3,
qu. 76, art. 3.
i' W ilhelm v o n O ck h a m , In secundum librum sententiarum, qu. 7 J.
“ Ebd.
» T hom a s Ca j t p a n il l a , Universalis philosophise seu metaphysicarum rerum juxta'
propria dogmata partes (1638), 2, 6, 1.
0, 2. Metaphysisch-politischer Kontext Nihilismus

xnateria prima, deren Gott zur Weltschöpfung bedarf, das nihilnm, so daß die Dinge
Produkte Gottes und des Nichts sind und deshalb.teils Sein, teils Nicht-Sein haben’ 2.
Weil Gott die Welt aus Nichts geschaffen hat, kann sie jederzeit als ins Nichts zu-
lückfallend betrachtet werden.
Der Prozeß der Nominalisierung führt im 17. Jahrhundert zu einer fortschreitenden
„Entwirklichung“ der Begriffe von „Sein“ und „Nichts“ . So stellt sich für Francis
B a c o n das kosmo-theologische Problem der „annihilatio“ im Kontext der Physik
ab Frage nach der Erhaltung der Materie. Unter Hinweis auf die Allmacht Gottes
wird die Möglichkeit einer allgemeinen Weltvemichtung zwar nicht bezweifelt, ihr
Eintreten jedoch mit der Berufung auf die „leges naturales“ abgewehrt (itague
summa maieriae iotalis semper constat; nil additur, nil minuiturj23, weshalb Bacon
an den Inhalten der Annihilatio-Spekulation selber nicht mehr interessiert ist24.
Vom methodischen Ansatz der neuzeitlichen Physik (Galilei) und Metaphysik
(Descartes) angestoßen, hat Thomas Hobbes im Rahmen einer Weiterführung des
nominalistischen Interpretationsprogramms den Vernichtungs- und Schöpfunga-
gedanken aufgenommen und in der Selbstmächtigkeit des erkennend-handelnden
Subjekts zentriert. ‘Annihilatio’ ist sprachlicher Ausdruck für ein Gedankenexperi-
ment, das den Unterschied von Form und Materie verwischt und an die Stelle des
Ganzen, der Einheit von Natur und Geschichte, das „Chaos“ der Elemente einer
neuen Schöpfung und ihrer Beherrschung durch Wissenschaft setzt. Dia der All­
macht Gottes vorbehalteno Möglichkeit der „creatio ex nihilo“ wird säkularisiert
und auf den Menschen als alter deus übertragen. Nachdem bereits der Neuplato-
niker F. P a t r i z i die Gewinnung des Kaumbegriüs vom Gedanken der Rückkohr
aller Dinge ins Nichts abhängig gemacht hatte (Nam si mundus prorsus corrumpatur,
alque in nihilum redigalur . . . spacium in quo nunc mundus ut in loco est, inane pror-
sus remanebit)2S, läßt H o b b e s die Physik als Lehre vom Körper methodisch mit
dem Qegenbegriff zur „creatio ex nihilo“ — der. „annihilatio“ — beginnen, um den
Gegenstand der physikalischen Erkenntnis ex primis fundamentis aufbauen zu
können26. Indem Wissenschaft die Schöpfung nachahmt, fallen in ihr Wcltvernich-
tung und Weltschöpfung zusammen. Die Naturwissenschaft schafft eine neue Welt,
die sich aus Zahlen, Figuren und der Bewegung von Körpern zusammensetzt.
Der nominalistisoh-konstruktivistische Wissenschaftsbegriff von Hobbes1 Physik
setzt sich in der politischen Philosophie fort. Genetisch ist das Verhältnis eher um­
gekehrt: Der Vemichtungsgedanko erwächst der Erfahrung des Bürgerkriegs und
der Revolution. Er wird zuerst in der L eh re v o m N a tu rzu sta n d („Elements of
Law“ 1640 — „D e civo“ 1642) artikuliert und von hier aus auf dio Physik („Do
corpore“ 1655) übertragen: Die Rede vom status naturalis bezeichnet den Bruch
sowohl mit dem klassisch-aristotelischen Theorem vom Primat des politischen Gan­
zen gegenüber den Teilen als auch mit der biblisch-christlichen Archaiologie des
paradiesischen Anfangs der Menschengeschichto. Politik beruht auf dem „Chaos des
Sittlichen“ (Hegel) — der Auflösung des Staats (civitas) als bürgerlicher Gesellschaft

! l N ic o l a d s T a t o e l l u s , De rcrum actcrnitato (1604), p. 409.


53 F e a n c is B a con , Historia densi et rari, Aditus, Works, vol. 2 (Ndr. 1963), 243.
2‘ Ders., Thoughts on the Nature o f Things, Works, vol. 5 (Ndr. 1983), 426 f.
SJ F ran ce sco P a t iu zi , N o v a de universis philoBophia (V enedig 1691), 4 , fol. 65.
“ H o b b es, Do corpore 2, 7, 1.

377
N th iliim nj ü . 2. M ctaphysîjch-politischcr K ontext

(societas civilis) in die sich bekämpfenden einzelnen, (smguli). Dem. Gedanken der
Weltvernichtung und ihrer Neuschaffung durch Wissenschaft korrespondiert die
Idee der Auflösung des politischen Ganzen in das „Nichts“ der wechselseitigen Ver­
nichtung (bellum omnium contra omnes), vor dem allein das „Sein“ des Leviathan
— der politisch-absolute Staat — zu bewahren vermag. Die Sprache der Politik
macht daher Gebrauch von semantisch-negativen Ausdrücken, die den im Interesse
der Selbsterhaltung notwendigen Ausgang aus dem unverschuldeten Chaos recht-
fertigen sollen. Es ist die Funktion des „Negativen“ (nihil), der politischen Begrifis-
bildung nützlich und zur Unterscheidung zwischen vor-bürgerlioher und bürger­
licher Lebensweise unentbehrlich zu sein. Um ein Beispiel zu nennen: die Freiheit
(libertas) des einzelnen im bürgerlichen Zustand definiert Hobbes nicht mehr positiv
(als Teilhaberrccht an der Freiheit des politischen Ganzen), sondern negativ:
‘Freiheit’ heißt die Abwesenheit (absenlia) von äußeren Hindernissen*7. Wozu dann
selbstverständlich auch die Abwesenheit jener Hindernisse gehört, die in der Regel­
losigkeit des Naturzustands die Freiheit eines jeden mit der von jedermann unerträg­
lich machen, auf eine allgemeine, semantisch-negative Sprechweise gebracht, die
Hobbes auch sonst bevorzugt: die Abwesenheit der Abwesenheit der Freiheit2'. Im
politischen Kontext fungiert so der Begriff ‘annihilatio’ als Operator des neuzeit­
lichen „Naturrechta“ , der später so genannten „Menschenrechte“ .
Die Umdeutung des Gedankens der „creatio ex nihilo“ zu einem Gedankenexperi­
ment und die Übertragung der „annihilatio“ auf das erkennend-handelnde Subjekt
erfährt durch die Verknüpfung mit dem Cogito-sum-Grundsatz der Cartesianisehen
Metaphysik und dem weitreichenden Einfluß der kabbalistisch-mystischen Tradition
(z. B. auf Spinoza) eine weitere Radikalisierung. L’anéantissement de ce qui nous
appartient en propre, vermutet bereits L eibn iz , porté fort loin par les Quiüistes,
pourvoit bien être aussi une impitié déguisée chez quelquesuns. Leibniz spricht davon,
daß dem Schleier des Nichts, der sich über die neuzeitliche Metaphysik verbreitet
habe, ein allgemeiner „Umsturz“ der moralisch-praktischen und natürlich-theologi­
schen Begriffe folgen werde, dem nur die „emendierte“ Philosophie — das System
der. vorherbestimmten Harmonie — abhelfen könne19.
Die düsteren Prognosen von Leibniz verschwinden zunächst hinter dem optimisti­
schen Denken der Aufklärung. Im Systementwurf von Chr. W olff wird die tradi­
tionelle Begrifijsproblematik nur mehr unter dem formalen Aspekt der Ontologie als
einer Lehre von der Denkmöglichkeit der „Dinge überhaupt“ thematisiert, in der
der Begriff des „Nichts“ (nihil) dem des Etwas (aliquid) folgt. Während dem ‘nihil*
im engeren Sinne kein Gegenstand korrespondieren kann, korrespondiert dem
‘annihilari’ das Aufhören eines Wirklichen, die Auflösung von Form und Materie
zugleich: Annihilari dicitur, si, quoi existit, ita existere desinit, ul nihil eins amplius
actu su-persil™. Leibniz’ Gedankon aufgreifend, bezieht Wolff den radikalisiorten

*’ Ders., Do cive 1,12 f.; Leviathan 2, 21: Libertas significat proprit abientiam imptdimen-
torum mol-ua extemorum; Do cive 13, 15.
s* Ebd. sowie De cive 15, 7; Lev. 3, 43.
!* Vgl. L e i b n i z , Theodizee 1, § 10. Opera, t. 2 (1839), 482 mit Nouveaux Essais4,8, Philos.
Sehr., hg. v. C. J. Gerhardt, Bd. 5 (1882), 443; Seientia generalis, ebd., Bd. 7 (1890), 127fF.
50 C h r i s t i a n W o u t , Philosophia prima sive ontologia (1729; Ausg. Frankfurt, Leipzig
1730; Ndr. Hildesheini 1982), § 540. Vgl. §§ 57—70.

378
HJ. Übergang zur moderceu Welt Nihilismus

Ansatz der neuzeitlioh-nominalistischen Metaphysik auf eine „Sekte“ , die das Be­
stehen aller Dinge mit Ausnahme des Ich vernichtet. Es ist die Seide der Egoisten,
die den Dingen der Welt und Gott eine nur ideelle Existenz in der menschlichen Seele
zuschreibt und deshalb auch unter der Bezeichnung 'idealistische Sekte’ auftritt.
‘Egoismus’ und ‘Idealismus’ sind für Wolff nicht theoretisch-neutrale Begriffe für
metaphysische Lehrmeinungcn, sondern Ausdruck einer praktischen Gesinnung.
Obwohl Wolff davon spricht, daß es einige für töricht hallen, Egoisten im Ernste zu
widerlegen, weil es Leute wären, die man als Toren lachen sollte, hält er daran fest,
daß die .Sekte, ebenso wie die der „Atheisten“ und „Fatalisten“ , eine böse Gesinnung
dokumentiert, die es zu hassen und mit Argumenten zu bekämpfen gilt51.

DI. D er Übergang zur modernen W elt: Nihilismus als Entwirklichung von


Natur und Gcachichto

Das Harmonie-System der Leibniz-Wolfischon Philosophie gerät unter dem Einfluß


des englisch-französischen Sensualismus und der Kantischen Vemunftkritik in die
Krise.
Krisenindikator ist der Begriff ‘Nihilismus’, der sprachlich aus dem ‘Annihilismus’
und ‘Nihilianismus’ der mittelalterlich-neuzeitlichen Metaphysik, in der Sache
aber aus dem Kampf gegen die neuen Sekten der „Egoisten“ , „Atheisten“ und
„Fatalisten“ hervorgeht. Die Begriffsbildung erfolgt teils im historischen Kontext
von Darstellungen der „Ketzerei des Nihilianismus“ , die mit dem Sektenwesen der
Aufklärung analogisiert wird, teils im philosophischen Kontext des neuzeitlichen
Nominalismus, dessen metaphysische und politische Problematik in Fichtes „An­
nihilation“ (Schelling) der natürlichen Welt des Menschen zutage tritt. Dabei sind
die älteren Ausdrücke den Kritikern der Aufklärung und der ihr zugehörigen Meta­
physik gegenwärtig, die, wie F. H. Jacobi und F. Schlegel, an der neuen Begriffs-
bildung hervorragenden Anteil haben. Daß die Wende zum Nihilismus am Über­
gang von der Aufklärung zur Revolution der Entzweiung der Metaphysik in ex-
trem-nominalistische Denkrichtungen entspringt, hat F. S o h l e o e i . notiert: Unge­
achtet Idealismus und Realismus in absolutem Gegensatz gegeneinander stehen, so ist
doch sehr leicht von dem einen Extrem zu dem ändern iiberzuspringen. Beide führen
leicht zum Nihilismus . . . Sollte der Nihilismus nicht ein eigenes bestimmtes System
bilden

S1 Ders., Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, 4. Aufl.,
Tl. 2 (Frankfurt 1740), §§ 3C0. 173. 270. 389; Tl. 1, §§ 2. 944 u. ö.
31 F r i e d r i c h S c h l e o e l , Philosophische Vorlesungen ans den Jahren 1804 bis 1806, hg. v.
C. J . H . Windischmann, Bd. 2 (Bonn 1837), 476. Vgl. weitere Belege ebd., 428. 486. Die
sprachliche Gleichsetzung von ‘Nihilianismus’ und ‘Nihilismus’ erfolgt oxplizit in Schlegels
Kölner Vorlesung zur „Entwicklung der Philosophie“ (1804/05): Mehrere jener Mystiker
haben auch, da alle Prädikat* und Qualitäten immerhin doch bestimmt und beschränkt sind,
mithin der negativen Idee der Gottheit kein Prädikat, keine Qualität beigelegt werden kann, die
Idee der Gottheit sehr konsequent als das unendliche Nichts erklärt und ihre Denkart Nihilismus
genannt, SW 2. Abt., Bd. 12 (1964), 132 f. Das Wort ‘Nihilianismus’ ist in der Vermittlung
durch Joh. Andreas Cramer (dem Fortsetzer von Bossnets Gcschichtswcrk) auch für Jacobi
sprachliches Vorbild gon-esen. Vgl. JACQms B iy io y j: B o s s o t t , Einleitung in die Ge­
schichte der Welt und Bcligion, Tl. 7 (Leipzig 1786), 1 £T. F r i e d r i c h H e i n r i c h J a c o b i er-

379
WihiliwmtiH m . 1 . Idcalism tu und NihilUm os

1. Idealismus und Nihilismus: D. Jcniscli, F. U. Jacob!, J. G. Fichte

‘Nihilismus’ ist ursprünglich ein term inu s te ch n icu s zur Bezeichnung des kon-
sequent-nominalistischen Standpunkts des Kritizismus, wonach der menschlichen
Erkenntnis nur das M a te ria l— ein „Chaos des Mannigfaltigen“ — vorgegeben ist,
während das Ganze des Erkenntnisgegenstands erst durch Anschauungs- und Denk­
formen des erkennenden Subjekts „erzeugt“ wird. Indem der von Kant so genannte
kritische Idealismus unser Wissen auf „Erscheinungen“ einschränkt und den Grund­
satz der gänzlichen Irrealität menschlicher Erkenntnis in Rücksicht der „Dinge an
sich“ vertritt, stellt er den äußersten Endpunkt in der Entwicklung der neuzeit­
lichen Metaphysik dar. Der Kant-Kritiker D. Jenisoh spricht zuerst vom Gedanken
des unbedingten transzendental-idealistischen Nihilismus, der bis hin zu Leibniz nicht
gedacht worden und in seiner Vermessenheit fast noch schauerlicher sei als der Ge­
danke ewiger Vernichtung der eigenen Existenz. Der „Nihilismus“ der Transzenden-
talphilosophie ist die Vollendung jenes Vemeinungsstandpunkts, den der Annihilis­
mus der Metaphysik in seinen verschiedenen Spielarten (bei Berkeley so gut wie bei
Thomas Reid und Bonnet) artikuliert. Was der Kritizismus „annihiliert“ , ist nicht
nur die Welt, sondern das Selbst des Menschen und damit Gott, der Welt und
Mensch geschaffen hat. Er enthält, auf die gewöhnlichsten Dinge des praktischen
Lebens und unter ändern auch in die Geschichte übertragen, den offenbarsten Atheismus
und Nihilismus ( das letztere ist das eigentlichste Wort für die Sache)33.
In dieser Assoziation — der Nihilismus ist ein radikalisierter Atheismus — wird das
W ort auch bei F. H. J a c o b i eingeführt, genauer: im Kontext dc3 geschichtlich
folgenschweren Atheismus-Streits, der in der Schule Kants (Fichte) aufbricht.
Jacobi gebrauchtes zunächst pragmatisch,nämlichin annähernd gleichmäßiger Ver­
teilung auf jene zwei Parteien, die unter dem Namen von Materialismus und Idealis­
mus als Anhänger uni Widersacher des Positiven im Zusammenspiel von nominalisti-
scher Wissenschaft und Metaphysik während der Aufklärung entstanden sind31.
Jacobis Hauptgegner ist aber nicht der Realismus in seinen extremen Varianten von
N a tu ra lism u s und M aterialism u s, sondern der Id e a lis m u s, den er — nach
der Terminologio der Leibniz-Wolfischen Schule — zunächst ‘Egoismus’ nennt.
Der Mensch erkennt nur, indem er begreift, und er begreift nur, . . . indem er Gestalt
zur Sache, Sache zu Nichts macht . . . Wir begreifen eine Sache nur, insofern wir sic
konstruieren, in Gedanken vor uns entstehen, werden lassen können. Insofern wir sie

wähnt das Werk in der 7. Beilage zu den Spinoza-Briefen, Werke, Bd. 4/2 (Leipzig 1819),
142. Vgl. dazu jetzt B atch , Vernunft und Erkenntnis (s. Anm. 6), 42ff. Die Ausdrücke
'Annihilation' und ‘annihilieren’ treten bei S c h e l l q j o , SW Bd. 3 (1927), 297 und Scim EO KL,
Philosophische Vorlesungen, Bd. 2, 420. 428 auf.
33 D a x t e l J e k i s c h , Uber Grund und Wert der Entdeckung des Herrn Professor Kant in
der Metaphysik, Moral undÄsthotik (Berlin 1796), 200.274.273.203.— Vor Jenisch scheint
das Wort bereits in der (anonymen) Kant-Kritik: Der wiederkommende Lebonsgeist der
verzweifelnden Motapbysik. Ein kritisches Drama zu neuer Grundkritik vom Geist des
Lebens (Berlin 1787) verwendet worden zu sein, über die K a r l R o s e s k r a k z , Geschichte
der Kantschen Philosophie (Leipzig 1810), 362 berichtet
34 F. H. J a c o b i , Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung (1811), Werke, Bd. 3
(Leipzig 1816), 332. 3S0.

380
XXI, 1. Id calu m tu u n d N iliiliam ni Nihilism us

nicht konstruieren, in Oedanken nicht selbst hervorbringen können, begreifen wir sie
nicht. TPenn daher ein Wesen ein von uns vollständig begriffener Gegenstand werden soll,
so müssen wir es objektiv— als für sich bestehend— in Gedanken aufheben, vernichten,
um es durchaus subjektiv, unser eigenes Geschöpf — ein bloßes Schema — werden zu
lassen.
Das Schöpferwort des Gottes der Metaphysik — „Es werde Nichts“ — schlägt um
iu Solbstvergöttemng, die Jacobi — nach der Formel: „Ich bin — des Nichts“ —
in der Ich-Philosophie von Fichtc und dem jungen Schelling am Werke sieht35. Die
egologisch zentrierte Vernunft der „Widersacher des Positiven“ vernimmt nur sich
selbst und sonst „Nichts“ — sie wird zum N ih ilism u s: Wahrlich, mein lieber Fichte,
so lautet der einführende Kontext im Sendschreiben an Fichte (1799), es soll mich
nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sei, Chimärismus nennen wollen, was ich dem
Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze2*. Die Semantik des Wortes
umspielt das Spannungsfeld zwischen beiden Parteien: ‘Nihilismus’ ist eine Parole.
Jacobi hat sie wahrscheinlich nicht selbst gebildet, sondern von M. Claudius als
polemische Bezeichnung für seine eigene Position empfangen: A u f den Vorwurf von
religiösem Materialismus, so heißt es in einer noch vor der Fichte-Auseinander­
setzung begonnenen Claudius-Rozension (1798), sich selbst verborgenem Bilder- oder
Götzendienst, den wir dem Boten machen, gibt er uns den Vorwurf von religiösem
Chimärismus, Phantasterei, Sdbstgötterei, Nihilismus zurück; und beide Vorwürfe
haben so viel zu ihrer Rechtfertigung beizubringen, daß im streng ■philosophischen
Rechtsgange zwei gewandte Advokaten bis zur Vertilgung beider Behauptungen das Für
und Wider f ortsetzen könnten, dergestalt, daß kein Recht zu finden mehr übrig bliebe1’’ .
Im Streit um das neue W ort sollte es nach Jacobi nicht zu einem Prozeß, es sollte
zum Vergleich der Parteien kommen. Die dazu nötige Bestandsaufnahme liefern
einerseits die Reflexionen zur Situation der Zeit („Woldemar“ 1779; „Eduard All-
wills Briefsammlung“ 1792), andererseits die. Studien zur Verbindung von natur­
wissenschaftlicher Mechanik und Metaphysik (Briefe „Über die Lehre des Spinoza“
1786), die'in scharfsinnige Untersuchungen über die „nihilistischen“ Implikationen
neuzeitlicher Wissenschaft einmünden. Grundzug des Zeitalters ist jener Wille zum
„Nichts“ , der sich in Genußsucht und Streben nach Reichtum ebenso kundgibt wie
in der Haltlosigkeit der Politik’ 8 oder im Anspruch der Wissenschaft, den Halt in
der Zeit von ihr selbst her „erzeugen“ zu können. Die Wissenschaft der Neuzeit
besteht in dem Selbsthervorbringen ihres Gegenstandes, sie schafft das Wahre und die
Wahrheit, ist selbständig durchweg und verwandelt alles außer ihr in Nichts3’ .
Während der Gedanke des Nichts im metaphysischen Wissenschaftssystem des 17.
Jahrhunderts den Anfang bildet, ist er im Idealismus und Materialismus des 18. Jahr­
hunderts R e s u lta t. In der Gestalt von Spinoza und Hobbcs ist die Mechanik meta­
physisch, in der von Eichte die Metaphysik mechanisch geworden. Wenn sich Wissen
und der Aufbau von Wissenschaft einzig der „Erzeugung“ ihres Gegenstands oder

35 Dere. an Fichte, ebd., 20 ft


»« Ebd., 44.
17 Ders., Göttliche Dinge, 291. Die Rezension ist cingearbeitot in die Schrift: Von den gött­
lichen Dingen und ihrer Offenbarung. Vgl. Vorbericht zur ersten Ausgabe, ebd., 257 ff.
3» Vgl. ders., Woldemar, Werke, Bd. 6 (1820), 145 ff. 216 ff.
38 Dere., Vorbericht zu: Heber die'Lehre des Spinoza, Werke, Bd. 4/1 (1819), X X IX .

381
Nihiüjmofl III« 1. Ideolümiu and Nihiliimtu

der K o n s tr u k tio n verdankt, ist über alle Formvemichtung Mnaus auch das
Material — Kants Ding an sich — Produkt der sich-wissenden Subjektivität. Das
Philosophieren der reinen Vernunft, so umschreibt Jacobi die Fichtesche Vollendung
des nominalistisehen Erkenntnisansatzes, muß also ein chemischer Prozeß sein, wo­
durch alles außer ihr in Nichts verwandelt wird, und sie allein übrig läßt — einen so
reinen Geist, daß er, in dieser seiner Reinheit, selbst nicht sein, sondern nur alles heraor-
bringen kann; dieses aber wieder in einer solchen Reinheit, daß es ebenfalls selbst nicht
sein, sondern nur als im Hervorbringen des Geistes vorhanden, angeschaut werden kann:
das Gesamte eine bloße Tat-Tat*°. Der Gedanke der Wcltvemichtung geht mit dem
der Tat einher, was Jacobi in einer Maxime zusammenfaßt, die späteren Losungen
der politisch-revolutionären Bewegungen präludiert: Vernichtend lernte ich er­
schaffen*1.
Die Alternativo zum philosophischen TFtssen des Nichts sieht Jacobi in einer Philo­
sophie des Nicht-Wissensli, die dem klassischen Begriff von Philosophie und zugleich
der Situation des Mensohen als eines endlichen "Wesens entspricht, dem das „Sein“
in vielfacher Weise, in der Einheit von Natur und Geschichte, von Leben und
Sprache, von Ich und Du, zuletzt aber in der Gestalt des Glaubens an einen per­
sonalen Gott, vorgegeben ist43. Die Philosophie des Nicht-Wissens findet ihr Kom­
plement in einer Glaubensphilosophie, die Tendenzen zur „Entwirklichung“ des
Denkens und Handelns auflösen und überwinden soll.
Den Einwand, daß Philosophie als Wissenschaft, d. h. in Gestalt der „Wissenschafts­
lehre“ , notwendig nihilistisch sei, hat F i c h t e als Invektive notiert und an Jacobi
zurückgegeben. Da3 Verständnis des Idealismus ab eines „Chimärismus“ , der vom
Wirklichen ab-und zum „Nihilismus“ hinführt, ergibt sich aus Jacobis Vorannahmo,
durch Philosophie könne ein neues Leben erlebt und der verlorengegangene Glaube
des Zeitalters an die Realität des Göttlichen wiederhergestellt werden, so daß er,
da er dies nicht in ihr findet, sie des Nihilismus bezüchtigt41. In der Sache hat Fichte
dem Einwand Recht gegeben und in den neuen Darstellungen der Wissenschafts­
lehre (ab 1801) den Anfang des Wissens wieder in ein „reines Sein“ gesetzt, das sich
jedoch nicht der Unmittelbarkeit des Glaubens, sondern vermittelnder Reflexion
erschließt. Insofern besteht der Nihilismus-Verdacht, der über Fichte hinaus auch
auf Schelling und den jungen Hegel ausgedehnt wird15, fort. Das Reflektieren der
Wissenschaftslehre, die „dialektische“ Methode von Setzung und Entgegensetzung
der Begriffe im sich-wissenden Ich, blieb, wio Fichte rückblickend erkennt, der Grund
ihres vermeinten Nihilismus. Sie hieß ein Reflekliersyslcmie. Die Überwindung des

10 Sers, an Ficht«, Werke, Bd. 3, 20.


11 Ebd., 23.
4t Ebd., 44.
4J Ders., Über eine Weissagung Lichtcnberga, ebd., 233.
44 F i c h t e , Zu „Jacobi an Fichto", NW B d . 3 (183S), 390 f. Neben ‘Nihilismus’ ist ‘Annihi­
lation’ im Kreis von Fichto ein Modewort. Vgl. das Tagebuch von Karl vonSavigny, in:
Fichto in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, hg. v. H a s s S c h u l z (Leipzig 1923), 128.
48 Vgl. K a j e t a n v. W e i l l e r , Der Geist der allemeuesten Philosophie der H. H. Schelling,
Hegel und Kompagnie, 1. Hälfte (München 1803), 195; F r a n z B e b o , Sextus oder über die
absolute Erkonntnis von Schelling (Würzburg 1804), 95.
44 F i c h t e , Die Wissenschaftslehre v o n 1813, NW Bd. 2 (1834), 325.

382
UI. 2. Ästhelmjxnos und Ntliilifimtu Nihlltumna

Nihilismus kann nicht in bloßer Abkehr vom Reflektieren und in der Rückkehr zum
Glauben, sie kann allein in der vollendeten Reflexion liegen, die den „Chimärismus“
des Begreifens durchbricht. Was wäre denn, so fragt Pichte sich selbst und seine
Kritiker, das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus zu entgehen ?
Das Wissen erkennt sich als bloßes Schema: darum muß es doch wohl irgendwo auf
reiner Realität jußen: eben als absolutes Schema, absolute Erscheinung sich erkennen.
Man muß darum grade reflektieren bis zu Ende. Die Reflexion, als vernichtend die
Realität, trägt in sich selbst ihr Heilmittel; den Beweis der Realität des TFtssens eben
selbst1'1.

2. Astlictizisrnus und Nihilismus: Dichtung und Kunstphilosophic der Romantik

Die Irritierung im Selbst- und Weltverhältnis des Menschen, die vom Zusammen­
spiel zwischen neuzeitlicher Wissenschaft, Aufklärung und Metaphysik (in der histo­
rischen Doppelgestalt von Materialismus und Idealismus) ausgeht und mit dem
Übergang zur Moderne als ‘Nihilismus1bezeichnet wurde, dauert nach der Epochen­
schwelle von 1800 an. Sie ist— auch ohne den Gebrauch des Wortes— exemplarisch
in der romantischen Dichtung zur Sprache gebracht worden, die damit auf eindring­
liche Weise das Vergebliche der Fichteschen Bemühung um Selbstheilung der Re­
flexion bezeugt. Die generell-philosophische Diagnose der Entwirklichung im Den­
ken und Handeln wird hier um individuelle Erfahrungen der „Leere“ erweitert.
Leererfahrungen vermitteln G enuß s u c h t, L an ge weileund T od. Paradigmatisch
ist die Figur des ä s th e tis ch e n E g o is te n , der über sich selbst die Welt und die
Kommunikation mit dem Mitmenschen, einem „D u“ oder dem geschichtlichen „Wir“
von Staat und Gesellschaft, verliert. Die Menschen uni was sie wollen und tun, so
beginnt F. S c h l e g e l s „Lucinde“ (1801), erschienen mir, wenn ich mich daran er­
innerte, wie aschgraue Figuren ohne Bewegung: aber in der heiligen Einsamkeit um
mich her war alles Licht und Farbe**. Der Einsame, wie ihn Schlegels „Idylle eines
Müßiggängers“ unter dem Namen Julius beschreibt, ist weder Heiliger noch Eremit
noch jener seiner selbst bewußte Bürger, der — nach dem klassischen Topos bürger-
lich-humaner Lebensformen — von der Einsamkeit zur Gesellschaft überwechselt.
Im Genuß der Kunst wie im Genießon des Lebens verschließt er sich in sich selbst—
eine Gestalt, die alles außer ihm, selbst die Erfahrung des a lter ego in der Liebe,
„reflektiert“ und so in seiner eigenen Egoität „annihiliert“ . Der Gestalt des Müßig­
gängers und großen Einsamen, der nicht mehr Bürger sein will und Attribute der
Bürgerlichkeit ablegt, tritt die des Künstlers zur Seite, der die Kunst als bloßes
Spiel versteht. Mit dieser — von der klassischen Dichtung (Schiller, Goethe) nicht
geteilten — Auffassung kommt es zu dem spezifisch ästhetizistischen Mißverständ­
nis der romantischen Kunstphilosophie, ihrer Gleichsetzung des „Lehens“ mit dem
„Spiel“ , die die Bindung der Kunst an das Leben auflöst und damit den Begrifis-
topos der „höchsten Kunst“ — der (ethisch-politisch verstandenen) L eben sku n st
— nivelliert, bis sie ihn schließlich ganz um den Kredit bringt. Ob ich mit Worten

*’ Ebd., 325 f.
** F. Schlegel, Lucinde, SW 1. Abt., Bd. 5 (1982), 7.
NUuli*mufl m . 2 . Ä a l h c t u d s m a s a n d N i h ilh t n n a

oder Karten, Definitionen, Würfeln oder Versen spiele, so fragt L. T ie o k s Romanheld


William Lovell, gilt das nicht alles gleich?*3
Aas dom Ansatz der romantischen Kunsttheoric folgt, daß auch die Kunst kein
Palliativ gegen den „Nihilismus“ sein kann. Die Abgründigkeit des „Nichts“ wird
bereits in H ö l d e r l i n s „Hyperion“ erfahren: 0 ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr
auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und
durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir
geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben ans Niehls, uns abarbeiten
für Nichts, um allmählich überzugehen ins Nichts — was kann ich dafür, daß euch die
Knie brechen, wenn ihrs ernstlich bedenkt f . . . Wenn ich hinsehe im Leben, was ist
das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im Geiste, was ist das Höchste von
allem? Nichts50. Die für die Romantik repräsentativen Werke beschwören alle jene
Nichts-Erfahrungen, die für seine Heraufkunft im 19. Jahrhundert entsoheidend
sind. Sinnbilder des Nichts sind neben Nacht und Tod die alltäglichen Wieder­
holungen des Daseins: Geschäftigkeit und Nichtstun, Wachen und Schlafen, der
Rhythmus der Zeit in Wechsel und Wiederkehr von Stunden, Tagen, Jahren usw.
Das Schauspiel der Welt, so heißt es in W a c k e n b o d e r s „Fragment aus einem
Briefe Josef Berglingers“ , war für diesen Tag zu Ende . . . Alles hatte nun Waffen­
stillstand, um morgen von neuem, wieder loszubrechen: — und so immer fort, bis in die
fernsten Nebel der Zeilen, wo wir kein Ende absehen.— Ach! Dieser unaufhörliche, ein­
tönige Wechsel der Tausende von Tagen und Nächten, — daß das ganze Leben des
Menschen, und das ganze Leben des gesamten Weltkörpers nichts ist, als so ein un­
aufhörliches, seltsames Brettspiel solcher weißen und schwarzen Felder, wobei am Ende
keiner gewinnt als der leidige Tod, — das könnte einem in manchen Stunden den Kopf
verrückensl. Poetischer Höhepunkt in der Beschwörung des Nichts sind die „Nacht­
wachen des Bonaventura“ (1804), die mit diesem Wort enden: Ich sehe dich nicht
mehr, Vater — wo bist du? — Bei der Berührung zerfällt alles in Asche, und nur auf
dem Boden liegt noch eine Handvoll Staub, und ein paar genährte Würmer schleichen
sich heimlich weg, wie moralische Leichenredner, die sich beim Trauermahlc über­
nommen haben. Ich streue diese Handvoll väterlichen Staub in die Lüfte und es bleibt —
Nichts! Drüben auf dem Grabe steht noch der Geisterseher und umarmt — Nichts!
Und der Widerhall im Gebeinhause ruft zum letzten Male — Nichts!12
Die ästhetische Theorie jener Irritation, die in der romantischen Dichtung (bei
Novalis und Eichendorff ebenso wie bei E. Th. A. Hofrmann und den europäischen
Zeitgenossen Byron, Leopardi und Lermontow) überall zu Wort kommt, wird bei
J e a n P a u l auf den Begriff des ‘poetischen Nihilismus’ gebracht. Jacobis Inter-
pretationsschema der neuzeitlichen Metaphysik folgend, gowinnt J. Paul dio Be­
griffsbestimmung aus der Entgegensetzung zum ‘poetischen Materialismus’. Wenn

° L u d w io T ie c k , William Lovell, Sehr., Bd. 7 (1828; Ndr. Berlin 1966), 183.


30 H ö l d e r l i n , Hyperion, SW, hg. v. Friedrich Beißner, Bd. 3 (Stuttgart 1958), 47 f.
51 W i l h e l m H e i n r i c h W a c k e n r o d e r , Phantasien über die Kunst für Freunde der Konst,
Tl. 4 (1799), Wcrkou. Br. (Ausg. Heidelberg 1967), 217. Vgl. dazu den Aufsatz von W e r n e r
K o h l s c h m i d t , Nihilismus der Romantik, in: ders., Form und Innerlichkeit (Bern. 1975),
157 ff., dem ich vielfache Belehrung verdanke.
12 [ C l e m e n s v . B r e n t a n o ?], Nachtwachen des Bonaventura (Ausg. Hoidelborg 1912), 160f.

381
jfl, 3. Religiöser und politischer Nihilismus Nihilismus

man nach einer Wortdefinition von ‘poetisch’ im vor-metaphysischen Verstände


s u c h t , so beginnt J. Pauls „Vorschule der Ästhetik“ (1804), dann ist die alte aristo­

telische, welche das IFescn der Poesie in einer schönen (geistigen) Nachahmung der
Natur bestehen läßt, darum, verneinend die beste, weil sie zwei Extreme ausschließt,.
nämlich den poetischen Nihilismtts und den Materialismus“ . Poetische Nihilisten
sind die Romantiker, die eine Kunst ohne Natur produzieren — nach J. Paul eine
Folge jener gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes, der lieber ichsüchtig die Welt
und das All vernichtet, uni sich nur freien Spielraum im Nichts auszuleeren. Ge­
genstand der Kunst ist in der romantischen Dichtung die Kunst selbst, der Künst­
ler, der damit zum Nachbarn der Nihilisten wird. Ein Seiten- und Wahlverwandter
der poetischen Nihilisten, wenigstens deren Lehenvetter, ist Novalis, der in seinem
Ktlnstlerroman „Heinrich von Ofterdingen“ die Entwirklichung des Poetischen nur
in der Gestalt des Bergmanns durchbricht, — eben weil er selber einer gewesen6*.
Nihilismus wie Materialismus verletzen den „Geist“ der Dichtkunst, der nach Ver­
einigung des Stoffc3 mit der Form verlangt: Dem Nihilisten mangell der Stoß und
daher die belebte Form; dem Materialisten mangelt belebter Stoff und daher weder die
Form, kurz, beide durchschneiden sich in Unpoesie. Der Materialist hat die Erdscholle,
kann ihr aber keine lebendige Sede einblasen, weil sie nur Scholle, nicht Körper ist;
der Nihilist will beseelend blasen, hat aber nicht einmal SchoUess. Die Auflösung des
Gegensatzes liegt in der „geistvollen“ Nachahmung der Natur im poetischen Kunst­
werk. Ihr Mittel ist die Form des Bomans, die den Geist der Dichtkunst durch
H u m or in Freiheit setzt. Humor unterscheidet sich von Ir o n ie und W itz. Aller
Witz, so hatte F. S c h l e q e l gesagt, tendencirt auf Nihilism56. Der Humor, erklärt
J. P a u l , ist ein Geist, der das Ganze durchzieht und unsichtbar beseelt57 — er gewährt
dem Menschen Freilassung von dem „Nichts“ des Endlichen, das die romantische
Ironie und Witzigkeit gefangen hält.

3. Religiöser und politischer Nihilismus: Atheismus, Egoismus und Atomismus

Was der Boman, dessen Form sich dem „Ganzen“ , der Totalität des geschichtlich-
geistigen Lebens des Menschen, zu erschließen vermag, thematisiert, ist jene tief­
greifende Krise von Beligion und Gesellschaft am Übergang zur modernen Welt,
die sich in der romantischen Kunst und ihren „nihilistischen“ Verirrungen reflek­
tiert. JFo einer Zeit Gott wie die Sonne untergeht, so heißt es im Nihilismus-Kapitel der
„Vorschule zur Ästhetik“ , da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel; der Ver­
ächter des All achtet nichts weiter als sich, und fürchtet sich in der Naclit vor nichts
weiter als vor seinen Geschöpfen5S. Jacobis Gleichsetzung des Nihilismus mit dem
„Egoismus“ , „Fatalismus“ und „Atheismus“ folgend, konnte J. P a u l in seiner

** J e a n P a u l , Vorschule der Aesthetik, SW Bd. 41 (Berlin 1827), 32.


Ebd., 32.36. 34 f.
“ Ebd., 50.
*• F. S c h l e g e l , Philosophische Fragmente. Erste Epoche H (1797), SW 2. Abt., Bd. 18
(1963), 27.
17 J e a n P a u l , Kleine Büchcrschau, SW Bd. 45 (1827), 19.
** Dere., Vorechulc, SW Bd. 41, 33.

25— 90388 385


Nihilismus DI. 3*-Rcligtöser und politischer NihilUnuu

„Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei“ , die generelle
Erfahrung des gesellschaftlich-geschichtlich weitreichenden Prozesses der Ent-
göttlichung der modernen Welt durch Wissenschaft zu dem schauerlich-grandiosen
Bild der Anrufung des Nichts durch den Sohn Gottes individualisieren: Und als
Christus das reibende Gedränge der Welten, den Faekeltanz der himmlischen Irrlichter
und die Korallenbänke schlagender E enen sah, und als er sah, wie eine Weltkugel um
die andere ihre glimmenden Seelen auf das Totenmeer ausschüttete, wie eine Wasser­
kugel schwimmende Lichter auf die Wellen slreiU: so hob er groß wie der höchste End­
liche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeil und sagte:
Starres, stummes Nichts/ Kalte, ewige Notwendigkeit/ Wahnsinniger Zufall! Kennt
ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich ? . . . 0 Vater! 0 Vater!
Wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? — Ach wenn jedes Ich sein eigner
Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgeengel sein?11
Der Text ist Bestandteil eines Traumberichts, der in seiner grausamen Härte der
sich später ausbreitenden Rede vom „T od Gottes“ präludiert, die unter dem Ein­
druck des Kopemikanischen Weltbildes bereits Pascal verwendet hatte. Er ent­
hält zugleioh den Alptraum einer Gesellschaft, die im „Egoismus“ der vereinzelten
einzelnen zentriert ist. Wenn Gott nicht ist, dann ist der Mensch nur Reflektor
seines „loh “ — ein Spiegelbild der eigenen Wünsche, Wahnideen und Begehrungen.
Das ganze geistige Universum, so lautet J. Pauls Diagnose, wird, durch die Hand des
Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs,
welche blinken, rinnen, irren, zusammen und auseinander fliehen, ohne Einheit und
Bestand. Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner80. Vorlage für J. Pauls
Christus-Rede sind höchstwahrscheinlich Visionen des Jüngsten Gerichts, wie sie
auf dem Hintergrund von Französischer Aufklärung und Revolution L.-S. M e r c i e r
— der französische Erklärer des Wortes ‘nihilisto’ — eindringlich beschrieben hat.
Nach Mercier ist der Nihilist die Endgestalt des aufklärerischen Atheisten, der in
absoluter Vereinzelung existiert: Er ist ein Mensch, der sich ganz isoliert und zum
Mittelpunkt des Universums gemacht hat. Wünsche und Hoffnungen kennt er keine
mehr. Er ist ein Egoist und hat das höchste Wesen nur getötet, um selber an seine Stelle
zu treten. Heule und ewig muß er allein leben, denn dieHölle, das isldie Einsamkeitcl.
Der Zusammenhang des religiösen mit dem politischen Nihilismus — die beido meist
noch unter dem Begriff ‘Atheismus’ auftreten— wird in der Epoche nach 1800 zum
Dauerthema der romantisch-restaurativen Philosophie vom Staat. Neben dem
Atheismus-Begriff ist es der Begriff ‘Anarchismus’ , der mit dem des ‘Nihilismus’ kon­
vergiert. Während der Frühromantik der „nihilierende“ Anarchismus der Re­
volution als produktives Element der religiösen Wiedergeburt erscheint (Wahrhafte
Anarchie ist das Zeugungsdement der Religion. Aus der Vernichtung alles Positiven
hebt sie ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin hervor) sieht die Hochromantik
darin die Destruktion der Religion, die nur mit der Wiederherstellung des Positiven
in der menschlichen Gesellschaft, d .h . der K o r p o r a t io n (von der Familie ange-

" Dora., Siebenkäs, SW Bd. 12 (1826), 159.


•» Ebd., 155.
«* M e r c i e r , L'an 2440, t. 3 (s. Anm. 3), 165.
•* N o v a l i s , Die Christenheit oder Europa (1799), GW Bd. 3 (1968), 517.

386
ffl. 4. Dialektik and Geschichtlichkeit Nihiliiajua

fangen bis hin za Staat und Kirche), erneuert werden kann93. Der natorrechtlichen
Negation des Positiven, die zum „Egoismus“ der Aufklärung und seiner Kodifizie-
rung in den Menschen- und Bürgerrechten der Französischen Nationalversammlung
geführt hat, korrespondiert auf Seiten des ancien régime ein „administrativer
Nihilismus“ , der sich dem Korporationsgedanken und seiner geschichtlichen Ver­
wirklichung nicht minder verneinend entgegenstellt. F. S c h l e g e l spricht hier nicht
mehr von ‘Egoismus’, sondern — in Übereinstimmung mit Hegel — von ‘Atomis­
mus’ — der Konsequenz jener einseitigen politischen Theorien des Zeitalters, die
mit der Verwerfung und Vernichtung alles historisch Begründeten beginnen, alles eigen­
tümlich Lokale in Sitten und Provinzialeinrichtungen verschmelzen, sowie die ge­
schichtlich, faktisch und rechtlich begründeten Stände und Korporationen aufheben
wollen, und nichts Bestehendes zu achten wissen, indem sie den ganzen Körper der
bürgerlichen öesdlscha/L erst in seine einzelnen Staatsatomc oder Individuen zerschlagen,
und diese Atome dann in Masse bald nach dieser, bald nach jener Richtung in Be­
wegung setzen, und die eben darum revolutionär genannt werden und auch wirklich
sind•*.
Die CamariUa des Hofes und der Regierung, die dieser Bewegung nichts entgegen­
zusetzen weiß, nennt J o s e p h G ö r k e s explizit Nihilistent6. Dieser Sprachgebrauch
hat sich nach 1815 in Deutschland und Frankreich allgemein eingebürgert. Der
‘Nihilist’ ist der religiös wie p o lit is c h „Ungläubige“ , der „Indifferentist“ , der — im
Unterschied zum e litä re n Freigeist und Atheisten des 18. Jahrhunderts — inmitten
des S o z ia lre v o lu tio n ä re n Umbruchs der europäischen Gesellschaft zur Massen-
erscheinung wird. Im Französischen, so notiert "W. T. Kbdq, im Supplementband zum
„Encyklopädisch-philosophischen Lexikon“ (1838), heißt auch der ein Nihiliste, der
in der Oesdlschaft und besonders in der bürgerlichen nichts von Bedeutung ist ( nur
zählt, nicht wiegt oder gilt), desgl. in Religionssachen nichts glaubt. Solcher socialen
oder politischen und rdigiösen Nihilisten gibt cs freilich weit mehr als jener philoso­
phischen oder metaphysischen, die alles Seiende wissenschaftlich vernichten wollen™.

4. Dialektik und Geschichtlichkeit des Nihilismus: Hegel

Mit der Philosophie Hegels verbindet der Sprachgebrauch des frühen 19. Jahr­
hunderts den Begriff eines „metaphysischen Nihilismus“ , der jene religiösen und
politischen „Nihilisten“ als Gestalten des Z e itg e is te s aus sich entläßt. Hegel selbst
hatte den Nihilismusbegriff bereits während der Jenaer Zusammenarbeit mit
Schelling verwendet. Nach S c h e l l d ïg ist der Umschlag des zeitgenössischen Den­
kens von der subjektiven Nichtsheil zum Realismus, in dem sich für die Philosophie
der allgemeine praktische Brauchbarkeils- und Nützlichkeitsgeist der Zeit ausdrückt,
eine andere Seite der Wirkung, die der spekulative Idealismus fast allgemein gehabt
hat, die meisten in Ansehung ihres Denksystems bis zum absoluten Nihilistnus zu

“ F. Schlegel, Die Signatur des Zeitalters (1820— 1823), S W l.A bt.,B d.7 (1986),525.
Ebd., 536.
45 G ö r r e s , Die heilige Allianz und die Völker auf dom Congresso von Verona, Ges. Sohr.,
Bd. 13 (1929), 439. 441.
«• K rug 2. Aufl., Bd. 5/2 [Suppl. Bd.] (1838), 83.

387
Niliüiamus III. 4. Dialektik and Geschichtlichkeit

reduzierentT. Im Unterschied zu Schölling, der sich damit an Jacobis Parolen an­


schließt, nimmt H e o e l den Terminus, dor zunächst polemisch gegen die Philosophie
gerichtet worden war, als Kennzeichnung seiner eigenen Philosophio und ihrer
(„dialektischen“ ) Methode auf. Die Jacobischc Philosophie verabscheut . . . den
Nihilismus, ■weil er ihr das Eerz, die das Wissen der Wissenschaft begrenzendes Ur­
sprünglichkeit des Glaubens und des Gefühls, ausreißt. Nach Hegel ist jedoch der
von Jacobi so genannte Nihilismus der Transzendentalphilosophie für die Methode
des Philosophierens unhintergehbar; er ist Organon und Kathartikon des reinen
Denkens, za dem freilich weder Jacobi noch Fichte in der Lage sind. Was das Fichte-
sche System selbst angeht, so liegt, wie Hegel zu Jacobis Parolen anmerkt, allerdings
die Aufgabe des Nihilismus in dem reinen Denken; dasselbe ist aber nicht fähig, zu
ihm zu gelangen; weil dies reine Denken schlechthin nur auf einer Seite stehen bleibt
und also diese unendliche Möglichkeit eine unendliche Wirklichkeit sich gegenüber und
zugleich mit sich hatis. Der Idealismus von Fichte ist ein „relativer Nihilismus“ , die
Position eines abstrakt-einseitigen „Nichts“ , die das „Positive“ lediglich „annihi­
liert“ und so den Verneinungs-Standpunkt der neuzeitlichen Metaphysik und Politik
wiederholt. Seinen profiliertesten Ausdruck findet er in der politischen Metaphysik
des N a tu rr e ch ts49. Fichtes Naturrecht ist die „nihilistische“ Reduktion des Poli­
tischen auf das „Chaos“ einer unbestimmten Mannigfaltigkeit natürlicher Triebo
und Neigungen, die ohne „Einheit“ und „Organisation“ bleibt und so von Hegel als
latenter Anarchismus einer abstrakt-politisohen Theorie dechiffriert wird, deren
Praxis der Terror der Französischen Revolution und die Tendenz zum Despotismus,
d. h. zu weitertreibender „Desorganisation“ des Staats in den — restaurativen oder
revolutionären — Polizeistaat darstellt. Gegenüber diesen „nihilistischen“ Ver­
irrungen des Denkens und Handelns entwirft Hegel in der Jenaer Periode die Um­
risse eines „Reflektiersystems“ , das gerade nicht mit der Abstraktion des Nichts oder
der Leerheit endet, sondern die „Negation“ als „bestimmte Negation“ — d. h. eines
„Etwas“ — zur Methode des Fortschreitens des Wissens zur Wissenschaft macht.
Seine Grundwörter sind ‘das Nichts’ und der ‘Tod’ , die ‘Entfremdung’ und ‘Ent­
äußerung’, der ‘Zweifel’ und die ‘Verzweiflung’ . Philosophie vollzieht sich als im­
manente Reflexion des zu ihr gohörigen Nicht-Wissens, sie ist, wie Hegel gegen
Jacobi sagt, der „sich vollbringende Skeptizismus“ , der den Nihilismus aus sich
selbst heraus überwindet: Das Erste der Philosophie aber ist, das absolute Nichts zu

•’ SriTTTT.Tvn, Bückert und Weiß, odor die Philosophie zu der cs keines Denkens und
Wissens bedarf, SW Erg.-Bd. 3 (Ndr. 1959), 83. Schelling nimmt damit denselben Terminus
polemisch auf, den die süddeutsch-katholische Aufklärung gegen ihn geprägt hatte. Vgl.
W e i l l e b , Allerneueste Philosophie (s. Anm. 45), 195: Wäre absolvier Nihilismus nicht eine
passendere Benennung für das neue System, als absoluter Idealismus ? — Dieses war schon
geschrieben, als ich Köppens — Philosophie des absoluten Nichts — erhielt. Es trar mir sehr
angenehm, meine Ansicht durch die dieses Denkers bestätigt zu sehen. Wcillcr bezieht eich auf
F r i e d r i c h K ö p f e n , Schöllings Lchro oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts
(Hamburg 1803).
•• H e g e l , Glauben und Wissen (1802), SW Bd. 1 (1927), 409. 411. Vgl. dazu den instruk­
tiven Aufsatz von P ö q o e l e r , Hegel (s. Anm. 6), 163 B.
" H e o e l , Uber die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrcchts (1802/03), SW
Bd. 1, 437 ff.
JH . 4. Dialektik und GeecMchllichkeit Nihilismus

erkennen, wozu es die Fichtesche Philosophie so wenig bringt, so sehr die Jambische sie
darum verabscheut. Dagegen sind beide in dem der Philosophie entgegengesetzten Nichts;
das Endliche, die Erscheinung, hat für beide absolute Realität; das Absolute und Ewige
ist beiden das Nichts für das Erkennen70.
Im Ausgang von diesem Grundsatz, nach dem nicht das Sein, sondern das Nichts
ab das „Erste“ des Absoluten gedacht wird, hat Hegel in das System des absoluten
Geistes die „ nihili.itifir.hnn“ GrunAztige des geschichtlichen Übergangs zur modernen
Welt, den „Atheismus“ , „Fatalismus“ , „Egoismus“ , „Atomismus“ , „Pessimismus“
usw. des Zeitalters, eingezeichnet. Die zu diesem Übergang gehörige Philosophie ist
nicht mehr im mittelalterlich-neuzeitlichen Sinne „Metaphysik“ , die voraussetzt,
die „Dinge an sich“ erkennen oder Teil an jener göttlichen. Macht gewinnen zu kön­
nen, die sie „aus Nichts“ geschaffen hat, sondern „positive Dialektik“ , die sich im
Medium des „Nihilismus“ , der Negativität einer jeden Begrifiüabildung und ihrer
Teilhabe am Nicht-Wissen des „Absoluten“ , auf die Erscheinungen von Natur und
Geschichte einläßt. Sie kann dann auch die Geschichte selbst, in der sich aus dem
(anfänglichen) Nicht-Wissen das Wissen bildet, auf ihren Sinn hin befragen und so
den „Geist“ der Gegenwart, der mit der bisherigen Welt seines Daseins und Vör­
stettens gebrochen hat, in den Sinnzusammcnhapg des absoluten Geistes einordnen
oder — was dasselbe ist — den Prozeß des Sinnverlustes und allgemeinen Absturzes
in den Abgrund des „Nichts“ durch dialektische „Arbeit des Begriffe“ umkehren71.
Paradigmen der Umkehr sind neben dem religiösen Nihilismus, d. h. der Rede vom
„Tode Gottes“ , der Nihilismus des Politischen, den Hegel in der Sprache von Jean
Paul den Atheismus der sittlichen Welt™, nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit teils
‘Atomismus’ und ‘Egoismus’, teils ‘Liberalismus’ (1) nennt. Während Hegel die
Gott-ist-Tod-Rede über das Karfreitags-Ereignis der christlichen Religion in die
Dialektik des reinen Denkens zurückübersetzt: Der eine Begriff aber, oder die Un­
endlichkeit, als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen
Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf
die Religion der neuen Zeit beruht, — das Gefühl: Gott selbst ist tot ( dasjenige, was
gleichsam nur empirisch ausgesprochen war, mit Pascals Ausdrücken: la nature esl
teile qu'elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de Vhomme) rein
als Moment . . . der höchsten Idee bezeichnen; und. so dem, was etwa auch entweder
moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff
formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben, und also der Philosophie
die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen
Karfreitag, der sonst historisch war, und diesen selbst, in der ganzen Wahrheit und
Härte seiner Gottlosigkeit wiederhergestellt: — aus welcher Härte allein . . . die höchste
Totalität in ihrem ganzen Emst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend,
und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß73, entschlüsselt er
das Atomismus-Gerede der politischen Romantik über dio englischrfranzösische

,0 Den., Glauben und Wissen, 413.409.


71 Dora., Phänomenologie des Geistes (1807), Vorrede, SW Bd. 2 (1927), 18 f. Vgl. dazu
P öqoeler, Hegel, 191 f.
” H e q e l , Rechtsphilosophie, Vorrede, SW Bd. 7 (1928), 25.
,J Cers., Glauben und Wissen, 433.

389
N ih ilism u s m « 5 « N ih ilism u s u n d H e g e lia n is m u s

Nationalökonomie als das System der Bedürfnisse, das der spezifisch neuzeitlichen
„Erscheinung“ der bürgerlichen Gesellschaft zugeordnet und zum BegrifEsmomenfc
des modernen Staats und der ihm aufgegebenen Bewahrung der „Freiheit aller“
erhoben wird71.

5. Nihilismus und Hegelianismus: Der Geist der Revolution

Der Anspruch, den Nihilismus auf dem Wege philosophisch-dialektischer Spekula­


tion „aufheben“ zu können, ist noch von Jacobi in Frage gestellt worden. Wie
Jacobi anerkennt, ist Hegel über den spinozistischen „Fatalismus“ von Fichte und
Schelling hinaus zu einem System der Freiheit gelangt, — auf einem nur noch, höheren,
aber gleichwohl demselben ( also im Grunde auch nicht höheren) Wege des Gedankens —
ohne Sprung™. Die Philosophie des absoluten Wissens wird damit jedoch weiterhin
des Nihilismus verdächtigt. Der Verdacht gegen die idealistischen Neuerer, den vor
allem von seiten der katholischen Aufklärer Weiller und Salat artikulieren76, ver­
stärkt sich mit der Erfahrung der fortdauernden Revolution am Grund der euro­
päischen Gesellschaft. Nachdem bereits F. Koppen die Unruhe des absoluten Geistes
auf den Zeitgeist reduziert und beide als Nihilismus-Produzenten gebrandmarkt
hatte (Soll die Menschheit sich retten vor dem Zustande völliger Erschlaffung, in wel­
chem sie mit der Frucht ihres Zeitgeistes, dem Nihilismus, versinkt; soll sie genesen von
dem allmählichen Absterben jeglicher Lebenskraft; soll sie nicht, gemordet in der Nacht,
die keine Nacht mehr ist, weil sie nimmer ein Tag erhellt, dereinst vermodern in dem
Grabe aller Tugenden; so muß sie aufgeben die Eonkreszenz des Guten und Bösen,
Gottes und des Nichts, der Freiheit uni der Notwendigkeit)11, richtet eich die Spitze
des Begriffs gegen die negativ-dialektischen Folgerungen, die Hegels Schüler aus
dem System des absoluten Wissens und seiner Methode für das geschichtliche Fort­
schreiten des Geistes ziehen.
Spiegel des Zeitgeistes ist die Literatur, die sich der nihilistischen „Zeitkrankheit“
annimmt. Paradigma ist Immermanns Roman „Die Epigonen“ , der die Kranken­
geschichte der Generation um 1800 erzählt. Nach Immermann besteht der Fluch
des gegenwärtigen Geschlechts darin, sich auch ohne alles besondre Leid unselig zu
fühlen. Ein ödes Wanken und Schwanken, ein lächerliches Sichemststeüen u n i Zer-
streutsein, ein Haschen, man weiß nicht, wonach, eine Furcht vor Schrecknissen, die
um so unheimlicher sind, als sie keine Gestalt haben! Es ist, als ob die Menschheit, in
ihrem Schifflein auf einem übergewaltigen Meere umhergeworfen, an einer moralischen
Seekrankheit leide, deren Ende kaum abzusehen ist76. Der Held des Romans, der naoh

74 Dcrs., Rechtsphilosophie, § 188. SW Bd. 7, 270; vgl. ebd., 24 f. 261 ff.


7‘ F. H. J a c o b i an Johann Neob in Niedersaulheim, 30. 5.1817, Auserlesener Briefwech­
sel, hg. v. E. Roth, Bd. 2 (Leipzig 1827), 467.
’ • Vgl. außer den Anm. 45 genannten Schriften von W e i l l e b und B e b g die anonyme
Schrift: Über den neuesten Idealismus der Herren Schölling und Hegel (München, Leipzig
1803) sowie J a x o b S a l a t , Erläuterung einiger Hauptpunkte der Philosophio. Mit Zugaben
über den neuesten Widerstreit zwischen Jacobi, Schelling und F. Sehlegel (Landshut 1812).
” K ö p p e s , Schellings Lehre (s. Anm. 67), 204.
" K a h l I m m b u m a n n , Die Epigonen, Werke, hg. v. Harry Maync, Bd. 3 (Leipzig, Wien
o. J.), 135.

390
w

m. 5. Nihilismus und Hegelianismus Nihilismus

der Teilnahme an den Freiheitskriegen und am Wartburgfest politischer Verfolgung


ausgesetzt und danach zum ziellos Reisenden wird, hält sich selbst für einen früh­
reifen Propheten des Nihilismus'3. Ihm potenziert sich die Stimmung von Schwermut
und Weltangst mit dem Eintritt in den Beamtendienst (Anfangs, solange mir die
Handgriffe noch neu waren, trieb ich die Sache wie einen mechanischen Scherz; bald
aber ergriff mich die furchtbarste Langeweile und ein unergründlicher Ekel an meinen
Tagen, welche sich in diesem trocknen Nichts dürr und farblos verzettelten), so daß er
schließlich die Erfahrung des „Nichts" auch auf den Staat überträgt und mit dom
Wort ‘Nihilist* den B ü r o k r a te n bezeichnet, dessen ganze Tätigkeit sich in
Kabinettsbefehlen, Paragraphen, Instruktionen, Akten, Tintenfässern erschöpft: Ich
überlasse das Melier den geistigen Nihilisten,- deren ganzer Stolz darin besteht, eine
Sache mehr abgemacht und aus der Welt geschaßt zu haben, wahrend der geringste
Handwerker sich freut, ein sichtbares Produkt von seiner Hände Arbeit in die Welt
setzen zu können80. Während Immennanns Held— nach demMuster des Goetheschen
„Wilhelm Meister“ — den Weg vom romantischen Burschenschafter und Revolu­
tionär zum Industriebürger nimmt, suchen die „Europamüden“ in E. W il l k o m m s
Roman (1838) statt der Arbeit den Ausweg der Tat. Auf dem Gipfelpunkt angelangt,
sohlägt die Erfahrung des „Nichts“ in den Willen zu Zerstörung um. Im nihilisti­
schen Europamüden liegt eine Welt verschlossen, die in ihrer naturgemäßen Ent­
faltung geeignet sein würde, alles zu vernichten, was ihr entgegenträte und über Europa
die Sonne einer neuen Tatenära aufglänzen zu lassen. Die „Europamüden“ sind nicht
mehr nur dem Unglauben, sondern einem neuen Glauben verfallen. Der Verkündi­
gung, daß Gott tot sei, folgt die Botschaft vom Tatmenschen, der sich an die Stelle
Gottes setzt und zur schöpferischen Zerstörung fortschreitet: In geistigem Totschlag
liegt die neue Zeugung81. Im Blick auf die hier und anderswo erklärte Bereitschaft
zur revolutionären Tat um der Tat willen notiert F. H e b b e l eine neue Wendung
des Begriffe, der aus Theologie und Philosophie in den Zeitgeist und seinen revo­
lutionären Attentismus ausbrioht: Unsere Zeit ist schlimme Zeit. Das große Geheim­
nis, die letzte Ausbeute alles Forschens, Handelns undStrebens, die Überzeugung, daß
Gott die Welt aus Nichts gemacht und bei der Spiderei in seiner langweiligsten Stunde
von sich Nichts als höchstens einen glänzenden Schaum unter das Machwerk gemischt
hat, war ehemals hinter sieben Schlösser und Riegd versteckt . . . Die alten Schlösser
und Riegel sind schadhaft geworden, schon der Knabe kann sie aufreißen, und der
Jüngling reißt sie auf . . . Die Weltgeschichte steht jetzt vor einer ungeheuren Aufgabe;
die Hölle ist längst ausgeblasen und ihre letzten Flammen haben den Himmel ergriffen
und verzehrt; die Idee der Gottheit reicht nicht mehr aus*2.
Daß die Figur des Nihilisten die Physiognomie des Freigeistes und theoretischen
Atheisten abstreifen und leicht die des anarchistischen Revolutionärs annehmen
kann, hat zur selben Zeit F r a >'Z v o n B a a d e r konstatiert. ‘Nihilismus’ ist ein ge-

’ » Ebd., 129.
•» Ebd., 40 f.
, l E b n s t W il l k o m m , Die Europamüden. Modernes Lobcnabild (Leipzig 1938; Ndr. Göt­
tingon 1968), 99. 176.
I ! F b ie d b i c h H e b b e l an Elisa Lansing, 11.4. 1837, SW, hg. v. Richard Maria Werner,
3. Abt., Bd. 1 (Berlin 1904), 194 f.

391
Nihilismus m . 5. Nihilismus und negclianuizias

schichtlicher Gegenbegriff zu ‘Obskurantismus’, er besteht in dem für die Religion


destruktiven Mißbrauch, der Intelligenz. Im Bereich dc3 Willens, der gesellschaftlich-
geschichtlichen Welt des Menschen, entspricht dem Begriff die „soziale Revolution“ .
Zusammen mit dem Obskurantismus, der teils aus Wia3ensscheu, teils aus Verach­
tung des Wissens hervorgehenden Inhibition ihres Gebrauchs, bildet der Nihilismus
die Hauptgefahr des Jahrhunderts. Die nihilistische Wende, die sich mit der Polari­
sierung von Aufklärung und Romantik, Rationalismus und Mystizismus vollzogen
hat, weckt den im Menschen schlummernden Destroktionstricb, bis dieser endlich
mit dem Ge/Uhl des Daseins dermaßen identisch wird, daß ein solcher Mensch zerstören
( alles Bestehende hassen und vernichten) muß, um sich nur in der Kontinuität des Ge­
fühls seines Daseins zu erholten**. In diesem Punkt mit Baader übereinstimmend,
hat auch der späte F. S c h l e g e l dio Radikalisierung der Nihilismus-Problematik,
ihren Umschlag in dio „reine“ Destruktion des Bestehenden, thematisiert. Die
Kombination von „Nihilismus“ und „Destruktion“ nennt Schlegel Satanismus, —
die Gestalt des Bösen, dio sioh in der fortschreitenden Revolution verkörpert. Sein
Heilmittel gegen Nihilismus und Destruktion ähnelt dem von Baader so genannten
Obskurantismus — eine gesohichtlioh-unvermittcltc Setzung der göttlichen Offen­
barung, die als Überwindung der nihilistischen Verirrungen des Zeitgeistes erscheint:
Nicht die Aufhebung eines Entgegengesetzten oder die Verneinung (nach Segel) macht
das Wesen des Geistes aus, sondern die göttliche Sendung . . . Das Verneinungs-System
wäre noch um eine Stufe schlimmer als der Atheismus oder die Ich- und Selbstvergötie-
rung (Fichtes), eine eigentliche Vergötterung des verneinenden Geistes, also in der Tat
philosophischer Satanismus. Die Aufhebung des Nichts ( nach dem wahren Begriffe der
Gottheit) ist eben Offenbarung und dies der wahre Grundbegriff davon*1.
Die von Baader wie Hegel intendierte Vermittlung deR „Negativen“ der Intelligenz
mit dem Bestehenden, der Wissenschaft mit Staat, Gesellschaft und Religion, bricht
in der Fortentwicklung der Hegel-Schule und dem Aufstieg der Natur- und Ge­
schichtswissenschaften im 19. Jahrhundert auseinander. Nachdem in Anlehnung an
F. Schlegel der Hegelschen Philosophie des Geistes gelegentlich der Vorwurf des
monistischen Nihilismus gemacht worden war, breitet sich die ihr nachgesagte
Begeisterung für das radikal Negative (K. R osen k ra n z )85 bei den jüngeren Hegel-
Schülern aus und dringt bald in das Zentrum der Systeminterpretation vor. Es ist
der Streit um die persönliche Fortdauer des Lebens nach dem Tode und um die
Lehre von der Persönlichkeit Gottes, mit dem sich der Nihilismus-Verdacht be­
festigt. Nach K. F. G öschel stellt die von Friedrich Richter vertretene Position
einer Auferstehung im Geiste eine Heldentat der Resignation dar, die eine unter vielen
verbreitete Richtung repräsentiert, welche sich wie eine Krankheit durch unsere Zeit
zieht. Diese Krankheit besteht in der Erschlaffung, in einer Mattheit und Schwächlich­
keit, welche an diesem Leben satt hat und den Gedanken an die Unsterblichkeit oder

43 F baxz v . Baader, Debor die Freiheit der Intelligenz (1826), SW Bd. 1 (1851), 149; dore.,
Ucber das durch unsere Zeit herbeigeföhrte Bedürfhiß einer innigeren Vereinigung der
Wissenschaft und der Religion (1824), obd., 85.
•< Schleoel, Philosophische Vorlesungen (e. Anm. 32), Bd. 2, 497.
11 Vgl. K a m . R o s e n x r a j t c , A u s einem Tagebuch 1833— 1846 (Leipzig 1854), 50. 96.
1H. S.’NUnli>mas and HegeUariiimu« iSiliilijmus

vielmehr den Geianken überhaupt nicht ertragen kannM. Der konsequente Pantheismus
des unsterblichen Geistes, der die Personalität Gottes und damit auch die des sterb­
lichen Menschen leugnet, erweist sich als Endgestalt des Nihilismus, welcher sich
vom Atheismus, wie das privative Nichts von dem negativen, unterscheidet^. Nach dem
Erscheinen von David Friedrich Strauss' „Leben Jesu“ (1835) und Bruno Bauers
„Kritik der evangelischen Geschichte des Johannes“ (1840) verwandelt sich der
„private“ ( = privative) Nihilismus der Dogmenkritik in den negativen, der vom
Atheismus und der kritischen Auflösung des „Positiven“ in den seiner selbst be­
wußten „Zeitgeist“ nicht mehr unterschieden und somit als moderner Nihilismus —
im Gegensatz zum „alten“ der Theologie, Metaphysik und Beligionskritik— identi­
fizierbar ist88. Für eine relativ kurze historische Periode (von 1840— 1850) sind die
Ausdrücke ‘Nihilismus’ und ‘Hegelianismus’, ‘Nihilist’ und ‘Hegeling’, 'Hegeliter’,
‘Hegelianer’ nahezu deckungsgleich83, während Hegel-Schüler wie Feuerbach und
Marx über das Werk der „negativen Dialektik“ und Kritik hinaus schon zu anderen
Ufern aufbrechen.
Obwohl die 'während der vierziger Jahre polemisch hergestellto Synonymität von
‘Nihilismus’ , ‘Atheismus’ und ‘Hegelianismus’ auch literarisch bezougt ist (Ein
moierner Nihilismus versucht es bereits vielfach, die atheistische Verzweiflung im Volke
auszubreiten)*°, ist der Begriff im Sprachgebrauch der Hegelianer selbst keineswegs
festgelegt. E d o a r B a u e r unterscheidet die „Opposition" der bürgerlichen Beform-
parteien als Standpunkt der ungrünilichen Bequemlichkeit von der Negation der
kritischen Kritik, die sich dem Standpunkt unbequemer Grünilichkeit verschreibt:
Der erstcre ist ier Liberalismus par excdlence, für ien anderen gibt es keinen hervor­
stechenden Namen, weil er eben nichts Besonderes, sondern etwas Allgemeines, Wissen­
schaftliches ist: die einen nennen ihn Demokratismus, die einen Schwärmerei, die einen
Radikalismus, iie einen gar Nihilismusn . Dagegen gebraucht B r u n o B a u e r das
Wort zur Bezeichnung jener theologisch-eklektischen Beformbewcgung derSchleier-
macher-Schule, die von allem etwas in sich aufgenommen und gerade dadurch Nichts
hat82, während K. B o s e n x r a n z sowohl den radikalen Junghegeb'anismus der „Frei-

“ K . F. G ö s o h e l , Bio neue Unsterblichkoitslehre, Berliner Jbb. f. wiss. Kritik (1834),


Bd. 1,2.
•» Ebd., 14.
** Jon. W ilhelm H ajtne, Der moderne Nihilismus und die Straußacho Glaubenslehre im
Verhältnis zur Idee der christlichen Religion (Bielefeld 1842).
*• Vgl. H e i n r i c h L e o , Die Hegelingen, 2. Aufl. (Halle 1839); A l e x a n d e r J to o , Vorlesun­
gen über die modemo Literatur der Deutschen (Danzig 1842); Jon. Cabl A u o u s t M ö g l i c h ,
Die Hegelweisheit und ihre Früchte (Rcgcnaburg 1849); F. K o p p e n , Übor Schubarths Un­
vereinbarkeit der Hegelachon Rechtslehre mit dem Preußischen Staat (1839), in: Materia­
lien zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. M a n f r e d R i e d e l , Bd. 1 (Frankfurt 1976), 276.
,0 B e r t h o l d A u e r b a c h , Die Diohtung für das Volk mit besonderer Beziehung auf Hebel,
Ges. Sehr., Bd. 20 (Stuttgart, Augsburg 18S8), 189.
91 E d o a r B a x je b , Staat, Kirche, Religion und Partei (Leipzig 1843), 5.
** B r u n o B a u e r , Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publizistik, Bd. 2
(Zürich, Winterthur 1843), 158: Die Sehleiermacher-Schule (Neander etc.) ist die Versöh­
nung aller Elemente, die bisher im Zwiespalt gelegen haben. Von allem hat sie eliau in sich
aujgenommen, d. h. von allem hat sie Nichts. Sie ist der vollendete Nihilismus in theologischer
Gestalt.

393
Nihilismus HI. 5. Nihilismus and Hegelianismus

en“ ab auch den Ästhetizismus der Romantiker ‘Nihilismus’ nennt93. Seine End­
gestalt sieht Rosenkranz in M. S i x k n e r s Buch „Der Einzige und sein Eigentum"
(1844), das mit der Apotheose des „Nichts“ endet: Im Einzigen kehrt selbst der Eigner
in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen
über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und
erbleicht erst vor der Sonne dieses Bmußtseins. Stell’ Ich auf Mich, den Einzigen,
meine Sache, dann steht sie auf dem vergängliche, dem sterblichen Schöpfer seiner,
der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: Ich hab’ mein Sach’ auf Nichts gestellt
Die von Stimer vertretene Position eines radikalen „Egoismus“ ist die Karikatur
auf Fichtes Idealismus, die theoretisch nach keiner Richtung hin entwicklungsfähig
ist. Ihr könnte, wie R o s e n s h a n z scharfsichtig bemerkt, nur noch die Praxis des
egoistischen Fanatismus, die Revolution, folgenss.
Ein eindrucksvolles Bild des nihilistisch-revolutionären Geistes der vierziger Jahre
vermittelt K. G u t z k o w s Roman „Die Ritter vom Geiste“ (1849/1860). Ich habe
hier, so läßt Gutzkow den Landpfarrer Stromer berichten, sogenannte freie Gemein­
den besucht, deutsch-katholische Zusammenkünfte, ich war unter jungen Philosophen,
die etwas wild und zügellos das Nichts ihres Geldbeutels auf das Nichts des großen AUs
bezogen, ich stehe staunend und verwundere mich über die Vermessenheit der Ohn-
machts‘ . ‘Nihilisten’ sind jedoch nicht nur die 'Lichtfreunde’ und philosophischen
Radikalen 4 la Stimer, Bauer und Konsorten, sondern Vertreter des bürokratischen
Establishment, die an „nichts“ , und das heißt: auch nicht an Sinn und Nutzen
einer Revolution und der bürgerlichen oder proletarischen Freiheitsbewegung glau­
ben. Gutzkow spricht hier vom politischen Nihilismus, der mit der Genußsucht, dem
Egoismus und Materialismus der bürgerlichen Gesellschaft einhergeht, aber ab Er­
scheinung des Zeitgeistes im positiven Sinne zugleich vom doktrinären Spießbürger­
tum und vom biedermänmschen Patriotismus abgehoben wird: Aber auch der Nihi­
lismus taugt nichts . . . Ein Nihilist bringt ebenso die Welt in Verwirrung wie der
phrasenhafte Egoist. Der Nihilist springt von Meinung zu Meinung, gehorcht jedem,
der gerade die Gewalt hatund ist der rechte Widersacher, der Erzfeind aller guten Dingt?''.
Dasselbe Wort kann in dieser Zeit jedoch auch ab zusammenfassender Titel für die
Vertreter der S o z i a l r e v o lu t i o n ä r e n Bewegung (St. Simon, Fourier, Proudhon usw.)
dienen, die alle autoritäre Gewalt ablehnen*8.

” R o s e n k b a u z , Tagebuch (s. Anm. 85), 101.133.152.255; ders., Ästhetik des Häßlichen


(Königsberg 1853), 135. 272.
s l M a t Stuutoi , Der Einzige und sein Eigentum (Leipzig o. J. [1892]), 429.

*5 R o s e s k b a h z , Tagebuch, 133.
** K a r l G u t z k o w , Die Ritter vom Geiste, 0. Aufl., Bd. 2 (Berlin 1878), 303 f.
" Ebd., Bd. 1 (o. J.), 00.
11 Vgl. I m m a n u e l H e b j i a n x F i c h t e , System der Ethik, Bd. 1 (Leipzig 1850), 808 ff.
(§ 323); HERMAWy F r i e d r i c h W i l h e l m Hnnucns, Politische Vorlesungen, Bd. 2 (Halle
1843), 377.

394
■¡ü. IV. Pathogenese der Moderne Nihilismus

W
IV. Pathogenese der Moderne: Nihilismus als Entwertung der Werte

Y/ahrend die nihilistische Irritation am Übergang zur modernen Welt als „Ent­
wirklichung“ der Selbst- und Welterfahrung beschrieben und in ihrer Ausdeutung
auf einen Wandel in der Bewußtseinsstellung des Menschenreduziert werdenkonnte,
nimmt das Problem des Nihilismus mit der europäischen Revolution von 1848/49
eine Wendung, die sich der Reduktion auf Begriffe des Wissens und Bewußtseins
entzieht. Was „moderne Welt“ heißt, tritt erst nach dem Scheitern des Versuchs
einer politisch-sozialen und geistigen Neuorientierung in Europa zutage: fort­
schreitende Beherrschung der Natur durch den Menschen, damit Ausbreitung und
O rg a n isa tio n der industriell-technischen Produktionsweise und, in ihrem Gefolge,
das Fortschreiten der sozialen Bewegung, die über die politische Revolution hinaus
auf Veränderung der Produktionsverhältnisse, der Gttterverteilung und der Grund-
nonnen kommunikativer Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen
I drängt. Der Übergang zur modernen Welt, der sioh dem Umschlog der Aufklärung
in die politisch-soziale und der Naturwissenschaft in die industriell-technische Re­
volution verdankt, ist nicht nur ein Bewußtseinswandel; er schließt' den Untergang
der Lebensformen einer „alten“ Welt und darin die Suche nach neuen Denk- und
I Handlungsorientienmgen in sich ein.
In diesem Zusammenhang gewinnt das Wort ‘Nihilismus' eine Schlüssclfunktion.
Es bezeichnet den gesamteuropäischen Vorgang des Wandels von Lebensformen,
der sich überall dort vollzieht, wo der Prozeß der Industrialisierung die Grundlagen
der alteuropäischen Sozialordnung auflöst. Die Formel für jenen Vorgang hat
Nietzsche gefunden. Sie lautet: „Entwertung der obersten Werte“ . Mit ihr tritt die
Geschichte des Begriffs aus der Vorgeschichte eines bloßen Schlag- und Bewußtseins­
wortes und zugleich aus den traditionell-neuzeitlichen Begrenzungen von Auf­
klärung, Metaphysik und Wissenschaft heraus.
Als Parole im metaphysisch-politischen Tageslärm'lebt das Wort nach 1848 in ver­
schiedenen Kontexten fort. Es wird einmal von den Anhängern alteuropäischer
Lebensformen gebraucht, welche die wiederhergestellte Ordnung von „Thron und
Altar“ durch den Rückgriff auf die offenbarten Wahrheiten der christlichen Religion
befestigen möchten. Ihnen schließt sich der Sprachgebrauch des fr eiainnig-liberalen
Bürgertums an, das „Besitz und Bildung“ und zu g le ich die mit dem Traditionalis-
mus unverträglichen Freiheiten (Gewissens-, Religions-, Gewerbefreiheit usw.) zu
erhalten wünscht. In beiden Kontexten erhält der Begriff eine pej orative B edeutung:
er assoziiert sich mit ‘Defätismus’, ‘Anarchismus’, ‘Sozialismus’ . Zum anderen wird
das Wort ‘Nihilismus’ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Revolu­
tionären selbst, genauer gesagt: von der Gründergeneration der russisch-sozial-
revolutionären Bewegung gebraucht, die das vom Prozeß des Übergangs zur mo­
dernen Welt noch nicht erfaßte Ordnungsgefüge der zaristischen Oberherrschaft
aufzuheben und die Halbheiten der „westlichen“ Emanzipation durch einen „russi­
schen Weg" zu transformieren sucht. Hier gewinnt der Begriff eine meliorativc Be­
deutung: er assoziiert sich mit „sozialem Neubeginn“ , der Destruktion des „Alten“
und dem Hervorgang eines „Neuen“ aus radikaler Vernichtung zugleich.

395
Nihilismus IV. 1. PostrovoIutionBre Bcgriffadiagnaicn

1. Postrevolutionfirc Bcgrifisdiagnosen

Der Wechsel und Zuwachs an Bedeutung in der Geschichte des Begriffe dokumen­
tiert sich in den Wörterbüchern und Lexika der Zeit. Während man sich vor 1848
meist mit einer Worterklärung und knappen Hinweisen auf traditionell-metaphysi­
sche Begrifftaspekto begnügt53, gehen die lexikalischen Standardwerke nach der
Mitte des 19. Jahrhunderts auf die verschiedenen (ethischen, politischen, religiösen,
historischen usw.) Kontexte und ihren Zusammenhang mit der Revolution ein.
Nihilismus, so definiert das dem traditionalistischen Sprachgebrauch verpflichtete
„Staats- und Gesellschaftslexikon“ (1859—1867) von H e r r m a n n W a g e n e r , ist der
Standpunkt, dem das Nein-sagen als höchste Weisheit gilt, der Geist der Verneinung,
dem das Nichts über Alles geht10°. Dor Vomemungogeist drückt sich politisch und
religiös, intellektuell und moralisch und zuletzt „unbewußt“ , in der Betriebsamkeit
des zeitgenössischen Dahinlebens am Rande des „Nichts“ , aus: Der S aß gegen alles
Positive, trete es nun in Rechtsverhältnissen, trete es in der Religion hervor, ist, da bei
Leugnung des Positiven nur das Negative übrig bleibt, politischer und religiöser Nihilis­
mus. Der frivole Witz, der heutzutage für geistreich gilt, obgleich das Wesen des Geistes
darin besteht, sich zu interessieren, und wer für Nichts Interesse zeigt, eben darum sich
nicht nach ihm nennen sollte, dieser gesinnungslose Witz, dem Nichts heilig ist, er ist
ein intellektueller ujid sittlicher Nihilismus. Die innere Leerheit endlich, die jeden Tag
einem neuen Götzen nachläuft, und jeden Tag den alten fallen läßt, ist ein, wenn auch
unbewußter, Nihilismus101. Woran die Zeit krankt, sind nicht mehr nur Leere und

•• Als früheste Belege Beien genannt: Kaua 2. Aufl., Bd. 3 (1833), 6 3 : Nihil est — es ist
nichts — ist eine in sich selbst zerfallende Behauptung, die man auch Nihilismus genannt hat.
Denn wenn gar nichts wäre, so könnte man auch gar nichts behaupten. Das Ich, welches etwas
behauptet, muß sich doch wenigstens selbst als etwas sehen. Indessen würde freilich ein durchaus
konsequenter Idealismus wenigstens mit dem Nihilismus beginnen müssen. Denn indem er ein
Ideales als das Erste oder Ursprüngliche setzt, setzt er ein Ideales ohne irgendein Reales, weil
dieses erst aus jenem abgeleitet werden soll. Er muß also dann mit dem absoluten Nichts an-
fangen, was auch wirklich einige neuere Naturphilosophen (z. B. Oken) getan haben. Zwischen
jenem Nichts aber und dem Etwas ist eine solche Kluft, ein solcher Abgrund für die Vernunft,
daß ihn keine Spekulation ausfüllen kann. Vergl. Idealismus; H e y s e 8. Aufl., Bd. 2
(1838), 140: Nihilismus, m. die Nichtigkeit, das Nichtssein; die Nichtigkeits- oder Vernich-
tungslehre; Nihilist, m. ein Nichtsglaubender, Nichtsnutz; Nihilität, f. die Nichtigkeit, Wert­
losigkeit; PreitER 2. Aufl., Bd. 21 (1844), 1 1 : Nihilismus ( v. lat.), die anerkannte Nichtigkeit,
das Nichtssein, bes. in bezug auf eine aufgcstelUe Lehre oder sonstigt Lebensanforderung.
W a o e n e r Bd. 14 (1863), 463.
101 E b d . Vgl. auch B k o ck h a tjs 10. Aufl., B d . 11 (1853), 2 4 2 : Nihilismus (vom lat. nihil:
nichts) heißt jede Theorie, welche auf nichts hinausläuft. So z. B. würde man unter moralischem
Nihilismus eine Theorie zu verstehen haben, welche den Unterschied von Gut und Böse aufhöbe,
unter physikalischem Nihilismus eine solche, welche alle -natürliche Realität in bloße Relatio­
nen und Beziehungen, denen nichts Wirkliches zum Grunde läge, auflösen wollte. — Nihilianis-
mus wird die dem Petrus Lombardus . . . aus Mißverständnis beigelegte, von AlexanderIII.
1179 verdammte und von den Pariser Theologen um 1300 öffentlich gemißbüligte Ansicht ge­
nannt, daß Christus, insofern er Mensch ist, nichts sei; H e r d e r B d . 4 (1856), 3 4 4 ; Nihilis­
mus, nculat. bezeichnet im allgemeinen jedes Lehrgebäude, welches im Gebiete der Philosophie
und Religion auf den Gegensatz des Positiven oder auf das Nichts hinausläuft. Nihilistisch,

396
JY. 1, PostrcTolulionüre Begriibdwgnoaeii Nihiliamos

Langeweile, der Wille zum „Nichtstun“ , sondern eine sich selber wollende Aktivi­
tät, die sich die Ziellosigkeit des eigenen Tuns sprachlich verbergen muß. Dem
Nihilismus des Inhalts korrespondiert die Sophistik der Sprache102, die den Verfalls­
prozeß der altcuropäischen Lebensformen begleitet.
In pejorativer Bedeutung taucht der Ausdruck ‘Nihilismus’ zunächst bei den Ver­
tretern der Gegenrevolution auf. So gebraucht ihn der spanische Politiker und Philo­
soph Donoso C ortés in seinem Essay über „Katholizismus, Liberalismus und
Sozialismus“ (1851). Nach konservativer Geschichtsdeutung ist die Revolution von
1848 die Folge des „rationalistischen“ Abfalls von Gott, den die Parteien der Be­
wegung — Liberale und Sozialisten — vollzogen haben. Was Cortés bereits im bür­
gerlichen Liberalismus am Werke sieht, ist die „Logik des Irrtums“ , die vor das
„Nichts“ führt: Das unentschiedene Bürgertum hat den Geburtsadol abgeschafft,
tut aber „nichts“ gegen die neue Geldaristokratie; sie will „nicht“ die Souveränität
des Monarchen, aber auch „nicht“ die der Mehrheit des Volkes, der „sozialen Re­
publik“ . Der ewigen Unentschiedenheit des Dichts-Tuns korrespondiert die Ent­
scheidung zur revolutionären Aktion bei den sozialistischen Parteien — jene
„Diktatur des Aufruhrs“ , die ohne Gegenwehr einer „Diktatur der Regierung“ die
bürgerlich-christliche Welt vernichten wird. Nichts(ist) . . . logischer, so sagt Cortés,
als daß, wer sich von Gott trennt, im Nichts endet103. Ähnliches prophezeit unter dem
Eindruck der 48er Revolution der preußische Außenminister R adow itz in seinem
Buch „Gespräohe aus der Gegenwart Uber Staat und Kirche“ (1851). Nihilismus ist
nicht der revolutionäre Wille zur Tat, sondern ein sozialer und geistiger Zustand,
der sow oh l im Aktionismus dor radikalen Revolutionäre als a u c h in der Passivi­
tät von Bürgertum und Adel geschichtliche Gestalt annimmt. Wie Cortés sicht
Radowitz im Gefolge der sozialen Bewegung eine Lage heranfkommen, in der das
Beharren in der Passivität unmöglich, eine Entscheidung unumgänglich ist. Ohne
den Willen zur Tat auf seiten der Regierung scheitert dann selbst die gewöhnliche
Klugheit bei dem Beharren im Nihilismus101.
Die Genese des „liberalen“ wie des „sozialen Nihilismus“ wird ideengesohiohtlich
zunächst noch aus dem „Rationalismus“ der neuzeitlichen Bewußtseinsphilosophie,

d. h. dem Nihilismus entsprechend, sind z. B. die Meinungen, es habe überhaupt nichts auf
sieh mit dem Jenseits, mit dem Unterschied von gut und böse u. dgl.
103 Vgl. A l e x a n d e r J u n o , Charaktere, Charakteristiken und vermischto Schriften, Bd. 2
(Königsberg 1848), 203.
103 D o n o s o C o r t é s , Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo y el socialismo considerados
en sus principios fundamentales (1851), dt.: Der Staat Gottes. Eine katholische Geschichts­
philosophie, hg. v. Ludwig Fischer (Karlsruhe 1933), 329. Nach D. Cortés bildet das Zen­
trum aller liberalistisch-sozialistischen Negationen die Negation der Sünde als Faktum
und Prinzip zugleich: Aus dieser doppelten Negation ergibt sich als Konsequenz die Negation
der Willensfreiheit des Menschen . . . Die Negation der Willensfreiheit hat wiederum die Ne­
gation der Verantwortlichkeit des Menschen zur Folge. Die Negation der Veranttuortlichkeit
zieht ihrerseits die Negation der Strafe nach sich. Aus der Negation der Strafe ergibt sich einer­
seits die Negation jeder menschlichen Regierung. Die Negation der Sünde führt also schließlich
in der Frage der Regierung zum völligen Nihilismus (ebd., 326).
101 Jon. M a r t a v . R a d o w i t z , Neue Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche
(Erfurt, Leipzig 1851), 95.

397
N ih ilû m t u IV. 1. Postrevolntionürc Bcgrifiisdiagnosen

genauer: aus seinem „egologischen“ Ansatz im „cogito, ergo sum" des Descartes,
hergeleitet. Man hat diese Formel, so schreibt der französische Literaturkritiker und
politische Denker B a r b y d 'A u r e v i l l y in den „Prophètes du passé“ (1851), au/ge­
nommen, abgeändert, fruchtbar gemacht, nach allen ihr innewohnenden Richtungen hin
entwickelt, in all ihren Möglichkeiten erschöpft und bis an die äußersten Grenzen vor­
getrieben. Als die Philosophie sogar die letzten Grenzen überschritten hatte, stürzte sie
in den zu keiner Antwort mehr fähigen Nihilismus, wo jedes einzig auf den Begriff
Mensch aufgebaute Denksystem Zusammenstürzen muß105. Dem Nihilismus des
19. Jahrhunderts liegt nach Barbey der theoretisch und praktisch radikaliaierte
„Egoismus“ , ein aufgeblähtes Ich zugrunde, das an die Stelle Gottes getreten ist.
Im deutschen Sprachbereich gilt weiterhin Hegel als sein Ahnherr: Wie man sagen
kann, daß die frühere Generation in Kantischen Ideen geboren und erzogen ward, so
wird man von der heutigen sagen müssen, sie sei von Hegelschen Vorstellungen genährt.
Es gibt viele, die es diesem Umstand zuschreiben, daß Nihilismus, namentlich der
politische, so weit verbreitet sei101.
Die pejorative Begrif&bedeutung überwiegt auch dort, wo Sympathie mit der Partei
der Revolutionäre von 1848 mitschwingt. In K a r l G u t z k o w s Novelle „Die Nihili­
sten“ (1853) bezeichnet das Titelwort— abweichend vom späteren Sprachgebrauch
— jene ideal- und zuchtlosen Vormärz-Sophisten, die alle Inhalte geistreich theore-
tisiert und in kritisches „Selbstbewußtsein“ aufgelöst, aber bei der Gestaltung neuer
Lebensformen versagt haben: Aufgerufen wurde die Menschheit von unbekannten
Stimmen wie mit den Posaunen des Gerichts. Zomschalen ergossen sich über die Erde,
und wie in der Not einer Überschwemmung war zum Denken keine Zeit mehr, zum
Raten nur kurz die Frist, die Spanne Raum konnte verlorengehen in einem Moment
der Zögerung. Unser Träumen von ehemals rächte sich furchtbar. Die Welt, wie sie ist,
hatte man nur zu verachten, nur zu hassen gelernt. Jetzt bot man eine andere. Es kam
wohl neue Schöpfung. Aber wer konnte sie lieben? . . . Mit Schaudern gedenkt man der
Zerstörung vorhandener Ordnungen, der Experimente, die versucht wurden, um Neues
an die Stelle des Alten zu setzen107. Von der Revolution enttäuscht, wird der, .Nihilist“
der vierziger Jahre zum „Fabrikanten“ , der am industriellen Aufschwung nach 1850
teilnimmt. Sein Nihilismus gipfelt in der Fabrik-Bezeichnung („Johannes Repsens
Rettungshaus“ ), die ökonomischen Erwerbssinn durch religiös-philanthropische
Sprachfloskeln verkleidet108. In der Atmosphäre von Wissenschaft und industrieller
Technik siedelt Gutzkow jetzt überhaupt das dialektisch-kritische Denken der
„Nihilisten“ , d. h. der radikalen Linkshegelianer, an. Oleander, so lautet eine Passage
im 7. Buch der „Ritter vom Geiste“ , las in einer Schrift der neuen philosophischen
Schule, der kritischen oder chemischen, une er sie nannte. Chemisch deshalb, . . . weil
diese Philosophen des absoluten Nichts die Liebigs der unsichtbaren Welt sind. Wie die
chemische Retorte ürstoff auf Urstoff entdeckt und diesen immer aufs Neue zerlegt, so

105 J ü l e s A j t e d é e B a r b e y d ' A u r e v i l l y , Les prophètes du passé (Paris 1851), 25 f. Vgl.


dazu den instruktiven Aufsatz von H e r m a n n H o f e h , Barbey d’Aurevilly, Nietzsche und
Dostojewski. Zum Problem des Nihilismus und der Dekadenz im 19. Jahrhundert, Schwei­
zer Kundschau 49 (1969), 148 ff.
“ >• W aoen -e b Bd. 9 (1862), 227, Art. Hegel. Vgl. dazu: Eritis sicut Deus. Ein anonymer
Roman, 3 Bde. (Hamburg 1854), wo die Hegelianer als Nihilisten auftreten.
107 K. G u t z k o w , Die Nihilisten, Kap. 7. Werke, 6. Tl., hg. v. R. Gensei (Berlin, Leipzig,
Wien, Stuttgart o. J.), 266. ,0* Ebd., 264.

398
vJ.
IV . 2 . Z w is c h e n P c a iim is m u s a n d A n a r c h ii m a s N ih iliim a s

hat der philosophische gemütlose Verstand der neuesten, Schule alles durch die Kritik bis
zum vollkommensten Nichts aufgelöst10i. ‘Nihilistisch’ ist schließlich die ziellose Ver­
neinung des Industrialisierungsprozesses, die noch im Vormärz in der Nachfolge der
romantischen Abwehr des Übergangs zur Moderne steht, um nach der Mitte des
Jahrhimderts in optimistische Industrie-Bejahung, d. h. in ein wiederum ziellos­
nihilistisches Wollen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, umznkippen110.

2. Zwischen Pessimismus and Anarchismus: Passiver und aktiver Nihilismus

Die Wellen des nach 1850 einsetzenden Industrialisierungsprozesses überlagern den


Stillstand der bürgerlichen Emanzipationsbewegung, ohne die defätistische Grund­
stimmung der Zeit kompensieren zu können. Den literarisch vollendeten und philo­
sophisch gehaltvollsten Ausdruck findet sie in S c h o p e n h a u e r s Philosophie der mo­
ralischen Weltvemeinung, die, in der Epoche der Hochromantik (1819) entworfen,
erst jetzt zur Wirkung gelangt. Wie Stirners „Einziger und sein Eigentum“ , so endet
auch „Die Welt als Wille und Vorstellung“ mit jenem Wort, das dem Schopenhauer-
schen „Pessimismus“ die spezifisch-nihilistische Färbung gibt: Was nach gänzlicher
Aufhebung des Willens übrig bleibt, ist für alle die, welche noch des Willens voll sind,
allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist denen, in welchen der Wille sich gewendet und
verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit allen ihren Sonnen u n i Milchstraßen
— Nichts111. Da das „Wesen“ des Wirklichen der „Wille“ im Sinne eines ziellosen,
zu immer neuer Verwirklichung drängenden Triebes ist, entgeht der Mensch der Ziel­
losigkeit des Denkens und Handelns nur mit der Aufhobung des Willens zum Leben,
durch S elb s tv crn io h tu n g . Der von Schopenhauer gelehrte Pessimismus ist ein
radikalisierter, auf die Spitze getriebener Nihilismus, der mit der Verneinung Gottes
und der Welt den Menschen selbst verneint112. Schopenhauers Weltverneinung ist
nicht erkenntnistheoretisch oder logisch, sie ist moralisch begründet. Während
Fichtes „Annihilation“ der Natur die Welt zum Zwecke der Tat des moralisch­
autonomen Willens wiederherstellt, gibt sich der „Wille zum Leben“ nach der Ein­
sicht in die Absolutheit des „Nichts“ und der Nichtigkeit alles Denkens und Han­
delns preis. Weder das Leben — der menschliche Leib — noch der Staat.— die
menschliche Sozietät — sind der Autonomie des Willens anvertraut. Der Apologie
der Selbstentleibung folgt jenes apologetische Verhalten zur Tötung des anderen,
das sich in Schopenhauers Verhältnis zur unbedingten Bejahung gegenievolutionä-
rer Gewalt, der Selbstbehauptung des Staats während der 48er Revolution, mani­
festiert. Die pessimistische Lebens- und Wclthaltung ist zweideutig. Der Pessimist
kann, wie bei Schopenhauer, cinfaoh den Untergang und „das Nichts“ wollen; er
kann aber auch in der Welt vorgegebene Lebensformen ablehnen und so eine Bahn

101 Ders., Die Ritter vom Geiste, 6. Aufl., Bd. 4 (o. J.), 20. Vgl. Jon. J a k o b H o x e c o e b ,
Literatur und Cultur des 19. Jahrhunderts (Leipzig 1865), 258.
110 Vgl. die zeitgenössische Metapher vom Wettrennen zwischen Pferd und „Dampfroß“
bei G u t z k o w , Die Nihilisten, 210, sowie die verbreitete Allegorie von den Ruinen der
Schlösser, aus denen Steine zum Bau neuer Häuser oder Fabriken gebrochen werden. Vgl.
auch J o s e p R a n k , Achtsp&nnig (Leipzig 1857).
111 S c h o p e n h a u e r , Die Welt als Wille und Vorstellung, S W Bd. 2 (1940), 487.
1,5 Vgl. C a r l L t o w i o M i c h e l e t , W o stehen wir jetzt in der Philosophie ?, Der Gedanke 7
(1867), 13.

399
Nihilismo« IV. 2* Zwijcben Pejsixnumuj und Anarduima«

für neue Lebens- und Weltgestaltung freigeben. Der „passivo“ oder „theoretische**
wird dann zum „aktiven“ oder •praktischen Nihilismus113, den die Zeitgenossen in
der Epoche nach 1860 mit der reaktivierten sozial-revolutionären Bewegung gleich-
setzen. Paradigma ist nicht die Gründung der „Internationalen Arbeiterassoziation''
(Marx 1864) in Westeuropa, sondern die lautstark-terroristische, meist von bürger­
lichen Intellektuellen getragene Oppositionsbewegung im zaristischen Rußland.
Als „Vater des praktischen Nihilismus“ gilt M ichail Baxukln, der zwar zeitweilig
der „Internationale“ angehört, aber von Marx und seinen Anhängern bekämpft und
auf dem Haager Kongreß (1872) wegen „anarchistischer“ Betätigung ausgeschlossen
wird. In diesem Kontext entsteht die historische Kennzeichnung „russischer
Nihilismus“ . Dio „Verwechslung“ mit dem Sozialismus und Kommunismus west­
europäischer Prägung ist jedoch zwischen 1865 und 1880 eine communis opinio, mit
der sich die Historiker des „russischen Nihilismus“ und nicht zuletzt auch Marx
und Engels auseinandersetzen. Es geht nicht an, so heißt es unter Hinweis auf Marx’
Bakunin-Kritik bei J. Dippel, die Nihilisten Rußlands mit den deutschen Sozial­
demokraten oder mit den europäischen Proletariern Überhaupt zu identifizieren, schon
darum nicht, weil es in Rußland ein Proletariat in unserem Sinne nicht gibt und nicht
geben kann11*. Ähnlich lautet das Urteil des russischen Chronisten N. K arlow itsoh,
der freilich wiederum die „nihilistische“ mit der „sozialistischen“ Agitation paral-
lelisiert: Die Nihilisten wurden von den Bauern in den Dörfern und von den Arbeitern
in den Fabriken jedesmal schonungslos ausgeliefert, sobaldman sie erkannte. DieFabrik-
arbeiter sind in Rußland ebenfalls Bauern, welche kraft der Bmancipationsacte in ihren
Heimatsdörfern Anrechte auf Landesparzellen gehabt oder sogar noch haben . . . Das
macht die Fabrikarbeiter in Rußland für die socialistischc und nihilistische Propaganda
nicht weniger unempfänglich als die Bauern auf dem Lande111.
Das spezifisch russische Phänomen des „Nihilismus“ entsteht aus einer Mischung
von aufgeklärter Traditionsfeindschaft, romantischer Sinnentleerusg und Lange­
weile und— ein neues Element— moderner Wissenschafts- und Fortschrittsgläubig­
keit. Sie ist literarisch beschrieben und typisiert in J. T u r g e n j e w s Roman „Väter
und Söhne“ (1861), wo der Naturwissenschaftler und Arzt Basarow als „Nihilist“
auftritt, der die „Hegelianer“ der vierziger Jahre geschichtlich überholt hat. Ein
Nihilist, so definiert Turgcnjow, ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt,
der kein Prinzip, auf Treu und Glauben hinnimmt, mag man ihm noch soviel Achtung
und Ehrfurcht zollen . . . Früher gab's ‘Hegelianer’ und jetzt gibt’s ‘Nihilisten’119. Es ist

,1* Der Ausdruck begegnet bereits bei L u d w i g Feuerbach, Vorlesungen über Geschichte
der neuern Philosophie (1835), Briefwechsel und Nachlaß, hg. v. Karl Grün, Bd. 1 (Leipzig,
Heidelberg 1874), 320.
114 J o s e f D i p p e l , Der russische Nihilismus (Passau 1882), 4. — Gegenüber diesen Diffc-
renzierungsversuchen stellen sich offiziell-kirchliohe Dokumente wio die Enzyklika Leo HI.
„Quod Apostolici muneris" (1878) auf den faktischen Sprachstandard ein, indem sie von
Sekten und Parteien der modernen Sozialbewegung spricht, dio mit verschiedenen und fast
barbarischen Namen Sozialisten, Kommunisten oder Nihilisten genannt werden, Päpstliche
Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, hg. v. H e l m u t S c h n a t z (Dannstadt 1973), 49-
, u N i c o l a i K a b l o w i t s c h , Die Entwickelung des Nihilismus, 3. Aufl. (Berlin 1880), 15.
111 J. T u r o e n j e w , Väter und Söhne, Kap. 6. SW, hg. v. Otto Buck (München, Leipzig
1910), 234 f.
JV, 2. Zwischen Pessimismus und Anarchismus Nihilismus

die Generation der um 1840 Geborenen, die, unter dem Eindruck dor technisch-
wissenschaftlichen Revolution in Westeuropa, des naturwissenschaftlichen Materia­
lismus der fünfziger Jahre und dem Versagen des bürgerlichen Liberalismus der
Welt- und Lebensauffassung der „Väter“ entwachsen, auf dom Weg zum „neuen
Menschen“ ist.
Der von Turgenjew ironisch karikierten Gleichsetzung dc3 „Nihilisten“ mit dem
„neuen Menschen“ antwortet N i k o l a i T s o h e b n y s o h e w s k i j s Roman „Was tun“
(1863), der die Bildungselemente jener Generation (Feuerbaoh, Büchner, Moleschott,
Stimer, Schopenhauer und andere) als Ferment revolutionärer Gärungsprozesse be­
greift und dom Schimpfwort ‘Nihilist1 die positive Bedeutung eines Parteinamens
verschafft. Hinter Tschemyschewslrijs „neuen Menschen“ , dio sich selbst ‘Nihi­
listen’ nennen, formiert sich jene Partei des „jungen Rußland“ , die auf der Suche
nach dem „Neuen“ unters Volk und schließlich— nach Enttäuschung hochgespann­
ter Erwartungen — zur Position des terroristischen Einzelkampfes gegen den Zaris­
mus weitergeht.
Ihre ursprüngliche Geschichtsphilosophie— eine säkularisierte, an die Gott-isfr-Tod-
Redc gebundene Eschatologie — hat D o s t o j e w s k i j mit analytischer Scharfsioht
skizziert. Wenn Gott tot und damit „alles erlaubt“ ist, sagt der nihilistische Scher
Kirillow in dem Roman „Dio Dämonen“ (1871), wird ein neuer Mensch sein, alles
wird neu sein . . . Bann wird man die Weltgschichte in zwei Abschitte einteilen: vom
Gorilla bis zur Vernichtung Gottes, von der Vernichtung Gottes bis . . . zur physischen
Umwandlung der Erde und des Menschen, d. h. bis zur Ersoheinung des „neuen
Menschen“ , der sich selbst zum Gott geworden ist. Die Epiphanie des Menschgottes
vollzieht sich in dor Partei des „jungen Rußland“ . Die unseren, läßt Dostojewskij
eine seiner Dämoncngestalten bekennen, sind nicht nur jene, die da schneiden und
brennen, die klassische Schüsse abgeben oder andere beißen . . . Der Lehrer, der mit den
Kindern zusammen über Gott und über ihre Wiege lacht, isi schon unser. Der Advokat,
der den gebildeten Mörder damit verteidigt, daß er enlwicJxlter sei als seine Opfer und
daß er, um Geld zu bekommen, gar nicht anders könne als morden,ist schon unser...
Die Geschworenen, die die Verbrecher durchweg freisprechen, sind unser’11'’ . Kurz: Die
„Nihilisten“ sind nicht mehr nur „Sekte“ , sondern gleichen der „unsichtbaren Kir­
che“ , die überall Proselytcn macht. Dostojewskijs „Dämonisierung“ des Nihilismus
ist von Turgenjews ironisch-distanzierter Beschreibung obenso weit entfernt wie von
der historischen Situation, entspricht aber auf ihre Weise der öffentlichen Meinung
Rußlands und bald auch Europas über die sozial-revolutionäre Bowegung der sieb­
ziger und frühen achtziger Jahre, die nun wieder in eindeutig negativer Kennzeich­
nung ‘Nihilismus’ heißt. Der Bedeutungsumschlag wird rückblickend von J. T u r­
g e n j e w notiert: Nicht im Sinne eines Vorumrfs, einer Kränkung hatte ichdieses Wort

gebraucht, vielmehr als einzigen richtigen Ausdruck für ein historisches Faktum; cs
wurde aber zu einem Werkzeug falscher Anklagen — ja beinahe zu einem Brandmal der
Schande gemacht111.

1,7 FjODOaMionAJLOwrraanDosTOJEWSKU, Die Dämonen, Tl. 1, Kap. 3, Abächn. 8; TI. 2,


Kap. 8, dt. v. Marianne Kegel (litinchon 1961), 135. 478 f.
111 Tueoenjew , Literatur- und Lebenserinnerungen (s. Anm. 4), 253. Dnrch dio Attentate

24— 9038« 401


Niliilijm ua .
IV . 2 Z w ilchen P e isim iim iu a n d An&rchum iu

Eine geschichtlich-exemplarische Begriffsbestimmung h a t — a u s der Perspektive


je n e rBewegung — A. H erzen gegeben: ‘Nihilismus’ heißt die vollkommenste Frei­
heit von allen /ertigen Begriffen, von allen ererbten Hindernissen und Störungen, welche
das Vorwärtsschreiten des okzidentalen Verstandes mit seinem historischen Klotz am
Fuß behindern. Nach dieser n o c h immer hegelianisierenden Definition r e i c h t die
Genealogie der „Nihilisten“ über die Generation der Basarow, Netschajew und Kon­
sorten w e i t h i n a u s . Sie umfaßt die gesamte S o z i a l r e v o l u t i o n ä r e Bewegung Rußlands,
v o n W. Bjelinskij angefangen b i s hin zu Petraschewskij und der Zentralfigui
A. Herzen selbst. Als Bielinski, sagt Herzen in seiner Studie „ Ü b e r B a s a r o w “ (1869),
auf die Erläuterung eines Freundes darüber, daß der Geist im Menschen zur Selbst­
erkenntnis gelange, mit Unzufriedenheit eine schnöde Antwort gab — war er Nihilist. . .
Als Bakunin die Berliner Professoren ihrer Furchtsamkeit und die Pariser Revolutio­
näre von 1848 des Conservatismus überführte— war er ein vollkommener Nihilist. . ;
Als Petraschewski und seine Genossen zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, weil sie —
wie die Sentenz lautete — alle göttlichen und menschlichen Gesetze umstoßen und die
Grundlagen der Gesellschaft zerstören wollten, — waren sie Nihilisten119.
Wenn A. Herzen nicht zur Welt gekommen wäre, so hat man gelegentlioh in fran­
zösischen Schriftstellerkreisen gesagt, würde der Nihilismus nicht entstanden sein110.
Daß Herzen, wenn auch nicht der Vater im strengen Sinne des Wortes, so doch jeden­
falls der Geburtshelfer des Nihilismus gewesen sei, oder, wenn man lieber will, Paten­
stelle bei seiner Geburt vertreten habe, ist das Urteil eines katholischen Kulturhistori­
kers der russischen Szene121. Aus russischer, genauer panslawistischer Sicht (Kat-
kow) gilt umgekehrt Deutschland — die Hegelsche Philosophie — als Gebnrtsstätte
des russischen Nihilismus. Der Streit um den Begriff dreht sich jedoch nioht allein
um seine Herkunft, sondern um die geschichtlich-politische Lokalisierung der ihm
zugrunde liegenden Bewegung. Der These, der Nihilismus sei intendiorter Sozialis­
mus und Kommunismus, steht die Gegenthese gegenüber, daß Panslawismus und
Nihilismus Zwillingsgeschwister sind122. Beide Thesen werden durch eine dritte er­
gänzt, wonach er im Kem eine „semitische“ , auf Emanzipation des russischen
Judentums tendierende Bewegung darstellt, die allein an der Auflösung der bis­
herigen Staatengebilde, d. h. der „Anarchie“ , orientiert sei: Das Ziel der Nihilisten
ist die Zerstörung als solche, die panslawistische und die sozialdemokratische Bewegung
wird von ihnen nur als Mittel benützt und zur Gewinnung von Anhängern für ihre
Umsturzidee ausgebeutet . . . Um den Unterschied des Nihilismus vom Sozialismus
uni vom Panslawismus zu erkennen, braucht man nur den einen Punkt zu berücksich­
tigen, daß die Sozialisten einen Staat, den Arbeiterstaat, gründen wollen und daß die
Panslawisten ein großes Reich zu errichten beabsichtigen, während die Nihilisten jeden

der späten siebziger Jahre ausgelöst, ist der „rassische Nihilismus“ Tagesthema der euro­
päischen Presse. Vgl. die Übersicht bei K a rlow itsch , Nihilismus, Vorwort, 3 ff. sowie
D ip p e l , Russischer Nihilismus, 3 f.
iw A r . t T i m w i H e r z e n , Ueber Basarow, Der Polarstern (1869), zit. K ah low itsch ,
Nihilismus, 28 f.
1,0 Vgl. G i o v a n n i B a t t i s t a A kk attd o , Le nihilisme et les nihilistes, übers, v. Henri
Betlenger (Paris 1880).
m Vgl. D i p p e l , Russischer Nihilismus, 44.
m Nihilismus und Panslawismus, Der Kulturkämpfer 13 (1880), 12 ff.

402
IV. 2. Zwiachen Pearimûmus und AnnrcMimtu Nlhllljaraa

Staat verabscheuen und lediglich anarchistische Zustände herbeiführen und die absolute
Freiheit des einzelnen vermitteln wollen123. Der Nihilismus — so etwa lautet das ab­
schließende Urteil der bürgerlich-öffentlichen Meinung in Deutschland, das in diesem
Punkt mit der Parteimeinung der Sozialdemokratie konvergiert — ist Anarchismus
und als Sozialbewegung einer intellektuellen Oberschicht etwas spezifisch Russisches,
.weshalb es absolut unzulässig sei, bei uns in Deutschland die gerade mißliebigen
Parteien durch den Hinweis auf ihre angebliche Verwandtschaft mit den russischen Ver­
schwörern vor der Öffentlichkeit anzuklagen und bloßstellen zu wollen12*.
Tatsächlich hat das Gespenst des „russischen Nihilismus“ sowohl in der taktischen
Bekämpfung der deutschen Sozialdemokratie durch Bismarck als auch in der von
Marx entwickelten Gegentaktik eine wichtige Bolle gespielt. Marx konnte das
gegenüber Engels im Scherz geäußerte W ort: Die russischen Sozialisten begehn die
„Greuel“ , und die „gesetzkonformablen“ deutschen Sozialdemokraten sollen dafür hors
la loi gestellt werden1SS, als Argument in der Reiohstagsdebatte über das Sozialisten­
gesetz (1879) wiederfinden. Im Konspekt zu dieser Debatte setzt sich Marx vor­
nehmlich mit dem generellen Satz auseinander, daß nach aller historischen Erfah­
rung in sozial-revolutionären Bewegungen die extremen Richtungen immer die Ober­
hand gewinnen und die gemäßigteren sich ihnen gegenüber nicht aufrechterhallen können.
Die von dem Preußischen Innenminister E ülenburo verfochtene These ist nach
Marx nicht nur historisch, sondern politisch, d. h. in der Sache falsch, da die anar­
chistisch-nihilistische Richtung kein „ Extrem“ der deutschen Sozialdemokratie dar­
stellt. Bei dieser handelt es sich um die wirkliche historische Bewegung der Arbeiter­
klasse; während jene nur Epiphänomen einer Jugend- und Intellektuellenbewegung
sei, — ein Phantombild der jeunesse sans issue, die Geschichte machen wollen, aber
dabei lediglich zeigen, wie die Ideen des französischen Sozialismus in den hommes
déclassés der höheren Klassen sich karikieren12*.

1,5 D ip p e l , Russischer Nihilismus, 15 f.


154 [Anonym], Was ist der Nihilismus ? (Leipzig 1881), Vorrede, IV. — Die Standardisie­
rung der öffentlichen Meinung erfolgt in den Wörterbüchern und Lexika der Zeit, z. B.
Mey e e 4. Aufl., Bd. 12 (1888), 176: Nihüisten, Bezeichnung für die Anhänger einer unter
der Jugend beider Geschlechter, auch der höchsten Stände, in Rußland hervorgetretenen und
weit verbreiteten Anschauungsweise (Nihüismus), welche nach der Zertrümmerung der ge­
schichtlichen Grundlagen der Gesellschaft und des Staats etrebt und rein materialistische oder
sozialdemokratische oder auch ganz utopistische Ziele verfolgt, teilweise aber durchaus pessi­
mistisch an der Welt verzweifelt, nichts als gut oder verbesserungsfähig gelten läßt und daher
das eigne sowie andrer Zehen für wert- und zwecklos hält. Der Name kommt zuerst in Turgen-
jevs Roman „Väter und Söhne" (1861) vor; G r i m m Bd. 7 (1889), 845: Nihüist, ein nichts
(lat. nihil) glaubender . . . nun besonders als bezeichnung gebraucht fürdie anhänger der russi­
schen social-revolutionären partei, welche religion, Staat, ehe, eigentum aufhebtn und von der
gesamten modernen cultur nichts übrig lassen will; Staatslexikon, Bd. 2 (1892), 129: Die durch
ihre Attentate hinlänglich charakterisierten „Nihilisten" sind „ konsequente Revolutionäre",
welche, wie Bakunins „Rcvolutioruirer Katechismus“ sagt, nur leben, um „die ganze bestehende
bürgerliche Ordnung . . . , die ganze civilisirte Welt samt ihren Gesetzen, ihren Gebräuchen und
ihrer Moral zu zerstören“ .
“ 5 M a b x an Engels, 17. 9. 1878, MEW Bd. 34 (1906), 78. .
131 Den., Konspekt der Reichstogsdebottc aber das Sozialistengesetz, ebd., 487 f.

403
Nihilismus IY. 3. Theorie des Nihilismus

Obwohl sich Marz und Engels offiziell, d. h. seit Erscheinen des „Kommunistischen
Manifests“ (1847), von jeder Spielart des Anarchismus und Terrorismus entachieden
distanzieren, scheinen beido inoffiziell während der siobziger und frühen achtziger
Jahre ihre revolutionäre Hoffnung zeitweilig ganz auf die nihilistischen Tendenzen
in Rußland gesetzt zu haben. In einem Interview mit dem Vertreter der „New Yor­
ker Volkszeitung“ , das E ngels nach Abschluß seiner Reise durch die USA im Sep­
tember 1888 gewährte, heißt es u. a.: Frage: Wie denken Sie über Rußland? D, h.
inwiefern haben Sie Ihre Ansicht modifiziert — die Sie und Marx vor elwa 6 Jahren
bei meiner damaligen Anwesenheit in London äußerten — , wonach infolge der nihili­
stisch-terroristischen Erfolge jener Zeit der Anstoß zu einer europäisch-revolutionären
Bewegung wahrscheinlich von Rußland ausgehen würde? Engels: Bin im ganzen noch
der Ansicht, daß eine Revolution oder selbst nur die Berufung irgendwelcher National­
versammlung in Rußland die ganze Gestalt der europäischen politischen Lage umwälzen
würde127. Der späte M ar x ist jedoch im Kontakt mit den Vertretern des „russischen
Nihilismus" (V. J. Zasulitsch) zu der Einsicht gelangt, daß dieser andere Aktions­
formen annehmen, daß er den Wog zum historischen Erfolg über die p o litis c h e
Organisation der S o z i a l r e v o lu t i o n ä r e n Bewegung Rußlands und die E rh a ltu n g
einer spezifisch russischen Sozialinstitution, der „Dorfgemeinde“ , nehmen müsse128.

3. Theorie des Nihilismus: Nietzscho

Im Unterschied zu Marx, der den „russischen Nihilismus“ der historisoh-materiali-


stischen Theorie vom Wandel sozialer Lebensformen zu integrieren und als Mittel zu
revolutionärem Bewußtseinswandel in Richtung „Sozialismus“ zu benutzen sucht,
sieht N i e t z s c h e in der Verbindung beider ein Symptom der décadence des Jahr­
hunderts — des dem „Leben selbst“ immanenten „Schwächegefühls“ , das sich als
Stärke maskiert. Mit Nietzsche tritt die Gcschichte des Begriffs über die Grenzen
einer metaphysisch-religiösen Sprechweise auf der einen, politisch-ästhetisoher Pa­
rolen auf der anderen Seite hinaus. Obwohl der Terminus ‘ Nihilismus’ — wahr­
scheinlich unter dem Eindruck der europäischen Diskussion um die russisch-sozial-
revolutionäre Bewegung — erst in Nietzsches Spätphilosophie auftritt, erreicht er
bald eine Tiefendimension, die ihr die Oberfläche des zeitgenössischen Sprachge­
brauchs zu durohbrechen und an der Semantik des einen Wortes den historischen
Hintergrund des Übergangs zur Moderne zu entschlüsseln erlaubt. Schlüsselphäno­
men ist die E n tw e rtu n g aller W e r te , die mit dem Wandel alteuropäischer
L eb en sform en , insbesondere der bürgerlich-christlichen Lebensform, einher- und
auf die (mit den Griechen beginnende) „moralische“ Weltauslegung zurückgeht.
Das ‘Nihilismus’ genannte Phänomen entspringt nicht nur der Traditionsfeindschaft
der Aufklärung und ihrem Zusammenspiel mit Naturwissenschaft, Metaphysik und
Politik, sondern dem christlichen Glauben, der im geschichtlichen Prozeß an sich
selbst zugrunde geht. Der Satz: „G ott ist tot“ erscheint bei Nietzsche nicht als eige­
ner philosophischer („atheistischer“ ) Lehrsatz. Er beschreibt vielmehr das zentrale

lä: New Yorker Volkazeitung, Nr. 226 v. 20. 9.1888, MEW Bd. 21 (1962), 512.
1,1 Ma r x , Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. J. Sassulitsch (1881/82), ÎÆEW
Bd. 19 (1982), 384 ff.

404
w
\x
y

IV. 3. Theorie du Nihilinntu IViliililmtu

Ereignis der neueren Geschichte, die sich mit dem Übergang zur Moderne von dem
Grundsatz: „G ott ist die Wahrheit“ zu dem Satz: „Alles ist falsch“ hinbewegt. Die
geschichtliche Epoche, die im Schatten dieses Ereignisses beginnt, bezeichnet
Nietzsche als ‘ europäischen Nihilismus’. Seine Ursachen und Symptome sind kom­
plex: 1. Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aUer
Qäste? — Ausgangspunkt: es ist ein Irrtum, auf „soziale Notstände“ oder „'physiolo­
gische Entartungen“ oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus.
Es ist die honetteste, mitfühlendste Zeit. Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an
sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d. h. die radikale Ablehnung von Wert,
Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen . . . 2. Der Untergang des Christentums an
seiner Moral ( die unablösbar ist —) , welche sich gegen den christlichen Gott wendet. . .
Rückschlag von: „Gott ist die Wahrheit“ t» den fanatischen Glauben „Alles ist falsch“ .
Buddhismus der T a t . . . 3. Skepsis an der Moral ist das Entscheidende. Der Untergang
der moralischen Weltauslegung, die keine Sanktion mehr hat, nachdem sie versucht hat,
sich in eine Jenseitigkeit zu flüchten: endet in Nihilismus . . . Der philosophische Ver­
such, den „moralischen Gott“ zu überwinden . . . 4 . Gegen die „Sinnlosigkeit“ einerseits,
gegen die moralischen Werturteile andrerseits: inwiefern alle Wissenschaft und Philo­
sophie bisher unter moralischen Urteilen stand? und ob man nicht die Feindschaft der
Wissenschaft mit in den Kauf bekommt? Oder die Antiwissenschaft? Kritik des
Spinozismus . . . 5. Die nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft
(nebst ihren Versuchen, ins Jcnscitige zu entschlüpfen). Aus ihrem Betrieb folgt endlich
eine Selbstzersetzung, eine Wendung gegen sich, eine Anliwissenschaftlichkeit. Seit
Kopemikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X . 6. Die nihilistischen Konsequen­
zen der politischen und volkswirtschaftlichen Denkweise, wo alle „ Prinzipien“ nach­
gerade zur Schauspielerei gehören . . . Der Nationalismus. Der Anarchismus usw. . . .
7. Die nihilistischen Konsequenzen der Historie und der „praktischen Historiker“ , d. h.
der Romantiker. Die Stellung der Kunst: absolute Unoriginalität ihrer Stellung in der
modernen Welt. Ihre Verdüsterung . . . 128
Die Komplexität der Symptoms und ihrer Diagnose bestimmt die begriffliche Deu­
tung, die Nietzsche der Genese des „europäischen Nihilismus“ gibt. Der Begriff be­
zeichnet einmal einen historischen Zustand, d. h. die Geschieht« des Übergangs zur
Moderne, die im Schatten des Ereignisses vom „Tode Gottes“ verläuft; und zum
anderen bezeichnet er einen „psychologischen Zustand“ , d. h. die Bewußtaciasstcl-
lung des Menschen in einer wert- und sinnlos gewordenen Welt. ‘Nihilismus’ ist der
zusammenfassende Ausdruck für die von Nietzsche vertretene These, daß es keine
(natürlich oder geschichtlich vorgegebene) Ordnung in der Welt, speziell keinerlei
moralisch-politischen Wertordnungssysteme, gibt.
Der Entwertungsprozeß erstreckt sich zuoberst auf die von Nietzsche so genannten
kosmologiscken Werte von „Zweck“ , „ Einheit“ und „Wahrheit“ eines Natur und Ge­
schichte übergreifenden Ereigniszusammenhangs, der dio vor-nihilistische Bewußt-
soinsstellung des Menschen fundiert. Der Nihilismus als psychologischer Zustand, so
interpretiert Nietzsche, wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen „Sinn“ in
allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut
verliert. Die Enttäuschung über einen angeblichen Zweck des Werdens (sei es in Hin-

ln N i e t z s c h e , A us dom Nachlaß der achtziger Jahre, Werke, Bd. 3 (1956), 881 f.

405
Nihilism us IV. 3. Theorie du Nihilismus

sicht auf einen ganz bestimmten Zweck, sei es, verallgemeinert, die Einsicht in dos
Unzureichende aller bisherigen Zweckhypothesen, die die Natur und Geschichte im
ganzen betreffen) führt dann, zum „Bewußtsein“ des Menschen, daß es mit ihm als
Mitarbeiter oder Mittelpunkt der'Weltgeschichte „nichts“ sei. Derselbe psychologi­
sche Enttäuschungszustand tritt zw eiten s ein, wenn man eine Ganzheit, eine Sy­
stematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen
angeselzt hat. . . Eine Art Einheit, irgendeine Form des „Monismus": und infolge die­
ses Glaubens der Mensch in tiefem Zusammenhangs- und Abhängigkeitsgefühl von einem,
ihm unendlich überlegenen Ganzen, ein modus der Gottheit. Der Mensch wird notwendig
den Glauben an den eigenen „"Wert“ verlieren, wenn sein Dasein nicht mehr auf die
Form der Einheit des Kosmos bezogen ist, da er, um an ihn glauben zu können, eine
kosmologische Einheitsform erst projektiert hat. Begriffsprojektionen dieses Typs
sind das Geschäft der Metaphysik, die zur natürlioh-geschichtliohen Welt eine
„wahre“ Welt des „Seins“ hinzuerfanden und ab Ausflucht vor dem „Nichts“
offengchalten hat. Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen
Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so
entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische
Welt in sich schließt, — welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet130.
Obwohl Nietzsche damit in gewisser Weise die Metaphysik-Kritik der Aufklärung
wieder aufnimmt und fortsetzt, begreift er sich weder als philosophischen Nihilisten
oder ‘Freigeist’ im älteren131 noch als ‘Atheisten’ , ‘Fatalisten’ oder ‘Pessimisten’ im
neueren Sinne des Wortes. Der traditionell-begriffliche Kontert von ‘Atheismus’,
‘Pantheismus’, ‘Fatalismus’ usw. wird überlagert von Begriffen wie ‘Pessimismus’,
‘Positivismus’, ‘Historizismus’ . Romantischer Pessimismus wie wissenschaftlicher
Positivismus gelten beide als Vorformen des Nihilismus. Im Verhältnis zum roman­
tischen Pessimismus & la Schopenhauer ist der Positivismus der Natur- und Ge­
schichtswissenschaft bereits ein Fortschritt in der Richtung zum „Nichts“ , aber wie
dieser wesentlich zweideutig. „Positivistisch“ ist das für die Moderne symptoma­
tische Verlangen nach Halt, Stütze, kurz jener Instinkt der Schwäche, welcher Religio­
nen, Metaphysiken, Überzeugungen aller Art zwar nicht schafft, aber — konserviert132.
Nietzsche bezeichnet damit die nihilistische Gegenwende, die er als „ideologische“
Verschleierung des Phänomens sowohl im konservativ-eklektischen Beharren als
auch im teleologischen Progressismus am Werke sieht. Historische Beispiele sind
neben „Liberalismus“ und „Sozialismus“ der chauvinistische „Nationalismus“ (die
„Vaterländerei“ ), im Bereioh der Kunst die Wagnersche Musik und der Naturalismus
des französischen Romans (Zola) und in der Praxis der sozialen Bewegung der
„Nihilismus nach Petersburger Muster“ , der im Glauben an den Unglauben, bis zum
Martyrium dafür, besteht133. Zusammen mit der nihilistischen Wende definiert die
Gegenwende jenen problematischen „Zwischenzmtand“ einer allgemeinen „Anar­
chie der Werte“ , den Nietzsche ‘unvollständigen Nihilismus’ nennt: Der unvoll­
ständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilis­

130 Ebd., C76 ff.


131 Vgl. ebd., 679 u. ebd., Bd. 2 (1955), 210 f.
131 Dors., Die fröhliche Wissenschaft, Werke, Bd. 2, 212.
133 Ebd., 212 f.

406
XV* 3. Theorie des Nihilismus Nihilismus

mus zu entgehen, ohne die bisherigen Werte umzuwer/en, bringen das Gegenteil hervor,
verschärfen das Problem13*. Der Fortgang zum „vollständigen Nihilismus“ vollzieht
sich über die Weiterentwicklung des Pessimismus, der aus der Passivität intellektuel­
ler Weltverneinung heraus- und als Wille zur Tat auftritt. Der Nihilismus, so lautet
die nicht eben originelle, zwischen Schopenhauer und Bakunin spielende Schluß­
folgerung, ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das „Umsonst!“ , und nicht nur der
Glaube, daß alles wert ist zugrunde zu gehen: man legt Sand an, man richtet zugrunde
. . . Bas ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung,
logisch zu sein . . . Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es
nicht möglich, bei dem Nein „des Urteils“ stehen zu bleiben: — das Nein der Tat kommt
aus ihrer Natur. Ber Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtsung
durch die Hand13i. Der Nihilismus ist wesentlich zweideutig; er begegnet, wie auch
der Pessimismus, in doppelter Gestalt: A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten
Macht des Geistes: der aktive Nihilismus. B. Nihilismits als Niedergang und Rückgang
der Macht des Geistes: der -passive Nihilismus131. Beide definieren den ‘vollständigen’
oder ‘extremen Nihilismus’, der den Prozeß der Entwertung durch Einsicht in die
„Wert-Freiheit“ der natürlich-geschichtlichen Welt auf die Spitze des Gedankens
(Er legt den Wert der Binge gerade da hinein, daß diesen Werten keine Realität ent­
spricht und entsprach, sondern daß sie nur ein Symptom von Kraft auf seiten der
Wert-Ansetzer sind, eine Simplifikalion zum Zweck des Lebens)131 und diesen zur T a t
weitertreibt. Der „aktive“ wird dann zum ekstatischen Nihilismus, der dem Philo­
sophen als mächtiger Bruck und Sammer dient, mit dem er Leben hemmende Ord­
nungen zerbricht, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder um ¿lern,
was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben133, so daß sich
etwa folgendes Deutungsschema abzeichnet:
Nihilismus
unvollständiger ’ vollständiger
politischer wissenschaftlicher passiver aktiver
(„Liberalismus“ , („Historismus“ , („Pessimismus“ , ekstatischer
„Sozialismus“ , „Positivismus“ ) „Buddhismus“ ) („Überwindung
„Chauvinismus“ ) des Nihilismus“ ,
„Wille zur Macht“ )
Indem der Entwertungsprozeß der „kosmologischen („obersten“ ) Werte“ von
„Zweck“ , „Einheit“ und „Wahrheit“ sein höchstes Stadium erreicht, d. h. mit dem
Tode Gottes, kann der „Wille zum Nichts“ auf der Spitze des Nihilismus in das
„Wollen des Daseins, so wie es ist“ , Umschlägen. Um das nicht mehr „nichtige“ Sein
von Natur und Geschichte als dio Wiederkehr des Gleichen an- und hinnehmen zu
können, bedarf es jenes sich selber wollenden Lebenswillens, den Nietzsche untor der
Formel: „Witte zur Macht— Versuch einer Umwertung aller Werte“ denkt. Sie bringt
eine Gegenbewegung zum Ausdruck, die mehr ist als bloße „Reaktion“ und den

134 Dera., Nachlaß, 021.


135 Ebd., 912. 070.
134 Ebd., 657.
*” Ebd.
133 Ebd., 444.

407
Nihilismus rV. 3. Theorie des Nihilismus

„Zwiackenzustand“ des europäischen Nihilismus im Spannungsfcld von romanti­


schem Pessimismus und aufklärerischem Positivismus beondet — eine Bewegung,
welche in irgendeiner Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus abläsen wird; welche ihn
aber voraussetzt, logisch und psychologisch; welche schlechterdings nur auf ihn und aus
ihm kommen kann139. Der „Wille zur Macht“ wird zum Ursprung und Maßstab einer
neuen Wertsetzung, die der mit dem Zusammenspiel von Aufklärung, Wissenschaft
und Metaphysik verknüpften Verflachung der Welt zur Lebensform, des „letzten
Menschen“ entgegensteuern und die des „Übermenschen“ vorbcrciten soll.
Der Nihilismus nimmt demnach im Verlauf des Übergangs zur Moderne durch dio
Herkunft aus dem „Tode Gottes“ und seine Bezogenheit auf die Leb.ensform des
„Übermenschen“ , der einzig „Zweck“ des natürlich-geschichtlichen Gesamt­
geschehens sein kann, eine Zwischenstellung ein. Im Kontext dieser geschichts-
philosophischen Ausdeutung, wonach aus dem Niedergang der alten Werte (der
„Moral“ des „D u sollst“ ) der Hervorgang einer neuen Wertsetzung (des „Ich will“ )
folgt, faßt sich in ihm das Problem der „Modernität“ , die „nicht ein und nicht aus
weiß“ , zusammen. Der „erlösende Mensch der Zukunft“ ist nicht nur „Nihilist“
oder der Besieger Gottes, der dem „letzten Menschen“ , d. h. dor privaten Gestalt
des um sein „Glück“ zentrierten „Egoisten“ , gleicht; er ist zugleich „Antinihilist“
oder der Besieger des „Nichts“ und d a m it weder „bisheriger“ Mensch noch Men­
schengott, sondern Znkunfts-Mensch : JDieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom
bisherigen Ideal erlösen wird als von dem, was aus ihm wachsen mußte, vom großen
Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus, dieser Glockenschlag des Mittags und
der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und
dem Menschen seine Hoffnung zurilckgibt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser
Besieger Gottes und des Nickts — er muß einst kommen1*0.
Nietzsches Antizipation des „Antinihilisten“ und seiner künftigen Lebensform ist
freilich nicht mehr politische Philosophie, sondern eine geschichtsphilosophisch be­
gründete Utopie, die weder mit der natürlich-geschichtlichen Welt noch mit dem
eigenen Erkenntnisansatz ganz zm Deckung gelangt. Die „dionysische“ Welt­
bejahung des Übermenschen setzt Identität von „Sein“ und „Sollen“ und damit
Aufhebung der nominalistischen Wisscnschafts- und Wertkonzeption voraus, die
Nietzsche selber, in Übereinstimmung mit der neuzeitlichen Aufklärung, Meta­
physik und Wissenschaft, vertritt. Wie bei Hobbes, so folgt auch bei Nietzsche aus
dem wissenschaftstheoretischen der politische Nominalismus, so daß dio Lebens­
formen des Zukunfts-Menschen unverändert in Kategorien von „Herrschaft“ und
„Unterwerfung“ gedacht werden: Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusam­
menspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist:
also Gegensatz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschaftsgebilde, das eins be­
deutet, aber nicht ist1*1.

» » Ebd., 634 f.
uo Dera., Zur Genealogie der Moral, Werko, Bd. 2, 83ß f. Vgl. K a r l Löwrrii, Nietzsches
Philosophie der ewigen Wiedorkehr des Gleichen, 2. Aufl. (Stuttgart 195G), 60 f.
1,1 N i e t z s c h e , Nachlaß, 500, ferner 682. 777 f. Vgl. dazu dio treffenden Bemerkungen bei
A r t h u r C o l e m a n D a k t o , Nietzache as Phiiosophcr (New York, London 1965), 19 ff. u.
J X n o s k a , Geschichte des Nihilismus (s. Anm. 6), 9.

408
V , A u s b lic k Nihilismus

V. Ausblick: Verwirklichungen des Nihilismus in Natur und Geschichte

Der utopische und experimentell-philosophische Charakter von Nietzsches Anti­


zipation des „Antinihilisten“ , der sich zugleich als „Antichrist“ versteht, ist in der
Nietzsche-Nachfolge des 20. Jahrhunderts vielfach verkannt und ins Politische um­
gedeutet worden. Mit der Umdeutung der ästhetischen Utopie vom Übermenschen
zur Theorie der bevorzugten Menschenrasse und ihrerVereinheitlichung im völkisch­
politischen Staat erhält der unüberwundene Nihilismus des 19. Jahrhunderts erst
seine volle Explosivkraft. Der „aktivistisch“ gewordene Nihilismus kennzeichnet
insbesondere das Schrifttum der „Revolution von rechts“ (E. Jünger, 0 . Spengler,
Möller van den Bruck u. a.). Wir haben, so bekennt E. J ü n g e r im Rückblick auf die
Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, stramm nihilistisch einige Jahre mit Dynamit
gearbeitet und, auj das unscheinbarste Feigenblatt einer eigentlichen Fragestellung ver­
zichtend, das 19. Jahrhundert — uns selbst — in Grund und Boden geschossen, nur.
ganz am Ende deuteten sich dunkle Mittel und Männer des 20. an142. Die theorie- und
illusionslose Bejahung des kriegerischen Geistes, den Jünger zugleich mit dem Geist
„Des Arbeiters“ (1932), d. h. des nicht mehr nach den Zwecken seines Tuns fragen­
den Technikers der industriellen Welt identifiziert, ist auch als heroischer Nihilis­
mus113 bezeichnet worden.
Der theorielose Nihilismus weiß sich einig mit dem revolutionären Aktivismus, der
in der Zeit des Nachkriegs den archimedischen Punkt einer E n ts ch e id u n g sucht.
In diesem Kontext sinkt der Begriff wieder aus der analytisch-geschichtlichen Pro­
filierung in die Profillosigkeit des Schlagworts und der politischen Kampfparole
herab. Nach 0 . Spengler entspringt der Nihilismus dem abgründigen Haß des
Proleten gegen die überlegene Form jeder Art, gegen die Kultur als deren Inbegriff,
gegen die Gesellschaft als deren Träger und geschichtliches Ergebnis111. Derselbe Aus­
druck, der dem Konservatismus von Spengler die liberal-sozialen Extreme der mo­
dernen Welt — Jakobinismus und Bolschewismus — und darin Anfang und Ende
einer einheitlichen Bewegung bezeichnet145, benennt bei J ünger den magischen
Nullpunkt, an dem zugleich nichts und alles istu i . Eine Variante dieser Formel, mit
der die kämpferische Bereitschaft zum „Nichts“ universal wird, ist der Grundsatz
der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie, wonach das Volk „alles“ und
der einzelne „nichts“ sei. Als ihr Wortführer erscheint C. Schmitt , dem sich das
Wesen aller politischen Lebensformen auf eine „aus dem Nichts geschaffene Ent­
scheidung“ reduziert. Während der Annihilismus von Hobbes’ politischer Philo­
sophie, der Schmitt nahezustehen meint, davon ausgeht, daß nur Gott, aber niemals
der Mensch etwus aus nichts schallen kann, definiert der selbstbewußte Nihilismus
von C. Schmitt im Ausgang vom Freund-Feind-Verhältnis das Politische rein
„existentiell“ oder „dezisionistisch“ , womit sich die mögliche Einschränkung des
Naturzustandes zu seiner Beibehaltung, der unbeschränkten Bejahung des status

145 E r n s t J ü n q e b , Das abenteuerliche Herz (1929), Werke, Bd. 7 (Stuttgart 1961), 132.
“ 3 A l f r e d v . M a r t in , Der heroische Nihilismus und scino Überwindung. Emst Jüngers
Weg durch die Kriso (Krefeld 1948).
l “ O s w a l d S p e n o l e r , Jnhro der Entscheidung (München 1933), 68.
“ » Ebd., 115.
M* J ü n o e r , Das abenteuerliche Herz, 162.
Nihilismus V. Ausblick

belli, verkehrt147. Die von Schmitt gelehrte „Totalität“ des Politischen hat danach
der totalitäre Staat des Nationalsozialismus in eine abgrllndig dezisionistische Praxis
umgesetzt, die mit Recht als Revolution des Nihilismus beschrieben werden
konnte148.
Dagegen hat sich die „Revolution von links“ , soweit sie in der Tradition von Marx
und Engels steht, der Bcgrif&verbindung mit dem ‘Nihilismus’ erwehrt. Ihre Ver­
treter — von F. Mehring bis G. Lukdcs — interpretieren ihn als geschichtliche
Erscheinung eines Zeitalters, mit dem das Bürgertum in die ideologische and ökono­
mische Krise gerät. Für G. L u xios ist der Nihilismus eine Spielart des weltanschau­
lichen Irrationalismus, der sich der bürgerlichen Philosophie seit dem Umschlag der
politischen in die soziale Bewegung zunehmend bemächtigt und eine bloße Reaktions-
jorm (Reaktion . . . im Doppelsinn des Sekundären und des Retrograden) auf die dia­
lektische Entwicklung des menschlichen Denkens darstellt143. Die ideologiekritische
Diagnose geht jedoch an wesentlichen Aspekten der geschichtlichen Erscheinungen
des Übergangs znr Moderne vorbei. Geschichtlich neuartig erscheint der Kontext,
in dem der Nihilismus jetzt „aktivistisch" wird. Begriffskonstollation ist nicht mehr
das C haos, sondern die O rd n u n g , die das „Nichts“ gebiert,' genauer: die durch-
rationalisierte und technisch perfektionierte Herrschaftsordnung des bürokratisch­
totalitären Staats, der B ich Organe der Vernichtung schafft150.
Diese Konstellation ist, im Anschluß an Nietzsche, zuerst wieder von K. Jaspers
und M. Heidegger umfassend analysiert und beschrieben worden. Während sich J a s ­
p e r s ’ „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) auf eine innerphilosophisohe „T y­

pologie des Skeptizismus und Nihilismus“ beschränkt151 und H e e d e g g e r s Haupt­


werk „Sein und Zeit“ (1927) Nietzsches Fragestellungen zunächst ganz überspringt,
wenden sich ihre späteren Schriften den Symptomen praktischer Verwirklichung des
Nihilismus in Natur und Geschichte des Menschen durch die neuartige Kombination
der Politik mit den Mitteln der modernen Technik und Wissenschaft zu15*. Nihilisti­
sche Gmndeifahrongen, die alle Ideologiebildung und Theorie in den Schatten stel­
len, sind neben der Besinnungslosigkeit des massenhaften Sichtreibenlassens und
der.planmäßig betriebenen Massenvemichtung in der „Weltinnenpolitik“ totalitärer
Staaten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entfesselung tech-

1,1 C a r l S c h m it t , Ser Begriff des Politischen, 3. Aufl. (München, Leipzig 1932), 20 ff.
i « H m r im i R a tt sc h n in o , Bio Revolution des Nihilismus, 2. u. 3. verb. Aufl. (Zürich,
New York 1938).
»** Q e o r o L u k X c s , Die Zerstörung der Vernunft (Berlin 1954), 83. Vgl. ebd., 416 ff. 427 ff.
150 Inzwischen, so bemerkt dazu der späte E r n s t J ü n g e r treffend, hat sich erwiesen, daß
der Nihilismus mit ausgedehnten Ordnungssystemen wohl harmonieren kann, ja daß das, u-o
er aktiv wird und Macht entfaltet, sogar die Hegel ist. Die Ordnung ist für ihn ein günstiges
Substrat; er bildet es zu seinen Zielen um, Über dio Linie, in: Anteile, Fachr. Wahttw TTttt-
d e o o e r (Frankfurt 1950), 253 f.

“ 1 K a r l J a s p e r s , Psychologie der Weltanschauungen (Berlin 1919), 252 ff.


1,3 Vgl. dere., Der philosophische Glaube (München 1948), 103 ff.; Vom Ursprung und
Ziel der Geschichts (München, Zürich 1949); Dio Atombombe und die Zukunft des Men­
schen (München 1956); M a r t i n H e i d e g g e r , Der Satz vom Grund (Pfullingen 1957);
Nietzsbho,Bd. 1—2 (Pfullingen 1961), bes. Bd. 2,31 ff.: DerouropäischoNihilismus; B d .2,
355 ff.: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus; Dio Technik und die Kehro
(Pfullingen 1962).

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y, Aoiblick Nihiliimoi

nisoher Desfcruktivkraft — die wachsende Zerstörung der natürlichen Umwelt des


Jlenschen bis hin zu den Gefahren kollektiver Selbstvernichtung, womit die progres­
sive Zerstörung menschlicher Innenwelten und ihrer Bezüge zur gesellschaftlich­
geschichtlichen Mitwelt im Phänomen des Tenorismus — einer Variante des aktiv­
ekstatischen Nihilismus — einhergeht. Nach Heidegger verkennt sich der Wille zur
Überwindung des heute durchschnittlich vorherrschenden, von Jaspers so genann­
ten ‘faktischen Nihilismus’ selbst, wenn er nicht zuvor das Wesen des Nihilismus,
d. h. die Geschichte des Ausbleibens des Seins ah solchen, erfahren hat153. Ob diese
Geschichte mit der von Heidegger entworfenen Metaphysik-Geschichte zusammen-
fällt, scheint aus der Perspektive der Begrifisgoschichte fraglich, da die „Seins-
geschichte“ weder mit den geschichtlichen Geschehnissen des Übergangs zur Mo­
derne noch mit dem für die Entstehung des Nihilismusproblems konstitutiven Zu-
sammenspiel von neuzeitlicher Metaphysik, Naturwissenschaft und politischer Phi­
losophie hinreichend vermittelt ist.
Wie der bcgriUsgeschiohtliche Diskurs zeigt, läßt sich die von P. Sohlegel gestellte
Frage, ob der „Nihilismus“ neben „Idealismus“ und „Realismus“ ein eigenes philo­
sophisches System bilde, nur negativ beantworten. Indem die Bewegung des Be­
griffe bei Nietzsche in die These einmündet, daß es keinerlei Ordnung in der Welt,
speziell keine moralisch-politische Ordnung, gibt, generalisiert er die historisch
situierte Erfahrung der mit dem Übergang zur Moderne verknüpften Auflösung
alteuropäischer Lebens- und Wertordnungen, ohne Beine Generalisierungen ana­
lytisch oder empirisch begründen zu können. Empirisch gesehen gehört die ‘nihili­
stisch’ genannte Erfahrung zur Dauererfahrung des „Untergangs“ politisch-sozialer
Lebensformen, der auch in anderen historischen Epochen (zwischen Spätantike und
frühem Christentum, zwischen Mittelalter und früher Neuzeit usw.) stattfindet. Am
diskursiven Anspruch der Philosophie gemessen, ist ‘Nihilismus’ koin Begriff, dem
Erfahrung einen Gegenstand verschaffen kann. Sein ursprünglicher Ort liegt in
jenem Bereich der politischen Sprache, dem sowohl Anschauung als auch Begriff—
die beiden Mittel erfahrungswissenschaftlichen Erkennens — schwinden. „Nichts“
(nihil negativnm) ist der Gegenstand eines Begriffs, der sich selbst widerspricht, von
ihm gibt cs im strengen Sinne weder Bild und Schema noch Begriff151. ‘Nihilismus’
ist deshalb kein philosophischer Terminus, sondern politisches Kampf- und Grund­
wort — die Spiegelung der Krise der altenxopäischen Welt und des Auf bruchs zur
Weltrevolution im Medium geschichtlicher Reflexion.
M anfred R iedel

153 Ders., Nietzsche, Bd. 2, 383.


154 K a n t , Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. (1787), AA Bd. 3 (1904), 232 f.

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