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Nietzsche und Frankreich
Herausgegeben von
Clemens Pomschlegel und Martin Stingelin
ISBN 978-3-11-019331-2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D aten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
A. Nietzsches Frankreich-Rezeption
Thomas H. Brobjer
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . 13
Ivan Broisson
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Tilo Klaiber
„Ich hasse Rousseau …“ Typus, Antitypus und das Motiv für
Nietzsches Wahlfeindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Renate Reschke
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als
Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah . . . . . . . . . . . . 63
Tobias Dahlkvist
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim
späten Nietzsche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
B. Französische Nietzsche-Rezeption
Marc Sagnol
La première réception de Nietzsche en France:
Henri Lichtenberger, Charles Andler, Geneviève Bianquis . . . 105
Angelika Schober
Man findet bei Nietzsche, was man sucht . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Anatoly Livry
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra . . . . 135
VI Inhalt
Miriam Ommeln
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die
surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von Nietzsches
Ästhetik ist der Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Christian Benne
Den Minotaurus schreiben: autobiographische Tauromachien
bei Leiris und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Andreas Spohn
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie. Überlegungen zu
einem „dreieinen“ Begriff der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Ernani Chaves
„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig
zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“ Zur
Auseinandersetzung mit der französischen Nietzsche-Rezeption
in der Zeitschrift fr Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Clemens Pornschlegel
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Slaven Waelti
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de
Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Marc Rölli
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den
Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Christine Blättler
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber. Zur Ethik
Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Günter Krause
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne:
Hegel – Hölderlin – Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Knut Ebeling
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori.
Transzendierung des Historischen oder Historisierung des
Transzendentalen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Mattia Riccardi
Skandal und Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Inhalt VII
Philippe Lepers
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum . . . . . . . . 337
Michael Platt
“René Girard and Nietzsche Struggling” . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Isabelle Wienand
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ . . . . . . . . . . . . . 377
C. Interpretationen
Catherine Malabou
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence . . . . . . . . . . . . 391
Georg W. Bertram
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche . . . . . . . . 405
Jean-Marc Hémion
Science du Désastre et Démocratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Florian Schneider
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Jean-Clet Martin
Penser par-delà l’homme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Nietzsche ,und‘ Frankreich
Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin
Auf welchem Territorium begegnen sich ein Denker und eine Nation
in ihrem jeweiligen Selbstverständnis und in ihrer gegenseitigen Her-
ausforderung? Wie also läßt sich jenes ,Und‘ vermessen und kartogra-
phieren, das zwischen Nietzsche und Frankreich steht oder als Schnitt-
menge jenen Brückenkopf bildet, von dem aus beide gemeinsam die
(philosophische) Welt erobern?
„Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffi-
nirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks: aber
man muss dies ,Frankreich des Geschmacks‘ zu finden wissen“,1 so hebt
mit Abschnitt 254 von Jenseits von Gut und Bçse (1886) Friedrich
Nietzsches Quintessenz seiner lebenslangen Wertschätzung Frankreichs
an. Es war gleichzeitig das Land, in dem er sich am frühesten verstanden
zu wissen glauben durfte. Nietzsche und Frankreich umreißt folgerichtig
eine Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Begegnungen, die sich je-
weils durch ihre Wechselwirkung auszeichnen und in ihrer historischen
wie systematischen Tiefendimension bzw. Aktualität ausgelotet werden
sollen. Der 200. Jahrestag der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt
vom 10. bis 14. Oktober 1806, zu deren Gedenken die Tagung, aus der
dieser Sammelband hervorgegangen ist, stattgefunden hat,2 war aller-
dings gleichzeitig Anlaß zur Frage, inwiefern es sich dabei um eine
gegenseitige Überwältigung und Bemächtigung, sei’s in einem kriege-
rischen, sei’s in einem kämpferischen Sinne, handelt, kurz: um die
Handgreiflichkeit einer ,Interpretation‘ im interpretationsbedürftigen
1 JGB 254, KSA 5, S. 198 – 200, hier S. 198 (zu den Siglen siehe das Verzeichnis
am Ende dieser Einleitung).
2 „Nietzsche und Frankreich“, internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesell-
schaft e.V. vom 24. bis 26. August 2006 in Naumburg und am 27. August 2006
in Röcken; wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Clemens Pornschlegel und
Prof. Dr. Martin Stingelin, Organisation: Ralf Eichberg; mit freundlicher
Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt und der Französischen Botschaft in
Deutschland.
2 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin
A. Nietzsches Frankreich-Rezeption
Die Frage, wie ,philologisch‘ Nietzsche im Umgang mit ,französischen‘
Autoren verfährt, stellt sich weniger bei Heinrich Heine, der selbst in
vergleichbarer Weise wie Nietzsche einen experimentierenden Grenz-
gänger verkörpert, als etwa bei August Strindberg, den er als ,Franzosen‘
betrachtet – im Gegensatz zu Émile Zola, den er im gleichen Atemzug
kurzerhand zum ,Italiener‘ erklärt. Der Meridian, auf den diese Topo-
graphie geeicht ist, durchzieht in demselben Grad ,Cosmopolis‘,4 wie es
sich dabei um eine Bücherwelt handelt.5 Daher haben alle Beiträge zur
ersten Sektion teil am Projekt, Nietzsches ,ideale Bibliothek‘ zu re-
konstruieren, in der sich die bedeutendsten Ereignisse seiner Begegnung
mit Frankreich abspielen.
3 Der Schauplatz der Begegnung von Nietzsche und Frankreich wäre aus der
Perspektive Nietzsches also nicht zuletzt jenes Feld, auf dem „etwas Vorhan-
denes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm
überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen,
zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Ge-
schehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä l t i g e n , H e r r w e r -
d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-In-
terpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn‘ und ,Zweck‘
nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“ (Zur Genealogie
der Moral, Zweite Abhandlung 12, KSA 5, S. 313 – 316, hier S. 313 – 314).
4 Vgl. Mazzino Montinari, „Nietzsche in Cosmopolis. Französisch-deutsche
Wechselbeziehungen in der europäischen Décadence“, in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung Nr. 164, 19. Juli 1986, Tiefdruckbeilage, und ders. „Aufgaben der
Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französi-
schen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis
und Sara Lennox (Hrsg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968,
Bern und Stuttgart: Francke Verlag 1988, S. 137 – 148.
5 Vgl. Giuiano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par
Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001 (=
Perspectives germaniques).
Nietzsche ,und‘ Frankreich 3
B. Französische Nietzsche-Rezeption
C. Interpretationen
16 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu’est que la philosophie ?, Paris: Les Éditions de
Minuit 1991, S. 99 – 100 (deutsche Übersetzung von uns, C. P. und M. St.).
8 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin
17 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Clemens Pornschlegel, „Der Ort der
Kritik. Zur Diskussion der Menschenrechte bei Gilles Deleuze und Félix
Guattari“, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hrsg.), Gilles Deleuze. Flucht-
linien der Philosophie, München: Wilhlm Fink 1996, S. 179 – 197.
18 Damit läßt sich womöglich eine neuerliche Wiederholung jener grotesken
politischen Mißverständnisse ausschließen, in denen sich ein Großteil der
(angeblich) aufgeklärten, deutschen Beobachter der französischen Nietzsche-
Rezeption der sechziger und siebziger Jahre gefiel.
Nietzsche ,und‘ Frankreich 9
einen ganzen Komplex von Unmöglichkeiten hat, wird man nicht diese
Fluchtlinie finden, diesen Ausweg, den die Schöpfung darstellt.“19
Anders gesagt, Nietzsches Tränen, deren Spuren Hémion liest, gehören
keiner sentimentalen Vormoderne, sie entsprechen vielmehr den
Grausamkeiten der Moderne, die ihre eigene Problematik unter dem
Schleier ruchloser Optimismen verbirgt. Und deswegen kann Hémion
auch von einer „nietzscheanischen Selbstkritik der Demokratie“ spre-
chen.
Die „nietzscheanische Selbstkritik der Demokratie“ ist nach wie vor
ein Gallizismus, ein Syntagma, das im Deutschen bislang nur als
Übersetzung aus dem Französischen vernehmbar ist. Vielleicht tragen
die in diesem Band versammelten Beiträge zur französischen Rezepti-
onsgeschichte Nietzsches sowie die Einblicke in die Arbeit französischer
Philosophen mit Nietzsche dazu bei, daß der Gallizismus in Verges-
senheit gerät und Nietzsches anderes Deutsch, nicht nur auf Franzö-
sisch, sondern auch auf Deutsch hörbar wird. Ohne die französische
Gastfreundschaft – das zeigen alle Beiträge dieses Bandes – hätte
Nietzsche die deutsche Geschichte und das deutsche Denken wohl
kaum überlebt. Die Aufsätze sind deswegen auch eine Danksagung an
alle jene französischen Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, die
Nietzsche auf die eine oder andere Weise aufgenommen haben.
***
Der Dank der beiden Herausgeber gilt darüber hinaus der Nietzsche-
Gesellschaft, die sie mit der wissenschaftlichen Leitung der Tagung und
der Publikation ihrer Forschungsergebnisse beauftragt hat, im allge-
meinen, ihrem Geschäftsführer Ralf Eichberg für seine ebenso tat-
kräftige wie umsichtige Unterstützung im besonderen. Thorben Päthe
war den Herausgebern eine unverzichtbare redaktionelle Hilfe.
Nietzsches Briefe und Werke werden nach den Siglen der Stan-
dardausgaben zitiert, allen voran:
KGB = Friedrich Nietzsche, Kritische Gesantausgabe des Briefwechsels,
herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin und New York: Walter de Gruyter 1975 – 2004.
If one were to regard, understand and judge Nietzsche and his philoso-
phy based only on his relation to French philosophers and philosophy
(the “French Nietzsche,” but in a different sense than the usual one,
which refers to French interpretations of Nietzsche’s thinking), one
would get a rather different view of him than the conventional one
(the “German Nietzsche”). His two favourite French philosophers,
and the ones he read most frequently, were Montaigne and Voltaire –
both broadly speaking belonging to the Enlightenment tradition – and
his harshest polemics were directed at the “romantic” Rousseau, al-
though he seems to have read very few of his works. He also read
and praised Diderot, but he seems never to have felt any deep kinship
with him, or any great enthusiasm for his philosophy. A strong influence
on especially the middle Nietzsche was the French moralists: La Roche-
foucauld, Vauvenargues, Chamfort, Fontenelle and La Bruyère. Several
of them lived during the seventeenth century, as did Pascal, to whom
Nietzsche had a rather intense and sympathetic but ambivalent relation.
Pascal is, in fact, the French philosopher Nietzsche most frequently re-
fers to. Among the important French philosophers, Descartes, Condil-
lac, Saint-Simon and Comte seem to have had little direct impact on
him. Among contemporary nineteenth century French philosophers,
he especially praised and intensively read H. Taine and denigrated E.
Renan, in spite of the fact that they in many respects belong to the
same tradition. He also attentively read and valued A. Fouillée and J.-
M. Guyau, but often disagreed with them.
The “French Nietzsche” does not carry the same metaphysical or
pseudo-methaphysical burden that the “German Nietzsche” perhaps
never fully managed to shake off. The “French Nietzsche” is also less
philosophical than the “German” one. The time when Nietzsche
began to extensively read French books (from 1883 onwards), and
thus be more accessible for direct French influences, is also the time
when he essentially stopped reading philosophical books. He certainly
continued to read many literary and cultural texts with philosophical
relevance, but relatively few primarily philosophical ones. By 1883
14 Thomas H. Brobjer
Nietzsche had found most of his own philosophy, and he was less open
for new philosophical influences.
The mature Nietzsche had a highly positive attitude toward France
and French culture. He had a good knowledge of and enthusiasm for
French culture generally, French literature, French literary criticism,
French writers of memoirs and French history, and he was profoundly
influenced by his reading in these fields. It influenced his view of psy-
chology, decadence, style, aesthetics and thinking generally, and made
French culture a contemporary counterpoint to German culture in his
writings.1 The books he read about French culture and literary criticism
often also contained material relevant for his view and knowledge of
philosophy, including discussions of Voltaire, Rousseau and others.
His knowledge of French philosophy was somewhat more limited,
but nonetheless was an important influence on him. His interest in
French contemporary politics seems to have been minimal.
Nietzsche’s relation to French culture and literature can, broadly
speaking, be divided into two periods (which correspond well with
his knowledge of the French language). Until about 1878/79 he had
no close relation to French culture, and read very few books in French.
In fact, for a while during the period 1876 – 80 he was open to reading
British and American authors in translation.2 After 1878/79 he became
increasingly enthusiastic about French culture and began to read books
which were central to it and books about it, both in German translation
and in the original French. From 1883 onward he also began to live
about a third of each year in France (mostly in Nice).3 Many of the
books Nietzsche read in this second period, and especially after 1883,
were in French.
3 During the years 1880 – 1883 Nietzsche spent a fair amount of time in Italy (es-
pecially Venice and Genoa) and French may have been his main language for
communicating with people there.
4 At the first term of “Quarta” at the Naumburg Domgymnasium he had a 4
(“wenig befriedigend”) in French, on a scale from 1 to 5, but the following se-
mester it improved to a 3.
The teaching at the Domgymnasium was directed at Latin and Greek. They had
six hours a week of Latin and Greek, followed by mathematics and history (in-
cluding geography) with three hours per week and religion, German and
French with two (but three in the first year).
5 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848 – 1914, Leipzig, no
publication year but the preface is dated 1928, p. 77 f.
16 Thomas H. Brobjer
read it, he may have read Stendhal’s De l’amour, and he stated explicitly
that he was reading George Sand’s Histoire de ma vie. In a letter to Over-
beck dated 14 October 1880 Nietzsche asked him to send, as soon as
possible, a French-German dictionary. This is probably a reflection of
Nietzsche’s first serious French reading – the first reading of French
that led to a number of notes in his notebooks – of the Mmoires de Ma-
dame de Rmusat (1802 – 1808), 3 vols. (Paris, 1880), which Peter Gast
had given him as Christmas gift in December 1879 and January 1880.
We have no evidence that he read French books in 1881 or 1882,
but in 1883 he seems to have read Stendhal’s De l’amour (a second
time) and possibly intended to read A. Blanqui’s L’ternit par les astres
(Paris, 1872), which is listed in his notebooks. It is, however, likely
that he read some further texts in French as well during these years.
In early December 1883 Nietzsche travelled to Nice for the first
time and then spent the winter there, until April 1884. At this point
his reading of French seems to have become fluent. He spent all of
his remaining winters in Nice, except the final one of 1888 – 89. In De-
cember 1883 Nietzsche borrowed (probably from the library in Nice)
and began to read Paul Bourget’s Essai de psychologie contemporaine
(Paris, 1883) and then continued to read it in 1884 with much appreci-
ation. That year he also recommended to Overbeck the Mmoires der
Herzogen von Abrates as a supplement to the Mmoires de Rmusat. He
also read Balzac’s Correspondance 1819 – 1850 and A. de Custine’s Mm-
oires.
We can thus conclude that Nietzsche probably could read French
from the early 1860 s on, but it required such an effort that he read
few books in French until 1879/80, and more clearly 1883/84. The
change in his reading fluency of French in 1883/84 (associated with
his stay in Nice) seems to have been rather dramatic, for in 1884 he
read a large number of books in French and he continued to do so
until his mental collapse in January 1889. As we have seen, most of
the French books he read were not philosophical ones. They constituted
a small minority that will be discussed below.
ical texts and he did not read them with a philosophical eye. The an-
thologies of French literature used at Schulpforta, Leloup’s Franzçsische
Lesebuch and Herrig et Burguy’s La France littraire, contain a few selected
texts that are philosophically relevant, but we have no knowledge of any
interest or response to these texts on Nietzsche’s part.10 In 1863
Nietzsche showed an interest in the history of the French Revolution
– a theme that would continue to echo through his mature writings.11
The most important reading relating to French philosophy in these
years was probably his reading and extensive excerpting out of the lit-
erary historian H. Hettner’s Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts: Theil
II. Geschichte des franzçsischen Literatur im XVIII Jahrhundert, in early
1863.12 The chapters he most extensively excerpted were called: Vol-
taire. 1. Voltaire’s Life and Personality. 2. Voltaire as Philosopher, although
he also excerpted a few other chapters from the book. A major theme
of Hettner’s discussions of Voltaire (and thus also of Nietzsche’s ex-
cerpt) is his relation to and critique of Christianity. It is not impossible
that it was this aspect that attracted Nietzsche, for in 1863 he was in the
middle of his breach with his faith, and the later Nietzsche’s many ref-
erences to Voltaire focus on him as a critic of Christianity. Though we
have little direct evidence of it, the reading about Voltaire may have
helped Nietzsche to liberate himself from Christianity. During his stu-
dent years, 1864 – 68, Nietzsche seems to have read no French philoso-
phy at all, although he would have gained some knowledge of it
through his reading of Schopenhauer, Lange, Überweg and others,
and through Schaarschmidt’s course surveying the history of philoso-
phy.
This general disinterest in French literature, culture and philosophy
continued throughout the early period of the mature Nietzsche (1869 –
76). During the time of the Franco-Prussian War and as long as he re-
mained under Wagner’s influence, he showed little interest and sympa-
thy for French culture.13 Until 1873 he even sympathized with German
nationalism. Even in the field of aesthetics, a field in which he later
would be very open to French influence, he showed no appreciation
of French views.14
The only two French philosophers Nietzsche seems to have read in
this period are Montaigne and possibly Voltaire. Nietzsche much appre-
ciated, learned from and highly praised both of them throughout his life.
Nietzsche received the French sixteenth century humanistic and
sceptic philosopher Michel de Montaigne’s Essays from the Wagners
we are closer to antiquity than in the case of any other group of six authors
of any nation. Through these six the spirit of the final centuries of the old era
has risen again – together they constitute an important link in the great, still
continuing chain of the Renaissance. Their books are above the changes of
national taste and philosophical coloring which as a rule every book nowa-
days radiates and has to radiate if it is to become famous: they contain more
real ideas than all the books of German philosophers put together: ideas of
the kind that produces ideas and which – I am at a loss to finish the defi-
nition; it is enough that they seem to me authors who have written neither
for children nor for dreamers, neither for young ladies nor for Christians,
neither for Germans nor for – I am again at a loss to complete my list. –
But to state a clear commendation: if they had been written in Greek
the Greeks would have understood them. […] On the other hand, what
clarity and delicate precision those Frenchmen possess! Even the most
acute-eared of the Greeks must have approved of this art, and one thing
they would even have admired and adored, the French wittiness of expres-
sion: they loved such things very much without themselves being especially
gifted in them.21
However, the influence of Paul Rée was earlier and, in regard both to
content and style, was probably much more profound and fundamental
than that of the French moralists – and, in addition, it was Rée who in-
troduced Nietzsche to the French moralists. Furthermore, Nietzsche’s
references to these thinkers are few, and he did not read several of
them until long after he had made the transition from the aesthetic-met-
aphysical views of the early period to the more sceptical-positivistic
views of his middle period in 1875/76. It used to be common to date
the breach between the early and middle Nietzsche to 1878, the year
Human, All Too Human was published, since the breach was not visible
in his previous book, Richard Wagner in Bayreuth (1876). However, Ri-
chard Wagner in Bayreuth was mostly written in the first half of 1875, and,
at least since the appearance of the latest critical edition of Nietzsche’s
notes and letters, it is possible to see that the breach at least began to
occur earlier, in 1875/76. With the older dating of the breach as occur-
ring in 1878, the importance of the French moralists for Nietzsche and
his change was more likely, but with the new dating, their influence as
cause for the change becomes unlikely. Nonetheless, the French moral-
ists were undoubtedly important for him, and he was influenced by
some of them, but he also used them as signposts to signify his new po-
sition and therefore their importance has often been exaggerated.
21 The Wanderer and His Shadow, 214. Published in December 1879, but with the
publication year given as 1880.
24 Thomas H. Brobjer
As stated above, during the late phase (1883 – 1888) Nietzsche ex-
tensively read French texts, including some philosophers. However, at
this stage his own philosophy was much more firmly formed and he
was less open to new fundamental influences.
The French philosopher that probably meant most to Nietzsche was
Voltaire. As we have seen above, he may have aided in Nietzsche’s lib-
eration from Christianity (through Hetter). Voltaire is also as likely as
the French moralists to have contributed to and reinforced his thinking
during the middle phase, and he was at that time, by Nietzsche, regard-
ed as a supreme free spirit. It can even be argued that Voltaire in some
ways replaces Schopenhauer (but in a much less personal manner), just
as Rée replaces Wagner, as the main influences on his thinking.
In April 1876, Nietzsche visited Voltaire’s Fernay with enthusiasm,22
shortly thereafter he read much Voltaire in Sorrento,23 and he dedicated
his Menschliches, Allzumenschliches (1878) to the memory of Voltaire –
“to offer personal homage at the right moment to one of the greatest
liberators of the spirit.”24 Voltaire became one of Nietzsche’s heroes,
22 See letter to Elisabeth Nietzsche, 8 April 1876. “My first respect was for Vol-
taire, whose house in Fernex [sic] I visited” and letter to Carl von Gersdorff, 15
april 1876. “When we meet again, I will tell you about Ferney, Voltaire’s site
(whom I brought my genuine tribute).”
23 Letter to Franz Overbeck, 6 December 1876. “Wir haben viel Voltaire gele-
sen”. It seems likely that they among others read Goethe’s translation of Vol-
taire’s Mahomet, for Nietzsche referred to this work in Human, All Too Human
(1878) and he recommended it to his sister as suitable for reading in groups, 13
February 1881.
24 On the title page of the first edition of Human, All Too Human from 1878 he
wrote: “Dedicated to the memory of Voltaire on the celebration of the anni-
versary of his death, May 30, 1778.”
On the next, otherwise empty, page Nietzsche added: “This monologue of a
book, which was written during a winter’s sojourn (1876 to 1877), would
not be made public now, if the proximity of May 30, 1878, had not aroused
the all-too-keen desire to offer personal homage at the right moment to one
of the greatest liberators of the spirit.”
In Ecce Homo he wrote: “’Human, All Too Human’ is the memorial of a crisis.
It calls itself a book for free spirits: almost every sentence in it is the expression of
a victory – with this book I liberated myself from that in my nature which did
not belong to me. Idealism does not belong to me […] The expression ’free spirit’
should here be understood in no other sense: a spirit that has become free, that has
again seized possession of itself. The tone, the sound of voice has completely
changed […] For Voltaire is, in contrast to all who have written after him,
above all a grandseigneur of the spirit: precisely what I am too. – The name of
Voltaire on a writing by me – that really was progress – toward myself.” Ecce
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 25
a supreme free spirit, a true aristocrat of the spirit, a great stylist, a critic
of Christianity and the philosopher Nietzsche praised most of all in his
published writings. Nietzsche continued to read and praise him until
Ecce Homo (1888). In Human, All Too Human he wrote of him:
Voltaire was the last great dramatist to subdue through Greek moderation a
soul many-formed and equal to the mightiest thunderstorms of tragedy –
he was able to do what no German has yet been able to do because the na-
ture of the Frenchman is much more closely related to the Greek than is
the nature of the German – just as he was also the last great writer to possess
a Greek ear, Greek artistic conscientiousness, Greek charm and simplicity
in the treatment of prose speech; just as he was, indeed, one of the last
men able to unite in himself the highest freedom of spirit and an altogether
unrevolutionary disposition without being inconsistent and cowardly.25
In Ecce Homo he still saw Voltaire as a great aristocratically minded free-
thinker with whom he felt a kinship: “For Voltaire was above all, in
contrast to all who wrote after him, a grandseigneur of the spirit – like
me.”26 At the onset of his mental collapse he even came to identify him-
self with, among others, Voltaire: “I have been Buddha in India, Dio-
nysos in Greece […] Finally, I was even Voltaire.”27
Considering this high praise of Voltaire, one can perhaps be sur-
prised that Nietzsche did not include Voltaire with those he claimed
to converse with in the last section, 408, of Assorted Opinions and Max-
ims, called “Descent into Hades.”28 However, this section was added
Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,” 1,
Hollingdale’s translation.
25 Menschliches, Allzumenschliches, 221.
26 Ecce Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,”
1.
27 Letter to Cosima Wagner, 3 Jan. 1889. For a discussion of the very late
Nietzsche’s relation to Voltaire, see P. D. Volz, “Nietzsche in Ferney: Eine
Voltaire-Reminiszenz aus der Wahnsinnszeit,” in: Nietzsche-Studien 20
(1991), 393 – 399.
28 Note that since several of the authors are among those Nietzsche had not read
intensively or extensively at this time (especially Rousseau, Epicurus and Spino-
za) and did not philosophically sympathize with (especially Plato, Rousseau and
perhaps also Spinoza and Pascal), it is possible that Nietzsche’s statement here is
better understood not as primarily referring to those specific eight thinkers, but
to four different approaches toward philosophy (compare his use of Rousseau,
Goethe and Schopenhauer in Schopenhauer as Educator): an essentially Greek-
skeptical approach (Epicurus and Montaigne), a pantheistic and nature-oriented
one (Spinoza and Goethe), an idealistic-enthusiastic one (Plato and Rousseau)
and finally an honest existential one (Pascal and Schopenhauer). Compare
Nietzsche Handbuch, ed. H. Ottmann, Stuttgart, Weimar, 2000, p. 103.
26 Thomas H. Brobjer
very late – and Nietzsche originally did not intend it to be the last sec-
tion. That it became the last section of the book, and that it even was
included, seems to a large extent have been due to Nietzsche’s publish-
er, Schmeitzner.29 Before the addition of section 408, Nietzsche had in-
tended to end the book with a reference to Voltaire.30 He sent
Schmeitzner an addition to section 407: “Let us at this place yet again
mention the name of Voltaire. What will one day be his highest hon-
our, given to him by the most free spirits of future generations? His
‘last honour’.” The implied answer to the question is: rendering himself
superfluous. It appears that this addition had to be cut, for the sake of
making room for the new last section “Descent into Hades.”31
Nietzsche owned four works by Voltaire, in eight volumes:
Geist aus Voltaires Schriften, sein Leben und Wirken (Stuttgart, 1837). This work is
no longer in his library.
Lettres choisies. Prcdes d’une notice et accompagnes de notes explicatives sur les faites
et sur les personnages du temps par Louis Moland. 2 vols. (Paris, 1876), 441 and
406 pages. Both volumes are annotated.
Smtliche Schriften, Bd. 1—3. (Berlin, 1786). No annotations in volumes one
and two. The third volume is missing from the library.32
Zare. In Nietzsche’s library there are two copies of this work, one in French
from 1859 with annotations and a German edition (which does not give
the year of publication) which has not been cut opened.
For none of these books do we have any information about when
Nietzsche bought and read them, but it seems most probable that he
bought and read Zaire (which contains annotations) as part of his school-
work and likely that he bought at least one or both of the German titles
before 1880. It seems likely that Nietzsche bought the collection of
Voltaire’s letters in French when he visited Fernay in 1876 (or shortly
thereafter). We know that he had read it by 1879, since he used it in
The Wanderer and His Shadow. 33
Nietzsche also had read Voltaire’s Histoire de Charles XII (in 1861),
Mahomet (in Goethe’s translation, before 1878), Zadig, Catilina, and
Candide. 34 It is probable that he read much more than this. Voltaire is
also frequently discussed and quoted in other books in Nietzsche’s li-
brary and in books he read,35 and he even excerpted statements regard-
ing Voltaire from Doudan, Baudelaire and the brothers Goncourt.
As stated above, Nietzsche had some knowledge and interest in Vol-
taire before 1876, but that year marked the beginning of his period of
intensive enthusiasm, which lasted until about 1880. During this period
he saw Voltaire as a supreme free spirit, a representative of the Enlight-
enment, a critic of Christianity, an aristocrat, and a writer with high
style. He even regarded Voltaire as in many ways having kinship with
the Greeks – which for him always was a supreme compliment.36
Thereafter his interest in and enthusiasm for Voltaire seems to have
cooled. He never became hostile toward him, but most of his references
to Voltaire became neutral and disengaged, and he criticized him on
several occasions. Clearly, Nietzsche’s enthusiasm for the Enlighten-
ment passed, and thus also for Voltaire as a representative of this move-
ment. After having read Galiani’s correspondence (including letters to
33 Nietzsche seems to be quoting from Voltaire’s Lettres choisies (Paris, 1876) in Der
Wanderer und sein Schatten, 140, 159 and 237.
34 Nietzsche made a vague reference to Candide in a letter to Elisabeth, 3 Novem-
ber 1886.
35 Voltaire is even mentioned in the titles of three other books in Nietzsche’s li-
brary:
Josef Popper, Das Recht zu Leben und die Pflicht zu Sterben. Sozial-philosophische
Betrachtungen, anknpfend an die Bedeutung Voltaires fr die neuere Zeit. 2. Aufl.,
Leipzig, 1879.
Marquis Luc de Clapiers Vauvenargues, Oeuvres choisies. Avec les notes de Voltaire,
Morellet, Suard, Fortia etc. Prcdes d’une notice sur la vie et les ouvrages de Vauve-
nargues par Suard, Paris, o. J.
F. Galiani, Lettres Madame d’Epinay, Voltaire, Diderot, Grimm, etc. Publies avec
notice biographique par Eugene Asse, 2 vols. bound together, Paris, 1882.
Voltaire is, for example, extensively discussed in works Nietzsche read by Fer-
dinand Brunetière, Paul Albert and James Sully.
36 Human, All Too Human, 221.
28 Thomas H. Brobjer
family; Schiller belongs to it, Kant also, to some extent; in France, George
Sand, even Sainte-Beuve; in England [George] Eliot and so on). Anyone
who needs “moral dignity” faute de mieux has numbered among Rousseau’s
admirers, down to our own favorite Dühring, who even has the good taste
to present himself in his autobiography as the Rousseau of the nineteenth cen-
tury.
In the 1880s, especially after 1883, Nietzsche read few French philoso-
phers, apart from re-readings those – such as Montaigne, Voltaire, and
Pascal – whom he had already read earlier. This follows a general pat-
tern: after 1883, and more clearly after 1885, Nietzsche read fairly
few philosophical works at all, at least partly because he had found his
own philosophy.51
51 The few French philosophers he read in the 1880s, such as Taine, Renan,
Guyau and a few others, I will discuss in a forthcoming book as part of a dis-
cussion of Nietzsche’s reading of contemporary French philosophy, entitled
Nietzsche’s Knowledge of Philosophy: A Study and Survey of the Philosophical Influ-
ences on Nietzsche.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“
Ivan Broisson1
In Der Wanderer und sein Schatten schreibt Nietzsche : „Man ist beim
Lesen von Montaigne, Larouchefoucauld, Labruyère, Fontenelle […],
Vauvenargues, Champfort dem Alterthum näher, als bei irgend welcher
Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. […] [Ihre Bücher] enthalten
mehr wirkliche Gedanken, als alle Bücher deutscher Philosophen zu-
sammengenommen.“ (WS 214)
Diese Aufzählung ist an sich ein großes Lob von Vauvenargues:
Kaum ein Historiker der Literatur würde ihn in einem Atemzug mit
diesen fünf großen Namen nennen, vielleicht nur Voltaire. Aber der
Literat Nietzsche ist auch, und zuerst, ein Philosoph, weshalb er Stilisten
schätzt, deren Stil den Ausdruck „wirklicher Gedanken“ ermöglicht,
d. h. Gedanken, die nicht von einem abstrakten System deduziert,
sondern aus dem Leben, aus der Erfahrung des Denkers geschöpft
werden.
Dem Urteil Nietzsches über Vauvenargues fehlte es jedoch nicht an
Nuancen: Obgleich er ihn unter den „Kunstverwandten von La Ro-
chefoucauld“ (vgl. KSA 14, S. 126) rechnet, bemerkt später der Autor
der Frçhlichen Wissenschaft, daß Vauvenargues die „christliche Tendenz
zur moralischen Skepsis“ trübe (vgl. FW 122; KSA 14, S. 256), eine
Tendenz, die La Rochefoucauld fortgesetzt habe: als wäre Vauvenar-
gues, durch eine gewisse Naivität, dem Altertum näher als Nietzsche
selber. Noch 1882 und 1888 übernimmt Nietzsche kritisch die Sentenz
von Vauvenargues: „les grandes pensées viennent du cœur“.2 Solche
sogenannte „große Gedanken“, schreibt Nietzsche, sind immer
„schlecht gedacht“, ebenso schlecht wie diejenigen, die „aus dem
1 Ivan Broisson war zur Zeit der Redaktion Forschungsassistent der National-
stiftung für wissenschaftliche Forschung (Belgien).
2 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Rflexions et maximes (1747), in: ders.,
Œuvres, Bd. 3, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres
1929, 127 (Für die Rflexions et maximes wird nicht die Seitenzahl, sondern die
Nummer der Sentenz angegeben).
34 Ivan Broisson
Unterleibe“ (Nachlaß 1882, KSA 10, 3 [1], S. 53) 3 oder „aus dem
Kopfe“ (Nachlaß 1888, KSA 13, 20 [29]) kommen.4 Wahrscheinlich
kommen nach Nietzsche die großen Gedanken nur von einer großen
Gesundheit, gegenüber der das „Herz“, wie Vauvenargues es be-
schreibt, noch als zu naiv erscheint.
Diese Nuancen aber sollten uns nicht vergessen lassen, daß sich
Nietzsche als ein Erbe des Vauvenargues vorgestellt hat. Welche sind
also die Gedanken des französischen Moralisten, die der Philosoph
Nietzsche für „wirklich“ gehalten hat? Wir werden nie genau wissen,
inwiefern Vauvenargues Nietzsche beeinflußt hat; wir können aber ihre
Geistverwandtschaft in einer Skizze andeuten.5 Dazu werden wir vom
Begriff „Wille zur Macht“ ausgehen, den wir vorläufig und hypothe-
tisch als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im Werden, Wirken und
Schaffen“ verstehen.
ist nur im Handeln zu finden; und sogar diese Befriedigung ist laut
Vauvenargues noch eine Form des Handelns. „L’action“, das Handeln
und Wirken, ist also ein anderer Name für den „Grund“ des Lebens.
Dies gilt übrigens nicht nur für die Handlungen, durch die unser
Machtgefühl und unser Leben wachsen. Schon nur um weiter zu leben,
braucht der Mensch das Handeln: „Il est tellement impossible à
l’homme de subsister sans action que, s’il veut s’empêcher d’agir, ce ne
peut être que par un acte encore plus laborieux que celui auquel il
s’oppose“.34 Anders gesagt: Der Wille zum Nichts ist noch ein Wille.
Diese Betrachtungen von Vauvenargues – und hier wird die Ver-
wandschaft mit Nietzsche besonders interessant – betreffen nicht nur
den Menschen. Im selben Fragment schreibt er: „On ne peut con-
damner l’activité sans accuser l’ordre de la nature“.35 Und deutlicher, in
den Rflexions et maximes: „Le feu, l’air, l’esprit, tout vit par l’action; de
là, la communication et l’alliance de tous les êtres ; de là, l’unité et
l’harmonie dans l’univers“.36 Das Handeln und Wirken ist also das,
wodurch alles lebt, auch die Wesen die wir gewöhnlich nicht als „le-
bendig“ oder „handelnd“ und „wirkend“ betrachten.
Schließlich zeichnet sich diese Einsicht Vaunenargues’ durch die
Tatsache aus, das seines Erachtens Leben, Handeln und Schaffen zu-
sammenfallen. So noch in den Rflexions et maximes: „Qui condamne
l’activité condamne la fécondité. Agir n’est autre chose que produire ;
chaque action est un nouvel être qui commence, et qui n’était pas. Plus
nous produisons, plus nous agissons, plus nous vivons“.37
Kehren wir jetzt zurück zu unserer hypothetischen Definition von
Nietzsches Willen zur Macht als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im
Werden, Wirken und Schaffen“: Die Ähnlichkeit mit Vauvenargues ist
frappant. Nun es gibt Stellen, sogar in Nietzsches veröffentlichten
Werken, die unsere Hypothese zu bestätigen scheinen. Z.B. in Zur
Genealogie der Moral, wo Nietzsche die „Starken“ als Kraftquanten be-
zeichnet: „Ein Quantum Kraft ist [ein] Quantum Trieb, Wille, Wirken,
– vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen,
Wirken selbst. […] Es gibt kein ,Sein‘ hinter dem Thun, Wirken,
Werden; der ,Thäter‘ ist zum Thun bloß hinzugedichtet, – das Thun ist
Alles“ (GM I, 13).38
Es ist im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich, Nietz-
sches Hypothese des „Willens zur Macht“ gründlich zu behandeln; wir
können aber bemerken, daß die Worte Nietzsches selber auf ein Zu-
sammenfallen von Wollen, Tun (oder Handeln), Wirken und Werden
hinweisen. Und daß für Nietzsche Leben zugleich Schaffen ist, werden
Nietzsche-Forscher wohl kaum verneinen.
Trotzdem können wir nicht ignorieren, daß viele Debatten um den
Status und den Umfang der Hypothese des Willens zur Macht die
Nietzsche-Forschung gespalten haben. Um diese Debatten einfach, allzu
einfach darzustellen, kann man ihre Protagonisten in zwei Lager ein-
teilen: Die einen behaupten, Nietzsches Hypothese betreffe die ganze
Wirklichkeit und stelle also eine Fortsetzung der klassischen Metaphysik
dar; die anderen verneinen, daß die Rede Nietzsches einen metaphy-
sischen Status habe, und folgern, daß die Hypothese des Willens zur
Macht nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur biologische oder
menschliche Phänomene umfange. Letzteres Lager besteht aus einem
merkwürdigen Bündnis von Dekonstruktionisten und Naturalisten, die
ein gemeinsames Mißtrauen gegenüber der Metaphysik teilen. Ihre
Argumentation ist oft philologisch: Nietzsche habe schon den Willen
zur Macht als die ganze Wirklichkeit des Werdens aufgefaßt, habe aber
später diese Auffassung verlassen. Andere weisen darauf hin, daß in
bestimmten Abschnitten die fragliche Auffassung nur als Auslegung
vorgestellt wird.
Solche Argumentation scheint uns philosophisch ziemlich arm.
Erstens, weil nach Nietzsche die verschiedenen Auslegungen, die ver-
schiedenen Perspektiven nicht gleichwertig sind, so daß man den Wert
verschiedener Weltauslegungen hinterfragen kann bzw. muß. Zweitens
weil, wollen wir Nietzsche einigermaßen treu bleiben, unsere Lektüre
seines Werks zwar philologisch sein muß, aber auch mehr als philolo-
gisch: Wir müssen uns seine Einsichten philosophisch aneignen, und die
Tatsache, daß er eine Einsicht, vor allem eine grundsätzliche, irgend-
wann verlassen hat, darf kein Vorwand sein, um diese Einsicht nicht
selber zu bewerten und vielleicht zu vertiefen. Wenn wir also be-
haupten, der „beste“, der „echte“ Nietzsche sei derjenige, der die
40 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 198 ; und ders., Rflexions
sur divers sujets (Anm. 14), S. 118.
41 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 595.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 45
sein: Es gibt also zugleich ein Wille und mehrere Willen. Die Sätze, in
welchen Nietzsche vom Willen zur Macht als der Grundnatur der Welt
spricht, enthalten notwendig eine gewisse Vereinfachung der überrei-
chen Wirklichkeit; sie haben aber den Verdienst, besser als andere auf
die organische Kohärenz seines äußerst reichen Denkens hinzuweisen.
Mit Vauvenargues teilt er nicht nur verschiedene psychologische Be-
obachtungen, sondern auch die Sorge, zugleich den Reichtum und die
Kohärenz seines Denkens und der Welt auszudrücken.
„Ich hasse Rousseau …“
Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches
Wahlfeindschaft
Tilo Klaiber
1.
Was man haßt, hat man oftmals zuvor geliebt oder, seltener, könnte es
auch lieben. Ist es so mit Nietzsches Rousseau-Beziehung? Diese Frage
läßt sich leicht beantworten mit einem Gang durch die Rousseau-
Passagen von Nietzsches Werk. Und wir finden unmißverständlich
bestätigt, daß der Citoyen de Genève in Nietzsches Denken Gegenstand
einer dramatischen Umwertung ist: einer Wertschätzung vom Idol zum
Haßobjekt.1 In der „Hadesfahrt“ im zweiten Band von Menschliches,
Allzumenschliches zählt Rousseau zu jenen, mit denen, als mit „ewig
Lebendigen“, Nietzsche immer wieder in der Unterwelt Zwiesprache
zu halten gewillt ist: „Mit diesen [Epikur und Montaigne, Goethe und
Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer] also muss ich
mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von
ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich
zuhören, wenn sie sich dabei selber einander Recht und Unrecht geben.
Was ich auch nur sage und beschliesse, für mich und andere ausdenke:
auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich ge-
heftet.“2
In der dritten Unzeitgemßen Betrachtung entwirft Nietzsche im
Zusammenhang einer Zeitkritik, die vornehmlich Wissenschaftsbetrieb
und Bildungsfeindlichkeit aufs Korn nimmt, drei Gegenbilder des neuen
europäischen Menschen, „aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch
1 Nur die Darstellung des Apostels Paulus in Der Antichrist wird vergleichsweise
noch mehr Abscheu auf sich ziehen.
2 KSA 2, S. 534. – Nietzsche wird zitiert nach der 2., durchgesehenen Auflage
der Kritischen Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Berlin und New York/München: Walter de Gruyter/Deutscher
Taschenbuch Verlag 1988 (Orig. 1967 ff.), mit Band- und Seitenzahl.
48 Tilo Klaiber
für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eigenen Lebens nehmen
werden: das ist der Mensch Rousseaus, der Mensch Schopenhauers und
endlich der Mensch Goethes.“ Von diesen habe das Bild des rousse-
auschen Menschen „das größte Feuer“ und sei „der populärsten Wir-
kung gewiss“.3 Erläutert wird das in einem Passus, der Nietzsches am
meisten um Abwägung bemühtes Urteil über Rousseau enthält. Vom
ersten Bild des Menschen „ist eine Kraft ausgegangen, welche zu un-
gestümen Revolutionen drängte und noch drängt; denn bei allen so-
cialistischen Erzitterungen und Erdbeben ist es immer noch der Mensch
Rousseaus, welcher sich, wie der alte Typhon unter dem Aetna bewegt.
Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmüthige Kasten, erbar-
mungslosen Reichthum, durch Priester und schlechte Erziehung ver-
derbt und vor sich selbst durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der
Mensch in seiner Noth die ,heilige Natur‘ an und fühlt plötzlich, dass sie
von ihm so fern ist wie irgendein epikuräischer Gott. Seine Gebete
erreichen sie nicht: so tief ist er in das Chaos der Unnatur versunken. Er
wirft höhnisch allen Schmuck von sich, welcher ihm kurz vorher gerade
sein Menschlichstes schien, seine Künste und Wissenschaften, die
Vorzüge seines verfeinerten Lebens, er schlägt mit der Faust wider die
Mauern, in deren Dämmerung er so entartet ist, und schreit nach Licht,
Sonne, Wald und Fels. Und wenn er ruft: ,nur die Natur ist gut, nur der
natürliche Mensch ist menschlich‘, so verachtet er sich und sehnt sich
über sich selbst hinaus: eine Stimmung, in welcher die Seele zu
furchtbaren Entschlüssen bereit ist, aber auch das Edelste und Seltenste
aus ihren Tiefen heraufruft.“4 In dieser metaphorischen Charakterisie-
rung klingen neben der nietzscheanischen Disposition zur Selbstüber-
windung schon sämtliche Vorbehalte an, die Nietzsche in allen späteren
Bezugnahmen dann ausschließlich und immer schärfer gegen Rousseau
herauskehrt: Selbstverachtung, Verachtung der Künste und Wissen-
schaften sowie die handlungslegitimierende Berufung auf das autorita-
tive Prinzip einer zurückprojizierten Natur.
Im dritten Buch der Morgenrçthe wird eine Umwertung deutlich
markiert unter dem Titel „Gegen Rousseau“. Daß das Verehrte nun
verworfen, die Herme gestürzt wird,5 liegt an einer divergierenden
3 KSA 1, S. 369.
4 KSA 1, S. 369.
5 So die Formulierung von Ralph-Rainer Wuthenow, „Die große Inversion.
Jean-Jacques Rousseau im Denken Nietzsches“, in: Neue Hefte fr Philosophie 29
„Ich hasse Rousseau …“ 49
2.
Ich möchte mich im folgenden konzentrieren auf Nietzsches Contra-
Position, mit dem Fokus auf zwei thematische Punkte, die für Nietzsche
wie für Rousseau eng zusammenhängen: einmal die Zivilisationskritik,
soweit sie mit dem Begriff der menschlichen Natur operiert und zum
andern die Infragestellung einer bestimmten Wertschätzung der Moral,
speziell der Tugend der Gerechtigkeit. Dabei zeigt sich, daß Nietzsches
Contra im ersten Punkt gar nicht Rousseau betrifft, sondern ein
Schlagwort des Rousseauismus. Dies gibt Anlaß zu einer Erinnerung an
Nietzsches alternative hermeneutische Verfahren im Umgang auch mit
den eigenen philosophischen Idolen. Im konkreten Fall der Rezeption
oder besser: der Konstruktion eines rousseauistischen Typus’ werde ich
kurz darlegen, welchen Nutzen Nietzsche aus diesem Verfahren zieht,
und um welchen Preis.
(1989), S. 60 – 79; ebd. S. 66. Wenngleich ich nicht alle Beurteilungen teile,
verdanke ich diesem Aufsatz viel.
6 KSA 3, S. 146.
7 KSA 6, S. 150.
50 Tilo Klaiber
3.
Ich komme zum ersten Aspekt. Der enormen Frequenz der Rousseau-
Referenzen in Nietzsches Werk entspricht keine substantielle Ausein-
andersetzung, denn Nietzsche rezipiert nicht Rousseau, sondern kon-
struiert den Typus eines bestimmten Rousseauismus,9 einen, wie er
selbst einräumt, „mythischen Rousseau“10, was nirgends deutlicher wird
als in der Reaktion auf das, was er als durch Rousseau in die Welt
gesetzte ebenso naive wie fatale Naturkonzeption des 18. Jahrhunderts
Denkfigur von Rousseaus „triste et grand système“24, die sich stützt auf
das anthropologische Merkmal der „perfectibilité“25, ein Neologismus,
der durch Rousseau terminologisch etabliert und propagiert wird, um
die ganze Ambivalenz der menschlichen Fähigkeiten herauszustellen.
Wenn Sprache und Abstraktionsvermögen, Wissenschaften und Künste
das Potential für Fortschritt wie Sittenverfall bergen, so bieten sie zu-
gleich die einzige Chance, fortgeschrittenen Depravations- und Deka-
denztendenzen gegenzusteuern. Deshalb ist diese Denkfigur des Heil-
mittels im Übel nicht nur geeignet, Rousseaus eigene schriftstellerische
Praxis zu legitimieren,26 sie wird ebenso in Anschlag gebracht bei den
großen konstruktiven therapeutischen Experimenten27 des Contrat social
und des Emile: „efforçons nous de tirer du mal même le reméde qui doit
le guérir. Par de nouvelles associations, corrigeons, s’il se peut, le défaut
de l’association générale. Que nôtre violent interlocuteur juge lui même
du succés. Montrons lui dans l’art perfectionné la réparation des maux
que l’art commencé fit à la nature.“28 Diese Hinweise auf das Nicht-
Einfache in Rousseaus Natur-Begriff sollten genügen, um zu sehen, dass
Nietzsches Umgang mit Rousseau sich nicht einer Hermeneutik „his-
torischen Philosophierens“29 verpflichtet weiß, sondern einer Strategie
der Benutzung und Bekämpfung des Vorgängers, deren Lektüre- und
Interpretationspraxis, wie Nietzsche selbst vermerkt, „fast bei allen
24 O.C. III, S. 105; vgl. Jean Starobinski, Le Remde dans le mal. Critique et lgitimit
de l’artifice l’ge des Lumires, Paris: Gallimard 1989; und früher schon: Alexis
Philonenko, Jean-Jacques Rousseau et la pense du malheur, Paris: Vrin 1984 (3
vol.).
25 O.C. III, S. 142 und S. 162.
26 Daß die Sprachauffassung des theoretischen wie autobiographischen Autors von
dieser Denkfigur imprägniert ist, habe ich zu zeigen versucht in Ce triste Sys-
tme. Anthropologischer Entwurf und poetische Suche in Rousseaus autobiographischen
Schriften, Tübingen: Narr 2004.
27 Vgl. Amélie Oksenberg Rorty, „Rousseau’s Therapeutic Experiments“, in:
Philosophy. The Journal of the Royal Institute of Philosophy 66/258 (1991),
Cambridge University Press.
28 O.C. III, 288. „Bemühen wir uns aus dem Übel selbst das Heilmittel zu ziehen.
Laßt uns nach Möglichkeit durch neue Vereinigungen die Mängel der allge-
meinen Vereinigung berichtigen. Unser Gesprächspartner möge selbst über den
Erfolg urteilen. Wir wollen ihm in der vervollkommneten Kunst die Beseiti-
gung der Übel zeigen, welche die einmal begonnene Kunst der Natur zufügte.“
(Übersetzung: T.K.)
29 KSA 2, S. 25.
54 Tilo Klaiber
Philosophen […] nicht streng, und ungerecht“ ist.30 Der Nutzen einer
radikal unphilologischen Aneignung liegt in diesem Fall auf der Hand:
die mögliche Selbstinszenierung als Anti-Typus mit dem utopischen
Kampfziel einer „entgöttlichten, […] neu gefundenen und neu erlösten,
[…] uns vernatürlichenden“ Natur.31 Unter dem einschlägigen Titel
„Fortschritt in meinem Sinne“ heißt es im prägnantesten Anti-Rous-
seau-Aphorismus der Gçtzendmmerung: „Auch ich rede von ,Rückkehr
zur Natur‘, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein
Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf
[…]“.32
Der Preis dieser antipodischen Selbstinszenierung ist beträchtlich:
Nicht nur, daß Affinitäten der augenscheinlichsten und persönlichsten
Art ausgeblendet bleiben – ich erinnere nur an die Selbststilisierungen
als „Promeneur solitaire“ und die Einsamkeit des „Wanderers“. Es sind
Affinitäten der tieferliegenden Art, die Nietzsches „kriegerische“ Her-
meneutik übersehen muß, so daß es in der gründlichsten Studie zu
diesem Thema heißt, Nietzsche schaffe sich wieder und wieder in
Rousseau einen Feind, wo er ihn als Alliierten sehen sollte.33 Ich hebe
drei gemeinsame Schnittmengen summarisch hervor: 1.) Frappierend ist
die Familienähnlichkeit in den Zeitdiagnosen, wenn man Rousseaus
Discours sur les sciences et les arts und Nietzsches Unzeitgemße Betrach-
tungen gegenliest; denn beide artikulieren aggressiv das ,Unbehagen in
der Kultur‘, bekämpfen den „ökonomischen Optimismus“ und stellen
den lebensförderlichen Wert vermeintlich höchster Zivilisationsstufen
in Frage; Rousseau unter anderem, indem er seine Zeitgenossen als
„glückliche Sklaven“34 tituliert, denen Künste und Bildung bloßes
Dekor des modernen Lebens seien und deren verweichlichte urbane
Sitten nichts als Pseudo-Tugenden und Konformitätszwänge. 2.) Beide
nutzen für Zwecke der Diagnose und Demaskierung vorherrschender
4.
35 Ich verwende den Ausdruck im Sinne von Judith Shklar, Political Thought and
Political Thinkers, Chicago UP 1998, S. 132 – 160.
36 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des
19. Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 1995 (Orig. 1941); Keith Ansell-Pearson
(Anm. 33), S. 10.
37 KSA 6, S. 150.
38 Zur alten Frage von Rousseaus Einfluß auf die Französische Revolution sind
einschlägig: François Furet, Jean-Jacques Rousseau und die Franzçsische Revolution.
Jan Patocka-Gedchtnisvorlesung des IWM 1994, Wien: Passagen 1994; François
Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire de la Rvolution franÅaise, Paris: Flam-
marion 1994; Jean Starobinski, „Rousseaus Einfluss auf die Französische Re-
volution“, in: Sinn und Form 3/2003, S. 379 – 394.
56 Tilo Klaiber
39 KSA 5, S. 56; dazu Urs Marti, „Nietzsches Kritik der Französischen Revolu-
tion“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 312 – 326.
40 Ich nehme die Frage auf von Philippa Foot, „Nietzsche’s Immoralism“, in:
Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, Berkeley, Los Angeles,
London, University of California Press 1994, S. 3 – 14; Keith Ansell-Pearson
berührt die Frage auch wiederholt (Anm. 33, S. 226 und S. 229), sein syste-
matisches Interesse gilt aber der Frage der Geschichtlichkeit.
41 Zuletzt Ernst Tugendhat, „Macht und Anti-Egalitarismus bei Nietzsche“, in:
ders., Aufstze 1992 – 2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 225 – 261.
42 KSA 4, S. 128.
43 KSA 5, S. 280 – 283; KSA 5, S. 369.
44 KSA 11, S. 48; vgl. KSA 12, S. 421, und KSA 2, S. 349.
45 KSA 2, S. 89, und KSA 5, S. 306; dazu Volker Gerhardt, „,Das Princip des
Gleichgewichts‘. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche“, in:
ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart:
Reclam 1988, S. 98 – 132.
„Ich hasse Rousseau …“ 57
46 KSA 5, S. 311 f.
47 KSA 2, S. 89.
48 Jean-Claude Wolf formuliert höflicher in „Exposition von These und Geg-
enthese: Die bisherige ,englische‘ und Nietzsches Genealogie der Moral“,
einem Beitrag zum kooperativen Kommentar zur Genealogie der Moral, hrsg.
von Otfried Höffe, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 44.
49 Volker Gerhardt (Anm. 45) hat mit viel Wohlwollen versucht, hier soziolo-
gische Intuitionen zu attestieren; diese reichen allerdings nicht heran an die-
jenigen von Thukydides, Hobbes oder Hume.
50 KSA 5, S. 311.
51 KSA 5, S. 310.
52 KSA 5, S. 311.
53 Diese Variante (iii) von Nietzsches Gerechtigkeitsgenealogien liegt offenkundig
konträr zur derjenigen (i), die den Ursprung der Gerechtigkeit ins Ressenti-
ment verlegt, wie Dühring.
58 Tilo Klaiber
54 KSA 3, S. 16.
55 KSA 3, S. 274.
56 Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit?, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2000.
57 KSA 6, S. 150.
58 … außer der quasi-naturalistischen, die sich auf zwei Annahmen stützt: 1. auf
die spekulative Generalhypothese vom „Willen zur Macht“, wobei der Zent-
ralbegriff Macht notorisch vage verwendet wird; und 2. auf das Axiom der
Kluft der Klasse der Hohen und der Klasse der Niedrigen; ebenso Ernst Tu-
gendhat (Anm. 41) S. 236 – 238 und S. 242 – 246.
59 O.C. III, S. 163.
„Ich hasse Rousseau …“ 59
67 KSA 5, S. 310 f.
68 Ebenso Otfried Höffe (Anm. 48) S. 67; anders Jean-Christophe Merle
(Anm. 48) S. 109.
69 KSA 5, S. 311: „[…] Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten […]
soll.“ Es heißt im selben Nachsatz im übrigen nicht, daß man schon deshalb
nicht daran glauben solle, sondern nur, daß man dies „jedenfalls nicht gar zu
leicht“ soll.
70 KSA 5, S. 311: „Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um […].
Historisch betrachtet …“
„Ich hasse Rousseau …“ 61
71 KSA 5, S. 311.
72 Hier wäre zu wiederholen, was zur Diffusität und Definitionsschwierigkeit von
Nietzsches Macht-Begriff festgestellt worden ist; vgl. zuletzt Ernst Tugendhat
(Anm. 41).
73 O.C. III, S. 354.
74 Robert C. Solomon hat dem überzeugend widersprochen: Weder lässt sich die
Motivationsstruktur von Moral auf Ressentiment-Gefühle reduzieren, noch
sind solche nur negativ zu beurteilen. Vgl. „One Hundred Years of Resent-
ment. Nietzsche’s Genealogy of Morals“, in: Richard Schacht (Anm. 40).
75 Judith Shklar, ber Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefhl,
Berlin: Rotbuch 1992, S. 147 (orig. Faces of Injustice, New Haven/London
1990), in anderem Zusammenhang ähnlich Martha Nussbaum, „Mitleid und
Gnade. Nietzsches Stoizismus“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 5/1993,
S. 831 – 858.
62 Tilo Klaiber
jedes einzelnen, nicht nur einer Klasse von Edlen).76 Dieser Aspekt des
Egalitarismus ist eine genuin Rousseausche Entdeckung und eine, von
der zuallerletzt, woran allerdings wenig liegt, auch die Raubvögel unter
den Moralphilosophen profitieren, dann nämlich, wenn sie mit
„mildblickendem […] richtendem Auge“ gelesen werden.
2 Vom Sieg der deutschen Kultur könne nicht die Rede sein, „weil die fran-
zösische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher“
und: „Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen
Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt
giebt es keine deutsche originale Kultur“ (DS, KSA 1, S. 160 und S. 164).
3 „,Deutschland, Deutschland über Alles‘ – ist vielleicht die blödsinnigste Parole,
die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland – frage ich: wenn es
nicht Etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Werth hat, als irgend eine andere
Macht vertritt! An sich nur ein großer Staat mehr, eine Albernheit mehr in der
Welt“ (NF, KSA 11, S. 77).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 65
In Sachen Kultur kommen für ihn die Deutschen des 19. Jahrhunderts
nicht mehr in Betracht. Ein Satz wie ein Fazit, mehrfach wiederholt und
ein Grund zu Alternativen.
Lange nach einer Alternative zu suchen braucht er nicht. Es bieten
sich ihm nur zwei an, die Antike und Frankreich, der griechische und
der französische Geist, die Lebendigkeit und Offenheit der antiken und
der französischen Kultur. Der Philologe weiß um die griechische Phi-
losophie, um die antike Kunst und um ihren Künstlergeist, der moderne
Kulturkritiker kennt die Kunst und die Gedankenwelt (die klassische
und die moderne) der Franzosen. Er kennt beide aus erster Hand. Vor
dem Hintergrund der deutschen Kulturmisere werden sie für Nietzsche
zu Maßstäben, an denen alle zukünftige Kultur sich zu orientieren habe,
wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, hoffnungslos ana-
chronistisch zu sein. Der Weg in die Moderne führt über Athen und
(nach) Paris. Nur an wen die Attribute ,antik‘ oder ,französisch‘, noch
besser ,antik‘ und ,französisch‘ zu vergeben waren, der hält Nietzsches
kritischem Blick stand und wird aufgenommen in die Phalanx derer, die
in der wirklichen Moderne angekommen waren. Was Wunder, daß der
Philosoph eine Griechenähnlichkeit der Franzosen zu entdecken glaubt,
und diese als ein Kriterium ihrer kulturellen Authentizität und Größe
sieht: Die Natur der Franzosen sei der griechischen sehr viel näher, als es
die deutsche je war oder sein könnte (vgl. MA I, Aph. 221, KSA 2,
S. 182). Und, größtes Lob und größte Identifizierung, die Griechen
hätten, so sie ihnen zu Gesicht gekommen wären, die Schriften der
Franzosen verstanden: Platon hätte dagegen Mühe gehabt, das „Klap-
perdürre“ des deutschen Geistes zu verstehen (sogar bei Goethe wäre es
ihm schwer gefallen), dem alle Leichtigkeit und Helligkeit abgehe:
„Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen
Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigen Griechen gut-
heissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet
haben, den französischen Witz des Ausdrucks“ (WS, Aph. 214, KSA 2,
S. 647). Heinrich Heine wiederum hätten sie diesbezüglich fast zu den
ihren zählen können. Im Pandämonium ihrer großen Geister wäre sein
Platz auch weit angemessener gewesen, als im fragwürdigen Pantheon
der deutschen Walhalla, wo der unbequeme Dichter mit über ein-
hundertfünfzigjähriger Verspätung 2009 aufgenommen werden soll.4
Nietzsche sähe darin fraglos eine Ehrung, die nur des ironischen Ge-
lächters wert ist und die die ungebrochene Fortführung einer beschä-
mend verkennenden Kleingeisterei bezeugt.
Der Gedanke der Griechen-Franzosen-Amalgamierung ist ein ba-
saler Untergrund für Nietzsches außerordentliche Sympathie für alles
Französische. Die Franzosen sind sozusagen die Griechen der Moderne.
Sie füllen ihre Kultur ganz aus, bis an die ambivalenten Grenzen einer in
sich immer problematischer werdenden Wirklichkeit, an der alle
künstlerische und intellektuelle Wirkmächtigkeit nach Nietzsche sich in
verkehrenden, in sich zurückrollenden Kapriolen erschöpft. Charles
Baudelaire, der Pariser schlechthin, wird ihm dafür das Exemple par
excellence. In deutscher Atmosphäre gedeihen nur Ausnahmen, die er,
wie sich selbst, als Franzosen sehen kann und sieht. Wer in Deutschland
geistigen Rang und (Geistes-)Größe besaß, dem sieht Nietzsche fran-
zösische Elemente in seine Intellektualität und/oder in sein Künstler-
tum. Georg Wilhelm Friedrich Hegel habe französischen Esprit besessen
wie kaum ein anderer, aber er habe Angst davor gehabt:5 Aus dieser
Verquickung sei die den Deutschen erlaubte Form des Esprit geworden,
schwer verständlich und zu erkennen erst hinter und unter den
Schichten idealistischer Begriffssysteme, die selbst noch Arthur Scho-
penhauer sprachlos gemacht habe. Gotthold Ephraim Lessing rettet
Nietzsche vor der bildungsbesessenen Philisterschaft, indem er ihn zum
Franzosen erklärt („der französische Lessing“, DS, KSA 1, S. 216) und
durch den Hinweis, er besäße „ächt französische Tugend“, was soviel
heißen sollte, er besäße französisches Formbewußtsein (WS, Aph. 103,
KSA 2, S. 597). Daß Richard Wagner nach Paris gehöre, zählt für
Nietzsche unter die Selbstverständlichkeiten, in denen er durch die
Franzosen, vorab durch Baudelaire, bestärkt wird.6 Dessen Modernität
buchstabiert sich zu einem guten Teil französisch, so sehr, daß die
wagnerische Sensibilität quasi deckungsgleich scheint mit der französi-
schen Kultur. Er gehöre nach Paris, denn in der Pariser Luft habe
5 „Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als
Hegel, – aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie
seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist
nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt
wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig […] jener
Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine
feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern
gehört“ (M, Aph. 193, KSA 3, S. 166 f.).
6 Vgl. NF, KSA 11, S. 590; Brief an Heinrich Köselitz vom 26. 2. 1888 (KSB 8,
S. 263 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 67
7 In Anspielung auf seine angeblich polnische Herkunft heißt es: „Man nennt
nicht zufällig die Polen die Franzosen unter den Slaven“ (EH, KSA 6, S. 301).
8 Die Auflagenhöhe seines ins Französische übersetzten Ecce homo sollte Emile
Zolas Nana „überwinden“ (Brief an Franz Overbeck vom 22. 12. 1888, KSB 8,
S. 548).
68 Renate Reschke
der deutschen Kulturmisere und der Enthüllung, sich mit allen Namen
der Geschichte identifizieren zu können.9 Warum also nicht auch eine
der Masken der Identität in den Farben Frankreichs? So erfindet er sich
als Franzosen und umgibt sich mit einer ganzen Geisterrepublik der
besonderen Art, er versetzt sie in ein imaginäres Paris, um sie dem Bann
der opportunistischen Bequemlichkeit des Geistes und der bornierten
Realität zu entziehen, um mit und an ihnen das begehrte Kapital einer
zukunftstragenden Alternative des(r) Geistes(r) und Kultur(en) imagi-
nieren zu können. Wagner hat er diesbezüglich als „Ausland“ (EH, KSA
6, S. 288) bezeichnet und verehrt. Heine gesteht er das gleiche Wort
und Recht zu.
II
„Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der Heines Andenken in
Frankreich behandelt wird“, schreibt Nietzsche im Sommer 1888 em-
pört an Ferdinand Avenarius (Briefentwurf vom 20. 7. 1888, KSB 8,
S. 360). Vor dem Hintergrund einer sich zunehmend deutsch-national
und antisemitisch gefährlich-dümmlichen Zuspitzung der pseudo-lite-
rarischen Attacken gegen Heine und seine Ablehnung als deutschen
Dichter, in die sogar die renommierte Zeitschrift Kunstwart verwickelt
ist, protestiert Nietzsche mit erwarteter Schärfe. Dem Herausgeber
Avenarius teilt er nicht nur die Aufkündigung des Abonnements mit, er
wirft ihm vor allem vor, in „schnödeste[r] Weise Heinrich Heine
preisgegeben“ zu haben (Brief an Franz Overbeck vom 20. 7. 1888,
ebd., S. 362).10 Die eigene Sympathie für den immer stärker ausge-
grenzten Dichter formuliert Nietzsche unverhohlen, mit dem ihm ei-
genen Nachdruck und mit messerscharfer Unnachsichtigkeit gegen
dessen kleingeistige Kritikaster oder verblendete Ideologen. Mit Argu-
menten, die ihn zum Bruder des Verfemten in Geist und Ton erklären.
Er sieht sich ihm verwandt in der Radikalität der Ablehnung der kul-
turellen Selbstgefälligkeit der Deutschen, ihrer vaterländischen Eng-
9 „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde
jeder Name in der Geschichte ich bin“ (Brief an Jacob Burckhardt vom 6. 1.
1889, KSB 8, S. 578).
10 Dazu: Renate Müller-Buck, „Heine oder Goethe? Zu Friedrich Nietzsches
Auseinandersetzung mit er antisemitischen Literaturkritik des Kunstwart“, in:
Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung, 15 (1986),
S. 265 – 288.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 69
11 Dazu Renate Reschke, „,.. .jene göttliche Bosheit.‘ Heinrich Heine aus der
Sicht Friedrich Nietzsches. Zum 150. Todestag des Dichters“, in: HUM-
BOLDT-SPEKTRUM, Heft 2 (2006), S. 34 – 39.
12 „Wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen“ (Brief an Carl Fuchs
vom 27. 12. 1888, KSB 8, S. 554).
70 Renate Reschke
13 „Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und
Baudelaires Einfluß“ (NF, KSA 11, S. 600 f.).
14 „Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine Worte passen nicht zu
einander, er beherrscht als Virtuose aber alle Stilarten , um sie nun durchein-
ander zu werfen“ (NF, KSA 7, S. 595).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 71
dem feinen Gespür für die Wollust alles Zwiespältigen,15 das den fran-
zösischen Geist auszeichnet.
Der „âme moderne“ ( JGB, Aph. 254, KSA 5, S. 198), d. h. der
modernen Seele anheim gefallen zu sein, heißt in Nietzsches Augen, ein
Teil der „raffinirtesten Cultur Europa’s“ zu sein. Und die hatte ihren
Sitz in Frankreich (ebd.). Ihre hohe Schule des Geschmacks trennte sie
von den vergröbernden Tendenzen, dem „lärmenden Maulwerk des
demokratischen bourgeois“ (ebd.), den Pöbel-Instinkten und den
Skandal-Eitelkeiten, dem „Principien-Lärm[]“, der Unpersönlichkeit
und dem Anbeten des momentanen Erfolgs.16 Das Frankreich des
großen Pessimismus war es, die Versammlung der Verdüsterten,
Kranken, Verkünstelten, die Vertreter der artistischen und artifiziellen
Passion waren es, die verspäteten Romantiker und die Fatalisten, die
Virtuosen des Ambivalenten, in denen sich der Zeitgeist der Modernité
seine prägnantesten Darsteller und Protagonisten erfand. Heines Hang
zum Schalk gegen sich selbst (vgl. NF, KSA 7, S. 659), der Schwebe-
zustand zwischen Ernst und Ironie, die Sprünge der Logik in das Terrain
ihres Gegenteils verbanden ihn nicht nur dem französischen Esprit („In
der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht
haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis
Unvernunft in allem französischen esprit“, FW, Aph. 82, KSA 3,
S. 438), sondern waren ebenso sehr ein Moment des Dekadenten dieser
Kultur und der Tiefe ihrer Selbsterkenntnis, der Einsicht in die unwi-
derrufliche Morbidität und ihrer artistischen Lust daran. – Die Leich-
tigkeit des Artistischen ist es, die Nietzsche an Heine fasziniert. Es war
eine Leichtigkeit der Tiefe, eine, die in die Tiefe ging und zum fran-
zösischen Kulturhabitus gehört.17 Dazu war die Maske, war Maskerade
nötig, die sich distanziert gab, um nicht dem Sentiment ausgeliefert zu
sein. Das In-Sich-Gebrochene, das (schau-)spielerische Raffinement der
Selbstinszenierung(en), das extrem Artifizielle des Ich- und Weltbezu-
ges, gehörte dabei ebenso zur Meisterschaft, wie der Reiz des Skan-
15 Egon Friedell hat Heine eine zwiespältige Natur genannt und den „erste[n]
Gestalter“ der Ambivalenz: „Tragik und Komik, Sentimentalität und Ironie
verhalten sich bei ihm nicht wie die beiden Hälften, sondern wie die Vorder-
und Rückseite derselben Sache“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit,
Bd. 2, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 1100).
16 Vgl. NF, KSA 11, S. 62 f.
17 „Die Franzosen tief artistisch – das Durchdenken ihrer Cultur, die Consequenz
im Durchführen des schönen Anscheines – spricht gar nicht gegen ihre Tiefe – -
– “ (NF, KSA 11, S. 215).
72 Renate Reschke
dalösen, der Tabubrüche und der Katzenjammer über die eigene Fa-
talität und Ungewißheit über das Heute und Mehr noch über das
Morgen. – Es war die Délicatesse des Artistischen, die der Dcadence ihre
Konturen einschrieb. Die Leidenschaft in Fragen der Form wurde
nirgends so existenziell ausgelebt wie unter französischem Vorzeichen.
Die Sicherheit in Formangelegenheiten, das ästhetische Noblesse oblige,
das die französische Künstlerszene beherrschte, übte eine Sogwirkung
aus, die unheilbar krank machte, an der diese „Fanatiker des Ausdrucks,
Virtuosen durch und durch“ (EH, KSA 6, S. 289) alle Lebens- und
Kunstkraft verausgabten und wußten, dass sie daran zugrunde gegen
würden. Sie hatten die Sinne, d. h. die Finger entwickelt für die Nu-
ancen dieser gefährlichen Passionen, für die laszive Morbidität des
Augenblicks, der genossen sein wollte. Eine ungeheure Gier nach Leben
und zugleich das Bedürfnis seiner Verneinung gingen eine ästhetische
Symbiose bis dato ohnegleichen ein, die sich in dekadenter Poesie ar-
tikulierte. Nicht zufällig entdeckt Nietzsche eine nicht zu unterschät-
zende Verwandtschaft zwischen Heine und Baudelaire, erkennt er ihrer
beider Größe in der Souveränität ihrer Poesie, dieser Ambivalenz Bild
und (Sprach-)Ton zu geben und sieht er darin den Ausdruck ihrer
unumstößlichen Modernité.
Was immer Heine zunächst an die deutsche Romantik gebunden
hat, Nietzsche goutiert seine Nähe zum Weltgefühl des Schmerzes, der
Todes-Sehnsucht und seine kränkelnde Melancholie unter der Optik
der ironischen Verwerfungen, der ästhetischen Sprachhöhe, der feinen
Psychologie des Literaten, dessen Domäne die scharfsichtige und
scharfsinnige Kritik aller Formen der Dcadence war, mit der er in die
Nähe der französischen Romantik kam und diese ihrerseits als synonym
mit Modernit und Dcadence galt.18 Das dekadente Moment des Ro-
mantischen und/oder die Romantik der dekadenten Kultur, diese
Ambivalenzen waren in Frankreich zu Hause, besaßen in Paris ihr
Domizil. Hier waren sie zu beobachten, hier waren sie zu leben. Heine
war ein Teil von ihnen. In ihm, in seiner Poesie wurden sie Sprache,
nach Nietzsche die göttlichste und boshafteste und leidenschaftlichste
Sprache, die ihm begegnet ist, mit jener Süße und Musikalität, der er
18 Baudelaire hatte im Salon 1846 verkündet: „Wer Romantik sagt, meint mo-
derne Kunst“, und 1856: „Romantik ist eine himmlische oder höllische Gnade,
der wir ewige Wundmale verdanken“ (zit. nach: Der Untergang der romantischen
Sonne. sthetische Texte von Baudelaire bis Mallarm, herausgegeben von Manfred
Starke, Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1980, S. 17).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 73
19 Dies gesagt in Anspielung auf Nietzsches Satz, er sei dcadent und zugleich das
Gegenteil davon (vgl. EH, KSA 6, S. 266).
20 „Sich den Zustand des Verfalls zu verhehlen, bei dem wir angelangt sind, wäre
der Gipfel des Unverstandes. Religion, Sitten, Justiz, alles ist im Niedergang
begriffen, oder vielmehr: alles erfährt eine unausweichliche Entwicklung. Die
Gesellschaft zerfällt unter der zersetzenden Wirkung einer alles auflösenden
Zivilisation. Der moderne Mensch ist ein Mensch voll Überdruß, Verfeinerung
der Begierden, der Empfindungen, des Geschmacks, des Luxus, der Genüsse;
Neurose, Hysterie, Hypnose, Morphiumsucht, wissenschaftlicher Schar-
latanismus, maßloser Schopenhauerismus – das sind die Krankheitsanzeichen
der gesellschaftlichen Entwicklung“, so hat es Anatole Baju in Aux lecteurs 1886
zusammengefaßt (zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische
Texte von Baudelaire bis Mallarm, [Anm. 17], S. 254).
74 Renate Reschke
entdecken. Der „farceur“ Heine (ebd., S. 595) wußte mit großer Ge-
nialität die Partitur der Dcadence sprachspielerisch zu unterlaufen und so
alle Register dieser Modernit zu ziehen. Die ambivalente Schönheit
dieser Sprache war die gleiche, die Nietzsche auch an Baudelaire und
Wagner wahrnimmt: „Etwas Glühendes und Trauriges, ein wenig
unsicher, Raum der Vermuthung gebend“ (NF, KSA 13, S. 79).
Dennoch will er nach Martin Luther nur sich und Heine als die
größsten Artisten der deutschen Sprache anerkennen, weil ihr Deutsch
nicht ,bloßes‘ Deutsch sei.21
Die Genußfähigkeit für die psychologischen Finessen, der Sinn für
die Ausschweifungen der Sinne und des Geistes, die Dramatik, mit der
eine hohe Sensibilität und die Sucht nach Narkotika und das Ineinander
der Gegensätze (Rausch und Betäubung) sich verbinden, die „Hyper-
irritabilität“ (ebd. 429), die Spielarten der Orgiasmen (Nietzsche sieht
die dekadente Seele als die orgiastische Seele) gipfeln für ihn in einem
schrillen „hysterisch-erotische[n] Zug“ (NF, KSA 11, S. 591), im
Brunstgehabe einer unersättlichen Lebensgier, in einem „sonnenarmen
gequälten Glück an der Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen“
(ebd.), die sich zudem, vor allem mit Blick auf Baudelaire und Wagner,
mit einer für Nietzsche äußerst unerquicklichen und unerträglichen
Neo-Religiosität verbinden. Die „Hündin Sinnlichkeit“ (Za, KSA 4,
S. 69) im Dunstkreis zwischen christlicher Bekehrung und Obsession,
das Künstlertum im Griff ihrer verlogenen Tugenden: „[D]aß die
corrupten Pariser romanciers jetzt nach Weihrauch duften, macht sie
meiner Nase nicht wohlriechender: Mystik und katholisch-heilige
Falten im Gesicht sind nur eine Form der Sinnlichkeit mehr“ (NF, KSA
13, S. 451).22 An Baudelaire brach aus, was in Charles-Augustin Sainte-
Beuve sich vorgebildet hatte.23 Die Fleurs du mal sind der lyrik-ge-
wordene Beweis. Den modernen Franzosen spricht Nietzsche ohnehin
ein „gallische[s] Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Un-
21 „Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und
ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in
einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr
gemacht haben“ (EH, KSA 6, S. 286).
22 Dazu: Renate Reschke, „Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil.
Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne“, in: Nietz-
scheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 269 – 286.
23 Vgl. GD, KSA 6, S. 112 f. Zu Nietzsches Verhältnis zu Baudelaire: Karl Pes-
talozzi, „Nietzsches Baudelaire-Rezeption“, in: Nietzsche-Studien. Internationales
Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 7 (1978), S. 158 – 178.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 75
geduld“ (FW, Aph. 377, KSA 3, S. 630) zu als Zeichen ihrer kulturellen
Ambiguität. In dieser Unheilbarkeit ihres Wesens lag etwas, das er als
deren „hochfliegende und emporreissende Art“ (EH, KSA 6, S. 289)
bestimmt, mit der sie dem Leben verfielen und widerstanden und aus
der er ihre unbedingte ästhetische Lebenshaltung erklärt, die sich im
Erproben immer neuer „Ausschweifungen des Erhabenen“ (NF, KSA
11, S. 590) gefiel und zugleich erschöpfte. Beutegierig seien die Ro-
manciers in Paris, sie würden täglich der Wirklichkeit unverschämt und
listenreich auflauern, um ihre Kuriositäten nach Hause zu tragen, wo sie
sie dann farbenschreiend zusammensetzen zu einem beunruhigenden
Mosaik, um sich an ihm zu delektieren, verweichlicht und verweiblicht,
um den Ekel zu verbergen, den sie sich selbst verbieten, d. h. ästhetisch
um(ver-)biegen mußten.
Heine paßte nicht ganz in dieses Bild. Er teilt mit ihm, nach
Nietzsche, alle Facetten der Rebellion gegen die Unterdrückung der
Leidenschaft(en), eine gewisse Überreiztheit und eine Lebensgier, die
sich erotisch buchstabierte, den Ernst in Formfragen24 und in der „mise
en scène“ (ebd., 288), die gedankenreichen Augen und Ohren,25 die
Neigung zur Maskerade, die Desillusionierung über die Spezies Mensch
unter den Bedingungen der bürgerlichen Moderne und im gleichen
Atemzug die Opposition gegen sie. Mit Théophile Gautier wußte er
Heine einig in der Aversion gegen alle philisterhaften Tugend- und
Moralvorstellungen. Gautiers Satz, er würde ganz sicher „der Groß-
mutter Tugend eine kleine, fein herausgeputzte, kokette Immoralität“26
vorziehen, könnte von Heine stammen. Und von Nietzsche. Heines
Plebiszit gegen das (im Sinne des Wortes) Anrüchige der Religion(en) 27
24 „Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler Form
nennen, als Inhalt, als die Sache selbst empfindet. Damit gehört man freilich in
eine verkehrte Welt“ (NF, KSA 13, S. 533).
25 Stendhal hatte aus Nietzsches Sicht die gedankenreichsten Augen und Ohren
des Jahrhunderts (vgl. FW, Aph. 95, KSA 3, S. 450).
26 Zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische Texte und Baudelaire
bis Mallarm, (Anm. 17), S. 29.
27 Heines Gedicht Disputation aus dem 3. Buch des Romanzero endet, nachdem ein
Mönch und ein Rabbiner in Toledo Argumente für ihren Glauben wortge-
waltig ausgetauscht haben, zum Zwecke ihrer wechselseitigen Bekehrung, und
es zu keiner Überlegenheit einer Seite kommt, mit der Antwort der anwe-
senden Königin, auf die Frage ihres Mannes, für welche Seite sie sich ent-
scheide: „Welcher recht hat, weiß ich nicht -/ Doch es will mich schier
bedünken,/ Daß der Rabbi und der Mönch,/ Daß sie alle beide stinken“
76 Renate Reschke
eigene Faust (vgl. Za, KSA 4, S. 325) als weise nach fremdem Gut-
dünken, sieht er Heine, wie dieser sich selbst beschrieben hat, stets ein
bißchen ein Scharlatan und immer im Zweifel, ob er nicht bloß ein Don
Quichotte sei. Rabenschwarze Gedanken fröhlich zu besingen und
Wort werden zu lassen, das schien ihm, nach Nietzsche, das Höchste.
Mit solchen Beschreibungen entdeckt Nietzsche in Heine seinen un-
vergleichlichen Vorgänger. Und sich selbst.
Der so beschriebene Heine ist ein großartiges Bild, eine Erfindung
mit Größe, die den Erfundenen kenntlich macht: eine Idealität mit
Wahrhaftigkeitsanspruch, ein intellektuelles Spiel mit wechselnden
Masken. Wie bei allen Porträts, so sind auch in ihm die biographischen
Konturen das Identifikationskapital für das zu zeichnende Bild, eine
Projektionsfläche, ein Deutungsfeld für den Zeichner. Nietzsche setzt
sich die Maske Heine auf, und Heine mußte es sich gefallen lassen, unter
dieser Maske Züge seines Erfinders eingezeichnet zu bekommen. Wozu
taugen für Nietzsche die Biographie und das Werk eines anderen? Um
sich ein ,Bild‘ zu machen von ihm, um ihn aus seiner Optik zu
zeichnen, um ihm Kontur zu geben, an und mit der er für ihn zum
Bruder oder Gegner im Geiste zu erklären ist. Den einen Heine gab es
nie, wohl aber unter Nietzsches Optik den, dem er sich zum Sympa-
thisanten macht. Wie er es auch mit anderen, mit Heraklit etwa oder
Baruch Spinoza getan hat.
Welche Sprache aber sprechen diese Bilder? Da vermischen sich
Faktum und Fiktion, verweisen wechselseitig auf sich, sind aufgeladen
mit den Idiosynkrasien gegen die zu attackierenden Verunglimpfungen
und dem, was Nietzsche an Heine wichtig ist, wie er ihn sehen will.
Und wie er sich selber sehen und gesehen werden will. Im Heine-Bild
Nietzsches ist ein gutes Stück Nietzsche-Selbstporträt. Auch ohne
Maske(n). Die wechselseitige Spiegelung macht notorisch, was an Heine
imaginiert wird: ein Fremdbild, das zum Selbstbild mutiert, dieses ent-
und verhüllt, beide als Fiktion vergegenwärtigt und ihnen doch ihre
unverwechselbaren Züge nicht streitig macht. Die Authentizität des
Fiktionalen, Nietzsche bestärkt und bestätigt sie an und mit seiner
Heine-,Erfindung‘. Aber diese Authentizität ist immer die Nietzsches.
Weil er die Identifikation im anderen sucht, weil er sie braucht, darum
ist das Bild authentisch. Es ist immer einen Schritt sich selbst voraus: Das
alles ist ihm ein terrain vague, ausgeliefert dem eigenen Gedanken- und
Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und
Denken, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 259.
78 Renate Reschke
III
Paris ist für Nietzsche von Anfang an der faszinierendste Ort für die
Moderne, ihr Geburtsort und der Ort ihrer ausgeprägtesten Erscheinung
in einem. Ein topographischer und geistig-geographischer Glücksfall, an
dem die große comedi humaine „auf der schönsten Scene der Welt,
zwischen den buntesten Coulissen und einer Unzahl glänzender Sta-
tisten“ aufgeführt wurde (Brief an Erwin Rohde vom 20. 11. 1868, KSB
2, S. 345). Er imaginiert sich die Stadt und ihre Atmosphäre so sehr, dass
er sich selbst glauben machen kann, in Pariser Luft zu atmen.29 „Paris
die einzige Stadt—“ (NF, KSA 8, S. 571), notiert er vieldeutig schon im
Herbst 1878. In Ecce homo 1888 listet er die Stadt neben Florenz, Athen
und Jerusalem als Ort mit „ausgezeichnet trockene[r] Luft“, „wo es
geistreiche Menschen giebt und gab, wo Witz, Raffinement, Bosheit
zum Glück gehörten, wo das Genie fast nothwendig sich heimisch
machte“ (EH, KSA 6, S. 282). Paris wird man nicht los.30 Es ist das
neue, das weltliche Jerusalem der Moderne und erscheint ihm im pe-
trifizierenden Licht der Modernité, das alle Konturen der Stadt und
ihrer Bewohner mit dem Schein der Décadence umgibt. Die moderne
Kultur ,riecht‘ nach Paris, wenn nicht, kommt ihr das Prädikat ,modern‘
nicht wirklich zu.31 Paris war die große Hoffnung für alle, die das Bild
der ,heilen‘ Welt aufgegeben und sich dem ,Leben‘ mit allen seinen
Licht- und Schatten-Facetten aussetzen wollten (oder mußten). Die
29 In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 2. 12. 1888 beschreibt er das Erlebnis
eines Konzertbesuches: „Diese Ouvertüre [gemeint ist die Sakuntala-Ouvertüre
von Karoly Goldmark – R. R.] ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas
von Wagner […] und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, dass ich wieder
die Luft von Paris zu athmen begann“ (KSB 8, S. 499).
30 Sogar den französischen Romanciers, die sich bemühen, das Pariser Ambiente
zu unterlaufen, gelingt es nicht: „Zuletzt werden sie Paris nicht los“ (NF, KSA
11, S. 58).
31 Baudelaire, der Pariser, besaß jene Ankränkelung, „welche nach Paris riecht“
(NF, KSA 11, S. 428).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 79
34 Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, herausgegeben von
Rosemarie Heise, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 107 ff.
35 Dazu: Linda Duncan, „Heine and Nietzsche. Das Dionysische: Cultural
Directive and Aesthetic Principle“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch
fr die Nietzscheforschung 19 (1990), S. 336 – 345.
36 „Hinter ihm bewegte sich ein Gesicht, dessen Physiognomie auf eine lustige
Bocksnatur hindeutet, und lange haarichte Hände, die, wie es schien, dazu
gehörten, sah ich zuweilen hülfreich in die Saiten der Violine greifen, worauf
Paganini spielte. Sie führten auch manchmal die Hand, womit er den Bogen
hielt, und ein meckerndes Beifall-Lachen akkompagnierte dann die Töne, die
immer nur schmerzlicher und blutender aus der Violine hervorquollen […]
Zuweilen, wenn in die melodischen Qualnisse dieses Spiels das obligate
Bockslachen hineinmeckerte, erblickte ich auch im Hintergrunde eine Menge
kleiner Weibsbilder, die boshaft lustig mit den häßlichen Köpfen nickten und
mit den gekreuzten Fingern, in neckender Schadenfreude, ihre Rübchen
schabten“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Florentinische Nchte, Bd. 1,
S. 580 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 81
Den Topos des Dionysischen verband Heine ausdrücklich mit dem des
Satyrhaften, die rauschhaften Dionysien mit den orgiastischen Festen
des gehörnten Wald-Dämons, zu denen die wilden Tänze und Klänge
der Musik gehörten. Jauchzend, ekstatisch, jubelnd. Nietzsches spätere
Bilder des tanzenden Gottes und seiner ihn ehrenden rasenden Ge-
folgschaft speisen sich nicht nur aus den antiken Vorgaben, sie tragen
auch die Spuren der Heineschen Version, die immer schon auf deren
Pariser ,Auferstehung‘ deuten. Gegen die mehr als zweitausend Jahre
„Widernatur“ (EH, KSA 6, S. 313), die vor allem das Christentum zu
verantworten hat, war die Wiedergeburt des Gottes aus dem Geist der
Moderne des 19. Jahrhunderts eine Art intellektuelles Gütesiegel für die,
die seine Sache betrieben. Heines Sensualismus und Nietzsches ,grie-
chische Heiterkeit‘ gehen eine bemerkenswerte Symbiose ein.37 Paris
scheint der ideale Ort zu sein, diese Widernatur aufzuheben. Nietzsche
sieht sich in diesem „Attentat“ (ebd.) in vorderster Linie, unausge-
sprochen mit Heine im Rücken. Dolf Sternberger hat mit Verve davon
gesprochen, Nietzsche sei in Sachen Sensualismus und Abschaffung der
Sünde, der Lobpreisung des Dionysischen und der Rehabilitierung des
Sinnlich-Körperlichen in der Spur Heines nicht nur einfach weiterge-
gangen, er sei in ihr „weitergerannt“, er habe dessen heiter-radikalen
Gestus ins Exaltierende ge(über-)steigert.38
Nietzsche bringt Heine in diesem Kontext mit Bedacht in einen
Zusammenhang zu Jacques Offenbach. Nicht nur wegen ihres Juden-
tums, sondern wegen ihrer beider Affinität zum Dionysischen und
Satyrhaften. Offenbach ist für ihn der „geistreichste[] und übermüt-
higste[] Satyr“ (NF, KSA 12, S. 361), der „Hanswurst“, dem die
„Augenblicke übermüthigster Vollkommenheit“ gelingen, ein Genie in
seiner Klasse (NF, KSA 13, S. 497): Er sei darin höher zu schätzen als
Wagner, weil ausgestattet mit „unsterblichen Tricks“ (ebd., S. 596).
Und er habe den Gipfel seiner Kunst als Franzose erreicht, er, „der
nichts Anderes sein wollte als was er war – ein genialer Buffo, im
Grunde der letzte M<usiker> der noch M<usik> machte“ (ebd.,
S. 619). Übermütig sei der Komponist gewesen, „mit einem kleinen
sardonischen Grinsen“, „geistreich bis zur Banalität“ und vor allem
37 Wenn Nietzsche auch an Heine kritisiert, dieser habe die ,griechische Hei-
terkeit‘, wie sie im 19. Jahrhundert verharmlosend gesehen wurde, unter die
Kategorie eines ,bequemen Sensualismus‘ gerechnet (vgl. NF, KSA 7, S. 352).
38 Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Snde, Hamburg und
Düsseldorf: Claassen Verlag 1972, S. 302.
82 Renate Reschke
39 Siegfried Krakauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Berlin: Hen-
schelverlag Kunst und Gesellschaft 1980, S. 11.
40 Zit. nach: Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Anm. 39), S. 45 f.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 83
enden müssen […] Indem er die von der Devise: Freut Euch! gepackten
Massen ins Bacchanal hineinjagt, tilgt er den letzten Rest der Besinnung
und treibt auf dämonische Weise der Katastrophe entgegen.“41 Dieses
Dionysische differiert von den Vorstellungen, die Nietzsche davon hat.
Heine hätte sie unterstrichen. Davon abgesehen, Nietzsche ist sich si-
cher, dass nur Paris der kulturelle Nährboden für die Realität des
Dionysischen sein konnte, unabhängig von den Vorlieben und Anti-
pathien gegenüber seinen konkreten Erscheinungsformen. Offenbachs
Variante scheint Nietzsche „die supremste Form der Geistigkeit“, eine
„geniale Buffonerie“ (ebd., S. 532), Heine war ihm darin ähnlich. So
kann Nietzsche sein Fazit ziehen, dass mit diesen beiden „die Potenz der
europäischen Cultur wirklich überboten“ ist (ebd.). Ihr Esprit konnte
sich allein in Paris ausbilden und die zwiespältige Lebendigkeit in sich
aufsaugen, die ihn auszeichnet: „l’ esprit de Paris ist deren [der fran-
zösischen Kultur – R. R.] Quintessenz“, und die verwöhnten und
Geschmack besitzenden Pariser haben Heine an die Spitze dieses „esprit
Parisien“ gestellt (ebd., S. 533). So sehr, daß Nietzsche vom „l’adorable
Heine“ (NW, KSA 6, S. 427) und vom göttlichen Heine sprechen
kann. Ohne Pathos und ohne die Sicherheit, ob die Kluft zwischen dem
Göttlichen und dem Hanswurst eine wirkliche ist und sie sich je
schließen wird. Französisch oder nicht.
IV
Paris ist im 19. Jahrhundert Europa, das moderne, das zukünftige: Sein
Name steht für „das europäische Extrem“ (NF, KSA 10, S. 659) und ist
ein Synonym für seine geistreichste Kultur. Superlativisch wird Paris
von Nietzsche zum Mittelpunkt der modernen Kultur erklärt: „l’esprit
de Paris ist deren Quintessenz“ (NF, KSA 13, S. 533), und Heine gelte
den Parisern als „Quintessenz des Pariser Geistes“ (NF, KSA 11, S. 472).
Der Wahl-Franzose und Wahl-Pariser Heine, ein Unglücksfall der
deutschen Kultur (vgl. NF, KSA 7, S. 504), wird für Nietzsche so quasi
per definitionem zum Europäer. Die Franzosen sind ihrerseits wiederum
in seinen Augen die „liebenswürdigsten Europäer, [aber] auch die he-
erdenmäßigsten“ (NF, KSA 11, S. 447). Letzteres ist eine offene An-
spielung auf den Hang der Franzosen zu Revolutionen und damit
41 Ebd., S. 182.
.
84 Renate Reschke
42 „Du hässlicher Vogel, wirst du einst/ Mir in die Hände fallen,/ So rupfe ich dir
die Federn aus/ Und hacke dir ab die Krallen.// Du sollst mir dann, in luft’ger
Höh,/ Auf einer Stange sitzen,/ Und ich rufe zum lustigen Schießen herbei/
Die rheinischen Vogelschützen“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Deutschland.
Ein Wintermrchen. Caput III, Bd. 4, S. 583).
43 Ders. (wie Anm. 27), Die romantische Schule, Bd. 3, S. 379.
44 Nietzsche sieht die deutsche Kultur, so ihr diese Bestimmung überhaupt zu-
kommt, als eine ermüdete und erschöpfte, als eine verzögerte und andere
Kulturen verzögernde, damit als eine bloße Barbarei: „Die Deutschen ver-
derben, als Nachzgler, den großen Gang der europäischen Cultur“ (NF, KSA
11, S. 43).
86 Renate Reschke
45 Der Freund hatte aus Paris die Plünderungen und Zerstörungen beschrieben
(vgl. KGB, Bd. 2/2, S. 351).In anderen Berichten hieß es, die Kommunarden
hätten den Louvre geplündert und angezündet; Nietzsche sagte daraufhin einen
Besuch in Tribschen bei Wagner ab: „Pr. Nietzsche kommt nicht, die Ereig-
nisse in Paris haben zu ihn sehr erschüttert.“ So hat es Wagners Frau in ihrem
Tagebuch festgehalten (Cosima Wagner, Die Tagebcher, Bd. 1 [1869 – 1872],
herausgegeben von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack,, München:
Hanser Verlag. 1988, S. 392).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 87
Poeten-Herz blutete ihm bei dem Gedanken an die Zukunft der Kunst,
wenn erst die Marktfrauen, die Arbeiter und die Kommunisten an der
Macht wären: Sie würden aus den geliebten Büchern Tüten drehen, um
ihren Kaffee darin zu verkaufen. Aber er wollte schweren Herzens den
Preis zahlen, der für diese Freiheit und Gleichheit aller zu entrichten
war: „ – ach! Mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu
dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen alten Frauen der Zukunft
Kaffee und Tabak schütten wird. Ach! Ich sehe all dies voraus, und ich
bin von einer unaussprechlichen Traurigkeit ergriffen, wenn ich an den
Untergang denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse be-
droht, die mit der ganzen alten romantischen Welt vergehen werden.
Und dennoch, ich bekenne es mit Freimut, übt eben dieser Kommu-
nismus, so feindlich er allen meinen Interessen und meinen Neigungen
ist, auf meine Seele einen Reiz aus, dem ich mich nicht entziehen kann“
und er nannte als Gründe, die unwiderlegbare Logik, dass, wenn man es
für richtig hält, daß alle Menschen das Recht auf Essen haben, man sich
allen daraus ergebenen Folgen anzuerkennen habe und daß „die falschen
Patrioten, deren Vaterlandsliebe in nichts anderem besteht als in einer
idiotischen Abneigung gegen das Fremde und gegen die Nachbarvölker,
und die jeden Tag ihre Galle verspritzen, besonders gegen Frankreich“
gemeinsame Feinde seien.46 Die Ablehnung und Feindschaft gegenüber
den Spielarten der Nationalismen, darin besteht zwischen Heine und
Nietzsche fraglose Übereinkunft; Heines unverhohlene Fürsprache für
die sozial Unterdrückten und ihr Recht nicht nur auf Teilhabe am
Reichtum der Gesellschaft, sondern auch darauf, sich zu holen, was
ihnen verweigert wird, an diesem Punkt teilen sich ihre Geister. Und
46 Heinrich Heine, Vermchtnis. Vorwort zur franzçsischen Ausgabe der ,Lutetia‘, in:
Ders., Werke in fnf Bnden, herausgegeben von den Nationalen Forschungs-
und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Bd. 5, Berlin
und Weimar: Aufbau-Verlag 1976, S. 468 f. (In der Ausgabe [wie Anm. 27]
lautet die Passagen in der deutschen Übersetzung: „ach! mein ,Buch der Lieder‘
wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak
darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles
voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Unter-
gang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem
Kommunismus bedroht ist – Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt
derselbe auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann“
und „von den falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blöd-
sinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht, und
die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen.“, Ders. [wie
Anm. 27], Bd. 5, S. 232 f.).
88 Renate Reschke
Nietzsche hat das Thema außer Betracht gelassen. Eine Position wie die
der Heineschen Wanderratten wäre an Nietzsche abgeprallt oder hätte
seinen schlimmsten Vorstellungen eines pöbelhaften Europa der Zu-
kunft die literarischen Argumente geliefert: bildhaft, intensiv, horrible.47
Nietzsche zerfließt in Tränen über die vermeintliche Kulturbarbarei der
Kommunarden: „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich
für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zwei-
feln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische
Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die
herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte“
(Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871, KSB, Bd. 3, S. 204). Der
Abstand der Visionen konnte nicht größer sein, ihre gedankliche, kul-
turelle und soziale Differenz nicht augenfälliger.
Als Nietzsche feststellt, Deutschland habe außer Goethe nur einen
Dichter hervorgebracht und der sei ein deutscher Beitrag wider Willen
für Europa, meint er Heine und fügt hinzu: „und der ist noch dazu ein
Jude“ (KSA, NF, Bd. 11, S. 472): eine für Deutschland keinesfalls
schmeichelnde Feststellung. Zu einer Zeit, in der die antisemitischen
Haßtiraden gegen den Dichter zunehmen und Heine zwischen die
Fronten eines unappetitlichen Gezänks der nationalistischen Germa-
nisten- und Literatenzunft gerät, ist es Nietzsche, der ihn gegen diese
Geiferer oder opportunistischen Feiglinge in Schutz nimmt. Daß er
dabei das jüdische, das französische, das europäische Argument benutzt,
ist symptomatisch. Es besitzt in sich eine Art Dreieinigkeit der Mo-
47 „Es gibt zwei Sorten Ratten:/ Die hungrigen und satten./ Die satten bleiben
vergnügt zu Haus,/ Die hungrigen aber wandern aus.// Sie wandern viel
tausend Meilen,/ Ganz ohne Rasten und Weilen,/ Gradaus in ihrem grim-
migen Lauf,/ Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.// […] Der sinnliche
Rattenhaufen,/ Er will nur fressen und saufen,/ […] So eine wilde Ratze,/ Die
fürchtet nicht Hölle, noch Katze;/ Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld/ Und
wünscht aufs neue zu teilen die Welt.// […] O wehe! Wir sind verloren,/ Sie
sind schon vor den Toren!/ Der Bürgermeister und Senat,/ Sie schütteln die
Köpfe, und keiner weiß Rat.// Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,/ Die
Glocken läuten die Pfaffen./ Gefährdet ist das Palladium/ Des sittlichen Staats,
das Eigentum.// Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete./ […] Auch nicht
Kanonen, viel Hundertpfünder,/ […] Heut helfen euch nicht die Wortge-
spinste/ Der abgelebten Redekünste.// […]Im hungrigen Magen Eingang
finden/ Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,/ […] Ein schweigender
Stockfisch, in Butter gesotten,/ Behaget den radikalen Rotten/ Viel besser als
ein Mirabeau/ Und alle Redner seit Cicero“ (Ders. [wie Anm. 27], Die
Wanderratten, Bd. 6/1 (Nachgelesene Gedichte 1845 – 1856), S. 306 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 89
48 Den Antisemiten wirft Nietzsche vor, es den Juden nicht zu verzeihen, daß sie
Geist haben (vgl. NF, KSA 13, S. 365). Provokativ hält er ihnen entgegen: „Ah
welche Wohlthat ist ein Jude unter deutschem Hornvieh! … Das unterschätzen
die Herren Antisemiten“ (ebd., S. 580).
90 Renate Reschke
1 Für eine Diskussion des Einflusses Nietzsches auf Strindberg und weiterfüh-
rende Literaturhinweise vgl. Tobias Dahlkvist, „Vad kan Borgs armband lära
oss? Nietzsche och I havsbandet“, in: Samlaren. Tidskrift fçr svensk litteraturve-
tenskaplig forskning 125 (2004), S. 92 – 111.
2 Mazzino Montinari, „Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches
Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in:
Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hrsg. v. Sigrid Bau-
schinger, Susan L. Cocalis und Sara Lennox, Bern und Stuttgart: Francke 1988,
92 Tobias Dahlkvist
Strindberg gibt Nietzsche zu, daß der hereditäre Verbrecher zwar oft
dekadent sei, er habe aber immer einen Ahnvater, der zu stark für die
Umstände gewesen sei.7 Um diese Auffassung zu unterstützen, führt er
The Hereditary Genius (1869) des englischen Naturforschers Francis
Galton an.8
Strindberg beruft sich also auf Lombroso, Nietzsche auf Galton. Es
würde zu weit führen, die Implikationen dieser Tatsache bis zu ihrem
Ende zu verfolgen. Konstatieren wir aber, daß obwohl die Entartung im
Zentrum beider Werke steht, beide ihr gegenüber unterschiedliche
Haltungen einnehmen. Für Lombroso ist die Entartung ein Faktum,
etwas Gegebenes, wogegen wir uns schützen müssen. Der englische
Historiker Daniel Pick erläutert die Position Lombrosos folgenderma-
ßen: „For Lombroso, criminality was ,natural‘ but unacceptable; natural
in its relation to heredity (certain creatures fell behind in the course of
evolution), unacceptable in its social consequences. The criminal class
was in short an obsolete freight weight carried by the state.“9
Für Galton hingegen besteht die wissenschaftliche Aufgabe in einer
geschichtlich-genealogischen Untersuchung der Degeneration. Er
konstruierte zum Beispiel einen Fotoapparat, mit dessen Hilfe die
Physiognomie des Verbrechers wissenschaftlich zu erfassen wäre. Galton
greift auch der Kritik Nietzsches gegen Darwin vor, daß die natürliche
Zuchtwahl zu Gunsten der mittelmäßigen Individuen geschieht. Der
7 Vgl. Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par
Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001,
S. 239: „Nietzsche manifeste un vif intérêt pour le phénomène de la dégéné-
rescence, comme pour le personnage du grand criminel qui peuple les romans
et les feuilletons de l’époque. Il peut représenter un degré de force et d’auto-
nomie très poussé: sa déchéance et sa chute dans la criminalité de droit commun
sont dues à la cohésion grégaire de la société qui l’écrase, qui lui interdit
l’adéquate réalisation de sa puissance.“
8 Nietzsche besaß einen Band von Galton; aber nicht The Herediatry Genius,
sondern Inquiries into Human Faculty and in Development (1883); siehe: Nietzsches
persçnliche Bibliothek, herausgegeben von Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio,
Maria Cristina Fornari, Francesco Fronterotta und Andrea Orsucci unter
Mitarbeit von Renate Müller-Buck, Supplementa Nietzscheana Band 6, Berlin
und New York: Walter de Gruyter 2003, S. 238 f. Marie-Luise Haase hat die
Bedeutung dieses Buches für Nietzsche in der Zarathustra-Zeit diskutiert:
Marie-Luise Haase, „Friedrich Nietzsche liest Francis Galton“, in: Nietzsche-
Studien 18 (1989), S. 633 – 658.
9 Daniel Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918, Cam-
bridge: Cambridge University Press 1996, S. 126.
94 Tobias Dahlkvist
10 Zitiert nach Pick, Faces (Anm. 9), S. 192. Vgl. Haase, „Nietzsche liest Galton“
(Anm. 8), S. 646: „Galtons Anliegen ist es, die ganze Menschheit zu verbessern,
indem die Minderwertigen allmählich, fast unbemerkt, ersetzt werden durch
gelungene Exemplare. Seine Theorie entwickelt er gegen Darwins grausamen
,Kampf ums Dasein‘. Sehr verkürzt ausgedrückt, will er die Fruchtbarkeit der
Besten sicherstellen, damit sie anteilmäßig in der Bevölkerung überwiegen, was
zur Folge haben muß, daß die Minderwertigen durch immer geringere
Überlebenschancen schließlich aussterben.“
11 Für eine hervorragende Diskussion von Strindbergs Lektüre der zeitgenössi-
schen Psychologen, siehe Hans Lindström, Hjrnornas kamp. Psykologiska ider
och motiv i Strindbergs ttiotalsdiktning, Uppsala: Natur och kultur 1952, beson-
ders S. 115 – 125 und S. 181 – 191. Obwohl Lindströms Buch im Einzelnen
veraltet ist, ist es immer noch sehr lesenswert. Leider gehört seine Diskussion
von Strindberg und Nietzsche zu den schwächsten Partien des Buches.
12 Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s Reading and Private Library, 1885 – 1889“,
in: Journal of the History of Ideas 58:4 (1997), S. 663 – 693, hier 689. Die Bücher
sind nicht in der Bibliothek Nietzsches aufbewahrt geblieben und auch nicht in
Nietzsches persçnliche Bibliothek aufgenommen worden.
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 95
Giftas – „wir stimmen über das ,Weib‘ absolut überein“ (KSB 8, S. 479)
Nietzsches Briefe enthalten zwei Urteile über Giftas. Erstens einen Brief
an Köselitz, in dem er schreibt: „sehr curios, wir stimmen über das
,Weib‘ absolut überein […].“13 Zweitens schreibt er an Brandes, Les
maris gelesen zu haben, „entzückt, und wie bei mir zu Hause“.14
Das Thema der Novellensammlung ist das Verhältnis zwischen den
Geschlechtern. Giftas besteht aus zwei Teilen, einem ersten Teil, 1884
herausgegeben, der aus drei eigenartigen Vorreden und zwölf Erzäh-
lungen besteht, und einem zweiten Teil von 1886, der aus einer Vor-
rede und achtzehn Erzählungen besteht; der Ton dieses zweiten Teiles
ist erheblich schärfer. Der ersten Teil wurde 1885 ins Französische
übersetzt (ohne die Vorreden).15 Dies ist also die Ausgabe, die Nietzsche
las und die im Folgenden zitiert wird.
Das Bild des ,Weibes‘ stimmt in der Tat recht gut mit dem Bild
Nietzsches überein. Die Verschiedenheit der Geschlechter wird betont,
und die Risiken der sexuellen Abstinenz werden in vielen der Erzäh-
lungen hervorgehoben. Ferner ist die Feindseligkeit dem Christentum
gegenüber charakteristisch für das Buch. Strindberg wurde tatsächlich
wegen Gotteslästerung angeklagt, aber schließlich freigesprochen.16
Als Grundbedingung des Lebens wird von Strindberg der Kampf
geschildert. „La nature avait établi des lois si sages que la civilisation
humaine n’était qu’une inepte lutte contre ces lois, et que l’homme
finirait pour succomber.“ Am schlechtesten ausgerüstet in diesem
Kampf sind die Adeligen; ihnen mangelt es an Lebenskraft, deswegen
müssen sie die ärmeren Klassen aussaugen: „La haute et noble race vivait
par conséquent de proie, même pour les moindres choses.“17 Das hat
natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Aussagen Nietzsches wie der
folgenden (aus dem Nachlaß von Dezember 1888): „[W]as heute in der
veröffentlicht. Nietzsche las diese Ausgabe, und das Werk wird hier
nach dieser Übersetzung zitiert.
Sie ist mit einer Vorrede von Émile Zola versehen, bei der es sich
eigentlich um einen Brief von Zola handelt, der sich eher reserviert gibt.
Das Drama ist ihm zu abstrakt, und er hätte sich eine ausführlichere
Beschreibung des Hintergrunds der Personen gewünscht. Er schließt
seinen Brief aber mit einer höflichen Begründung der Tatsache ab, daß
das Drama ihm nur teilweise gefällt: „Mais il y a certainement là, entre
vous et moi, une question de race.“19 Wegen dieses Rassenunterschieds
kann Zola das Werk nicht vorbehaltlos schätzen: Zola scheint zu sagen,
daß ihm das Werk nur zum Teil gefällt, weil Strindberg nicht Franzose
ist.
Nietzsche kommentiert die Vorrede in seinen Briefen an Strindberg
ausführlich. Nach seiner Meinung ist diese Vorrede sehr naiv und verrät
einen unfranzösischen Charakter: „Aber fast geschüttelt vor Lachen
habe ich mich, als er zuletzt eine Rassen-Frage daraus macht! So lange es
überhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus Rassen-
Instinkt gerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine pro-
testiert gegen Zola. Zuletzt ist er ein moderner Italiener, er huldigt dem
verismo…“20
Der Franzose Zola ist also, nach Nietzsches Auffassung, Italiener.
Den Schweden Strindberg dagegen betrachtet er als Franzosen. Es gibt
also tatsächlich einen Unterschied zwischen Zola und Strindberg, aber
nicht so, wie Zola ihn sieht. ,Französisch‘ bedeutet hier also offenbar
etwas anderes, als französischer Herkunft zu sein: Wenn Strindberg
Franzose ist, dann, weil er Franzose geworden ist. In anderen Briefen
wird das Franzosentum Strindbergs noch ausführlicher kommentiert.
Strindberg solle, so Nietzsche im Brief von 18. Dezember, nicht be-
dauern, Schwede zu sein. Vielmehr solle er das Glück, nicht Deutscher
zu sein, nicht unterschätzen. Denn: „Es giebt gar keine andere Cultur,
als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft, daß man
in die einzige Schule geht – sie ist nothwendig die rechte . . Wollen Sie
den Beweis dafür? Aber Sie sind der Beweis! –“21 Und an Köselitz faßt er
den ersten Eindruck von Strindberg zusammen: „Es ist die französische
Cultur auf einem unvergleichlich stärkeren und gesnderen fond: der
Effekt ist bezaubernd […].“22
Im ersten erhaltenen Brief an Strindberg berichtet Nietzsche, daß er
Fadren zweimal gelesen habe, und zwar „mit tiefer Bewegung“.
Nietzsche fügt hinzu, es habe ihn „über alle Maaßen überrascht, ein
Werk kennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe – in
ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter
– auf eine grandiose Weise zum Ausdruck gebracht ist.“23 Diese For-
mulierung stemmt aus dem Fall Wagner; sie ist sehr bedeutungsvoll. Da
Nietzsche mit diesen Worten Bizets Carmen beschreibt, dürfen wir
annehmen, daß Fadren in seinen Augen vor allem Dank der Liebes-
auffassung ein französisches Werk ist.
Die Liebe wird in Fadren vor allem als Machtkampf geschildert. Was
willst du? fragt der Rittmeister seine Frau: die Macht um jeder Preis?
„Oui, la pouvoir! Cette guerre à mort, sur quoi a-t-elle roulé?“24 Diese
Replik bezieht sich allererst auf den konkreten Konflikt zwischen dem
Rittmeister und seiner Frau; sie faßt aber Strindbergs Auffassung der
Liebe sehr gut zusammen. Zusammen mit einer anderen zentralen
Replik drückt sie die Liebesdefinition Nietzsches fast wörtlich aus. Haßt
du mich? fragt der Rittmeister seine Frau; sie gibt zu, ihn zu hassen,
insofern er ein Mann ist. „Mais c’est de la haine de race, ceci!“ ant-
wortet der Rittmeister: „Si nous descendons du singe, il faut au moins
qu’il y ait eu deux espèces primitives, puisque nous ne nous ressemblons
point.“25
Die Liebe ist also ein Krieg; sie stellt einen Todhaß der Geschlechter
dar. Es ist dies sowohl die Auffassung Strindbergs wie diejenige
Nietzsches. Strindberg ist offenbar nicht mehr Sozialist. Trotzdem be-
steht ein großer Unterschied zu Nietzsche. Die Liebe und das Weib
werden von Strindberg fast genau so wie von Nietzsche analysiert. Aber
sie unterscheiden sich in ihrer Bewertung.
„Voilà le péril,“ sagt der Rittmeister, indem er erklärt, daß alle
Frauen zumselben Typus gehören: „la coquinerie inconsciente, la
Abschluß
insiste sur la morale des esclaves qui, selon Nietzsche, s’est emparée de
notre civilisation judéo-chrétienne, glorifiant les pauvres, les faibles, les
déshérités, les malades. Il cite des fragments dans lesquels est présentée
«l’opération mystérieuse et louche grâce à laquelle les esclaves gonflés de
ressentiment arrivent à rapetisser en pensée les maîtres et à se transformer
eux-mêmes en martyrs et en saints.»2 C’est la morale d’esclaves qui
domine aujourd’hui la conscience moderne sous le nom pompeux de
«religion de la souffrance humaine».3
Un autre grave symptôme de décadence, selon Nietzsche, est le
triomphe général de l’idéal démocratique. De même la femme
émancipée est l’objet des sarcasmes du philosophe.
Dans sa reconstitution du pilier positif du système, le «surhomme»,
Lichtenberger tente de mettre en cohérence les éléments qui font de
cette pensée une émancipation de la décadence, et de la décadence un
mal nécessaire pour parvenir à une régénérescence de l’humanité. La
doctrine du surhomme est enseignée principalement dans Zarathoustra.
Lichtenberger la résume ainsi: «On peut définir le surhomme: l’état
auquel atteindra l’homme lorsqu’il aura renoncé à la hiérarchie actuelle
des valeurs, à l’idéal chrétien, démocratique ou ascétique qui a cours
aujourd’hui dans toute l’Europe moderne, pour revenir à la table des
valeurs admise parmi les races nobles, parmi les Maîtres qui créent eux-
mêmes les valeurs qu’ils reconnaissent au lieu de les recevoir du
dehors.»4 Il cite ensuite les pages les plus dévoyées de Nietzsche selon
lesquelles il faut savoir faire souffrir pour obtenir de grandes choses.
Lichtenberger présente enfin brièvement la théorie de l’éternel retour,
qui «jaillit comme un éclair au mois d’août 1881 à Sils Maria dans le
cerveau de Nietzsche»5, et qu’il présente à la fois comme la base et
comme le couronnement de la philosophie du surhomme.
Lichtenberger est à ma connaissance le premier à avoir remarqué,
près de 40 ans avant Benjamin pour qui ce fut une découverte capitale,
que la théorie de l’éternel retour avait été formulée avant Nietzsche par
Blanqui dans L’ternit par les astres. 6 Nietzsche pourrait-il avoir été
influencé par Blanqui?
2 Ibid., p. 113.
3 Ibid., p. 121.
4 Ibid., p. 149.
5 Ibid., p. 160.
6 Ibid., p. 175. Voir Auguste Blanqui, L’ternit par les astres, (1872) réédition Paris
1982, et Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften V, Francfort
1982, trad. fr. Le livre des passages, Paris 1989.
108 Marc Sagnol
7 Ibid., p. 177.
8 Ibid., p. 182.
La première réception de Nietzsche en France 109
pensée allemandes que ces érudits s’adressent au public français pour lui
expliquer Nietzsche. Par ailleurs, de Gide à Valéry, ce sont principa-
lement des écrivains (certes penseurs, mais pas des philosophes au sens
universitaire du terme) qui s’emparent de certaines pensées de Nietzsche
et les font fructifier sur le sol français. La deuxième réception de
Nietzsche en France, à partir des années 1960, sera l’œuvre de
philosophes comme Deleuze, Foucault, Derrida, Lyotard, qui tenteront
de lui redonner une place de choix dans l’histoire de la philosophie.
Il convient de citer enfin un petit livre très synthétique et clairement
écrit, l’ouvrage de Jean-Edouard Spenlé sur La pense allemande de Luther
Nietzsche, publié en 1934 chez Armand Colin. Dans le dernier
chapitre, consacré aux «doctrines irrationalistes», Spenlé résume la
pensée de Nietzsche et conteste l’utilisation frauduleuse qui est faite de
lui par l’idéologie raciste et nazie en vogue à cette époque en Allemagne
et ailleurs. «Plus inacceptable encore lui eût paru l’évangile raciste […]
L’atmosphère de l’Allemagne d’aujourd’hui lui eût paru plus irrespirable
encore que celle de l’Allemagne bismarckienne qu’il s’était empressé de
fuir. Il n’a cessé de témoigner de son aversion pour ce qu’il appelait
,l’affaire véreuse des races’ et il n’a cessé de combattre le pangermanisme
et l’antisémitisme, où il dénonçait ce qu’il appelait ,les deux grandes
bêtises allemandes’.»42
Et plus loin, Spenlé écrit: «Il a aimé non la forêt germanique mais la
culture méditerranéenne. Comme Goethe, il a vu dans l’orientation vers
ce qui n’est pas allemand la marque de supériorité chez tout grand
Allemand.»43
Cet ouvrage fut traduit en allemand, sur ordre des autorités
françaises, et publié en 1946 dans la zone d’occupation française.44 Mais
il s’agit déjà de la réception en Allemagne de la réception française.
1 Jean Pierre Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre la guerre, Paris: Hermann, Editeur
des sciences et des arts 1998.
2 Bernhard H.F.Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig:
Reclam 2000.
118 Angelika Schober
men“ haben, um sie politisch zu nutzen – und zwar als „Chance einer
Befreiung der Politik von allen Formen des Faschismus“.3 Diesem
Anspruch gegenüber gibt Taureck zu bedenken: „Wie – das wäre die
Frage an Bataille und den gesamten französischen Nietzscheanismus –
kann ein Konzept von individueller Souveränität bei Nietzsche gegen
seine politischen Bedrohungsthesen und politisch-überpolitischen
Endlösungsphantasien gesichert werden?“4 Taureck belegt anhand
verschiedener Beispiele, daß eine solche „Sicherung“ in den Texten
selbst nicht gegeben ist, sie vielmehr erst durch ein „Hinausgehen“ über
Nietzsche möglich erscheint. „Der redlich antifaschistische und philo-
sophisch bedenkenswerte Nietzscheanismus von Deleuze und Guattari
ist über Nietzsche hinausgegangen. Er hat nicht nur bei Nietzsche ge-
sucht, sondern er hat sich auf weitergehende Folgerungen eingelassen.“5
So überzeugend diese Aussage erscheint, ihr eigentliches Erkennt-
nisinteresse reicht weiter. Es betrifft nicht nur den neueren französi-
schen Nietzscheanismus, sondern weite Teile der Rezeption in
Frankreich, sowie ansatzweise auch in Deutschland. Ein Großteil der
Leser beschränkt sich nicht darauf, philologische Arbeit zu leisten,
sondern geht über Nietzsche „hinaus“, inspiriert sich an einem Teil
seines Denkens, um es auf eigene Weise fortzuführen, wobei andere,
ebenfalls in Nietzsches Texten enthaltene Aspekte, übergangen werden.
So daß unterschiedliche „Nietzsches“ entstehen und der „wahre
Nietzsche“ immer zugleich ein anderer sein kann. Seine „Wahrheit“
läßt sich nicht eindeutig bestimmen, wandelt sich vielmehr entspre-
chend der Interessen seiner Leser, der Blickwinkel der jeweiligen Le-
searten mit ihren Aus- und Einblendungen von Textelementen. Karl
Löwith schreibt zurecht: Zwar trennt ein „Abgrund“ Nietzsche, dieses
„Kompendium deutscher Widervernunft oder des deutschen Geistes“,
von seinen „gewissenlosen Verkündern“, doch er hat ihnen den Weg
bereitet, den er selber nicht ging.“6 Dies schließt jedoch nicht aus, daß
er auch anderen Interpreten Wege bereitete, zum Beispiel den franzö-
sischen Nietzscheanern, die ihn zur Überwindung des Faschismus
verwenden möchten. Die weitgehend offene, aphoristische Struktur
seines Schreibens – auf die Löwith bereits vor Deleuze hinwies – er-
3 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 245 – 246.
4 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 250.
5 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 255.
6 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt
am Main: Fischer 1989, S. 5.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 119
7 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III, § 245, in: KSA, herausge-
geben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New
York: dtv/de Gruyter, Band 5, S. 365.
8 Geneviève Bianquis, Nietzsche en France. L’influence de Nietzsche sur la pense
franÅaise, Paris : F.Alcan 1929; Pierre Boudot, Nietzsche et l’au-del de la libert,
Nietzsche et les crivains franÅais de 1930 1960, Paris: Union des éditions 10/18
1970, Aubier Montaigne 1975; Louis Pinto, Les Neveux de Zarathoustra. La
rception de Nietzsche en France, mit einem Vorwort von Marc de Launnay, Paris:
Seuil 1995; Jacques Le Rider, Nietzsche in Frankreich, übersetzt von Heinz
Jatho, München/Paderborn: Wilhelm Finck 1997; ders., Nietzsche en France.
De la fin du XIXe sicle au temps prsent, Paris: PUF 1999.
Meine eigenen Arbeiten zur französischen Nietzscherezeption unterstreichen
die Vielfalt der Deutungen, sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher In-
terpretationsansätze: Nietzsche et la France. Cent ans de rception franÅaise de
Nietzsche, Thèse de doctorat d’Etat, Universität Paris X-Nanterre 1990; dies.,
„La réception de Nietzsche en France. Ecrits de femmes“, in: Jacques Le Rider,
(Hrsg.), Nietzsche. Cent ans de rception franÅaise, Paris: Editions Suger 1999,
S. 149 – 162; dies., „La réception française de Nietzsche“, in: Revue Interna-
tionale de Philosophie n81 (2000), S. 99 – 115; dies., Ewige Wiederkehr des Glei-
120 Angelika Schober
Fraß der gefräßigen Bestie gepredigt und den bellenden Stil. […] For-
derste du sie nicht auf, hart zu sein? […] Du bist gestorben, mit dem
Löffel ernährt von einer Krankenschwester, knurrend in einer Ecke wie
ein räudiges Tier und wurdest wahrscheinlich in mitten deiner Exkre-
mente erstickt. So ergehe es deiner ganzen Rasse.“15
Die negative öffentliche Meinung während des Krieges, die bei
Nietzsche nur Verdammenswertes sucht und findet, hätte ihn wohl
kaum beeindruckt. Ihn zumindest nicht von seiner Überzeugung ab-
gebracht, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland.
Sie hätte Nietzsche vielmehr in zweierlei bestätigt: zum einen in seiner
Abneigung gegen die „öffentliche Meinung“ – die besonders in seiner
Kritik an der Presse zum Ausdruck kommt16, zum anderen in seinem
Frankreichbild. Denn dieses ist alles andere als homogen und insgesamt
sehr vielschichtig. Lebenslange Wertschätzung wird begleitet von bis-
siger Abneigung gegen manche Entwicklungen und Autoren. Zum
Beispiel gegen Victor Hugo, den „Pharus am Meere des Unsinns“, oder
die „Milchkuh mit ,schönem Stil’“, Georges Sand, sowie Emile Zola,
dem Nietzsche „die Freude zu stinken“ nachsagt.17 Enthusiastischen
Aussagen über ein bestimmtes, idealisiertes Frankreich – jenes des guten
Geschmacks, welches die Kultur des ,grand siècle‘ perpetuiert – steht
herbe Kritik an dem „unfreiwillig germanisierten“, von Schopenhauer
und Wagner „verdorbenen“, sowie durch die „englischen politischen
Ideen“ vergifteten Frankreich gegenüber.18 Die Überzeugung Nietz-
sches, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland,
betrifft also nur jenes idealisierte Frankreich, von dem er annimmt, es sei
noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts „Sitz der geistigsten und
raffiniertesten Cultur Europas“, dessen Vertreter sich aber „gut ver-
steckt“ hielten, um einem „gröberen“ Frankreich den Vortritt zu lassen,
welches anlässlich des Begräbnisses von Victor Hugo „wahre Orgien des
15 André Suarès, Commentaire sur la guerre des Boches, Paris: Emile Paul Frères 1915,
S. 80 f.
16 Siehe hierzu meinen Artikel „Nietzsche, critique de la presse“ in: André
Combes und Françoise Knopper (Hrsg.), L’opinion publique dans les pays de
langue allemande, 37e Congrès de l’Association des Germanistes de l’enseigne-
ment supérieur organisé à l’Université de Toulouse 2 – Le Mirail du 24 au 26
mai 2004, Paris: L’Harmattan 2006, S. 191 – 201.
17 Friedrich Nietzsche, Gçtzendmmerung, „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“, §1,
in: KSA (Anm. 7), Band 6, S. 111.
18 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 197.
122 Angelika Schober
19 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 198.
20 Brief vom 29. 12. 1888 an Meta von Salis. KSA (Anm. 7), Band 15, S. 207 f.
21 Jean Bourdeau, Les matres de la pense contemporaine. Stendhal, Taine, Nietzsche,
Paris: Alcan 1904, S. 121 und S. 131.
22 Tagebuch vom 7. Januar 1924. Siehe auch Brief an Angle vom 10. Dezember
1924.
23 Zitiert nach magazine littraire n8243, Juni 1987, S. 19.
24 Interwiev mit Jean Baudrillard, in: Florian Rötzer, Franzçsische Philosophen im
Gesprch, München: Boer 1987, S. 43.
25 Henri Albert, Frdric Nietzsche, Paris: Bibliothèque internationale d’édition
1903, S. 11.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 123
unaufhörlich zitieren und der mir so viel Gutes tat, nicht sagen, daß
unsere herrliche Leidenschaft eine der Triebfedern ist, welche das Leben
verherrlicht, uns zu allem erhebt, was das Leben an Aktivität, Leiden-
schaft und Schönheit fordert?“26
Doch dieser Interpretationsansatz ist nicht auf Frankreich be-
schränkt, ähnliche Tendenzen finden sich auch in Deutschland. Zu-
nächst in der Münchner Bohème der Jahrhundertwende, wo Franziska
von Reventlow schreibt, der Zarathustra sei ihre „Bibel“ gewesen, „die
geweihte Quelle“, aus der sie und ihre Freunde „immer wieder tran-
ken“ und die sie „wie ein Heiligtum verehrten“.27 Die Lektüre
Nietzsches gilt als Schlüsselerlebnis zum „eigentlichen Leben“, das sich
befreit hat von den Normen der bürgerlichen Gesellschaft und der
christlichen Moral: „Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen – in
Schönheit und Freiheit“.28 Doch nicht nur in München, auch in Berlin
wird Nietzsche als „befreiender“, subversiver Autor gelesen. Nach dem
ersten Weltkrieg versteht ihn die ästhetisch-politische Dada-Bewegung
als eine Art „konzeptuellen Lehrmeister“29, sein Name erscheint in
verschiedenen Manifesten und Manifestationen. Aus der generellen
Kritik an der deutschen Kultur und Literatur wird Nietzsche ausgespart,
ein Teil seines Denkens dient dazu, bürgerliche Ideale zu Fall zu
bringen. Richard Huelsenbeck zufolge waren alle Dadaisten Nietz-
scheleser, und Johannes Baader, der selbsternannte „Oberdada“, schreibt
eine Karte an Tristan Tzara mit der Anrede „Lieber Zara Tustra“.30 Im
Cabaret Dada reitet Raoul Hausmann, der „Dadasoph“, auf einer Eule,
dem Tier der Weisheit, und hält die Symbole Zarathustras – die
Schlange und den Adler – in seiner Hand.31 Als Antwort auf Zarathustra
im Tornister deutscher Soldaten während des Weltkriegs meint Haus-
mann, die Deutschen hätten, anstatt der „komischen Selbsttäuschung als
32 Alfred Kutschenbauch (1920) zitiert nach Hanne Bergius (Anm. 29), S. XIV.
33 Johannes Baader, „Wer ist Dadaist?“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 40.
34 „Dadaistisches Manifest“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 22 – 24, hier S. 25.
Siehe hierzu meinen Artikel „Dada – critique des idéaux de Weimar sur les
traces de Nietzsche“ im Tagungsband des 39. Kongresses der AGES, L’idal.
Formes et fonctions, Boulogne sur Mer, Mai 2006 (in Druck).
35 Jean-François Lyotard, „Notes sur le retour et le Kapital“, in: Nietzsche au-
jourd’hui?, Paris: Union des éditions 10/18 (1973), Band 2, S. 153.
36 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962 (1967), S. 157.
37 Drieu la Rochelle, Socialisme fasciste, Paris: Gallimard 1934.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 125
,Form’, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen,
erfunden ist“ am besten in Frankreich verwirklicht, und zwar als eine
„Art Kammermusik der Literatur“.41 Entsprechend entwickeln die
französischen Nietzschekommentatoren der siebziger Jahre, wie Werner
Hamacher zeigt, eine „Art „Kammermusik der Lektüre zur Meister-
schaft“ mit ausgeprägtem „Gespür für Rhythmus und Synkopierung
sowohl der literarischen wie der argumentativen Bewegungen in seinen
Texten“.42 Als weiteres verbindendes Element zwischen Nietzsche und
Frankreich kann die Tatsache gelten, daß der Vielschichtigkeit der
Rezeption in Frankreich eine Vielfalt der Rezeption Frankreichs durch
Nietzsche entspricht. Frankreich ist nicht nur das Land, in welchem er
am meisten rezipiert wird, es ist auch das Land, mit dem er sich am
intensivsten beschäftigte. Es finden sich nicht weniger als vierhundert
Erwähnungen Frankreichs in den Werken und im Nachlaß – im Ver-
gleich dazu kommt Italien nur auf etwa hundert Einträge, England sogar
nur auf zweiundfünfzig. Nietzsche beschäftigt sich zudem mit mehr als
achtzig französischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Epochen
und Bereichen (Philosophie, Literatur, Musik, Malerei, Politik etc.).43
Von d’Alembert über Balzac, Diderot und Fénelon bis zu Montaigne,
Napoleon, Vauvenargues und Zola reicht sein Interesse, wobei manche
Personen wohlwollend kommentiert werden – wie Pascal und Stendhal,
41 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 254,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 199.
42 Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Essais von Maurice Blanchot,
Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und
Bernard Pautrat, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986, S. 11.
43 In alphabetischer Reihenfolge: Abelard, d’Alembert, Balzac, Barbey d’Aure-
villy, Baudelaire, Bayle, Beaumarchais, Berlioz, Bizet, Blanqui, Bossuet,
Chamfort, Chateaubriand, Chopin, Claude Lorrain, Auguste Comte, Condil-
lac, Corneille, Victor Cousin, Jacques-Louis David, Delacroix, Descartes, Di-
derot, Alexandre Dumas, Fénelon, Flaubert, Fontenelle, Theophile Gautier,
Gebrüder Goncourt, Jean Marie Guyau, Helvétius, d’Holbach, Victor Hugo,
Joseph Joubert, La Fontaine, Lamarck, Lamartine, La Rochefoucauld, Louis
Philippe, Louis XI, Louis XIII, Louis XIV, Louis XV, Pierre Loti, Jean-Baptiste
Lully, Joseph de Maistre, Malebranche, Malherbe, Maupassant, Maupertuis,
Mérimée, Meyerbeer, Michelet, Mirabeau, Molière, Montaigne, Montesquieu,
Napoléon, Jacques Offenbach, Pascal, Poussin, Proudhon, Racine, Rameau,
Renan, Richelieu, Rivarol, Robespierre, Ronsard, Rousseau, Sainte-Beuve,
Saint-Simon, Georges Sand, Scribe, Madame de Sévigné, Madame de Staël,
Stendhal, Sully, Hippolyte Taine, Talleyrand, Adolphe Thiers, Vauvenargues,
Alfred de Vigny, Voltaire, Emile Zola. Quelle: Index von Jörg Salaquarda,
KSA, Band 15.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 127
47 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 272. Siehe hierzu meinen Artikel „L’art de l’histoire selon
Nietzsche“, in: Etudes Germaniques n8218, April-Juni 2000, S. 231 – 234.
48 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 290.
49 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 272. Mit diesem Bild kritisiert Nietzsche die Bildungs-
bürger.
50 Roland Barthes, „Ecrire la lecture“, in: Essais critiques IV. Le bruissement de la
langue, Paris: Editions du Seuil 1984, S. 21 – 31, hier S. 30.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 129
51 Ein Arbeitsschwerpunkt von Faye ist der Faschismus: Langages totalitaires, Paris:
Hermann 1972; Le Pige,
La philosophie heideggerienne et le nazisme, Paris: Ballard 1994; ders., Le langage
meurtrier, Paris: Hermann 1996.
52 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre la guerre (Anm. 1), S. 1.
53 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 14.
54 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 225. Er ver-
steht Nietzsches Bezug zum Faschismus nicht als ein Verhältnis von Denker zu
Täter, konstatiert vielmehr einen gewissen „Schwebezustand“ (S. 29), wenn
sich Theoretiker des Faschismus in Italien (Mussolini, Gentile, Evola) und
Deutschland (Steding, Rosenberg, Goebbels) auf ihn beziehen (S. 32).
55 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre la guerre (Anm. 1), S. 97. Der Anti-Antisemi-
tismus Nietzsches wurde auch unterstrichen von Sarah Kofman, die bedauert,
daß die „aktuelle Mode“ eher zugunsten eines Antisemitismus von Nietzsche
entscheide. Le mpris des juifs. Nietzsche et les juifs, l’antismitisme, Paris: Galilée
1994, S.12. Siehe zu dieser Thematik auch Arno Münster, Nietzsche et le na-
zisme, Paris: Editions Kimé 1995.
130 Angelika Schober
56 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre la guerre (Anm. 1), S. 97. Faye grenzt sich auch
gegen Heidegger ab, dessen „Deutung Nietzsches als Denker der nihilistischen
Metaphysik in Widerspruch zu jedem Satz Nietzsches“ stehe (S. 49).
57 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 16.
58 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 233.
59 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 107.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 131
60 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 223.
61 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre la guerre (Anm. 1), S. 49.
62 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse, Paris: Grasset
2000, S. 82.
132 Angelika Schober
63 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse (Anm. 62), S. 273.
64 Luc Ferry/Alain Renaut (Hrsg.): Pourquoi nous ne sommes pas nietzschens, Paris:
Grasset 1991.
65 Alain Clément, Nietzsche et son ombre. Essai (1958), Bourges: Amor fati 1989,
S. 13 f.
66 Löwiths Nietzscheinterpretation fand bislang, anders als jene Heideggers, in
Frankreich nur ein geringes Echo, obwohl seine beiden wichtigsten Arbeiten zu
Nietzsche übersetzt wurden. Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des
Gleichen (1934), aus dem Deutschen übersetzt von Anne-Sophie Astrup,
Nietzsche. Philosophe de l’ternel retour, Paris: Calman-Lévy 1991; ders., Von
Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941),
aus dem Deutschen übersetzt von Rémi Laureillard, De Hegel Nietzsche, Paris:
Gallimard 1969.
67 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“, KSA
(Anm. 7), S. 58.
68 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ , KSA
(Anm. 7), S. 9 f.
69 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 34.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 133
gibt, also nirgends fest verankert ist und auch keine Verankerung sucht.
Daß Nietzsche vielmehr, wie Bataille schreibt, die verschiedensten
„Möglichkeiten des Menschlichen“ durchspielt, und im Namen eines
sich „bewegenden Wertes“ spricht, dessen Ursprung und Ziel nicht zu
fassen sind: „Kein Weg führt in die gleiche Richtung“70 So daß Fol-
getexte entstehen, welche in die unterschiedlichsten Richtungen wei-
sen, man also bei Nietzsche letztlich finden kann, was man sucht.
70 Georges Bataille, Sur Nietzsche. Volont de chance, Paris: Gallimard 1945, S. 141.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de
Mithra
Anatoly Livry
1 Cf. par exemple, «Mein Kampf de Hitler – une des caractéristiques de l’esprit
allemand est la faiblesse des définitions et l’indifférence aux prémisses. La
logique remplacée par l’affirmation. La hideuse semence de Luther.». Paul
Claudel, J. II, 18 – 19 mars 1934, Paris: Gallimard 1969, S. 53.
2 Cf. par exemple, «À savoir les Voltaire, les Rousseau, les Renan, les Nietzche
[l’orthographe dont use Claudel habituellement <A.L.>], et toute la canaille
allemande. Aucun contact, aucune paternité de l’humble, sainte et profonde
nature. Ils se sont éloignés de la profonde nature.», dans: Paul Claudel, J. I,
Septembre – Novembre 1904, Paris: Gallimard 1968, S. 5.
136 Anatoly Livry
un jour, l’on sera amené à le combattre: «Le pays vit dans l’attitude de la
guerre. Depuis 1880, la guerre est certaine; elle est imminente […]»3,
écrira un condisciple de Claudel au lycée Louis–le–Grand, Romain
Rolland.
Cette nécessité de connaître pour vaincre se trouve également à
l’origine d’un phénomène plus intéressant qui est l’ouverture vers
l’Allemagne. Cela aboutira à la parution de la Revue wagnrienne et à
l’émergence de germanophiles tels que Barrès, Gide, et des personnages
comme Auguste Burdeau, traducteur de Schopenhauer, mais également
«homme en vogue», député prenant activement part au scandale de
Panama.
C’est Burdeau qui, après avoir été le professeur de Barrès à Nancy,
deviendra professeur à Louis–le–Grand où il enseignera à Claudel
l’œuvre de Schopenhauer. Le jeune Claudel n’a pas pu ne pas être
impressionné par cet homme dont l’impact puissant de l’enseignement
d’«un monde mauvais» de Schopenhauer aurait poussé l’un de ses
camarades au suicide, selon un autre de ses condisciples, Léon Daudet.4
C’est précisément à l’époque où le jeune Claudel exprime son
admiration pour Barrès et son «culte du moi», issu de la pensée
pessimiste de Schopenhauer, qu’il assiste, avec Romain Roland, aux
représentations des opéras-concerts de Wagner. Quant à la Revue
wagnrienne, elle lie indéniablement la création artistique et la pensée de
Schopenhauer: «La philosophie de Schopenhauer doit servir dorénavant
de base à toute culture intellectuelle et morale.»5 Voilà quelques brèves
remarques qui démontrent la familiarité de Claudel avec le monde
germanique duquel surgit Nietzsche.
Il est d’autant plus intéressant de considérer un désaccord, une
guerre, entre les deux artistes qu’ils s’en tiennent aux mêmes canons de
beauté et utilisent les mêmes armes pour l’affrontement. Ce qui unit
Nietzsche et Claudel, c’est leur étude profonde et continuelle de la
pensée, de la langue, de la tragédie grecques.
C’est lorsqu’il commence à préparer sa carrière de diplomate que
Claudel se met à consacrer son temps de loisir aux lettres hellènes sans
9 Cf. Platon, La Rpublique VIII, 562 Q, Paris, Belles Lettres, traduit par Émile
Chambry, 1982 (1934), S. 33.
10 Cf. Thucydide, La Guerre de Ploponnse II, ch. 1.
11 «Les Boches m’en voulaient particulièrement»: Paul Claudel, J. II, Juillet 1940,
Paris: Gallimard 1969, S. 323.
12 Paul Claudel, J. II, Juillet 1940, Paris: Gallimard 1969, S. 321.
13 Cf. Aristote, Politique IV, 2, 26 – 30.
14 Lettre de Paul Claudel à André Suarès, Prague, 10 février 1911 in: Andr Saures
et Paul Claudel, Correspondance 1904 – 1938, Paris: Gallimard 1951, S. 160.
15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin-New York: Deutscher
Taschenbuch Verlag de Gruyter 1988, B. 4, S. 263.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 139
admiré par Claudel aussi bien comme poète que comme homme.16
C’est quand son activité de diplomate lui laisse quelque temps de loisir
qu’il se consacre à la création:
«Du temps où je fréquentais chez Stéphane Mallarmé, celui-ci attristait tous
les jeunes hommes qui l’entouraient par la description de basses et lugubres
besognes où la nécessité de vivre réduisait l’artiste moderne. Mais quand
j’étais sorti de ce cénacle, j’étais tout surpris et un peu honteux de ne
ressentir devant ces besognes quotidiennes aucune parcelle de cet ennui et
de ce dégoût que mon devoir aurait été cependant d’éprouver. Tout ce que
je faisais, tout ce que j’étudiais, aussi bien le droit que les finances et les
questions commerciales, me semblait plein d’intérêt et de poésie.»17
Mieux encore, l’approche à la création, celle de Claudel comme celle
de Nietzsche, est identique – une création «corporelle» et dionysiaque qui
les «pénétrait», souvent lors de leurs promenades à travers la forêt.
Chez Nietzsche, on lit:
„Man hört, man sucht nicht ; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt;
wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form
ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren
ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstorm auslöst, bei der
der Stritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommes
Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner
Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen […]“18
Chez Claudel:
«Au rythme de la marche, mon esprit s’enivrait, je parlais tout haut, je riais,
les larmes me venaient aux yeux de sentir à ce point dans mes veines et tout
près de moi, la Vie. Un Soulier de Satin irréel voltigeait autour de moi
16 Cf. Paul Claudel, La Messe l-bas, Paris: NRF 1914, pp. 507 – 509 et «l’Absent
professionnel», Le Figaro, 12 février 1938.
17 Paul Claudel, Prambule «Une promenade travers la littrature japonaise», Paris:
1925, Pr., S. 1562.
18 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch
Verlag de Gruyter 1999, B. 6, S. 339; „On entend, on ne cherche pas ; on
prend, on ne se demande pas qui donne ; tel un éclair, la pensée jaillit soudain
avec une nécessité absolue, sans hésitation dans la forme. Je n’ai jamais eu à faire
un choix. C’est un ravissement dont la prodigieuse tension se soulage parfois par
un torrent de larmes, où nos pas, sans que nous le voulions, tantôt se précipitent,
tantôt se ralentissent ; c’est une extase imparfaite qui nous ravit à nous-mêmes,
en nous laissant la perception très distincte de mille frissons délicats qui nous
font vibrer tout entiers, jusqu’au bout des orteils […].“, in: Friedrich Nietzsche,
Ecce Homo in Œuvres, Paris: Éditions Robert Laffont 1993, traduit de l’allemand
par Henri Albert, t. 2, S. 1173. Nietzsche souligne.
140 Anatoly Livry
divinités les plus importantes de l’empire, après quoi, son culte sera
institué par l’empereur Aurélien, avec des fêtes en son honneur, les Solis
Agon, la suite des Saturnales et dont la date dans le calendrier actuel serait
le vingt-cinq décembre. Ce Mithra de Rome serait donc un Antchrist
par excellence. Dès l’arrivée du christianisme, une rivalité entre les
disciples de Mithra et les prêcheurs de l’Evangile s’engagera.
Quant à Nietzsche, il connaissait fort bien cette lutte se déroulant à
Rome et, ce sont les péripéties de cette opposition spirituelle qui
l’avaient guidé lors de la création de Also sprach Zarathustra: n’est-ce pas
pour cela que, dans son autobiographie Ecce homo, le philosophe met en
italique le nom d’Aquila qui symbolise pour lui «l’anti-Rome chrétien»:
„[…] ich versuchte loszukommen, – ich wollte nach Aquila, dem Ge-
genbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen
Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung an einen Atheisten und
Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten, den
grossen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.“25
La remarque de Nietzsche sur un «empereur – anté-Christ» arrive bien à
propos car il existait véritablement un empereur, de Rome cependant,
adversaire du christianisme et adepte de Mithra, dieu des successeurs de
Zarathoustra. Il s’agit de l’empereur Julien, arrivé au pouvoir en 361,
c’est-à-dire quarante-huit ans après l’édit de Milan.
Julien haïssait le christianisme représenté, pour lui, par son prédé-
cesseur, Constance II, assassin de ses parents. Bien avant d’accéder aux
fonctions suprêmes, Julien, général brillant de l’armée romaine, était
devenu disciple du mithriacisme. C’était l’époque où le culte de Mithra
était extrêmement répandu dans la légion au sein de laquelle des soldats
originaires de l’Asie s’étaient de plus en plus engagés – les mithraeums
couvraient alors l’empire, de la Perse jusqu’en Bretagne. Le rituel
d’initiation au culte du dieu solaire consistait en outre à être aspergé par
le sang d’un taureau immolé.
C’est lorsque Julien accède au pouvoir suprême à Rome qu’il
apostasie le christianisme de ses prédécesseurs et instaure le culte de
Mithra, entamant une réforme visant la réinstallation du paganisme, tout
en empruntant chez les chrétiens le système hiérarchique du clergé.
Cette installation à Rome, après le début de la gloire du christianisme,
du culte de Mithra, dieu de Zarathoustra, était connue de Nietzsche.
25 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Smtliche Werke, Berlin-
New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, Band 6, S. 340.
Nietzsche souligne.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 143
28 Cf. Paul Claudel, Supplment mon livre sur l’Apocalypse in Le Pote et la Bible II,
1945 – 1955, Paris: Gallimard 2004, S. 1080.
29 Cf. Guiliano Campioni, Paolo d’Iorio, M-C. Fornari, Francesco Fronterotta,
Andrea Orsucci, Nietzsche personliche Bibliothek, Berlin – New York: de Gruyter
2003, S. 322.
30 Cf. Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe Kritische Studienausgabe, 2 avril 1866,
Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1986, B. 2,
S. 118.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 145
Bei meinem Vortrag dreht es sich vor allem darum, Friedrich Nietzsche
besser kennen zu lernen. Als Nietzsche genau im Jahre 1900 stirbt,
bricht zugleich ein neues Jahrhundert an. Und es ist die Zeit nach
Nietzsches Tod, mit der ich mich beschäftigen werde, weil seine Äs-
thetik erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangt ist.
Schon zu seinen Lebzeiten war Nietzsche der festen Überzeugung,
daß „es noch sehr viele Möglichkeiten giebt, die noch gar nicht ent-
deckt worden sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben.“1 So
sucht und findet Nietzsche den Ausgangspunkt einer neuen Entwick-
lung in Paris. Warum gerade in Paris? Weil dort Künstler wie z. B.
Delacroix und Baudelaire lebten. Vor allem Charles Baudelaire nimmt
eine Schlüsselrolle ein, weil er nicht nur der „erste intelligente An-
hänger Wagner‘s“2 war, wie Nietzsche meint, sondern weil er auch als
Vertreter der Spät-Romantik, die Nietzsche schätzte, von den Surrea-
listen rezipiert wurde.
Da es keine nennenswerte wirkungsgeschichtliche Beeinflußung
von Nietzsches Musikverständnis gibt, und Nietzsche zudem eine all-
gemeine, alle Künste umfassende, nicht nur die Musik betreffende,
Ästhetik schuf, werde ich nun darlegen, daß die surrealistische Bewe-
gung den Anforderungen von Nietzsches Ästhetik entspricht. Dies
werde ich in zwei Teilen tun, einem allgemeinen, der eine grobe
Übersicht über die Parallelen und Übereinstimmungen zwischen dem
Surrealismus und Nietzsche gibt, und einem spezielleren, der die tief-
gründige, philosophische Fundierung und Basis beider Theorien auf-
zeigt.
Als Ariadnefaden durch diesen Vortrag soll folgende wichtige
Aussage Nietzsches dienen:
„Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, P e r s p e k t i v e n
u m z u s t e l l e n : erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine
,Umwertung der Werte‘ überhaupt möglich ist.–“3
1. Teil
Eine erste Umwertung der Werte geht von Frankreich aus, als der
Psychiater Philippe Pinel als erster die Geisteskranken von ihren Ketten
und Käfigen befreit. So befindet sich Frankreich am Ende des 19.
Jahrhunderts – Nietzsche hält sich übrigens zeitgleich in Italien auf,
bzw. befindet sich schon in der Irrenanstalt – in seiner Glanzzeit der
Medizin. Themenkomplexe wie Hypnose, Traum, Unbewusstes und
die Psychiatrie selbst werden untersucht und neu definiert. Diese
Epoche der sogenannten „Schlafzustände“ wird von den Surrealisten
mit Begeisterung aufgenommen, und sie übernehmen die historische
Avantgardefunktion für die ästhetische Emanzipation der psychopa-
thologischen Ausdrucksformen.
Wahnsinn und Vernunft sind, genauso wie Traum und Wachzu-
stand, polare Gegensätze, bzw. die Surrealisten sagen dazu Antinomien,
die im surrealistischen Sprachgebrauch als „kommunizierende Röhren“
zusammengefasst werden. Die Gleichberechtigung von Gefäß und
Gefasstem, bei der das eine ohne das andere nicht sein kann, bezieht sich
auf sämtliche Gegensätze, wie z. B.: Subjekt und Objekt, Vergangenheit
und Zukunft, oder schlicht auf Realität und Surrealität.
Daß die Surrealität in der Realität bereits enthalten ist, sieht nicht
nur André Breton, einer der Gründer der surrealistischen Bewegung,
sondern auch Nietzsche, der wie die Surrealisten den antiken Kult der
Wahnsinnigen wiederentdeckt. Nietzsche ist der Überzeugung, daß
„fast alle bedeutenden Menschen wahnsinnig waren, und er überlegt
sogar, wie man sich wahnsinnig machen, bzw. stellen könne. Be-
schwörend schreibt er: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmli-
schen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien
und Zuckungen, […].“4 Auch der Traum hat für Nietzsche eine
wichtige Bedeutung, da man „ohne den Traum keinen Anlass zu einer
Scheidung der Welt gefunden hätte.“5 Die Kritik, die Nietzsche an
diesem selbst geschaffenen Dualismus übt, ist die, daß man vergißt, daß
es nur auf die „Gesamtheit der hervorgerufenen Affektionen ankommt,
gleichgültig, ob sie auf Wahrheit oder Irrthum beruhen.“6 Der Traum
und die Wirklichkeit sind für Nietzsche komplementär, da nur die
Rolle der Phantasie, die man nach Nietzsche an die „Stelle des Un-
bewußten zu setzen hat“7 wichtig ist, da die Phantasie die Empfin-
dung und damit die Affekte beeinflusst. Mit dieser Auffassung könnte
Nietzsche ohne weiteres die surrealistische Unabhängigkeitserklärung
der Phantasie und der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
unterschreiben. Doch was ist es, was die Kunst der Geisteskranken und
ihr paranoides Verhalten kennzeichnet, so daß Nietzsche es in den
Affekten wiedererkennen kann? Es kann nach Jacques Lacan mit dem:
„Ausdruck der wiederholten Identifizierung mit dem Objekt umschrieben
werden. Der Wahn zeigt sich an zyklisch wiederholten Trugbildern, an
einer endlosen, periodischen Wiederkehr der gleichen Geschehnisse und
zuweilen der Verdopplung der Person.“8
Den Paranoiker zeichnet einen Wiederholungszwang aus, der mit
einem Identifikationswunsch nach dem menschlichen Körper verbun-
den ist, und damit zu einer individuellen Typisierung seines Stils bei-
trägt. Genau diese Bestimmung nimmt Nietzsche vorweg, wenn er von
dem Charakter der höheren Menschen verlangt, daß sie ein „typisches
Erlebnis haben, das immer wiederkommt.“9, bzw. das sie am „einfachen
Aufbau und das erfinderischen Ausbilden und Ausdichten Eines Motivs
oder weniger Motive leicht zu erkennen seien.“10
Nietzsche definiert sein Begriffsverständnis von Ästhetik über den
Begriff der Wiederholung bzw. der Periode, so meint er z. B.: „alle
Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde.“11 Die Bedeutung der
Periode in Nietzsches Philosophie erkennt man auch daran, daß sie alle
wichtigen Begriffe seiner Philosophie bestimmt, so ist z. B. „der Wille
zur Giftmischerin des Lebens wird.“25 Nietzsche stellt hier die Per-
spektiven um, indem er die gesellschaftlich normativierte Moral zu-
gunsten der Ästhetik eliminiert. Und er bezeichnet sich damit als den
„ersten Immoralisten“. Es ist vom menschlichen Körper auszugehen, der
von außen und von innen zu studieren ist. Nietzsche fordert, daß man
zugleich mit „jenem fruchtbaren und furchtbaren Doppelblick in die
Welt sieht, welche alle grossen Erkenntnisse an sich haben.“26 Dazu
gehört nach Nietzsche z. B. das eine „Gesellschaft von Weisen, also die
Aesthetiker höchsten Ranges, sich wahrscheinlich das Böse und das
Verbrechen hinzuerschaffen würden.“27 Das Rätsel des Lebens, bzw.
des Leibes löst man nach Nietzsche nur, indem man die „heiligsten
Naturordnungen zerbricht“28 bis hin zur Selbstzerstörung, oder wie der
Surrealist Louis Aragon es formuliert: „Treibt den Gedanken der Zer-
störung der Persönlichkeit bis an seine äußerste Grenze, und über-
schreitet sie.“29
Das kann man nach Nietzsches Überzeugung erreichen durch:
Kreuzigungen, Tierkämpfe, insbesondere der Stierkampf, den er auch
selber besuchte, des weiteren Orgien und Feste, die nach Nietzsche
durch die „drei Elemente des Geschlechtstriebes, des Rausches und der
Grausamkeit“ gekennzeichnet sind, bis hin zur Selbstvergewaltigung als
Gefühl der Macht über sich, „eine Mischung dieser zarten Nuancen von
animalischem Wohlgefühl und Begierde ist der aesthetische Zu-
stand. Die Kunst ist ein Überschuss und Ausströmen von blühender
Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche.“30 Des weiteren
gehört für Nietzsche auch der Inzest dazu, wie es der persische
Volksglaube sagt, und er damit auf seinen Zarathustra anspielt, oder
auch das griechische Beispiel der Ödipusschicksale, dieses im Plural
genannt, weil es nur eine der Masken des Dionysos darstellt. Diesen
extremen Aneignungswillen, das Überwinden von Hindernissen durch
den Willen zur Macht, bezeichnet Nietzsche als Einverleibung. Der
25 III, S. 652.
I, II, III = Werke in drei Bänden, herausgegeben von Karl Schlechta,
München: Carl Hanser Verlag 1965.
26 Vgl. KSA 6, S. 328 (6).
27 Vgl. KSA 9, S. 586, 12 [58].
28 Vgl. KSA 1, S. 66 (9).
29 Louis Aragon, Der Traum des Bauern, in: Als die Surrealisten noch recht hatten,
Texte und Dokumente, herausgegeben von Günter Metken, Stuttgart: Reclam
1976, S. 214.
30 Vgl. KSA 12, S. 393 f., 9 [ 102].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 157
Begriff der Einverleibung ist umfassend und bezieht sich auf die kon-
krete Auswahl von Nahrungsmittel, die bißfest und fleischlich sein
sollte, mit einem Wort eine Krieger-Kost, wie z. B. Lammfleisch. Des
weiteren betrifft die Einverleibung die gesamte Umwelt, bis hin zum
Kannibalismus, denn wie Nietzsche sagt: „Die Lust am Menschen ist
unserer Nahrung wegen nöthig –.“31 Ist der oder das Andere aber
unverdaulich – in Nietzsches Augen eine Schwäche des eigenen Magens
und des Willen zur Macht – bleibt eine Zweiheit übrig, die man
Scheinheiligerweise mit Nächstenliebe bezeichnet, oder als das Häßli-
che, das Eklige und die Exkremente. An dieser Stelle ist Nietzsches
Doppelblick der Perspektive wieder wichtig, da er das Unverdauliche
aufwertet und sogar allgemein behauptet: „Die neue Weltkonzeption:
[…] sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.“32
Nietzsche bezieht sich einzig auf den Leib des Menschen an sich, der
nur über seinen Leib verstanden werden kann. So betont Nietzsche, daß
der „Geist ein Magen ist“, bzw. Salvador Dalí formuliert: „die Geis-
tigkeit kommt aus den Eingeweiden.“33 Für Nietzsche und den Sur-
realismus gibt es nur eine „intelligente Sinnlichkeit“, zu deren vollen
Entfaltung sich das „Entfernteste und das Nächste paaren“ müssen, bzw.
allgemein: die Gegensätze sich verdichten müssen. Dies ist der Weg der
Menschwerdung, den die Surrealisten mit den folgenden Begriffen
bezeichnen: Koinzidenz, lyrisches Verfahren, auch als hasard objectif
oder einfach als die surrealistische Methode, deren gemeinsamer Nenner
der Königsweg der Erotik ist, wie Salvador Dalí sagt. Die Vereinigung
der Gegensätzlichkeiten ist bei Nietzsche schon in der Empfindung
selbst, die eine gegebene Urtatsache ist, angelegt, da sie aus „Anziehung
und Abstoßung zugleich“ besteht, außerdem meint Nietzsche: „Ich
habe nichts als Empfindung und Vorstellung.“34
Die Bändigung der Gegensätze mythologisiert Nietzsche in dem
Wort Dionysos, das folgendes bedeutet: „ich kenne keine höhere
Symbolik als diese griechische Symbolik, […] – der Weg selbst zum
Leben, die Zeugung, als der heilige Weg . . .“35 Nietzsche sagt klar
und deutlich: „Der Schönheitssinn zusammenhängend mit der
tet. Nietzsche verlangt: „die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die
Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle
Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“40 Der Körper muß in
Bewegung sein, mehr noch, in der Metamorphose inbegriffen sein, weil
Nietzsche das Seiende als eine „Phantasmagorie“41 bezeichnet, sowie als
Metamorphosen. An einer berühmten Stelle sagt er: „Die Metamor-
phosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln,
usw.)“ und weiter: „dem Werden den Charakter des Seins auf zu-
präge n – das ist der höchste Wille zur Macht.“42
Die Prägung des Seins in die ontologische Gegebenheit der Meta-
morphose hinein, stellt sich Nietzsche ganz konkret im Alltag so vor,
daß z. B. sämtliche Gebrauchsgegenstände mit einem Band an Muster-
wiederholungen geschmückt sind. Wichtig ist ihm eine „logische und
geometrische Vereinfachung“43, die das „Typische“44 eines „Gebär-
denausdrucks“ erkennen lässt.
Solch eine ornamentale Formenkette, in ihrer ewigen Wiederkehr,
sieht Nietzsche am Paradebeispiel des Teppichs verwirklicht. Des
weiteren an Vasen, ehernen Geräten usw. Die Formwiederholungen
spiegeln sich außerdem wieder in der Einhaltung von Conventionen,
Riten und Zeremonien, die in der Kunst des Festefeierns gipfeln. Die
Kleidung des Menschen soll nach Nietzsche „modisch“ sein wie in
„Frankreich“, und nicht „bummelig-incorrekt“, weil die „Kleider selbst
Götter machen“.45 Nicht zuletzt ist die Wiederkehr der Schrittfolge
beim Tanzen, wie z. B. dem griechischen Labyrinth-Tanz (auch Kra-
nichtanz genannt) von Bedeutung; sowie das Labyrinth selbst, ein zen-
traler Begriff Nietzsches, gesehen von oben als Graffiti-Zeichnung,
dessen Formelemente sich ständig wiederholen. Selbst die Gärten,
Häuser und die Architektur des Menschen soll labyrinthisch sein, da der
Mensch in sich selber spazieren gehen will.46
Genau diesen Denkansatz verfolgt auch der Surrealismus, insbe-
sondere Salvador Dalí, wenn er das Dandytum, die Haute Couture,
oder als Krönung der technischen Produktion und der Konsumgüter-
industrie die Möglichkeit und den Luxus des Feste-feierns preist. Dalí’s
40 KSA 1, S. 33 f (2).
41 Vgl. KSA 9, S. 435, 10 [E93].
42 KSA 12, S. 312, 7 [54].
43 KSA 13, S. 294, 14 [117].
44 Z. B.: KSA 12, S. 289.
45 Vgl. KSA 7, S. 686 f , 29[121 – 123], und KSA 9, S. 475, 11[95].
46 Vgl. z. B.: KSA 3, S. 525 (280).
160 Miriam Ommeln
47 André Breton, Der Surrealismus und die Malerei; in: Als die Surrealisten noch recht
hatten, Texte und Dokumente (Anm. 28) , S. 302.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 161
2. Teil
Wir wollen uns jetzt dem zweiten Teil des Vortags widmen und
selbstverständlich unser Ausgangsmotto vom Perspektivenwechsel nicht
ganz vergessen. Nietzsches Bildmotive sind keine naturalistisch-realis-
tischen Darstellungen, sondern Vexierbilder. Die Bildelemente des
Rätselhaften, des Labyrinthischen, der Anamorphose, der Anthropo-
morphose und der Metamorphose sind für Nietzsche eine ästhetische
Notwendigkeit und zugleich ontologische Bedingung. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang nur kurz an die symbolträchtigen Stichwörter,
53 Mit dem Bild ,Nietzschens vers le haut‘ von Salvador Dalí, das Nietzsche, bzw.
die Nietzsche’sche Philosophie porträtiert, gelang es Dalí diese auf geniale und
äußerst prägnante Weise zu pointieren.
Dalí’s Bewunderung für Nietzsche reichte soweit, daß er ihm selbst in sei-
nem Bartschmuck gleichkommen wollte, mehr noch, ihn sogar übertreffen
wollte, und zwirbelt deshalb seinen eigen nach oben, dem Himmel entgegen.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 163
tigt den Menschen zur Wahrung seiner Identität und Authentizität, eine
Bejahung seiner selbst ab, und damit eine Verkennung des Wirkauto-
matismus: der in sich komplementär gefassten Einheiten des Apolli-
nisch-Dionysischen, den Willen zur Macht:
„Alle ,Zwecke‘, ,Ziel‘, sind nur Ausdrucksweisen und Metamor-
phosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhärirt: der Willen zur
Macht.“61 Was dem Menschen als Zweck, Ziel und Sinn erscheint, ist
nur Ausdruck seiner eigenen perspektivisch begrenzten Phantasie, und
nach Nietzsche nichts anderes als: „Zwecke-, Ziel-, Absichten-haben,
wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-
wollen – und dazu auch die Mittel wollen.“62 Solchermaßen bildet
und durchwebt der Wille zur Macht durch seine Definition, bezie-
hungsweise sein Charakteristikum der Metamorphose, die ganze
menschliche Begriffs- und Vorstellungswelt, beziehungsweise seine
Kultur, Kosmogonien und Mythen:
„Der Prozeß aller Religionen und Philosophie und Wissenschaft
gegenüber der Welt: er beginnt mit den gröbsten Anthropomorphis-
men und hört ni e auf sich zu verfeinern. Der einzelne Mensch
betrachtet sogar das Sternensystem als ihm dienend oder mit ihm im
Zusammenhang. Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze
Natur in Griechen aufgelöst. […]. Die Metamorphosen sind das Spe-
zifische.“63 Die Metamorphose präsentiert sich dem Menschen auf einer
tragischen Bühne, indem er selbst Schauspieler und Zuschauer zugleich
ist. Das Involviertsein in ein doppeltes Spiel, das zugleich Aktivum und
Passivum sein, treibt den Menschen zu einem permanenten Rollen-
wechsel, einem Vergessen und einer Selbsttäuschung – da er selbst das
Maß der Dinge und seiner selbst wird. „Das Sein selbst abschätzen !
Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein
sagen, thun wir immer noch, was wir sind … Man muß die Absurditt
dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen; und sodann noch zu erra-
ten, was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.“64 Die
Absurdität dieses sich selbst erschaffenden lebendigen Vexierbildes vom
Menschen selbst, eröffnet durch den metamorphen Vorgang neue
Werte und Perspektiven – neben dem Aspekt des ständigen Verwerfens
und der Zerstörung. Nietzsche meint:
65 III, S. 424.
66 KSA 13, S. 41, 11[87].
67 KGW V/2, S. 756.
168 Miriam Ommeln
91 Friedrich Nietzsche, vgl. KSA 1, S. 152 (24) und S. 48 (5). Und bei: André
Breton, Les Vases communicantes (1932), Paris: des Cahiers libres, deutsch: Die
kommunizierenden Rçhren, übersetzt von Elisabeth Lenk und F. Meyer, Mün-
chen: Rogner: & Bernhard 1973, S. 24.
92 Im Altertum war Narziß ein anderer Name für Dionysos. Im pelasgischen
Mythos führt die Spiegelung zum Zerreißen des Dionysos. Die Doppelnatur
und Metamorphose des narzißtischen Mythos wird in „Die Geburt der Tragçdie“
anhand der Nietzsche’schen Fassung von Apollon und Dionysos in allen Fa-
cetten vortrefflich beschrieben. Auch Salvador Dalí bringt mit seinem Gemälde
„Metamorphose de Narcisse“ (1936) und dem dazu verfaßten Gedicht die
Gleichstellung von Narziß mit Dionysos deutlich zum Ausdruck (vgl. Salvador
Dalí, „Die Metamorphose des Narziß“, in: Salvador Dal, Retrospektive1920 –
1980, München: Prestel, 1993, S. 284 ff.).
93 Breton formuliert im Originalton: „La beauté, ni dynamique ni statique. […].
La beauté sera CONVULSIVE ou ne sera pas.“ Vgl. André Breton, Nadja
(1963), Paris: Éditions Gallimard, S. 189 f., deutsch von Max Hölzer, Pfullin-
gen: Neske 1960. Nietzsche schreibt: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein,
nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, […].“
(KSA 13, 259, 14 [79]).
94 Vgl. KSA 6, S. 179 (13).
174 Miriam Ommeln
Nietzsche „taufte sie“ – wie er selbst sagt – „nicht ohne einige Freiheit
als die Dionysische.“95
Und der Surrealismus nennt sie die paranoisch-kritische Methode,
die wie Salvador Dalí sagt „den dionysischen Strom zu apollinischer
Leistung transformiert“.96
Diese Methode ist ein „Automatismus, der den Rhythmus des
Auges und der Einheit befriedigt“97, so daß man ohne weiteres den
Perspektivenwechsel auch wieder an seinen Ausgangspunkt zurück-
drehen und mit Nietzsche sagen kann:
„[…] du bist immer ein Anderer.“98
Nachdem somit der Anfangs- und Endpunkt im Mythos des Narziß
zusammenfällt, und sich solchermaßen auch der Kreis der ewigen
Wiederkehr durch den assoziativ, spontan-aktiven Automatismus
schließt – den Sie übrigens an allen Stellen meines Vortrags durch den
Ausdruck ,kritisch-paranoischen Methode‘ ersetzen können, – will ich
jetzt meinen Schlußpunkt setzen und den Vortrag beenden.
95 KSA 1, S. 19 (6).
96 Es ist Dalí, der schreibt: „[…] dionysische Strom zu apollinischen Leistungen
transformiert wird, die ich mir immer vollständiger wünsche. Meine Methode,
die ich die paranoisch-kritische genannt habe, ist die ständige Eroberung des
Irrationalen.“ Vgl. Salvador Dalí, Meine Leidenschaften, übersetzt von Jutta und
Theodor Knust, Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 47. Originaltitel: Les passions
selon Dal, Paris: Editions Denoël 1968.
97 André Breton, Das Weite suchen. Reden und Essays, übersetzt von Lothar Baier,
Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 86. Originalausgabe: La cl
des champs, Paris: Jean-Jacques Pauvert 1967.
98 KSA 3, S. 544 (307).
Den Minotaurus schreiben: autobiographische
Tauromachien bei Leiris und Nietzsche
Christian Benne
1 KGB I, 2, S. 160.
176 Christian Benne
Collège de Sociologie gründete, oder wie der Maler André Masson, der
den jungen Leiris noch vor Bataille prägte.2
Zwischen Leiris und Masson, dem neben Max Klinger wohl
größten Verehrer Nietzsches unter bildenden Künstlern, spielte das
Thema Nietzsche nachweislich eine Rolle. Obwohl Leiris behauptet
hat, Nietzsche erst spät wirklich gelesen3 zu haben, ist seine frühe Be-
der Stillen Post. An- und abschließend soll jedoch kein vermeintlicher
oder nachweisbarer Einfluß im Mittelpunkt stehen, sondern das Licht,
das Leiris’ Begründung der literarischen Autobiographie aus dem Geist
des Stierkampfes zurück auf das Werk Nietzsches wirft. Über die Zeiten
hinweg führen beide damit einen deutsch-französischen Dialog über die
ästhetischen Grundlagen künstlerischen Selbstentwurfs in der Moderne:
einer der bedeutendsten Autobiographen des vergangenen Jahrhun-
derts8 – und der wohl autobiographischste Autor in der Geschichte der
abendländischen Philosophie.9
II
11 Hinweis auf die frühe Nietzschelektüre Picassos bei Wieland Schmied in: Im
Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie und Kunst, München:
Bayerische Akademie der Wissenschaften, S. 154.
12 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 23 f.
13 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 40.
14 Leiris, Journal (Anm 4), S. 552.
180 Christian Benne
21 L’ge d’homme endet mit sog. Emanzipationsträumen, in denen auch die Lösung
vom geistigen Mentor André Masson und einer nihilistischen Ideologie, die
jegliche Werte und Moral negiert, anklingt.
22 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 19.
23 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 10.
Den Minotaurus schreiben: 183
III
33 Paul Nizon, Im Bauch des Wals. Caprichos. Frankfurt a.Main: Suhrkamp 1991,
S. 108
34 Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Compltes, Bd. 1, Paris, Gallimard 1959, S. 18
35 In Ecce Homo bemerkt Nietzsche über Richard Wagner in Bayreuth: „an allen
psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, – man darf
rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra‘ hinstellen, wo der
Text das Wort Wagner giebt.“ (EH, KSA 6, S. 314). Im Grunde werde hier nur
von ihm selbst geredet (EH, KSA 6, S. 320).
Den Minotaurus schreiben: 187
zitiert Goethe wörtlich! – verbirgt sich zugleich der Wille zur Macht –
mit dem einzigen Unterschied, daß der Mensch seine „formbildende“
Kraft und die eingeborene Lust an Grausamkeit nicht mehr an anderen,
sondern an sich selbst ausagiert:
„Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit,
diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe
eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine
Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-
lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich
leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze aktivische ,schlechte
Gewissen‘ hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mut-
terschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer
befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht
überhaupt erst die Schönheit…“41
Die Krankheit des schlechten Gewissens, so konkretisiert Nietzsche im
gleichen Atemzug, sei also „eine Krankheit, wie die Schwangerschaft
eine Krankheit ist.“42 Unter diesen Vorzeichen nimmt die Aussage,
Wagner habe zu Nietzsches Krankheiten gehört, eine neue Bedeutung
an, denn diese Krankheit kann metaphorisch naturgemäß nur als
Krankheit des Innenlebens, als Auseinandersetzung mit Aspekten der
eigenen Persönlichkeit verstanden werden. Wagner wäre das schlechte
Gewissen Nietzsches, dessen eigenes autobiographisches Schreiben sich
als tauromachie im Sinne von Leiris verstehen ließe, als corrida der Be-
kenntnisse mit dem Minotaurus im ,Labyrinth der Brust‘. Für wahre
zeitgenössische Kunst unter den von Nietzsche beschriebenen Bedin-
gungen der Modernität und des komplexen Innenlebens spätdekadenter
Individuuen gilt damit dasselbe wie für die Geburt wahren Lebens:
unter Schmerzen sollst du gebären. Für Nietzsche erweist sich das
Leiden an der offenen Wunde Wagner als eigentlich produktives Mo-
ment. Erst dieses Leiden öffnet ihm die Augen für das Charakteristische
der Zeit, deren emblematische Persönlichkeit Wagner geworden war:
„Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen
aber steht es nicht frei, Wagner’s zu entrathen. Er hat das schlechte Ge-
wissen seiner Zeit zu sein, – dazu muss er deren bestes Wissen haben. Aber
wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren
Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet
die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch
ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt.“43
Das Leiden an Wagner ist das Leiden an der Doppelgesichtigkeit der
Moderne – und der Philosoph wird zum Labyrinth im Labyrinth.
Anders ausgedrückt: Das eigene Labyrinth der Brust, das den Wagner-
Minotaurus beherbergt, wird für Nietzsche zum Zentrum einer wei-
teren Struktur, in dem er den Mittelpunkt als Gewissen des Labyrinths
der modernen Seele bildet. Was Wagner ihm, will Nietzsche der Mo-
derne sein. Größer könnte die Geste, mit der Nietzsche Wagner die
Konkurrenz erklärt, nicht sein.
Bekanntlich ist Nietzsche an der Redaktion und Drucklegung von
Wagners eigener Autobiographie beteiligt gewesen. Wenn Wagner (als
die Figur, unter der Nietzsche ganz verschiedene Aspekte bis hin zur
Idee der dcadence zusammenfasst), wenn dieser ,Wagner‘ also tatsächlich
Nietzsches innerer Minotaurus ist, dann müsste seine Autobiographie
auch der Maßstab sein, an dem sich die eigene Autobiographie zu be-
währen hätte. Nietzsche müßte das eigene autobiographische Schreiben
als Gegensatz zu Wagners Mein Leben entworfen haben.
In der Genealogie der Moral hatte Nietzsche das zeitgenössische
biographische und autobiographische Schrifttum noch scharf als verlo-
gen, moralisierend, verfälscht angegegriffen: „welcher kluge Mann
schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müsste denn
schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht
uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s: wer zweifelt daran, daß es
eine kluge Selbstbiographie sein wird?“44 Nietzsches Ecce Homo kann
man eine „kluge Selbstbiographie“ wahrlich nicht nennen, eher ein
Buch der Ausbrüche, das „alle Scham vor sich verlernt hat“ – die
Modernität spricht als dcadence ohne Scham (s. o.), und die décadence
hat der Verfasser wie kein zweiter (wie höchstens noch Wagner)
„vorwärts und rückwärts buchstabirt“.45
In der selten gelesenen dritten Unzeitgemßen findet sich in der
Beschreibung Schopenhauers ein Selbstporträt Nietzsches, das von Ecce
Homo aus gesehen von geradezu unheimlicher Hellsichtigkeit ist. Im
„Labyrinth der Brust“, so heißt es dort einmal mehr, „verbergen sich die
Einsamen: aber dort auch lauert die grösste Gefahr der Einsamen.“ Sie
haben ihre reiche Innenwelt fortwährend den Erfordernissen einer
1 Während Freud sich aufgrund einer kaum eingestandenen Nähe von Nietzsche
distanziert, nennt ihn Lacan als Wegbereiter seiner Psychoanalyse, mal mit
Betonung auf den seither zurückgelegten Weg, mal mit Betonung seiner
Pioniertaten. Verglichen mit Kant oder Hegel spielt der deutsche Philosoph
Nietzsche aber eine geringe Rolle in Lacans Werk, und so braucht es Mut, etwa
wie Slavoj Žižek Nietzsches Lehre der Wiederkehr als großen ungenannten
Einfluß auf Lacans Triebtheorie zu bezeichnen oder wie seine Biographin
Elisabeth Roudinesco den Titel „Nietzscheaner mit katholischer Kultur“ zu
wählen (Slavoj Žižek, Der nie aufgehende Rest, Wien: Passagen 1996, S. 179;
Elisabeth Roudinesco und Michel Plon, Wçrterbuch der Psychoanalyse, Wien:
Springer 2004, Artikel „Phallus“, S. 786).
Daß Lacan in seinen frühen Zwanzigern Nietzsches Also sprach Zarathustra
gelesen hat und sich als Freigeist erlebte, wird von seinem Bruder bezeugt. Ob
er jedoch auch späterhin die in seinen vielen Bibliotheken archivierten
Nietzsche-Bände tatsächlich gelesen hat, darüber gibt die noch vielverspre-
chendste Quelle, eine unveröffentlichte, wohl auf immer unvollständige und
ohne Vermerk von Lesespuren erstellte „Liste“ keine Auskunft (Elisabeth
Roudinesco, „La liste de Lacan“, in: Eric Marty u. a. (Hrsg.), Lacan & la litt-
rature, Houilles: Éditions Manucius 2005, S. 181 – 196).
So gehören Lacans Freude über die Neuedition von Nietzsches Werk, zu-
sammen mit der früh verspürten Geistesverwandtschaft und der Freundschaft
mit George Bataille zu den Indizien eines undokumentierten (und in Erman-
gelung auskunftsbereiter Zeitzeugen weiterhin sehr spekulativen) Nietzsche-
Einflusses, die aber nur schwerlich mit dem durchaus vorhandenen, jedoch
heterogenen Korpus an dokumentierten Nietzsche-Bezügen in Deckung ge-
bracht werden können. Immerhin findet sich in Lacans Seminar – vertraut man
194 Andreas Spohn
nicht dem Index Henry Kreutzens, der lediglich fünf Stellen angibt – bis zu
dessen neunzehnter Auflage (Ou pire 1971/72) mindestens je eine Erwähnung
Nietzsches; ganz ohne kommen nur die Seminare 9, 14, 15 und 18 sowie die
von logischen und mathematischen Modellen geprägten Jahre nach 1972 aus,
und auch in den Schriften zählt man fünf direkte Referenzen. Lacans unveröf-
fentlichte Antwort auf Christiane Bardet-Giraudon, in der er seinen 1962 im
„Kant avec Sade“-Aufsatz unkommentiert eingeführten Terminus „volonté de
jouissance“ gar auf den im Französischen fast homonymen Willen-zur-Macht
(„volonté de puissance“) zurückführt, datiert aus dem Jahr 1972.
In folgenden Themen und Thesen taucht Nietzsche bei Lacan häufiger auf:
– Gott ist unbewußt: die Psychoanalyse versteht den Gottestod nicht als Be-
freiung vom Gesetz, sondern als dessen Verschärfung im internalisierten Über-
Ich-Zwang. Als „Kehrseite der Psychoanalyse“ zeige sich, wie Nietzsches
„frohe Botschaft“ zum Unbehagen wird, weder den Toten noch seinen
Machteinfluß ad acta legen zu können. Vielmehr sei man nach Konservierung
seines Gesetzes auf andere Weise als bei Nietzsche und Dostojewski dem
„absoluten Herrn“: dem Tod ausgesetzt (E 130, S11/22. 1. 1964, S13/11. 5.
1966, S17/18. 3. 1970).
– Apriori-Wechsel der Moral (von Machtgeschichte zu Triebstruktur): Die Moralge-
nealogie sei wertvoller, wo sie sich nicht auf eine historisierende Perspektive
kapriziert, sondern der Illusionstotale eine Wahrheit zugrundelegt, die nicht
sittenbedingt, sondern triebbedingt ist (E 405, S2/17. 11. 1954, S7/2. 12. 1959,
S13/8. 12. 1965).
– Nietzsche kann in eine Tradition der Moralisten eingeschrieben werden: Lacan
schlägt vor, Nietzsche zu historisieren, ihn in eine Tradition ausgehend von
Balthasar Gracián und La Rouchefoucault zu stellen (mal als ,nova’, mal als
kleiner Autor gegenüber Gracián), die von Freud neue Impulse bekam (E 407,
S1/5. 5. 1954, S10/8. 5. 1963).
– Nietzsche liefert ein Beispiel fr einen Verwerfungseffekt: Lacan erinnert an den
psychosentheoretischen Wert von Freuds Bezugnahme auf Nietzsches Zara-
thustra-Kapitel „Vor dem Sonnenaufgang“ (E 547, S3/15. 2. 1956, S5/15. 1.
1958).
– Nietzsche als Wegbereiter fr Lacan: wo es scheint, daß er sich von Freud
fortbewege, da fühlt sich Lacan dem Wertebegriff Nietzsches am nächsten, der
zudem verdienstvoll darin gewesen sei, so etwas wie einen „transzendentalen
Leib“ zu erfinden, wenn er auch die utopische Dimension des Dionysos, die
Stimme und den Blick nicht hervorhob und statt Euripides Agathon als „Ko-
mödientragiker“ erkannte (S7/30. 3. 1960, S12/17. 3. 1965/24. 3. 1965, S13/
20. 4. 1966/1. 6. 1966).
Aus diesen Erwähnungen läßt sich kaum mehr als ein grobes Nietzsche-Bild
Lacans zeichnen, sie bieten dem barocken Diskurs Lacans referentiellen Halt,
bleiben aber, so profund sie im Ansatz klingen, diffus und widersprechen sich
teilweise (die Kürzel bedeuten: E= Jacques Lacan, crits (1966), Paris: Éditions
du Seuil, es folgt die Seitenzahl, S= Jacques Lacan, Sminaire, Angabe mit
Seminarnummer und Sitzungsdatum, zitiert nach unveröffentlichten Mit-
schriften).
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 195
2 Jacques Lacan, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewiß-
heit. Ein neues Sophisma“ (1945), aus dem Französischen übersetzt von Hans-
Joachim-Metzger, in: ders., Schriften III, herausgegeben von Norbert Haas,
Olten-Freiburg i. Br.: Walter 1980, S. 101 – 121.
3 Eric Porge zeichnet dies chronologisch nach in: Eric Porge, Se compter trois. Le
temps logique de Lacan, Toulouse: Erès 1989.
196 Andreas Spohn
4 Was Lacan bei einer Abendgesellschaft aufgriff, hätte auch Nietzsche gefallen
können: „Ich weiß keine andere Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das
Spiel.“ (KSA, EH 6, 297)
5 Der Grund, warum sie sich überhaupt gefangen fühlen und nun glauben frei-
kommen zu können, indem sie andere und auch sich selbst auf ein dichotomes
Merkmal reduzieren, bleibt im Dunkeln. Das insistierende Unterstellen einer
väterlichen Autorität, eines soliden Garantiegebers sei als Gegebenheit der von
Freud sogenannten „zweiten Intelligenz“, dem Wissen des Unbewußten,
eingeführt.
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 197
dieser Weise als Zeichen ein allzu eindeutig bedeutendes Element eines
Sprechaktes wird, kann lange auf das verabredete Zeichen der Gewiß-
heit warten, wird es immer nur dem anderen liefern, den er dann
aufstehen und begründen sieht. Erst dann hat er Gewißheit um seine
Farbe und ist damit je schon zu spät.
Die erste mögliche Konstellation der Scheibenverteilung, der Zei-
chenwert des Anblicks zweier schwarzer Rckenscheiben, erlaubt es, sofort,
in einem „Augenblick“, aufzuspringen und mit gutem Grund die
Freiheit zu verlangen. Sofern man an das mit einer Sprache gleich-
strukturierte sogenannte unbewußte Wissen glaubt, besteht es aus einem
Code (dem vom Gefängnisvater festgelegten Bestand der Elemente
sowie den von ihm konstruierten Grammatikgesetzen zum erfolgrei-
chen Schlußfolgern) und einer Nachricht bzw. Message (der einer
Auserwählung gleichkommenden Code-Aktualisierung).
Schon die zweite mögliche Konstellation der Scheibenverteilung,
nämlich der Anblick nur einer schwarzen Rckenscheibe und einer weißen
Scheibe gefährdet – da das Zeichen fehlt – die Sicherheit des Schlusses,
nun selbst weiß zu sein, stürzt in die Ungewißheit. Diese Situation ist
analog zu dem ,pater semper incertus est’ („Der Vater ist immer un-
gewiß“), bei dem der Rückschluß von einer erblickten Ähnlichkeit
oder Nähe auf das von sich selbst angenommene Bild nach neun Mo-
naten keinen Syllogismus6 zu formulieren erlaubt, dessen dritter Teil
„Ich bin Vater“ lautete. Allerdings würde der Träger der weißen
Scheibe sofort aufstehen, sähe er zwei schwarze Scheiben (den anderen
und mich selbst). Da er dies nicht tut, hat er das schwarze Merkmal
nicht bei mir gesehen und verschafft mir auf diesem Wege die Ge-
wißheit, selbst eine weiße Scheibe zu haben.
Während die traditionelle Logik ein von Zeit und Person unab-
hängiges Schließen fordert, das bei jeder Wiederholung das gleiche
Resultat hervorbringt, wird in diesem Modell die Gewißheit der ei-
genen Identität ausgerechnet durch das Nicht-Agieren einer anderen
Person geschlossen, das dennoch signifikant darin wird, eine gewisse
Zeit zu beanspruchen und sogar replizierbar wäre. Das eigene Zögern
spiegelt sich in dem anderen, dem ebenso das Gewißheit verschaffende
Zeichen nicht angeboten wurde und der somit zu jenem prototypischen
Signifikanten, einem ohne positives Merkmal bedeutendem „Null-
Zeichen“ wird, das ich selbst für ihn bin. Die beiden Gefangenen mit
weißer Scheibe werden also nach Verstreichen der „Zeit des Verste-
hens“7 simultan aufstehen und das Innehalten ihres Spiegelbildes als
Ursache ihrer Schlußfolgerung nennen. Erst dann endet die Zeit des
Verstehens bei dem Gefangenen mit der schwarzen Scheibe. Er bleibt
gewissermaßen schuldig, während derjenige, der nicht nur eine weiße
Scheibe „hat“, sondern auch bereit ist, ohne sie gesehen zu haben, sich
für eine Entsühnung mit ihr zu identifizieren, der „Gute“ gewesen sein
wird (oder zumindest besser dran). Nietzsche könnte leicht darin die
Sklavenmoral erkennen, sein Glück darin zu finden, so zu denken, wie
die Herde denken würde.
Bei der dritten möglichen Konstellation, dem Anblick von zwei
weißen Scheiben (und somit keiner einzigen schwarzen Rckenscheibe), wird
das empirische Zeichen, das augenblickliche Gewißheit verspricht, zur
frei interpretierbaren Tabula rasa der Identität eines Neugeborenen: die
Parierung dieser Situation ähnelt der Antwort einer archaischen Frau auf
die Vaterfrage, wie sie nach Freuds Totemtheorie unter anderem Vögel
oder Schlangen als Zeuger namhaft macht, wo sie nicht alleine die
Schöpfung verantworten will. Das Wissen um die Möglichkeit eines
unsichtbaren schwarzen Dings, der Verdacht, es gar selbst zu „haben“,
verlegt die Grundlage des Urteilens ins Feld des Phantasmas. Jeder
einzelne der drei Gefangenen mit weißer Scheibe muß in dieser Si-
tuation zweimal zögern (um das zu unterstellen, was er nicht ist) und
simultan doppelt bejahend zweimal das Zögern der anderen beiden
7 Die „Zeit des Verstehens“, die nicht chronologisch meßbar ist, wartet auch
bezüglich der von Nietzsche in die Welt gesetzten Botschaft des Gottestodes
noch auf ihre Ankunft: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und
wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz
und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten
brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu
werden.“ (KSA, FW 3, 480)
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 199
Nietzsches Formel des Atheismus. Gut in Szene gesetzt findet sich dieses
Wissen des Unbewußten in den Verfolgungsjagden bei Tom und Jerry,
wo es immerhin auch um Leben und Tod geht, die hastende Flucht
jedoch ohne an Höhe zu verlieren über den Abgrund hinaus weiter-
gehen darf – bis die Gesetze einer größeren Macht erinnert werden und
der Absturz in ein neues Leben erfolgt.
10 „Ohren haben, zu hören“ ist eine biblische bzw. in vielen Religionen ähnlich
zu findende Formulierung, die sowohl von Nietzsche als auch von Lacan häufig
aufgegriffen wird.
204 Andreas Spohn
Märtyrer hin und nennt den Psychotiker einen „Märtyrer des Unbe-
wußten“ – wie stets, wo eine symbiotische Zweierbeziehung die Gefahr
eingeht, der Wahrheit einer ,folie à deux’ anheimzufallen.
Allerdings sind das Verstehen und Schließen, welche zum sozialen
Erfolg ebenso gehören wie zum verheißenen Eintritt in die Geistge-
meinschaft, kriterial nicht leicht zu fassen. Das Scheibenmodell zeigte,
daß sich den Gläubigen eines Mythos’ nicht aktualisierter Schwarzele-
mente allein das Nullzeichen (ein asketischer Nicht-Akt) zu Erkennen
gibt. Auch der Schritt von der Couch zum Sessel, von der Verdrängung
zur Sublimierung, meint eine Revolution der Einstellung zum unbe-
wußten Gottvater, die aber prinzipiell auch vorgetäuscht werden
könnte. Damit ist der Unterschied zwischen empirischem bzw. ver-
drängendem und transzendentalem bzw. sublimierendem Subjekt ge-
meint. Der zukünftige Analytiker (bei Lacan ein sogenannter ,passant’
bzw. Initiand), zunächst Effekt der Sprachwirkung einer Frohen Bot-
schaft (der Message als aktualisierte Signifikantenanordnung der drei
weißen Scheiben), will selbst Ursache werden, will sagen können „Ich
weiß“ – was im Scheibenmodell nur heißen kann: „Ich bin weiß“.
Lacan behauptet, daß sich der Analytiker selbst autorisiert und somit auf
die Prüfung durch eine väterliche Kommission verzichtet, dennoch setzt
er an ihre Stelle die initiatorische Prüfung der ,passe’. Sie sieht vor, daß
der Aspirant seine innere Revolution in einer angemessenen Zahl von
Einzelgesprächen zwei ,passeurs’ bzw. Zeugen mitteilt (das Ankommen
der Nachricht, das Ende der Analyse kann jeder der drei – ganz wie im
Scheibenmodell – gewissermaßen durch bloßes Aufstehen bestimmen).
Die „Zulassungsjury“, ein weiteres, sozusagen „letztes Gericht“, erfährt
anschließend von dieser Präsentation – jedoch allein durch die beiden
im Zufallsverfahren ausgewählten Zeugen. Aus deren Aussage sollen sie
wie der Gefängnisvater im Modellversuch so sichere Schlüsse ziehen
können, als hätte die Wahrheit selbst, die Nachricht eines herausprä-
parierten transzendentalen Subjekts zu ihnen gesprochen. Wenn
Nietzsches Zeit des aktiven Willen-zur-Macht nicht als Ablösung,
sondern als Verstärkung der Askese verstanden wird, so trifft auch auf
den dem Reglement der ,passe’ unterworfenen Aspirant das Überich-
Paradox zu, daß man um so unfreier wird je (un)gehorsamer man ist.
Denn nur wenn sich das Begehren nach einer dinghaft wirklichen
Freiheit überträgt, wird bei der Jury (wie im Modell beim Gefängnis-
vater) nach Zwischenschaltung von Zeit und Person ankommen, daß
das Begehren es vermochte, „die Kontingenz des Vergangenen neu zu
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 205
11 Jacques Lacan, „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Psychoanalyse“ (1953), aus dem Französischen übersetzt von Klaus Laermann,
in: ders., Schriften I, herausgegeben von Norbert Haas, Olten: Walter 1973,
S. 71 – 170, hier S. 95.
12 Seine Macht rührt von einer – mit Walter Benjamin zu sprechen – „göttlichen
Gewalt“: dem mystischen Grund der Autorität der Gesetze, die im Augenblick
ihrer Errichtung selbst eine reine Gewalt gewesen sein müssen. Daß ihr Subjekt
transzendental: völlig interesselos sei, ließ Kant in Bezug auf den Monar-
chenmord schaudern.
206 Andreas Spohn
ist wahr, daß…“ bezeugt die bei Nietzsche wie auch bei Lacan unter-
strichene strukturelle Identität von Wahrheit und Weiblichkeit.13 Die
Wahrheit, die eine Frau wäre, situiert sich jedoch jenseits des „Ein“, zu
dem sie das männliche Begehren, für das nach Lacan auch tatsächlich ein
Geschlechterverhältnis existiert, machen will. Erst die Bejahung des
Gesetzes als frei (bzw. „weiß“) gegebenem Anderen – garantiert durch
die implizite, selbstspaltende Meta-Aussage der Wahrheit „Es ist wahr,
daß…“ (und nicht durch einen „Anderen-des-Anderen“) – ermöglicht
auch die via Unterstellung bejahte Geisterexistenz des Nullzeichens
„Doppelschwarz“, das die Ursache eines weiß „seienden“ Subjektes
gewesen sein wird. Während der Verdopplung des Zögerns referiert
man auf beides: Unterstellen und selbstspaltendes Unterstellensunter-
stellen entsprechen so der freiheitsstiftenden Logik einer doppelten
Herkunft: als Vater (ein nur „zum Vorübergehen bestimmtes Wesen“)
bereits gestorben zu sein, als Mutter aber noch zu leben und alt zu
werden.14 Dem Auslöschen des Täters im Prozeß seiner Selbstzeugung
als Signifikant (ein „Name-des-Vaters“) entspricht die begleitende, stets
wiederkehrende „unsühnbare“ Tat einer reinen (mütterlichen) Gewalt.
So ist es gewissermaßen die Semiose, die das Hineindichten eines
Subjekts effektuiert, welches die Gottvaterposition entweder usurpiert
oder sich ihr unterwirft. Es scheint, dass man ohne die Annahme von
weiteren unsichtbaren Scheiben, ohne die Reduktion von Personen auf
Scheiben und auf ihre moralisch bzw. vielmehr machtpolitisch ge-
wordene Qualität dem klaustrophobischen Engegefühl in den Gefäng-
nismauern entkommen und eigene Münzen prägen, neue Werte setzen
könnte.
Lacan dagegen bekennt offen, daß es ihm in der Kur nur um einen
Umtausch der Symptome, nicht um die Neuprägung der „Neurosen-
wahl“ geht, denn keine Neubestimmung der Modalitäten der Wie-
derkehr kann darauf verzichten (dies ist eine Art regulative Idee der
Psychoanalyse), in der Intersubjektivität einen Gefängnisvater zu un-
terstellen und seinen Gesetzen zu folgen. Der Untertitel der Theorie der
logischen Zeit lautet entsprechend: „Ein neues Sophisma“. „Sophis-
tisch“ daran ist, daß man wissen kann, daß nur transzendentale Subjekte
exakt gleich schnell ihre Ziele verfolgen, exakt gleich schnell aufstehen
und exakt gleich begründen. Letztlich bleiben alle, auch die sublimie-
renden Analytiker immer etwas verspätet. Es gibt sozusagen keine drei
Subjekte, die je zeitgleich irgend etwas dem Status der Gewißheit zu-
führen könnten. Verdrängend glaubten sie viel zu wissen, sublimierend
aber wissen sie um den Unterstellenscharakter dieses Wissens, spüren die
Ungerechtigkeit, faktisch weiter im Modus der drei Zeiten und des
Syllogismus zu leben. Wer neue Gesetze festlegen will, braucht wieder
mindestens zwei Zeugen.
Nietzsche dagegen sublimiert nicht, er bejaht und begegnet den
Zuckungen und der neurotischen Hast der anderen zynisch, nicht
ironisch. Er tat dies vielleicht in der Hoffnung, auch ohne Zeugen
einem solchen psychosenahen Hanswurst-Typus immer öfter wieder
begegnen zu können, so oft, daß die Menschheit irgendwann nicht
mehr aus Tieren bestehe, die sich selbst feststellen wollen, sondern aus
Übermenschen, die lachen, tanzen, parodieren, zerstören – um
schließlich eine dionysische Gemeinschaft ewig schweigender Kinder
zu bilden.
„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn
eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“
Zur Auseinandersetzung mit der französischen
Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr
Sozialforschung
Ernani Chaves
Wir beschränken uns hier für eine genauere Analyse auf die französische
Nietzsche-Rezeption mit dem größten Echo auf Seiten der Zeitschrift:
Es handelt sich um die harsche Kritik am Nietzsche-Buch Jaspers. Diese
Kritik weist schließlich auf die französische Zielgruppe der Anhänger
der Frankfurter Schule hin: die Gruppe um Jean Wahl und die Zeit-
schrift Recherches philosophiques.
18 Jean Wahl, „Le Nietzsche de Jaspers“, Recherches philosophiques, Band VI, 1936 –
1937, S. 362.
19 Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe. Sicle au temps prsent.
Paris: PUF 1999, S. 183.
214 Ernani Chaves
«Il s’agirait donc avant tout de prendre conscience de ces deux événements
philosophiques que constituent Nietzsche et Kierkegaard, sans jamais les
séparer l’un de l’autre, chacun d’eux ne prenant, comme on pourra le
montrer, toute sa signification que par sa relation et par son opposition avec
l’autre».20
Indessen gewinnt ein anderer Name entscheidende Bedeutung in die-
sem „Lettre-Préface“: der von Heidegger. Jaspers hatte noch 1917 in
seinem Buch Wahrheit und Existenz darauf hingewiesen, daß Nietzsche
und Kierkegaard nicht ausschließlich Produkte einer Epoche der Ver-
änderung in der Geschichte sind, sondern gleichzeitig, wie Wahl klar-
stellt, das Bewusstsein von der „enorme beauté de l’époque qui va
survenir“. Er schreibt:
«En fait, nous sommes, pour Jaspers comme pour Heidegger, devant la fin
de la philosophie occidentale de la rationalité considérée comme objective
et absolue».21
Auf diese Weise nimmt die Auslegung von Jean Wahl nicht nur die
Verbindung zwischen Nietzsche und Kierkegaard wieder auf, sondern
auch jene zwischen Jaspers und Heidegger.
Die Antworten auf Jean Wahl in der Zeitschrift erfolgen in zwei
verschiedenen Ausgaben durch drei verschiedene Autoren – Löwith,
Horkheimer und Adorno – die sich aber durch die gleiche Absicht
ergänzen: die Kritik an der Nietzsche-Rezeption unter Rückbeziehung
auf die „Existenzphilosophie“ und das Bewusstsein der Notwendigkeit,
Nietzsche mit der „Aktualität“ in Beziehung zu setzen. Die zwei ersten
Antworten erscheinen im Band VI der Zeitschrift von 1937, wo sowohl
Löwith als auch Horkheimer über das Jaspers-Buch schreiben; die dritte
findet sich im Band VIII von 1939: die Adorno-Rezension des Wahl-
Buches über Kierkegaard, die schon in New York erscheint.
Indessen ist es wichtig zu erinnern, daß im gleichen Band der
Zeitschrift fr Sozialforschung, in dem die Kritiken am Jaspersbuch er-
scheinen, zwei Rezensionen über spezifische Ausgaben der Recherches
Philosophiques veröffentlicht werden: Eine ist von Walter Benjamin
geschrieben und bezieht sich auf den Band IV der Recherches von 1934 –
1935 und die andere von Raymond Aron bezüglich Band V von 1935 –
1936. Beide Autoren weisen auf die enge Beziehung der Recherches mit
der „deutschen Forschung“22 hin, wie Benjamin sagt, oder mit den
„doctrines allemandes“,23 wie Aron herausstellt. Beide formulieren ihre
Kritik auch auf sehr ähnliche Weise. Benjamin unterläßt es nicht, auf
den Stellenwert von Max Scheler und Heidegger in den Artikeln über
phänomenologische Einführung der Recherches aufmerksam zu machen,
die von einer ontologischen und metaphysischen Anthropologie
durchdrungen sind, mit Ausnahme von, so Benjamin, gerade dem Ar-
tikel von Löwith bezüglich Hegel, Marx und Kierkegaards, „die einer
kritischen Haltung zu anthropologischer Philosophie förderlich sind“.24
Aron seinerseits macht auf „la confusion idéologique dont témoigne la
juxtaposition de tant d’études divers par l’orientation et la qualité ne va
pas sans inconvénients“25 aufmerksam und kritisiert daneben die Artikel,
die „la philosophie existentielle“26 folgen – vertreten von Lévinas,
Benjamine Fondane und Jeanne Hersch. Letzteren nennt er „une
disciple fervente de Jaspers“.27 Wie man sehen kann, gab es sowohl von
deutscher Seite, hier von Benjamin vertreten, als auch von französi-
scher, wie uns das Beispiel von Aron zeigt, ein tiefes Mißtrauen im
Bezug auf die französische Rezeption der deutschen Philosophie, die
sich auf Heidegger und Jaspers beruft.
Löwith seinerseits unterhielt enge Beziehungen zu Jean Wahl und
seiner Gruppe. Er veröffentlichte nicht nur Artikel in den Recherches
Philosophiques, 28 auch sein Buch über Nietzsche wurde von Paul Ludwig
Landsberg lobend in der Recherches rezensiert.29 Sogar Wahl selbst
schrieb eine Rezension über das Buch von Löwith.30 In dieser Re-
zension weist Wahl auf eine Distanz von Löwith zu Heidegger hin:
22 Walter Benjamin, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 173 – 174, hier: S. 173.
23 Raymond Aron, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 417 – 419, hier: S. 417.
24 Benjamin, Besprechung (Anm. 22), S. 174.
25 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 417.
26 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418.
27 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418. Aron bezieht sich auf folgendes Buch:
Jeanne Hersch, L’ illusion philosophique, Paris: Libraire Felix Alcan 1936.
28 Löwith, Karl, „L’achévement de la philosophie classique par Hegel et sa dis-
solution chez Marx et Kierkegaar“, in: Recherches Philosophique, Band IV, Boivin
& Cia., Editeurs, Paris, 1934 – 1935 und ders., „La conciliation hégélienne“, in:
Recherches Philosophique, Band V, Paris: Boivin & Cia. Editeurs 1934 – 1935.
29 Paul-Laurent Landsberg, „Comptes Rendus“, in: Recherches philosophiques, Band
V, Paris: Boivin & Cia., Editeurs 1935 – 1936, S. 535 – 537.
30 Jean Wahl, „Notes“, in: Nouvelle Revue Française, Paris: Éditions Gallimard
1937, S. 792 – 793.
216 Ernani Chaves
oder Ziel“ zu sehnen.36 Dieses System hebe nicht die Form einer „vagen
Dialektik“ auf, es sei vielmehr „bestimmt durch eine dreifache Ver-
wandlung, welche die erste Rede des Zarathustra beschreibt.“37
In einem Brief an Löwith, geschrieben am 27. Juli 1937 in New
York, teilt Horkheimer mit, eine längere „Nachbemerkung“ zum Buch
Jaspers’ geschrieben zu haben, was er mit der Sorge über die Wirkung
des Buches in Frankreich und anderswo rechtfertigt:
„Da es [das Jaspers’ Buch] in Frankreich und anderswo eine große Wirkung
ausübt, wollte ich noch einige Proben seiner Darstellung mit Nietzsches
Text konfrontieren, um auch im einzelnen zu zeigen, wie sich Jaspers in
Sachen Juden, Franzosen, Deutschen und Nation aus der Affäre gezogen
hat. Wir selbst wissen das alles recht gut, aber in anderen Ländern ist es
unbekannt.“38
Horkheimer fordert demnach, Nietzsche gegen falsche Interpretationen
zu schützen, was hier auch das Buch Jaspers einschließt.
Die Kritik Horkheimers setzt marxistische Elemente der Kritischen
Theorie voraus. Daher wird Jaspers als „Spießbürger“39 bezeichnet, der
auch versucht, aus Nietzsche einen „Spießbürger“ zu machen. Das Ziel
dieser falschen Auslegung sei es, Nietzsches Philosophie für die Deut-
schen akzeptabel und schmackhaft zu machen. Auf diese Weise folge
Jaspers schließlich einer „liberalistischen Ideologie“, deren schwerwie-
gende theoretische, aber auch politische Schlussfolgerung es sei, daß
„alle Gegensätze [der Philosophie Nietzsches] untergehen.“40 Gegen
Jaspers hebt Horkheimer anfangs die Radikalität des Denkens von
Nietzsche hervor; „Nietzsche hat den objektiven Geist seiner Zeit, die
psychische Verfassung des Bürgertums analysiert.“41 Andererseits könne
man, so unterstreicht Horkheimer, nicht vergessen, die utopischen –
und gerade deshalb emanzipatorischen Elemente – anzuerkennen, die
im Begriff des bermenschen enthalten sind. Horkheimer zufolge kann
Nietzsche, weil er nur die Sozialdemokraten, nicht aber Marx kannte,
die Zielsetzung des bermenschen als „klassenlose Menschheit“ nicht
begreifen – eine Perspektive, die sich in der Sozialdemokratie langsam
in der Einschätzung dieser Autoren geirrt habe. Auf diese Weise pro-
jiziert Jaspers, so wie von Löwith bereits angemerkt, seine eigenen li-
terarischen Vorlieben auf Nietzsche. In Wahrheit scheint es in
Deutschland verzeihbar zu sein, Pascal oder Stendhal zu schätzen,
vollkommen unverständlich aber, die anderen Autoren zu loben.
Nun wird es verständlich, warum Horkheimers Text schließlich
eine „Verteidigung Nietzsches“ darstellt. Er sagt:
„Im Ausland ist Nietzsche so unbekannt, daß er selbst von vielen fortge-
schrittenen Geistern als ein Vorläufer der gegenwärtigen Zustände ange-
sehen wird. Man denkt ihn etwa als eine Mischung von größenwahnsin-
nigem Genie und bramarbasierenden Feldwebel.“46
Horkheimer erkennt an, daß an einigen Stellen das Buch Jaspers wie
eine „mutige Zerstörung einer Legende“ erscheint. Dies läßt ihn in-
dessen nicht von seiner Kritik abweichen, das Buch Jaspers als „im
tiefsten unwahr“ zu betrachten, weil Jaspers eine Gegenüberstellung
Nietzsches mit den damaligen Ereignissen ablehnt.47 Daher müsse man,
entgegen der Vorstellung von einem Nietzsche „allein mit seinem
Werke“ unterstreichen, daß Nietzsche „bestimmte historische Ziele
(hatte), auf deren Verwirklichung es ihm ernsthaft ankam.“48 Wenn das
Denken Nietzsches, wie Jaspers selbst bestätigt, vor nichts „zurück-
schreckt“49, erkennt er selber diese Lesart nicht an, denn er stellt sich
nicht der Kritik Nietzsches an seiner Epoche und am damals vorherr-
schenden Menschentyp.
Der Beitrag Adornos zu dieser Kontroverse zeigt sich indirekt je-
doch ebenso kritisch. Ich sage indirekt, weil er keine Rezension über
das Buch Jaspers’ verfasst hat, sondern vielmehr eine zum Buch von Jean
Wahl über Kierkegaard.50 Die Verbindungen Adornos mit Jean Wahl
sind im Briefwechsel dokumentiert. Am 12. Mai 1937 schreibt Adorno
aus Oxford an Horkheimer in New York und berichtet von seiner
Durchreise in Paris:
„Ich kenne ihn [Wahl] nicht selber; er hat aber das Kierkegaardbuch ge-
lesen, soll davon sehr beeindruckt sein und hat mich durch Klossowsky zur
51 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 144. Adorno bezieht sich
hier auf sein eigenes Buch: ders., Kiekeggard. Konstruktion des sthetischen,
Tübingen: J. C. B. Mohr 1933.
52 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 160.
53 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 167.
54 Theodor W. Adorno, „Besprechung“, in: ZfS, VIII, 1939, S. 232 – 235, hier
S. 232.
55 Adorno, Besprechung (Anm. 54), S. 233.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 221
1 Georges Bataille, Sur Nietzsche, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard
1973, Band 6, S. 11 – 205, hier S. 12. Übers. v. Verf. – Wenn nicht anders
angegeben, stammen im folgenden alle Übersetzungen aus dem Französischen
v. Verf.
2 Michel Foucault, Les mots et les choses.Une archologie des sciences humaines, Paris:
Gallimard 1966, S. 398.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 225
„Da standet ihr, in Lederjacken und mit Helmen, auf eure Schlagstöcke
gestützt. Und ihr stelltet euch vor, ihr würdet Wache schieben 1938 in der
Madrider Universität. So war es: Die Welt, die ihr saht, in der ihr lebtet,
hatte unendliche historische Tiefe. Sie war wie verklärt durch eine Macht,
die jedes Ereignis und jedes Individuum insgeheim mit einer ganzen Serie
anderer Ereignisse und Individuen verband, die noch größer und tragischer
waren. Die Vergangenheit hatte eine wunderbare Gegenwart, und die
Zukunft nicht minder. Die Geschichte war der große Projektor, der die
Bilder der Zukunft an die Häuserwände warf.“6
Rolins Beschreibung macht die Attraktivität Batailles für einen Teil der
68er-Generation und die dezidiert gauchistische Aneignung Nietzsches in
Frankreich anschaulich. Sie stand im Zeichen der traumatischen Wieder-
holung jener Revolten, die von den historisch nicht kompromittierten
anarchistisch-surrealistischen Gruppen seit Ende der 20er Jahre propa-
giert worden waren. Im selben Maße freilich, wie im Rückblick auf die
68er-Revolte deren histrionischer Charakter deutlich wird, im Maße,
wie sie sich als der Versuch von Kindern entpuppt, die historischen
Tragödien der Elterngeneration nachtrglich wieder gut zu machen – die
Infamie des Stalinismus und die Schande des Pétainismus –, wird auch
das gegenwärtige Desinteresse an Bataille verständlicher. Die Bürger-
schreckattitüden der ,68er’ sind dem kühlen Blick auf deren Illusionen
und deren durch und durch phantasmatischen Charakter zum Opfer
gefallen. Der Glaube ist abhanden gekommen, man könne die Welt
durch eine quasi-göttliche „danse qui force à danser avec fanatisme“7
oder mittels permanenter Liebesekstasen überwinden. Niemand ver-
wechselt heute noch Rockfestivals mit dem Ausbruch des echten, li-
bertären Kommunismus. Niemand kommt mehr auf die Idee, WG-
Gründungen für die Morgenröte der neuen, nietzscheanisch-souverä-
nen Welt zu halten, in der alle bürgerlichen Gesetze, Verträge und
Institutionen abgeschafft wären.8
Und nicht zuletzt ist der Gegenwart auch die Selbstverständlichkeit
des okzidentalen Diskurses vergangen, wie er Batailles Revolte noch
trägt, das heißt, die euro-zentrische Arroganz der Rede vom „Men-
schen“ und von seinem imperial über-menschlichen Geschick. Noch in
seinem tiefsten Fall und seiner bösesten ,décadence’ war es selbstver-
ständlich der europische Mensch, der sich ganz ungeniert an der Spitze
des Welt-Geschicks stellte. Sätze über „Schwarze“, wie Bataille sie
anlässlich der Revue Black Birds von Lew Leslie schreiben konnte, sind
deswegen unmöglich geworden. Die Tänze und Gesänge von Negern
erschienen Bataille 1929 – in bester Baudelaire-Nachfolge – als krei-
schende Irrlichter über der verfaulenden, bourgeoisen Kultur Europas.
„Unnütz, noch länger nach einer Erklärung der coloured people zu suchen,
die mit unpassendem Wahn die absurde Stille von Stotterern durchbre-
chen: Wir verfaulten mit Neurasthenie unter unseren Dächern, ein ein-
ziger Friedhof, ein Massengrab voll von pathetischem Plunder. Und so sind
die Schwarzen, die sich mit uns zivilisiert haben (in Amerika und sonst wo)
und die heute schreien und tanzen, die sumpfigen Emanationen der Ver-
wesung. Sie haben sich entzündet über diesem gigantischen Friedhof. In
einer mondbeschienenen Negernacht wohnen wir der trunkenen Demenz
von Irrlichtern bei, zwielichtig und charmant, übergeschnappt und brül-
lend wie Gelächter. Diese Definition macht jede Diskussion überflüssig.“9
Die Dekolonisierung hat derartige Witze sinnlos gemacht. Das
Machtverhältnis gegenüber den ,nègres’, das sie stillschweigend vor-
aussetzten, ist obsolet. Mit dem Imaginarium des Exotismus ist auch der
geschichtsphilosophische Eurozentrismus verschwunden, den sämtliche
Fortschritts-, Dekadenz- und tabula-rasa-Ideen miteinander geteilt
haben, von Hegel bis zu Heidegger. Die Vorstellung, dass das Geschick
und die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte des europäi-
schen Groß-Denkens zusammenfielen, womöglich im Kopf eines ein-
zigen Denkers, womöglich im Schnauzbart Nietzsches, die Idee, dass
die Erde allein mit einer neuen Übermenschen-Religion aus ihrer
zweitausendjährigen Knechtschaft erlöst werden könnte, hat sich als
eigennützige Illusion erwiesen, als ein Seitenstück dessen nämlich, was
Kipling als „the white man’s burden“ besungen hat, das heißt als im-
periales Phantasma.
12 Karl Marx, Deutsche Ideologie; in: ders., Die Frhschriften, herausgegeben von
Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner Verlag 1971, S. 339 – 485, hier S. 361.
13 Georges Bataille, „L’apprenti sorcier“, in: Oeuvres compltes I, herausgegeben
von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 523 – 537, hier S. 524.
14 Vgl. Bataille, „L’apprenti-sorcier“ (Anm. 13), S. 532.
230 Clemens Pornschlegel
und wendet sich – in entgegen gesetzter Richtung – gegen den Vater, den
Chef, gegen alle diejenigen, die mit der Aufrechterhaltung des sozialen
Gefüges betraut sind und welche die Genügsamkeit all dessen symbolisie-
ren, was das Ipse sein möchte. […] Das Lachen stellt in Frage, es bestreitet
die Genügsamkeit aller übergeordneter Wesen … ja, bis hin zum Gipfel …,
den es unweigerlich in Mitleidenschaft zieht. Und wenn es diesen Gipfel
erreicht? Dann hat die Agonie Gottes statt, in einer schwarzen Nacht.“15
In Batailles schwarzem Gelächter lösen sich mithin Ich, Welt und Gott
auf: die sozialen Illusionen mitsamt ihren Individualitäten und Subjekt-
Objekt-Spaltungen. Sie fallen dem Spott ihrer Borniertheit zum Opfer.
Gleichzeitig beginnen im Lachen die Kommunionen der Nacht und des
Nichts, in denen sich die Erfahrung eines anderen, neuen Gott-Seins
ankündigt, das die unendliche Gottessehnsucht des individuierten
,Selbst’ stillen wird: die unio mystica mit dem All, die sich vornehmlich
in obszönen Transgressionen einstellt. In der Exprience intrieure be-
schreibt Bataille das große Gott-Werden-Wollen wie folgt:
„Das Wesen schließt sich in der Autonomie ein, zugleich aber will jedes
Wesen, gerade aufgrund dieses Eingeschlossenseins, das Ganze der Tran-
szendenz werden: zunächst das Ganze der Komposition, dessen Teil es ist,
und dann, eines Tages, ohne Grenze, das Universum.“16
Diesen Willen zur fusionellen Transzendenz, zum göttlichen Alles-
Werden, das Streben nach dem Sein „sans limite“ setzt auch Batailles
pornographische Abhandlung Mme Edwarda in Szene. Nicht zufällig zeigt
es sich im Öffnen und in der Exposition genau dessen, was Courbet auf
seinem Gemälde L’origine du monde gezeigt hat. Das heißt, es geht um
den verschlingenden Blick auf das weibliche Geschlecht, aus dem man
hervorging und das Bataille mit einer „pieuvre“, einer „Krake“ ver-
gleicht, also um die faszinierte Schau des monströsen Ursprungs, um die
Auflösung jedes beschränkten individuellen Lebens, wie es im sexuellen
Außer-sich-Sein erfahrbar wird. Mme Edwarda exponiert „die Lum-
pen“, wie sie sagt, ihres prostituierten Geschlechts, das sie mit beiden
Händen öffnet und dem entsetzten Blick des Betrachters darbietet:
15 Jean-Paul Sartre, „Un nouveau mystique“, in: ders., Critiques littrarire (Situa-
tions, I), Paris: Gallimard 1947, S. 133 – 174, hier: S. 159.
16 Georges Bataille, L’exprience intrieure, in: Oeuvres compltes V, Paris: Gallimard
1973, Band 5, S. 7 – 181, hier S. 134.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 231
17 Georges Bataille, Madame Edwarda, in: Oeuvres compltes III, Paris: Gallimard
1971, Band 3, S. 7 – 31, hier S. 21.
18 Bataille, La conjuration sacre, (Anm. 5), S. 445.
232 Clemens Pornschlegel
Arbeit. Verglichen mit den verschwundenen Welten, ist sie eine grässliche
Fratze, im Grunde die missratenste aller Welten. In den verschwundenen
Welten war es möglich, sich in der Ekstase zu verlieren. In der Welt der
wissenschaftlich gebildeten Vulgarität ist dies unmöglich. Die Existenz aber
ist nicht nur aufgewühlte Leere, sie ist ein Tanz, der fanatisch zu tanzen
zwingt. Das Denken, das mehr als nur ein totes Fragment zum Gegenstand
hat, existiert innerlich wie Flammen. Es brennt.“21
Batailles Frage und sein Interesse an Nietzsches Figur des ,Übermen-
schen’ wird von hier aus deutlicher: Wie kann man den religiçsen Eifer,
das heißt die Ekstasen der Selbsthingabe im historischen Kontext eines
radikalen, atheistischen Humanismus retten? Wie kann man die Mo-
derne vor dem lauen Mittelmaß bewahren, vor dem, was Nietzsche den
„letzten Menschen“ nennt? Wie ist es möglich, inmitten der entzau-
berten Arbeitswelt mit Eifer für ein Absolutes zu brennen, das dennoch
keine ,höhere Sache’ wäre? Wie kann man das ,pneuma’ retten, den
feurigen Geist der Kommunion oder der Kommunikation?
Bataille verbindet damit die Figur des Übermenschen dezidiert mit
der Problemstellung Baudelaires. Es war Baudelaire, der dem herauf-
kommenden Industriezeitalter mit Schrecken die Frage gestellt hatte:
Was bleibt vom Himmel und seinem Glanz, wenn er von der utilita-
ristischen Epoche, die nur noch an Arbeit und Bedürfnisbefriedigungen
glaubt, leergefegt worden ist? Was wird aus dem überschwänglichen
Luxus, der Raffinesse, der Poesie, wenn nichts anderes mehr zählt als
der immer selbe Zyklus aus Produktion, Konsumtion, Reproduktion,
anders gesagt: das Vegetieren hässlicher Fleischklumpen? Im Gedicht
„Spleen“ beschreibt Baudelaire den wütenden Aufstand des überflüssig
gewordenen Religiösen wie folgt:
Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle
[…]
Des cloches tout à coup sautent avec furie
Et lancent vers le ciel un affreux hurlement
Ainsi que des esprits errants et sans patrie
Qui se mettent à geindre opiniâtrement,
Et de longs corbillards, sans tambours ni musique,
Défilent lentement dans mon âme ; l’Espoir
Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique,
Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir. 22
Wenn der tiefe, graue Himmel schwer lastet wie ein Deckel
[…]
Rasen plötzlich Glocken los
Und schleudern gen Himmel ihr grässliches Geheul
Voll Wut, wie umherirrende, vaterlandslose Geister,
Die störrisch zu greinen und zu wimmern beginnen.
Und lange Leichenwagen, ohne Trommelschlag und Musik,
ziehen endlos durch meine Seele, die Hoffnung
ist besiegt, sie weint, und die grauenhafte, despotische Angst
pflanzt auf meinem gebeugten Schädel ihre schwarze Fahne auf.
Erich Auerbach hat in seiner Lektüre des Gedichts, das er vor dem
Hintergrund der christlichen Dichtungstradition des Erhabenen liest,
vier zentrale, thematische Problemzusammenhänge herausgearbeitet.
Auerbachs Kommentar macht nicht zuletzt auch deutlich, wie sehr
Bataille ein Baudelairesches Programm fortschreibt und wie sehr er
damit Nietzsches Übermenschen-Projekt der französischen Tradition
der „poètes maudits“ einzeichnet – und zwar völlig zu Recht, wie
Nietzsches Baudelaire-Exzerpte belegen.23
Der erste Themenzusammenhang, den Auerbach für Baudelaire
namhaft macht, betrifft Baudelaires Substitution des Himmels durch den
Rausch des Nichts und der Wollust. Was Baudelaire gegen das Zeitalter
kapitalistischer Askese und Akkumulation sucht, ist nicht mehr „Gnade
und ewige Seligkeit“, sondern was er sucht – und was Bataille dann
noch finden wird –, „ist entweder das Nichts, le Néant,“ oder aber es ist
„eine Art sinnlicher Erfüllung, die Vision einer sterilen, aber sinnlichen
Künstlichkeit“. Die Fleurs du Mal sprechen immer wieder von der
„volupté calme“, von „ordre et beauté, luxe, calme et volupté“.24 Das
„Nichts“ und die sündige „Wollust“ sind die beiden Namen, die
Baudelaire gegen die Askese unter säkularisierten Bedingungen ins Feld
führt, das heißt gegen das, was Max Weber als die ,protestantische
Ethik’ des Kapitalismus analysiert hat.
Das zweite, entscheidende Moment der Fleurs du Mal besteht so-
dann darin, dass sie für die Kategorie der Erlösung und der Hoffnung
[…] Alle Phantasmen sind Bilder, die den Weg entwerfen, den wir
gehen und den wir werden.“37 Die beiden Qualitäten, die man diesem
Fortschrittsoptimismus unmittelbar zuschreiben kann, sind die des po-
litischen Dilettantismus und der Geschichtsvergessenheit. Im Subjekt
des biopolitischen „Wir“ hat Giorgio Agamben nicht nur die stolze
Figur des Souveräns, sondern auch die Figur des „Homo sacer“ ent-
deckt. Er ist die Kehrseite des selbsternannten Herrn über Leben und
Tod. Und das politische Paradigma des bio-techno-politischen ,Fort-
schritts’ ist nicht die freie Übermenschheit, sondern das „Lager“. Anders
gesagt, der phantasmatische Übermenschen-Weg ist eine katastrophi-
sche Sackgasse, ein „cul-de-sac“ des Humanismus. Gerade weil Bataille
darum weiß, hat er seine Nietzsche-Lektüre unter die beiden Zeichen
der ,déchirure’ und der ,désinvolture’ gestellt: Zerrissenheit und
Frechheit.
3 Ces articles furent rassemblés dans: Pierre Klossowski, crits d’un monomane,
Essais 1933 – 1939, Paris: Gallimard, coll. « Le Promeneur », 2001.
4 Ibid. p. 61.
5 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t.V., Paris:
Gallimard 1982, p. 293.
6 Pierre Klossowski, crits d’un monomane, Essais 1933 – 1939 (2001), p. 111 –
125.
7 Ibid. p. 103 – 111.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 243
8 Ibid. p. 103.
9 Ibid. p. 107.
10 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart:
Kohlhammer 1956, p.67.
11 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, traduction et introduction de Pierre
Klossowski, Paris: Club français du livre 1954.
244 Slaven Waelti
notamment des Fragments posthumes 1887 – 1888 12. Toutes les traduc-
tions de Klossowski seront reprises dans l’édition des Œuvres compltes de
Nietzsche, publiées entre 1967 et 1977 sous la responsabilité de Gilles
Deleuze et de Maurice de Gandillac.
C’est à l’occasion de la parution de sa traduction que Klossowski
écrit une introduction au Gai Savoir, consacrant ainsi un premier essai à
Nietzsche sous le titre: Sur quelques thmes fondamentaux de la Gaya
Scienza de Nietzsche. 13 Le cadre de la réflexion de Klossowski y est
encore essentiellement philosophique. Les préoccupations qui l’animent
semblent tributaires d’une double ascendance bataillienne et löwithien-
ne. Tributaire également d’une époque qui cherche à faire réparation à
Nietzsche suite aux hypothèques que le IIIe Reich fit peser sur son
œuvre et qui furent possibles, selon Klossowski, en raison d’une
interprétation exclusive de Nietzsche comme penseur de la volonté de
puissance. Klossowski s’attachera dès lors à montrer que la volonté de
puissance ne résume pas à elle seule la pensée de Nietzsche et qu’il faut
nécessairement y adjoindre le thème de l’Éternel retour. C’est donc ici
que ressurgira pour Klossowski le délicat problème soulevé par Löwith,
à savoir le caractère antithétique des notions de puissance et de retour,
de volonté et de nécessité ou, autrement dit, d’Amor et de Fatum.
À ce problème, le traducteur-préfacier propose une solution
ingénieuse en réactivant le motif de l’oubli, tel que Nietzsche avait su
le développer dans sa deuxième considération intempestive. Klossowski
remarque en effet que, pour Nietzsche, la volonté, ou tout au moins les
actes créateurs, supposent l’oubli du présent. Un oubli qu’il faut
paradoxalement comprendre comme une ressouvenance inconsciente
du passé le plus lointain dans lequel puiser une volonté nouvelle. Or
qu’est-ce que ce passé le plus lointain sinon l’éternelle présence des
forces créatrices et le retour éternel des mêmes dispositions? Nietzsche,
par l’oubli du présent, chercherait donc à revenir au «sans-cesse-
possible» des forces vives dissimulées sous l’épais brouillard de l’oubli,
afin de les retransformer en son propre sang. Ainsi l’homme pourra à
nouveau se projeter vers des possibilités futures: «ce qui sous-vient est à
venir»,14 écrit Klossowski. Volonté et fatum, distribués ainsi de part et
d’autre de l’oubli, permettent donc à l’homme de retrouver toute sa
15 Ibid. p. 22.
16 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t. V.,
Paris: Gallimard 1982, p. 232.
17 Pierre Klossowski, Un si funeste Dsir, op. cit., p. 26.
18 Ibid. p. 25.
19 Ibid. p. 27.
246 Slaven Waelti
d’extase. Dans cet instant extatique, l’individu est libre de toute notion
de but que l’instinct de conservation créait pour nous préserver du vide
de l’immotivé. Quoi de plus angoissant en effet que l’idée de vivre «pour
rien»? Sans vouloir s’arrêter sur ce que le terme «angoisse» peut avoir de
bataillien, il faut néanmoins rapprocher cette première conception
«existentialiste» de l’Éternel retour de la conception du maître à penser
de l’athéologie. Dans son Sur Nietzsche, Bataille écrit:
«J’imagine nécessaire en ce sens d’inverser l’idée d’éternel retour. Ce n’est
pas la promesse de répétitions qui déchire mais ceci: que les instants saisis
dans l’immanence du retour apparaissent soudainement comme des fins.
Qu’on n’oublie pas que les instants sont par tous les systmes envisagés et
assignés comme des moyens: toute morale dit: ,que chaque instant de votre
vie soit motiv’. Le retour immotive l’instant, libère la vie de fin et par là
d’abord il la ruine.»20
Entre Löwith et Bataille, cette première lecture de Nietzsche par
Klossowski a donc de nombreux accents existentialistes. Il n’est pas
jusqu’à la mort de Dieu qui n’annonce une «nouvelle maturité de
l’esprit». Mais ce terrain-là, Klossowski le quittera bientôt. Les motifs
centraux de sa réflexion, tels que le rapport aporétique de l’oubli et du
retour, se maintiendront certes tout au cours de son œuvre de critique
nietzschéen. Le cadre de sa réflexion en revanche évoluera considéra-
blement. De philosophique, aux accents existentialistes qu’il est en 1954,
il va progressivement entrer dans une dimension «affabulatrice», et
fictionnelle.
d’un Nietzsche qui aurait développé: «non pas une philosophie, mais, en
dehors des cadres de l’université, les variations sur un thème personnel»,
définition qui sied parfaitement à ce que fut l’activité de Pierre
Klossowski lui-même. Or, pour ces marginaux de l’esprit, et pour
Nietzsche en particulier, se pose une question capitale qui est de savoir
comment aborder sa pensée? Son œuvre «sans réel point de départ ni
d’arrivée»22, peut-elle être dépliée, élucidée, comprise par des com-
mentaires philosophiques qui la saisiraient de l’extérieur? Comment
saisir ces variations sur un thème personnel? Nietzsche lui-même, selon
Klossowski, se serait «vu amené à enseigner l’inenseignable: cet inensei-
gnable, ce sont les moments où l’existence, échappant aux délimitations
qu’apportaient les notions d’histoire et de morale dont découle
ordinairement un comportement pratique, se révèle comme rendue à
elle-même sans autre but que de revenir sur elle-même.»23 Il s’agit donc
toujours ici de ce fond de l’existence que la préface de 1954 avait déjà
étudié. Mais le problème qui se pose dorénavant est celui du langage.
Comment parler d’un fond qui n’a ni sens ni but, au moyen d’un
langage tout entier tourné vers l’action et la survie de l’espèce?
Comment exprimer la singularité d’une expérience fondamentale dans
le langage grégaire des concepts, langage négateur de singularités?
En dehors du thème du «fond de l’existence», les autres grands
thèmes abordés dans la préface se retrouvent dans la conférence du
Collège de Philosophie. Mais de 1954 à 1957, l’horizon de réflexion
change. Si l’oubli est toujours pensé comme élément médiateur rendant
possible le rapport entre volonté et retour, l’analyse nouvelle que fait
Klossowski de la mort de Dieu, marque une prise de distance sérieuse
par rapport aux catégories de l’existentialisme d’après-guerre. Elle ne
correspond plus à une «maturité nouvelle de l’esprit» ou à une
souveraineté recouvrée de l’existence. Elle devient le signe d’un
événement aussi inouï qu’inquiétant: la perte de l’identité du sujet.
«,Dieu est mort’ ne signifie pas que la divinité cesse en tant qu’une
explication de l’existence, mais bien que le garant absolu de l’identité du
moi responsable disparaît à l’horizon de la conscience de Nietzsche
lequel, à son tour, se confond avec cette disparition.»24 Dès lors, la
conscience s’ouvre à une pluralité d’identités possibles qu’elle va
chercher à s’incorporer jusqu’à devenir tous les noms de l’histoire.
22 Ibid. p. 176.
23 Ibid. p. 177.
24 Ibid. p. 206.
248 Slaven Waelti
25 Ibid. p. 177.
26 Aphorisme traduit intégralement par Klossowski dans: Pierre Klossowski, Un si
funeste dsir, op. cit., p. 179 – 180.
27 Ibid. p. 180 – 181.
28 Ibid. p. 31.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 249
32 Ibid. p. 237.
33 Ibid. p. 241.
34 Ibid. p. 238.
35 Pierre Klossowski, Les Lois de l’hospitalit, Paris: Gallimard, coll. «L’Imaginaire»,
1965.
36 Ibid. p. 333.
37 Ibid. p. 333.
252 Slaven Waelti
38 Ibid. p. 177.
39 «Meine Vollendung des Fatalismus: 1) durch die ewige Wiederkunft und
Präexistenz, 2) durch die Elimination des Begriffs ,Wille’.», in: Friedrich
Nietzsche, Nachlass 1884 – 1885, KSA, t.11, p. 70.
40 Ibid. p. 346.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 253
C’est ainsi que nous sommes parvenus sur le seuil du grand œuvre de
Klossowski sur Nietzsche: Nietzsche et le cercle vicieux, paru en 1969.
Comme nous l’avons montré, il ne semble pas que Klossowski à la fin
des années soixante, se soit encore préoccupé de philosophie. Au
contraire, au fil des années depuis l’après-guerre et au fil de ses travaux
sur Nietzsche, il s’est progressivement éloigné de tout débat philoso-
phique, pour se tourner de plus en plus vers un espace d’affabulation
dont toute vérité philosophique est exclue, ne s’intéressant chez
Nietzsche qu’au seul «fait que la pensée tourne sur le délire comme
sur son axe»42 et à la question: «qu’est-ce qui est lucide, qu’est ce qui est
inconscient dans la pensée et dans nos actes – question souterraine qui
au-dehors se travestit en une critique de la culture et s’explicite à dessein
sous une forme encore intégrable aux discussions spéculatives et
historiques de son temps.»43 Mais Nietzsche, selon Klossowski renoncera
bientôt à toute intégration de ce type. Le Nietzsche de Klossowski,
comme Klossowski lui-même, semble renoncer volontairement à toute
forme de cohérence entre la pensée et le monde, telle que l’assurait le
jeu des désignations, pour se consacrer entièrement à l’expérience de la
cohérence de la pensée avec elle-même, soit cet anneau encerclant le
délire, éternel retour tournant autour du chaos comme sur son axe.
Sur cette rupture, Klossowski est absolument formel au début de la
préface de son Nietzsche et le cercle vicieux où il écrit: «Voici un livre qui
témoignera d’une rare ignorance: comment seulement parler de ,la
pensée de Nietzsche’ sans faire jamais le point de ce qui a été dit depuis
lors?»44 Mais Klossowski n’a nullement besoin de faire le point dès lors
41 Ibid. p. 346.
42 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, op. cit., p. 12.
43 Ibid. p. 13.
44 Ibid. p. 11.
254 Slaven Waelti
45 Ibid. p. 11.
46 Ibid. p. 23.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den
Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze
Marc Rölli
„Das Problem vom Werthe der Wahrheit
trat vor uns hin, – oder waren wir’s,
die vor das Problem hintraten?
Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx?“1
Mit dem 1962 in Paris veröffentlichten Buch Nietzsche et la philosophie
von Gilles Deleuze beginnt ein neuer Abschnitt der Rezeptionsge-
schichte der Schriften Nietzsches.2 Haben bis dahin, grob gesagt, die
„metaphysischen“ Lesarten dominiert, so rückt nun eine radikal meta-
physikkritische, d. h. immanenz- und differenzgetestete Spielart der
Nietzsche-Interpretation in den Vordergrund. Für diese Verschiebung
der Perspektive steht exemplarisch die Durchstreichung des majestäti-
schen Singular eines einzigen und universalen Willens zur Macht zu-
gunsten einer Pluralität von Willen-zur-Macht-Prozessen.3 Gegen die
zumeist entweder über Schopenhauer vermittelten oder von Heidegger
(zeitweilig auch von Bäumler) inspirierten metaphysischen Deutungen
1 KSA 5, S. 15.
2 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Französischen
übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991.
3 „Die Annahme einer Substantialität wurde zuerst von W. Müller-Lauter zu-
rückgewiesen. Müller-Lauter hat, besonders gegen die von Heidegger vorge-
tragene Nietzsche-Deutung, herausgestritten, daß es sich in Nietzsches Lehre
vom Willen zur Macht nicht um ein einheitliches ens metaphysicum, nicht um
einen sich selbst wollenden Wesenswillen, sondern um eine Vielheit mitein-
ander kämpfender Willen zur Macht handelt.“ (Günter Abel, Nietzsche. Die
Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin und New York:
Walter de Gruyter 1984, S. 20 – 21.) Abel läßt hier aus, worauf Müller-Lauter
in seinem Text von 1971 hingewiesen hat, daß nämlich bereits 1962 Deleuze
der metaphysischen Interpretation das pluralistische Konzept einer „Vielheit
von Willen zur Macht“ entgegengestellt hat. Vgl. Wolfgang Müller-Lauter,
„Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Jörg Salaquarda (Hrsg.),
Nietzsche. Wege der Forschung Bd. 521, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft 1971, S. 234 – 287, hier S. 246. Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2),
S. 240 (Endnote 98), wo sich Deleuze explizit von den Nietzsche-Interpreta-
tionen Heideggers absetzt.
256 Marc Rölli
4 Vgl. KSA 5, S. 24, und KSA 6, S. 350. Vgl. Marc Rölli, „Wir modernen
Menschen – wir Halbbarbaren“, in: Sic et Non. zeitschrift fr philosophie und
kultur. Im netz 2004, http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/historie/nietz-
sche.htm.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 257
Im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Bçse (1886) hat Nietzsche
auf unüberbietbare Art und Weise die moralischen Vorurteile „der
Philosophen“ als ihre ebenso impliziten wie die Gesamtheit ihres
Denkens beherrschenden „Wertschätzungen“ aufgedeckt.7 „In der
That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die
entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu
Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral
will es (will er –) hinaus?“8 Mit seiner „psychologischen“ Methode und
Fragehaltung fördert Nietzsche einige typische Merkmale vergangenen
Philosophierens ans Tageslicht: zunächst den „Grundglauben der Me-
6 Zentrales Thema ist der Gedanke von der ewigen Wiederkunft im zweiten
Kapitel von Diffrence et rptition, wo er als höchste Form von drei Wieder-
holungstypen begriffen wird. Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung
(1968), aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München: Wilhelm
Fink 1991, S. 123 – 127, S. 153 ff. Vgl. dazu ausführlich: Marc Rölli, Gilles
Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia + Kant 2003,
S. 333 – 371.
7 Vgl. KSA 5, S. 19 – 20.
8 KSA 5, S. 20.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 259
taphysiker […] an die Gegensätze der Werthe“9 sowie den guten Willen
zur Wahrheit, sodann die dogmatische Einstellung, eine Interpretation
für die Sache selbst (den „Text“) gelten zu lassen, – und zuletzt einige
tief in der Grammatik verwurzelten „Volks-Vorurtheile“,10 die als
Fundamente philosophischer Systeme eingesetzt werden, zum Beispiel
der Glaube an einen freien Willen, der Glaube an die ursprüngliche
Einheit des Denkens und Selbstseins, der Glaube an die Kausalität als
allgemeines und notwendiges Gesetz der Natur. Als exemplarische
Anfangspostulate oder Überzeugungen bezieht er sich auf die Begriffe
des Denkens und Wollens bei Descartes und Schopenhauer.11 Beide
erliegen einer „Verführung der Worte“,12 indem sie vorgeben, von der
„bekannteste[n] Sache von der Welt“ zu reden, d. h. von dem, was uns
„eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt“ sei.13 Nun sind diese im-
pliziten Vorannahmen keineswegs harmloser Natur, vielmehr kommt in
ihnen ein fest in den Sprachstrukturen sitzender metaphysischer Glaube
zum Ausdruck, der sich auf sichere Instanzen zur Begründung der
moralischen Werteordnung berufen will. Diese steht allerdings auf
wackeligen Füßen, da sie sich auf dogmatische Festlegungen stützen
muß, die skeptisch, d. h. im Hinblick auf ihren immanenten Perspek-
tivismus, auf ihren unhaltbaren Kern hin analysiert werden können.
Das von Nietzsche in Aussicht gestellte „zukünftige“ Bild des
Denkens unterscheidet sich von seinen dogmatischen Vorläufern zu-
nächst dadurch, daß es die natürliche Verwandtschaft zwischen dem
Denken und der Wahrheit – quasi als Ausdruck des moralischen Vor-
urteils par excellence – in Frage stellt.14 Deleuze konzipiert diesen ersten
9 KSA 5, S. 16.
10 KSA 5, S. 32.
11 „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es
,unmittelbare Gewissheiten‘ gebe, zum Beispiel ,ich denke‘, oder, wie es der
Aberglaube Schopenhauer’s war, ,ich will‘: gleichsam als ob hier das Erkennen
rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich‘ […].“
(KSA 5, S. 29.)
12 KSA 5, S. 29.
13 KSA 5, S. 31.
14 Nietzsche problematisiert die Instanz des Fragens, des Willens zur Wahrheit.
„Was in uns will eigentlich ’zur Wahrheit’?“ Seine Antwort lautet, dass es der
Wille zur Macht ist, der im Willen zur Wahrheit will, und dass „die“ Wahrheit
ein metaphysischer Begriff ist, der auf nicht eigens thematisierten normativen
Voraussetzungen beruht. Die Angleichung dieser Voraussetzungen an das ge-
netische Prinzip des Voraussetzens führt Nietzsche dazu, nicht aus der
„Falschheit“ eines Urteils einen Einwand gegen es abzuleiten. „Warum auch
260 Marc Rölli
Aspekt als Postulat von der „Wahrhaftigkeit des Denkens“. 15 Damit ist die
implizite rationalistische Unterstellung gemeint, daß dem Denken als
natürliche menschliche Fähigkeit die Wahrheit formell zugehört, „daß
es folglich ausreiche, ‘wirklich‘ zu denken, um wahrheitsgemäß zu
denken“.16 Zweitens weist Nietzsche die Vorstellung von sich, die
Wahrheit kçnnte erreicht werden. Die „Scheinwahrheiten“ sind keine
vorläufigen Wahrheiten in dem Sinne, daß ihr minderer Status in ab-
soluter, nicht perspektivisch gebrochener Erkenntnis, zumindest po-
tentiell, aufgehoben ist. Für Deleuze ist dieser zweite Aspekt als (dog-
matisches) Postulat des Methodenideals zu fassen. Es besagt, daß „wir
Menschen“ nur faktisch vom Weg der Erkenntnis abgekommen sind,
daß es uns aber mit der richtigen Methode schon gelingen wird, das von
Rechts wegen unsere Gattung auszeichnende Wissen um die vernünf-
tige Ordnung der Wirklichkeit zu erfassen. Und zuletzt bekämpft
Nietzsche die metaphysische Setzung eines „Glauben[s] an die Gegen-
sätze der Werthe“.17 Mit diesem Glauben verbindet sich die Auffassung,
daß die Wahrheit, der Wille zur Wahrheit, die „selbstlose Handlung“
oder „das reine sonnenhafte Schauen des Weisen“ nicht aus dem Willen
zur Täuschung, aus dem Eigennutz oder der Begehrlichkeit abgeleitet
werden kann. Somit wird ein reines, unvergängliches, göttliches Sein
der „vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt“,
„diesem Wirrsal von Wahn und Begierde“18 entgegengesetzt. Gegen die
Erklärung der Nichtigkeit der diesseitigen körperlichen und zeitlichen
„Existenz“ wendet sich Nietzsche mit der These, daß das „,Bewußtsein‘
in [keinem] entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt“,
sondern ganz im Gegenteil „das meiste bewußte Denken eines Philo-
sophen […] durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte
durchaus Wahrheit?“ (KSA V, S. 30.) Es ist (auf Kant bezogen) eben nicht die
Frage, „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“, sondern die Frage,
„warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?“ zu stellen. Unmöglich kann
auf falsche Urteile im Sinne von „Vordergrunds-Schätzungen“ (KSA V, S. 16)
verzichtet werden. „Eine Philosophie, die [es] wagt, […] die Unwahrheit als
Lebensbedingung zu[zu]gestehn […], stellt sich damit allein schon jenseits von
gut und böse.“ (KSA V, S. 18.) Von daher wird es einsichtig, dass für Deleuze
im Anschluss an Nietzsche das dogmatische und das moralische Bild des
Denkens unmittelbar zusammenhängen.
15 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
16 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
17 KSA 5, S. 16.
18 KSA 5, S. 16.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 261
19 KSA 5, S. 17.
20 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
21 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 118.
262 Marc Rölli
Am Leitfaden der „drei Synthesen“, die von Kant in der Kritik der reinen
Vernunft ins Zentrum der transzendentalen Analytik der Erfahrung ge-
stellt wurden, entwickelt Deleuze in Diffrence et rptition eine originelle
Theorie der Wiederholungsformen.22 Er lehnt sich hierbei – durchaus in
kritischer Absicht – an die von Husserl unter dem Stichwort der
„passiven Synthesen“ und an die von Heidegger unter dem Stichwort
der „Zeitsynthesen“ vorgelegten Interpretationen der Kantischen Aus-
führungen an. Die erste Synthese der Apprehension wird von ihm als
empirische und passive Synthese der Gegenwart expliziert, die am
Vorbild des Husserlschen Zeitbewußtseins orientiert ist und den ersten
Wiederholungsmodus zur Darstellung bringt.23 Zunächst stellt Deleuze
heraus, daß sich von der Grundlage der passiven Zeitsynthesen der le-
bendigen Gegenwart die aktiven Synthesen abheben, die reflexive
Zeitformen generieren: d. h. „willkürlich“ abgetrennte Formen der
Vergangenheit und der Zukunft, die sich von der Gegenwart abtrennen
und für sich selbst repräsentieren lassen.24 In diesen Zusammenhang
gehören „objektive“ Wiederholungsfälle, die unabhängig von einem
„passiven“ Wiederholungssubjekt eine Realität an sich konstituieren.
Die so blockierte Wiederholung, die sich auf äußerliche Gegebenheiten
erstreckt, die – unter einem sie subsumierenden Begriff – als dieselben
reproduziert werden können, unterstellt ein betrachtendes „Subjekt“,
das die geschiedenen Fälle als begrifflich identisch und zeitlich ver-
schoben zu Bewußtsein bringt. Das bedeutet aber, daß die aktiven
Synthesen der Repräsentation nicht nur eine passive Synthese der Ge-
genwart, sondern auch ein passives Gedächtnis voraussetzen, das ver-
gangene Gegenwarten aufbewahrt. Mit dieser Annahme unterhöhlt
Deleuze nicht nur die „vulgären“, mechanistischen Zeit- und Wie-
derholungsvorstellungen, sondern unterminiert auch die phänomeno-
logische Erfahrungsganzheit. 25 Es ist nicht so, daß die passiven Synthesen
und etablieren ein Ähnlichkeitsmodell, da sie sich auf einen ersten Fall
stützen, den sie nachbildend wiederholen. Ihr Differenzierungsvermö-
gen bezieht sich einzig und allein auf die raum-zeitliche Vervielfältigung
eines substantiell mit sich identischen „Urbilds“. Verkleidete Wieder-
holungen hingegen umfassen die Differenz in ihrer Totalität: Sie sind
nicht auf einen „wahren“ Sachverhalt bezogen, zum Beispiel auf eine
(frühkindliche, traumatische) Urszene, die sie zwanghaft umkreisen. Die
bewußte Repräsentation des virtuellen Objekts (z. B. eines Kleinschen
Partialobjekts), das in ihnen zirkuliert, ist nicht nur faktisch, sondern
prinzipiell unmöglich. Deleuze bezeichnet sie nicht deshalb als „ver-
kleidet“, weil sie unter ihren Hüllen eine nackte Wahrheit verbergen.
Im Gegenteil: das Nackte ist eine Verkleidung, die sich nicht als solche
kenntlich macht. Mit Nietzsche spricht er von den graduellen Abstu-
fungen des Scheins, die sich nicht am Maßstab einer scheinlosen
Wirklichkeit bemessen lassen. Die Wiederholung „liegt nicht unter den
Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen“.28 Sie bildet
sich im Ausgang von den virtuellen Strukturen, die sie impliziert, d. h.
in Abhängigkeit von Wunschverkettungen oder Konstellationen eines
Begehrens, das nicht einer empirischen Lustbefriedigung nachjagt,
sondern sich aus permanenten intensiven und subrepräsentativen Syn-
thesen zusammensetzt. In diesen Immanenzmilieus entwickeln sich die
Wiederholungen, die das strukturelle Feld niemals abschließend ak-
tualisieren, weil sie nur einen kleinen Teil davon explizieren können,
während der große Rest – ein komplexer Aufbau virtueller Schichten,
der sich unaufhörlich umstrukturiert – unter ihrer Oberfläche („Ver-
kleidung“) im Dunklen bleibt. Somit bleibt ein beständiger Sinn-
Überschuß erhalten, der immer neue Anknüpfungsmöglichkeiten bie-
tet.
Zwei Probleme tauchen hier auf, die von Deleuze im Übergang zur
dritten Synthese der Zeit behandelt werden, die im Zeichen der Zu-
kunft und der ewigen Wiederkunft des Gleichen steht. Zum einen stellt
sich das Problem der Indifferenz. Es könnte scheinen, als ob der Grund
einer reinen Vergangenheit in sich zum differenzlosen Abgrund mutiert.
Es ist dies die romantische Illusion eines metaphysischen Willens oder
einer ursprünglichen Natur, aus der das intuitive Erkennen oder die
intellektuelle Anschauung ihre Weisheiten schöpft – und worin die
individuelle Seele ihr ganzheitliches Wohlgefühl zu finden sucht. Das
zweite Problem bezeichnet der im Konzept der Vergangenheitssynthese
sich über sie beweist.“35 Von daher bestimmt sich die Vergangenheit
nicht durchweg aus dem strukturellen Element symbolischer Verhält-
nisse, sondern verformt sich begründungslogisch zu einem Möglich-
keitsrahmen, der nicht nur den vorübergehenden Gegenwarten a priori
vorausgesetzt ist, sondern in den abstrakten, d. h. von den empirischen
Akten abstrahierten, Bedingungen jeder möglichen Repräsentation
seinen wesentlichen Inhalt findet. Hiermit etabliert sich eine subjektive
Position (aktiver Synthesis), die im Gedächtnis einen Halt findet, sofern
dieses eidetische Invarianten als Wesensformen der Erinnerung (qua
Vergeistigung) beinhaltet.
Der Übergang in die dritte Zeitsynthese ist unvermeidlich, will man
der Zweideutigkeit, die im Wesen der Vergangenheit als Zeitgrund
beschlossen liegt, entkommen. Das Gedächtnis muß sich vorbehaltlos
der Zukunft öffnen. Deleuze arbeitet an dieser „Öffnung“, indem er
sich auf die Kantische „Revolution“ der Denkungsart besinnt und alle
Konsequenzen zieht, die sich aus der transzendentalphilosophischen
Einführung der Zeit als „Form, in der die unbestimmte Existenz durch
das Ich denke bestimmbar ist“ ergeben.36 Mit der Zeit, die das Denken
von innen heraus heimsucht, wird ein feiner Sprung im Gehäuse der
subjektiven Einheit bemerkbar. Worin besteht dieser Sprung oder „Riß
im Ego“, – und warum schließt er die Kohärenz des Ichs mit sich selbst
aus? Für Deleuze ist die Antwort leicht zu geben. Gemäß der Triftigkeit
der Kantischen Argumente gegen den cartesianischen Kurzschluß cogito
ergo sum, nämlich der kritischen Auftrennung der natürlichen Ver-
bindung zwischen der Bestimmung „ich denke“ und der unbestimmten
Existenz „ich bin“, ergibt sich die von Kant so genannte „Paradoxie des
inneren Sinns“.37 Sie besteht darin, „daß wir […] uns selbst nur so
anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden“ und somit
„unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es
an sich selbst ist, erkennen.“38 Das Dasein läßt sich nur bestimmen,
indem in der „Selbstanschauung“ ein Mannigfaltiges gegeben ist, das als
solches „eine a priori gegebene Form, d. i. die Zeit, zum Grunde liegen
hat, welche sinnlich und zur Rezeptivität des Bestimmbaren gehörig
35 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 121. Vgl. zu dieser Figur einer
Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen: Michel Foucault, Die
Ordnung der Dinge (1966), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 384 – 389.
36 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 119.
37 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 152 f.
38 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 156.
268 Marc Rölli
ist.“39 Aus diesen Prämissen folgt aber, wie Kant selbst an einer für
Deleuze zentralen Stelle des Deduktionskapitels ausführt, daß das passive
Ich und die Spontaneität des bestimmenden Subjekts – und zwar auf-
grund der Zeit als Form des inneren Sinns, die den Unterschied macht –
nicht zur Deckung gebracht werden können.
„Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das
Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin,
ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Be-
stimmbare, so kann ich mein Dasein, als eines selbstttigen Wesens, nicht
bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneitt meines Denkens, d. i. des
Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das
Dasein einer Erscheinung, bestimmbar.“40
Das passive Subjekt, das sich in der „Form der Bestimmbarkeit“,
d. h. in den Zeitsynthesen „konstituiert“, ist somit auf einen imma-
nenten Prozeß zeitlicher „Selbstaffektion“ verwiesen: Es ist nur so
bestimmbar, wie es in der Zeit erscheint, d. h. nicht als „Dasein eines
selbsttätigen Wesens“. Während Kant die spekulative Einheit des Sub-
jekts wiederherstellt, indem er das Prinzip der Synthesis aus dem Bereich
der Passivität heraushebt, insistiert Deleuze darauf, daß die Zeit als
transzendentale Form des inneren Sinns in keiner Weise mit den ka-
tegorialen Verstandesformen a priori konform gehen muß.41 Ihre De-
finition fällt rein formal aus: als unveränderliche Form der Veränderung
wird die Zeit durch eine Zäsur bestimmt, die ein für allemal die beiden
Seiten des Vorher und Nachher festlegt, auf denen sie „sich“ un-
gleichmäßig verteilt. Diese „leere Form der Zeit“ entspricht ihrer
dritten Synthese, sofern „die Zäsur genau der Ursprungsort des Risses“
ist, der die Zeit aus den subjektphilosophischen Angeln hebt und sie
„vom Zwang der Ereignisse [befreit], die ihren Inhalt ausmachten“.42
Mit Kant gesprochen: „Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr
verläuft sich das Dasein des Wandelbaren.“43 Ihre reine Ordnung a
priori liegt nicht in einer der Zeit vorgeordneten Einheit, vielmehr
bestimmt sie durch die Unerbittlichkeit ihrer Zäsur die Differenz als
Seinsprinzip eines durch und durch prozessualen Verlaufs des „Wan-
delbaren“, d. i. die virtuelle Mannigfaltigkeit in der Kontinuität sin-
gulärer Modifikationen ihrer selbst.
Die Wiederholung der Zukunft, die „nur das Zu-Kommende [-
venir] wiederkehren läßt“, ergibt sich aus der Aleatorik des Augenblicks.
Dieser bezeichnet den virtuellen Punkt einer Umverteilung von Ver-
gangenheit und Zukunft, die sich permanent unterhalb der zeitlich
ausgedehnten Gegenwart vollzieht.44 Diese statische Syntheseform
bricht mit der Kohärenz meiner eigenen Identität im Sinne einer die
Zeitprozesse umgreifenden Einheit und bringt den ontologischen Pri-
mat der Differenz philosophisch zum Ausdruck: Es gibt Zeit. Hiermit
bestimmt sie den (unbewußt affektiven) Beginn der „Erfahrung“ in-
nerhalb der (bewußten) Erfahrung, ihren differentiellen Untergrund,
der sich in einzelnen Aktualisierungslinien immer wieder neu expliziert.
Von daher sind die strukturellen Bedingungen den phänomenologi-
schen Erfahrungsbereichen keineswegs abstrakt vorgeordnet, vielmehr
strukturieren sie ihren Aktualisierungsverlauf, indem sie gleichzeitig sich
selbst strukturieren.
Im Gedanken der ewigen Wiederkunft schließt Deleuze seine
Überlegungen zur dritten Synthese der Zeit zusammen.45 Sie läßt nur
Bnden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI., Darmstadt: Wis-
senschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 395 – 690, hier S. 417.)
42 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 122.
43 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), A 144/ B 183.
44 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 125.
45 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124 f., S. 129, S. 164 –
165. „Die ewige Wiederkehr […] ist überschießende Wiederholung, die vom
Mangel oder vom Gleichwerden nichts fortbestehen läßt. Sie ist selbst das
Neue, die ganze Neuheit. Sie ist sich selbst die dritte Zeit der Reihe, die
Zukunft als solche.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 124.)
270 Marc Rölli
Negative scheidet dahin, vor den Toren des Seins.“50 Die Differenzen
resultieren aus der Zeitform, die keine übergreifenden ontologischen
Einheiten bestehen läßt und somit gerade die Überführung oder Zu-
spitzung der Differenz auf die Negation und den Gegensatz zurück-
weist, d. h. die Einschränkung der prozessualen Positivität relativ auf
wesentliche, tiefer liegende Bedeutungen.
„Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz, sie bejaht die Un-
ähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das Viele und das Werden.
Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. […] Die
ewige Wiederkunft sondert aus, was, indem es den Transport der
Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht.
Was sie aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das
Negative als Voraussetzungen der Repräsentation.“51
Zarathustra ist der prcurseur sombre, der Prophet des Dionysos. Nach
Deleuze verhandelt Nietzsche das Thema der Wiederkunft im Zara-
thustra zweimal – und läßt ein drittes Mal offen: der kranke, der ge-
nesende und der sterbende Zarathustra.52 Die Ausrichtung auf die dritte
Zeit ist aber bereits in den beiden voraus liegenden Stadien deutlich.
Gerade mit dem Thema des Augenblicks durchbricht Nietzsche die
kosmologische Beobachterperspektive auf die ewige Wiederkunft des
Gleichen. Im Zarathustra steht dafür das Sinnbild des „Torwegs“, auf
dem oben „Augenblick“ geschrieben steht, und an dem die zwei langen
geraden Gassen der Zukunft und der Vergangenheit aufeinander sto-
ßen.53 Gegen den Zwerg, der auf ihm hockt, „der Geist der Schwere“,
54 KSA 4, S. 200.
55 KSA 4, S. 273.
56 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 371. Der Augenblick
markiert den zeitphilosophischen Entwurf der ewigen Wiederkunft, mit dem
sich Nietzsche vom Nihilismus absetzt. In diesem Sinne bezeichnet er bereits in
den letzten beiden Aphorismen des vierten Buches der Frçhlichen Wissenschaft
das größte Schwergewicht des Wiederkunftsgedankens – und kündigt dann
„incipit tragoedia“ Zarathustras Untergang oder „Niederkunft“ zu den Men-
schen an. Vgl. KSA 3, S. 570.
57 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 370. Die Selektion erstreckt
sich auf das Element des Nihilistischen. Deleuze attestiert der „Mehrheit“ bzw.
der Logik des Common Sense, mit den Minderheiten auch die Differenzen zu
tilgen, die aus der Norm fallen. Aber mit den von den großen Systemen der
Repräsentation ausgeschlossenen Lebensweisen, Assoziationsformen und
Werdensprozessen eröffnet sich ein neuartig bestimmbares Milieu der Imma-
nenz. Nicht die Ausnahme steht der Regel entgegen und wird gefeiert –
vielmehr begründet sie eine neue, eine anders konzipierte, eine differenz-
theoretisch gefasste Vielheit von Regeln.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 273
Epilog
58 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen,
Berlin: Die Runde 1935.
59 An diesem Punkt bleibt Löwith dem Geist seiner Zeit verhaftet, der zum einen
den Willen zur Macht subjektivistisch fehldeutet (vgl. Alfred Bäumler, Nietzsche
der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931) und zum anderen den Wieder-
kunftsgedanken „kosmisch“ überhöht (vgl. Ludwig Klages, Die psychologischen
Errungenschaften Nietzsches (1926), Bonn: H. Bouvier 1958).
60 Vgl. KSA 13, 14[121], 14[79] und KSA 5, S. 31 – 34. An letztgenannter Stelle
nimmt Nietzsche das „Wollen“ Schopenhauers auseinander, indem er es durch
eine „Mehrheit von Gefühlen“, von Gedanken und Affekten substituiert.
61 Vgl. zur „Selbstüberwindung der Moral“: KSA 5, S. 50 – 51, und zum Thema
der „intellektuellen Redlichkeit“: KSA 5, S. 167 – 170.
62 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 15 ff. und Nietzsches vielfältige Scho-
penhauer-Kritiken in den 1880er Jahren, die sich u. a. auch mit einer Selbst-
kritik der metaphysischen Voraussetzungen der Geburt der Tragçdie verbinden
274 Marc Rölli
Mit der Formel von der ,nietzscheschen Trinität‘ brachte Gilles Deleuze
Symptomatologie, Typologie und Genealogie als Aufgaben des ,Phi-
losophen der Zukunft‘ zusammen.1 Sie holen den Arzt, den Künstler
und den Gesetzgeber in das Geschäft der Philosophie wieder herein.
Hier soll, für Überlegungen zu Nietzsches Ethik, der Blick auf den
Philosophen als Gesetzgeber gerichtet sein.
Als Genealoge hat Nietzsche der Moral eine Geschichte gegeben,
sie als von Menschen produziert bezeichnet, sie als ein weltimmanentes
Ergebnis gefaßt und nicht als eine transzendente, ewige Norm. Deleuze
schließt den Genealogen und Gesetzgeber zusammen, ein kleiner
Kurzschluß, dessen Funken erst einmal blenden. Sie erfüllen den oft von
Philosophen geforderten Anspruch an eine Idee mit der Formel ,clare et
distincte‘ nicht. Doch Deleuze folgt hier nicht dem Ideal der wahren
Idee, sondern den Spuren von Leibniz’ Meeresrauschen, dessen
Wahrnehmung hell und konfus ist. Mit Nietzsche spricht er sie dem
hellen, apollinischen Denken zu, das ein eigenes Denkregister darstellt,
unterschieden vom dionysischen, das in der deutlich-dunklen Idee seine
„ivresse, l’étourdissement proprement philosophique“2 feiert. Mit Ge-
nealogie spannt er den Bogen zwischen der „valeur de l’origine et
origine des valeurs“3, der Entstehung der Werte wie ihrem differenti-
ellen Element. Mit der Genealogie, diesem Teil des Triptychons der
realen Verhältnisse zwischen Kräften, setzt Deleuze nicht deren Sinn
oder Qualität nach; hier läßt er die Herkunft der Kräfte abschätzen und
den Vorfahr, den Willen zur Macht in seiner Qualität aufspüren. Der
Wille zur Macht zeichnet den philosophischen Gesetzgeber aus.
„Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetz-
geber: sie sagen: so soll es sein!, sie bestimmten erst das Wohin und
Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller phi-
losophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit – sie
greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist
und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer.
Ihr Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille
zur Wahrheit ist – Wille zur Macht.“4
Einer der philosophischen Arbeiter, sogar einer nach ,edlem Mus-
ter‘, ist für Nietzsche Kant, er taucht auch kurz vor dem vorigen Zitat
auf. Im Bereich der Ethik kann dabei dessen Sittengesetz nicht überhört
werden. So sehr Nietzsche auch gegen Kant austeilt – gerade der ka-
tegorische Imperativ, der ,nach Grausamkeit riecht‘5, wird ihm zum
Mittel, Werkzeug und Hammer, wenn er mit der ewigen Wiederkehr
sein eigenes Sittengesetz formuliert. Keine simple Farce der Kantschen
Formel, vielmehr deren ,leibhafteste unfreiwillige Parodie‘, und kei-
neswegs weniger grausam. Deleuze spricht von einer halb zugestande-
nen, halb verborgenen Rivalität Nietzsches gegenüber Kant.6
Das erste Mal taucht der Gedanke der ewigen Wiederkehr im
Abschnitt ,Das größte Schwergewicht‘ in der Frçhlichen Wissenschaft auf:
„Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste
Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt
lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male
leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder
Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles un-
säglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und
Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und
dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick
und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder
umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du
dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den
Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen unge-
heuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ,du bist ein
Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich
Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht
zermalmen; die Frage bei Allem und jedem ,willst du diess noch einmal
und noch unzählige Male?‘ würde als das größte Schwergewicht auf
deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem
Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser
letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –“7
Die entscheidende Frage also ist: willst du dies noch einmal und
noch unzählige Male? Deleuze formuliert das imperativisch so um: „Ce
que tu veux, veuille-le de telle manière que tu en veuilles aussi l’éternel
retour.“8 Und Pierre Klossowski so: „agis comme si tu devais revivre
d’innombrables fois et veuille revivre d’innombrables fois“.9
Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest“.
Damit erstreckt sich das Kriterium „in die Zeitreihe statt in die Ge-
sellschaftsreihe“ (S. 395 f.). Doch bei Nietzsche handelt es sich nicht nur
um ein ethisches Regulativ oder einen moralischen Prüfstein wie bei
Kants kategorischem Imperativ, sondern er behauptet auch die Realität
der ewigen Wiederkehr. Da empirisch unmöglich, versteht Simmel
diesen Anspruch als metaphysischen. Die beiden menschlichen Sehn-
süchte nach dem Endlichen und Geformten wie nach dem Unendlichen
und Grenzenlosen beanspruchten eine ,psychologische Wirklichkeit‘,
und diese findet Simmel bei Nietzsche hier metaphysisch gespiegelt und
ausgedrückt. Denn in der Metaphysik „nehmen die Vorstellungen
überhaupt sozusagen einen besonderen Aggregatzustand an, auf den die
Frage nach der Wahrheit im logischen und konkreten Sinn gar nicht
anwendbar ist“; so pochte Simmel auf deren „Eigenheit der Forde-
rungen und Normen“ (S. 400 f.).
Auch Karl Löwith setzte auf die kantisch-imperative Spur bei
Nietzsche, in seinem Nietzsche-Buch von 1935 mit dem Titel: Nietz-
sches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Nietzsches ,System in
Aphorismen‘ formiere sich um das widersprüchliche Kraftzentrum der
ewigen Wiederkehr des Gleichen, zu deren Ewigkeit die Zeitlichkeit
der Zeit überwunden werden soll. Dabei regte Löwith an, die ewige
Wiederkehr, dieses ,höchste ethische Schwergewicht‘ in nachchristli-
chen Zeiten, in ihrem erzieherischen Charakter als ethischen Imperativ
zu verstehen: Lebe in jedem Augenblick so, daß du ihn wieder zu-
rückwollen könntest. Der Imperativ formuliert sich als zweistufige
Befreiung: vom ,Du sollst‘ des christlichen Glaubens zum ,Ich will‘ der
selbstgemachten Gesetzgebung, und dann vom ,Ich will‘ zum ,Ich bin‘
der „nichts mehr wollenden Willigkeit, in der sich das Wollen als sol-
ches aufhebt“11. So zukunftsgerichtet und schaffend sich der Imperativ
in seiner ,anthropologischen Gleichung‘ ethisch präsentiert, läßt er mit
der ,kosmologischen Gleichung‘, die auf dem naturwissenschaftlichen
Satz der Energieerhaltung basiert, den Widerspruch und die „maßlose
Anspannung“ deutlich hervortreten. Löwith sieht den Gedanken der
ewigen Wiederkehr und den Nihilismus einander bedingen. Er macht
eine „Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen
Wiederkehr“ aus. Deshalb nennt er die ewige Wiederkehr „Not-wen-
digkeit“, „Wende der Not“ – eine metaphysische Notwendigkeit. Dieser
11 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935/
1955), in: ders., Smtliche Schriften, Band 6, Stuttgart: Metzler 1987, S. 201.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 279
gewendete Imperativ und verkehrte Wille, „der immer noch will, was
er schon muß“,12 Nietzsches amor fati, sieht Löwith als eine Auffor-
derung, sich dem Fatum zu ergeben, die Resignation gleichkommt.
Bernd Magnus nimmt den Impuls des Imperativs auf und macht ihn
nicht nur zum Titel, sondern auch zum Zentrum seines Nietzsche-
Buches.13 Im Unterschied zu Löwith betont er nicht diese Art Um-
schlagen des Nihilismus in ewige Wiederkehr, sondern deren Über-
windung des Nihilismus. Dafür faßt er den Imperativ als existentiellen.
In seiner Doppelthese versteht er die ewige Wiederkehr als „visual and
conceptual representation of a particular attitude toward life“,14 und in
dieser Haltung gegenüber dem Leben drücke sich der schon über-
wundene Nihilismus aus. Es gehe nicht um den Wahrheitsgehalt der
ewigen Wiederkehr wie in der kosmologischen Interpretation als Fakt,
oder wie in der normativen im Modus des ,als ob‘. In der letzteren,
kantianischen Form des kategorischen Imperativs sieht Magnus den
stärksten Unterschied zu Nietzsches existentiellem Imperativ. Denn
dieser spreche eine private Sprache, und es gehe bei ihm um eine be-
stimmte Haltung gegenüber dem Leben. Diese ,particular attitude‘ sei
persönlich und deshalb pluralistisch, nicht inhaltlich festgelegt, und doch
Resultat einer Wahl. Sie sei charakterisiert durch Bejahung, und für die
darin ausgedrückte Überwindung des Nihilismus steht der Übermensch.
Diese Bejahung findet sich in der Formel des amor fati, in einem
,dionysischen Verhältnis‘ zur Existenz, „in the total and unconditioned
love of becoming, love of life, which is my creation and my fate“.15
Auch Bernard Reginster operiert mit der Überwindung des Nihi-
lismus. In seiner Monographie The Affirmation of Life. Nietzsche on
Overcoming Nihilism (2006) betont er die ,ethische Signifikanz‘ der
ewigen Wiederkehr ausdrücklich. Darin denkt er auch mit Deleuze
weiter, obwohl er kaum auf ihn referiert. Im Unterschied zur ,theo-
retischen Rolle‘ der ewigen Wiederkehr, die eine besondere Eigen-
schaft des Lebens ausmacht, bejaht zu werden, fokussiert er auf die
,praktische Rolle‘, die etwas über die Haltung der Bejahung gegenüber
dem Leben aussagt. Deshalb argumentiert er für eine praktische Inter-
pretation der ewigen Wiederkehr, in dem Sinn, einen praktischen
nur so, daß du es immer wieder wollen kannst. Darin drückt sich al-
lerdings auch ein grundlegender Unterschied aus. Während Kant mit
der Vorstellung des allgemeinen Gesetzes auf die gesellschaftliche Di-
mension zielt, markiert Nietzsche mit seiner Formulierung den Bereich
des Individuellen. Statt der Prüfung durch verallgemeinernde Abstrak-
tion setzt er auf die konkrete, partikuläre Intensivierung. Und doch
verbleibt er nicht individualistisch im Privaten. Die Abkehr von Nihi-
lismus und Ressentiment, welche die sozialen Verhältnisse abwerten,
hat eine ethische Umgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens
zur Folge.
Auch bei Nietzsche kann nicht von einer moralischen Begründung
des Handelns gesprochen werden, weil es ganz grundsätzlich nicht um
einzelne Handlungen geht, die durch ein singuläres normatives Urteil
oder Werturteil gestützt und damit gerechtfertigt werden sollen. Han-
deln orientiert sich nicht an einem einzelnen Faktum, einem Gefühl,
einer möglichen Folge, dem Gewissen, einem Moralkodex oder einer
moralischen Kompetenz.21 Vielmehr geht es hier um eine ethische
Begründung, bei der moralisches Handeln und Urteilen vom Begriff der
Moralität her begründet und als sinnvoll einsichtig gemacht werden
will. Auch Nietzsche führt moralisches Handeln auf die konstitutiven
Bedingungen seiner Möglichkeit zurück, indem er den Begriff der
Moralität genetisch bestimmt und von etwas Unbedingtem ausgehen
läßt. Das macht die apriorische Begründung und ihre Formalität aus,
auch wenn diese selbst bei Nietzsche wieder eine Geschichte hat, die
Erfahrung mit einschließt.
Transzendental heißt, die Regel-Bedingungen eruieren, unter
denen etwas als möglich gedacht werden kann. Mit Deleuze sind die
„transzendentalen Bedingungen […] nicht regressiv erschlossene
Möglichkeitsbedingungen einer vorgegebenen Erfahrung, sondern ge-
netische Bedingungen einer werdenden Erfahrung, die sich im Prozeß
ihrer Aktualisierung bestimmen und verändern.“22 Nietzsches Ethik ist
normativ, da sie primär danach fragt: unter welchen Bedingungen ist
moralisches Handeln als moralisches möglich. Gerade wegen dieser
transzendentalphilosophischen Prägung kann nicht von einem existen-
tiellen Imperativ gesprochen werden, wie das Bernd Magnus tut. Es
21 Vgl. Annemarie Pieper, Einfhrung in die Ethik, Tübingen u. a.: Francke 1994
(3. überarbeitete Aufl.), S. 156 – 202.
22 Marc Rölli, Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien:
Turia & Kant, 2003, S. 393.
282 Christine Blättler
zukünftig, eine Verheißung, und von einer Schaffenskraft, die nach dem
reaktiven Menschen kommt, aber doch schon als ein steter transzen-
dentaler Angelpunkt auf einen aktiven und bejahenden Menschen hin
wirkt. Er bleibt dem Erkennen transzendent, ist aber der Praxis im-
manent.
Percept
Auch hinter dem Willen zur Macht steht die regulative, transzendentale
Idee der Freiheit. Daran wird ersichtlich, was Deleuze in Diffrence et
rptition den empirischen und pluralistischen Sinn der Idee nannte: es
handelt sich um den ,offenen Begriff‘ als ,percept‘, welcher die „deux
parties de l’Esthétique si malheureusement dissociées“ vereint, nämlich
„la théorie des formes de l’expérience et celle de l’oeuvre d’art comme
expérimentation“.32 In Qu’est-ce que la philosophie? führt Deleuze seine
Überlegungen zum Perzept mit Félix Guattari zusammen weiter. Sie
unterscheiden hier bekanntlich drei Formen des Denkens: Kunst,
Wissenschaft, Philosophie, wobei sich die drei Denkformen kreuzen
und verknüpfen können, allerdings ohne Synthese oder Identifikation.33
Die Perzepte nun – zusammen mit den Affekten bilden sie die Emp-
findungen – werden der Kunst zugeschlagen, der Philosophie die Be-
griffe, und der Wissenschaft die Sachverhalte. Das Perzept wird definiert
als dasjenige, was „rendre sensibles les forces insensibles qui peuplent le
monde, et qui nous affectent, nous font devenir“. Als Wahrneh-
mungskomposition ist das Perzept ein Akt sinnlichen Werdens, „par
lequel quelque chose ou quelqu’un ne cesse de devenir-autre“.34
Es sei hier erlaubt, die viel später formulierte Definition des Perzepts
mit derjenigen in Diffrence et rptition zu verknüpfen, nicht zuletzt
auch, weil Nietzsche in beiden Büchern präsent ist. In Qu’est-ce que la
philosophie taucht zum Beispiel Zarathustra gerade dort auf, wo es um
das ineinander Übergehen von Empfindung und Begriff, von ,ästheti-
scher Figur‘ und ,Begriffsperson‘ geht, wenn auch unterschieden wird
zwischen sinnlichem und begrifflichem Werden. Das Perzept hat seiner
Definition gemäß zu tun mit dem spürbar Machen von Kräften. Den
Willen zur Macht nennt Deleuze „le pouvoir être affecté“, worin Macht
und Stärke der Kraft zum Ausdruck kommen; der Wille zur Macht wird
auch zu einem Vermögen zu affizieren. Neben seiner Affektivität und
Sensibilität ist er wesentlich schaffend: „la puissance est ce qui veut dans
la volonté. La puissance est dans la volonté l’élément génétique et dif-
férentiel.“35 Der Genealoge und Gesetzgeber interpretiert und setzt
Werte, er schätzt Werte ab aufgrund ihrer Herkunft, macht eine Dif-
ferenz ihrer Herkunft, und deshalb setzt er eine Rangfolge und Hier-
archie. Er schätzt sowohl Geschichte wie die aktuelle Wahrnehmung
der Werte ab, er kann sie wertschätzen, und er kann eben auch neue
Werte schaffen.
Deshalb geht diese Ästhetik mit der Ethik zusammen. Dem Willen
zur Macht, von Löwith im Kontext der ewigen Wiederkehr ganz
beiseite gelassen, gibt Deleuze eine tragende Rolle. Von Nietzsche
erhält er einen metaphysischen Charakter, er bezeichnet ihn als ,Essenz
des Lebens‘. Zu seiner affirmativen Entfaltung kommt er in der ewigen
Wiederkunft, die Nietzsche in Ecce homo ,höchste Formel der Bejahung‘
nennt, und worin sich sein Gesetz der nicht lehrbaren Lehre der Moral
verkörpert. Das Unlehrbare führt Deleuze in die Lehre ein, wie Klos-
sowski ihm attestiert. „[I]l fallait que Nietzsche eût vécu et souffert pour
que pareil propos ne restât vide et absurde“.36
Transzendentaler Empirismus
die Lehre von der ewigen Wiederkehr, wie sie sich in den Jahren da-
nach vielschichtig in Nietzsches Schriften manifestiert.
Intensität
mit seinem Begriff von Freiheit, der mit dem Willen zur Selbstver-
antwortlichkeit zusammen fällt. Die Anstrengung zielt nicht auf ein
Sein, entzieht sich möglicher Verfügbarkeit und Besitz, der Sinn liegt in
ihr selbst. Schwerstarbeit, aber gegen den ,Geist der Schwere‘ gerichtet.
Es handelt sich um eine Anstrengung, die produktiv wird. Bei Klos-
sowski klingt das so, daß sich die in den Phantasmen eingeschlossene
Imagination befreit, indem sie Simulakren schafft.44 Das, was Deleuze
die ,Ethik der intensiven Quantitäten‘ nennt, zeigt sich als eine Spielart
der formalen Ethik, ohne bestimmten Inhalt, referenzlos.
Experiment
44 Klossowski, „Les derniers travaux de Gulliver suivi de Sade et Fourier“, in: Fata
Morgana 4/1974, S. 53. Vgl. Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 194 – 212.
45 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 113. Vgl. a. Friedrich Kaulbach,
Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien 1980.
46 Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 247.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 289
totalité suprême immunisée, une fois pour toutes, contre les ruses d’un
logos historiquement limité, ce qui la rend plus puissante que jamais.
«Mais le pur concept, ou l’infinité, en tant qu’elle est l’abîme du Néant où
tout l’Etre s’engloutit, doit désigner la douleur infinie – douleur qui
précédemment n’était présente qu’à titre historique dans la culture, et n’y
était que comme le sentiment sur lequel repose la religion des temps
modernes, à savoir le sentiment que Dieu même est mort, ce qui est
exprimé d’une façon pour ainsi dire empirique par les mots de Pascal ,La
nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et
hors de l’homme’ – purement comme un moment de l’Idée suprême mais
pas plus donc que comme un moment. Ainsi le concept pur doit donner
une existence philosophique à ce qui autrement était ou bien la prescription
moraliste d’un sacrifice de l’être empirique ou bien le concept de
l’abstraction formelle. Il doit ainsi donner à la philosophie l’Idée de la
liberté absolue, et, du même coup, la Passion absolue ou le Vendredi–Saint
spéculatif, qui jadis fut historique, et il doit rétablir celui-ci dans toute la
vérité et la cruauté de son absence de Dieu. C’est à partir de cette cruauté
seule – car il faut que disparaisse l’élément serein, le moins fondamental et
le plus singulier des philosophies dogmatiques comme des religions de la
nature – que la totalité suprême dans son sérieux total et à partir de son
fondement le plus profond, embrassant tout en même temps, peut et doit
ressusciter dans sa figure de liberté la plus sereine.»2
2 G.W.F.Hegel: «Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund
des Nichts, worin alles Sein versinkt, muss den unendlichen Schmerz, der
vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die
Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was
gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: ,la nature
est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de
l’homme’ [Pensées, 441: ,die Natur ist so beschaffen,dass sie überall, sowohl
innerhalb als ausserhalb des Menschen, auf einen verlorenen Gott weist’] –, rein
als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee
bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer
Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion
war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der
absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen
Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und
Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das
Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie
der Naturreligionen verschwinden muss – die höchste Totalität in ihrem
ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die
heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss.» ( Jenaer Schriften
1801 – 1807,Werke 2, Frankfurt/Main 1970, S. 432 f) – Notre traduction suit –
à deux exceptions près – celle qui a été proposée par Jean-Louis Vieillard-Baron
dans «Hegel et l’idéalisme allemand», Paris 1999, p. 168.
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 293
Le pur concept, l’abîme du Néant, cet «espace marqué par le détour des
dieux»3 a investi le champ du sacré pour transformer la douleur infinie,
empirique et éprouvée de la mort de Dieu en une vérité philosophique
rigoureuse, en un moment de l’idée suprême qui permettra un jour la
résurrection du divin. Cette transformation ne s’effectue pas sans
cruauté, autrement dit, sans la rigueur de l’abstraction. Le prix à payer,
au moins dans un premier temps, pour l’égalité, la base même du
concept d’abstraction, et pour la liberté, la base même du concept de
vérité, n’est pas la cruauté elle-même mais l’absence immédiate d’unité
dans la totalité. En citant Goethe, Hegel répond à la question «Qu’est-ce
qui est sacré?» par «C’est ce qui lie ensemble beaucoup d’âmes.»4
La mort de Dieu – comme radicalisation de la mort du Christ –
marque d’abord la fin de l’idée d’une société homogène, d’une unité
entre êtres humains en ouvrant un espace vide et sans fond entre les
hommes. Mais cette ouverture est interprétée par Hegel comme
invitation à une intervention de l’esprit qui, en fin de compte, ne détruit
rien (et surtout pas la divinité – malgré les sentiments de douleur et de
cruauté) parce qu’elle est l’acte d’une reconstitution améliorée et le
principe même de la construction de l’avenir, le devenir.
«L’unité, dont les moments – être et néant – sont en tant
qu’inséparables, est en même temps différente d’eux-mêmes, et de la
sorte un tiers à leur encontre, lequel, sous sa forme la plus singulière, est
le devenir.»5
Autrement dit: dans une certaine mesure, la tragédie («la douleur
infinie») devient tout à fait un élément de la loi du devenir ainsi que
celle de la construction humaine, et cette tragédie ne se passe pas, grâce à
la rigueur sévère de l’abstraction, sans un élément héroïque. Mais Hegel
ne développe ni l’idée d’un «Dieu à venir» (comme Hölderlin) ni le
concept de «sur-homme» (comme Nietzsche) et cela tout simplement
parce que le devenir de Hegel est complètement spirituel et intemporel
Néant affecte chez Hölderlin le sujet dans son unité, son identité – ce
que rend impossible l’idée même d’une totalité pure et réflexive. Le mot
«heilig» («sacré») compte parmi les mots préférés de Hölderlin et le poète
en connaît très peu. Il apparaît très régulièrement dans ses poèmes, soit
d’une manière isolée, soit combiné avec d’autres mots, soit intégré dans
certaines expressions – comme, par exemple, «la nuit sacrée (ou:
sainte)»/«die heilige Nacht». On retrouve cette dernière expression dans
plusieurs poèmes: «Cours de la vie»/«Lebenslauf», «Vocation du poète»/
«Dichterberuf», «Stuttgart», «Pain et Vin»/«Brot und Wein» et «A la
Madone»/«An die Madonna».
Le chemin parcouru par le sujet dans «la nuit sacrée» hölderlinienne
lie la pensée grecque, plus précisément le pré-socratique Héraclite7 au
christianisme. La troisième strophe de l’élégie «Pain et Vin»/«Brot und
Wein» nous explique la raison et le but du mariage de ces deux-là:
«Et notre coeur, en vain le cachons-nous en nous-mêmes,
notre âme en vain
Nous la tenons captive! car qui donc, nous les maîtres,
nous les disciples,
Peut briser notre élan, qui donc, ah! nous interdirait la
joie?
Le feu divin lui-même, nuit et jour, s’efforce vers un
brusque
Embrasement. Viens donc! et nous tournerons nos yeux
vers l’étendue
Pour y chercher, si loin soit-il quelque chose qui nous soit propre!
Une chose demeure ferme. Que midi sonne ou que le
temps s’allonge
Dans le coeur de la nuit, une mesure est là toujours,
commune
A tous, et chacun cependant reçoit en propre son
destin.
Chacun s’en va, chacun s’en vient aux lieux qu’il peut
atteindre.
Viens donc! Et qui pourrait mépriser le mépris, sinon
cette
Folie délirante qui saisit les chanteurs soudain dans la nuit
sacrée.
Viens aux rives de l’Isthme, oh viens! Là-bas où la
rumeur immense de la mer
Monte vers le Parnasse, où la neige scintille en
7 Diels, Fragment 60: «Der Weg auf und ab ist ein und derselbe.» – «La route,
montante descendante – Une et même.» ( Jean-Paul Dumont, Les écoles
présocratiques, Paris: Gallimard 1991, p.80)
296 Günter Krause
dürftet ihr euch eurer Kleider schämen. Du kannst dich für deinen Freund
nicht schön genug putzen […] Sahst du deinen Freud schon schlafen, – damit
du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes?
Es ist dein eignes Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen Spiegel.»
Déjà le jeune professeur de philologie Nietzsche a critiqué l’absence totale
d’une réflexion sur la pédophilie et l’homosexualité dans les cours sur la culture
grecque de son collègue et ami paternel à Bâle, Carl Jakob Burckhardt.
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische
Apriori
Transzendierung des Historischen oder Historisierung
des Transzendentalen?
Knut Ebeling
Das historische Apriori ist ein hölzernes Eisen: Es ist eine wirksame
Waffe im Arsenal der philosophischen Metaphysikkritik – und zugleich
ein blinder Fleck auf jeder philosophischen Landkarte. Man findet
diesen Fleck weder in den geläufigen Wörterbüchern der Philosophie
verzeichnet, noch ist er in dem historischen Wörterbuch, dem Histori-
schen Wçrterbuch der Philosophie aufgelistet.1 Religiöse oder gar psycho-
logische Apriori mögen es in die Rangliste der Philosophiegeschichte
geschafft haben; doch dasjenige Apriori, das am deutlichsten gegen jede
metaphysische Auffassung der Geschichte vorgeht, wird mit keiner
Zeile erwähnt. Tatsächlich ist dieses seltsame Apriori, das im meta-
physikkritischen Niemandsland zwischen Nietzsche und Foucault ent-
wickelt wurde, mitnichten das erste Thema, das einem bei der promi-
nenten Allianz zwischen diesen beiden Philosophen einfällt. Selbst
wenn man das Thema auf Nietzsche und die Geschichte, oder spezi-
eller, auf Nietzsche und die frankophonen Versionen der Geschichte,
oder noch spezieller, auf Nietzsche und Geschichte auf Französisch
eingrenzt, erscheint das historische Apriori kaum auf dem Monitor der
Untersuchung. Das historische Apriori ist so verhüllt und unerkannt wie
es in der jüngeren Metaphysikkritik wirksam ist.2 Zunächst mag die
Konjunktur des Begriffs nur als Hinweis darauf dienen, daß sich „in der
Nachfolge Cassirers und Foucaults […] ein verkappter Erbfolgekrieg um
1 Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Band 1: A-C, hg. von Joachim Ritter,
Basel und Stuttgart 1971, S. 462 ff.
2 Eine Eingabe des Begriffs „historisches Apriori“ in der Suchmaschine Google
am 16. 1. 2007 ergab ca. 46.400 Einträge.
306 Knut Ebeling
den seit der Abdankung einer ,Kritik der reinen Vernunft‘ nunmehr
vakanten Thron des Transzendentalen [abspielt].“3
Bevor sich Medienwissenschaftler anmaßen konnten, um den
Thron des Transzendentalen zu werben, stand auf dem Treppchen je-
mand anders: jener Michel Foucault, der in der medienhistorischen
Ahnenreihe prominent erscheint. Einerseits teilen Medien- und Kul-
turwissenschaftler durchgängig Foucaults und Nietzsches Kritik der
Metaphysik;4 andererseits versuchen sie, den „Thron des Transzen-
dentalen“ medial zu besetzen. Dieser Versuch – der nach dem Strick-
muster verläuft: auf Kants formales Apriori folgte Foucaults historisches
Apriori, das wiederum vom einem medialen oder technischen Apriori
abgelöst wird – stellt unter anderem den Anlaß und virulenten ,Jetzt-
punkt‘ dieses Beitrags dar.5 Schließlich war schon Foucaults historisches
Apriori begriffshistorisch so schwer zu fassen gewesen, daß es nicht in
historischen Wörterbüchern erschien. Daher könnte man auf die Idee
kommen, nach dem historischen Apriori von der umgekehrten Seite her
zu suchen: Nicht das letzte, sondern das erste, was einem beim Thema
Nietzsche und die Geschichte einfällt – zumal in der besagten Ver-
schränkung aus Nietzsche und dem bekennenden Nietzscheaner Fou-
cault – ist natürlich die Methode der Genealogie: jene Kampfansage an
die geschichtsphilosophische und mithin metaphysische Auffassung von
Geschichte. Die metaphysikkritische Genealogie empfiehlt sich natur-
gemäß beim Überthema Nietzsche und Frankreich, spezieller für
Nietzsche und Foucault. Tatsächlich ist die Methode der Genealogie
mittlerweile derart einschlägig, daß man auf den berühmten Doppelpaß
zwischen Nietzsches Genealogie der Moral von 1881 und Foucaults An-
trittsvorlesung am Collge de France hundert Jahre später, Nietzsche, die
Genealogie, die Historie, 6 kaum noch hinzuweisen braucht. Titel, Thesen
Nietzsches Geschichte(n)
Apriori. Das Thema der Genealogie bei Nietzsche wird durch das
Thema des historischen Apriori ergänzt. Schließlich ist das eine Thema,
die Genealogie, nicht nur ebenso populär wie das andere unbekannt ist;
beide Themen sind sich ohnehin bereits näher, als man meinen sollte.
Denn nicht nur die Genealogie ist eine Methode, die ihre Prägung nach
Nietzsche von Foucault erfuhr; auch das historische Apriori ist eine
Konzeption Foucaults, die das nietzscheanische Projekt einer Meta-
physikkritik weiterführt. Doch im Unterschied zur Methode der Ge-
nealogie kann sich die Konzeption des historischen Apriori nicht auf
eine nietzscheanische Wurzel berufen. Das Thema des historischen
Apriori bei Nietzsche ist bei weitem nicht so einschlägig wie die Me-
thode der Genealogie – im Gegenteil: Während er der genealogischen
Methode ein eigenes Buch widmete, kam ein so bezeichnetes histori-
sches Apriori bei Nietzsche nie vor. Was es bei Nietzsche aber durchaus
gegeben hat, ist eine anti-geschichtsphilosophische Haltung zur Ge-
schichte. Ein Hinweis auf die Genealogie der Moral genügt, um diese anti-
geschichtsphilosophische Haltung zur Geschichte zu belegen. Aber auch
in anderen Texten von Nietzsches mittlerer Werkphase tritt diese his-
torische Aggression gegen die Philosophie auf – wie zum Beispiel in
jenem zehnten Paragraphen von Menschliches, Allzumenschliches II. Dort
wird behauptet, daß „die ganze Philosophie […] von jetzt ab der His-
torie verfallen“ (MA 384) sei:
„Der Historie verfallen. – Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler,
also alle Metaphysiker feinern und gröbern Korns, ergreifen Augen-,
Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, daß es mit
dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen,
seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen,
daß sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen: die
Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich
werden und an Wirkung verlieren.“
Genau diese Verfallenheit der Philosophie gegenüber der Historie
wurde durch das historische Apriori auf den Begriff gebracht. In der Tat
hat man gute Gründe für die Vermutung, daß diese Haltung Nietzsches
durchaus Foucaults Metaphysikkritik des historischen Apriori ent-
spricht. Das historische Apriori erlaubt es, Nietzsches Metaphysikkritik
an der Geschichte auf den Begriff zu bringen und sie mit einem ent-
schieden zeitgenössischen Akzent zu versehen. Neben der Methode der
Genealogie ist das historische Apriori ein weiterer Versuch des zwan-
zigsten Jahrhunderts, eine nietzscheanische Geschichte zu betreiben.
Auch wenn Nietzsche ein historisches Apriori an keiner Stelle erwähnt,
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 309
Foucaults Geschichte
Was sagt, was besagt das historische Apriori? Dieser Agent der Ab-
schaffung aller Apriori formulierte zunächst eine paradoxe Erkenntnis:
Das Apriorische ist historisch, aber das Historische nicht apriorisch.
Einerseits ist das, was apriorisch zuvor kommt, nichts Zuvorkommendes
– weil nämlich auch das Apriorische eigentlich historisch ist. Doch
andererseits kann das Historische nicht apriorisch sein. Es kann schon
deshalb nicht zuvor kommen, weil die Geschichte sich empirisch er-
eignet haben muß. Die Geschichte ist also ihrer eigenen Definition
gemäß immer das, was danach kommt – vielleicht auch das, was zu spät
kommt. Aus diesem Grund gibt es eigentlich nichts, was dem apriori-
schen Ansinnen fremder gegenüber steht, als das empirische Historische.
Denn das Historische ist – nicht nur bei Kant – Teil der empirischen
Welt, sie ist streng a posteriori. Der Trick des historischen Apriori besteht
also darin, zwei Welten gegeneinander auszuspielen: die historische und
die apriorische Dimension des Denkens. Formuliert man ein histori-
sches Apriori, so macht man eine paradoxe Aussage: Man sagt, daß
zuvor kommt, was eigentlich per definitionem nachträglich ist – näm-
lich die Geschichte. Und man sagt, daß das historisch und nachträglich
314 Knut Ebeling
Man befindet sich also schon mitten in der Dynamik des historischen
Apriori mit seinem Unternehmen einer Historisierung des Transzen-
dentalen. In diesem Unternehmen wurde das Historische als absoluter
Transzendierungsverhinderer eingesetzt, als anti-transzendentalphiloso-
phische firewall gewissermaßen. Gegen die Gefahr, das historische Feld
zu transzendentalisieren, setzten Nietzsche und Foucault auf das Projekt
einer Historisierung des Transzendentalen. In den erwähnten Texten
sollte das Transzendentale dadurch entmachtet und entkräftet werden,
daß man ihm historische Analysen, historische Verläufe, archäologische
Szenarien beigesellte. Das wäre also das Projekt einer Rekonstruktion
der Apriori: Bei diesem Projekt, einer Archäologie der Philosophie
gewissermaßen, geht es nicht um die Gründung eines neuen Apriori,
sondern um die historische Rückrechnung der bekannten apriorischen
Begriffe auf historische Verläufe oder Szenarien.
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 319
14 Das vollständige Zitat lautet: „An die Stelle einer Genealogie derjenigen Werte
und Wertschätzungen, auf denen die Geisteswissenschaften beruhten, mit dem
Ziel, diese Werte als Machteffekte von Medien zu entlarven, mußte eine
Epistemologie der postkantianischen und der postfoucaultianischen (weil me-
dialen) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung […] treten.“ Lorenz
Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert, Editorial (Anm. 3), S. 8.
15 Vgl. Ebeling, „Technisches Apriori“ (Anm. 5).
16 Friedrich Kittler/Manfred Schneider, „Editorial“, in: Diskursanalysen 2. Insti-
tution Universitt, hg. von Friedrich Kittler/Manfred Schneider/SamuelWeber,
Opladen 1987, S. 8. Zum technischen Standard vgl. Winthrop-Young
(Anm. 10), S. 98.
17 Friedrich Kittler, Draculas Vermchtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 215.
Zu den genealogischen Medien-Machtanalysen vgl. Winthrop-Young
(Anm. 10), S. 143 ff.
18 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 208 ff.
19 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 215.
322 Knut Ebeling
Doch während die Priester wenigstens noch sagen konnten, wohin die
Reise ging, ist es bei den Programmierern in der Kontingenz ihrer
Programme mit jeder teleologischen Richtungsangabe endgültig vorbei.
Skandal und Hygiene
Mattia Riccardi
Einleitung
2 Ebd., S. 19.
3 Ebd., S. 18.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 22.
Skandal und Hygiene 325
6 Vgl. ebd., S. 27 f.
326 Mattia Riccardi
7 Brief an Rohde, 16. Juli 1872, KGB 4, S. 23. Auf Nietzsches Ausführungen
über die vermeintliche Naivität der Griechen wird an folgender Stelle beiläufig
verwiesen: Marcel Detienne, Dionysos mis mort, Paris: Gallimard 1998 (1.
Aufl. 1977), S. 45. Dies bleibt die einzige Bezugnahme auf Nietzsche in De-
tiennes erstem Dionysos-Buch. Nietzsches Name kommt dann in seinem
zweiten, der griechischen Gottheit gewidmeten Werk (Marcel Detienne,
Dionysos ciel ouvert, Paris: Hachette 1986), gar nicht mehr vor.
8 Vgl. dazu insbesondere Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch
einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin/New York: De Gruyter 1996,
S. 8 – 52 und 58 – 140. Diese für Nietzsches Griechenbild in der zweiten Hälfte
der 1870er Jahre entscheidenden Lektüren bleiben allerdings meistens unbe-
achtet. Vgl. z. B. die sonst sehr kenntnisreiche und präzise Untersuchung von
Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York: De
Gruyter 2005, S. 74 ff., wo die „Fremdheit der Griechen“ allein mit Rekurs auf
Burckhardt thematisiert wird.
Skandal und Hygiene 327
Es ist bekannt, daß Nietzsche in den Jahren, die der Polemik um die
Geburt der Tragçdie folgen, Sinn und Aufgabe der Philologie radikal
infragestellte. In seinen Heften häufen sich Bemerkungen, die eine
tiefgreifende Krise bezeugen. Diese erscheint zunächst als grundlegende
Zurückweisung der dominanten, obwohl nicht erklärten Ideologie der
Altertumswissenschaft: „Es ist wahr, der Humanismus und die Auf-
klärung haben das Alterthum als Bundgenossen in’s Feld geführt: und so
ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum an-
feinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes
und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist ein Beweis gegen den Humanis-
mus, gegen die grundgütige Menschen-Natur“.9 Dies hat eine doppelte
Bedeutung im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundierung der Phi-
lologie.
Einerseits – in methodologischer Hinsicht – dehnt sich die Ver-
werfung einer humanistisch-aufklärerisch verfassten Haltung zur Antike
gleichwohl auf jene „Schätzung der ratio“ aus,10 auf der die alltägliche
Praxis des Philologen beruht. Mit Blick auf Detiennes Rekonstruktion
ist dann noch zu beachten, daß für Nietzsche gerade das Terrain der
Mythologie die Unhaltbarkeit dieses methodologischen Ansatzes am
schärfsten verrät: „Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten
wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie
die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen My-
thologie“.11 Die mythische Erzählung entzieht sich also der Rationali-
sierung und ermöglicht zugleich einen ersten Blick hinter die sonnigen
Kulissen der altgriechischen Welt.
Andererseits – wie Nietzsches Verweis auf die „Menschen-Natur“
nachspuren läßt – rückt vor allem die fatale Verwechselung des „Hu-
manen“ mit dem „Menschliche[n]“ ins Fadenkreuz seiner Kritik.12 Die
Philologie, aus dem Geist des Humanismus geboren, „ahmt etwas rein
Chimärisches nach“.13 Denn, betrachtet man sie näher, weisen die
18 KGW 2.5, S. 276. Im Bezug auf die Frage, wie der religiöse Kultus bei den
Griechen entstanden sei, nimmt die methodologisch fundamentale Trennung
zwischen flüssiger Entstehungsphase und fest kodiertem Endergebnis folgende
Form: „Die Zeiten, welche ihn [den Kultus] feiern, sind nicht die, welche ihn
erfinden“, Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5[155], S. 83. Vgl. folgende
Passage aus Lubbock: „In der That erscheinen uns manche Dinge aus der Luft
gegriffen, unbegründet und befremdend, weil unsere Verhältnisse durchaus
anders sind, als die, welche sie in’s Leben riefen. Vieles scheint einem Wilden
naturgemäß, was uns absurd und unerklärlich dünkt“, John Lubbock, Die
Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erlutert durch
das innere und ußere Leben der Wilden, aus dem Englischen übersetzt von
Athenäa Passow, Vorwort von Rudolf Virchow, Jena: Costenoble 1875,
S. 415. Zu Nietzsches Beschäftigung mit Lubbock vgl. auch David Thatcher,
„Nietzsche’s Debt to Lubbock“, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983),
S. 293 – 309.
19 KGW 2.5, S. 276.
330 Mattia Riccardi
20 Ebd., S. 284. Vgl. auch: „[I]hre ,klassische Litteratur‘ mit Chorlied, Tragödie,
Komödie ist ja auf dem Boden des Cultus oder als Anhang zu demselben zum
guten Theil erwachsen“, ebd., S. 364.
21 Vgl.: „Die Entstehung der griech. Poesie geschah nicht autochthon, sondern auf
fremden Einfluß hin“, ebd., S. 310. Auch die im Kultus enthaltenen Elemente
entpuppen sich als von verschiedenster Provenienz: „Der griechische Cultus
führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das
älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die
Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man
diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder.
Sie conserviren durch diese schöne Vollendung“, Nachlass Frühling – Sommer
1875, 5 [155], KSA 8, S. 83. Vgl. auch noch VM 219, KSA 2, S. 472 – 473.
Dazu vgl. Mafred Riedel, „The Origin of Europe: Nietzsche and the Greeks“,
in: New Nietzsche Studies 4.1/2 (2000), S. 141 – 155, hier 142 f.
Skandal und Hygiene 331
Mensch durch“.36 Der Prozeß der Selbstgestaltung, die also eine zy-
klische Wanderung in fremden Kulturwelten erfordert, wird deshalb
nach der aufsteigenden Skala Religion – Kunst – Wissenschaft ge-
dacht.37 Diese kulturgeschichtliche Aneinanderkettung gewährleistet für
Nietzsche schließlich sogar die „Mçglichkeit des Fortschritts“,38 wobei der
Mensch endlich auf die Ebene bewußter Kulturplanung übergeht. Die
Gefahr einer solchen Vorstellung entgeht Nietzsche zwar nicht. In ihr
sieht er aber dennoch nicht genügend Grund, eine totalisierende Ver-
folgung des „Wohl[s] der Menschheit“ infragezustellen.39 Vielmehr
billigt er sie widerstandslos: „[D]a [ist] die Inquisition in der Nähe; denn
das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer ver-
folgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig,
die Mittel freilich werden immer humaner werden“.40
Deswegen bin ich der Meinung, daß der Aufruf an hygienische
Maßnahmen, den Detienne am Beispiel Tylors zutage gebracht hat,
zwischen den Zeilen von Menschliches, Allzumenschliches wieder auf-
taucht. Denn haben Mythologie und Ethnologie dazu beigetragen, die
inszenierte Reinheit der Vernunft zu demaskieren; allerdings orientie-
ren sie sich unberührt an dieser Instanz. Das europäische Gepräge wirkt
also immer noch mit voller Kraft. Dasselbe läßt sich aber auch von dem
unter der Maske des „freien Geistes“ auftretenden Nietzsche von
Menschliches, Allzumenschliches behaupten. Von der späteren Anforde-
rung, man sollte „orientalischer denken lernen über Philosophie und
Erkenntniß“,41 ist er zu diesem Zeitpunkt also noch weit entfernt, wie
folgende Passage, mit der ich meinen Beitrag schließen möchte, zeigt:
„Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens
gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und
Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueb-
36 Ebd., S. 456.
37 Diese wirken also nicht mehr wie Burckhardts „Potenzen“, die komplementäre
und überhistorische Elemente einer Kultur darstellen. Bei Nietzsche machen sie
hingegen eine fest gestaffelte und hierarchisch gedachte Reihe aus. Jede wird
deshalb zur exklusiven Marke einer bestimmten Stufe des Geistes.
38 MA 24, KSA 2, S. 45.
39 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23 [82], KSA 8, S. 433.
40 Ebd.
41 Nachlass Sommer-Herbst 1884, 26 [317], KSA 11, S. 234. Diese Anforderung
strömt aus einer klaren Infragestellung des Primats Europas: „Die Europäer
bilden sich im Grunde ein, jetzt den höheren Mensch auf der Erde darzustel-
len“, ebd., 26 [319].
Skandal und Hygiene 335
2 Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre. Entretiens avec FranÅois L’Yvonnet, Paris:
Albin Michel 2001, S. 9 – 13.
3 Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre (Anm. 2), S. 11.
4 Einige Beispiele von Textstellen, in denen Baudrillard sich explizit auf
Nietzsche bezieht und die weiterhin nicht mehr erörtert werden, sind nach-
zulesen in: Jean Baudrillard, La socit de consommation, Paris: Denoël 1970,
S. 51; ders., L’change symbolique ou la mort, Paris: Gallimard 1976, S. 95 und
328; ders., l’ombre des majorits silencieuses (ou la fin du social), Paris: Denoël/
Gonthier 1978, S. 22; ders., La gauche divine. Chronique des annes 1977 – 1984,
Paris: Grasset 1985, S. 52 ; ders., L’autre par lui-mÞme. Habilitation, Paris: Galilée
1987, S. 231 ; ders., L’illusion de la fin, Paris: Galilée 1992, S. 45.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 339
Das erste Mal lassen sich diese Verweise in L’Illusion de la fin (1992)
aufzeigen. Baudrillard bezieht sich hier auf Nietzsches Erwartung des
Übermenschen sowie einer ,Umwertung der Werte‘ und sagt, daß
genau das Umgekehrte stattgefunden hat: kein ,au-delà du bien et du
mal‘, aber ein ,en deça du bien et du mal‘, in einer Welt, die sich nicht
mehr für Ideale oder Werte interessiert, sondern in der völligen
Gleichgültigkeit des ,Untermenschlichen‘ versinkt. Laut Baudrillard gibt
es also heute eine ,Verklärung des Untermenschen‘.5 In Le paroxyste
indiffrent, einer Gesprächssammlung Philippe Petits mit Baudrillard,
findet man dieselben Gedanken und Petit weist auch auf Nietzsches
,letzten Menschen‘ hin, Baudrillard jedoch geht darauf nicht näher ein.6
Wichtiger ist in diesem Kontext vielleicht die Bedeutung von einem
Baudrillards bekanntester Sätze:
„Comment sauter par-dessus son ombre, quand on n’en a plus?“7
Allem Anschein nach zu urteilen ist dies der Hinweis auf Nietzsches
Also sprach Zarathustra, insbesondere auf das Kapitel ,Von der Erhabe-
nen‘ aus dem zweitem Teil. Dort steht:
„Erst, wenn er sich von sich selber abwendet, wird er über seinen eignen
Schatten springen – und, wahrlich! hinein in seine Sonne.“8
Was auch immer die genaue Bedeutung dieses Satzes sein dürfte, so er
hat auf jeden Fall etwas mit einer Art Selbstüberwindung zu tun, die
nach Baudrillard in den aktuellen kulturellen Kontexten so gut wie
unmöglich geworden ist. Das ‘Neo-Individuum’ ist so stark von
Gleichgültigkeit gekennzeichnet, daß es eigentlich kein ‘Selbst’ mehr
hat, geschweige denn die Ambition, dieses ‘Selbst’ zu überwinden.
Auch hier ist zu erkennen, daß Baudrillard glaubt, Nietzsches Zu-
kunftsvision sei nur insofern erfüllt, als daß sich die traditionelle Moral
erledigt hat. An ihre Stelle ist jedoch nichts getreten, das etwas mit
17 NL 15[157] KSA, Band 13, S. 342. Auf Französisch zitiert in: Jean Baudrillard,
L’change impossible (Anm. 6), S. 100.
18 Vgl. Jean Baudrillard, Oublier Foucault, Paris: Galilée 1977.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 343
Wilhelm Mühlman und Marx und Engels übersetzt. Mit seinen ersten
Büchern Le systme des objets und La socit de consommation hat er ver-
mutlich auch den Eindruck erweckt, daß er genauso links und gesell-
schaftskritisch wie seine Umwelt wäre. Baudrillard aber war niemals
vom Klima und den Zielen der 68er-Bewegung erfaßt worden und er
glaubte noch weniger an irgendwelchen Blaudruck einer neuen Ge-
sellschaftsordnung. Pour une critique de l’conomie politique du signe und Le
miroir de la production zeigen auf unmißverständliche Weise, daß er den
Marxismus radikal ablehnt.19 Dabei spielen überwiegend zwei Gründe
eine Rolle: Zum einen weist Baudrillard Marx Idee vom Gebrauchs-
wert als dem natürlichen Wert der Objekte zurück, zum anderen rea-
giert er auf scharfe Weise gegen die Stellung des Produktionsbegriffs im
marxistischen Denken, weil er nicht glaubt, daß der Mensch fähig sei
auf autonome Weise die Bedeutung und die Einrichtung der Welt zu
bestimmen.
Inwiefern zeugt Baudrillards Kritik nun von nietzscheanischer Be-
einflussung? Folgende Sachen könnten eine Rolle gespielt haben:
– Nietzsches Allergie für jede Art von Sozialismus
– Nietzsches bekannte Kritik am Utilitarismus
– Nietzsches Ablehnung von objektiven, vom Menschen unabhängi-
gen und damit ,natürlichen‘ Bedeutungen
– Nietzsches Kritik am autonomen, rationellen Subjekt: Der Mensch
ist das Resultat eines immerwährendes Kampfes von Kräften und
alles, was er macht, ist ,symptomatisch‘ ein Zeichen von Krankheit
oder Gesundheit.
– Nietzsches kritische Haltung zur Idee des kontinuierlichen Fort-
schritts in der europäischen Kultur: In seinen Augen ist die Moder-
nität vielmehr durch Zeichen von Niedergang und décadence ge-
prägt.
Sein bereits erwähntes Buch Pour une critique de l’conomie politique du
signe erweckte den Eindruck, Baudrillard sollte im strukturalistischen
Lager anstelle des marxistischen situiert werden. Man könnte Le systme
des objets übrigens schon als einen proto-strukturalistischen Ansatz be-
trachten. Schließlich behauptet er in diesem Buch, daß die Bedeutung
Was die Psychoanalyse betrifft, so können wir uns kurz fassen: Bau-
drillard erwähnt sie meistens wie eine systematische Methode mit der
Prätention auf eine objektive und exaustive Weise Bedeutungen auf-
zuspüren (z. B. der Witz oder die Träume). Er teilt also Nietzsches
Intuition, daß jede Art von System einen Mangel an Rechtschaffenheit
zeige. Vielleicht erklärt dies, warum Baudrillard wie Nietzsche immer
häufiger den aphoristischen Stil geführt hat. Nicht nur in seinen Cool
Memories (wovon inzwischen bereits fünf Teile erschienen sind), son-
dern auch in seinen anderen Büchern. Ob Baudrillard übrigens völlig
Recht hat mit seiner Meinung bezüglich der Psychoanalyse kann man
bezweifeln. Seine Beispiele zeigen aber überzeugend, daß die Psycho-
analyse nicht fähig ist, jede Art von Bedeutung zu fassen.21 Übrigens
sind Baudrillards Vorwürfe gegen Foucault vergleichbar mit seiner
Kritik an der Psychoanalyse. Baudrillard glaubt, daß auch die Mikro-
physik die Macht der Dimension des Symbolischen ganz übersieht.
Auf den kommenden Seiten sollen nun einige Themen im Werk
Baudrillards, die noch nicht direkt oder indirekt erörtert worden sind,
behandelt werden. Was das Thema Zeit betrifft, haben wir schon ge-
sehen, dass sich Baudrillard wie Nietzsche der Fortschrittsidee gegen-
über sehr kritisch verhält. Eigentlich hat er immer den ganzen linearen
Zeitbegriff zugunsten eines zyklischen Models relativiert: Reversibilität
statt Irreversibilität. Hier bietet sich deshalb ein Vergleich mit Nietz-
sches Idee von der ewigen Wiederkunft an. Zwar sagt Baudrillard nicht
genau dasselbe, doch hat Nietzsche ihn für eine nicht-lineare Auffassung
der Zeit und der Geschichte sensibilisiert.
Ein zweites Thema ist das der Kunst. Das Denken Baudrillards ist
lange Zeit im Künstlermilieu sehr geschätzt worden; vermutlich auf-
grund des extravaganten Scheins, den sein Werk immer besessen hat.
Man hat dabei offensichtlich übersehen, daß schon Le systme des objets
ein äußerst kritische Behauptung des Designs und der Innenarchitektur
enthielt und daß Baudrillard in Pour une critique de l’conomie politique du
signe darlegte, daß, wenn man die Kunst an erster Stelle wie die Kreation
eines autonomen Subjekts betrachtet, man sich ganz mit der Ideologie
der Modernität solidarisch erklärt. Der Artikel Le complot de l’art (er-
schienen in Mai 1996 in Libration) aber war ein Frontalangriff gegen die
zeitgenössische Kunst, die laut Baudrillard nicht viel mehr als eine ba-
21 Vgl. z. B. Baudrillard, L’change symbolique ou la mort (Anm. 4), S. 322 – 343 und
ders., Les stratgies fatales, Paris: Grasset 1983, S. 154 – 161.
346 Philippe Lepers
22 Vgl. Jean Baudrillard, Le complot de l’art, Paris: Sens et Tonka 1997 und ders.,
cran total, Paris: Galilée 1997, S. 205 – 209.
23 Vgl. z. B. Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, Versuch 2, KSA, Band 1, S. 13.
24 Vgl. Jean Baudrillard L’autre par lui-mÞme (Anm. 4), S. 75.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 347
25 Vgl. Jean Baudrillard et Marc Guillaume, Figures de l’altrit, Paris: Descartes &
Cie 1994, S. 161.
26 Vgl. Jean Baudrillard, De la sduction, Paris: Denoël/Gonthier 1979.
27 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, 295, KSA, Band 5, S. 238.
28 Vgl. Nietzsche, Ecce Homo, Weise 7, KSA, Band 6, S. 274.
29 Vgl. Jean Baudrillard, La guerre du Golfe n’a pas eu lieu, Paris: Galilée 1991.
348 Philippe Lepers
die wichtige Stelle, die Nietzsche dem Kampf im Sinne von Ago-
nalität zuerkennt, das Denken Baudrillards in die Richtung geschickt
hat die befreit war von den Tabus einer allzu bequemen und sim-
plizistischen Friedensideologie.
Schlußbemerkungen
„Das eben ist das Beste, was ich erhoffte – die Erregung der Produktivität
Anderer und die Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt.“32
Baudrillard ist also bestimmt kein Epigone Nietzsches, aber bleibt dessen
Adagium ,vademecum, vadetecum‘ treu.33 Man könnte also behaupten,
daß er hauptsächlich Nietzsches Kritik an der Modernität auf eigene
Weise und in einem neuen gesellschaftlichen Kontext weitergeführt hat.
Zum Schluß: Bietet Baudrillards eigener Ansatz auch die Perspek-
tive zu einer anderen Sicht auf Nietzsche? Ich wollte mich diesbe-
züglich auf einen Punkt beschränken. Baudrillard hat sich während der
neunziger Jahre sehr für das Phänomen der ,Alterität‘ interessiert.34 Was
er damit behauptete, war zumeist die Unmöglichkeit alles und jeden in
einen homogenen und universellen Diskurs integrieren zu können. Es
gibt dabei klare Zusammenhänge in Bezug auf die Themen des sym-
bolischen Tausches, Fatalität, Verführung usw. Man könnte sich also
fragen, ob nicht auch Nietzsche als ein Philosoph der Alterität betrachtet
werden könnte. Diese These mutet vielleicht ein bißchen sonderbar an,
weil er manchmal gerade ein Philosoph des Egoismus genannt wird.
Aber was Nietzsche auf eine positive Weise mit Egoismus beabsichtigt,
ist jedenfalls viel komplizierter als das Verfolgen des individuellen
Glücks.35 Bei Nietzsche ist es offensichtlich möglich von ,das Fremde in
das Selbst‘ zu reden und bedeutet die Wichtigkeit der ,Agonalität‘
unzweifelhaft die Erkennung einer Verhaltung zu den Anderen worin
Distanz und Spannung immer behalten bleiben sollen. Auch das ,Pathos
der Distanz‘ (was freilich etwas anderes ist) kann hierauf bezogen
werden, ebenso wie die Stelle der Einsamkeit in Nietzsches Denken.
Außerdem entzieht sich die Welt laut Nietzsche immer bis zu einem
gewissen Grad unseren Versuchen sie zu verstehen oder zu meistern.
Nietzsches Perspektivismus enthält das man niemals einen vollständigen
Blick auf die Welt nachstreben kann und immer die Möglichkeit an-
derer Ansätze offen läßt und erkennt. Zuletzt kann man sich fragen, ob
auch die Suche nach dem wahren Selbst, wie sie zum ersten Mal in
Schopenhauer als Erzieher thematisiert wird, wohl als eine Odyssee ver-
standen werden soll (auf die Weise wie Emmanuel Levinas diese ver-
steht) und nicht eher wie ein wirkliches Abenteuer, eine überraschende
Fahrt ins Blaue, die vielleicht niemals enden wird.36 Jedenfalls erscheint
es als eine interessante und herausfordernde Möglichkeit von Baudrillard
Nietzsches Denken auf diese Weise, wie eine Philosophie der Alterität,
zu beschreiben.
36 Vgl. Unzeitgemße Betrachtungen III.1, KSA, Band 1, S. 337 – 341. Vgl. Emma-
nuel Levinas, Totalit et Infini. Essai sur l’extriorit (1961), La Haye: Martinus
Nijhoff Publishers 1980, S. XV, 151 und 249.
“René Girard and Nietzsche Struggling”
Michael Platt
1 All quotations from Nietzsche, unless otherwise noted, will be from the Colli
and Montinari edition. In English they will be from Walter Kaufmann’s trans-
lation, if otherwise as noted. The things of Girard’s that deal with Nietzsche,
those I am aware of, are “Superman in the Underground: Strategies of Madness
– Nietzsche, Wagner and Dostoevsky”, in: Modern Language Notes Vol. 91
(1976), pp. 1161 – 1185; republished as “Strategies of Madness – Nietzsche,
Wagner and Dostoevsky”, in: To Double Business Bound: Essays on Literature,
Mimesis, and Anthropology, Johns Hopkins 1978.
La Violence et la Sacr, Paris: Editions Bernard Grasset 1978 [Eng. trains. Pat-
rick Gregory ( Johns Hopkins 1977)]; Nietzsche just a few times mentioned;
however the index missed one mention (296) and one of Zarathustra.
Des choses caches depuis la fondation du monde (Paris: Grasset 1978; trans. Ste-
phen Bann & Michael Metteer as Things Hidden Since the Foundation of the World
(Matthew 13:35) (Stanford U. P. 1987); just mentions of Nietzsche, but more
of them, in this book.
René Girard, “Dionysus versus the Crucified”, in: Modern Language Notes,
Vol. 99 (ca. 1984, No. 4), pp. 816 – 835. Most important.
“Nietzsche and Contradiction”, in: Nietzsche in Italy, ed. Thomas Harrison,
Saratoga, California: Anima Libri 1988 (written sometime after the 1978
French publication of Colli/ Montinari, Nachlass of 1885 – 87; here Girard dis-
covers Nietzsche’s Nachlass adoration of Parsifal for its address to his deepest
Christian questions.
“The Founding Murder in the Philosophy of Nietzsche”, in: Violence and
Truth: On the Works of Ren Girard, ed. Paul Dumouchel, Stanford U. P.
1988, but originally in French of the volume in 1985 (Violence et verit, Grasset
& Fasquelle); in the essay Girard humorously portrays himself as, being unable
to find anything but his idée fixe, only by accident with his eyes closed opening
to the Madman’s report of God’s death in Nietzsche.
352 Michael Platt
“The Twofold Nietzschean Heritage”, in: I See Satan Fall Like Lightning
trans. James G. Williams, Orbis Books 2001, trans. of Je vois Satan tomber
comme l’clair, Paris: Grasset & Fasquelle 1999.
Several things from the above, including “Nietzsche versus the Crucified”,
but also out of the way things, reprinted in: The Girard Reader ed. James G.
Williams, Crossroad Herder 1996, along with an excellent interview at the
end and a short intellectual and spiritual biography at the beginning.
The best criticisms of Girard’s work I have found are: Pierre Manent, Con-
trepoint 14, 1974; Hans Urs v. Balthasar, Theodrama: IV, Ignatius Press,
pp. 296 – 310; and Lucien Scubla, “The Christianity of René Girard and the
Nature of Religion”, in: Violence and Truth: On the Works of Ren Girard
(cited above).
2 Girard pays so much scornful attention to various French intellectuals that a wag
could propound a theory of anti-imitative desire, about how some people are
animated to do what they do by resolving not to imitate others. “Whatever I
see someone else wanting, I want the opposite.” Come to think of it, this
wag could cite Nietzsche as an example, for so often his screaming “noes”
about anything precede his gentle “yeses”. Or are not followed by the
“yeses”. You have to infer those from the “noes”.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 353
Surely, contra Girard, we do have good evidence that there are pure
human desires, however various in their objects, however different their
intensity, and however few humans are influenced solely by their own
desires. And some human desires, for someone beautiful, for someone
who returns one’s love, for a mate, a fellow parent, and for children
– such desires so well represented in literature, especially Shakespeare
and in their greatest range and elevation in Plato’s Symposium – seem
rooted in nature, pretty constant and general, again however various
in quality. Would Girard have us believe that a boy’s desire for a girl
only arises because he saw an older boy desire one? I have heard of a
father who wished to shelter his boy and so when they first saw a
girl, the father told the boy “That’s a goose” but the boy merely replied
“I like that goose.”
In truth, Girard’s theory of imitative desire is only a theory of weak
desires, of desires that wouldn’t arise except the person notices someone
else desiring something, who would lose interest if the other does, and
hasn’t the strength to express this desire except through the other.3
There are such persons. Think of the wretched Teenagers, their anxious
alertness to what others think is “cool” but also all of us potentially, and
aren’t some speakers at congresses imitating speakers they once heard?
Perhaps Girard’s theory describes the souls prevalent in a weak era
such as our own, but such weakness is surely inseparable from our
very imitative human nature. As Aristotle might say, the child who imi-
tates no one must grow up a beast or a god.4
As to Nietzsche, it ought to have been remarked by Girard that after
Lou refused Nietzsche’s offer of marriage through Reé, Nietzsche re-
newed the proposal himself. On their long walk up Monte Sacro they
may have kissed – she once said she couldn’t remember (which in
woman means “yes”, as Werner Ross observes in The Most Anxious
3 Shakespeare has portrayed such weak desire in Claudio in Much Ado About
Nothing, who has the Prince woo Hero for him, and portrayed the struggle
to emulate and yet to be, in Hamlet; for more, see my “To Emulate or To
Be: Hamlet and Aeneas”, in: Law and Philosophy: The Practice of Theory [Essays
in Honor of George Anastaplo] ed. William Braithwaite, John Murley, & Rob-
ert Stone, Athens, Ohio: Ohio University/Swallow Press 1992, Vol. II.,
pp. 917 – 936.
4 In a 1992 interview excerpted in The Girard Reader, Crossroads 1996. Girard
asserts he does recognize a good form of imitative desire (pp. 62 – 65), but
not it seems to me sufficiently; for it does not lead to a re-thinking of the
whole theory from scratch.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 355
Eagle 5), but still she rejected the offer. So Nietzsche wasn’t always en-
tirely “imitative” or weak. And with rival Reé, Nietzsche didn’t strug-
gle at all. Nor, after it was all over, did Nietzsche struggle with Lou.
Suffer he undoubtedly did, but he put it behind him, as we see in his
calm respect for her in Ecce Homo.
Where Girard’s theory strikes some pay dirt is in Nietzsche’s rela-
tions with Wagner. Here we really do have signs of a never completed
struggle. A critic can combine a wide range of judgments of something;
to do justice to some rich complex thing, he will have to. Wagner is that
and was that for Nietzsche, but in all the things Nietzsche says of Wag-
ner and his music, there is extra intensity, both heated and cold. After
all, as Nietzsche confesses, meeting Wagner was an event in his life.
Early, he almost adored Wagner; later he nearly reviled him; yet in
both moods, we can detect something of the other. The needle between
the two never quite settles. And of the two postscripts and one epilogue
to Der Fall Wagner and then of the retrospective Nietzsche Contra Wag-
ner, that great psychologist, Hamlet’s mother, Gertrude, might well ex-
claim “The man doth epilogue too much.” And what rich pay dirt Gir-
ard’s similar observation struck when he discovered the passage in the
Nachlass in which Nietzsche positively adores the Prelude to Parsifal
and for its Christian answers to his abiding questions; the passage begins:
Vorspiel des P <arsifal>, grösste Wohlthat, die mire seit langem erwiesen
ist. Die Mach un Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts,
was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl
brächte. Ganz erhoben and erfriffen – kein Maler hat einen so unbeschrei-
blich schwermüthigen and zärtlichen B l i c k gemalt wie Wagner
die Grösse Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, aus der etwas wie Mitlei-
den quillt:
das Grösste Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und
Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, ein unbeschreiblicher
Ausdruck von Grösse i m Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen
dunklen, schwermüthigen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile
des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Lionardo nicht.
Prelude to Parsifal, the greatest gift I have received in a long time. The
power and the rigor of the feeling, indescribable, I do not know any-
thing that apprehends Christianity at such depth, and that generates
compassion so powerfully. I am completely transported and moved –
5 Werner Ross, Der angstliche Adler: Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart: Deutsche
Verlagsanstalt 1980.
356 Michael Platt
ner was dead for five years, we may conjecture that Nietzsche hoped
that upon reading Der Fall Wagner Cosima would get in touch with
him.7 Girard’s attachment to his theory, his indefatigable promotion
of it, seems to have blinded him to other things in Nietzsche. Thus,
even in Nietzsche’s writings on Wagner, Girard never hears how fine
the criticism is. To its music he is deaf. And he never listens to the argu-
ment. Nor does Girard attend to the wonderful range of Nietzsche’s
thoughts, his singular teachings, and his fine appreciations of all beautiful
and noble things. And Nietzsche’s remarkable self-knowledge, includ-
ing remarks on his contradictions, don’t register with Girard. There is
more in Nietzsche than Girard kens of.8
Surely the man who would understand Nietzsche would have to be
remarkable. Who could understand struggling Nietzsche? Perhaps the
man who told the story of Telemachus growing up alone with only sto-
ries of his father, till he joins him in setting Ithaka right, yes wouldn’t
Homer understand Nietzsche, who grew up without a father and
came to think he alone was called to redeem the history of humanity
alone. Or even more the man who wrote of Hamlet worshipping his
heroic father, struggling with his dread commands, and who while be-
coming the rough-hewn minister of those commands, nevertheless suc-
ceeded in becoming himself, yes wouldn’t it take Shakespeare to under-
stand Nietzsche’s spiritual struggle with Wagner; after all he understood
what moved Brutus to slay Caesar. In fairness to Girard, we must, how-
ever, observe that he might agree, that it would take a Homer or a
Shakespeare to understand Nietzsche, for Girard often stresses the wis-
dom in great literature, and not in the hollow and condescending way of
Freud.9
on nature and life that Nietzsche was always ready to accuse Christianity
of in what he published. But wait, in this entry Nietzsche writes of “the
problems that truly concern me” and he thinks of stronger Christian an-
swers to questions than he always had ready answers to. What were
those deeper questions he was truly concerned with? Were these ques-
tions not treated, let alone even asked, in what he published? Could
Nietzsche, then, be unsure of the truth of his critical curses upon Chris-
tianity? Were they just answers “that I always have ready at hand”?
What wonderful self-examination is in that phrase. (Reading it, we
might whisper “how true” of us, with our stock of points, stories, and
opinions, our tics and our idée fixes, which we too always have ready to
hand and to hand out. And would we be as willing as Nietzsche to ques-
tion them when we meet stronger souls. Nietzsche did publish some
“self-criticisms.” One wishes there were more like this one he left be-
hind in his notebook. It seems, then, that the vehemence of his publish-
ed curses must be a sign not of certainty, either calm or resolute, but an
attempt to crush an uncertainty ever tumultuous and now grown un-
bearable, and thus a sign of struggle not victory. What did Nietzsche
really think of Christianity and of Christ? Romano Guardini once ob-
served:
„Wenn N. vom Christentum spricht, dann kommt es wie ein Paroxysmus
über ihn und er, der in seiner Natur vornehme und zarte Mensch, verliert
jeden Masstab der Wahrheit, ja der Anständigkeit. Dass aber sein Angriff so
viel Richtiges sieht, macht da Unwaher darin um so heftiger. Ein Buch,
wie den ,Antichrist’ zu lesen, ist nicht nur quälend, sondern beschämend.
Dabei geht durch N’s ganzen Kampt gegen Christus und das Christliche
ein solcher Hauch der Nähe, dass man nicht anders kann als denken, er
wende sich gegen etwas, von dem sein innerstest Herz weiss, es ist gut. So
wie N. das Christliche hasst, kann man es nur mit schlechtem Gewissen
tun. Es wirkt wie eine Enthüllung, wenn er sein letztes Buch Ecce Homo
nennt und einen Brief aus der Wahnsinnszeit mit ,Der Gehreuzigte’ un-
terzeichnet.“
“When N. speaks about Christianity it is as if a paroxysm came over him.
Although he is in his nature noble and sensitive, he loses all measure of
truth and even decency. The untruth of his attack is all the more vehement
because he sees so much that is right. Reading a book like the Antichrist is
not only a torture, but an embarrassment. At the same time, such a breath
of closeness blows through all of N’s struggle against Christ and Christian-
ity that one cannot avoid the conclusion: he is turning against something
which—he knows in his innermost heart – is good. The manner in
which N. hates Christianity is only possible for one who hates it with a
bad conscience. One has the impression of a revelation when he calls his
360 Michael Platt
last book Ecce Homo and when he signs a letter written after he became in-
sane, ,The Crucified’.”11
Deeper still then, perhaps Nietzsche may wonder about the love Christ
offers him. And may even resent it terribly, as an offense, or worse, a
temptation. As Nietzsche so acutely observes in Menschliches, Allzunens-
chliches I, 603 (Human, All Too Human), men who very much want to be
honored, to be justly honored, do not like being loved, not loved as a
free gift, an affirmation that it is merely “good that you exist.” In Ecce
Homo Nietzsche wants to say something like that to his whole existence,
to achieve and to exhibit the virtue of amor fati. He wants to say it, not
hear it. That Christ is always saying to him, to every person, and to
every creature in Creation, “It is good that you exist,” Nietzsche shun-
ned. Indeed, Nietzsche wants more than amor fati; in Ecce Homo he hon-
ors himself as the greatest man who has ever lived. Such is the perfection
of this self-love that he wants no love from another. Mon moi est aim-
able.
Certainly Girard in bringing forward this Nachlass is right to think
that it points to Nietzsche’s struggle with Christianity (with it, not as in
the published works just against it) and to Nietzsche’s struggle with
Christ (with Him, not just against him).
Girard thinks that to uncover that struggle one must go to the fol-
lowing additional Nachlass, the famous No. 1052 of Wille-zur-Macht,
about:
Gegenbewegung: Religion
„Die zwei Typen:
D i o n y s o s und der G e k r e u z i g t e„
Festzuhalten: der typische r e l e g i ö s e Mensch – ob eine décadence-
Form?
Die grossen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und epilep-
tisch:
aber lassen wir nichet da einen Typus des religiösend Menschen aus,
den h e i d e n i s c h e n? Ist der heidenische Cult nicht eine Form der
Danksagung und Behahung des Lebens? Müsste nicht sein höchster Re-
präsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein?
11 The passage comes from the only chapter of a planned book on Nietzsche that
Romano Guardini wrote before his death, extant in the Guardini Archive at the
Catholic Academy in München; see below. (Trans. Prof. Dr. Dr. Dr. Michael
Waldstein, President, International Theological Institute, Gaming Austria).
Many thanks to Dr. Stephan Höpfinger and Prof. Dr. Hans Mercker for help
locating this mss.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 361
Perhaps only the word “innocent” in the Nachlass passage itself ( “Gek-
reuzigt als der Unschuldige”) but while acknowledging that Christ is in-
nocent, thus unjustly sacrificed, still Nietzsche sways not a whit from
siding with Dionysus against Christ. (In Der Antichrist No. 27 he says
Jesus was guilty, in depriving the Jews of the hope of becoming a nation
once again.) Apparently the good, as Nietzsche sees it in Dionysus, the
good of uniting a society, trumps the just. Thus, according to Nietzsche,
the innocent are to be sacrificed for the community, the sick for the spe-
cies, and the weak for the sake of the strong.
To prove that beneath the very evident attacks in the published
works, there lies a profound ambivalence to Christ, Girard generously
attributes to Nietzsche the insight that the truly important difference be-
tween the sacrifice of Dionysus and the “sacrifice” of Christ is that
Christ was innocent and that we are taught by that innocence always
to side with the innocent and against those violently sacrificing them
to draw our sword and cry “hold your hand,” much as the Second Serv-
ant in Shakespeare’s King Lear does (3. 7). The evidence that Nietzsche
saw this is, according to Girard, not only that he is too vehement in his
worship of Dionysus and too vehement in his vilification of Christianity
– as Gertrude might say “The man doth worship and vilify too much” –
but that when Nietzsche went mad, he began confusing himself not
only with Dionysus (and the Antichrist, Alexander and Caesar, and
once even Wagner, but not Socrates), signing missives as Dionysus,
but also signing missives “The Crucified One.” To the whole world,
those postcards surely confess an inner conflict always there. From
this collapsing of Dionysus and Christ together in the time of madness,
Girard infers that the true conflict in Nietzsche between Dionysus and
Christ was between, on the one hand, violent sacrifice as the core of
life, will-to-power affirmed in destruction and self-destruction, confi-
dent of eternal return, and of such destruction as the core of every
human community versus, on the other hand, the complete renunciation
of violent sacrifice (and even perhaps the renunciation of resistance to
it), the indignant admiration of justice, and the comforting protection
of all innocent victims.
That Girard has pointed to some evidence, important evidence, for
this profound conflict in Nietzsche about Christianity, must be granted I
think. And this would be strengthened importantly by pointing to the
profound distinction Nietzsche makes in Der Antichrist between Christ,
on the one hand, with his wonderful, entirely un-resentiment-al disposi-
tion to death and, on the other hand, the Christianity of the uncompre-
364 Michael Platt
15 For Luther’s declaration, Est enim diligere seipsum odisse, see: Anders Nygren,
Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christichen Liebe Two Vols, Gütersloh
1930, 1937, II, p. 533. See also the Fourth of his Ninety-Four Theses. For a
sagacious exposition of the issue, read Josef Pieper, About Love (Chicago: Fran-
ciscan Herald 1974), especially Chapter V (orig. ber die Liebe [München: Kösel
1972]).
“René Girard and Nietzsche Struggling” 365
ation, keeping the Old Testament in the cannon, opposed them.) 16 Per-
haps Nietzsche explored this path, but I know of no evidence he did.17
As to Girard’s additional contention that it is this deep conflict in
Nietzsche, between the claims of Dionysus, as he had championed
them all his intellectual life, beginning with Die Geburt der Tragçdie,
and the claims of Christ, which he grew up with (living exclusively
with female Protestants, all the relatives of Protestant pastors, going to
a Protestant school, etc.),18 and then this deep conflict mixed with Wag-
ner and his music with its Christian themes, such a conflict always at
work in Nietzsche, and issuing finally in his frenzied decline into mad-
ness – I would say that Girard’s account is certainly superior to one of
the prevailing accounts, that the works, especially the works of the last
16 And if Nietzsche had studied in the direction of his suspicion, voiced in the
Nachlass on Parsifal, that his criticisms of Christianity were of Protestant Chris-
tianity, perhaps he might have discovered how mistaken even his quotation of
Thomas at the end of Zur Genealogie der Moral I (15) is, the Supplement to the
Summa Theologiae III not by Thomas, but by his follower Reginald; to be sure it
is in accord with Thomas elsewhere but the point made (Suppl. III 94, aa. 1 – 3)
is not Nietzsche’s or Tertullian’s; the blessed don’t rejoice in the sufferings of
the damned, they feel grateful not to suffer them. Nietzsche gives fine advice
about reading and has some wonderful descriptions of what he desiderates in
a reader, in one of which he says he prefers the reader who would rather
guess than know. (Ecce Homo 3 (quotes Zarathustra III “Vision and Riddle”
2). But as to who wrote or did not write something, to leave it at conjecture
and not try to find out the truth, is not the probity of a philologist, the practice
of a good reader, or the way of a philosopher.
17 Thomas Brobjer’s detailed “Nietzsche’s Changing Relation to Christianity” in
the collection, Nietzsche and the Gods, stops before 1883.
18 Did Nietzsche ever know a living Catholic? Perhaps only Heinrich Romundt,
his fellow student who became Catholic. And what of Catholic teachers? There
are brief confrontations with Augustine, Thomas Aquinas, and Thomas à Kem-
pis, but none with any of the Church fathers or his contemporary, Newman.
Nietzsche said one loves Pascal, but he loved him mostly as an example of
the sacrifice of a great intellect, which is hardly to confront Pascal’s arguments.
Despite the high and elating standards Nietzsche sets for his readers, he seems
seldom to practice them when reading others, sharp and wonderful as are
some of his insights are, as when adds, to Aristotle’s remark that the man
who lives outside the city (polis) must be either a beast or a god – the penetrat-
ing truth “or a philosopher” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 3).
Nietzsche praised slow reading, but who did he read slowly? Emerson surely.
Pascal and maybe Montaigne. Nothing in Italian or Spanish. Lots in Latin
and Greek, especially Plato, Aristotle, the tragedians and Homer. So one pre-
sumes, for he studied and taught them. And who in German? Schopenhauer?
Heine? And maybe for a time Wagner?
366 Michael Platt
lucid year have nothing to do with the madness that followed so swift-
ly,19 because the madness has an exclusively material cause, perhaps
syphilis. (Why do those who assert a material cause never ask to have
Nietzsche’s body exhumed for modern analysis? 20) There are just too
many signs in the excited later works that point to the euphoric madness
soon after, to deny some connection.21
Some connection, but is it the connection Girard claims? It seems to
me that a far more detailed examination of the later books and the writ-
ings left in Nachlass would be needed to sustain Girard’s view. Girard
19 A view I once held: “Behold Nietzsche”, in: Nietzsche Studien, Band XXII,
Berlin and New York: Walter de Gruyter 1993, pp. 42 – 79. Reprinted with
additions in: Nietzsche: Critical Assessments, ed. Daniel W. Conway, with
Peter S. Groff Vol. III: On Morality and the Order of Rank, London & New
York: Routledge 1998, pp. 218 – 255.
20 A physician I know is of the opinion that, depending on the state of the body,
over a century now since it became a corpse, something might be learned. Of
course, any traces of poisons in the corpse would have to be examined with the
following questions in mind: does this trace come from whatever Nietzsche was
given to eat or drink during his madness over his last decade and does this trace
come from one of the nostrums he gave himself, many of which, for sale over
the counter in the 19th century or available to Dr. Nietzsche with his doctor’s
hard-to-read handwriting, contained poisons. In a recent diagnosis something
other than syphilis as the most likely cause of Nietzsche’s illness and death:
M. Orth1 and M. R. Trimble , “Friedrich Nietzsche’s mental illness – general
paralysis of the insane vs. frontotemporal dementia”, in: Acta Psychiatrica Scan-
dinavica, Volume 114, Issue 6, p. 439 – December 2006. I have not been able to
secure the book said to be the best, on the matter: Pia Daniela Volz, Nietzsche
im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würz-
burg 1990 (Diss. med. Tübingen 1988); more recent and laudibly stuptical is
Richard Strain’s The Legend of Nietzsche’s Syphilis (Greenwood: Westport,
Connecticut 2001).
21 Judicious on the question of Nietzsche’s madness is Daniel Breazeale’s “Ecce
Psycho: Remarks on the Case of Nietzsche”, in: International Studies in Philos-
ophy XXIII/2, pp. 19 – 33. For the view that Nietzsche was insane throughout
his writing life see Max Nordau, Degeneration (trans.: Univ. of Nebraska, 1968).
He is certainly right, if unappreciative of other things, to speak of Nietzsche
having a mania for contradiction, but there may be teacherly method in this
“madness”. Although Nietzsche said his way was “A yes, a no, a straight
line, and a goal” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 44), the way
he makes the reader go is more often a no, no, no, that points, in a crooked
line, to a goal. Consider for example the many passages where Nietzsche attacks
something as anti-nature, from which you must gather what he thinks nature is,
and how few passages there are that start with nature. In truth, I can’t think of
any.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 367
would find his case, if not strengthened, at least made more persuasive to
those who fear losing the fine things in these later books, by seeing them
dismissed as madness, if Girard would concede that there are fine and
even important things in these books. But numerous scornful asides
about his fellow French Nietzscheans suggest that Girard thinks they,
his prime audience, aren’t much interested in these fine things in
Nietzsche, anyway. In writing one should beware of letting those one
vilifies, however justly, distract one from addressing a fitter audience
though few.
that Nietzsche was not a Jew hater;24 that Nietzsche vehemently de-
nounced Jew-haters, such as the one his sister married; and that
Nietzsche wrote one of the most exalted appreciations of a European
Jew ever penned (Morgenrçthe 205). Conceding these things would com-
plicate Girard’s view of Nietzsche, but it would make his accusation
more convincing. In addition it must be acknowledged that Nietzsche
was also no socialist, but an aristocrat ( “radical aristocrat” in Brandes
felicitous phrase, which Nietzsche adopted); and finally, that Nietzsche
was no nationalist, criticizing Bismarck’s strutting Imperial Germany,
lauding the civilization of the defeated French, and looking to a Europe
of good Europeans. So, surely Girard must concede that the Nazis were
three things Nietzsche opposed vehemently: nationalists, socialists, and
Jew-haters.
Still, the passages Girard cites do justify the murder of the innocent
and not reluctantly, nay almost stridently, called future Surpassing Men
to take joy in cruelty. Nietzsche certainly criticized pity, sometimes just-
ly, at least once with discriminating insight, when he names indignation
at another’s suffering as the strong brother of pity (Morgenrçthe 78), but
usually so comprehensively and so vehemently critical of pity as to lose
all intellectual virtue, even forsake his own thought; after all, why ad-
mire the protagonist in a tragedy, or Nietzsche’s own virtue in living
his hard and solitary life, except that we feel the suffering he overcomes,
in short feel pity for him.25 In a thinker whose nobility will always de-
serve admiration, such lack of discrimination, of justice, of humanity, is
a grave error of soul, and since Nietzsche published some of these
thoughts, he bears a grave responsibility for those whose deeds were in-
fluenced by them, and even for the deeds of those who found excuse or
justification for such deeds as they were going to do anyway. Here,
then, lies the strength of Girard’s case. (It would be juster if Girard dis-
tinguished the thoughts Nietzsche published and those he merely wrote
down, which others published, and he might have either destroyed, or
at least never published.)
24 The term “anti-Semite” is too pale for the hatred it covers, also inaccurate since
Jews are not the only Semites. I understand the term was coined by one Wil-
helm Mahr to give the old hatred a modern and scientific appeal.
25 See Erich Mende, Nietzsche und sein Gegensatz, Cuxhaven: Traude Junghans
1997, for a sharp observation of the contradictions in Nietzsche’s thinking
and especially the contradiction between the hardness he lauded and the pity
all his complaints, requests for wursts, hams, and Zweiback, and descriptions
of his sufferings appealed for, whether he would admit it or not.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 369
Girard continues with this claim “Since the Second World War a
whole new intellectual wave has emerged, hostile to Nazism but
more nihilist than ever, more than ever a tributary of Nietzsche. It
has accumulated mountains of clever but false arguments to acquit its fa-
vorite thinker of any responsibility in the National Socialist catastrophe
[…]” Girard goes on to hold Heidegger’s dismissal of the texts in
Nietzsche which curse Christianity and its pity for the weak innocent
of the world as authorizing lesser minds in France and elsewhere to ig-
nore Nietzsche’s partial responsibility for the Holocaust. I do not know
if anyone has replied to Girard. That Girard sometimes shouts his accu-
sations suggests no one has answered him.
Girard, however, also maintains that: “Nietzsche is the author of the
only texts capable of clarifying the Nazi horror. If there is a spiritual es-
sence of the movement, Nietzsche is the one who expresses it.”26 Final-
ly, Girard observes that the deep hostility of Nazism, of Heidegger,
with his wish for some other “god” to save us (from God), and the
Nietzscheans in Heidegger’s wake, dominant in the Universities of
the West, for whom Christians have replaced Jews as scapegoats, is evi-
denced in their neglect of the religious struggle in Nietzsche.27 It must
be welcome then to René Girard that the Nietzsche Gesellschaft held a
workshop on this important topic in September of 2006. And it would
be well if Girard had been able to attend.28
truth treasured for life, as I treasure Frolicsome Science No. 295 or 329; for
Nietzsche was right to suggest he could say in ten sentences what every-
one else says in a book – what everyone else does not say in a book.”
Gçtzen-Dmmerung (Streifzüge 51) and to recommend only dipping
into his thinking, taking a stroll to the next bench, on the forest way
or beside the stream, before reading another of his thoughts (Morgenrçthe
454). Of such beautiful provocations to thought, Girard takes, so far as I
know, no notice at all, though perhaps he assumes their worth.
What needs to be most remarked among the things in Nietzsche of
which Girard takes no notice, is Also Sprach Zarathustra. In Ecce Homo,
the most authoritative guide there will ever be to reading him,
Nietzsche calls his lyrical epic the greatest gift so far given to mankind.
He didn’t say that about the works Girard focuses on, the Wagner
books, the Geburt der Tragçdie, and Der Antichrist, still less any Nachlass,
interesting and even as important as they are. Zarathustra does not com-
mand Girard’s attention. After all, Zarathustra does not propose mar-
riage to the women, Life and Eternity, through another person who
turns out to be a rival wooer and then wins the woman for himself;
after all, Zarathustra does not begin by worshipping an older hero
and then struggle to overcome him. And above all, Zarathustra does
not bring intoxicating havoc to a city or community who then collec-
tively murder him. Nevertheless, precisely because of these features of
Zarathustra are so different from the rest of Nietzsche, or from the
part of Nietzsche Girard pays attention to, Girard should have paid at-
tention to the work. Wagner, Dionysus, Christ, these are great figures in
Nietzsche and for him, but so is Zarathustra. And Zarathustra differs
from the last two by not mixing or connecting violence and the sacred.
This was deliberate and knowing on Nietzsche’s part. The opening of
Zarathustra shows that had Zarathustra remained in the City of the Mot-
ley Cow, he would have been lynched. Only the spectacle of the Seil-
tänzer (Rope Dancer) falling to his death distracts the crowd. For giving
his speech on the Übermensch (Surpassing Man), once they understood
it, the crowd would have persecuted Zarathustra, at least exiled him.
And still more would they have persecuted him, unto death, for any
speech on the “Death of God” which Zarathustra does not whisper
even to the Old Hermit he meets on the way down from his mountain
solitude. In the whole of the poem Zarathustra never returns to the City
of the Motley Cow and even remarks that Christ died too young.
Moreover, although some Nachlass show that Nietzsche considered end-
372 Michael Platt
ing Zarathustra with his death,30 he chose against that. And none of the
rejected scenes Nietzsche considered would have portrayed Zarathus-
tra’s death as a murder, either individual or collective, by the Higher
Men. Whatever religion Zarathustra is introducing the Higher Men
to does not originate in sacred violence. Instead, what we do have is
Zarathustra’s preparation for death, not only in what he recommends
as a free death loyal to the earth, but in the high point, at the end of
Zarathustra III, when Zarathustra declares his love of eternity, which
is, ipso facto, a preparation for death.31 In such a preparation, Zarathus-
tra is “blessing not clinging to life” as Nietzsche said one should, and
Odysseus did Nausikaa. And Part IV of Zarathustra shows the benefi-
cence of Zarathustra, toward the various Higher Men, who may later
reflect that beneficence upon others. From early on in his thinking
and writing life, Nietzsche was concerned with, drenched with the
blood of, the Bachee, with its story of how the intoxicating Dionysus de-
stroys a community and himself, but joyously. It, and not the Oedipus
dearest to Aristotle, and not the Antigone dearest to Hegel, is Nietzsche’s
paradigm of tragedy. And the Bachee is a pattern for the last six books
Nietzsche wrote in his last lucid year, with its furious curse on Christi-
anity and the author’s subsequent destruction in madness. Zarathustra,
however, is the opposite. It is a refraining from such violent sacredness.
It is revealing that Dionysus is never mentioned in Zarathustra. Girard
should confront the contradiction, Dionysus versus Zarathustra, and
what it means for Nietzsche, for his thought and for his life.
There is another feature of Nietzsche’s thought that Girard does not
“receive”. Socrates. Nietzsche’s struggle with Socrates was life-long. In
the beginning of Nietzsche’s writing life, Socrates is there in Die Geburt
der Tragçdie, as the rationalist enervator of the tragic Greeks. And Soc-
rates is there at the end of Nietzsche’s waking life. In deed, the twelve
numbered remarks on “Das Problem des Sokrates” and the surrounding
remarks on Plato in Gçtzen-Dmmerung constitute the longest confron-
tation with Socrates in Nietzsche’s work. They lead to the conclusion,
though a silent one, that Socrates committed judicial suicide. “Not Ath-
ens, but he himself chose the hemlock,” writes Nietzsche (Gçtzen-Dm-
merung, II, 12). To be sure, Nietzsche is also saying that Socrates was
30 For example, KSA Nachlass Sommer 1883 10[45]; 11[2] and 13[2].
31 For more, see Michael Platt, “What Does Zarathustra Whisper in Life’s Ear?”,
in: Nietzsche Studien, Band XVII, Berlin and New York: Walter de Gruyter
1988, pp. 179 – 194.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 373
guilty, of seducing the vital and instinctual Greeks to the agon of reason-
ing (dialectics), and that he knew he was guilty, certainly guilty of not
loving life ( “a cock for Asclepius”), but still Nietzsche’s admiration for
the equanimity of Socrates before death comes through as well. It is
hard to understand why this scene of judicial murder by the community
does not attract Girard’s attention. Nietzsche attended to it, but Girard
does not.
Girard’s inattention to Socrates in Nietzsche’s work fits with his
shunning of Socrates in his own work; so far in what I’ve read, in
the works translated into English, I have found only one mention of
Socrates’ death, a passing, almost perfunctory one.32 According to Gir-
ard it is the Gospel story of Christ’s death that taught our Western an-
cestors to side with the innocent victim, not the society regaining its
confidence by scapegoating the innocent. But surely the death of Soc-
rates taught the same, and even to the Athenians, who are reported to
have regretted their vote to hemlock Socrates, and surely most readers
of Plato’s account since have hated the injustice of it and thrilled to
the virtue of Socrates,33 even Nietzsche however ambivalently. As
later instances of the pattern and teaching of Christ, Girard does men-
tion Joan of Arc, the Jewish doctor of Elizabeth I, and Dreyfus, but not
Socrates before Christ.
And Nietzsche’s account of Socrates facing death in Gçtzen-Dm-
merung should remind us of the similar confrontation with death of
Jesus in Der Antichrist, written at virtually the same time, in which Christ
is lauded in his death, and whatever resentiment surrounds or issues
from the Cross is said to have arisen immediately from the failure of
the disciples to understand the nobility of that humiliating death (and
later Paul’s willful further traducement of it). Again, this is something
that Girard slights, and despite the fact that it is an even more important
“contradiction” in Nietzsche’s thoughts than his love and hate of Parsi-
fal. Here in Der Antichrist in its portrait of Christ, there is not only no
Wille-zur-Macht, but neither the low resentiment, slavish morality
and pity Nietzsche abhorred, nor the justification of collective sacrificial
violence Nietzsche lauded in published passages and described in that
Nachlass (which got published as No. 1052 in Wille-zur-Macht),
which Girard has emphasized. Not that Girard should not have empha-
sized this passage, but that having done so, he should have taken note of
Einleitung
1 Jean-Claude Wolf und Simone Zurbuchen bin ich sehr dankbar für ihre
Kommentare und ihre sprachlichen Korrekturen.
2 Vgl. Michel Onfray, Trait d’Athologie. Physique de la mtaphysique (= TA),
(2005), Paris: LGF 2006, S. 76 – 86.
3 Vgl. TA, S. 76: „L’époque dans laquelle nous vivons n’est donc pas athée. Elle
ne paraît pas encore post-chrétienne non plus, ou si peu. En revanche, elle
demeure chrétienne, et beaucoup plus qu’il n’y paraît.“
378 Isabelle Wienand
I
Nietzsches Allgegenwärtigkeit in Onfrays Denken ist ein Faktum. Es
gibt kaum ein Werk Onfrays, in dem Nietzsche nicht zitiert oder
paraphrasiert wird.6 Die semantische Vieldeutigkeit der Sprache wird
jedoch weder erwähnt noch eruiert. Im ersten Band seines Journal
hdoniste, Le Dsir d’Þtre un volcan beschreibt Onfray Nietzsches apho-
ristische Schreibweise als Inbegriff des freien Geistes, wenn er feststellt:
„ Apophtegmes, aphorismes, poèmes, dithyrambes, dissertations, fusées,
libelles, pamphlets, Nietzsche a tout utilisé pour désinfecter la forme
classique.“ (S.12) Er nimmt auch Nietzsches genealogische Methode
wieder auf. In seinem a-theologischen Essay benutzt er sie zur Aufde-
ckung der „épistémè judéo-chrétienne“ (TA S.76; S. 94 – 98), indem er
behauptet, Nietzsches Atheismus liege dem Projekt der Atheologie
zugrunde.7 Auch wenn diese lexikalischen, stilistischen, methodologi-
schen und thematischen Verwandtschaften zwischen Jünger und
Mentor eindeutig verbürgen, daß Onfray kein Thomist oder Kantianer
ist, bestehen doch grundsätzliche Zweifel, ob er nicht in vielen Hin-
sichten nur in einem chronologischen Sinne „Post-Nietzscheaner“ ist.
(Vgl. TA, S.66) Ich möchte die in der Einleitung vier erwähnten
Merkmale der Familienzugehörigkeit zwischen Onfray und Nietzsche
kritisch prüfen.
1) Nietzsches Sprachgebrauch
donc la coupable négligence du seul monde qui soit“ (TA, S. 23) be-
deute.
2) Nietzsches Stil
3) Nietzsches Gotteskritik
Die Wege, die Nietzsche beschreitet, um das Thema vom Tod Gottes
darzustellen, sind vieldeutiger als bei anderen Religionskritikern des 19.
Jahrhunderts, wie zum Beispiel bei Ludwig Feuerbach. Die große Zahl
von philosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen
Untersuchungen zum Thema, die über mehr als ein Jahrhundert er-
schienen sind, bestätigt, daß der Tod Gottes bei Nietzsche nicht einfach
einer Evidenz oder einem vergangenen Ereignis gleichkommt.16 Zwar
stimmt Nietzsche mit den Philosophen der Aufklärung und den Link-
hegelianern überein, daß „die Menschen Gott geschaffen haben“; er
hinterfragt jedoch die Vorstellung der Aufklärer, daß der gottlose
Mensch freier, toleranter, rationaler und menschenfreundlicher sei.17
Denn zum einen heiße gottlos sein auf die mit dem Tod Gottes hinfällig
gewordenen höchsten Werte zu verzichten. Daß „wir noch an die
Grammatik glauben“18 zeigt, daß eine noch so gründliche Verneinung
der platonisch-christlichen Metaphysik „immer noch ein metaphysischer
Glaube ist“ (FW 344, KSA 3, S. 577). Zum anderen ist der Tod Gottes
mehr ein Verlust als ein Gewinn, wenn man seine eigenen Gottesvor-
stellungen bzw. Lebensbedingungen nicht geprüft und ihnen entsagt
hat.19 Gott loszuwerden ist ohne Selbstprüfung und Selbstüberwindung
undenkbar und unrealisierbar. Seien es die Szene mit dem tollen
Menschen (FW 125, KSA 3, S. 480 – 482) oder die Figuren der höheren
Menschen im Zarathustra, sie alle zeigen, daß die Bedeutung vom Tod
Gottes nur oberflächlich erkannt wird, letztlich aber un- oder miß-
verstanden bleibt. Die „Gottlosen“ in Die frçhliche Wissenschaft (125)
kümmern sich zwar nicht mehr um Gott, richten ihr Leben aber den-
4) Nietzsches Atheismus
Onfray vermittelt den Eindruck, es habe kaum einen Denker vor ihm
gegeben, der Nietzsches Gedanken zum Atheismus interpretiert hätte.
Abgesehen von einem nicht weiter erläuterten Zitat von Deleuze
(„l’athéisme tranquille“, TA, S. 90), hält es Onfray für unnötig, seine
Interpretation von Nietzsches Atheismusverständnis im Vergleich z. B.
zu derjenigen von Bataille oder Camus zu unterscheiden bzw. recht-
fertigen. Auf die Forschung zu Nietzsches Atheismus geht er nicht ein.23
Keine Primärtexte werden angeführt, um dem Leser zu erklären, in-
wiefern die Atheologie eine Weiterentwicklung des Atheismus von
Nietzsche ist. Statt einer Darstellung von Nietzsches Atheismus offeriert
uns Onfray ein inspiriertes Selbstbekenntnis: „Etre nietzschéen, c’est
proposer d’autres hypothèses, nouvelles, post-nietzschéennes, mais en
intégrant son combat sur les cimes. Les formes du nihilisme contem-
porain appellent plus que jamais une transvaluation qui dépasse enfin les
solutions et les hypothèses religieuses ou laïques issues des monothéis-
mes. Zarathoustra doit reprendre du service: l’athéisme seul rend pos-
sible la sortie du nihilisme.“ (TA, S. 66)
Onfrays kuriose Lektüre von Nietzsches Denken läßt sich im Falle
seines Atheismusverständnisses besonders gut erklären. Denn weder die
Argumente für und gegen den Atheismus, die Nietzsche diskutiert (vgl.
GM III 27, KSA 5, S. 409), noch die Bedeutung des Atheismus in-
nerhalb seines philosophischen Systems24 scheinen für Onfray von Be-
lang zu sein. Daß Onfray keine Rücksicht weder auf die anti-hedo-
nistische Einstellung von Nietzsches Atheismus,25 noch auf den grö-
II
Daß Onfray sich nicht an die Regel der philologischen und philoso-
phischen Genauigkeit hält, charakterisiert seine leidenschaftliche Inter-
pretation. Man muß zu seinen Gunsten jedoch einräumen, daß auch der
Philologe Nietzsche diese Regel nicht immer einhält. Zum Beispiel
gleichen seine vehementen Urteile über Mill26 mehr einem parteiischen
und spöttischen Porträt als einer geduldigen und ausführlichen Aus-
einandersetzung mit Mills Texten und Argumentation. Besonders vi-
rulent, polemisch und plakativ wirkt Der Antichrist. Fluch auf das
Christentum auf den heutigen Leser. Damit wird nicht behauptet, daß die
Philosophie Nietzsches nur die effektvolle Wirkung, die Provokation
und die geistreiche Originalität anstreben würde, sondern es wird daran
erinnert, daß das literarische Genre der Streitschrift ein Bestandteil
seiner Schaffensproduktion ist. Von der Rhetorik her klingt Onfrays
Trait d’Athologie wie ein Echo des Pamphlets Der Antichrist. Onfray ist
jedoch entgangen, daß Der Antichrist vor allem lauter Interpretations-
fragen aufstellt: Warum wird auf die biblische Figur des Antichristen in
diesem Fluch auf das Christentum angedeutet? Welches Christentum wird
in dieser Schrift bloßgelegt (vgl. AC, 32 – 46, KSA 6)? Sind Antichrist
und Atheist gleichbedeutend (vgl. AC 47, KSA 6, S. 225)? Diese Un-
terscheidungen fehlen in Onfrays Diatribe. Was von seiner Lektüre
Nietzsches übrig bleibt, ist ein pauschaler und in dieser Pauschalität
leerer Angriff auf „das religiöse Wesen“. Ein Grund für Onfrays
Scheitern besteht darin, daß er die Zielscheibe seiner Kritik nicht klar
identifiziert. Daher wirkt seine polemische Empörung unbegründet,
wie zum Beispiel seine Behauptung, das Erbe der Atheisten sei nur
aufgrund der Dominanz der christlichen Ideologie in Vergessenheit
geraten. (TA, S. 60 – 62) Es ist erstens zu bezweifeln, ob heutzutage
Autoren wie der Abbé Meslier, La Mettrie, d’Holbach oder Feuerbach
weniger als andere Denker herausgegeben und studiert werden.27
Zweitens trägt Onfrays vereinfachte Darstellung des Atheismus gerade
nicht dazu bei, La Mettrie oder d’Holbach lesen zu wollen.28 Drittens
wird es wohl auch andere Gründe (wissenschaftliche, finanzielle) als
allein das christliche Monopol geben, warum es angeblich keine His-
toriographie des Atheismus gibt (TA, S. 52 – 54). Auch in diesem Punkt
versteigt sich Onfray zu angreifbaren Behauptungen.29
27 Vgl. TA, S. 63: „Malgré cet immense chantier philosophique, Feuerbach de-
meure un grand oublié de l’histoire de la philosophie dominante.“ Diese Be-
hauptung ist mehr der Ausdruck von Onfray Verschwörungstheorie als ein
sachdienlicher Bericht über den Inhalt des Philosophieprogramms an den
französischen Gymnasien, über die internationale Feuerbach-Forschung und
die Neuedition von Feuerbachs Werken, die Berliner Akademie der Wissen-
schaften herausgibt.
28 Vgl. Michaël Fœssel, „L’athéisme dérisoire de Michel Onfray“ in: Esprit 314
(2005), S. 75 – 86.
29 Vgl. Michael J. Buckley, At the Origins of Modern Atheism, New Haven: Yale
University Press 1987; Hermann Ley, Geschichte der Aufklrung und des Atheis-
mus, 9 Bde, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966 – 1989; Georges
Minois, Histoire de l’athisme. Les incroyants dans le monde occidental des origines
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 387
Schluß
Der deutsche Titel von Onfrays Abhandlung lautet: Wir brauchen keinen
Gott. – Warum man jetzt Atheist sein muß. 30 Die deutsche Übersetzung
entspricht dem Inhalt des Buches besser als der Originaltitel. Statt eine
theoretische Grundlegung des Atheismus und eine begründete Dar-
stellung seines „post-modernen Atheismus“ zu liefern, führt Onfray
einen persönlichen Kreuzzug gegen die Allgegenwärtigkeit Gottes und
präsentiert ein kurzatmiges Plädoyer für eine hedonistische Lebensphi-
losophie. Sein Ziel, den nihilistisch gesinnten Monotheisten zu einem
lebensbejahenden Atheismus zu bekehren, erreicht er mit seinem Buch
Trait d’Athologie nicht. Ein Grund dafür ist, daß Onfray auf die ei-
gentliche Bedeutung der Rückkehr zum Wirklichen („regarder le réel
en face“), zu „der Erde“ nie in seinem Essay näher eingeht (TA, S. 23).
Daß der Übergang zum Post-Atheismus unklar ist, liegt wohl daran, daß
Onfray auf keine Überwindung, sondern auf eine dogmatische Ver-
nichtung der „Hinterwelten“ zielt. Daher hängt seine neue Moral, die
er am Anfang seines Buches vorstellt, in der Luft. Und seine Lektüre
Nietzsches schwebt über den Wolken.
nos jours, Paris: Fayard 1998; Winfried Schröder, Ursprnge des Atheismus. Un-
tersuchungen zur Metaphysikkritik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts,
Stuttgart: Frommann-Holzboog 1998.
30 Aus dem Französischen von Bertold Galli, München: Piper 2006.
C. Interpretationen
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence
Catherine Malabou
2 Ibid., p. 59.
3 Ibid., p. 78.
4 Jacques Derrida, Otobiographies, l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom
propre, Paris: Galilée 1984.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 393
8 Ainsi parlait Zarathoustra, tr. fr. Maurice de Gandillac, Paris: Gallimard 1971,
p. 197.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 395
9 Le gai Savoir, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1957, p. 330.
10 Diffrence et rptition, op. cit., pp. 280 – 281.
396 Catherine Malabou
11 Cf. Heidegger, Nietzsche, I, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1971, p.
340.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 397
20 Ibid., p. 381.
21 Nietzsche et la philosophie, op. cit., p. 79.
22 Ainsi parlait Zarathoustra, op. cit., p. 198.
400 Catherine Malabou
de la vie avec son nom, en son nom. Le seul peut-être à y avoir mis en jeu
son nom – ses noms – et ses biographies.»25
Or c’est là ce qui sépare à jamais Nietzsche de Hegel, ce dernier
n’ayant jamais parlé en son nom, ayant toujours pensé au contraire
l’effacement du nom propre dans la logique du savoir absolu. En outre,
la dualité des anneaux dans l’éternel retour – anneau éternel et anneau
fini – ne se contredit jamais chez Nietzsche. Là encore, elle ne donne
lieu à aucun processus dialectique. «L’ombre de toute négativité a
disparu».26 Midi est «délivré du négatif et de la dialectique».27
La production de spectre a lieu ici précisément au point de
rencontre des deux anneaux, au point, à l’instant, à la date de
l’anniversaire. Au moment où Nietzsche signe en son nom le récit de sa
vie, il n’est déjà plus vivant, mais survivant, il est devenu son nom
même, un mort-vivant. Un fantôme. Il y a donc toujours «une
différance de l’autobiographie».28 Le nom, écrit Derrida «est toujours et
a priori un nom de mort. Ce qui revient au nom ne revient jamais à du
vivant, rien ne revient à du vivant.»29 Derrida met ces analyses en
rapport avec ces deux passages d’Ecce homo dans lesquels Nietzsche dit «je
suis, en tant que mon père, déjà mort [als mein Vater bereits gestorben], en
tant que ma mère, je vis encore et je vieillis [als meine Mutter lebe ich noch
und werde alt]»30 et «pour pouvoir comprendre la moindre chose à mon
Zarathoustra, on doit peut-être se trouver dans une condition voisine de
celle où je suis – avec un pied au-del de la vie.»31 Cet au-delà n’est pas là
non plus une solution dialectique, il est bien «par delà l’opposition de la
vie et de la mort», il marque leur entre-deux, la diffrence entre les deux. Le
sujet n’est pas, comme chez Hegel, absolument présent à lui-même.
Le fait que le sujet de l’autobiographie ne coïncide jamais avec lui-
même, soit toujours différent de lui-même: une part de lui vivante, une
part de lui morte, montre que l’éternel retour est là encore un principe
de sélection. Affirmer que rien ne revient du vivant, c’est affirmer encore
une fois que tout ne revient pas dans l’éternel retour. Non plus au sens,
dégagé par Deleuze, où certaines choses reviennent et pas d’autres:
l’affirmation et pas la négation par exemple. Mais au sens du datif: non
25 Ibid., p. 43.
26 Ibid., p. 54.
27 Ibid., p. 65.
28 Ibid., p. 73.
29 Ibid., p. 44.
30 Ibid., p. 62.
31 Ibid., p. 69.
402 Catherine Malabou
pas ce qui revient mais celui qui cela revient, le destinataire de ce qui
revient, comme s’il y avait un tri, en lui, entre le vivant et le mort. Entre
son nom, le nom du mort, le nom du père, qui conserve, assure les
généalogies, et le vivant, la mère, la création, l’affirmation. La différance
autobiographique fait passer dans l’éternité la fracture de la hantise de la
finitude, de la vie et de la mort.
Nous l’avons vu, chez Deleuze, le fantôme correspond à cet être
moindre de la faiblesse, chassé par la roue de l’éternel retour. Chez
Derrida au contraire, le fantôme ne se trouve pas dans l’être des choses,
ou des forces, mais dans la subjectivité du penseur, dans le «je» de celui
qui pense l’éternel retour. Ce «je» se trouve partagé entre la vie et la
mort, écartelé par la roue là encore, entre infinité et finitude.
Les deux positions sont donc très distinctes, voire parfois opposées et
pourtant je me suis permis ici de les unir au lieu d’un même constat.
Toutes deux se rencontrent en effet au lieu d’une commune affirma-
tion: chez Nietzsche, seule la différence revient. Or de la même manière
que l’on ne trouve pas chez ce penseur de problématique de
l’autodestruction des faibles ou de la roue centrifuge, on ne voit pas
non plus chez lui me semble-t-il l’évidence d’une mortification de la vie
au nom d’une logique de l’autobiographie. Nietzsche aurait-il pu signer
cette phrase: «rien de vivant ne revient à du vivant»? De quel droit lire la
doctrine de l’éternel retour comme une thanatographie?
Il m’apparaît, encore une fois, que ces lectures ne respectent pas tout
à fait peut-être l’énigme de l’éternel retour dans la mesure où elles
voient en lui un principe de coupure, une instance critique qui n’y est
sans doute pas.
Dans le premier volume de son Nietzsche, Heidegger déclare:
«la pensée de l’éternel reour du Même n’existe qu’en tant que cette pensée
qui réduit le nihilisme. La réduction doit nous faire passer de l’autre côté
d’un abîme étroit en apparence; car cet abîme sépare ce qui, d’un côté
comme de l’autre, se ressemble au point de paraître le même. D’un côté il
est dit: toutes choses ne sont rien, toutes sont indifférentes, toutes se valent,
en sorte que rien n’en vaille la peine: tout revient au mÞme [alles ist gleich]. De
l’autre côté il est dit: toutes choses reviennent, toutes dépendent de chaque
instant, toutes dépendent de toutes: tout revient au mÞme [alles ist gleich].
L’abîme le plus étroit qui soit, le pont apparent de la parole: tout est
indiffrent cache cette simple différence [verbirgt das schlechthin Verschiedene]:
toutes choses se valent, tout est indiffrent [alles ist gleichgltig], et aucune
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 403
chose n’en vaut une autre: rien n’est indiffrent, rien ne revient au même
[nichts ist gleichgltig].»32
Sans doute, entre les deux versions de la pensée de l’éternel retour une
«simple différence» se cache-t-elle, et pourtant il n’est pas sûr que cette
«simple différence» soit une origine et non un résultat. La différence
n’est peut-être pas pertinente, malgré les apparences, pour penser la
dualité, voire la duplicité des significations de la doctrine. Nous l’avons
vu: si la différence est constituée en maître mot de la pensée de
Nietzsche, si l’éternel retour devient une machine automatique de
sélection, un processus qui garantit sa différance, alors il ne reste rien de
l’ambivalence essentiel du mot «gleich» – alles ist gleich ne veut plus rien
dire.
«Eternellement fidèle reste à lui-même l’anneau de l’être.»33 Lorsque
nous lisons cette phrase: est-ce l’urgence d’une différence qui saute aux
yeux? N’est-ce pas plutôt la nécessité de la co-implication? Qui dit que
surmonter signifie différencier et non plutôt porter ensemble, garder
l’un et l’autre, penser la complicité des deux côtés, être les deux
ensemble?
«Tout se brise, tout se remet en place; éternellement se rebâtit la
même maison de l’être. Tout se sépare, tout à nouveau se salue.»34 Les
textes de Nietzsche ne nous conduisent-ils pas à penser la mise en rapport
et la duplication inévitable plutôt que la dissociation? Après tout, la
pensée de la différence n’a t-elle pas elle aussi un sens nihiliste, ne
revient elle pas aussi comme ressentiment, réaction anti-hégélienne,
faiblesse? Ne devient-elle pas son propre fantôme? Une dépouille qui a
fait son temps?
Mais alors que donnerait une lecture de Nietzsche qui renoncerait à
faire de la différence son fil conducteur? C’est sur cette question que je
terminerai cette conférence, laissant ouverte la possibilité d’une nouvelle
compréhension de l’éternel retour, c’est-à-dire aussi de la vie, qui
substituerait, à la différence, la synthèse, et à la figure du fantôme celle,
tout aussi inquiétante, du clone. Je pose donc simplement, à titre
d’annonce, la possibilité de lire la doctrine de l’ternel retour comme une
pense du clonage ontologique. Et si, finalement, tout se redoublait, si tous
les noyaux ontologiques se dupliquaient, sans être différents et sans pour
autant revenir au même? Et si l’enjeu philosophique de notre époque,
Der Weg von Nietzsche ins neuere französische Denken läßt sich mit
einem Schlagwort umreißen: mit der Rede vom Tod des Subjekts.
Dieses Wort, das unter anderem durch Texte von Roland Barthes1 und
Michel Foucault2 in Umlauf gebracht worden ist, geistert als Slogan
neostrukturalistischer Denker durch philosophische sowie kunst- und
kulturwissenschaftliche Debatten. Auch und besonders in zahllosen
Widerlegungen hat dieser Slogan sich im Diskurs der Gegenwart eta-
bliert. Gängigerweise werden Philosophen wie Michel Foucault und
Jacques Derrida verdächtigt, einen solchen Tod proklamiert zu haben.
Foucault und Derrida partizipieren beide an jener philosophischen
Wende, die in Frankreich von Hegel zu Nietzsche führte und für die in
besonders markanter Weise Gilles Deleuze mit seiner Studie Nietzsche
und die Philosophie einsteht.
Der Wende, die von Hegel zu Nietzsche geführt haben könnte,
kann man folgendermaßen eine grobe Kontur geben: Die Neuzeit und
insbesondere der deutsche Idealismus haben vom Subjekt her gedacht.
Dabei wird Subjektivität als ein ursprüngliches, reflexives Verhältnis
begriffen, das konstitutiv für den Weltzugang und die Handlungsori-
entierung ist. Dieses reflexive Verhältnis kann man so erläutern, daß das
Subjekt sich zugleich Objekt ist – in Anlehnung an Kant gesprochen:
daß es die Bewußtseinszustände, die es hat, als eigene zu denken ver-
mag.3 Mit Nietzsche ist es, so kann man die Geschichte weiter erzählen,
zu einem Dementi jener Idee eines solchen ursprünglichen, reflexiven
Verhältnisses gekommen. Nietzsche entwickelt eine Konzeption, die
1 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ (1967), aus dem Französischen über-
setzt von Matias Martinez, in: Fotis Jannidis (Hrsg.), Texte zur Theorie der
Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185 – 193.
2 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), aus dem Französischen übersetzt
von Karin von Hofer, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Fischer
1988, S. 7 – 31.
3 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1789), in: ders., Werkausgabe,
Band 3, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1974, B 132 ff.
406 Georg W. Bertram
nicht mehr Subjekte, sondern nur noch anonyme Kräfte kennt, die sich
in unterschiedlichen Wirkungsdynamiken entfalten. Gerade als Instanz
von Handlungs- und Gestaltungsfreiheit hat Nietzsche das Subjekt
immer wieder einer scharfen Kritik unterzogen. „[D]er Thäter ist zum
Thun bloß hinzugedichtet“ (KSA 5, S. 279), heißt es im 13. Aphoris-
mus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral. Die Idee eines
ursprünglichen, reflexiven Verhältnisses scheint hier aufgegeben. Oder
genauer: Sie wird, so scheint es, als Illusion entlarvt.
An der Geschichte dieser Wende, wie ich sie somit in einer ultra-
kurzen Version präsentiert habe, scheint mir allerdings einiges proble-
matisch. Für besonders problematisch halte ich eine Implikation, die ich
folgendermaßen formulieren kann: Mit der Idee einer ursprünglichen
Reflexivität soll zugleich die Idee von Reflexivität überhaupt aufge-
geben worden sein. Diese Verknüpfung scheint mir ungerechtfertigt.
Und nicht nur das: Sie scheint mir der Philosophie Nietzsches nicht
gerecht zu werden. Ich betrachte es als erforderlich, die Geschichte, die
von Hegel zu Nietzsche führt, in einer anderen Weise zu erzählen.
Einige Ansätze zu einer solchen Erzählung zu gewinnen, ist ein Ziel der
folgenden Überlegungen. Es geht mir gewissermaßen darum, Per-
spektiven einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche zu ge-
winnen. Statt von einer Philosophie der Reflexivität kann ich auch von
einer Philosophie der Subjektivität beziehungsweise des Selbstbewußt-
seins sprechen. Das heißt nicht, daß ich Begriffe wie Reflexivität,
Subjektivität und Selbstbewußtsein überhastet in einen Topf schmeißen
will. Wenn ich mit dem Begriff der Reflexivität den der Subjektivität
und des Selbstbewußtseins in Verbindung bringe, will ich anzeigen, vor
welchem Horizont sich meine Überlegungen abspielen. Es geht mir
allgemein darum, Selbstbewußtsein von Formen der Reflexivität her zu
begreifen. Im Speziellen zielen meine Überlegungen darauf, bei
Nietzsche Elemente eines Begriffs von Selbstbewußtsein freizulegen,
der nicht als Basis von kritischen Operationen fungiert, sondern viel-
mehr auf kritischen Operationen basiert.
Was mit einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche auf dem
Spiel stehen könnte, kann ich unter anderem von zwei Fragestellungen
her andeuten, die besonders im Anschluß an die Schriften Michel
Foucaults immer wieder aufgeworfen worden sind. Foucault hat mit
Texten wie „Was ist ein Autor?“4 oder Die Ordnung des Diskurses,5 so
5 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses (1972), aus dem Französischen übersetzt
von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Fischer 1991.
6 Vgl. hierzu z. B. A. Honneth, Desintegration. Bruchstcke einer soziologischen
Zeitdiagnose, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 11 ff.
408 Georg W. Bertram
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie
(1833 ff.), Band III, in: Werkausgabe in 20 Bnden, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1970, Band 20, S. 70.
8 Vgl. zu Unterschieden unter anderem: Charles Taylor, Quellen des Selbst (1989),
aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1996, S. 262 ff., 631 ff.; Robert B. Pippin, Hegel’s Idealism. The
Satisfaction of Self-Consciousness, Cambridge, Massachusetts: Cambridge Uni-
versity Press 1989, S. 16 ff.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 409
9 Vgl. Bernard Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, Atlantic Highlands,
New Jersey: Humanities Press 1978.
10 Vgl. Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven, Connecti-
cut: Yale University Press, 2. Aufl. 2004, S. 34 ff.
11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, in: Werkausgabe in
20 Bnden, a.a.O., Band 3, S. 76.
410 Georg W. Bertram
12 So schreibt Hegel: „Dieser Umstand ist es, welcher die ganze Folge der Ge-
stalten des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit leitet. Nur diese Notwendig-
keit selbst oder die Entstehung des neuen Gegenstandes, der dem Bewußtsein,
ohne zu wissen, wie ihm geschieht, sich darbietet, ist es, was für uns gleichsam
hinter seinem Rücken vorgeht.“ (Hegel, Phnomenologie des Geistes [Anm. 11],
S. 80).
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 411
tive. Das Selbstbewußtsein wird dabei nicht als eine Instanz expliziert,
die über feststehende Maßstäbe der Kritik verfügen würde. Nach Hegels
Verständnis gewinnt es Maßstäbe vielmehr in dem Prozeß, in dem es
sich selbst formiert. Der kritische Prozeß des Selbstbewußtseins resul-
tiert daraus, daß es Momente ausbildet, die sich diskrepant zueinander
verhalten, und die das Selbstbewußtsein in ihrer Diskrepanz gegenein-
ander abzuwägen vermag. Hegel argumentiert, daß ein Selbstbewußt-
sein nur dann eine Diskrepanz in sich auszutragen vermag, wenn es über
Fähigkeiten der Artikulation verfügt; diese Fähigkeiten wiederum
konstituieren sich seiner Analyse zufolge in sozialen Praktiken.13 Ich
werde auf Zusammenhänge dieser Art weiter unten zurückkommen.
13 Vgl. Georg W. Bertram, „Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die
Phnomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Ratio-
nalität“, Ms. 2006.
412 Georg W. Bertram
Umwertung aller Werte sind als Ausdruck dieser Idee zu begreifen. Ich
werde einige Stichworte zu diesen Konzepten geben, bevor ich in den
folgenden Abschnitten überlege, welche Konsequenzen sich von diesen
Konzepten her für den Zusammenhang von Kritik und Selbstbewußt-
sein ergeben.
Nietzsche hat Genealogie in erster Linie als eine Genealogie von
Werten betrieben. Werte entstehen demnach aus Werten – durch un-
terschiedliche Profilierungen und Abgrenzungen. Solche Profilierungen
und Abgrenzungen kommen durch Prozesse der Interpretation zu-
stande. Es gibt demnach einen unentwegten Prozeß von Interpreta-
tionen oder – wie Nietzsche auch sagt – des Überwältigens bzw.
Herrwerdens. In dem berühmten zwölften Aphorismus der zweiten
Abhandlung der Genealogie der Moral formuliert Nietzsche entsprechend
die Allaussage: „daß alles Geschehen in der organischen Welt ein
berwltigen, Herrwerden und daß wiederum alles Überwältigen und
Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, …“ (KSA
5, S. 313 f.) Prozesse des Neu-Interpretierens bringen Entwicklung
hervor, ohne daß ihnen irgendeine bestimmende Intention oder ir-
gendeine Teleologie zugrunde läge. Mit Günter Abel kann man von der
„Um-Interpretation als Grundgeschehen“14 sprechen – mit Volker
Gerhardt von einem grundlegenden Geschehen der „Selbstinterpreta-
tion von Praxis“.15
Dieses Grundgeschehen ist die Basis für die genealogische Arbeit.
Der Genealoge verfolgt die Prozesse der Um-Interpretation, die zum
Beispiel unterschiedliche geistige Entwicklungen hervorgebracht haben.
Er befragt das Entstehen von Werten. Dies wiederum gelingt ihm nicht
aus neutraler Perspektive. Die Genealogie ist selbst involviert in die
Prozesse der Um-Interpretation. Genealogie selbst vollzieht sich als
Umwertung von Werten. Sie greift in die Prozesse ein, die sie verfolgt,
kehrt Wertekonfigurationen um. Die Umwertung von Werten findet
als ein Prozeß der Neu-Interpretation statt. Die genealogische Arbeit
muß dabei von Anfang an als ein produktives Geschehen begriffen
werden. Der Genealoge repräsentiert nicht – er greift ein. In diesem
Sinn deutet sich ein Abschied von repräsentationalen Erkenntnismo-
14 Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wie-
derkehr, Berlin-NY: de Gruyter 1984, S. 139.
15 Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht
am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin-NY: de Gruyter 1996,
S. 279 ff.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 413
dellen an, der mit Nietzsches Genealogie verbunden ist. Mit Nietzsche
kann man auch von reaktiven Erkenntnismodellen sprechen. Im Ge-
gensatz zu solchen Modellen ist die genealogische Perspektive aktiv
beziehungsweise performativ.16
Nun ist allerdings mit den bisherigen Darlegungen noch nicht ge-
sagt, warum die genealogische Tätigkeit als kritisch verstanden werden
kann. Bislang habe ich nur erläutert, daß diese Tätigkeit Entwicklung
hervorbringt. Durch die genealogische Perspektive finden Um-Inter-
pretationen statt, kommt es zu einer Umwertung von Werten im dem
Sinn, daß Werte sich in ihrer Stellung verändern oder ganz zugrunde
gehen. Nietzsche beschreibt dies unter anderem in einem biologischen
Bild: „… mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt
sich … der ,Sinn‘ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren
theilweises Zu-Grunde-Gehen (zum Beispiel durch Vermittlung der
Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit
sein.“ (KSA 5, S. 315) Entwicklungen sind immer damit verbunden,
daß einzelne Elemente anders bestimmt werden beziehungsweise daß
sie aus einem Zusammenhang, in dem sie zuvor standen, herausfallen.
Man kann nun versucht sein, solche Um-Interpretationen mit Nietz-
sche als kritisch zu begreifen. Kritische Prozesse fänden so gesehen dort
statt, wo es zu Werteveränderungen und Werteeliminationen kommt.
Dennoch bleibt eine entsprechende Explikation von Kritik unklar.
Inwiefern begründen Werteveränderungen durch interpretative Ent-
wicklungen, in denen Werte sich voneinander abstoßen und sich
wechselseitig ihre Stellungen beziehungsweise ihre Existenz nehmen,
Kritik? Auf der Basis des bislang Dargestellten zeichnet sich keine
Antwort auf diese Frage ab.
Man kann also leicht den Eindruck gewinnen, daß Nietzsche die
Möglichkeit der Kritik im engeren Sinn bestreitet. Er läßt sich so lesen,
daß ihm zufolge eine Umwertung von Werten bloß in Prozessen der
Veränderung zustande kommt. Da solche Prozesse keinerlei reflexive
Momente aufweisen, so kann man – im Sinne der neuzeitlichen
Konzeption von Selbstbewußtsein und Kritik – argwöhnen, weisen sie
auch keine kritischen Momente auf. Es scheint mir wichtig, entspre-
16 Nietzsche läßt sich in diesem Sinn auch als ein Vordenker vieler aktueller
Bemühungen begreifen, repräsentationalistische Denkweisen dadurch zu
überwinden, daß man zu performativen Ansätzen übergeht. Vgl. z. B. Erika
Fischer-Lichte, sthetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tü-
bingen: Francke 2001.
414 Georg W. Bertram
der Neuzeit ist aber immer als eine umfassende Diskursart erläutert
worden. Sie wurde stets als ein Diskurs über Diskurse expliziert – als die
Metasprache aller Sprachen.
Entsprechend läßt sich die Analyse Lyotards so resümieren, daß sie
die Unmöglichkeit von Reflexivität konstatiert. Lyotard rechnet dem-
nach vor, daß keine Metasprache zustande kommen kann, da jede
Metasprache nichts anderes ist als eine andere Sprache – jeder Meta-
diskurs nichts anderes als eine andere Diskursart. Wenn dies zutrifft, sind
Reflexionen konstitutiv unmöglich. Alle Versuche, Reflexionen her-
vorzubringen, etablieren nur neue Diskursarten. Es kann nicht zu
Diskursarten kommen, in denen Diskursarten als Subjekte und Objekte
zugleich auftreten. Der Perspektivismus erweist sich in dieser Lesart als
eine radikale Destruktion von Reflexivität. Nietzsches Betonung des
Zusammenhangs von Entwicklung und Neu-Interpretation ließe sich
vor diesem Hintergrund folgendermaßen begreifen: Alle Neu-Inter-
pretation bedeutet bloße Veränderung, ein bloßes Werden. Die Kon-
zeption der Reflexivität ist demnach nur eine bestimmte Figur solchen
Werdens, eine Wertkonfiguration, die vorgibt, es gebe eine Perspektive
der Perspektiven. Tatsächlich aber, so könnte man als Resultat der
genealogischen Kritik festhalten wollen, gibt es nur Perspektiven – im
irreduziblen Plural.
Die Destruktion der Reflexivität läßt sich auch in einer etwas
moderateren Weise explizieren. Von Jacques Derrida her kann man,
wie Christoph Menke erwogen hat, die These vertreten, daß es zwi-
schen unserem praktischen Tun und den Reflexionen dieses Tuns
immer zu einem Abstand (diffrance) kommt.20 Dieser Abstand zwischen
Tun und Reflexionen hat demnach mindestens zwei Dimensionen:
Erstens verspätet sich alle Reflexion gegenüber dem Tun, das sie re-
flektiert. Der Gegenstand einer Reflexion geht dieser konstitutiv vor-
aus. Das hat zur Folge, daß eine Reflexion ihn als solchen nicht zu
erreichen vermag. Zweitens kann alle Reflexion ihre Einwirkung auf
Vollzüge nicht garantieren. Zwar können Reflexionen in unter-
sind, daß nach der Moderne keine umfassenden Erzählungen mehr möglich
sind, sondern nur viele Teilerzählungen nebeneinander Bestand haben (vgl.
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen (1979), aus dem Französischen
übersetzt von Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1986).
20 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1991, S. 234 ff.; vgl. auch Jacques Derrida, „Signatur Ereignis
Kontext“ (1971), aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Ahrens u. a.,
in: Randgnge der Philosophie, Wien: Passagen 2. Aufl. 1999, S. 325 – 351.
416 Georg W. Bertram
schiedlicher Weise mit der Prätention verbunden sein, sich auf unser
Tun auszuwirken. Da Reflexionen aber nicht in einem Akt zugleich
auch das Tun mit zu sein vermögen, das sie zu bestimmen suchen,
können sie nicht sicherstellen, daß das Tun so ausfällt, wie sie es vor-
geben.21 Die Idee einer abgesicherten Wirksamkeit von Reflexivität hat
allerdings immer das neuzeitliche Verständnis von Selbstbestimmung
geprägt.
Zieht man vor dem Hintergrund von Nietzsches Überlegungen
Konsequenzen in dieser Art und Weise, dann gesteht man zwar zu, daß
es Um-Interpretationen gibt, die als Reflexionen gelten können. Diese
spezifischen Um-Interpretationen gewinnen aber ihre Distanz nur um
den Preis eines Verlusts an sicherer Wirksamkeit. In idealistischem
Vokabular kann man so sagen: Subjektives und Objektives treten aus-
einander. Dies wiederum kann man darauf zurückführen, daß das Ge-
schehen der Entwicklung von Werten als solches ohne Reflexionen
funktioniert. In einer wittgensteinianischen Begrifflichkeit gesagt: All
unser Tun und Wertegeschehen entwickeln sich „blind“.22 Zwar kann
es Formulierungen dessen geben, was in der Praxis funktioniert. Solche
Formulierungen aber treten konstitutiv verschoben auf. Sie konstitu-
ieren die Praxis nicht. Das heißt auch, daß ihr möglicher Einfluß auf die
Praxis nicht abgesichert werden kann. Man kann denken, daß Nietzsche
von Positionen wie derjenigen Wittgensteins her verstanden werden
kann.
Beide skizzierten Varianten einer Depotenzierung von Reflexivität
lassen sich aber meines Erachtens nicht von Nietzsche her gewinnen.
Ich will zwei Gründe nennen, die mich zu dieser Diagnose bringen:
Der erste Grund bezieht sich auf das Interpretationsgeschehen der
Werte. Dieses Geschehen läßt sich nicht in einem wittgensteinianischen
Sinn als Praxis verstehen, in die ihre Partizipanten „blind“ involviert
sind.23 Nach Nietzsches Verständnis ist es wesentlich für dieses Ge-
schehen, daß es zu Überwältigungen von Werten kommt, zu Ge-
21 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autoritt (1990), aus
dem Französischen übersetzt von Alexander Garía Düttmann, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1991, Teil I.
22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Band 1,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 219.
23 Vgl. zu dem entsprechenden wittgensteinianischen Verständnis von Praxis z. B.
John McDowell, „Wittgenstein on Following a Rule“, in: Mind, Value, and
Reality, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1998, S. 221 –
262.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 417
schehnissen der Umwertung von Werten. Das heißt, daß man ein
solches Geschehen falsch bestimmt, wenn man es bloß als Veränderung
von Werten zeichnet. Es handelt sich um ein Geschehen, in dem
Wertungen sich auf Werte beziehen. Dies läßt sich unter anderem an
einer Erläuterung Foucaults nachvollziehen. „Wenn Interpretieren
heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte
Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine
Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es
in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu
unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von
Interpretationen.“24 In Foucaults Erläuterung wird zwischen einem
System von Regeln und interpretativen Geschehnissen des Überwälti-
gens und der Bemächtigung dezidiert unterschieden. Entwicklung
kommt nach Nietzsche durch Vorgänge der Überwältigung zustande,
die sich auf bestehende Werte, auf Systeme von Regeln, beziehen. Dem
wird man nicht gerecht, wenn man auf ein wittgensteinianisches Sze-
nario zurückgreift, innerhalb dessen der ,blinden‘ Praxis ein Primat
zukommt. Eine Praxis im Sinne Nietzsches ist immer eine von Inter-
pretationen durchsetzte Praxis.
Der zweite Grund bringt mich zum Begriff der Perspektive. Es
scheint mir falsch, nach Nietzsche einfach von einer irreduziblen Plu-
ralität von Perspektiven zu sprechen. Nicht nur läßt sich die Position
nicht recht verständlich machen, von der aus man eine solche Pluralität
von Perspektiven aussagt. Es ist auch so, daß von Perspektiven in einem
irgendwie unterscheidbaren Sinn nicht die Rede sein kann.25 Mit
Nietzsche sollte man nicht von einer bestimmten Wertkonfiguration als
einer Perspektive sprechen. Vielmehr kann man sagen, daß in einem
Prozeß der Um-Interpretation eine Perspektive bezogen wird. Eine so
verstandene Perspektive kommt prozessual zustande. Sie ist ein Moment
des Eingriffs in Wertekonfigurationen. Eine Perspektive in diesem Sinn
hat keinerlei Bestand – sie kann nicht substantiiert werden. Wie der
24 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971), aus dem
Französischen übersetzt von Walter Seitter, in: Walter Seitter (Hrsg.), Von der
Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 83 – 109, hier S. 95.
25 In diesem Punkt läßt sich Derrida gut als Nachfolger Nietzsches verstehen,
wenn er geltend macht, daß mit der Idee des Zentrums auch die Idee unter-
schiedlicher für sich bestehender Zentren hinfällig wird. Vgl. Jacques Derrida,
„Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom
Menschen“, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1976, S. 422 – 442.
418 Georg W. Bertram
Nun kann man argwöhnen, daß man Stellungnahmen nur dann als
reflexive Praktiken begreifen kann, wenn man sie von vornherein als
reflexiv begreift. Man könnte Nietzsche, wie ich ihn interpretiere, einer
petitio principii bezichtigen. Das scheint mir aber nicht berechtigt zu sein.
Ich halte es gerade für die Grundintuition von Nietzsches Erläuterungen
zu sagen, daß in Stellungnahmen Reflexivität zustande kommt, daß ein
Geschehen der Perspektivierung Reflexivität konstituiert. Nietzsche
muß so verstanden werden, daß er gängige Erläuterungen umkehrt.
Reflexivität ist nicht das Fundament der Umwertung von Werten – sie
kommt erst mit dieser Umwertung selbst zustande. Dort, wo ein
Umwerten von Werten, ein Schaffen von Werten, stattfindet, konsti-
tuieren sich reflexive Momente. Volker Gerhardt hat das „Pathos der
Distanz“ als eine „ethische Grundregel“27 Nietzsches bezeichnet. Ich
meine, daß es sich dabei um eine Ethik reflexiver Praxis handelt.
Nun weisen alle Erläuterungen, die ich bislang zu einer möglichen
Interdependenz von Kritik und Reflexivität gegeben habe, das Problem
auf, daß nicht recht verständlich wird, wie man beide Begriffe im Sinne
dieser Erläuterungen unterscheiden könnte. Diese Problematik kann ich
auch folgendermaßen zum Ausdruck bringen. Ich habe mit Nietzsche
und Nietzsche-Interpreten wie Günter Abel oder Volker Gerhardt
durchweg behauptet, daß das Geschehen Um-Interpretation als
Grundgeschehen begriffen werden muß. Dabei ist aber letztlich die
Frage nicht beantwortet worden, wodurch ein Geschehen ein Ge-
schehen der Um-Interpretation ist. Zur Beantwortung dieser Frage
reicht es nicht aus, bloß die Begriffe der Kritik und der Reflexivität ins
Spiel zu bringen, zumal dann nicht, wenn man mit diesen Begriffen ein
derart enges begriffliches Netz schnürt, wie ich dies in den letzten
Absätzen getan habe. Es bleibt unklar, ob dieses enge begriffliche Netz
eine Explikationsleistung erbringt.
Um zu erkennen, inwiefern mit Nietzsches Position tatsächlich eine
neue Explikation von Kritik und Reflexivität auf den Weg gebracht
sein könnte, scheint es mir hilfreich, auf einen Aspekt zurückzukom-
men, den ich oben bereits anläßlich meines kurzen Verweises auf Hegel
angesprochen habe. Hegel zufolge, so habe ich angedeutet, ist Selbst-
bewußtsein erst dort realisiert, wo Praktiken symbolischer Artikulation
entwickelt sind. Genau diese Idee läßt sich nun für die Position
Nietzsches fruchtbar machen. Ein Geschehen der Um-Interpretation ist
27 Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches,
Stuttgart: Reclam 1988, S. 6.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 421
28 Auch Günter Abel hat eine entsprechende Verbindung von Nietzsches Ge-
nealogie mit interpretativen Zeichengeschehnissen hergestellt; vgl. Günter
Abel, Interpretationswelten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, z. B. S. 437 ff.
422 Georg W. Bertram
29 Vgl. hierzu und weiterführend: Georg W. Bertram, Die Sprache und das Ganze.
Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Welbrück 2006,
5. Kap.
30 Vgl. Christian Stetter, Sprache und Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 423
S. 888) Eine Kunst, die sich in dieser Weise auf Kunst bezieht, ent-
wickelt eine reflexive Struktur: Sie spielt mit dem Prinzip der Meta-
phernbildung, das nach Nietzsches Verständnis die Begriffsbildungen
des Menschen überhaupt ausmacht. Sie verändert die Begriffsbildungen
und sie verändert auch das Verständnis derselben. Ich will nicht be-
haupten, daß Nietzsche tatsächlich Reflexivität von symbolischen
Praktiken her expliziert. Ich verweise lediglich auf Andeutungen, die in
Richtung einer entsprechenden Explikation gehen.
Es ist meine These, daß die produktive Dimension von Kritik, die
Nietzsches Überlegungen immer wieder geltend machen, nur dann
begreiflich gemacht werden kann, wenn man Reflexivität von sym-
bolischen Praktiken her expliziert. Dann wird auch begreiflich, daß die
genealogische Kritik (symbolisch artikulierte) Wertekonfigurationen
verändert. Diese Kritik wird genau durch die besagten Formen von
Reflexivität realisiert. In den Prozessen der Um-Interpretation, im
Schaffen von Werten sind so Kritik und Reflexivität miteinander ver-
bunden. Dabei ist keine Reflexivität im Spiel, die der Kritik vorausgeht.
Reflexivität kommt als strukturelles Moment symbolischer Praktiken
nur in dem Maße zustande, in dem auch Praktiken einer kritischen
Distanz entwickelt werden. „Das Pathos der Vornehmheit und Distanz,
… das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer
höheren herrschenden Art“ (KSA 5, S. 259) geht aus Praktiken der
Um-Interpretation hervor. Nietzsche kommt damit zu einem Ver-
ständnis von Reflexivität, das diese auf das Vorliegen bestimmter In-
terpretationsgeschehnisse zurückführt. Reflexivität ist keine gegebene
(Meta-)Struktur der Bezugnahme eines Geschehens auf sich selbst.
Reflexivität wird als eine Struktur begriffen („Distanz“), die erst durch
Interpretationsprozesse – durch eine bestimmte Entwicklung symboli-
scher Praktiken – zustande kommt.
31 Die Geschichte läßt sich, wie bereits angedeutet, durchaus so schreiben, daß die
Entwicklung eines solchen offenen Begriffs von Subjektivität unter anderem bei
Hegel ihren Ausgang nimmt. Hegel muß also nicht unbedingt als derjenige
verstanden werden, bei dem sich – wie oben betrachtet – ein neuzeitliches
Verständnis von Selbstbewußtheit zuspitzt. Er kann auch als ein Autor gelesen
werden, der das Denken von einer fixierten Form von Selbstbewußtheit her
verabschiedet. Vgl. zu Verbindungen zwischen Hegel und Nietzsche die Bei-
träge in Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.): Nietzsche und Hegel, Würzburg:
Königshausen & Neumann 1992. Auf einen Weg, der zu einem offen Begriff
von Subjektivität führt, können auf jeden Fall auch die Romantiker einge-
zeichnet werden. Vgl. z. B. Dirk von Petersdorff, „Nietzsche und die roman-
tische Ironie“, in: Renate Reschke und Volker Gerhardt (Hg.), Antike und
Romantik bei Nietzsche. Nietzscheforschung, Band 11, Berlin: Akademie 2004,
S. 29 – 43.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 425
32 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualitt und Wahrheit I (1976),
aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, u. a. 58 f.
33 Vgl. z. B. Judith Butler, Kçrper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Ge-
schlechts (1993), aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1997, 60 ff.
426 Georg W. Bertram
Ein solches Verständnis von Subjektivität als einer bloß von Dis-
kursen (als anonymen Mächten) hervorgebrachten Form läßt sich von
Nietzsche her aber in zweifacher Hinsicht kritisieren: Erstens begreift
Butler Foucaults Diskurse als Praktiken, in denen es nicht zu einem
Geschehen der Um-Interpretationen kommt. Diskurse entwickeln sich,
so kann man wieder das Wort Wittgensteins bemühen, „blind“. Aus
Nietzsche Sicht werden Diskurse so allerdings nicht als Wertgescheh-
nisse verständlich. Wertgeschehnisse sind damit verbunden, daß Inter-
pretationen und Um-Interpretationen stattfinden. Eine bedeutungstra-
gende Praxis gibt es, so können wir Nietzsches Überlegungen poin-
tieren, nur unter diesen Bedingungen. Butlers Foucault gelingt es nicht,
überhaupt eine bedeutungstragende Praxis einsichtig zu machen.
Zweitens sitzt Butlers Foucault der neuzeitlichen Logik der Verbindung
von Selbstbewußtsein und Kritik auf. Er begreift eine gegebene Form
der Reflexivität als Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Da der
Diskurs als blinde Praxis keine gegebene Form der Reflexivität aufweist,
folgt so, daß Subjekte, die sich im Diskurs ausbilden, nicht als kritische
Instanzen gedacht werden können. Dies folgt allerdings nur auf der Basis
der für Nietzsche unhaltbaren Voraussetzung, daß Kritik etablierte
Formen der Reflexivität voraussetzt. Läßt man diese Voraussetzung
fallen, muß man möglicherweise sagen, daß Subjekte zwar im Rahmen
von diskursiven Praktiken entstehen, daß sie aber als solchermaßen
entstandene sehr wohl als Instanzen von Kritik – als sich behauptende
Perspektiven der Um-Interpretationen – fungieren können.
Ernst Tugendhat hat vor dem Hintergrund von Überlegungen
Martin Heideggers und Gilbert Ryles den Versuch unternommen,
einen nachidealistischen Begriff des Selbstbewußtseins zu konturieren.
Er zeichnet nach, daß Individuen in Praktiken, vor allem symbolischen
Praktiken, die in Gemeinschaften entwickelt werden, ein „reflektiertes
Selbstverhältnis“ zu gewinnen vermögen.34 Ein reflektiertes Selbstver-
hältnis muß diesem Verständnis zufolge etabliert werden; es ist keine
gegebene Struktur. Der Vorschlag Tugendhats, den ich hier nur in
seiner Stoßrichtung charakterisiere, weist offensichtlich eine enge
Verwandtschaft zu dem offen Begriff von Subjektivität auf, von dem ich
im Anschluß an Nietzsche spreche. Dennoch läßt sich mit Nietzsche ein
35 Es kann nicht in Tugendhats Sinn sein, daß genau dieser Einwand aus Nietz-
sches Perspektive auch Hegel trifft, der genauso wie Tugendhat davon ausgeht,
daß Selbstbewußtsein die Form der Individualität hat.
36 Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt (2002), aus dem Englischen übersetzt
von Rainer Ansén, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 26.
428 Georg W. Bertram
Begriffs von Subjektivität liegt darin, daß er die Frage, was als ange-
messen kritisches Verhalten gilt, in die Konstitution von Subjektivität
selbst hinein verlagert. Im Anschluß an Nietzsche ist es eine zentrale
Frage kritischer Philosophie, welche Form von Subjektivität wir uns
geben wollen. Wir können diese Frage aber nur beantworten, wenn wir
dabei zu den Fragen Stellung nehmen, in welcher Weise wir uns als
kritisch und reflexiv verstehen. In einem Geschehen ständiger Um-
Interpretation wird allerdings keine der Antworten auf diese Fragen für
sich Bestand haben. Sie werden sich immer in der Weiterentwicklung
von Praktiken der Kritik behaupten müssen. Uns ist aufgetragen, immer
aufs Neue zu klären, wie wir uns in unseren Praktiken als kritisch
verstehen und verstehen wollen.
Science du Désastre et Démocratie
Jean-Marc Hémion
3 Œuvres compltes, III . p. 384 et 395. Voir aussi Jean Lacoste, Nietzsche et la
Civilisation franÅaise in-Nietzsche, I . Robert Laffont . p. 1036 – 1037.
4 Œuvres, I, Paris: Gallimard, p. 495 – 495 et 515 – 520.
432 Jean-Marc Hémion
5 Ibid., p. 411.
6 Ibid., p. 412.
7 Ibid.
8 Ibid., p. 419.
Science du Désastre et Démocratie 433
15 p. 30.
16 p. 127.
Science du Désastre et Démocratie 437
17 p. 107.
18 p. 33.
438 Jean-Marc Hémion
21 § 244.
22 § 256, p. 578.
440 Jean-Marc Hémion
25 Ibid., p. 673.
26 trad. L. Servian, Bourgois 1981.
27 §292 . p.596.
Science du Désastre et Démocratie 443
D – Hétéro-machines auto-critiques
29 Pour tout cela, voir Humain, trop humain, II 2 . §279, 281, 284.
30 HH, II, toujours p. 935.
31 Nietzsche et le Cercle vicieux, Mercure de France 1969, p. 249.
Science du Désastre et Démocratie 445
toute nature devient art.» Dans ce paragraphe du Gai Savoir intitulé «En
quoi l’Europe deviendra de plus en plus artistique» (§ 356), l’époque
démocratique et «la croyance des Américains d’aujourd’hui» sont
associés au procès de dissolution de tous les cadres durables vécus
comme prédestinations et vocations, au processus de génération
d’acteurs excluant toute durée à venir, tout projet de société. Nietzsche,
se demande Klossowski, n’échappe-t-il alors à la fonction dérisoire,
selon lui, de «docteur du but de l’existence», de théoricien de la volonté
de puissance qui encouragerait la nécessité du devenir et du pathos, que
pour les pitreries, les parodies pathétiques, d’un essayeur ou tentateur
d’une société déjà du spectacle? Ne faut-il pas plutôt, comme y invite
Klossowski, toujours associer l’approbation nietzschéenne du devenir à
la gravité du poids le plus lourd? Ne faut-il pas, pour le dire trop
rapidement, revenir sur cette machine cérébrale échauffée et régulée, sur
le dispositif qui recueille alors les «époques véritablement démocrati-
ques» à partir d’une rhétorique du pathos indissociable d’un langage de
la gravité? Il faut cependant écarter une interprétation trop légère qui,
sous prétexte de probité herméneutique, soustraierait aux lectures
malveillantes les développements parodiques de Nietzsche ou celle qui,
sous prétexte de sévérité sociologique, y reconnaîtrait un aristocratisme
irresponsable; les uns distinguant la production consciente de détour-
nements extérieurs, les autres séparant l’inconscient situé, d’une part,
d’une production arrogante dans sa prétention à l’inactuel, d’autre part.
En effet, cette inactualité de Nietzsche lui revient, en quelque sorte, sous
la forme de tardifs arraisonnements sociologiques et démocratiques qui,
en retour, exposent inquisiteurs et enquêteurs aux questions généalo-
giques d’une doctrine nietzschéenne. Cet effondrement du présent des
uns et des autres est bien, aussi, pour la conscience démocratique auto-
présentée, une leçon nietzschéenne et une leçon inquiétante; une auto-
critique nietzschéenne de la démocratie, une exposition nietzschéenne à
l’endurance démocratique. Tout ce qui s’écrit au nom de Nietzsche
devra être pesé, pas une fois, pas deux fois, mais…
Cette pesée de l’enseignement de Nietzsche sur la démocratie, de la
Lehre nietzschéenne sur l’enseignement et la politique démocratique,
pose le problème de la langue de la transmission; de la terminologie, par
exemple, du génie, de la puissance, de la direction etc. Ce problème est
un des fils conducteurs de Derrida dans Otobiographie, l’enseignement de
Nietzsche et la politique du nom propre 32 ; fil suivi sans complaisance pour
33 p. 94 – 95.
Science du Désastre et Démocratie 447
stattet, auf den jedoch weder Individuen noch Kulturen zur Orientie-
rung verzichten können. Und genau diesen Mangel an natürlichem
Zusammenhang, den Riß, der durch das Verschwinden der ganzen
Natur im Gefüge des Wissens entstanden ist, sollen nun Kunst und
Literatur kompensieren. Dazu noch ein Mal Ritter:
„Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in
der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Phi-
losophie gewußt und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst,
sie ästhetisch als Landschaft zu vermitteln.“4
Die Naturwissenschaften liefern nur Details, Bruchstücke, die sich
vorderhand zu keiner universalen Ganzheit mehr fügen wollen, wäh-
rend die Metaphysik umgekehrt nur abstrakte Begriffe produziert, die
jeder sinnlichen Vermittlung entbehren. Zwischen Objekten und Be-
griffen klafft ein Abgrund, der exakt der ästhetischen Distanz entspricht,
in der sich die dichterische oder künstlerische Landschaft einrichtet.
Wird die ästhetische Landschaft, wie Ritter will, den Riß füllen und
verdecken, den Mangel an Ganzheit kompensieren können?
Die Kunst bringt zwar aufgrund ihrer subjektiven Disposition kein
objektives Wissen hervor, aber immerhin kann sie Ganzheiten imagi-
nieren lassen, wo tatsächlich nur die Kontingenz des Mannigfaltigen
herrscht. Sie kann also den Anschein einer Ordnung erwecken, ästhe-
tisch vermitteln und in der Darstellung nachempfinden lassen. Indem
aber Landschaft die ganze Natur ästhetisch repräsentiert, bezeichnet sie
etwas, das zwar einmal tatsächlich präsent gewesen und auch in Zukunft
wieder sein soll, im Augenblick aber als abwesend vorgestellt wird.
Genau wie man Zeichen im allgemeinen dazu braucht, momentan
Abwesendes anwesen zu lassen, soll es ja ästhetische Landschaft über-
haupt nur geben, weil der tatsächliche Zusammenhang mit Natur
verloren ist. Zeichen und Landschaft kennzeichnet somit dieselbe
zeitliche Struktur der Nachträglichkeit und Vorläufigkeit in Bezug auf
die Präsenz des repräsentierten Gegenstandes.
Landschaft kann also den Mangel an Ganzheit deswegen nicht
kompensieren, weil sie ihn selbst bezeichnet. Sie wird im Gegenteil von
dem Abgrund zerrissen, den sie eigentlich verdecken sollte, tatsächlich
aber gerade markiert – ja man kann sagen, nur dank ihr wird der Riß
überhaupt sichtbar und das Begehren nach Ganzheit allererst geweckt,
das sie doch nur scheinbar – d. h. imaginär – stillen kann. Landschaft ist
daher zunächst und bis auf weiteres ein Kunstwerk, ein ikonographi-
scher oder alphabetischer Text. Und tatsächlich wird die Ästhetik der
Landschaft im 18. und 19. Jahrhundert auch von einer Metaphorik der
Schrift, der Lesbarkeit und der Entzifferung begleitet,5 die zuvor die
Welt oder die Natur als ganze charakterisierte und deren Geschichte
Hans Blumenberg vorgelegt hat.6 Vom mittelalterlichen „Buch der
Natur“, wie es Blumenbergs Metaphorologie analysiert, unterscheidet
sich die ästhetische Landschaft aber insofern, als sie auf einen Sinn
verweist, den sie explizit nicht benennen kann. Landschaft wird so
lesbar als textuelle Chiffre der Abwesenheit von Natur und Welt im
Text: als Zeichen, das mehr über die Logik von Zeichenbeziehungen
sagt, als über irgendeine Wirklichkeit oder deren abstraktes Wesen. Sie
funktioniert daher im Text als metatextuelle Metapher.
An dieser Stelle kreuzt sich die Lektüre der Landschaft mit Nietz-
sches früher Sprachkritik Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen
Sinne von 1873. Der „Sprachbildner“, so schreibt Nietzsche dort,
„bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu
deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst
übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in
einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen
der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“7
Aus dieser Diskontinuität im Prozeß der Sprachbildung resultiert dann
die berühmte Definition der Wahrheit als „bewegliches Heer von
Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden“.8 Als spezifisch menschliche Relation
zur Welt und künstlerische Kompensation des Bruches zwischen
5 Für das 18. Jh. vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift. Zur Topographie der deutschen
Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann
2004; für das 19. Jh. (exemplarisch anhand der Werke Adalbert Stifters) vgl.
Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektren, Stuttgart/Weimar:
Metzler 1995.
6 Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1981.
7 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (1873),
in: ders., Smtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als
KGW], Bd. III/2, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 367 – 384; hier S. 373.
8 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne
(Anm. 7), S. 374.
452 Florian Schneider
Wie auch immer die Antwort ausfällt, sie wird jedenfalls mit der
Kindheit zu tun haben: der der Kultur und – weil die Sprachbildung
Sache des Künstlers und seiner lebendigen Metaphorik ist – der der
Kunst. Beides beschäftigt die literarische Tradition bereits seit der An-
tike in Gestalt der Idylle und innerhalb dieser vor allem des Topos des
locus amoenus, wie ihn Ernst Robert Curtius skizziert hat:13 Die Szenerie
zeigt den Hirten als Repräsentanten der frühesten Kultur, meist zur
Mittagsstunde an einem abgeschiedenen Ort inmitten der freien Natur,
gelagert im Schatten eines Baums, nahe einer kühlen Quelle, und meist
mit einem idyllischen Kollegen im Wettgesang, den am Ende die
Kunstfertigkeit der dargebotenen Verse entscheidet. Kurz: Die Idylle
liefert das Bild eines ursprünglichen, sorglosen und poetischen Lebens
inmitten einer harmonischen, bergenden und mütterlichen Natur.14
Als literarische Gattung beruft sich die Idylle auf zwei antike Vor-
bilder: die griechischen Idyllen des alexandrinischen Dichters Theokrit
(3. Jh. v. Chr.) und die lateinischen Bucolica Vergils (ca. 40 v. Chr.).
13 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Ka-
pitel 10, „Die Ideallandschaft“, Tübingen: Francke 111993; sowie ders.,
„Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter“, in: Alexander Ritter (Hrsg.),
Landschaft und Raum in der Erzhlkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
gesellschaft 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 69 – 111.
14 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema sei hier nur hingewiesen auf
Klaus Garber (Hrsg.), Europische Bukolik und Georgik, Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft 1976 (= Wege der Forschung 355), sowie Renate
Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart: Metzler 1977.
454 Florian Schneider
Beiden Vorbildern ist gemeinsam, daß es sich schon bei ihnen nicht, wie
Curtius meint, um die Schilderung frischer und unverstellter Natur-
eindrücke handelt, die erst später zum literarisch-rhetorischen Topos
erstarrt wären, sondern im Gegenteil um die vielleicht früheste Form
städtischer Literatur überhaupt. So wenig wie Theokrits artifizielle
Perioden sind auch Vergils anspielungsreiche Verse an ein naturwüch-
siges Publikum gerichtet, sondern an ein höfisches, den Umgang mit
avancierter Literatur gewohntes Lesepublikum.15 Schon die antiken
Idyllen sind also poetische Imaginationen, nicht realistische Schilde-
rungen eines ursprünglichen Lebens in der Natur. Und man darf davon
ausgehen, daß das dem Altphilologen Nietzsche, der beide Textkorpora
kannte, durchaus bewußt gewesen ist.
Eine erstaunliche Renaissance erfährt die Idylle im 18. Jahrhundert,
vor allem in der deutschen Literatur und namentlich in den Idyllen
Salomon Geßners von 1756 – nach Goethes Werther dem erfolg-
reichsten deutschen Buch des Jahrhunderts –, aber auch bei Haller,
Gleim, Hagedorn, Gellert, Müller und Voß bis hin zu Jean Paul, Goethe
und Schiller.16 Neben die zeitliche Differenz der antiken Texte, die die
Idylle als Einheit von Mensch und Natur am Ursprung der Kultur
ansiedeln, tritt im 18. Jahrhundert eine Differenz, die die Idylle als ak-
tuellen natürlichen Gegenpol der dekadenten und sittlich korrumpier-
ten Kultur und Gesellschaft begreift. So kommt es, daß die idyllischen
Hirten des 18. Jahrhunderts sich meist schnell als spärlich verkleidete
Bürger beim Spaziergang in der freien Natur entpuppen – insgesamt also
eine Konstellation, bei der man mit ziemlicher Sicherheit auf Nietzsches
Ablehnung zählen darf.
Tatsächlich lehnt Nietzsche in der Geburt der Tragçdie schon die
antiken Idyllen als „alexandrinische“ Zähmung der dionysischen Na-
turtriebe ab;17 und in einem Nachlaß-Fragment derselben Zeit spricht
er angesichts des „sentimentalischen Triebes ins Idyllische“ von einer
„unhistorischen Flucht in eine phantastische Urgeschichte der
Menschheit“. Weiter heißt es dort: „Daß man an diesen harmlosen
Texten […] ein schwärmerisches Behagen empfand, mag man nun
dreist mit der Bewunderung vergleichen, die unsere Altvordern […] für
15 Vgl. hierzu Bernd Effe und Gerhard Binder, Antike Hirtendichtung, Düsseldorf:
Artemis & Winkler 2001.
16 Zur deutschen Tradition der Idylle vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift
(Anm. 5).
17 Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragçdie (Anm. 12), S. 53 ff, sowie S. 120 ff.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 455
logische Erbmasse erstrecke sich auch auf das individuelle Schicksal, nahm
Nietzsche lange Zeit an, daß er wie sein Vater mit 36 Jahren sterben werde.
Noch in Ecce Homo, lange nachdem sich diese Annahme empirisch erledigt
hatte, heißt es rückblickend dazu: „Mein Vater starb mit sechsunddreissig
Jahren […]. Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das
meine abwärts: im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den nied-
rigsten Punkt meiner Vitalität, – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor
mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder,
lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz […]. Dies war mein
Minimum: ,Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem.“ Fried-
rich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888), in: ders., KGW,
Bd. VI/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin:
de Gruyter 1969, S. 253 – 372; hier S. 262. In diesem Kontext sind auch Sätze
zu verstehen, wie der unten zitierte im Brief an Heinrich Köselitz vom
14. August 1881: „Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen.“ Hierzu,
wie auch zum Zusammenhang von Biographie und Philosophie überhaupt bei
Nietzsche, vgl. Friedrich Kittler, „Wie man abschafft, wovon man spricht. Der
Autor von ,Ecce Homo‘ “, in: ders. und Jacques Derrida, Nietzsche – Politik des
Eigennamens. Wie man abschafft wovon man spricht, Berlin: Merve 2000, S. 65 –
99, insbesondere S. 72.
21 Vgl. Friedrich Nietzsche: Postkarte an Heinrich Köselitz vom 8. Juli 1881, in:
ders., Smtliche Briefe. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als
KGB], Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 99 f.
22 Friedrich Nietzsche: Brief an Heinrich Köselitz vom 14. August 1881, in:
ders., KGB, Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 112 – 114; hier S. 112.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 457
Was ist geschehen? Was hat aus dem leidenden und kranken, ja ver-
meintlich sterbenden Nietzsche, der nach Sils kam inzwischen den
jauchzenden, singenden und vor Freude weinenden Wanderer werden
lassen?
Zwischen die beiden Briefe an Heinrich Köselitz fällt die Ent-
deckung der ewigen Wiederkunft, als deren Ankündigung sich im
nachhinein schon die erste „Offenbarung“ angesichts der Idylle lesen
läßt. Noch sieben Jahre später, in Ecce Homo, schreibt Nietzsche dieser
Erkenntnis die grundlegende Inspiration des Zarathustra zu und skizziert
anschließend Szene und Augenblick ihrer Offenbarung:
„Die Grundconception des Werks [i. e. des Zarathustra; Anm. d. Verf.],
der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Formel der Be-
jahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des
Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ,6000
Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘. Ich gieng an jenem Tage am See von
Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufge-
thürmten Block unweit von Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser
Gedanke.“23
Die Offenbarung der ewigen Wiederkunft ist also eine Erfahrung der
Landschaft – freilich eine andere, als sie bisher gemacht worden war.
Zunächst widerspricht sie radikal dem kulturgeschichtlichen Schema, in
dem das 18. Jahrhundert die Landschaft und besonders die Idylle ver-
ortet hatte: Gemäß der Zeichenstruktur von Landschaft, die eine einst
präsente, jetzt verlorene, aber künftig wiederzugewinnende Einheit von
Mensch und Natur bedeuten sollte, verlegte man die real existierende
Idylle an den Anfang von Kultur überhaupt. Und zwar als denjenigen
Augenblick, in dem Kultur und Natur gerade noch vereint, aber doch
schon unterscheidbar gewesen sein sollten. Als solche markiert die Idylle
den absoluten Ursprung von Kultur in Natur. Im kulturellen Fortschritt
sollte sich dann die Kultur von der Natur befreien und entfremden
zugleich, bis sie schließlich am Ende der Geschichte vollendet, bewußt
und freiwillig zu den Gesetzen der Natur zurückkehrt, denen sie einst
nur gezwungenermaßen gehorcht hätte – so in aller Kürze das teleo-
23 Nietzsche, Ecce Homo (Anm. 20), S. 333; auch die Originalnotiz hat sich im
Nachlaß Nietzsches erhalten: Vgl. Friedrich Nietzsche: Fragment 11/141
(Manuskript M III 1; Frühjahr bis Herbst 1881), in: ders., KGW, Bd. V/2,
herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York:
de Gruyter 1973, S. 392 – 394.
458 Florian Schneider
3. Eislandschaften
25 Vgl. Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 324.
26 Vgl. hierzu Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, aus dem
Französischen übersetzt von Ronald Vouillé, München: Mathes & Seitz 1986;
sowie Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, aus dem Französischen
übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991.
460 Florian Schneider
27 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III (1884), Abschnitt „Vom Gesicht
und Räthsel“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 193 – 198; hier S. 197 f.
28 Nietzsche, Zarathustra III (Anm. 27), S. 195.
29 So der Titel des berühmten Aphorismus 341 der Frçhlichen Wissenschaft, der
ersten von Nietzsche veröffentlichten Version der ewigen Wiederkunft; vgl.
Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft (1882), in: ders., KGW, Bd. V/2,
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 461
erzeugt das leere Kreisen der Zeit, das das Werden fesselt und keine
substantielle Veränderung zuläßt, nur noch Überdruß. Wer aber dieser
Schlange den Kopf abbeißt, wie Zarathustras Zuruf rät, der bricht aus
der Idylle aus, wie auch aus der Welt des Menschen, die (entgegen allen
idealistischen Illusionen) der Kreislauf der Zeit bestimmt. Wer daher am
Ende des Zitats aufsteht und lacht wie „niemals noch ein Mensch ge-
lacht hat“, ist nicht mehr Hirte und nicht mehr Mensch, sondern
„Verwandelter“ und „Umleuchteter“ – bermensch.
Tatsächlich prägt die Bewegung des Übersteigens der Idylle als Weg
des Übermenschen in Nietzsches Texten auch eine Metaphorik der
Vertikalität und des Aufstiegs, die spätestens 1881 mit der Arbeit an der
Frçhlichen Wissenschaft (und zugleich mit dem ersten Sommeraufenthalt
in Sils Maria) einsetzt und von da an einen neuen Landschaftstyp ge-
neriert. Schon der erste Teil des oben zitierten Abschnitts zeigt Zara-
thustra beim Aufstieg: „Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein
boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein
Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses.“30 Solche Pfade
führen allemal heraus aus der Idylle und hinein in die lebensfeindlichen
Regionen des Hochgebirges, in eine Welt der Kälte, des ewigen
Schnees und der Gletscher, kurz: in die Eisregionen, die sozusagen der
natürliche Lebensraum des Übermenschen sind. Drei kurze Beispiele für
diese Landschaft, zunächst „Der Wanderer“, ein Vierzeiler aus „Scherz,
List und Rache“, dem „Vorspiel in deutschen Versen“ zur Frçhlichen
Wissenschaft (1882):
„,Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!‘ –
So wolltest du’s! Vom Pfade wich dein Wille!
Nun, Wandrer, gilt’s! Nun blicke kalt und klar!
Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.“31
Aus Zarathustra II (1883), unter dem Titel „Vom Gesindel“:
„Denn diess ist u n s r e Höhe und unsre Heimat: zu hoch und steil wohnen
wir hier allen Unreinen und ihrem Durste. […] Eishöhle würde ihren
Leibern unser Glück heissen und ihren Geistern!“32
Schließlich eine Strophe des Gedichts „Aus hohen Bergen“, dem
„Nachgesang“ zu Jenseits von Gut und Bçse (1886):
„Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
Ich lernte wohnen,
Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?“33
Wo niemand wohnt, wo die Kälte zum Inbegriff des Glücks wird und
kein Pfad mehr den Weg des Wanderers lenkt – „6000 Fuss jenseits von
Mensch und Zeit“ – wird jeder Schritt zum Wagnis, vor allem aber zur
Entdeckung neuen, bisher unbetretenen Gebietes. Die dort erblickten
Landschaften bescheren dem Wanderer dann tatsächlich jenen „neuen
Blick“, den Nietzsche „vor allen Menschen voraus“ hat, wie er an
Köselitz schreibt. Freilich nicht ganz Nietzsche selbst, denn dort, wo der
Philosoph aufgrund seiner körperlichen Konstitution und seiner
schlechten Augen nicht weitergehen konnte – z. B. am Rande des
Gletschers im Fextal bei Sils Maria, wohin seine Spaziergänge oftmals
führten –34 dort schickte er bekanntlich Zarathustra voraus.
Selbstverständlich handelt es sich bei Nietzsches Eis- und Hochge-
birgslandschaft – genauer: bei ihrer Ersteigung und Begehung – um eine
Geste der Primarität, eine Geste der Überschreitung aller bisher betre-
tenen Gebiete. Eine Überschreitung allerdings, die im Raum der Im-
manenz stattfindet: In jenem Raum nämlich, dessen absolute Grenzen
die ewige Wiederkehr und der Tod Gottes bestimmen. Keinen Olymp
und keinen Parnaß, kein Dantesches Paradies und keinen Gipfel der
Vollendung gilt es deshalb zu erklimmen, sondern einen Raum der
absoluten Einsamkeit, in dem kein Ideal und kein metaphysischer Wert
mehr eine Richtung vorgeben – absolut unberührtes Territorium also,
das hier erstmals betreten wird. Zu den Paradoxa, die Nietzsches Lehre
der ewigen Wiederkunft denkbar gemacht hat, gehört allerdings leider
auch, daß es kein erstes Mal gibt, oder vielmehr: Das erste Mal ist bereits
eine Wiederholung, und das heißt, das Neuland wird stets in den
Spuren von Vorgängern betreten. Im Falle Nietzsches selbst gilt das
zunächst für die Metaphorik seiner Eislandschaften. Curt Paul Janz
vermutet in seiner monumentalen Nietzsche-Biographie, daß sie von
dem seinerzeit berühmten Sils Marier Bergführer Christian Klucker
stamme, dem Nietzsche begegnet sein müsse, z. B. im Hotel „Alpen-
rose“, wo beide regelmäßig verkehrten.35 Weit wahrscheinlicher ist
jedoch, daß Nietzsche die Metaphern der Literatur seines Jahrhunderts
entnommen hat. Schließlich ist es das 19. Jahrhundert, in dem nicht nur
die meisten Alpengipfel erstmals bestiegen werden, sondern auch
zahlreiche Expeditionen versuchen, die Pole der Erde zu erreichen. Die
Zeitungsmeldungen, Reiseberichte und Biographien, die aus diesen
Unternehmungen hervorgingen, waren zahlreich und äußerst populär.
Sie inspirierten in besonderem Maße auch die Literatur der Zeit, man
denke etwa an Lord Byrons Manfred von 1817, wo es vom Gipfel des
Schweizer Berges Jungfrau heißt: „And here, on snows, where never
human foot/Of common mortal trod […]“.36 Ähnliche Formulierungen
finden sich aber auch in Mary Shelleys Frankenstein von 1818, in Edgar
Allen Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym von 1838 oder –
Nietzsche sicher näher – in Adalbert Stifters Nachsommer von 1857, wo
ebenfalls eine winterliche Bergbesteigung geschildert wird.
Auch im Falle der Erschließung unbetretenen Geländes samt der
Gefahr und der Einsamkeit, der man sich dabei aussetzt, hat man es also
mit einem literarischen Topos zu tun. Und sicherlich läßt sich die erste
Spur, die der Entdecker in den Schnee legt, die Spur im reinen Weiß, in
allen genannten Texten ohne weiteres als eine Metaphorik der Schrift
entziffern, als Beschreibung des Unbeschriebenen im wörtlichen
Sinne.37 Das wirklich Neue bei Nietzsche ist daher nicht, daß er die
35 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, Dritter Teil: „Die
zehn Jahre des freien Philosophen“, München/Wien: Carl Hanser 1978,
S. 310.
36 Lord George Gordon Byron, Manfred, in: ders., Poetical Works, herausgegeben
von Geoffrey Cumberlege, London/New York/Toronto: Oxford University
Press 1952, S. 390 – 406; hier S. 398.
37 Zum literarischen Topos der Entdeckung und Erstbegehung von Eisland-
schaften (am Beispiel der ebenfalls erst im 19. Jahrhundert erschlossenen Po-
larregionen), sowie zur Metatextualität ihrer Metaphorik und der Dekon-
464 Florian Schneider
lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen ge-
sprochen wird, Grosse und Hochwüchsige.“39
Hier gibt es nichts mehr zu interpretieren und nur noch wenig anzu-
merken, zumindest was die Landschaft betrifft. Während der Über-
mensch auf sich warten läßt, hat seine Landschaft bald Karriere ge-
macht: Anders als die Idylle, deren Spur zurück ins 18. Jahrhundert
führt, ist die Eislandschaft zu einem Topos der klassischen Moderne
geworden. Schon bald nach Nietzsches Tod haben die Avantgarden die
Kälte einer von allem kulturellen Ballast befreiten Kunst für sich ent-
deckt.40 Die Nietzsche-Leser Benn, Jünger und Brecht, so unter-
schiedlich ihre Literatur auch ist – bei allen finden sich die kühlen,
klaren Blicke und die heroischen Einsamkeiten der entzauberten Welt.
Die Literatur und Theorie der Neuen Sachlichkeit entwickelt in den
20er Jahren soziale Verhaltenslehren der Klte – so der Titel von Helmut
Lethens einschlägiger Studie zum Thema –,41 bis in die 30er Jahre
werden die beliebten deutschen Bergfilme den Typus des einsamen,
willensstarken Helden im Kampf mit einer lebensfeindlichen Natur zum
Ideal einer ganzen Generation gemacht haben.42 Und während der
anschwellende Strom von Touristen in den Bergen die Idylle sucht,
bilden Eis und Fels längst das Relief der gesamten Gesellschaft. Die
Antwort darauf hatte Nietzsche bereits 1880 gegeben, in einem
Aphorismus aus „Der Wanderer und sein Schatten“ mit dem Titel
„Vergnügungs-Reisende“: „Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf,
dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es
unterwegs schöne Aussichten gebe.“43
39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I (1883), Abschnitt „Vom Lesen und
Schreiben“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 44 – 46; hier S. 44.
40 Vgl. Helmut Lethen, „Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden“,
in: Dietmar Kamper und Willem van Reijen (Hrsg.), Moderne versus Postmo-
derne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 282 – 324.
41 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
42 Z. B. Die weiße Hçlle vom Piz Pal (D 1929, Tonfassung 1935, Regie: Arnold
Fanck, G.W. Pabst), Strme ber dem Montblanc (D 1930, Regie: Arnold Fanck),
Das blaue Licht. Eine Berglegende aus den Dolomiten (D 1931/32, Regie: Leni
Riefenstahl) oder Der Berg ruft (D 1937, Regie: Luis Trenker).
43 Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 279.
Penser par-delà l’homme
Jean-Clet Martin
s’expose plus à aucune finalité et que la bordure sur laquelle nous nous
tenons n’a plus, devant elle, une face sur laquelle pourrait donner cette
frontière. La limite a perdu ses côtés sans s’enfoncer vers autre chose que
vers le coin de son propre vide et désespoir. Il n’y a plus, en ce sens,
aucun événement pour donner à la pensée la trouée, l’échappée dont
elle se nourrit depuis toujours. Manque cruellement l’air, l’appel d’air du
dehors sauf à l’entendre comme Nietzsche, au sens d’une mer qui ne
coule qu’en elle-même selon le cycle joyeux du retour, d’une éternité
qui veut la joie.
Tout commence, d’une certaine manière, avec l’annonce de la mort
de Dieu qui selon Nietzsche ponctuera d’abord, mais de manière
inévitable, la détresse du siècle à venir. Le christianisme avait soupçonné,
depuis le début, une mort de ce genre. Le Dieu chrétien est le premier,
en effet, qui ne cède à l’homme que fort peu de puissance sachant que
son fils connaît pour seul réconfort l’expérience ingrate de la croix.
Inventer un Dieu qui meurt, c’est assez surprenant tout de même! Pour
la première fois, la gloire d’un Dieu se mesure à son tombeau qui
l’engloutit pour l’interrompre d’un silence de trois jours, une nuit
pendant laquelle il sombre dans le vide, à l’instar de la conception que
Schelling se fait de la divinité, abandonnant le monde au jeu désordonné
de ses forces antagonistes. On se trouve ainsi placé devant l’horreur que
Pascal promet à un monde sans Dieu, celui là même que Nietzsche, en
préférant Dionysos au crucifié, affirme comme l’alternative d’un pari qui
n’a pas encore été tenté. Le Christ ressuscité, certes, renverse toute
l’absurdité du vide infini qu’il prend sur soi et, en revenant, témoignera
à l’homme de son éternité, lui qui s’est arraché au vide et à l’interruption
des trois nuits pascales. Mais en quoi ce dernier s’est-il vraiment
ressuscité? Où trouver cette promesse du retour? On ne saurait mieux
comprendre son inanité que ne le fit Hegel en insistant sur l’idée que le
christianisme poursuit un tombeau vide et que ce n’est pas à Jérusalem
que l’homme pourra retrouver son essence perdue. Que le tombeau ne
soit habité par aucun Esprit, aucune prière ne saurait en remplir le peu
de consistance de sorte que le monde souffre d’un deuil irrémédiable:
une conscience malheureuse qui se sent abandonnée au mouvement
immonde de ses errances giratoires. Notre univers, sorti de rien comme
le veut la théologie elle-même, ne laisse plus rien a attendre peut-être
que son refroidissement progressif, le lent travail du négatif qui ne saurait
manquer de retomber dans la nuit, fût-elle Absolue, d’un univers en
expansion.
Penser par-delà l’homme 469
Derrida avait pensée sous le nom de diffrance et que Deleuze appelle une
multiplicit. Les choses, les corps, pas moins que les âmes auront donc
cessé de convenir aux modèles de la rationalité moderne, à ses
démonstrations mécaniques et à son anatomie sans faille. Le règne des
substances touche à son terme au profit des flux et des turbulences, des
interférences et des ensembles statistiques d’événements qui font bien
l’homme, mais un homme inconvenant, très peu saillant à la définition
qu’on attendait de lui. En cela il n’y nulle désolation à faire valoir et nul
regret à formuler. Les corps et les pensées se groupent désormais sous des
rythmes et périodes qui concernent précisément ce que Nietzsche
attendait de l’éternel retour.
Ce brassage créateur de période est peut être illustré au mieux par un
dessin de 1922, réalisé par Paul Klee, intitulé La machine gazouiller. Il
s’agit en fait d’un engin hautement inutile, dont le résultat paraît nul par
rapport à l’économie des moyens mis en place. Mais, en réalité,
lorsqu’on s’y arrête un peu plus, l’objet inconsommable que cet engin
nous propose possède une toute autre destination. La machine à
gazouiller ressemble, de fait, à une espèce de tournebroche dont l’axe est
extrêmement perturbé, courbé par endroits, avec des oiseaux placés aux
différents faîtes de cette barre tordue. Une petite manivelle permet de la
faire tourner, leur arrachant des cris, à hauteur de la secousse éprouvée,
plus intenses lorsque l’animal se trouve au sommet de la courbe dessinée
par la ligne en mouvement où ils se disposent de façon irrégulière. Le
mouvement de la manivelle induit donc un retour, une répétition des
gazouillis qu’on qualifiera de ritournelle, ritornello signifiant précisément
le petit retour périodique d’un chant, d’un refrain. Mais, cette répétition
n’est pas tout à fait envisageable sur le mode de la rime calculée. Il s’agit
plutôt d’un rythme qui se décale en fonction de la vitesse des tours
impulsés au manche de cette étrange machine. La rime calculée, l’ode
n’est pas ce qui s’impose à cette ritournelle. On dirait davantage que son
retour sera périodique, constituant ainsi une période très spéciale. Péri/
ode veut dire que l’odyssée, le grand retour revenant exactement au
point de départ, est impensable. La période n’est pas le rythme circulaire
où l’on retrouverait sur la ligne d’arrivée les conditions initiales comme
Ulysse l’expérimente d’ailleurs par son retour en Ithaque, devenu
méconnaissable. La machine à gazouiller, comme nos corps, constitue
un éternel retour qui trace la spirale d’une période mouvante. Péri/ode
signifie ainsi un rythme qui, au lieu de rimer parfaitement le long de
l’ode, se faussera à la périphérie. Peut-être le Bolro de Ravel, timide
d’abord sous l’avancée d’une petite flûte inaudible, traduit-il au mieux
476 Jean-Clet Martin
Renate Reschke, geb. 1944; Professorin für die „Geschichte des ästheti-
schen Denkens“ am Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu
Berlin; Vorstandsmitglied der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft; stellv.
Direktorin der Friedrich-Nietzsche-Stiftung; Publikationen: Denkum-
brche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000;
Zeitenwende – Wertewende (Hrsg.), Berlin 2000; sthetik. Ephemeres und
Historisches (Hrsg.), Hamburg 2002; Nietzsche – Radikalaufklrer oder
radikaler Gegenaufklrer? (Hrsg.), Berlin 2004; Aufsätze zu Nietzsche,
Winckelmann, Hölderlin, Hegel, zur Antikerezeption, Kulturkritik und
allgemeinen Ästhetik.
Zu den Autorinnen und Autoren 481
Mort de Dieu chez Nietzsche d’Humain, trop humain Ainsi parlait Za-
rathoustra, Bern 2006; (Hrsg.) Neue Beitrge zu Nietzsches Moral-, Poli-
tik-, und Kulturphilosophie, Fribourg 2009; Aufsätze im Bereich der
Moralphilosophie (insbes. der Philosophie des Glücks), zu Nietzsche,
Descartes, und Spinoza.