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Nietzsche und Frankreich

WDE

G
Nietzsche und Frankreich
Herausgegeben von
Clemens Pomschlegel und Martin Stingelin

Walter de Gruyter · Berlin · New York


Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung
für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

© G edruckt auf säurefreiem Papier


das die U S-A N SI-N orm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-019331-2
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Printed in Germ any
Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
D ruck und buchbinderische Verarbeitung: H ubert & Co. G m bH & Co. KG, Göttingen
Inhalt
Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin
Nietzsche ,und‘ Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

A. Nietzsches Frankreich-Rezeption
Thomas H. Brobjer
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy . . . . . . . . . . . . . . . 13
Ivan Broisson
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ . . . . . . . . . . . . . . . . 33
Tilo Klaiber
„Ich hasse Rousseau …“ Typus, Antitypus und das Motiv für
Nietzsches Wahlfeindschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Renate Reschke
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als
Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah . . . . . . . . . . . . 63
Tobias Dahlkvist
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim
späten Nietzsche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

B. Französische Nietzsche-Rezeption
Marc Sagnol
La première réception de Nietzsche en France:
Henri Lichtenberger, Charles Andler, Geneviève Bianquis . . . 105
Angelika Schober
Man findet bei Nietzsche, was man sucht . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Anatoly Livry
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra . . . . 135
VI Inhalt

Miriam Ommeln
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die
surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von Nietzsches
Ästhetik ist der Surrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Christian Benne
Den Minotaurus schreiben: autobiographische Tauromachien
bei Leiris und Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Andreas Spohn
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie. Überlegungen zu
einem „dreieinen“ Begriff der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Ernani Chaves
„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn eindeutig
zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“ Zur
Auseinandersetzung mit der französischen Nietzsche-Rezeption
in der Zeitschrift fr Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Clemens Pornschlegel
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Slaven Waelti
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de
Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Marc Rölli
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den
Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Christine Blättler
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber. Zur Ethik
Nietzsches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
Günter Krause
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne:
Hegel – Hölderlin – Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Knut Ebeling
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori.
Transzendierung des Historischen oder Historisierung des
Transzendentalen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Mattia Riccardi
Skandal und Hygiene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Inhalt VII

Philippe Lepers
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum . . . . . . . . 337
Michael Platt
“René Girard and Nietzsche Struggling” . . . . . . . . . . . . . . . . . 351
Isabelle Wienand
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ . . . . . . . . . . . . . 377

C. Interpretationen
Catherine Malabou
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence . . . . . . . . . . . . 391
Georg W. Bertram
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche . . . . . . . . 405
Jean-Marc Hémion
Science du Désastre et Démocratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429
Florian Schneider
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Jean-Clet Martin
Penser par-delà l’homme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
Nietzsche ,und‘ Frankreich
Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

Auf welchem Territorium begegnen sich ein Denker und eine Nation
in ihrem jeweiligen Selbstverständnis und in ihrer gegenseitigen Her-
ausforderung? Wie also läßt sich jenes ,Und‘ vermessen und kartogra-
phieren, das zwischen Nietzsche und Frankreich steht oder als Schnitt-
menge jenen Brückenkopf bildet, von dem aus beide gemeinsam die
(philosophische) Welt erobern?
„Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffi-
nirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks: aber
man muss dies ,Frankreich des Geschmacks‘ zu finden wissen“,1 so hebt
mit Abschnitt 254 von Jenseits von Gut und Bçse (1886) Friedrich
Nietzsches Quintessenz seiner lebenslangen Wertschätzung Frankreichs
an. Es war gleichzeitig das Land, in dem er sich am frühesten verstanden
zu wissen glauben durfte. Nietzsche und Frankreich umreißt folgerichtig
eine Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Begegnungen, die sich je-
weils durch ihre Wechselwirkung auszeichnen und in ihrer historischen
wie systematischen Tiefendimension bzw. Aktualität ausgelotet werden
sollen. Der 200. Jahrestag der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt
vom 10. bis 14. Oktober 1806, zu deren Gedenken die Tagung, aus der
dieser Sammelband hervorgegangen ist, stattgefunden hat,2 war aller-
dings gleichzeitig Anlaß zur Frage, inwiefern es sich dabei um eine
gegenseitige Überwältigung und Bemächtigung, sei’s in einem kriege-
rischen, sei’s in einem kämpferischen Sinne, handelt, kurz: um die
Handgreiflichkeit einer ,Interpretation‘ im interpretationsbedürftigen

1 JGB 254, KSA 5, S. 198 – 200, hier S. 198 (zu den Siglen siehe das Verzeichnis
am Ende dieser Einleitung).
2 „Nietzsche und Frankreich“, internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesell-
schaft e.V. vom 24. bis 26. August 2006 in Naumburg und am 27. August 2006
in Röcken; wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Clemens Pornschlegel und
Prof. Dr. Martin Stingelin, Organisation: Ralf Eichberg; mit freundlicher
Unterstützung des Landes Sachsen-Anhalt und der Französischen Botschaft in
Deutschland.
2 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

Sinne Nietzsches.3 In drei Dimensionen beziehungsweise aus drei


Perspektiven, denen wir die Beiträge zugeordnet haben, soll diese Frage
hier erörtert werden: A. Nietzsches Frankreich-Rezeption; B. Fran-
zösische Nietzsche-Rezeption; C. Interpretationen.

A. Nietzsches Frankreich-Rezeption
Die Frage, wie ,philologisch‘ Nietzsche im Umgang mit ,französischen‘
Autoren verfährt, stellt sich weniger bei Heinrich Heine, der selbst in
vergleichbarer Weise wie Nietzsche einen experimentierenden Grenz-
gänger verkörpert, als etwa bei August Strindberg, den er als ,Franzosen‘
betrachtet – im Gegensatz zu Émile Zola, den er im gleichen Atemzug
kurzerhand zum ,Italiener‘ erklärt. Der Meridian, auf den diese Topo-
graphie geeicht ist, durchzieht in demselben Grad ,Cosmopolis‘,4 wie es
sich dabei um eine Bücherwelt handelt.5 Daher haben alle Beiträge zur
ersten Sektion teil am Projekt, Nietzsches ,ideale Bibliothek‘ zu re-
konstruieren, in der sich die bedeutendsten Ereignisse seiner Begegnung
mit Frankreich abspielen.

3 Der Schauplatz der Begegnung von Nietzsche und Frankreich wäre aus der
Perspektive Nietzsches also nicht zuletzt jenes Feld, auf dem „etwas Vorhan-
denes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm
überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen,
zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; dass alles Ge-
schehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä l t i g e n , H e r r w e r -
d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-In-
terpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige ,Sinn‘ und ,Zweck‘
nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss.“ (Zur Genealogie
der Moral, Zweite Abhandlung 12, KSA 5, S. 313 – 316, hier S. 313 – 314).
4 Vgl. Mazzino Montinari, „Nietzsche in Cosmopolis. Französisch-deutsche
Wechselbeziehungen in der europäischen Décadence“, in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung Nr. 164, 19. Juli 1986, Tiefdruckbeilage, und ders. „Aufgaben der
Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der französi-
schen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Sigrid Bauschinger, Susan L. Cocalis
und Sara Lennox (Hrsg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968,
Bern und Stuttgart: Francke Verlag 1988, S. 137 – 148.
5 Vgl. Giuiano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par
Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001 (=
Perspectives germaniques).
Nietzsche ,und‘ Frankreich 3

B. Französische Nietzsche-Rezeption

Die französische Nietzsche-Rezeption – insbesondere durch den


,Poststrukturalismus‘6 – hat ihrerseits deutsche Kriegserklärungen pro-
voziert: „Eine andere Reaktion auf den ,Tod Gottes‘ ist die vor allem,
aber nicht nur im zeitgenössischen Frankreich anzutreffende, die eher an
Nietzsche und den Sozialdarwinismus anknüpft. […] Die neufranzösi-
sche Kritik am ,Logozentrismus‘ (wie sie vor allem von Derrida, De-
leuze und Lyotard vertreten wird) trifft hier ein merkwürdiges Stell-
dichein mit Positionen à la Klages (von dem die Schimpfe gegen den
,Logozentrismus‘ herrührt), Spengler, Baeumler, die wir mit Recht als
präfaschistisch bezeichnen“.7
Dem gegenüber steht auf französischer Seite schon vor dem
Zweiten Weltkrieg eine vorweggenommene „Wiedergutmachung an
Nietzsche“, wie sie etwa durch den Epistemologen Georges Canguilhem
verkörpert wird, dessen Versuch, eine Begriffsgeschichte der Biologie
mit einer Biologie der Begriffe zu vermählen, sich methodisch durch
Nietzsches Philosophie im allgemeinen, seiner Sprachkritik und seiner
historischen Kritik im besonderen in einer Art und Weise unterrichten
ließ, deren Wirkungsmächtigkeit erst heute langsam zutage tritt.8 Die
bedeutendsten Vertreter dieser Bewegung verstanden ihre Nietzsche-
Lektüre im Anschluß an Canguilhem denn auch weniger ,kriegerisch‘
als ,kämpferisch‘, das heißt nicht als zerstörerische Überwindung, son-
dern als schöpferisches Ringen: Michel Foucault und Gilles Deleuze.9

6 Beispielhaft dokumentiert von Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus


Frankreich. Essays von Mazrice Blanchot, Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe
Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bvernard Pautrat, Frankfurt am Main und
Berlin: Ullstein Verlag 1986.
7 Manfred Frank, „Kleiner (Tübinger) Programmentwurf. Philosophie heute und
jetzt – ein paar Überlegungen“, in: Frankfurter Rundschau, 5. März 1988, S. ZB
3 („Feuilleton“).
8 Vgl. das – nicht nur in dieser Hinsicht – sehr instruktive Vorwort von Henning
Schmidgen, „Fehlformen des Wissens“, in: Georges Canguilhem, Die Heraus-
bildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert (1955, 1977), aus dem
Französischen übersetzt und durch ein Vorwort eingeleitet von Henning
Schmidgen, München: Wilhelm Fink Verlag 2008, S. VII-LVIII, insbes. S.
XLIX-LVIII („Wiedergutmachung an Nietzsche“).
9 Vgl. Martin Stingelin, „Kriegerische und kämpferische Lektüre. Friedrich
Nietzsche, Michel Foucault und Gilles Deleuze“, in: Neue Rundschau 111. Jg.
(2000), Heft 1, „…und Nietzsche und…“, Frankfurt am Main: S. Fischer
Verlag 2000, S. 77 – 81.
4 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

In ihren Augen war es ein Akt philosophischer Treue, sich Nietzsches


Begriff der ,Interpretation‘ kritisch zu bemächtigen, dem sie als Her-
ausgeber der französischen Übersetzung von Giorgio Collis und Maz-
zino Montinaris Kritischer Gesamtausgabe der Werke von Friedrich
Nietzsche einen Akt philologischer Treue zur Seite stellten.10 So wirkt
Nietzsche in Frankreich nicht zuletzt als „Lehrer“ einer „Goldschmie-
dekunst und -kennerschaft des Wortes“, das heißt „des langsamen Le-
sens“,11 und so ist es durchaus eine nietzschesches Echo, wenn Roland
Barthes die Kennzeichnung seines „Lehrstuhls für Literatursemiologie“
am Collge de France doppelt deutet: Die ,Literatur‘ bezeichnet für ihn
die Sammlung, den „Kodex von Nuancen“; die „Semiologie“ aber ist
jene Disziplin, jene unterweisende Einübung in das „Hören oder Sehen
von Nuancen“.12 Damit setzte Barthes jene Form der ,französischen‘
Nietzsche-Lektüre im von Nietzsche selbst inspirierten ,Geist‘ fort,
durch dessen esprit er sich am meisten verstanden fühlen durfte: „In
Paris selbst ist man erstaunt über ,toutes mes audaces et finesses‘ – der
Ausdruck ist von Monsieur Taine –; ich fürchte, bis in die höchsten
Formen des Dithyrambus findet man bei mir von jenem Salze beige-
mischt, das niemals dumm – ,deutsch‘ – wird, esprit… Ich kann nicht
anders. Gott helfe mir! Amen.“13

10 Vgl. Claude Jannoud, „Michel Foucault et Gilles Deleuze veulent rendre à


Nietzsche son vrai visage“, in: Le Figaro littraire N8 1065, 15 septembre 1966,
S. 7, in deutscher Übersetzung wiederabgedruckt in: Michel Foucault, Schriften
in vier Bnden / Dits et crits, herausgegeben von Daniel Defert und François
Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Band I: 1954 – 1969, Frankfurt
am Main: Suhrkamp Verlag 2001, Nr. 41, S. 708 – 712; und Gilles Deleuze und
Michel Foucault, „Introduction générale“, in: Friedrich Nietzsche, Le Gai
Savoir/Fragments posthumes (1881 – 1882), Paris: Gallimard 1967, S. I-IV, in
deutscher Übersetzung wiederabgedruckt in: Foucault, Schriften in vier Bnden /
Dits et crits, Band I, Nr. 45, S. 723 – 726.
11 Friedrich Nietzsche, Morgenrçthe, Vorrede 5, KSA 3, S. 17.
12 Roland Barthes, Das Neutrum. Vorlesung am Collge de France 1977 – 1978,
(2002), herausgegeben von Éric Marty, aus dem Französischen übersetzt von
Horst Brühmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp Velag 2005, S. 40 – 41. Zu
Barthes’ Nietzsche-Rezeption vgl. Daniela Langer, Wie man wird, was man
schreibt. Sprache, Subjekt und Autobiographie bei Nietzsche und Barthes, München:
Wilhelm Fink Verlag 2005 (= Zur Genealogie des Schreibens 4), insbes. S. 177 –
181.
13 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Warum ich so gute Bücher schreibe 2, KSA 6,
S. 301 – 302.
Nietzsche ,und‘ Frankreich 5

C. Interpretationen

Wie aktuell Nietzsches Denken in Frankreich geblieben ist, verdeutli-


chen die Beiträge der französischen Philosophen Jean-Clet Martin,
Catherine Malabou und Jean-Marc Hémion, die an die „poststruktu-
ralistische“ Nietzsche-Rezeption anknüpfen, insbesondere an Deleuze
und Derrida, um sie auf ebenso originelle wie kritische Weise fortzu-
schreiben. Was die drei Texte, jenseits ihrer unterschiedlichen Themen,
Thesen und Denkstile, verbindet, ist der intensive Gegenwarts- und
Realitätsbezug des philosophischen Denkens, der sich in der Tat auf
Nietzsches Geste des „Unzeitgemäßen“ berufen kann, das heißt eines
Denkens in der Zeit gegen die Zeit.14 Es geht ihnen nicht um eine a-
historische, überzeitliche oder ,reflexive‘ Logik (des Sinns, der Kom-
munikation, der Kunst, der Ideen, des ,reinen‘ Denkens), sondern um
ein interessiertes, abschätzendes Begreifen der Gegenwart, das heißt um
ein Denken, das aktiv in die Wirklichkeit einzugreifen sucht und sich
dabei nie vom Blickwinkel beziehungsweise von der Vielzahl der
Blickwinkel trennen läßt, unter dem die Dinge ,erscheinen‘. Die
Handhabung des philosophischen Begriffs im Sinn eines intervenie-
renden Akts gilt für Jean-Clet Martins programmatische Skizze einer
,post-humanistischen‘ Phänomenologie, die ausgeht von einer ,an-or-
ganischen‘ Körpererfahrung, ebenso sehr wie für Jean-Marc Hémions
Relektüre von Menschliches, Allzumenschliches, die Nietzsches Demo-
kratie- und Sozialismuskritik jenseits der üblichen politischen Denun-
ziationen und Meinungen ernst nimmt – nicht um sie gegen, sondern fr
die demokratische Gegenwart fruchtbar zu machen. Und das Ver-
ständnis der Philosophie als eines intervenierenden Denkens liegt auch
Catherine Malabous Versuch zugrunde, mit Nietzsche – ausgehend von
einer kritischen Revision der anti-hegelianischen Differenz-Philoso-
phien Deleuzes und Derridas – die seltsame (Nicht-)Identität geklonter
(Lebe)Wesen zu begreifen. „Und wenn alles sich verdoppelte? Wenn
alle Seienden sich vervielfältigten, ohne unterschieden und dennoch
nicht das Selbe zu sein? Und wenn das zentrale Problem der von
Nietzsche präfigurierten Philosophie unserer Epoche das Problem wäre,
ein Denken jenseits von Identität und Differenz zu erfinden?“ Cathe-

14 Vgl. Giogio Agamben, Che cos’ il contemporaneo?, Roma: Nottetempo 2008,


S. 8 – 9: „Appartiene veramente al suo tempo, è veramente contemporeaneo
colui che non coincide perfettamente con esso né si adégua alle sue pretese ed è
perciò, in questo senso, inattuale.“
6 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

rine Malabou begegnet mit der beunruhigenden Frage nach dem


ontologischen (Un-)Wesen von Klonen der These Jean-Clet Martins,
derzufolge der Körper, so wenig wie das „Ich“, keineswegs als originäre,
Welt fundierende Einheit gedacht werden könne. „Der Körper ist in
sich selbst bereits der Ort einer prozessualen Vielheit, die keine Einheit
der Welt stiftet, vielmehr eine wesentliche Unangepaßtheit erzeugt.“
Daß die Fragestellungen Malabous und Martins die techno-wissen-
schaftliche Gegenwart und ihre Effekte zu denken versuchen, daß sie
jeweils bestrebt sind, jene neuen ,Körper‘ zu begreifen, die in den
Maschinenkammern der Kliniken und Labore erzeugt werden, springt
in die Augen. „Philosophie“ beschränkt sich nicht auf die Wiederho-
lung ihrer historischen Begriffe und Systeme, und sie ist auch keine
nachträgliche Reflexion von ,Gegebenheiten‘ oder die Suche nach al-
lerletzten Gründen. Vielmehr meint sie die begriffliche Anstrengung,
das, was sich mit und in der Gegenwart ungedacht ankündigt, wahr-
nehmbar und denkbar zu machen, das heißt jenes unerhörte Ereignis
vernehmbar zu machen, das, einem stummen Gast gleich, bereits da ist,
unbemerkt und dennoch alles bestimmend.
Vielleicht ist es der „politische“ Text Jean-Marc Hémions, der die –
in Deutschland oft mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommene
– Affinität der französischen Philosophie zu Nietzsches experimentel-
lem, intervenierendem Denken (und umgekehrt die Affinität Nietzsches
zu Frankreich) am deutlichsten zum Ausdruck bringt. Die Affinität
verdankt sich nicht den ideologisch politischen „Positionen“ Nietz-
sches, wie zweideutig auch immer jene sein mögen, sondern in erster
Linie der „Position“ des Philosophen beziehungsweise der in Schule
und Universität instituierten Philosophie gegenüber dem Gemeinwesen
und seiner „Agora“. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob Phi-
losophie, wie in der deutschen Tradition, in der Hauptsache als säkulare
oder säkularisierende Fortsetzung protestantischer Theologie betrieben
wird,15 oder ob sie, wie in Frankreich, institutionell je schon eingebettet
ist in eine „République“, die sich selbst als Gemeinschaft freier, auf-
geklärter und vernünftiger „citoyens“ instituiert und jede Theologie mit
ihren normativen Letztbegründungen und Absoluta von vornherein aus

15 Vgl. Jürgen Habermas, „Heidegger – Werk und Weltanschauung“, in: Victor


Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus (1987), aus dem Spanischen und
Französischen übersetzt von Klaus Laermann, Frankfurt am Main: S. Fischer
Verlag 1989, S. 36. Habermas definiert dort den „Hauptstrom der deutschen
philosophischen Überlieferung seit Kant“ als wesentlich „protestantisch“.
Nietzsche ,und‘ Frankreich 7

dem Bereich der politischen Öffentlichkeit ausgegrenzt hat. Was mit


dieser Ausgrenzung überflüssig wird, ist das, was Gilles Deleuze und
Félix Guattari – unter Berufung auf Nietzsche – einmal als „la rage de
fonder“, als „Gründungswut“ der deutschen, philosophischen Traditi-
on, von Kant bis Feuerbach, bezeichnet haben. Sie ist „philosophie
française“ in der Tat sehr fremd.
„Die französische Philosophie beruft sich auf eine Republik der freien
Geister und ein Denkvermögen als der ,chose la mieux partagée‘, die sich
schließlich im revolutionären ,cogito‘ ausdrücken wird. […] In Deutsch-
land hört man demgegenüber nicht auf, über die Französischen Revolution
zu reflektieren als genau das, was man nicht realisieren kann. Was
Deutschland nicht zu realisieren vermag, gibt es sich umso intensiver zu
denken auf. […] Wenn die Philosophie sich im modernen Rechtstaat re-
territorialisiert, wird der Philosoph zum Philosophieprofessor. In Frank-
reich ist er es indes aufgrund eines Vertrags, in Deutschland kraft Gründung
und Institution.“16
So knapp diese Beschreibung ist, so treffend ist sie. Während die mo-
derne französische Philosophie von vornherein als Teil einer aufge-
klärten, revolutionären Republik figuriert und der Philosoph mithin
„citoyen“ unter anderen „citoyens“, ist sein deutscher Kollege vor allem
damit beschäftigt, die Grundlagen und Voraussetzungen derselben
Republik zu bedenken – und zwar als einer Sache, die es noch nicht
oder nur idealiter gibt und deren vernünftige Regeln es umso gründli-
cher zu befestigen gilt. Daß die cartesische „raison“ unter allen Men-
schen „la chose la mieux partagée“ sei, davon kann im Land der
frömmelnden Schwärmer und der „faulen Gemütlichkeit“ (Hugo Ball)
niemand ausgehen. Die deutsche Philosophie ist deswegen traditionell
mit der schwergewichtigen Aufgabe betraut, die transzendentalen Re-
geln und Gründe einer vernünftigen Ordnung oder eines „idealen
Staates“ zu fixieren, und das heißt, sie kann gerade nicht jener expe-
rimentierende, freie Geist sein, der jenseits des sozialen Gehorsams und
jenseits der damit verbundenen Verantwortlichkeiten denkt. Unschuld,
Wagnis und Verantwortungslosigkeit sind indes genau das, was Nietz-
sche – dessen außer-universitäre Existenz bekanntlich kein Zufall ist –
für das Denken reklamiert, und zwar gegen die Tradition der deutschen
Philosophie. In Frankreich kann jenes Wagnis und jene Unverant-
wortlichkeit umso mehr geschätzt werden, als sie dort nicht als vor-

16 Gilles Deleuze, Félix Guattari, Qu’est que la philosophie ?, Paris: Les Éditions de
Minuit 1991, S. 99 – 100 (deutsche Übersetzung von uns, C. P. und M. St.).
8 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

auseilende Destruktion der aufgeklärten Republik rezipiert werden


muß, vielmehr als Korrektiv und Kritik der Gesellschaft wirksam
werden kann.
Die unterschiedlichen historischen Bedingungen des Philosophie-
rens ins Gedächtnis zu rufen, wie verkürzt und rudimentär auch
immer,17 erlaubt immerhin, die französischen ,Unbefangenheiten‘ im
Umgang mit Nietzsches Vernunft- und Demokratiekritik genauer
einzuschätzen und deutsch-französische Konfusionen zu vermeiden.18
Jean-Marc Hémions Lektüre der Demokratie-Kritik Nietzsches steht
exemplarisch für den Gewinn ein, den eine Philosophie des Politischen
und eine Theorie der Demokratie aus Nietzsches Aphorismen, ja selbst
aus den berüchtigten Überlegungen zum Griechischen Staat zu schlagen
vermag.
„Die Demokratie als Macht der Vielheit, auch als politische Abweichung
und Luxus der Dauer, die Demokratie adressiert Nietzsche sich als
Selbstkritik, zugleich als Kritik der möglichen Gefälligkeiten der kritischen
Autonomie. Die Wissenschaft vom Unheil läßt sich nicht trennen von der
,Grausamkeit‘, durch welche der problematische Charakter der Existenz –
die Ungleichhheit jeder Gegenwart mit sich selbst eher noch als die
historische Form der Sklaverei – bis zur Erschütterung gedacht wird.“
Was Hémions Lektüre in Nietzsches – alles andere als eindeutigem –
Text freizulegen versteht, ist nicht die kleine, ideologische Figur eines
zum Neo-Aristokratismus übergelaufenen Kleinbürgers. Das wäre in
der Tat weder der Rede noch der Lektüre wert. Es ist vielmehr die
Figur einer radikalen Aufklärungskritik, welche die Widersprüche der
Moderne – an erster Stelle den Widerpruch zwischen Fabrik-Sklaverei
und angeblicher ,Freiheit‘, zwischen ,Menschenwürde‘ und erbärmli-
cher Existenz – nicht in dialektischem Optimismus und romantischem
Eskapismus auflöst, sondern ihnen in einem Theater der Grausamkeit
standzuhalten sucht. Nicht als bewußtlose und passive Affirmation
dessen, was so grausam ist, sondern als Voraussetzung einer möglichen,
neuen Schöpfung, die dem Leiden entrissen wird. „Solange man nicht

17 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Clemens Pornschlegel, „Der Ort der
Kritik. Zur Diskussion der Menschenrechte bei Gilles Deleuze und Félix
Guattari“, in: Friedrich Balke und Joseph Vogl (Hrsg.), Gilles Deleuze. Flucht-
linien der Philosophie, München: Wilhlm Fink 1996, S. 179 – 197.
18 Damit läßt sich womöglich eine neuerliche Wiederholung jener grotesken
politischen Mißverständnisse ausschließen, in denen sich ein Großteil der
(angeblich) aufgeklärten, deutschen Beobachter der französischen Nietzsche-
Rezeption der sechziger und siebziger Jahre gefiel.
Nietzsche ,und‘ Frankreich 9

einen ganzen Komplex von Unmöglichkeiten hat, wird man nicht diese
Fluchtlinie finden, diesen Ausweg, den die Schöpfung darstellt.“19
Anders gesagt, Nietzsches Tränen, deren Spuren Hémion liest, gehören
keiner sentimentalen Vormoderne, sie entsprechen vielmehr den
Grausamkeiten der Moderne, die ihre eigene Problematik unter dem
Schleier ruchloser Optimismen verbirgt. Und deswegen kann Hémion
auch von einer „nietzscheanischen Selbstkritik der Demokratie“ spre-
chen.
Die „nietzscheanische Selbstkritik der Demokratie“ ist nach wie vor
ein Gallizismus, ein Syntagma, das im Deutschen bislang nur als
Übersetzung aus dem Französischen vernehmbar ist. Vielleicht tragen
die in diesem Band versammelten Beiträge zur französischen Rezepti-
onsgeschichte Nietzsches sowie die Einblicke in die Arbeit französischer
Philosophen mit Nietzsche dazu bei, daß der Gallizismus in Verges-
senheit gerät und Nietzsches anderes Deutsch, nicht nur auf Franzö-
sisch, sondern auch auf Deutsch hörbar wird. Ohne die französische
Gastfreundschaft – das zeigen alle Beiträge dieses Bandes – hätte
Nietzsche die deutsche Geschichte und das deutsche Denken wohl
kaum überlebt. Die Aufsätze sind deswegen auch eine Danksagung an
alle jene französischen Philosophen, Schriftsteller und Publizisten, die
Nietzsche auf die eine oder andere Weise aufgenommen haben.

***
Der Dank der beiden Herausgeber gilt darüber hinaus der Nietzsche-
Gesellschaft, die sie mit der wissenschaftlichen Leitung der Tagung und
der Publikation ihrer Forschungsergebnisse beauftragt hat, im allge-
meinen, ihrem Geschäftsführer Ralf Eichberg für seine ebenso tat-
kräftige wie umsichtige Unterstützung im besonderen. Thorben Päthe
war den Herausgebern eine unverzichtbare redaktionelle Hilfe.
Nietzsches Briefe und Werke werden nach den Siglen der Stan-
dardausgaben zitiert, allen voran:
KGB = Friedrich Nietzsche, Kritische Gesantausgabe des Briefwechsels,
herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin und New York: Walter de Gruyter 1975 – 2004.

19 Gilles Deleuze: Unterhandlungen (1972 – 1990) (1990), aus dem Französischen


übersetzt von Gustav Roßler, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1993,
S. 194 – 195.
10 Clemens Pornschlegel und Martin Stingelin

KGW = Friedrich Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe der Werke, her-


ausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin
und New York: Walter de Gruyter 1967 ff.
KSA = Friedrich Nietzsche, Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in
15 Bnden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, München/Berlin und New York: Deutscher Ta-
schenbuch Verlag/Walter de Gruyter 1980, 1988 (2., durch-
gesehene Auflage).
KSB = Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8
Bnden, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, München/Berlin und New York: Deutscher Ta-
schenbuch Verlag/Walter de Gruyter 1986.
A. Nietzsches Frankreich-Rezeption
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy
Thomas H. Brobjer

If one were to regard, understand and judge Nietzsche and his philoso-
phy based only on his relation to French philosophers and philosophy
(the “French Nietzsche,” but in a different sense than the usual one,
which refers to French interpretations of Nietzsche’s thinking), one
would get a rather different view of him than the conventional one
(the “German Nietzsche”). His two favourite French philosophers,
and the ones he read most frequently, were Montaigne and Voltaire –
both broadly speaking belonging to the Enlightenment tradition – and
his harshest polemics were directed at the “romantic” Rousseau, al-
though he seems to have read very few of his works. He also read
and praised Diderot, but he seems never to have felt any deep kinship
with him, or any great enthusiasm for his philosophy. A strong influence
on especially the middle Nietzsche was the French moralists: La Roche-
foucauld, Vauvenargues, Chamfort, Fontenelle and La Bruyère. Several
of them lived during the seventeenth century, as did Pascal, to whom
Nietzsche had a rather intense and sympathetic but ambivalent relation.
Pascal is, in fact, the French philosopher Nietzsche most frequently re-
fers to. Among the important French philosophers, Descartes, Condil-
lac, Saint-Simon and Comte seem to have had little direct impact on
him. Among contemporary nineteenth century French philosophers,
he especially praised and intensively read H. Taine and denigrated E.
Renan, in spite of the fact that they in many respects belong to the
same tradition. He also attentively read and valued A. Fouillée and J.-
M. Guyau, but often disagreed with them.
The “French Nietzsche” does not carry the same metaphysical or
pseudo-methaphysical burden that the “German Nietzsche” perhaps
never fully managed to shake off. The “French Nietzsche” is also less
philosophical than the “German” one. The time when Nietzsche
began to extensively read French books (from 1883 onwards), and
thus be more accessible for direct French influences, is also the time
when he essentially stopped reading philosophical books. He certainly
continued to read many literary and cultural texts with philosophical
relevance, but relatively few primarily philosophical ones. By 1883
14 Thomas H. Brobjer

Nietzsche had found most of his own philosophy, and he was less open
for new philosophical influences.
The mature Nietzsche had a highly positive attitude toward France
and French culture. He had a good knowledge of and enthusiasm for
French culture generally, French literature, French literary criticism,
French writers of memoirs and French history, and he was profoundly
influenced by his reading in these fields. It influenced his view of psy-
chology, decadence, style, aesthetics and thinking generally, and made
French culture a contemporary counterpoint to German culture in his
writings.1 The books he read about French culture and literary criticism
often also contained material relevant for his view and knowledge of
philosophy, including discussions of Voltaire, Rousseau and others.
His knowledge of French philosophy was somewhat more limited,
but nonetheless was an important influence on him. His interest in
French contemporary politics seems to have been minimal.
Nietzsche’s relation to French culture and literature can, broadly
speaking, be divided into two periods (which correspond well with
his knowledge of the French language). Until about 1878/79 he had
no close relation to French culture, and read very few books in French.
In fact, for a while during the period 1876 – 80 he was open to reading
British and American authors in translation.2 After 1878/79 he became
increasingly enthusiastic about French culture and began to read books
which were central to it and books about it, both in German translation

1 Nietzsche had extensive knowledge of French literary (and cultural) criticism.


In the 1880 s he read, among others, Sainte-Beuve, Taine, Renan, Brunetière,
Bourget, d’Autrevilly, Paul Albert, Lois Desprez, Eugène Fromentin, Bérard
Varagnac, Émile Gebhart, Jules Lemaître, Emil Montégut, Edmont Scherer
and the brothers Goncourt.
Knowledge of this reading is, for example, essential for an understanding of
Nietzsche’s concept of dcadence. One recent work that takes this into account
but emphasizes the British and biological influences on Nietzsche’s view of dec-
adence is Anette Horn’s Nietzsches Begriff der décadence: Kritik and Analyse der
Moderne, Frankfurt, 2000. Mazzino Montinari has attempted to draw attention
to Nietzsche’s extensive reading of French literature in his article “Aufgaben
der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches Auseinandersetzung mit der fran-
zösischen Literatur des 19. Jahrhunderts,” in Nietzsche heute, edited by Sigrid
Bauschinger, Susan L. Cocalis and Sara Lennox, 137 – 148. Important is also
Giuliano Campioni’s Les lectures franÅaises de Nietzsche, Paris, 2001, and Tobias
Dahlkvist’s contribution to this volume.
2 I discuss this extensively in Nietzsche and the ‘English’:The Influence of British and
American Thinking on His Philosophy, Prometheus Press, Amherst, N. Y., 2008.
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 15

and in the original French. From 1883 onward he also began to live
about a third of each year in France (mostly in Nice).3 Many of the
books Nietzsche read in this second period, and especially after 1883,
were in French.

Before continuing discussing Nietzsche’s relation to French philosophy,


let us summarize his knowledge of the French language. Unlike the case
with English, Nietzsche studied French at school. He had up to nine
years of French at school, but showed no interest in or aptitude for
it. He had French for two and a half years at the Weber Institute and
then for another three years at the Naumburg Domgymnasium, with
average or below-average grades.4 At Schulpforta French was his second
or third worst subject (only slightly better than mathematics and on the
same level as his Hebrew). It was normally taught in the last three and a
half years, and Nietzsche seems to have followed this pattern. In the first
semester of French at Pforta, he seems to have been helped by his pre-
vious study, but thereafter his grade was, on average, below “satisfacto-
ry” [“befriedigend”] and on his graduation certificate his knowledge of
French was summarized with the words: “On the whole satisfactory.”
With the exception of a brief remark in a letter to his sister he never
spoke of his French studies.
Nietzsche had several different French teachers, but for the last two
years he had Professor Koberstein, whom he liked and respected. Ulrich
von Wilamowitz-Moellendorff, who was three years behind Nietzsche
at Pforta but had the same French teacher, claimed that French instruc-
tion there was bad and was regarded as unimportant.5
Nietzsche’s unsatisfactory grasp of French, together with the fact
that the teaching of it at Pforta had been philologically oriented –

3 During the years 1880 – 1883 Nietzsche spent a fair amount of time in Italy (es-
pecially Venice and Genoa) and French may have been his main language for
communicating with people there.
4 At the first term of “Quarta” at the Naumburg Domgymnasium he had a 4
(“wenig befriedigend”) in French, on a scale from 1 to 5, but the following se-
mester it improved to a 3.
The teaching at the Domgymnasium was directed at Latin and Greek. They had
six hours a week of Latin and Greek, followed by mathematics and history (in-
cluding geography) with three hours per week and religion, German and
French with two (but three in the first year).
5 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848 – 1914, Leipzig, no
publication year but the preface is dated 1928, p. 77 f.
16 Thomas H. Brobjer

that is to say, it emphasized reading rather than speaking – made


Nietzsche feel a strong urge to improve his spoken French after leaving
Schulpforta. In a letter from 3 May 1865 he told his sister and mother of
his plans for the coming summer: “before all else, I also want to learn to
speak a bit of French.” He seems not to have carried out these plans, or
to have done so only to a very limited degree. While he was a student in
Leipzig there was a man from France in his eating group, and he hoped
that this would help him to improve his French. However, in a letter
home he complained that the man spoke so quickly that he could not
understand a single word.
Two years after he became a professor in Basel he planned to visit
Northern Italy and wrote a letter to his mother and sister asking if either
of them would like to accompany him – and at the same time mention-
ing that he did not know Italian but that one could get by with French
(of which at least his sister, and perhaps his mother, had a better knowl-
edge than Nietzsche himself). A year later, in February 1872, he intend-
ed to visit the French part of Switzerland for the sake of learning and
practicing his French, writing: “It seems to me both wise and necessa-
ry.”6 However, in the end he did not go there. In October 1872 his Die
Geburt der Tragçdie was being translated into both French and Italian, and
he wrote to his friend Gersdorff that he hoped to learn or improve his
knowledge of both languages from the translations. This was almost cer-
tainly a vain hope, although he carefully read the French translations of
his own books during the 1870s. In the spring of 1875, in letters to Frau
Baumgartner, who was then translating his Schopenhauer als Erzieher into
French and had had difficulties with a faulty quotation of Montaigne in
the work, he admitted: “my French is far from satisfactory, and before I
idealize Montaigne, I should at least understand him correctly.” In the
end he recommended that she leave out most of the quotation and the
reference to Montaigne altogether for the French version, so that the
statement he had attempted to quote instead became his own.
Later in 1875, Nietzsche received E. Schuré’s Le drame musical, in
two volumes, from the author himself, who, like Nietzsche at this
time, was an active Wagnerian. In letters Nietzsche commented on
the style and contents of the book and thus must have read it at least
in part, but it is likely that the reading was limited and superficial. At
this time he still read essentially no French books in the original lan-

6 Letter to mother and sister, 14 February 1872.


Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 17

guage, and when he ordered books by French authors he would always


ask for, and if necessary wait for, the German translation.7
Still more indicative of his lack of French at this time is his interest
in French literary judgments from 1879 onwards. He asked his sister in a
letter dated 17 February 1879 to translate all of Ximénès Doudan’s
judgments about literature. He wrote that he had to be able to trust
the translations completely. Elisabeth sent the translations to him in in-
stalments. At the same time, in March 1879, he also asked Frau Baum-
gartner to translate all of Prosper Mérimée’s literary judgments out of
Lettres  une inconnue; and Ida Overbeck, his friend’s wife, translated se-
lected parts of Charles-Augustin de Sainte-Beuve’s Causeries du lundi
into German, possibly at Nietzsche’s behest, and certainly at least in
part for his sake. A year later Nietzsche mentioned in a letter that she
also had translated for him a “lengthy French treatise” by P. Albert
about French literature with the title “Variétés littéraires.”8
These requests for translations of French texts show Nietzsche’s in-
terest in French literary judgments and thinking, and it was also at this
time that he began to improve his French to the extent that he could
read it without serious obstacles.9 There are a couple of plausible reasons
for this, apart from his increasing interest in French thinking, especially
literary thinking: his plans to visit Paris for a longer period of time
would make French necessary, and the fact that he left his professorship
gave him more time to fulfil his plans than earlier. In a postscript to a
letter to Overbeck, 12 August 1879, Nietzsche mentioned that the
first book he had started to read was French, Les Moralistes Romans by
Martha. That year he also seems to have read Fontenelle’s Dialogues
des morts (which he referred to with the French title and which today
is found in his library); possibly another work by Fontenelle; Stendhal’s
letters; and Les beaux arts  l’exposition universelle, by his acquaintance Ga-
briel Monod.
In 1880 Nietzsche’s reading of French books increased. He referred
in a letter from early 1880 to Balzac’s Un prince de la Bohme as if he had

7 As an example of an indication of Nietzsche’s limited knowledge of French at


this time, see Elisabeth’s letter to him from 3 – 4 April 1876: “Do not worry
about talking French, famous people are allowed to speak any language they
choose.”
8 Nietzsche later bought and read several volumes of P. Albert’s works about
French literature in French.
9 However, already in 1876/77 Nietzsche had read La Rochefoucauld and prob-
ably also Vauvenargues and Chamfort in the original French.
18 Thomas H. Brobjer

read it, he may have read Stendhal’s De l’amour, and he stated explicitly
that he was reading George Sand’s Histoire de ma vie. In a letter to Over-
beck dated 14 October 1880 Nietzsche asked him to send, as soon as
possible, a French-German dictionary. This is probably a reflection of
Nietzsche’s first serious French reading – the first reading of French
that led to a number of notes in his notebooks – of the Mmoires de Ma-
dame de Rmusat (1802 – 1808), 3 vols. (Paris, 1880), which Peter Gast
had given him as Christmas gift in December 1879 and January 1880.
We have no evidence that he read French books in 1881 or 1882,
but in 1883 he seems to have read Stendhal’s De l’amour (a second
time) and possibly intended to read A. Blanqui’s L’ternit par les astres
(Paris, 1872), which is listed in his notebooks. It is, however, likely
that he read some further texts in French as well during these years.
In early December 1883 Nietzsche travelled to Nice for the first
time and then spent the winter there, until April 1884. At this point
his reading of French seems to have become fluent. He spent all of
his remaining winters in Nice, except the final one of 1888 – 89. In De-
cember 1883 Nietzsche borrowed (probably from the library in Nice)
and began to read Paul Bourget’s Essai de psychologie contemporaine
(Paris, 1883) and then continued to read it in 1884 with much appreci-
ation. That year he also recommended to Overbeck the Mmoires der
Herzogen von Abrates as a supplement to the Mmoires de Rmusat. He
also read Balzac’s Correspondance 1819 – 1850 and A. de Custine’s Mm-
oires.
We can thus conclude that Nietzsche probably could read French
from the early 1860 s on, but it required such an effort that he read
few books in French until 1879/80, and more clearly 1883/84. The
change in his reading fluency of French in 1883/84 (associated with
his stay in Nice) seems to have been rather dramatic, for in 1884 he
read a large number of books in French and he continued to do so
until his mental collapse in January 1889. As we have seen, most of
the French books he read were not philosophical ones. They constituted
a small minority that will be discussed below.

Nietzsche’s reading and knowledge of French philosophy can be divid-


ed schematically into four fairly distinct periods. The young Nietzsche
(until he became professor in Basel in 1869) read little or no French phi-
losophy. He did, however, read at least one work each of Voltaire and
Rousseau, Histoire de Charles XII (the early eighteenth-century Swedish
king) in 1861 and Emil, in 1862, but these are not primarily philosoph-
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 19

ical texts and he did not read them with a philosophical eye. The an-
thologies of French literature used at Schulpforta, Leloup’s Franzçsische
Lesebuch and Herrig et Burguy’s La France littraire, contain a few selected
texts that are philosophically relevant, but we have no knowledge of any
interest or response to these texts on Nietzsche’s part.10 In 1863
Nietzsche showed an interest in the history of the French Revolution
– a theme that would continue to echo through his mature writings.11
The most important reading relating to French philosophy in these
years was probably his reading and extensive excerpting out of the lit-
erary historian H. Hettner’s Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts: Theil
II. Geschichte des franzçsischen Literatur im XVIII Jahrhundert, in early
1863.12 The chapters he most extensively excerpted were called: Vol-
taire. 1. Voltaire’s Life and Personality. 2. Voltaire as Philosopher, although
he also excerpted a few other chapters from the book. A major theme
of Hettner’s discussions of Voltaire (and thus also of Nietzsche’s ex-
cerpt) is his relation to and critique of Christianity. It is not impossible
that it was this aspect that attracted Nietzsche, for in 1863 he was in the
middle of his breach with his faith, and the later Nietzsche’s many ref-
erences to Voltaire focus on him as a critic of Christianity. Though we
have little direct evidence of it, the reading about Voltaire may have
helped Nietzsche to liberate himself from Christianity. During his stu-
dent years, 1864 – 68, Nietzsche seems to have read no French philoso-
phy at all, although he would have gained some knowledge of it
through his reading of Schopenhauer, Lange, Überweg and others,
and through Schaarschmidt’s course surveying the history of philoso-
phy.
This general disinterest in French literature, culture and philosophy
continued throughout the early period of the mature Nietzsche (1869 –
76). During the time of the Franco-Prussian War and as long as he re-
mained under Wagner’s influence, he showed little interest and sympa-

10 Nietzsche’s bad French probably contributed to ensure that he profited little in


philosophical respects from this reading.
11 For Nietzsche’s discussion of the French Revolution, and revolutions generally,
see the excellent study by Urs Marti, “Der Grosse Pçbel- und Sklavenaufstand”:
Nietzsches Auseinandersetzung mit Revolution und Demokrati, Stuttgart, Weimar,
1993.
12 The handwritten manuscript is located in the Goethe-Schiller Archive in Wei-
mar with the signum Mp V 22 or 71 – 220.
20 Thomas H. Brobjer

thy for French culture.13 Until 1873 he even sympathized with German
nationalism. Even in the field of aesthetics, a field in which he later
would be very open to French influence, he showed no appreciation
of French views.14
The only two French philosophers Nietzsche seems to have read in
this period are Montaigne and possibly Voltaire. Nietzsche much appre-
ciated, learned from and highly praised both of them throughout his life.
Nietzsche received the French sixteenth century humanistic and
sceptic philosopher Michel de Montaigne’s Essays from the Wagners

13 Examples of Nietzsche’s negative or sceptical attitude towards French culture


and language at this time are:
“(Endlich auch bin ich betrübten Muthes, Schweizer zu sein! Es gilt unsrer
Kultur! Und da giebt es kein Opfer, das groß genug wäre! Dieser fluchwürdige
französische Tiger!)”. Letter to mother, 16 July 1870.
“Das Fatalste in den [restaurant] 3 Königen war mir übrigens die durchherr-
schende französische Gesinnung und Sprache an der großen Tafel.” Letter to
mother and sister, 23/24 Oct. 1870.
“Ich bin muthiger als je: denn noch nicht Alles ist unter französisch-jüdischer
Verflachung und ,Eleganz‘ und unter dem gierigen Treiben der ,Jetztzeit‘ zu
Grunde gegangen. Es giebt doch noch Tapferkeit und zwar deutsche Tapfer-
keit, die etwas innerlich Anderes ist als der elan unserer bedauerungswerthen
Nachbarn.” Letter to Gersdorff, 21 Juni 1871.
“daß Frau Baumgartner eifrig und glücklich daran übersetzt (bis jetzt bis zu
Cap. 5) habe ich Dir wohl erzählt, sie hat viel Übung und Geschmack, aber
bei vielen ihrer Sprachbemerkungen danke ich doch dem Himmel ein
Deutscher zu sein, ich möchte nichts mit einer so ausgelitzten Sprache wie
die französische ist zu thun haben.” Letter to Gersdorff, 24 Dec. 1874.
Finally, as an example of negative attitude toward the French expressed by those
in Nietzsche’s surroundings we can note Malwida von Meysenbug’s answer to
one of Nietzsche’s letters (from the 11 Aug.), 29 Aug. 1875: “dem Optimismus
ist, der so tief in der französischen Natur steckt, dass sie keine richtige Auffas-
sung des Lebens haben können. Alle ihre nationalen Fehler scheinen mir darin
zu wurzeln. Gebe der Himmel dass er nicht auch in Deutschland mit dem
wachsenden Positivismus, überhand nehme.” KGB II.6/1, p. 200 f.
14 See, for example, his two claims: “Für mein Gefühl ist alles Französische zu be-
redt und, bei Behandlung solcher Dinge wie die Musik, etwas zu lärmend und
öffentlich. Aber das ist der Fehler der Sprache, nicht Schure’s”. (Letter to Gers-
dorff, 21 July 1875. Nietzsche is discussing the French Wagnerian music-critic
Schuré and his book Le drama musical which he had sent to Nietzsche.)
“Es war so leicht meine Gedanken in einer fremden Sprache noch zu verdun-
keln; in der That, ich fürchtete immer etwas die pathetische Rhetorik des mod-
ernen Französisch”. (Letter to Marie Baumgartner, 2 Feb. 1877.)
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 21

over Christmas 1870.15 Nietzsche’s library contains two copies of Mon-


taigne’s Essays, one in French, Essais avec des notes de tous les commentateurs
(Paris, 1864) in one volume and a three-volume edition in German,
Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn
Peter Coste, ins Deutsche bersetzt (Leipzig, 1753 – 54), which probably
was the edition and copy he received from the Wagners.16 There are
no annotations in the French copy, but the German edition is heavily
annotated, especially the first volume.17 Nietzsche seems to have read
Montaigne thereafter in 1871 (although he made very few references
to him then) and in the second section of the third Untimely Meditation,
Schopenhauer as Educator (1874) he stated:
I know of only one writer whom I would compare with Schopenhauer,
indeed set above him, in respect of honesty: Montaigne. That such a
man wrote has truly augmented the joy of living on this earth. Since getting
to know this freest and mightiest of souls, I at least have come to feel what
he felt about Plutarch: “as soon as I glance at him I grow a leg or a wing.” If
I were set the task, I could endure to make myself at home in the world
with him.
Schopenhauer has a second quality in common with Montaigne, as
well as honesty: a cheerfulness that really cheers. Aliis laetus, sibi sapiens.
[Cheerful for others, wise for himself.]”
This was indeed high praise, but Nietzsche’s most intensive reading of
Montaigne was undertaken later, most notably in the late 1870 s and
in 1884 – 85.
With regard to Voltaire, we have no definite evidence that
Nietzsche read him before 1876, but he made a number of allusions
and brief references to him, which make some reading likely. However,
it is possible that most of these references had their origin in secondary
reading. It is likely that he read David Friedrich Strauss’s massive study
of Voltaire at this time,18 and certainly he referred several times to
Strauss’s appreciative references to Voltaire in his Der alte und der neue
Glaube. Nietzsche attempted to defend Voltaire (who “certainly was

15 Letter to Franziska and Elisabeth, 30 December 1870. “At Christmas I received


a splendid copy of ‘Beethoven,’ and a grand edition of the complete Montaigne
(whom I much respect).”
16 Cosima Wagner never mentioned Montaigne in her diaries, so one cannot use
her writings to determine which edition Nietzsche received.
17 The third volume contains no annotations, but many dog-ears.
18 Strauss’s book Voltaire is referred to in sections nine and ten of Nietzsche’s
David Strauss, the Confessor and the Writer (1873).
22 Thomas H. Brobjer

no Philistine”) against Strauss’s appropriation of him in David Strauss, the


Confessor and the Writer (1873) and in contemporary notes.
During Nietzsche’s middle period (1875/76 – 1881/82) he began to
read much more French philosophy. His reading of Voltaire and Mon-
taigne intensified beginning in 1876, he began to read Pascal in 1878
(and read him more intensively in 1880), and he read several of the
French moralists and aphorists: La Rochefoucauld, Vauvenargues,
Chamfort and La Bruyère.
The best-known and most discussed French philosophical influence
on Nietzsche is that of these French moralists (among whom Fontanelle
perhaps also can be counted). This group of thinkers has been empha-
sized as important for his thinking in his middle, sceptical and positivistic
period, and for his writing in the form of aphorisms in the middle peri-
od.19 There is surely some truth in this, but on the whole I suspect that
the importance of the French moralists as an influence has been exag-
gerated. There are at least three reasons for which they have so often
been emphasized as important. First, they offer an explanation for
why Nietzsche began to write in the form of “aphorisms” in 1878.20
Second, and most importantly, they provide a possible answer to why
he changed his philosophical position at this time. Finally, he praised
them in his writings:
European books. – When reading Montaigne, Larochefoucauld, La Bruyère,
Fontenelle (especially the Dialogues des Morts), Vauvenargues and Chamfort

19 W. D. Williams, Nietzsche and the French: A Study of the Influence of Nietzsche’s


French Reading on His Thought and Writing, Oxford, 1952.
Brendan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn 1982, reviewed in
Nietzsche-Studien 14 (1985), 369 – 373.
For more general accounts and discussions of Nietzsche’s relation to France and
French thinking and literature, apart from the two titles above, see also:
Beatrix Bludau, Frankreich im Werk Nietzsches: Geschichte und Kritik der Ein-
flussthese, Bonn, 1979.
Julius Wilhelm, Friedrich Nietzsche und der franzçsische Geist, Hamburg, 1939.
See also Charles Andler’s Nietzsche: Sa vie et sa pense, 6 vols., Volume 1: Les
prcurseurs de Nietzsche, Paris, 1920.
Important are also works by Montinari and Campioni, cited in footnote 1
above.
20 However, Nietzsche read and appreciated aphorisms by, among others, Goethe,
Schopenhauer, Lichtenberg and Paul Rée before he read the French moralists
in 1876. Rée read La Rochefoucauld and other French moralists with enthu-
siasm, and it seems likely that he was the main inspiration for Nietzsche to
begin reading them.
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 23

we are closer to antiquity than in the case of any other group of six authors
of any nation. Through these six the spirit of the final centuries of the old era
has risen again – together they constitute an important link in the great, still
continuing chain of the Renaissance. Their books are above the changes of
national taste and philosophical coloring which as a rule every book nowa-
days radiates and has to radiate if it is to become famous: they contain more
real ideas than all the books of German philosophers put together: ideas of
the kind that produces ideas and which – I am at a loss to finish the defi-
nition; it is enough that they seem to me authors who have written neither
for children nor for dreamers, neither for young ladies nor for Christians,
neither for Germans nor for – I am again at a loss to complete my list. –
But to state a clear commendation: if they had been written in Greek
the Greeks would have understood them. […] On the other hand, what
clarity and delicate precision those Frenchmen possess! Even the most
acute-eared of the Greeks must have approved of this art, and one thing
they would even have admired and adored, the French wittiness of expres-
sion: they loved such things very much without themselves being especially
gifted in them.21
However, the influence of Paul Rée was earlier and, in regard both to
content and style, was probably much more profound and fundamental
than that of the French moralists – and, in addition, it was Rée who in-
troduced Nietzsche to the French moralists. Furthermore, Nietzsche’s
references to these thinkers are few, and he did not read several of
them until long after he had made the transition from the aesthetic-met-
aphysical views of the early period to the more sceptical-positivistic
views of his middle period in 1875/76. It used to be common to date
the breach between the early and middle Nietzsche to 1878, the year
Human, All Too Human was published, since the breach was not visible
in his previous book, Richard Wagner in Bayreuth (1876). However, Ri-
chard Wagner in Bayreuth was mostly written in the first half of 1875, and,
at least since the appearance of the latest critical edition of Nietzsche’s
notes and letters, it is possible to see that the breach at least began to
occur earlier, in 1875/76. With the older dating of the breach as occur-
ring in 1878, the importance of the French moralists for Nietzsche and
his change was more likely, but with the new dating, their influence as
cause for the change becomes unlikely. Nonetheless, the French moral-
ists were undoubtedly important for him, and he was influenced by
some of them, but he also used them as signposts to signify his new po-
sition and therefore their importance has often been exaggerated.

21 The Wanderer and His Shadow, 214. Published in December 1879, but with the
publication year given as 1880.
24 Thomas H. Brobjer

As stated above, during the late phase (1883 – 1888) Nietzsche ex-
tensively read French texts, including some philosophers. However, at
this stage his own philosophy was much more firmly formed and he
was less open to new fundamental influences.
The French philosopher that probably meant most to Nietzsche was
Voltaire. As we have seen above, he may have aided in Nietzsche’s lib-
eration from Christianity (through Hetter). Voltaire is also as likely as
the French moralists to have contributed to and reinforced his thinking
during the middle phase, and he was at that time, by Nietzsche, regard-
ed as a supreme free spirit. It can even be argued that Voltaire in some
ways replaces Schopenhauer (but in a much less personal manner), just
as Rée replaces Wagner, as the main influences on his thinking.
In April 1876, Nietzsche visited Voltaire’s Fernay with enthusiasm,22
shortly thereafter he read much Voltaire in Sorrento,23 and he dedicated
his Menschliches, Allzumenschliches (1878) to the memory of Voltaire –
“to offer personal homage at the right moment to one of the greatest
liberators of the spirit.”24 Voltaire became one of Nietzsche’s heroes,

22 See letter to Elisabeth Nietzsche, 8 April 1876. “My first respect was for Vol-
taire, whose house in Fernex [sic] I visited” and letter to Carl von Gersdorff, 15
april 1876. “When we meet again, I will tell you about Ferney, Voltaire’s site
(whom I brought my genuine tribute).”
23 Letter to Franz Overbeck, 6 December 1876. “Wir haben viel Voltaire gele-
sen”. It seems likely that they among others read Goethe’s translation of Vol-
taire’s Mahomet, for Nietzsche referred to this work in Human, All Too Human
(1878) and he recommended it to his sister as suitable for reading in groups, 13
February 1881.
24 On the title page of the first edition of Human, All Too Human from 1878 he
wrote: “Dedicated to the memory of Voltaire on the celebration of the anni-
versary of his death, May 30, 1778.”
On the next, otherwise empty, page Nietzsche added: “This monologue of a
book, which was written during a winter’s sojourn (1876 to 1877), would
not be made public now, if the proximity of May 30, 1878, had not aroused
the all-too-keen desire to offer personal homage at the right moment to one
of the greatest liberators of the spirit.”
In Ecce Homo he wrote: “’Human, All Too Human’ is the memorial of a crisis.
It calls itself a book for free spirits: almost every sentence in it is the expression of
a victory – with this book I liberated myself from that in my nature which did
not belong to me. Idealism does not belong to me […] The expression ’free spirit’
should here be understood in no other sense: a spirit that has become free, that has
again seized possession of itself. The tone, the sound of voice has completely
changed […] For Voltaire is, in contrast to all who have written after him,
above all a grandseigneur of the spirit: precisely what I am too. – The name of
Voltaire on a writing by me – that really was progress – toward myself.” Ecce
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 25

a supreme free spirit, a true aristocrat of the spirit, a great stylist, a critic
of Christianity and the philosopher Nietzsche praised most of all in his
published writings. Nietzsche continued to read and praise him until
Ecce Homo (1888). In Human, All Too Human he wrote of him:
Voltaire was the last great dramatist to subdue through Greek moderation a
soul many-formed and equal to the mightiest thunderstorms of tragedy –
he was able to do what no German has yet been able to do because the na-
ture of the Frenchman is much more closely related to the Greek than is
the nature of the German – just as he was also the last great writer to possess
a Greek ear, Greek artistic conscientiousness, Greek charm and simplicity
in the treatment of prose speech; just as he was, indeed, one of the last
men able to unite in himself the highest freedom of spirit and an altogether
unrevolutionary disposition without being inconsistent and cowardly.25
In Ecce Homo he still saw Voltaire as a great aristocratically minded free-
thinker with whom he felt a kinship: “For Voltaire was above all, in
contrast to all who wrote after him, a grandseigneur of the spirit – like
me.”26 At the onset of his mental collapse he even came to identify him-
self with, among others, Voltaire: “I have been Buddha in India, Dio-
nysos in Greece […] Finally, I was even Voltaire.”27
Considering this high praise of Voltaire, one can perhaps be sur-
prised that Nietzsche did not include Voltaire with those he claimed
to converse with in the last section, 408, of Assorted Opinions and Max-
ims, called “Descent into Hades.”28 However, this section was added
Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,” 1,
Hollingdale’s translation.
25 Menschliches, Allzumenschliches, 221.
26 Ecce Homo, “Why I Write Such Excellent Books,” “Human, All Too Human,”
1.
27 Letter to Cosima Wagner, 3 Jan. 1889. For a discussion of the very late
Nietzsche’s relation to Voltaire, see P. D. Volz, “Nietzsche in Ferney: Eine
Voltaire-Reminiszenz aus der Wahnsinnszeit,” in: Nietzsche-Studien 20
(1991), 393 – 399.
28 Note that since several of the authors are among those Nietzsche had not read
intensively or extensively at this time (especially Rousseau, Epicurus and Spino-
za) and did not philosophically sympathize with (especially Plato, Rousseau and
perhaps also Spinoza and Pascal), it is possible that Nietzsche’s statement here is
better understood not as primarily referring to those specific eight thinkers, but
to four different approaches toward philosophy (compare his use of Rousseau,
Goethe and Schopenhauer in Schopenhauer as Educator): an essentially Greek-
skeptical approach (Epicurus and Montaigne), a pantheistic and nature-oriented
one (Spinoza and Goethe), an idealistic-enthusiastic one (Plato and Rousseau)
and finally an honest existential one (Pascal and Schopenhauer). Compare
Nietzsche Handbuch, ed. H. Ottmann, Stuttgart, Weimar, 2000, p. 103.
26 Thomas H. Brobjer

very late – and Nietzsche originally did not intend it to be the last sec-
tion. That it became the last section of the book, and that it even was
included, seems to a large extent have been due to Nietzsche’s publish-
er, Schmeitzner.29 Before the addition of section 408, Nietzsche had in-
tended to end the book with a reference to Voltaire.30 He sent
Schmeitzner an addition to section 407: “Let us at this place yet again
mention the name of Voltaire. What will one day be his highest hon-
our, given to him by the most free spirits of future generations? His
‘last honour’.” The implied answer to the question is: rendering himself
superfluous. It appears that this addition had to be cut, for the sake of
making room for the new last section “Descent into Hades.”31
Nietzsche owned four works by Voltaire, in eight volumes:
Geist aus Voltaires Schriften, sein Leben und Wirken (Stuttgart, 1837). This work is
no longer in his library.
Lettres choisies. Prcdes d’une notice et accompagnes de notes explicatives sur les faites
et sur les personnages du temps par Louis Moland. 2 vols. (Paris, 1876), 441 and
406 pages. Both volumes are annotated.
Smtliche Schriften, Bd. 1—3. (Berlin, 1786). No annotations in volumes one
and two. The third volume is missing from the library.32
Zare. In Nietzsche’s library there are two copies of this work, one in French
from 1859 with annotations and a German edition (which does not give
the year of publication) which has not been cut opened.
For none of these books do we have any information about when
Nietzsche bought and read them, but it seems most probable that he
bought and read Zaire (which contains annotations) as part of his school-

29 See letter to Schmeitzner, early March 1879.


30 The only explicit reference to Voltaire in Assorted Opinions and Maxims is in sec-
tion 4. In the first volume of Human, All Too Human, Voltaire was discussed in
five sections.
31 In a letter, 7 March 1879, Schmeitzner wrote to Nietzsche: “Daß diese Stelle
[die ,Hadesfahrt‘] gerade am Schluß des Buches steht, ist herrlich. Schade daß
die vorhergehende Nummer infolge dessen wieder gekürzt werden mußte.”
32 These three volumes do not contain the complete works of Voltaire, but an
extensive selection of novels, stories and dialogues. The three volumes are of
581, 503 and 518 pages respectively. Volume 1 contains, among others, Die
Prinzessin von Babylon, 1 – 152, Zadig, 153 – 286, Der Mann von vierzig Thalern,
287 – 416 and many shorter stories and dialogues. Volume 2 contains, among
others, Mikromegas: Eine philosophische Geschichte, 1 – 41, Memnon oder die mens-
chliche Weisheit, 65 – 78, ber Hobbes, Grotius und Montesquieu, 317 – 349, ber
die Seele, 349 – 356, ber die Religion, 422 – 434. Volume 3 contains, among oth-
ers, Candide, 1 – 214, Mark Aurel und ein Franzikaner, 312 – 319, Pythagoras in In-
dien, 461 – 465, Plato’s Traum, 471 – 476.
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 27

work and likely that he bought at least one or both of the German titles
before 1880. It seems likely that Nietzsche bought the collection of
Voltaire’s letters in French when he visited Fernay in 1876 (or shortly
thereafter). We know that he had read it by 1879, since he used it in
The Wanderer and His Shadow. 33
Nietzsche also had read Voltaire’s Histoire de Charles XII (in 1861),
Mahomet (in Goethe’s translation, before 1878), Zadig, Catilina, and
Candide. 34 It is probable that he read much more than this. Voltaire is
also frequently discussed and quoted in other books in Nietzsche’s li-
brary and in books he read,35 and he even excerpted statements regard-
ing Voltaire from Doudan, Baudelaire and the brothers Goncourt.
As stated above, Nietzsche had some knowledge and interest in Vol-
taire before 1876, but that year marked the beginning of his period of
intensive enthusiasm, which lasted until about 1880. During this period
he saw Voltaire as a supreme free spirit, a representative of the Enlight-
enment, a critic of Christianity, an aristocrat, and a writer with high
style. He even regarded Voltaire as in many ways having kinship with
the Greeks – which for him always was a supreme compliment.36
Thereafter his interest in and enthusiasm for Voltaire seems to have
cooled. He never became hostile toward him, but most of his references
to Voltaire became neutral and disengaged, and he criticized him on
several occasions. Clearly, Nietzsche’s enthusiasm for the Enlighten-
ment passed, and thus also for Voltaire as a representative of this move-
ment. After having read Galiani’s correspondence (including letters to

33 Nietzsche seems to be quoting from Voltaire’s Lettres choisies (Paris, 1876) in Der
Wanderer und sein Schatten, 140, 159 and 237.
34 Nietzsche made a vague reference to Candide in a letter to Elisabeth, 3 Novem-
ber 1886.
35 Voltaire is even mentioned in the titles of three other books in Nietzsche’s li-
brary:
Josef Popper, Das Recht zu Leben und die Pflicht zu Sterben. Sozial-philosophische
Betrachtungen, anknpfend an die Bedeutung Voltaires fr die neuere Zeit. 2. Aufl.,
Leipzig, 1879.
Marquis Luc de Clapiers Vauvenargues, Oeuvres choisies. Avec les notes de Voltaire,
Morellet, Suard, Fortia etc. Prcdes d’une notice sur la vie et les ouvrages de Vauve-
nargues par Suard, Paris, o. J.
F. Galiani, Lettres  Madame d’Epinay, Voltaire, Diderot, Grimm, etc. Publies avec
notice biographique par Eugene Asse, 2 vols. bound together, Paris, 1882.
Voltaire is, for example, extensively discussed in works Nietzsche read by Fer-
dinand Brunetière, Paul Albert and James Sully.
36 Human, All Too Human, 221.
28 Thomas H. Brobjer

Voltaire) in 1885, he referred to Galiani in several notes as more pro-


found than Voltaire. However, in other notes during this same period
he praised Voltaire,37 and on several occasions he referred to Schopen-
hauer’s kinship with Voltaire.
Nietzsche continued to feel kinship with Voltaire, especially in re-
lation to his critique of Christianity. After he received the first review of
the first book of Also sprach Zarathustra, he was most pleased, and wrote
to Overbeck: “Ever since Voltaire there has been no such attack –
against Christianity – and, to speak the truth, even Voltaire had no
idea that one could attack it in such a way “.38 He also made Voltaire’s
motto, “Ecrasez l’infame,” his own. In the autumn of 1887 Nietzsche
again revived his enthusiasm for Voltaire, probably inspired by his read-
ing of Ferdinand Brunetière’s tudes critiques sur l’histoire de la littrature
franÅaise (Paris, 1887), which contains a chapter entitled “Voltaire et
Rousseau,” annotated by Nietzsche in his copy of the book. In a num-
ber of notes he discussed Voltaire and Rousseau as representatives of dif-
ferent attitudes, and the relation between them. In these discussions he
again praised Voltaire highly: “Voltaire still comprehended umanit in
the Renaissance sense; also virt
(as ‘high culture’).”39 In a letter to
Peter Gast, he made his view explicit:
( Just observe how a man stands toward Voltaire and Rousseau: it makes all
the difference in the world whether he says yea to the former or the latter.
Voltaire’s enemies, for example, Victor Hugo, all the romantics – even the
sophisticated romantics, like the Goncourt brothers – are all gracious to-
ward the masked plebeian Rousseau; I suspect that there is a certain
amount of plebeian rancour at the basis of romanticism …) Voltaire is a
glorious intelligent canaille; but I share Galiani’s opinion: “un monstre
gai vaut mieux – qu’un sentimental ennuyeux”. Voltaire is only possible
and sufferable in an aristocratic culture which can afford precisely the luxu-
ry of intellectual roguery […] Please, dear friend, keep this task in mind;
you cannot get around it. You must, in rebus musicis et musicantibus, restore
stricter principles to a position of honour, by deed and word, and seduce the
Germans to the paradox which is only paradoxical today: that stricter prin-
ciples and gay music belong together …40

37 KSA 9, 12[170, 190, 221] and KSA 10, 4[2].


38 Letter to Overbeck, 26 August 1883.
39 KSA 12, 9[184], from the autumn of 1887 (also published as WM, 100). The
whole of this long note is relevant. See also the notes KSA 12, 9[125 and 185]
and KSA 12, 10[116 and 176].
40 Letter to Peter Gast, 24 November 1887.
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 29

He also came to consider Stendhal, another of his favourites, as directly


descended from Voltaire.41
Voltaire is often contrasted with Rousseau, and this is also done by
Nietzsche, who refers to each of them approximately equally often.42
While we have fairly extensive and reliable information about his rela-
tion to Voltaire, much less is known regarding his relation to and read-
ing of Rousseau.
We know that, in the summer of 1862, Nietzsche read Emile ou de
l’education, probably in German translation,43 and that his library contains
Rousseau’s Confessions, in German translation, Bekenntnisse (Leipzig,
1870). It seems likely that Nietzsche read the latter book, as well,
though it is not clear when.44 We have no knowledge of any further
reading by Nietzsche of Rousseau, and perhaps he read nothing
more.45 However, this does not mean that he had no knowledge of
Rousseau; for Rousseau was frequently discussed in books he read.46

41 KSA 13, 11[74]: “Beyle stammt von Voltaire.”


42 Surprisingly little has been written about Nietzsche’s relation to both these
thinkers, especially Voltaire. One exception is Peter Heller’s chapter “Nietzsche
in his relation to Voltaire and Rousseau,” 51 – 88 in Studies on NietzscheI, Bonn,
1980. This text has also been re-published in, O’Flaherty, et al., eds., Studies in
Nietzsche and the Classical Tradition, 1976, pp. 109 – 134.
43 Letter to Raimond Granier, 28 July 1862.
Shortly before this, Nietzsche had excerpted Theodor Mundt’s Geschichte der
Gesellschaft and then in a paraphrase or discussion of it referred to Rousseau
(but misspelled the name). KGW I.2, 12A[6], p. 408 – 409, also in BAW 2,
431 – 435.
44 His copy of Rousseau’s Bekenntnisse contains several dog-ears and two small
penciled lines (clearly made by mistake) on the top of page 50 and 51 of the
seventh book.
In The Joyful Science, 91, Nietzsche criticized, in a general way, the reliability of
autobiographies, and used as examples, among others, Rousseau’s Confessions,
which might suggest that he had read it before 1882. “Caution. […] I also
would not believe a biography of Plato, written by himself – anymore than
Rousseau’s or the Vita Nuova of Dante.”
45 However, Professor Trond Berg Eriksen told me that in 1975 he saw a copy of
Emile in the original French in a second-hand bookshop in Heidelberg, which
was supposed to have belonged to Nietzsche and contained fairly extensive an-
notations. (The volume later supposedly turned up in K. Jaspers’s library; Jas-
pers, however, does not refer to it in his Nietzsche book.) If this is correct,
it is likely that Nietzsche re-read Emile in the 1880s, for he rarely annotated
books in the 1860s (unless the annotations merely were translations of French
words).
The fact that Nietzsche appears not to have read any of Rousseau’s better-
30 Thomas H. Brobjer

Nietzsche seems to have been relatively indifferent toward Rousseau


(and read little of his writings) until around 1876 – 78, when he began to
become noticeably hostile toward him – a hostility that increased
throughout Nietzsche’s life.47 His negative attitude was due to his
view of Rousseau as a revolutionary (and as an advocate of equality),
an idealist, a Romantic, a decadent (filled with resentment) and a prim-
itivist.
Nietzsche used Rousseau to describe a certain character-type in
Schopenhauer as Educator, (§ 4), at which point this type was not yet ob-
viously contemptible for him. In 1879, he even put Rousseau on the list
of eight thinkers with whom he continually conversed.48
In the 1880 s Nietzsche became extremely hostile toward Rousseau,
as can be witnessed in the section devoted to him in Twilight of the
Idols,49 as well as in many notes. For example:
My five “No’s” […] 4. My struggle against romanticism, in which Christian
ideals and the ideals of Rousseau unite, but compounded with a nostalgia
for the old days of priestly-aristocratic culture, for virt
, for the “strong
human being” – something extremely hybrid.50
Most clearly, Nietzsche summarized his view of Rousseau, and com-
pared him to Voltaire, in a letter to Gast, 24 November 1887:
The fact that Rousseau was among the first admirers of Gluck makes one
think; to me, at least, everything that Rousseau valued is a little question-
able, likewise everyone who has valued him (there is a whole Rousseau
known political tracts, seems to me, just as with Montesquieu, to be an indica-
tion of his indifference toward political questions.
46 To take just a few examples, Rousseau is discussed in Henri Joly’s Psychologie des
grands homes, Paris, 1883; Ferdinand Brunetière’s tudes critiques sur l’histoire de la
littrature franÅaise, Paris, 1887, contains a heavily annotated chapter called “Vol-
taire et Rousseau”; he is mentioned by Sully; and Paul Albert has several chap-
ters on him in his massive La littrature francaise au 18. sicle, Paris, 1876.
47 H. Taine’s negative views of Rousseau, which Nietzsche encountered in his
Geschichte der englischen Literatur in 1879, are likely to have reinforced Nietzsch-
e’s hostility.
48 Assorted Opinions and Maxims, 408.
However, even earlier, Nietzsche had ranked Voltaire above Rousseau, as we
can see in Human, All Too Human, 463: “It is not Voltaire’s moderate nature,
inclined as it was to ordering, purifying and reconstructing, but Rousseau’s pas-
sionate follies and half-lies that called forth the optimistic spirit of the Revolu-
tion against which I cry: ‘Ecrasez l’infame!’”
49 Twilight of the Idols, “Expeditions of a Untimely Man,” 48.
50 KSA 12, 10[2], also published as WM, 1021. Compare also the long note de-
voted to Rousseau from the autumn of 1887, KSA 12, 9[184].
Nietzsche, Voltaire and French Philosophy 31

family; Schiller belongs to it, Kant also, to some extent; in France, George
Sand, even Sainte-Beuve; in England [George] Eliot and so on). Anyone
who needs “moral dignity” faute de mieux has numbered among Rousseau’s
admirers, down to our own favorite Dühring, who even has the good taste
to present himself in his autobiography as the Rousseau of the nineteenth cen-
tury.
In the 1880s, especially after 1883, Nietzsche read few French philoso-
phers, apart from re-readings those – such as Montaigne, Voltaire, and
Pascal – whom he had already read earlier. This follows a general pat-
tern: after 1883, and more clearly after 1885, Nietzsche read fairly
few philosophical works at all, at least partly because he had found his
own philosophy.51

51 The few French philosophers he read in the 1880s, such as Taine, Renan,
Guyau and a few others, I will discuss in a forthcoming book as part of a dis-
cussion of Nietzsche’s reading of contemporary French philosophy, entitled
Nietzsche’s Knowledge of Philosophy: A Study and Survey of the Philosophical Influ-
ences on Nietzsche.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“
Ivan Broisson1

In Der Wanderer und sein Schatten schreibt Nietzsche : „Man ist beim
Lesen von Montaigne, Larouchefoucauld, Labruyère, Fontenelle […],
Vauvenargues, Champfort dem Alterthum näher, als bei irgend welcher
Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. […] [Ihre Bücher] enthalten
mehr wirkliche Gedanken, als alle Bücher deutscher Philosophen zu-
sammengenommen.“ (WS 214)
Diese Aufzählung ist an sich ein großes Lob von Vauvenargues:
Kaum ein Historiker der Literatur würde ihn in einem Atemzug mit
diesen fünf großen Namen nennen, vielleicht nur Voltaire. Aber der
Literat Nietzsche ist auch, und zuerst, ein Philosoph, weshalb er Stilisten
schätzt, deren Stil den Ausdruck „wirklicher Gedanken“ ermöglicht,
d. h. Gedanken, die nicht von einem abstrakten System deduziert,
sondern aus dem Leben, aus der Erfahrung des Denkers geschöpft
werden.
Dem Urteil Nietzsches über Vauvenargues fehlte es jedoch nicht an
Nuancen: Obgleich er ihn unter den „Kunstverwandten von La Ro-
chefoucauld“ (vgl. KSA 14, S. 126) rechnet, bemerkt später der Autor
der Frçhlichen Wissenschaft, daß Vauvenargues die „christliche Tendenz
zur moralischen Skepsis“ trübe (vgl. FW 122; KSA 14, S. 256), eine
Tendenz, die La Rochefoucauld fortgesetzt habe: als wäre Vauvenar-
gues, durch eine gewisse Naivität, dem Altertum näher als Nietzsche
selber. Noch 1882 und 1888 übernimmt Nietzsche kritisch die Sentenz
von Vauvenargues: „les grandes pensées viennent du cœur“.2 Solche
sogenannte „große Gedanken“, schreibt Nietzsche, sind immer
„schlecht gedacht“, ebenso schlecht wie diejenigen, die „aus dem

1 Ivan Broisson war zur Zeit der Redaktion Forschungsassistent der National-
stiftung für wissenschaftliche Forschung (Belgien).
2 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Rflexions et maximes (1747), in: ders.,
Œuvres, Bd. 3, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres
1929, 127 (Für die Rflexions et maximes wird nicht die Seitenzahl, sondern die
Nummer der Sentenz angegeben).
34 Ivan Broisson

Unterleibe“ (Nachlaß 1882, KSA 10, 3 [1], S. 53) 3 oder „aus dem
Kopfe“ (Nachlaß 1888, KSA 13, 20 [29]) kommen.4 Wahrscheinlich
kommen nach Nietzsche die großen Gedanken nur von einer großen
Gesundheit, gegenüber der das „Herz“, wie Vauvenargues es be-
schreibt, noch als zu naiv erscheint.
Diese Nuancen aber sollten uns nicht vergessen lassen, daß sich
Nietzsche als ein Erbe des Vauvenargues vorgestellt hat. Welche sind
also die Gedanken des französischen Moralisten, die der Philosoph
Nietzsche für „wirklich“ gehalten hat? Wir werden nie genau wissen,
inwiefern Vauvenargues Nietzsche beeinflußt hat; wir können aber ihre
Geistverwandtschaft in einer Skizze andeuten.5 Dazu werden wir vom
Begriff „Wille zur Macht“ ausgehen, den wir vorläufig und hypothe-
tisch als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im Werden, Wirken und
Schaffen“ verstehen.

3 Interessanterweise gehört dieser Aphorismus zu einem kleinen Buch, das


Nietzsche nie veröffentlichte, dessen Material aber weitgehend in Also sprach
Zarathustra und Jenseits von Gut und Bçse benutzt wurde. Das Büchlein sollte
heißen Auf hoher See oder Schweigsame Reden oder schon Jenseits von Gut und
Bçse. Bemerkenswert ist für uns der Untertitel: Ein Sentenzen-Buch von Friedrich
Nietzsche. Die Gesamtheit des geplanten Werks wird so in die Tradition der
französischen Moralisten gesetzt. Das Wort „Sentenz“ verweist nämlich nach
seiner typisch französischen oder zumindest lateinischen Form neben der Kürze
auf die Abwesenheit systematischer Ordnung, die den Aphorismen Heraklits
oder der deutschen Romantik eignete; die Sentenz zeichnet sich durch ihre
Helligkeit, Leichtigkeit und Humor aus: sie ist ein Produkt des „esprit“.
4 Vgl. auch Nachlaß 1888, KSA 13, 15 [95].
5 Daß wir es nie genau wissen werden, bedeutet nicht, daß wir es nicht mit
Recht vermuten können. Es ist die wichtige Aufgabe der Philologie, die
Spuren eines möglichen Einflusses aufzusuchen. So hat Thomas Brobjer in
seinem Beitrag im Rahmen der Tagung „Nietzsche und Frankreich“ darauf
hingewiesen, daß Nietzsche die Schriften Vauvenargues’ zwei Mal gelesen hat:
erstens in der Zeit von Menschliches, Allzumenschliches, zweitens einige Jahre
später, als er über die Problematik des Machtwillens nachdachte. Obgleich
Brobjer erklärte, daß seines Erachtens unter den französischen Philosophen nur
Voltaire das Denken Nietzsches substantiell beeinflußt habe, bestätigt obige
Bemerkung die These eines Einflusses von Vauvenargues. Auf jeden Fall
scheint es uns auch wichtig, unabhängig von der Möglichkeit eines solchen
Einflusses, die philosophische Frage zu stellen, inwiefern die Gedanken von
Vauvenargues und Nietzsche vom Inhalt her verwandt und vergleichbar sein
und einander beleuchten können.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 35

1. Eine aristokratische Lebensweisheit

In mancher Hinsicht bleibt Vauvenargues ein traditioneller Geist. Ob-


schon seine Bücher laut Nietzsche „weder für Jungfrauen noch für
Christen“ geschrieben wurden, glaubt er noch an Gott und schreibt
Gebete. Noch schlimmer vielleicht nach Nietzsches Bewertung: Er
glaubt an „ewige Wahrheiten“6 und zweifelt nicht so gut wie Nietzsche,
da er den Wert der Wahrheit und den Zweck der Wahrheitssuche nicht
ausdrücklich in Frage stellt.
Trotzdem preist er nicht einfach irgendeine „universelle Erkennt-
nis“: Ganz im Gegenteil bestreitet er das zeitgemäße Ideal des homme
d’esprit, welcher von allem etwas, aber nichts zum Leben Nützliches
kennt.7 Dies läßt den frühen, unzeitgemäßen Kampf Nietzsches gegen
die Philister-Kultur ahnen. Und ähnlich Vauvenargues’ Gedanken, daß
in der Geschichte nicht das Werden der Völker und Reicher zähle,
sondern nur „die kleine Anzahl von Genies“, welche „die Erde be-
leuchtet“ haben und die „Meisterwerke der Natur“ seien;8 ähnlich noch
der Gedanke, daß diesen Einzelnen, diesen Ausnahmen, welchen die
Masse folgen sollte, dieselbe Masse widrig gegenübersteht: „La plupart
des grands hommes ont passé la meilleure partie de leur vie avec d’autres
hommes qui ne les comprenaient point, ne les aimaient point, et ne les
estimaient que médiocrement“.9
Im Allgemeinen kann man feststellen, daß Vauvenargues, den man
manchmal etwas zu einfach als einen „neuzeitlichen Stoiker“ vorstellt10,
dazu neigt, den Intellekt als ein Instrument der Affekte zu betrachten:
„l’esprit est l’œil de l’âme, non sa force“,11 oder: „la raison nous trompe
plus souvent que la nature“,12 wo „Natur“ nicht wie im Stoizismus den

6 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Introduction  la connaissance de l’esprit humain,


in: ders., Œuvres, Bd. 1, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des
Livres 1929, S. 28.
7 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 637 u. 638.
8 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 414.
9 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 655.
10 Vgl. Brendan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn: Bouvier,
1982, S. 102 – 105. Unseres Wissens sind diese Seiten die einzige systematische
Behandlung der Beziehung zwischen Nietzsche und Vauvenargues. Es scheint
uns, daß der Autor ein zu wenig nuanciertes Porträt von Vauvenargues skiz-
ziert, und deshalb dazu neigt, seine Verwandtschaft mit Nietzsche zu unter-
schätzen.
11 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 149.
12 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 123.
36 Ivan Broisson

Weltlogos bedeutet, sondern wie bei Nietzsche die Instinkte des


Menschen. Sogar die Sentenz „les grandes pensées viennent du cœur“
weist darauf hin; und, auch wenn Vauvenargues die Affektivität
ziemlich naiv versteht, enthält dieser Satz wie manche andere aus seinem
Werk eine Bewertung der Leidenschaften, Triebe und Instinkte des
Einzelnen, welche Nietzsche nicht verleugnen würde. Solche beja-
hende Bewertung der individuellen Affektivität gehört übrigens zu
einer Lebensweisheit, die man trefflich als „aristokratisch“ bezeichnen
kann.
Aristokratisch ist bei Vauvenargues zunächst die Bejahung der
Sehnsucht nach Ruhm. Das, was in einer asketischen Moral für Laster
gehalten würde, gilt bei ihm als eine große Tugend: Die Verachtung des
Ruhmes verrate sogar einen Mangel an „Tugend“,13 während die
„Inbrunst der Tugend“, so scheint es, von der Sehnsucht nach Ruhm
nicht zu trennen sei: „ne nous laissons pas abattre aux sentiments de nos
faiblesses jusqu’à perdre le soin irréprochable de la gloire et l’ardeur de la
vertu“.14 Weiter trauert er der Zeit nach – höchst wahrscheinlich dem
Altertum –, wo diese Sehnsucht als völlig berechtigt erschien, denn es
sei der Ursprung allen großzügigen Verhaltens, auch in den Zeiten, wo
deren Wert vergessen worden ist: „l’amour de la gloire est encore l’âme
invisible de tous ceux qui sont capables de quelque vertu“.15 Wir
können bemerken, daß für Vauvenargues Sorge für den eigenen Ruhm
und Sehnsucht nach Tugend nicht zu trennen sind: Der Ruhm, der
angestrebt wird, ist nicht der Komödianten-Ruhm der „Fliegen des
Marktes“, welchen Nietzsche heftig verwirft (vgl. Za, Von den Fliegen
des Marktes, KSA 4, S. 65), sondern die gerechtfertigte Achtung der-
jenigen, die die wahrhafte „Tugend“ zu schätzen wissen.
Aristokratisch ist auch Vauvenargues’ Kritik am Egalitarismus, der in
seiner Zeit zu blühen anfing.16 Insbesondere wendet er sich gegen den
Glauben, daß die Gleichheit ein „Naturgesetz“ wäre: Ganz im Ge-
genteil sieht er in der Natur nur „Unterordnung und Abhängigkeit“.17
Nicht daß es „Starke“ gäbe, die dadurch gekennzeichnet würden, daß
sie zur sozialpolitischen Macht gelangen: Wie Nietzsche vermeidet

13 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 59.


14 Luc de Clapiers de Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets, in: ders., Œuvres,
Bd. 1, herausgegeben von Pierre Varillon, Paris: La Cité des Livres 1929, S. 96.
15 Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 118.
16 Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 63.
17 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 227.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 37

Vauvenargues, die Macht auf eine materielle Herrschaft zu reduzieren.


Jedoch ist es für ihn so, daß diejenigen, die er „die Schwachen“ nennt,
selber eine gewisse Abhängigkeit wollen: „Les faibles veulent dépendre
[…]“.18
Folglich ist den Schwachen unmöglich, schreibt Vauvenargues „frei
und vernünftig“ zu sein.19 Daß sie nicht frei sein können, liegt offen-
sichtlich an der Natur ihrer Schwachheit selbst; daß sie nicht ,ver-
nünftig‘ sein können, kann man auf zwei Weisen verstehen, und in
beiden Fällen kann man ein tiefes Einverständnis mit Nietzsche fest-
stellen. „Être raisonnable“ kann einerseits bedeuten: „sich selbst be-
herrschen“, und wir wissen, daß Selbstbeherrschung nach Nietzsche ein
Zug des Starken ist, d. h. des Einzelnen, der allen seinen Trieben eine
einzige Richtung gibt, die Richtung eines einzigen Grundwillens: Es ist
die Harmonie des „wohlgeratenen“ Einzelnen. „Être raisonnable“ kann
andererseits bedeuten: seine intellektuellen Vermögen angemessen zu
gebrauchen, und man wird leicht verstehen, daß es Kraft erfordert, denn
die Wirklichkeit, die wir zu erkennen haben, kann grausam sein. So
schreibt Nietzsche von den Schwachen: „Es steht ihnen nicht frei, zu
erkennen; die décadents haben die Lüge nçthig“ (EH, GT, 2). Kurz, für
Vauvenargues wie für Nietzsche ist der Schwache derjenige, der nicht
den Mut hat, den Anderen und sich selbst treu zu sein.20
Da die Lebensweisheit Vauvenargues’ aristokratisch ist, sollte uns
nicht überraschen, daß sie sich auch als anti-asketisch erweist. „La morale
austère“, schreibt er, „anéantit la vigueur de l’esprit“.21 Zu seiner
Verteidigung des Lebens gegen eine gewisse asketische Strenge gehört,
daß er die Neigung verwirft, im Laufe des Lebens nur an den Tod zu
denken: „La pensée de la mort nous trompe, car elle nous fait oublier de
vivre“.22 Diese Sentenz ist vielleicht eine direkte Quelle für Nietzsches
Aphorismus „Der Gedanke an den Tod“ in der Frçhlichen Wissenschaft:
„Es macht mich glücklich, zu sehen, daß die Menschen den Gedanken
an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu
thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswer-
ther zu machen“ (FW 278).

18 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 188.


19 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 20.
20 Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 53.
21 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 166.
22 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 143.
38 Ivan Broisson

2. Lebensweisheit und ,Wille zur Macht‘

Auf eine grundsätzlichere Ebene wurzelt die Geistesverwandtschaft von


Nietzsche und Vauvenargues in der Umwertung eines gewissen Ego-
ismus. Beide sind Erben von La Rochefoucauld, aber kritische Erben:
Beide anerkennen mit ihm, daß der Egoismus (oder eine Form des-
selben) die Grundkraft aller menschlichen Handlung darstelle; was sie
aber ablehnen, ist La Rochefoucaulds negative Bewertung des Egois-
mus.
So kritisiert Nietzsche „die christliche Verdüsterung in Lar-
ochefoucauld, welcher [den Egoismus] überall heranzog und damit den
Werth der Dinge und Tugenden vermindert glaubte! Dem entgegen
suchte ich zunächst zu beweisen, daß es gar nichts Anderes geben kçnnte
als Egoismus, – daß den Menschen, bei denen das ego schwach und
dünn wird, auch die Kraft der großen Liebe schwach wird, – daß die
Liebendsten vor allem es aus Stärke ihres ego sind, – daß Liebe ein
Ausdruck von Egoismus ist […]“ (Nachlaß 1886 – 1887, KSA 12, 7
[65]). Zusammen mit dieser Umwertung des Egoismus skizziert
Nietzsche eine Unterscheidung zwischen zwei Formen der „Selbst-
sucht“: einerseits die „allzuarme“ und „kranke“, die Selbstsucht, die
„immer stehlen will“; andererseits die „heilige“ Selbstsucht, die
„schenkende Liebe“ ist (Za, Von der schenkenden Tugend, KSA 4,
S. 98).
Eine solche Unterscheidung finden wir auch bei Vauvenargues:
„S’il y a un amour de nous-mêmes naturellement officieux et compa-
tissant, et un autre amour-propre sans humanité, sans équité, sans bor-
nes, sans raison, faut-il les confondre ?“23 Der Wortschatz des Vau-
venargues ist vielleicht naiver, seine Sentenz hat nicht die fast mystische
Tiefe, die man in Nietzsches Abschnitt zur „Schenkenden Tugend“
findet. Aber im Grunde, so scheint es, teilen sie eine gemeinsame Sorge,
La Rochefoucauld aufzuheben. Wo Vauvenargues, in seiner Introduction
 la connaissance de l’esprit humain, die besagte Unterscheidung heraus-
arbeitet, kritisiert er die „Philosophen“, die alle Zuneigungen und
Anhänglichkeiten der Menschen „auf die Eigenliebe [amour-propre]
zurückführen“ wollen.24 Es ist höchst wahrscheinlich, daß er hier auf La
Rochefoucauld und seine Epigonen zielt: Wenngleich man heute La
Rochefoucauld eher zu den Moralisten als zu den Philosophen zählen

23 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 291.


24 Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 40.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 39

würde, nennt Vauvenargues an einer anderen Stelle den Autor der


Maximes einen Philosophen25, und wirft ihm ausdrücklich eine gewisse
Heuchelei in seinem moralischen Pessimismus vor.26 Wie Nietzsche also
zwischen kranker und gesunder Selbstsucht unterscheidet, so unter-
scheidet Vauvenargues zwischen Eigenliebe und Liebe seiner selbst:
Letztere, wie Nietzsches schenkende Tugend, kann mit einer radikalen
Selbstgabe zusammenfallen.27
Wenn wir zum oben angeführten Fragment Nietzsches zurück-
kehren, sehen wir übrigens, daß er später im Text darauf hinweist, der
Egoismus sei nichts anderes als der „Grund des Lebens“ (Nachlaß 1886 –
1887, KSA 12, 7 [65]). Man kann auch vermuten, daß die Selbstsucht,
von der Zarathustra redet, sei sie krank oder gesund, nichts anderes ist
als die Grundkraft allen menschlichen Lebens, die Zarathustra verkün-
det, nämlich der „Wille zur Macht“. Jedenfalls scheint die heilige,
schenkende Selbstsucht die höchste Blüte des Willens zur Macht dar-
zustellen. In der Tat schreibt Nietzsche im selben Kapitel: „Wenn ihr
Eines Willens Wollende seid, […] da ist der Ursprung eurer Tugend“,
und: „Macht ist sie, diese neue Tugend“ (Za, Von der schenkenden
Tugend, KSA 4, S. 99).
Auch Vauvenargues verwendet den Wortschatz der Macht, der
Kraft, der Herrschaft, um das menschliche Leben und dessen „Grund“
zu beschreiben. So zum Beispiel, wenn er vom Ursprung der Leiden-
schaften handelt: „Nous tirons de l’expérience de notre être une idée de
grandeur, de plaisir, de puissance, que nous voudrions toujours aug-
menter; nous prenons dans l’imperfection de notre être une idée de
petitesse, de sujétion, de misère, que nous tâchons d’étouffer; voilà
toutes nos passions“.28 Dieses ist umso bedeutsamer, als nach Vauven-
argues die Leidenschaften die ganze Wirklichkeit der Subjektivität
ausmachen: „Nos passions ne sont pas distinctes de nous-mêmes; il y en
a qui sont tout le fondement et toute la substance de notre âme“.29 Auch
wenn Vauvenargues seine Einsicht nicht gründlich ausschöpft, auch
wenn bei ihm neben der Ahnung des „Willens zur Macht“ hedonisti-
sche Themen aus der empiristischen Tradition zu finden sind, bleibt die
Verwandtschaft mit Nietzsche ziemlich auffallend.

25 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 337.


26 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 299.
27 Vgl. Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 40 – 41.
28 Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 38.
29 Vauvenargues, Introduction (Anm. 6), S. 61.
40 Ivan Broisson

Außerdem zeigt sich diese Verwandtschaft in der Tatsache, daß, bei


Vauvenargues wie bei Nietzsche, eine enge Beziehung zwischen Kraft
des Willens und Kraft des Leibes angenommen wird.30 So schreibt der
Moralist: „Notre dégoût n’est point un défaut et une insuffisance des
objets extérieurs, comme nous aimons à le croire, mais un épuisement
de nos propres organes, et un témoignage de notre faiblesse“.31 „Ekel“,
„le dégoût“, kann bei unserem Autor seelisch wie leiblich sein; je-
denfalls sieht er eine starke Analogie zwischen Ekel des Leibes und
Schwäche einer Seele, der es an Leidenschaft mangelt. Vauvenargues hat
ein sehr „Nietzschesches“ Wort für diesen Mangel, für diese Ab-
schwächung, einen Terminus aus der Sprache der Physiologie, der
lautet: „décadence“. „Ni le dégoût n’est une marque de santé, ni
l’appétit n’est une maladie : mais tout au contraire. Ainsi pense-t-on sur
le corps. Mais on juge de l’âme sur d’autres principes. On suppose
qu’une âme forte est celle qui est exempte de passions. Et comme la
jeunesse est plus ardente et plus active que le dernier âge, on la regarde
comme un temps de fièvre: et on place la force de l’homme dans sa
décadence“.32 Diese bescheidenen Sentenzen des Vauvenargues antizi-
pieren also eine wichtige Diagnose Nietzsches, nämlich daß Ekel für das
Leben als ein Zeichen von Schwäche der Instinkte und grundsätzlicher
von einem ungesunden „Willen zur Macht“ auszulegen sei.

3. „Wille zur Macht“ und Weltauslegung

In Vauvenargues’ Rede vom „Grund“ des menschlichen Lebens nimmt


ein weiterer Begriff eine zentrale Stelle ein: der Begriff „action“. Auf
französisch kann „agir“ zweierlei bedeuten: „agir“ allein kann man mit
„handeln“ wiedergeben; und „agir sur“ mit „wirken auf“. Nun schreibt
der Moralist: „[L’homme] ne peut jouir que par l’action, et n’aime
qu’elle“. Und an einer anderen Stelle: „la jouissance elle-même est une
action, […] on ne saurait jouir qu’autant que l’on agit, et […] notre âme
ne se possède véritablement que lorsqu’elle s’exerce tout entière“.33 Der
Machtwille also, der unser Handeln begründet, kann nur im Handeln
und Wirken selbst befriedigt werden, denn der Genuß des Machtgefühls

30 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 79.


31 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 197.
32 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 148.
33 Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 86.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 41

ist nur im Handeln zu finden; und sogar diese Befriedigung ist laut
Vauvenargues noch eine Form des Handelns. „L’action“, das Handeln
und Wirken, ist also ein anderer Name für den „Grund“ des Lebens.
Dies gilt übrigens nicht nur für die Handlungen, durch die unser
Machtgefühl und unser Leben wachsen. Schon nur um weiter zu leben,
braucht der Mensch das Handeln: „Il est tellement impossible à
l’homme de subsister sans action que, s’il veut s’empêcher d’agir, ce ne
peut être que par un acte encore plus laborieux que celui auquel il
s’oppose“.34 Anders gesagt: Der Wille zum Nichts ist noch ein Wille.
Diese Betrachtungen von Vauvenargues – und hier wird die Ver-
wandschaft mit Nietzsche besonders interessant – betreffen nicht nur
den Menschen. Im selben Fragment schreibt er: „On ne peut con-
damner l’activité sans accuser l’ordre de la nature“.35 Und deutlicher, in
den Rflexions et maximes: „Le feu, l’air, l’esprit, tout vit par l’action; de
là, la communication et l’alliance de tous les êtres ; de là, l’unité et
l’harmonie dans l’univers“.36 Das Handeln und Wirken ist also das,
wodurch alles lebt, auch die Wesen die wir gewöhnlich nicht als „le-
bendig“ oder „handelnd“ und „wirkend“ betrachten.
Schließlich zeichnet sich diese Einsicht Vaunenargues’ durch die
Tatsache aus, das seines Erachtens Leben, Handeln und Schaffen zu-
sammenfallen. So noch in den Rflexions et maximes: „Qui condamne
l’activité condamne la fécondité. Agir n’est autre chose que produire ;
chaque action est un nouvel être qui commence, et qui n’était pas. Plus
nous produisons, plus nous agissons, plus nous vivons“.37
Kehren wir jetzt zurück zu unserer hypothetischen Definition von
Nietzsches Willen zur Macht als „Aufblühen jedes einzelnen Wesens im
Werden, Wirken und Schaffen“: Die Ähnlichkeit mit Vauvenargues ist
frappant. Nun es gibt Stellen, sogar in Nietzsches veröffentlichten
Werken, die unsere Hypothese zu bestätigen scheinen. Z.B. in Zur
Genealogie der Moral, wo Nietzsche die „Starken“ als Kraftquanten be-
zeichnet: „Ein Quantum Kraft ist [ein] Quantum Trieb, Wille, Wirken,
– vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen,
Wirken selbst. […] Es gibt kein ,Sein‘ hinter dem Thun, Wirken,

34 Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 118.


35 Vauvenargues, Rflexions sur divers sujets (Anm. 14), S. 117.
36 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 198.
37 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 594.
42 Ivan Broisson

Werden; der ,Thäter‘ ist zum Thun bloß hinzugedichtet, – das Thun ist
Alles“ (GM I, 13).38
Es ist im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich, Nietz-
sches Hypothese des „Willens zur Macht“ gründlich zu behandeln; wir
können aber bemerken, daß die Worte Nietzsches selber auf ein Zu-
sammenfallen von Wollen, Tun (oder Handeln), Wirken und Werden
hinweisen. Und daß für Nietzsche Leben zugleich Schaffen ist, werden
Nietzsche-Forscher wohl kaum verneinen.
Trotzdem können wir nicht ignorieren, daß viele Debatten um den
Status und den Umfang der Hypothese des Willens zur Macht die
Nietzsche-Forschung gespalten haben. Um diese Debatten einfach, allzu
einfach darzustellen, kann man ihre Protagonisten in zwei Lager ein-
teilen: Die einen behaupten, Nietzsches Hypothese betreffe die ganze
Wirklichkeit und stelle also eine Fortsetzung der klassischen Metaphysik
dar; die anderen verneinen, daß die Rede Nietzsches einen metaphy-
sischen Status habe, und folgern, daß die Hypothese des Willens zur
Macht nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur biologische oder
menschliche Phänomene umfange. Letzteres Lager besteht aus einem
merkwürdigen Bündnis von Dekonstruktionisten und Naturalisten, die
ein gemeinsames Mißtrauen gegenüber der Metaphysik teilen. Ihre
Argumentation ist oft philologisch: Nietzsche habe schon den Willen
zur Macht als die ganze Wirklichkeit des Werdens aufgefaßt, habe aber
später diese Auffassung verlassen. Andere weisen darauf hin, daß in
bestimmten Abschnitten die fragliche Auffassung nur als Auslegung
vorgestellt wird.
Solche Argumentation scheint uns philosophisch ziemlich arm.
Erstens, weil nach Nietzsche die verschiedenen Auslegungen, die ver-
schiedenen Perspektiven nicht gleichwertig sind, so daß man den Wert
verschiedener Weltauslegungen hinterfragen kann bzw. muß. Zweitens
weil, wollen wir Nietzsche einigermaßen treu bleiben, unsere Lektüre
seines Werks zwar philologisch sein muß, aber auch mehr als philolo-
gisch: Wir müssen uns seine Einsichten philosophisch aneignen, und die
Tatsache, daß er eine Einsicht, vor allem eine grundsätzliche, irgend-
wann verlassen hat, darf kein Vorwand sein, um diese Einsicht nicht
selber zu bewerten und vielleicht zu vertiefen. Wenn wir also be-
haupten, der „beste“, der „echte“ Nietzsche sei derjenige, der die

38 Es wäre übrigens interessant, diesen Text mit folgendem Fragment zu ver-


gleichen: Nachlaß 1887, KSA 12, 9 [106].
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 43

Hypothese eines allumfassenden Willens zur Macht aufgibt, dann


müssen wir zunächst diesen Gedanken philosophisch behandeln.
Dies bedeutet nicht, daß das erste Lager „Recht habe“, sondern daß
die Frage vielleicht schlecht gestellt ist: Beide Lager scheinen nämlich
vorauszusetzen, daß es keine Hypothese geben kann, die zugleich die
ganze Wirklichkeit betrifft und nicht-metaphysisch ist ( jedenfalls nicht
„metaphysisch“ im Sinne der klassischen, d. h. parmenidischen und
deduktiven Metaphysik).
Hier kann der Vergleich mit Vauvenargues von Nutzen für die
Nietzsche-Forschung sein. Denn seine Hypothese von der Wirklichkeit
als Handeln und Wirken bietet den Lesern Nietzsches einen bemer-
kenswerten Präzedenzfall. Seine Kennzeichnung des Status seiner ei-
genen Grundeinsicht, dessen Umfang deutlich das ganze Werden er-
reicht, enthält eine Paradoxie, aber eine interessante.
Erstens ist seine Rede vom Wert des systematischen Denkens of-
fenbar nicht eindeutig. Einerseits schreibt er, daß alle großen Philoso-
phen „ein System haben“.39 Andererseits wird das Genre der Sentenz
völlig bewußt gewählt (wie es das Vorwort der Reflexions et maximes
andeutet). Die Nuance, die diese Paradoxie enthüllt, erscheint uns
deutlicher, wenn wir uns fragen, was „System“ für Vauvenargues be-
deutet. In der Tat schreibt er auch den großen Politikern ein „System“
zu und verwendet den Ausdruck „esprit de suite“ gleichwertig mit
„System“. Es handelt sich also weniger (oder gar nicht) um ein ab-
straktes, deduktives System, sondern um eine lebendige Kohärenz des
Denkens. Solch eine organische Kohärenz beansprucht auch Nietzsche
selber im Vorwort von Zur Genealogie der Moral: Seine Gedanken seien
„nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden, sondern aus
einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in die Tiefe gebietenden,
immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden
Grundwille n der Erkenntnis. […] Wir [Philosophen] dürfen
weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit
der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus
uns unsere Gedanken“ (GM, Vorrede, 2). Die Gedanken Nietzsches
werden vielleicht als sehr variierte Einfälle ausgedrückt, aber jeder dieser
Gedanken kann den Leser zu allen anderen führen, denn sie sind „in
einander gewachsen und verwachsen“ (ebd.): die Kohärenz kommt
nicht von irgendeinem „ersten Prinzip“ oder „absolutem Grund“, von
irgendeiner Deduktion her, sondern von der Einheitlichkeit der er-

39 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 407.


44 Ivan Broisson

lebten Perspektive: und je breiter und feiner diese Perspektive wird,


desto leichter ist es, ihre Kohärenz wahrzunehmen. Bei Nietzsche wie
bei Vauvenargues finden wir also den Ausdruck einer Art von Kohä-
renz, die nicht zur klassischen Metaphysik gehört, die aber ein Merkmal
des eigentlichen, im Leben wurzelnden Denkens darstellt.
Zweiter Aspekt der Paradoxie bei Vauvenargues: Einerseits schreibt
er, die Notwendigkeit des Handelns und Wirkens sei ein „Naturgesetz“
oder ein „Gesetz unseres Daseins“, „une loi de notre être“.40 Ande-
rerseits behauptet er daß, da die Welt aus frei wirkenden Einzelnen
besteht, sie zu komplex, zu chaotisch, zu reich sei, als daß man ein
einziges Naturgesetz identifizieren könnte: „Les êtres physiques ne
dépendent pas d’un premier principe et d’une cause universelle, comme
on le suppose; car moi, qui suis un être libre, je n’ai qu’à souffler sur de
la neige, et voilà que je dérange tout le système de l’univers. Plaisante
chimère, de croire que toute la nature se gouverne par la même loi,
pendant que la terre est couverte de cent mille millions de petits agents,
qui traversent, selon leur caprice, cette autorité!“.41
Wie kann man diese Paradoxie verstehen? Man kann darauf hin-
weisen, daß Vauvenargues im ersten Fall das Wort „Naturgesetz“ nicht
wie z. B. Newton verwendet: Es geht nicht um ein besonderes Prinzip,
das zum Dasein hinzukommen würde, sondern um eine Kennzeich-
nung des Daseins als solchem. Der Ausdruck „loi de notre être“ ist in
dieser Hinsicht vielleicht deutlicher. Der fragliche Terminus „Natur-
gesetz“ würde also einfach auf die Universalität des „Handelns und
Wirkens“ als Modus des Werdens verweisen – ein Modus, der immer in
einem Einzelnen verkörpert sein muß. So daß Vauvenargues zugleich
und ebenso sinnvoll von einem Wirken und von mehreren Wirken
sprechen kann.
Dieser Aspekt der Paradoxie bei Vauvenargues kann auch den Fall
Nietzsches beleuchten. Denn Nietzsche verneint ausdrücklich die on-
tologische Wirklichkeit von szientistisch begriffenen Naturgesetzen,
aber er tut es gerade im Namen einer bestimmten Auslegung der
Wirklichkeit, welche für deren Komplexität mehr Raum schafft. Wenn
Nietzsche diese Auslegung ausdrückt, spricht er zwar von Chaos, aber
auch oft von „dem“ Willen zur Macht. Nun, wenn der Wille zur Macht
eine „Kraft“ ist, muß er immer in einzelnen Kraftzentren verkörpert

40 Vgl. Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 198 ; und ders., Rflexions
sur divers sujets (Anm. 14), S. 118.
41 Vauvenargues, Rflexions et maximes (Anm. 2), 595.
Vauvenargues und der „Wille zur Macht“ 45

sein: Es gibt also zugleich ein Wille und mehrere Willen. Die Sätze, in
welchen Nietzsche vom Willen zur Macht als der Grundnatur der Welt
spricht, enthalten notwendig eine gewisse Vereinfachung der überrei-
chen Wirklichkeit; sie haben aber den Verdienst, besser als andere auf
die organische Kohärenz seines äußerst reichen Denkens hinzuweisen.
Mit Vauvenargues teilt er nicht nur verschiedene psychologische Be-
obachtungen, sondern auch die Sorge, zugleich den Reichtum und die
Kohärenz seines Denkens und der Welt auszudrücken.
„Ich hasse Rousseau …“
Typus, Antitypus und das Motiv für Nietzsches
Wahlfeindschaft
Tilo Klaiber

1.

Was man haßt, hat man oftmals zuvor geliebt oder, seltener, könnte es
auch lieben. Ist es so mit Nietzsches Rousseau-Beziehung? Diese Frage
läßt sich leicht beantworten mit einem Gang durch die Rousseau-
Passagen von Nietzsches Werk. Und wir finden unmißverständlich
bestätigt, daß der Citoyen de Genève in Nietzsches Denken Gegenstand
einer dramatischen Umwertung ist: einer Wertschätzung vom Idol zum
Haßobjekt.1 In der „Hadesfahrt“ im zweiten Band von Menschliches,
Allzumenschliches zählt Rousseau zu jenen, mit denen, als mit „ewig
Lebendigen“, Nietzsche immer wieder in der Unterwelt Zwiesprache
zu halten gewillt ist: „Mit diesen [Epikur und Montaigne, Goethe und
Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer] also muss ich
mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von
ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich
zuhören, wenn sie sich dabei selber einander Recht und Unrecht geben.
Was ich auch nur sage und beschliesse, für mich und andere ausdenke:
auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich ge-
heftet.“2
In der dritten Unzeitgemßen Betrachtung entwirft Nietzsche im
Zusammenhang einer Zeitkritik, die vornehmlich Wissenschaftsbetrieb
und Bildungsfeindlichkeit aufs Korn nimmt, drei Gegenbilder des neuen
europäischen Menschen, „aus deren Anblick die Sterblichen wohl noch

1 Nur die Darstellung des Apostels Paulus in Der Antichrist wird vergleichsweise
noch mehr Abscheu auf sich ziehen.
2 KSA 2, S. 534. – Nietzsche wird zitiert nach der 2., durchgesehenen Auflage
der Kritischen Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Berlin und New York/München: Walter de Gruyter/Deutscher
Taschenbuch Verlag 1988 (Orig. 1967 ff.), mit Band- und Seitenzahl.
48 Tilo Klaiber

für lange den Antrieb zu einer Verklärung ihres eigenen Lebens nehmen
werden: das ist der Mensch Rousseaus, der Mensch Schopenhauers und
endlich der Mensch Goethes.“ Von diesen habe das Bild des rousse-
auschen Menschen „das größte Feuer“ und sei „der populärsten Wir-
kung gewiss“.3 Erläutert wird das in einem Passus, der Nietzsches am
meisten um Abwägung bemühtes Urteil über Rousseau enthält. Vom
ersten Bild des Menschen „ist eine Kraft ausgegangen, welche zu un-
gestümen Revolutionen drängte und noch drängt; denn bei allen so-
cialistischen Erzitterungen und Erdbeben ist es immer noch der Mensch
Rousseaus, welcher sich, wie der alte Typhon unter dem Aetna bewegt.
Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmüthige Kasten, erbar-
mungslosen Reichthum, durch Priester und schlechte Erziehung ver-
derbt und vor sich selbst durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der
Mensch in seiner Noth die ,heilige Natur‘ an und fühlt plötzlich, dass sie
von ihm so fern ist wie irgendein epikuräischer Gott. Seine Gebete
erreichen sie nicht: so tief ist er in das Chaos der Unnatur versunken. Er
wirft höhnisch allen Schmuck von sich, welcher ihm kurz vorher gerade
sein Menschlichstes schien, seine Künste und Wissenschaften, die
Vorzüge seines verfeinerten Lebens, er schlägt mit der Faust wider die
Mauern, in deren Dämmerung er so entartet ist, und schreit nach Licht,
Sonne, Wald und Fels. Und wenn er ruft: ,nur die Natur ist gut, nur der
natürliche Mensch ist menschlich‘, so verachtet er sich und sehnt sich
über sich selbst hinaus: eine Stimmung, in welcher die Seele zu
furchtbaren Entschlüssen bereit ist, aber auch das Edelste und Seltenste
aus ihren Tiefen heraufruft.“4 In dieser metaphorischen Charakterisie-
rung klingen neben der nietzscheanischen Disposition zur Selbstüber-
windung schon sämtliche Vorbehalte an, die Nietzsche in allen späteren
Bezugnahmen dann ausschließlich und immer schärfer gegen Rousseau
herauskehrt: Selbstverachtung, Verachtung der Künste und Wissen-
schaften sowie die handlungslegitimierende Berufung auf das autorita-
tive Prinzip einer zurückprojizierten Natur.
Im dritten Buch der Morgenrçthe wird eine Umwertung deutlich
markiert unter dem Titel „Gegen Rousseau“. Daß das Verehrte nun
verworfen, die Herme gestürzt wird,5 liegt an einer divergierenden

3 KSA 1, S. 369.
4 KSA 1, S. 369.
5 So die Formulierung von Ralph-Rainer Wuthenow, „Die große Inversion.
Jean-Jacques Rousseau im Denken Nietzsches“, in: Neue Hefte fr Philosophie 29
„Ich hasse Rousseau …“ 49

Diagnose im Hinblick auf die Wechselwirkung zwischen Zivilisati-


onszustand und Zustand der Moralität: Sollte, mit Rousseau, „diese
erbärmliche Civilisation“ Ursache unserer „schlechten Moralität“ sein,
oder nicht umgekehrt ein gewisses Moralverständnis Ursache für das
Zerbrechen einer „starken Civilisation“ selbständiger, unabhängiger,
unbefangener Menschen? 6
Fortan, d. h. bis in die letzten publizierten Schriften und in die
Nachlaßaufzeichnungen, bleibt Rousseau (wie Sokrates) eine faszinie-
rende Feindfigur, mit der, als Prinzip und Epochentypus, nahezu alles
assoziiert werden kann, was Gegenstand von Nietzsches Demaskie-
rungsanstrengungen ist: eine Moral des Ressentiments, der Geist der
europäischen Romantik und der Décadence, der Keim der Revolution
und der Demokratie. Heftigste Aversion wie radikale intellektuelle
Inversion kulminieren in einem Aphorismus der Gçtzendmmerung, in
dem der Haß auf diesen „ersten modernen Menschen“, auf die
„Rousseausche Moralität“ und nicht zuletzt auf die Revolution als den
„welthistorischen Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und ca-
naille“ kunstvoll inszeniert wird.7

2.
Ich möchte mich im folgenden konzentrieren auf Nietzsches Contra-
Position, mit dem Fokus auf zwei thematische Punkte, die für Nietzsche
wie für Rousseau eng zusammenhängen: einmal die Zivilisationskritik,
soweit sie mit dem Begriff der menschlichen Natur operiert und zum
andern die Infragestellung einer bestimmten Wertschätzung der Moral,
speziell der Tugend der Gerechtigkeit. Dabei zeigt sich, daß Nietzsches
Contra im ersten Punkt gar nicht Rousseau betrifft, sondern ein
Schlagwort des Rousseauismus. Dies gibt Anlaß zu einer Erinnerung an
Nietzsches alternative hermeneutische Verfahren im Umgang auch mit
den eigenen philosophischen Idolen. Im konkreten Fall der Rezeption
oder besser: der Konstruktion eines rousseauistischen Typus’ werde ich
kurz darlegen, welchen Nutzen Nietzsche aus diesem Verfahren zieht,
und um welchen Preis.

(1989), S. 60 – 79; ebd. S. 66. Wenngleich ich nicht alle Beurteilungen teile,
verdanke ich diesem Aufsatz viel.
6 KSA 3, S. 146.
7 KSA 6, S. 150.
50 Tilo Klaiber

Nietzsches Contra im zweiten Punkt, der den eigentlichen Grund


für die heftige Aversion abgibt, beruht zwar gleichfalls auf einer kraft-
vollen Reduktion – Rousseau wird nur im Licht der Französischen
Revolution gesehen, als die vor der Revolution „Fleisch und Geist
gewordene eigentlich revolutionäre Substanz“ und Robespierre als der
von der „Moral-Tarantel Rousseau“ Gebissene8 –; dennoch zielt diese
Reduktion auf ein Herzstück der genuin Rousseauschen Moralphilo-
sophie, den Egalitarismus. Bei diesem Punkt werde ich mich etwas
aufhalten, erstens um zu klären, was damit impliziert ist, und zweitens
um die von Nietzsche nicht vorgenommene Direktkonfrontation
nachzuholen. Dies wird skizzenhaft bleiben. Ich hoffe, daß es trotzdem
genügt um zu zeigen, daß es, selbst wenn wir Nietzsches ideologie-
kritische Intention ernst nehmen und zuspitzen, einen Punkt gibt, an
dem wir etwas von Rousseaus moralphilosophischen Intentionen nicht
aufgeben wollen.

3.

Ich komme zum ersten Aspekt. Der enormen Frequenz der Rousseau-
Referenzen in Nietzsches Werk entspricht keine substantielle Ausein-
andersetzung, denn Nietzsche rezipiert nicht Rousseau, sondern kon-
struiert den Typus eines bestimmten Rousseauismus,9 einen, wie er
selbst einräumt, „mythischen Rousseau“10, was nirgends deutlicher wird
als in der Reaktion auf das, was er als durch Rousseau in die Welt
gesetzte ebenso naive wie fatale Naturkonzeption des 18. Jahrhunderts

8 KSA 3, S. 14; vgl. KSA 2, S. 299 und S. 654.


9 Es gibt unter Nietzsches gesamten Rousseau-Bezugnahmen keine wörtlichen
oder sinngemäßen Zitate aus Rousseaus Werken, die auf eine direkte Aus-
einandersetzung schließen lassen könnten. Analoges gilt, mit umgekehrten
Vorzeichen, auch für die Voltaire-Bezugnahmen. Vgl. dazu Peter Heller,
„Nietzsche in His Relation to Voltaire and Rousseau“, in: James C. O’Flaherty
et al. (Hrsg.), Studies in Nietzsche an the Classical Tradition, Chapel Hill: Uni-
versity of North Carolina 1979, S. 109 – 133; zu Nietzsches Voltaire-Bezie-
hung insbesondere den Aufsatz von Thomas H. Brobjer im vorliegenden Band.
– Mazzino Montinari hat darauf hingewiesen, daß Nietzsches Nachlaßauf-
zeichnungen über Rousseau (und Voltaire) auf eine Lektüre von Ferdinand
Brunetières tudes critiques sur l’histoire de la littrature franÅaise (1887) zurück-
gehen; Elisabeth Kuhn hat dies verifiziert und in einer schönen Synopsis ab-
gebildet in Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 600 – 626.
10 KSA 2, S. 651.
„Ich hasse Rousseau …“ 51

versteht. „Rückkehr zur Natur“11 habe Rousseau gewollt, Befreiung


vom „bunten Schmucke“ der Künste und Wissenschaften und von den
Vorzügen des verfeinerten Lebens,12 Vervollkommnung des Menschen
durch Wiederannäherung an die Natur.13 Diese „Mythologie der
Natur“14, wie es Nietzsche auch nennt, hat bekanntlich wenig zu tun
mit Rousseaus tatsächlicher Doktrin und seinem nicht ganz so simplen
Begriff der menschlichen Natur. Der Schlachtruf „Zurück zur Natur“
findet sich bei Rousseau nirgendwo, sehr wohl hingegen die dezidierte
Feststellung, daß die menschliche Natur nicht zurückschreite.15 Auch
findet sich bei Rousseau die wiederholte Klarstellung, daß ein Goldenes
Zeitalter ein dem Menschengeschlecht immer schon fremder Zustand
sei,16 und beginnend mit der Vorrede zum Akademiediskurs über die
Ungleichheit gibt sich Rousseau alle Mühe herauszustreichen, daß die
Suche nach einer ursprünglichen, nicht-depravierten, historisch und
sozial nicht-deformierten „constitution humaine“ ein theoretisches
Unterfangen ist, allerdings in praktischer Absicht: „Car ce n’est pas une
légére entreprise de démêler ce qu’il y a d’originaire et d’artificiel dans la
Nature actuelle de l’homme, et de bien connoître un Etat qui n’existe
plus, qui n’a peut-être point existé, qui probablement n’existera jamais,
et dont il est pourtant necessaire d’avoir des Notions justes pour bien
juger de nôtre état présent.“17 Eine autoritative „Stimme der Natur“
gibt es Rousseau zufolge nicht,18 vielmehr ist ein hypothetisch-kon-
jekturales Raisonnement erforderlich, um ein Gegenmodell zu ent-
werfen zum gesellschaftlich zugerichteten „homme de l’homme“;19 und

11 KSA 6, S. 150 und S. 111.


12 KSA 1, S. 369.
13 KSA 12, S. 447.
14 KSA 8, S. 455.
15 O.C. I, S. 935: „[…] la nature humaine ne rétrograde pas.“ Rousseau wird
zitiert nach der Pléiade-Ausgabe, Œuvres compltes, édition publié sous la
direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris: Gallimard 1959 ff.,
mit (römischer) Band- und Seitenangabe.
16 O.C. III, S. 283.
17 O.C. III, S. 123. „Es ist kein leichtes Unterfangen, zu entwirren, was an der
jetzigen Natur des Menschen ursprünglich und was künstlich ist, und einen
Zustand richtig zu erkennen, der nicht mehr existiert, der vielleicht nie existiert
hat, der wahrscheinlich niemals existieren wird, und von dem zutreffende
Begriffe zu haben dennoch notwendig ist, um über unseren gegenwärtigen
Zustand richtig zu urteilen.“ (Übersetzung: T.K.)
18 O.C. III, S. 283.
19 O.C. IV, S. 249 – 253.
52 Tilo Klaiber

zwar zum Zwecke einer kritischen Beurteilung des gegenwärtigen Seins


und Ist-Zustandes. Für Normen moralischen oder rechtlichen Sollens
verwirft Rousseau ausdrücklich naturrechtliche Begründungen.20 Die
nur naiv klingende Wesensbestimmung der „bonté naturelle“ des
Menschen21 wird im Emile psychologisch ausbuchstabiert als „amour de
soi“, d. h. als vorsoziale Selbstliebe in Opposition zur gesellschaftlich
konstruierten „amour propre“. Und im Akademiediskurs verfolgt
Rousseau bei der abstrahierenden Konstruktion der anthropologischen
Grundausstattung eine konterkarierende Strategie sowohl gegenüber
Hobbes’ Naturzustandsfiktion22 als auch gegenüber dem biblischen
Sündenfall-Mythos. Doch wie schaut es aus mit dem „bunten
Schmuck“ der Künste und Wissenschaften? Nietzsches Primitivismus-
Vorbehalt schon in der metaphorischen Rousseau-Charakterisierung
der dritten Unzeitgemßen Betrachtung schlägt ja in dieselbe Kerbe wie
Voltaire. Auf dessen Spott über ein unterstelltes „Zurück zur Natur“ in
Rousseaus Akademiediskurs hat dieser in bestem Sinn dialektisch ge-
antwortet: „Le gout des Lettres et des Arts nait chez un Peuple d’un vice
intérieur qu’il augmente; et s’il est vrai que tous les progrès humains
sont pernicieux à l’espéce, ceux de l’esprit et des connoissances qui
augmentent nôtre orgueil et multiplient nos égaremens, accélerent
bientôt nos malheurs. Mais il vient un tems où le mal est tel que les
causes mêmes qui l’ont fait naitre sont necessaries pour l’empêcher
d’augmenter; c’est le fer qu’il faut laisser dans la playe, de peur que le
blessé n’expire en l’arrachant.“23 Der Rekurs auf die homöopathische
Figur des Heilmittels im Übel ist keine bloße ad-hoc-Reaktion auf
Voltaires bewußtes Mißverstehen. Es handelt sich um eine zentrale

20 O.C. III, S. 281 – 289 und S. 326 – 330.


21 O.C. IV, S. 935 f.
22 Vgl. genauer dazu Wolfgang Kersting, Jean-Jacques Rousseaus ,Gesellschaftsver-
trag‘, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 27 – 31.
23 O.C. III, S. 227. „Das Gefallen an Literatur und Künsten entsteht bei einem
Volke aus einem inneren Laster, welches dadurch zunimmt; und wenn es
stimmt, daß die Fortschritte des Menschen der Gattung verderblich sind, so
beschleunigen diejenigen des Geistes und der Wissenschaften, die unseren Stolz
mitsamt unseren Abirrungen vermehren, unser Unglück. Doch es kommt eine
Zeit, wo das Übel derart ist, daß gerade die Ursachen, die es hervorgebracht
haben, notwendig sind, um zu verhindern, daß es noch weiter zunimmt: man
muß das Eisen in der Wunde lassen, aus Sorge, daß der Verwundete beim
Herausziehen desselben stürbe.“ (Übersetzung: T.K.)
„Ich hasse Rousseau …“ 53

Denkfigur von Rousseaus „triste et grand système“24, die sich stützt auf
das anthropologische Merkmal der „perfectibilité“25, ein Neologismus,
der durch Rousseau terminologisch etabliert und propagiert wird, um
die ganze Ambivalenz der menschlichen Fähigkeiten herauszustellen.
Wenn Sprache und Abstraktionsvermögen, Wissenschaften und Künste
das Potential für Fortschritt wie Sittenverfall bergen, so bieten sie zu-
gleich die einzige Chance, fortgeschrittenen Depravations- und Deka-
denztendenzen gegenzusteuern. Deshalb ist diese Denkfigur des Heil-
mittels im Übel nicht nur geeignet, Rousseaus eigene schriftstellerische
Praxis zu legitimieren,26 sie wird ebenso in Anschlag gebracht bei den
großen konstruktiven therapeutischen Experimenten27 des Contrat social
und des Emile: „efforçons nous de tirer du mal même le reméde qui doit
le guérir. Par de nouvelles associations, corrigeons, s’il se peut, le défaut
de l’association générale. Que nôtre violent interlocuteur juge lui même
du succés. Montrons lui dans l’art perfectionné la réparation des maux
que l’art commencé fit à la nature.“28 Diese Hinweise auf das Nicht-
Einfache in Rousseaus Natur-Begriff sollten genügen, um zu sehen, dass
Nietzsches Umgang mit Rousseau sich nicht einer Hermeneutik „his-
torischen Philosophierens“29 verpflichtet weiß, sondern einer Strategie
der Benutzung und Bekämpfung des Vorgängers, deren Lektüre- und
Interpretationspraxis, wie Nietzsche selbst vermerkt, „fast bei allen

24 O.C. III, S. 105; vgl. Jean Starobinski, Le Remde dans le mal. Critique et lgitimit
de l’artifice  l’ge des Lumires, Paris: Gallimard 1989; und früher schon: Alexis
Philonenko, Jean-Jacques Rousseau et la pense du malheur, Paris: Vrin 1984 (3
vol.).
25 O.C. III, S. 142 und S. 162.
26 Daß die Sprachauffassung des theoretischen wie autobiographischen Autors von
dieser Denkfigur imprägniert ist, habe ich zu zeigen versucht in Ce triste Sys-
tme. Anthropologischer Entwurf und poetische Suche in Rousseaus autobiographischen
Schriften, Tübingen: Narr 2004.
27 Vgl. Amélie Oksenberg Rorty, „Rousseau’s Therapeutic Experiments“, in:
Philosophy. The Journal of the Royal Institute of Philosophy 66/258 (1991),
Cambridge University Press.
28 O.C. III, 288. „Bemühen wir uns aus dem Übel selbst das Heilmittel zu ziehen.
Laßt uns nach Möglichkeit durch neue Vereinigungen die Mängel der allge-
meinen Vereinigung berichtigen. Unser Gesprächspartner möge selbst über den
Erfolg urteilen. Wir wollen ihm in der vervollkommneten Kunst die Beseiti-
gung der Übel zeigen, welche die einmal begonnene Kunst der Natur zufügte.“
(Übersetzung: T.K.)
29 KSA 2, S. 25.
54 Tilo Klaiber

Philosophen […] nicht streng, und ungerecht“ ist.30 Der Nutzen einer
radikal unphilologischen Aneignung liegt in diesem Fall auf der Hand:
die mögliche Selbstinszenierung als Anti-Typus mit dem utopischen
Kampfziel einer „entgöttlichten, […] neu gefundenen und neu erlösten,
[…] uns vernatürlichenden“ Natur.31 Unter dem einschlägigen Titel
„Fortschritt in meinem Sinne“ heißt es im prägnantesten Anti-Rous-
seau-Aphorismus der Gçtzendmmerung: „Auch ich rede von ,Rückkehr
zur Natur‘, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein
Hinaufkommen ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und
Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen darf
[…]“.32
Der Preis dieser antipodischen Selbstinszenierung ist beträchtlich:
Nicht nur, daß Affinitäten der augenscheinlichsten und persönlichsten
Art ausgeblendet bleiben – ich erinnere nur an die Selbststilisierungen
als „Promeneur solitaire“ und die Einsamkeit des „Wanderers“. Es sind
Affinitäten der tieferliegenden Art, die Nietzsches „kriegerische“ Her-
meneutik übersehen muß, so daß es in der gründlichsten Studie zu
diesem Thema heißt, Nietzsche schaffe sich wieder und wieder in
Rousseau einen Feind, wo er ihn als Alliierten sehen sollte.33 Ich hebe
drei gemeinsame Schnittmengen summarisch hervor: 1.) Frappierend ist
die Familienähnlichkeit in den Zeitdiagnosen, wenn man Rousseaus
Discours sur les sciences et les arts und Nietzsches Unzeitgemße Betrach-
tungen gegenliest; denn beide artikulieren aggressiv das ,Unbehagen in
der Kultur‘, bekämpfen den „ökonomischen Optimismus“ und stellen
den lebensförderlichen Wert vermeintlich höchster Zivilisationsstufen
in Frage; Rousseau unter anderem, indem er seine Zeitgenossen als
„glückliche Sklaven“34 tituliert, denen Künste und Bildung bloßes
Dekor des modernen Lebens seien und deren verweichlichte urbane
Sitten nichts als Pseudo-Tugenden und Konformitätszwänge. 2.) Beide
nutzen für Zwecke der Diagnose und Demaskierung vorherrschender

30 KSA 8, S. 41. Vgl. Martin Stingelin, „Kriegerische und kämpferische Lektüre.


Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und Gilles Deleuze“, in: Neue Rundschau
1/2000, S. 77 – 81.
31 KSA 3, S. 469; KSA 5, S. 169; KSA 12, S. 182 – 184; KSA 1, S. 96.
32 KSA 6, S. 150; vgl. KSA 6, S. 151, die Formulierungen über Goethe.
33 Keith Ansell-Pearson, Nietzsche contra Rousseau. A study of Nietzsche’s moral and
political thought, Cambridge UP 1991/1996, S. 31.
34 O.C. III, S. 7.
„Ich hasse Rousseau …“ 55

Wertschätzungen das Verfahren subversiver Genealogien.35 3.) Beide


proklamieren die Notwendigkeit einer Transformation der menschli-
chen Natur, allerdings, wie schon Karl Löwith festgestellt hat, mit dif-
ferierenden Methoden und Zielsetzungen. Denn Rousseaus Horizont
ist keineswegs eine zurückzuerobernde „natürliche Güte“, und auch
nicht, wie andere aus Analogiezwang gemeint haben, eine neue „Un-
schuld des Werdens“.36

4.

Ich komme zum zentralen Motiv für Nietzsches Wahlfeindschaft, das


wiederum einer radikalen Reduktion entspringt, diesmal jedoch nicht
eine rousseauistische Parole zum Vorwand nimmt, sondern ein Kern-
stück von Rousseaus Moralphilosophie betrifft. Nochmals will ich den
Passus aus der Gçtzendmmerung bemühen, wo es heißt: „Ich hasse
Rousseau noch in der Revolution […]: was ich hasse, ist ihre Rous-
seau’sche Moralität – die sogenannten ,Wahrheiten‘ der Revolution,
mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu
sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit! … Aber es giebt gar kein
giftigeres Gift: denn sie scheint von der Gerechtigkeit selbst gepredigt,
während sie das Ende der Gerechtigkeit ist … Den Gleichen Gleiches,
den Ungleichen Ungleiches – das wäre die wahre Rede der Gerech-
tigkeit: und, was daraus folgt, Ungleiches niemals gleich machen.‘“37 Es
ist schon hinreichend geschrieben worden über französische Rezepti-
onsmuster der Revolution im 19. Jahrhundert, die Nietzsches Reduk-
tion beeinflußt haben,38 über seine anti-Kantische Auslegung des poli-

35 Ich verwende den Ausdruck im Sinne von Judith Shklar, Political Thought and
Political Thinkers, Chicago UP 1998, S. 132 – 160.
36 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des
19. Jahrhunderts, Hamburg: Meiner 1995 (Orig. 1941); Keith Ansell-Pearson
(Anm. 33), S. 10.
37 KSA 6, S. 150.
38 Zur alten Frage von Rousseaus Einfluß auf die Französische Revolution sind
einschlägig: François Furet, Jean-Jacques Rousseau und die Franzçsische Revolution.
Jan Patocka-Gedchtnisvorlesung des IWM 1994, Wien: Passagen 1994; François
Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Dictionnaire de la Rvolution franÅaise, Paris: Flam-
marion 1994; Jean Starobinski, „Rousseaus Einfluss auf die Französische Re-
volution“, in: Sinn und Form 3/2003, S. 379 – 394.
56 Tilo Klaiber

tischen Ereignisses als eines verführerischen, „überredenden“ Textes39


sowie über seine Subsumtion der Ideen von 1789 als fatale Episode in
der christlich-abendländischen Geschichte der Moral des Ressenti-
ments. All dies kann ich hier beiseite lassen, um eine Überlegung
vorzubringen, die sich ergibt, wenn man einmal, wie Nietzsches Text
das will, die Gerechtigkeitsauffassung als den entscheidenden Grund für
die Kontraposition annimmt.40 Was wir auf diesem Weg gewinnen, ist,
wenn unsere Überlegung zu überzeugen vermag, eine weitere Einsicht
in Voraussetzungen von Nietzsches berüchtigtem Anti-Egalitarismus41.
Rousseau gerät also in der Gçtzendmmerung nochmals zum „hö-
heren“, wenngleich mißliebigen „Exemplar“, weil er die säkulare
Quelle einer nach wie vor geschichtsmächtigen egalitären Gerechtig-
keitsauffassung sei. Nun kennen wir Nietzsches Destruktionsarbeit an
der Gleichheitsidee als dem Proprium einer „Heerdenmoral“; im Za-
rathustra ist es die Lehre der versteckt rachsüchtigen Taranteln.42 Und
wir kennen auch die sehr divergenten Varianten seiner Genealogien der
Gerechtigkeit: einmal (i) als profitable Erfindung der „Schlechtweg-
gekommenen“43 ; in diesem Sinn höhnt er über Rousseau, nachdem er
ihm alle sklavenhaften Fehler und Laster attestiert hat: „Der will Ge-
rechtigkeit lehren!“44. Ein andermal (ii) will die Erzählung vom „Ur-
sprung der Gerechtigkeit“ bei Nietzsche plausibilisieren, daß gerechte
Handlungen vergessenen, ursprünglich egoistischen Zwecken gehor-
chen und Tauschcharakter unter Gleichmächtigen hatten.45 Und noch
ein andermal (iii) entsteht Gerechtigkeit, wo eine „stärkere Macht in
Bezug auf ihr unterstehende Schwächere […] nach Mitteln sucht, unter

39 KSA 5, S. 56; dazu Urs Marti, „Nietzsches Kritik der Französischen Revolu-
tion“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 312 – 326.
40 Ich nehme die Frage auf von Philippa Foot, „Nietzsche’s Immoralism“, in:
Richard Schacht (Hrsg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, Berkeley, Los Angeles,
London, University of California Press 1994, S. 3 – 14; Keith Ansell-Pearson
berührt die Frage auch wiederholt (Anm. 33, S. 226 und S. 229), sein syste-
matisches Interesse gilt aber der Frage der Geschichtlichkeit.
41 Zuletzt Ernst Tugendhat, „Macht und Anti-Egalitarismus bei Nietzsche“, in:
ders., Aufstze 1992 – 2000, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 225 – 261.
42 KSA 4, S. 128.
43 KSA 5, S. 280 – 283; KSA 5, S. 369.
44 KSA 11, S. 48; vgl. KSA 12, S. 421, und KSA 2, S. 349.
45 KSA 2, S. 89, und KSA 5, S. 306; dazu Volker Gerhardt, „,Das Princip des
Gleichgewichts‘. Zum Verhältnis von Recht und Macht bei Nietzsche“, in:
ders., Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart:
Reclam 1988, S. 98 – 132.
„Ich hasse Rousseau …“ 57

diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiments ein Ende zu ma-


chen.“46 Doch in eben diesen Passagen über den „Ursprung der Ge-
rechtigkeit“ schließt Nietzsche den „anfänglichen Charakter“47 mit
einem normativen Anspruch kurz, und die „Art des Werdens“ wird
nicht mehr nur als Erklärung für die Entstehung von Gerechtigkeits-
konzeptionen verwendet, sondern sie wird unvermittelt zur Grundlage
für eine definitorische und axiologische Normierung, kurzum: zur
Grundlage für eine Wertfestlegung. „Gerechtigkeit ist also …“ und
„Rechtszustände […] dürfen“ nichts anderes sein als das, was sie, gemäß
der genealogischen Spekulation, ursprünglich und anfänglich waren.
Hier liegen flagrante Fälle von genetischen und naturalistischen Fehl-
schlüssen vor.48 Die, wie angedeutet, sehr differierenden Gerechtig-
keitsgenealogien, um deren Verträglichkeit sich Nietzsche im übrigen
nicht kümmert, erlauben dann auch entsprechend differierende Wert-
setzungen: Wurde der Tausch-Charakter als „anfänglich“ akzentuiert,
wie im Abschnitt „zur Geschichte der moralischen Empfindungen“ im
ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches, so wird als Wesenszug
der Gerechtigkeit der Tausch gefolgert, unter Voraussetzung ungefährer
Machtgleichheit und bei Dominanz des Motivs kluger Selbsterhaltung.49
Wird, wie dann in der Dühring-Polemik der Genealogie der Moral, ak-
zentuiert, daß Gerechtigkeit immer schon die Praxis einer „stärkeren
Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere“ sei,50 so wird ge-
folgert, daß der „Geist der Gerechtigkeit“51 die Stärkeren, Muthigeren,
Vornehmeren beflügle, deren Motiv selbstredend riskante Selbststeige-
rung ist und deren „Gesammtzweck“ der Schaffung „grösserer Macht-
Einheiten“52 eine Domestikation des Ressentiments voraussetze.53

46 KSA 5, S. 311 f.
47 KSA 2, S. 89.
48 Jean-Claude Wolf formuliert höflicher in „Exposition von These und Geg-
enthese: Die bisherige ,englische‘ und Nietzsches Genealogie der Moral“,
einem Beitrag zum kooperativen Kommentar zur Genealogie der Moral, hrsg.
von Otfried Höffe, Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 44.
49 Volker Gerhardt (Anm. 45) hat mit viel Wohlwollen versucht, hier soziolo-
gische Intuitionen zu attestieren; diese reichen allerdings nicht heran an die-
jenigen von Thukydides, Hobbes oder Hume.
50 KSA 5, S. 311.
51 KSA 5, S. 310.
52 KSA 5, S. 311.
53 Diese Variante (iii) von Nietzsches Gerechtigkeitsgenealogien liegt offenkundig
konträr zur derjenigen (i), die den Ursprung der Gerechtigkeit ins Ressenti-
ment verlegt, wie Dühring.
58 Tilo Klaiber

Dieser Passus der Genealogie (gegen E. Dühring) stellt, worauf wir am


Ende unserer Überlegung nochmals zurückkommen wollen, eine in
Nietzsches Werk singuläre, weil relative Wertschätzung des Werts der
Gerechtigkeit dar, denn sie scheint nun nicht mehr nur zu den un-
glaubwürdigen, morschen alten Idealen zu zählen,54 sondern zumindest
affirmativer Bestandteil eines „moralischen Interregnums“55 oder gar
„neuer Ideale“ (ebd.) zu sein.
Zunächst sollten wir allerdings Abstand nehmen und zu einer Ge-
genfrage ausholen: Natürlich kann man mit guten Gründen über nicht-
egalitaristische Gerechtigkeitsauffassungen debattieren.56 Doch:
Gleichheit als „Gift der Gerechtigkeit“57 (Herv. T.K.), wie es im Anti-
Rousseau-Abschnitt der Gçtzendmmerung heißt? Oder unverfänglicher,
sachlicher gefragt: Warum sollten wir, wenn es denn um eine Gel-
tungsprüfung geht, die Gerechtigkeit reduzieren auf die von Nietzsche
gewollte aristotelische Formel eines Typs der partikularen Gerechtig-
keit, wo das Prinzip geometrischer Proportionalität gelten soll, dem
zufolge die Güter gemäß der Würdigkeit bzw. den Verdiensten bzw.
dem Machtwillen der Adressaten zu verteilen sind? Bei Nietzsche fin-
den wir keine weitere Begründung dafür.58
Erinnern wir uns hingegen an Rousseaus Position zu diesem Punkt.
Rousseau erzählt im zweiten Akademiediskurs eine erklärende Ge-
schichte vom Ursprung moralisch-rechtlicher Ungleichheit, und zwar,
um diese als nicht-natürliche, bloß faktisch-kontingente darzustellen
und die „anfängliche“ Gerechtigkeitskonzeption als Täuschungsmanö-
ver der Klugen und Reichen zu dekonstruieren – also eine Genealogie
analog zu Nietzsches dritter Variante, aber in inverser, nicht-affirmativer
Intention.59 Richtig ist, daß Rousseau nicht zuletzt die eigene Le-
bensgeschichte und den Erziehungsroman benutzt, um die Genese eines
ungeteilten und legitimen Gerechtigkeitsverständnisses aus der genuinen

54 KSA 3, S. 16.
55 KSA 3, S. 274.
56 Angelika Krebs (Hrsg.), Gleichheit oder Gerechtigkeit?, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2000.
57 KSA 6, S. 150.
58 … außer der quasi-naturalistischen, die sich auf zwei Annahmen stützt: 1. auf
die spekulative Generalhypothese vom „Willen zur Macht“, wobei der Zent-
ralbegriff Macht notorisch vage verwendet wird; und 2. auf das Axiom der
Kluft der Klasse der Hohen und der Klasse der Niedrigen; ebenso Ernst Tu-
gendhat (Anm. 41) S. 236 – 238 und S. 242 – 246.
59 O.C. III, S. 163.
„Ich hasse Rousseau …“ 59

Erfahrung von Ungerechtigkeit zu schildern. Doch warum sollten au-


tobiographische Daten nur herabsetzend gewertet werden können, wie
Nietzsche das in der Regel tut,60 und nicht umgekehrt beglaubigend,
insbesondere, wenn sie, wie in der Darstellung der Rousseauschen
Confessions, verzahnt sind mit veritablen soziologischen Deskriptionen
und mit generellen Reflexionen darauf, was von politischen Einrich-
tungen fairerweise zu erwarten wäre? 61 Vor allem: Rousseau argu-
mentiert stets für die Priorität eines institutionalistischen vor einem
personalistischen Gerechtigkeitsverständnis, und dafür, daß normative
und Legitimitätsansprüche einer gesonderten, starken Rechtfertigung
bedürfen. Deshalb wird der „homme naturel“ und seine wie auch
immer definierte ursprüngliche Güte nicht zur rechtlich-moralischen
Norm erhoben und idealisiert. Im Contrat social wird nicht, wie
Nietzsche insinuiert,62 auf Naturrechtsideen rekurriert – „ce prétendu
traitté social dicté par la nature est une véritable chimére“63 –, sondern
die Akzeptanz einer universellen Gerechtigkeitsaufassung wird geknüpft
an wechselseitige Begründbarkeit64 und verlangt die Ersetzung65 in-
stinktiver durch vernünftige kontraktuelle Regulierung. Rousseau
preist den glücklichen Augenblick dieser Ersetzung als Selbstüberwin-
dung, ja Selbststeigerung des Menschen66, die allen partizipierenden
Individuen im Endeffekt nutze. Möglichkeitsbedingung dieser „Erset-
zung“ in der menschlichen Natur ist nochmals das anthropologische
Proprium der „perfectibilité“, speziell in der Ausprägung der Institute
öffentlicher wie privater Erziehung, die den Gerechtigkeitssinn als Be-
dürfnis nach dieser „künstlichen“, wie Hume sie nannte, doch deswe-
gen nicht widernatürlichen Tugend entwickeln sollen.
Ich möchte schließen mit dem Hinweis darauf, daß wir in der
Genealogie der Moral immerhin eine Reflexion über Gerechtigkeit als
personale Tugend finden, die vermutlich auch Jean-Jacques’ Gefallen

60 Mit einer Ausnahme in KSA 3, S. 276.


61 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge (Mass.) 1971, S. 533.
62 KSA 12, S. 447.
63 O.C. III, S. 284, und O.C. III, S. 378.
64 O.C. III, S. 326; „une justice universelle […] pour être admise doit être
réciproque“.
65 O.C. III, S. 364 und S. 367: „substitution“.
66 Die im mehrfachen Sinn kritische Bedeutung dieses Moments hat Wolfgang
Kersting hervorgehoben (Anm. 22, S. 66 – 73, bes. S. 69); so auch schon Iring
Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Frei-
heitsbegriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 107.
60 Tilo Klaiber

gefunden hätte, nicht zuletzt wegen eines paradoxen, gänzlich un-


grausamen Epithetons: „Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte
Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt,
massvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Ver-
halten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung,
Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildbli-
ckende [sic!] Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht
trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft
auf Erden.“67 Diese überraschend hohe Wertschätzung der traditio-
nellen Kardinaltugend ist sehr wohl ernst gemeint68 und wird im
Kontext keineswegs desavouiert, wenngleich in einer Weise relativiert,
die sich von Rousseauschen Intentionen, und nicht nur von diesen, sehr
weit entfernt. Zu vernachlässigen ist die Relativierung, daß das Ideal
nicht erwartbar sei.69 Ebenso vernachlässigbar ist cum grano salis, daß
von einem gerechten Menschen nur die Rede sein kann im Rahmen
von Rechtsinstituten, innerhalb derer die „Objektivität des gerechten,
des richtenden Auges“ […] „eingeübt“ werden kann (ebd. 310/311).
Relevanter sind die Ausführungen, die zeigen sollen, daß der „Geist der
Gerechtigkeit“ 1. nicht Produkt des Ressentiments sei und 2. seine
„Eroberungen“ – Recht und Gesetz – wiederum nur Mittel zum
(Macht-)Zweck seien. Bei der ersten dieser gravierenden Relativie-
rungen wird unter dem autoritativen Titel einer geschichtlichen Per-
spektive70 nochmals ein „vulgärer historischer Mythos“ ( J. Shklar) va-
riiert, diesmal kurioserweise sind es die „Aktiven, Starken, Spontanen,
Aggressiven“, die, wohlgemerkt: in Re-Aktion auf „das Wüthen des
Ressentiments“, für sich die Etablierung der Instanzen öffentlicher
bürgerlicher Gerechtigkeit reklamieren dürfen. Es ist dies die Perspek-
tive und das Reflexionsniveau von Rousseaus Discours sur l’origine et les
fondemens de l’ingalit parmi les hommes. Die zweite gravierende Rela-
tivierung soll die Geltung von „Rechtszuständen“ betreffen, die in der
Perspektive einer problematischen, weil allzu eindeutig konnotierten,

67 KSA 5, S. 310 f.
68 Ebenso Otfried Höffe (Anm. 48) S. 67; anders Jean-Christophe Merle
(Anm. 48) S. 109.
69 KSA 5, S. 311: „[…] Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten […]
soll.“ Es heißt im selben Nachsatz im übrigen nicht, daß man schon deshalb
nicht daran glauben solle, sondern nur, daß man dies „jedenfalls nicht gar zu
leicht“ soll.
70 KSA 5, S. 311: „Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um […].
Historisch betrachtet …“
„Ich hasse Rousseau …“ 61

doch nicht umfassend genug konzipierten Idee des Lebens wiederum


„nur Ausnahme-Zustände“ und „Mittel im Kampf von Macht-Com-
plexen“ seien.71 Es ist vermutlich nicht „souvern und allgemein gedacht“,
wie es zum Abschluß von Nietzsches gewichtigstem Gerechtigkeits-
Aphorismus heißt, wenn die Sphären der Moral, des Rechts und der
Politik zusammenschnurren zu Funktionen eines vermeintlich72
„höchsten biologischen Standpunkte[s]“; von diesem ist nicht zu sehen,
inwiefern er sich unterschiede vom sogenannten Recht des Stärkeren,
einem Begriff, der nie besser persifliert wurde als in Rousseaus Contrat
social. 73 Eine dritte Relativierung, die der nur im Mittelstück von
Nietzsches Passus wehende „Geist der Gerechtigkeit“ erfährt, besteht
darin, daß dieser dem „Geist des Ressentiments“ frontal gegenüberge-
stellt wird, auf der Objektebene (definiendum) wie auf der Erklä-
rungsebene (definiens). In der Absicht, sich gegenüber der Rache-
Genealogie Dühringschen Typs zu profilieren, der er bekanntlich nicht
wenig verdankt, schießt Nietzsche übers Ziel hinaus, indem er diesem
Erklärungstyp attestiert, selbst vom Ressentiment infiziert zu sein, und
er schüttet das Kind mit dem Bade aus, indem er reaktiven Gefühlen
(z. B. des Verletzt-seins) jeglichen Anteil am „Ursprung der Gerech-
tigkeit“ abspricht.74 Es ist aber schlicht so, daß der Sinn für Unge-
rechtigkeit einen gewissen Vorrang beanspruchen kann und ein allge-
meines Merkmal unseres Menschseins ist (nicht nur der Klasse der
„Schlechtweggekommenen“), welches, sofern erzieherisch kultiviert, zu
einer mitfühlenden Antwort auf die Kränkungen anderer werden kann,
eine Anerkennung der Rechte anderer grundlegt und vielleicht die
beste Begründung für unseren Anspruch auf Würde75 bietet (Würde

71 KSA 5, S. 311.
72 Hier wäre zu wiederholen, was zur Diffusität und Definitionsschwierigkeit von
Nietzsches Macht-Begriff festgestellt worden ist; vgl. zuletzt Ernst Tugendhat
(Anm. 41).
73 O.C. III, S. 354.
74 Robert C. Solomon hat dem überzeugend widersprochen: Weder lässt sich die
Motivationsstruktur von Moral auf Ressentiment-Gefühle reduzieren, noch
sind solche nur negativ zu beurteilen. Vgl. „One Hundred Years of Resent-
ment. Nietzsche’s Genealogy of Morals“, in: Richard Schacht (Anm. 40).
75 Judith Shklar, ber Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefhl,
Berlin: Rotbuch 1992, S. 147 (orig. Faces of Injustice, New Haven/London
1990), in anderem Zusammenhang ähnlich Martha Nussbaum, „Mitleid und
Gnade. Nietzsches Stoizismus“, in: Deutsche Zeitschrift fr Philosophie, 5/1993,
S. 831 – 858.
62 Tilo Klaiber

jedes einzelnen, nicht nur einer Klasse von Edlen).76 Dieser Aspekt des
Egalitarismus ist eine genuin Rousseausche Entdeckung und eine, von
der zuallerletzt, woran allerdings wenig liegt, auch die Raubvögel unter
den Moralphilosophen profitieren, dann nämlich, wenn sie mit
„mildblickendem […] richtendem Auge“ gelesen werden.

76 Der Zusammenhang ist kaum je eindrucksvoller dargestellt worden als im Emile


O.C. IV, S. 331 ff. – Ein Exemplar des Emile soll sich in Nietzsches Bibliothek
befunden haben; diesen Hinweis danke ich Thomas H. Brobjer. In Nietzsches
Werken finden wir, wie bemerkt, keine Spur einer Auseinandersetzung.
Wie und warum Friedrich Nietzsche
sich Heinrich Heine als Franzosen
oder wie er sich Heine als Heine sah*
Renate Reschke

„Mag ich denn die Franzosen?“


(Nietzsche an Resa von Schirnhofer,
11. 3. 1885)
„… ich gelte als Bewunderer der
Franzosen.“
(Nietzsche an Erwin Rohde, Silvester
1873/74)

Friedrich Nietzsche hat seine unbedingte Sympathie für Frankreich und


die französische Kultur, für alles Französische schlechthin früh formu-
liert und zeit seines Lebens beibehalten. Gegenüber Sophie Ritschl, der
Frau seines Leipziger Professors und Mentors, macht er bereits 1868
geltend: „[…] ich habe leider Neigung für das pariser Feuilleton, für
Heines Reisebilder usw. und esse ein Ragout lieber als einen Rinder-
braten“ (Brief vom 2. 7. 1868, KSB 2, S. 299). Pläne nach Paris zu
gehen, treiben ihn jahrelang um, zunächst unmittelbar nach dem Stu-
dium will er mit Erwin Rohde, einige Jahre später mit Paul Rée und
Lou Salomé in die französische Hauptstadt gehen, um dort zu studieren
und zu leben. Ihm liegt an der möglichst schnellen französischen
Übersetzung seiner eigenen Schriften,1 und er liest vorwiegend fran-
zösische Zeitschriften: „[I]ch selbst lese, mit Verlaub, nur das Journal de
Dbats“, so verteidigt er sich gegen das Ansinnen, die Nationalzeitung zu

1 * Überarbeitete vollständige Fassung eines Vortrages auf der internationalen


Tagung der Nietzsche-Gesellschaft „Nietzsche und Frankreich. Nietzsche in
Frankreich“ vom 23. bis 27. 8. 2006 in Naumburg/Saale.
„Es wäre mir von unschätzbarem Werthe, wenn dasselbe [gemeint ist die
Gçtzendmmerung – R. R.] franzçsisch gelesen werden könnte“ (Brief an Hip-
polyte Taine vom 8. 12. 1888, KSB 8, S. 511).
64 Renate Reschke

lesen (EH, KSA 6, S. 301). Wie kaum ein anderer in Deutschland zu


dieser Zeit ist er mit der zeitgenössischen Literatur und Kultur in
Frankreich vertraut, erkennt er ihre zwiespältige, aber gerade dadurch
uneingeschränkte Modernität. Er fühlt sich mehr als geschmeichelt, als
Franzose angesehen zu werden und gibt zu, selbst französisch zu den-
ken: „[M]an sagt mir, ich müsse ein geborner Pariser sein: – noch nie
habe ein Ausländer so französisch gedacht“, wie er im Fall Wagner, teilt er
stolz Franz Overbeck in einem Brief vom 17. 12. 1888 mit (KSB 8,
S. 531).
Die Gründe dafür, so verschieden sie im einzelnen sein mochten,
waren ins große gerechnet immer die gleichen: Es waren die epide-
mischen „Anfälle von Verdummung“ bei den Deutschen, die sich stets
,anti‘ gaben, mal antijüdisch, mal antipolnisch, vor allem aber anti-
französisch (KSA, JGB, Aph. 251, Bd. 5, S. 192). Darin zeigt sich für
Nietzsche der sprichwörtliche ,Geist der Schwere‘, der moralinsaure
Ernst der deutschen Philosophie, die bornierte und leblose Enge eines
auf die vermeintliche germanische Vergangenheit bezogenen Kultur-
bewußtseins der Deutschen. Daher seine radikale Ablehnung des Na-
tionalitätenwahns und der daraus resultierenden nationalistischen und
unerträglichen Deutschtümelei und der deutschen Selbstglorifizierung,
daher seine Attacken gegen die folgenreiche Verwechselung von
Waffen- und Kulturüberlegenheit nach dem militärischen Sieg über
Frankreich 1870/71 in der deutschen Öffentlichkeit,2 daher seine un-
versöhnliche Kritik an jeglichem preußisch-deutschen Kleingeist, am
kulturellen Flachland Deutschland und an der geistlosesten aller For-
meln ,Deutschland, Deutschland über alles‘,3 für ihn Indizien dafür, dass
den Deutschen der Begriff von Kultur nicht nur verlorengegangen sei:
Schlimmer noch, in der Anmaßung ihres bildungsphiliströsen Kultur-
gehabes liege ein fundamental violentes Potential gegen alle Kultur:
„Soweit Deutschland reicht, verdirbt es die Cultur“ (EH, KSA 6, S. 285).

2 Vom Sieg der deutschen Kultur könne nicht die Rede sein, „weil die fran-
zösische Kultur fortbesteht wie vorher, und wir von ihr abhängen wie vorher“
und: „Inzwischen beachten wir, dass wir von Paris nach wie vor in allen
Angelegenheiten der Form abhängen – und abhängen müssen: denn bis jetzt
giebt es keine deutsche originale Kultur“ (DS, KSA 1, S. 160 und S. 164).
3 „,Deutschland, Deutschland über Alles‘ – ist vielleicht die blödsinnigste Parole,
die je gegeben worden ist. Warum überhaupt Deutschland – frage ich: wenn es
nicht Etwas will, vertritt, darstellt, was mehr Werth hat, als irgend eine andere
Macht vertritt! An sich nur ein großer Staat mehr, eine Albernheit mehr in der
Welt“ (NF, KSA 11, S. 77).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 65

In Sachen Kultur kommen für ihn die Deutschen des 19. Jahrhunderts
nicht mehr in Betracht. Ein Satz wie ein Fazit, mehrfach wiederholt und
ein Grund zu Alternativen.
Lange nach einer Alternative zu suchen braucht er nicht. Es bieten
sich ihm nur zwei an, die Antike und Frankreich, der griechische und
der französische Geist, die Lebendigkeit und Offenheit der antiken und
der französischen Kultur. Der Philologe weiß um die griechische Phi-
losophie, um die antike Kunst und um ihren Künstlergeist, der moderne
Kulturkritiker kennt die Kunst und die Gedankenwelt (die klassische
und die moderne) der Franzosen. Er kennt beide aus erster Hand. Vor
dem Hintergrund der deutschen Kulturmisere werden sie für Nietzsche
zu Maßstäben, an denen alle zukünftige Kultur sich zu orientieren habe,
wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, hoffnungslos ana-
chronistisch zu sein. Der Weg in die Moderne führt über Athen und
(nach) Paris. Nur an wen die Attribute ,antik‘ oder ,französisch‘, noch
besser ,antik‘ und ,französisch‘ zu vergeben waren, der hält Nietzsches
kritischem Blick stand und wird aufgenommen in die Phalanx derer, die
in der wirklichen Moderne angekommen waren. Was Wunder, daß der
Philosoph eine Griechenähnlichkeit der Franzosen zu entdecken glaubt,
und diese als ein Kriterium ihrer kulturellen Authentizität und Größe
sieht: Die Natur der Franzosen sei der griechischen sehr viel näher, als es
die deutsche je war oder sein könnte (vgl. MA I, Aph. 221, KSA 2,
S. 182). Und, größtes Lob und größte Identifizierung, die Griechen
hätten, so sie ihnen zu Gesicht gekommen wären, die Schriften der
Franzosen verstanden: Platon hätte dagegen Mühe gehabt, das „Klap-
perdürre“ des deutschen Geistes zu verstehen (sogar bei Goethe wäre es
ihm schwer gefallen), dem alle Leichtigkeit und Helligkeit abgehe:
„Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen
Franzosen! Diese Kunst hätten auch die feinohrigen Griechen gut-
heissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und angebetet
haben, den französischen Witz des Ausdrucks“ (WS, Aph. 214, KSA 2,
S. 647). Heinrich Heine wiederum hätten sie diesbezüglich fast zu den
ihren zählen können. Im Pandämonium ihrer großen Geister wäre sein
Platz auch weit angemessener gewesen, als im fragwürdigen Pantheon
der deutschen Walhalla, wo der unbequeme Dichter mit über ein-
hundertfünfzigjähriger Verspätung 2009 aufgenommen werden soll.4
Nietzsche sähe darin fraglos eine Ehrung, die nur des ironischen Ge-

4 Walhalla-Neuzugnge: Gauß, Stein, Heine, in: Berliner Zeitung vom 9. 8. 2006.


66 Renate Reschke

lächters wert ist und die die ungebrochene Fortführung einer beschä-
mend verkennenden Kleingeisterei bezeugt.
Der Gedanke der Griechen-Franzosen-Amalgamierung ist ein ba-
saler Untergrund für Nietzsches außerordentliche Sympathie für alles
Französische. Die Franzosen sind sozusagen die Griechen der Moderne.
Sie füllen ihre Kultur ganz aus, bis an die ambivalenten Grenzen einer in
sich immer problematischer werdenden Wirklichkeit, an der alle
künstlerische und intellektuelle Wirkmächtigkeit nach Nietzsche sich in
verkehrenden, in sich zurückrollenden Kapriolen erschöpft. Charles
Baudelaire, der Pariser schlechthin, wird ihm dafür das Exemple par
excellence. In deutscher Atmosphäre gedeihen nur Ausnahmen, die er,
wie sich selbst, als Franzosen sehen kann und sieht. Wer in Deutschland
geistigen Rang und (Geistes-)Größe besaß, dem sieht Nietzsche fran-
zösische Elemente in seine Intellektualität und/oder in sein Künstler-
tum. Georg Wilhelm Friedrich Hegel habe französischen Esprit besessen
wie kaum ein anderer, aber er habe Angst davor gehabt:5 Aus dieser
Verquickung sei die den Deutschen erlaubte Form des Esprit geworden,
schwer verständlich und zu erkennen erst hinter und unter den
Schichten idealistischer Begriffssysteme, die selbst noch Arthur Scho-
penhauer sprachlos gemacht habe. Gotthold Ephraim Lessing rettet
Nietzsche vor der bildungsbesessenen Philisterschaft, indem er ihn zum
Franzosen erklärt („der französische Lessing“, DS, KSA 1, S. 216) und
durch den Hinweis, er besäße „ächt französische Tugend“, was soviel
heißen sollte, er besäße französisches Formbewußtsein (WS, Aph. 103,
KSA 2, S. 597). Daß Richard Wagner nach Paris gehöre, zählt für
Nietzsche unter die Selbstverständlichkeiten, in denen er durch die
Franzosen, vorab durch Baudelaire, bestärkt wird.6 Dessen Modernität
buchstabiert sich zu einem guten Teil französisch, so sehr, daß die
wagnerische Sensibilität quasi deckungsgleich scheint mit der französi-
schen Kultur. Er gehöre nach Paris, denn in der Pariser Luft habe

5 „Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als
Hegel, – aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie
seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist
nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt
wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig […] jener
Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine
feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern
gehört“ (M, Aph. 193, KSA 3, S. 166 f.).
6 Vgl. NF, KSA 11, S. 590; Brief an Heinrich Köselitz vom 26. 2. 1888 (KSB 8,
S. 263 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 67

Wagner gelernt, „sich in Szene [zu] setzen“ (Brief an Heinrich Köselitz


vom 18. 11. 1888, KSB 8, S. 479), und nur wenige wußten ihn so zu
schätzen. Unter denen, die er sich ihres Geschmacks und ihrer Kultur
wegen nur als Franzosen denken kann, sind auch Cosima Wagner und
Schopenhauer: „Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in
Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft“ (EH, KSA 6,
S. 285). Weil sie ihren kulturellen Habitus an französischen Vorbildern
gebildet haben, sind sie selbst, in deren „charmante[r] Gesellschaft“
(ebd.) zu Vorbildern eines wirklichen Geschmacks geworden, unver-
dorben durch deutsche Grobheiten, Missverständnisse und Philosophie.
Schopenhauer auf Französisch zu lesen, gewöhnt sich Nietzsche darum
nach eigener Aussage bald an, weil dessen Gedanken französisch
schmecken. Sich selbst will er ebenso eingerecht wissen in diese Reihe
der Großen, die eher zu den „Unglücksfälle[n] der deutschwerdenden
Kultur“ (NF, KSA 7, S. 504) rechnen als zum mainstream der allge-
meinen Mittelmäßigkeit. Daß er viel vom französischen Freigeist habe,
davon ist er überzeugt, auch davon, daß er mehr Franzose sei als
Deutscher.7 Seine Abneigung gegen alles, was deutsch war („Deutsch
denken, deutsch fühlen – ich kann Alles, aber das geht über meine
Kräfte“, EH, KSA 6, S. 301) gibt der Selbstdefinition als Franzosen die
Legitimation und die Argumente. Es sei „an der höchsten Zeit, daß [er]
noch einmal als Franzose zur Welt komme“ (Briefentwurf an Jean
Bourdeau vom 17. 12. 1888, KSB 8, S. 535), obgleich er in Paris schon
„als das geistreichste Thier, das auf Erden dagewesen ist und, vielleicht,
noch als etwas mehr“ gelte (Brief an Andreas Heusler vom 30. 12. 1888,
KSB 8, S. 364). Dieser Stilisierung mehr Nachdruck gebend, avancieren
ihm die möglichen Übersetzer und Herausgeber in Frankreich zu
,wahren Genies‘ und zu den „einflußreichsten und intelligentesten
Männer[n] Frankreichs“ (ebd.). So interpretiert er sich die Reaktionen
aus Paris auf seine Bücher als Anerkennung seines geistigen Platzes im
Reigen der französischen Geistesaristokratie.8 Nur nicht deutsch sein:
Er begründete seine Sympathie für Frankreich mit der ausdrücklichen
Kriegserklärung an die Deutschen. Es ist ihm eine Frage der Perspektive
und der geistigen Reputation und Existenz, des intellektuellen Ekels an

7 In Anspielung auf seine angeblich polnische Herkunft heißt es: „Man nennt
nicht zufällig die Polen die Franzosen unter den Slaven“ (EH, KSA 6, S. 301).
8 Die Auflagenhöhe seines ins Französische übersetzten Ecce homo sollte Emile
Zolas Nana „überwinden“ (Brief an Franz Overbeck vom 22. 12. 1888, KSB 8,
S. 548).
68 Renate Reschke

der deutschen Kulturmisere und der Enthüllung, sich mit allen Namen
der Geschichte identifizieren zu können.9 Warum also nicht auch eine
der Masken der Identität in den Farben Frankreichs? So erfindet er sich
als Franzosen und umgibt sich mit einer ganzen Geisterrepublik der
besonderen Art, er versetzt sie in ein imaginäres Paris, um sie dem Bann
der opportunistischen Bequemlichkeit des Geistes und der bornierten
Realität zu entziehen, um mit und an ihnen das begehrte Kapital einer
zukunftstragenden Alternative des(r) Geistes(r) und Kultur(en) imagi-
nieren zu können. Wagner hat er diesbezüglich als „Ausland“ (EH, KSA
6, S. 288) bezeichnet und verehrt. Heine gesteht er das gleiche Wort
und Recht zu.

II

„Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der Heines Andenken in
Frankreich behandelt wird“, schreibt Nietzsche im Sommer 1888 em-
pört an Ferdinand Avenarius (Briefentwurf vom 20. 7. 1888, KSB 8,
S. 360). Vor dem Hintergrund einer sich zunehmend deutsch-national
und antisemitisch gefährlich-dümmlichen Zuspitzung der pseudo-lite-
rarischen Attacken gegen Heine und seine Ablehnung als deutschen
Dichter, in die sogar die renommierte Zeitschrift Kunstwart verwickelt
ist, protestiert Nietzsche mit erwarteter Schärfe. Dem Herausgeber
Avenarius teilt er nicht nur die Aufkündigung des Abonnements mit, er
wirft ihm vor allem vor, in „schnödeste[r] Weise Heinrich Heine
preisgegeben“ zu haben (Brief an Franz Overbeck vom 20. 7. 1888,
ebd., S. 362).10 Die eigene Sympathie für den immer stärker ausge-
grenzten Dichter formuliert Nietzsche unverhohlen, mit dem ihm ei-
genen Nachdruck und mit messerscharfer Unnachsichtigkeit gegen
dessen kleingeistige Kritikaster oder verblendete Ideologen. Mit Argu-
menten, die ihn zum Bruder des Verfemten in Geist und Ton erklären.
Er sieht sich ihm verwandt in der Radikalität der Ablehnung der kul-
turellen Selbstgefälligkeit der Deutschen, ihrer vaterländischen Eng-

9 „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde
jeder Name in der Geschichte ich bin“ (Brief an Jacob Burckhardt vom 6. 1.
1889, KSB 8, S. 578).
10 Dazu: Renate Müller-Buck, „Heine oder Goethe? Zu Friedrich Nietzsches
Auseinandersetzung mit er antisemitischen Literaturkritik des Kunstwart“, in:
Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung, 15 (1986),
S. 265 – 288.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 69

stirnigkeit und Philisterkultur, dem ästhetischen Mittelmaß und darin,


die Krähwinkeleien der Deutschen spöttisch bloßgestellt und ihnen
keinerlei Pardon gegeben zu haben. Die Leidenschaft und die Wut, der
wilde Übermut, die Ironie und die schmerzliche Leichtigkeit, mit der
Heine dies poetisch in Szene gesetzt hat, darin spürt Nietzsche die
Seelennähe. Jene „göttliche Bosheit“ (EH, KSA 6, S. 286) ist es, die für
Nietzsche die künstlerisch-poetische Vollkommenheit bedeutet und die
er an Heine entdeckt. Dessen Scharfblick und die scharfe Zunge, die
sich bei ihm mit einer unvergleichlichen Sprachartistik verbindet und
artikuliert, die Narrenkappe, die Maske ist und Distanz ermöglicht und
doch nicht unverletzbar macht, sowie der abgrundtiefe Schmerz und die
Melancholie, die Heine, um nicht an ihr zugrunde zu gehen, ironisch
zu brechen wußte, sind die Momente für Nietzsche, die sein Heine-
Bild bestimmen.11 Und die ihn, weit über die Tatsache seines Exilanten-
Daseins in Paris hinaus, in seinen Augen zu einem Franzosen prädes-
tinieren: „l’ adorable Heine sagt man in Paris“ (NW, KSA 6, S. 427).
Das sagt (fast) alles.
Heine ist für Nietzsche ein Mann, ein Dichter der Moderne par
excellence. Er gehört nach Frankreich, nach Paris wie sonst nur noch
Wagner und Jacques Offenbach. Er verkörpert aus seiner Sicht alles, was
an französischer Kultur zu bewundern und zu kritisieren ist, was diese
zur Moderne zusammenschließt und in dem deutschen Dichter Gestalt
geworden ist: Esprit, Modernité und Décadence, drei Stichworte, mit
und in denen sich das buchstabieren läßt, was Nietzsches Moderne
ausmacht. Was den Deutschen im tiefsten Grunde abging. Mit Esprit
will er die Deutschen rasend machen;12 er weiß um deren Biedermann-
Schwerfälligkeit in allen Sachen des Geistes. Heine hat diesen Esprit
besessen, die wundervolle Fähigkeit, geistreich im Sinne des Wortes zu
sein, die Meisterschaft, beschwingt geistvoll zu fabulieren und Streiche
und Bosheiten auszuteilen, lächelnd, mit einer Nonchalance und Hin-
tergründigkeit, die nur dem französischen Lebensstil des 19. Jahrhun-
derts entwachsen konnte. Dieser Esprit war eine Art „Rococo des Geis-
tes“ (NF, KSA 11, S. 21). An Heine beobachtet er eine „genüssliche
Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen“ ( JGB, KSA 5, S. 141) und eine

11 Dazu Renate Reschke, „,.. .jene göttliche Bosheit.‘ Heinrich Heine aus der
Sicht Friedrich Nietzsches. Zum 150. Todestag des Dichters“, in: HUM-
BOLDT-SPEKTRUM, Heft 2 (2006), S. 34 – 39.
12 „Wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen“ (Brief an Carl Fuchs
vom 27. 12. 1888, KSB 8, S. 554).
70 Renate Reschke

„anmuthige Beweglichkeit“ (NF, KSA 9, S. 409) des Geistes und der


Sinne, eine gleiche scheinbare Sorglosigkeit in der Verführung zu am-
bivalenter Schönheit und Raffinesse des Geschmacks, eine Begehr-
lichkeit nach immer neuen Vergnügungen, in denen sich Schauder und
Sinnlichkeit, Genuss und Grauen, Rausch und Ernüchterung, Leiden-
schaft und Reflexion in einem kulturellen Ambiente zu einem eigen-
tümlichen Erlebniskonglomerat verbinden, das genau die Modernité
gebar, in der auch Nietzsche das große Experimentierfeld seiner eigenen
Kulturkritik und Ästhetik ansiedelt. Heine wird ihm wie Wagner und
die Pariser Literaten zu einem Prototyp und Promotor dieser illustren
und zugleich paradigmatischen Kultur- und Kunstszene. Er sei den
„feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in
Fleisch und Blut übergegangen“ ( JGB, Aph. 254, KSA 5, S. 198).13 Der
„Cultus Heinrich Heines“ lebe allein in Paris (NF, KSA 11, S. 601). Die
Grenzlinien verwischen sich: Der Exilant wird zum Vorbild für die
Franzosen.
Heine hat für Nietzsche viel von den Romantizismen französischer
und deutscher Coleur. Als „Farcour“ und Gegenspieler zum „Factor“
Hegel mit seinem unausstehlichen Grau in Grau, habe er „ein „elec-
trisches Farbenspiel“ inszeniert, das mit seinem grellen Licht die Augen
angreife (NF, KSA 8, S. 281), habe er alle Einfälle und Bilder einzig
dazu entworfen, um sie im nächsten Augenblick durcheinander zu
wirbeln und zu zerstören. Es ist Heine, der ihm den „höchsten Begriff
vom Lyriker“ gibt, weil die Musikalität seiner Sprache eine Meister-
schaft besitzt, die von keinem anderen erreicht ist: „Ich suche umsonst
in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und lei-
denschaftlichen Musik“ (EH, KSA 6, S. 286). Mit dem Furor seiner
sprachlichen Destruktionskraft habe er, wie in einem facettenreichen
Kaleidoskop alle seine Beobachtungen festgehalten und manchmal
subtil, manchmal grell Bildsequenzen werden lassen, um sie so im
spielerischen Übermut sich auflösend, zunichte zu machen. Er ist für
ihn ein Sprachartist ohne Beispiel, ein brillanter Virtuose aller Stilar-
ten.14 Mit großer Neugierde und Erfindungsgabe, wesentlich aber mit

13 „Was von Dichtern jetzt in Frankreich blüht, steht unter Heinrich Heines und
Baudelaires Einfluß“ (NF, KSA 11, S. 600 f.).
14 „Seine Einfälle, seine Bilder, seine Beobachtungen, seine Worte passen nicht zu
einander, er beherrscht als Virtuose aber alle Stilarten , um sie nun durchein-
ander zu werfen“ (NF, KSA 7, S. 595).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 71

dem feinen Gespür für die Wollust alles Zwiespältigen,15 das den fran-
zösischen Geist auszeichnet.
Der „âme moderne“ ( JGB, Aph. 254, KSA 5, S. 198), d. h. der
modernen Seele anheim gefallen zu sein, heißt in Nietzsches Augen, ein
Teil der „raffinirtesten Cultur Europa’s“ zu sein. Und die hatte ihren
Sitz in Frankreich (ebd.). Ihre hohe Schule des Geschmacks trennte sie
von den vergröbernden Tendenzen, dem „lärmenden Maulwerk des
demokratischen bourgeois“ (ebd.), den Pöbel-Instinkten und den
Skandal-Eitelkeiten, dem „Principien-Lärm[]“, der Unpersönlichkeit
und dem Anbeten des momentanen Erfolgs.16 Das Frankreich des
großen Pessimismus war es, die Versammlung der Verdüsterten,
Kranken, Verkünstelten, die Vertreter der artistischen und artifiziellen
Passion waren es, die verspäteten Romantiker und die Fatalisten, die
Virtuosen des Ambivalenten, in denen sich der Zeitgeist der Modernité
seine prägnantesten Darsteller und Protagonisten erfand. Heines Hang
zum Schalk gegen sich selbst (vgl. NF, KSA 7, S. 659), der Schwebe-
zustand zwischen Ernst und Ironie, die Sprünge der Logik in das Terrain
ihres Gegenteils verbanden ihn nicht nur dem französischen Esprit („In
der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht
haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis
Unvernunft in allem französischen esprit“, FW, Aph. 82, KSA 3,
S. 438), sondern waren ebenso sehr ein Moment des Dekadenten dieser
Kultur und der Tiefe ihrer Selbsterkenntnis, der Einsicht in die unwi-
derrufliche Morbidität und ihrer artistischen Lust daran. – Die Leich-
tigkeit des Artistischen ist es, die Nietzsche an Heine fasziniert. Es war
eine Leichtigkeit der Tiefe, eine, die in die Tiefe ging und zum fran-
zösischen Kulturhabitus gehört.17 Dazu war die Maske, war Maskerade
nötig, die sich distanziert gab, um nicht dem Sentiment ausgeliefert zu
sein. Das In-Sich-Gebrochene, das (schau-)spielerische Raffinement der
Selbstinszenierung(en), das extrem Artifizielle des Ich- und Weltbezu-
ges, gehörte dabei ebenso zur Meisterschaft, wie der Reiz des Skan-

15 Egon Friedell hat Heine eine zwiespältige Natur genannt und den „erste[n]
Gestalter“ der Ambivalenz: „Tragik und Komik, Sentimentalität und Ironie
verhalten sich bei ihm nicht wie die beiden Hälften, sondern wie die Vorder-
und Rückseite derselben Sache“ (Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit,
Bd. 2, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1987, S. 1100).
16 Vgl. NF, KSA 11, S. 62 f.
17 „Die Franzosen tief artistisch – das Durchdenken ihrer Cultur, die Consequenz
im Durchführen des schönen Anscheines – spricht gar nicht gegen ihre Tiefe – -
– “ (NF, KSA 11, S. 215).
72 Renate Reschke

dalösen, der Tabubrüche und der Katzenjammer über die eigene Fa-
talität und Ungewißheit über das Heute und Mehr noch über das
Morgen. – Es war die Délicatesse des Artistischen, die der Dcadence ihre
Konturen einschrieb. Die Leidenschaft in Fragen der Form wurde
nirgends so existenziell ausgelebt wie unter französischem Vorzeichen.
Die Sicherheit in Formangelegenheiten, das ästhetische Noblesse oblige,
das die französische Künstlerszene beherrschte, übte eine Sogwirkung
aus, die unheilbar krank machte, an der diese „Fanatiker des Ausdrucks,
Virtuosen durch und durch“ (EH, KSA 6, S. 289) alle Lebens- und
Kunstkraft verausgabten und wußten, dass sie daran zugrunde gegen
würden. Sie hatten die Sinne, d. h. die Finger entwickelt für die Nu-
ancen dieser gefährlichen Passionen, für die laszive Morbidität des
Augenblicks, der genossen sein wollte. Eine ungeheure Gier nach Leben
und zugleich das Bedürfnis seiner Verneinung gingen eine ästhetische
Symbiose bis dato ohnegleichen ein, die sich in dekadenter Poesie ar-
tikulierte. Nicht zufällig entdeckt Nietzsche eine nicht zu unterschät-
zende Verwandtschaft zwischen Heine und Baudelaire, erkennt er ihrer
beider Größe in der Souveränität ihrer Poesie, dieser Ambivalenz Bild
und (Sprach-)Ton zu geben und sieht er darin den Ausdruck ihrer
unumstößlichen Modernité.
Was immer Heine zunächst an die deutsche Romantik gebunden
hat, Nietzsche goutiert seine Nähe zum Weltgefühl des Schmerzes, der
Todes-Sehnsucht und seine kränkelnde Melancholie unter der Optik
der ironischen Verwerfungen, der ästhetischen Sprachhöhe, der feinen
Psychologie des Literaten, dessen Domäne die scharfsichtige und
scharfsinnige Kritik aller Formen der Dcadence war, mit der er in die
Nähe der französischen Romantik kam und diese ihrerseits als synonym
mit Modernit und Dcadence galt.18 Das dekadente Moment des Ro-
mantischen und/oder die Romantik der dekadenten Kultur, diese
Ambivalenzen waren in Frankreich zu Hause, besaßen in Paris ihr
Domizil. Hier waren sie zu beobachten, hier waren sie zu leben. Heine
war ein Teil von ihnen. In ihm, in seiner Poesie wurden sie Sprache,
nach Nietzsche die göttlichste und boshafteste und leidenschaftlichste
Sprache, die ihm begegnet ist, mit jener Süße und Musikalität, der er

18 Baudelaire hatte im Salon 1846 verkündet: „Wer Romantik sagt, meint mo-
derne Kunst“, und 1856: „Romantik ist eine himmlische oder höllische Gnade,
der wir ewige Wundmale verdanken“ (zit. nach: Der Untergang der romantischen
Sonne. sthetische Texte von Baudelaire bis Mallarm, herausgegeben von Manfred
Starke, Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1980, S. 17).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 73

sich tief verwandt fühlt. Das laszive Moment einer grundlegenden


kulturellen Schwäche ist in die Mentalität des modernen Großstadt-
menschen eingelassen und hat ihn zum Kristallisationspunkt des deka-
denten Lebens gemacht: „[…] immer größere Schwäche der Menschen,
Die Ereignisse als Excitantien. Der Pariser als das europäische Extrem“
(NF, KSA 10, S. 659). Die Modernität, Paris und Dcadence („Sehr
modern, nicht wahr? sehr Pariserisch! sehr dékadent!“, WA, KSA 6,
S. 33), das ist für Nietzsche die unheilige Dreifaltigkeit der Kultur seiner
Zeit. Der Pariser Heine war davon und damit infiziert und er wußte
dem Ausdruck zu verleihen, in der gleichen Doppelexistenz wie
Nietzsche, d. h. im Bewußtsein, nicht nur dazuzugehören, sondern
durch Reflexion zugleich davon abgehoben, d. h. different zu sein.19
Alles schien immer ein wenig morbid, ein wenig überreizt, nervös und
schamlos, (be-)gierig nach Gesundheit und zugleich deren Abwesenheit
genießend, sich entblößend und darin doch nicht wahrhaftig histrio-
nisch zu sein, eher und dies mit großer, geltungsbedürftiger Geste,
schaustellerisch und exhibitionistisch. Die intimsten Seiten des Leben
verächtlich machend, wird, was der Hauch des Dekadenten streift, auf
merkwürdige Weise krank, anämisch und verfällt hoffnungslos an das
(Selbst)Ruinöse, an den Genuß des Untergehenden. Nicht zufällig,
sondern ganz sinnfällig dominieren die Tropen und die Metaphern des
Verfalls. Man gefällt sich im Zustand der „Degenerescenz“ (GD, KSA 6,
S. 124).20 Der bösen und ihm übelgenommene Erkenntnis Nietzsches:
„Unsre Mittel und Wege zur Cultur zu kommen sind der Kraft und
Gesundheit der Cultur feindlich“ und die Radikalisierung von 1874:
„[W]ir sind eine Zeit, dessen Cultur an den Mitteln der Cultur zu
Grunde geht“ (NF, KSA 7, S. 829), steht nicht zufällig Heines Name für
sich zur Lektüre empfohlen zur Seite. An ihm glaubt er einiges davon zu

19 Dies gesagt in Anspielung auf Nietzsches Satz, er sei dcadent und zugleich das
Gegenteil davon (vgl. EH, KSA 6, S. 266).
20 „Sich den Zustand des Verfalls zu verhehlen, bei dem wir angelangt sind, wäre
der Gipfel des Unverstandes. Religion, Sitten, Justiz, alles ist im Niedergang
begriffen, oder vielmehr: alles erfährt eine unausweichliche Entwicklung. Die
Gesellschaft zerfällt unter der zersetzenden Wirkung einer alles auflösenden
Zivilisation. Der moderne Mensch ist ein Mensch voll Überdruß, Verfeinerung
der Begierden, der Empfindungen, des Geschmacks, des Luxus, der Genüsse;
Neurose, Hysterie, Hypnose, Morphiumsucht, wissenschaftlicher Schar-
latanismus, maßloser Schopenhauerismus – das sind die Krankheitsanzeichen
der gesellschaftlichen Entwicklung“, so hat es Anatole Baju in Aux lecteurs 1886
zusammengefaßt (zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische
Texte von Baudelaire bis Mallarm, [Anm. 17], S. 254).
74 Renate Reschke

entdecken. Der „farceur“ Heine (ebd., S. 595) wußte mit großer Ge-
nialität die Partitur der Dcadence sprachspielerisch zu unterlaufen und so
alle Register dieser Modernit zu ziehen. Die ambivalente Schönheit
dieser Sprache war die gleiche, die Nietzsche auch an Baudelaire und
Wagner wahrnimmt: „Etwas Glühendes und Trauriges, ein wenig
unsicher, Raum der Vermuthung gebend“ (NF, KSA 13, S. 79).
Dennoch will er nach Martin Luther nur sich und Heine als die
größsten Artisten der deutschen Sprache anerkennen, weil ihr Deutsch
nicht ,bloßes‘ Deutsch sei.21
Die Genußfähigkeit für die psychologischen Finessen, der Sinn für
die Ausschweifungen der Sinne und des Geistes, die Dramatik, mit der
eine hohe Sensibilität und die Sucht nach Narkotika und das Ineinander
der Gegensätze (Rausch und Betäubung) sich verbinden, die „Hyper-
irritabilität“ (ebd. 429), die Spielarten der Orgiasmen (Nietzsche sieht
die dekadente Seele als die orgiastische Seele) gipfeln für ihn in einem
schrillen „hysterisch-erotische[n] Zug“ (NF, KSA 11, S. 591), im
Brunstgehabe einer unersättlichen Lebensgier, in einem „sonnenarmen
gequälten Glück an der Entdeckung des Häßlichen und Gräßlichen“
(ebd.), die sich zudem, vor allem mit Blick auf Baudelaire und Wagner,
mit einer für Nietzsche äußerst unerquicklichen und unerträglichen
Neo-Religiosität verbinden. Die „Hündin Sinnlichkeit“ (Za, KSA 4,
S. 69) im Dunstkreis zwischen christlicher Bekehrung und Obsession,
das Künstlertum im Griff ihrer verlogenen Tugenden: „[D]aß die
corrupten Pariser romanciers jetzt nach Weihrauch duften, macht sie
meiner Nase nicht wohlriechender: Mystik und katholisch-heilige
Falten im Gesicht sind nur eine Form der Sinnlichkeit mehr“ (NF, KSA
13, S. 451).22 An Baudelaire brach aus, was in Charles-Augustin Sainte-
Beuve sich vorgebildet hatte.23 Die Fleurs du mal sind der lyrik-ge-
wordene Beweis. Den modernen Franzosen spricht Nietzsche ohnehin
ein „gallische[s] Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Un-

21 „Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und
ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in
einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr
gemacht haben“ (EH, KSA 6, S. 286).
22 Dazu: Renate Reschke, „Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil.
Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne“, in: Nietz-
scheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft 10 (2003), S. 269 – 286.
23 Vgl. GD, KSA 6, S. 112 f. Zu Nietzsches Verhältnis zu Baudelaire: Karl Pes-
talozzi, „Nietzsches Baudelaire-Rezeption“, in: Nietzsche-Studien. Internationales
Jahrbuch fr die Nietzsche-Forschung 7 (1978), S. 158 – 178.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 75

geduld“ (FW, Aph. 377, KSA 3, S. 630) zu als Zeichen ihrer kulturellen
Ambiguität. In dieser Unheilbarkeit ihres Wesens lag etwas, das er als
deren „hochfliegende und emporreissende Art“ (EH, KSA 6, S. 289)
bestimmt, mit der sie dem Leben verfielen und widerstanden und aus
der er ihre unbedingte ästhetische Lebenshaltung erklärt, die sich im
Erproben immer neuer „Ausschweifungen des Erhabenen“ (NF, KSA
11, S. 590) gefiel und zugleich erschöpfte. Beutegierig seien die Ro-
manciers in Paris, sie würden täglich der Wirklichkeit unverschämt und
listenreich auflauern, um ihre Kuriositäten nach Hause zu tragen, wo sie
sie dann farbenschreiend zusammensetzen zu einem beunruhigenden
Mosaik, um sich an ihm zu delektieren, verweichlicht und verweiblicht,
um den Ekel zu verbergen, den sie sich selbst verbieten, d. h. ästhetisch
um(ver-)biegen mußten.
Heine paßte nicht ganz in dieses Bild. Er teilt mit ihm, nach
Nietzsche, alle Facetten der Rebellion gegen die Unterdrückung der
Leidenschaft(en), eine gewisse Überreiztheit und eine Lebensgier, die
sich erotisch buchstabierte, den Ernst in Formfragen24 und in der „mise
en scène“ (ebd., 288), die gedankenreichen Augen und Ohren,25 die
Neigung zur Maskerade, die Desillusionierung über die Spezies Mensch
unter den Bedingungen der bürgerlichen Moderne und im gleichen
Atemzug die Opposition gegen sie. Mit Théophile Gautier wußte er
Heine einig in der Aversion gegen alle philisterhaften Tugend- und
Moralvorstellungen. Gautiers Satz, er würde ganz sicher „der Groß-
mutter Tugend eine kleine, fein herausgeputzte, kokette Immoralität“26
vorziehen, könnte von Heine stammen. Und von Nietzsche. Heines
Plebiszit gegen das (im Sinne des Wortes) Anrüchige der Religion(en) 27

24 „Man ist um den Preis Künstler, daß man das, was alle Nichtkünstler Form
nennen, als Inhalt, als die Sache selbst empfindet. Damit gehört man freilich in
eine verkehrte Welt“ (NF, KSA 13, S. 533).
25 Stendhal hatte aus Nietzsches Sicht die gedankenreichsten Augen und Ohren
des Jahrhunderts (vgl. FW, Aph. 95, KSA 3, S. 450).
26 Zit. nach: Der Untergang der romantischen Sonne. sthetische Texte und Baudelaire
bis Mallarm, (Anm. 17), S. 29.
27 Heines Gedicht Disputation aus dem 3. Buch des Romanzero endet, nachdem ein
Mönch und ein Rabbiner in Toledo Argumente für ihren Glauben wortge-
waltig ausgetauscht haben, zum Zwecke ihrer wechselseitigen Bekehrung, und
es zu keiner Überlegenheit einer Seite kommt, mit der Antwort der anwe-
senden Königin, auf die Frage ihres Mannes, für welche Seite sie sich ent-
scheide: „Welcher recht hat, weiß ich nicht -/ Doch es will mich schier
bedünken,/ Daß der Rabbi und der Mönch,/ Daß sie alle beide stinken“
76 Renate Reschke

ist ihm tief einsichtig und verwandt im Geiste: Es trennte Heine, in


Differenz zu Wagner, von jener an den Franzosen wahrgenommenen
verhängnisvollen msalliance mit dem Katholizismus. Davor bewahrte
Heine seine Herkunft und wohl auch das, was Nietzsche, mit Bezug auf
Baudelaires Leben, ein Amphibienwesen genannt hat: „ebensosehr
deutsch als pariserisch“ (NF, KSA 11, S. 601) zu sein. – Was Nietzsche
geflissentlich an Heine übersieht, wenn nicht, hat er es jedenfalls nicht
ausgesprochen, war die Sympathie der Franzosen, vorab der Pariser für
vieles Plebejische. Den Franzosen allgemein hat er einen Glauben an die
Revolution und einen von Zeit zu Zeit ausbrechenden Herdeninstinkt
attestiert. Victor Hugo habe lebenslang „diesem allerschönsten Heer-
den-Instinkte“ den Prunkmantel der Freiheit umgehängt (ebd., S. 447).
Sollte er an Heine solcherart ,Makel‘ der Ressentiment-Sympathie nicht
wahrgenommen haben? Schwer vorstellbar. Eher ist anzunehmen, dass
dies nicht in sein Bild von Heine passen wollte, dass seine Imagination
,Heine‘ sich dem politischen Dichter-Porträt sperrt und er es bewusst
unterläßt, um ihn nicht unter die „heraufgekommene[n] Plebejer“, wie
etwa Honoré de Balzac (ebd., S. 591), zählen zu müssen. Ihm ist in
erster Linie wichtig, ihn als den großen Abtrünnigen der deutschen
Romantik zu sehen, als den großartigen Spötter, der die Gebrechen der
Zeit und die selbstverschuldeten Gebrechlichkeiten der Zeitgenossen,
die diese fälschlicherweise als ihre Stärken sahen, im Farbenspiel des
poetischen Spiegels zunichte machte. Heine als der tiefsinnige Psy-
chologe, kritisch, drohend, blasphemisch, bitter-süß, souverän und
herausfordernd, als jemand, der aus tiefster Verletztheit aggressiv auf
jeden erlittenen Schmerz reagierte und mit poetischen Schlägen parierte
und eher noch sich selbst verletzte, als dass er auf den Schlag verzichtet
hätte. Er sei ein unbewußter Ironiker und ein Schalk gegen sich selbst
gewesen (vgl. NF, KSA 7, S. 659). Wie Nietzsche selbst, der jeder Liebe
ein „Gran Selbstverachtung“ (NF, KSA 9, S. 676), jedem Recht ein
Gran Unrecht beigeben will, als Tarnung und Selbstschutz, weil sie vor
existenziellen Katastrophen bewahren helfen. Hinter dem Spott die
Tragödie, hinter dem Tragischen der Spötter. Darin vor allem ist Heine
für Nietzsche exemplarisch. So wie er selbst sich als „Possenreisser der
neuen Ewigkeit“28 entworfen hat, der lieber ein Narr sein wollte auf

(Heinrich Heine, Smtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Briegleb, Bd. 6/


1, München und Wien: Hanser Verlag 1998, S. 172).
28 Nach der Überlieferung von Franz Overbeck soll Nietzsche kurz nach seinem
Zusammenbruch in Turin dies als Beruf angegeben haben, zit. nach: Wilhelm
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 77

eigene Faust (vgl. Za, KSA 4, S. 325) als weise nach fremdem Gut-
dünken, sieht er Heine, wie dieser sich selbst beschrieben hat, stets ein
bißchen ein Scharlatan und immer im Zweifel, ob er nicht bloß ein Don
Quichotte sei. Rabenschwarze Gedanken fröhlich zu besingen und
Wort werden zu lassen, das schien ihm, nach Nietzsche, das Höchste.
Mit solchen Beschreibungen entdeckt Nietzsche in Heine seinen un-
vergleichlichen Vorgänger. Und sich selbst.
Der so beschriebene Heine ist ein großartiges Bild, eine Erfindung
mit Größe, die den Erfundenen kenntlich macht: eine Idealität mit
Wahrhaftigkeitsanspruch, ein intellektuelles Spiel mit wechselnden
Masken. Wie bei allen Porträts, so sind auch in ihm die biographischen
Konturen das Identifikationskapital für das zu zeichnende Bild, eine
Projektionsfläche, ein Deutungsfeld für den Zeichner. Nietzsche setzt
sich die Maske Heine auf, und Heine mußte es sich gefallen lassen, unter
dieser Maske Züge seines Erfinders eingezeichnet zu bekommen. Wozu
taugen für Nietzsche die Biographie und das Werk eines anderen? Um
sich ein ,Bild‘ zu machen von ihm, um ihn aus seiner Optik zu
zeichnen, um ihm Kontur zu geben, an und mit der er für ihn zum
Bruder oder Gegner im Geiste zu erklären ist. Den einen Heine gab es
nie, wohl aber unter Nietzsches Optik den, dem er sich zum Sympa-
thisanten macht. Wie er es auch mit anderen, mit Heraklit etwa oder
Baruch Spinoza getan hat.
Welche Sprache aber sprechen diese Bilder? Da vermischen sich
Faktum und Fiktion, verweisen wechselseitig auf sich, sind aufgeladen
mit den Idiosynkrasien gegen die zu attackierenden Verunglimpfungen
und dem, was Nietzsche an Heine wichtig ist, wie er ihn sehen will.
Und wie er sich selber sehen und gesehen werden will. Im Heine-Bild
Nietzsches ist ein gutes Stück Nietzsche-Selbstporträt. Auch ohne
Maske(n). Die wechselseitige Spiegelung macht notorisch, was an Heine
imaginiert wird: ein Fremdbild, das zum Selbstbild mutiert, dieses ent-
und verhüllt, beide als Fiktion vergegenwärtigt und ihnen doch ihre
unverwechselbaren Züge nicht streitig macht. Die Authentizität des
Fiktionalen, Nietzsche bestärkt und bestätigt sie an und mit seiner
Heine-,Erfindung‘. Aber diese Authentizität ist immer die Nietzsches.
Weil er die Identifikation im anderen sucht, weil er sie braucht, darum
ist das Bild authentisch. Es ist immer einen Schritt sich selbst voraus: Das
alles ist ihm ein terrain vague, ausgeliefert dem eigenen Gedanken- und
Weischedel, Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und
Denken, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 259.
78 Renate Reschke

Bild-Erfindungsspiel und seinen Gestaltungsregeln. Die violente Potenz


der Imagination ermöglicht es, das Rätsel, das er sich selber ist, sich
verbergend, am Anderen zu begreifen. So kann er auch, paradox, mit
seiner Erfindung den Heine entdecken, der dieser war. Und seine ei-
gene Existenz zugleich zur französischen erklären.

III

Paris ist für Nietzsche von Anfang an der faszinierendste Ort für die
Moderne, ihr Geburtsort und der Ort ihrer ausgeprägtesten Erscheinung
in einem. Ein topographischer und geistig-geographischer Glücksfall, an
dem die große comedi humaine „auf der schönsten Scene der Welt,
zwischen den buntesten Coulissen und einer Unzahl glänzender Sta-
tisten“ aufgeführt wurde (Brief an Erwin Rohde vom 20. 11. 1868, KSB
2, S. 345). Er imaginiert sich die Stadt und ihre Atmosphäre so sehr, dass
er sich selbst glauben machen kann, in Pariser Luft zu atmen.29 „Paris
die einzige Stadt—“ (NF, KSA 8, S. 571), notiert er vieldeutig schon im
Herbst 1878. In Ecce homo 1888 listet er die Stadt neben Florenz, Athen
und Jerusalem als Ort mit „ausgezeichnet trockene[r] Luft“, „wo es
geistreiche Menschen giebt und gab, wo Witz, Raffinement, Bosheit
zum Glück gehörten, wo das Genie fast nothwendig sich heimisch
machte“ (EH, KSA 6, S. 282). Paris wird man nicht los.30 Es ist das
neue, das weltliche Jerusalem der Moderne und erscheint ihm im pe-
trifizierenden Licht der Modernité, das alle Konturen der Stadt und
ihrer Bewohner mit dem Schein der Décadence umgibt. Die moderne
Kultur ,riecht‘ nach Paris, wenn nicht, kommt ihr das Prädikat ,modern‘
nicht wirklich zu.31 Paris war die große Hoffnung für alle, die das Bild
der ,heilen‘ Welt aufgegeben und sich dem ,Leben‘ mit allen seinen
Licht- und Schatten-Facetten aussetzen wollten (oder mußten). Die

29 In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 2. 12. 1888 beschreibt er das Erlebnis
eines Konzertbesuches: „Diese Ouvertüre [gemeint ist die Sakuntala-Ouvertüre
von Karoly Goldmark – R. R.] ist hundert Mal besser gebaut als irgend etwas
von Wagner […] und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, dass ich wieder
die Luft von Paris zu athmen begann“ (KSB 8, S. 499).
30 Sogar den französischen Romanciers, die sich bemühen, das Pariser Ambiente
zu unterlaufen, gelingt es nicht: „Zuletzt werden sie Paris nicht los“ (NF, KSA
11, S. 58).
31 Baudelaire, der Pariser, besaß jene Ankränkelung, „welche nach Paris riecht“
(NF, KSA 11, S. 428).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 79

kulturelle Anziehungskraft der Stadt schlug in ihren Bann. Wer Pariser


war, war froh es zu sein, wer aus Deutschland ins Exil ging, wählte Paris,
Heine und Karl Marx gehörten zu den prominentesten. Wer ans Aus-
land dachte, wie Nietzsche, dachte an Paris.
„Paris ergötzte mich sehr, durch die Heiterkeit, die sich in allen
Erscheinungen dort kundgibt und auch auf ganz verdüsterte Gemüter
ihren Einfluß ausübte“: Man habe beständig das Gefühl, die großen
Tragödien, die sich dort abspielen, unter einem Schleier, „im Rosen-
lichte“ zu sehen, „welches alle Tragödien für den nahen Zuschauer
erheitert, damit ihm dort der Lebensgenuß nicht verleidet wird […] In
dieser Luft von Paris heilen alle Wunden viel schneller als irgend an-
derswo; es ist in dieser Luft etwas so Großmütiges, so Mildreiches, so
Liebenswürdiges wie im Volk selbst.“32 So hat es Heine in den Floren-
tinischen Nchten gesehen und dargestellt, literaturgewordene Verarbei-
tung seiner ,Salon‘-Erfahrungen: „Auch ist in Frankreich die Gefall-
sucht so groß, daß man eifrig dahin strebt, nicht bloß den Freunden,
sondern auch den Feinden zu gefallen. Das ist ein beständiges Drapieren
und Minaudieren, und die Weiber haben hier ihre liebe Mühe, die
Männer in der Koketterie zu übertreffen.“33 Nietzsche setzt sich aus
vergleichbaren Sentenzen seine Paris-Vorstellung zusammen. Und
plaziert darin auch seinen Heine. Wie den Dichter, so imaginiert er sich
den Schauplatz, inszeniert ihn zur Bühne für den Auftritt der Moderne
und macht die französische Hauptstadt zur Hauptstadt der kulturellen
und künstlerischen Moderne insgesamt, bevölkert sie mit der illustren
Gesellschaft ihrer Literaten und Intellektuellen. Er sieht sich von ihren
Beschreibungen das Bild der Stadt ab, es gerinnt in seiner Vorstellung zu
seinem eigenen. An der Lektüre der Pariser Autoren bildet sich seine
Überzeugung, Paris allein tauge zur Heimat aller Artisten („Als Artist hat
man keine Heimat in Europa ausser in Paris“, EH, KSA 6, S. 288), die
Pariser allein verstünden die modernen Künstler, wie diese ihrerseits an
der Pariser Lebensart nicht nur partizipieren, sondern sie auch we-
sentlich prägen. Darum gehören Heine und Wagner nach Paris. Wo die
Anerkennung noch fehle, ist sich Nietzsche sicher, würde sie sich
einstellen. In Wagner sei jene Nervosität der Moderne, die in der Stadt
ihren Ursprung und Sitz habe, so daß die Pariser unvermeidlich sich zu
ihm bekehren werden (vgl. NF, KSA 11, S. 591). Bei Heine sieht es
anders aus. Ihn haben die Pariser längst für sich, als einen der ihrigen,

32 Heinrich Heine (wie Anm. 27), Florentinische Nchte, Bd. 1, S. 597.


33 Ders., ebd., S. 599.
80 Renate Reschke

vereinnahmt: „Die Pariser behaupten […], daß er mit 2 anderen Nicht-


Parisern die Quintessenz des Pariser Geistes darstelle“ (ebd., S. 472).
Die feine Sensibilität für alles Ambivalente, der raffinierte Luxus der
Begierden und ihrer Befriedigungen, der Ralisme der ästhetischen
Phantasien, die magische Inspiration einer übersteigerten Provokati-
onslust, der artifizielle und zugleich existenzielle Rausch einer immo-
ralistisch sich gebenden Sinnesfreude, das betäubende, selbstbetrügeri-
sche Eintauchen in eine ausschweifende Scheinwelt, der Tanz auf dem
Vulkan mit der Gratis-Zugabe einer zeitgleichen Melancholie, die
heiter-oberflächliche Gewißheit, am Rande des Abgrundes zu stehen
und die latente Präsenz des Absturzes zu genießen – dies alles war Paris
und konnte nur dort gelebt werden. Paris war, nach einem Wort von
Walter Benjamin, das kongeniale Milieu für die bürgerliche Moderne,
für den zum Großstädter werdenden Bürger und für die Schnelligkeit
und Flüchtigkeit des Lebens, für die täglichen Sensationen, die Journale
und das Feuilleton. Motive und Töne der Pariser Alltäglichkeit, auch
die nach Nietzsche schrillen, die sozialen, politischen, revolutionären,
dringen tief in die Künste ein, infiltrieren sie mit dem (in seinen Ohren)
mißklingenden Grundton ihrer sich heroisch gebenden Akteure.34
Sein Interesse gilt mehr, da siedelt er denn auch Heine an, dem
Hauch des Dionysischen in der Pariser Luft.35 Heine hatte mit seinem
Jubelruf „Evoe Bacche!“ enthusiastisch dem griechischen Gott und
seiner Macht gehuldigt und im virtuosen Geigenspiel des Niccolò Pa-
ganini die sinnliche Bogenführung eines bocksfüßigen Satyrs entdeckt.36

34 Walter Benjamin, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, herausgegeben von
Rosemarie Heise, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1971, S. 107 ff.
35 Dazu: Linda Duncan, „Heine and Nietzsche. Das Dionysische: Cultural
Directive and Aesthetic Principle“, in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch
fr die Nietzscheforschung 19 (1990), S. 336 – 345.
36 „Hinter ihm bewegte sich ein Gesicht, dessen Physiognomie auf eine lustige
Bocksnatur hindeutet, und lange haarichte Hände, die, wie es schien, dazu
gehörten, sah ich zuweilen hülfreich in die Saiten der Violine greifen, worauf
Paganini spielte. Sie führten auch manchmal die Hand, womit er den Bogen
hielt, und ein meckerndes Beifall-Lachen akkompagnierte dann die Töne, die
immer nur schmerzlicher und blutender aus der Violine hervorquollen […]
Zuweilen, wenn in die melodischen Qualnisse dieses Spiels das obligate
Bockslachen hineinmeckerte, erblickte ich auch im Hintergrunde eine Menge
kleiner Weibsbilder, die boshaft lustig mit den häßlichen Köpfen nickten und
mit den gekreuzten Fingern, in neckender Schadenfreude, ihre Rübchen
schabten“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Florentinische Nchte, Bd. 1,
S. 580 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 81

Den Topos des Dionysischen verband Heine ausdrücklich mit dem des
Satyrhaften, die rauschhaften Dionysien mit den orgiastischen Festen
des gehörnten Wald-Dämons, zu denen die wilden Tänze und Klänge
der Musik gehörten. Jauchzend, ekstatisch, jubelnd. Nietzsches spätere
Bilder des tanzenden Gottes und seiner ihn ehrenden rasenden Ge-
folgschaft speisen sich nicht nur aus den antiken Vorgaben, sie tragen
auch die Spuren der Heineschen Version, die immer schon auf deren
Pariser ,Auferstehung‘ deuten. Gegen die mehr als zweitausend Jahre
„Widernatur“ (EH, KSA 6, S. 313), die vor allem das Christentum zu
verantworten hat, war die Wiedergeburt des Gottes aus dem Geist der
Moderne des 19. Jahrhunderts eine Art intellektuelles Gütesiegel für die,
die seine Sache betrieben. Heines Sensualismus und Nietzsches ,grie-
chische Heiterkeit‘ gehen eine bemerkenswerte Symbiose ein.37 Paris
scheint der ideale Ort zu sein, diese Widernatur aufzuheben. Nietzsche
sieht sich in diesem „Attentat“ (ebd.) in vorderster Linie, unausge-
sprochen mit Heine im Rücken. Dolf Sternberger hat mit Verve davon
gesprochen, Nietzsche sei in Sachen Sensualismus und Abschaffung der
Sünde, der Lobpreisung des Dionysischen und der Rehabilitierung des
Sinnlich-Körperlichen in der Spur Heines nicht nur einfach weiterge-
gangen, er sei in ihr „weitergerannt“, er habe dessen heiter-radikalen
Gestus ins Exaltierende ge(über-)steigert.38
Nietzsche bringt Heine in diesem Kontext mit Bedacht in einen
Zusammenhang zu Jacques Offenbach. Nicht nur wegen ihres Juden-
tums, sondern wegen ihrer beider Affinität zum Dionysischen und
Satyrhaften. Offenbach ist für ihn der „geistreichste[] und übermüt-
higste[] Satyr“ (NF, KSA 12, S. 361), der „Hanswurst“, dem die
„Augenblicke übermüthigster Vollkommenheit“ gelingen, ein Genie in
seiner Klasse (NF, KSA 13, S. 497): Er sei darin höher zu schätzen als
Wagner, weil ausgestattet mit „unsterblichen Tricks“ (ebd., S. 596).
Und er habe den Gipfel seiner Kunst als Franzose erreicht, er, „der
nichts Anderes sein wollte als was er war – ein genialer Buffo, im
Grunde der letzte M<usiker> der noch M<usik> machte“ (ebd.,
S. 619). Übermütig sei der Komponist gewesen, „mit einem kleinen
sardonischen Grinsen“, „geistreich bis zur Banalität“ und vor allem

37 Wenn Nietzsche auch an Heine kritisiert, dieser habe die ,griechische Hei-
terkeit‘, wie sie im 19. Jahrhundert verharmlosend gesehen wurde, unter die
Kategorie eines ,bequemen Sensualismus‘ gerechnet (vgl. NF, KSA 7, S. 352).
38 Dolf Sternberger, Heinrich Heine und die Abschaffung der Snde, Hamburg und
Düsseldorf: Claassen Verlag 1972, S. 302.
82 Renate Reschke

„ohne die mignardise krankhafter oder blond-wienerischer Sinnlich-


keit“ (NF, KSA 12, S. 344). Die „Spottvogelperspektive der Offen-
bach-Operetten“ ist es, die das gewohnte Bild der Welt verkehrt und
ihren vermeintlich heiligen Werten den Schleier der Heiligkeit entzieht
und bloßstellt, welche Nichtigkeiten sich dahinter verbergen, welche
aufgeblasenen Hohlräume von ebensolchen Figuren bevölkert und die,
musikalischem Hades-Gelächter ausgesetzt, auf ihre Kleinheit zurück-
gestuft werden.39 Die frivolen Masken, die mit Ludovic Halélys Texten
nach Offenbachscher Musik agieren, waren den Straßenszenen des
Pariser Lebens entnommen, wo ihre Urgestalten sich tummelten, den
Passagen und Ballsälen, den Varietés und Spelunken, in denen der Tanz
der Tänze, der Can-Can, infernalisch, dionysisch, rasend, obszön, ge-
waltsam geboren wurde, der die Ambivalenz des Lebens, das Lebens-
gefühl der Zeit schlechthin ausdrückte; der Tanz, dem Offenbach die
letztgültige Gestalt und die Weihen der Kunst gab. Heine hatte in Paris
sehr schnell den Sinn dieses Tanzes erfasst; er gehörte zu den ersten, die
ihn als „Verhöhnung alles dessen, was als das Edelste und Heiligste im
Leben gilt“ sahen, als ein getanztes Zeugnis des berechtigten Glau-
bensverlustes, der listigen Entlarvung der „hohle[n] Phrase“, eine „ge-
tanzte Persiflage“ auf die Idole der Zeit.40 Das Satyr(ver-)lachen figuriert
den Tanzschritt, der Abgesang auf die althergebrachten Rollen, ihre
mokante und provozierende Infragestellung macht sein Faszinosum aus
und überbietet das Leben als Tanzfigur, schlägt die Tanzenden auf die
Seite der Akteure, die sie in der Banalität und Kälte des Alltags nicht
sind. Von Offenbach auf die Bühne gebracht, erreicht er seinen sich in
sich verkehrenden Höhepunkt. Hier ist er der polemisch-heitere Ab-
gesang derer, die die sinnenfrohe dionysische Üppigkeit des Hades-
Bildes genießen. Der ästhetische Genuß des eigenen Untergangs treibt
in die Dcadence und ist selbst ihr dominierendes Moment. Man lechzt
nach der eigenen Verherrlichung und erkennt in der Parodie das große
Thema des Lebensspiels; der rasende Tanz in der Unterwelt, die ent-
fesselnde Wucht der Akkorde in der Orpheus-Operette spiegeln das tiefe
Dilemma der gesellschaftlichen Zustände. Der Höllengalopp befriedigt
die Wünsche der Gesellschaft, aber er fügt dem „Rausch Ingredienzien
bei, die bedrohliche Wirkungen erzeugen. Er übersteigert ihn ins
Dionysische und peitscht derart zu Orgien auf, die mit Selbstzerstörung

39 Siegfried Krakauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Berlin: Hen-
schelverlag Kunst und Gesellschaft 1980, S. 11.
40 Zit. nach: Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Anm. 39), S. 45 f.
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 83

enden müssen […] Indem er die von der Devise: Freut Euch! gepackten
Massen ins Bacchanal hineinjagt, tilgt er den letzten Rest der Besinnung
und treibt auf dämonische Weise der Katastrophe entgegen.“41 Dieses
Dionysische differiert von den Vorstellungen, die Nietzsche davon hat.
Heine hätte sie unterstrichen. Davon abgesehen, Nietzsche ist sich si-
cher, dass nur Paris der kulturelle Nährboden für die Realität des
Dionysischen sein konnte, unabhängig von den Vorlieben und Anti-
pathien gegenüber seinen konkreten Erscheinungsformen. Offenbachs
Variante scheint Nietzsche „die supremste Form der Geistigkeit“, eine
„geniale Buffonerie“ (ebd., S. 532), Heine war ihm darin ähnlich. So
kann Nietzsche sein Fazit ziehen, dass mit diesen beiden „die Potenz der
europäischen Cultur wirklich überboten“ ist (ebd.). Ihr Esprit konnte
sich allein in Paris ausbilden und die zwiespältige Lebendigkeit in sich
aufsaugen, die ihn auszeichnet: „l’ esprit de Paris ist deren [der fran-
zösischen Kultur – R. R.] Quintessenz“, und die verwöhnten und
Geschmack besitzenden Pariser haben Heine an die Spitze dieses „esprit
Parisien“ gestellt (ebd., S. 533). So sehr, daß Nietzsche vom „l’adorable
Heine“ (NW, KSA 6, S. 427) und vom göttlichen Heine sprechen
kann. Ohne Pathos und ohne die Sicherheit, ob die Kluft zwischen dem
Göttlichen und dem Hanswurst eine wirkliche ist und sie sich je
schließen wird. Französisch oder nicht.

IV

Paris ist im 19. Jahrhundert Europa, das moderne, das zukünftige: Sein
Name steht für „das europäische Extrem“ (NF, KSA 10, S. 659) und ist
ein Synonym für seine geistreichste Kultur. Superlativisch wird Paris
von Nietzsche zum Mittelpunkt der modernen Kultur erklärt: „l’esprit
de Paris ist deren Quintessenz“ (NF, KSA 13, S. 533), und Heine gelte
den Parisern als „Quintessenz des Pariser Geistes“ (NF, KSA 11, S. 472).
Der Wahl-Franzose und Wahl-Pariser Heine, ein Unglücksfall der
deutschen Kultur (vgl. NF, KSA 7, S. 504), wird für Nietzsche so quasi
per definitionem zum Europäer. Die Franzosen sind ihrerseits wiederum
in seinen Augen die „liebenswürdigsten Europäer, [aber] auch die he-
erdenmäßigsten“ (NF, KSA 11, S. 447). Letzteres ist eine offene An-
spielung auf den Hang der Franzosen zu Revolutionen und damit

41 Ebd., S. 182.
.
84 Renate Reschke

verbundenen Freiheitsvorstellungen, die sie in „schöne Worte“ kleiden


und sich wie „Prunkmäntel umgehängt ha[ben]“ (ebd.). Was ihn nicht
davon abhält, auf sie seine Hoffnung zu setzen, gegen den Nationali-
täten-Wahn, der die Völker Europas verhängnisvoll einander entfrem-
det und den er als anachronistisch sieht. Die Vision eines einheitlichen
Europa steht gegen jeden Nationalismus. In seinen Augen ist die
Haupttendenz die einer neuen Synthesis und die weitsichtigsten Geister,
Jahrhundert-Größen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal,
Schopenhauer, Wagner und Heine haben daraufhin gewirkt. Nur,
wenn überhaupt, in ihren schwachen Stunden hätten sie dem Geist der
Vaterländer gehuldigt und seien ,Patrioten‘ gewesen. Ihr Wesen dage-
gen war es, „den Europäer der Zukunft“ vorweggenommen zu haben
( JGB, Aph. 256, KSA 5, S. 202). Man frage in Deutschland fast um-
sonst: „[H]abt ihr auch nur einen für Europa mitzhlenden Geist auf-
zuweisen?“ (GD, KSA 6, S. 106). Daß Heines Name in diese Auf-
zählung gehört, ist für Nietzsche selbstverständlich. Er ist für ihn einer
der wenigen Deutschen von europäischem Rang. Immer wieder nennt
Nietzsche ihn beschwörend einen europäischen Geist, ein europäisches
Ereignis (vgl. ebd., S. 125). Zwar habe man in Deutschland keinen
Begriff von Kultur mehr, aber die Deutschen haben Europa – und dies
ist kein Lob für Deutschland – den modernsten Geist ,geschenkt‘:
Heine. Mit ihm sei sogar „die Potenz der europäischen Cultur wirklich
überboten“ (NF, KSA 13, S. 532). In einer Zeit, in der das neue Europa
im Entstehen sei, ein kulturelles, ein geistiges und künstlerisches,
„macht man Heine in Deutschland ein Verbrechen daraus, Geschmack
gehabt zu haben – gelacht zu haben“ (ebd., S. 533). Der deutsche Ernst
gegen die europäische Souveränität eines befreienden Lachens?!
Nietzsches Europa-Bild kennt die intellektuellen, die ästhetischen und
künstlerischen Facetten und setzt sich aus ihnen zusammen.
Das alte Europa mit der geistigen Öde des preußisch-deutschen
Reiches sollte verlacht, sollte in den Untergang gelacht werden. Heine,
der Pariser Weltbürger mit dem Vaterland an den Schuhsohlen, hat
seinen Spott nicht gegen Deutschland als das ,Land der Rätsel und der
Schmerzen‘ gerichtet, sondern gegen den unerträglichen Untertanen-
geist, gegen die ,Enkel des biderben Arminius und der blonden Thus-
nelda‘, gegen ihre Deutschtümelei, gegen die Pickelhaube und den
verschluckten Prügel-Stock des preußischen Gehorsams. Dem häßli-
chen Vogel, dem königlich-preußischen Hoheitsadler wollte er die
Federn rupfen und die Krallen abhacken, um ihn auf eine Stange zu
setzen und zum Abschuß freizugeben. In seiner tiefsten Liebeserklärung
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 85

an sein Vaterland Deutschland. Ein Wintermrchen hat er es mit dem


dichterischen Wort getan.42 Nietzsche liebt das Gedicht und zollt ihm
Bewunderung. Sein eigener Haß auf jene deutsche Spezies findet er in
Heines Kritik bestätigt. In der Rigorosität dieser erklärten Feindschaft
liegt der Grund, der die Vorläuferschaft eines zukünftigen Europäer-
tums legitimiert. Für die ,guten Europäer‘ Heine und Nietzsche. – Alles
Deutsche scheint nur ein Gegenpart zum Europäischen zu sein, dessen
grundlegende Verneinung oder in der schlimmsten Form ein Versuch,
„im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik […] ganz Europa
zu verdeutschen“ ( JGB, Aph. 244, KSA 5, S. 185). Was auf der Seite
der Deutschen als ,Vaterländerei‘ unter die Stichworte Offenheit, Bie-
derkeit, Tiefe und Gutmütigkeit fällt, von Nietzsche wohl bedacht in
Anführungszeichen gesetzt, um ihnen den Ernst zu nehmen, der ihnen
schlecht zu Gesichte steht („ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht
über sie zu lachen?“, ebd., S. 186), gehört unter der Rubrik des Eu-
ropäischen der Zukunft zu den Unmöglichkeiten. Heine hatte es so
ausgedrückt: „Der Patriotismus der Franzosen besteht darin, daß sein
Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert,
daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz
Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt;
der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz
enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er
das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr
Europäer, sondern nur noch ein enger Deutscher sein will.“43 In
Frankreich, vorab in Paris dominieren dagegen die Weitläufigkeit und
eine geistige und physische Wachheit,44 die Bewegung hin zu einem
Zentrum und als „Cultur-Centrum“: „die nationalen Thorheiten sollen
uns nicht blind machen, dass in der hçheren Region bereits eine fortwhrende
gegenseitige Abhngigkeit besteht“ (NF, KSA 11, S. 42), eine Abhängigkeit,

42 „Du hässlicher Vogel, wirst du einst/ Mir in die Hände fallen,/ So rupfe ich dir
die Federn aus/ Und hacke dir ab die Krallen.// Du sollst mir dann, in luft’ger
Höh,/ Auf einer Stange sitzen,/ Und ich rufe zum lustigen Schießen herbei/
Die rheinischen Vogelschützen“ (Heinrich Heine [wie Anm. 27], Deutschland.
Ein Wintermrchen. Caput III, Bd. 4, S. 583).
43 Ders. (wie Anm. 27), Die romantische Schule, Bd. 3, S. 379.
44 Nietzsche sieht die deutsche Kultur, so ihr diese Bestimmung überhaupt zu-
kommt, als eine ermüdete und erschöpfte, als eine verzögerte und andere
Kulturen verzögernde, damit als eine bloße Barbarei: „Die Deutschen ver-
derben, als Nachzgler, den großen Gang der europäischen Cultur“ (NF, KSA
11, S. 43).
86 Renate Reschke

genauer eine wechselseitige geistige Erhöhung und Vernetzung der


größsten intellektuellen Kulturkräfte: „Alles strebt nach einer Synthese
der europischen Vergangenheit in hçchsten geistigen Typen – - – - „ (ebd.).
Europa als Versammlungsort der großen Geister, als eine neu dimen-
sionierte Gelehrten-Republik, als Neu-Auflage der seit der europäi-
schen Antike bis zu Schopenhauer in den intellektuellen Köpfen hau-
senden Idee einer allumfassenden Geistes- und Philosophen-Herrschaft.
Sollte dies nicht gelingen, träte nach Nietzsche ein anderes Szenario in
Kraft: „Wenn aber Europa in die Hnde des Pçbels gerät, so ist es mit der
europäischen Cultur vorbei! Kampf der Armen mit den Reichen. Also ist
es ein letztes Aufflackern. Und bei Zeiten bei Seite schaffen, was zu retten
ist!“ (ebd.). Dem empfindlichen Philologen stehen die von Carl von
Gersdorff als Augenzeuge geschilderten Ereignisse der Pariser Kom-
mune 1871 vor Augen,45 den aristokratischen Denker empört die An-
maßung der Schlechtweggekommenen, selbst Herrschaft ausüben zu
wollen. Daß das Ressentiment Werte gebiert, davor ist auch Europa
nicht gefeit. Nietzsche reagiert mit einer düsteren Ahnung, daß „die
Pariser Commune […] nur eine leichtere Unverdaulichkeit [war] ge-
messen an dem, was kommt“ und daß ähnliche Ereignisse dem nächsten
Jahrhundert „gründlich im Leibe ,rumoren’“ (NF, KSA 11, S. 586). Der
Schock und die Furcht sitzen tief. Er denkt verzweifelt darüber nach,
wie dem „internationale[n] Hydrakopf“ als „Anzeiger ganz anderer
Zukunftskämpfe“ der Kopf abzuschlagen sei, um die Gefahr zu bannen
(Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871, KSB 3, S. 203), die von
den unteren Schichten nach seiner Überzeugung für die Kultur aus-
gehen. Heine hatte es Jahrzehnte zuvor schon anders gesehen. Sein
Europa der Zukunft sah anders aus. Er hatte im Paris des Jahres 1848 die
Februarrevolution mit dem Sturz der Regierung und der Ausrufung der
Republik erlebt, die Aufstände der Armen und die Kämpfe der Ar-
beiter. Er war infiziert von den Gedanken einer zukünftigen politischen
und sozialen Gleichheit à la Saint-Simons utopischem Sozialismus. Er
hätte auf die Privilegien der Intellektuellen und Künstler verzichtet. Das

45 Der Freund hatte aus Paris die Plünderungen und Zerstörungen beschrieben
(vgl. KGB, Bd. 2/2, S. 351).In anderen Berichten hieß es, die Kommunarden
hätten den Louvre geplündert und angezündet; Nietzsche sagte daraufhin einen
Besuch in Tribschen bei Wagner ab: „Pr. Nietzsche kommt nicht, die Ereig-
nisse in Paris haben zu ihn sehr erschüttert.“ So hat es Wagners Frau in ihrem
Tagebuch festgehalten (Cosima Wagner, Die Tagebcher, Bd. 1 [1869 – 1872],
herausgegeben von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack,, München:
Hanser Verlag. 1988, S. 392).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 87

Poeten-Herz blutete ihm bei dem Gedanken an die Zukunft der Kunst,
wenn erst die Marktfrauen, die Arbeiter und die Kommunisten an der
Macht wären: Sie würden aus den geliebten Büchern Tüten drehen, um
ihren Kaffee darin zu verkaufen. Aber er wollte schweren Herzens den
Preis zahlen, der für diese Freiheit und Gleichheit aller zu entrichten
war: „ – ach! Mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu
dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen alten Frauen der Zukunft
Kaffee und Tabak schütten wird. Ach! Ich sehe all dies voraus, und ich
bin von einer unaussprechlichen Traurigkeit ergriffen, wenn ich an den
Untergang denke, mit dem das siegreiche Proletariat meine Verse be-
droht, die mit der ganzen alten romantischen Welt vergehen werden.
Und dennoch, ich bekenne es mit Freimut, übt eben dieser Kommu-
nismus, so feindlich er allen meinen Interessen und meinen Neigungen
ist, auf meine Seele einen Reiz aus, dem ich mich nicht entziehen kann“
und er nannte als Gründe, die unwiderlegbare Logik, dass, wenn man es
für richtig hält, daß alle Menschen das Recht auf Essen haben, man sich
allen daraus ergebenen Folgen anzuerkennen habe und daß „die falschen
Patrioten, deren Vaterlandsliebe in nichts anderem besteht als in einer
idiotischen Abneigung gegen das Fremde und gegen die Nachbarvölker,
und die jeden Tag ihre Galle verspritzen, besonders gegen Frankreich“
gemeinsame Feinde seien.46 Die Ablehnung und Feindschaft gegenüber
den Spielarten der Nationalismen, darin besteht zwischen Heine und
Nietzsche fraglose Übereinkunft; Heines unverhohlene Fürsprache für
die sozial Unterdrückten und ihr Recht nicht nur auf Teilhabe am
Reichtum der Gesellschaft, sondern auch darauf, sich zu holen, was
ihnen verweigert wird, an diesem Punkt teilen sich ihre Geister. Und

46 Heinrich Heine, Vermchtnis. Vorwort zur franzçsischen Ausgabe der ,Lutetia‘, in:
Ders., Werke in fnf Bnden, herausgegeben von den Nationalen Forschungs-
und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Bd. 5, Berlin
und Weimar: Aufbau-Verlag 1976, S. 468 f. (In der Ausgabe [wie Anm. 27]
lautet die Passagen in der deutschen Übersetzung: „ach! mein ,Buch der Lieder‘
wird der Krautkrämer zu Tüten verwenden, um Kaffee oder Schnupftabak
darin zu schütten für die alten Weiber der Zukunft – Ach! das sehe ich alles
voraus, und eine unsägliche Betrübnis ergreift mich, wenn ich an den Unter-
gang denke, womit meine Gedichte und die ganze alte Weltordnung von dem
Kommunismus bedroht ist – Und dennoch, ich gestehe es freimütig, übt
derselbe auf mein Gemüt einen Zauber, dessen ich mich nicht erwehren kann“
und „von den falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blöd-
sinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht, und
die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen.“, Ders. [wie
Anm. 27], Bd. 5, S. 232 f.).
88 Renate Reschke

Nietzsche hat das Thema außer Betracht gelassen. Eine Position wie die
der Heineschen Wanderratten wäre an Nietzsche abgeprallt oder hätte
seinen schlimmsten Vorstellungen eines pöbelhaften Europa der Zu-
kunft die literarischen Argumente geliefert: bildhaft, intensiv, horrible.47
Nietzsche zerfließt in Tränen über die vermeintliche Kulturbarbarei der
Kommunarden: „Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich
für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zwei-
feln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische
Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die
herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte“
(Brief an Carl von Gersdorff vom 21. 6. 1871, KSB, Bd. 3, S. 204). Der
Abstand der Visionen konnte nicht größer sein, ihre gedankliche, kul-
turelle und soziale Differenz nicht augenfälliger.
Als Nietzsche feststellt, Deutschland habe außer Goethe nur einen
Dichter hervorgebracht und der sei ein deutscher Beitrag wider Willen
für Europa, meint er Heine und fügt hinzu: „und der ist noch dazu ein
Jude“ (KSA, NF, Bd. 11, S. 472): eine für Deutschland keinesfalls
schmeichelnde Feststellung. Zu einer Zeit, in der die antisemitischen
Haßtiraden gegen den Dichter zunehmen und Heine zwischen die
Fronten eines unappetitlichen Gezänks der nationalistischen Germa-
nisten- und Literatenzunft gerät, ist es Nietzsche, der ihn gegen diese
Geiferer oder opportunistischen Feiglinge in Schutz nimmt. Daß er
dabei das jüdische, das französische, das europäische Argument benutzt,
ist symptomatisch. Es besitzt in sich eine Art Dreieinigkeit der Mo-

47 „Es gibt zwei Sorten Ratten:/ Die hungrigen und satten./ Die satten bleiben
vergnügt zu Haus,/ Die hungrigen aber wandern aus.// Sie wandern viel
tausend Meilen,/ Ganz ohne Rasten und Weilen,/ Gradaus in ihrem grim-
migen Lauf,/ Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.// […] Der sinnliche
Rattenhaufen,/ Er will nur fressen und saufen,/ […] So eine wilde Ratze,/ Die
fürchtet nicht Hölle, noch Katze;/ Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld/ Und
wünscht aufs neue zu teilen die Welt.// […] O wehe! Wir sind verloren,/ Sie
sind schon vor den Toren!/ Der Bürgermeister und Senat,/ Sie schütteln die
Köpfe, und keiner weiß Rat.// Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,/ Die
Glocken läuten die Pfaffen./ Gefährdet ist das Palladium/ Des sittlichen Staats,
das Eigentum.// Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete./ […] Auch nicht
Kanonen, viel Hundertpfünder,/ […] Heut helfen euch nicht die Wortge-
spinste/ Der abgelebten Redekünste.// […]Im hungrigen Magen Eingang
finden/ Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,/ […] Ein schweigender
Stockfisch, in Butter gesotten,/ Behaget den radikalen Rotten/ Viel besser als
ein Mirabeau/ Und alle Redner seit Cicero“ (Ders. [wie Anm. 27], Die
Wanderratten, Bd. 6/1 (Nachgelesene Gedichte 1845 – 1856), S. 306 f.).
Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine sah 89

derne. Er will weder in das „deutschthümelnde Horn“ (Brief an Franz


Overbeck nach dem 20. 7. 1888, KSB, Bd. 8, S. 362) blasen noch dem
,verfluchten‘ Zeitgeist, der sich immer offener dem Antisemitismus
eines Adolf Stöcker oder Bernhard Förster zuneige, geistige Konzes-
sionen machen. Er will nicht in mißverständlicher Weise etwas mit den
,Herren Antisemiten‘ zu tun haben: So erklärt er dem Antisemitismus
den „schonungslosen Krieg“, er ist für ihn einer „der krankhaftesten
Auswüchse der so absurden, so unberechtigten reichsdeutschen Selbst-
Anglotzung“ (NF, KSA 13, S. 623). Was Wunder, daß Nietzsche
Heines jüdische Herkunft, sicher stärker, als es diesem lieb gewesen
wäre, als Trumpfkarte gegen alle Spielarten des Nationalismus und für
den europäischen und den kosmopolitischen Geist des Dichters aus-
spielt.48
Es seien nach Nietzsche vor allem die jüdischen Intellektuellen in
Paris, die als Promotoren der europäischen Moderne ihr ihre Konturen
und Geltung verleihen. Heine steht auf dieser Liste an prominenter
Stelle. Er scheint paradigmatisch für eine allgemeine Grundbeobachtung
Nietzsches zu sein: Daß es einen quasi internen kulturgeschichtlichen
Zusammenhang gibt zwischen der Moderne, Europa und den euro-
päischen Juden und Europa seine bisherige geistige Gestalt wesentlich
ihnen zu danken habe: „gerade den anziehendsten, verfänglichsten und
ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben,
in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur,
ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den
Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar“ ( JGB,
Aph. 250, KSA 5, S. 192). Und auch seine zukünftige Gestalt zu ver-
danken haben wird. Was Nietzsche als jüdischen Anteil an Europa
beschreibt, deckt sich auffällig mit der Beschreibung des Pariser Lebens,
der Existenzweisen der französischen Künstler und Literaten, der Be-
schreibung der Heineschen Poesie und Weltsicht. Die Moderne wie das
Europa von Morgen tragen wesentlich jüdische Züge, weil die Juden
auf Grund ihrer Erfolgs- und Leidensgeschichte das Gesamt der kul-
turellen Erfahrungen ebenso akkumuliert wie verarbeitet und kulturelle
Lebensstrategien entwickelt haben, in denen die Moderne ihre Wurzeln
hat und aus denen sich ihr Selbstbild zusammensetzt. Schon im dies-

48 Den Antisemiten wirft Nietzsche vor, es den Juden nicht zu verzeihen, daß sie
Geist haben (vgl. NF, KSA 13, S. 365). Provokativ hält er ihnen entgegen: „Ah
welche Wohlthat ist ein Jude unter deutschem Hornvieh! … Das unterschätzen
die Herren Antisemiten“ (ebd., S. 580).
90 Renate Reschke

bezüglichen Schlüsselaphorismus 205 „Vom Volke Israel“ in der Mor-


genrçte entwirft Nietzsche mit unwiderstehlicher, wenngleich nicht
unproblematischer Plausibilität das Bild einer europäisch sich definie-
renden Moderne, für die die Juden nicht nur die Wegweiser, sondern
zugleich deren gründende und exemplarische Vertreter sind: Ausge-
zeichnet mit allem, was Europa bisher zu bieten hatte, wird „diese Fülle
von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen,
Siegen aller Art“ sich verströmen „in grosse geistige Menschen und
Werke! Dann, wenn die Juden auf solche Edelsteine und goldene
Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen
Völker kürzerer oder weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen
vermögen und vermochten, […] dann wird jener siebente Tag wieder
einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner
Schöpfung und seines auserwählten Volkes freuen darf, – und wir Alle,
Alle wollen uns mit ihm freuen!“ (M, Aph. 205, KSA 3, S. 180 ff.). So
wird das zukünftige Europa als der ,siebente Tag‘ imaginiert, als Teil
einer großartigen Schöpfungsgeschichte und qua seiner jüdischen Ak-
teure auch in seiner weltgeschichtlichen Dimension begriffen. Nietz-
sches Heine als einen Stein in diesem außerordentlichen Mosaik zu
sehen, hilft, von ihm ausgehend den ganzen Denk-Horizont Nietzsches
zu erschließen, der von der Verehrung des Dichters und der Deutschen-
und Nationalitäten-Kritik, über die Franzosen-Apotheose und das un-
eingeschränkte Europa-Plädoyer bis zur ästhetisch und kulturkritisch
sich buchstabierenden Zeitdiagnose und zu einem Selbstbild reicht, an
dem offensichtlich wird, wie weit die ,Erfindung‘ Heines mit der
Nietzsches kompatibel ist. Das Kunststück der Interpretation bestand
darin, die Kenntlichkeit der einzelnen Bildsequenzen auf das Gesamt-
mosaik auszuweiten, d. h. die von Nietzsche intendierte Assoziations-
kette Heine, Frankreich, Paris, Europa, Moderne, Zukunft sinnfällig zu
machen. Ein Experiment, das sich gelohnt hat, es durchzuführen.
Nietzsche und Strindberg
Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche?
Tobias Dahlkvist

Die Begegnung zwischen Strindberg und Nietzsche ist schon öfters in


der Forschung diskutiert worden. Fast immer aber ist es die Strind-
bergsche Seite, die diskutiert wird. Und das ist ganz natürlich. Denn der
Briefwechsel dauerte nur fünf Wochen, ehe er vom Zusammenbruch
Nietzsches unterbrochen worden ist. Der Kontakt mit Strindberg hat
also Nietzsches Denken nicht beeinflussen können, während die Be-
deutung Nietzsches für Strindberg nicht gering war.1
Aber obwohl die Begegnung zu flüchtig war und zu spät einge-
troffen hat, um Nietzsche zu beeinflussen, enthält der Briefwechsel
doch Kommentare von Nietzsche zu Strindbergs Schriften, die hoch-
interessant sind. Das, was einen Beitrag über ihre Begegnung im
Rahmen einer Konferenz über Nietzsche und Frankreich rechtfertigt,
ist, daß er Strindberg als einen französischen Schriftsteller bezeichnet.
Der vorliegende Beitrag besteht in einem Versuch, Nietzsches Lektüre
von Strindberg zu rekonstruieren. Mit Ausgangspunkt in ihrem Brief-
wechsel werde ich versuchen, diejenigen Aspekte von Strindbergs
Schriften, die Nietzsche kommentiert, auszulegen, um dadurch die
Assoziationen des Begriffes ,französisch‘ zu erläutern.
Ich hoffe, die These Mazzino Montinaris illustrieren zu können, daß
Nietzsches Lektüre anderer Autoren Bestandteil seines Werks sei; daß
sie „in den Text [gehört], weist aber gleichzeitig über den Text hin-
aus.“2 Ich hoffe mit anderen Worten einen Beitrag zur ,idealen Bi-
bliothek‘ Nietzsches zu liefern.

1 Für eine Diskussion des Einflusses Nietzsches auf Strindberg und weiterfüh-
rende Literaturhinweise vgl. Tobias Dahlkvist, „Vad kan Borgs armband lära
oss? Nietzsche och I havsbandet“, in: Samlaren. Tidskrift fçr svensk litteraturve-
tenskaplig forskning 125 (2004), S. 92 – 111.
2 Mazzino Montinari, „Aufgaben der Nietzsche-Forschung heute: Nietzsches
Auseinandersetzung mit der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in:
Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, hrsg. v. Sigrid Bau-
schinger, Susan L. Cocalis und Sara Lennox, Bern und Stuttgart: Francke 1988,
92 Tobias Dahlkvist

Nietzsches Briefwechsel mit Strindberg

Der Briefwechsel zwischen Nietzsche und Strindberg hebt damit an,


daß Nietzsche Gçtzen-Dmmerung an Strindberg schickt. Kein Brief
begleitet das Buch, das aber mit einer Widmung versehen ist: „Herrn
August Strindberg. Sollte man das nicht übersetzen? Es ist Dynamit. Der
Antichrist“3
Abgesehen von beiderseitigen Komplimenten und einer Diskussion
über Übersetzer und Übersetzungen ist im Briefwechsel vor allem ein
Thema deutlich: die Psychologie des Verbrechers. Strindberg schreibt,
Nietzsche habe „donné à l’humanité le livre le plus profonde qu’elle
possède“,4 aber seine Deutung des Verbrechers sei verfehlt. Der Ver-
brecher sei, so Strindberg, „un animal inférieur, un dégénéré“.5 Um
diese Kritik zu unterstützen führt er Lombroso an, dessen L’uomo de-
linquente (1876) laut Strindberg zeige, daß der Verbrecher dekadent ist.6
Er polemisiert hier mit Aphorismus 45 aus den „Streifzügen eines
Unzeitgemäßen“ – er hatte eben die Gçtzen-Dmmerung gelesen –, wo
Nietzsche schreibt: „Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des
starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank ge-
machter starker Mensch. […] Seine Tugenden sind von der Gesellschaft
in Bann gethan; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat,
verwachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten, mit dem
Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das Recept zur
physiologischen Entartung.“ (GD Streifzüge 45) In seiner Antwort an
S. 137 – 148, hier S. 137. Vgl. Mazzino Montinari, Che cosa ha detto Nietzsche,
hrsg. v. Giuliano Campioni, Milano: Adelphi 22003, S. 154: „Nietzsche si
rivela un lettore del prim’ordine; più ancora, queste letture […] ci mostrano un
Nietzsche saldamente ancorato nei problemi culturali del suo tempo, un
Nietzsche storico, che ben poco ha a che fare con il pallido spettro di molte
interpretazioni […] che non fanno altro che tessere e ritessere una discutibile
trama di filosofemi, senza alcun concreto riferimento alla reale vita intellettuale
di Nietzsche.“
3 Zitiert nach: August Strindberg, Brev, Bd. 7, hrsg. v. Torsten Eklund, Stock-
holm: Bonniers 1961, S. 186, Fußnote.
4 Strindberg an Nietzsche, Anfang Dezember 1888, KGB III/6, S. 376. Nach
dem Herausgeber der Strindbergschen Briefausgabe, Torsten Eklund, wurde
der Brief um den 4. Dezember herum geschrieben: Strindberg, Brev (Anm. 3),
S. 190.
5 KGB III/6, S. 376.
6 Strindberg besaß eine französische Übertragung von Lombrosos Hauptwerks:
L’homme criminel. Atlas, 21888; siehe: Hans Lindström, Strindberg och bçckerna, 2
Bde., Uppsala: Svenska litteratursällskapet 1977 – 90, Bd. 1, S. 186.
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 93

Strindberg gibt Nietzsche zu, daß der hereditäre Verbrecher zwar oft
dekadent sei, er habe aber immer einen Ahnvater, der zu stark für die
Umstände gewesen sei.7 Um diese Auffassung zu unterstützen, führt er
The Hereditary Genius (1869) des englischen Naturforschers Francis
Galton an.8
Strindberg beruft sich also auf Lombroso, Nietzsche auf Galton. Es
würde zu weit führen, die Implikationen dieser Tatsache bis zu ihrem
Ende zu verfolgen. Konstatieren wir aber, daß obwohl die Entartung im
Zentrum beider Werke steht, beide ihr gegenüber unterschiedliche
Haltungen einnehmen. Für Lombroso ist die Entartung ein Faktum,
etwas Gegebenes, wogegen wir uns schützen müssen. Der englische
Historiker Daniel Pick erläutert die Position Lombrosos folgenderma-
ßen: „For Lombroso, criminality was ,natural‘ but unacceptable; natural
in its relation to heredity (certain creatures fell behind in the course of
evolution), unacceptable in its social consequences. The criminal class
was in short an obsolete freight weight carried by the state.“9
Für Galton hingegen besteht die wissenschaftliche Aufgabe in einer
geschichtlich-genealogischen Untersuchung der Degeneration. Er
konstruierte zum Beispiel einen Fotoapparat, mit dessen Hilfe die
Physiognomie des Verbrechers wissenschaftlich zu erfassen wäre. Galton
greift auch der Kritik Nietzsches gegen Darwin vor, daß die natürliche
Zuchtwahl zu Gunsten der mittelmäßigen Individuen geschieht. Der

7 Vgl. Giuliano Campioni, Les lectures franÅaises de Nietzsche, traduit de l’italien par
Christel Lavigne-Mouilleron, Paris: Presses Universitaires de France 2001,
S. 239: „Nietzsche manifeste un vif intérêt pour le phénomène de la dégéné-
rescence, comme pour le personnage du grand criminel qui peuple les romans
et les feuilletons de l’époque. Il peut représenter un degré de force et d’auto-
nomie très poussé: sa déchéance et sa chute dans la criminalité de droit commun
sont dues à la cohésion grégaire de la société qui l’écrase, qui lui interdit
l’adéquate réalisation de sa puissance.“
8 Nietzsche besaß einen Band von Galton; aber nicht The Herediatry Genius,
sondern Inquiries into Human Faculty and in Development (1883); siehe: Nietzsches
persçnliche Bibliothek, herausgegeben von Giuliano Campioni, Paolo D’Iorio,
Maria Cristina Fornari, Francesco Fronterotta und Andrea Orsucci unter
Mitarbeit von Renate Müller-Buck, Supplementa Nietzscheana Band 6, Berlin
und New York: Walter de Gruyter 2003, S. 238 f. Marie-Luise Haase hat die
Bedeutung dieses Buches für Nietzsche in der Zarathustra-Zeit diskutiert:
Marie-Luise Haase, „Friedrich Nietzsche liest Francis Galton“, in: Nietzsche-
Studien 18 (1989), S. 633 – 658.
9 Daniel Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848-c. 1918, Cam-
bridge: Cambridge University Press 1996, S. 126.
94 Tobias Dahlkvist

Kampf ums Dasein, schreibt Galton, „seems to me to spoil and not


improve our breed“.10
Obwohl natürlich weder Strindberg noch Nietzsche getreue
Schüler Lombrosos beziehungsweise Galtons sind, kann doch einen
analoger Unterschied in Nietzsches Kommentaren zu den Werken
Strindbergs erahnt werden. Wie Lombroso ist Strindberg der Entartung
gegenüber fatalistisch eingestellt.11 Für ihn bildet sie den Hintergrund
von Problemen moralischer, politischer und später auch religiöser
Natur, die er in seinen Werken darstellt. Nietzsche sucht, wie Galton,
die Mechanismen der Entartung zu verstehen, um die höchsten Indi-
viduen vor ihren Folgen zu retten. Meines Erachtens ist dieser Unter-
schied sehr wichtig, um Nietzsches Kommentare zu Strindberg richtig
zu verstehen.

Nietzsche als Leser Strindbergs

Nietzsche hat drei Bücher von Strindberg gelesen: die Novellen-


sammlung Giftas (die er in französischer Übertragung, Les maris, Lau-
sanne/Paris 1885, las), die Tragödie Fadren (die er in der von Strindberg
ausgeführten Übersetzung, Pre, Paris/Helsingborg 1888, las) und die
Erzählung „Samvetskval“ (französische Übersetzung unter dem Titel
„Remords“ veröffentlicht in der Revue universelle international Januar/
Februar 1885).12

10 Zitiert nach Pick, Faces (Anm. 9), S. 192. Vgl. Haase, „Nietzsche liest Galton“
(Anm. 8), S. 646: „Galtons Anliegen ist es, die ganze Menschheit zu verbessern,
indem die Minderwertigen allmählich, fast unbemerkt, ersetzt werden durch
gelungene Exemplare. Seine Theorie entwickelt er gegen Darwins grausamen
,Kampf ums Dasein‘. Sehr verkürzt ausgedrückt, will er die Fruchtbarkeit der
Besten sicherstellen, damit sie anteilmäßig in der Bevölkerung überwiegen, was
zur Folge haben muß, daß die Minderwertigen durch immer geringere
Überlebenschancen schließlich aussterben.“
11 Für eine hervorragende Diskussion von Strindbergs Lektüre der zeitgenössi-
schen Psychologen, siehe Hans Lindström, Hjrnornas kamp. Psykologiska ider
och motiv i Strindbergs ttiotalsdiktning, Uppsala: Natur och kultur 1952, beson-
ders S. 115 – 125 und S. 181 – 191. Obwohl Lindströms Buch im Einzelnen
veraltet ist, ist es immer noch sehr lesenswert. Leider gehört seine Diskussion
von Strindberg und Nietzsche zu den schwächsten Partien des Buches.
12 Thomas H. Brobjer, „Nietzsche’s Reading and Private Library, 1885 – 1889“,
in: Journal of the History of Ideas 58:4 (1997), S. 663 – 693, hier 689. Die Bücher
sind nicht in der Bibliothek Nietzsches aufbewahrt geblieben und auch nicht in
Nietzsches persçnliche Bibliothek aufgenommen worden.
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 95

Giftas – „wir stimmen über das ,Weib‘ absolut überein“ (KSB 8, S. 479)
Nietzsches Briefe enthalten zwei Urteile über Giftas. Erstens einen Brief
an Köselitz, in dem er schreibt: „sehr curios, wir stimmen über das
,Weib‘ absolut überein […].“13 Zweitens schreibt er an Brandes, Les
maris gelesen zu haben, „entzückt, und wie bei mir zu Hause“.14
Das Thema der Novellensammlung ist das Verhältnis zwischen den
Geschlechtern. Giftas besteht aus zwei Teilen, einem ersten Teil, 1884
herausgegeben, der aus drei eigenartigen Vorreden und zwölf Erzäh-
lungen besteht, und einem zweiten Teil von 1886, der aus einer Vor-
rede und achtzehn Erzählungen besteht; der Ton dieses zweiten Teiles
ist erheblich schärfer. Der ersten Teil wurde 1885 ins Französische
übersetzt (ohne die Vorreden).15 Dies ist also die Ausgabe, die Nietzsche
las und die im Folgenden zitiert wird.
Das Bild des ,Weibes‘ stimmt in der Tat recht gut mit dem Bild
Nietzsches überein. Die Verschiedenheit der Geschlechter wird betont,
und die Risiken der sexuellen Abstinenz werden in vielen der Erzäh-
lungen hervorgehoben. Ferner ist die Feindseligkeit dem Christentum
gegenüber charakteristisch für das Buch. Strindberg wurde tatsächlich
wegen Gotteslästerung angeklagt, aber schließlich freigesprochen.16
Als Grundbedingung des Lebens wird von Strindberg der Kampf
geschildert. „La nature avait établi des lois si sages que la civilisation
humaine n’était qu’une inepte lutte contre ces lois, et que l’homme
finirait pour succomber.“ Am schlechtesten ausgerüstet in diesem
Kampf sind die Adeligen; ihnen mangelt es an Lebenskraft, deswegen
müssen sie die ärmeren Klassen aussaugen: „La haute et noble race vivait
par conséquent de proie, même pour les moindres choses.“17 Das hat
natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Aussagen Nietzsches wie der
folgenden (aus dem Nachlaß von Dezember 1888): „[W]as heute in der

13 Nietzsche an Köselitz, 18. Nov. 1888, KSB 8, S. 479.


14 Nietzsche an Brandes, 20. 11. 1888, KSB 8, S. 483. Brandes selbst hatte
Nietzsche auf die Ähnlichkeit seiner Position den Frauen gegenüber mit der
Position Strindbergs angewiesen: Brandes an Nietzsche, 16. 11. 1888, KGB III/
6, S. 353.
15 Siehe dazu die Kommentare des Herausgebers in: August Strindberg, Giftas I-II
(1884 – 86), Samlade verk Bd. 16, hrsg. v. Ulf Boëthius, Stockholm: Almqvist &
Wiksell, 1982, S. 336 f.
16 Der Prozeß gegen Strindberg wird in Gunnar Brandell, Strindberg – ett fçrfat-
tarliv, 4. Bde., Stockholm: Alba 1983 – 1989, Bd. 2, S. 61 – 89, ausführlich
geschildert.
17 Auguste [sic] Strindberg, Les Maris. Douze caractres conjugaux, Lausanne und
Paris: Belhatte & Thomas 1885, S. 191.
96 Tobias Dahlkvist

Gesellschaft obenauf ist, ist physiologisch verurtheilt und überdies – was


der Beweis dafür ist – in seinen Instinkten so verarmt, so unsicher
geworden, daß es das Gegenprincip einer höheren Art M<ensch> ohne
Scrupel bekennt.“ (KSA 13, 25[1])
Aber diese Ähnlichkeit mit Nietzsches Position ist oberflächlich,
und die Unterschiede sind erheblich und bedeutsam. Für Strindberg ist
das Leben zwar ein Kampf; dieser Kampf ist aber in Giftas vor allem
politischer Natur, und zwar mit sozialistischen Untertönen. In der
Vorrede zur schwedischen Ausgabe des Buches bezeichnet sich
Strindberg sogar als Sozialisten: „Som alla upplysta människor nuförti-
den“ – „Wie alle aufgeklärten Menschen heutzutage“.18 Diese Vorrede
wurde aber nicht übersetzt. Wahrscheinlich hätte die Vorrede, die außer
dieses Bekenntnisses zum Sozialismus auch ein Verzeichnis der politi-
schen Rechte der Frauen enthält, Nietzsche Strindberg gegenüber
kritischer gestimmt, wenn er sie hätte lesen können. Die Vorrede hätte
ihm vor Augen führen können, daß ihre Ansichten über das ,Weib‘ nur
dort übereinstimmen, wo sie es als Individuum betrachten.

Fadren – „diese[r] Meisterstück harter Psychologie“ (KSB 8, S. 508)


Obwohl Nietzsche Giftas zuerst gelesen und offenbar geschätzt hat, läßt
in erster Linie die Tragödie Fadren Strindberg in seinen Augen als
Franzose erscheinen.
Das Thema des Dramas ist fast archetypisch für Strindberg. Es
handelt von der Unsicherheit des Mannes im Hinblick auf die Treue
seiner Frau beziehungsweise von der Unmöglichkeit zu wissen, ob man
der Vater der eigenen Kinder ist. Als der Rittmeister, der Protagonist
des Dramas, einsieht, daß auch er sich dessen nicht sicher sein kann,
wird er von seinen Zweifeln in den Wahnsinn und den Tod getrieben.
Denn seine Frau erkennt, daß sie den Wahnsinn des Rittmeisters aus-
nützen kann, um über die Erziehung der Tochter zu entscheiden. Sie
läßt ihn also verstehen, daß er nie sicher sein kann, ob sie ihm nicht
untreu gewesen ist. Das Leben des Paares wird zu einem Kampf; und
weil der Rittmeister empfindlicher und zivilisierter ist als seine Frau,
muß er diesen Kampf verlieren.
Strindberg hat 1887 die schwedische Fassung Fadrens geschrieben.
Zusammen mit Frçken Julie (1888) stellt Fadren den Höhepunkt von
Strindbergs Naturalismus dar. Er hat das Werk eigenhändig ins Fran-
zösische übersetzt; 1888 wurde diese Übertragung unter dem Titel Pre

18 Strindberg, Giftas (Anm. 15), S. 29.


Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 97

veröffentlicht. Nietzsche las diese Ausgabe, und das Werk wird hier
nach dieser Übersetzung zitiert.
Sie ist mit einer Vorrede von Émile Zola versehen, bei der es sich
eigentlich um einen Brief von Zola handelt, der sich eher reserviert gibt.
Das Drama ist ihm zu abstrakt, und er hätte sich eine ausführlichere
Beschreibung des Hintergrunds der Personen gewünscht. Er schließt
seinen Brief aber mit einer höflichen Begründung der Tatsache ab, daß
das Drama ihm nur teilweise gefällt: „Mais il y a certainement là, entre
vous et moi, une question de race.“19 Wegen dieses Rassenunterschieds
kann Zola das Werk nicht vorbehaltlos schätzen: Zola scheint zu sagen,
daß ihm das Werk nur zum Teil gefällt, weil Strindberg nicht Franzose
ist.
Nietzsche kommentiert die Vorrede in seinen Briefen an Strindberg
ausführlich. Nach seiner Meinung ist diese Vorrede sehr naiv und verrät
einen unfranzösischen Charakter: „Aber fast geschüttelt vor Lachen
habe ich mich, als er zuletzt eine Rassen-Frage daraus macht! So lange es
überhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus Rassen-
Instinkt gerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine pro-
testiert gegen Zola. Zuletzt ist er ein moderner Italiener, er huldigt dem
verismo…“20
Der Franzose Zola ist also, nach Nietzsches Auffassung, Italiener.
Den Schweden Strindberg dagegen betrachtet er als Franzosen. Es gibt
also tatsächlich einen Unterschied zwischen Zola und Strindberg, aber
nicht so, wie Zola ihn sieht. ,Französisch‘ bedeutet hier also offenbar
etwas anderes, als französischer Herkunft zu sein: Wenn Strindberg
Franzose ist, dann, weil er Franzose geworden ist. In anderen Briefen
wird das Franzosentum Strindbergs noch ausführlicher kommentiert.
Strindberg solle, so Nietzsche im Brief von 18. Dezember, nicht be-
dauern, Schwede zu sein. Vielmehr solle er das Glück, nicht Deutscher
zu sein, nicht unterschätzen. Denn: „Es giebt gar keine andere Cultur,
als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft, daß man
in die einzige Schule geht – sie ist nothwendig die rechte . . Wollen Sie

19 Auguste [sic] Strindberg, Pre. Tragdie en trois actes, Paris/Helsingborg: Librairie


Nilsson 1888, S. 3.
20 Nietzsche an Strindberg, 27. 11. 1888, KSB 8, S. 493. Vgl. GD Streifzüge 1:
„Zola: oder ,die Freude zu stinken.‘“ Il verismo war eine italienische natura-
listische Bewegung, tief beeinflußt von Manzoni und vom französischen Na-
turalismus, vor allem von Zola. Der wichtigste Vertreter der Bewegung war
Giovanni Verga. Peter Brand & Lino Pertile (Hrsg.), The Cambridge Companion
to Italian Literature, Cambridge: Cambridge University Press 21999, S. 463 ff.
98 Tobias Dahlkvist

den Beweis dafür? Aber Sie sind der Beweis! –“21 Und an Köselitz faßt er
den ersten Eindruck von Strindberg zusammen: „Es ist die französische
Cultur auf einem unvergleichlich stärkeren und gesnderen fond: der
Effekt ist bezaubernd […].“22
Im ersten erhaltenen Brief an Strindberg berichtet Nietzsche, daß er
Fadren zweimal gelesen habe, und zwar „mit tiefer Bewegung“.
Nietzsche fügt hinzu, es habe ihn „über alle Maaßen überrascht, ein
Werk kennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe – in
ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter
– auf eine grandiose Weise zum Ausdruck gebracht ist.“23 Diese For-
mulierung stemmt aus dem Fall Wagner; sie ist sehr bedeutungsvoll. Da
Nietzsche mit diesen Worten Bizets Carmen beschreibt, dürfen wir
annehmen, daß Fadren in seinen Augen vor allem Dank der Liebes-
auffassung ein französisches Werk ist.
Die Liebe wird in Fadren vor allem als Machtkampf geschildert. Was
willst du? fragt der Rittmeister seine Frau: die Macht um jeder Preis?
„Oui, la pouvoir! Cette guerre à mort, sur quoi a-t-elle roulé?“24 Diese
Replik bezieht sich allererst auf den konkreten Konflikt zwischen dem
Rittmeister und seiner Frau; sie faßt aber Strindbergs Auffassung der
Liebe sehr gut zusammen. Zusammen mit einer anderen zentralen
Replik drückt sie die Liebesdefinition Nietzsches fast wörtlich aus. Haßt
du mich? fragt der Rittmeister seine Frau; sie gibt zu, ihn zu hassen,
insofern er ein Mann ist. „Mais c’est de la haine de race, ceci!“ ant-
wortet der Rittmeister: „Si nous descendons du singe, il faut au moins
qu’il y ait eu deux espèces primitives, puisque nous ne nous ressemblons
point.“25
Die Liebe ist also ein Krieg; sie stellt einen Todhaß der Geschlechter
dar. Es ist dies sowohl die Auffassung Strindbergs wie diejenige
Nietzsches. Strindberg ist offenbar nicht mehr Sozialist. Trotzdem be-
steht ein großer Unterschied zu Nietzsche. Die Liebe und das Weib
werden von Strindberg fast genau so wie von Nietzsche analysiert. Aber
sie unterscheiden sich in ihrer Bewertung.
„Voilà le péril,“ sagt der Rittmeister, indem er erklärt, daß alle
Frauen zumselben Typus gehören: „la coquinerie inconsciente, la

21 Nietzsche an Strindberg, 18. 12. 1888, KSB 8, S. 539.


22 Nietzsche an Köselitz, 18. 11. 1888, KSB 8, S. 479.
23 Nietzsche an Strindberg, 27. 11. 1888, KSB 8, S. 493; vgl. WA 2.
24 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 62.
25 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 66.
Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 99

fourberie instinctive. Tel est le genre féminin!“26 In der schwedischen


Ausgabe ist der Ton noch negativer: „Det är just detta som är faran, att
de äro omedvetna om sin instinktiva skurkaktighet.“27 Auf Deutsch:
„Aber eben das ist die Gefahr, daß sie sich ihrer instinktiven Schur-
kenartigkeit nicht bewußt sind.“ Auch Nietzsche redet öfters von der
Gefährlichkeit der Frauen. In Jenseits von Gut und Bçse, zum Beispiel,
schreibt er: „Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht ein-
flösst, ist seine Natur, die ,natürlicher’ ist als die des Mannes, seine ächte
raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem
Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und
innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Be-
gierden und Tugenden ……“ ( JGB 239) Er ist sich also mit Strindberg
über das ,Weib‘ einig. Trotzdem ist deutlich, daß Nietzsche diese un-
bewußte Schurkenartigkeit der Frauen ganz anders beurteilt als
Strindberg.
Man könnte sagen, der Unterschied besteht darin, daß Fadren viel
moralistischer ist als die Schriften Nietzsches. Die Gattungskonventio-
nen zwingen zwar Strindberg zu einem gewissen Moralismus, aber auch
wenn wir diesen gattungsbedingten Moralismus berücksichtigen, be-
steht ein Unterschied zu Nietzsche. In der Vorrede nennt Zola Laura,
also die Frau des Rittmeisters, „vraiment la femme dans son orgueil“
und fügt hinzu, daß er sie nicht vergessen werde.28 Das Verhältnis
zwischen ihr und dem Rittmeister ist aber sehr tendenziös geschildert.
Der Leser, beziehungsweise Zuschauer, des Dramas nimmt notwendi-
gerweise für den Rittmeister Partei; das Drama ist so konstruiert, daß
wir Laura verurteilen sollen. Das Schicksal des Rittmeisters wird dem-
nach aus moralischer Hinsicht bewertet, es wird als die Tragödie eines
Individuums eher als ein Problem der modernen Kultur dargestellt.

Samvetskval – „ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.“ (KSB 8, S.


568)
Nachdem Strindberg entdeckt hat, daß Nietzsche das Problem des
Gewissens in der Genealogie der Moral diskutiert, schickt er ihm die
Erzählung „Samvetskval“ (französischer Titel: „Remords“) zu. Sie ist

26 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 57.


27 August Strindberg, Fadren. Sorgespel (1887), in: ders., Fadren/Frçken Julie/
Fordringsgare, Samlade verk Bd. 27, hrsg. v. Gunnar Ollén, Stockholm: Almqvist
& Wiksell 1984, S. 62.
28 Strindberg, Pre (Anm. 19), S. 3.
100 Tobias Dahlkvist

1885 erschienen und gehört zwar einer vergangenen, pazifistischen


Phase seiner Produktion an; für Strindberg ist aber die Tatsache, daß das
Gewissen für ihn und Nietzsche als Problem gleichermaßen interessant
ist, wichtig genug, um ihm die Erzählung zu schicken.
Der Protagonist der Erzählung, der deutsche Leutnant von
Bleichroden, läßt eine Gruppe von französischen Freischützen füsilie-
ren. Die Hinrichtung erfüllt ihn mit Ekel: Nicht nur bewundert er den
Mut der Franzosen; als Leser Schopenhauers und Hartmanns ist er mit
Sympathie allen lebendigen Wesen gegenüber erfüllt; und endlich mag
er den Krieg gar nicht, sondern er vermißt seine hochschwangere Frau.
Bleichroden bricht unter dem Eindruck der Füsilierung zusammen. Die
Gewissenbisse werden ihm unerträglich. Nur die Nähe seiner Frau und
seines neugeborenen Kindes kann ihn heilen.
Strindberg schickt Nietzsche die Erzählung am 27. Dezember 1888
zu; vier Tage später spielt Nietzsche in seinem Brief an Strindberg,
einem der ersten Wahnsinnszettel, auf das Ende der Erzählung an.
„Lieber Herr“, schreibt Nietzsche, „Sie werden die Antwort auf Ihre
Novelle in Kürze zu hören bekommen – sie klingt wie ein Flintenschuß .
. Ich habe einen Fürstentag nach Rom zusammenbefohlen, ich will den
jungen Kaiser füsillieren lassen.“29 Es hätte ein ironischer Kommentar
sein können. Der Brief ist aber mit „Nietzsche Cäsar“ unterzeichnet.
Nietzsche ist zusammenbebrochen. Der Rest ist Schweigen.

Abschluß

Es ist also einfach zu sehen, welche Elemente der Strindbergschen


Werke das Gefallen Nietzsches geweckt haben müssen. Das ,Weib‘ und
die Auffassung der Liebe sind die zwei Elemente, die Nietzsche selber
hervorhebt. Ich habe versucht zu zeigen, daß diese Elemente bei
Strindberg im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe anderer Ele-
mente stehen, die eine gewisse Verwandtschaft mit Nietzsche verraten:
die physiologische Entartung des modernen Menschen und der Kampf
als Grundbedingung des Lebens zum Beispiel. Es ist offenbar dieser
Elemente wegen, daß Nietzsche Strindberg als einen Franzosen be-
zeichnet.
Strindberg ist aber weniger analytisch, weniger kulturkritisch und
moralisierender als Nietzsche. Strindberg als einen französischen

29 Nietzsche an Strindberg, 31. 12. 1888, KSB 8, S. 567 f.


Nietzsche und Strindberg Oder: Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? 101

Schriftsteller zu bezeichnen, setzt deshalb eine gewisse Umdeutung


seiner Werke voraus. Kehren wir also zu unserer Ausgangsfrage zurück:
Was heißt ,französisch‘ beim späten Nietzsche? Strindberg ist Franzose
wegen seines Interesses an der zeitgenössischen Psychologie, wegen
seiner Schilderungen der Liebe als Krieg und der Frau als eines ge-
fährlichen Feindes. Strindberg scheint also in dem Maße ,französisch‘ zu
sein, wie seine Werke Nietzsches Gedanken widerspiegeln. La France,
hätte Nietzsche sagen können, la France, c’est moi; denn ,französisch‘ ist
beim späten Nietzsche beinahe ein Synonym von ,nietzscheanisch‘.
B. Französische Nietzsche-Rezeption
La première réception de Nietzsche en France:
Henri Lichtenberger, Charles Andler,
Geneviève Bianquis
Marc Sagnol

C’est à partir des années 1890 et surtout 1900 que Nietzsche a


commencé à être traduit en français (si l’on fait abstraction du petit
volume Richard Wagner  Bayreuth publié à Bâle en 1877). La série des
traductions importantes est ouverte par Le cas Wagner en 1892, traduit
par Daniel Halévy et Robert Dreyfus, puis un recueil de textes A travers
l’œuvre de Nietzsche, choisi par P. Lauterbach et Adolphe Wagnon en
1893. Le rythme de la découverte de Nietzsche s’est amplifié au
tournant du siècle, dès 1898 avec Ainsi parlait Zarathoustra, dans la
traduction de Henri Albert et Par del le bien et le mal, par L. Weiscopf et
G. Art, puis en 1899 avec Le crpuscule des idoles, Le cas Wagner, Nietzsche
contre Wagner et L’Antichrist, tous traduits et publiés par Henri Albert, et
les Aphorismes et fragments choisis par Henri Lichtenberger, une coupe
transversale à travers toutes les grandes œuvres, avec un intérêt
particulier porté à Zarathoustra; puis la première partie de Humain,
trop humain, traduit par Anne-Marie Desrousseaux, et des Pages choisies
traduites par Henri Albert. Les années suivantes vont voir briller ce
traducteur, Henri Albert, qui fut aussi un ami ou une connaissance de
Paul Valéry. En 1900, il donnera la traduction de La gnalogie de la
morale, en 1901 celle du Gai savoir, et d’Aurore, tandis que Morland
traduit pour la première fois L’Origine de la tragdie. En 1902 Henri
Albert de nouveau publie le Voyageur et son ombre, en 1903 la Volont de
puissance et Par del le bien et le mal, en 1907 les Considrations inactuelles et
en 1909 Ecce homo et les Posies.
On peut donc dire qu’après ce travail presque titanesque, en
particulier celui d’Henri Albert, l’œuvre de Nietzsche était presque
entièrement traduite en 1909 et pouvait commencer à exercer son
influence sur la littérature et la pensée françaises. C’est après la Première
guerre mondiale qu’une nouvelle génération de traducteurs se substi-
tuera à l’ancienne, déjà méritante, avec notamment les travaux de
Geneviève Bianquis, qui retraduira la Volont de puissance dans l’édition
106 Marc Sagnol

complète (ou considérée à l’époque comme telle) en deux volumes, et


donnera aussi la Naissance de la philosophie  l’poque de la tragdie grecque),
Maurice Betz qui retraduira Ainsi parlait Zarathoustra, et Alexandre
Vialatte (surtout connu aujourd’hui pour avoir traduit et introduit Kafka
en France) qui retraduira Ecce homo et publiera des Lettres choisies (de
1866  1888).
Mais venons-en aux études importantes publiées à cette époque sur
Nietzsche, qui permettent de tracer des contours plus précis et d’obtenir
une image plus fidèle de la réception de cet auteur en France. Parmi les
nombreuses monographies consacrées à Nietzsche avant et après la
Première guerre mondiale, nous retiendrons principalement trois noms:
Henri Lichtenberger, Charles Andler et Geneviève Bianquis.
La première étude vraiment considérable donnant une bonne vision
d’ensemble de Nietzsche est l’ouvrage de Henri Lichtenberger, La
philosophie de Nietzsche, publié en 1898 chez Félix Alcan et qui connut
de nombreuses rééditions (nous citons d’après la 12ème édition, de
1923, augmentée des Aphorismes et fragments choisis publiés au départ en
volume séparé). Ce livre extrêmement synthétique et bien composé
donne un exposé cohérent et mesuré de la pensée de Nietzsche, mettant
en évidence son génie, sa grandeur d’âme, son écriture poétique.
Après une partie biographique dans laquelle Lichtenberger retrace le
mouvement par lequel Nietzsche s’est émancipé de ses maîtres,
Schopenhauer et Wagner en particulier, il s’attaque de front à une
reconstitution d’un «système» dans la philosophie de Nietzsche, anti-
cipant la méthodologie de Karl Löwith par exemple qui voyait chez
Nietzsche un «système en aphorismes». Ce système, Lichtenberger le
voit se fonder sur deux piliers, l’un négatif, l’homme, l’autre positif, le
surhomme.
La conviction de Lichtenberger est que «Nietzsche a très réellement
conçu un système fort bien lié dans toutes ses parties et que, s’il ne l’a
jamais exposé sous une forme systématique, c’est surtout parce que son
état de santé l’a obligé à rendre sa pensée sous forme d’aphorismes qu’il
pouvait rédiger de tête, en se promenant et sans écrire, tandis qu’il lui
était impossible d’entreprendre la composition d’œuvres de longue
haleine.»1
Dans sa description de la partie négative du système, l’homme tel
qu’il est déchu à la suite de la transvaluation des valeurs, Lichtenberger

1 Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche (1898), 12ème éd. Paris 1923,


p. 99 – 100.
La première réception de Nietzsche en France 107

insiste sur la morale des esclaves qui, selon Nietzsche, s’est emparée de
notre civilisation judéo-chrétienne, glorifiant les pauvres, les faibles, les
déshérités, les malades. Il cite des fragments dans lesquels est présentée
«l’opération mystérieuse et louche grâce à laquelle les esclaves gonflés de
ressentiment arrivent à rapetisser en pensée les maîtres et à se transformer
eux-mêmes en martyrs et en saints.»2 C’est la morale d’esclaves qui
domine aujourd’hui la conscience moderne sous le nom pompeux de
«religion de la souffrance humaine».3
Un autre grave symptôme de décadence, selon Nietzsche, est le
triomphe général de l’idéal démocratique. De même la femme
émancipée est l’objet des sarcasmes du philosophe.
Dans sa reconstitution du pilier positif du système, le «surhomme»,
Lichtenberger tente de mettre en cohérence les éléments qui font de
cette pensée une émancipation de la décadence, et de la décadence un
mal nécessaire pour parvenir à une régénérescence de l’humanité. La
doctrine du surhomme est enseignée principalement dans Zarathoustra.
Lichtenberger la résume ainsi: «On peut définir le surhomme: l’état
auquel atteindra l’homme lorsqu’il aura renoncé à la hiérarchie actuelle
des valeurs, à l’idéal chrétien, démocratique ou ascétique qui a cours
aujourd’hui dans toute l’Europe moderne, pour revenir à la table des
valeurs admise parmi les races nobles, parmi les Maîtres qui créent eux-
mêmes les valeurs qu’ils reconnaissent au lieu de les recevoir du
dehors.»4 Il cite ensuite les pages les plus dévoyées de Nietzsche selon
lesquelles il faut savoir faire souffrir pour obtenir de grandes choses.
Lichtenberger présente enfin brièvement la théorie de l’éternel retour,
qui «jaillit comme un éclair au mois d’août 1881 à Sils Maria dans le
cerveau de Nietzsche»5, et qu’il présente à la fois comme la base et
comme le couronnement de la philosophie du surhomme.
Lichtenberger est à ma connaissance le premier à avoir remarqué,
près de 40 ans avant Benjamin pour qui ce fut une découverte capitale,
que la théorie de l’éternel retour avait été formulée avant Nietzsche par
Blanqui dans L’ternit par les astres. 6 Nietzsche pourrait-il avoir été
influencé par Blanqui?

2 Ibid., p. 113.
3 Ibid., p. 121.
4 Ibid., p. 149.
5 Ibid., p. 160.
6 Ibid., p. 175. Voir Auguste Blanqui, L’ternit par les astres, (1872) réédition Paris
1982, et Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Gesammelte Schriften V, Francfort
1982, trad. fr. Le livre des passages, Paris 1989.
108 Marc Sagnol

Dans sa conclusion, mesurée mais favorable à Nietzsche, Lichten-


berger est tout à fait conscient du fait que certaines idées de Nietzsche,
«si elles sont mal comprises, peuvent servir de justification apparente à
des doctrines morales infiniment déplaisantes.»7 Mais il lui reconnaît le
mérite de «contribuer à détruire l’équilibre moral de natures chez
lesquelles les instincts égoïstes sont déjà développés outre mesure […].
Peu de moralistes ont percé à jour avec autant de cruauté tous les petits
mensonges que l’âme se fait à elle-même pour se dissimuler sa faiblesse,
sa lâcheté, son impuissance, sa médiocrité […] Nietzsche nous apparaît
comme un médecin d’âmes rude et impitoyable: l’hygiène qu’il prescrit
à ses patients est sévère, dangereuse à suivre mais fortifiante, il ne
console pas ceux qui viennent lui conter leurs souffrances, il laisse
saigner leurs plaies et leurs blessures, mais il les rend durs à la douleur; il
guérit radicalement les malades, ou il les tue.»8
Parmi les études sur Nietzsche publiées à la suite de ce livre de
Lichtenberger et jusqu’à la Première guerre mondiale, signalons les
noms de Jules de Gaultier, Eugène de Roberty, Pierre Lasserre, Alfred
Fouillée, et le petit livre de Gide, Prtextes (1903), ainsi que Daniel
Halévy qui a publié en 1909 une Vie de Frdric Nietzsche, ou encore Élie
Faure avec son Frdric Nietzsche de 1912. Mais l’ouvrage essentiel qui a
contribué de manière décisive à la connaissance de Nietzsche en France,
rédigé en grande partie avant la première guerre mondiale mais publié à
partir de 1920, est la magistrale biographie intellectuelle de Charles
Andler, Nietzsche, sa vie et sa pense en 6 volumes, édités par Gallimard
dans la Bibliothèque des idées. Ces volumes sont: 1. Les précurseurs de
Nietzsche (1920), 2. La jeunesse de Nietzsche ( jusqu’à la rupture avec
Bayreuth) et 3. Le pessimisme esthétique de Nietzsche (sa philosophie à
l’époque wagnérienne), 1921; 4. La maturité de Nietzsche ( jusqu’à sa
mort), 1928; 5. Nietzsche et le transformisme intellectualiste (1922) et
enfin 6. La dernière philosophie de Nietzsche (le renouvellement de
toutes les valeurs), 1930.
Avec cet ouvrage, qui fait aujourd’hui encore autorité et qui n’a à
ma connaissance pas d’équivalent au niveau international, Andler est
devenu le véritable père fondateur de la «germanistique» française.
Publié après la première guerre mondiale, il n’est pas anodin de lire que
ce livre est dédié à la mémoire des germanistes français, ses anciens
élèves, morts dans la grande guerre.

7 Ibid., p. 177.
8 Ibid., p. 182.
La première réception de Nietzsche en France 109

De cet ouvrage monumental, nous retiendrons ici principalement le


premier volume sur «Les précurseurs de Nietzsche» où, après avoir
montré l’influence de Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Fichte et
Schopenhauer, Andler se lance dans une étude extrêmement stimulante
consacrée à l’influence des moralistes français sur Nietzsche, de
Montaigne à Pascal et La Rochefoucauld jusqu’à Stendhal.
Bien que cet aspect de la pensée de Nietzsche, qui expliquera aussi
que la France soit devenue un terreau particulièrement fécond pour son
développement, soit en fait aujourd’hui assez connu (Andler ayant été
largement pillé dans la littérature critique), il convient de rappeler ici
quelques-unes des idées fondamentales que l’on trouve dans cet ouvrage
d’une grande érudition, de haute qualité scientifique et en outre
admirablement écrit.
Andler rappelle tout d’abord que Cosima Wagner, qui avait une
grande culture française, lui fit un jour cadeau en 1870 d’une belle
édition de Montaigne et que son meilleur ami, Franz Overbeck, né de
mère française et élevé à Paris, lisait beaucoup de livres français et en
faisait partager la lecture à Nietzsche.9 Montaigne est donc le premier
des auteurs qu’étudie Andler. Il est pour Nietzsche, «quand on le
compare aux anciens, un naturaliste de la morale». Andler montre que
l’une des doctrines les plus importantes de Nietzsche, l’analyse de
«l’esprit grégaire» qui fonde la morale et les institutions sociales, a sa
source chez Montaigne: «Il est croyable qu’il y a des lois naturelles,
comme il se voit chez les autres créatures, mais en nous elles sont
perdues»10 et: «Les lois de la conscience, que nous disons naître de la
nature, naissent de la coutume; chacun, ayant en vénération intime les
opinions et mœurs approuvées et reçues de lui, ne s’en peut déprendre
sans remords.»11
Montaigne se prononçait déjà pour une forme de transformation des
valeurs lorsqu’il élaborait une critique des lois: «Les lois se maintiennent
en crédit non parce qu’elles sont justes mais parce qu’elles sont lois. C’est
le fondement mystique de leur autorité.»12 Montaigne, commente
Andler, voudrait réveiller en nous la conscience de ce que nous sommes
et stimuler en nous le courage de montrer notre nature vraie. «C’est le

9 Charles Andler, Nietzsche, sa vie et sa pense. 1. Les prcurseurs de Nietzsche, Paris:


Gallimard, Bibliothèque des idées, 5ème édition 1938, p. 107.
10 Montaigne, Essais II, 244, cité par Andler, p. 110.
11 Essais, I, p. 127, cité ibid.
12 Essais I, p. 121, cité p. 111.
110 Marc Sagnol

privilège de l’homme libre et c’est le secret de la vie.»13 L’homme libre,


le philosophe, ne cherche pas à s’emparer du pouvoir, sa pensée
s’épanouira avec le temps. Les philosophes refusent la royauté, préférant
suivre l’exemple d’Empédocle. «La supériorité, pensera Nietzsche après
Montaigne, s’impose d’elle-même par une secrète et toute puissante
infiltration de sa pensée, et les hommes d’une vraie grandeur gouvernent
sans régner ostensiblement.»14
Après son étude de Montaigne, Andler se penche sur les affinités très
fortes entre Pascal et Nietzsche dans leur critique de la société: «Pascal,
pour qui j’ai presque de la tendresse parce qu’il m’a infiniment
instruit.»15 Nietzsche s’inspire de Pascal tout d’abord d’un point de vue
formel, dans son écriture par aphorismes, mais il est fasciné aussi par la
dialectique pascalienne, la logique de son raisonnement qui renverse
toutes les idées reçues. Suivant le scepticisme de Montaigne, Pascal
remarque que «rien, selon la seule raison, n’est juste en soi»16 et que le
peuple «tient pour justice ce qui est établi» et «prendra l’antiquité des lois
pour preuve de leur vérité»17. Ce qui rapproche Pascal de Nietzsche,
c’est notamment son refus du monde et son refuge dans la solitude et le
dialogue avec le dieu caché, dialogue dont Nietzsche disait qu’il avait «la
plus touchante et la plus mélancolique grâce qui ait jamais trouvé des
paroles.»18 Nietzsche, dit Andler, n’a pas été moins indifférent que Pascal
à la richesse et aux considérations de rang. Et il aimera la maladie pour
l’avoir ramené à la méditation clairvoyante.19
Se penchant sur la Rochefoucauld, Charles Andler montre l’in-
fluence brève mais forte qu’il a exercée sur Nietzsche: «Nietzsche a
souffert de la clairvoyance qu’il a apprise du moraliste français, sa
virtuosité d’archer cruel qui, à chaque trait, touche un point vulnérable
du cœur, lui arrache, avec de l’admiration, des cris de douleur aussi.»20
La Rochefoucauld s’attache à démonter et donc à transformer la
valeur des «vertus» de l’homme et de ce que la société considère comme
telles, en particulier la pitié, la générosité, l’amour etc., en montrant
qu’elles ont toutes pour mobile profond leur envers négatif, comme la

13 Andler, op.cit., p. 111.


14 Ibid., p. 114.
15 Nietzsche, cité par Andler, p. 116.
16 Pascal, Penses, III, 8, cité par Andler, p. 124.
17 Ibid., VI, 6,40.
18 Nietzsche, Morgenrçthe, § 425, cité p. 128.
19 Andler, p. 128.
20 Ibid., p. 139 (Voir Morgenrçthe, I, § 35 – 36).
La première réception de Nietzsche en France 111

vanité, l’orgueil, la recherche de l’honneur, donc d’un gain supérieur à


celui qu’on donne. La Rochefoucauld retourne toutes les vertus en leur
valeur négative et montre l’homme sous son aspect le plus noir. La
médiocre estime où La Rochefoucauld tient la pitié, «passion qui n’est
bonne à rien au-dedans d’une âme bien faite, qui ne sert qu’à affaiblir le
cœur et qu’on doit laisser au peuple», a eu tout de suite l’adhésion de
Nietzsche.21 L’orgueil «se dédommage toujours, il est la ruse la plus
savante de la nature pour nous dissimuler nos imperfections.» La
générosité n’en est qu’un déguisement, puisqu’elle «méprise de petits
intérêts pour aller à de plus grands.» L’amour n’est autre qu’une «passion
de régner»22.
Néanmoins, tout en approuvant une partie du raisonnement de La
Rochefoucauld, Nietzsche le trouve encore fondamentalement ancré
dans la pensée chrétienne. En montrant et en dénonçant l’hypocrisie des
vertus, La Rochefoucauld se fait pour Nietzsche le complice de la
pensée chrétienne moralisatrice. Il s’agira donc d’aller plus loin que La
Rochefoucauld et de prendre le contre-pied de son pessimisme chrétien
en montrant l’effet nocif de cette recherche de la vertu23 en se faisant
l’apôtre d’un certain immoralisme.
Sans s’attarder ici sur ce qu’Andler repère de nietzschéen avant la
lettre chez Fontenelle et Chamfort, examinons maintenant ce qu’il
trouve chez Stendhal. Nietzsche fit la lecture de Stendhal en 1887 et ce
fut pour lui une révélation immédiate. Stendhal n’était pas encore à
l’époque le grand romancier du XIXème siècle que l’on connaît
aujourd’hui, mais méritait encore d’être découvert. Nietzsche reconnaît
en Stendhal un précurseur qui a parcouru l’Europe «d’un rythme
napoléonien», en avance de deux générations sur son temps. Nietzsche
l’appelle son «ami défunt»24. Andler reconstitue tout d’abord la théorie
de Stendhal avant de montrer ce que Nietzsche lui doit. Stendhal
s’attache à connaître les motifs des actions des hommes et à rechercher
les voies qui mènent au bonheur. Il existe pour Stendhal une sorte
d’échelle sur laquelle on est assuré de monter d’un échelon chaque
siècle, et ainsi une petite partie de l’art d’être heureux peut se constituer
à l’état de science exacte.25 A vrai dire cette science n’est pas exacte

21 Nietzsche, Menschliches…, I, 50, cité p. 130.


22 Ibid., p. 131.
23 Nietzsche, Der Wille zur Macht, §94, cité p. 130.
24 Nietzsche, Au del du bien et du mal, VIII, § 256.
25 Stendhal, De l’amour, p. 264, cité p. 161.
112 Marc Sagnol

puisqu’elle fait intervenir la psychologie, le moi. «Inconnaissable à la


science, le moi se décèle par la permanente structure des couches sous-
jacentes que l’on décèle aux plis de la surface. Une sorte de géologie
morale peut en tracer le dessin et en deviner l’inclinaison. Elle découvre
notre manière habituelle de chercher le bonheur.»26
Pour Stendhal, la vertu, c’est d’augmenter le bonheur des hommes,
le vice d’augmenter leur malheur. «Tout le reste n’est qu’hypocrisie ou
ânerie bourgeoise.»27
L’énergie que glorifie Stendhal unit la passion et l’intelligence. Le
bonheur est là. Cette énergie est invisible, mais sans elle il n’y aurait pas
de civilisation. C’est elle qui galvanise tout, comme une électricité
cachée, un courant dynamique obscur d’où partent des décharges
puissantes, puis qui rayonnent soudain dans ces lumineux météores, les
œuvres d’art. La civilisation d’un peuple se mesure à cette tension
intérieure. Ecrire une histoire de la peinture italienne, c’est écrire une
Histoire de l’nergie en Italie. 28
Une telle doctrine convenait parfaitement à Nietzsche et complétait
celle des moralistes français. Pascal, La Rochefoucauld n’avaient
découvert que des passions pauvres, grossières, et en dehors d’elles des
inspirations uniques, presque miraculeuses. Nietzsche croit aussi à ces
hautes inspirations. Il essaye de les retrouver en-deçà des conventions
vaniteuses sous lesquelles étouffent les Européens. Il tente de retourner
aux instincts purs et sauvages antérieurs à l’hypocrisie sociale.29
Un autre aspect de Stendhal qui plaît fortement à Nietzsche est son
admiration pour l’Italie, le sud de l’Europe. Nietzsche, qui fuyait les
brumes de la pensée allemande, fut gagné par Stendhal à un idéal plus
méditerranéen, rempli de lumière et de passion italienne30.
Stendhal est pour la France le véritable découvreur de l’Italie et de la
Renaissance, qu’il n’a cessé de mettre en scène dans ses œuvres. Toutes
les admirations stendhaliennes sont partagées par Nietzsche, y compris
les mœurs du pape Alexandre VI, César Borgia, parricide et incestueux,
qui ne le scandalisent nullement. Stendhal dit avoir trouvé en Italie

26 Stendhal, cité p. 162. Ce terme de « géologie morale » semble annoncer la


« géologie des visages » cruellement évoquée par Proust.
27 Stendhal, Correspondance indite, I, p. 15, cité p. 162.
28 Ibid., I p. 47, cité p. 164.
29 Andler, p. 164 – 165.
30 Ibid., p. 165.
La première réception de Nietzsche en France 113

«l’énergie et le bonheur des sauvages.» De tous les peuples modernes, les


Italiens sont celui qui ressemble le plus aux anciens.
En glorifiant l’Italie, Stendhal attaque la France et les mœurs de son
temps. Nietzsche reprendra une partie de ses accusations. A Paris, dit
Stendhal, dans les classes sociales hautes et moyennes, la sécurité, la
politesse et la civilisation élèvent tous les hommes à la médiocrité mais
gâtent et ravalent ceux qui seraient excellents. Diffrence engendre haine31,
haine de la pensée, haine de la générosité, de l’audace, de l’amour. Et il
conclut: «la civilisation étiole l’âme». Si un homme exceptionnel surgit,
comme Napoléon, il sera «puni de sa grandeur par la solitude de l’âme.»32
Nietzsche, montre Andler, emprunte toutes ces idées à Stendhal.
C’est par cette citation de Stendhal («différence engendre haine») qu’il
explique les jalousies basses qui projettent leur vulgarité sur l’homme
supérieur qui passe. Lorsque Nietzsche salue le génie de Napoléon33,
voyant en lui un continuateur de la Renaissance, il s’inspire du culte
stendhalien du génie latin fait d’énergie et d’intelligence.
Nietzsche reprend à son compte l’esthétique stendhalienne lorsqu’il
oppose à Kant et à Schopenhauer la définition de Stendhal, «le beau est
une promesse de bonheur»34, ou lorsqu’il s’inspire de lui pour sa notion
de style, son dégoût de l’ornement inutile.
Stendhal faisait de la simplicité la chose la plus indispensable et
néanmoins la plus difficile à atteindre. Il voyait un signe d’aristocratie
dans le courage d’écrire en style simple.35 Mais il savait que ce faisant il
écrivait pour des âmes d’élite, «for the happy few». Nietzsche retiendra
aussi cette leçon.
Le petit livre de Geneviève Bianquis sur Nietzsche en France, qui
obtint en 1928 le premier prix d’un concours de la Nietzsche-
Gesellschaft et fut publié en 1929 chez Félix Alcan, fait le point de
manière tout à fait claire et remarquable sur l’influence exercée par la
pensée de Nietzsche sur la pensée française avant la Première guerre
mondiale, remarquant qu’avant même Gide, Anatole France a été
marqué par des idées de Nietzsche, même s’il ne l’a pas beaucoup aimé
quand il l’a lu. Mais c’est surtout Gide avec son immoralisme, ses actes
gratuits, qui a le plus popularisé ou parfois anticipé l’arrivée des idées

31 Stendhal, Le rouge et le noir, cité p. 168.


32 Stendhal, De l’amour, p. 70, Vie de Napolon, p. 17 etc., cité p. 169.
33 Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft, § 362, cité p. 169.
34 Nietzsche, Gnalogie de la morale, III, §6.
35 Andler, p. 173.
114 Marc Sagnol

nietzschéennes. En 1898, il affirme que l’influence de Nietzsche a


précédé l’apparition de son œuvre traduite.36 Charles Maurras semble
avoir été influencé par Nietzsche tout en s’en défendant, estimant qu’il
avait «découvert la Méditerranée tout seul»37.
Gide s’est penché sur Nietzsche dans des articles recueillis dans
Prtextes en 1903. Il affirme que pour le comprendre il faut avoir passé
par une sorte de protestantisme, de jansénisme de la pensée, par une
longue macération au terme de laquelle s’élancent plus vigoureuses
l’espérance et la liberté surhumaines.38
Pour d’autres, comme Camille Mauclair, Nietzsche est le philosophe
qui libère la pensée du matérialisme. Il est «le philosophe des paysages
méditerranéens et lumineux, de l’individualisme rude et pur; il
manifeste la vitalité de l’esprit latin, la protestation du Midi contre le
Nord, du paganisme contre le christianisme, du réalisme contre le
symbolisme, de l’esprit latin contre l’esprit germanique.»39
Geneviève Bianquis note cependant que le premier ouvrage
vraiment clair et cohérent sur Nietzsche est celui de Lichtenberger,
issu de cours professés à l’université de Nancy.
Après avoir évoqué quelques autres études, elle s’attache, dans la
partie la plus importante de son livre, à repérer le rayonnement de
Nietzsche dans la pensée française, sous les formes multiples de
l’antichristianisme, de l’antiromantisme, de l’immoralisme, du dionysis-
me, de l’impérialisme, d’une forme de socialisme, de l’antirationalisme
et du pragmatisme, et enfin dans la philosophie de l’art.
1. C’est tout d’abord l’antichristianisme de Nietzsche qui a frappé ses
premiers lecteurs français, un antichristianisme sans rapport avec
l’anticléricalisme qui était très en vogue à l’époque, un antichristia-
nisme qui s’attaque au contraire aux valeurs de l’évangile et teinté d’un
retour à la civilisation grecque et à la religion athénienne. C’est cette
pensée-là que prônent Henri Albert, Jules de Gaultier, Rémy de
Gourmont, mais même Charles Maurras et l’Action Française, à la fois
ennemis du christianisme et soutiens de l’Eglise catholique comme
institution.40

36 Geneviève Bianquis, Nietzsche en France, Paris 1929, p. 11.


37 Ibid.
38 Gide, Prtextes, cité par Geneviève Bianquis, p. 13.
39 Camille Mauclair, cité p. 13 – 14.
40 Cf. Charles Maurras, Politique religieuse, L’Action FranÅaise et la religion catholique,
etc. cité p. 48.
La première réception de Nietzsche en France 115

2. A l’antichristianisme s’ajoutent, précisément chez les écrivains d’Ac-


tion Française, la haine du romantisme et d’autres maladies semblables
comme la Réforme, la Révolution, Rousseau. Ces écrivains stigma-
tisent la liberté individuelle et lui opposent un idéal de civilisation
hiérarchisée. Ils s’appuient pour cela aussi sur Nietzsche.
3. Mais c’est principalement par l’immoralisme que se manifeste l’in-
fluence de Nietzsche sur la sensibilité française. La morale chrétienne
répudiée, l’homme ne connaît plus d’impératif catégorique, ni
religieux, ni moral, ni social. C’est bien sûr chez Gide que s’exprime
le mieux cet abandon des valeurs morales traditionnelles, dans
L’Immoraliste comme aussi dans les Nourritures terrestres ou plus encore
chez le jeune Lafcadio des Caves du Vatican.
4. Geneviève Bianquis poursuit sa quête des thèmes nietzschéens dans la
littérature française, décelant des échos de dionysisme chez Albert
Samain et plus encore chez la comtesse de Noailles (Les blouissements,
Les vivants et les morts, Les forces ternelles).
5. Sous le terme d’impérialisme, Geneviève Bianquis désigne la glori-
fication de la force; des armes et des armées, qu’on retrouve en France
dans l’Appel aux armes d’Ernest Pischari, ou encore chez Suarès
(Voyages du condottiere), mais aussi chez Henri de Montherland (Le
paradis  l’ombre des pes, qui résonne comme une traduction de
Nietzsche : « Mein Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter »). Même
Sorel semble influencé par Nietzsche.
6. Enfin, Geneviève Bianquis poursuit sa recherche de thèmes nietzs-
chéens dans la philosophie de l’art, en particulier chez Élie Faure ou
encore chez Paul Valéry, qui a publié en 1927 «Quatre lettres au sujet
de Nietzsche»41 adressées en 1901 et 1902 à Henri Albert, dans
lesquelles il dit qu’il «se retrouve» dans la «combativité de l’esprit» de
Nietzsche, dans son «vertige intellectuel» et dans son esprit européen et
universel, critique du germanisme, ainsi que dans sa critique des
valeurs.
On notera, cela a été remarqué lors du colloque, que cette première
réception universitaire de l’œuvre de Nietzsche est l’œuvre de germa-
nistes. C’est en tant que spécialistes de la littérature, de la culture et de la

41 Paul Valéry, «Quatre lettres au sujet de Nietzsche», dans les Cahiers de la


quinzaine 1927, no 2, p. 9 – 29. Voir à ce sujet l’article de Jean-Marie Valentin,
«Paul Valéry et la tradition européenne du commerce de l’esprit», dans Les
Temps Modernes, no 622, décembre 2002-janvier 2003, p. 136 – 148, en
particulier p. 145 – 146.
116 Marc Sagnol

pensée allemandes que ces érudits s’adressent au public français pour lui
expliquer Nietzsche. Par ailleurs, de Gide à Valéry, ce sont principa-
lement des écrivains (certes penseurs, mais pas des philosophes au sens
universitaire du terme) qui s’emparent de certaines pensées de Nietzsche
et les font fructifier sur le sol français. La deuxième réception de
Nietzsche en France, à partir des années 1960, sera l’œuvre de
philosophes comme Deleuze, Foucault, Derrida, Lyotard, qui tenteront
de lui redonner une place de choix dans l’histoire de la philosophie.
Il convient de citer enfin un petit livre très synthétique et clairement
écrit, l’ouvrage de Jean-Edouard Spenlé sur La pense allemande de Luther
 Nietzsche, publié en 1934 chez Armand Colin. Dans le dernier
chapitre, consacré aux «doctrines irrationalistes», Spenlé résume la
pensée de Nietzsche et conteste l’utilisation frauduleuse qui est faite de
lui par l’idéologie raciste et nazie en vogue à cette époque en Allemagne
et ailleurs. «Plus inacceptable encore lui eût paru l’évangile raciste […]
L’atmosphère de l’Allemagne d’aujourd’hui lui eût paru plus irrespirable
encore que celle de l’Allemagne bismarckienne qu’il s’était empressé de
fuir. Il n’a cessé de témoigner de son aversion pour ce qu’il appelait
,l’affaire véreuse des races’ et il n’a cessé de combattre le pangermanisme
et l’antisémitisme, où il dénonçait ce qu’il appelait ,les deux grandes
bêtises allemandes’.»42
Et plus loin, Spenlé écrit: «Il a aimé non la forêt germanique mais la
culture méditerranéenne. Comme Goethe, il a vu dans l’orientation vers
ce qui n’est pas allemand la marque de supériorité chez tout grand
Allemand.»43
Cet ouvrage fut traduit en allemand, sur ordre des autorités
françaises, et publié en 1946 dans la zone d’occupation française.44 Mais
il s’agit déjà de la réception en Allemagne de la réception française.

42 Jean-Edouard Spenlé, La pense allemande de Luther  Nietzsche, Paris 1934, p.


176.
43 Ibid., p. 178.
44 Jean-Edouard Spenlé, Das deutsche Denken von Luther bis Nietzsche, Baden Baden
1946. Un exemplaire de cette édition se trouvait dans une vitrine de
l’exposition «Nietzsche et la France» réalisée par Ralf Eichberg à la maison
Nietzsche de Naumburg.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht
Angelika Schober

Seit über hundert Jahren beschäftigen sich Kommentatoren unter-


schiedlichster Provenienz mit Nietzsche, versuchen, sein Denken zu
erörtern oder sich bei ihm zu inspirieren. Immer wieder finden wir
Arbeiten mit den Wörtern „wahr“ oder „Wahrheit“ im Titel – zuletzt
in dem Buch von Jean Pierre Faye Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre aus
dem Jahre 1998. Der wahre Nietzsche ist für Faye der „große Euro-
päer“, der die „europäische Neurose des Nationalismus“ bekämpfte und
zu unrecht mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht
wurde.1 In ausführlicher Argumentation belegt Faye seine These, er hat
sicher nicht Unrecht mit seinen Analysen. Gleichwohl kann der Aus-
druck „der wahre Nietzsche“ Unbehagen hervorrufen. Auch deshalb,
weil zur gleichen Zeit Bernhard H. F. Taureck in seinem Buch
Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum 2 nachweist, daß es bei
Nietzsche genügend Textstellen gibt, die erlauben, ihn als „Protofa-
schisten“ zu bezeichnen. Zwei seriöse Autoren suchen und finden also
bei Nietzsche entgegengesetzte Aspekte, denn man kann weder bei Faye
noch bei Taureck von oberflächlichen Lektüren sprechen, um auf diese
Weise ihre Aussagen zu entkräften.
Wie kommt es zu diesen grundverschiedenen Ergebnissen? Inwie-
weit ist die Tatsache von Bedeutung, daß es sich bei Jean Pierre Faye
um einen französischen Kommentator handelt, bei Bernhard H. F.
Taureck um einen deutschen? Zweifelsohne wird das Nietzschebild
mitbestimmt von den unterschiedlichen Interessen der Leser, wobei das
kulturell geprägte Vorverständnis eine nicht unwesentliche Rolle spielt.
Taurecks Arbeit versteht sich in der Tat als Antwort auf die französische
Nietzscherezeption, er unterstreicht, daß „die französischen Nietz-
scheaner seit Bataille […] tendenziell die normentbundenen Züge so-
zialer Individualität im Sinne Montaignes bei Nietzsche wahrgenom-

1 Jean Pierre Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre, Paris: Hermann, Editeur
des sciences et des arts 1998.
2 Bernhard H.F.Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum, Leipzig:
Reclam 2000.
118 Angelika Schober

men“ haben, um sie politisch zu nutzen – und zwar als „Chance einer
Befreiung der Politik von allen Formen des Faschismus“.3 Diesem
Anspruch gegenüber gibt Taureck zu bedenken: „Wie – das wäre die
Frage an Bataille und den gesamten französischen Nietzscheanismus –
kann ein Konzept von individueller Souveränität bei Nietzsche gegen
seine politischen Bedrohungsthesen und politisch-überpolitischen
Endlösungsphantasien gesichert werden?“4 Taureck belegt anhand
verschiedener Beispiele, daß eine solche „Sicherung“ in den Texten
selbst nicht gegeben ist, sie vielmehr erst durch ein „Hinausgehen“ über
Nietzsche möglich erscheint. „Der redlich antifaschistische und philo-
sophisch bedenkenswerte Nietzscheanismus von Deleuze und Guattari
ist über Nietzsche hinausgegangen. Er hat nicht nur bei Nietzsche ge-
sucht, sondern er hat sich auf weitergehende Folgerungen eingelassen.“5
So überzeugend diese Aussage erscheint, ihr eigentliches Erkennt-
nisinteresse reicht weiter. Es betrifft nicht nur den neueren französi-
schen Nietzscheanismus, sondern weite Teile der Rezeption in
Frankreich, sowie ansatzweise auch in Deutschland. Ein Großteil der
Leser beschränkt sich nicht darauf, philologische Arbeit zu leisten,
sondern geht über Nietzsche „hinaus“, inspiriert sich an einem Teil
seines Denkens, um es auf eigene Weise fortzuführen, wobei andere,
ebenfalls in Nietzsches Texten enthaltene Aspekte, übergangen werden.
So daß unterschiedliche „Nietzsches“ entstehen und der „wahre
Nietzsche“ immer zugleich ein anderer sein kann. Seine „Wahrheit“
läßt sich nicht eindeutig bestimmen, wandelt sich vielmehr entspre-
chend der Interessen seiner Leser, der Blickwinkel der jeweiligen Le-
searten mit ihren Aus- und Einblendungen von Textelementen. Karl
Löwith schreibt zurecht: Zwar trennt ein „Abgrund“ Nietzsche, dieses
„Kompendium deutscher Widervernunft oder des deutschen Geistes“,
von seinen „gewissenlosen Verkündern“, doch er hat ihnen den Weg
bereitet, den er selber nicht ging.“6 Dies schließt jedoch nicht aus, daß
er auch anderen Interpreten Wege bereitete, zum Beispiel den franzö-
sischen Nietzscheanern, die ihn zur Überwindung des Faschismus
verwenden möchten. Die weitgehend offene, aphoristische Struktur
seines Schreibens – auf die Löwith bereits vor Deleuze hinwies – er-

3 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 245 – 246.
4 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 250.
5 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 255.
6 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt
am Main: Fischer 1989, S. 5.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 119

leichtert solche unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten In-


terpretationen.
Die französische Nietzscherezeption läßt sich mit einem Mosaik
vergleichen, in welchem Steine verschiedenen Materials und unter-
schiedlicher Größe ein bizarres, nicht einheitliches Gebilde ergeben.
Man kann auch von einem Kaleidoskop sprechen, einer Bilderfolge in
ständiger Bewegung, wo immer wieder die gleichen zentralen Fragen
gestellt, aber unterschiedliche Antworten gefunden werden: Ist Nietz-
sche ein radikaler Zerstörer? Was bedeutet Kunst für ihn? Wie hält er es
mit Gott und Religion? Welches Verhältnis hat er zu Frankreich, zu
Deutschland? Inwieweit steht er im Schatten des Nationalsozialismus?
… Nietzsche hat diese Wiederkehr der Fragen, sowie die Pluralität der
Antworten in gewisser Weise selbst angekündigt, wenn er schreibt: „Es
gibt nur ein perspektivistisches Sehen, nur ein perspektivistisches ,Er-
kennen‘; und je mehr Augen, verschiedne Augen wir für dieselbe Sache
einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ,Begriff‘ dieser
Sache, unsre ,Objektivität‘ sein.“7 Dies gilt auch für die ,Sache’
Nietzsche, deren ,Objektivität’ letztlich bedeutet, daß man bei ihm
findet, was man sucht.
Es kann hier nicht darum gehen, die verschiedenen Arbeiten zu
diskutieren, die sich mit der Aufnahme und Verarbeitung Nietzsches in
Frankreich beschäftigen – von Geneviève Bianquis über Pierre Boudot,
Louis Pinto zu Jacques le Rider8 – sondern anhand einiger Beispiele zu

7 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, III, § 245, in: KSA, herausge-
geben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New
York: dtv/de Gruyter, Band 5, S. 365.
8 Geneviève Bianquis, Nietzsche en France. L’influence de Nietzsche sur la pense
franÅaise, Paris : F.Alcan 1929; Pierre Boudot, Nietzsche et l’au-del de la libert,
Nietzsche et les crivains franÅais de 1930  1960, Paris: Union des éditions 10/18
1970, Aubier Montaigne 1975; Louis Pinto, Les Neveux de Zarathoustra. La
rception de Nietzsche en France, mit einem Vorwort von Marc de Launnay, Paris:
Seuil 1995; Jacques Le Rider, Nietzsche in Frankreich, übersetzt von Heinz
Jatho, München/Paderborn: Wilhelm Finck 1997; ders., Nietzsche en France.
De la fin du XIXe sicle au temps prsent, Paris: PUF 1999.
Meine eigenen Arbeiten zur französischen Nietzscherezeption unterstreichen
die Vielfalt der Deutungen, sowie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher In-
terpretationsansätze: Nietzsche et la France. Cent ans de rception franÅaise de
Nietzsche, Thèse de doctorat d’Etat, Universität Paris X-Nanterre 1990; dies.,
„La réception de Nietzsche en France. Ecrits de femmes“, in: Jacques Le Rider,
(Hrsg.), Nietzsche. Cent ans de rception franÅaise, Paris: Editions Suger 1999,
S. 149 – 162; dies., „La réception française de Nietzsche“, in: Revue Interna-
tionale de Philosophie n81 (2000), S. 99 – 115; dies., Ewige Wiederkehr des Glei-
120 Angelika Schober

zeigen, daß gerade die französische Rezeption deutlich macht, wie


vielfältig Nietzsche interpretiert wird. Bereits zu Beginn des Jahrhun-
derts – als Nietzsche, Henri Lichtenberger zufolge, in Frankreich in
Mode war „wie Wagner, Botticelli, Ibsen oder Ruskin“9 – beziehen
sich Autoren entgegengesetzter politischer Richtungen auf ihn, treffen
sich auf seinem Terrain, ohne sich zu begegnen; wobei auch innerhalb
der jeweiligen Gruppierungen die Interpretationen keineswegs ein-
heitlich sind. Charles Andler möchte „Nietzsches System legitimerweise
einen Sozialismus nennen“, da die „europäische Arbeiterklasse als eine
Klasse von Herren“ gewünscht werde.10 Er meint zudem, Nietzsches
„Kampagne gegen Kirche und Klerus, Staat und Politiker“ sei eine neue
Philosophie der Aufklärung, sogar eine Revolution.11 Doch zur glei-
chen Zeit sehen andere Leser Gemeinsamkeiten mit den Zielen der
„Action Française“ – zum Beispiel René Lasserre und Jules de Gaultier
– und heben entsprechend andere Aspekte seines Denkens hervor:
seinen ,Aristokratismus’ sowie die Kritik der „modernen Ideen“, be-
sonders der Demokratie. Was Charles Maurras betrifft, so versucht er
gleichzeitig, sich von Nietzsche abzugrenzen und ihn zu vereinnahmen.
Er betont, er selbst habe das Mittelmeer entdeckt, schulde also diesem
„seltsamen Schriftsteller slawischer Rasse namens Nietzsche“, der „von
allen Deutschen der am wenigsten deutsche“ sei, nichts.12 Er möchte
aber Nietzsches Kritik am „kulturellen deutschen Nationalismus“ zur
„intellektuellen Befreiung der jungen, bis ins Mark germanisierten und
anarchisierten“ Franzosen“ verwenden,13 auch wenn Nietzsche ihm
letztlich als „feindliche Intelligenz voller Barbarei“ erscheint und er
deshalb fordert, das Denken dieses „Gassenjungen“ als „nützliche
Droge im Giftschrank“ zu verwahren.14 Während des Ersten Welt-
krieges wurde Nietzsche bei einer bestimmten Kategorie von Lesern
zum Sündenbock – auf „ewige Zeiten“ möchte André Suarès die
Franzosen von ihm abbringen: „Ah! Hund Nietzsche, du hast deinen
chen? Hundertzehn Jahre franzçsische Nietzscherezeption, Presses Universitaires de
Limoges 2000.
9 Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, Paris: F.Alcan 1898, S. 167.
10 Nietzsche et le transformatisme intellectualiste, zitiert nach Geneviève Bianquis
(Anm. 8), S. 95.
11 Nietzsche, sa vie et sa pense (1920 – 1931), Paris: Gallimard 1958, Band 1, S. 232.
12 zitiert nach Yves Ledure, Lectures chrtiennes de Nietzsche. Maurras, Papini, Scheler,
de Lubac, Marcel, Monier, Paris: Editions du Cerf 1984, S. 26.
13 Charles Maurras, Quand les FranÅais ne s’aiment pas. Chronique d’une renaissance,
1895 – 1905, Paris: Nouvelle librairie nationale 1916, S. 117.
14 Journal de l’Action franÅaise vom 12. Februar 1909.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 121

Fraß der gefräßigen Bestie gepredigt und den bellenden Stil. […] For-
derste du sie nicht auf, hart zu sein? […] Du bist gestorben, mit dem
Löffel ernährt von einer Krankenschwester, knurrend in einer Ecke wie
ein räudiges Tier und wurdest wahrscheinlich in mitten deiner Exkre-
mente erstickt. So ergehe es deiner ganzen Rasse.“15
Die negative öffentliche Meinung während des Krieges, die bei
Nietzsche nur Verdammenswertes sucht und findet, hätte ihn wohl
kaum beeindruckt. Ihn zumindest nicht von seiner Überzeugung ab-
gebracht, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland.
Sie hätte Nietzsche vielmehr in zweierlei bestätigt: zum einen in seiner
Abneigung gegen die „öffentliche Meinung“ – die besonders in seiner
Kritik an der Presse zum Ausdruck kommt16, zum anderen in seinem
Frankreichbild. Denn dieses ist alles andere als homogen und insgesamt
sehr vielschichtig. Lebenslange Wertschätzung wird begleitet von bis-
siger Abneigung gegen manche Entwicklungen und Autoren. Zum
Beispiel gegen Victor Hugo, den „Pharus am Meere des Unsinns“, oder
die „Milchkuh mit ,schönem Stil’“, Georges Sand, sowie Emile Zola,
dem Nietzsche „die Freude zu stinken“ nachsagt.17 Enthusiastischen
Aussagen über ein bestimmtes, idealisiertes Frankreich – jenes des guten
Geschmacks, welches die Kultur des ,grand siècle‘ perpetuiert – steht
herbe Kritik an dem „unfreiwillig germanisierten“, von Schopenhauer
und Wagner „verdorbenen“, sowie durch die „englischen politischen
Ideen“ vergifteten Frankreich gegenüber.18 Die Überzeugung Nietz-
sches, er werde in Frankreich besser verstanden als in Deutschland,
betrifft also nur jenes idealisierte Frankreich, von dem er annimmt, es sei
noch am Ende des neunzehnten Jahrhunderts „Sitz der geistigsten und
raffiniertesten Cultur Europas“, dessen Vertreter sich aber „gut ver-
steckt“ hielten, um einem „gröberen“ Frankreich den Vortritt zu lassen,
welches anlässlich des Begräbnisses von Victor Hugo „wahre Orgien des

15 André Suarès, Commentaire sur la guerre des Boches, Paris: Emile Paul Frères 1915,
S. 80 f.
16 Siehe hierzu meinen Artikel „Nietzsche, critique de la presse“ in: André
Combes und Françoise Knopper (Hrsg.), L’opinion publique dans les pays de
langue allemande, 37e Congrès de l’Association des Germanistes de l’enseigne-
ment supérieur organisé à l’Université de Toulouse 2 – Le Mirail du 24 au 26
mai 2004, Paris: L’Harmattan 2006, S. 191 – 201.
17 Friedrich Nietzsche, Gçtzendmmerung, „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“, §1,
in: KSA (Anm. 7), Band 6, S. 111.
18 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 197.
122 Angelika Schober

Ungeschmacks“ gefeiert habe.19 Wenn Jean Bourdeau – von dem


Nietzsche zunächst annahm, er werde ihn übersetzen und in Frankreich
bekannt machen20 – ihn als „zynischen Schriftsteller“ bezeichnet und
seine Philosophie „pervers“ nennt, da sie die Grundlagen der sozialen
Ordnung in Frage stellt21, so gehört Bourdeau für Nietzsche wohl zu
dem „gröberen“ Frankreich, dem jeder Sinn für die feineren Töne,
auch die seiner Philosophie, fehlt. Anderes gilt für André Gide, der in
Nietzsche eine „lebensbejahenden Energiequelle“ sieht und meint, er
habe ihm „erlaubt“, seine eigenen Empfindungen auszudrücken.22
Ähnliches läßt sich auch in Bezug auf Georges Bataille sagen, denn im
Anschluß an die Lektüre von Jenseits von Gut und Bçse überlegt er:
„Warum soll ich mir vornehmen zu schreiben, da […] mein ganzes
Denken so vollständig, so bewundernswert ausgedrückt wurde.“23 Und
Jean Baudrillard schreibt in diesem Sinne, er möchte in Hinblick auf
Nietzsche lieber von einer „Beziehung fehlender Referenz“ statt von
einem „traditionellen Referenzbezug“ sprechen.24
Eine große Anzahl französischer Leser sucht und findet bei Nietz-
sche eine „lichtvolle Verherrlichung des Lebens“25, die mit dem Namen
Dionysos verbunden ist. Dieses Fundstück wird seit Beginn der Re-
zeption in verschiedenen Varianten vorgezeigt, auch in einem Liebes-
roman mit dem Titel Nietzschenne, dessen Autor sich während des
Ersten Weltkrieges zugleich als Nietzscheaner und französischer Patriot
empfindet und dieses Dilemma dadurch zu lösen sucht, daß er seinem
Roman einen Anhang beifügt mit Zitaten von „Nietzsche für Frank-
reich und gegen Deutschland“. In erster Linie versteht Daniel Lesueur
Nietzsche als Gewährsmann für die Befreiung von moralischen
Zwängen: „Jocelyne, meine Jocelyne lieben wir uns, da unsere Liebe
unsere Kraft ist und wir Kraft brauchen. Würde Ihr Nietzsche, den Sie

19 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 253,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 198.
20 Brief vom 29. 12. 1888 an Meta von Salis. KSA (Anm. 7), Band 15, S. 207 f.
21 Jean Bourdeau, Les matres de la pense contemporaine. Stendhal, Taine, Nietzsche,
Paris: Alcan 1904, S. 121 und S. 131.
22 Tagebuch vom 7. Januar 1924. Siehe auch Brief an Angle vom 10. Dezember
1924.
23 Zitiert nach magazine littraire n8243, Juni 1987, S. 19.
24 Interwiev mit Jean Baudrillard, in: Florian Rötzer, Franzçsische Philosophen im
Gesprch, München: Boer 1987, S. 43.
25 Henri Albert, Frdric Nietzsche, Paris: Bibliothèque internationale d’édition
1903, S. 11.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 123

unaufhörlich zitieren und der mir so viel Gutes tat, nicht sagen, daß
unsere herrliche Leidenschaft eine der Triebfedern ist, welche das Leben
verherrlicht, uns zu allem erhebt, was das Leben an Aktivität, Leiden-
schaft und Schönheit fordert?“26
Doch dieser Interpretationsansatz ist nicht auf Frankreich be-
schränkt, ähnliche Tendenzen finden sich auch in Deutschland. Zu-
nächst in der Münchner Bohème der Jahrhundertwende, wo Franziska
von Reventlow schreibt, der Zarathustra sei ihre „Bibel“ gewesen, „die
geweihte Quelle“, aus der sie und ihre Freunde „immer wieder tran-
ken“ und die sie „wie ein Heiligtum verehrten“.27 Die Lektüre
Nietzsches gilt als Schlüsselerlebnis zum „eigentlichen Leben“, das sich
befreit hat von den Normen der bürgerlichen Gesellschaft und der
christlichen Moral: „Ich sehe nun endlich das Leben vor mir liegen – in
Schönheit und Freiheit“.28 Doch nicht nur in München, auch in Berlin
wird Nietzsche als „befreiender“, subversiver Autor gelesen. Nach dem
ersten Weltkrieg versteht ihn die ästhetisch-politische Dada-Bewegung
als eine Art „konzeptuellen Lehrmeister“29, sein Name erscheint in
verschiedenen Manifesten und Manifestationen. Aus der generellen
Kritik an der deutschen Kultur und Literatur wird Nietzsche ausgespart,
ein Teil seines Denkens dient dazu, bürgerliche Ideale zu Fall zu
bringen. Richard Huelsenbeck zufolge waren alle Dadaisten Nietz-
scheleser, und Johannes Baader, der selbsternannte „Oberdada“, schreibt
eine Karte an Tristan Tzara mit der Anrede „Lieber Zara Tustra“.30 Im
Cabaret Dada reitet Raoul Hausmann, der „Dadasoph“, auf einer Eule,
dem Tier der Weisheit, und hält die Symbole Zarathustras – die
Schlange und den Adler – in seiner Hand.31 Als Antwort auf Zarathustra
im Tornister deutscher Soldaten während des Weltkriegs meint Haus-
mann, die Deutschen hätten, anstatt der „komischen Selbsttäuschung als

26 Nietzschenne (1919), Paris: Plon 1931, S. 237.


27 Ellen Olestjerne, Gesammelte Werke in einem Band, herausgegeben und ein-
geleitet von Else Reventlow, München: Langen 1925, S. 575.
28 Ellen Olestjerne, Gesammelte Werke in einem Band (Anm. 27), S. 564 und
S. 575.
29 Diese Bezeichnung verwendet Hanne Bergius in ihrem Buch Montage und
Metamechanik. Dada Berlin, Artistik von Polaritten, Berlin: Gebrüder Mann
Verlag 2000, S. 5.
30 Bibliothèque littéraire Jacques Doucet, Chancellerie des Universités de Paris,
fonds Tristan Tzara.
31 Richard Huelsenbeck, „Besuch im Cabaret Dada“, in: Karl Riha und Hanne
Bergius (Hrsg.), Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen, Stuttgart: Reclam
2002, S. 95.
124 Angelika Schober

„Überallesmenschen“ zu verfallen, dank Nietzsche die Möglichkeit


gehabt, „romanischer, gesünder, dadaistischer“ zu werden,“32 also von
ihm lernen können, das Dionysisch-Rauschhafte zu bejahen und das
„ganze Register der menschlichen Lebensäußerungen“ durchzuspie-
len.33 Um auf diese Weise dem „gefährlichen Leben“ gegenüber der
Spießeridylle den Vorzug zu geben und die Dissonanz des tragischen
Mythos zum Kunst- und Lebensprinzip zu erheben. Mit Nietzsche sagt
man „ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher will“34. Wenn
Jean-Francois Lyotard also meint, Nietzsches Konzept des Übermen-
schen sei bei den Hippies ansatzweise verwirklicht, bei marginalen
Künstlern, die sich lieber in einem intensiven Leben statt in bleibenden
Werken ausdrücken35, wenn Gilles Deleuze Nietzsches post-histori-
schen Menschen als den „Freien, Verantwortungslosen“ bezeichnet36,
so wird damit ein wesentlicher Anspruch des französischen Nietz-
scheanismus deutlich. Aber eben kein ausschließlich französisches
„Über-Nietzsche-Hinausgehen“. Denn auch in Deutschland – in der
Münchner Bohème gleichermaßen wie bei den Berliner Dadaisten –
öffnet Nietzsche den Blick in diese Richtung. Auch in Deutschland
wurde bei Nietzsche das „normentbundene Individuum“ gesucht und
gefunden, welches Bernhard H. F. Taureck zufolge im Mittelpunkt
französischer Nietzschelektüren steht. Andererseits darf aber nicht ver-
schwiegen werden: Die Interpretationsrichtung eines „protofaschisti-
schen“ Nietzsche wurde nicht nur in Deutschland eingeschlagen, in
Frankreich finden sich ebenfalls entsprechende Ansätze. Alfred Bae-
umlers Versuch, Nietzsche im Sinne des Nationalsozialismus auszu-
schlachten, kennt seine französische Entsprechung, zum Beispiel bei
Drieu la Rochelle.37 Spuren dessen, was zunächst als deutsche Leseart,
als deutsches Mißverständnis der Lektüre erscheinen könnte und wo-
gegen sich die französischen Nietzscheaner der siebziger Jahre mit
Nachdruck wandten, lassen sich auch in Frankreich nachweisen.

32 Alfred Kutschenbauch (1920) zitiert nach Hanne Bergius (Anm. 29), S. XIV.
33 Johannes Baader, „Wer ist Dadaist?“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 40.
34 „Dadaistisches Manifest“, in: Dada Berlin. (Anm. 31), S. 22 – 24, hier S. 25.
Siehe hierzu meinen Artikel „Dada – critique des idéaux de Weimar sur les
traces de Nietzsche“ im Tagungsband des 39. Kongresses der AGES, L’idal.
Formes et fonctions, Boulogne sur Mer, Mai 2006 (in Druck).
35 Jean-François Lyotard, „Notes sur le retour et le Kapital“, in: Nietzsche au-
jourd’hui?, Paris: Union des éditions 10/18 (1973), Band 2, S. 153.
36 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962 (1967), S. 157.
37 Drieu la Rochelle, Socialisme fasciste, Paris: Gallimard 1934.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 125

Gibt es also keine wesentlichen Unterschiede zwischen französischer


und deutscher Rezeption? Dieser Schluß wäre verfrüht und letztlich
nicht befriedigend. Denn obwohl in beiden Ländern die „protofa-
schistische“ und des „antifaschistische“ Leseweise Nietzsches existiert,
obgleich in Deutschland wie in Frankreich beides gesucht und gefunden
wurde, ist das Gewicht der Fundstücke in beiden Ländern nicht das-
selbe. In Frankreich ist der „befreiende“ Nietzsche fester verwurzelt und
hat mehr „Blüten“ hervorgebracht als in Deutschland. Der liberal-li-
bertäre, subversive Nietzsche spielt mit Gide, Bataille, Klossowki, De-
leuze, Derrida, Foucault und Baudrillard eine unbestreitbar größere
Rolle im intellektuellen Leben Frankreichs als in Deutschland. Ande-
rerseits hat der „protofaschistische“ Nietzsche in Deutschland mehr
Einfluß auf die Politik ausgeübt. Was aber nicht notwendigerweise
bedeutet, daß Nietzschelektüre durch Politiker zu faschistischer Inter-
pretation führen muß. Der Spazierstock Nietzsches in der Hand des
Diktators schließt nicht aus, daß antifaschistische Politiker sich auf ihn
beziehen: Auf dem Schreibtisch von Charles de Gaulle in Colombay-
les-Eglises soll der Satz Nietzsches gestanden haben „Alles ist leer, alles
ist gleich, alles war“, welchen de Gaulle wie folgt auf französisch
komprimierte: „Et puis, rien ne vaut rien.“38
Die Rezeption in Frankreich ist insgesamt vielschichtiger und nu-
ancenreicher als in Deutschland. Es gibt eine ganz besonders intensive
Beschäftigung mit Nietzsche, welche bestätigt, was Peter Gast voraus-
sagte: Die „gesamte französische Intelligenz“ werde sich seiner be-
mächtigen, seine Bücher „eine Flut von Artikeln und Broschüren nach
sich ziehen“ und die Probleme „zur öffentlichen Diskussion“ kom-
men.39 Nietzsche selbst erwartete dieses Interesse und zwar aufgrund
seiner Kritik an Deutschland, seiner Sympathie für Frankreich, sowie
den „Affinitäten“ zwischen dem eigenen Stil und dem französischen
Geschmack, auf die er mehrmals hinweist. Er meint, „deutsch denken,
deutsch fühlen, – ich kann Alles, aber das geht über meine Kräfte“ und
fügt hinzu: „Mein alter Lehrer Ritschl behauptete […] ich conzipirte
selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser ro-
mancier – absurd spannend.“40 Nietzsche sieht die „Hingebungen an die

38 Peter Scholl-Latour, Leben mit Frankreich. Stationen eines halben Jahrhunderts,


Stuttgart: DVA 1988, S. 60.
39 Friedrich Nietzsche, KSA (Anm. 7), Band 15, S. 196.
40 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, „Warum ich so gute Bücher schreibe“, KSA
(Anm. 7), Band 6, S. 301.
126 Angelika Schober

,Form’, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen,
erfunden ist“ am besten in Frankreich verwirklicht, und zwar als eine
„Art Kammermusik der Literatur“.41 Entsprechend entwickeln die
französischen Nietzschekommentatoren der siebziger Jahre, wie Werner
Hamacher zeigt, eine „Art „Kammermusik der Lektüre zur Meister-
schaft“ mit ausgeprägtem „Gespür für Rhythmus und Synkopierung
sowohl der literarischen wie der argumentativen Bewegungen in seinen
Texten“.42 Als weiteres verbindendes Element zwischen Nietzsche und
Frankreich kann die Tatsache gelten, daß der Vielschichtigkeit der
Rezeption in Frankreich eine Vielfalt der Rezeption Frankreichs durch
Nietzsche entspricht. Frankreich ist nicht nur das Land, in welchem er
am meisten rezipiert wird, es ist auch das Land, mit dem er sich am
intensivsten beschäftigte. Es finden sich nicht weniger als vierhundert
Erwähnungen Frankreichs in den Werken und im Nachlaß – im Ver-
gleich dazu kommt Italien nur auf etwa hundert Einträge, England sogar
nur auf zweiundfünfzig. Nietzsche beschäftigt sich zudem mit mehr als
achtzig französischen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Epochen
und Bereichen (Philosophie, Literatur, Musik, Malerei, Politik etc.).43
Von d’Alembert über Balzac, Diderot und Fénelon bis zu Montaigne,
Napoleon, Vauvenargues und Zola reicht sein Interesse, wobei manche
Personen wohlwollend kommentiert werden – wie Pascal und Stendhal,

41 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ § 254,
KSA (Anm. 7), Band 5, S. 199.
42 Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Essais von Maurice Blanchot,
Jacques Derrida, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und
Bernard Pautrat, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986, S. 11.
43 In alphabetischer Reihenfolge: Abelard, d’Alembert, Balzac, Barbey d’Aure-
villy, Baudelaire, Bayle, Beaumarchais, Berlioz, Bizet, Blanqui, Bossuet,
Chamfort, Chateaubriand, Chopin, Claude Lorrain, Auguste Comte, Condil-
lac, Corneille, Victor Cousin, Jacques-Louis David, Delacroix, Descartes, Di-
derot, Alexandre Dumas, Fénelon, Flaubert, Fontenelle, Theophile Gautier,
Gebrüder Goncourt, Jean Marie Guyau, Helvétius, d’Holbach, Victor Hugo,
Joseph Joubert, La Fontaine, Lamarck, Lamartine, La Rochefoucauld, Louis
Philippe, Louis XI, Louis XIII, Louis XIV, Louis XV, Pierre Loti, Jean-Baptiste
Lully, Joseph de Maistre, Malebranche, Malherbe, Maupassant, Maupertuis,
Mérimée, Meyerbeer, Michelet, Mirabeau, Molière, Montaigne, Montesquieu,
Napoléon, Jacques Offenbach, Pascal, Poussin, Proudhon, Racine, Rameau,
Renan, Richelieu, Rivarol, Robespierre, Ronsard, Rousseau, Sainte-Beuve,
Saint-Simon, Georges Sand, Scribe, Madame de Sévigné, Madame de Staël,
Stendhal, Sully, Hippolyte Taine, Talleyrand, Adolphe Thiers, Vauvenargues,
Alfred de Vigny, Voltaire, Emile Zola. Quelle: Index von Jörg Salaquarda,
KSA, Band 15.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 127

andere hingegen sehr kritisch, zum Beispiel Rousseau oder Robes-


pierre. Dabei sollte die Bedeutung von Descartes nicht unterschätzt
werden, welchen Nietzsche an Stelle einer Vorrede der Erstausgabe von
Menschliches, allzu Menschliches zitiert. Darüber nachdenkend, welche
Beschäftigung die beste für den Menschen sei, kommt Descartes (und
mit ihm Nietzsche) zu dem Schluß, „daß für meinen Theil mir Nichts
besser erschien als […] wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf
verwendete, meine Vernunft auszubilden“.44 Diese Ausbildung der
Vernunft geht einher mit kritischer Infragestellung des Bestehenden,
beinhaltet also den Zweifel, der Nietzsche ebenso kennzeichnet wie
Descartes, obwohl er bei Descartes eine stärker heuristische Funktion
hat und letztlich überwunden wird. Thierry Maulnier betont diese
Gemeinsamkeit, wenn er 1925 schreibt: „Nietzsche hat die Frechheit,
die verletzt, Descartes die Frechheit, die schweigt. Descartes greift
nichts an, widerlegt nichts und scheint außerhalb der Welt zu kon-
struieren: aber er stürzt genauso um.“45 Sechzig Jahre später unter-
streicht Glucksmann den methodischen Zweifel als Kennzeichen von
Descartes und des französischen Denkens im allgemeinen und zieht den
Schluß: „Descartes ist Frankreich“.46 Da der Zweifel auch Nietzsche
auszeichnet, kann man hinzufügen, daß Nietzsche in diesem Sinne
ebenfalls Frankreich repräsentiert und hierin einen weiteren Grund für
das ausgeprägte französische Interesse an seinen Texten sehen.
Der radikale Zweifel führt Nietzsche zur Ablehnung letzter
Wahrheiten, zum Perspektivismus, der seinerseits bei den französischen
Nietzscheanern der siebziger Jahre zum methodischen Prinzip eines
Umgangs mit Texten erhoben wird. Für Deleuze gibt es in einem Buch
nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu
interpretieren, aber viel, womit man experimentieren kann. Ein
Standpunkt, der durch die Nietzscherezeption in ihrer Vielfalt bestätigt
wird, welche somit als Spielfeld für Experimente erscheint. Roland
Barthes meint seinerseits, Interpretation könne nicht bedeuten, die
„Meinung“ des Autors herauszuarbeiten – was wollte er denn eigentlich
sagen? – , sondern bestehe darin, den Text weiterzuschreiben. Dessen
Sinn als solcher nicht vorgegeben ist, sondern erst durch die Interpre-
tationsarbeit der jeweiligen Leser geschaffen wird und somit prinzipiell
pluralistisch ist. Deleuze, Guattari und Barthes beschreiben damit

44 Friedrich Nietzsche, KSA (Anm. 7), Band 2, S. 11.


45 Thierry Maulnier, Nietzsche, Paris: Gallimard 1925, S. 19.
46 André Glucksmann, Descartes, c’est la France, Paris: Flammarion 1978.
128 Angelika Schober

Vorgehensweisen, die Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemßen Betrach-


tung für den Umgang mit Geschichte empfiehlt (und damit implizite für
die Beschäftigung mit Texten jeglicher Art). Sein Mißtrauen gegenüber
dem Anspruch Rankes, den jeweiligen Epochen durch ein Herausar-
beiten ihrer Besonderheiten „gerecht“ zu werden, ist zusammengefaßt
in der Ansicht, der Historismus verwandle die römische Sentenz Fiat
justitia, pereat mundi in die Forderung „Fiat veritas pereat vita“.47 Im
Gegensatz dazu fordert Nietzsche einen kreativen Umgang mit histo-
rischen Fakten und Texten. Sie sind mit Hilfe der „plastischen Kraft“ –
in welcher sich der Wille zur Macht ausdrückt – zu einer Sinneinheit zu
verbinden, die den Erfordernissen des „Lebens“ entspricht, das heißt
den jeweiligen Interessen derer, die sich mit ihnen beschäftigen48 : „In
dieser Weise die Geschichte objectif denken ist die stille Arbeit des
Dramatikers; nämlich Alles aneinander denken, das Vereinzelte zum
Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, dass eine Einheit des
Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darinnen sei..“
Er selbst verfährt auf diese Weise in seinem Umgang mit Autoren: Sie
interessieren ihn nicht als Philologen, sondern als ,Künstler’, er versucht
also nicht, ihnen ,gerecht’ zu werden, sondern nutzt sie für sein eigenes
Denken, ohne daß ihm „unverdaute Wissenssteine im Magen rum-
peln.“49 Das damit verbundene perspektivische Schreiben ist besonders
geeignet, prädisponiert, für eine ,offene’ Lektüre. So daß immer wieder
neue Leser an unterschiedlichen Stellen seiner Texte den Kopf heben
und im Sinne Roland Barthes sagen „Ah, Åa c’est pour moi“ – das ist für
mich50 –, das Rad der Nietzscherezeption sich also immer weiter dreht
und andere „wahre“ Nietzsches zu Tage gefördert werden.
Die eingangs erwähnten Kommentatoren Bernhard H. F. Taureck
und Jean Pierre Faye heben in der Tat den Kopf an unterschiedlicher
Stelle, wenn sie ihr vollkommen verschiedenes Nietzschebild zeichnen,
obwohl sich mit der gleichen Thematik beschäftigen – Nietzsches

47 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 272. Siehe hierzu meinen Artikel „L’art de l’histoire selon
Nietzsche“, in: Etudes Germaniques n8218, April-Juni 2000, S. 231 – 234.
48 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 290.
49 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben, KSA
(Anm. 7), Band 1, S. 272. Mit diesem Bild kritisiert Nietzsche die Bildungs-
bürger.
50 Roland Barthes, „Ecrire la lecture“, in: Essais critiques IV. Le bruissement de la
langue, Paris: Editions du Seuil 1984, S. 21 – 31, hier S. 30.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 129

Verhältnis zum Faschismus.51 Ihre Studien – Nietzsche und der Faschis-


mus. Ein Politikum sowie Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre – konzen-
trieren sich weitgehend auf andere Aussagen Nietzsches, ihr Blick ist
geleitet von unterschiedlichen Erkenntnisinteressen. Jean Pierre Faye
zufolge kommt es darauf an, „Nietzsche von der Sprache des Krieges zu
befreien, die er bekämpft,“52 Taureck hingegen möchte zeigen, daß
Nietzsche „nie einen Zweifel“ aufkommen ließ, worum es ihm poli-
tisch ging – „um Endlösungen zur Sicherung dessen, was bisher ver-
borgen und verschwiegen wurde: Sicherung der Ungleichheiten der
Menschen.“ Er stellt ein „Gegenideal“ Nietzsches fest, welches heißt:
„Sklaverei, Rangordnung, Kastenordnung, Machiavellismus, Krieg.“
Und fügt hinzu: „Damit sind wir mitten im Faschismus.“53 Die Be-
zeichnung „Protofaschist“ sei insofern gerechtfertigt, als Nietzsche „eine
Vernunftkritik betreibt, die […] zu einer dauernden Teilung der Gesell-
schaft mittels Gewalt führt“.54 Diese Aspekte kommen bei Faye nicht
zur Sprache, er konzentriert sich auf andere Textstellen: vor allem
Nietzsches Kritik des Nationalismus, sowie seine ablehnende Haltung
gegenüber dem Antisemitismus, die in dem Satz gipfle: „Welche Er-
leichterung, unter Deutschen einen Juden zu treffen.“55 Aus ihm wollte
Faye während der Besatzungszeit ein „Plakat“ machen, „welches den
antisemitischen Sätzen eines gewissen Drumont widersprochen hätte,
mit denen Dienststellen der Propagandastaffel die Mauern von Paris

51 Ein Arbeitsschwerpunkt von Faye ist der Faschismus: Langages totalitaires, Paris:
Hermann 1972; Le Pige,
La philosophie heideggerienne et le nazisme, Paris: Ballard 1994; ders., Le langage
meurtrier, Paris: Hermann 1996.
52 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 1.
53 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 14.
54 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 225. Er ver-
steht Nietzsches Bezug zum Faschismus nicht als ein Verhältnis von Denker zu
Täter, konstatiert vielmehr einen gewissen „Schwebezustand“ (S. 29), wenn
sich Theoretiker des Faschismus in Italien (Mussolini, Gentile, Evola) und
Deutschland (Steding, Rosenberg, Goebbels) auf ihn beziehen (S. 32).
55 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 97. Der Anti-Antisemi-
tismus Nietzsches wurde auch unterstrichen von Sarah Kofman, die bedauert,
daß die „aktuelle Mode“ eher zugunsten eines Antisemitismus von Nietzsche
entscheide. Le mpris des juifs. Nietzsche et les juifs, l’antismitisme, Paris: Galilée
1994, S.12. Siehe zu dieser Thematik auch Arno Münster, Nietzsche et le na-
zisme, Paris: Editions Kimé 1995.
130 Angelika Schober

bedeckten“; eine Absicht, die er als „nietzscheanischen Widerstand“


bezeichnet.56
Sowohl Faye als auch Taureck streiten nicht ab, daß es bei Nietzsche
auch Textstellen gibt, die ihrer jeweiligen Interpretation entgegenlau-
fen, doch die Gewichtung dieser Fundstücke ist verschieden. Taureck
nimmt „zwei Stimmen Nietzsches“ wahr, jene Montaignes, des Skep-
tikers, die das ,normentbundene Individuum’ aufwertet, und jene
Machiavellis, des skrupellosen Machttheoretikers57, meint aber, jene
Montaignes sei deutlich schwächer und werde überwunden, ebenso wie
Ansätze eines „Pazifismus“. Letzterer stelle „eher eine Bestätigung der
nihilistischen Vernunft“ dar – wie Nietzsches Kritik am Buddhismus
zeige, denn eine Position, die es erlaube, den Nihilismus zu überwin-
den. Und was die Kompilationen durch die Schwester betrifft, so ändere
sie nichts an Nietzsches Grundüberzeugungen. „Wenigenherrschaft“
und „Versklavung der übrigen Menschen“ haben „nicht erst der
Nachlaß oder gar die Zusammenstellung ,Der Wille zur Macht’ zutage
gefördert oder so erscheinen lassen. Es steht […] in der 1886 veröf-
fentlichten Schrift Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie
der Zukunft § 258.“58 Für Jean Pierre Faye hingegen haben Colli und
Montinari den ,Willen zur Macht’ in das verwandelt, „was er tatsächlich
ist“, das „Tagebuch eines Reisenden“, in welchem Skizzen aufeinander
folgen, ohne daß sich daraus ein Programm ableiten ließe. Was die Tafel
29 aus Also sprach Zarathustra betrifft, so verschweigt Faye nicht, daß –
wie Poliakov in seinem Werk Le Troisime Reich et les Juifs schreibt –
Nietzsches Satz „Gelobt sei, was hart macht“ auf Himmlers Anordnung
in Diensträumen der SS hing. Doch dies ist für Faye nur „die Figur des
toten Nietzsche, die von seiner Schwester geschaffen wurde“, die
folglich übergangen werde dürfe, ja müsse. Denn „der lebendige
Nietzsche wird in der Lage sein, diesen Augenblick des gefährlichen
Paragraphen 29 zu überwinden.“59 Sowohl Faye als auch Taureck fin-
den also bei Nietzsche etwas, was er ,überwindet’ und was deshalb als
unwesentlich angesehen werden darf; dabei handelt es sich jeweils um
den entgegen gesetzten Aspekt seines Denkens. Beide möchten nicht

56 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 97. Faye grenzt sich auch
gegen Heidegger ab, dessen „Deutung Nietzsches als Denker der nihilistischen
Metaphysik in Widerspruch zu jedem Satz Nietzsches“ stehe (S. 49).
57 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 16.
58 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 233.
59 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 107.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 131

anerkennen, daß Nietzsche die verschiedenen Figuren immer wieder


durchspielt, sie manchmal sogar parallel behandelt, ohne sich endgültig
für die eine oder andere Möglichkeit zu entscheiden. Und daß gerade
diese Unentschiedenheit und damit Unentscheidbarkeit Nietzsche zum
eigentlich (post)modernen Denker macht, der keinen festen Standpunkt
mehr kennt. Würde man Nietzsches „Pazifismus“ neben seinem
„Protofaschismus“ gelten lassen, so wäre dies Taureck zufolge nicht
zureichend. Denn die Öffnung zum Faschismus wäre dann nur eine
„Teilwahrheit“, und Teilwahrheiten seien „obgleich Zahlungsmittel
wissenschaftlicher Forschung unbefriedigend.“60 Aber Teilwahrheiten
sind wohl auch die Folge des Perspektivismus Nietzsches. Weder
Taureck noch Faye – wie die meisten Nietzscheleser – möchten aner-
kennen, daß Nietzsches Besonderheit wahrscheinlich auch darin be-
steht, daß sich sein Denken nicht eindeutig bestimmen läßt. Daß
Nietzsche zugleich auch das Gegenteil mitdenkt – und dies in seinen
verschiedenen Schaffensperioden, ohne daß es je zu einer Auflösung der
Gegensätze käme. Daß seine ,Wahrheit’ in der Pluralität und der Wi-
dersprüchlichkeit liegt und somit jede Interpretation, die ihn auf eine
einzige und eindeutige Position festlegen möchte, eine unbefriedigende
Teilwahrheit darstellt. Jean Pierre Faye schreibt zurecht: „Nietzsches
Dialektik ist paradox, aber fein. Sie sucht die Widersprüche, aber statt
dies auf die Weise Hegels zu tun, als Bewegung, die immer zu ihrer
Aufhebung führt, wird jeder Widerspruch als Ereignis wahrgenom-
men.“61 Dies hindert Faye jedoch nicht, daß auch er in seiner Inter-
pretation das Widersprüchliche von Nietzsches Denken auszuklammern
sucht und nur die eine Seite gelten lassen möchte – den für ihn
„wahren“ Nietzsche, welcher dem Krieg den Krieg erklärt. Und wenn
er in seinem weiteren Nietzschebuch mit dem Titel ,Nietzsche und
Salomé. Die gefährliche Philosophie’ schreibt, in Nietzsches „Hölle
seines Willens zum Widerspruch“ und seiner „negativen Philosophie
der ,wahren Welt’ gebe es „keine Möglichkeit für einen wahren
Nietzsche“,62 so sucht er gleichwohl nach einem Prinzip, den wahren
mit dem falschen Nietzsche („Nietzsche ,faux’“ und „le ,vrai’ Nietz-
sche“) so zu verbinden, daß eben doch der für ihn wahre Nietzsche

60 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 223.
61 Faye, Le vrai Nietzsche. Guerre  la guerre (Anm. 1), S. 49.
62 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse, Paris: Grasset
2000, S. 82.
132 Angelika Schober

herauskommt: dank der Umwertung aller Werte als Ausdrucks des


Willens zur Macht.63
Wie in einem Ballspiel findet sich Nietzsche einmal auf der einen,
dann wieder auf der anderen Seite. Wobei die ,Seiten’ nicht gleichbe-
deutend sind mit Frankreich oder Deutschland, da er auch in beiden
Ländern immer wieder die Seite wechselt. Taurecks Antwort auf den
„französischen Nietzscheanismus“ wurde ansatzweise auch in Frank-
reich gesucht. In einem 1991 veröffentlichten Sammelband mit dem
Titel ,Warum wir keine Nietzscheaner sind’64, oder von Alain Clément,
dessen Essay Nietzsche und sein Schatten von einer „Psychose der Ent-
schuldigung“ seitens der französischen Nietzschekommentatoren der
sechziger und siebziger Jahre spricht, welche mehr Ausdruck eines
„schlechten Kollektivgewissens“ sei als „Anstrengung einer intellektu-
ellen Säuberung“. Ist es „Mißverständnis, Zufall oder Übereinstimmung
im wesentlichen, daß Nietzsche den großen Krieg herbeisehnte“65 fragt
er und fügt hinzu – ganz im Sinne Löwiths, ohne ihn zu zitieren66 –
man könne ähnliche Konsequenzen von Hitlers Ideologie und Nietz-
sches Denken nicht leugnen67, besonders die Bereitschaft, „alles bis zum
endgültigen Zusammenbruch zu treiben“.68 Man kann mit Taureck von
einem „Schillern Nietzsches“69 sprechen, sollte dabei aber bedenken,
daß dieses Schillern sich wohl kaum zu einem klaren Licht zurechtin-
terpretieren läßt. Es vielmehr als Ausdruck dessen verstehen, daß sich
Nietzsches Denken, mit Zarathustra gesprochen „auf die Schiffe“ be-

63 Jean Pierre Faye, Nietzsche et Salom. La philosophie dangereuse (Anm. 62), S. 273.
64 Luc Ferry/Alain Renaut (Hrsg.): Pourquoi nous ne sommes pas nietzschens, Paris:
Grasset 1991.
65 Alain Clément, Nietzsche et son ombre. Essai (1958), Bourges: Amor fati 1989,
S. 13 f.
66 Löwiths Nietzscheinterpretation fand bislang, anders als jene Heideggers, in
Frankreich nur ein geringes Echo, obwohl seine beiden wichtigsten Arbeiten zu
Nietzsche übersetzt wurden. Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des
Gleichen (1934), aus dem Deutschen übersetzt von Anne-Sophie Astrup,
Nietzsche. Philosophe de l’ternel retour, Paris: Calman-Lévy 1991; ders., Von
Hegel zu Nietzsche. Der revolutionre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941),
aus dem Deutschen übersetzt von Rémi Laureillard, De Hegel  Nietzsche, Paris:
Gallimard 1969.
67 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“, KSA
(Anm. 7), S. 58.
68 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Bçse, „Völker und Vaterländer“ , KSA
(Anm. 7), S. 9 f.
69 Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Ein Politikum (Anm. 2), S. 34.
Man findet bei Nietzsche, was man sucht 133

gibt, also nirgends fest verankert ist und auch keine Verankerung sucht.
Daß Nietzsche vielmehr, wie Bataille schreibt, die verschiedensten
„Möglichkeiten des Menschlichen“ durchspielt, und im Namen eines
sich „bewegenden Wertes“ spricht, dessen Ursprung und Ziel nicht zu
fassen sind: „Kein Weg führt in die gleiche Richtung“70 So daß Fol-
getexte entstehen, welche in die unterschiedlichsten Richtungen wei-
sen, man also bei Nietzsche letztlich finden kann, was man sucht.

70 Georges Bataille, Sur Nietzsche. Volont de chance, Paris: Gallimard 1945, S. 141.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de
Mithra
Anatoly Livry

En lisant le journal de Claudel, dramaturge, poète et diplomate français,


il est difficile de ne pas remarquer son aversion pour la pensée
nietzschéenne, aversion qui va des accusations de folie aux injures
ouvertes. Très certainement, aucun Allemand, même Luther, n’eut à
subir autant de manifestations de haine de la part de cet homme de
lettres.1
Mais que se cache-t-il véritablement derrière le rideau de cette
détestation? Où passe la frontière du rejet de la pensée nietzschéenne
entre Claudel-artiste et Claudel-homme? Puis, ce qui est plus impor-
tant, comment l’interprétation par Claudel de l’œuvre nietzschéenne
permet-elle l’explication des mystères remarquables de ses drames dont
lui-même s’obstinait à préserver le secret? Enfin, dans quelle mesure
peut-on considérer que Nietzsche a poussé Claudel vers sa conversion,
l’a guidé vers celle-ci? Tels sont les buts de nos travaux sur Claudel et
Nietzsche dont quelques thèses vous seront exposées dans cet article.
Mais d’abord voici quelques notes sur la genèse et l’évolution de la
représentation de Nietzsche et de tout son environnement, allemand,
«romantique», anti-chrétien2, dans l’imaginaire de Claudel. Ayant grandi
au lendemain de la guerre franco-prusse, dans un pays animé par l’esprit
de revanche, Claudel, comme de nombreux jeunes hommes de cette
époque, est amené à considérer tout ce qui est allemand – langue,
culture, pensée – comme émanant d’un ennemi qu’il faut connaître car,

1 Cf. par exemple, «Mein Kampf de Hitler – une des caractéristiques de l’esprit
allemand est la faiblesse des définitions et l’indifférence aux prémisses. La
logique remplacée par l’affirmation. La hideuse semence de Luther.». Paul
Claudel, J. II, 18 – 19 mars 1934, Paris: Gallimard 1969, S. 53.
2 Cf. par exemple, «À savoir les Voltaire, les Rousseau, les Renan, les Nietzche
[l’orthographe dont use Claudel habituellement <A.L.>], et toute la canaille
allemande. Aucun contact, aucune paternité de l’humble, sainte et profonde
nature. Ils se sont éloignés de la profonde nature.», dans: Paul Claudel, J. I,
Septembre – Novembre 1904, Paris: Gallimard 1968, S. 5.
136 Anatoly Livry

un jour, l’on sera amené à le combattre: «Le pays vit dans l’attitude de la
guerre. Depuis 1880, la guerre est certaine; elle est imminente […]»3,
écrira un condisciple de Claudel au lycée Louis–le–Grand, Romain
Rolland.
Cette nécessité de connaître pour vaincre se trouve également à
l’origine d’un phénomène plus intéressant qui est l’ouverture vers
l’Allemagne. Cela aboutira à la parution de la Revue wagnrienne et à
l’émergence de germanophiles tels que Barrès, Gide, et des personnages
comme Auguste Burdeau, traducteur de Schopenhauer, mais également
«homme en vogue», député prenant activement part au scandale de
Panama.
C’est Burdeau qui, après avoir été le professeur de Barrès à Nancy,
deviendra professeur à Louis–le–Grand où il enseignera à Claudel
l’œuvre de Schopenhauer. Le jeune Claudel n’a pas pu ne pas être
impressionné par cet homme dont l’impact puissant de l’enseignement
d’«un monde mauvais» de Schopenhauer aurait poussé l’un de ses
camarades au suicide, selon un autre de ses condisciples, Léon Daudet.4
C’est précisément à l’époque où le jeune Claudel exprime son
admiration pour Barrès et son «culte du moi», issu de la pensée
pessimiste de Schopenhauer, qu’il assiste, avec Romain Roland, aux
représentations des opéras-concerts de Wagner. Quant à la Revue
wagnrienne, elle lie indéniablement la création artistique et la pensée de
Schopenhauer: «La philosophie de Schopenhauer doit servir dorénavant
de base à toute culture intellectuelle et morale.»5 Voilà quelques brèves
remarques qui démontrent la familiarité de Claudel avec le monde
germanique duquel surgit Nietzsche.
Il est d’autant plus intéressant de considérer un désaccord, une
guerre, entre les deux artistes qu’ils s’en tiennent aux mêmes canons de
beauté et utilisent les mêmes armes pour l’affrontement. Ce qui unit
Nietzsche et Claudel, c’est leur étude profonde et continuelle de la
pensée, de la langue, de la tragédie grecques.
C’est lorsqu’il commence à préparer sa carrière de diplomate que
Claudel se met à consacrer son temps de loisir aux lettres hellènes sans

3 Romain Rolland, Le Cloître de la rue d’Ulm (1886 – 1889), Cahiers Romain


Rolland 4, Paris: Albin Michel 1952, S. 174.
4 Cf. Léon Daudet, Fantmes et Vivants, Paris: Nouvelle Librairie nationale 1917,
S. 130.
5 Richard Wagner, Beethoven in Revue wagnrienne, IV, 8 mai 1885, traduit par
Teodore de Wyzewa, Genève: Slatkine Reprint 1968, t. 1, S. 111.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 137

jamais se satisfaire de son niveau de connaissance. Voici ce qu’il


déclarera en 1935 dans La Nation Belge:
«J’ai pris goût à la littérature grecque au sortir du lycée à une époque où il
me fallait refaire toute mon éducation littéraire. Je me suis remis alors au
grec, en m’appuyant sur les œuvres d’un auteur aujourd’hui trop oublié, sur
Paul de Saint Victor.»6
A ce moment-là, Claudel se met à envisager sa traduction française de
L’Orestie qu’il travaillera jusqu’en 1920, année où il terminera ses Notes
sur les Eumnides.
C’est également selon le canon classique que Claudel rédigera sa
tétralogie comprenant les trois tragédies L’Otage, Le Pain dur, Le Pre
humili et qu’il comblera, par la comédie Prote, la lacune due à Chronos
dans la tétralogie d’Eschyle. Quant à TÞte d’Or, pièce à laquelle nous
consacrerons cet article, et dont la deuxième version fut rédigée par
Claudel en poste à Boston en même temps que le début de son travail
sur Agamemnon, elle est constamment parsemée de suspensions d’actes et
de paroles que des critiques considèrent inspirées d’Eschyle.
L’attache de Claudel au style et au mètre archaïques avait déjà été
remarquée par ses contemporains. N’est-ce pas pour cela qu’André
Suarès déclara dans sa lettre à Claudel en 1907:
«Il n’y a jamais eu, comme œuvre d’art, que chez les Grecs. Mon
admiration pour le grand Pindare vous est connue. La première Pythique,
chez les modernes, est de vous.»7
Même lorsqu’il ne s’agit pas de Claudel-poète mais de Claudel-politikon
zoon, ses penchants demeurent «classiques». Souvent, Claudel a des
jugements sur la société contemporaine et démocratique semblables à
ceux de l’helléniste-Nietzsche8, bien qu’exprimés avec moins de
véhémence. Par exemple, sa vision de la démocratie demeure identique
à celle de Platon pour lequel ce modèle était une porte ouverte à la

6 Paul Claudel, La Nation Belge , 26 mars 1935.


7 Lettre d’André Suarès à Paul Claudel du 24 juin 1907, in Andr Saures et Paul
Claudel, Correspondance 1904 – 1938, Paris: Gallimard 1951, S. 103.
8 «Wir, die wir eines andren Glaubens sind –, wir, denen die demokratische
Bewegung nicht bloß als eine Verfalls-Form der politischen Organisation,
sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine
Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung […].», zitiert nach: Friedrich
Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, Berlin – New York: Deutscher
Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, B. 5, S. 126.
138 Anatoly Livry

tyrannie9 ou, incompatible avec la «liberté» selon la conception du


Périclès de Thucydide.10
N’est-ce pas pour cela que Claudel, ancien ambassadeur de la IIIe
République en Europe, en Asie et en Amérique, voyant sa patrie
occupée par les Allemands (pour lesquels, d’ailleurs, il n’a aucune
sympathie depuis que Hitler a été appelé au pouvoir puisque dans
son Journal, il les appelle rarement autrement que les «Boches»11), décrit
dans ce même Journal, le 6 juillet 1940, ce qui est pour lui le premier
point positif de l’occupation et de l’installation de l’État Français:
«Espérance d’être délivrés du suffrage universel et du parlementarisme: ainsi
que de la domination méchante et imbécile des instituteurs qui lors de la
dernière guerre se sont couverts de honte. La restauration de l’autorité.»12
Claudel ne dissimule nullement ce qui constituerait idéalement pour lui
cette autorité: cela passe par le rétablissement de la monarchie, le
meilleur système social selon Aristote13, comme Claudel le déclare dans
sa lettre à Suarès envoyée de Prague en 1911:
«Moi aussi, je vous l’avoue, mes préférences vont à cette forme du
gouvernement [la monarchie; A.L.], mais à une monarchie revêtue d’un
caractère religieux et dont l’autorité est celle moins de la force que de la
persuasion, ,sicut unguentum quod descendit in barbam, in barbam
Aaron’.»14
Cependant Claudel semble être d’accord avec le Zarathoustra de
Nietzsche: «Es ist die Zeit der Könige nicht mehr: was sich heute Volk
heisst verdient keine Könige.»15, c’est pour cela qu’il refuse une certaine
marginalisation qui fut le destin de Nietzsche, il n’entre pas non plus en
résistance ouverte comme Maurras. Cela ne lui convient guère, tout
comme l’inactivité mallarméenne d’ailleurs. Claudel choisit une vie
active et productive comme Rimbaud, cet «épicier à Aden», personnage

9 Cf. Platon, La Rpublique VIII, 562 Q, Paris, Belles Lettres, traduit par Émile
Chambry, 1982 (1934), S. 33.
10 Cf. Thucydide, La Guerre de Ploponnse II, ch. 1.
11 «Les Boches m’en voulaient particulièrement»: Paul Claudel, J. II, Juillet 1940,
Paris: Gallimard 1969, S. 323.
12 Paul Claudel, J. II, Juillet 1940, Paris: Gallimard 1969, S. 321.
13 Cf. Aristote, Politique IV, 2, 26 – 30.
14 Lettre de Paul Claudel à André Suarès, Prague, 10 février 1911 in: Andr Saures
et Paul Claudel, Correspondance 1904 – 1938, Paris: Gallimard 1951, S. 160.
15 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin-New York: Deutscher
Taschenbuch Verlag de Gruyter 1988, B. 4, S. 263.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 139

admiré par Claudel aussi bien comme poète que comme homme.16
C’est quand son activité de diplomate lui laisse quelque temps de loisir
qu’il se consacre à la création:
«Du temps où je fréquentais chez Stéphane Mallarmé, celui-ci attristait tous
les jeunes hommes qui l’entouraient par la description de basses et lugubres
besognes où la nécessité de vivre réduisait l’artiste moderne. Mais quand
j’étais sorti de ce cénacle, j’étais tout surpris et un peu honteux de ne
ressentir devant ces besognes quotidiennes aucune parcelle de cet ennui et
de ce dégoût que mon devoir aurait été cependant d’éprouver. Tout ce que
je faisais, tout ce que j’étudiais, aussi bien le droit que les finances et les
questions commerciales, me semblait plein d’intérêt et de poésie.»17
Mieux encore, l’approche à la création, celle de Claudel comme celle
de Nietzsche, est identique – une création «corporelle» et dionysiaque qui
les «pénétrait», souvent lors de leurs promenades à travers la forêt.
Chez Nietzsche, on lit:
„Man hört, man sucht nicht ; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt;
wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form
ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren
ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstorm auslöst, bei der
der Stritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommes
Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner
Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen […]“18
Chez Claudel:
«Au rythme de la marche, mon esprit s’enivrait, je parlais tout haut, je riais,
les larmes me venaient aux yeux de sentir à ce point dans mes veines et tout
près de moi, la Vie. Un Soulier de Satin irréel voltigeait autour de moi

16 Cf. Paul Claudel, La Messe l-bas, Paris: NRF 1914, pp. 507 – 509 et «l’Absent
professionnel», Le Figaro, 12 février 1938.
17 Paul Claudel, Prambule  «Une promenade  travers la littrature japonaise», Paris:
1925, Pr., S. 1562.
18 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch
Verlag de Gruyter 1999, B. 6, S. 339; „On entend, on ne cherche pas ; on
prend, on ne se demande pas qui donne ; tel un éclair, la pensée jaillit soudain
avec une nécessité absolue, sans hésitation dans la forme. Je n’ai jamais eu à faire
un choix. C’est un ravissement dont la prodigieuse tension se soulage parfois par
un torrent de larmes, où nos pas, sans que nous le voulions, tantôt se précipitent,
tantôt se ralentissent ; c’est une extase imparfaite qui nous ravit à nous-mêmes,
en nous laissant la perception très distincte de mille frissons délicats qui nous
font vibrer tout entiers, jusqu’au bout des orteils […].“, in: Friedrich Nietzsche,
Ecce Homo in Œuvres, Paris: Éditions Robert Laffont 1993, traduit de l’allemand
par Henri Albert, t. 2, S. 1173. Nietzsche souligne.
140 Anatoly Livry

comme une mouette qu’escorte un bateau, un ’Bateau ivre’ et ’je devins un


opéra fabuleux’.»19
C’est donc tout en ayant une vision du beau et de la société humaine
fort proche de celle de Nietzsche que Claudel commence sa lutte contre
la doctrine du philosophe allemand et c’est à travers les mouvements de
cette lutte que son art se manifeste.
Il est nécessaire de préciser l’attitude de Claudel face à la religion à ce
moment-là. En 1886, il connaît une révélation et au Noël de 1889
(année de la disparition spirituelle de Friedrich Nietzsche), il tente de se
confesser, ce qu’il n’avait pas fait depuis des années. Quelques semaines
plus tard, il publie la première version de TÞte d’Or, drame qu’il
déclarera, durant toute sa vie, trop intime pour être porté sur scène.
Il est intéressant de souligner que, tout comme sa tentative de
conversion ne fut annoncée à aucun de ses proches, TÞte d’Or fut publié
anonymement: la démarche de Claudel-artiste accompagne donc la
démarche de Claudel-homme. C’est seulement à partir de 1890 que le
dramaturge retourne, ouvertement, à la pratique religieuse et voici ce
que Claudel a bien voulu dévoiler sur ce drame intime en 1919:
«Dans un pays dont il m’a paru inutile de préciser le nom, un aventurier
s’empare du pouvoir suprême que les faibles mains d’un monarque caduc
laissent échapper. Il le tue, chasse sa fille, la Princesse, qui s’en va errante et
mendiante sur les routes de l’exil, dompte l’émeute, et réunit autour de lui
toutes les forces ardentes et conquérantes de la jeunesse. Bientôt il se saisit
de toute l’Europe divisée et affaiblie avec autant de facilité qu’Alexandre
jadis de l’empire perse à son déclin, et voilà qu’il s’enfonce vers l’antique
Asie dont les déserts avoisinent le Caucase.»20
Oui, un pays mystérieux et aucun spécialiste de Claudel n’a depuis
prononcé le nom de ce pays! Mais grâce à Nietzsche, nous arriverions
peut-être à situer ce pays sur la carte et à rapprocher les événements se
déroulant dans le drame de faits réels de notre passé. Grâce à la vision
que Claudel avait de l’œuvre nietzschéenne, nous découvririons
également les nuances du combat spirituel de ce dernier, tel qu’il le
décrit lui-même, en citant Une saison en enfer de Rimbaud dans une de
ses lettres, «[…] aussi brutal que le combat des hommes […].»21

19 Paul Claudel, Novelles Rflexions sur le thtre, S. 209.


20 Paul Claudel, Confrence le 30 mai au Thtre du Gymnase in Notices pour TÞte
d’Or in Thtre I, Paris: Gallimard 1967, S. 1249.
21 Lettre à Byvanck du 30 juillet 1884 in Cahiers Paul Claudel II « Le Rire de Paul
Claudel », Paris: Gallimard 1960, S. 273.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 141

Pour répondre à ces questions, il serait souhaitable de se situer à


l’époque de la publication de TÞte d’Or, c’est-à-dire quelques années
après la parution de Also sprach Zarathustra, et ainsi essayer de définir la
démarche spirituelle qui peut se tramer dans le for intérieur d’un jeune
lettré français, baptisé (comme l’on dirait maintenant: «d’origine
chrétienne»), devenu, pendant quelques années agnostique, féru de
cultures hellène et allemande, admirateur de Wagner depuis 1884,
lecteur de la Revue wagnrienne évoquant la pensée allemande à maintes
reprises22 et, en même temps, sur le chemin de sa reconversion. C’est
cette conversion qu’il pourrait vouloir décrire dans son supra-personnel
TÞte d’Or, faisant de ses personnages les porteurs d’une doctrine
réellement existante et mettant son destin en parallèle avec celui du
christianisme occidental. TÞte d’Or pourrait être la réponse de l’artiste-
Claudel à l’artiste-Nietzsche, et dans cette réponse, Claudel utiliserait
des procédés familiers au philosophe allemand.
En effet, Nietzsche choisit, pour dire et chanter sa vision du monde
et sa «nostalgie du surhomme», un prophète perse pour la raison
suivante: selon lui, Zarathoustra est le premier prophète qui indique
clairement le limes séparant le bien et le mal: «Zarathustra hat zuerst im
Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der
Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als
Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk.»23
Pourquoi donc un Claudel qui répondrait à Nietzsche n’attribuerait-
il pas le rôle principal de TÞte d’Or à celui qui représenterait par
excellence ce Zarathoustra, obéissant de surcroît à la logique historique
et dogmatique évidente pour un homme pétri de culture antique?
Le vrai Zarathoustra du VI-ème siècle av. J.-C. prêchait la croyance
en une divinité nommée Ahura-Mazda qui plus tard absorbera un autre
dieu aryen, Mithra. Dans L’Avesta, Mithra, à peine crée, est présenté par
Ahura-Mazda à Zarathoustra.24 Les successeurs de Zarathoustra, véné-
reront un Ahura-Mithra, et, c’est à la veille de l’ère chrétienne que
Mithra-Soleil prendra une place prépondérante à Rome, très accueil-
lante envers les rites orientaux. Peu à peu, Mithra deviendra l’une des

22 «La philosophie de Schopenhauer doit servir dorénavant de base à toute culture


intellectuelle et morale.», in: Revue wagnérienne, mai 1885, S. 111.
23 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Smtliche Werke, Berlin-
New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, Band 6, S. 367.
Nietzsche souligne.
24 Cf. L’Avesta, X.
142 Anatoly Livry

divinités les plus importantes de l’empire, après quoi, son culte sera
institué par l’empereur Aurélien, avec des fêtes en son honneur, les Solis
Agon, la suite des Saturnales et dont la date dans le calendrier actuel serait
le vingt-cinq décembre. Ce Mithra de Rome serait donc un Antchrist
par excellence. Dès l’arrivée du christianisme, une rivalité entre les
disciples de Mithra et les prêcheurs de l’Evangile s’engagera.
Quant à Nietzsche, il connaissait fort bien cette lutte se déroulant à
Rome et, ce sont les péripéties de cette opposition spirituelle qui
l’avaient guidé lors de la création de Also sprach Zarathustra: n’est-ce pas
pour cela que, dans son autobiographie Ecce homo, le philosophe met en
italique le nom d’Aquila qui symbolise pour lui «l’anti-Rome chrétien»:
„[…] ich versuchte loszukommen, – ich wollte nach Aquila, dem Ge-
genbegriff von Rom, aus Feindschaft gegen Rom gegründet, wie ich einen
Ort dereinst gründen werde, die Erinnerung an einen Atheisten und
Kirchenfeind comme il faut, an einen meiner Nächstverwandten, den
grossen Hohenstaufen-Kaiser Friedrich den Zweiten.“25
La remarque de Nietzsche sur un «empereur – anté-Christ» arrive bien à
propos car il existait véritablement un empereur, de Rome cependant,
adversaire du christianisme et adepte de Mithra, dieu des successeurs de
Zarathoustra. Il s’agit de l’empereur Julien, arrivé au pouvoir en 361,
c’est-à-dire quarante-huit ans après l’édit de Milan.
Julien haïssait le christianisme représenté, pour lui, par son prédé-
cesseur, Constance II, assassin de ses parents. Bien avant d’accéder aux
fonctions suprêmes, Julien, général brillant de l’armée romaine, était
devenu disciple du mithriacisme. C’était l’époque où le culte de Mithra
était extrêmement répandu dans la légion au sein de laquelle des soldats
originaires de l’Asie s’étaient de plus en plus engagés – les mithraeums
couvraient alors l’empire, de la Perse jusqu’en Bretagne. Le rituel
d’initiation au culte du dieu solaire consistait en outre à être aspergé par
le sang d’un taureau immolé.
C’est lorsque Julien accède au pouvoir suprême à Rome qu’il
apostasie le christianisme de ses prédécesseurs et instaure le culte de
Mithra, entamant une réforme visant la réinstallation du paganisme, tout
en empruntant chez les chrétiens le système hiérarchique du clergé.
Cette installation à Rome, après le début de la gloire du christianisme,
du culte de Mithra, dieu de Zarathoustra, était connue de Nietzsche.

25 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, in: Friedrich Nietzsche Smtliche Werke, Berlin-
New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1999, Band 6, S. 340.
Nietzsche souligne.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 143

Dans les passages de ses œuvres traitant de l’antichristianisme, il évoque


Mithra et chacune de ces évocations se concentre autour de la relation
qui oppose Mithra à l’empire romain, nouvellement chrétien. C’est le
cas du 58ème chapitre de Der Antichrist, ainsi que de tout le paragraphe 71
de Morgenrçthe intitulé «Die christliche Rache an Rom». Le philosophe
parle de Mithra comme de l’ultime tentative du paganisme de chasser, à
cette époque, le christianisme, – o jaiq|r que les païens ont mal saisi par
les cheveux, pour reprendre l’image nietzschéenne.
N’oublions pas qu’outre ses capacités de général et d’administrateur,
Julien fut un écrivain de langue grecque raffiné; ses lettres-discours sont
des ouvrages de référence pour les hellénistes. L’un de ses discours
célèbres est intitulé Eir tom basikea gkiom, de Helios – Roi, dans lequel
l’empereur exprime son adoration de Hélios, «maître suprême» et
«médiateur»; il montre également une connaissance parfaite de ses
prédécesseurs, de Homère jusqu’à Plutarque et Macrobe.
Par ailleurs, il est quasi impossible d’imaginer que Claudel, lycéen à
Louis–le–Grand, lors des cours d’histoire romaine, n’ait pas entendu ses
professeurs parler de cet empereur-helléniste, brillant réformateur,
exerçant ses qualités à la gloire de Mithra. Quant aux ouvrages
largement accessibles paraissant à Paris quelques années avant la
rédaction de TÞte d’Or, nous pouvons mentionner Marc-Aurle d’Ernest
Renan26 ou la thèse de Jean Réville publiée en 1885 La Religion romaine
sous les Svres.27 L’intérêt déclenché par le personnage historique de
Julien ainsi que l’abondance des livres sur Mithra ont pu amener Claudel
à lire les discours de l’empereur apostat, ce qui plus tardivement, en
1953, le mènera à mentionner dans son Supplment  [son] livre sur
l’Apocalypse, en toute connaissance de cause, «l’impie Julien». Manifes-
tant une connaissance parfaite du cadre historique de la vie de Julien et
ses penchant spirituels, – connaissance familière aux écoliers –, Claudel,
parlant de l’empereur-«Antéchrist», mentionne les cultes asiatiques des
sacrificateurs du sang taurin tout en soulignant l’actualité de ces
pratiques avec une répulsion digne d’un Plutarque; les références puisées
dans le passé, par Claudel, pour son art, ne sont pour l’artiste que le
reflet de l’actualité et, TÞte d’Or a été, une pièce vibrante, vivante,

26 Ernest Renan, Marc-Aurle, Paris: Calmann-Lévy 1882, mentionne le mithria-


cisme sur les pages 575 – 580.
27 Jean Réville, La Religion  Rome sous les Svres, Paris: Ernest Leroux 1885,
mentionne le mithriacisme sur les pages 77 – 103 et l’empereur Julien, en
particulier, sur la page 102.
144 Anatoly Livry

contemporaine à son auteur et, à la fois, éternelle pour l’espèce


humaine:
«Puis ce sont les chasseurs et les sorciers qui essayent de s’introduire à
l’intérieur de l’animalité elle-même en soudant leurs tiges à des épanouis-
sements de rennes ou de bisons. Et combien de temps n’a-t-on pas vu
fonctionner en tant qu’idoles sur les parois de l’Égypte et de l’Assyrie des
animaux à têtes d’hommes et des hommes à têtes d’animaux? Quel écolier
ne se rappelle le Minotaure et toutes les fables de Jupiter et des autres dieux,
de ce sang bestial sous lequel l’impie Julien essaya d’effacer celui du Christ?
Encore actuellement dans la malheureuse Inde les animaux, du fait sans
doute, muets, de leur valeur purement représentative, ne sont-ils pas
investis d’un caractère sacré auxquels nos frères dégradés n’ont point honte
de subordonner leur propre existence?»28
L’helléniste Nietzsche lui aussi ne pouvait méconnaître l’existence des
discours de Julien qui se trouvaient, en effet, dans sa bibliothèque
privée.29 Quant à la connaissance concrète de l’œuvre de Julien, elle
transparaît notamment dans la lettre de Nietzsche à Carl Dilthey du 2
avril 1866.30
La fin de Julien est aussi digne d’intérêt que sa vie. Après avoir régné
pendant dix-huit mois, Julien à la tête de son armée en guerre en Perse
se fait tuer lors d’un combat. Fait remarquable! Son adversaire asiatique,
le roi Sapor, était, comme lui, adorateur de Mithra, dieu de Zarathou-
stra. Ainsi, l’Orient et sa divinité «originelle» aspirent, en quelque sorte,
leur serviteur occidental. Suite à la disparition de Julien, l’empire
redeviendra chrétien et bientôt, le christianisme sera proclamé religion
officielle de Rome.
Regardons maintenant ce qu’il se passe dans TÞte d’Or: à la cour
d’un pays, dit «inconnu», revient un général, sauveur aux cheveux d’or
d’un empire gouverné par un empereur déchu et affaibli par les luttes
démocratiques. Il tue l’empereur et, précise Claudel, s’asperge du sang
de sa victime, ce qui fait de nouveau penser à Mithra, souvent représenté
sous la forme d’un jeune homme à la face entourée des cheveux en

28 Cf. Paul Claudel, Supplment  mon livre sur l’Apocalypse in Le Pote et la Bible II,
1945 – 1955, Paris: Gallimard 2004, S. 1080.
29 Cf. Guiliano Campioni, Paolo d’Iorio, M-C. Fornari, Francesco Fronterotta,
Andrea Orsucci, Nietzsche personliche Bibliothek, Berlin – New York: de Gruyter
2003, S. 322.
30 Cf. Friedrich Nietzsche, Smtliche Briefe Kritische Studienausgabe, 2 avril 1866,
Berlin-New York: Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter 1986, B. 2,
S. 118.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 145

forme des rayons solaires, une divinité brillante31, étincelante32 et


immolant un taureau. Dans son ouvrage Au milieu des vitraux de
l’Apocalypse, Claudel parlera justement des immolations de taureau au
dieu Mithra, rapprochant la bête du Christ lui-même, d’un souverain
supra-pur capable de rassembler et, en même temps, de dominer ses
semblables:
«Sa beauté comme celle du taureau premier-né. Le Premier-né, c’est le
Christ dont il est écrit: Ex utero ante luciferum genui te. Le taureau, si
important dans les mythes et les religions de toute l’Asie, depuis l’Égypte,
depuis les Vedas jusqu’à Mithra, c’est l’animal pur, typique et intact, la force
vitale emmagasinée, la matière par excellence du sacrifice qui consiste à
offrir à Dieu ce qui vit et qui est capable de donner la vie, le taureau étant à
la fois force, travail, aliment et génération. C’est ainsi qu’il est écrit dans
l’Épître aux Hébreux : Si sanguis taurorum sanctificat. Le taureau est ce qui
ressemble, ce qui domine le troupeau et qui lui donne naissance:
Congregatio taurorum, dit le psaume 67, 31, in vaccis populorum. Sa chair est
la matière du rassemblement des fidèles et de leur communion. C’est ainsi
qu’il est dit dans la Parabole du Festin: Tauri mei et altilia mea occisa sunt et
omnia parata.»33
N’est ce pas pour cela que, dans TÞte d’Or, Claudel insiste sur l’acte du
sacrifice tel qu’il devait être accompli lors des rituels d’initiation au
mithriacisme: « Je l’ai sacrifié, / Et son sang a bondi sur moi, et il est
tombé à mes pieds, se tordant dans les convulsions de la mort.»34
Tête d’Or chasse les femmes de l’assemblée, étouffe les luttes
oligarchiques et démocratiques, évoque le soleil et part en guerre vers
l’Orient retraçant ainsi l’ultime chemin de l’empereur Julien. Personne
n’a osé contester son pouvoir: «il a l’armée [ce fief de Mithra dans
l’empire romain, A.L.] avec lui.»35, précise Claudel par la bouche d’un
oligarque.
Mais avant cela, Claudel laisse à l’Église incarnée dans le personnage
de la Princesse, fille de l’empereur «sacrifié», la possibilité de s’exprimer
pour, ensuite, se faire bannir de son pays.

31 Cf. L’Avesta, X, 44.


32 Cf. L’Avesta, X, 142, 143.
33 Paul Claudel, Le Pote et la Bible I, 1910 – 1946, Paris: Gallimard 1998, S. 277.
Claudel souligne.
34 Paul Claudel, TÞte d’Or in Thtre I, Paris: Gallimard 1967, S. 254.
35 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 235.
146 Anatoly Livry

Avant d’être chassée, elle lance un appel de justice et, à cette


occasion, elle invoque le soleil-Mithra, dieu de Zarathoustra: «Soleil,
regarde cet acte impie!»36
Souvenons-nous que le terme « impie » se rapporte à l’empereur
Julien dans les écrits postérieurs de Claudel.37
«Penses-tu m’étonner, jeune fille?»38, répond à ces reproches le
serviteur de Hélios-Roi. En effet, il s’agit d’une très jeune fille, de
l’Église récemment installée à Rome par Constantin Ier et, Tête d’Or,
concluant son discours à la Princesse, fait appel à sa gloire qui «[…] va
s’élever sur le monde comme l’arc-en-ciel.»39 ; arc-en-ciel – der
Regenbogen, une prémisse de l’ bermensch évoquée par le Zarathoustra
de Nietzsche40 que Claudel ne cesse de paraphraser tout au long de la
pièce, lui empruntant pour étendard jusqu’à ses symboles: l’aigle qui, au
lieu de porter autour de son cou la sagesse–serpent, serre entre ses griffes
un être humain. La bannière de Tête d’Or est, bien sûr, une image du
soleil en toute sa splendeur:
«Je ne sais, car jusqu’ici je me tenais toujours à son côté, quand il montait à
cheval, à l’heure suprême de la bataille,
Tenant la bannière où est peinte l’aigle noire et terrible
Qui s’élève vers le soleil, mais toute la bannière est de la couleur de l’or.»41
La conquête de Tête d’Or commence et, désormais, Claudel signalera, à
maintes reprises, l’emplacement du soleil-Mithra et ses différentes
couleurs lors de chaque mouvement mené par les guerriers de Tête
d’Or, et ceci jusqu’au moment ultime, c’est-à-dire le combat entre
l’Occident et, je cite Claudel, «[…] l’humanité antique venue au devant
de sa sœur […]»42, venue de l’Orient bien sûr.
C’est toujours le dieu des successeurs de Zarathoustra, «… rouge
[…] comme un Moloch […]»43, qui domine les deux armées adverses,
toutes deux parées de symboles du mithriacisme, ce qui réintroduit le
cadre historique de la dernière rencontre entre Julien et Sapor.

36 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 254.


37 Cf. Paul Claudel, Au milieu des vitraux de l’Apocalypse in Le Pote et la Bible I,
1910 – 1946, Paris: Gallimard 1998, S. 277.
38 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 254.
39 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 255.
40 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin – New York: Deutscher
Taschenbuch Verlag de Gruyter 1988, S. 128.
41 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 266.
42 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 274.
43 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 274.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 147

«Et au-dessus de nous, du soleil brillant la face enflammée.»44, ainsi


Cassius, bras droit de Tête d’Or, termine-t-il la description des armées.
Lors du combat, Tête d’Or, abandonné des siens, est blessé
mortellement45 – l’empereur Julien, rappelons-le, fut assassiné lors
d’une bataille contre les Perses, mais par un javelot romain.
«Que la révélation du soleil s’éteigne!»46, ainsi Cassius conclut-il les
lamentations sur Tête d’Or.
Fin de la gloire de Mithra chez Claudel!
Dès le commencement de la troisième partie du drame, la nuit
retombe, cette nuit précédant l’arrivée de Tête d’Or dans laquelle
«rayonnait» la Princesse. Et à travers le brouillard de la nuit, on
commence par distinguer la Grande Ourse, cette «Ourse du soir» qui,
selon l’un des centurions de la pièce, «a saisi le soleil entre ses pattes.»47
Dressant le décor de la partie finale, Claudel précise: «Toute la
hauteur de la scène est occupée par la constellation de la Grande Ourse,
qu’on distingue au travers de la brume.»48
Voilà le retour de l’Église, victorieuse d’Hélios-Roi, dieu des
successeurs de Zarathoustra, qui, depuis le début du drame, n’a jamais
cessé de veiller sur les personnages.
Car, pour Claudel, et je cite son Journal de 1904: «L’Église (est)
comparée à Arcturus (la Grande Ourse).»49 Une belle image offerte par
un helléniste. Référence à Héraclite l’Obscur pour lequel, la Grande
Ourse est, selon Strabon50, l’unique constellation qui, durant la nuit, ne
quitte jamais le ciel: «Les bornes de l’Aurore et du Soir: l’Ourse, et, en
face de l’Ourse, le gardien du Lumineux Zeus.»51
Cette analyse de TÞte d’Or, justifiée par l’influence de l’œuvre de
Nietzsche sur ses contemporains, permet également d’expliquer certains
moments du drame considérés jusqu’à présent comme «illogiques» mais
que Claudel s’obstinait à garder.
Voici le premier mystère: le monarque sacrifié par Tête d’Or porte
un titre impérial, il est «l’empereur David». Cependant, en lui prenant sa

44 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 275.


45 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 287.
46 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 276.
47 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 287.
48 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 257.
49 Paul Claudel, J. I, Novembre-Décembre 1904, S. 16.
50 Cf. Strabon, Gographie I, 1, 6.
51 Héraclite, Fragments, Paris: PUF 1986, traduit par Marcel Conche, S. 195.
148 Anatoly Livry

couronne, c’est le titre de Roi et non d’empereur qu’acquiert Tête


d’Or, titre qu’il conservera jusqu’à la fin de la pièce.
Par ailleurs, Claudel soutenait la thèse selon laquelle les Psaumes de
David étaient l’annonce des
vangiles prêchés par le descendant direct du
«Melech» et si l’empire romain, devenu récemment chrétien, et donc
par ce biais héritier de David, fut gouverné, pour un bref délai, par le
serviteur célèbre de Basileos-Helios, Hélios-Roi, n’est-ce pas pour cela
que Claudel peut offrir à ce dernier le titre du fameux discours de Julien
l’Apostat, prophète du dieu de Zarathoustra?
En revanche, lorsque la Princesse lui succède, selon la volonté de
Tête d’Or, elle est nommée par le roi – «reine» – et Claudel laisse son
héros paraphraser Rimbaud: «Mes amis, je veux qu’elle soit reine!»52
Chez Claudel, Tête d’Or s’adressant à ses lieutenants, on lit:
«Le Roi. – Qu’elle soit…
Le Commandant. – Qu’elle soit?
Premier Officier. – Quoi ? parle.
Le Roi. – R… Il meurt. […]
Deuxième Officier. – Il a dit Reine, je l’ai entendu.
Le Commandant. – ’Qu’elle soit Reine’.«53
Cependant, une fois Tête d’Or mort, la fille de l’empereur récupère, à
son tour, la couronne de son père, et est nommée, lors du sacre,
«Impératrice»54 : l’Église reprend donc l’empire à Simon Agnel qui, bien
qu’étant destiné à devenir «Pierre», était devenu le serviteur de Mithra,
donc apostat. Ainsi, tous les événements: le baptême, l’apostasie, la
réconciliation avec l’Église – repassant par un rude combat – retracent,
avec exactitude, le chemin spirituel de Claudel dans ce drame intime
qu’est TÞte d’Or. La mort de Tête d’Or–Julien l’apostat symbolise, sous
la plume de Claudel, car associant son parcours spirituel à l’histoire du
christianisme romain, la fin de sa propre tentation païenne.
Enfin, c’est le matin et «L’Occident […] blêmit»55, c’est par cette
phrase mystérieuse qui, depuis longtemps, étonne ses commentateurs
que Claudel termine son drame – en effet, à l’aurore l’Occident devrait
rougir. Cet épilogue trouverait maintenant son explication: immédia-
tement après la mort en Asie de Tête d’Or, ce serviteur et hypostase de

52 Arthur Rimbaud, Illuminations, Paris: Gallimard 1884 (1965), S. 165.


53 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 297. Claudel souligne.
54 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 301.
55 Paul Claudel, TÞte d’Or, S. 302.
Claudel contra Nietzsche ou l’ultime tentative de Mithra 149

Mithra, dieu des successeurs de Zarathoustra, l’Occident cesse d’être le


domaine de Hélios – Roi. Il pâlit.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die
surrealistischen Ideen oder: Die Verkörperung von
Nietzsches Ästhetik ist der Surrealismus
Miriam Ommeln

Bei meinem Vortrag dreht es sich vor allem darum, Friedrich Nietzsche
besser kennen zu lernen. Als Nietzsche genau im Jahre 1900 stirbt,
bricht zugleich ein neues Jahrhundert an. Und es ist die Zeit nach
Nietzsches Tod, mit der ich mich beschäftigen werde, weil seine Äs-
thetik erst im 20. Jahrhundert zur vollen Entfaltung gelangt ist.
Schon zu seinen Lebzeiten war Nietzsche der festen Überzeugung,
daß „es noch sehr viele Möglichkeiten giebt, die noch gar nicht ent-
deckt worden sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben.“1 So
sucht und findet Nietzsche den Ausgangspunkt einer neuen Entwick-
lung in Paris. Warum gerade in Paris? Weil dort Künstler wie z. B.
Delacroix und Baudelaire lebten. Vor allem Charles Baudelaire nimmt
eine Schlüsselrolle ein, weil er nicht nur der „erste intelligente An-
hänger Wagner‘s“2 war, wie Nietzsche meint, sondern weil er auch als
Vertreter der Spät-Romantik, die Nietzsche schätzte, von den Surrea-
listen rezipiert wurde.
Da es keine nennenswerte wirkungsgeschichtliche Beeinflußung
von Nietzsches Musikverständnis gibt, und Nietzsche zudem eine all-
gemeine, alle Künste umfassende, nicht nur die Musik betreffende,
Ästhetik schuf, werde ich nun darlegen, daß die surrealistische Bewe-
gung den Anforderungen von Nietzsches Ästhetik entspricht. Dies
werde ich in zwei Teilen tun, einem allgemeinen, der eine grobe
Übersicht über die Parallelen und Übereinstimmungen zwischen dem
Surrealismus und Nietzsche gibt, und einem spezielleren, der die tief-
gründige, philosophische Fundierung und Basis beider Theorien auf-
zeigt.
Als Ariadnefaden durch diesen Vortrag soll folgende wichtige
Aussage Nietzsches dienen:

1 Vgl. KSA 8, S. 101, 6 [11].


2 KSA 6, S. 288 (5).
152 Miriam Ommeln

„Ich habe es jetzt in der Hand, ich habe die Hand dafür, P e r s p e k t i v e n
u m z u s t e l l e n : erster Grund, weshalb für mich allein vielleicht eine
,Umwertung der Werte‘ überhaupt möglich ist.–“3

1. Teil

Eine erste Umwertung der Werte geht von Frankreich aus, als der
Psychiater Philippe Pinel als erster die Geisteskranken von ihren Ketten
und Käfigen befreit. So befindet sich Frankreich am Ende des 19.
Jahrhunderts – Nietzsche hält sich übrigens zeitgleich in Italien auf,
bzw. befindet sich schon in der Irrenanstalt – in seiner Glanzzeit der
Medizin. Themenkomplexe wie Hypnose, Traum, Unbewusstes und
die Psychiatrie selbst werden untersucht und neu definiert. Diese
Epoche der sogenannten „Schlafzustände“ wird von den Surrealisten
mit Begeisterung aufgenommen, und sie übernehmen die historische
Avantgardefunktion für die ästhetische Emanzipation der psychopa-
thologischen Ausdrucksformen.
Wahnsinn und Vernunft sind, genauso wie Traum und Wachzu-
stand, polare Gegensätze, bzw. die Surrealisten sagen dazu Antinomien,
die im surrealistischen Sprachgebrauch als „kommunizierende Röhren“
zusammengefasst werden. Die Gleichberechtigung von Gefäß und
Gefasstem, bei der das eine ohne das andere nicht sein kann, bezieht sich
auf sämtliche Gegensätze, wie z. B.: Subjekt und Objekt, Vergangenheit
und Zukunft, oder schlicht auf Realität und Surrealität.
Daß die Surrealität in der Realität bereits enthalten ist, sieht nicht
nur André Breton, einer der Gründer der surrealistischen Bewegung,
sondern auch Nietzsche, der wie die Surrealisten den antiken Kult der
Wahnsinnigen wiederentdeckt. Nietzsche ist der Überzeugung, daß
„fast alle bedeutenden Menschen wahnsinnig waren, und er überlegt
sogar, wie man sich wahnsinnig machen, bzw. stellen könne. Be-
schwörend schreibt er: „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmli-
schen! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube! Gebt Delirien
und Zuckungen, […].“4 Auch der Traum hat für Nietzsche eine
wichtige Bedeutung, da man „ohne den Traum keinen Anlass zu einer
Scheidung der Welt gefunden hätte.“5 Die Kritik, die Nietzsche an

3 KSA 6, S. 266 (1).


4 KSA 3, S. 28 (14).
5 Vgl. KSA 2, S. 27 (5).
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 153

diesem selbst geschaffenen Dualismus übt, ist die, daß man vergißt, daß
es nur auf die „Gesamtheit der hervorgerufenen Affektionen ankommt,
gleichgültig, ob sie auf Wahrheit oder Irrthum beruhen.“6 Der Traum
und die Wirklichkeit sind für Nietzsche komplementär, da nur die
Rolle der Phantasie, die man nach Nietzsche an die „Stelle des Un-
bewußten zu setzen hat“7 wichtig ist, da die Phantasie die Empfin-
dung und damit die Affekte beeinflusst. Mit dieser Auffassung könnte
Nietzsche ohne weiteres die surrealistische Unabhängigkeitserklärung
der Phantasie und der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit
unterschreiben. Doch was ist es, was die Kunst der Geisteskranken und
ihr paranoides Verhalten kennzeichnet, so daß Nietzsche es in den
Affekten wiedererkennen kann? Es kann nach Jacques Lacan mit dem:
„Ausdruck der wiederholten Identifizierung mit dem Objekt umschrieben
werden. Der Wahn zeigt sich an zyklisch wiederholten Trugbildern, an
einer endlosen, periodischen Wiederkehr der gleichen Geschehnisse und
zuweilen der Verdopplung der Person.“8
Den Paranoiker zeichnet einen Wiederholungszwang aus, der mit
einem Identifikationswunsch nach dem menschlichen Körper verbun-
den ist, und damit zu einer individuellen Typisierung seines Stils bei-
trägt. Genau diese Bestimmung nimmt Nietzsche vorweg, wenn er von
dem Charakter der höheren Menschen verlangt, daß sie ein „typisches
Erlebnis haben, das immer wiederkommt.“9, bzw. das sie am „einfachen
Aufbau und das erfinderischen Ausbilden und Ausdichten Eines Motivs
oder weniger Motive leicht zu erkennen seien.“10
Nietzsche definiert sein Begriffsverständnis von Ästhetik über den
Begriff der Wiederholung bzw. der Periode, so meint er z. B.: „alle
Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde.“11 Die Bedeutung der
Periode in Nietzsches Philosophie erkennt man auch daran, daß sie alle
wichtigen Begriffe seiner Philosophie bestimmt, so ist z. B. „der Wille

6 KGW V/1, S. 213.


7 Vgl. KSA 9, S. 446, 11[13].
8 Vgl. Jacques Lacan, „Das Problem des Stils und die psychiatrische Auffassung
paranoischer Erlebnisformen“, in: Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der
Phantasie und Erklrung der Rechte des Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte
Schriften, herausgegeben. von Axel Matthes und Tilbert Diego Stegmann,
deutsch von Brigitte Weidmann, München: Rogner & Bernhard 1974, S. 355.
9 Vgl. KSA 5, S. 86 (70).
10 Vgl. KSA 3, S. 203 (245).
11 KSA 6, S. 304 (4).
154 Miriam Ommeln

zur Macht eine Oszillation zwischen einem Ja und einem Nein“12,


Dionysos und Apollon unterscheiden sich, obwohl beide einen
„Rauschzustand darstellen, in ihrer Tempoverschiedenheit, der eine
Zustand ist explosiv, der andere eine Verlangsamung des Zeit- und
Raumgefühls, und beide überlagern sich zu einem dissonanten
Rhythmus. Der Begriff der ewigen Wiederkehr ist selbstredend. Dazu
kommt noch, daß Nietzsche meint: „Alle Kunst wirkt tonisch.“13
Dasselbe meint übrigens auch André Breton, wenn er sagt, daß das objet
trouve (Fundsache), ein Sonderfall des hasard objectif (objektiven Zufalls) „die
gleiche Aufgabe erfüllt wie der Traum“, nämlich den „Finder zu
kräftigen und Schranken zu überwinden.“14 Die Bezugnahme auf die
Physiologie verweist den Künstler zuallererst auf seinen eigenen Leib
und seine Affekte. So schaut der Mensch in seinen Kunstwerken und
„der Welt, die er sich selber geschaffen hat“ sich selbst und seinen
eigenen Gebärdenausdruck an. Sowohl Nietzsche als auch dem Sur-
realismus geht es um die Menschwerdung, um ein „Werde, der du
bist!“, wie Nietzsche gerne formuliert.15 Doch was empfindet der
Mensch, wenn er sich selber, quasi wie im Spiegel betrachtet? Sein
Spiegelbild wird ihm von einer starren Fläche zurückgeworfen und „er
erträgt es nicht“. Was er zu sehen bekommt ist etwas „Unverän-
derlich-Hässliches“, und das wird sofort „vergessen oder geleugnet.“16
Dieses starre, häßliche Abbild wirkt auf den Rezipienten, bzw. seine
Physiologie schwächend, oder mit einem populären Wort Nietzsches
ausgedrückt: décadent. Dieser Zustand ruft nach Nietzsche den „tiefs-
ten Hass, den es giebt“ hervor – aber, „um seinetwillen ist die Kunst
tief…“17 Das bedeutet u. a. das der Mensch überwunden werden soll,
bzw. das ein höherer Leib geschaffen werden soll. Die tonische Wir-
kung der Kunst bedingt, daß der Rezipient instinktiv und dynamisch
auf diesen Zustand reagiert, indem er sich lustvolle Illusionen und
Wahnvorstellungen schafft – selbstverständlich unter Ausschluss jegli-
chen Denkdiktats. Hat der Rezipient also diesem Rauschzustand – der ja

12 KSA 13, S. 260, 14 [80].


13 KSA 13, S. 296, 14 [119].
14 André Breton, L’amour fou (1937), Paris: Gallimard, deutsch von Friedhelm
Kemp, Suhrkamp 1975, S. 35.
15 Friedrich Nietzsche, KSA 4, S. 297. Und: André Breton, Manifests du Surralime
(1962, Neuauflage), Paris: Jean-Jacques Pauvert, deutsch.: Die Manifeste des
Surrealismus, Reinbeck: Rowohlt 1968, S. 14.
16 Vgl. KSA 2, S. 693 (316).
17 Vgl. KSA 6, S. 124 (20).
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 155

sowohl dionysisch als auch apollinisch sein kann 18 – nachgegeben, d. h. er


folgt jeglicher Suggestion wie Nietzsche sagt, bzw. ist bereit in jede
Rolle und Verkleidung zu schlüpfen, dann hat eine „Schönheits-Beja-
hung“ stattgefunden und folgender „Automatismus“19 wird in Gang
gesetzt:
„[…] Schönheits-Bejahungen r e g e n s i c h g e g e n s e i t i g a u f u n d a n ;
wenn der ästhetische Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisiert sich um „das
einzelne Schöne“ noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stam-
mender Vollkommenheiten. […] es ü b e r h ä u f t den Gegenstand, der es
erregt, mit einem Z a u b e r , der durch Association verschiedener Schön-
heits-Urtheile bedingt ist – aber dem W e s e n j e n e s G e g e n s t a n d e s
g a n z f r e m d ist. Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig
falsch empfinden . . .“20
Diese Methode der spontanen Assoziation und Identifikation von
wahnhaften Phänomenen im sinnstiftenden Gesamtzusammenhang
entspricht der paranoisch-kritischen Methode der Surrealisten. André Bre-
ton veranschaulicht diese Assoziationskette z. B. an einem Kristall, der
kristallisiert und durch seinen stereotypen Wachstumsprozess Assozia-
tionen hervorruft und zugleich systematisiert. Übrigens sieht auch
Nietzsche im Kristall „künstlerische Kräfte am Werke“21. Nicht zu
vergessen ist außerdem, daß die Paranoia nach Salvador Dalí auch eine
„stolze Selbstverherrlichung“22 darstellt, die in Analogie, das geschaute
Spiegelbild bei Nietzsche mit einem Zauber überhäuft. Die Verzau-
berung ist nach Nietzsche die Grundvoraussetzung aller dramatischen
Kunst.23 Dazu kommt, daß die erste und einzige Wahrheit, auf der alle
Ästhetik beruht, nach Nietzsche folgende ist: „Nichts ist schön, nur der
Mensch ist schön.“24
So kennzeichnet Nietzsche den tragischen Künstler auch als einen,
der „das Leiden als Lust empfindet“ und bejaht! Das bedeutet nach
Nietzsche und dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, daß man
„die Kräfte zum einen zum anderen nicht trennt – damit die Moral nicht

18 Vgl. z. B.: KSA 1, S. 71 (9.).


19 Vgl. z. B.: KSA 13, S. 356, 14 [170].
20 KSA 12, S. 555, 10 [167].
21 Vgl. KSA 7, S. 465, 19 [142].
22 Salvador Dalí, Comment on Devient Dal (1973), Paris: Opera Mundi, deutsch:
Memoiren, übersetzt von Franz Mayer, Wien München Zürich: Fritz Molden
1974, S. 11.
23 Vgl. z. B.: KSA 1, S. 61 (8).
24 KSA 6, S. 124 (20).
156 Miriam Ommeln

zur Giftmischerin des Lebens wird.“25 Nietzsche stellt hier die Per-
spektiven um, indem er die gesellschaftlich normativierte Moral zu-
gunsten der Ästhetik eliminiert. Und er bezeichnet sich damit als den
„ersten Immoralisten“. Es ist vom menschlichen Körper auszugehen, der
von außen und von innen zu studieren ist. Nietzsche fordert, daß man
zugleich mit „jenem fruchtbaren und furchtbaren Doppelblick in die
Welt sieht, welche alle grossen Erkenntnisse an sich haben.“26 Dazu
gehört nach Nietzsche z. B. das eine „Gesellschaft von Weisen, also die
Aesthetiker höchsten Ranges, sich wahrscheinlich das Böse und das
Verbrechen hinzuerschaffen würden.“27 Das Rätsel des Lebens, bzw.
des Leibes löst man nach Nietzsche nur, indem man die „heiligsten
Naturordnungen zerbricht“28 bis hin zur Selbstzerstörung, oder wie der
Surrealist Louis Aragon es formuliert: „Treibt den Gedanken der Zer-
störung der Persönlichkeit bis an seine äußerste Grenze, und über-
schreitet sie.“29
Das kann man nach Nietzsches Überzeugung erreichen durch:
Kreuzigungen, Tierkämpfe, insbesondere der Stierkampf, den er auch
selber besuchte, des weiteren Orgien und Feste, die nach Nietzsche
durch die „drei Elemente des Geschlechtstriebes, des Rausches und der
Grausamkeit“ gekennzeichnet sind, bis hin zur Selbstvergewaltigung als
Gefühl der Macht über sich, „eine Mischung dieser zarten Nuancen von
animalischem Wohlgefühl und Begierde ist der aesthetische Zu-
stand. Die Kunst ist ein Überschuss und Ausströmen von blühender
Leiblichkeit in die Welt der Bilder und Wünsche.“30 Des weiteren
gehört für Nietzsche auch der Inzest dazu, wie es der persische
Volksglaube sagt, und er damit auf seinen Zarathustra anspielt, oder
auch das griechische Beispiel der Ödipusschicksale, dieses im Plural
genannt, weil es nur eine der Masken des Dionysos darstellt. Diesen
extremen Aneignungswillen, das Überwinden von Hindernissen durch
den Willen zur Macht, bezeichnet Nietzsche als Einverleibung. Der

25 III, S. 652.
I, II, III = Werke in drei Bänden, herausgegeben von Karl Schlechta,
München: Carl Hanser Verlag 1965.
26 Vgl. KSA 6, S. 328 (6).
27 Vgl. KSA 9, S. 586, 12 [58].
28 Vgl. KSA 1, S. 66 (9).
29 Louis Aragon, Der Traum des Bauern, in: Als die Surrealisten noch recht hatten,
Texte und Dokumente, herausgegeben von Günter Metken, Stuttgart: Reclam
1976, S. 214.
30 Vgl. KSA 12, S. 393 f., 9 [ 102].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 157

Begriff der Einverleibung ist umfassend und bezieht sich auf die kon-
krete Auswahl von Nahrungsmittel, die bißfest und fleischlich sein
sollte, mit einem Wort eine Krieger-Kost, wie z. B. Lammfleisch. Des
weiteren betrifft die Einverleibung die gesamte Umwelt, bis hin zum
Kannibalismus, denn wie Nietzsche sagt: „Die Lust am Menschen ist
unserer Nahrung wegen nöthig –.“31 Ist der oder das Andere aber
unverdaulich – in Nietzsches Augen eine Schwäche des eigenen Magens
und des Willen zur Macht – bleibt eine Zweiheit übrig, die man
Scheinheiligerweise mit Nächstenliebe bezeichnet, oder als das Häßli-
che, das Eklige und die Exkremente. An dieser Stelle ist Nietzsches
Doppelblick der Perspektive wieder wichtig, da er das Unverdauliche
aufwertet und sogar allgemein behauptet: „Die neue Weltkonzeption:
[…] sie lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.“32
Nietzsche bezieht sich einzig auf den Leib des Menschen an sich, der
nur über seinen Leib verstanden werden kann. So betont Nietzsche, daß
der „Geist ein Magen ist“, bzw. Salvador Dalí formuliert: „die Geis-
tigkeit kommt aus den Eingeweiden.“33 Für Nietzsche und den Sur-
realismus gibt es nur eine „intelligente Sinnlichkeit“, zu deren vollen
Entfaltung sich das „Entfernteste und das Nächste paaren“ müssen, bzw.
allgemein: die Gegensätze sich verdichten müssen. Dies ist der Weg der
Menschwerdung, den die Surrealisten mit den folgenden Begriffen
bezeichnen: Koinzidenz, lyrisches Verfahren, auch als hasard objectif
oder einfach als die surrealistische Methode, deren gemeinsamer Nenner
der Königsweg der Erotik ist, wie Salvador Dalí sagt. Die Vereinigung
der Gegensätzlichkeiten ist bei Nietzsche schon in der Empfindung
selbst, die eine gegebene Urtatsache ist, angelegt, da sie aus „Anziehung
und Abstoßung zugleich“ besteht, außerdem meint Nietzsche: „Ich
habe nichts als Empfindung und Vorstellung.“34
Die Bändigung der Gegensätze mythologisiert Nietzsche in dem
Wort Dionysos, das folgendes bedeutet: „ich kenne keine höhere
Symbolik als diese griechische Symbolik, […] – der Weg selbst zum
Leben, die Zeugung, als der heilige Weg . . .“35 Nietzsche sagt klar
und deutlich: „Der Schönheitssinn zusammenhängend mit der

31 KSA 9, S. 315, 6 [450].


32 KSA, 13, S. 374, 14 [188].
33 Friedrich Nietzsche, vgl. KSA 4, S. 258 (16) und KSA 4, S. 158: „Wagt es doch
erst, euch selber zu glauben – euch und euren Eingeweiden!“ Und bei: Sal-
vador Dalí, Comment on Devient Dal (1973), dt.: Memoiren (Anm. 22), S. 175.
34 KSA 7, S. 674, 26 [11].
35 KSA 6, S. 159 f (4).
158 Miriam Ommeln

Zeugung“36 Der Schönheitssinn ist aber ein extremer, allumfassender


Einverleibungswille, der dabei eine Umwertung der Werte vornimmt.
Ganz analog zum Surrealismus, der sich als ein „neues Zeitalter des
Kannibalismus der Gegenstände“ versteht und mit Salvador Dalí for-
muliert: „Die Schönheit wird eßbar sein, oder gar nicht.“37 Aber wie
gesagt, der Schönheitsbegriff geht so weit, wie der Begriff des Menschen
selbst. So gibt es zwei Seiten desselben: das Innere des Menschen muss
umgewertet werden um einverleibbar gemacht zu werden: Nietzsche
sagt:
„Das a e s t h e t i s c h -Beleidigende am innerlichen Menschen ohne Haut –
blutige Massen, Kothgedärme, Eingeweide, alle jenen saugenden pum-
penden Unthiere – so formlos oder häßlich oder grotesk, dazu für den
Geruch peinlich! Also w e g g e d a c h t ! Was davon doch heraustritt, erregt
Scham (Koth, Urin, Speichel, Same) […]. Also: es giebt Ekel-erregendes;
je unwissender der Mensch über den Organismus ist, um so mehr fällt ihm
rohes Fleisch, Verwesung, Gestank, Maden zusammen ein. Der Mensch,
soweit er nicht Gestalt ist, ist sich ekelhaft – er thut alles, um n i c h t d a r a n
z u d e n k e n . – “38
Deswegen fordert Nietzsche: „Wir lernen den Ekel um !“39 Das
würde auch ganz gut zu den skatologischen Bildmotiven Salvador Dalí’s
passen. Auch das ußere des Menschen muss umgewertet werden,
indem der Oberflächlichkeit, dem schönen Schein und der Maske mehr
Bedeutung geschenkt wird. Denn zum apollinischen principium indivi-
duationis gehört die Wichtigkeit der Äußerlichkeiten, da diese verin-
nerlicht, bzw. die Innerlichkeiten sozusagen veräußerlicht werden. So
kommt der Ausbildung eines schönen, bzw. höheren Körpers eine nicht
zu unterschätzende Bedeutung zu.
An dieser Stelle sei zu den vorher, bisher nur implizit in meinem
Vortrag angedeuteten Bildmotiven, noch ein anderes mögliches Bild-
motiv Nietzsches hinzugefügt, nämlich das Aktbild – und zwar ver-
standen in seiner ursprünglichen Bedeutung des lateinischen actus, das
auf den Körper übertragen „Bewegung“ oder auch „Gebärde“ bedeu-

36 KSA 7, S. 467, 19 [152].


37 Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der Phantasie und Erklrung der Rechte des
Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte Schriften (Anm. 8), S. 225. Das ist
auch der Grund, warum im Wertesystem des Salvador Dalí die Gastronomie
ganz oben steht und der Friedrich Nietzsches ähnelt, weil Dalí auch alle wei-
chen, verkochten Stücke, wie die Schlaffheit des Spinates verabscheut.
38 KSA 9, S. 460, 11 [53].
39 Ebd.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 159

tet. Nietzsche verlangt: „die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die
Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle
Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“40 Der Körper muß in
Bewegung sein, mehr noch, in der Metamorphose inbegriffen sein, weil
Nietzsche das Seiende als eine „Phantasmagorie“41 bezeichnet, sowie als
Metamorphosen. An einer berühmten Stelle sagt er: „Die Metamor-
phosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln,
usw.)“ und weiter: „dem Werden den Charakter des Seins auf zu-
präge n – das ist der höchste Wille zur Macht.“42
Die Prägung des Seins in die ontologische Gegebenheit der Meta-
morphose hinein, stellt sich Nietzsche ganz konkret im Alltag so vor,
daß z. B. sämtliche Gebrauchsgegenstände mit einem Band an Muster-
wiederholungen geschmückt sind. Wichtig ist ihm eine „logische und
geometrische Vereinfachung“43, die das „Typische“44 eines „Gebär-
denausdrucks“ erkennen lässt.
Solch eine ornamentale Formenkette, in ihrer ewigen Wiederkehr,
sieht Nietzsche am Paradebeispiel des Teppichs verwirklicht. Des
weiteren an Vasen, ehernen Geräten usw. Die Formwiederholungen
spiegeln sich außerdem wieder in der Einhaltung von Conventionen,
Riten und Zeremonien, die in der Kunst des Festefeierns gipfeln. Die
Kleidung des Menschen soll nach Nietzsche „modisch“ sein wie in
„Frankreich“, und nicht „bummelig-incorrekt“, weil die „Kleider selbst
Götter machen“.45 Nicht zuletzt ist die Wiederkehr der Schrittfolge
beim Tanzen, wie z. B. dem griechischen Labyrinth-Tanz (auch Kra-
nichtanz genannt) von Bedeutung; sowie das Labyrinth selbst, ein zen-
traler Begriff Nietzsches, gesehen von oben als Graffiti-Zeichnung,
dessen Formelemente sich ständig wiederholen. Selbst die Gärten,
Häuser und die Architektur des Menschen soll labyrinthisch sein, da der
Mensch in sich selber spazieren gehen will.46
Genau diesen Denkansatz verfolgt auch der Surrealismus, insbe-
sondere Salvador Dalí, wenn er das Dandytum, die Haute Couture,
oder als Krönung der technischen Produktion und der Konsumgüter-
industrie die Möglichkeit und den Luxus des Feste-feierns preist. Dalí’s

40 KSA 1, S. 33 f (2).
41 Vgl. KSA 9, S. 435, 10 [E93].
42 KSA 12, S. 312, 7 [54].
43 KSA 13, S. 294, 14 [117].
44 Z. B.: KSA 12, S. 289.
45 Vgl. KSA 7, S. 686 f , 29[121 – 123], und KSA 9, S. 475, 11[95].
46 Vgl. z. B.: KSA 3, S. 525 (280).
160 Miriam Ommeln

Symbolik der Rhinozeroshörner, der Spiegeleier, der Brotkörbe, usw.


verweisen auf eine labyrinthische Ornamentierung, die nicht dionysi-
schen Ursprungs ist, wie Salvador Dalí sagt, sondern apollinischen, was
so viel heißt wie, als neuen Maßstab des Sehens, seinen eigenen zu
verwenden. Das Prinzip der Waren- und Konsumgüterästhetik beider
Philosophien beruht im Grunde auf dem Kannibalismus, der eine ge-
wollte Nivellierung des Fremdartigen darstellt. Das Gleichmachen er-
fordert ein Wiedererkennen, in dem sich der Mensch neu wiederfinden
und reidentifizieren kann, dafür werden Formen und Motive entspre-
chend vereinfacht und zwar solange, bis diese Antigeometrisierung zu
neuen Phantasieproduktionen führt. André Breton sagt kategorisch:
„Wiedererkennen, oder nicht wiedererkennen, bedeutet alles. Zwischen
dem, was ich wiedererkenne, und dem, was ich nicht wiedererkenne, da ist
mein Ich. Und was ich nicht wiedererkenne, werde ich auch in Zukunft
nicht wiedererkennen.“47
Dasselbe gilt für die Farbgebung der Bilder bei Nietzsche, der erst eine
Meisterschaft in einer Farbe verlangt z. B. des Weißen oder des
Schwarzen, und eine Auslotung sämtlicher Schattierungen und Opali-
sierungseffekte fordert. Also eine langsame Metamorphosenkette der
Farbe an sich. Dabei ist von den dunklen Farbtönen auszugehen. Von
der Methode des sfumato – so wie L. da Vinci malte. Von den Farbtönen,
die ganz allgemein dem Menschen entsprechen; Salvador Dalí sagt dazu
„Ekxrementenpalette“, die z. B. kein Grün, wie das der Natur zuge-
hörige, enthält. Allgemein gesagt: Die konvulsivische Formzermalmung
der ornamentalen Formenkette geht in Metamorphosen vor sich, die
eine sich ständig neu bildende Funktions-Einheit von Zerreißen und
Zusammensetzen ist. Dies liegt ursprünglich in der Vorrangstellung des
Auges und dem Vorgang des Sehens selbst begründet, so wie der Sur-
realismus und Nietzsche es annehmen. Der Surrealismus spricht von
einer „gequantelter Vibrationseigenschaft“ und davon, daß es ein
„Leiden am Nicht-identischen“ gibt, weil es nichts Gleiches gibt, nur
Ähnliches. Und daraus leitet sich das surrealistische Postulat des ewigen
Werdens ab. Das ewige Werden, die Metamorphosen sieht Nietzsche in
der Strukturbeschaffenheit des Sehnervs selbst begründet, der uns bei
geschlossenem Auge Muster vorgaukelt. Er meint:

47 André Breton, Der Surrealismus und die Malerei; in: Als die Surrealisten noch recht
hatten, Texte und Dokumente (Anm. 28) , S. 302.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 161

„Wir ertragen die L e e r e nicht. […]. Wir begnügen uns k e i n e n Au-


genblick mit dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das s p i e l e n d e V e r -
a r b e i t e n d e s M a t e r i a l s ist unsere fortwährende Grund-Thätigkeit,
Übung also der Phantasie. […]. Dieses spontane Spiel von phantasirender
Kraft ist unser geistiges Grundleben.“48
Ein Beispiel dafür ist für Nietzsche auch „das zufällige Zusammen-
treffen zweier Worte […] die der Ursprung eines neuen Gedankens
sind.“49 – entsprechend zum sogenannten lyrischen Verfahren der
Surrealisten. Doch wie kommt es zu der spontanen Verbindung von
irgendwelchen Phantasieobjekten? Also zu einer „Verdichtung der
Gegensätze“, wie es die Vexierbilder der Surrealisten verdeutlichen
wollen? Oder philosophischer ausgedrückt: Wieso sprechen die Sur-
realisten von einer „gequantelten Realität“? Nietzsche, der die Quan-
tenphysik nicht mehr erlebte, kennzeichnet diese Quanteneigenschaft
interessanterweise als „Sprung“eigenschaft. Nietzsche, als auch der
Surrealismus stellen sich die Frage nach Raum, Zeit und Kausalität. Die
Kausalität wurde vorher schon als kommunizierende Röhre, als Phan-
tasie, als Unbewußtes oder als Perspektivismus definiert. Bleiben also
Raum und Zeit übrig. Beide werden zu einer Raum-Zeit verknüpft,
indem die Zeitkoordinate in einem Raumpunkt lokalisiert wird. Das
bedeutet aber auch, da es die Annahme einer Welt des Werdens gibt,
daß nur noch die Zeitkoordinate übrig bleibt – mit der man die Welt
und den Menschen messen kann. Die Parolen des Surrealismus lauten
deswegen: „Erweckung der Statik“, „Die Zeit ist die eigentlich
wahnhaft surrealistische Dimension“, „Diese Dynamik gehört mir.“50
Nietzsche selbst spricht von „Zeitfiguren“ oder auch von „dyna-
mischen Empfindungspunkten“51, und bringt damit den perspektivis-
tisch-subjektivischen Kern der Zeit zum Ausdruck. Das Phänomen Zeit
ist in Nietzsches Philosophie ein nicht zu unterschätzender Faktor – er
ist der Faktor überhaupt! Warum? Weil man mit ihm die scheinbar
unterschiedlichen Aspekte in Nietzsches Philosophie mühelos zu einer
konsistenten Einheit integrieren kann.52 Deswegen – und weil das

48 KSA 9, S. 430, 10 [D 79].


49 Vgl. KSA 9, S. 17 (51).
50 Salvador Dalí, Unabhngigkeitserklrung der Phantasie und Erklrung der Rechte des
Menschen auf seine Verrcktheit. Gesammelte Schriften (Anm. 8, S. 263 und S. 389).
51 Vgl. KSA 7, S. 579, 26[12].
52 Eine umfassende, die verschiedensten Aspekte verbindende Interpretation
findet man bei: Miriam Ommeln, Die Verkçrperung von Friedrich Nietzsches
sthetik ist der Surrealismus, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1999.
162 Miriam Ommeln

Phänomen Zeit im Surrealismus auch eine zentrale Rolle innehat –


möchte ich jetzt gerne den allgemeinen ersten Teil verlassen, und mich
auf den zweiten Teil meines Vortrags konzentrieren, dem ich ganz
allein das Phänomen der Zeit widmen möchte. Dabei werde ich vor
allem die nachgelassenen Fragmente von Nietzsche hinzuziehen. Seitens
des Surrealismus werde ich zur Klärung des Zeitphänomens die sur-
realistische Erkenntnis- und Interpretationsmethode, nämlich die activit
paranoaque-critique, ins Felde führen, – obwohl sie auf den ersten Blick
nicht viel mit dem surrealistischen Zeitverständnis zu tun zu haben
scheint. Ich werde jetzt so tun als, ob ich von dieser paranoisch-kriti-
schen Methode noch nie etwas gehört hätte, um bei Nietzsche unbe-
lasteter und klarer seine Erkenntnis- und Interpretationsmethode dar-
stellen zu können, die sowohl Nietzsches eigene Vorgehensweise bei
der Bildrezeption betrifft, als auch seine allgemeine ästhetische Heran-
gehensweise. Da ich aber doch etwas von der kritisch-paranoischen
Methode gehört habe, werde ich für Sie unbemerkbar – einige sur-
realistische Wortbilder mit einfließen lassen. Unbemerkbar insofern,
weil Nietzsches Zitate sich oft nicht nur inhaltlich, sonder auch be-
grifflich und metaphorisch mit surrealistischen Aussagen decken. Vor
allem Salvador Dalí ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, der in
seinen Schriften von Nietzsche beinahe wörtlich abgeschrieben zu
haben scheint.53

2. Teil

Wir wollen uns jetzt dem zweiten Teil des Vortags widmen und
selbstverständlich unser Ausgangsmotto vom Perspektivenwechsel nicht
ganz vergessen. Nietzsches Bildmotive sind keine naturalistisch-realis-
tischen Darstellungen, sondern Vexierbilder. Die Bildelemente des
Rätselhaften, des Labyrinthischen, der Anamorphose, der Anthropo-
morphose und der Metamorphose sind für Nietzsche eine ästhetische
Notwendigkeit und zugleich ontologische Bedingung. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang nur kurz an die symbolträchtigen Stichwörter,

53 Mit dem Bild ,Nietzschens vers le haut‘ von Salvador Dalí, das Nietzsche, bzw.
die Nietzsche’sche Philosophie porträtiert, gelang es Dalí diese auf geniale und
äußerst prägnante Weise zu pointieren.
Dalí’s Bewunderung für Nietzsche reichte soweit, daß er ihm selbst in sei-
nem Bartschmuck gleichkommen wollte, mehr noch, ihn sogar übertreffen
wollte, und zwirbelt deshalb seinen eigen nach oben, dem Himmel entgegen.
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 163

wie: Ariadne, Maske, Täuschung, Perspektivismus, Umwertung der


Werte, Spiel – und lasse diese Aussage somit für sich stehen.
Dieses vexierhafte Element ist für Nietzsche die absolute Not-
wendigkeit um der Welt, „dem Werden den Charakter des Seins
auf zuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.“ und dazu
bedarf es der „zwiefachen Fälschung, von den Sinnen her und vom
Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden,
Gleichwertigen usw.“54
Die zweifache Täuschung ist naturgegeben und deswegen als eine
Gewollte gefordert. Die zweifache Täuschung, sowohl des kognitiven
Erkenntnisvermögens des Menschen, als auch des sinnlichen Ertastungs-
und Erfühlungsvermögens, wird auf eine einzige essentielle Täuschung
zurückgeführt, aus der sich alle weiteren Täuschungen ergeben, die sich
multipel fortpflanzen:
„Das Vervollständigen (z. B. wenn wir die Bewegung eines Vogels als
Bewegung zu sehen meinen) das sofortige A u s d i c h t e n geht schon in den
Sinneswahrnehmungen los. Wir formuliren immer g a n z e Menschen aus
dem, was wir von ihnen sehen und wissen. Wir ertragen die L e e r e nicht –
dies ist die Unverschämtheit unserer Phantasie: wie wenig an Wahrheit ist
sie gebunden und gewöhnt! Wir begnügen uns k e i n e n Augenblick mit
dem Erkannten (oder Erkennbaren!) Das s p i e l e n d e V e r a r b e i t e n d e s
M a t e r i a l s ist unsere fortwährende Grund-Thätigkeit, Übung also der
Phantasie. Man denke als Beweis, wie mächtig diese Thätigkeit ist, an das
Spiel des Sehnervs bei geschlossenem Auge. Ebenso lesen wir, hören wir.
[…]. Dieses spontane Spiel von phantasirender Kraft ist unser geistiges
Grundleben: die Gedanken e r s c h e i n e n uns, das B e w u ß t w e r d e n , die
Spiegelung des Prozesses im Prozeß ist nur eine verhältnißmäßige A u s -
n a h m e – vielleicht ein Brechen am Contraste.“55
Die Phantasie umspinnt das ganze menschliche Dasein und kreiert
lustvoll spielend die menschliche Lebensgestaltung in ihren individuel-
len und kollektiven Gewohnheiten. Der Schöpfungsprozess der Kultur,
verstanden als die Gesamtheit des vom Menschen Erschaffenen, lebt
ausschließlich durch den Mechanismus der Spontaneität. Das Erkenn-
bare, das an die Oberfläche des Bewusstseins gespült wird, wird durch
die Spontaneität, als dem bestimmenden Faktor der Phantasie, inter-
pretiert. Die Interpretationsmethode hat einen assoziativen, spontan-
aktiven Charakter. Das zufällig-assoziative Element hängt von dem je-
weiligen physiologisch-psychologischen Bezugsrahmen des dazugehö-

54 KSA 12, S. 312, 7[54].


55 KSA 9, S. 430, 10[D 9].
164 Miriam Ommeln

rigen Interpreten ab und konstituiert sich durch einen nicht hinter-


gehbaren Automatismus in Form von Wahngebilden und Täuschungen.
Die Phantasiegebilde – also das Erkannte und mögliche Erkennbare –
sind real und objektiv, da sie sich dem Rezipienten subjektiv anbieten
und spontan durch ihre Bewusstwerdung zur Kenntnis genommen
werden können, und damit einen authentischen Zustand des Rezipi-
enten verbürgen.
Diese aktive Spontaneität produziert keine Phantasiegebilde, son-
dern arbeitet sie aus dem vorhandenen Material des Erkennbaren her-
aus:
„Ein Mensch wird von uns nicht anders verstanden als durch die Hem-
mung und Beschränkung, die er auf uns ausübt d. h. als Abdruck in das
Wachs unseres Wesens. Wir e r k e n n e n immer nur u n s s e l b e r , in einer
bestimmten Möglichkeit der Veränderung; manche Menschen wirken
nicht auf uns, weil hier unser Wachs zu hart ist oder zu weich. Und zuletzt
erkennen wir die M ö g l i c h k e i t e n unserer Strukturverschiebung, nichts
mehr.
Ebenso steht der ,Mensch an sich‘ zu allen eterogenen Dingen: sie drücken
ihre Formen an ihm ab, so weit er sie annehmen kann, und er weiß nichts
von ihnen, als durch die Veränderung s e i n e r Form.“56
Die Interpretationsmethode der aktiven Spontaneität wirkt wie der
Belichter eines unsichtbaren Bildes, etwa eines Photonegativs, dessen
Formen und Farben langsam und unterschiedlich stark heraus gearbeitet
werden können. Bei der Entwicklung der Phantasie und der Imagina-
tion schreibt Nietzsche den Wissenschaften einen helfende Rolle zu, da
sie die Mittel bereitstellen um den Automatismus zur Produktion von
Wahnbildern und Illusionen zu katalysieren. Sie wirken wie eine fas-
zinierende Photographie, die es zu erreichen gilt:
„Die Wissenschaft kann durchaus nur zeigen, nicht befehlen (aber wenn
der allgemeine Befehl gegeben ist ,in welche Richtung?‘ dann kann sie die
Mittel angeben) den allgemeinen Befehl der Richtung kann sie nicht
geben! Es ist Photographie. Aber es bedarf der schaffenden Künstler: das
sind die Triebe!“57
Die Triebe des Künstlers wiederum werden durch seine Assoziations-
ketten und Illusionen bestimmt und gelenkt. Es sind seine „Struktur-
verschiebungen“, die ihn als Erkennenden aktiv beeinflussen. Nicht der
Erkennende erkennt, sondern er wird erkannt:

56 KSA 9, S. 305, 6[419].


57 KSA 9, S. 354, 7[179].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 165

„Wir können unsere ,geistige Thätigkeiten‘ ganz und gar als W i r k u n g


ansehen, welche Objekte a u f u n s ü b e n . Das Erkennen ist n i c h t die
Thätigkeit des Subjekts, sondern scheint nur so, es ist eine Veränderung der
Nerven, hervorgebracht durch a n d e r e D i n g e . Nur dadurch daß wir die
Täuschung des W i l l e n s herbeibringen und sagen ,ich erkenne‘ im Sinne
von ,ich will erkennen und folglich thue ich es‘ drehen wir die Sache um,
und sehen im Passivum das Aktivum. Aber auch das Wort Passiv-activ ist
gefährlich!“58
In diesem Sinne des Wortverständnisses von aktiv und passiv, lässt sich
bei Nietzsche von einem Schöpfungsprozess, denn nichts anderes ist
Erkenntnis, reden, als einem aktiven, spontanen Automatismus. Die
zweifache Täuschung betrifft primär nicht die traditionelle Unter-
scheidung der „Erkenntnisorgane“ Sinne kontra Verstand, sondern die
menschliche Selbsttäuschung bezüglich des Begriffes der Rezeption, aus
dem die nötige Selbsttäuschung der vermeintlich distinkten Erkennt-
nisorgane resultiert. Die Rezeption des Erkennenden, beziehungsweise
des „K ünstler-Philosophen“59 verlangt eine zweifache Täuschung
bezüglich seines kontemplativen Daseins, die ihn über die Bedeutung
und Gewichtung der komplementären Gegensatzpaare passiv-aktiv und
Sein-Werden illusionär hinweghilft und diese Illusionen wiederum
apologisiert. Die lustvolle Rezeption nötigt den Menschen zu einem
Verkennen der Wirklichkeit. Da es kein Sein gibt, nur ein Werden.
„Von den Werten aus, die dem Seienden beigelegt werden, stammt die
Verurteilung und Unzufriedenheit im Werdenden: nachdem eine sol-
che Welt des Seins erst erfunden war. […]. ,Das Seiende‘ als Schein“
und da die „Erkenntnis an sich im Werden unmöglich“ ist, muß es
durch ein Wahngebilde konstruiert (Entstehung der Abstraktion und der
Wissenschaften) und verinnerlicht (Moral) werden, denn „alle Lust will
aller Dinge Ewigkeit“ und dabei „ist die Kunst der Wille zur Über-
windung des Werdens, als ,Verewigen‘, […].“60 Ein weiteres Wahn-
gebilde entsteht durch die Konstruktion eines starren Subjektbegriffs –
nur in ihm kann sich der Wille zur Macht einen Augenblick lang
manifestieren und sich selbst spiegelnd erblicken, also in dem imagi-
nären Erschaffen eines Ist-Zustandes, eines apollinischen Seins.
Der Wille zur Macht ist eine beständige Metamorphose, die mit
dionysischer Urgewalt aktiv, aber sinn- und ziellos waltet und auf den
Menschen unbewusst einwirkt. Dieser eigentlich gewalttätige Akt nö-

58 KSA 9, S. 429, 10 [D76].


59 KSA 12, S. 89, 2[66].
60 Vgl. III, S. 895 f. und KSA 4, II (11).
166 Miriam Ommeln

tigt den Menschen zur Wahrung seiner Identität und Authentizität, eine
Bejahung seiner selbst ab, und damit eine Verkennung des Wirkauto-
matismus: der in sich komplementär gefassten Einheiten des Apolli-
nisch-Dionysischen, den Willen zur Macht:
„Alle ,Zwecke‘, ,Ziel‘, sind nur Ausdrucksweisen und Metamor-
phosen des Einen Willens, der allem Geschehen inhärirt: der Willen zur
Macht.“61 Was dem Menschen als Zweck, Ziel und Sinn erscheint, ist
nur Ausdruck seiner eigenen perspektivisch begrenzten Phantasie, und
nach Nietzsche nichts anderes als: „Zwecke-, Ziel-, Absichten-haben,
wollen überhaupt, ist so viel wie Stärker-werden-wollen, Wachsen-
wollen – und dazu auch die Mittel wollen.“62 Solchermaßen bildet
und durchwebt der Wille zur Macht durch seine Definition, bezie-
hungsweise sein Charakteristikum der Metamorphose, die ganze
menschliche Begriffs- und Vorstellungswelt, beziehungsweise seine
Kultur, Kosmogonien und Mythen:
„Der Prozeß aller Religionen und Philosophie und Wissenschaft
gegenüber der Welt: er beginnt mit den gröbsten Anthropomorphis-
men und hört ni e auf sich zu verfeinern. Der einzelne Mensch
betrachtet sogar das Sternensystem als ihm dienend oder mit ihm im
Zusammenhang. Die Griechen haben in ihrer Mythologie die ganze
Natur in Griechen aufgelöst. […]. Die Metamorphosen sind das Spe-
zifische.“63 Die Metamorphose präsentiert sich dem Menschen auf einer
tragischen Bühne, indem er selbst Schauspieler und Zuschauer zugleich
ist. Das Involviertsein in ein doppeltes Spiel, das zugleich Aktivum und
Passivum sein, treibt den Menschen zu einem permanenten Rollen-
wechsel, einem Vergessen und einer Selbsttäuschung – da er selbst das
Maß der Dinge und seiner selbst wird. „Das Sein selbst abschätzen !
Aber das Abschätzen selbst ist dieses Sein noch! – und indem wir nein
sagen, thun wir immer noch, was wir sind … Man muß die Absurditt
dieser daseinsrichtenden Gebärde einsehen; und sodann noch zu erra-
ten, was sich eigentlich damit begiebt. Es ist symptomatisch.“64 Die
Absurdität dieses sich selbst erschaffenden lebendigen Vexierbildes vom
Menschen selbst, eröffnet durch den metamorphen Vorgang neue
Werte und Perspektiven – neben dem Aspekt des ständigen Verwerfens
und der Zerstörung. Nietzsche meint:

61 Vgl. KSA 13, S. 44, 11[96].


62 Ebd.
63 KSA 7, S. 456, 19[115].
64 KSA 13, S. 45, 11[96].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 167

„Je tiefer man hineinsieht, um so mehr verschwindet unsere Wertschtzung


– die Bedeutungslosigkeit naht sich! Wir haben die Welt welche Wert hat,
geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der
Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist – und daß man, mehr als sie, die
bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat.
,Alles ist falsch! Alles ist erlaubt!‘. Erst bei einer gewissen Stumpfheit des
Blickes, einem Willen zur Einfachheit stellt sich das Schöne, das ,Wert-
volle‘ ein: an sich ist es ich weiß nicht was.“65
– So weit Nietzsches Bekenntnis.
Das Schöne an sich ist alles und nichts, es ist nicht (bestimmt) defi-
nierbar. Aus dieser Münchhausen-Situation rettet Nietzsche, der
überzeugte Ästhetiker, seinen Schopf, indem er einfach umdefiniert:
der Mensch ist schön. Nietzsches Sumpf der Bedeutungslosigkeit, in
dem er zu versinken drohte, wird von ihm zum Bedeutungsvollen
umdefiniert und der versinkende Mensch wird derart zum höheren
Menschen gesteigert:
„All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und einge-
bildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und
Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie.“66
Nach dem Rekurs Nietzsches und dem Zurückgeworfen-sein-auf-sich-
selbst, beziehungsweise dem Menschen an sich, kann Nietzsche seine
Definition der Ästhetik reformulieren:
„Die Welt ein ästhetisches Phänomen, eine Reihe von Zuständen am
erkennenden Subjekt: eine Phantasmagorie nach dem Gesetz der Causa-
lität… Das Theaterspiel, das das Subjekt sich selber spielt: es ist ein Wahn.
Die Geschichte ist eine Vermeintlichkeit – nichts mehr: die Causalität ein
Mittel, um t i e f zu träumen, das Kunststück, um über die Illusion sich zu
täuschen, der feinste Apparat des artistischen Betruges.“67
Nietzsches Begriff der Kausalität lässt sich inhaltlich mit der Funkti-
onsweise der Interpretationsmethode des assoziativen, spontan-aktiven
Automatismus füllen. Nietzsche schreibt:
„Ich vermuthe, daß wir nur sehen, was wir k e n n e n ; unser Auge ist in der
Handhabung zahlloser Formen fortwährend in Übung: – der größte Theil
ist nicht Sinneneindruck, sondern P h a n t a s i e - E r z e u g n i ß . Es werden
nur kleinen Anlässe und Motive aus den Sinnen genommen und dies wird
dann ausgedichtet. Die P h a n t a s i e ist an die Stelle des ,Unbewußten’ zu

65 III, S. 424.
66 KSA 13, S. 41, 11[87].
67 KGW V/2, S. 756.
168 Miriam Ommeln

setzten: es sind nicht unbewußte Schlüsse als vielmehr h i n g e w o r f e n e


M ö g l i c h k e i t e n , welche die Phantasie giebt (wenn z. B. Sousreliefs in
Reliefs für den Betrachter umschlagen).“68
Dieser Vorgang hängt entscheidend von der ausgebildeten Befähigung
zu phantasieren ab. Diese Ausbildung wird in einem bestimmten
Rahmen begrenzt sein und von den sozial-gesellschaftlichen Verein-
barungen reguliert werden. Diese Phantasieregulierung kennzeichnet
Nietzsche mit dem Etikett „ethischer Anthropomorphismus“69, bezie-
hungsweise nennt sie Moral. Wird die Grenze unbegrenzt, und räumt
damit den Instinkten einen größeren Raum ein, so spricht Nietzsche
von einer höheren Moral. Das Unbewusste der Instinkte, also die In-
stinktsicherheit alleine, verbürgt für Nietzsche, daß die „hingeworfenen
Möglichkeiten“ der Phantasmagorien vollkommen überblickt und er-
griffen werden können:
„Dem modernen Menschen fehlt: der sichere Instinkt […]. Das was eine
Moral, ein Gesetzbuch schafft: der tiefe Instinkt dafür, daß erst der Au-
tomatismus die Vollkommenheit möglich macht in Leben und Schaffen.“70
Die totale Ausschöpfung der menschlichen Fähigkeiten, das heißt seine
Vervollkommnung, kann nur durch einen automatischen Mechanismus
erlangt werden. Die Vollkommenheit selbst wiederum, ist dynamisch
und ein Phantasieprodukt – aber ein konsequent zu Ende Phantasiertes.
Bei Nietzsche beruht eine der großen anthropologischen Konstanten
und Voraussetzungen auf der Täuschung, beziehungsweise ihren
Wahnideen:“Die Ve rwechslung ist das Urphänomen“,71 und daraus
folgt konsequenterweise:
„Unsere ,Außenwelt‘ ist ein P h a n t a s i e – P r o d u k t , wobei frühere
Phantasien als gewohnte eingeübte Thätigkeiten wieder zum Bau ver-
wendet werden. Die Farben, die Töne sind Phantasien, sie entsprechen gar
nicht exakt dem mechanischen wirklichen Vorgang, sondern unserem
individuellen Zustande. – –“72
Der konkrete Ausgangspunkt und Katalysator der Phantasmagorien,
Illusionen, Metamorphosen und Vexierbilder ist die Form. Die Hülle.
Der Schein. Die Oberfläche und die Oberflächlichkeiten, also der so-

68 KSA 9, S. 446, 11[13].


69 vgl. KSA 7, S. 457, 19[116].
70 III, S. 697.
71 KSA 7, S. 487, 19[217].
72 KSA 9, S. 446 11[13].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 169

genannte „schöne Schein“ erlangt bei Nietzsche eine immense Be-


deutung, da er die verschiedenen assoziativen Möglichkeiten der
wählbaren Wahngebilde erscheinen lässt und sie, im ganzen betrachtet,
ganz nach Belieben mit einer inhaltlichen Bedeutung versehen werden
können. Individuell gesehen, entscheidet die Empfindung des Subjekts
über den Gehalt der Form. Den Begriff der Empfindung erklärt
Nietzsche so:
„Sobald man das Ding an sich e r k e n n e n w i l l , s o i s t e s e b e n d i e s e
W e l t – Erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und Sichmessen
an e i n e m Maße (Empfindung).“73
Diese Erklärung gipfelt in der Aussage: „Ich habe nichts als Empfindung
und Vorstellung.“74
Dieses Bekenntnis umfasst auch die sogenannte Realität: „Denn es giebt
gar nicht diesen Gegensatz von Materie und Vorstellung. Die Materie selbst
ist nur als Empfindung gegeben. Jeder Schluß hinter sie ist unerlaubt.“75
Für die Malerei gilt in diesem Sinne: „Der Realism in der Kunst eine
Täuschung. Ihr gebt wieder, was euch am Dinge entzückt, anzieht –
diese Empfindungen aber werden ganz gewiß nicht durch die realia
geweckt! Ihr wißt nur nicht, was die Ursache der Empf<indungen>
ist! Jede gute Kunst hat gewähnt, realistisch zu sein!“76 Reformuliert
man das Bekenntnis Nietzsches als Frage und betrachtet sie nun,
schleicht sich bei Nietzsche dennoch eine Vermutung ein, die die
Materie, beziehungsweise die Empfindung näher zu erklären versucht:
„Große Frage: ist die Empfindung eine Urthatsache aller Materie? An-
ziehung und Abstoßung?“77
Diese Antwort ist als Ambivalenz zu verstehen, in Analogie zu einem
Vexierbild, aus dem sich aus einer Oberfläche mehrere Seh-Varianten
herausbilden lassen. Die Anziehung und die Abstoßung bestehen
gleichzeitig und gleichberechtigt nebeneinander, und die eine ohne die
andere wäre nicht denkbar. Sie machen gewissermaßen den Hinter-
grund für die Reliefierung aus, die dann automatisch entsteht und eine
Empfindung beim Rezipienten herausschält und gewichtet:
„Das Schöne, das Ekelhafte usw. ist das ältere Urtheil. Sobald es die a b -
s o l u t e W a h r h e i t in Anspruch nimmt, schlägt das ästhetische Urtheil in

73 KSA 7, S. 465, 19[146].


74 KSA 7, S. 574, 26[11].
75 KSA 7, S. 575, 26[11].
76 KSA 9, S. 326, 7[46].
77 KSA 7, S. 466, 19[150].
170 Miriam Ommeln

moralische F o r d e r u n g e n um. Sobald wir die absolute Wahrheit l e u g -


n e n , müssen wir alles a b s o l u t e F o r d e r n aufgeben und uns auf ä s -
t h e t i s c h e U r t h e i l e zurückziehen. D i e s i s t d i e A u f g a b e – eine Fülle
ä s t h e t i s c h e r g l e i c h b e r e c h t i g t e r W e r t h schätzungen zu creiren: jede
für ein Individuum die letzte Thatsache und das Maaß der Dinge. R e -
d u k t i o n d e r M o r a l a u f A e s t h e t i k ! ! ! “78
Die Palette der Empfindungen an sich, sind bei Nietzsche alle gleich-
berechtigt, genauso wie die sie auslösende Oberfläche und ihr „schöner
Schein“. Der „schöne Schein“ ist bei Nietzsche so weit gefasst, daß er
alles Menschlicherdenkliche mit einschließt, auch das Häßliche,
Schreckliche und Abstoßende. Alle Empfindungen und ästhetische
Urteile können nur durch ihre ambivalente Struktur entstehen und
begriffen werden. Der inhärente Antagonismus der gegensätzlichen
Empfindungen führt zu einer permanenten Selbsttäuschung bezüglich
der jeweiligen anderen Empfindung, die in den Hintergrund tritt. Es ist
die „Vordergrunds-Optik“79, wie Nietzsche es nennt, und somit die
Empfindung anspricht und „überredet.“80 Der Ebenen- und Sicht-
wechsel in die Hintergrundsoptik, beziehungsweise deren Hervorhe-
bung entspricht Nietzsches bedeutungsschweren Begriff der Wieder-
kehr:
„Man kann seinen Leidenschaften von einem Augenblick an mißverstehen
und umtaufen – Wiedergeburt.“81
Warum dem so ist, werde ich jetzt kurz erläutern. Das dadurch ent-
stehende Nebeneinander-Bestehen von gleichberechtigten Leiden-
schaften und Empfindungen führt Nietzsche auf den Willen zur Macht
zurück und identifiziert ihn mit den Empfindungen selbst. Nietzsche
sagt:
„Diese Empfindungscomplexe, größer oder kleiner, wären ,Wille“
zu benennen!“82
Das Wesen der Empfindungen begreift Nietzsche durch deren
Eingebettetsein in eine (kausale) Raum-Zeit Vorstellung, wobei, wie
schon gesagt, das kausale Empfinden durch einen spontanen Automa-
tismus und dessen Verinnerlichung entsteht. Weiterhin meint Nietz-

78 KSA 9, S. 471, 11[79].


79 KSA 12, S. 554, 10[167].
80 Vgl. ebd.
81 KSA 9, S. 276, 6[303].
82 KSA 7, S. 469, 19[159].
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 171

sche: „Von der Kausalitätsempfindung hängen Raum und Zeit ab.“83


Raum und Zeit sind also bloß Illusion und von uns geschaffene
Wahnbilder, die Nietzsche nun in seinen philosophischen Gesamtzu-
sammenhang einbetten kann, indem er folgende Axiome setzt:
„[…], daß der Raum =0 ist, d. h. alle punktuellen Atome fallen
zusammen in einen Punkt.“
Daß „die Zeit aber unendlich theilbar ist.“84
Daraus folgt für Nietzsche, daß man nun „zwischen jedem Zeit-
punkt noch unendlich viele Zeitpunkte Platz haben“85, da aber der
Raum auf einen Punkt zusammengeschrumpft ist, „giebt es dann kein
Nebeneinander, als in der Vorstellung. Darin sind unsere Körper ima-
ginirt.“86 Daraus folgt: „Das Wesen der Empfindung bestünde darin,
allmählich solche Zeitfiguren immer feiner zu empfinden und zu
messen; die Vorstellung construirt sie als ein Nebeneinander gemäß
dem Fortgang der Welt: reine Übertragung in einen andere Sprache, in
die des Werdens.“87 Da nach Nietzsches Auffassung zwei identische
Zeitpunkte zusammenfallen müssen, produziert die Empfindung nur
nichtidentische Figuren und hält sie für ähnliche Figurationen. Dadurch
entsteht der Eindruck des Werdens und einer fließenden Zeit, die in
Wirklichkeit aber „actio in distans temporis punctum“88 ist, wie
Nietzsche formuliert. Diese Wirkung durch „Springen“89, wie Nietz-
sche es formuliert, hat weitreichende Konsequenzen, da er nun folgende
Axiome setzt:
„1.) die vorhandene Welt auf punktuelle Raumatomistik zurückzuführen,
2.) diese wieder auf Zeitatomistik zurückführen,
3.) die Zeitatomistik fällt endlich zusammen mit einer Empfindungslehre.
Der d y n a m i s c h e Z e i t p u n k t ist identisch mit dem E m p f i n d u n g s -
p u n k t . Denn es giebt keine Gleichzeitigkeit der Empfindung.“90
Nochmals kurz zusammengefasst, was das bedeutet: Was man nach
Nietzsche hat, ist ein subjektiv empfindender Punkt der Zeit – und
dieser Punkt ist auch das einzige was man hat, sonst gar nichts! Nun
besteht die Möglichkeit, diesen einen Punkt zu multiplizieren, bzw. ein

83 KSA 7, S. 469, 19[161].


84 Vgl. KSA 7, S. 576, 26[12].
85 Ebd.
86 Vgl. KSA 7, S. 577, 26[12].
87 Ebd.
88 Ebd.
89 KSA 7, S. 578, 26[12].
90 KSA 7, S. 579, 26[12].
172 Miriam Ommeln

Nebeneinander dieses eines Punktes zu projizieren und zu spiegeln –


um damit eine Vielfalt an Formen und ein Werden erschaffen zu
können. Eigentlich ist es ja ein starres Kontinuum von aneinander ge-
reihten Punkten. Nur wird dieses, wie Nietzsche sagt, „in einer anderen
Sprache als Werden erklärt“. Eigentlich „kann es keine echte Gleich-
zeitigkeit der Empfindung geben“, sondern die verbindende „Wir-
kung“ beruht allein in der „actio in distans, d. h. also durch Springen“,
wie Nietzsche sagt.
Die Zeitpunkte mit ihrer „Sprungeigenschaft“ – fast kann man
sagen, quantenmechanischen Eigenschaften – konstituieren Zeitfiguren,
beziehungsweise Formen, die für die Assoziation notwendig sind. Nach
Nietzsche ist es die Wahrscheinlichkeitstheorie, die die Wahrschein-
lichkeit für die Wiederkehr der gleichen Formen, der gleichen Asso-
ziationen und Wahngebilde, beziehungsweise der gleichen Empfin-
dungen, höher errechnet als die Wahrscheinlichkeit für die Wiederkehr
nichtgleicher Empfindungen.
Die Wahrscheinlichkeit hängt entscheidend von unserem Empfin-
den ab, „das uns von einem Augenblick zum anderen unsere Leiden-
schaften umbenennen läßt.“ Dieser assoziative, spontan-aktive Mecha-
nismus, beziehungsweise Automatismus, entspricht Nietzsches ewiger
Wiederkehr des Gleichen, bei der sich wahrscheinlich Zarathustra, der
Zwerg und die Spinne durchaus wieder unter dem Torbogen zu dem
gleichen Rendezvous treffen können. Fällt die Wahrscheinlichkeit
solcherart mit einem früheren Zeitpunkt zusammen, so entspricht das
dem höchsten Empfinden Nietzsches, seinem Willen zur Macht, dann
nämlich ist dem „Werden der Charakter des Seins aufgeprägt“ worden.
Analog verläuft die Kausalität, beziehungsweise die Verwertung der
„hingeworfenen Möglichkeiten“ – wie Nietzsche sagt, oder auch der
Wahrscheinlichkeit – durch den assoziativ, spontan-aktiven Automa-
tismus bei den Vexierbildern, die eine ständige Umwertung der Werte
erfahren und damit einen Ebenenwechsel der Optik zwischen Sein und
Werden durchlaufen. Es ist also ein Perspektivenwechsel nötig, der das
Ich, das Werden und die Metamorphosen definiert. Das Werden ist nur
über die Unstetigkeitsstelle hinweg möglich, also über den von den
Surrealisten so bezeichneten Quantensprung, der die vexierhafte Geo-
metrie des Nebeneinanders kennzeichnet. Der Surrealist nennt es
meistens „Gleichzeitigkeit“, manchmal hasard objectif, weil diese vexi-
erhafte Geometrie eine Schönheitsspiegelung ist, in der, wie André
Breton und Friedrich Nietzsche wortgleich sagen: man „Schauspieler
Die Aufnahme von Nietzsches Philosophie in die surrealistischen Ideen 173

und Zuschauer zugleich ist.“ Nietzsche meint, daß „diese Nebenein-


ander das merkwürdigste überhaupt ist.“91
An dieser Stelle wird nochmals ganz deutlich, warum für Nietzsche
die Form so wichtig ist, bzw. das surrealistische Objekt ornamental
wirkt, weil sie durch die Form wirken.
Außerdem sieht man an dieser Stelle deutlich, daß die ewige
Wiederkehr auf einer ewigen Wiederkehr dieses einen Raum-Zeit-
Punktes beruht, bzw. auf dem Mythos des Narziß, also einer Selbst-
spiegelung und Selbsttäuschung.92 Wie Friedrich Nietzsche und André
Breton übereinstimmend meinen, ist die Menschwerdung eine Disso-
nanz. Das Ego modifiziert sich, indem es die Zeit spaltet und seine dazu
komplementäre Raum- bzw. Körperstruktur spiegelt. Anders ausge-
drückt, der surrealistische Begriff der konvulsivischen Schönheit be-
deutet nach André Breton „die Vereinigung im Gegensatz von Ruhe
und Bewegung“. Die Schönheit ist weder statisch noch dynamisch. Sie
ist eine „attitude“, wie André Breton sagt. Genau das selbe meint auch
Nietzsche, wenn er von der Annäherung des Werdens an des Sein
spricht und es „Pathos“ nennt.93
Die wichtige Erkenntnis des Surrealismus und von Nietzsche liegt
darin, zu sehen, daß die „werthvollste Einsichten am spätesten gefunden
werden; aber die werthvollsten Einsichten sind die Methoden.“94.

91 Friedrich Nietzsche, vgl. KSA 1, S. 152 (24) und S. 48 (5). Und bei: André
Breton, Les Vases communicantes (1932), Paris: des Cahiers libres, deutsch: Die
kommunizierenden Rçhren, übersetzt von Elisabeth Lenk und F. Meyer, Mün-
chen: Rogner: & Bernhard 1973, S. 24.
92 Im Altertum war Narziß ein anderer Name für Dionysos. Im pelasgischen
Mythos führt die Spiegelung zum Zerreißen des Dionysos. Die Doppelnatur
und Metamorphose des narzißtischen Mythos wird in „Die Geburt der Tragçdie“
anhand der Nietzsche’schen Fassung von Apollon und Dionysos in allen Fa-
cetten vortrefflich beschrieben. Auch Salvador Dalí bringt mit seinem Gemälde
„Metamorphose de Narcisse“ (1936) und dem dazu verfaßten Gedicht die
Gleichstellung von Narziß mit Dionysos deutlich zum Ausdruck (vgl. Salvador
Dalí, „Die Metamorphose des Narziß“, in: Salvador Dal, Retrospektive1920 –
1980, München: Prestel, 1993, S. 284 ff.).
93 Breton formuliert im Originalton: „La beauté, ni dynamique ni statique. […].
La beauté sera CONVULSIVE ou ne sera pas.“ Vgl. André Breton, Nadja
(1963), Paris: Éditions Gallimard, S. 189 f., deutsch von Max Hölzer, Pfullin-
gen: Neske 1960. Nietzsche schreibt: „Der Wille zur Macht nicht ein Sein,
nicht ein Werden, sondern ein Pathos – ist die elementarste Tatsache, […].“
(KSA 13, 259, 14 [79]).
94 Vgl. KSA 6, S. 179 (13).
174 Miriam Ommeln

Nietzsche „taufte sie“ – wie er selbst sagt – „nicht ohne einige Freiheit
als die Dionysische.“95
Und der Surrealismus nennt sie die paranoisch-kritische Methode,
die wie Salvador Dalí sagt „den dionysischen Strom zu apollinischer
Leistung transformiert“.96
Diese Methode ist ein „Automatismus, der den Rhythmus des
Auges und der Einheit befriedigt“97, so daß man ohne weiteres den
Perspektivenwechsel auch wieder an seinen Ausgangspunkt zurück-
drehen und mit Nietzsche sagen kann:
„[…] du bist immer ein Anderer.“98
Nachdem somit der Anfangs- und Endpunkt im Mythos des Narziß
zusammenfällt, und sich solchermaßen auch der Kreis der ewigen
Wiederkehr durch den assoziativ, spontan-aktiven Automatismus
schließt – den Sie übrigens an allen Stellen meines Vortrags durch den
Ausdruck ,kritisch-paranoischen Methode‘ ersetzen können, – will ich
jetzt meinen Schlußpunkt setzen und den Vortrag beenden.

95 KSA 1, S. 19 (6).
96 Es ist Dalí, der schreibt: „[…] dionysische Strom zu apollinischen Leistungen
transformiert wird, die ich mir immer vollständiger wünsche. Meine Methode,
die ich die paranoisch-kritische genannt habe, ist die ständige Eroberung des
Irrationalen.“ Vgl. Salvador Dalí, Meine Leidenschaften, übersetzt von Jutta und
Theodor Knust, Gütersloh: Bertelsmann 1969, S. 47. Originaltitel: Les passions
selon Dal, Paris: Editions Denoël 1968.
97 André Breton, Das Weite suchen. Reden und Essays, übersetzt von Lothar Baier,
Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 86. Originalausgabe: La cl
des champs, Paris: Jean-Jacques Pauvert 1967.
98 KSA 3, S. 544 (307).
Den Minotaurus schreiben: autobiographische
Tauromachien bei Leiris und Nietzsche
Christian Benne

fr Gert Mattenklott

Die Nietzscherezeption und in ihrem Gefolge auch die Nietzschere-


zeptionsforschung ähneln zunehmend dem beliebten Kinderspiel der
Stillen Post. Frühe Ansätze des französischen Interesses an Nietzsche
etwa bei Charles Andler oder, ganz anders, Georges Bataille, sind un-
deutlich geworden; nur schwer scheint sich das Verhältnis des franzö-
sischen Geistes zu Nietzsche noch ohne die Einflüsterungen Derridas
oder Foucaults beschreiben zu lassen. Indes soll zumindest der Versuch
unternommen werden, die Aufmerksamkeit auf ältere, weit schlechter
vernehmbare Wirkungen von Nietzsches Œuvre in Frankreich zu
richten, gleichsam auf die Anfänge der Stillen Post, die vom Lärm der
Späteren übertönt worden sind. Der für die French theory zurechtge-
machte und weitergedachte Nietzsche hat einiges an Glanz verloren und
verschwindet möglicherweise auf gleichem Wege wie die Denkfiguren
des älteren Nietzschekults. Daß ein Raffael oder Beethoven unwider-
legbar sind, war eine Einsicht des jungen Nietzsche, die seine Hin-
wendung zum dichterischen Philosophieren bestärkte.1 Lebendig sind
jene Nietzsche-Lektüren geblieben, die selber zu Kunst wurden. Erst
aus ihnen lernen wir auch über Nietzsche wieder hinzu.
Der französische Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris, im Jahr
1901 in Paris geboren und dort 1990 auch verstorben, gehört zu jenen
Autoren, auf die Nietzsche vor allem im Verborgenen gewirkt hat –
und die ihn eben künstlerisch dafür umso fruchtbarer machten. Die
geistigen Stichwortgeber von Leiris, der im deutschen Sprachraum
weitgehend unbekannt geblieben ist, werden üblicherweise im Umfeld
des Surrealismus gesucht. Die Bedeutung Nietzsches für sein Werk blieb
bisher unbeleuchtet, wohl weil er sich nicht im selben Maße für ihn
engagierte wie sein Mitstreiter Bataille, mit dem er u. a. das legendäre

1 KGB I, 2, S. 160.
176 Christian Benne

Collège de Sociologie gründete, oder wie der Maler André Masson, der
den jungen Leiris noch vor Bataille prägte.2
Zwischen Leiris und Masson, dem neben Max Klinger wohl
größten Verehrer Nietzsches unter bildenden Künstlern, spielte das
Thema Nietzsche nachweislich eine Rolle. Obwohl Leiris behauptet
hat, Nietzsche erst spät wirklich gelesen3 zu haben, ist seine frühe Be-

2 Zum Collège s. neuerdings Stefan Moebius, Die Zauberlehrlinge. Soziologiege-


schichte des Collge de Sociologie (1937 – 1939), Konstanz: UVK 2006; zu Leiris
v. a. S. 349 – 359. Die im Umfeld des Collège entstandene Geheimgesellschaft
Acphale (s.u.) hatte sich ja nicht nur vehement für Nietzsches Werk eingesetzt,
sondern u. a. den Kampf gegen „Elisabeth Judas-Foerster“ [sic] auf die Fahnen
geschrieben. Zum Nietzschebild des Collège de Sociologie insgesamt vgl. Le
Collge de Sociologie. 1937 – 1939, herausgegeben von Denis Hollier, Paris:
Gallimard 1995. Zum Verhältnis von Leiris zu Bataille s. Michel Leiris,  propos
de Georges Bataille, Paris: fourbis 1988. Zum Verhältnis zu Masson s. Michel
Leiris und Georges Limbour, Andr Masson and his universe, Paris: Éditions des
Trois Collines 1947 (trotz des Titels auf französisch verfasst). In der einzigen
deutschsprachigen Monographie zu Leiris wird Nietzsche nicht erwähnt: Hans-
Jürgen Heinrichs, Ein Leben als Knstler und Ethnologe. ber Michel Leiris,
Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1992. Die umfangreiche, hagiographische
Biographie von Aliette Armel erwähnt Nietzsche lediglich am Rande und ohne
die anschließend zitierte wichtige Einsicht weiter zu verfolgen. Leiris habe
Nietzsche erst spät, nämlich während des Krieges entdeckt und gelesen:
„Lorsqu’il emprunte Par-delà le bien et le mal à l’un de ses compagnons de
dortoir, il semble découvrir Nietzsche et surtout l’influence de ses idées sur ses
contemporains alors qu’André Masson et Georges Bataille ne cessent de se
référer à lui! On constate ainsi à plusieurs reprises, dans le cours des sa vie,
comme des oublis amenant une soudaine prise de conscience.“ (Aliette Armel,
Michel Leiris, Paris: Fayard 1997, S. 398 f.)
3 „Nietzsche, que j’aurai lu bien tard et n’aurai lu que fort peu, d’abord prévenu
par mes séquelles d’éducation chrétienne contre ce philosophe à qui l’idée
d’une mort sans rémission n’enlevai rien de son orgueil.“ (Michel Leiris, FrÞle
bruit. La rgle du jeu IV, Paris: Gallimard 1976, S. 55 – 58, hier S. 57). Das kleine
Wörtchen „d’abord“ – zunchst – verrät freilich, daß die anfängliche Zurück-
haltung schließlich doch zu intensivierter Lektüre geführt haben mag. Weitere
Hinweise darauf geben die ausführlichen Nietzschereflexionen in diesem Ab-
schnitt, die mit poetischen Assoziationen über den Klang des Namens Nietz-
sche einsetzen und Visionen von Brand, Krieg, Aufruhr, völliger Vernichtung,
russischem Nihilismus über das russische Wort für ,nichts‘ (nitschewo) her-
aufbeschwören. Die Traumfigur einer erotisch-dekadenten Nietzscheanerin,
die sich Leiris aufdrängt, gehöre zu einem Bereich, in dem die Prinzipien, mit
denen er aufgewachsen war, nicht mehr galten. Zum Schluss der Sequenz
spricht der Text davon, daß viel später in Leiris’ Biographie der einsame Gipfel
von Sils-Maria auftauchen wird – eine mögliche Anspielung auf Leseerfah-
rungen mit dem Spätwerk nach Überwindung einer juvenilen, vom gängigen
Den Minotaurus schreiben: 177

rührung mit Nietzsches Denken u. a. im Briefwechsel mit Masson do-


kumentiert.4 Ihr wichtigstes gemeinsames Projekt war ein von Masson
illustriertes Essai von Leiris über die Kunst des Stierkampfs, die tauro-
machie 5. Immer wieder kommt Leiris auf den Stierkampf zurück, so
auch in einem der wichtigsten jüngeren Texte zur Theorie des auto-
biographischen Schreibens, dem kleinen Essai De la littrature considere
comme une tauromachie von 1946, das seither seiner schon in den 30er
Jahren entstandenen Autobiographie L’ge d’homme vorangestellt wird.
Literatur, so heißt es dort einigermaßen kryptisch, müsse das eigene
Leben ganz, müsse die condition humaine in all ihrer Widersprüchlichkeit
bei den Hörnern packen, um authentisch zu sein.
Bei den Hörnern hat auch Nietzsche gerne angepackt: „Was ich
damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Pro-
blem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein
neue s Problem: heute würde ich sagen, daß es das Problem der
Wissenschaf t selbst war“.6 So spielt Nietzsche in seinem autobio-
graphisch gefärbten Versuch einer Selbstkritik aus dem Jahr 1886 auf das
zentrale Thema der Tragödienschrift an – nämlich das Dionysische,
dessen Rekonstruktion in der Tat bis heute Herausforderung der
Wissenschaft geblieben ist.7 Nun ist dieses Bild der Hörner gewiß kein
ungewöhnliches; es ist nichts weniger als ausgemacht, daß die Hörner
bei Leiris an demselben Stier sitzen, der auch Nietzsche vorschwebte. In
einem ersten Schritt soll deshalb gezeigt werden, inwiefern das Motiv
des Stierkampfes bei Leiris tatsächlich mittelbar von Nietzsche her-
kommt – Nietzsches Denken ist selbst dann noch erkennbar, wenn es
aus zweiter oder dritter Hand stammt, gleichsam aus den Anfangsstadien
Nietzscheanismus der Jahrhundertwende geprägten Rezeption. Dies würde
jedenfalls gut zu dem Wechsel vom frühen Nietzsche der Tragödienschrift und
des Dionysoskults zum späten Nietzsche des labyrinthischen Denkens passen,
den ich hier nachzuweisen versuche.
4 André Masson, Les annes surralistes. Correspondance 1916 – 942, herausgegeben
von Françoise Levaillant, Paris, Manufacture: 1990. Nietzsche ist bereits Thema
zwischen Masson und Leiris in Briefen vom 20. Dezember 1935 und 25. Au-
gust 1938. Eine kontinuierliche, wenn auch nicht allzu intensive Nietzsche-
lektüre belegt überdies Leiris’ tagebuchhaftes journal, das er von 1922 bis 1989
führte: Michel Leiris, Journal. 1922 – 1989, herausgegeben von Jean Jamin,
Paris: Gallimard 1992.
5 Michel Leiris, Miroir de la tauromachie. Prcd de Tauromachies, Paris: GLM 1964.
6 KSA 1, S. 13.
7 Die Anspielung funktioniert, weil der Dionysoskult sich bekanntlich aus
Stierkulten entwickelt hat (davon zeugen noch die Hörner des Gottes auf
manchen selbst seiner jüngeren Darstellungen).
178 Christian Benne

der Stillen Post. An- und abschließend soll jedoch kein vermeintlicher
oder nachweisbarer Einfluß im Mittelpunkt stehen, sondern das Licht,
das Leiris’ Begründung der literarischen Autobiographie aus dem Geist
des Stierkampfes zurück auf das Werk Nietzsches wirft. Über die Zeiten
hinweg führen beide damit einen deutsch-französischen Dialog über die
ästhetischen Grundlagen künstlerischen Selbstentwurfs in der Moderne:
einer der bedeutendsten Autobiographen des vergangenen Jahrhun-
derts8 – und der wohl autobiographischste Autor in der Geschichte der
abendländischen Philosophie.9

II

Für bildende Künstler mußte Nietzsche immer Grund zur Verzweiflung


sein. Zwar besaß die Kunst in seinem Früh- und Spätwerk einen un-
erreichten Stellenwert. Malerei oder Skulptur aber waren in der Äs-
thetik des halbblinden Ohrenmenschen an den Katzentisch verbannt.
Daß Traum und Rausch einander entgegengesetzt seien, wollte den
Symbolisten und später den Surrealisten nie einleuchten.
Bildende Künstler, die sich wie André Masson dennoch dem Sire-
nengesang des Nietzscheanismus ergaben, brachten Bewegung ins Bild,
um Nietzsches Ansprüchen immerhin annäherungsweise gerecht zu
werden. Das statische Gemälde – man denke nur an das im neunzehnten
Jahrhundert dominierende Landschaftstableau – hatte zumindest im
Inhaltlichen von der dionysischen Dynamik der Musik zu lernen10. In
den frühen figürlichen Darstellungen mediterraner Landschaften des
Nietzschelesers Picasso etwa, in seinen lebensbejahenden Tanzszenen
mit Stieren, Ziegen, Faunen, Nymphen tanzt die erotische Kraft des
Dionysischen, die auch Masson faszinierte – und die in dieser Weise mit

8 Vgl. z. B. Philippe Lejeune, Lire Leiris. Autobiographie et langage, Paris: Klin-


cksieck 1975; ders., Moi aussi, Paris: Seuil 1986, S. 164 – 177, Manfred
Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahr-
hundert, München: Hanser 1986.
9 Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst. Annherung an einen Denkartisten, Frankfurt
a.M.: Insel 2000, S. 25: „Was an Nietzsche von Anbeginn auffällt, ist das
Interesse an sich selbst. Schreiben heißt für ihn als Gymnasiasten und später als
Verfasser von ,Ecce Homo’ in erster Linie: über sich selbst schreiben.“
10 In einem Brief Massons an Bataille wird in diesem Kontext die große Affinität
Nietzsches zum Philosophen des Fließens und Werdens, nämlich Heraklit,
herausgehoben (André Masson, Le rebelle du surralisme. crits, Paris: Hermann
1976, S. 290).
Den Minotaurus schreiben: 179

den Instrumenten des Malers also durchaus in die Sphäre Apollons


überführbar war. Daß nur dadurch die Moderne Erlösung fand, stand
außer Frage.11
Im Miroir de la tauromachie, dem bereits erwähnten frühen Ge-
meinschaftswerk von Masson und Leiris, ist es die corrida, die eine
ähnliche Aufgabe übernimmt. In einer Zeit des ennui, der nur noch
sporadischen und fragmentarischen Äußerung menschlicher Leiden-
schaft, verheiße sie allein die katharsis, die sich in anderen Epochen und
Kulturen – hier spricht Leiris schon als Ethnologe – noch in Riten,
Spielen, Festen und eben der Tragödie manifestierte. Der Stierkampf sei
jene Institution der Moderne, welche der antiken Tragödie am nächsten
komme.12 Leiris schreibt: „Ainsi la tauromachie, plus qu’un sport, est un
art tragique, où se trouve gauchie, par le soulèvement de forces dio-
nysiaques, l’harmonie apollinienne.“ In der Fußnote dazu wird noch
schärfer formuliert, wohlgemerkt zu einer Zeit, da Leiris Nietzsche
noch gar nicht gelesen haben will: „Non seulement l’opposition du
,dyonysiaque’ (sic) et de l’,apollinien’, mais tout ce que Nietzsche dit de
la musique dans L’Origine de la tragdie, paraît pouvoir s’appliquer à la
tauromachie.“13
Warum, fragt man sich, trauen ein Literat und ein Künstler ihren
eigenen Kunstgattungen diese (er)lösende Rolle nicht mehr eigenstän-
dig zu und sprechen sie augenscheinlich sogar auch der Schwesterkunst
der Musik endgültig ab? Die Antwort darauf lässt sich aus Leiris’ journal
rekonstruieren. Der Eintrag vom 27. April 1960 stellt eine aufschluß-
reiche rhetorische Frage: Weshalb solle angesichts des allgemeinen
Wertefalls ausgerechnet die Kunst jemals als Ausnahme gegolten haben?
„Dada, à juste titre, proclamait la mort de l’art après que Nietzsche eut
proclamé la mort de Dieu.“14 Weil die herkömmliche Kunstauffassung
unauflöslich mit jener Welt zusammenhängt, deren Zusammenbruch
Nietzsche diagnostizierte, mußte sie dieser in den Untergang folgen.
Nicht darf man mehr von der Kunst, nicht mehr, wie der frühe
Nietzsche, von der kommenden Musik, namentlich dem Musiktheater
Wagners, die Überwindung des Nihilismus erhoffen, sondern vom

11 Hinweis auf die frühe Nietzschelektüre Picassos bei Wieland Schmied in: Im
Namen des Dionysos. Friedrich Nietzsche – Philosophie und Kunst, München:
Bayerische Akademie der Wissenschaften, S. 154.
12 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 23 f.
13 Leiris, Miroir de la tauromachie (Anm. 5), S. 40.
14 Leiris, Journal (Anm 4), S. 552.
180 Christian Benne

Stierkampf. Schon Zarathustra weiß, daß „bei Trauerspielen, Stier-


kämpfen und Kreuzigungen“ dem grausamsten Tier, dem Menschen
nämlich, „bisher am wohlsten geworden“ sei15. Die vermittelnde Po-
sition zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten, die beim Stierkampf
hier auffällt, all seine symbolhaften Konnotationen der Erotik, der tra-
gischen An- und Entspannung, des Opferns und des Heiligen, sprechen
aus Sicht der Generation des Collège de Sociologie augenscheinlich
dafür, in ihm den neuen ,Geist der Musik’ zu sehen; auch Bataille hat
sich ausführlich mit dem Stierkampf beschäftigt.16
Leiris erstes autobiographisches Werk, L’ge d’homme, Bataille ge-
widmet und mit Elogen auf Masson versehen, beschreibt in großer
Ausführlichkeit die nachhaltigen Theatererlebnisse seiner Kindheit,
unter denen es ihm die Opern Wagners besonders angetan hatten.17 Die
Oper erfährt das Kind zunächst als Ort der Magie und der Erhabenheit;
in seiner Feierlichkeit, Zeremonialität und tragischen Würde „un
monde à part“ vom gewöhnlichen Alltag. Die Anwesenheit bei dem
Spektakel empfindet es als beglückende Initiation in die Welt der Er-
wachsenen. Freilich erweist sich diese bürgerliche Erwachsenenwelt
selbst als Problem. Wagner, mit dessen Hilfe Nietzsche sie noch stürzen
wollte, ist offenbar mühelos von ihr assimiliert worden. Wenn die
dionysische Befreiung für den jungen Leiris überhaupt noch von der
Musik kommt, dann vom Jazz her, ein Erlebnis, das er mit vielen
Generationsgenossen der Zwischenkriegszeit teilt. Der Jazz symbolisiert
den Einbruch Afrikas in die europäische Moderne, sein Rhythmus lässt

15 Za, KSA 4, S. 274.


16 Vgl. z. B. Georges Bataille, Œuvres compltes I, Paris: Gallimard, 1970. Die Tafel
XXVIII im Anhang des Bandes zeigt zur Definition des Heiligen (le sacré),
einem Schlüsselbegriff des Collège, die Abbildung eines Stierkampfs mit dem
Kommentar: „Les courses de taureaux modernes représentent du fait de leur
ordonnance rituelle et de leur caractère tragique une forme voisine des jeux
sacrés anciens.“
17 Von daher stamme, so Leiris interessanterweise, seine Angewohnheit, in An-
spielungen und Metaphern zu reden: Michel Leiris, L’ge d’homme. Prcd de
De la littrature considere comme une tauromachie, Paris, Gallimard 1973, S. 42.
L’ge d’homme erschien zuerst 1939 bei Gallimard, die nächste Ausgabe, dann
bereits vom Stierkampfessai eingeleitet, stammt aus dem Jahr 1946 und trägt
nun auch die Widmung an Bataille („À Georges Bataille, qui est à l’origine de
ce livre“). Seit 1964, als eine längere Fußnote über Puccini hinzukam, sind die
Auflagen unverändert. Vgl. auch die mit bibliographischen Hinweisen verse-
hene kommentierende Materialsammlung von Catherine Maubon, L’ge
d’homme de Michel Leiris, Paris: Gallimard 1997.
Den Minotaurus schreiben: 181

Europa die eigene Müdigkeit verspüren, als frenetisches „signe de ral-


liement“ ist er es, der Leiris nach Afrika und letztlich zur Ethnologie
führt18. Am pointiertesten drückte Leiris dies in einem Gespräch mit
dem Jazz Magazine aus dem Jahr 1984 aus:
«Ce que j’aime beaucoup, c’est l’Autre qui n’est pas tout-à-fait un autre,
l’Autre qui apparaît chez vous. Ainsi ce que j’ai trouvé fantastique dans le
jazz, c’est au fond l’espèce d’africanisation des musiques européennes.»19
Als Ethnologe hat Leiris ganz im Sinne des Collège de Sociologie nach
jenen Mythen und dem Sakralen in der Alltagswelt gesucht, die
fruchtbare Keime zur Erneuerung bergen mögen. Leiris und das Collège
interessierten sich für Nietzsche, weil er als einer der ersten das Ar-
chaische, das aus der Mitte der Gesellschaft wieder erwächst, zum po-
sitiven Wert erklärt hatte. Aus archaischen Ritualen wie dem Stier-
kampf muß nicht allein die Gesellschaft von ihrem Werteverlust errettet
werden, sondern eben auch die Kunst. An den konkreten Eigenschaften
der tauromachie, die dieses Wunder bewirken soll, wird deutlich, warum
insbesondere die Literatur vom Stierkampf her zu erneuern war.
Das Thema von L’ge d’homme gipfelt in der Frage, wie ein sich
entwickelndes Leben die Spielregeln des Lebenskampfes erlernt, anders
ausgedrückt: Wie gelangt man „du chaos miraculeux de l’enfance à
l’ordre féroce de la virilité“20 ? La rgle du jeu, die vierbändige Auto-
biographie aus den 70er Jahren, die Leiris’ opus magnum wurde, hat
einen ganzen Kosmos von Antworten versucht. Zentral darin ist die
gleichsam metaphysische Setzung von der grundlegenden Bedeutung
der Regel für die Gesellschaft wie für die Kunst. Im August 1969 hält
Leiris im journal fest:
«La ,règle du jeu‘, au sens où je l’entends, c’est le mien système de valeurs
(cf. Nietzsche) ou choix originel (cf. Sartre) auquel doit répondre le jeu,
conforme à mes goûts et à mes aptitudes, que je mènerai avec rigeur et
cohérence.»
Damit wird nicht zuletzt auf die Regelhaftigkeit der corrida zurück-
verwiesen, die Leiris ursprünglich faszinierte. Sie wirkt bis in die be-
rühmten autobiographischen Spielregeln nach und wird zur Grundlage

18 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 159 f.


19 Zit. nach Kevin Inston, «Michael Leiris and the Power of Art», in: The Romanic
Review 95 (2004), S. 63 – 80, hier S. 78.
20 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 40.
182 Christian Benne

des neuen Wertesystems.21. Erst das Regelsystem des Stierkampfes


verhindert im Zusammenspiel mit der realen Gefährdung des Toreros
die bloße Abschlachtung des Opfers. In einem Ritual ist der Gegner
nicht einfach zu vernichten, Taktik und Ästhetik gehen vielmehr eine
höhere Einheit ein. So ist festgelegt, zu welchem Zeitpunkt man dem
Tier welchen Stich versetzen darf, die Art und Weise des Stehenblei-
bens ist vorgeschrieben usf. – Torero und Stier, so Leiris in De la
littrature considere comme une tauromachie, bilden im Augenblick der
höchsten Anspannung eine Art Skulptur.22 Mit der Wiedergewinnung
der wertegeleiteten Agonalität gelingt die Wiedergeburt der (statischen
bildenden) Kunst aus dem (dynamischen) Geist des dionysischen Festes.
Für den gereiften Ethnologen stellt dies eine elegante Lösung insofern
dar, als sich durch das Festhalten an den Regeln des Ritus doch noch ein
Teil der jugendlichen Begeisterung für das Inhaltliche des Dionysischen
bewahren lässt: Die ethnologische Analyse, die immer auch eine
Selbstanalyse ist, muss als Aufhebungsfigur der emphatischen Begeiste-
rung für das Andere (der exotischen Kultur, des Alltags, der eigenen
Person) begriffen werden, weil sie die Emphase nicht einfach hinter sich
stellt, sondern ästhetisch einhegt. Die spezifische Ästhetik in Leiris’ li-
terarischem Werk lässt sich nur in diesem Licht verstehen.
Literatur, so Leiris Grundthese in De la littrature considere comme une
tauromachie, bleibe letztlich substanzlos, wenn sie nur ästhetisches Ver-
fahren sei, „anodin, dépourvu de sanction“. An der Suche nach einer
spezifisch schriftstellerischen Entsprechung zum spitzen Horn des Stieres23,
das den Autor in Gefahr zu bringen vermag, verzweifelt das reflektie-
rende Ich zunächst. In jenen Zeilen des Essais, die kurz nach Kriegsende
im Angesicht des zerstörten Le Havre und des kriegsbedingten wirkli-
chen Schmerzes entstanden sind, kommt der Autorstimme dieses rein
persönliche Vorkriegsproblem plötzlich so harmlos wie unbedeutende
Zahnschmerzen vor, denn nie kann die Gefahr für den Schriftsteller so
real werden wie für den Torero oder den Soldaten. Hinter der ur-
sprünglichen Eingebung, sich wie in L’ge d’homme durch die öffentli-
che Konfession des eigenen Gefühlslebens und der eigenen sexuellen
Obsessionen in Gefahr zu bringen, so lautet die Selbstanklage, habe sich

21 L’ge d’homme endet mit sog. Emanzipationsträumen, in denen auch die Lösung
vom geistigen Mentor André Masson und einer nihilistischen Ideologie, die
jegliche Werte und Moral negiert, anklingt.
22 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 19.
23 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 10.
Den Minotaurus schreiben: 183

in Wirklichkeit der versteckte Wunsch nach Absolution verborgen.24


Um auf literarischem Feld wenigstens teilweise eine Authentizität zu
erreichen, die dem Stierkampf vergleichbar ist, beschließt Leiris, sich
strengen Kompositionsregeln zu unterwerfen – „In Ketten tanzen“ hieß
dies bei Nietzsche25. Das Essai endet in dem Wunsch, diese Regeln
mögen dem Autor nun als Ariadnefaden dienen.26
Der Ariadnefaden: eine winzige Anspielung nur, aber eine, die man
auf die Gefahr hin überliest, eben jener neuen Kompositionsweise nicht
einmal annäherungsweise gerecht zu werden, die etwa in La rgle du jeu
dann umgesetzt wird. Indem vom ethnologischen Mythenforscher
dergestalt selbst Mythen über das eigene Schreiben evoziert werden,
fordert er den Leser zur mythologischen Deutung auf. Der Ariadne-
mythos macht unverkennbar, daß es sich bei dieser Literatur um keine
gewöhnliche corrida mehr handelt. Der Stier, der in der Arena auto-
biographischer Literatur aufläuft, ist womöglich um einiges gefährli-
cher: Die Rede ist vom Minotaurus, und der Kampf gegen ihn findet
nicht mehr auf offenem Platze statt, sondern im Labyrinth des Textes.
Man mag darüber streiten, ob der Ariadnemythos in der Beschäf-
tigung Leiris’ mit dem Stierkampf nicht von Anfang an präsent gewesen
ist. Schon im Miroir de la tauromachie tauchte in Massons Illustrationen
ein interessanter Subtext auf, der in diese Richtung zu zeigen scheint,
denn in seinen Stierkampfszenen erkennt man immer wieder auch eine
Frau. Neben Masson hat Picasso ebenfalls Minotauren und Labyrinthe
gemalt.27 Das Motiv des Labyrinths gehörte zum festen Inventar im

24 „Ce que je méconnaissais, c’est qu’à la base de toute introspection il y a goût de


se contempler et qu’au fond de toute confession il y a désir d’être absous. Me
regarder sans complaisance, c’était encore me regarder, maintenir mes yeux
fixés sur moi au lieu de les porter au-délà pur me dépasser vers quelque chose de
plus largement humain. Me dévoiler devant les autres mais le faire dans un écrit
dont je souhaitais qu’il fût bien rédigé et architecturé, riche d’aperçus et
émouvant, c’était tenter de les séduire pour qu’ils me soient indulgents, limiter
– de toute façon – le scandale en lui donnant forme esthétique.“ (Leiris, L’ge
d’homme, Anm. 16, S. 13).
25 WS 140, KSA 2, S. 613.
26 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 21.
27 „Bilder aus dem Labyrinth der Seele“ hieß entsprechend der Titel zu einer
großen Werkschau, die 2003 auf der Mathildenhöhe in Darmstadt präsentiert
wurde. Der gleichnamige Ausstellungskatalog bietet gute Hinweise auf die
Bedeutung Nietzsches sowie einschlägiger griechischer Mythen für Massons
Werk: André Masson, Bilder aus dem Labyrinth der Seele/Vues du labyrinthe de
184 Christian Benne

mythischen Haushalt des Collège de Sociologie; von Bataille selbst gibt


es einen – durchaus von Nietzsche geprägten – Text darüber.28 Die
Figur des Azephalos, des kopflosen Gottes der gleichnamigen Ge-
heimgesellschaft Batailles und seiner Getreuen, trägt ein labyrinthisches
Siegel auf dem Leib. Der dionysische Charakter von Acphale ist freilich
ohnehin nicht zu verkennen; mit Recht hat ihm Jacques Le Rider ein
Kapitel seines Standardwerks zur französischen Nietzscherezeption ge-
widmet.29
In Leiris’ journal findet sich ferner als undatierte (aber augen-
scheinlich späte Eintragung) folgendes Zitat zum Thema Labyrinth: „un
homme labyrinthique ne cherche jamais la verité mais seulement son
Ariane.“30 Es entstammt dem Nachlaß Nietzsches der frühen 80er Jahre
und lautet im deutschen Original folgendermaßen: „Ein labyrinthischer
Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern immer nur seine Ariadne
– was er uns auch sagen möge“.31 Die Annahme, Leiris habe gleich dem
späten Nietzsche den Fokus des Dionysischen vom Agonalen oder
Erotischen (wie es bei Leiris vom Horn symbolisiert wird) zum Ari-
adnemythos verschoben, in dem Dionysos nicht mehr primär Gegen-
spieler des Apoll, sondern Gemahl der Ariadne ist, hat deshalb einiges
für sich. Das Labyrinth wirkt auf seine Besucher ebenso verwirrend und
chaotisch wie der dionysische Rausch, doch ist der Aspekt einer zu-
grundeliegenden geheimen Ordnung bei diesem deutlicher als bei
jenem.
Dionysos und das Labyrinth sind nicht nur im Mythos eng ver-
bunden. Beide bezeichnen zwei je unterschiedliche Hintergrundsme-
taphern für das Versprachlichen menschlichen Innenlebens (dies ist
l’me, herausgegeben von Kai Bucholz und Klaus Wolbert, Frankfurt a.M.: Die
Galerie 2003.
28 Bataille, Œuvres compltes I (Anm. 17), S. 433 – 441.
29 A-cphale – der kopflose Gott ist eine Erfindung des Kreises um Bataille und
bezeichnet zugleich die 1936 gegründete Geheimgesellschaft, die sich stark an
vermeintlich dionysischen Kulten und Inhalten orientierte, einschließlich ge-
walttätiger Opferriten. Azephalos trägt einen Dolch in der Hand; die offen-
gelegten Gedärme bilden eine labyrinthische Struktur. Acphale propagierte die
gleichzeitig gegen Christentum, Faschismus und Kommunismus gerichtete
herrschaftsfreie und nonkonformistische Gesellschaft, eine Bewegung der
Selbstverwirklichung aus dem Geist der Resakralisierung des Alltags. Zur
Stellung von Acphale im Kontext der französischen Nietzscherezeption s.
Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe sicle au temps prsent,
Paris: Presses Universitaires 1999.
30 Leiris, Journal (Anm. 4), S. 827.
31 KSA 10, S. 125.
Den Minotaurus schreiben: 185

selbstverständlich auch schon Metapher: absolute Metaphern im Sinne


Hans Blumenbergs sind in der Rede über den Menschen bekanntlich
unverzichtbar). Die Umsetzung des Begriffs vom Dionysischen in eine
Theorie des Unterbewußten seit der Psychoanalyse ist vertraut und im
Alltagsverständnis noch lebendig. Das kann man kaum von der Idee des
Labyrinths behaupten, die gleichwohl spätestens seit dem 18. Jahrhun-
dert eng mit Anschauungen über den seelischen Bereich des Menschen
verknüpft ist. Das seelische Labyrinth ist seit der Empfindsamkeit und
lange vor Freud als Bild des unbekannten und unbewußten menschli-
chen Innenlebens aufgefaßt worden: „Füllest wieder Busch und Tal/
Still mit Nebelglanz,/Lösest endlich auch einmal/Meine Seele ganz“ –
Goethes Gedicht „An den Mond“ ist vor allem für die Umschreibung
der Seele mit jenem Namenlosen berühmt geworden, „Was, von
Menschen nicht gewußt/Oder nicht bedacht,/Durch das Labyrinth der
Brust/Wandelt in der Nacht.“
In diesem, seit Goethe also sprichwörtlichen Labyrinth der Brust,
wartet der Minotaurus auf jene, die sich ihm stellen wollen. Das ist
keine blumige Umschreibung für den hergebrachten Begriff des Ge-
wissens, denn das Ge-wissen (abgeleitet von der lateinischen conscientia)
ist als Instanz doch immer von einem höheren Grad an Bewußtheit
geprägt. Einem ,unbewußten Gewissen‘ hat etwa die Psychoanalyse
deshalb später andere Namen gegeben. Im besten Fall ist der Minotaurus
im Labyrinth der Brust eine Art Gewissen höherer Komplexität, die
seiner Unbestimmtheit geschuldet ist: nie weiß man, hinter welcher
Ecke der Minotaurus lauern mag. Bei Leiris etwa ist die Gewissensin-
stanz nach eigener Aussage von der katholischen Erziehung und dem
Wissen um Erbsünde und verbotene Früchte geprägt gewesen.32 Aber
die Erkenntnis dieses Umstands mußte er sich im Schreiben hart erar-
beiten. In seinem libertinistischen Bekenntnisdrang und der Schilderung
sexueller Experimentierfreudigkeit nimmt L’ge d’homme den ,Stier-
kampf‘ gegen den Gewissensminotaurus auf. Im Umkreis der tauro-
machischen Theorie hat sich Leiris einer Psychoanalyse unterzogen. Das
literarisch-autobiographische Schreiben bleibt freilich das probateste
Mittel, den Kampf zu führen: probat im Sinne von bewährt, denn mit
dem Hinweis auf das Labyrinth knüpft Leiris bewußt an die Anfänge des
modernen bekennenden Schrifttums an, die lange verschüttet gelegen

32 Leiris, L’ge d’homme (Anm. 17), S. 201.


186 Christian Benne

hatten. Die Vorstellung vom „Labyrinth der Selbsterfindung“33, das der


große Autofiktionär und Leiris-Leser Paul Nizon beschrieben hat, geht
zweifellos bis auf Rousseau zurück. Im ersten Buch der Confessions
schreibt dieser über seine bis dato unerhörten Enthüllungen sexueller
Neigungen:
«J’ai fait le prémier pas et le plus pénible dans le labirinthe obscur et fangeux
de mes confessions. Ce n’est pas ce qui est criminal qui coûte le plus à dire,
c’est c’est qui est ridicule et honteux. Dès à présent je suis sûr de moi, après
ce que je viens d’oser dire, rien ne peut plus m’arrêter.»34
Die Selbstpeinigung durch die herabsetzende Selbstentblößung wird
zum Ausweis der Aufrichtigkeit. Wenn der Begriff des Labyrinths in
diesem Kontext nicht nur zufällig fällt (und bei einem Stilisten wie
Rousseau liegt diese Annahme nicht gerade nahe), muß man ihn auch
auf die Art des Schreibens selbst beziehen können – ein Schreiben, das
in ästhetischer Hinsicht gleichsam den Windungen des eigenen inneren
Labyrinths nachzuspüren versucht und damit zwangsläufig auf narrative
Konventionen autobiographischen Schreibens verzichtet.

III

Nietzsches explizit ,autobiographische‘ Schriften, zu denen neben Ecce


Homo v. a. die Antiwagner-Pamphlete zu zählen sind, zeichnen sich
durch ihre Fixierung auf eben diese zentrale Bezugsfigur seines Lebens
aus.35 „Ah, dieser alte Räuber!“ beginnt eine aufschlußreiche Stelle in
Der Fall Wagner, deren erbarmungsloser Spott über seine Zielscheibe die
Bitterkeit doch nicht recht verbergen kann und wohl auch nicht soll:
„Er raubt uns die Jünglinge, er raubt selbst noch unsre Frauen und schleppt
sie in seine Höhle … Ah, dieser alte Minotaurus! Was er uns schon ge-
kostet hat! Alljährlich führt man ihm Züge der schönsten Mädchen und

33 Paul Nizon, Im Bauch des Wals. Caprichos. Frankfurt a.Main: Suhrkamp 1991,
S. 108
34 Jean-Jacques Rousseau, Œuvres Compltes, Bd. 1, Paris, Gallimard 1959, S. 18
35 In Ecce Homo bemerkt Nietzsche über Richard Wagner in Bayreuth: „an allen
psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, – man darf
rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra‘ hinstellen, wo der
Text das Wort Wagner giebt.“ (EH, KSA 6, S. 314). Im Grunde werde hier nur
von ihm selbst geredet (EH, KSA 6, S. 320).
Den Minotaurus schreiben: 187

Jünglinge in sein Labyrinth, damit er sie verschlinge, – alljährlich intonirt


ganz Europa ,auf nach Kreta! auf nach Kreta!‘“ …36
Der wissenschaftliche Konsens hatte für Wagner in Nietzsches privatem
Ariadnemythos lange die Rolle des Theseus reserviert.37 In anspruchs-
volleren Analysen sind solche platt-eindeutigen Zuweisungen der Er-
kenntnis gewichen, daß die Rollenspiele insgesamt wechselnde Funk-
tionen haben, daß Theseus, Dionysos und Ariadne „nicht drei Perso-
nen, sondern drei Aspekte des (höheren) Menschen in seiner Bewegung
zum Übermenschen“ in Szene setzen.38 Erstaunlicherweise hat der
Kampf gegen den Minotaurus in der Forschung keine Rolle gespielt,
trotz des eben zitierten Hinweises. „Ich bin dein Labyrinth…“39 sagt
Dionysos zu Ariadne in der „Klage der Ariadne“. Es scheint in der Tat
so zu sein, als ob nicht nur die klassische Dreiecksbeziehung, sondern
alle sechs Elemente des Ariadnemythos bei Nietzsche personalisiert und
auf Rollen verteilt werden können, nämlich Ariadne, Theseus, Dio-
nysos, Minotaurus, Labyrinth und sogar der Faden der Ariadne. Nicht
die biographisch begründete Schwärmerei für Cosima, so sie überhaupt
existierte, machte Ariadne für Nietzsche interessant, sondern ihr Ver-
hältnis zum „Labyrinth der Brust“ – einschließlich der Wesen, die darin
hausen.
In Jenseits von Gut und Bçse hat Nietzsche vom „Höhlen-Minotaurus
des Gewissens“ gesprochen, der jene zerreißt, die verwegen genug sind,
sich auf eigene Faust ins „Labyrinth“ des Lebens zu begeben. Ihre Er-
fahrungen seien den gewöhnlichen Menschen so fremd, daß sie „ferne
vom Verständniss der Menschen“ zugrunde gehen müssen.40 Freilich
lehrt die zweite Abhandlung Zur Genealogie der Moral wenig später auch,
das Gewissen als Folge der Verinnerlichung menschlicher Instinkt-
handlungen zu verstehen, die sich unter den Bedingungen der Gesell-
schaft nicht mehr nach außen entladen konnten. Hier habe das Leiden
des Menschen an sich selbst ihren Ursprung, das ein Leiden an der
Krankheit des Gewissens ist. Im „Labyrinth der Brust“ – Nietzsche

36 WA, KSA 6, S. 45.


37 Vgl. schon Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München:
Hanser 1993, S. 556.
38 Jörg Salaquarda, „Noch einmal Ariadne. Die Rolle Cosima Wagners in
Nietzsches literarischem Rollenspiel“, in: Nietzschestudien 25 (1996), S. 99 –
125, hier: S. 125.
39 DD, KSA 6, S. 401.
40 JGB, KSA 5, S. 47 f.
188 Christian Benne

zitiert Goethe wörtlich! – verbirgt sich zugleich der Wille zur Macht –
mit dem einzigen Unterschied, daß der Mensch seine „formbildende“
Kraft und die eingeborene Lust an Grausamkeit nicht mehr an anderen,
sondern an sich selbst ausagiert:
„Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit,
diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe
eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine
Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-
lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich
leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze aktivische ,schlechte
Gewissen‘ hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mut-
terschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer
befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht
überhaupt erst die Schönheit…“41
Die Krankheit des schlechten Gewissens, so konkretisiert Nietzsche im
gleichen Atemzug, sei also „eine Krankheit, wie die Schwangerschaft
eine Krankheit ist.“42 Unter diesen Vorzeichen nimmt die Aussage,
Wagner habe zu Nietzsches Krankheiten gehört, eine neue Bedeutung
an, denn diese Krankheit kann metaphorisch naturgemäß nur als
Krankheit des Innenlebens, als Auseinandersetzung mit Aspekten der
eigenen Persönlichkeit verstanden werden. Wagner wäre das schlechte
Gewissen Nietzsches, dessen eigenes autobiographisches Schreiben sich
als tauromachie im Sinne von Leiris verstehen ließe, als corrida der Be-
kenntnisse mit dem Minotaurus im ,Labyrinth der Brust‘. Für wahre
zeitgenössische Kunst unter den von Nietzsche beschriebenen Bedin-
gungen der Modernität und des komplexen Innenlebens spätdekadenter
Individuuen gilt damit dasselbe wie für die Geburt wahren Lebens:
unter Schmerzen sollst du gebären. Für Nietzsche erweist sich das
Leiden an der offenen Wunde Wagner als eigentlich produktives Mo-
ment. Erst dieses Leiden öffnet ihm die Augen für das Charakteristische
der Zeit, deren emblematische Persönlichkeit Wagner geworden war:
„Sonst kann man vielleicht ohne Wagner auskommen: dem Philosophen
aber steht es nicht frei, Wagner’s zu entrathen. Er hat das schlechte Ge-
wissen seiner Zeit zu sein, – dazu muss er deren bestes Wissen haben. Aber
wo fände er für das Labyrinth der modernen Seele einen eingeweihteren
Führer, einen beredteren Seelenkündiger als Wagner? Durch Wagner redet

41 GM, KSA 5, S. 325 f.


42 GM, KSA 5, S. 327.
Den Minotaurus schreiben: 189

die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch
ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt.“43
Das Leiden an Wagner ist das Leiden an der Doppelgesichtigkeit der
Moderne – und der Philosoph wird zum Labyrinth im Labyrinth.
Anders ausgedrückt: Das eigene Labyrinth der Brust, das den Wagner-
Minotaurus beherbergt, wird für Nietzsche zum Zentrum einer wei-
teren Struktur, in dem er den Mittelpunkt als Gewissen des Labyrinths
der modernen Seele bildet. Was Wagner ihm, will Nietzsche der Mo-
derne sein. Größer könnte die Geste, mit der Nietzsche Wagner die
Konkurrenz erklärt, nicht sein.
Bekanntlich ist Nietzsche an der Redaktion und Drucklegung von
Wagners eigener Autobiographie beteiligt gewesen. Wenn Wagner (als
die Figur, unter der Nietzsche ganz verschiedene Aspekte bis hin zur
Idee der dcadence zusammenfasst), wenn dieser ,Wagner‘ also tatsächlich
Nietzsches innerer Minotaurus ist, dann müsste seine Autobiographie
auch der Maßstab sein, an dem sich die eigene Autobiographie zu be-
währen hätte. Nietzsche müßte das eigene autobiographische Schreiben
als Gegensatz zu Wagners Mein Leben entworfen haben.
In der Genealogie der Moral hatte Nietzsche das zeitgenössische
biographische und autobiographische Schrifttum noch scharf als verlo-
gen, moralisierend, verfälscht angegegriffen: „welcher kluge Mann
schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich? – er müsste denn
schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht
uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s: wer zweifelt daran, daß es
eine kluge Selbstbiographie sein wird?“44 Nietzsches Ecce Homo kann
man eine „kluge Selbstbiographie“ wahrlich nicht nennen, eher ein
Buch der Ausbrüche, das „alle Scham vor sich verlernt hat“ – die
Modernität spricht als dcadence ohne Scham (s. o.), und die décadence
hat der Verfasser wie kein zweiter (wie höchstens noch Wagner)
„vorwärts und rückwärts buchstabirt“.45
In der selten gelesenen dritten Unzeitgemßen findet sich in der
Beschreibung Schopenhauers ein Selbstporträt Nietzsches, das von Ecce
Homo aus gesehen von geradezu unheimlicher Hellsichtigkeit ist. Im
„Labyrinth der Brust“, so heißt es dort einmal mehr, „verbergen sich die
Einsamen: aber dort auch lauert die grösste Gefahr der Einsamen.“ Sie
haben ihre reiche Innenwelt fortwährend den Erfordernissen einer

43 WA, KSA 6, S. 12.


44 GM, KSA, 5, S. 386 f.
45 EH, KSA 6, S. 265.
190 Christian Benne

gleichgültigen Umwelt anzupassen: „es ist das schrecklichste Gegen-


mittel gegen ungewöhnliche Menschen, sie dergestalt tief in sich hinein
zu treiben, dass ihr Wiederherauskommen jedesmal ein vulkanischer
Ausbruch wird.“ Denn durch diese Ausbrüche rächen sie sich bisweilen
für ihre Zwangsmaskierung: „Sie kommen aus ihrer Höhle heraus mit
schrecklichen Mienen; ihre Worte und Thaten sind dann Explosionen,
und es ist möglich, dass sie an sich selbst zu Grunde gehen“.46
An sich selbst zugrundegehen heißt gegen den inneren Minotaurus
zu unterliegen. Schreiben heißt, den Stierkampf aufzunehmen. Michel
Leiris’ Theorie der Literatur als Stierkampf öffnet dem Nietzscheleser
die Augen, in welch spezieller Hinsicht Nietzsches späte Schriften als
literarische Tauromachien aufzufassen sind. Die Gefahr, die aus der
Konfrontation mit dem inneren Minotaurus als schlechtes Gewissen
erwächst und die vor allem im Entbergen und öffentlichen Bloßlegen
der geheimsten Obsessionen liegt – sie war es, die bei Leiris dem au-
tobiographischen Schreiben potentiell eine Authenzität verlieh, die es
über das rein ästhetische literarische Schreiben erhob. Nietzsche
schreibt: „Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit
Tinte) getauft wurde.“47 Im Zarathustra klingt dies noch um einiges
martialischer: „Von allem Geschriebenen liebe ich nur Das, was Einer
mit seinem Blute schreibt.“48 Das Blut stammt zweifellos aus den in-
neren Verletzungen am Horn des Minotaurus. In seiner tauromachi-
schen Literaturtheorie hat Leiris das ausformuliert, was in Nietzsches
autobiographischem Philosophieren schon angelegt war – vermittelt
über die zweite oder dritte Hand, gewiß, aber dennoch getragen von
der wahlverwandten Sehnsucht nach einer Ästhetik des Schmerzes in
der schmerzfreien Welt des letzten Menschen, in der erst der Schmerz
die Tatsache des Dasein überhaupt wieder ins Bewußtsein ruft.
Mag die Beschwörung des gefährlichen Lebens in einem Moment
des gefahrlosen Komforts auch ein rhetorisches Mittel sein, das nur dann
überzeugt, wenn der Autor seine Existenz tatsächlich in die Bresche
wirft, so begründet das Emblem des Stierhorns das autobiographische
Schreiben nach dem Bildungsroman und der Memoirenliteratur – den
bevorzugten autobiographischen Genres des neunzehnten und frühen

46 SE, KSA 1, S. 354 f. In Ecce Homo bekannte Nietzsche, in dieser Abhandlung


seine „innerste Geschichte“, sein persönliches „W e r d e n “ enthüllt zu haben
(EH, KSA 6, S. 320).
47 WS, KSA 2, S. 609.
48 Za, KSA 4, S. 48.
Den Minotaurus schreiben: 191

zwanzigsten Jahrhunderts – dennoch durchaus wieder neu. Schmerz


und Selbstentblößung sind nun nicht mehr wie bei Rousseau lediglich
Symptome der Authentizität bzw. Bausteine der Persönlichkeitsbildung,
sondern stehen bei Nietzsche wie bei Leiris insgesamt für die Ablehnung
der verkrusteten Verfahren zur ,klugen‘ Selbstdarstellung. Warum ich so
klug bin, warum ich so gute Bcher schreibe usf. – Ecce Homo parodiert mit
bitterem Unterton den von aller Verbrämung befreiten Wesensgrund
zeitgenössischer Selbstentwürfe. Von daher ist es gar kein Widerspruch,
wenn uns der Verfasser wenig ,authentisch‘, als vielmehr in Masken und
Rollen entgegentritt, die bei Leiris ihre Entsprechung in allerlei my-
thologischen Vexierspielen haben.49 Die Verwirrung des Lesers hat sich
der Maskengott50 auf die Fahnen geschrieben. Erwartungen an das
Hergebrachte der Lebensdarstellung werden rücksichtlos enttäuscht.
Nietzsches von Wagner provozierter extremer Bruch mit autobio-
graphischen Konventionen fand erst im zwanzigsten Jahrhundert ge-
hörige Resonanz – das zumindest ist ein Befund, der sich kaum ab-
streiten lässt. Erst aus der Rückschau der Leiris-Lektüre werden Sinn
und Zielrichtung von Ecce Homo plausibel. Nietzsches autobiographi-
sches Schreiben könnte dann als Vorreiter einer neuen autobiographi-
schen Schreibweise gelesen werden, die den alten Mythos des Laby-
rinths auf die Darstellungsproblematik des eigenen Erlebens überführt
bzw. überblendet – und die etwa bei Walter Benjamin, Robert Walser,
Alain Robbe-Grillet und Leiris selbst zu einer neuen Ästhetik labyrin-
thisch-autobiographischen Schreibens führt. Dergestalt stellen die je neu
zu identifizierenden konkreten Eigenschaften dieses Schreibens hohe
Anforderungen an die genaue Lektüre nicht nur von Ecce Homo oder La
rgle du jeu, sondern einer ganzen Tradition.51 Um den Kampf des

49 Vg. z. B. Christian Benne, „Ecce Hanswurst – Ecce Hamlet: Rollenspiele in


Ecce Homo“, in: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 219 – 228.
50 Vgl. ferner die bekannte Verbindung von „Maske“ und „Tiefe“ in JGB 40
(KSA 5, S. 57 f).
51 In einem enthusiastischen Brief vom Juli 1939, der den Empfang von L’ge
d’homme bestätigt, hebt bereits André Masson das Motiv des Labyrinths hervor,
das ihm bei der Lektüre ins Auge gefallen war – und verbindet es mit der
Überwindung der traditionellen autobiographischen Form (s. Masson, Les an-
nes, Anm. 4, S. 429). Wie die Analyse eines labyrinthischen Schreibverfahrens
aussehen könnte, hat z. B. Peter Utz an Walsers Werk demonstriert (Peter Utz,
Tanz auf den Rndern. Robert Walsers ,Jetztzeitsstil‘, Frankfurt a. M.: Suhrkamp
1998, besonders das Kapitel „Das Labyrinth des Lesers“ 369 – 423; vgl. ferner
insbesondere Manfred Schmeling, Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum
Erzhlmodell, Frankfurt a.M.: Athenäum 1987). Mit den Instrumenten text-
192 Christian Benne

Autors gegen den inneren Minotaurus nachvollziehen zu können, muß


sich der Leser selber ins Labyrinth des Textes aufmachen. Nur wer darin
überlebt, darf sich überhaupt mit der Person hinter den Masken be-
schäftigen – comprendre c’est galer. 52

genetischer und -genealogischer Literaturwissenschaft und unter Einbeziehung


des Konzepts der „Schreibszene“ (Rüdiger Campe) wäre außerdem das Ver-
hältnis des labyrinthischen autobiographischen Schreibens zur handschriftlichen
Überlieferung der jeweiligen Autoren zu klären, etwa anhand des umstrittenen
Status und labyrinthischen Charakters des späten Nachlasses Nietzsches. Dies
bedarf indes gründlicherer Studien und wäre schon die Skizze eines umfas-
senden Forschungsprojekts.
52 KSA 12, S. 51.
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie
Überlegungen zu einem „dreieinen“ Begriff der Zeit
Andreas Spohn

Wenn im Titel Namen nebeneinander stehen, die keine Zeitgenos-


senschaft verraten, kann dies eine Ankündigung sein, die publizierte
Meinung des Späteren zum Früheren zu analysieren. Eine solche phi-
lologische Auswertung der Nietzsche-Stellen in Lacan wäre zwar
sinnvoll durchzuführen, allerdings dienen die sporadischen, allusiv ge-
haltenen Referenzen des französischen Psychoanalytikers zu kaum mehr
als zur (mal mehr, mal weniger kontrastreichen) Garnierung der eigenen
Theorie.1 Die Nennung in einem Atemzug kann aber auch einen von

1 Während Freud sich aufgrund einer kaum eingestandenen Nähe von Nietzsche
distanziert, nennt ihn Lacan als Wegbereiter seiner Psychoanalyse, mal mit
Betonung auf den seither zurückgelegten Weg, mal mit Betonung seiner
Pioniertaten. Verglichen mit Kant oder Hegel spielt der deutsche Philosoph
Nietzsche aber eine geringe Rolle in Lacans Werk, und so braucht es Mut, etwa
wie Slavoj Žižek Nietzsches Lehre der Wiederkehr als großen ungenannten
Einfluß auf Lacans Triebtheorie zu bezeichnen oder wie seine Biographin
Elisabeth Roudinesco den Titel „Nietzscheaner mit katholischer Kultur“ zu
wählen (Slavoj Žižek, Der nie aufgehende Rest, Wien: Passagen 1996, S. 179;
Elisabeth Roudinesco und Michel Plon, Wçrterbuch der Psychoanalyse, Wien:
Springer 2004, Artikel „Phallus“, S. 786).
Daß Lacan in seinen frühen Zwanzigern Nietzsches Also sprach Zarathustra
gelesen hat und sich als Freigeist erlebte, wird von seinem Bruder bezeugt. Ob
er jedoch auch späterhin die in seinen vielen Bibliotheken archivierten
Nietzsche-Bände tatsächlich gelesen hat, darüber gibt die noch vielverspre-
chendste Quelle, eine unveröffentlichte, wohl auf immer unvollständige und
ohne Vermerk von Lesespuren erstellte „Liste“ keine Auskunft (Elisabeth
Roudinesco, „La liste de Lacan“, in: Eric Marty u. a. (Hrsg.), Lacan & la litt-
rature, Houilles: Éditions Manucius 2005, S. 181 – 196).
So gehören Lacans Freude über die Neuedition von Nietzsches Werk, zu-
sammen mit der früh verspürten Geistesverwandtschaft und der Freundschaft
mit George Bataille zu den Indizien eines undokumentierten (und in Erman-
gelung auskunftsbereiter Zeitzeugen weiterhin sehr spekulativen) Nietzsche-
Einflusses, die aber nur schwerlich mit dem durchaus vorhandenen, jedoch
heterogenen Korpus an dokumentierten Nietzsche-Bezügen in Deckung ge-
bracht werden können. Immerhin findet sich in Lacans Seminar – vertraut man
194 Andreas Spohn

nicht dem Index Henry Kreutzens, der lediglich fünf Stellen angibt – bis zu
dessen neunzehnter Auflage (Ou pire 1971/72) mindestens je eine Erwähnung
Nietzsches; ganz ohne kommen nur die Seminare 9, 14, 15 und 18 sowie die
von logischen und mathematischen Modellen geprägten Jahre nach 1972 aus,
und auch in den Schriften zählt man fünf direkte Referenzen. Lacans unveröf-
fentlichte Antwort auf Christiane Bardet-Giraudon, in der er seinen 1962 im
„Kant avec Sade“-Aufsatz unkommentiert eingeführten Terminus „volonté de
jouissance“ gar auf den im Französischen fast homonymen Willen-zur-Macht
(„volonté de puissance“) zurückführt, datiert aus dem Jahr 1972.
In folgenden Themen und Thesen taucht Nietzsche bei Lacan häufiger auf:
– Gott ist unbewußt: die Psychoanalyse versteht den Gottestod nicht als Be-
freiung vom Gesetz, sondern als dessen Verschärfung im internalisierten Über-
Ich-Zwang. Als „Kehrseite der Psychoanalyse“ zeige sich, wie Nietzsches
„frohe Botschaft“ zum Unbehagen wird, weder den Toten noch seinen
Machteinfluß ad acta legen zu können. Vielmehr sei man nach Konservierung
seines Gesetzes auf andere Weise als bei Nietzsche und Dostojewski dem
„absoluten Herrn“: dem Tod ausgesetzt (E 130, S11/22. 1. 1964, S13/11. 5.
1966, S17/18. 3. 1970).
– Apriori-Wechsel der Moral (von Machtgeschichte zu Triebstruktur): Die Moralge-
nealogie sei wertvoller, wo sie sich nicht auf eine historisierende Perspektive
kapriziert, sondern der Illusionstotale eine Wahrheit zugrundelegt, die nicht
sittenbedingt, sondern triebbedingt ist (E 405, S2/17. 11. 1954, S7/2. 12. 1959,
S13/8. 12. 1965).
– Nietzsche kann in eine Tradition der Moralisten eingeschrieben werden: Lacan
schlägt vor, Nietzsche zu historisieren, ihn in eine Tradition ausgehend von
Balthasar Gracián und La Rouchefoucault zu stellen (mal als ,nova’, mal als
kleiner Autor gegenüber Gracián), die von Freud neue Impulse bekam (E 407,
S1/5. 5. 1954, S10/8. 5. 1963).
– Nietzsche liefert ein Beispiel fr einen Verwerfungseffekt: Lacan erinnert an den
psychosentheoretischen Wert von Freuds Bezugnahme auf Nietzsches Zara-
thustra-Kapitel „Vor dem Sonnenaufgang“ (E 547, S3/15. 2. 1956, S5/15. 1.
1958).
– Nietzsche als Wegbereiter fr Lacan: wo es scheint, daß er sich von Freud
fortbewege, da fühlt sich Lacan dem Wertebegriff Nietzsches am nächsten, der
zudem verdienstvoll darin gewesen sei, so etwas wie einen „transzendentalen
Leib“ zu erfinden, wenn er auch die utopische Dimension des Dionysos, die
Stimme und den Blick nicht hervorhob und statt Euripides Agathon als „Ko-
mödientragiker“ erkannte (S7/30. 3. 1960, S12/17. 3. 1965/24. 3. 1965, S13/
20. 4. 1966/1. 6. 1966).
Aus diesen Erwähnungen läßt sich kaum mehr als ein grobes Nietzsche-Bild
Lacans zeichnen, sie bieten dem barocken Diskurs Lacans referentiellen Halt,
bleiben aber, so profund sie im Ansatz klingen, diffus und widersprechen sich
teilweise (die Kürzel bedeuten: E= Jacques Lacan, crits (1966), Paris: Éditions
du Seuil, es folgt die Seitenzahl, S= Jacques Lacan, Sminaire, Angabe mit
Seminarnummer und Sitzungsdatum, zitiert nach unveröffentlichten Mit-
schriften).
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 195

konkreten Einlassungen des Späteren unabhängigen Vergleich der


Grundgedanken annoncieren. Dieses am Leitthema der Drei und der
Zeit hier durchgeführte Unternehmen macht eine Nähe zwischen
Psychoanalyse und Nietzsche spürbar, die zu konstatieren bei Lacan
eventuell sogar weniger Mutwille braucht als bei Freud, wo es darum
geht, sich auf das veröffentlichte bzw. dokumentierte Wort zu verlassen.
Wenn ein einzelner Text des französischen Psychoanalytikers Jac-
ques Lacan pars pro toto die meisten wichtigen Aspekte seines gesamten
Werkes repräsentieren soll, so könnte gut der kurze Zeitschriftenbeitrag
„Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewißheit“2 von
1945 dafür einstehen – und tatsächlich wird der darin vorgestellte for-
malisierte Zeitbegriff der Psychoanalyse von Lacan im Laufe der Ent-
wicklung seiner Lehre auf eine Reihe von Triangulierungsthemen ap-
pliziert.3
Wo Lacan von „seinen Drei“ spricht, sind nicht die Instanzen der
Freudschen Metapsychologie: das Es, das Ich und das Über-Ich ge-
meint, sondern seine eigene Umschrift in die Register des Realen, des
Imaginären und des Symbolischen, die sich wiederum auf die drei
Zeitinstanzen, die er im genannten Aufsatz ausarbeitet: den Augenblick,
die Zeit des Verstehens und den Moment des Schließens beziehen lassen.
Auch Nietzsche hat „seine Drei“: in dem Zarathustra-Kapitel „Von
den drei Verwandlungen“ beschreibt er die Entwicklung des Geistes als
fortschreitend in drei aufeinanderabfolgenden Gestalten, vom Kamel
über den Löwen hin zum Kind, das den Zeitmodus ewiger Wiederkehr
repräsentiert.
Die älteste Dreizeitentheorie findet sich in der Religion. Das
Christentum hat „seine Drei“ in der Vorstellung einer sich antithetisch
in Zeitaltern vollziehenden Geschichte.
Wir wollen das Experiment wagen und über Dreizeitentheorien
verschiedenster Art eine Vergleichbarkeit zwischen Christentum, dem
„Anti-Christ“ Nietzsche und dem borromäischen Analytiker Lacan
herstellen. Das dabei mit in Frage stehende Verständnis von Kausalität

2 Jacques Lacan, „Die logische Zeit und die Assertion der antizipierten Gewiß-
heit. Ein neues Sophisma“ (1945), aus dem Französischen übersetzt von Hans-
Joachim-Metzger, in: ders., Schriften III, herausgegeben von Norbert Haas,
Olten-Freiburg i. Br.: Walter 1980, S. 101 – 121.
3 Eric Porge zeichnet dies chronologisch nach in: Eric Porge, Se compter trois. Le
temps logique de Lacan, Toulouse: Erès 1989.
196 Andreas Spohn

variiert zwischen einem Glauben an eine Letztursache, einem Sich-


selbst-Ursache-sein-Können und einem Gespaltensein der Ursache.

Die Drei als Grundlage der intersubjektiven Zeit

Betrachten wir zunächst das von der Spieltheorie abkünftige Modell4


Lacans, mit dem er es ernst genug meint, um es bis an sein Lebensende
immer wieder in neue Kontexte zu stellen, dabei jedoch immer wieder
der Drei eine besondere Rolle zuschreibt, ohne die keine normal-
neurotische Subjektbildung gelinge. Gemeint sind die drei Modi der
sogenannten „logischen Zeit“, die unter den nicht seltenen Dreier-
konstellationen seiner Lehre den heimlichen Höhepunkt bilden. Lacan
präsentiert drei triangulär zueinander plazierte Gefangene, denen die
Freiheit verheißen wird, sofern sie wohlbegründet als erste die Farbe
einer ihnen auf dem Rücken montierten Scheibe nennen können.
Obwohl eine Kommunikation untereinander nicht erlaubt ist, zeigt
sich, wie dennoch das solipsistische cogito ergo sum nachgerade je schon
überwunden ist durch die Orientierung an einem Dritten, welche das
Denken in ein triadisch-christologisches Format stellt. Die Verteilung
der Scheiben erfolgt durch einen Gefängnisdirektor, dessen väterliche
Güte als Garant der Spielregeln (dem Glauben) unterstellt werden muß
– eine vorauseilende Überführung in ein Wissen, die Attribuierung als
„transzendental“ oder „empirisch“ liefe ins Leere. Was jedoch nicht
dem Glauben überlassen wird, ist das Wissen, daß bei Gültigkeit seiner
Gesetze drei weiße und zwei schwarze Scheiben zur Markierung be-
reitstehen. Diese Konstellation schafft ein Signal, das etwas für jemanden
repräsentiert, ein „Zeichen“: sieht einer der Gefangenen zwei schwarze
Scheiben, so sollte ihm in Fleisch und Blut übergegangen sein, daß er
mathematisch-logische Sicherheit darüber hat, daß er selbst eine der drei
weißen Scheiben trägt5. Wer selbst eine schwarze Scheibe trägt, wer in

4 Was Lacan bei einer Abendgesellschaft aufgriff, hätte auch Nietzsche gefallen
können: „Ich weiß keine andere Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das
Spiel.“ (KSA, EH 6, 297)
5 Der Grund, warum sie sich überhaupt gefangen fühlen und nun glauben frei-
kommen zu können, indem sie andere und auch sich selbst auf ein dichotomes
Merkmal reduzieren, bleibt im Dunkeln. Das insistierende Unterstellen einer
väterlichen Autorität, eines soliden Garantiegebers sei als Gegebenheit der von
Freud sogenannten „zweiten Intelligenz“, dem Wissen des Unbewußten,
eingeführt.
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 197

dieser Weise als Zeichen ein allzu eindeutig bedeutendes Element eines
Sprechaktes wird, kann lange auf das verabredete Zeichen der Gewiß-
heit warten, wird es immer nur dem anderen liefern, den er dann
aufstehen und begründen sieht. Erst dann hat er Gewißheit um seine
Farbe und ist damit je schon zu spät.
Die erste mögliche Konstellation der Scheibenverteilung, der Zei-
chenwert des Anblicks zweier schwarzer Rckenscheiben, erlaubt es, sofort,
in einem „Augenblick“, aufzuspringen und mit gutem Grund die
Freiheit zu verlangen. Sofern man an das mit einer Sprache gleich-
strukturierte sogenannte unbewußte Wissen glaubt, besteht es aus einem
Code (dem vom Gefängnisvater festgelegten Bestand der Elemente
sowie den von ihm konstruierten Grammatikgesetzen zum erfolgrei-
chen Schlußfolgern) und einer Nachricht bzw. Message (der einer
Auserwählung gleichkommenden Code-Aktualisierung).
Schon die zweite mögliche Konstellation der Scheibenverteilung,
nämlich der Anblick nur einer schwarzen Rckenscheibe und einer weißen
Scheibe gefährdet – da das Zeichen fehlt – die Sicherheit des Schlusses,
nun selbst weiß zu sein, stürzt in die Ungewißheit. Diese Situation ist
analog zu dem ,pater semper incertus est’ („Der Vater ist immer un-
gewiß“), bei dem der Rückschluß von einer erblickten Ähnlichkeit
oder Nähe auf das von sich selbst angenommene Bild nach neun Mo-
naten keinen Syllogismus6 zu formulieren erlaubt, dessen dritter Teil
„Ich bin Vater“ lautete. Allerdings würde der Träger der weißen
Scheibe sofort aufstehen, sähe er zwei schwarze Scheiben (den anderen
und mich selbst). Da er dies nicht tut, hat er das schwarze Merkmal
nicht bei mir gesehen und verschafft mir auf diesem Wege die Ge-
wißheit, selbst eine weiße Scheibe zu haben.

6 Der unmögliche Dreischritt einer „gewiß“ gemachten Vaterschaft, einer Re-


duktion auf real wiedergekehrte eindeutige Zeichen lautet etwa wie folgt:
– Freiheit bedeutet wie der „Gefängnisvater“ zu sein.
– Das Ansichtigwerden von Zeichenhaftem (hier: zwei schwarzen Scheiben)
verschafft Gewißheit/Freiheit.
– Diese Wahrnehmung macht mich zum Vater.
Paradoxerweise ist dem syllogismusfähigen Wesen Mensch nie das Zeichen
allein gegeben, es ist immer konfundiert vom Signifikanten. Das Dingwerden
des Zeichens ist seine Wiederkehr als Phallus-Signifikant oder „Nullzeichen“.
In diesem Sinne kann Lacan die symbolische Vaterschaft an ein äußeres
Merkmal, das er das „Phallus-Haben“ nennt, knüpfen: so denken zu können,
wie es ein unterstellter Gesetzgeber vorsah, identifiziert mit jenem – genauso
identifiziert sich der Knabe mit seinem Vater, um dem Ödipusgesetz zu folgen.
198 Andreas Spohn

Während die traditionelle Logik ein von Zeit und Person unab-
hängiges Schließen fordert, das bei jeder Wiederholung das gleiche
Resultat hervorbringt, wird in diesem Modell die Gewißheit der ei-
genen Identität ausgerechnet durch das Nicht-Agieren einer anderen
Person geschlossen, das dennoch signifikant darin wird, eine gewisse
Zeit zu beanspruchen und sogar replizierbar wäre. Das eigene Zögern
spiegelt sich in dem anderen, dem ebenso das Gewißheit verschaffende
Zeichen nicht angeboten wurde und der somit zu jenem prototypischen
Signifikanten, einem ohne positives Merkmal bedeutendem „Null-
Zeichen“ wird, das ich selbst für ihn bin. Die beiden Gefangenen mit
weißer Scheibe werden also nach Verstreichen der „Zeit des Verste-
hens“7 simultan aufstehen und das Innehalten ihres Spiegelbildes als
Ursache ihrer Schlußfolgerung nennen. Erst dann endet die Zeit des
Verstehens bei dem Gefangenen mit der schwarzen Scheibe. Er bleibt
gewissermaßen schuldig, während derjenige, der nicht nur eine weiße
Scheibe „hat“, sondern auch bereit ist, ohne sie gesehen zu haben, sich
für eine Entsühnung mit ihr zu identifizieren, der „Gute“ gewesen sein
wird (oder zumindest besser dran). Nietzsche könnte leicht darin die
Sklavenmoral erkennen, sein Glück darin zu finden, so zu denken, wie
die Herde denken würde.
Bei der dritten möglichen Konstellation, dem Anblick von zwei
weißen Scheiben (und somit keiner einzigen schwarzen Rckenscheibe), wird
das empirische Zeichen, das augenblickliche Gewißheit verspricht, zur
frei interpretierbaren Tabula rasa der Identität eines Neugeborenen: die
Parierung dieser Situation ähnelt der Antwort einer archaischen Frau auf
die Vaterfrage, wie sie nach Freuds Totemtheorie unter anderem Vögel
oder Schlangen als Zeuger namhaft macht, wo sie nicht alleine die
Schöpfung verantworten will. Das Wissen um die Möglichkeit eines
unsichtbaren schwarzen Dings, der Verdacht, es gar selbst zu „haben“,
verlegt die Grundlage des Urteilens ins Feld des Phantasmas. Jeder
einzelne der drei Gefangenen mit weißer Scheibe muß in dieser Si-
tuation zweimal zögern (um das zu unterstellen, was er nicht ist) und
simultan doppelt bejahend zweimal das Zögern der anderen beiden

7 Die „Zeit des Verstehens“, die nicht chronologisch meßbar ist, wartet auch
bezüglich der von Nietzsche in die Welt gesetzten Botschaft des Gottestodes
noch auf ihre Ankunft: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und
wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz
und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten
brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu
werden.“ (KSA, FW 3, 480)
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 199

beobachten, um sich deren Denken, welches das Denken des Gesetz-


gebers, des Gefängnisvaters gewesen sein wird, zu verinnerlichen. Im
konklusiven „Moment des Schließens“ können dann alle drei Gefan-
genen zeitgleich aufstehen und „in Hast“ (um nicht gegen ihre bessere
Signifikanten-Gewißheit zurückzubleiben8) ihren Grund der Freiheit
nennen.
So sehr schon die reale Umsetzung dieser Spielanordnung für Un-
zeitgemäßheiten sorgen würde, so ist doch logisch sogar eine Auswei-
tung auf mehr als drei Gefangene denkbar – solange es bei nur zwei
Typen: schwarz und weiß (fort und da) bleibt, ist der Dritte im Grunde
keiner der Gefangenen, sondern der Gefängnisvater, der mit seinem
Amnestieversprechen überhaupt erst einen Grund zum schlußfolgern-
den Denken lieferte. Wer eine weiße Scheibe hat und nicht richtig
schließt, oder wer eine schwarze hat, und trotzdem bluffend aufspringt,
muß Angst vor der Sanktion des Gefängnisvaters haben, der dem Gesetz
der Freiheitserlangung gewissermaßen ein Gesicht gibt – auch wenn er
im Augenblick der Übermittlung seiner frohen Botschaft schon gar
nicht mehr leben sollte. Die Kernkompetenzen der Gefangenen er-
weisen sich dabei als identisch mit denen des Gläubigen: das Phantasma
der Strafe bei fehlerhaftem Schließen wäre das des Zwangsneurotikers,
das reduktive Sehen der Farben schwarz und weiß am anderen Men-
schen das des Psychotikers – und wer sich dem entziehen will und nicht
an den Vater glauben möchte oder nur mit seinem eigenen Spiegelbild
umgehen kann, wäre pervers.
Der gottvatergleiche Gefängnisdirektor ist in Lacans Vokabular ein
„symbolischer Vater“: einer der „Namen-des-Vaters“. Dieser ist jedoch
auf andere Art und Weise tot als Nietzsches Gott, war nie mehr als
Unterstellung, nur als Referenzadresse bzw. als „Signifikant des Be-
gehrens“ existent. Auf ihn zielt die These, daß paradoxerweise sogar er
selbst noch nichts vom allgemein gewordenen Obduktionsbefund
wissen muß. Solange die Schlußfolgerung noch nicht bei ihm ankam
und das Wissensereignis um das auch ihn treffende Gesetz noch un-
terwegs ist, wird sein Leben wenigstens symbolisch bzw. grammatisch
erhalten, in anderen Worten: er darf untot im Status des Verdrängtseins
überleben. „Gott ist unbewußt“ lautet daher Lacans Korrektur an

8 Der Signifikant bildet gewissermaßen die Gewißheitsbrücke über den Ab-


grund, den er „selbst aufgerissen hat.“ (Raymond Borens, „Unser Vater/Vater
unser“, in: Frank Dammasch und Hans-Geert Metzger (Hrsg.), Die Bedeutung
des Vaters, Frankfurt am Main: Brandes & Apsel 2006, S. 88 – 103, hier S. 95).
200 Andreas Spohn

Nietzsches Formel des Atheismus. Gut in Szene gesetzt findet sich dieses
Wissen des Unbewußten in den Verfolgungsjagden bei Tom und Jerry,
wo es immerhin auch um Leben und Tod geht, die hastende Flucht
jedoch ohne an Höhe zu verlieren über den Abgrund hinaus weiter-
gehen darf – bis die Gesetze einer größeren Macht erinnert werden und
der Absturz in ein neues Leben erfolgt.

Die Drei und die Wiederkehr


Meint Nietzsche etwas dieser Vorstellung Ähnliches, wo er von drei
Gestalten des Geistes spricht?
Für die erste Zeit setzt er den „tragsamen Geist“ an, der durch ein
Kamel repräsentiert wird und sich kritiklos den kursierenden morali-
schen Geboten unterstellt – sei es der Dekalog, der von Nietzsche vor
dem gleichen Hintergrund beargwöhnte kategorische Imperativ oder
aber das Versprechen eines Gefängnisdirektors. Nietzsche fragt nach der
Autorität des Gesetzgebers, forscht nach den Gründen, mit denen sich
jener vom Zwang dispensieren möchte, Gesetzesgehorsam zu leisten
und mit der Herde zu schlußfolgern. Er vermutet, daß das Sollen von
einer geschichtlich frühen Pervertierung des menschlichen Denkens
herrührt: wo sich keine sichtbaren Signale der Auserwähltheit ausfindig
machen ließen, wurde gewissermaßen ein Nullzeichen (das Transzen-
denzparadigma) an ihre Stelle gesetzt und das Schweigen der Natur als
Grund der eigenen Beredtheit und Besonderheit genommen. Gott wäre
in diesem Fall zwar je schon tot, kann aber als Garant dieser Praxis (und
als Garantie der Macht der Moralingenieure) nach Vorbild des Vaters
eingesetzt werden. Nietzsche, der der Drei sehr zurückhaltend begeg-
net, sieht diese an einem Mangel orientierte Idee aufgrund von fehl-
geleiteten Gottesvorstellungen der Spätantike erstarken. Genealogisch
gesehen, drücke sich in ihr der natürliche Tod der Tragödie aus, der ein
Machtvakuum hinterläßt, das ein Sokratismus ausfüllen wird, dessen
Übergewichtung des apollinischen Prinzips der „Rücksicht auf Dar-
stellbarkeit“ im Christentum auf die Spitze getrieben wird, wo das
mangelabwehrende Schließen auf einen transzendenten Vater zum
Gesetz wird.
Ein solcher passiver Nihilismus führt in die „Wüste“, die dem
tragsamen Geist sein „heiliges“ Sollen bald der Sinnlosigkeit preisgibt
und ihn einen Widerwillen ausbilden läßt, der das unterwürfige Kamel
in einen Löwen verwandeln wird. Der psychische Mechanismus der
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 201

Abhängigkeit wird sich dabei jedoch nicht verändert haben. Freuds


Verneinungsbegriff beschreibt etwas Ähnliches, wo das Negationszei-
chen zunächst helfen kann, Ballast aus dem Bestand des Verdrängten
loszuwerden, indem es in der Form des Dementi publik, intersubjektiv
und Gegenstand intellektueller Spielerei werden kann, jedoch letztlich
als affkektiv-unbewußtes Ressentiment weiterhin das Subjekt blockiert.
Die vom Löwenherz eroberte Freiheit mündet in einen neuen Zwang
zum korrekten Schlußfolgern unter neuen, erst nach einer Zeit des
Verstehens erkannten Gesetzgebern, von denen keiner je die ganze
Wahrheit sagen wird. Stets bleiben manche Scheiben unrepräsentiert,
stets ist auch der vermeintlich eigene Wille gezwungen, an ein Unge-
sagtes, an einen „Signifikanten“ zu glauben. Einzig auf der Aktiva-Seite
zu verbuchen bleibt, daß das „Ich will“, welches das „Ich soll“ ablöst,
sich mit dem Gedanken anfreundet, selbst eines dieser Gesichter des
Gesetzes werden zu können.
Hier gibt es einen entscheidenden Bruch zwischen Nietzsche und
Lacan. Bei Nietzsche muß sich der verbissene Löwe in ein Kind ver-
wandeln, um die Disposition des Ressentiments und der Rache an der
Zeit zu einer positiven, kreativen Freiheit zu überwinden. Das Kind,
„ein aus sich rollendes Rad“, ist die finale Geistesgestalt, die den von
Nietzsche favorisierten „aktiven Nihilismus“ repräsentieren darf, dessen
Zeitform die ewige Wiederkehr des Gleichen wäre. Wo es zwar auch
zuvor letztlich eine kreisförmige Abfolge von Aufstieg und Fall der
Gesichter des Gesetzes gab, jedoch stets die paternal garantierte Finalität
einer Verbesserung hineingedichtet wurde, will Nietzsche gänzlich auf
die Annahme eines Gefängnisvaters verzichten. Von da an wäre das
Begehrensobjekt nicht weiter ein transzendentes Ding, das man zum
Genuß begehrt, faktisch aber bis auf weiteres nach seinem Gesetz handelt
und Distanz hält. Vielmehr werden die beiden Pole, das „Ich will“ und
das „Ich soll“ in Nietzsches dritter Zeit ersetzt durch ein unabhängiges
„Ich bin“, ausgesprochen von einer Geistgestalt, die nicht mehr von der
vorigen Generation, nicht von Erwachsenen abhängt.
Genau an diesem Punkt, zeigt sich die Differenz des Modells der
zirkulären und des der logischen Zeit: zwar meint auch Nietzsche keine
Wiederaufnahme einer früheren Zeitstelle bzw. Ursache, hat keine
Regression, keine ,Père-version’9 im Sinn, sondern zielt auf eine au-
tonome Neugründung der paternalen Bindung im Sinne eines Sich-

9 Lacan schreibt die Perversion in Nietzsches Sinne einer einseitigen Wendung


zur Strafinstanz wie hier gelegentlich als „Vater-Entropie“.
202 Andreas Spohn

selbst-Vater-Seins. Allerdings geht er dabei wie Dostojewski und ganz


im Gegensatz zu Lacan von der (zwangsneurotischen) Position aus, daß,
wenn Gott bzw. der Gefängnisvater tot wäre, alles erlaubt sei. Sein
aktiver Nihilismus überwindet jenen der erzwungenen, nur sogenann-
ten Freiheit, der den Gefangenen aus Lacans Modellsituation und
ähnlich auch den Gläubigen des Christentums versprochen wird, indem
er die Option eines gänzlichen Auslöschens der Spur des Fremden in der
Tradition der Gefängnisväter stark macht. Nietzsches Alternative eines
„ehrlichen Atheismus“ will nicht nichts (etwa dem Versprechen des
Gefängnisvaters entfliehen), sondern will dieses Nichts, will rückwärts,
will sein eigener Gesetzgeber gewesen sein. Die azephalische Ausnah-
meposition, wie ein Träger einer schwarzen Scheibe (deren Pointe darin
besteht, nie realiter eingesetzt zu werden) befreit von der ihm nutzlosen
symbolischen Vaterbindung zu sein, soll dennoch alle und ihn selbst
nach väterlicher Vorgabe denken lassen. Man könnte es auch so sehen:
seinen Wunsch, sich selbst Vater zu sein, erfüllt sich Nietzsche durch
eine Streichung der Appelldimension im intersubjektiven Semiosepro-
zeß.
Dem würde Lacan widersprechen. Sofern bei ihm der Moment des
Schließens und des Die-ganze-Wahrheit-Sagens zusammenfällt mit der
Realisierung der Freiheit des unterstellten Vaters, erweist sich jene als
Wiedereinsetzung des Platzhalters, der aufs Neue die gruppendynamisch
unter Glaubensbrüdern erarbeitete Wahrheit als Ursache spaltet. Wo
Lacan vom unbewußten Gott spricht, meint er mitnichten die befrei-
enden, sondern die eine Verschärfung der Haftbedingungen beför-
dernden Konsequenzen des gemeinsamen Gottvatermordes. Nietzsches
Hoffnung, sich selbst einen Vater „anzuschaffen“, die Leere im Ande-
ren, den widerlegten „Vater in Gott“ durch eine Schöpfung aus sich
heraus zu kompensieren, würde Lacan skeptisch begegnen. Zu voller
Präsenz käme der Vater bei ihm erst in der Psychose, wo das Gesetz des
Symbolischen bzw. die Referenz auf den Mangel positiviert zur realen
Kastration würde, wo also die Gesetzesgläubigen gewissermaßen den
Kater Tom abstürzen ließen, um daraufhin selbst nicht mehr der Erd-
anziehungskraft gehorchen zu müssen.
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 203

Die Finalität der Drei im Vergleich

Der Zwang zum gesetzesgemäßen Leben wurde im Christentum oft aus


der heilsgeschichtlichen Entwicklung von Zeitaltern entwickelt, deren
dritte Stufe bisweilen nur einer Glaubenselite erreichbar sein soll. Dieser
Ablauf kann durchaus mit den trinitarisch entfalteten drei Hypostasen
Gottes parallelgeführt werden. So spricht etwa Joachim de Fiori von
einem Ineinander der „Zustände“, die der Temporalisierung in einen
seit Christi Geburt vergangenen Vaterstatus, einen gegenwärtigen
Sohnstatus bis zu ihm selbst ins 13. Jahrhundert, und einen von da an
ewig währenden Status des Heiligen Geistes nicht widersprechen
müssen. Joachims Dreizeitentheorie wie auch viele Apokalypse-Theo-
rien des 16. Jahrhunderts setzen überdies noch eine Zwischenphase an,
um den Übergang vom zweiten zum dritten Zeitalter zu sichern, für
welchen die Überwindung des Antichrist angesetzt wird. Modell einer
solchen Hilfe zum Übersetzen hin zur Transsubstantiation sind die
„zwei Zeugen“ des elften Kapitels der Offenbarung, gewissermaßen
zwei tatsächlich wie wilde untote Götter sichtbare schwarze Scheiben.
Sie haben „die Macht, den Himmel zu verschließen“ und die im
symbolischen Leben wirkende Kraft des heiligen Geistes all jenen zu
entziehen, die keine Ohren haben, das Ankommen ihrer Nachricht zu
hören.10 Denn das Schicksal der Träger des Nicht- oder Null-Zeichens
war es, das Zeichen, das gemäß des letzten Zarathustra-Kapitels kommen
soll, zu unterstellen, um es sich fernzuhalten und sich mittels einer
lebenslänglichen Askese zu profilieren.
Bis zur Formalisierung des Vatergesetzes in der Form des Sozialen
bzw. bis zum Tode Gottes setzt die Religion stark auf die Sichtbar-
machung des Phantasmas: Jesus und sein heiliger Vater nehmen ge-
wissermaßen die erste Rolle des Doppel-Schwarz als „Zeugen der
Wahrheit“ ein. Übertragen auf die Ontogenese, die individualpsycho-
logische Entwicklung, bildet die nach dem Eingehen in den heiligen
Geist neu berufene Doppelstütze des Verstehens bei Lacan der Analy-
tiker, der als Aufwerter des punktuellen Wiederholens der angeeigneten
und doch fremdgebliebenen Gründung fungiert, für Nietzsches Projekt
der Wertezerstörung wären es die anti-christlichen Übermenschen.
Lacan weist auf die etymologische Verwandtschaft des Zeugen zum

10 „Ohren haben, zu hören“ ist eine biblische bzw. in vielen Religionen ähnlich
zu findende Formulierung, die sowohl von Nietzsche als auch von Lacan häufig
aufgegriffen wird.
204 Andreas Spohn

Märtyrer hin und nennt den Psychotiker einen „Märtyrer des Unbe-
wußten“ – wie stets, wo eine symbiotische Zweierbeziehung die Gefahr
eingeht, der Wahrheit einer ,folie à deux’ anheimzufallen.
Allerdings sind das Verstehen und Schließen, welche zum sozialen
Erfolg ebenso gehören wie zum verheißenen Eintritt in die Geistge-
meinschaft, kriterial nicht leicht zu fassen. Das Scheibenmodell zeigte,
daß sich den Gläubigen eines Mythos’ nicht aktualisierter Schwarzele-
mente allein das Nullzeichen (ein asketischer Nicht-Akt) zu Erkennen
gibt. Auch der Schritt von der Couch zum Sessel, von der Verdrängung
zur Sublimierung, meint eine Revolution der Einstellung zum unbe-
wußten Gottvater, die aber prinzipiell auch vorgetäuscht werden
könnte. Damit ist der Unterschied zwischen empirischem bzw. ver-
drängendem und transzendentalem bzw. sublimierendem Subjekt ge-
meint. Der zukünftige Analytiker (bei Lacan ein sogenannter ,passant’
bzw. Initiand), zunächst Effekt der Sprachwirkung einer Frohen Bot-
schaft (der Message als aktualisierte Signifikantenanordnung der drei
weißen Scheiben), will selbst Ursache werden, will sagen können „Ich
weiß“ – was im Scheibenmodell nur heißen kann: „Ich bin weiß“.
Lacan behauptet, daß sich der Analytiker selbst autorisiert und somit auf
die Prüfung durch eine väterliche Kommission verzichtet, dennoch setzt
er an ihre Stelle die initiatorische Prüfung der ,passe’. Sie sieht vor, daß
der Aspirant seine innere Revolution in einer angemessenen Zahl von
Einzelgesprächen zwei ,passeurs’ bzw. Zeugen mitteilt (das Ankommen
der Nachricht, das Ende der Analyse kann jeder der drei – ganz wie im
Scheibenmodell – gewissermaßen durch bloßes Aufstehen bestimmen).
Die „Zulassungsjury“, ein weiteres, sozusagen „letztes Gericht“, erfährt
anschließend von dieser Präsentation – jedoch allein durch die beiden
im Zufallsverfahren ausgewählten Zeugen. Aus deren Aussage sollen sie
wie der Gefängnisvater im Modellversuch so sichere Schlüsse ziehen
können, als hätte die Wahrheit selbst, die Nachricht eines herausprä-
parierten transzendentalen Subjekts zu ihnen gesprochen. Wenn
Nietzsches Zeit des aktiven Willen-zur-Macht nicht als Ablösung,
sondern als Verstärkung der Askese verstanden wird, so trifft auch auf
den dem Reglement der ,passe’ unterworfenen Aspirant das Überich-
Paradox zu, daß man um so unfreier wird je (un)gehorsamer man ist.
Denn nur wenn sich das Begehren nach einer dinghaft wirklichen
Freiheit überträgt, wird bei der Jury (wie im Modell beim Gefängnis-
vater) nach Zwischenschaltung von Zeit und Person ankommen, daß
das Begehren es vermochte, „die Kontingenz des Vergangenen neu zu
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 205

ordnen, indem es ihr den Sinn einer zukünftigen Notwendigkeit


gibt“.11
Viele Autoren betonen die Nähe der Sublimierung des Analytikers
zur Psychose, von der Lacan behauptete, sie sei ein Märtyrertum, eine
direkte, passive Bezeugung der unbewußten Autorität. Und tatsächlich
wird die Sublimierung nuanciert als eine distanzierte Überhöhung, als
ein ironisches Ernstnehmen solcher Märtyrer.
Nietzsches Lehre der „großen Gesundheit“ entwickelt sich in Lö-
wenmanier an einem paternal konturierten Gegner: dem christlichen
Zeitmodell eines Anfangs im selbst vorgängerlosen Vater12, einer sich in
der Zeit entfaltenden Geschichte und schließlich einem messianisch-
gerichtlichen Ende aller Zeiten, worin die Materie im väterlichen Geist
aufgehoben wird. An die Stelle der dritten Zeit des Christentums, die er
als Fluchtpunkt einer Versklavung der Massen versteht, setzt Nietzsche
die Zeitform der ewigen Wiederkehr. Seine zwischen dem dionysischen
Urstand, der darauffolgenden Pervertierung der Götter bis hin zum
finalen Tod eines einzigen Gottes aufgespannte Geschichtslinie ist einer
Krümmung unterworfen, würde immer wieder zurückkommen – bis
ins kleinste Detail, ohne Variation des Ablaufs. Der Mittag, der die
lineare Geschichte mitsamt ihren Jenseitsphantasmen vom zirkulären
Zeitmodell trennt, erzwingt, sobald er in den Köpfen prädestinierter
neuer Zeugen, Neuer Menschen, angekommen sein wird, einen
Neubeginn des Kalenders. An einem solchen Mittag wird die Eins zur
Zwei, in der die Drei aufgehoben ist.
Nietzsches amor fati, das doppelte Ja zu Jetzt und Wiederkehr, ist
strukturiert wie das Futur anterior, es formuliert sich als „Ich werde dies
gewollt haben“. Was im Zeitalter des passiv nihilistischen Ressentiments
verloren ging, ist keineswegs eine Differenz zwischen Schwarz und
Weiß, sondern eine Differenz innerhalb des als proto-weiß unterstellten
Verteilers der Farben, wie er einst selbst seine Farbe festsetzte. Zwar gibt
es keine Metasprache, aber das jedes Urteil unsichtbar begleitende „Es

11 Jacques Lacan, „Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der
Psychoanalyse“ (1953), aus dem Französischen übersetzt von Klaus Laermann,
in: ders., Schriften I, herausgegeben von Norbert Haas, Olten: Walter 1973,
S. 71 – 170, hier S. 95.
12 Seine Macht rührt von einer – mit Walter Benjamin zu sprechen – „göttlichen
Gewalt“: dem mystischen Grund der Autorität der Gesetze, die im Augenblick
ihrer Errichtung selbst eine reine Gewalt gewesen sein müssen. Daß ihr Subjekt
transzendental: völlig interesselos sei, ließ Kant in Bezug auf den Monar-
chenmord schaudern.
206 Andreas Spohn

ist wahr, daß…“ bezeugt die bei Nietzsche wie auch bei Lacan unter-
strichene strukturelle Identität von Wahrheit und Weiblichkeit.13 Die
Wahrheit, die eine Frau wäre, situiert sich jedoch jenseits des „Ein“, zu
dem sie das männliche Begehren, für das nach Lacan auch tatsächlich ein
Geschlechterverhältnis existiert, machen will. Erst die Bejahung des
Gesetzes als frei (bzw. „weiß“) gegebenem Anderen – garantiert durch
die implizite, selbstspaltende Meta-Aussage der Wahrheit „Es ist wahr,
daß…“ (und nicht durch einen „Anderen-des-Anderen“) – ermöglicht
auch die via Unterstellung bejahte Geisterexistenz des Nullzeichens
„Doppelschwarz“, das die Ursache eines weiß „seienden“ Subjektes
gewesen sein wird. Während der Verdopplung des Zögerns referiert
man auf beides: Unterstellen und selbstspaltendes Unterstellensunter-
stellen entsprechen so der freiheitsstiftenden Logik einer doppelten
Herkunft: als Vater (ein nur „zum Vorübergehen bestimmtes Wesen“)
bereits gestorben zu sein, als Mutter aber noch zu leben und alt zu
werden.14 Dem Auslöschen des Täters im Prozeß seiner Selbstzeugung
als Signifikant (ein „Name-des-Vaters“) entspricht die begleitende, stets
wiederkehrende „unsühnbare“ Tat einer reinen (mütterlichen) Gewalt.
So ist es gewissermaßen die Semiose, die das Hineindichten eines
Subjekts effektuiert, welches die Gottvaterposition entweder usurpiert
oder sich ihr unterwirft. Es scheint, dass man ohne die Annahme von
weiteren unsichtbaren Scheiben, ohne die Reduktion von Personen auf
Scheiben und auf ihre moralisch bzw. vielmehr machtpolitisch ge-
wordene Qualität dem klaustrophobischen Engegefühl in den Gefäng-
nismauern entkommen und eigene Münzen prägen, neue Werte setzen
könnte.
Lacan dagegen bekennt offen, daß es ihm in der Kur nur um einen
Umtausch der Symptome, nicht um die Neuprägung der „Neurosen-
wahl“ geht, denn keine Neubestimmung der Modalitäten der Wie-
derkehr kann darauf verzichten (dies ist eine Art regulative Idee der
Psychoanalyse), in der Intersubjektivität einen Gefängnisvater zu un-

13 Dieses Beispiel ist einem lacanianischen Nietzsche-Buch entnommen: Alenka


Zupančič, The shortest Shadow. Nietzsche’s Philosophy of the Two, Massachusetts-
London: The MIT Press 2003, S. 143.
14 Inwieweit sich Nietzsche und Lacan, wenn die Motivation zum Denken im
Dreischritt vom Vater herrührt (und ein Begehren: eine dem Futur anterior
gleichkommende Antizipation verursacht), die operative Umsetzung aber
mütterlich besetzt ist, nur in der Interpretation der Geschlechtszuschreibungen
unterscheiden (Nicht-Existenz des Geschlechterverhältnis vs. doppelte Her-
kunft), kann hier nicht erörtert werden.
Nietzsche und Lacan zur Dreizeitentheorie 207

terstellen und seinen Gesetzen zu folgen. Der Untertitel der Theorie der
logischen Zeit lautet entsprechend: „Ein neues Sophisma“. „Sophis-
tisch“ daran ist, daß man wissen kann, daß nur transzendentale Subjekte
exakt gleich schnell ihre Ziele verfolgen, exakt gleich schnell aufstehen
und exakt gleich begründen. Letztlich bleiben alle, auch die sublimie-
renden Analytiker immer etwas verspätet. Es gibt sozusagen keine drei
Subjekte, die je zeitgleich irgend etwas dem Status der Gewißheit zu-
führen könnten. Verdrängend glaubten sie viel zu wissen, sublimierend
aber wissen sie um den Unterstellenscharakter dieses Wissens, spüren die
Ungerechtigkeit, faktisch weiter im Modus der drei Zeiten und des
Syllogismus zu leben. Wer neue Gesetze festlegen will, braucht wieder
mindestens zwei Zeugen.
Nietzsche dagegen sublimiert nicht, er bejaht und begegnet den
Zuckungen und der neurotischen Hast der anderen zynisch, nicht
ironisch. Er tat dies vielleicht in der Hoffnung, auch ohne Zeugen
einem solchen psychosenahen Hanswurst-Typus immer öfter wieder
begegnen zu können, so oft, daß die Menschheit irgendwann nicht
mehr aus Tieren bestehe, die sich selbst feststellen wollen, sondern aus
Übermenschen, die lachen, tanzen, parodieren, zerstören – um
schließlich eine dionysische Gemeinschaft ewig schweigender Kinder
zu bilden.
„Man kann von Nietzsche nicht sprechen, ohne ihn
eindeutig zur Aktualität in Beziehung zu bringen.“
Zur Auseinandersetzung mit der französischen
Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr
Sozialforschung
Ernani Chaves

Ab Januar 1931 übernimmt Max Horkheimer offiziell die Leitung des


Instituts fr Sozialforschung, das der Universität Frankfurt angegliedert ist,
wo er Professor für Sozialphilosophie geworden war. Das bedeutete
nicht nur eine Veränderung in der organisatorischen Leitung des In-
stituts, vielmehr hauptsächlich seiner theoretischen Perspektive, die sich
die Idee eines interdisziplinären Forschungsprogramms zur Grundlage
machte, wo sich Philosophie, Psychoanalyse, Soziologie, Wirtschaft und
eine Reflexion der Künste gegenseitig ergänzten. Die Gründung der
Zeitschrift fr Sozialforschung mit halbjährlichem Erscheinen war ein
wichtiger Teil dieser Veränderung. Die erste Ausgabe der Zeitschrift
wurde im Sommer 1932 vom Verlag Hirschfeld aus Leipzig veröf-
fentlicht, der auch das Archiv fr die Geschichte des Sozialismus und der
Arbeiterbewegung unter der Institutsleitung des Historikers Carl Grünberg
herausbrachte. Auch wenn die zwei Zeitschriften das gleiche visuelle
Äußere aufwiesen, unterschieden sie sich beträchtlich, was die inhalt-
liche Anordnung betraf. Die Zeitschrift setzte sich grundlegend aus Ar-
tikeln und Rezensionen zusammen. Die Artikel wurden vorzugsweise
von Institutsmitgliedern verfasst, während die Rezensionen auch von
Gästen geschrieben werden konnten, und sie wurden nach verschie-
denen Wissensgebieten geordnet in Abschnitten gliedert, die Philoso-
phie, Soziologie, Psychologie, Geschichte, Wirtschaft und Literatur-
kritik umfassten. Nach Alfred Schmidt „gehört [die Zeitschrift] zu den
großen Dokumenten europäischen Geistes in diesem Jahrhundert“1 und

1 Alfred Schmidt, „Die Zeitschrift fr Sozialforschung und Gegenwärtige Bedeu-


tung“, in: Zeitschrift fr Sozialforschung. Photomechanischer Nachdruck mit
Genehmigung des Herausgebers, München: Kösel-Verlag 1970, S. 5 – 63, hier
210 Ernani Chaves

sie unterschied sich von anderen wissenschaftlichen Zeitschriften da-


durch, daß sie „ein einheitliches Programm [verfolgte], ohne daß des-
halb die individuellen Neigungen und Interessen der Mitarbeiter oder
gar die Wissenschaftlichkeit des Anspruchs im mindesten geschmälert
worden wären“.2
Aufmerksam auf die schwerwiegenden Konsequenzen der Macht-
ergreifung Hitlers achtend, sorgte Horkheimer unverzüglich für das
Überleben der Institution. Noch im Februar 1933 richtete er eine
„Societé Internationale de Recherces Sociales“ und gleich darauf zwei
Vertretungen des Instituts im Ausland ein: eine in Paris, im Centre de
Documentation de l’École Normale Supérieure, geleitet von Celestin
Bouglé, Schüler von Durkheim, und eine andere in London im Le Play
House des Londoner Institute of Sociology. Die Ereignisse rechtfer-
tigten den Weitblick Horkheimers: am 13. März 1933 besetzte und
schloss die Polizei den Institutssitz in Frankfurt.
Auch wenn der administrative Sitz des Instituts sich in Genf befand,
übernahm das Büro in Paris zweifellos die wichtigste Rolle in den
Immigrationsjahren vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, und zwar aus
drei Hauptgründen:
1) weil sich der neue Verlag des Instituts in Paris befand, die an-
gesehene Libraire Felix Alcan, der die Zeitschrift zu veröffentlichen
begann; 2) weil dort die Ergebnisse der international finanzierten em-
pirischen Projekte des Instituts zusammenflossen und schließlich 3) weil
es sich zu einem Vorposten des Instituts in Europa verwandelt hatte.3
Die Libraire Felix Alcan übernimmt den Druck und die Verwaltung der
Zeitschrift ab der vierten Ausgabe, die im Herbst 1933 veröffentlicht
werden sollte, nachdem Hirschfeld, der deutsche Verlag, Horkheimer
mitgeteilt hatte, daß er in Anbetracht der neuen politischen Lage kein
Risiko mehr eingehen könne. Dem Vertrag mit Felix Alcan entspre-
chend, sorgte das Institut für 300 Abonnements, während sich der
Verlag für den Druck von 800 Exemplaren und weiteren 50 Mustern
S. 5. – Alle Zitate aus der Zeitschrift werden im Folgenden mit den Sigel ZfS
gekennzeichnet, gefolgt von der Ausgabe, dem Jahr und der Seite.
2 Schmidt, Die Zeitschrift fr Sozialforschung. Geschichte und Gegenwrtige Bedeutung
(Anm. 1), S. 5.
3 Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung.
Politische Bedeutung, 2. Aufl., München: DTV 1989, S. 153 ff. und noch im
Hinblick darauf Brief von Horkheimer an Sébastien Charléty, Historiker und
zu dieser Zeit Rektor der Universität zu Paris, vom 21. Juni 1933, in: Max
Horkheimer, Briefwechsel 1913 – 1936, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 15,
Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 108.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 211

für Werbezwecke verpflichtete. Darüber hinaus bürgte der Verlag für


die Weiterführung des Geistes der Zeitschrift „als wissenschaftliches
Organ in deutscher Sprache“4 entsprechend den Worten von Hork-
heimer im Vorwort der zweiten Nummer von 1933, d. h. der ersten, die
von Felix Alcan veröffentlicht wurde. Der Leiter des Pariser Büros war
bis 1936 Paul Honigsheim, Assistent des Soziologen Leopold von
Wiese, einem der Gründer der Deutschen Gesellschaft fr Soziologie.
Honigsheim leitete vor der Emigration die Volkshochschule in Köln.5
Die Ausgaben der Zeitschrift, die von Felix Alcan im Zeitraum
zwischen 1933 und 1940 veröffentlicht wurden, erlauben es uns bei
aufmerksamer Lektüre, die intensive Debatte um das Denken von
Friedrich Nietzsche zu verfolgen, das aufgrund seiner Vereinnahmung
durch das nationalsozialistische Denken bereits im Vordergrund dama-
liger philosophischer Kontroversen stand. An dieser Auseinandersetzung
beteiligten sich alle berühmten Mitglieder des Instituts, wie Hork-
heimer, Adorno, Benjamin und Marcuse und wichtige und einfluß-
nehmende Mitwirkende wie Karl Löwith und Paul Honigsheim selbst.
Im Band III von 1934, zum Beispiel, veröffentlicht Honigsheim eine
Rezension mit dem Titel „Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle
littérature française“, wo er einige Beobachtungen in Bezug auf die
französische Rezeption der drei zitierten Autoren anstellt. Die Präsenz
Nietzsches wird dadurch gerechtfertigt, daß seine Ideen – vorwegge-
nommen durch die Gedanken Luthers und der Romantik – das der
„civilisation française“ so wertvollen „ideal rationaliste“ in Frage stellen.
Im Anschluss stellt Honigsheim auf eine sehr synthetische Art zwei
Bücher von Geneviève Binaquis,6 eine Biographie geschrieben von
Félicien Challaye,7 das bekannte Werk von Th. Maulnier8 und das Buch
von Louis Vialle9 vor und schließt seine Rezension mit dem Hinweis
auf die Gemeinsamkeit all dieser Werke trotz ihrer Unterschiede ab: 1)

4 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische


Bedeutung (Anm. 3), S. 153.
5 Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische
Bedeutung (Anm. 3), S. 153.
6 Geneviève Binaquis, Nietzsche en France, Paris: Felix Alcan 1929 und diess.,
Nietzsche, Paris: Les Èditions Rieder, ohne Jahresangabe.
7 Félicien Challaye, Nietzsche, Paris: Libraire Melotté, ohne Jahresangabe.
8 Thierry Maulnier, Nietzsche, Paris: Libraire de la Revue Française 1933.
9 Louis Vialle, Dtresses de Nietzsche, Paris: Felix Alcan 1933.
212 Ernani Chaves

Es gebe etwas „constant“10 im Werk Nietzsches trotz der offensichtli-


chen Variationen und 2) die Position von Nietzsche sei nicht nur
„destruktiv“, sondern auch „affirmativ und aus diesem Grund könnten
sowohl die „catholiques“11 als auch die „glorificateurs du nationalisme“
ihm folgen. Genau aufgrund dieser zwei Charakteristiken könnte
Nietzsche, nach Honigsheim, beim „milieu du pays classique des droits
de l’homme“12 Erfolg gehabt haben. Herbert Marcuse rezensiert sei-
nerseits im Band VIII von 1938 zwei Bücher über Nietzsche, die von
Heinrich Härtie13 und Georg Siegmund14. Marcuse betrachtet das Buch
von Härtie als „eine offizielle Zusammenstellung“,15 die die Ver-
wandtschaft zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus bestäti-
gen sollte. Wenn einerseits das Buch von Härtie von anderen mit
ähnlicher Thematik in dem Maß abweicht, wie es die sich widerspre-
chenden Positionen Nietzsches nicht verbirgt, so erzeugt es allerdings
andererseits „eine verkehrte Deutung“, da er die Texte aus ihrem
Kontext herausreißt:
„So soll Nietzsches Kampf gegen den Antisemitismus nur eine veraltete
Form des Judenhasses meinen, seine Absage an die Deutschen nur eine zu
überwindende Form des Deutschtums treffen, aus höchstgespannter Liebe
kommen usw.“16
Das Buch von Siegmund allerdings, auch wenn es als „kleine katholi-
sche Schrift“ bezeichnet wird, zeigt, daß der Autor „keine falsche
,Rettung’ [will]“:
„Er versteht den starken Einfluss Nietzsches aus der Affinität seines Anti-
Christentums und Atheismus zu einer von allem echten Bindungen los-
gerissenen, blind individualistischen Zeit.“17

10 Paul Honigsheim, „Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littérature


française“, in: ZfS, III, 1934, S. 414.
11 Honigsheim, Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littrature franÅaise
(Anm. 10), S. 414.
12 Honigsheim, Taine, Bergson et Nietzsche dans la nouvelle littrature franÅaise
(Anm. 10), S. 414.
13 Heinrich Härtie, Nietzsche und der Nationalsozialismus, München: Frans Eher
Nachfolger 1937.
14 Georg Siegmund, Nietzsche, der Atheist und Antichrist,. Paderborn: Bonifacius-
Druckrei 1937.
15 Herbert Marcuse, „Besprechung“, ZfS, VII, 1938, S. 226 – 227, hier: S. 226.
16 Marcuse, Besprechung (Anm. 15) S. 227.
17 Marcuse, Besprechung (Anm. 15) S. 227.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 213

Wir beschränken uns hier für eine genauere Analyse auf die französische
Nietzsche-Rezeption mit dem größten Echo auf Seiten der Zeitschrift:
Es handelt sich um die harsche Kritik am Nietzsche-Buch Jaspers. Diese
Kritik weist schließlich auf die französische Zielgruppe der Anhänger
der Frankfurter Schule hin: die Gruppe um Jean Wahl und die Zeit-
schrift Recherches philosophiques.

Das Echo der „existentiellen“ Nietzsche-Interpretation durch


Karl Jaspers in Frankreich

Im Anschluss an die Veröffentlichung des Buches von Karl Jaspers


Nietzsche, Einfhrung in das Verstndnis seines Philosophierens (1936) ver-
öffentlichte Jean Wahl eine Buchrezension in der Zeitschrift Recherches
philosophiques, deren Gründung und Leitung er unterstützt hatte.18 Die
Stellung von Jean Wahl im inneren Zirkel der französischen Rezep-
tionsgeschichte wird von Jacques Le Rider hervorgehoben, für den er
„un des premiers à traiter de Nietzsche avec le même sérieux que de
Hegel ou de Kierkegaard (auxquels il consacra des ouvrages)“19 war. Die
Bedeutung dieser Ansicht ist hervorzuheben: Sie betrachtete Nietzsche
als „Philosophen“, eine in der damaligen Zeit nicht sehr weit verbreitete
Position. In dieser Rezension hebt Wahl, neben dem Lob für das Jas-
pers-Buch die Präsenz Nietzsches in der Gesamtheit des bis dahin
veröffentlichten Werkes Jaspers’ hervor und schlussfolgert: Nietzsche
werde, neben Kierkegaard, zu einem Gründer der „Existenzphiloso-
phie“.
Als erst 1950 die französische Übersetzung des Jaspers-Buches er-
schien, wurde Wahl gebeten, ein Vorwort zu verfassen. Er schrieb es in
Form eines „Lettre-Préface“, gerichtet an Henri Niel, den Übersetzer,
wo er die Grundzüge seiner Rezension aus den 1930er Jahren wieder
aufnimmt. Indem er einen Satz von Jaspers selbst wiederholt, wo dieser
die wachsende Bedeutung Nietzsches und Kierkegaards für das Ver-
ständnis der „situation philosophique présente“ mit nachteiliger Wir-
kung für Hegel und seine Nachfolger (hier lese man Marx und den
Marxismus), bekräftigt Wahl:

18 Jean Wahl, „Le Nietzsche de Jaspers“, Recherches philosophiques, Band VI, 1936 –
1937, S. 362.
19 Jacques Le Rider, Nietzsche en France. De la fin du XIXe. Sicle au temps prsent.
Paris: PUF 1999, S. 183.
214 Ernani Chaves

«Il s’agirait donc avant tout de prendre conscience de ces deux événements
philosophiques que constituent Nietzsche et Kierkegaard, sans jamais les
séparer l’un de l’autre, chacun d’eux ne prenant, comme on pourra le
montrer, toute sa signification que par sa relation et par son opposition avec
l’autre».20
Indessen gewinnt ein anderer Name entscheidende Bedeutung in die-
sem „Lettre-Préface“: der von Heidegger. Jaspers hatte noch 1917 in
seinem Buch Wahrheit und Existenz darauf hingewiesen, daß Nietzsche
und Kierkegaard nicht ausschließlich Produkte einer Epoche der Ver-
änderung in der Geschichte sind, sondern gleichzeitig, wie Wahl klar-
stellt, das Bewusstsein von der „enorme beauté de l’époque qui va
survenir“. Er schreibt:
«En fait, nous sommes, pour Jaspers comme pour Heidegger, devant la fin
de la philosophie occidentale de la rationalité considérée comme objective
et absolue».21
Auf diese Weise nimmt die Auslegung von Jean Wahl nicht nur die
Verbindung zwischen Nietzsche und Kierkegaard wieder auf, sondern
auch jene zwischen Jaspers und Heidegger.
Die Antworten auf Jean Wahl in der Zeitschrift erfolgen in zwei
verschiedenen Ausgaben durch drei verschiedene Autoren – Löwith,
Horkheimer und Adorno – die sich aber durch die gleiche Absicht
ergänzen: die Kritik an der Nietzsche-Rezeption unter Rückbeziehung
auf die „Existenzphilosophie“ und das Bewusstsein der Notwendigkeit,
Nietzsche mit der „Aktualität“ in Beziehung zu setzen. Die zwei ersten
Antworten erscheinen im Band VI der Zeitschrift von 1937, wo sowohl
Löwith als auch Horkheimer über das Jaspers-Buch schreiben; die dritte
findet sich im Band VIII von 1939: die Adorno-Rezension des Wahl-
Buches über Kierkegaard, die schon in New York erscheint.
Indessen ist es wichtig zu erinnern, daß im gleichen Band der
Zeitschrift fr Sozialforschung, in dem die Kritiken am Jaspersbuch er-
scheinen, zwei Rezensionen über spezifische Ausgaben der Recherches
Philosophiques veröffentlicht werden: Eine ist von Walter Benjamin
geschrieben und bezieht sich auf den Band IV der Recherches von 1934 –
1935 und die andere von Raymond Aron bezüglich Band V von 1935 –
1936. Beide Autoren weisen auf die enge Beziehung der Recherches mit

20 Jean Wahl, «Lettre-Préface», in: Kart Jaspers, Nietzsche. Introduction  sa


philosophie, aus dem Deutschen übersetzt von Henri Niel, Paris: Gallimard
1950, S. I.
21 Wahl, Lettre-Prface (Anm. 20), S. II.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 215

der „deutschen Forschung“22 hin, wie Benjamin sagt, oder mit den
„doctrines allemandes“,23 wie Aron herausstellt. Beide formulieren ihre
Kritik auch auf sehr ähnliche Weise. Benjamin unterläßt es nicht, auf
den Stellenwert von Max Scheler und Heidegger in den Artikeln über
phänomenologische Einführung der Recherches aufmerksam zu machen,
die von einer ontologischen und metaphysischen Anthropologie
durchdrungen sind, mit Ausnahme von, so Benjamin, gerade dem Ar-
tikel von Löwith bezüglich Hegel, Marx und Kierkegaards, „die einer
kritischen Haltung zu anthropologischer Philosophie förderlich sind“.24
Aron seinerseits macht auf „la confusion idéologique dont témoigne la
juxtaposition de tant d’études divers par l’orientation et la qualité ne va
pas sans inconvénients“25 aufmerksam und kritisiert daneben die Artikel,
die „la philosophie existentielle“26 folgen – vertreten von Lévinas,
Benjamine Fondane und Jeanne Hersch. Letzteren nennt er „une
disciple fervente de Jaspers“.27 Wie man sehen kann, gab es sowohl von
deutscher Seite, hier von Benjamin vertreten, als auch von französi-
scher, wie uns das Beispiel von Aron zeigt, ein tiefes Mißtrauen im
Bezug auf die französische Rezeption der deutschen Philosophie, die
sich auf Heidegger und Jaspers beruft.
Löwith seinerseits unterhielt enge Beziehungen zu Jean Wahl und
seiner Gruppe. Er veröffentlichte nicht nur Artikel in den Recherches
Philosophiques, 28 auch sein Buch über Nietzsche wurde von Paul Ludwig
Landsberg lobend in der Recherches rezensiert.29 Sogar Wahl selbst
schrieb eine Rezension über das Buch von Löwith.30 In dieser Re-
zension weist Wahl auf eine Distanz von Löwith zu Heidegger hin:

22 Walter Benjamin, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 173 – 174, hier: S. 173.
23 Raymond Aron, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 417 – 419, hier: S. 417.
24 Benjamin, Besprechung (Anm. 22), S. 174.
25 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 417.
26 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418.
27 Aron, Besprechung (Anm. 23), S. 418. Aron bezieht sich auf folgendes Buch:
Jeanne Hersch, L’ illusion philosophique, Paris: Libraire Felix Alcan 1936.
28 Löwith, Karl, „L’achévement de la philosophie classique par Hegel et sa dis-
solution chez Marx et Kierkegaar“, in: Recherches Philosophique, Band IV, Boivin
& Cia., Editeurs, Paris, 1934 – 1935 und ders., „La conciliation hégélienne“, in:
Recherches Philosophique, Band V, Paris: Boivin & Cia. Editeurs 1934 – 1935.
29 Paul-Laurent Landsberg, „Comptes Rendus“, in: Recherches philosophiques, Band
V, Paris: Boivin & Cia., Editeurs 1935 – 1936, S. 535 – 537.
30 Jean Wahl, „Notes“, in: Nouvelle Revue Française, Paris: Éditions Gallimard
1937, S. 792 – 793.
216 Ernani Chaves

«Si je comprends bien la pensée de M. Löwith, elle est celle d’um


philosophe qui après avoir subi fortement l’influence de l’’existentialisme’
de Heidegger, a pris conscience de certains dangers qu’il pourrait faire
courir à la pensée; M. Löwith revendique les droits de la spéculation à la
fois sévère et désintéressée, telle que la concevait la Grèce. Il veut nous
rappeler aus normes de la pensée en tant que théorie.»31
Das zeigt, wie groß die Wirkung des Buches von Löwith über Nietz-
sche sowohl in den französischen Zirkeln als auch bei Mitgliedern der
Gruppe um Horkheimer war.32
Löwith beginnt seine Besprechung mit einem Satz, der den rauen
Ton der Debatte und der Kritik zum Ausdruck bringt:
„In Jaspers’ neuem Buch ist von Nietzsches Aktualität schlechthin nichts zu
verspüren. Seine breit angelegte Einführung scheint, jenseits aller Fragen
der Zeit, im reinen Äther eines allseitigen Wissens zu schweben.“33
Nach der Kritik am Fehlen einer Meinung Japsers, inwieweit Nietzsche
selbst für seine Vereinnahmung durch das nationalsozialistische Denken
zur Verantwortung gezogen werden könne, fasst Löwith seine Beden-
ken unter folgendem Aspekt zusammen: Jaspers wendet seine eigenen
philosophischen Begriffe auf die Philosophie Nietzsches an und schafft
dadurch schließlich eine Reihe von Mißverständnissen. Der Begriff
Leben zum Beispiel wird zu einem „Existenzbegriff“, die Frage nach
dem „Tod Gottes“ wird zu einer nach dem „existenziellen Anspruch“.
Die Kritik Löwiths hat seine eigene Nietzsche-Interpretation zur
Grundlage, die schon in seinem Buch von 1935 präsent war. Gegen die
Position von Jaspers, daß die Philosophie Nietzsches von einer
„schwindelerregenden Bewegung“ durchdrungen sei oder daß es sich
um eine einfache „Beschwörung der Unendlichkeit“34 handele, betont
Löwith deshalb, daß die Philosophie Nietzsches „ein System in
Aphorismen“35 sei. Dieses werde ständig von einer zentralen Frage
durchkreuzt – dem Konflikt, einerseits „jene alte, ,endliche’ Welt“
zurück haben zu wollen und andererseits sich nach einem „neuen Wozu

31 Wahl, Notes (Anm. 30), S. 792.


32 Ernani Chaves, „Nietzsche en exil: à propos de la lecture du livre de Karl
Löwith sur Nietzsche (1935) par Walter Benjamin“, in: Paolo D’Iorio und
Gilbert Merlio (Hrsg), Nietzsche et l’Europe, Paris: Éditions de la Maison des
Sciences de l’Homme 2006, S. 271 – 286.
33 Karl Löwith, „Besprechung“, in: ZfS, VI, 1937, S. 405 – 47, hier S. 405.
34 Löwith, Besprechung, (Anm. 33), S. 406.
35 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkunft des Gleichen, Berlin:
Die Runde 1935, S. 11.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 217

oder Ziel“ zu sehnen.36 Dieses System hebe nicht die Form einer „vagen
Dialektik“ auf, es sei vielmehr „bestimmt durch eine dreifache Ver-
wandlung, welche die erste Rede des Zarathustra beschreibt.“37
In einem Brief an Löwith, geschrieben am 27. Juli 1937 in New
York, teilt Horkheimer mit, eine längere „Nachbemerkung“ zum Buch
Jaspers’ geschrieben zu haben, was er mit der Sorge über die Wirkung
des Buches in Frankreich und anderswo rechtfertigt:
„Da es [das Jaspers’ Buch] in Frankreich und anderswo eine große Wirkung
ausübt, wollte ich noch einige Proben seiner Darstellung mit Nietzsches
Text konfrontieren, um auch im einzelnen zu zeigen, wie sich Jaspers in
Sachen Juden, Franzosen, Deutschen und Nation aus der Affäre gezogen
hat. Wir selbst wissen das alles recht gut, aber in anderen Ländern ist es
unbekannt.“38
Horkheimer fordert demnach, Nietzsche gegen falsche Interpretationen
zu schützen, was hier auch das Buch Jaspers einschließt.
Die Kritik Horkheimers setzt marxistische Elemente der Kritischen
Theorie voraus. Daher wird Jaspers als „Spießbürger“39 bezeichnet, der
auch versucht, aus Nietzsche einen „Spießbürger“ zu machen. Das Ziel
dieser falschen Auslegung sei es, Nietzsches Philosophie für die Deut-
schen akzeptabel und schmackhaft zu machen. Auf diese Weise folge
Jaspers schließlich einer „liberalistischen Ideologie“, deren schwerwie-
gende theoretische, aber auch politische Schlussfolgerung es sei, daß
„alle Gegensätze [der Philosophie Nietzsches] untergehen.“40 Gegen
Jaspers hebt Horkheimer anfangs die Radikalität des Denkens von
Nietzsche hervor; „Nietzsche hat den objektiven Geist seiner Zeit, die
psychische Verfassung des Bürgertums analysiert.“41 Andererseits könne
man, so unterstreicht Horkheimer, nicht vergessen, die utopischen –
und gerade deshalb emanzipatorischen Elemente – anzuerkennen, die
im Begriff des bermenschen enthalten sind. Horkheimer zufolge kann
Nietzsche, weil er nur die Sozialdemokraten, nicht aber Marx kannte,
die Zielsetzung des bermenschen als „klassenlose Menschheit“ nicht
begreifen – eine Perspektive, die sich in der Sozialdemokratie langsam

36 Löwith, Besprechung, (Anm. 33), S. 406.


37 Löwith, Besprechung (Anm. 34), S. 406.
38 Max Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940 in: ders., Gesammelte Schriften,
Band 16, Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 202 – 3.
39 Max Horkheimer, „Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche“, in: ZfS, 1937, VI,
S. 407 – 414, hier S. 408.
40 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche (Anm. 39), S. 408.
41 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche (Anm. 39), S. 408.
218 Ernani Chaves

verliert. Darüber hinaus bewertete Nietzsche den geschichtlichen Wert


der Arbeit falsch, nämlich immer als versklavend. Aber dies verhindere
nicht die Notwendigkeit „hinter seinen [von Nietzsche] scheinbar
menschenfeindlichen Formulierungen“ den „Hass gegen eine von der
Ökonomie beherrschten Welt“42 zu erkennen.
Der Begriff vom bermensch ist die Möglichkeit für Horkheimer,
nicht nur Jaspers, sondern auch die Idee zu kritisieren, Nietzsches
Philosophie als eine „Vorbereitung der totalitären Gesellschaft“ anzu-
sehen oder ihn als eine Art „Prophet von Unterdrückung und Lakai-
entum“ zu betrachten. Und in dieser Tonlage fährt er weiter fort:
„Jaspers weiß es besser. Er bemerkt die Kluft zwischen der Lehre vom
Übermenschen und dem, was er in Deutschland vor sich sieht. Daher bietet
er Nietzsche erst einmal als großen deutschen Denker an, er gilt ihm als
‘Philosoph von Rang’, der ein ‘angemessenes Studium’ verdient. Er ent-
schuldigt ihn, er macht ihn akzeptabel.“43
Indem er Nietzsche harmlos und akzeptabel macht, wird Jaspers selbst
harmlos und akzeptabel und muß deshalb Deutschland nicht verlassen.
Der Ankündigung im oben zitierten Brief an Löwith entsprechend
stellt Horkheimer die Interpretation Jaspers und Nietzsche-Texte über
die Franzosen, Juden und Deutsche und über die Idee der Nation ge-
genüber. Für Horkheimer wird in der Sprache Jaspers die Stellung der
Juden und Franzosen – so entscheidend für das Verständnis des Denkens
von Nietzsche – ausschließlich neutral, sekundär und sogar abwertend
betrachtet. Was die Franzosen betrifft, beruft sich Horkheimer auf die
berühmte Passage aus Ecce homo, wo Nietzsche sagt: „Ich glaube nur an
französische Bildung“,44 um anzufügen, daß dieses Lob – offenkundig
antideutsch, von Jaspers abgeschwächt wird, wenn er schreibt:
„Nietzsche habe ,eine Zeitlang die Franzosen La Rochefoucauld,
Fontenelle, Chamfort, besonders aber Montaigne, Pascal und Stendhal
ganz außerordentlich geschätzt.’“45 Für Horkheimer handelt es sich
nicht um eine Bewunderung für „eine Zeitlang“, wie Jaspers schreibt,
sondern um eine Verehrung, die das Werk durchzieht und entscheidend
und grundlegend ist. Jaspers führt das Fehlen von Namen wie Mau-
passant und Anatole France auf die Tatsache zurück, daß sich Nietzsche

42 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 409.


43 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 409.
44 Friedrich Nietzsche, Ecce homo, „Warum ich so intelligent bin“, 3. KSA, 6,
S. 285.
45 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 219

in der Einschätzung dieser Autoren geirrt habe. Auf diese Weise pro-
jiziert Jaspers, so wie von Löwith bereits angemerkt, seine eigenen li-
terarischen Vorlieben auf Nietzsche. In Wahrheit scheint es in
Deutschland verzeihbar zu sein, Pascal oder Stendhal zu schätzen,
vollkommen unverständlich aber, die anderen Autoren zu loben.
Nun wird es verständlich, warum Horkheimers Text schließlich
eine „Verteidigung Nietzsches“ darstellt. Er sagt:
„Im Ausland ist Nietzsche so unbekannt, daß er selbst von vielen fortge-
schrittenen Geistern als ein Vorläufer der gegenwärtigen Zustände ange-
sehen wird. Man denkt ihn etwa als eine Mischung von größenwahnsin-
nigem Genie und bramarbasierenden Feldwebel.“46
Horkheimer erkennt an, daß an einigen Stellen das Buch Jaspers wie
eine „mutige Zerstörung einer Legende“ erscheint. Dies läßt ihn in-
dessen nicht von seiner Kritik abweichen, das Buch Jaspers als „im
tiefsten unwahr“ zu betrachten, weil Jaspers eine Gegenüberstellung
Nietzsches mit den damaligen Ereignissen ablehnt.47 Daher müsse man,
entgegen der Vorstellung von einem Nietzsche „allein mit seinem
Werke“ unterstreichen, daß Nietzsche „bestimmte historische Ziele
(hatte), auf deren Verwirklichung es ihm ernsthaft ankam.“48 Wenn das
Denken Nietzsches, wie Jaspers selbst bestätigt, vor nichts „zurück-
schreckt“49, erkennt er selber diese Lesart nicht an, denn er stellt sich
nicht der Kritik Nietzsches an seiner Epoche und am damals vorherr-
schenden Menschentyp.
Der Beitrag Adornos zu dieser Kontroverse zeigt sich indirekt je-
doch ebenso kritisch. Ich sage indirekt, weil er keine Rezension über
das Buch Jaspers’ verfasst hat, sondern vielmehr eine zum Buch von Jean
Wahl über Kierkegaard.50 Die Verbindungen Adornos mit Jean Wahl
sind im Briefwechsel dokumentiert. Am 12. Mai 1937 schreibt Adorno
aus Oxford an Horkheimer in New York und berichtet von seiner
Durchreise in Paris:
„Ich kenne ihn [Wahl] nicht selber; er hat aber das Kierkegaardbuch ge-
lesen, soll davon sehr beeindruckt sein und hat mich durch Klossowsky zur

46 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.


47 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.
48 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.
49 Horkheimer, Bemerkungen zu Jaspers’ Nietzsche, (Anm. 39), S. 411.
50 Jean Wahl, tudes Kierkegaardiennes. Paris: Éditions Montaigne, 1938.
220 Ernani Chaves

Mitarbeit an den Recherches de Philosophie eingeladen (übrigens ebenso


auch Benjamin). Er ist ein recht wichtiger Mann.“51
Horkheimer seinerseits bezieht sich in einem Brief an Adorno vom
24. Mai 1937 auf die Pläne, Wahl zum Vertreter des Institutes in
Frankreich zu ernennen.52 Die Annäherung zwischen den Mitgliedern
des Instituts und Jean Wahl wurde auch durch die Vermittlung von
Pierre Klossowsky gefördert, der Horkheimer über seine Bitte an Wahl
informierte, ein Vorwort zur französischen Ausgabe von „Egoismus und
Freiheitsbewegung“53 zu schreiben. In der Antwort an Klossowsky vom
29. Juni 1937 stimmt Horkheimer diesem Vorschlag völlig zu.
Die engen Beziehungen zwischen dem Institut und Jean Wahl und
seiner Gruppe verunmöglichten die Kritik Adornos nicht, die auch sehr
harsch und explizit beginnt:
„Seit der Rezeption Max Schelers bildet sich in Frankreich eine existen-
tialphilosophische Schule, die sich um die Recherches philosophiques
gruppiert und die Meinungen von Heidegger und Jaspers propagiert. Das
kompendiöse Werk Jean Wahls dient der Absicht, jene Bestrebungen
durch Dokumentation zu stützen und auf den Ursprung der Existenzphi-
losophie in Kierkegaard zurückzugehen, der auch bei der akademischen
deutschen Seins- und Daseinsphilosophie offen zutage liegt.“54
Adorno bezieht sich nicht direkt auf die Polemik um Jaspers und ergreift
dennoch Partei. Dies zeigt seine Kritik an der Verwandlung Kierke-
gaards in einen „Klassiker“ durch Jean Wahl, das heißt in jemanden,
dessen Philosophie im Panteon der Philosophen kanonisiert und
fruchtlos im Bezug auf die Gegenwartsproblematik ist. Wenn Wahl
bekräftigt, daß „Kierkegaard est avec Nietzsche le maitre de la dialec-
tique existentielle“55, ist dies für Adorno ebenfalls eine Konsequenz aus
der Wahlschen Interpretation von Heidegger und Jaspers, die folglich
ideologisch das Denken von Kierkegaard – und auch das von Nietzsche
– transformiert und ihn auf diese Weise zu einem „Konformisten“
macht. Mit anderen Worten: Löwith, Horkheimer und Adorno be-
trachten es als großen Fehler, Nietzsche, gemeinsam mit Kierkegaard,

51 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 144. Adorno bezieht sich
hier auf sein eigenes Buch: ders., Kiekeggard. Konstruktion des sthetischen,
Tübingen: J. C. B. Mohr 1933.
52 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 160.
53 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 167.
54 Theodor W. Adorno, „Besprechung“, in: ZfS, VIII, 1939, S. 232 – 235, hier
S. 232.
55 Adorno, Besprechung (Anm. 54), S. 233.
Französische Nietzsche-Rezeption in der Zeitschrift fr Sozialforschung 221

zu einem Vorläufer der „Philosophie der Existenz“ zu machen. Adorno


respektiert die antifaschistische Haltung Wahls, aber unterstreicht, daß
seine Interpretation Ähnlichkeiten mit zeitgenössischen politisch auto-
ritären Formeln aufweist.56

Abschließende Betrachtungen: gestern und heute


Die Polemik um die Wirkung des Denkens von Nietzsche, vermittelt
durch das Buch von Jaspers in Frankreich, zeigt, wie sehr die deutschen
Intellektuellen das Unverständnis der Franzosen hinsichtlich der deut-
schen Philosophie betonen. Man müsse sie aus diesem Grund berich-
tigen. Die gleiche Haltung wurde vom Erben der Kritischen Theorie ab
dem Ende der 1970er Jahre übernommen. Wir sprechen offensichtlich
von Jürgen Habermas. Indessen sind die Intention und die Form voll-
ständig entgegengesetzt. Der Nietzsche Aufklrer, der die psychische
Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft enthüllt, der die Beherr-
schung der Gesellschaft durch die Wirtschaft hasst und ihr widersteht,
der den emanzipatorischen Horizont, welcher der „Kritischen Theorie“
zu eigen ist, nicht aufgibt, dieser Nietzsche Aufklrer macht dem we-
sentlich reaktionären Nietzsche Platz, dem Konservativen, Feind der
universellen Ethik und der Menschenrechte, Quell aller postmodernen
Irrtümer. Nicht zufällig sind auch Habermas’ Zielscheibe hauptsächlich
die französischen Philosophen der postsartrischen Ära, die wiederholt in
der korrekten Lektüre der deutschen Philosophen unterwiesen werden
sollten. Heute wie gestern mißverstehen die Franzosen nach Ansicht der
Deutschen ihre Philosophen und aus dieser Perspektive heraus ist
Nietzsche ein beispielhafter Fall.
(Übersetzt von Nicole Kirsch.)

56 Horkheimer, Briefwechsel 1937 – 1940, (Anm. 38), S. 598.


Gottes Sehnsucht
Nietzsche und Bataille
Clemens Pornschlegel

« Il arrive que l’ivresse fasse tituber


jusqu’aux plus sages… »
Henri de Lubac

Die folgenden Überlegungen zu Bataille und Nietzsche gehen von einer


konjunkturellen Beobachtung aus. Von der Beobachtung nämlich, dass
die Schriften Georges Batailles im deutschen Sprachraum – nach einer
kurzen Blüte Mitte der 80er Jahre – wieder aus der Mode gekommen
sind. Zusammen mit dem so genannten ,französischen Denken’ ist auch
Bataille in den hinteren Bibliotheksrängen verschwunden. An den
deutschen Universitäten wird das french thinking bekanntlich nur noch als
eine Art prähistorischer Vorstufe der Kulturwissenschaften und ihrer
anglophonen Verzweigungen wahrgenommen, sozusagen als primitive
Form der höher entwickelten gender, cultural, masculinity oder performance
studies.
Nun ist das Vergessen, dem das Werk Batailles anheim gefallen ist,
nicht nur äußerlicher Natur. Konjunkturen betreffen immer auch die
Inhalte. Die großen Nietzsche-Exerzitien, denen Bataille sich zwischen
1936 und 1945 gewidmet hat – von den Texten in den Zeitschriften Les
Cahiers de ,Contre-Attaque’ und Acphale über die Exprience intrieure bis
hin zu den Meditationen Sur Nietzsche –, muten in ihrem revolutionär-
ekstatischen Pathos seltsam vergangen an. Was antiquiert erscheint, ist
schnell aufgezählt: die Naherwartung der revolutionären Total-Befrei-
ung, die fiebrige Beschwörung einer unerhörten Über-Menschheit, das
souveräne Ignorieren von Verbot und Verbrechen, die Anleitungen zu
schlüpfrigen Ekstasen und blasphemischen Transgressionen, der
Wunsch nach tragischer und gefährlicher Existenz, die Beschwörung
von Opfer und Kampf, das Zittern angesichts des leeren Himmels, die
Geheim-Riten und Mysterien orgiastischer Ich-Auflösung. In den
224 Clemens Pornschlegel

Wahrnehmungs- und Empfindungsweisen der Gegenwart stößt nichts


mehr davon auf größere Resonanz. Die Mystiker-Rede von der
,déchirure’, der Zerrissenheit von Ich und Welt, von Gott und Mensch,
von klaffenden Wunden, Verzückungen, Qualen und Schmerzen lässt
eher kalt. Die post-moderne Gegenwartskultur begreift sich selbst als
ironisch abgeklärt oder ,cool’; jedenfalls weit entfernt von den Tragö-
dien und Delirien, wie Bataille sie zelebriert.
In der Einleitung zur Textsammlung Sur Nietzsche verkündet Ba-
taille pathetisch:
„Nietzsche hat zum ersten Mal das äußerste, bedingungslose Streben des
Menschen unabhngig von einem moralischen Ziel und vom Dienst fr einen Gott
zu denken versucht. Er kann es nicht genau definieren, aber es hält ihn in
Atem. Von heiligem Eifer erfüllt zu sein, innerlich zu brennen, ohne
verantwortlich zu sein gegenüber einer moralischen Verpflichtung, die sich
dramatisch ausdrücken würde, ist sicher ein Paradoxon. Wenn wir auf-
hören, aus dem Zustand eines innerlich brennenden Eifers die Bedingung
eines anderen, daraus folgenden Zustands zu machen, der uns wie ein
greifbares Gut dafür gegeben würde, so scheint dieser [zwecklose] Eifer ein
reines Blitzen zu sein, eine leere Verausgabung.“1
Dass in der Attitüde einer souveränen „consumation vide“ irgendein
revolutionärer Akt gegenüber den bestehenden Verhältnissen verborgen
läge, daran glaubt niemand mehr. Der Grund dafür liegt auf der Hand.
Der „état brûlant“ und die „consumation vide“ gehören zu den gän-
gigen Clichés der Marketingstrategen aus der Kultur-Industrie, die ihre
Geschäfte gern auch mit tragisch-transgressiven Ikonen wie Sid Vicious
oder Kurt Cobain macht.
Und keinen Deut weniger vergangen als die Attitüde der bösen
Revolte wirkt auch das, was man Batailles ,Zarathustra-Pathos’ nennen
könnte, also die apokalyptischen Orakel vom anstehenden ,Übermen-
schen’, der Glaube an ein leuchtendes ,Jenseits-des-Menschen’, wie er
dann noch einmal den Anti-Humanismus Foucaults oder Deleuze be-
seelt hat, die Ende der 60er Jahre das Verschwinden des Menschen
prophezeiten, „comme à la limite de la mer un visage de sable.“2 Alain
Badiou bemerkte dazu:

1 Georges Bataille, Sur Nietzsche, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard
1973, Band 6, S. 11 – 205, hier S. 12. Übers. v. Verf. – Wenn nicht anders
angegeben, stammen im folgenden alle Übersetzungen aus dem Französischen
v. Verf.
2 Michel Foucault, Les mots et les choses.Une archologie des sciences humaines, Paris:
Gallimard 1966, S. 398.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 225

„Wenn sich Ende der 60er Jahre das antihumanistische Programm


durchsetzt, dann weil es die beiden verschwisterten Ideen der Leere und
des Anfangs befördert. Sie werden sich für die Revolten von 68 und der
beginnenden 70er Jahre als nützlich erweisen. Man nimmt damals allge-
mein an, dass etwas nahe ist, dass irgendetwas Neues kommen wird. Und
für dieses kommende Etwas kann man sich umso eifriger einsetzen, als es
eben nicht der x-te Neuaufguss des Humanismus ist, eben weil es die Figur
eines in-humanen Anfangs ist.“3
Im Rückblick zeigt sich freilich, dass es in den Revolten weniger um
einen unerhört inhumanen Neubeginn ging, wie die Akteure glaubten,
sondern vor allem um eine nachholende Wiederholung und theatralische
Imitation von Kämpfen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, anders
gesagt: um die psycho-dramatische Re-Inszenierung eines Revoluti-
onsstücks, das längst schon stattgefunden hatte. André Malraux hatte
bereits 1926, im Kontext der beginnenden revolutionären Dekoloni-
sierungen den alten republikanischen Humanismus verabschiedet:
„Die absolute Wirklichkeit war für euch [Europäer] zuerst Gott, dann der
Mensch; aber der Mensch ist tot, so wie Gott tot ist, und jetzt sucht ihr
ängstlich nach demjenigen, dem ihr sein Erbe anvertrauen könntet.“4
Der Satz stammt, wie gesagt, aus dem Jahr 1926. Und das heißt, die
Verabschiedung des Humanismus in den 60er Jahren war nicht ganz so
neu, wie manche meinten. Sie war vor allem eine Wiederholung von
Positionen, von denen aus die anarcho-revolutionäre Avantgarde der
20er und 30er Jahre die beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, in
allererster Linie aber die schäbige III. Republik bekämpft hatte: ihre
koloniale Heuchelei, ihren falschen Pazifismus, ihre Unfähigkeit, der
sozialen Misere Herr zu werden. Die anti-bourgeoise Parole der 60er
und 70er Jahre lautet deswegen noch einmal genau so, wie sie schon
1936 gelautet hatte: „Il est temps d’abandonner le monde des civilisés et
sa lumière.“5 „Es ist an der Zeit, die zivilisierte Welt und ihr Licht zu
verabschieden.“
In seinem Roman Tigres en papier hat Olivier Rolin die historistisch-
poetische Illusion, in der die Rebellen der 60er und 70er Jahre befangen
waren, anschaulich beschrieben:

3 Alain Badiou, Le sicle, Paris: Seuil 2005, S. 245.


4 André Malraux, La tentation de l’occident, in: ders., Oeuvres compltes I, Paris:
Gallimard 1989, Band 1, S. 59 – 111, hier S. 100.
5 Georges Bataille, La conjuration sacre, in: ders., Oeuvres compltes I, herausge-
geben von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 442 – 446, hier
S. 443.
226 Clemens Pornschlegel

„Da standet ihr, in Lederjacken und mit Helmen, auf eure Schlagstöcke
gestützt. Und ihr stelltet euch vor, ihr würdet Wache schieben 1938 in der
Madrider Universität. So war es: Die Welt, die ihr saht, in der ihr lebtet,
hatte unendliche historische Tiefe. Sie war wie verklärt durch eine Macht,
die jedes Ereignis und jedes Individuum insgeheim mit einer ganzen Serie
anderer Ereignisse und Individuen verband, die noch größer und tragischer
waren. Die Vergangenheit hatte eine wunderbare Gegenwart, und die
Zukunft nicht minder. Die Geschichte war der große Projektor, der die
Bilder der Zukunft an die Häuserwände warf.“6
Rolins Beschreibung macht die Attraktivität Batailles für einen Teil der
68er-Generation und die dezidiert gauchistische Aneignung Nietzsches in
Frankreich anschaulich. Sie stand im Zeichen der traumatischen Wieder-
holung jener Revolten, die von den historisch nicht kompromittierten
anarchistisch-surrealistischen Gruppen seit Ende der 20er Jahre propa-
giert worden waren. Im selben Maße freilich, wie im Rückblick auf die
68er-Revolte deren histrionischer Charakter deutlich wird, im Maße,
wie sie sich als der Versuch von Kindern entpuppt, die historischen
Tragödien der Elterngeneration nachtrglich wieder gut zu machen – die
Infamie des Stalinismus und die Schande des Pétainismus –, wird auch
das gegenwärtige Desinteresse an Bataille verständlicher. Die Bürger-
schreckattitüden der ,68er’ sind dem kühlen Blick auf deren Illusionen
und deren durch und durch phantasmatischen Charakter zum Opfer
gefallen. Der Glaube ist abhanden gekommen, man könne die Welt
durch eine quasi-göttliche „danse qui force à danser avec fanatisme“7
oder mittels permanenter Liebesekstasen überwinden. Niemand ver-
wechselt heute noch Rockfestivals mit dem Ausbruch des echten, li-
bertären Kommunismus. Niemand kommt mehr auf die Idee, WG-
Gründungen für die Morgenröte der neuen, nietzscheanisch-souverä-
nen Welt zu halten, in der alle bürgerlichen Gesetze, Verträge und
Institutionen abgeschafft wären.8
Und nicht zuletzt ist der Gegenwart auch die Selbstverständlichkeit
des okzidentalen Diskurses vergangen, wie er Batailles Revolte noch
trägt, das heißt, die euro-zentrische Arroganz der Rede vom „Men-
schen“ und von seinem imperial über-menschlichen Geschick. Noch in
seinem tiefsten Fall und seiner bösesten ,décadence’ war es selbstver-

6 Olivier Rolin, Tigre en papier, Paris: Seuil 2002, S. 29.


7 Bataille, La conjuration sacre (Anm. 5), S. 443.
8 vgl Gilles Deleuze, „Pensée nomade“, in: Centre Culturel International de
Cerisy-La-Salle (Hrsg.), Nietzsche aujourd’hui, 1. Intensits, Paris: U.G.E (10/18)
1973, S. 159 – 174, hier: S. 164 – 165.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 227

ständlich der europische Mensch, der sich ganz ungeniert an der Spitze
des Welt-Geschicks stellte. Sätze über „Schwarze“, wie Bataille sie
anlässlich der Revue Black Birds von Lew Leslie schreiben konnte, sind
deswegen unmöglich geworden. Die Tänze und Gesänge von Negern
erschienen Bataille 1929 – in bester Baudelaire-Nachfolge – als krei-
schende Irrlichter über der verfaulenden, bourgeoisen Kultur Europas.
„Unnütz, noch länger nach einer Erklärung der coloured people zu suchen,
die mit unpassendem Wahn die absurde Stille von Stotterern durchbre-
chen: Wir verfaulten mit Neurasthenie unter unseren Dächern, ein ein-
ziger Friedhof, ein Massengrab voll von pathetischem Plunder. Und so sind
die Schwarzen, die sich mit uns zivilisiert haben (in Amerika und sonst wo)
und die heute schreien und tanzen, die sumpfigen Emanationen der Ver-
wesung. Sie haben sich entzündet über diesem gigantischen Friedhof. In
einer mondbeschienenen Negernacht wohnen wir der trunkenen Demenz
von Irrlichtern bei, zwielichtig und charmant, übergeschnappt und brül-
lend wie Gelächter. Diese Definition macht jede Diskussion überflüssig.“9
Die Dekolonisierung hat derartige Witze sinnlos gemacht. Das
Machtverhältnis gegenüber den ,nègres’, das sie stillschweigend vor-
aussetzten, ist obsolet. Mit dem Imaginarium des Exotismus ist auch der
geschichtsphilosophische Eurozentrismus verschwunden, den sämtliche
Fortschritts-, Dekadenz- und tabula-rasa-Ideen miteinander geteilt
haben, von Hegel bis zu Heidegger. Die Vorstellung, dass das Geschick
und die Geschichte der Menschheit mit der Geschichte des europäi-
schen Groß-Denkens zusammenfielen, womöglich im Kopf eines ein-
zigen Denkers, womöglich im Schnauzbart Nietzsches, die Idee, dass
die Erde allein mit einer neuen Übermenschen-Religion aus ihrer
zweitausendjährigen Knechtschaft erlöst werden könnte, hat sich als
eigennützige Illusion erwiesen, als ein Seitenstück dessen nämlich, was
Kipling als „the white man’s burden“ besungen hat, das heißt als im-
periales Phantasma.

Die konjunkturellen Beobachtungen zeigen zumindest folgendes: dass


zentrale Momente des Batailleschen Diskurses – das Programm der
,souveränen’ Revolte, das ,Zarathustra-Projekt’ der kommenden
Übermenschheit und die implizit damit verbundene eurozentrische

9 Georges Bataille, „Black Birds“, in: ders., Oeuvres compltes I, herausgegeben


von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 186.
228 Clemens Pornschlegel

Geschichtskonzeption – in den letzten Jahrzehnten an Evidenz verloren


haben. Sie lassen sich deswegen auch nicht mehr einfach re-aktualisieren.
Gleichzeitig stellt sich damit aber noch einmal die Frage nach den
sachlich argumentativen Gründen der Unzeitgemäßheit. Anders for-
muliert: Was hat auf der Ebene der Konzepte dazu geführt, dass die
Revolte, wie Bataille sie unter Berufung auf Nietzsche verkündete – der
Schrei nach grenzenloser Freiheit, nach dem souveränen „être qui
ignore la prohibition et qui me fait rire parce qu’il est sans tête, qui
m’emplit d’angoisse parce qu’il est fait d’innocence et de crime“10 –,
mittlerweile so unattraktiv geworden ist? Und dass eine Passage wie die
folgende – sie stammt aus Batailles Nietzsche-Memorandum von 1944 –
in erster Linie ,überspannt’ wirkt?
„Nietzsches Denken ist ganz und gar hingespannt auf die Integrität, die
Ganzheit des Menschen. Weil es die Fragmentierung zurückweist – die
ehrenwerte, bornierte Tätigkeit voller Sinn –, führt es zu so gefährlichen
Zusammenbrüchen. Wenn Gott aufhçrt, jedem Menschen seine Aufgabe zu-
zuweisen, muss ein Mensch die Aufgabe Gottes bernehmen. Und da er sich auf
keine Weise beschränken kann, verliert er noch den Schatten jedes
,Sinns’… Nietzsche konnte seine Fragestellungen nicht mehr voneinander
trennen. Die moralische Frage ist auch eine politische und umgekehrt. Die
Moral selbst ist mystische Erfahrung. Und zwar im ganzen Zarathus-
tra. Diese Erfahrung, die, wie die Moral, frei ist von jedem Ziel und jedem
Zweck, dem sie zu dienen hätte, ist genau dadurch moralische Erfahrung.
Sie steigt hinauf zu den Gipfeln des Bösen und des Lachens und ist die
Erfahrung der entwaffnenden Freiheiten des Nicht-Sinns und einer leeren
Herrlichkeit.“11
Der Problemkomplex, um den es Bataille geht, ist deutlich. Es ist die
Frage nach dem Verhältnis von Gott und Mensch, und zwar nach dem
,Tod Gottes’. Im Zentrum der Batailleschen Überlegungen steht die
Vorstellung des ,integralen Menschen’, der sich dadurch auszeichnet,
dass er jede utilitaristisch ausgerichtete, soziale Fragmentierung und jede
funktionale Spezifizierung hinter sich lässt. Das betrifft die Arbeitstei-
lung ebenso sehr wie die entsprechenden Klassenunterschiede. Bataille
greift mit dem Begriff des ganzen Menschen freilich weniger auf
Nietzsche als auf das Bild der kommunistischen Gentleman-Farmer-Idylle
zurück, wie Marx sie in der Deutschen Ideologie gezeichnet hatte:
„morgens jagen, nachmittags fischen, auch das Essen kritisieren, wie ich

10 Bataille, La conjuration sacre (Anm. 5), S. 445.


11 Georges Bataille, „Mémorandum“, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gal-
limard 1973, Band 6, S. 209 – 266, hier S. 259.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 229

gerade Lust habe.“12 Sozial-funktionale Differenzierungen, die durch


rationalisierende Zwecksetzungen begründet werden und von dort her
ihren Sinn beziehen, stehen im Widerspruch zur „intégrité de
l’homme“, und zwar deswegen, weil sie den Menschen gewaltsam
entfremden von seiner offenen, prinzipiell jede Finalität beziehungsweise
Essentialität in Frage stellenden und über sie hinausgehenden Existenz.
Bataille schreibt in diesem Sinn:
„Der größte Teil der menschlichen Tätigkeit ist der Produktion nützlicher
Güter unterworfen, ohne dass hier ein entscheidender Wandel möglich
schiene, und der Mensch ist nur allzu geneigt, aus der Sklaverei der Arbeit
eine unüberwindbare Grenze zu machen.“13
Dabei setzt Bataille die Abtrennung des Menschen von seinen unend-
lichen Möglichkeiten unmittelbar mit dem Verlust an Virilität und vi-
taler Potenz gleich.14 Der ,ganze Mensch’, den Bataille gegen die ra-
tionalisierende Arbeitsmoral des akkumulativ-asketischen Kapitalismus
einklagt, ist also auch jener Mensch, der keine Kastration erfährt – und
zwar mit allen Konsequenzen, die der psychoanalytische Begriff der
Nicht-Kastration zu bieten hat: vom ausagierten Inzest, wie die Er-
zählung La mre ihn ausschreibt, bis hin zum psychotischen Delirium,
wie die Histoire de l’œil oder die Erzählung Le mort es durchbuchsta-
bieren. Die menschliche Existenz in ihrer grenzenlosen Freiheit und in
ihrem unbeschränkten Werden übersteigt für Bataille prinzipiell jede
,festgestellte’ Essenz – damit auch jede soziale, moralische, sexuelle
Grenze. Die Existenz ist nichts anderes als der offene, grenzenlose
Prozess des ebenso dramatischen wie ziellosen Übersteigens und Über-
windens, des Transzendierens und Transgredierens sozialer Normen.
Deswegen nimmt er notwendig auch die Form einer bçsen Agonie und
Destruktion an, und zwar einer Destruktion und Agonie aller nur
scheinhaften, in Vorurteilen befangenen Identitäten und Essenzen.
Ihnen gilt Batailles Gelächter. Und an erster Stelle gilt es natürlich der
metaphysischen Garantie all dieser Wesenheiten und Identitäten, dem
ens summum.
„Das Lachen erhebt zunächst über die anderen. Es spottet über Kinder oder
Dummköpfe, die sie weit unter sich lässt. Dann freilich kehrt es sich um

12 Karl Marx, Deutsche Ideologie; in: ders., Die Frhschriften, herausgegeben von
Siegfried Landshut, Stuttgart: Kröner Verlag 1971, S. 339 – 485, hier S. 361.
13 Georges Bataille, „L’apprenti sorcier“, in: Oeuvres compltes I, herausgegeben
von Michel Foucault, Paris: Gallimard 1973, Band 1, S. 523 – 537, hier S. 524.
14 Vgl. Bataille, „L’apprenti-sorcier“ (Anm. 13), S. 532.
230 Clemens Pornschlegel

und wendet sich – in entgegen gesetzter Richtung – gegen den Vater, den
Chef, gegen alle diejenigen, die mit der Aufrechterhaltung des sozialen
Gefüges betraut sind und welche die Genügsamkeit all dessen symbolisie-
ren, was das Ipse sein möchte. […] Das Lachen stellt in Frage, es bestreitet
die Genügsamkeit aller übergeordneter Wesen … ja, bis hin zum Gipfel …,
den es unweigerlich in Mitleidenschaft zieht. Und wenn es diesen Gipfel
erreicht? Dann hat die Agonie Gottes statt, in einer schwarzen Nacht.“15
In Batailles schwarzem Gelächter lösen sich mithin Ich, Welt und Gott
auf: die sozialen Illusionen mitsamt ihren Individualitäten und Subjekt-
Objekt-Spaltungen. Sie fallen dem Spott ihrer Borniertheit zum Opfer.
Gleichzeitig beginnen im Lachen die Kommunionen der Nacht und des
Nichts, in denen sich die Erfahrung eines anderen, neuen Gott-Seins
ankündigt, das die unendliche Gottessehnsucht des individuierten
,Selbst’ stillen wird: die unio mystica mit dem All, die sich vornehmlich
in obszönen Transgressionen einstellt. In der Exprience intrieure be-
schreibt Bataille das große Gott-Werden-Wollen wie folgt:
„Das Wesen schließt sich in der Autonomie ein, zugleich aber will jedes
Wesen, gerade aufgrund dieses Eingeschlossenseins, das Ganze der Tran-
szendenz werden: zunächst das Ganze der Komposition, dessen Teil es ist,
und dann, eines Tages, ohne Grenze, das Universum.“16
Diesen Willen zur fusionellen Transzendenz, zum göttlichen Alles-
Werden, das Streben nach dem Sein „sans limite“ setzt auch Batailles
pornographische Abhandlung Mme Edwarda in Szene. Nicht zufällig zeigt
es sich im Öffnen und in der Exposition genau dessen, was Courbet auf
seinem Gemälde L’origine du monde gezeigt hat. Das heißt, es geht um
den verschlingenden Blick auf das weibliche Geschlecht, aus dem man
hervorging und das Bataille mit einer „pieuvre“, einer „Krake“ ver-
gleicht, also um die faszinierte Schau des monströsen Ursprungs, um die
Auflösung jedes beschränkten individuellen Lebens, wie es im sexuellen
Außer-sich-Sein erfahrbar wird. Mme Edwarda exponiert „die Lum-
pen“, wie sie sagt, ihres prostituierten Geschlechts, das sie mit beiden
Händen öffnet und dem entsetzten Blick des Betrachters darbietet:

15 Jean-Paul Sartre, „Un nouveau mystique“, in: ders., Critiques littrarire (Situa-
tions, I), Paris: Gallimard 1947, S. 133 – 174, hier: S. 159.
16 Georges Bataille, L’exprience intrieure, in: Oeuvres compltes V, Paris: Gallimard
1973, Band 5, S. 7 – 181, hier S. 134.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 231

„Siehst Du, ich bin Gott …


Ich muss verrückt sein…
Aber nein, du musst hinschauen: schau hin!“17
Zurückübersetzt in philosophische Prosa, könnte man sagen: Der
Mensch in der absoluten Offenheit seines Wesens, frei im Moment der
Überschreitung jeder Norm und im Negieren jeder vorgegebenen Es-
senz, eignet sich durch den obszönen Akt die ihm entfremdete, an eine
fabelhafte Instanz namens Gott veräußerte Ganzheit der Welt wieder
an. „Tu vois, je suis Dieu …“ Die blasphemisch inkarnierte Göttlichkeit
äußert sich gerade darin, dass sie das Organ der Geburt und der be-
wusstlosen Lust ausstellt, die fleischliche ,origine du monde’. Die Psy-
choanalyse würde darin vermutlich eine prä-ödipale Mutter-Imago
entdecken, ,la Mère majuscule’.
Wenn für Bataille Gott also tot ist, dann in einem ironischen Sinn.
Was man bislang Gott nannte, war nur eine bornierte menschliche
Vorstellung, eine Idee von und für unterworfene Sklaven-Menschen. In
der Conjuration sacre heißt es in diesem Sinn:
„Das menschliche Leben hat genug davon, dem Universum als Kopf und
Verstand zu dienen. Im Maße, wie es zu diesem Kopf und Verstand wird,
im Maße, wie es dem Universum notwendig wird, akzeptiert es die Ver-
knechtung. Wenn das Leben nicht frei ist, wird die Existenz leer und grau.
Und wenn es wirklich frei ist, ist es ein Spiel. Die Faszination der Freiheit
ist verblasst, als die Erde ein Wesen produziert hat, das die Notwendigkeit
als ein über dem Universum stehendes Gesetz einforderte. Der Mensch
indes ist frei geblieben, keiner Notwendigkeit mehr zu entsprechen. Er ist
frei, all dem zu ähneln, was nicht er im Universum ist.“18
Der A-Theismus bezüglich des Gottes der Philosophen mit seinen
Gesetzen, Rationalitäten und seinem absoluten Wissen schlägt deswe-
gen umgehend in eine – von Bataille explizit so genannte – ,neue mys-
tische Theologie’ um, die eine Theo-logie des integralen, transgressiven
Menschen ist, also des Menschen, der ohne Ende Gott werden will und
das Ganze des endlos werdenden Seins umfasst: „l’univers“, „le tout“. In
der Exprience intrieure schreibt Bataille:
„Ich habe eine derart irre Erfahrung des Göttlichen, dass man lachen wird,
wenn ich davon spreche. […] Was den Menschen letztlich jeder Mög-
lichkeit beraubt, von Gott zu sprechen, ist der Umstand, dass Gott im

17 Georges Bataille, Madame Edwarda, in: Oeuvres compltes III, Paris: Gallimard
1971, Band 3, S. 7 – 31, hier S. 21.
18 Bataille, La conjuration sacre, (Anm. 5), S. 445.
232 Clemens Pornschlegel

menschlichen Denken notwendig vermenschlicht wird, und zwar im Sinn


des beschränkten Menschen, also des Menschen, insofern er müde und
schwach ist und sich nach Ruhe und Frieden sehnt.“19
Und im Vorwort zu den Thses fondamentales heißt es:
„Ich kann es nicht ausdrücklich genug unterstreichen: Wir wollen die
Erben der christlichen Meditation und geistigen Tiefe sein… wir wollen
das Christentum überwinden mit Hilfe eines Überchristentums. Wir
wollen uns nicht damit begnügen, es einfach zu vergessen.“20

Bataille geht es um zweierlei. Zum einen um die traditionelle, aus der


linkshegelianischen Kritik beziehungsweise dem deutschen Idealismus
stammende Wiederaneignung der an Gott veräußerten menschlichen
Potentialitäten. Erst durch die Emanzipation von den Zwängen der
Natur kann der Mensch zum spielenden, ganzen Menschen werden, zum
Götterkind. Zum anderen geht es aber auch darum – und das ist der
Punkt, an dem Bataille mit Nietzsche über die marxistische Kritik
hinausgeht –, die religiçs mystische Erfahrung für die prosaische Moderne
zu bewahren und a-theologisch zu erneuern: die Erfahrung der Auf-
lösung des beschränkten Ich im Welt-Ganzen, das Einswerden mit dem
Göttlichen. Nicht umsonst sagt Bataille: „Nous sommes farouchement
religieux…“ Es geht also nicht darum, den Menschen an die Stelle eines
rationalen Gottes zu setzen, um dabei den Himmel in seiner Erhabenheit
auf das Maß des müden Normal-Menschen herabzusetzen. Vielmehr
geht es darum, den Menschen hic et nunc zum neuen, souveränen Gott-
Menschen zu machen, zum Wesen, das sich selbst zu überschreiten
versteht und das mit demselben Liebeseifer wie die alten Märtyrer – in
einer Art neuer Imitatio Hyper-Christi – sich seiner absoluten Sache als
Opfer darbringt, nämlich seiner eigenen Transzendenz.
„Die Welt, der wir angehört haben, bietet uns nichts anderes zu lieben an
als die individuellen Borniertheiten: ihre Existenz beschränkt sich aufs
Annehmliche. Eine Welt, die man nicht bis zum Tod lieben kann – so wie
ein Mann eine Frau liebt -, stellt lediglich eine Welt dar, die von nichts
anderem beherrscht wird als von kleinen Interessen und der Pflicht zur

19 Georges Bataille, L’exprience intrieure (Anm. 15), S 117.


20 Georges Bataille, „Discussion sur le péché“, in: ders., Oeuvres compltes VI,
Paris: Gallimard 1973, Band 6, S. 315 – 359, hier S. 315.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 233

Arbeit. Verglichen mit den verschwundenen Welten, ist sie eine grässliche
Fratze, im Grunde die missratenste aller Welten. In den verschwundenen
Welten war es möglich, sich in der Ekstase zu verlieren. In der Welt der
wissenschaftlich gebildeten Vulgarität ist dies unmöglich. Die Existenz aber
ist nicht nur aufgewühlte Leere, sie ist ein Tanz, der fanatisch zu tanzen
zwingt. Das Denken, das mehr als nur ein totes Fragment zum Gegenstand
hat, existiert innerlich wie Flammen. Es brennt.“21
Batailles Frage und sein Interesse an Nietzsches Figur des ,Übermen-
schen’ wird von hier aus deutlicher: Wie kann man den religiçsen Eifer,
das heißt die Ekstasen der Selbsthingabe im historischen Kontext eines
radikalen, atheistischen Humanismus retten? Wie kann man die Mo-
derne vor dem lauen Mittelmaß bewahren, vor dem, was Nietzsche den
„letzten Menschen“ nennt? Wie ist es möglich, inmitten der entzau-
berten Arbeitswelt mit Eifer für ein Absolutes zu brennen, das dennoch
keine ,höhere Sache’ wäre? Wie kann man das ,pneuma’ retten, den
feurigen Geist der Kommunion oder der Kommunikation?
Bataille verbindet damit die Figur des Übermenschen dezidiert mit
der Problemstellung Baudelaires. Es war Baudelaire, der dem herauf-
kommenden Industriezeitalter mit Schrecken die Frage gestellt hatte:
Was bleibt vom Himmel und seinem Glanz, wenn er von der utilita-
ristischen Epoche, die nur noch an Arbeit und Bedürfnisbefriedigungen
glaubt, leergefegt worden ist? Was wird aus dem überschwänglichen
Luxus, der Raffinesse, der Poesie, wenn nichts anderes mehr zählt als
der immer selbe Zyklus aus Produktion, Konsumtion, Reproduktion,
anders gesagt: das Vegetieren hässlicher Fleischklumpen? Im Gedicht
„Spleen“ beschreibt Baudelaire den wütenden Aufstand des überflüssig
gewordenen Religiösen wie folgt:
Quand le ciel bas et lourd pèse comme un couvercle
[…]
Des cloches tout à coup sautent avec furie
Et lancent vers le ciel un affreux hurlement
Ainsi que des esprits errants et sans patrie
Qui se mettent à geindre opiniâtrement,
Et de longs corbillards, sans tambours ni musique,
Défilent lentement dans mon âme ; l’Espoir
Vaincu, pleure, et l’Angoisse atroce, despotique,
Sur mon crâne incliné plante son drapeau noir. 22

21 Bataille, La conjuration sacre, (Anm. 4), S. 443.


22 Charles Baudelaire, Spleen (LXXVIII). Les Fleurs du Mal (1861), in: ders.,
Oeuvres compltes I, Paris: Gallimard 1975, Band 1, S. 3 – 134, hier S. 74 – 75.
234 Clemens Pornschlegel

Wenn der tiefe, graue Himmel schwer lastet wie ein Deckel
[…]
Rasen plötzlich Glocken los
Und schleudern gen Himmel ihr grässliches Geheul
Voll Wut, wie umherirrende, vaterlandslose Geister,
Die störrisch zu greinen und zu wimmern beginnen.
Und lange Leichenwagen, ohne Trommelschlag und Musik,
ziehen endlos durch meine Seele, die Hoffnung
ist besiegt, sie weint, und die grauenhafte, despotische Angst
pflanzt auf meinem gebeugten Schädel ihre schwarze Fahne auf.
Erich Auerbach hat in seiner Lektüre des Gedichts, das er vor dem
Hintergrund der christlichen Dichtungstradition des Erhabenen liest,
vier zentrale, thematische Problemzusammenhänge herausgearbeitet.
Auerbachs Kommentar macht nicht zuletzt auch deutlich, wie sehr
Bataille ein Baudelairesches Programm fortschreibt und wie sehr er
damit Nietzsches Übermenschen-Projekt der französischen Tradition
der „poètes maudits“ einzeichnet – und zwar völlig zu Recht, wie
Nietzsches Baudelaire-Exzerpte belegen.23
Der erste Themenzusammenhang, den Auerbach für Baudelaire
namhaft macht, betrifft Baudelaires Substitution des Himmels durch den
Rausch des Nichts und der Wollust. Was Baudelaire gegen das Zeitalter
kapitalistischer Askese und Akkumulation sucht, ist nicht mehr „Gnade
und ewige Seligkeit“, sondern was er sucht – und was Bataille dann
noch finden wird –, „ist entweder das Nichts, le Néant,“ oder aber es ist
„eine Art sinnlicher Erfüllung, die Vision einer sterilen, aber sinnlichen
Künstlichkeit“. Die Fleurs du Mal sprechen immer wieder von der
„volupté calme“, von „ordre et beauté, luxe, calme et volupté“.24 Das
„Nichts“ und die sündige „Wollust“ sind die beiden Namen, die
Baudelaire gegen die Askese unter säkularisierten Bedingungen ins Feld
führt, das heißt gegen das, was Max Weber als die ,protestantische
Ethik’ des Kapitalismus analysiert hat.
Das zweite, entscheidende Moment der Fleurs du Mal besteht so-
dann darin, dass sie für die Kategorie der Erlösung und der Hoffnung

23 Vgl. Friedrich Nietzsche: Smtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bnden,


herausgegeben von Giogio Colli und Mazzino Montinari, Band 13, Nachge-
lassene Fragmente. Herbst 1885 bis Anfang Januar 1889. 2. Teil: November
1887 bis Anfang Januar 1889, S. 77 ff.
24 Erich Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal und das Erhabene“, in: ders.,
Gesammelte Aufstze zur romanischen Philologie, Bern, München: Francke Verlag
1967, S. 275 – 290, hier S. 285.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 235

keinerlei Platz mehr lassen. „L’Espoir, vaincu, pleure.“ Allerdings hat


die Melancholie auch eine freundlichere Kehrseite: Baudelaires Poesie
lebt nämlich vom Ausschluss jeder Hoffnung und jeder Erlösung; sie
zehrt davon, und sie genießt ihn. Als perfektes Kunstwerk ist das Ge-
dicht also auch eine Feier des Ausschlusses. Die besiegte Hoffnung ist
gleichsam die Goldmiene, die Baudelaire ausbeutet und die er eifer-
süchtig hütet.
Der dritte für Baudelaire entscheidende Problemzusammenhang, ist
die Frage nach dem Verhältnis des Sinnlich-Erotischen zum Bösen.
„Das Problem der Verderbnis des Sinnlichen“, schreibt Auerbach, „ist
in den Fleurs du Mal ganz anders gestellt als im Christlichen. In den
Fleurs du Mal richtet sich die verdammenswerte Begierde sehr oft auf
das körperlich Verdorbene oder Seltsame; den aktuellen Genuss des
Gesunden findet man in ihnen nie als Sünde.“25 Der christlichen Se-
xualmoral erscheint demgegenüber der Gegenstand der sündigen Be-
gierde durchweg als gesund und jugendlich. „Eva mit dem Apfel ist
nicht krank; das Trügerische der Versuchung ist gerade ihre scheinbare
Intaktheit.“26 Anders Baudelaire: Er kennt „Jugend, Lebensfülle und
Gesundheit nur als Gegenstand der Sehnsucht und Bewunderung – oder
aber des bösartigen Neides. Zuweilen wünscht er sie zu zerstören, aber
zunächst ist er geneigt, gesunde Lebensfülle zu spiritualisieren, zu be-
wundern und anzubeten.“27 „J’aime le souvenir de ces époques nues.“
Das heißt, der schöne, gesunde Körper ist genau das, was in Baudelaires
Augen der bisherigen, miserablen Schöpfung fehlt, was ihr misslungen
ist. Und er ist das, was von den Artisten – als den neuen Schöpfern –
ungleich perfekter hergestellt wird. Die Natur-Körper der christlichen
Kultur erscheinen durchweg als defizient und hässlich – und mit ihnen
die gesamte creatio. Die Welt ist umso hassenswerter, je natürlicher und
kreatürlicher sie ist. Und sie ist umso schöner, je ,gemachter’ sie ist.
Der vierte Problemkomplex betrifft die Frage nach der Selbstein-
schätzung und Selbstbewertung des Dichters. „In den „Fleurs du mal“
geht Baudelaires Kampf nicht um Demut, sondern um Hochmut. Zwar
entwürdigt Baudelaire sich und das Irdische sehr oft, aber in der Ent-
würdigung selbst sucht er seinen Hochmut aufrechtzuerhalten.“28 Die
Feier der Schmerzen – „soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffr-

25 Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal“ (Anm. 24), S. 286.


26 Ebd.
27 Ebd.
28 Ebd.
236 Clemens Pornschlegel

ance“ – steht nicht im Zeichen christlicher Demut, sie steht vielmehr im


Zeichen der Apotheose, also der Vergottung des Artisten-Dichters selbst,
der den Schmerzen trotzt und sie durch seine Schöpfung überwindet.
Damit unterstreicht er auch seine über-menschliche Ausnahmestellung
gegenüber dem Durchschnittsmenschen, und zwar in genau demselben
Sinn, in dem dann auch Nietzsche von seinen Schmerzen und seiner
Kraft zur Gesundung sprechen wird. Im Maß, in dem der Schmerz und
die miserable Welt in ein ästhetisches Gebilde verwandelt werden kann,
sind sie gerechtfertigt. Die Misere der Schöpfung wird ästhetisch ku-
riert.
Zusammenfassend hält Auerbach fest:
„Einen Ausweg [aus der verzweifelten Welt] gibt es [für Baudelaire] nicht,
und darf es nicht geben. [Er] hasst die gegebene Wirklichkeit der Zeit, in
der er lebt; er verachtet ihre Tendenzen, Fortschritt, Wohlstand, Freiheit
und Gleichheit. […] Die Kräfte des Glaubens und der Transzendenz be-
schwört er nur, insofern sie sich als Waffen oder Fluchtsymbole gegen das
Leben verwenden lassen, und insofern sie […] dem Kult dessen dienen
können, was er wirklich liebt […]: die absolute Schöpfung des Dichters.“29
Der Umweg über Baudelaire, den Bataille 1948 in einer regelrechten
defensio fidei gegen die Vorwürfe Sartres verteidigt hat, erhellt noch
einmal die entscheidenden Motive der Batailleschen Umwertung be-
ziehungsweise Rettung der Transzendenz. Bataille lagert sie nicht in die
Zukunft und in die Arbeit aus wie die linkshegelianische Tradition, er
macht aus ihr kein ausstehendes Menschen-Arbeiter-Paradies, das
demnächst eintreffen müsste. Im „theoretischen Humanismus“30 sieht er
keine Aufhebung, sondern die hässliche Fortsetzung des Ideals einer
„Welt, die nicht von dieser Welt ist“, also eine christlich-asketische Welt,
die sich freilich um ihr Bestes gebracht hat: um die Wonnen der reli-
giösen Verzückung nämlich.
„Ausnahmslos alle Spielarten des Sozialismus agieren und intervenieren in
dieser schlecht gemachten Welt im Namen einer zukünftigen Welt, die
vollkommen gerecht und gleich wäre. Nicht anders als im Christentum
urteilt hier ,das, was nicht ist und nicht sein’ kann, über das, was ist. Und
alles, was nicht Opfer ist, verfällt der Verdammnis. […] In der Praxis wird
der Kampf also geführt im Namen einer ungeheuer platten, faden Moral.“31

29 Auerbach, „Baudelaires Fleurs du Mal“ (Anm. 24), S. 287.


30 Marx, Deutsche Ideologie (Anm. 12), S. 281.
31 Georges Bataille, Manuel de l’Anti-Chrtien, in: ders., Oeuvres compltes II, Paris:
Gallimard 1972, Band 2, S. 375 – 399, hier S. 382.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 237

Der faden Sozialisten-Moral setzt Bataille – mit Baudelaire und Nietz-


sche – eine hyper-christliche Hyper-Moral raffiniert libertiner Frei-
geister entgegen, die sich gerade nicht mehr auf das Gute beruft, zu dem
eine nicht seiende Ideal-Welt oder ein ideales Menschenbild verpflichten
würde. Stattdessen geht es um ein Ethos, das darauf abzielt, das absolute
Göttliche – oder den Gipfel, „le sommet“, wie Bataille auch sagt –
bereits hier und jetzt zu erreichen: in der souvernen Transgression sozialer
Regeln und Verbote, in einer Freiheit jenseits von Gut und Böse, an-
ders gesagt: im orgiastisch souveränen Ausnahmezustand. Sartre hat ihn
wie folgt karikiert:
„Im nutzlosen, schmerzhaften Opfer sieht Monsieur Bataille das Äußerste
an Hingabe. Es handelt sich […] um die Sehnsucht nach einem dieser
primitiven Feste, wo ein ganzer Stamm sich berauscht, lacht, tanzt, ko-
puliert […], wo ein jeder in der Frenesie des Amok sich selbst verstümmelt,
fröhlich eine ganze Jahresernte vernichtet, sich am Ende selbst umbringt,
ohne Gott, ohne Hoffnung, voller Wein und voller Geilheit – und das
Ganze für absolut nichts. […] Das ist sie, die Einladung zum freien
Selbstverlust ohne Berechnung und ohne Heil. Die Frage ist nur, ob sie
auch ehrlich ist?“32
Auf Sartres beißenden Spott hat Bataille eine ehrliche, entwaffnende
Antwort gegeben: „Die Position [von der aus ich spreche] ist voll-
kommen schwach, vollkommen fragil.“33 Die Schwäche besteht darin,
dass Bataille zum einen um die soziale und politische Unhaltbarkeit des
sinnlos vorbeirauschenden Festes weiß: Keine Gesellschaft kann sich als
übermenschliches Dauer-Verbrechen etablieren. Zum anderen ist Ba-
taille aber auch um keinen Preis dazu bereit, auf die göttliche Ekstase,
die heilige, poetische Revolte gegen das langweilig disziplinierte Leben
zu verzichten. In seiner Verteidigung Baudelaires schreibt Bataille:
„Die Weigerung des Charles Baudelaire ist die tiefste Weigerung, weil sie
nirgendwo je die Affirmation eines anderen, entgegen gesetzten Prinzips
beinhaltet. Baudelaire drückt nur den Zustand der verstockten, bösen Seele
des Dichters aus. Und er drückt ihn aus als völlig unhaltbaren, vollkommen
unmöglichen Zustand.“34
Die Unmöglichkeit, von der Bataille spricht, ist letztlich auch das
Unvermögen des atheistischen Humanismus, den Gottesbegriff ohne

32 Sartre, „Un nouveau mystique“ (Anm. 15), S. 161 – 162.


33 Georges Bataille, Annexes, in: ders., Oeuvres compltes VI, Paris: Gallimard 1973,
Band 4, S. 273 – 374, hier S. 345.
34 Georges Bataille, „Baudelaire“. La Littrature et le mal, in: ders., Oeuvres compltes
IX, Paris: Gallimard 1978, Band 9, S. 171 – 316, hier S. 207.
238 Clemens Pornschlegel

Verlust ins Irdische ,aufheben’ zu können. Der über-moralische Gott-


Mensch, den Bataille als Überbietung des allzu grauen Humanismus
erfindet, ist entweder die Figur einer hochmütig bösartigen und ge-
walttätigen Anmaßung, das heißt, die Figur einer Allmachtsphantasie,
oder aber poetische Chimäre, das heißt, die ironisch melancholische
Antwort eines Dandy auf die Zumutungen mediokrer Normalität,
einschließlich des damit einhergehenden ,désespoir’. Und deswegen ist
Batailles transgressiver Hyper-Mensch – mitsamt der neuen ,église’ des
Gelächters, die Bataille ihm zugedacht hat – auch keine Antwort auf die
Frage nach der Änderung des miserablen, sozialen Lebens und auch
keine monumentale, kollektive Sache, für die man politisch kämpfen
könnte.
Im Rückblick sieht es also ganz so aus, als ob auch der Übermensch
noch allzu menschlich konstruiert gewesen wäre, als ob er noch allzu
abhängig gewesen wäre von den ,Aufhebungs’-Programmen des
,theoretischen Humanismus’, auf die er ebenso sehr zurückgreift, wie er
sie post-humanistisch zu überbieten sucht. Batailles böses Gelächter
klingt deswegen auch wie das verschämte Kichern eines verstockten
Sünders, dem Gott zu alt und zu abgestanden, der entzauberte Ge-
schäftsalltag aber entschieden zu profan ist. Alain Badiou sagt in diesem
Kontext zu Recht: „Der klassische Humanismus ohne Gott, ohne
Projekt, ohne Werden des Absoluten, ist eine Vorstellung vom Men-
schen, die ihn auf seinen animalischen Körper reduziert.“35
Allerdings lässt sich dasselbe auch vom klassischen Anti- bezie-
hungsweise Post-Humanismus und der inhuman bermenschlichen Zu-
kunft behaupten, die er ziellos herbeisehnt. Das jüngste Manifest des
laizistischen, französischen Vulgär-Nietzscheanismus – „Notre anti-
christianisme. Une lecture de l’Antéchrist“ – trägt jedenfalls die ein-
deutige Widmung: „Aux animaux“36, für die Tiere. Im Unterschied zu
Bataille spricht das neu wiedergekäute Anti-Christentum allerdings
nicht mehr aus der bewusst übernommenen Position des Fragilen,
Unhaltbaren und Unmöglichen. Und genauso wenig versteht es sich als
raffiniertes ,Hyperchristentum’ oder neo-mystische Elevation. Der
Animalismus ist vielmehr bitter ernst gemeint und mündet umgehend in
veterinäre Züchtungsphantasien: „Das Bild des Fortschritts ist [bei
Nietzsche] nicht mehr ideologisch, es ist biotechnisch und biopolitisch.

35 Badiou, Le sicle (Anm. 3), S. 246.


36 Vgl. Alain Jugnon. Michel Onfray. La force majeure de l’athisme, Paris: Editions
Pleins Feux 2006, S. 79.
Gottes Sehnsucht Nietzsche und Bataille 239

[…] Alle Phantasmen sind Bilder, die den Weg entwerfen, den wir
gehen und den wir werden.“37 Die beiden Qualitäten, die man diesem
Fortschrittsoptimismus unmittelbar zuschreiben kann, sind die des po-
litischen Dilettantismus und der Geschichtsvergessenheit. Im Subjekt
des biopolitischen „Wir“ hat Giorgio Agamben nicht nur die stolze
Figur des Souveräns, sondern auch die Figur des „Homo sacer“ ent-
deckt. Er ist die Kehrseite des selbsternannten Herrn über Leben und
Tod. Und das politische Paradigma des bio-techno-politischen ,Fort-
schritts’ ist nicht die freie Übermenschheit, sondern das „Lager“. Anders
gesagt, der phantasmatische Übermenschen-Weg ist eine katastrophi-
sche Sackgasse, ein „cul-de-sac“ des Humanismus. Gerade weil Bataille
darum weiß, hat er seine Nietzsche-Lektüre unter die beiden Zeichen
der ,déchirure’ und der ,désinvolture’ gestellt: Zerrissenheit und
Frechheit.

37 Jugnon, Michel Onfray (Anm. 35), S. 69 – 75.


De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur
de Nietzsche
Slaven Waelti

La lecture que Pierre Klossowski fit de Nietzsche à travers ses articles et


ses conférences compte sans nul doute parmi les plus profondes, mais
également les plus troublantes jamais tentées en France; une des plus
fascinantes aussi, comme en témoigne cette lettre de Michel Foucault
qui, ayant refermé Nietzsche et le cercle vicieux, écrit à son auteur: «C’est le
plus grand livre de philosophie que j’aie lu, avec Nietzsche lui-même;
plus bouleversant même dans tous ses effets, dans les moindres de ses
phrases que le Gai savoir.»1 Si l’enthousiasme de l’archéologue du savoir
est sincère, il faut néanmoins se demander si le livre de Klossowski est
bien, au sens propre du terme, un livre de «philosophie». Lorsqu’il écrit:
«nous entendons parler [Nietzsche], peut-être le ferions-nous parler
pour ,nous-même’»2, ne se place-t-il pas d’emblée en dehors des cadres
classiques de la philosophie, comprise comme discipline universitaire de
transmission de problèmes? Il est néanmoins hors de doute que
Klossowski, traducteur et exégète appliqué, n’ait également eu le souci
de transmettre l’œuvre et la pensée de Nietzsche, autant que d’en
déterminer le sens et le poids pour notre existence présente. Or ce souci
de communication, au fil des textes, préfaces, articles et conférences que
Klossowski consacra à Nietzsche, semble s’estomper à mesure qu’il
tendra, dans sa pensée et dans son œuvre, à faire disparaître les frontières
constitutives de la philosophie elle-même. La pensée et le chaos, la
lucidité et la folie, la vérité et la fiction, le moi et le non-moi tendront
ainsi à se mêler indistinctement, si bien que Klossowski pourra, au seuil
de Nietzsche et le cercle vicieux, réellement envisager de faire parler
Nietzsche pour «lui-même». Nous choisissons de partir ici des premiers

1 «Lettre de Michel Foucault à Pierre Klossowski du 3 juillet 1969 sur Nietzsche et


le cercle vicieux» reproduite dans: Pierre Klossowski, présentation par Andreas
Pfersmann, coll. «Cahiers pour un temps», Paris: Édition du Centre Pompidou
1985, p. 85.
2 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux,Paris, Mercure de France, 1969, p.
11.
242 Slaven Waelti

écrits de Klossowski sur Nietzsche pour suivre leur développement


jusqu’à leur aboutissement dans le Cercle vicieux. Nous étudierons à
chaque étape le rapport mouvant et conflictuel qu’ils entretiennent avec
la discipline philosophie.

1 Premiers articles, lecture de Karl Löwith.

Klossowski, avant de devenir l’exégète et traducteur de Nietzsche que


l’on sait, a tout d’abord travaillé sur Sade et Kierkegaard. Ses premiers
articles sur ces penseurs sont contemporains de sa rencontre avec
Georges Bataille en 1933, aux côtés duquel il participera activement aux
aventures du «Collège de Sociologie» et d’ «Acéphale». Si les articles de
Klossowski datant de cette époque, et jusqu’à la seconde guerre
mondiale3, ne sont pas consacrés en priorité à Nietzsche, le penseur de
l’Éternel retour y est néanmoins présent, guidant Klossowski dans tous
les points nodaux de ses recherches. Pour Klossowski, chez Sade, «la
substitution à Dieu de la Nature  l’tat de mouvement perptuel signifie
non pas l’avènement d’une ère plus heureuse de l’humanité, mais
seulement le commencement de la tragédie.»4 Commencement qui fait
évidemment référence à l’avant-dernier aphorisme du Gai savoir où
Nietzsche annonce: «que la tragédie commence […].»5 Et lorsque
Klossowski analyse la tragédie moderne selon Kierkegaard, c’est pour
la mettre en rapport avec la tragédie antique, dont Nietzsche avait pensé
la naissance.6 Malgré cette forte présence sous-jacente du solitaire de
Sils-Maria, Klossowski ne lui consacre qu’un seul texte, et, qui plus est,
de manière bien indirecte, puisqu’il s’agit d’un compte rendu du grand
ouvrage de Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr des
Gleichens. Le compte rendu sera publié en 1936, dans le deuxième
numéro d’Acphale. 7
Au vu des nombreux éléments étudiés par Löwith qui, par la suite,
deviendront centraux pour Klossowski, nous sommes portés à accorder

3 Ces articles furent rassemblés dans: Pierre Klossowski, crits d’un monomane,
Essais 1933 – 1939, Paris: Gallimard, coll. « Le Promeneur », 2001.
4 Ibid. p. 61.
5 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t.V., Paris:
Gallimard 1982, p. 293.
6 Pierre Klossowski, crits d’un monomane, Essais 1933 – 1939 (2001), p. 111 –
125.
7 Ibid. p. 103 – 111.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 243

un statut augural à ce premier texte consacré à Nietzsche. En dehors du


thème central de l’éternel retour, Klossowski relève particulièrement la
représentation d’un Nietzsche revenant à une pensée présocratique et
«se ressouvenant de l’originelle unit de la vrit et de la fiction dans le langage
sentencieux des sages de l’antiquit.»8 Cette remarque que Klossowski
souligne dans son texte, marque dès l’origine de ses recherches sur
Nietzsche l’effort qui sera le sien pour s’affranchir progressivement de
toute philosophie attentive à distinguer un monde vrai d’un monde fait
d’apparences. Plus loin, Klossowski relève également que «les considé-
rations de Löwith sont bien près de l’analyse pathologique»,9 analyse que
Klossowski fera largement sienne, tant dans ses écrits sur Sade que dans
Nietzsche et le cercle vicieux, s’interrogeant plus sur la maladie et la folie de
Nietzsche que sur la pertinence philosophique de ses concepts.
Au-delà de ces découvertes, Klossowski souligne également le
problème philosophique que l’exégèse lowithienne avait particulière-
ment bien mis en relief, à savoir l’irréductible antagonisme à l’œuvre
dans la pensée de Nietzsche entre la notion de volonté de puissance et
celle d’éternel retour du même, soit le problème de l’unité «des
Zwiespaltes zwischen menschlichem Willen und ziellosem Kreisen der
Welt».10 Cette difficulté inhérente à la philosophie de Nietzsche,
Klossowski a essayé à plusieurs reprises de la résoudre, si bien que les
différentes solutions proposées marquent les différentes phases de sa
pensée par rapport à Nietzsche telles que nous voulons les étudier ici.

2 Sur quelques thèmes fondamentaux de la Gaya Scienza de


Nietzsche.

Le cheminement de Klossowski, s’il s’éloigne de toute philosophie


académique, n’exclut pas de réels efforts de transmission de la pensée de
Nietzsche à un public francophone. Ainsi, il publiera une première
traduction du Gai savoir en 195411 qui sera suivie de nombreuses autres –

8 Ibid. p. 103.
9 Ibid. p. 107.
10 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der Ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart:
Kohlhammer 1956, p.67.
11 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, traduction et introduction de Pierre
Klossowski, Paris: Club français du livre 1954.
244 Slaven Waelti

notamment des Fragments posthumes 1887 – 1888 12. Toutes les traduc-
tions de Klossowski seront reprises dans l’édition des Œuvres compltes de
Nietzsche, publiées entre 1967 et 1977 sous la responsabilité de Gilles
Deleuze et de Maurice de Gandillac.
C’est à l’occasion de la parution de sa traduction que Klossowski
écrit une introduction au Gai Savoir, consacrant ainsi un premier essai à
Nietzsche sous le titre: Sur quelques thmes fondamentaux de la Gaya
Scienza de Nietzsche. 13 Le cadre de la réflexion de Klossowski y est
encore essentiellement philosophique. Les préoccupations qui l’animent
semblent tributaires d’une double ascendance bataillienne et löwithien-
ne. Tributaire également d’une époque qui cherche à faire réparation à
Nietzsche suite aux hypothèques que le IIIe Reich fit peser sur son
œuvre et qui furent possibles, selon Klossowski, en raison d’une
interprétation exclusive de Nietzsche comme penseur de la volonté de
puissance. Klossowski s’attachera dès lors à montrer que la volonté de
puissance ne résume pas à elle seule la pensée de Nietzsche et qu’il faut
nécessairement y adjoindre le thème de l’Éternel retour. C’est donc ici
que ressurgira pour Klossowski le délicat problème soulevé par Löwith,
à savoir le caractère antithétique des notions de puissance et de retour,
de volonté et de nécessité ou, autrement dit, d’Amor et de Fatum.
À ce problème, le traducteur-préfacier propose une solution
ingénieuse en réactivant le motif de l’oubli, tel que Nietzsche avait su
le développer dans sa deuxième considération intempestive. Klossowski
remarque en effet que, pour Nietzsche, la volonté, ou tout au moins les
actes créateurs, supposent l’oubli du présent. Un oubli qu’il faut
paradoxalement comprendre comme une ressouvenance inconsciente
du passé le plus lointain dans lequel puiser une volonté nouvelle. Or
qu’est-ce que ce passé le plus lointain sinon l’éternelle présence des
forces créatrices et le retour éternel des mêmes dispositions? Nietzsche,
par l’oubli du présent, chercherait donc à revenir au «sans-cesse-
possible» des forces vives dissimulées sous l’épais brouillard de l’oubli,
afin de les retransformer en son propre sang. Ainsi l’homme pourra à
nouveau se projeter vers des possibilités futures: «ce qui sous-vient est à
venir»,14 écrit Klossowski. Volonté et fatum, distribués ainsi de part et
d’autre de l’oubli, permettent donc à l’homme de retrouver toute sa

12 Friedrich Nietzsche, Fragments posthumes, in Œuvres philosophiques compltes, t.


XIII., Paris: Gallimard 1976.
13 Essai repris dans: Pierre Klossowski, Un si funeste dsir, Paris: Gallimard 1963.
14 Ibid. p. 22.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 245

force de création: il oublie le présent pour se plonger dans l’éternité du


fatum où il puise une volonté nouvelle. Puis, repassant le Léthé, il peut
désormais agir sur le présent, librement, ayant oublié le destin lui-même
dont toutes ses actions cependant sont dès lors gorgées.
En vertu de quoi cet échange de forces au-delà du Léthé est-il
possible? Klossowski s’arrête sur tous les instants «d’extase sereine»15 qui
constituent selon lui le fond des aphorismes du Gai savoir. Reprenant
alors l’analyse à partir de l’un de ces instants, Klossowski s’arrête sur
l’aphorisme 341, intitulé dans sa traduction: «Le poids le plus lourd»16 et
relève tout d’abord l’aporie contenue dans la question du démon.
Aporie que l’on peut reconstituer comme suit: le démon enseigne au
moi la loi de l’éternel retour du même, lui révélant la multitude des
existences qu’il a déjà vécues et dont il ne peut se souvenir, puisqu’elles
sont strictement identiques à celle qu’il vit présentement, avant de lui
poser la question: «Voudrais-tu de ceci encore une fois et d’innombra-
bles fois?»17 Mais comment revouloir ce que l’on est déjà? L’aporie ne
peut dès lors recevoir qu’une seule signification: le moi qui se trouve
face à l’interrogation «se trouve mis en demeure d’accomplir sa destinée
comme si elle n’était pas dj accomplie par le seul fait d’exister»! 18
L’Éternel retour, par la voix du démon, devient donc une sorte
d’hypostase de l’existence hic et nunc, sans autre but que de s’accomplir
comme existence.
«Ainsi vivent les vagues – ainsi vivons-nous, nous autres, Þtres voulants! ce
secret même n’était-il pas dans le: ‹comme s’il s’agissait d’atteindre quelque
chose!› alors qu’il n’y a rien que ce mouvement avide, rien que cette
convoitise des trésors ensevelis: rien en effet que ce vouloir se-recueillir
dans l’aller et venir des vagues: l’âme revenant à sa souveraineté […] Et
ce secret – la leçon même de la Gaya scienza – est que cette exaltation du
mouvement pour le mouvement ruine la notion d’une fin quelconque
dans l’existence et glorifie l’inutile présence de l’être en l’absence de tout
but.»19
L’Éternel retour est aporie, non-sens, chaos, en même temps qu’il
constitue le fond de l’existence elle-même, tel que le révèle un instant

15 Ibid. p. 22.
16 Friedrich Nietzsche, Le Gai Savoir, in Œuvres philosophiques compltes, t. V.,
Paris: Gallimard 1982, p. 232.
17 Pierre Klossowski, Un si funeste Dsir, op. cit., p. 26.
18 Ibid. p. 25.
19 Ibid. p. 27.
246 Slaven Waelti

d’extase. Dans cet instant extatique, l’individu est libre de toute notion
de but que l’instinct de conservation créait pour nous préserver du vide
de l’immotivé. Quoi de plus angoissant en effet que l’idée de vivre «pour
rien»? Sans vouloir s’arrêter sur ce que le terme «angoisse» peut avoir de
bataillien, il faut néanmoins rapprocher cette première conception
«existentialiste» de l’Éternel retour de la conception du maître à penser
de l’athéologie. Dans son Sur Nietzsche, Bataille écrit:
«J’imagine nécessaire en ce sens d’inverser l’idée d’éternel retour. Ce n’est
pas la promesse de répétitions qui déchire mais ceci: que les instants saisis
dans l’immanence du retour apparaissent soudainement comme des fins.
Qu’on n’oublie pas que les instants sont par tous les systmes envisagés et
assignés comme des moyens: toute morale dit: ,que chaque instant de votre
vie soit motiv’. Le retour immotive l’instant, libère la vie de fin et par là
d’abord il la ruine.»20
Entre Löwith et Bataille, cette première lecture de Nietzsche par
Klossowski a donc de nombreux accents existentialistes. Il n’est pas
jusqu’à la mort de Dieu qui n’annonce une «nouvelle maturité de
l’esprit». Mais ce terrain-là, Klossowski le quittera bientôt. Les motifs
centraux de sa réflexion, tels que le rapport aporétique de l’oubli et du
retour, se maintiendront certes tout au cours de son œuvre de critique
nietzschéen. Le cadre de sa réflexion en revanche évoluera considéra-
blement. De philosophique, aux accents existentialistes qu’il est en 1954,
il va progressivement entrer dans une dimension «affabulatrice», et
fictionnelle.

3 Nietzsche, le polythéisme et la parodie.

Klossowski revient à Nietzsche en 1957, lors d’une conférence au


Collège de Philosophie sous le titre: Nietzsche, le polythisme et la
parodie. 21 La conférence s’ouvre sur le problème de la relation à
Nietzsche. Question qui se pose dès lors que l’on n’est plus, ni
traducteur ou préfacier, ni même auteur de compte rendu, mais un
simple particulier invité à parler de Nietzsche dans le cadre d’un collège
de philosophie. Et c’est avec soin que Klossowski va tracer le portrait

20 Georges Bataille, Sur Nietzsche, in Œuvres Compltes, t. VI., Paris: Gallimard


1973, p. 23.
21 Le texte paraîtra dans le recueil d’articles déjà mentionné: Pierre Klossowski, Un
si funeste Dsir, op. cit., p. 173 – 212.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 247

d’un Nietzsche qui aurait développé: «non pas une philosophie, mais, en
dehors des cadres de l’université, les variations sur un thème personnel»,
définition qui sied parfaitement à ce que fut l’activité de Pierre
Klossowski lui-même. Or, pour ces marginaux de l’esprit, et pour
Nietzsche en particulier, se pose une question capitale qui est de savoir
comment aborder sa pensée? Son œuvre «sans réel point de départ ni
d’arrivée»22, peut-elle être dépliée, élucidée, comprise par des com-
mentaires philosophiques qui la saisiraient de l’extérieur? Comment
saisir ces variations sur un thème personnel? Nietzsche lui-même, selon
Klossowski, se serait «vu amené à enseigner l’inenseignable: cet inensei-
gnable, ce sont les moments où l’existence, échappant aux délimitations
qu’apportaient les notions d’histoire et de morale dont découle
ordinairement un comportement pratique, se révèle comme rendue à
elle-même sans autre but que de revenir sur elle-même.»23 Il s’agit donc
toujours ici de ce fond de l’existence que la préface de 1954 avait déjà
étudié. Mais le problème qui se pose dorénavant est celui du langage.
Comment parler d’un fond qui n’a ni sens ni but, au moyen d’un
langage tout entier tourné vers l’action et la survie de l’espèce?
Comment exprimer la singularité d’une expérience fondamentale dans
le langage grégaire des concepts, langage négateur de singularités?
En dehors du thème du «fond de l’existence», les autres grands
thèmes abordés dans la préface se retrouvent dans la conférence du
Collège de Philosophie. Mais de 1954 à 1957, l’horizon de réflexion
change. Si l’oubli est toujours pensé comme élément médiateur rendant
possible le rapport entre volonté et retour, l’analyse nouvelle que fait
Klossowski de la mort de Dieu, marque une prise de distance sérieuse
par rapport aux catégories de l’existentialisme d’après-guerre. Elle ne
correspond plus à une «maturité nouvelle de l’esprit» ou à une
souveraineté recouvrée de l’existence. Elle devient le signe d’un
événement aussi inouï qu’inquiétant: la perte de l’identité du sujet.
«,Dieu est mort’ ne signifie pas que la divinité cesse en tant qu’une
explication de l’existence, mais bien que le garant absolu de l’identité du
moi responsable disparaît à l’horizon de la conscience de Nietzsche
lequel, à son tour, se confond avec cette disparition.»24 Dès lors, la
conscience s’ouvre à une pluralité d’identités possibles qu’elle va
chercher à s’incorporer jusqu’à devenir tous les noms de l’histoire.

22 Ibid. p. 176.
23 Ibid. p. 177.
24 Ibid. p. 206.
248 Slaven Waelti

Chaque identité ne correspondant qu’à un possible, à l’attribution


fortuite d’un nom à une intensité quelconque de pensée. En d’autres
termes Nietzsche «a saisi le fond même de l’existence, vécue en tant que
fortuite, c’est-à-dire en tant qu’existence qui, en lui, se nomme
fortuitement Nietzsche.»25
La mort de Dieu devient le symbole de la perte de l’unique garant de
l’identité stable. Elle n’annonce ni une nouvelle ère de nihilisme ou
d’athéisme qui restent à leur manière tributaires du triomphe de l’Un –
absent ou présent – sur le multiple. La mort de Dieu, comme perte de
l’identité, marque pour Klossowski, la possibilité d’un retour de dieux
multiples, retour du polythéisme. Ce retour au multiple fournit la clé de
l’interprétation que Klossowski donne du célèbre aphorisme du
Crpuscule des Idoles «Comment le monde vrai finit par devenir
fable»26 : qu’il commente en ces termes:
«Avec le monde vrai, nous avons supprimé le monde apparent; le monde
vrai (platonicien, chrétien, spiritualiste, idéaliste, transcendant) servant de
référence au monde apparent, ayant disparu, l’apparence à son tour
disparaît; ce n’est pas que le monde puisse, d’apparent qu’il était, devenir le
monde réel du positivisme scientiste; le monde devient fable, le monde tel
quel n’est que fable: fable signifie quelque chose qui se raconte et qui
n’existe que dans le récit; le monde est quelque chose qui se raconte, un
événement raconté et donc une interprétation: la religion, l’art, la science,
l’histoire, autant d’interprétations diverses du monde, ou plutôt autant de
variantes de la fable.»27
Autrement dit, il y a pluralité de normes et de vérités, toutes ne sont que
des événements racontés. Klossowski, joignant alors le geste à la parole,
va s’attacher à faire disparaître dans son œuvre toute distinction entre
fiction et théorie, l’une comme l’autre n’étant plus que des variantes de
la fable.
Se pose alors la question du langage de Nietzsche: quel est son
véritable langage? Comment exprimer au moyen d’une langue con-
struite sur des notions stables, les identités des concepts, la fin de
l’identité et la pluralité nouvelle du sens? La préface de 1954 déjà se
terminait sur la question de savoir si la doctrine de Nietzsche était
communicable28. Nietzsche, le polythisme et la parodie reprend alors le

25 Ibid. p. 177.
26 Aphorisme traduit intégralement par Klossowski dans: Pierre Klossowski, Un si
funeste dsir, op. cit., p. 179 – 180.
27 Ibid. p. 180 – 181.
28 Ibid. p. 31.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 249

problème en introduisant une conception nouvelle du langage axée sur


la notion très klossowskienne de «simulacre». Une notion qui recèle de
nombreuses facettes et qui traverse une grande partie de l’œuvre de
Klossowski. Par rapport au problème de la communication, de
l’enseignable et de l’inenseignable, nous retiendrons le sens que
Klossowski donne au simulacre par opposition au concept. Le simulacre
se distingue en effet de ce dernier en cela qu’il ne s’adresse pas à
l’intellect des lecteurs-interlocuteurs, mais à leur sensibilité. Il ne vise pas
à «être compris» par ceux avec qui il est partagé, mais à stimuler leur
complicité dans une communauté du sentir – chaque émotion singulière
appelant pour la traduire un simulacre unique répondant exactement à la
physionomie de l’émotion, ce que les concepts, en leur généralité, ne
peuvent évidemment faire.29 La philosophie de Nietzsche n’est donc
pas, pour Klossowski, une doctrine saisissable sur un plan conceptuel,
mais un «simulacre de doctrine»30 invitant à partager une manière de
sentir. Toutes les difficultés conceptuelles que posait cette philosophie
vont alors s’effacer. L’union de la volonté et du retour ne fait plus
problème dès que le retour n’est plus perçu comme un concept à
intégrer de toute force dans un système philosophique, mais comme un
«simulacre» invitant à partager une expérience fondamentale et inarti-
culable dans le langage des concepts et de la philosophie.
Le simulacre, dans la compréhension klossowskienne de Nietzsche,
est le produit d’une simulation, d’une pensée et d’un langage mimant un
objet. Comment pourrait-il en être autrement puisque l’objet fonda-
mental de l’œuvre de Nietzsche serait en effet de rendre compte de ces
moments vécus en dehors de frontières du sens dans la «communauté
fabuleuse des vagues», soit mimer l’expérience fondamentale du retour
éternel en l’absence totale de tout sens possible?

4 Oubli et anamnèse dans l’expérience vécue de l’éternel


retour du même.

Le simulacre cherche donc à faire partager une expérience fondamen-


tale, l’expérience d’une intensité particulière du pathos. C’est sur cette
expérience que Klossowski ne cessera de revenir – ainsi lors du demeuré

29 Voir à ce propos : Pierre Klossowski, La Ressemblance, Marseille, Édition


Ryôan-ji, 1981.
30 Pierre Klossowski, Un si funeste dsir, op. cit., p. 211.
250 Slaven Waelti

célèbre VIIe Colloque philosophique international de Royaumont de


1964. Klossowski y décrit cette expérience fondamentale «comme un
brusque réveil au gré d’une Stimmung, d’une certaine tonalité de
l’âme»31, telle que Nietzsche le vécut au cours de l’été 1881 à Sils-Maria
et au cours duquel lui vint la pensée de l’Éternel retour du même. Deux
questions se posent alors: quelle est cette «tonalité de l’âme» et comment
passe-t-on de cette dernière à une pensée telle que l’Éternel retour?
La réflexion de Klossowski semble tout d’abord revenir en arrière,
puisqu’il part du problème de l’oubli déjà traité à plusieurs reprises. Le
cadre de réflexion est cependant entièrement différent de celui proposé
dans la préface de 1954. L’oubli n’est plus pensé comme un passage
obligé en vue d’une réconciliation entre la volonté et le destin, il
marque désormais le point crucial de la révélation même de l’Éternel
retour. L’oubli est oubli de soi au gré d’une forme d’extase résultant
d’une intensité extraordinaire de la sensibilité ou, plus précisément, du
pathos. Une haute tonalité de l’âme qui déborde l’identité même du
sujet: l’intensit de la pensée prenant le dessus sur l’intention du penseur.
Au gré de sa «Stimmung», Nietzsche perd le monde ainsi que son identité
et son nom et ne se perçoit plus que comme la ronde éternelle des
identités possible: «au fond tous les noms de l’histoire, c’est moi» écrit-il
dans une lettre célèbre.
Un schéma se met dès lors en place de part et d’autre du Léthé, qui
oppose d’un côté le monde quotidien dans lequel chaque individu est le
détenteur responsable d’une identité unique acquise en vertu de l’oubli
des divers possibles; et de l’autre, la ronde des diverses identités
possibles, révélée au gré d’une haute tonalité de l’âme qui fit oublier au
penseur son identité momentanée. La révélation de l’Éternel retour
coïncide avec le dévoilement de la ronde des identités possibles dans
l’oubli de toute identité actuelle. Klossowski ne pense donc plus
l’Éternel retour comme fond mouvant de l’existence, mais bien plus
comme perte de l’identit au sommet de l’intensit de la pense, soit un état où
la pensée n’est plus celle d’un sujet – pensée désignant sa cohérence avec
le monde environnant par le jeu des désignations, mais pensée désignant
sa cohérence avec elle-même à l’exclusion du monde et du penseur lui-
même. Cette pensée désignant ainsi sa propre cohérence, forme
nécessairement un cercle qui en devient, au niveau maximal de son
intensité, le signe unique. Un signe qu’il nommera bientôt avec

31 Nietzsche, Cahiers de Royaumont, VIIe colloque, 4 – 8 juillet 1964, dir. Gilles


Deleuze, Paris: Les Éditions de Minuit 1967, p. 227.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 251

Nietzsche, en référence à l’aphorisme 56 de Par-del bien et mal: «le


cercle vicieux».
Parvenu à ce point de sa réflexion, Klossowski semble avoir
définitivement quitté le terrain de la philosophie dite académique ou
universitaire. Les observations dubitatives de nombreux participants
suite à sa communication en témoignent: «cela me laisse rêveur»32
concède M. Guéroult, tandis que M. Birault conclut: «je suis comme
tout le monde, très admiratif et très perplexe»33, à quoi Klossowski se
contente de répondre de manière on ne peut plus laconique: «en tout
cas c’est un vertige».34 C’est le vertige de la pluralité des identités, le
vertige de la fiction indistinctement mêlée à la vérité, la philosophie à
l’affabulation – Klossowski suivant en cela le programme présenté dans
Nietzsche, la parodie et le polythisme.
C’est que l’expérience fondamentale décrite à propos de Nietzsche
est déjà celle que Klossowski aurait vécue lors de la rédaction de ses
propres romans: Roberte ce soir (1953), La Rvocation de l’dit de Nantes
(1959) et Le Souffleur (1960). Au-delà des romans à proprement parler,
ce qui importe pour nous, c’est la postface qu’il leur adjoint au moment
de les rassembler en une trilogie intitulée Les Lois de l’hospitalit (1965).35
Il s’agit d’une longue postface sous forme de fiction théorique dans
laquelle il retrouve parfois mot pour mot des passages entiers de sa
communication sur Nietzsche, présentée une année plus tôt au colloque
de Royaumont. Il y décrit comment il fut lui-même confronté au
«phénomène de la pensée, ses hausses, ses chutes»36 et comment, à
l’instar de Nietzsche, «il [lui] arriva d’être bientôt réduit à un signe
unique»37, soit une expérience dépouillée de toute dimension empirique
sensible ou existentielle, la pensée comme cercle immobile se désignant
elle-même en dehors de toutes les désignations qui assurent notre
cohérence avec le monde. Or, détruisant cette cohérence-là, la pensée
détruit l’identité du sujet pensant, et le plonge dans l’oubli de soi-même.
La pensée se désignant pour Klossowski dans Les Lois de l’hospitalit dans
un signe unique qui est le nom propre de «Roberte», et qui chez
Nietzsche se nomme «cercle vicieux».

32 Ibid. p. 237.
33 Ibid. p. 241.
34 Ibid. p. 238.
35 Pierre Klossowski, Les Lois de l’hospitalit, Paris: Gallimard, coll. «L’Imaginaire»,
1965.
36 Ibid. p. 333.
37 Ibid. p. 333.
252 Slaven Waelti

La scission semble dès lors bel et bien consommée. Scission pour


Nietzsche entre sa vie de professeur de philologie classique et son
existence «de simple particulier égrotant ou convalescent»38, scission
pour Klossowski entre l’expérience fondamentale de la pensée revenue
sur elle-même, et le monde des philosophes travaillant sur ou à partir de
Nietzsche. La volonté de puissance ne joue plus aucun rôle dans
l’interprétation klossowskienne, pas plus que le motif de la mort de Dieu
ou celui de la transvaluation. Le problème de la réconciliation du
concept de volonté avec la fatalité est également évacué. Dans Nietzsche
et le cercle vicieux, Klossowski ira jusqu’à citer un fragment de Nietzsche
dans lequel ce dernier proclame avoir liquidé le concept de volonté lui-
même! 39 Dès lors tous les «concepts» nietzschéens s’effacent au profit de
la seule expérience d’une pensée se désignant elle-même. Les concepts,
qui ne sont que les simulacres de cette expérience, perdent toute
pertinence philosophique. Ils ne sont que les «signes» au travers desquels
Nietzsche cherche à communiquer une manière de sentir, soit enseigner
l’inenseignable.
Cette expérience du «phénomène de la pensée», dégagée de toute
catégorie empirique ou biographique, est en fin de compte tant celle de
Klossowski que de Nietzsche. Est-ce Klossowski qui médite à travers
Nietzsche sur un thème qui lui est propre ou découvre-t-il dans
Nietzsche des préoccupations qu’il s’approprie? La question a-t-elle
seulement un sens? Nietzsche ne pourrait-il pas aussi bien être le masque
sous lequel Klossowski se pense que Klossowski le masque sous lequel la
pensée de Nietzsche continue à penser? L’exégète, ayant rompu avec
l’université ainsi qu’avec le langage des concepts, semble bien proche de
sombrer dans la folie, imitant en cela la folie même de Nietzsche. Folie
que Klossowski définit comme «perte du monde et de soi-même, au
titre d’une connaissance sans commencement ni fin»40, tous les noms de
l’histoire ayant été révélés à Nietzsche, Nietzsche étant devenu tous les
noms. Et Klossowski de conclure:
«L’intensité de la pensée s’exprime par cette alternative de la folie acceptée
ou éludée; ou bien perdre le signe, le laissant pour lui-même, sachant qu’il
existe ignoré du monde, et donc m’aliéner le signe qui pour soi n’a rien de

38 Ibid. p. 177.
39 «Meine Vollendung des Fatalismus: 1) durch die ewige Wiederkunft und
Präexistenz, 2) durch die Elimination des Begriffs ,Wille’.», in: Friedrich
Nietzsche, Nachlass 1884 – 1885, KSA, t.11, p. 70.
40 Ibid. p. 346.
De l’existencte au cercle vicieux, Klossowski lecteur de Nietzsche 253

fou; ou bien subir l’intensité du signe, quitte à perdre le monde, pour


connaître sans commencement ni fin.»41
Tel est le dilemme devant lequel Nietzsche se trouva placé et que
Klossowski, pour sa part, dénoncera: la folie étant devenue cohérence
de la pensée avec elle-même atteinte au cours d’une hausse phénomé-
nale de l’intensité de cette dernière.

5 Nietzsche et le cercle vicieux.

C’est ainsi que nous sommes parvenus sur le seuil du grand œuvre de
Klossowski sur Nietzsche: Nietzsche et le cercle vicieux, paru en 1969.
Comme nous l’avons montré, il ne semble pas que Klossowski à la fin
des années soixante, se soit encore préoccupé de philosophie. Au
contraire, au fil des années depuis l’après-guerre et au fil de ses travaux
sur Nietzsche, il s’est progressivement éloigné de tout débat philoso-
phique, pour se tourner de plus en plus vers un espace d’affabulation
dont toute vérité philosophique est exclue, ne s’intéressant chez
Nietzsche qu’au seul «fait que la pensée tourne sur le délire comme
sur son axe»42 et à la question: «qu’est-ce qui est lucide, qu’est ce qui est
inconscient dans la pensée et dans nos actes – question souterraine qui
au-dehors se travestit en une critique de la culture et s’explicite à dessein
sous une forme encore intégrable aux discussions spéculatives et
historiques de son temps.»43 Mais Nietzsche, selon Klossowski renoncera
bientôt à toute intégration de ce type. Le Nietzsche de Klossowski,
comme Klossowski lui-même, semble renoncer volontairement à toute
forme de cohérence entre la pensée et le monde, telle que l’assurait le
jeu des désignations, pour se consacrer entièrement à l’expérience de la
cohérence de la pensée avec elle-même, soit cet anneau encerclant le
délire, éternel retour tournant autour du chaos comme sur son axe.
Sur cette rupture, Klossowski est absolument formel au début de la
préface de son Nietzsche et le cercle vicieux où il écrit: «Voici un livre qui
témoignera d’une rare ignorance: comment seulement parler de ,la
pensée de Nietzsche’ sans faire jamais le point de ce qui a été dit depuis
lors?»44 Mais Klossowski n’a nullement besoin de faire le point dès lors

41 Ibid. p. 346.
42 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, op. cit., p. 12.
43 Ibid. p. 13.
44 Ibid. p. 11.
254 Slaven Waelti

qu’il partage la sensibilité de Nietzsche. À l’instar de Bataille, Klossowski


lit et sait écouter Nietzsche mieux que quiconque, car, comme il l’écrit
lui-même, il «l’entend parler»:
«Quel est donc notre propos – si toutefois nous en avons un? Mettons que
nous ayons écrit une fausse étude. Parce que nous lisons Nietzsche dans le
texte, que nous l’entendons parler, peut-être le ferions-nous parler pour
,nous-même’ et nous mettrions à contribution le chuchotement, le souffle,
les éclats de colère et de rire de cette prose la plus insinuante qui se soit
encore formée dans la langue allemande – la plus irritante aussi? Pour qui
sait l’écouter, la parole de Nietzsche acquiert une vertu d’autant plus
percutante que l’histoire contemporaine, que les événements, que l’univers
commencent à répondre de façon plus ou moins divaguante aux questions
que Nietzsche a posées, voici quelque quatre-vingts ans.»45
Au-delà de la personne que fut Nietzsche et des concepts qu’il laisse
aux philosophes, il reste de lui, pour Klossowski, en premier lieu une
voix, une intensité ou une impulsion que le traducteur du Gai savoir
prétend encore entendre. La philosophie devient ici, une affaire d’ouïe
et de complicité. Toutes les spéculations, les idées et les concepts, ne
sont que les simulacres dont s’affuble l’impulsion la plus intense pour se
communiquer et éveiller la sympathie et la complicité d’éventuels
témoins … allant jusqu’à penser une forme délirante de complot
rassemblant une poignée de penseurs ou d’artistes prêts «à casser en deux
l’histoire de l’humanité».46 Foucault lorsqu’il fit de Nietzsche et le cercle
vicieux le plus grand livre de philosophie qu’il ait jamais lu, partait-il d’un
tel concept de la philosophie?

45 Ibid. p. 11.
46 Ibid. p. 23.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den
Nietzsche-Lektüren des Gilles Deleuze
Marc Rölli
„Das Problem vom Werthe der Wahrheit
trat vor uns hin, – oder waren wir’s,
die vor das Problem hintraten?
Wer von uns ist hier Oedipus? Wer Sphinx?“1
Mit dem 1962 in Paris veröffentlichten Buch Nietzsche et la philosophie
von Gilles Deleuze beginnt ein neuer Abschnitt der Rezeptionsge-
schichte der Schriften Nietzsches.2 Haben bis dahin, grob gesagt, die
„metaphysischen“ Lesarten dominiert, so rückt nun eine radikal meta-
physikkritische, d. h. immanenz- und differenzgetestete Spielart der
Nietzsche-Interpretation in den Vordergrund. Für diese Verschiebung
der Perspektive steht exemplarisch die Durchstreichung des majestäti-
schen Singular eines einzigen und universalen Willens zur Macht zu-
gunsten einer Pluralität von Willen-zur-Macht-Prozessen.3 Gegen die
zumeist entweder über Schopenhauer vermittelten oder von Heidegger
(zeitweilig auch von Bäumler) inspirierten metaphysischen Deutungen

1 KSA 5, S. 15.
2 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), aus dem Französischen
übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991.
3 „Die Annahme einer Substantialität wurde zuerst von W. Müller-Lauter zu-
rückgewiesen. Müller-Lauter hat, besonders gegen die von Heidegger vorge-
tragene Nietzsche-Deutung, herausgestritten, daß es sich in Nietzsches Lehre
vom Willen zur Macht nicht um ein einheitliches ens metaphysicum, nicht um
einen sich selbst wollenden Wesenswillen, sondern um eine Vielheit mitein-
ander kämpfender Willen zur Macht handelt.“ (Günter Abel, Nietzsche. Die
Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin und New York:
Walter de Gruyter 1984, S. 20 – 21.) Abel läßt hier aus, worauf Müller-Lauter
in seinem Text von 1971 hingewiesen hat, daß nämlich bereits 1962 Deleuze
der metaphysischen Interpretation das pluralistische Konzept einer „Vielheit
von Willen zur Macht“ entgegengestellt hat. Vgl. Wolfgang Müller-Lauter,
„Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht“, in: Jörg Salaquarda (Hrsg.),
Nietzsche. Wege der Forschung Bd. 521, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchge-
sellschaft 1971, S. 234 – 287, hier S. 246. Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2),
S. 240 (Endnote 98), wo sich Deleuze explizit von den Nietzsche-Interpreta-
tionen Heideggers absetzt.
256 Marc Rölli

des Willens zur Macht als fundamentales Prinzip der Spätphilosophie


Nietzsches tritt somit in Frankreich ein „nachmetaphysisches“ Denken
auf, das in seinen häufig als „strukturalistisch“ und „poststrukturalis-
tisch“ bezeichneten Bemühungen um eine Position diesseits des Sub-
jekts in Nietzsche ihre privilegierte Bezugsperson findet. In diesem
Zusammenhang erklärt sich, warum Deleuze mit seinem Nietzsche-
Buch ein so breites Echo hervorrufen konnte. Er liefert der struktura-
listischen „Bewegung“ mit Nietzsche einen dezidiert philosophischen
Halt. Hinzu kommt, daß er mit seiner Nietzsche-Auslegung eine
kompromißlose Gegenposition gegen den philosophischen Traditio-
nalismus entwickelt, die noch über Heideggers Ansatz zu einer De-
struktion der Metaphysik hinausgeht. So ist es auch nicht weiter ver-
wunderlich, daß Deleuze mit seinem Nietzsche-Buch nicht nur für die
Nietzsche-Rezeption einerseits und die Konsolidierung „strukturalisti-
scher Methoden“ innerhalb der Philosophie andererseits Entscheidendes
geleistet hat, sondern zudem seine eigene Form des Philosophierens erst
anhand seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche erarbeitet.
Ein erster Bezugspunkt von Nietzsche et la philosophie ist der „Fre-
udo-Marxismus“ in der politischen Theorie. Deleuze wendet sich
gegen den zeitgenössischen Unterdrückungs- und Befreiungsdiskurs,
indem er seine dialektischen Grundlagen auf der Folie nietzscheanischer
Denkmuster ausleuchtet. Gegen den „Negativismus“ Hegels wird der
„Positivismus“ Nietzsches ausgespielt. Mit Nietzsche unternimmt De-
leuze eine progressive „Kritik der Modernität“,4 indem er ihn in eine
Traditionslinie mit Kants kritischer Philosophie stellt. Auf diesem Weg
eröffnet sich die „Immanenzebene“ des Willens zur Macht als Inbegriff
mannigfaltiger Willen-zur-Macht-Prozesse. Hinter der Oberfläche der
angriffslustigen Positionierung im Kontext der politischen Denkweisen
verbirgt sich ein grundsätzlicher philosophischer Entwurf, der in
Nietzsches Lehre von den Willen zur Macht eine metaphysikkritische
Alternative zum dogmatischen Bild des Denkens der herkömmlichen
(rationalistischen) Philosophie, vor allem aber zur Dialektik in ihrer an
Hegel geschulten Ausprägung bietet. In dieser Stoßrichtung liefert
Nietzsche die Vorgaben für die von Deleuze in den folgenden Jahren
unternommene Ausarbeitung einer Philosophie der „unbewußten“

4 Vgl. KSA 5, S. 24, und KSA 6, S. 350. Vgl. Marc Rölli, „Wir modernen
Menschen – wir Halbbarbaren“, in: Sic et Non. zeitschrift fr philosophie und
kultur. Im netz 2004, http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/historie/nietz-
sche.htm.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 257

Kraftkonstellationen, Wiederholungsformen und Machtstrukturen,


sowie der nicht negationslogisch verstellten Differentialverhältnisse.
Zwei Problemkreise, die im Werk von Deleuze regelmäßig wie-
derkehren, lassen sich vorab herausstellen. An erster Stelle steht die
Konzeption des „Willens zur Macht“. Nach Deleuze steht sie im
Zentrum einer immanenten Philosophie, die sich jegliche Zugeständ-
nisse an transzendente Bezugsgrößen verbietet, die außerhalb der Er-
fahrung situiert sind – bzw. genauer: dorthin fingiert sind. So wird auch
verständlich, warum Deleuze seine Philosophie gelegentlich als „em-
piristisch“ einstuft. Der Wille zur Macht als Begriff mannigfaltiger
„Willen-zur-Macht-Prozesse“ fungiert als Grundbegriff eines nicht
länger klassischen, auf Erfahrungsatomen fundierten, sondern radikalen
Empirismus, der dem reinen Erfahrungsfluß den Primat vor den ihn
repräsentierenden subjektiven Akten einräumt. Diese Prozessualität
eines Werdens, das sich festen ontologischen Zuordnungen sperrt, wird
laut Deleuze im Gedanken der ewigen Wiederkunft von Nietzsche
gedacht.5 Ein weiteres, mit dem ersten korrespondierendes Hauptthema
der Deleuzeschen Nietzsche-Rezeption liegt im Umfeld der Nihilis-
musthese und der Problematik von Lebensverneinung und Lebensbe-
jahung. Als „nihilistisch“ gilt, was im Namen transzendenter Werte die
immanenten Lebensverhältnisse negiert. Deleuze lehnt sich an Nietz-
sches Diktum von den moralischen Qualitäten des Willens zur Wahr-
heit an, der nach reinen, gesicherten, befreienden und unbedingten
Erkenntnissen sucht, die sich nicht im Bereich des Vergänglichen und
Perspektivischen finden lassen. Nihilistisch ist die Wahrheitsliebe selbst,
wenn sie die Höhlenlandschaft der irdischen Lebenswelten im Son-
nenlicht des Idealen verschattet. Gerade in der Unfähigkeit zum Guten,
zum Schönen und zum Wahren bringt sich eine Positivität zum Aus-
druck, der mit der Idee vom Willen zur Macht ihre philosophische
Rechtmäßigkeit wiedergegeben wird.
Mit diesen wenigen thesenartigen Bemerkungen vorweg ist nicht
viel gesagt. Deutlich wird aber, daß auch Deleuze die Philosophie
Nietzsches von ihrem Ende her angeht und begreift, das heißt ausge-
hend von ihren berühmt-berüchtigten Pathosformeln (Wille zur Macht,
ewige Wiederkehr, Nihilismus), die einen wie auch immer genauer

5 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 58 ff. Ausdrücklich führt er in seinem


Nietzsche-Buch den Willen zur Macht und die ewige Wiederkunft als Kom-
plementärbegriffe ein, die philosophiegeschichtlich das Thema von Differenz
und Wiederholung erstmals konsistent durchführen.
258 Marc Rölli

beschaffenen systematischen Ansatz und Zusammenhang nahe legen. Im


Unterschied zur überwiegenden Mehrzahl älterer Nietzsche-Deutun-
gen verläßt er aber mit Nietzsche den Boden der Metaphysik. Dieser
Anspruch wird zunächst in Nietzsche et la philosophie mit direkter Be-
zugnahme auf Nietzsches Texte eingelöst. Einige Jahre später entfaltet
Deleuze in Diffrence et rptition dieselbe Problematik auf mehreren
theoretischen Schienen und weitaus differenzierter, abgelöst von
Nietzsches Terminologie und in enger Korrespondenz mit entspre-
chenden Texten und Problemen der abendländischen Philosophiege-
schichte von Platon bis Heidegger.6 Im Folgenden werden zunächst die
grundlegenden „metaphysikkritischen“ Gemeinsamkeiten von Deleuze
und Nietzsche herausgestellt. Anschließend komme ich auf die zeit-
philosophischen Kernpunkte zu sprechen, die das Konzept der Wie-
derholung bei Deleuze bestimmen. Drittens werde ich die These auf-
stellen und verfechten, daß Deleuze den Gedanken von der ewigen
Wiederkunft als höchste Form der Zeit aufgreift und deutet.

I. Bild des Denkens

Im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Bçse (1886) hat Nietzsche
auf unüberbietbare Art und Weise die moralischen Vorurteile „der
Philosophen“ als ihre ebenso impliziten wie die Gesamtheit ihres
Denkens beherrschenden „Wertschätzungen“ aufgedeckt.7 „In der
That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon, wie eigentlich die
entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu
Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen: auf welche Moral
will es (will er –) hinaus?“8 Mit seiner „psychologischen“ Methode und
Fragehaltung fördert Nietzsche einige typische Merkmale vergangenen
Philosophierens ans Tageslicht: zunächst den „Grundglauben der Me-

6 Zentrales Thema ist der Gedanke von der ewigen Wiederkunft im zweiten
Kapitel von Diffrence et rptition, wo er als höchste Form von drei Wieder-
holungstypen begriffen wird. Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung
(1968), aus dem Französischen übersetzt von Joseph Vogl, München: Wilhelm
Fink 1991, S. 123 – 127, S. 153 ff. Vgl. dazu ausführlich: Marc Rölli, Gilles
Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien: Turia + Kant 2003,
S. 333 – 371.
7 Vgl. KSA 5, S. 19 – 20.
8 KSA 5, S. 20.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 259

taphysiker […] an die Gegensätze der Werthe“9 sowie den guten Willen
zur Wahrheit, sodann die dogmatische Einstellung, eine Interpretation
für die Sache selbst (den „Text“) gelten zu lassen, – und zuletzt einige
tief in der Grammatik verwurzelten „Volks-Vorurtheile“,10 die als
Fundamente philosophischer Systeme eingesetzt werden, zum Beispiel
der Glaube an einen freien Willen, der Glaube an die ursprüngliche
Einheit des Denkens und Selbstseins, der Glaube an die Kausalität als
allgemeines und notwendiges Gesetz der Natur. Als exemplarische
Anfangspostulate oder Überzeugungen bezieht er sich auf die Begriffe
des Denkens und Wollens bei Descartes und Schopenhauer.11 Beide
erliegen einer „Verführung der Worte“,12 indem sie vorgeben, von der
„bekannteste[n] Sache von der Welt“ zu reden, d. h. von dem, was uns
„eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt“ sei.13 Nun sind diese im-
pliziten Vorannahmen keineswegs harmloser Natur, vielmehr kommt in
ihnen ein fest in den Sprachstrukturen sitzender metaphysischer Glaube
zum Ausdruck, der sich auf sichere Instanzen zur Begründung der
moralischen Werteordnung berufen will. Diese steht allerdings auf
wackeligen Füßen, da sie sich auf dogmatische Festlegungen stützen
muß, die skeptisch, d. h. im Hinblick auf ihren immanenten Perspek-
tivismus, auf ihren unhaltbaren Kern hin analysiert werden können.
Das von Nietzsche in Aussicht gestellte „zukünftige“ Bild des
Denkens unterscheidet sich von seinen dogmatischen Vorläufern zu-
nächst dadurch, daß es die natürliche Verwandtschaft zwischen dem
Denken und der Wahrheit – quasi als Ausdruck des moralischen Vor-
urteils par excellence – in Frage stellt.14 Deleuze konzipiert diesen ersten

9 KSA 5, S. 16.
10 KSA 5, S. 32.
11 „Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es
,unmittelbare Gewissheiten‘ gebe, zum Beispiel ,ich denke‘, oder, wie es der
Aberglaube Schopenhauer’s war, ,ich will‘: gleichsam als ob hier das Erkennen
rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als ,Ding an sich‘ […].“
(KSA 5, S. 29.)
12 KSA 5, S. 29.
13 KSA 5, S. 31.
14 Nietzsche problematisiert die Instanz des Fragens, des Willens zur Wahrheit.
„Was in uns will eigentlich ’zur Wahrheit’?“ Seine Antwort lautet, dass es der
Wille zur Macht ist, der im Willen zur Wahrheit will, und dass „die“ Wahrheit
ein metaphysischer Begriff ist, der auf nicht eigens thematisierten normativen
Voraussetzungen beruht. Die Angleichung dieser Voraussetzungen an das ge-
netische Prinzip des Voraussetzens führt Nietzsche dazu, nicht aus der
„Falschheit“ eines Urteils einen Einwand gegen es abzuleiten. „Warum auch
260 Marc Rölli

Aspekt als Postulat von der „Wahrhaftigkeit des Denkens“. 15 Damit ist die
implizite rationalistische Unterstellung gemeint, daß dem Denken als
natürliche menschliche Fähigkeit die Wahrheit formell zugehört, „daß
es folglich ausreiche, ‘wirklich‘ zu denken, um wahrheitsgemäß zu
denken“.16 Zweitens weist Nietzsche die Vorstellung von sich, die
Wahrheit kçnnte erreicht werden. Die „Scheinwahrheiten“ sind keine
vorläufigen Wahrheiten in dem Sinne, daß ihr minderer Status in ab-
soluter, nicht perspektivisch gebrochener Erkenntnis, zumindest po-
tentiell, aufgehoben ist. Für Deleuze ist dieser zweite Aspekt als (dog-
matisches) Postulat des Methodenideals zu fassen. Es besagt, daß „wir
Menschen“ nur faktisch vom Weg der Erkenntnis abgekommen sind,
daß es uns aber mit der richtigen Methode schon gelingen wird, das von
Rechts wegen unsere Gattung auszeichnende Wissen um die vernünf-
tige Ordnung der Wirklichkeit zu erfassen. Und zuletzt bekämpft
Nietzsche die metaphysische Setzung eines „Glauben[s] an die Gegen-
sätze der Werthe“.17 Mit diesem Glauben verbindet sich die Auffassung,
daß die Wahrheit, der Wille zur Wahrheit, die „selbstlose Handlung“
oder „das reine sonnenhafte Schauen des Weisen“ nicht aus dem Willen
zur Täuschung, aus dem Eigennutz oder der Begehrlichkeit abgeleitet
werden kann. Somit wird ein reines, unvergängliches, göttliches Sein
der „vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt“,
„diesem Wirrsal von Wahn und Begierde“18 entgegengesetzt. Gegen die
Erklärung der Nichtigkeit der diesseitigen körperlichen und zeitlichen
„Existenz“ wendet sich Nietzsche mit der These, daß das „,Bewußtsein‘
in [keinem] entscheidenden Sinne dem Instinktiven entgegengesetzt“,
sondern ganz im Gegenteil „das meiste bewußte Denken eines Philo-
sophen […] durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte

durchaus Wahrheit?“ (KSA V, S. 30.) Es ist (auf Kant bezogen) eben nicht die
Frage, „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?“, sondern die Frage,
„warum ist der Glaube an solche Urtheile nöthig?“ zu stellen. Unmöglich kann
auf falsche Urteile im Sinne von „Vordergrunds-Schätzungen“ (KSA V, S. 16)
verzichtet werden. „Eine Philosophie, die [es] wagt, […] die Unwahrheit als
Lebensbedingung zu[zu]gestehn […], stellt sich damit allein schon jenseits von
gut und böse.“ (KSA V, S. 18.) Von daher wird es einsichtig, dass für Deleuze
im Anschluss an Nietzsche das dogmatische und das moralische Bild des
Denkens unmittelbar zusammenhängen.
15 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
16 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
17 KSA 5, S. 16.
18 KSA 5, S. 16.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 261

Bahnen gezwungen [ist].“19 Deleuze bringt diesen dritten Aspekt als


Postulat des Irrtums auf den Punkt. Der Irrtum repräsentiert das Nicht-
Sein überhaupt, und zwar in der logischen Fassung eines Effekts „von
Kräften, die dem Denken äußerlich sind (Körper, Leidenschaften,
sinnliche Interessen).“20 Somit macht sich der Irrtum nicht als schein-
haft-unwahre Struktur des Denkens de iure geltend, als immanentes
Unbewußtes des Bewußtseins, sondern als bloßes „Nicht-Denken“, das
als nichtiges Moment von der wahren Beschaffenheit des intelligiblen
Realitätscharakters abfällt, sofern man ihm näher kommt.
Gegen diese dogmatischen Merkmale eines verbreiteten philoso-
phischen Selbstverständnisses richtet sich nun das von Nietzsche vor-
geschlagene und von Deleuze nachgezeichnete neue oder amoralische
Bild des Denkens: „Denn dieses [Denken; Vf.] ist niemals nur natür-
liches Vollziehen eines Vermögens. Das Denken denkt nie allein und
durch sich; ebenso wenig wird es einfach nur durch ihm angeblich
äußerlich bleibende Kräfte gestört. Denken hängt ab von Kräften, die
sich seiner bemächtigen.“21 Sein „Wert“ bemißt sich an den Kräften,
die es zu denken determinieren. Mit dieser Bestimmungsgrundlage
verändert sich das gesamte begriffliche Koordinatensystem. Es muß mit
einem „blinden Fleck“ als Vorgabe und Stimulans der Vernunft ge-
rechnet werden, von dem aus sich Probleme aufwerfen und Fragen
stellen. Von hier aus wird nachvollziehbar, wie sich das Unvermögen zu
denken in seiner Positivität zur Geltung bringt. Schließlich ist es nicht
länger auf eine bloß subjektive Gestörtheit zu reduzieren. Genau an
diesem Punkt aber tritt der Wiederholungsgedanke hervor, aus dem
Schatten einer (fingierten, transiterativen) Wahrheit heraus, die mit
ihrer Teleologie die Wiederholung – so schien es – zum Stillstand
brachte. Somit entfaltet sich die Wiederholung auf der ganzen Linie der
Zeitlichkeit, die inmitten des Subjekts einen Bezug zu sich etabliert, der
die Entzweiung „des Subjekts mit sich“ vor jeder Identitäts-Behauptung
zur Ausgangstatsache erklärt.

19 KSA 5, S. 17.
20 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 113.
21 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 118.
262 Marc Rölli

II. Synthesen der Zeit

Am Leitfaden der „drei Synthesen“, die von Kant in der Kritik der reinen
Vernunft ins Zentrum der transzendentalen Analytik der Erfahrung ge-
stellt wurden, entwickelt Deleuze in Diffrence et rptition eine originelle
Theorie der Wiederholungsformen.22 Er lehnt sich hierbei – durchaus in
kritischer Absicht – an die von Husserl unter dem Stichwort der
„passiven Synthesen“ und an die von Heidegger unter dem Stichwort
der „Zeitsynthesen“ vorgelegten Interpretationen der Kantischen Aus-
führungen an. Die erste Synthese der Apprehension wird von ihm als
empirische und passive Synthese der Gegenwart expliziert, die am
Vorbild des Husserlschen Zeitbewußtseins orientiert ist und den ersten
Wiederholungsmodus zur Darstellung bringt.23 Zunächst stellt Deleuze
heraus, daß sich von der Grundlage der passiven Zeitsynthesen der le-
bendigen Gegenwart die aktiven Synthesen abheben, die reflexive
Zeitformen generieren: d. h. „willkürlich“ abgetrennte Formen der
Vergangenheit und der Zukunft, die sich von der Gegenwart abtrennen
und für sich selbst repräsentieren lassen.24 In diesen Zusammenhang
gehören „objektive“ Wiederholungsfälle, die unabhängig von einem
„passiven“ Wiederholungssubjekt eine Realität an sich konstituieren.
Die so blockierte Wiederholung, die sich auf äußerliche Gegebenheiten
erstreckt, die – unter einem sie subsumierenden Begriff – als dieselben
reproduziert werden können, unterstellt ein betrachtendes „Subjekt“,
das die geschiedenen Fälle als begrifflich identisch und zeitlich ver-
schoben zu Bewußtsein bringt. Das bedeutet aber, daß die aktiven
Synthesen der Repräsentation nicht nur eine passive Synthese der Ge-
genwart, sondern auch ein passives Gedächtnis voraussetzen, das ver-
gangene Gegenwarten aufbewahrt. Mit dieser Annahme unterhöhlt
Deleuze nicht nur die „vulgären“, mechanistischen Zeit- und Wie-
derholungsvorstellungen, sondern unterminiert auch die phänomeno-
logische Erfahrungsganzheit. 25 Es ist nicht so, daß die passiven Synthesen

22 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 99 – 168.


23 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 100.
24 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 101.
25 Sowohl Husserl als auch der frühe Heidegger integrieren die Syntheseformen
der Wahrnehmung und der Erinnerung in die ursprüngliche subjektive Einheit
der Apperzeption, wie sie in der letzten und höchsten der drei Kantischen
Synthesen, nämlich im Vollzug der Rekognition, sich konsolidiert. Deleuze
hingegen ordnet gerade die Rekognition, d. h. die begriffliche Vergegenwär-
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 263

als untere Konstitutionsschichten einer aktiv begriffenen Einheit der


Apperzeption aufgefaßt werden könnten.
Den Begriff der Wiederholung bestimmt Deleuze genauer, indem
er in die noch unbeleuchteten Tiefen des Zeitbewußtseins vordringt
und auf die zweite Synthese der Vergangenheit oder des Gedächtnisses
aufmerksam macht, die noch unterhalb der lebendigen Gegenwart lo-
kalisiert ist. Es bezeichnet die Paradoxie der Gegenwart, daß sie die Zeit
konstituiert – und doch nicht mit dieser Zeit „koextensiv“ ist, d. h. in
ihr vorübergeht. Dieses „Vorübergehen“ verlangt somit nach einer
Fortbestimmung der Zeit, die als „lebendige Gegenwart“ noch nicht
zureichend beschrieben ist. Deleuze „löst“ dieses Rätsel, indem er eine
zweite Zeitsynthese konzipiert, die der ersten zugrunde liegt. Ent-
scheidend ist dabei, daß die Vergangenheit nicht länger als eine der
beiden auf die Gegenwart relativen Zeitdimensionen aufgefaßt wird.
Innerhalb der ersten Zeitsynthese kann das Vergehen der Gegenwart
nicht gedacht werden. Laut Deleuze läßt sich die Vergangenheit, wie sie
sich im Gedächtnis vor allen bewußten Akten des Sich-Erinnerns ak-
kumuliert, nicht im Ausgang von der Gegenwart begreiflich machen.
Ein dem Zeitphänomen adäquater Begriff läßt sich nur konzipieren,
wenn sich in ihm die passive und kontinuierlich von selbst ablaufende
Anhäufung der reinen Vergangenheit reflektiert. Darauf hat Kant mit
seiner Überlegung zur transzendentalen Synthese der Reproduktion, die
sog. „Reproduzibilität“, Bezug genommen.26 Diese Synthese ermög-
licht die empirische Reproduktion von Vergangenem, da sie den be-
wußten und willkürlichen Akten der Wiederholung voraus liegt.27
Auf dem bisher erreichten Niveau lassen sich nun zwei Wieder-
holungsordnungen unterscheiden. Deleuze spricht zumeist von „ver-
kleideten“ oder virtuellen im Unterschied zu „nackten“ oder aktuellen
Wiederholungen. Diese verlaufen von einer Gegenwart zur nächsten
tigung und gegenständliche Bestimmung eines wahrgenommenen und dann
auch reproduzierten Sachverhalts, als exemplarischen Fall den aktiven Syn-
thesen zu, welche die passiven Synthesen nur berlagern, sie aber nicht im
Wesentlichen erschließen. Vgl. Rölli, Gilles Deleuze (Anm. 6), S. 163 ff., 204 ff.
26 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781, 21787), herausgegeben
von Raymund Schmidt, Hamburg: Felix Meiner 1993, A 102.
27 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 116. Es war Bergson, der
diesen Begriff einer Vergangenheit a priori, die niemals gegenwärtig war,
entscheidend geprägt hat. Gleichwohl finden sich in der Entwicklung der
Phänomenologie vielfältige zeitphilosophische Entwürfe, die auf Zeitformen
der Vergangenheit (und auch der Zukunft) spekulieren, die die synchrone
Einheitlichkeit des phänomenologischen Zeitbegriffs unterwandern.
264 Marc Rölli

und etablieren ein Ähnlichkeitsmodell, da sie sich auf einen ersten Fall
stützen, den sie nachbildend wiederholen. Ihr Differenzierungsvermö-
gen bezieht sich einzig und allein auf die raum-zeitliche Vervielfältigung
eines substantiell mit sich identischen „Urbilds“. Verkleidete Wieder-
holungen hingegen umfassen die Differenz in ihrer Totalität: Sie sind
nicht auf einen „wahren“ Sachverhalt bezogen, zum Beispiel auf eine
(frühkindliche, traumatische) Urszene, die sie zwanghaft umkreisen. Die
bewußte Repräsentation des virtuellen Objekts (z. B. eines Kleinschen
Partialobjekts), das in ihnen zirkuliert, ist nicht nur faktisch, sondern
prinzipiell unmöglich. Deleuze bezeichnet sie nicht deshalb als „ver-
kleidet“, weil sie unter ihren Hüllen eine nackte Wahrheit verbergen.
Im Gegenteil: das Nackte ist eine Verkleidung, die sich nicht als solche
kenntlich macht. Mit Nietzsche spricht er von den graduellen Abstu-
fungen des Scheins, die sich nicht am Maßstab einer scheinlosen
Wirklichkeit bemessen lassen. Die Wiederholung „liegt nicht unter den
Masken, sondern bildet sich von einer Maske zur anderen“.28 Sie bildet
sich im Ausgang von den virtuellen Strukturen, die sie impliziert, d. h.
in Abhängigkeit von Wunschverkettungen oder Konstellationen eines
Begehrens, das nicht einer empirischen Lustbefriedigung nachjagt,
sondern sich aus permanenten intensiven und subrepräsentativen Syn-
thesen zusammensetzt. In diesen Immanenzmilieus entwickeln sich die
Wiederholungen, die das strukturelle Feld niemals abschließend ak-
tualisieren, weil sie nur einen kleinen Teil davon explizieren können,
während der große Rest – ein komplexer Aufbau virtueller Schichten,
der sich unaufhörlich umstrukturiert – unter ihrer Oberfläche („Ver-
kleidung“) im Dunklen bleibt. Somit bleibt ein beständiger Sinn-
Überschuß erhalten, der immer neue Anknüpfungsmöglichkeiten bie-
tet.
Zwei Probleme tauchen hier auf, die von Deleuze im Übergang zur
dritten Synthese der Zeit behandelt werden, die im Zeichen der Zu-
kunft und der ewigen Wiederkunft des Gleichen steht. Zum einen stellt
sich das Problem der Indifferenz. Es könnte scheinen, als ob der Grund
einer reinen Vergangenheit in sich zum differenzlosen Abgrund mutiert.
Es ist dies die romantische Illusion eines metaphysischen Willens oder
einer ursprünglichen Natur, aus der das intuitive Erkennen oder die
intellektuelle Anschauung ihre Weisheiten schöpft – und worin die
individuelle Seele ihr ganzheitliches Wohlgefühl zu finden sucht. Das
zweite Problem bezeichnet der im Konzept der Vergangenheitssynthese

28 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 34.


Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 265

mitschwingende latente Platonismus, wodurch das Gedächtnis „onto-


theologisch“ zur idealistischen Begründungsfigur der Repräsentanz als
solcher überhöht wird. Beide metaphysischen Illusionen bekämpft
Deleuze mittels einer „dekonstruktiven“ Überlegung zum einheitlichen
Status des philosophischen Subjekts. Im Hintergrund dieser Überlegung
steht Nietzsche und sein „schwerster Gedanke“.

III. Ewige Wiederkunft

Es ist bekannt, daß Nietzsche sein Konzept der ewigen Wiederkunft


sämtlichen Formen des Nihilismus entgegenstellt, die sich dadurch
auszeichnen, nicht die diesseitige „Welt der Begierden und Leiden-
schaften“ bejahen zu können und stattdessen die Wirklichkeit im Zei-
chen von teleologischen, ontologischen und epistemologischen Be-
griffen verfälschen. „Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die
Ursache des Nihilismus, – wir haben den Werth der Welt an Kategorien
gemessen, welche sich auf eine rein fingirte Welt beziehen.“29 Diese
fingierte Welt von Metaphysikern und Theologen behauptet ihren
Wert auf Kosten einer Entwertung des vergänglichen Lebens. Der
Wiederkunftsgedanke hingegen wendet sich gegen den Nihilismus,
indem er den modernen Prozeß des „Unglaubwürdigwerdens“ der
metaphysischen Werte nicht (unglücklich, resigniert, konservativ) auf-
hält, sondern noch beschleunigt: Er findet das Prinzip der Wertsetzung
im ganz und gar immanenten Prinzip des Willens zur Macht. Von daher
sieht die Welt nur so lange wertlos aus, wie die alten Werte ihr Bild
bestimmen und kein affirmativer Gebrauch von den endlichen „See-
lenkräften“ und körperlichen Vermögen gemacht wird.30
Die philosophische Schwierigkeit dieses Gedankengangs besteht
darin, daß noch ungeklärt ist, was sich in der ewigen Wiederkunft
bejaht bzw. was es ist, das sich wiederholen will oder was es ist, das
(sich) im Willen zur Macht will. An diesem Punkt dividieren sich die
Nietzsche-Deutungen auseinander. Für Deleuze ist entscheidend, daß
mit Nietzsche ein prozessuales, von keinen transzendenten Instanzen
überschattetes immanentes und gesellschaftliches „Leben“ zum Vor-
schein kommt, das gerade in seinem Affekt gegen ontologische Ein-

29 KSA 13, 11[99].


30 Vgl. KSA 13, 11[99].
266 Marc Rölli

heitskonzeptionen jeder Art das ungeschminkte „Sein“ der Zeit, seinen


radikalen Werdenscharakter, zu denken erlaubt. Dies spiegelt sich darin,
daß mit der dritten Synthese „die Wiederholung der Zukunft als ewige
Wiederkunft“ thematisch wird.31 „Die Wiederholung in der ewigen
Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von
der Differenz und dem Differenten aussagt.“32 Hiermit sehen wir uns
auf Nietzsches in den späten Nachlaß-Texten präsentierte „Welt-
Conception“ verwiesen, in der „das Werden […] in jedem Augenblick
[…] gerechtfertigt [oder unabwerthbar] erscheint.“ In dieser Welt gibt
es „nichts Seiendes“, weder Subjekt noch Objekt, keine festen Formen
oder Qualitäten: „So bleiben keine Dinge übrig, sondern dynamische
Quanta, in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen
Quanten: deren Wesen in ihrem Verhältniß zu allen anderen Quanten
besteht, in ihrem ,Wirken‘ auf dieselben […].“33 Dieses „mikrophysi-
kalische“ Konzept nimmt Deleuze als Vorlage seines Strukturdenkens,
das sich seit den 70er Jahren in den Begriffen von Maschinen, Gefügen
und Plänen der Immanenz artikuliert.
Zwar befindet sich die Wiederholung im transzendentalen Modus
der Virtualität bereits auf dem Niveau der dritten Zeitsynthese. Aller-
dings verbindet sich mit der Fixierung auf das Gedächtnis noch eine
schlechte Zweideutigkeit, die nur im Bezug auf die Wiederholungsform
der Zukunft getilgt werden kann. Deleuze erläutert das Problem mit
Blick auf die platonische Anamnesis-Lehre, die in der reinen Vergan-
genheit der Idee mittels der Wiedererinnerung die Zeit begründet.34
Die Relativität zwischen Grund und Begründetem wiederholt die
Grundfigur der transzendental-empirischen Dublette. „Die Unzuläng-
lichkeit des Grunds liegt darin, daß er relativ zu dem ist, was er be-
gründet, daß er die Merkmale dem entnimmt, was er begründet, und

31 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124.


32 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 373. „Die ewige Wiederkehr
sondert aus, was, indem es den Transport der Differenz unmöglich macht, die
Wiederkunft selbst unmöglich macht.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung
[Anm. 6], S. 372.)
33 KSA 13, 14[79].
34 „Dennoch bleibt bestehen, daß die Idee gleichsam der Grund ist, von dem aus
sich die sukzessiven Gegenwarten im Kreis der Zeit anordnen, so daß sich die
reine Vergangenheit, durch die sie selbst definiert wird, notwendig noch in
Begriffen der Gegenwart ausdrückt, als einstige mythische Gegenwart. Dies war
bereits die ganze Zweideutigkeit der zweiten Synthese der Zeit.“ (Deleuze,
Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 121.)
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 267

sich über sie beweist.“35 Von daher bestimmt sich die Vergangenheit
nicht durchweg aus dem strukturellen Element symbolischer Verhält-
nisse, sondern verformt sich begründungslogisch zu einem Möglich-
keitsrahmen, der nicht nur den vorübergehenden Gegenwarten a priori
vorausgesetzt ist, sondern in den abstrakten, d. h. von den empirischen
Akten abstrahierten, Bedingungen jeder möglichen Repräsentation
seinen wesentlichen Inhalt findet. Hiermit etabliert sich eine subjektive
Position (aktiver Synthesis), die im Gedächtnis einen Halt findet, sofern
dieses eidetische Invarianten als Wesensformen der Erinnerung (qua
Vergeistigung) beinhaltet.
Der Übergang in die dritte Zeitsynthese ist unvermeidlich, will man
der Zweideutigkeit, die im Wesen der Vergangenheit als Zeitgrund
beschlossen liegt, entkommen. Das Gedächtnis muß sich vorbehaltlos
der Zukunft öffnen. Deleuze arbeitet an dieser „Öffnung“, indem er
sich auf die Kantische „Revolution“ der Denkungsart besinnt und alle
Konsequenzen zieht, die sich aus der transzendentalphilosophischen
Einführung der Zeit als „Form, in der die unbestimmte Existenz durch
das Ich denke bestimmbar ist“ ergeben.36 Mit der Zeit, die das Denken
von innen heraus heimsucht, wird ein feiner Sprung im Gehäuse der
subjektiven Einheit bemerkbar. Worin besteht dieser Sprung oder „Riß
im Ego“, – und warum schließt er die Kohärenz des Ichs mit sich selbst
aus? Für Deleuze ist die Antwort leicht zu geben. Gemäß der Triftigkeit
der Kantischen Argumente gegen den cartesianischen Kurzschluß cogito
ergo sum, nämlich der kritischen Auftrennung der natürlichen Ver-
bindung zwischen der Bestimmung „ich denke“ und der unbestimmten
Existenz „ich bin“, ergibt sich die von Kant so genannte „Paradoxie des
inneren Sinns“.37 Sie besteht darin, „daß wir […] uns selbst nur so
anschauen, wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden“ und somit
„unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es
an sich selbst ist, erkennen.“38 Das Dasein läßt sich nur bestimmen,
indem in der „Selbstanschauung“ ein Mannigfaltiges gegeben ist, das als
solches „eine a priori gegebene Form, d. i. die Zeit, zum Grunde liegen
hat, welche sinnlich und zur Rezeptivität des Bestimmbaren gehörig

35 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 121. Vgl. zu dieser Figur einer
Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen: Michel Foucault, Die
Ordnung der Dinge (1966), aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Köppen,
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 384 – 389.
36 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 119.
37 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 152 f.
38 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 156.
268 Marc Rölli

ist.“39 Aus diesen Prämissen folgt aber, wie Kant selbst an einer für
Deleuze zentralen Stelle des Deduktionskapitels ausführt, daß das passive
Ich und die Spontaneität des bestimmenden Subjekts – und zwar auf-
grund der Zeit als Form des inneren Sinns, die den Unterschied macht –
nicht zur Deckung gebracht werden können.
„Habe ich nun nicht noch eine andere Selbstanschauung, die das
Bestimmende in mir, dessen Spontaneität ich mir nur bewußt bin,
ebenso vor dem Aktus des Bestimmens gibt, wie die Zeit das Be-
stimmbare, so kann ich mein Dasein, als eines selbstttigen Wesens, nicht
bestimmen, sondern ich stelle mir nur die Spontaneitt meines Denkens, d. i. des
Bestimmens, vor, und mein Dasein bleibt immer nur sinnlich, d. i. als das
Dasein einer Erscheinung, bestimmbar.“40
Das passive Subjekt, das sich in der „Form der Bestimmbarkeit“,
d. h. in den Zeitsynthesen „konstituiert“, ist somit auf einen imma-
nenten Prozeß zeitlicher „Selbstaffektion“ verwiesen: Es ist nur so
bestimmbar, wie es in der Zeit erscheint, d. h. nicht als „Dasein eines
selbsttätigen Wesens“. Während Kant die spekulative Einheit des Sub-
jekts wiederherstellt, indem er das Prinzip der Synthesis aus dem Bereich
der Passivität heraushebt, insistiert Deleuze darauf, daß die Zeit als
transzendentale Form des inneren Sinns in keiner Weise mit den ka-
tegorialen Verstandesformen a priori konform gehen muß.41 Ihre De-

39 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 157.


40 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), B 157 – 158 [Hervorh. M. R.].
Deleuze kommentiert diese Textstelle mit den Worten: „Dem ,Ich denke‘ und
dem ,Ich bin‘ muß das Ich [moi] hinzugefügt werden, d. h. die passive Position
[…]; der Bestimmung und dem Unbestimmten muß die Form des Bestimm-
baren, d. h. die Zeit, hinzugefügt werden. […] Von einem Ende zum anderen
ist das ICH [ JE] gleichsam von einem Riß durchzogen: von einem Riß, der
ihm durch die reine und leere Form der Zeit zugefügt wurde. In dieser Form ist
es das Korrelat des passiven Ich [moi], das in der Zeit erscheint. Ein Sprung oder
ein Riß im Ego [ Je], eine Passivität im Ich [moi] – dies ist die Bedeutung der
Zeit.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S.119.)
41 In der Anthropologie akzentuiert Kant diesen Punkt: „Hier scheint uns nun das
Ich doppelt zu sein […]. Die Frage, ob bei den verschiedenen inneren Ver-
änderungen des Gemüts […] der Mensch, wenn er sich dieser Veränderungen
bewußt ist, noch sagen könne, er sei ebenderselbe (der Seele nach), ist eine
ungereimte Frage; denn er kann sich dieser Veränderungen nur dadurch be-
wußt sein, daß er sich in den verschiedenen Zuständen als ein und dasselbe
Subjekt vorstellt, und das Ich des Menschen ist zwar der Form (der Vorstel-
lungsart) nach, aber nicht der Materie (dem Inhalte) nach zwiefach.“ (Imma-
nuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders., Werke in sechs
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 269

finition fällt rein formal aus: als unveränderliche Form der Veränderung
wird die Zeit durch eine Zäsur bestimmt, die ein für allemal die beiden
Seiten des Vorher und Nachher festlegt, auf denen sie „sich“ un-
gleichmäßig verteilt. Diese „leere Form der Zeit“ entspricht ihrer
dritten Synthese, sofern „die Zäsur genau der Ursprungsort des Risses“
ist, der die Zeit aus den subjektphilosophischen Angeln hebt und sie
„vom Zwang der Ereignisse [befreit], die ihren Inhalt ausmachten“.42
Mit Kant gesprochen: „Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr
verläuft sich das Dasein des Wandelbaren.“43 Ihre reine Ordnung a
priori liegt nicht in einer der Zeit vorgeordneten Einheit, vielmehr
bestimmt sie durch die Unerbittlichkeit ihrer Zäsur die Differenz als
Seinsprinzip eines durch und durch prozessualen Verlaufs des „Wan-
delbaren“, d. i. die virtuelle Mannigfaltigkeit in der Kontinuität sin-
gulärer Modifikationen ihrer selbst.
Die Wiederholung der Zukunft, die „nur das Zu-Kommende [-
venir] wiederkehren läßt“, ergibt sich aus der Aleatorik des Augenblicks.
Dieser bezeichnet den virtuellen Punkt einer Umverteilung von Ver-
gangenheit und Zukunft, die sich permanent unterhalb der zeitlich
ausgedehnten Gegenwart vollzieht.44 Diese statische Syntheseform
bricht mit der Kohärenz meiner eigenen Identität im Sinne einer die
Zeitprozesse umgreifenden Einheit und bringt den ontologischen Pri-
mat der Differenz philosophisch zum Ausdruck: Es gibt Zeit. Hiermit
bestimmt sie den (unbewußt affektiven) Beginn der „Erfahrung“ in-
nerhalb der (bewußten) Erfahrung, ihren differentiellen Untergrund,
der sich in einzelnen Aktualisierungslinien immer wieder neu expliziert.
Von daher sind die strukturellen Bedingungen den phänomenologi-
schen Erfahrungsbereichen keineswegs abstrakt vorgeordnet, vielmehr
strukturieren sie ihren Aktualisierungsverlauf, indem sie gleichzeitig sich
selbst strukturieren.
Im Gedanken der ewigen Wiederkunft schließt Deleuze seine
Überlegungen zur dritten Synthese der Zeit zusammen.45 Sie läßt nur
Bnden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. VI., Darmstadt: Wis-
senschaftliche Buchgesellschaft 1964, S. 395 – 690, hier S. 417.)
42 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 122.
43 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 26), A 144/ B 183.
44 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 125.
45 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124 f., S. 129, S. 164 –
165. „Die ewige Wiederkehr […] ist überschießende Wiederholung, die vom
Mangel oder vom Gleichwerden nichts fortbestehen läßt. Sie ist selbst das
Neue, die ganze Neuheit. Sie ist sich selbst die dritte Zeit der Reihe, die
Zukunft als solche.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 124.)
270 Marc Rölli

die Zukunft wiederkehren, sie wird „buchstäblich Zukunftsglaube ge-


nannt“, und ordnet sich Gegenwart und Vergangenheit als verschwin-
dende „Dimensionen“ ihrer synthetischen Verfaßtheit unter.46 Deleuze
interessiert sich nicht für die Wiederkehr identischer Flle, die Nietzsche
aufgrund kosmologischer Spekulationen zur Formulierung seiner
„ethischen“ Ausdeutung des Wiederkunftsgedankens heranzieht.
Stattdessen interpretiert er die Wiederkunft des Gleichen im Sinne der
letzten Zeitsynthese, wonach die Zäsur (zwischen Vorher und Nachher)
eine unveränderliche Form darstellt, die gerade weil sie ständig wie-
derkehrt, nur Veränderungen zuläßt. Von ihr läßt sich nur die Differenz
aussagen.47 „In diesem Sinne ist die ewige Wiederkunft tatsächlich die
Folge einer ursprünglichen, reinen, synthetischen Differenz an sich (was
Nietzsche Willen zur Macht nannte).“48 Wenn sich Deleuze mit dieser
Auslegung auch von einer in Nietzsches Texten immer wieder auf-
tauchenden Gedankenfigur trennt, so kann er dennoch an die meisten
Überlegungen anknüpfen, die Nietzsche mit der ewigen Wiederkunft
verbindet. Da wäre einmal der zeitphilosophische Begriff des Augen-
blicks zu nennen, der mit einer rigorosen Ausdeutung eines nicht zy-
klischen, sondern linearen Zeitverlaufs verschmilzt – und zudem die
von Deleuze ins Spiel gebrachte virtuelle Tiefe aufweist. Weiter wäre
auf die enge Verbindung hinzuweisen, die die Wiederkunft mit der
Problematik des Nihilismus unterhält.
In einer eng gedrängten Textpassage hin zum Ende von Differenz
und Wiederholung wiederholt Deleuze noch einmal die zentralen Motive
seiner Interpretation der ewigen Wiederkunft.49 Besonderen Wert legt
er dort auf ihren selektiven Aspekt, d. h. auf die in ihrem Namen
stattfindende Tilgung der Wiederholungsformen von Gegenwart und
Vergangenheit. Es handelt sich darum, das Negative auszusondern, und
zwar im Sinne einer „doppelten Bejahung“, indem dasjenige verneint
wird, was in die Bejahung ein negatives Moment einführt. Bereits in
Nietzsche und die Philosophie konnte man lesen: „Wiederkehren ist das
Sein der Differenz unter Ausschluß von jeglichem Negativen. […] Das

46 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 124.


47 „Nicht das Selbe kehrt wieder […], vielmehr ist das Selbe die Wiederkehr des
Wiederkehrenden, d. h. des Differenten […]. Die Wiederholung in der ewigen
Wiederkunft ist das Selbe, allerdings nur insofern, als es sich einzig von der
Differenz und dem Differenten aussagt.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung
(Anm. 6), S. 373.)
48 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 164 – 165.
49 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 368 – 374.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 271

Negative scheidet dahin, vor den Toren des Seins.“50 Die Differenzen
resultieren aus der Zeitform, die keine übergreifenden ontologischen
Einheiten bestehen läßt und somit gerade die Überführung oder Zu-
spitzung der Differenz auf die Negation und den Gegensatz zurück-
weist, d. h. die Einschränkung der prozessualen Positivität relativ auf
wesentliche, tiefer liegende Bedeutungen.
„Die ewige Wiederkunft bejaht die Differenz, sie bejaht die Un-
ähnlichkeit und das Disparse, den Zufall, das Viele und das Werden.
Zarathustra ist der dunkle Vorbote der ewigen Wiederkunft. […] Die
ewige Wiederkunft sondert aus, was, indem es den Transport der
Differenz unmöglich macht, die Wiederkunft selbst unmöglich macht.
Was sie aussondert, ist das Selbe und das Ähnliche, das Analoge und das
Negative als Voraussetzungen der Repräsentation.“51
Zarathustra ist der prcurseur sombre, der Prophet des Dionysos. Nach
Deleuze verhandelt Nietzsche das Thema der Wiederkunft im Zara-
thustra zweimal – und läßt ein drittes Mal offen: der kranke, der ge-
nesende und der sterbende Zarathustra.52 Die Ausrichtung auf die dritte
Zeit ist aber bereits in den beiden voraus liegenden Stadien deutlich.
Gerade mit dem Thema des Augenblicks durchbricht Nietzsche die
kosmologische Beobachterperspektive auf die ewige Wiederkunft des
Gleichen. Im Zarathustra steht dafür das Sinnbild des „Torwegs“, auf
dem oben „Augenblick“ geschrieben steht, und an dem die zwei langen
geraden Gassen der Zukunft und der Vergangenheit aufeinander sto-
ßen.53 Gegen den Zwerg, der auf ihm hockt, „der Geist der Schwere“,

50 Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 205.


51 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 372.
52 Deleuze verhehlt nicht, dass Nietzsche mit seinem Gedanken von der Wie-
derkehr identischer Fälle hinter der Konzeption einer Wiederkehr des Diffe-
renten „zurückbleibt“. Gleichwohl versucht er zu zeigen, daß seine eigenen
Interpretationen die Emphase rechtfertigen, die Nietzsche selbst mit dem Ge-
danken verbindet, soweit sich in ihm nicht nur eine kosmologische Spekula-
tion, sondern eine neuartige dionysische Philosophie ankündigt, die die Idee
der Wiederkunft mit der „postnihilistischen“ Bejahung, dem Pluralismus der
Willen zur Macht und dem Übermenschen verknüpft. Vgl. Deleuze, Differenz
und Wiederholung (Anm. 6), S. 369. Einmal wird Zarathustra krank – in „Vom
Gesicht und Rätsel“ (KSA 4, S. 197 – 202) –, ein zweites Mal ist er dabei,
gesund zu werden – in „Der Genesende“ (KSA 4, S. 270 – 277). Ein drittes Mal
steht noch aus: „Wir wissen nur, daß der Zarathustra unvollendet ist und eine
Fortsetzung erfahren sollte, die den Tod Zarathustras einschließt: als eine dritte
Zeit, ein drittes Mal.“ (Deleuze, Differenz und Wiederholung [Anm. 6], S. 369.)
53 Vgl. KSA 4, S. 199 – 200.
272 Marc Rölli

verteidigt Zarathustra die in jedem Augenblick liegende Radikalität der


irreversiblen Weichenstellung. Er zürnt dem Zwerg, der da spricht:
„Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.“54 Und auf die
gleiche Weise lacht Zarathustra, der „Genesende“, über seine Tiere, die
aus dem Gedanken der ewigen Wiederkunft schon ein „Leier-Lied“
machten, in dem es heißt: „Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“55 Denn
Zarathustra (nicht nur der Hirte) hat der Schlange den Kopf abgebissen,
d. h. er hat die zyklische Form der Wiederkehr, die für den Ekel am
Dasein verantwortlich ist (sofern auch die kleinsten und häßlichsten
Dinge wiederkehren), unmöglich gemacht.56 Und von hier aus bedeutet
die Genesung eine Metamorphose, die selbst die Identität Zarathustras
mit sich selbst ausschließt – und die dritte Zeit mit ihrer selektiven
Kraft, die allein die Differenz wiederkehren läßt, ankündigt:
„Weder […] der kranke Zarathustra noch der genesende Zara-
thustra werden wiederkehren. […] Zarathustra muß sterben. […] Die
höchste Prüfung liegt darin, die ewige Wiederkunft als das selektive
Denken, die Wiederholung in der ewigen Wiederkehr als das selektive
Sein zu begreifen. Man muß die aus den Angeln gehobene Zeit erleben
und erfassen, die geradlinig verlaufende Zeit, die erbarmungslos all die
aussondert, die sich darauf einlassen, die auf diese Weise die Bühne
betreten […].“57

54 KSA 4, S. 200.
55 KSA 4, S. 273.
56 Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 371. Der Augenblick
markiert den zeitphilosophischen Entwurf der ewigen Wiederkunft, mit dem
sich Nietzsche vom Nihilismus absetzt. In diesem Sinne bezeichnet er bereits in
den letzten beiden Aphorismen des vierten Buches der Frçhlichen Wissenschaft
das größte Schwergewicht des Wiederkunftsgedankens – und kündigt dann
„incipit tragoedia“ Zarathustras Untergang oder „Niederkunft“ zu den Men-
schen an. Vgl. KSA 3, S. 570.
57 Deleuze, Differenz und Wiederholung (Anm. 6), S. 370. Die Selektion erstreckt
sich auf das Element des Nihilistischen. Deleuze attestiert der „Mehrheit“ bzw.
der Logik des Common Sense, mit den Minderheiten auch die Differenzen zu
tilgen, die aus der Norm fallen. Aber mit den von den großen Systemen der
Repräsentation ausgeschlossenen Lebensweisen, Assoziationsformen und
Werdensprozessen eröffnet sich ein neuartig bestimmbares Milieu der Imma-
nenz. Nicht die Ausnahme steht der Regel entgegen und wird gefeiert –
vielmehr begründet sie eine neue, eine anders konzipierte, eine differenz-
theoretisch gefasste Vielheit von Regeln.
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft in den Nietzsche-Lektüren 273

Epilog

Karl Löwith hat in seiner wirkungsmächtigen Nietzsche-Studie vorge-


schlagen, den Gedanken der ewigen Wiederkunft in den Mittelpunkt
der Philosophie Nietzsches zu rücken.58 Diesem Anliegen weiß sich
auch Deleuze verpflichtet, allerdings mit einer wesentlichen Akzent-
verschiebung. Nach Löwith zerfällt der Wiederkunftsgedanke in ein
„antikes“ naturphilosophisches Szenario einerseits und in ein anthro-
pologisches, „praktisches“ Gegenstück andererseits, das auf den zielge-
richteten Willen des Menschen spekuliert. Als eine Einheit drückt sich
die ewige Wiederkunft nur in den poetischen Gleichnisreden bzw.
negativ im Wahnsinn aus.59 Dagegen macht Deleuze geltend, daß die
Willen zur Macht ein kraft- und zeitphilosophisches Strukturmoment
implizieren, mikrologische Vielheiten von Empfindungen, Begierden,
Gedanken etc., die sich in ihren konkreten Äußerungen manifestie-
ren.60 Das im Wiederkunftsgedanken artikulierte „Prozessieren von
Kräften“ ist demnach kein (abstraktes oder romantisch-ästhetisches)
naturalistisches Konstrukt, sondern eine vollständig in die impliziten
Strukturen der Erfahrung und des Handelns eingelassene Dimension.
Und gerade weil diese (virtuelle) Dimension zunächst und zumeist von
ihren metaphysisch belasteten Erscheinungsweisen verdeckt ist, setzt sie
auf die intellektuelle Redlichkeit, die in der Bewegung der „Selbst-
überwindung der Moral“ zum Zuge kommt.61 Hieraus ergibt sich, daß
Nietzsche keineswegs auf eine Wahrheit des Unbestimmten setzt, die
einfach hinter der Mannigfaltigkeit endlicher Perspektiven ihr Unwesen
treibt.62 Im Gegenteil: Die zeitphilosophisch auf den Begriff gebrachten

58 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen,
Berlin: Die Runde 1935.
59 An diesem Punkt bleibt Löwith dem Geist seiner Zeit verhaftet, der zum einen
den Willen zur Macht subjektivistisch fehldeutet (vgl. Alfred Bäumler, Nietzsche
der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931) und zum anderen den Wieder-
kunftsgedanken „kosmisch“ überhöht (vgl. Ludwig Klages, Die psychologischen
Errungenschaften Nietzsches (1926), Bonn: H. Bouvier 1958).
60 Vgl. KSA 13, 14[121], 14[79] und KSA 5, S. 31 – 34. An letztgenannter Stelle
nimmt Nietzsche das „Wollen“ Schopenhauers auseinander, indem er es durch
eine „Mehrheit von Gefühlen“, von Gedanken und Affekten substituiert.
61 Vgl. zur „Selbstüberwindung der Moral“: KSA 5, S. 50 – 51, und zum Thema
der „intellektuellen Redlichkeit“: KSA 5, S. 167 – 170.
62 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 2), S. 15 ff. und Nietzsches vielfältige Scho-
penhauer-Kritiken in den 1880er Jahren, die sich u. a. auch mit einer Selbst-
kritik der metaphysischen Voraussetzungen der Geburt der Tragçdie verbinden
274 Marc Rölli

Strukturen der Willen-zur-Macht-Prozesse liefern die präzise imma-


nente Bestimmung der Erfahrung.

lassen. Vgl. Marc Rölli, „Nietzsches Ästhetik im Licht seiner Metaphysikkritik.


Teil 1“, in: Topos. Journal for Philosophical and Cultural Studies (5) 2001, S. 74 –
93.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber
Zur Ethik Nietzsches
Christine Blättler

Mit der Formel von der ,nietzscheschen Trinität‘ brachte Gilles Deleuze
Symptomatologie, Typologie und Genealogie als Aufgaben des ,Phi-
losophen der Zukunft‘ zusammen.1 Sie holen den Arzt, den Künstler
und den Gesetzgeber in das Geschäft der Philosophie wieder herein.
Hier soll, für Überlegungen zu Nietzsches Ethik, der Blick auf den
Philosophen als Gesetzgeber gerichtet sein.
Als Genealoge hat Nietzsche der Moral eine Geschichte gegeben,
sie als von Menschen produziert bezeichnet, sie als ein weltimmanentes
Ergebnis gefaßt und nicht als eine transzendente, ewige Norm. Deleuze
schließt den Genealogen und Gesetzgeber zusammen, ein kleiner
Kurzschluß, dessen Funken erst einmal blenden. Sie erfüllen den oft von
Philosophen geforderten Anspruch an eine Idee mit der Formel ,clare et
distincte‘ nicht. Doch Deleuze folgt hier nicht dem Ideal der wahren
Idee, sondern den Spuren von Leibniz’ Meeresrauschen, dessen
Wahrnehmung hell und konfus ist. Mit Nietzsche spricht er sie dem
hellen, apollinischen Denken zu, das ein eigenes Denkregister darstellt,
unterschieden vom dionysischen, das in der deutlich-dunklen Idee seine
„ivresse, l’étourdissement proprement philosophique“2 feiert. Mit Ge-
nealogie spannt er den Bogen zwischen der „valeur de l’origine et
origine des valeurs“3, der Entstehung der Werte wie ihrem differenti-
ellen Element. Mit der Genealogie, diesem Teil des Triptychons der
realen Verhältnisse zwischen Kräften, setzt Deleuze nicht deren Sinn
oder Qualität nach; hier läßt er die Herkunft der Kräfte abschätzen und
den Vorfahr, den Willen zur Macht in seiner Qualität aufspüren. Der
Wille zur Macht zeichnet den philosophischen Gesetzgeber aus.
„Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetz-
geber: sie sagen: so soll es sein!, sie bestimmten erst das Wohin und

1 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962, S. 85.


2 Deleuze, Diffrence et rptition, Paris: PUF 1968, S. 276.
3 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 2.
276 Christine Blättler

Wozu des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller phi-
losophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit – sie
greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und alles, was ist
und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer.
Ihr Erkennen ist Schaffen, ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille
zur Wahrheit ist – Wille zur Macht.“4
Einer der philosophischen Arbeiter, sogar einer nach ,edlem Mus-
ter‘, ist für Nietzsche Kant, er taucht auch kurz vor dem vorigen Zitat
auf. Im Bereich der Ethik kann dabei dessen Sittengesetz nicht überhört
werden. So sehr Nietzsche auch gegen Kant austeilt – gerade der ka-
tegorische Imperativ, der ,nach Grausamkeit riecht‘5, wird ihm zum
Mittel, Werkzeug und Hammer, wenn er mit der ewigen Wiederkehr
sein eigenes Sittengesetz formuliert. Keine simple Farce der Kantschen
Formel, vielmehr deren ,leibhafteste unfreiwillige Parodie‘, und kei-
neswegs weniger grausam. Deleuze spricht von einer halb zugestande-
nen, halb verborgenen Rivalität Nietzsches gegenüber Kant.6
Das erste Mal taucht der Gedanke der ewigen Wiederkehr im
Abschnitt ,Das größte Schwergewicht‘ in der Frçhlichen Wissenschaft auf:
„Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste
Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt
lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male
leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder
Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles un-
säglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und
Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und
dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick
und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder
umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du
dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den
Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen unge-
heuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ,du bist ein
Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich
Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht
zermalmen; die Frage bei Allem und jedem ,willst du diess noch einmal
und noch unzählige Male?‘ würde als das größte Schwergewicht auf
deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber und dem

4 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, KSA 5, S. 211.


5 Nietzsche, Genealogie der Moral, KSA 5, S. 298.
6 Vgl. Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 59.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 277

Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser
letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –“7
Die entscheidende Frage also ist: willst du dies noch einmal und
noch unzählige Male? Deleuze formuliert das imperativisch so um: „Ce
que tu veux, veuille-le de telle manière que tu en veuilles aussi l’éternel
retour.“8 Und Pierre Klossowski so: „agis comme si tu devais revivre
d’innombrables fois et veuille revivre d’innombrables fois“.9

Varianten eines ethischen Imperativs

Georg Simmel macht in seinem Vortragszyklus Schopenhauer und


Nietzsche in der ewigen Wiederkunft des Gleichen, dieser „wunder-
lichsten Lehre Nietzsches“, „ein Kantisches Grundmotiv“ aus, das
„gleichsam in eine neue Dimension distrahiert“10 worden sei. Der Di-
mension bei Kant kommt insofern ein räumlicher Charakter zu, als sein
Imperativ die Handlungsweisen des einzelnen Menschen zu einem für
alle gültigen Gesetz verbreitert. Damit zieht Kant „die Tat in die
Breitendimension, in die unendliche Wiederholung im Nebeneinander
der Gesellschaft“. Demgegenüber ließ Nietzsche die Tat sich „in die
Längendimension erstrecken“, „indem sie sich in endlosem Nachein-
ander an dem gleichen Individuum wiederholt“ (395). In „beiderlei
Multiplikationen“ findet Simmel den selben Zweck: dem Sinn der Tat
das Zufällige nehmen, sie „der Zufälligkeit entheben, die ihre Darstel-
lung im Nur-Jetzt, Nur-Hier, ihr antut“. Eine einzige Handlung wird
so mit einem ,inneren Wert’ versehen, für den das Individuum ver-
antwortlich ist. Im Gefühl der Verantwortlichkeit sieht Simmel einen
wesentlichen Bestandteil von Nietzsches Philosophie, insbesondere der
ewigen Wiederkehr. Eine Verantwortlichkeit nicht gegenüber einer
transzendenten Instanz wie Gott, aber auch nicht einem anderen
Menschen oder einem äußeren Gesetz gegenüber, vielmehr gegenüber
sich selbst. Den Grundsatz von Kants Sittenlehre, mit Nietzsche zeitlich
erweitert, formuliert Simmel folgendermaßen: „Handle so, daß du die

7 Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft, in: KSA 3, S. 570.


8 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 76.
9 Pierre Klossowski, Nietzsche et le cercle vicieux, Paris: Mercure de France 1969,
S. 93.
10 Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche (1907), in: Simmel, Gesamtausgabe,
hg. v. Otthein Rammstedt, Bd. 10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995,
S. 393 f.
278 Christine Blättler

Maxime deines Willens als ewiges Gesetz für dich denken könntest“.
Damit erstreckt sich das Kriterium „in die Zeitreihe statt in die Ge-
sellschaftsreihe“ (S. 395 f.). Doch bei Nietzsche handelt es sich nicht nur
um ein ethisches Regulativ oder einen moralischen Prüfstein wie bei
Kants kategorischem Imperativ, sondern er behauptet auch die Realität
der ewigen Wiederkehr. Da empirisch unmöglich, versteht Simmel
diesen Anspruch als metaphysischen. Die beiden menschlichen Sehn-
süchte nach dem Endlichen und Geformten wie nach dem Unendlichen
und Grenzenlosen beanspruchten eine ,psychologische Wirklichkeit‘,
und diese findet Simmel bei Nietzsche hier metaphysisch gespiegelt und
ausgedrückt. Denn in der Metaphysik „nehmen die Vorstellungen
überhaupt sozusagen einen besonderen Aggregatzustand an, auf den die
Frage nach der Wahrheit im logischen und konkreten Sinn gar nicht
anwendbar ist“; so pochte Simmel auf deren „Eigenheit der Forde-
rungen und Normen“ (S. 400 f.).
Auch Karl Löwith setzte auf die kantisch-imperative Spur bei
Nietzsche, in seinem Nietzsche-Buch von 1935 mit dem Titel: Nietz-
sches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Nietzsches ,System in
Aphorismen‘ formiere sich um das widersprüchliche Kraftzentrum der
ewigen Wiederkehr des Gleichen, zu deren Ewigkeit die Zeitlichkeit
der Zeit überwunden werden soll. Dabei regte Löwith an, die ewige
Wiederkehr, dieses ,höchste ethische Schwergewicht‘ in nachchristli-
chen Zeiten, in ihrem erzieherischen Charakter als ethischen Imperativ
zu verstehen: Lebe in jedem Augenblick so, daß du ihn wieder zu-
rückwollen könntest. Der Imperativ formuliert sich als zweistufige
Befreiung: vom ,Du sollst‘ des christlichen Glaubens zum ,Ich will‘ der
selbstgemachten Gesetzgebung, und dann vom ,Ich will‘ zum ,Ich bin‘
der „nichts mehr wollenden Willigkeit, in der sich das Wollen als sol-
ches aufhebt“11. So zukunftsgerichtet und schaffend sich der Imperativ
in seiner ,anthropologischen Gleichung‘ ethisch präsentiert, läßt er mit
der ,kosmologischen Gleichung‘, die auf dem naturwissenschaftlichen
Satz der Energieerhaltung basiert, den Widerspruch und die „maßlose
Anspannung“ deutlich hervortreten. Löwith sieht den Gedanken der
ewigen Wiederkehr und den Nihilismus einander bedingen. Er macht
eine „Umkehr des Willens zum Nichts in das Wollen der ewigen
Wiederkehr“ aus. Deshalb nennt er die ewige Wiederkehr „Not-wen-
digkeit“, „Wende der Not“ – eine metaphysische Notwendigkeit. Dieser

11 Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1935/
1955), in: ders., Smtliche Schriften, Band 6, Stuttgart: Metzler 1987, S. 201.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 279

gewendete Imperativ und verkehrte Wille, „der immer noch will, was
er schon muß“,12 Nietzsches amor fati, sieht Löwith als eine Auffor-
derung, sich dem Fatum zu ergeben, die Resignation gleichkommt.
Bernd Magnus nimmt den Impuls des Imperativs auf und macht ihn
nicht nur zum Titel, sondern auch zum Zentrum seines Nietzsche-
Buches.13 Im Unterschied zu Löwith betont er nicht diese Art Um-
schlagen des Nihilismus in ewige Wiederkehr, sondern deren Über-
windung des Nihilismus. Dafür faßt er den Imperativ als existentiellen.
In seiner Doppelthese versteht er die ewige Wiederkehr als „visual and
conceptual representation of a particular attitude toward life“,14 und in
dieser Haltung gegenüber dem Leben drücke sich der schon über-
wundene Nihilismus aus. Es gehe nicht um den Wahrheitsgehalt der
ewigen Wiederkehr wie in der kosmologischen Interpretation als Fakt,
oder wie in der normativen im Modus des ,als ob‘. In der letzteren,
kantianischen Form des kategorischen Imperativs sieht Magnus den
stärksten Unterschied zu Nietzsches existentiellem Imperativ. Denn
dieser spreche eine private Sprache, und es gehe bei ihm um eine be-
stimmte Haltung gegenüber dem Leben. Diese ,particular attitude‘ sei
persönlich und deshalb pluralistisch, nicht inhaltlich festgelegt, und doch
Resultat einer Wahl. Sie sei charakterisiert durch Bejahung, und für die
darin ausgedrückte Überwindung des Nihilismus steht der Übermensch.
Diese Bejahung findet sich in der Formel des amor fati, in einem
,dionysischen Verhältnis‘ zur Existenz, „in the total and unconditioned
love of becoming, love of life, which is my creation and my fate“.15
Auch Bernard Reginster operiert mit der Überwindung des Nihi-
lismus. In seiner Monographie The Affirmation of Life. Nietzsche on
Overcoming Nihilism (2006) betont er die ,ethische Signifikanz‘ der
ewigen Wiederkehr ausdrücklich. Darin denkt er auch mit Deleuze
weiter, obwohl er kaum auf ihn referiert. Im Unterschied zur ,theo-
retischen Rolle‘ der ewigen Wiederkehr, die eine besondere Eigen-
schaft des Lebens ausmacht, bejaht zu werden, fokussiert er auf die
,praktische Rolle‘, die etwas über die Haltung der Bejahung gegenüber
dem Leben aussagt. Deshalb argumentiert er für eine praktische Inter-
pretation der ewigen Wiederkehr, in dem Sinn, einen praktischen

12 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 170, S. 172, S. 199, S. 200.


13 Bernd Magnus, Nietzsche’s Existential Imperative, Bloomington-London: Indiana
University Press 1978.
14 Magnus, Nietzsche (Anm. 13), S. 142.
15 Magnus, Nietzsche (Anm. 13), S. 146.
280 Christine Blättler

Imperativ zu formulieren.16 Darin setzt er auch auf Prozessualität und


Werden, ein Aspekt, der bei Magnus vernachlässigt wird, dem aber
schon Löwith große Bedeutung zugemessen hat: die neue Ewigkeit der
ewigen Wiederkehr ist zeitlich, in dem sie die Vergänglichkeit ein-
schließt, und neu im Verhältnis zur alten Ewigkeit der Zeitlosigkeit,
jedoch ohne als ein bloßes Lob der Vergänglichkeit aufzutreten.17
Ewigkeit wünschen in der Wiederkehr, das zielt bei Reginster nicht auf
Permanenz, denn diese wird dem Sein und dem christlichen Ideal des
ewigen Lebens zugeschrieben. Damit etwas wiederkehren kann, muß es
Permanenz durchbrechen, kann es nur unbeständig sein. Dies kommt
nicht dem Sein, sondern dem Werden zu. In der ewigen Wiederkehr
findet Reginster eine Aufwertung des Werdens; als Wert dafür steht der
Wille zur Macht. „For becoming is an essential feature of the will to
power, a paradigmatic manifestation of which is creative activity.“18
Damit koppelt er die ewige Wiederkehr an die Umwertung der Werte,
nihilistischer, lebensfeindlicher Werte in Leben affirmierende. Auch
hier wird die ewige Wiederkehr als Hauptstück eines neuen ethischen
Ideals der Bejahung des Lebens gesehen, gegen dessen nihilistische
Negation.
Mit Nietzsches Imperativ soll hier noch ein weiterer Schritt ge-
macht und seine Moralphilosophie als Spielart einer formalen Ethik
betrachtet werden. Und dafür kommt Kant zum Zug. In Deleuzes
Nietzschebuch ist Kant noch weit stärker präsent als expliziert wird.
Damit legt Deleuze nahe, eine spezifische Spur in Nietzsche selbst zu
verfolgen, gerade auch in der Ethik. Bekanntermaßen spart Nietzsche
nicht mit Schmähungen in Richtung des ,Chinesen von Königsberg‘.
Doch Kant kehrt wieder, maskiert, und nimmt einen Ehrenplatz ein, er
hat Eingang gefunden in Nietzsches Liste ,seiner Unmöglichen‘, neben
Seneca, Rousseau, Schiller, Dante, Mill und anderen.19
Um gleich mit dem Herzstück von Kants Ethik anzufangen: Analog
zur Grundformel des kategorischen Imperativs: „Handle nur nach
derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein
allgemeines Gesetz werde“,20 könnte man bei Nietzsche sagen: handle

16 Bernard Reginster, The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism,


Cambridge MA, London: Harvard University Press 2006, S. 223.
17 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 108.
18 Reginster, The Affirmation (Anm. 16), S. 226.
19 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung, in: KSA, Band 6, S. 111.
20 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Akademie-Ausgabe
(AA), Band 4, S. 421.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 281

nur so, daß du es immer wieder wollen kannst. Darin drückt sich al-
lerdings auch ein grundlegender Unterschied aus. Während Kant mit
der Vorstellung des allgemeinen Gesetzes auf die gesellschaftliche Di-
mension zielt, markiert Nietzsche mit seiner Formulierung den Bereich
des Individuellen. Statt der Prüfung durch verallgemeinernde Abstrak-
tion setzt er auf die konkrete, partikuläre Intensivierung. Und doch
verbleibt er nicht individualistisch im Privaten. Die Abkehr von Nihi-
lismus und Ressentiment, welche die sozialen Verhältnisse abwerten,
hat eine ethische Umgestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens
zur Folge.
Auch bei Nietzsche kann nicht von einer moralischen Begründung
des Handelns gesprochen werden, weil es ganz grundsätzlich nicht um
einzelne Handlungen geht, die durch ein singuläres normatives Urteil
oder Werturteil gestützt und damit gerechtfertigt werden sollen. Han-
deln orientiert sich nicht an einem einzelnen Faktum, einem Gefühl,
einer möglichen Folge, dem Gewissen, einem Moralkodex oder einer
moralischen Kompetenz.21 Vielmehr geht es hier um eine ethische
Begründung, bei der moralisches Handeln und Urteilen vom Begriff der
Moralität her begründet und als sinnvoll einsichtig gemacht werden
will. Auch Nietzsche führt moralisches Handeln auf die konstitutiven
Bedingungen seiner Möglichkeit zurück, indem er den Begriff der
Moralität genetisch bestimmt und von etwas Unbedingtem ausgehen
läßt. Das macht die apriorische Begründung und ihre Formalität aus,
auch wenn diese selbst bei Nietzsche wieder eine Geschichte hat, die
Erfahrung mit einschließt.
Transzendental heißt, die Regel-Bedingungen eruieren, unter
denen etwas als möglich gedacht werden kann. Mit Deleuze sind die
„transzendentalen Bedingungen […] nicht regressiv erschlossene
Möglichkeitsbedingungen einer vorgegebenen Erfahrung, sondern ge-
netische Bedingungen einer werdenden Erfahrung, die sich im Prozeß
ihrer Aktualisierung bestimmen und verändern.“22 Nietzsches Ethik ist
normativ, da sie primär danach fragt: unter welchen Bedingungen ist
moralisches Handeln als moralisches möglich. Gerade wegen dieser
transzendentalphilosophischen Prägung kann nicht von einem existen-
tiellen Imperativ gesprochen werden, wie das Bernd Magnus tut. Es

21 Vgl. Annemarie Pieper, Einfhrung in die Ethik, Tübingen u. a.: Francke 1994
(3. überarbeitete Aufl.), S. 156 – 202.
22 Marc Rölli, Gilles Deleuze: Philosophie des transzendentalen Empirismus, Wien:
Turia & Kant, 2003, S. 393.
282 Christine Blättler

geht nicht um Gültigkeit oder Sinn einer bestimmten einzelnen


Handlung, sondern um ihre Begründung und ihren Antrieb. Der Akt
des Wählens zeigt sich bei Nietzsche nicht in einer existentiellen Ent-
scheidungssituation; vielmehr scheidet sich das schon weit vorher in
einer prinzipiellen Selektion der Kräfte, „devenir-actif ne peut être
pensé comme le produit d’une slection“23. Deleuze bezeichnet die ewige
Wiederkunft, Nietzsches ethischen und züchtenden Gedanken, deshalb
als selektives Prinzip.

Wille und Wollen

In den analogen Formulierungen bei Kant und Nietzsche sticht die


Rolle des Wollens hervor: Du mußt wollen können, daß deine
Handlungsmaxime ein allgemeines Gesetz werden kann, und: du mußt
es immer wieder wollen können. Beide unbedingt, und monströs im
Anspruch. Es geht hier nicht um die Chimäre des freien Willens, dieses
von Nietzsche so genannten ,Folter-Instruments’ der Sünden- und
Sklavenmoral, die bestraft und richtet, nicht einmal bei Kant, bei dem es
lediglich der gute Wille ist. Und trotzdem hat der Wille mit Freiheit zu
tun. Die „wahre Lehre von Wille und Freiheit“, wie sie Zarathustra
lehrt, ist: „Wollen befreit“.24 Mit dem Sittengesetz machen sich die
einzelnen Menschen nicht zu Richtern (über sich selbst), vielmehr zu
Gesetzgebern, die Werte schaffen als genuin ethische Aufgabe – das ist
der Sinn des praktisch-synthetischen Satzes a priori. Dieses Sittengesetz
verfolgt keine analytische Logik, die von etwas schon Bestehendem
ausgeht, es werden keine Elemente voneinander geschieden. Vielmehr
zielt dieser Satz auf das Schaffen von etwas, was es noch nicht gibt, auf
etwas, was allein durch Handeln möglich ist. So wird etwas aus Kom-
ponenten synthetisiert, was mehr ist als diese.
Die Idee, die hinter dem Sittengesetz steckt, ist die Freiheit, wie
jede Idee erdacht, erfunden, bedingt durch die natürliche Veranlagung
der menschlichen Vernunft hierzu. Das Bedürfnis der Vernunft pro-
duziert Ideen wie Freiheit, nach denen sie sich selbst ausrichtet: Als
subjektiver Grund wird etwas vorausgesetzt und angenommen, was
objektiv nicht wißbar sein kann. Als Produkt reiner Vernunft überfliegt
sie die Erkenntnis, und nichtsdestotrotz wird sie wirksam als transzen-

23 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 77.


24 Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 374; Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 111.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 283

dentaler Bezugspunkt. Es geht um Handeln, genauer um die Bedin-


gungen der Möglichkeit von Handeln, die Bestimmung des Willens,
nicht um Erkennen. Denn im Handeln ist möglich, was zu erkennen
unmöglich ist. Das Vorgestellte kann wirklich werden. Bei Kant ist die
Freiheit weder eine ,einheimische‘ (immanente) noch eine ,überflie-
gende‘ (transzendente) Idee, sondern wird zu einer transzendentalen,
einer Idee, welche die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung be-
trifft. Sie wird zu einer wirkenden Ursache und schafft ein Ereignis. Das
ist das Geheimnis der Freiheit. Sie ist nicht beweisbar, eine Fiktion,
doch sie kann Kraft entfalten, ihr eignet „große Fruchtbarkeit“.25
Schon nur der Gedanke einer Möglichkeit kann wirken. „Wenn die
Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Möglich-
keit ist, auch der Gedanke einer Mçglichkeit kann uns erschüttern und
umgestalten“26. Die ewige Wiederkehr wollen, heißt auch sie bejahen.
Affirmation ist keine Aktion, Deleuze bezeichnet sie als eine Macht zum
Aktiv-werden.27 Damit zeigt sie sich auch als Äußerung eines Prinzips,
das Nietzsche Willen zur Macht nennt.28 Analog zu Kant, der die
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem ,guten Willen‘ anfangen
läßt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer der-
selben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte
gehalten werden, als allein ein guter Wille.“29 Entsprechend manifestiert
sich der Wille zur Macht als die relevante Kraft in Nietzsches Sitten-
gesetz, der ewigen Wiederkehr. Eine Kraft, die schafft; kein Sein oder
Werden, sondern ein Pathos, das „Zeuge- und Werdelust“30 heißt: der
Wille als Erschaffer von Werten. Deshalb ist es ein bejahender Wille,
den Verneinungen des Nihilismus entgegengesetzt. „Der Gedanke der
ewigen Wiederkehr mehrt, wenn er ertragen wird, den guten Willen
zum Leben“.31 Im Willen zur Macht wie im guten Willen äußert sich
ein Drang, über die Grenzen seiner selbst hinauszugehen. Er übersteigt
den Menschen, denn dessen Willen ist nur bedingt gut und stark. Aber
er kann sich diesen guten Willen vorstellen und vorgeben als unmög-
liche und notwendige ethische Aufgabe. Diese Übersteigerung seiner
selbst zeichnet den Übermenschen aus. Er ist weltimmanent, doch

25 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: AA Band 5, S. 103.


26 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 9, S. 523.
27 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 63 f.
28 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, KSA 7, S. 64.
29 Kant, Grundlegung (Anm. 20), S. 393.
30 Nietzsche, Ecce homo (Anm. 24), S. 348.
31 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 209.
284 Christine Blättler

zukünftig, eine Verheißung, und von einer Schaffenskraft, die nach dem
reaktiven Menschen kommt, aber doch schon als ein steter transzen-
dentaler Angelpunkt auf einen aktiven und bejahenden Menschen hin
wirkt. Er bleibt dem Erkennen transzendent, ist aber der Praxis im-
manent.

Ästhetik und Ethik


Die Nietzsche-Lektüren von Deleuze und Klossowski führen das Zu-
sammengehen von Ästhetik und Ethik vor. Die Begriffe von Perzept,
transzendentalem Empirismus, Intensität und Experiment lassen dies
nachvollziehen.

Percept

Auch hinter dem Willen zur Macht steht die regulative, transzendentale
Idee der Freiheit. Daran wird ersichtlich, was Deleuze in Diffrence et
rptition den empirischen und pluralistischen Sinn der Idee nannte: es
handelt sich um den ,offenen Begriff‘ als ,percept‘, welcher die „deux
parties de l’Esthétique si malheureusement dissociées“ vereint, nämlich
„la théorie des formes de l’expérience et celle de l’oeuvre d’art comme
expérimentation“.32 In Qu’est-ce que la philosophie? führt Deleuze seine
Überlegungen zum Perzept mit Félix Guattari zusammen weiter. Sie
unterscheiden hier bekanntlich drei Formen des Denkens: Kunst,
Wissenschaft, Philosophie, wobei sich die drei Denkformen kreuzen
und verknüpfen können, allerdings ohne Synthese oder Identifikation.33
Die Perzepte nun – zusammen mit den Affekten bilden sie die Emp-
findungen – werden der Kunst zugeschlagen, der Philosophie die Be-
griffe, und der Wissenschaft die Sachverhalte. Das Perzept wird definiert
als dasjenige, was „rendre sensibles les forces insensibles qui peuplent le
monde, et qui nous affectent, nous font devenir“. Als Wahrneh-
mungskomposition ist das Perzept ein Akt sinnlichen Werdens, „par
lequel quelque chose ou quelqu’un ne cesse de devenir-autre“.34

32 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 364.


33 Vgl. Deleuze/Félix Guattari, Qu’est-ce que la philosophie?, Paris: Editions de
Minuit 1991, S. 186 – 188.
34 Deleuze/Guattari, Qu’est-ce (Anm. 33), S. 172, S. 168.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 285

Es sei hier erlaubt, die viel später formulierte Definition des Perzepts
mit derjenigen in Diffrence et rptition zu verknüpfen, nicht zuletzt
auch, weil Nietzsche in beiden Büchern präsent ist. In Qu’est-ce que la
philosophie taucht zum Beispiel Zarathustra gerade dort auf, wo es um
das ineinander Übergehen von Empfindung und Begriff, von ,ästheti-
scher Figur‘ und ,Begriffsperson‘ geht, wenn auch unterschieden wird
zwischen sinnlichem und begrifflichem Werden. Das Perzept hat seiner
Definition gemäß zu tun mit dem spürbar Machen von Kräften. Den
Willen zur Macht nennt Deleuze „le pouvoir être affecté“, worin Macht
und Stärke der Kraft zum Ausdruck kommen; der Wille zur Macht wird
auch zu einem Vermögen zu affizieren. Neben seiner Affektivität und
Sensibilität ist er wesentlich schaffend: „la puissance est ce qui veut dans
la volonté. La puissance est dans la volonté l’élément génétique et dif-
férentiel.“35 Der Genealoge und Gesetzgeber interpretiert und setzt
Werte, er schätzt Werte ab aufgrund ihrer Herkunft, macht eine Dif-
ferenz ihrer Herkunft, und deshalb setzt er eine Rangfolge und Hier-
archie. Er schätzt sowohl Geschichte wie die aktuelle Wahrnehmung
der Werte ab, er kann sie wertschätzen, und er kann eben auch neue
Werte schaffen.
Deshalb geht diese Ästhetik mit der Ethik zusammen. Dem Willen
zur Macht, von Löwith im Kontext der ewigen Wiederkehr ganz
beiseite gelassen, gibt Deleuze eine tragende Rolle. Von Nietzsche
erhält er einen metaphysischen Charakter, er bezeichnet ihn als ,Essenz
des Lebens‘. Zu seiner affirmativen Entfaltung kommt er in der ewigen
Wiederkunft, die Nietzsche in Ecce homo ,höchste Formel der Bejahung‘
nennt, und worin sich sein Gesetz der nicht lehrbaren Lehre der Moral
verkörpert. Das Unlehrbare führt Deleuze in die Lehre ein, wie Klos-
sowski ihm attestiert. „[I]l fallait que Nietzsche eût vécu et souffert pour
que pareil propos ne restât vide et absurde“.36

35 Deleuze, Nietzsche (Anm. 1), S. 70, S. 96 f.


36 Klossowski, „Digression à partir d’un portrait apocryphe“, in: L’arc Nr. 49,
1972, S. 11. Siehe auch Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 89 – 112 (L’expéri-
ence de l’Éternel Retour).
286 Christine Blättler

Transzendentaler Empirismus

Transzendentaler Empirismus – mit seiner Deleuze-Monographie


prägte Marc Rölli diesen auch von Deleuze selbst verwendeten Be-
griff 37 als für dessen Philosophie insgesamt charakteristisch. Und Rölli
macht gerade in Deleuzes Nietzsche-Buch von 1962 einen ersten
Entwurf des Projekts transzendentaler Empirismus aus, den Deleuze
anhand seiner Auslegung der Lehre vom Willen zur Macht präsentiert.38
Der transzendentale Strang, der hier mit dem ethischen Imperativ
eingebracht wurde, soll nun mit dem empiristischen verbunden werden,
welcher auf die Wahrnehmung, aisthesis baut. Deleuze hebt sich ge-
genüber einem Denken ab, das sich hypothetisch im Kreis des immer
schon vorausgesetzten dreht. Er verlangt ein unwillkürliches Denken:
„il n’y a de pensée qu’involontaire, suscitée contrainte dans la pensée,
d’autant plus nécessaire absolument qu’elle naît, par effraction, du fortuit
dans le monde. Ce qui est premier dans la pensée, c’est l’effraction, la
violence […] comptons […] sur la contingence d’une rencontre avec ce
qui force à penser“ .39
Dieses Etwas, das zum Denken nötigt, sieht Deleuze in einer fun-
damentalen Begegnung. Es kann nur empfunden werden, und das setzt
den Gebrauch der Sinne voraus. Das sentiendum, das, was nur emp-
funden werden kann, erschüttert die Seele und zwingt sie, ein Problem
zu stellen. Der Weg geht vom sentiendum oder aisthetéon zum cogi-
tandum oder noetéon.40
Bei Nietzsche gab es viele Dinge, die ihn zum Denken zwangen.
Die für sein Werk wohl folgenreichste Erschütterung hatte er auf sei-
nem berühmten Spaziergang am See von Silvaplana, im August 1881.
Ein zufälliges Erlebnis inmitten der kontingenten Welt, zu einem be-
stimmten Zeitpunkt seines Lebens, des Jahres, der Natur, an diesem Ort.
Es ließ ihn mit einem Gedanken begegnen, der seine ganze Wahr-
nehmung erschütterte, der einer Offenbarung gleichkam, und der ihn
zum Denken und Weiterdenken nötigte. Das ist es, was Klossowski mit
der ,gelebten Erfahrung der ewigen Wiederkehr‘ bezeichnet, dem
ganzen ekstatischen Charakter dieses Erlebnisses, als Ausgangspunkt für

37 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 79 f.


38 Rölli, Gilles Deleuze (Anm. 21), S. 388.
39 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 181 f. (L’image de la pensée).
40 Vgl. Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 182 ff.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 287

die Lehre von der ewigen Wiederkehr, wie sie sich in den Jahren da-
nach vielschichtig in Nietzsches Schriften manifestiert.

Intensität

Es ist die Intensität, die Klossowski als das wesentliche in Nietzsches


erster Erfahrung der ewigen Wiederkunft faßt.41 Die Intensität hat sich
selbst zum Gegenstand, hat nie einen anderen Sinn als Intensität zu sein.
Zarathustra sucht im Wiederwollen nicht eine Veränderung des Indi-
viduums, sondern seines Wollens. So kann Klossowski feststellen, daß
die Veränderung im moralischen Verhalten eines Individuums nicht
durch einen bewußten Willensakt bestimmt ist, vielmehr durch die der
ewigen Wiederkunft eigene Ökonomie. Das Wiederwollen kommt
dem reinen Beitritt in den Circulus vitiosus gleich, das heißt, die ganze
Reihe von Erfahrungen wieder wollen, um der Intensität willen. Am
Anfang steht für Klossowski die ewige Wiederkunft als ,fait vécu‘, ge-
lebter Fakt, und als erfahrener Gedanke, auf keinen Fall die Reprä-
sentation von etwas. Von ihm aus nehmen das Entsetzen und die
Freude, die in dieser empfundenen Notwendigkeit stecken, ihren Gang.
Von hier aus auch interpretiert Nietzsche nach Klossowski die ewige
Wiederkunft unterschiedlich. Zum einen nennt er das Subjekt des
Willens zur Macht Übermensch, zugleich Sinn und Ziel der ewigen
Wiederkunft. Zum andern zeige sich der Circulus vitiosus als Kette von
Existenzen für die Individualität, in dem Sinne, daß die Kapazität einer
Individualität nie den Reichtum an Differenzierung und sein affektives
Potential erschöpfen kann. Deshalb legt Klossowski den Schwerpunkt
auch auf den Verlust der gegebenen Identität.
Klossowski koppelt die Intensität an den Willen zur Macht und die
ewige Wiederkehr. Intensität ist bei ihm das, was die ewige Wiederkehr
ausmacht. Man könnte sagen, der sittliche Wert liegt in der Intensität, in
der übermenschlichen Anstrengung, mit der um eine Sache gekämpft
wird, „in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns kostet“.42 Auch in
dieser Intensität trifft sich Nietzsche mit Kant, dem die Tugend „nur
darum so viel werth [ist], weil sie so viel kostet, nicht weil sie etwas
einbringt“.43 Die Kosten spricht Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung an,

41 Vgl. Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 97 – 111.


42 Nietzsche, Gçtzen-Dmmerung (Anm. 19), S. 139.
43 Kant, Kritik (Anm. 25), S. 156.
288 Christine Blättler

mit seinem Begriff von Freiheit, der mit dem Willen zur Selbstver-
antwortlichkeit zusammen fällt. Die Anstrengung zielt nicht auf ein
Sein, entzieht sich möglicher Verfügbarkeit und Besitz, der Sinn liegt in
ihr selbst. Schwerstarbeit, aber gegen den ,Geist der Schwere‘ gerichtet.
Es handelt sich um eine Anstrengung, die produktiv wird. Bei Klos-
sowski klingt das so, daß sich die in den Phantasmen eingeschlossene
Imagination befreit, indem sie Simulakren schafft.44 Das, was Deleuze
die ,Ethik der intensiven Quantitäten‘ nennt, zeigt sich als eine Spielart
der formalen Ethik, ohne bestimmten Inhalt, referenzlos.

Experiment

Intensität unterhält eine besondere Beziehung zum Experiment. Schon


Löwith baute auf Nietzsches Denken als Experimentalphilosophie. Als
Nietzsches letztes Experiment bezeichnete er die Lehre von der ewigen
Wiederkehr, in der sich die Folge seiner Versuche mit systematischer
Konsequenz zu einer Lehre zusammenfügt.45 Auch im Experiment
manifestiert sich der Nexus von Ethik und Ästhetik, diesmal mit De-
leuze, der in der Ästhetik sowohl die Form der Erfahrung wie das
Kunstwerk als Experiment reflektiert. Die ewige Wiederkehr bündelt
dies beides, Nietzsche wandelt sie in ein veritables „instrument expé-
rimental“46 um.
In der Intensität beziehungsweise deren Vervielfältigung in Inten-
sitäten und ihren mannigfaltigen Experimenten trifft sich Deleuzes äs-
thetisch-ethische Lesart mit der von Klossowski. Ein Zitat aus Diffrence
et rptition zeugt auch vom Gespräch zwischen den beiden Franzosen,
mit Nietzsche im Bunde: „L’éternel retour n’est ni qualitatif ni extensif,
il est intensif, purement intensif. C’est-à-dire: il se dit de la différence.
Tel est le lien fondamental de l’éternel retour et de la volonté de pu-
issance. L’un ne peut se dire que de l’autre. La volonté de puissance est
le monde scintillant des métamorphoses, des intensités communicantes,
des différences de différences, des souffles, insinuations et expirations:

44 Klossowski, „Les derniers travaux de Gulliver suivi de Sade et Fourier“, in: Fata
Morgana 4/1974, S. 53. Vgl. Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 194 – 212.
45 Löwith, Nietzsches Philosophie (Anm. 11), S. 113. Vgl. a. Friedrich Kaulbach,
Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien 1980.
46 Klossowski, Nietzsche (Anm. 9), S. 247.
Der Philosoph der Zukunft ist Gesetzgeber Zur Ethik Nietzsches 289

monde d’intensives intentionalités, monde de simulacres ou de ,mys-


tères‘.“47
Klossowski begeisterte sich an Nietzsches zukünftigem Philosophen
als Versucher, dem tentateur und expérimentateur, dem Philosophen als
Verführer und Experimentator.48 „Eine neue Gattung von Philosophen
kommt herauf: ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen
zu taufen. So wie ich sie errate […], möchten diese Philosophen der
Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Ver-
sucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein
Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.“49

47 Deleuze, Diffrence (Anm. 2), S. 313. Klossowski widmete sein Nietzschebuch


Deleuze.
48 Klossowski, Nietzsche (Anm. 2), S. 186 f.
49 Nietzsche, Jenseits (Anm. 4), Nr. 42.
Transformations du sacré au XIXème siècle en
Allemagne:
Hegel – Hölderlin – Nietzsche
Günter Krause

Dieu est mort mais l’ombre de ce spectre est de retour – comme la


situation actuelle dans le monde le prouve. La question s’impose:
comment s’y prendre? Cet être absolu avait tellement dérangé l’homme
occidental à un moment donné de son histoire que ce dernier a essayé
de se débarrasser de lui par une ruse. L’absolu semble être imbattable et
indestructible par principe, et pour cette raison il a été dé-rangé ou,
autrement dit, transformé dans la perspective d’une suppression de ses
qualités dérangeantes. Cette opération a laissé une trace dans le
déplacement du sacré d’un champ d’action divin vers un lieu d’action
humain(e). L’homme s’est emparé du sacré par son intégration dans
l’univers profane. Depuis l’antiquité grecque («hiëros») et romaine
(«sacer», «sanctus») ainsi qu’en hébreu («qados») le mot «sacré» décrit un
territoire délimité («fanum») qui rend le reste de l’espace «pro-fanus»
(«hors-sacré»).
Pour Hegel, seul Dieu représente le sacré absolu dans sa totalité
parce qu’il est «l’essence de part en part universelle en elle-même»1.
Avec sa mort, le sacré devient un espace vide, ou, dans la tradition
protestante et mystique de Jacob Böhme, un abîme, «ein Abgrund» et
«ein Un-grund» (un espace sans fond), un Néant qui, d’après Hegel, doit
être occupé «par le pur concept» («dem reinen Begriff») pour que la
totalité suprême ressuscitée puisse apparaître dans son sérieux total et, en
même temps, dans sa figure de liberté la plus sereine. Dans un processus
dialectique de la raison, cette dernière doit d’abord attaquer par la
«profanisation» le sacré absolu, mais elle fait naître ensuite une nouvelle

1 G.W.F.Hegel, Philosophische Propädeutik (herausgegeben von Karl Rosenk-


ranz), § 77, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 3 ( Jubiläumsausgabe in zwanzig
Bänden), Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 98: «Gott ist nach den Momenten
seines Wesens; 1) absolut heilig, insofern er das schlechthin in sich allgemeine
Wesen ist.» – Traduction personnelle.
292 Günter Krause

totalité suprême immunisée, une fois pour toutes, contre les ruses d’un
logos historiquement limité, ce qui la rend plus puissante que jamais.
«Mais le pur concept, ou l’infinité, en tant qu’elle est l’abîme du Néant où
tout l’Etre s’engloutit, doit désigner la douleur infinie – douleur qui
précédemment n’était présente qu’à titre historique dans la culture, et n’y
était que comme le sentiment sur lequel repose la religion des temps
modernes, à savoir le sentiment que Dieu même est mort, ce qui est
exprimé d’une façon pour ainsi dire empirique par les mots de Pascal ,La
nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et
hors de l’homme’ – purement comme un moment de l’Idée suprême mais
pas plus donc que comme un moment. Ainsi le concept pur doit donner
une existence philosophique à ce qui autrement était ou bien la prescription
moraliste d’un sacrifice de l’être empirique ou bien le concept de
l’abstraction formelle. Il doit ainsi donner à la philosophie l’Idée de la
liberté absolue, et, du même coup, la Passion absolue ou le Vendredi–Saint
spéculatif, qui jadis fut historique, et il doit rétablir celui-ci dans toute la
vérité et la cruauté de son absence de Dieu. C’est à partir de cette cruauté
seule – car il faut que disparaisse l’élément serein, le moins fondamental et
le plus singulier des philosophies dogmatiques comme des religions de la
nature – que la totalité suprême dans son sérieux total et à partir de son
fondement le plus profond, embrassant tout en même temps, peut et doit
ressusciter dans sa figure de liberté la plus sereine.»2

2 G.W.F.Hegel: «Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund
des Nichts, worin alles Sein versinkt, muss den unendlichen Schmerz, der
vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die
Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot (dasjenige, was
gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: ,la nature
est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu et dans l’homme et hors de
l’homme’ [Pensées, 441: ,die Natur ist so beschaffen,dass sie überall, sowohl
innerhalb als ausserhalb des Menschen, auf einen verlorenen Gott weist’] –, rein
als Moment, aber auch nicht als mehr denn als Moment der höchsten Idee
bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer
Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion
war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der
absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen
Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und
Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das
Heitere, Ungründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie
der Naturreligionen verschwinden muss – die höchste Totalität in ihrem
ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die
heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss.» ( Jenaer Schriften
1801 – 1807,Werke 2, Frankfurt/Main 1970, S. 432 f) – Notre traduction suit –
à deux exceptions près – celle qui a été proposée par Jean-Louis Vieillard-Baron
dans «Hegel et l’idéalisme allemand», Paris 1999, p. 168.
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 293

Le pur concept, l’abîme du Néant, cet «espace marqué par le détour des
dieux»3 a investi le champ du sacré pour transformer la douleur infinie,
empirique et éprouvée de la mort de Dieu en une vérité philosophique
rigoureuse, en un moment de l’idée suprême qui permettra un jour la
résurrection du divin. Cette transformation ne s’effectue pas sans
cruauté, autrement dit, sans la rigueur de l’abstraction. Le prix à payer,
au moins dans un premier temps, pour l’égalité, la base même du
concept d’abstraction, et pour la liberté, la base même du concept de
vérité, n’est pas la cruauté elle-même mais l’absence immédiate d’unité
dans la totalité. En citant Goethe, Hegel répond à la question «Qu’est-ce
qui est sacré?» par «C’est ce qui lie ensemble beaucoup d’âmes.»4
La mort de Dieu – comme radicalisation de la mort du Christ –
marque d’abord la fin de l’idée d’une société homogène, d’une unité
entre êtres humains en ouvrant un espace vide et sans fond entre les
hommes. Mais cette ouverture est interprétée par Hegel comme
invitation à une intervention de l’esprit qui, en fin de compte, ne détruit
rien (et surtout pas la divinité – malgré les sentiments de douleur et de
cruauté) parce qu’elle est l’acte d’une reconstitution améliorée et le
principe même de la construction de l’avenir, le devenir.
«L’unité, dont les moments – être et néant – sont en tant
qu’inséparables, est en même temps différente d’eux-mêmes, et de la
sorte un tiers à leur encontre, lequel, sous sa forme la plus singulière, est
le devenir.»5
Autrement dit: dans une certaine mesure, la tragédie («la douleur
infinie») devient tout à fait un élément de la loi du devenir ainsi que
celle de la construction humaine, et cette tragédie ne se passe pas, grâce à
la rigueur sévère de l’abstraction, sans un élément héroïque. Mais Hegel
ne développe ni l’idée d’un «Dieu à venir» (comme Hölderlin) ni le
concept de «sur-homme» (comme Nietzsche) et cela tout simplement
parce que le devenir de Hegel est complètement spirituel et intemporel

3 Michel Foucault, Le langage à l’infini, dans ,Tel Quel’, N8 15/automne 1963 –


cité d’après: Michel Foucault, Dits et Ecrits I, Gallimard 2001, p. 282 f.
4 G.W.F.Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke 14, Frankfurt/Main
1970, p. 276: «,Was ist heilig? fragt Goethe einmal in einem Distichon und
antwortet: ,Das ist’s, was viele Seelen zusammenbindet.’» – Traduction
personnelle.
5 G.W.F.Hegel, Logik , Werke 5 (Anm. 3), S. 97: «Die Einheit, deren Momente,
Sein und Nichts, als untrennbare sind, ist von ihnen selbst zugleich verschieden,
so ein Drittes gegen sie, welches in seiner eigentümlichsten Form das Werden
ist.» – Traduction personnelle.
294 Günter Krause

ou, si l’on veut, un concept dans sa pureté. Et c’est cette pureté du


concept de devenir qui rend le processus historique irréversible et crée le
phantasme d’une réconciliation de l’Idée et de la Passion, l’utopie de la
résurrection d’un divin esprit pur, absolu et sacré. Ce n’est pas par hasard
que la critique de Hegel commence dans les années 30 du XIXème
siècle par la critique de la religion, qui reste évidemment l’horizon
insurmontable de l’idéalisme absolu. Le pur concept rassemble les
moments du processus de relève («Aufhebung») pour occuper philoso-
phiquement le lieu de l’absolu dans sa pureté, son indifférence, le lieu de
l’indifférence absolue, c’est-à-dire le sacré. L’intemporalité du moment
hégélien fait aussi – malgré l’abîme, la douleur et la cruauté – qu’on ne
trouve nulle part chez Hegel l’idée du sacrifice (idée centrale chez
Hölderlin et chez Nietzsche); la transformation par l’abstraction du sacré
a fait disparaître l’acte de transformation même (avec ses implications
«tragiques») dans l’utopie. L’événement mythologique du Vendredi-
Saint, le sacrifice d’un Dieu devenu homme pour sauver l’unité de
l’humanité, est remplacé par l’événement philosophique du Vendredi-
Saint spéculatif qui transforme la mythologie en un concept épistémo-
logique, à savoir en la vérité de l’événement mythologique. Cette vérité
est présentée comme un simple élargissement du champ du sacré et
l’esprit qui règne dans le pur concept dans sa vérité devient finalement
identifiable au sacré:
«A cause de cette harmonie consciente qui règne entre le savoir et son
objet, entre la forme et le contenu, et qui exclut toute séparation et par là
tout changement, on peut appeler l’esprit selon sa vérité, l’Eternel tout
comme le parfaitement Bienheureux et Sacré. Car il n’est permis d’appeler
sacré que ce qui est rationnel, sachant la raison.»6
Ce concept du sacré semble – au moins à première vue – être très
proche de la conception hölderlinienne et il est sans aucun doute très
fortement et directement influencé par le poète et sa pensée. Mais en
réalité, les deux se distinguent clairement et nettement. A la ressem-
blance verbale correspond un antagonisme sémantique, l’abîme du

6 G.W.F.Hegel, Enzyklopädie, 3. Teil (§ 441), Werke 10, Frankfurt/Main 1970,


S. 297 f.: «Wegen dieser zwischen dem Wissen und seinem Gegenstande,
zwischen der Form und dem Inhalt herrschenden, alle Trennung und damit alle
Veränderung ausschliessenden bewussten Harmonie kann man den Geist, seiner
Wahrheit nach, das Ewige wie das vollkommen Selige und Heilige nennen.
Denn heilig darf nur dasjenige genannt werden, was vernünftig ist und vom
Vernünftigen weiss.» – Traduction personnelle.
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 295

Néant affecte chez Hölderlin le sujet dans son unité, son identité – ce
que rend impossible l’idée même d’une totalité pure et réflexive. Le mot
«heilig» («sacré») compte parmi les mots préférés de Hölderlin et le poète
en connaît très peu. Il apparaît très régulièrement dans ses poèmes, soit
d’une manière isolée, soit combiné avec d’autres mots, soit intégré dans
certaines expressions – comme, par exemple, «la nuit sacrée (ou:
sainte)»/«die heilige Nacht». On retrouve cette dernière expression dans
plusieurs poèmes: «Cours de la vie»/«Lebenslauf», «Vocation du poète»/
«Dichterberuf», «Stuttgart», «Pain et Vin»/«Brot und Wein» et «A la
Madone»/«An die Madonna».
Le chemin parcouru par le sujet dans «la nuit sacrée» hölderlinienne
lie la pensée grecque, plus précisément le pré-socratique Héraclite7 au
christianisme. La troisième strophe de l’élégie «Pain et Vin»/«Brot und
Wein» nous explique la raison et le but du mariage de ces deux-là:
«Et notre coeur, en vain le cachons-nous en nous-mêmes,
notre âme en vain
Nous la tenons captive! car qui donc, nous les maîtres,
nous les disciples,
Peut briser notre élan, qui donc, ah! nous interdirait la
joie?
Le feu divin lui-même, nuit et jour, s’efforce vers un
brusque
Embrasement. Viens donc! et nous tournerons nos yeux
vers l’étendue
Pour y chercher, si loin soit-il quelque chose qui nous soit propre!
Une chose demeure ferme. Que midi sonne ou que le
temps s’allonge
Dans le coeur de la nuit, une mesure est là toujours,
commune
A tous, et chacun cependant reçoit en propre son
destin.
Chacun s’en va, chacun s’en vient aux lieux qu’il peut
atteindre.
Viens donc! Et qui pourrait mépriser le mépris, sinon
cette
Folie délirante qui saisit les chanteurs soudain dans la nuit
sacrée.
Viens aux rives de l’Isthme, oh viens! Là-bas où la
rumeur immense de la mer
Monte vers le Parnasse, où la neige scintille en

7 Diels, Fragment 60: «Der Weg auf und ab ist ein und derselbe.» – «La route,
montante descendante – Une et même.» ( Jean-Paul Dumont, Les écoles
présocratiques, Paris: Gallimard 1991, p.80)
296 Günter Krause

diadème aux rocs delphiques,


Là-bas dans le pays de l’Olympe, à la cime du Cithéron
là-bas,
Là-bas sous les épicéas, sous les raisins d’où voici
Thèbes
Et le fleuve Ismènos bruire au pays de Kadmos,
C’est là d’où vient, c’est là ce que désigne à son tour
le dieu à venir!»8
Le sujet de cette strophe est de toute évidence la relation entre, d’un
côté, une foi qui est caractérisée par l’enthousiasme de la nuit profane et
sacrée, et de l’autre, un savoir déterminé par la mesure qui est toujours là
et commune à tous. Mais s’il est vrai que la chouette de Minerve prend
son envol à minuit, il est également vrai que le feu divin lui-même, nuit
et jour, s’efforce vers un brusque embrasement. «Pain et Vin» n’est pas
non plus un hymne à la nuit, l’idée de l’appropriation active du propre
par l’Autre unit même jour et nuit. L’un des modèles de Hölderlin était,
certes, «The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death and
Immortality» d’Edward Young, mais contrairement à son modèle, chez
Hölderlin la nature est pleine d’esprit et n’a rien d’absolu ou d’intem-
porel.

8 Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, in : Friedrich Beissner/Jochen Schmidt


(Hg.), Hölderlin – Werke und Briefe, Frankfurt/Main 1969, S. 115:
« Auch verbergen umsonst das Herz im Busen, umsonst nur
Halten den Mut noch wir, Meister und Knaben, denn wer
Möcht es hindern und wer möcht uns die Freude verbieten?
Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
Aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen,
Dass ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Mass,
Allen gemein, doch jeglichem auch ist ein eignes beschieden,
Dahin gehet und kommet jeder, wohin er es kann.
Drum! und spotten des Spotts mag gern frohlockender Wahnsinn,
Wenn er in heiliger Nacht plötzlich die Sänger ergreift.
Drum an den Isthmos komm! Dorthin, wo das offene Meer rauscht
Am Parnass und der Schnee delphische Felsen umglänzt,
Dort ins Land des Olymps, dort auf die Höhe Cithärons,
Unter die Fichten dort, unter die Trauben, von wo
Thebe drunten und Ismenos rauscht im Lande des Kadmos,
Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott.« – Traduction
personnelle.
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 297

«Night, sable Goddess ! from her Ebon throne,


In rayless Majesty, now stretches forth
Her leaden Scepter o’er a slumbering world:
Silence, how dead? and Darkness, how profound?
Nor Eye, nor listening Ear an object finds;
Creation sleeps. ’Tis as the general Pulse
Of life stood still, and Nature made a Pause;
An awful pause! prophetic of her End.»9
Certes, l’un des interlocuteurs principaux de Hölderlin dans «Pain et
Vin» est Novalis – mais déjà la forme «élégie» signale une différence
importante: l’hymne exprime l’enthousiasme pour les Dieux et les héros
pendant le culte, l’élégie est la construction d’une symbiose de l’idée de
la loi et l’émotion. La sacralité de la nuit sacrée hölderlinienne s’exprime
dans un délire, une aliénation mentale («geistige Umnachtung» comme
on dit en allemand) du chanteur-poète. Le délire pousse l’être humain à
bouger, à marcher («wandern»), au voyage et ce n’est certainement pas
un hasard si Dionysos, le Christ et Zarathoustra étaient de grands
voyageurs («Wanderer»10). «Viens aux rives de l’Isthme», c’est-à-dire au
centre de la Grèce, royaume de celui qui vient du pays de Kadmos pour
participer à la fête à Cithéron près de Thèbes – lieu des orgies
dionysiaques où, bien évidemment, le vin («raisins»/«Trauben») ne doit
pas manquer. Le vin lie cette scène à la cène chrétienne, c’est-à-dire à
l’idée d’un sacrifice divin, d’un sacrifice de Dieu pour entamer une
nouvelle alliance («einen neuen Bund») avec l’homme, qui consiste
d’après la Bible en l’amour; le pain, par contre, est aussi le signe de la
trahison de cet amour:
«Et quand celui-là ( Judas) eut pris sa bouchée de pain, il sortit
aussitôt. Or, il faisait nuit. Lorsqu’il fut sorti Jésus dit: ,Voici que le fils
de l’homme est magnifié, et Dieu est magnifié en lui […] Un nouveau
commandement je vous le donne: aimez-vous les uns les autres comme
je vous ai aimés.’»11
L’invitation («Viens donc») à l’amour est une invitation à regarder
l’ouvert, le découvert («das Offene»), une invitation à la Révélation
(«Offenbarung») qui correspond dans l’univers grec (et allemand) à une

9 Edward Young, Night Thoughts, ed. by Stephen Cornford, Cambridge 1989,


p. 37.
10 Im «Wanderer» steckt auch ein «Anderer» und das W(eh) des Wahnsinns/Dans
le «Wanderer» (voyageur) se cache aussi «ein Anderer» (un autre) ainsi que le
«W(eh)» (la d[ouleur]) «des Wahnsinns» (de la folie).
11 L’évangile selon St. Jean 13.30 – 34.
298 Günter Krause

image de la mer («das offene Meer»), autrement dit: à la nature sacrée.12


L’amour, de son côté, mène finalement au propre si lointain («Dass ein
Eigenes wir suchen, so weit es auch ist») et si proche – dans le poème:
«Quoi que j’aie vu, le sacré soit mon mot»13
La résurrection de Dieu s’opère chez Hölderlin dans le mot où le
divin peut apparaître dans son sérieux total («la mesure»/«das Mass») et,
en même temps, dans sa figure de liberté la plus sereine (la fête/das Fest).
Le mot est l’expression de l’amour absolu du Dieu à venir, d’une
nouvelle alliance entre le je et les autres, entre le sujet et l’Autre. La
cruauté de l’absence de Dieu s’applique également au mot parce que ce
dernier est devenu une sorte de refuge du sacré, un lieu où la logique de
la cruauté divine, le sacrifice, reste intacte. Cette transformation du lieu
du sacré (d’un au-delà vers le mot) marque la naissance de la maladie
mentale, de la folie au sens moderne. Le mot ne représente plus le sens
(«Sinn») d’une force mais devient lui-même une force qui affecte le
corps directement et le condamne à la passivité – comme la folie
(«Wahn-Sinn») le prouve. Hölderlin est effectivement le poète du poète
(«der Dichter des Dichters») comme le dit Heidegger parce qu’il montre
dans ses poèmes les résultats d’une expérience verbale, d’une expérience
avec une nouvelle force sacrée qui s’appelle «mot» et par laquelle
l’homme a été affecté pour devenir poète moderne.
Friedrich Nietzsche enfin ne reflète pas directement le sacré, il le
comprend comme force, et pour cette raison il l’«applique» – dans son
style et dans sa réflexion sur l’homme. Dans les deux cas il n’«applique»
pas la conception hégélienne mais plutôt celle de Hölderlin (avec ses
implications) qu’il a beaucoup apprécié dès sa jeunesse. L’«applica-
tion» dans sa réflexion sur l’homme mène Nietzsche d’abord à une
interprétation de l’homme sacré, du saint:
«Toutes les visions, les terreurs, les fatigues, les extases du saint sont des états
morbides connus, que lui-même, en raison d’erreurs religieuses et
psychologiques enracinées, interprète seulement d’autre façon, c’est-à-
dire non comme des maladies. […] Parmi les facultés les plus grandes de ces
hommes que l’on appelle génies et saints, il faut mettre celle de se procurer

12 Voir Martin Heidegger, Approche de Hölderlin (son interprétation de


«Comme au jour de fête») – Siehe Martin Heidegger, «Wie wenn am
Feiertage…», in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt/Main
1981.
13 Friedrich Hölderlin, Wie wenn am Feiertage, in: Friedrich Beissner/Jochen
Schmidt (Hg.), Hölderlin – Werke und Briefe, Frankfurt/Main 1969, S. 135:
«Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.» – Traduction personnelle.
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 299

à eux-mêmes des interprètes qui les entendent mal pour le salut de


l’humanité.»14
La traduction française minimise le pouvoir que Nietzsche attribue aux
génies et aux saints: ces derniers produisent – par la force – des
interprètes qui les entendent mal pour le salut de l’humanité. Leur
maladie ne nuit pas à leur force, au contraire, leur maladie est la source
d’un incroyable pouvoir fondé sur le mot. Nietzsche reprend ici l’idée
centrale de la philosophie d’Arthur Schopenhauer qui consiste en une
sorte de paradoxe qui s’exprime dans la question suivante : Comment
est-il possible qu’il existe un homme (dont le saint est l’incarnation) qui
fonde son existence sur la négation de la volonté de vivre? Ce paradoxe
se traduit chez Nietzsche tout d’abord en une psychopathologie des
saints. Le sacré apparaît donc, indirectement, comme un phénomène
directement lié à l’ascétisme et au ressentiment, deux qualités (ou forces)
qui définissent le prêtre. Saint Paul par exemple est interprété comme
un épileptique habité par l’idée fixe de la loi, Saint François d’Assise est
lui aussi présenté comme un épileptique, mais à l’instar de Jésus,
également comme un névrosé et un visionnaire.
Ces descriptions n’impliquent aucune critique négative, elles posent
très simplement la question des valeurs, puisque le saint n’est pas
seulement malade, il est en même temps «l’espèce la plus puissante –
homme.»15 Jugé du point du vue de pouvoir, la maladie est plus vitale
que la santé – une santé qui fait partie de l’idéologie du dernier homme:
«Voici! Je vous montre le dernier homme. […] ,Nous avons inventé le
bonheur’, – disent les derniers hommes, et ils clignent de l’œil. […]
Tomber malade et être méfiant passe chez eux pour un péché: on s’avance

14 Friedrich Nietzsche, Humain, Trop Humain (§ 126), dans: Jean Lacoste/


Jacques Le Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres I, Paris 1993, p. 512 –
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches (§ 126), in: G.Colli/
M.Montinari (Hg.), Kritische Studienausgabe, Bd. 2, Walter de Gruyter 1967 –
77 und 1988, S.122: «Alle die Visionen, Schrecken, Ermattungen, Entzückun-
gen des Heiligen sind bekannte Krankheitszustände, welche von ihm auf Grund
eingewurzelter religiöser und psychologischer Irrtümer nur ganz anders,
nämlich nicht als Krankheiten gedeutet werden. […] Zu den grössten
Wirkungen der Menschen, welche man Genies’ und Heilige nennt, gehört
es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit
missverstehen.»
15 Friedrich Nietzsche, Nachlass 1885 – 1887, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.),
Kritische Studienausgabe, Bd. 12, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988,
S. 561: «der Heilige als die mächtigste Species Mensch» – Traduction
personnelle.
300 Günter Krause

prudemment. […] Point de berger et un seul troupeau! Chacun veut la


même chose, tous sont égaux: qui a d’autres sentiments va de plein gré dans
la maison des fous. […] On a son petit plaisir pour le jour et son petit plaisir
pour la nuit: mais on respecte la santé.»16
Dans ce contexte il faut rappeler que, chez Nietzsche, le premier qui
proclame la mort de Dieu est le fol («der tolle Mensch») dans le
troisième livre du «gai savoir»:
«N’avez-vous pas entendu parler de ce fol qui alluma une lanterne en plein
jour, courut au marché criant sans trêve: ,Je cherche Dieu! […] Dieu est
mort, Dieu reste mort!’»17
Mais tout au début de ce troisième livre on peut déjà lire: «Dieu est
mort: mais à voir l’espèce humaine il restera peut-être durant des
millénaires des cavernes dans lesquelles on montrera son ombre. Et nous,
il nous faut de surcroît vaincre son ombre.»18
Nietzsche, comme Hegel et Hölderlin, présente la mort de Dieu
comme un acte de transformation, mais chez Nietzsche cet acte exclut
toute idée de neutralité objective ou subjective. Sa pensée n’accepte ni
l’idée de la totalité ni la passivité. La mort de Dieu provoque chez les
penseurs d’abord une transformation physique (une maladie), une
métamorphose (ce qui est, d’après Platon, le but de la philosophie) pour

16 Friedrich Nietzsche, Ainsi parlait Zarathoustra, dans: Jean Lacoste/Jacques Le


Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres II, Paris 1993, p. 295/96 – Friedrich
Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische
Studienausgabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.19/20: «Seht!
Ich zeige euch den letzten Menschen. […] ,Wir haben das Glück erfunden’ –
sagen die letzten Menschen und blinzeln […] Krankwerden und Misstrauen-
haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. […] Kein Hirt und Eine
Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig
ins Irrenhaus. […] Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die
Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.»
17 Friedrich Nietzsche, Le gai savoir, traduction personnelle d’après Friedrich
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kri-
tische Studienausgabe, Bd. 3, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S.480/81:
«Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage
eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche
Gott!’ […] Gott ist todt! Gott bleibt todt!»
18 Friedrich Nietzsche, Le gai savoir, traduction personnelle d’après Friedrich
Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kri-
tische Studienausgabe, Bd. 3, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988,
S.467: «Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht
noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. –
Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!»
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 301

ensuite être comprise comme une transmutation. Le sacré se présente


désormais sous la forme d’une ombre, l’ombre du sacré, sa trace se
trouve un peu partout dans l’univers humain, dans le corps de l’homme,
son caractère, sa personnalité, sa pensée, ses sentiments, mais également
dans sa langue, son écriture. En outre, cette transformation en ombre
implique une progression qualitative sans pour autant vaincre la force
réactive qui est le sacré. Reste alors la question: Comment peut-on
vaincre l’ombre de Dieu? – Dans l’œuvre posthume nous trouvons la
réponse:
«Si nous ne faisons pas de la mort de Dieu un grandiose
renoncement et une victoire constante sur nous-mêmes, nous avons à
endosser la perte.»19
Cette réponse correspond parfaitement au programme de «Zara-
thoustra», livre qui est d’un côté une critique du pur concept sacré parce
que ce dernier anéantit toute différence qualitative afin d’installer une
objectivité sacrée – et de l’autre une transmutation de la conception
hölderlinienne parce que cette dernière anéantit la volonté de pouvoir
afin de sauver l’idée sacrée de la réconciliation. La critique s’exprime
dans «Zarathoustra» en un langage poétique qui, d’une manière
frappante, est inspiré par Hölderlin à plusieurs égards:
1. concernant sa structure – qui rappelle le modèle d’une ode tragique
développé dans «Empédocle» et «Fondement d’Empédocle»
2. concernant son style hymnique – qui ressemble à «Hypérion», même si
le pathos, chez Nietzsche, se trouve relativisé par la parodie
3. concernant certains motifs – comme celui de la nuit, celui du voyage
(avec des morts – les Grecs – sur le dos) ou celui du pain et du vin:
«La faim s’empare de moi comme un brigand, dit Zarathoustra. Au milieu
des bois et des marécages, la faim s’empare de moi, dans la nuit profonde.
[…] En parlant ainsi, Zarathoustra frappa à la porte de la maison. Un vieil
homme parut aussitôt: il portait une lumière et demanda: ,Qui vient vers
moi et vers mon mauvais sommeil?’ ,Un vivant et un mort’, dit
Zarathoustra. ,Donnez-moi à manger et à boire’ […] Le vieux se retira,
mais il revint aussitôt, et offrit à Zarathoustra du pain et du vin.»20

19 Friedrich Nietzsche, Nachlass 1880 – 1882, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.),


Kritische Studienausgabe, Bd. 9, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 577:
«Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine grossartige Entsagung und einen
fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.» –
Traduction personnelle.
20 Friedrich Nietzsche, Ainsi parlait Zarathoustra, dans: Jean Lacoste/Jacques Le
Rider, Friedrich Nietzsche, Oeuvres II, Paris 1993, p. 298 – Friedrich
Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische
302 Günter Krause

Il faut y ajouter la proximité entre la conception hölderlinienne et celle


de Nietzsche concernant le lien entre la grécité et la pensée moderne qui
consiste en l’idée de l’appropriation du propre par le biais de l’autre –
exprimé déjà dans le titre «Also sprach Zarathustra». La traduction
française – «Ainsi parlait Zarathoustra» – efface presque la référence
biblique («ainsi parla…») mais dans l’original elle est aussi présente que
celle à Héraclite. L’appropriation du propre du prophète Zarathoustra,
c’est-à-dire d’un homme sacré qui fait l’expérience d’une transformation
par la maladie21, passe aussi par une Grèce qui incite à la transmutation et
mène vers le chemin d’auto-dépassement en direction du surhomme. Le
Dieu à venir de Hölderlin devient l’Homme à venir, et les deux
incarnent d’abord la même chose (ou presque), à savoir l’amour entre
hommes (avec, chez Nietzsche et seulement chez lui, une dimension
physique, «hommo-sexuelle»22 évidente) – mais la perspective a changé,
Studienausgabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 24: «Der
Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber. In Wäldern und
Sümpfen überfällt mich mein Hunger und in tiefer Nacht. […] Und damit
schlug Zarathustra an das Thor des Hauses. Ein alter Mann erschien; er trug das
Licht und fragte: ,Wer kommt zu mir und meinem schlimmen Schlafe?’ ,Ein
Lebendiger und ein Todter’, sagte Zarathustra. ,Gebt mir zu essen und zu
trinken […].’ Der Alte ging fort, kam aber gleich zurück und bot Zarathustra
Brot und Wein.» – Vergleiche auch das Kapitel «Das Abendmahl» im 4. Teil des
Zarathustra/Voir également le chapitre «La cène» dans la quatrième partie de
«Zarathoustra».
21 Voir le chapitre «De la vision et de l’énigme» (Zarathoustra III, 2) et sa suite «Le
Convalescent» (Zarathoustra III, 13). Voir également mon article «High noon –
le cauchemar décisif: ,De la vision et de l’énigme’» dans: Herbert Holl (dir.),
Les indécidables, Paris: L’Harmattan 2010.
22 Voir surtout le chapitre sur «l’ami» dans «Zarathoustra» (malheureusement les
traductions françaises exclurent la possibilité de traduire «Kleid» par «jupe»).
Voici la version de Colli/Montinari, tome 4 , version française, traduit par
Maurice de Gondillac, Paris: Gallimard 1971, p. 69/70): «Devant ton ami tu ne
veux porter aucun vêtement? Est-ce en l’honneur de ton ami qu’à lui, tel que
tu es, tu te livres? […] En faisant de soi aucun mystère, l’on irrite; tant vous avez
raison de craindre la nudité! Oui certes, si vous étiez des dieux, de vos
vêtements il vous serait permis d’être honteux. Tu ne saurais pour ton ami te
faire assez beau […] Ton ami, déjà le vis-tu dans son sommeil – afin
d’apprendre comment il paraît? Sinon, de ton ami quel est donc le visage? Dans
un miroir grossier et imparfait, c’est ton propre visage.» – Friedrich Nietzsche,
Also sprach Zarathustra, in: G.Colli/M.Montinari (Hg.), Kritische Studienaus-
gabe, Bd. 4, Walter de Gruyter 1967 – 77 und 1988, S. 72: «Du willst vor
deinem Freunde kein Kleid tragen? Es soll deines Freundes Ehre sein, dass du
dich ihm giebst, wie du bist? […] Wer aus sich kein Hehl macht, empört: so
sehr habt ihr Grund die Nacktheit zu fürchten! Ja, wenn ihr Götter wäret, da
Transformations du sacré au XIXème siècle en Allemagne 303

la direction a été inversée, la passivité de la subjectivité est transformée


en activité des sujets. L’amour chez Nietzsche n’est pas en route vers
l’homme, il ne vient pas, Zarathoustra est obligé de le chercher,
physiquement, auprès de chaque individu; la foule ne le suit pas
automatiquement, il trouve ses compagnons un par un. Une nouvelle
alliance se construira à partir d’une politique de transmutation de la
maladie qui passe par une nouvelle poésie née de l’esprit de la parodie,
qui, de son côté, s’applique aussi au sacré afin de construire le simulacre
d’un texte sacré, à savoir le 5ème évangile.

dürftet ihr euch eurer Kleider schämen. Du kannst dich für deinen Freund
nicht schön genug putzen […] Sahst du deinen Freud schon schlafen, – damit
du erfahrest, wie er aussieht? Was ist doch sonst das Gesicht deines Freundes?
Es ist dein eignes Gesicht, auf einem rauhen und unvollkommnen Spiegel.»
Déjà le jeune professeur de philologie Nietzsche a critiqué l’absence totale
d’une réflexion sur la pédophilie et l’homosexualité dans les cours sur la culture
grecque de son collègue et ami paternel à Bâle, Carl Jakob Burckhardt.
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische
Apriori
Transzendierung des Historischen oder Historisierung
des Transzendentalen?
Knut Ebeling

Das historische Apriori ist ein hölzernes Eisen: Es ist eine wirksame
Waffe im Arsenal der philosophischen Metaphysikkritik – und zugleich
ein blinder Fleck auf jeder philosophischen Landkarte. Man findet
diesen Fleck weder in den geläufigen Wörterbüchern der Philosophie
verzeichnet, noch ist er in dem historischen Wörterbuch, dem Histori-
schen Wçrterbuch der Philosophie aufgelistet.1 Religiöse oder gar psycho-
logische Apriori mögen es in die Rangliste der Philosophiegeschichte
geschafft haben; doch dasjenige Apriori, das am deutlichsten gegen jede
metaphysische Auffassung der Geschichte vorgeht, wird mit keiner
Zeile erwähnt. Tatsächlich ist dieses seltsame Apriori, das im meta-
physikkritischen Niemandsland zwischen Nietzsche und Foucault ent-
wickelt wurde, mitnichten das erste Thema, das einem bei der promi-
nenten Allianz zwischen diesen beiden Philosophen einfällt. Selbst
wenn man das Thema auf Nietzsche und die Geschichte, oder spezi-
eller, auf Nietzsche und die frankophonen Versionen der Geschichte,
oder noch spezieller, auf Nietzsche und Geschichte auf Französisch
eingrenzt, erscheint das historische Apriori kaum auf dem Monitor der
Untersuchung. Das historische Apriori ist so verhüllt und unerkannt wie
es in der jüngeren Metaphysikkritik wirksam ist.2 Zunächst mag die
Konjunktur des Begriffs nur als Hinweis darauf dienen, daß sich „in der
Nachfolge Cassirers und Foucaults […] ein verkappter Erbfolgekrieg um

1 Historisches Wçrterbuch der Philosophie. Band 1: A-C, hg. von Joachim Ritter,
Basel und Stuttgart 1971, S. 462 ff.
2 Eine Eingabe des Begriffs „historisches Apriori“ in der Suchmaschine Google
am 16. 1. 2007 ergab ca. 46.400 Einträge.
306 Knut Ebeling

den seit der Abdankung einer ,Kritik der reinen Vernunft‘ nunmehr
vakanten Thron des Transzendentalen [abspielt].“3
Bevor sich Medienwissenschaftler anmaßen konnten, um den
Thron des Transzendentalen zu werben, stand auf dem Treppchen je-
mand anders: jener Michel Foucault, der in der medienhistorischen
Ahnenreihe prominent erscheint. Einerseits teilen Medien- und Kul-
turwissenschaftler durchgängig Foucaults und Nietzsches Kritik der
Metaphysik;4 andererseits versuchen sie, den „Thron des Transzen-
dentalen“ medial zu besetzen. Dieser Versuch – der nach dem Strick-
muster verläuft: auf Kants formales Apriori folgte Foucaults historisches
Apriori, das wiederum vom einem medialen oder technischen Apriori
abgelöst wird – stellt unter anderem den Anlaß und virulenten ,Jetzt-
punkt‘ dieses Beitrags dar.5 Schließlich war schon Foucaults historisches
Apriori begriffshistorisch so schwer zu fassen gewesen, daß es nicht in
historischen Wörterbüchern erschien. Daher könnte man auf die Idee
kommen, nach dem historischen Apriori von der umgekehrten Seite her
zu suchen: Nicht das letzte, sondern das erste, was einem beim Thema
Nietzsche und die Geschichte einfällt – zumal in der besagten Ver-
schränkung aus Nietzsche und dem bekennenden Nietzscheaner Fou-
cault – ist natürlich die Methode der Genealogie: jene Kampfansage an
die geschichtsphilosophische und mithin metaphysische Auffassung von
Geschichte. Die metaphysikkritische Genealogie empfiehlt sich natur-
gemäß beim Überthema Nietzsche und Frankreich, spezieller für
Nietzsche und Foucault. Tatsächlich ist die Methode der Genealogie
mittlerweile derart einschlägig, daß man auf den berühmten Doppelpaß
zwischen Nietzsches Genealogie der Moral von 1881 und Foucaults An-
trittsvorlesung am Collge de France hundert Jahre später, Nietzsche, die
Genealogie, die Historie, 6 kaum noch hinzuweisen braucht. Titel, Thesen

3 Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, in: dies., Kulturge-


schichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Archiv fr Mediengeschichte 6, Weimar
2003, S. 5.
4 „Kultur- und Mediengeschichte [teilen] bestimmte metaphysik- und herme-
neutikkritische Grundvoraussetzungen stillschweigend.“ Engell/Siegert/Vogl,
Editorial (Anm. 3), S. 9.
5 Vgl. Knut Ebeling, „Das technische Apriori“, in: Kulturgeschichte als Medienge-
schichte (oder vice versa?). Archiv fr Mediengeschichte 6, hg. von Lorenz Engell/
Joseph Vogl/Bernhard Siegert, Weimar 2006, S. 11 – 22.
6 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Michel Fou-
cault, Schriften in vier Bnden/Dits et Ecrits, Band II: 1970 – 1975, hg. von Daniel
Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am
Main 2002, S. 166 – 190. Vgl. dazu: Knut Ebeling, „Nietzsche, die Genealogie,
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 307

und die durchgängig metaphysikkritischen Temperamente dieser Texte


sind zum fait accompli der jüngeren Theoriegeschichte geworden. Es ist
nicht nötig, sie zu wiederholen.
Doch das Thema der Genealogie ist nicht das einzige Thema, das
man beim Stichwort einer metaphysikkritischen Geschichtsauffassung
bei Nietzsche und Foucault ins Feld führen kann. Ein zweites Thema
wäre das historische Apriori. Zu allem Überfluß läßt sich diese nietz-
scheanische Geschichtsschreibung durchaus auch mit dem Namen oder
dem Titel ,Frankreich‘ versehen: Neben der Genealogie ist das histo-
rische Apriori ein zweites und flankierendes Thema, das den ,franzö-
sischen Nietzsche‘ kennzeichnet – das einen Nietzsche markiert, der
eine geschichtsphilosophische, man könnte auch sagen: eine deutsche
Tradition verläßt und eine positivere, positivistischere Richtung ein-
schlägt – die man durchaus mit dem Kürzel ,Frankreich‘ versehen kann.
Das Thema des historischen Apriori ist also eher von Foucault be-
kannt als von Nietzsche. Doch auch bei Foucault wurde das historische
Apriori nie sonderlich prominent. Dabei war das historische Apriori, im
Gegensatz zu vielen plakativeren Slogans Foucaults – wie sie in den
gerade erscheinenden Foucault-Handbüchern mittlerweile nachzulesen
sind – durchaus eine seiner wirksameren Formeln. Wirksam war das
historische Apriori, das gern mit Cassirers „symbolischen Formen“
verglichen wird, nicht nur in Bezug auf die kommenden Forscherge-
nerationen, die von dieser Konzeption eine neue Richtlinie in Sachen
Historisierung zugewiesen bekamen, hinter die man nicht zurück-
konnte. Wirksam war das historische Apriori vor allem auch, um eine
gewisse Tradition sichtbar zu machen. Diese Tradition war eine
nietzscheanische – und keine kantische oder neukantianische. Ein his-
torisches Apriori wäre also gewissermaßen ein neunietzscheanisches
Apriori: Ein Apriori, das vielleicht auch ein Nietzsche hätte unter-
schreiben können.

Nietzsches Geschichte(n)

Mit anderen Worten: Das einschlägige Thema der nietzscheanischen


Geschichts- und Metaphysikkritik soll einmal nicht von der Seite der
Genealogie her erzählt werden – sondern von der des historischen
die Archäologie. Ethnologie der eigenen Kultur und Geschichte der Gegenwart
bei Foucault“, in: Zeitenwende – Wertewende, hg. von Renate Reschke, Berlin,
S. 159 – 163.
308 Knut Ebeling

Apriori. Das Thema der Genealogie bei Nietzsche wird durch das
Thema des historischen Apriori ergänzt. Schließlich ist das eine Thema,
die Genealogie, nicht nur ebenso populär wie das andere unbekannt ist;
beide Themen sind sich ohnehin bereits näher, als man meinen sollte.
Denn nicht nur die Genealogie ist eine Methode, die ihre Prägung nach
Nietzsche von Foucault erfuhr; auch das historische Apriori ist eine
Konzeption Foucaults, die das nietzscheanische Projekt einer Meta-
physikkritik weiterführt. Doch im Unterschied zur Methode der Ge-
nealogie kann sich die Konzeption des historischen Apriori nicht auf
eine nietzscheanische Wurzel berufen. Das Thema des historischen
Apriori bei Nietzsche ist bei weitem nicht so einschlägig wie die Me-
thode der Genealogie – im Gegenteil: Während er der genealogischen
Methode ein eigenes Buch widmete, kam ein so bezeichnetes histori-
sches Apriori bei Nietzsche nie vor. Was es bei Nietzsche aber durchaus
gegeben hat, ist eine anti-geschichtsphilosophische Haltung zur Ge-
schichte. Ein Hinweis auf die Genealogie der Moral genügt, um diese anti-
geschichtsphilosophische Haltung zur Geschichte zu belegen. Aber auch
in anderen Texten von Nietzsches mittlerer Werkphase tritt diese his-
torische Aggression gegen die Philosophie auf – wie zum Beispiel in
jenem zehnten Paragraphen von Menschliches, Allzumenschliches II. Dort
wird behauptet, daß „die ganze Philosophie […] von jetzt ab der His-
torie verfallen“ (MA 384) sei:
„Der Historie verfallen. – Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler,
also alle Metaphysiker feinern und gröbern Korns, ergreifen Augen-,
Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, daß es mit
dem Satze: die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen,
seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer Schmerzen wegen, zu verzeihen,
daß sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen: die
Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich
werden und an Wirkung verlieren.“
Genau diese Verfallenheit der Philosophie gegenüber der Historie
wurde durch das historische Apriori auf den Begriff gebracht. In der Tat
hat man gute Gründe für die Vermutung, daß diese Haltung Nietzsches
durchaus Foucaults Metaphysikkritik des historischen Apriori ent-
spricht. Das historische Apriori erlaubt es, Nietzsches Metaphysikkritik
an der Geschichte auf den Begriff zu bringen und sie mit einem ent-
schieden zeitgenössischen Akzent zu versehen. Neben der Methode der
Genealogie ist das historische Apriori ein weiterer Versuch des zwan-
zigsten Jahrhunderts, eine nietzscheanische Geschichte zu betreiben.
Auch wenn Nietzsche ein historisches Apriori an keiner Stelle erwähnt,
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 309

so ist zu vermuten, daß er gewiß mit dieser verqueren Konzeption


geliebäugelt hätte – und das nicht nur wegen ihrer bereitwilligen
Verdrehung der Philosophiegeschichte. Auch aufgrund Nietzsches ei-
gener Aversion gegen metaphysische Aufladungen von Geschichtsver-
läufen läßt sich seine Zustimmung zu dieser Konzeption annehmen.
Die offen metaphysikkritische Phase von Nietzsches Geschichts-
kritik findet sich natürlich am ehesten in dessen mittlerer, ,positivisti-
scher‘ Phase. Was sich im glücklichen Positivismus Nietzsches in Bezug
auf die Geschichte artikuliert, ist ein anderer Ton als die juvenile Ge-
schichtskritik, die man aus der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung kennt.
Wer den angestrengt-polemischen Ton der Reflexion über Nutzen und
Nachtheil der Historie fr das Leben im Sinn hat, für den hört sich
Nietzsches positivistische Geschichtsauffassung durchaus ungewohnt an.
Man erinnert sich: In der zweiten Unzeitgemßen Betrachtung war die
Historie vor allem in ihrer historistischen und geschichtsphilosophischen
Form verurteilt worden – verurteilt als Philister-Forschung und ange-
paßte historische Besserwisserei. Die Avantgarde des Denkens mußte
etwas anderes betreiben. Wer also an Nietzsches frühe Geschichtsschelte
denkt, den kann seine historische Kritik, seine Geschichte als Meta-
physikkritik nur überraschen. Die ehemals angegriffene Geschichte wird
plötzlich zum Werkzeug einer Demontage der Metaphysik, zur Waffe
zur Anfechtung jeder Geschichtsphilosophie. Beispielsweise in Gestalt
der Genealogie erscheint das Geschichtliche, um es gegen die Geschichte
zu wenden. Plötzlich wird die Geschichte nicht mehr als historistische
Besserwisserei attackiert; mit einem Mal ist es das Historische selbst, das
Sand ins Getriebe der Geschichtsphilosophie streut. Plötzlich ist „die
ganze Philosophie der Historie verfallen“ – und werden geschichtliche
Abläufe als Waffe im Kampf gegen die Metaphysik eingesetzt. Das wäre,
grob gesagt, die Funktion von Nietzsches Geschichte als Kritik.
Nietzsches Kritik richtete sich bekanntlich nicht nur an die Adresse
der Geschichtsphilosophie. Bekanntlich hatte er alle möglichen
„Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker
feinern und gröbern Korns“ im Visier. Im Klartext: Nietzsche be-
kämpfte alle möglichen Varianten von Apriori, alle Versionen von
Vorgängigkeiten. Man muß kein Wahrsager sein, um Nietzsches
Apriori-Aversion zu erkennen. Unverkennbar gehörte er zu denjenigen
Skeptikern, denen sich bei jeder Voreinstellung der Erkenntnis die
Nackenhaare kräuselten. Nietzsche konnte dem Mechanismus des
Apriori, das etwas in Reih’ und Glied bringt, was sich nicht unbedingt
derart aufstellen läßt, nur feindlich gegenüber stehen. Aus diesem Grund
310 Knut Ebeling

wäre ein historisches Apriori nur schwer mit Nietzsche in Verbindung zu


bringen, wenn man es dem Wortlaut nach versteht: als Gründung eines
neuen Apriori, als neue erkenntnistheoretische Konstante, als neue
Transzendentalie, die allem zuvorkommt – als Gründungsgeste einer
neuen Metaphysik. Doch genau darauf läuft das historische Apriori nicht
hinaus. Foucaults historisches Apriori legt den Schwerpunkt auf die
Historisierung des Transzendentalen und nicht auf die Transzendierung
der Geschichte. Es ist ein Apriori gegen die Formulierung aller Apriori,
ein Unternehmen zur Abschaffung aller Apriori – ein trojanisches Pferd,
das mit seiner radikalisierten Historisierung jede apriorische Verein-
heitlichung gleichsam von innen ausräuchert.

Geschichte nach Nietzsche


Doch was besagte das historische Apriori, was das genealogische Thema
noch nicht formuliert hatte? Und was für eine Geschichtsauffassung
kann man dem ,französischen‘ Nietzsche zuschreiben? Es wurde bereits
gesagt, daß der Begriff des historischen Apriori die positive oder posi-
tivistische Ausrichtung der Geschichtskritik des mittleren Nietzsche
verdeutlicht, das Projekt einer Positivierung von metaphysischen Be-
griffen. Nietzsches Arbeit an der Abschaffung der Apriori landet mög-
licherweise weniger noch bei einer Wiederholung der Transzenden-
talphilosophie auf historischer Ebene als sein französischer Nachfolger
Foucault. Der hatte in dem besagten Essay „Nietzsche, die Genealogie,
die Historie“ hinlänglich deutlich gemacht (um auch die zweite Frage
zu beantworten) worauf Nietzsches Position hinauslaufen könnte – und
worum es auch bei einem historischen Apriori ginge: um eine Ge-
schichte nämlich, die vom Register der Repräsentation zu dem der
Codierung wechselt. Diese positivistischere Geschichtsauffassung
könnte man als das Geschichtsdenken des ,französischen‘ Nietzsche
betrachten. In allen Forschungen der hier zitierten mittleren Werkphase
Nietzsches geht es weniger um eine neue Geschichte, eine andere
Geschichtsschreibung oder Korrekturen am Bild der Geschichte. Es geht
zunächst um überhaupt kein Bild mehr, sondern um die Zerschlagung
des Spiegels der Repräsentation der Geschichte.
Was die Suchbewegungen aufspüren, die mit dem Stichwort des
historischen Apriori versehen wurden, ist so etwas wie die Codierung
der Geschichte oder die Codierung von Geschichtsschreibungen: Das
historische Apriori stöbert diejenigen verborgenen Punkte auf, die zu
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 311

dieser und keiner anderen Geschichte geführt haben; diejenigen Ent-


scheidungen, Weichenstellungen und Schaltpläne, die dazu geführt
haben, diese Geschichte zu schreiben und keine andere. Kurz: Worauf
es dem historischen Apriori ankommt, ist zweierlei: Einmal die besagte
Kritik der Metaphysik, der mit den Historisierungen gängiger Apriori
ein Riegel vorgeschoben wird. Auf der anderen Seite jedoch sollen
diese Historisierungen selbst nicht wieder ins Absolute kippen und zur
Transzendentalie werden. Man darf nicht vergessen, daß es (zumindest
Nietzsche und Foucault) nicht nur um eine Neubesetzung des Throns
des Transzendentalen ging – sondern auch um dessen Nichtbesetzung.
Schließlich wird die Geschichte hier selbst nicht als Erstes verstanden, als
Apriori, sondern als etwas Aufgesetztes, Späterkommendes, Sekundäres.
Hier ist Nietzsche durchaus mit den Schulphilosophen d’accord – doch er
verwirft das Historische nicht zu Gunsten eines Rationalen, Logischen
oder wie auch immer gearteten anderen. Der Clou ist bei Nietzsche –
wie auch bei Foucault – daß das Historische nur verworfen wird, um
eine noch radikalere Geschichtsschreibung einzuführen – eine Ge-
schichte, die auch die Geschichte noch historisiert. In dieser doppelten
Buchführung wird das Historische aufgegeben zugunsten eines noch
historischeren. Diesem noch historischeren geht es einfach darum, auch die
Geschichte zu historisieren, darum, historischer und historisch genauer
zu sein als die Geschichte. Der Thron des Transzendentalen wird also
nicht durch das Historische besetzt, sondern das Historische wird durch
dessen Radikalisierung ersetzt.

Foucaults Geschichte

Dieses positive und positivistischere Geschichtsdenken läßt sich be-


sonders gut durch die Brille des positivistischsten Nietzsche-Lesers des
20. Jahrhunderts lesen – durch die Brille des „glücklichen Positivisten“7
Michel Foucault. Tatsächlich wagte er es, im gleichen Atemzug mit
seinem unverschämten Positivismus im gleichen Buch noch eine zweite
Erbsünde an der Tradition der deutschen Geistesgeschichte zu begehen
– und beschwor das hölzerne Eisen des „historischen Apriori“8 herauf.
Zwar berief sich dieses Apriori naturgemäß auf Kant, den Inhaber des
Copyrights für diesen philosophischen Begriff in der Moderne. Den-

7 Michel Foucault, Archologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973, S. 182.


8 Foucault, Archologie (Anm. 7), S. 183 ff.
312 Knut Ebeling

noch machte Foucaults „historisches Apriori“ eine Tradition sichtbar,


die eher die Verbiegung oder Umleitung dieser Tradition darstellte –
eine Umleitung oder auch Umkehrung des Apriori, die man durchaus
mit dem Namen Nietzsche verbinden kann. Man muß gewiß nicht auf
Nietzsches Antipathie jedem Apriori gegenüber verweisen, auf den Haß
gegenüber jeder vorgängigen, und d. h. natürlich metaphysischen
Grundeinstellung des Denkens, um zu zeigen, daß Nietzsche auf einer
Wellenlänge mit der Paradoxie namens historisches Apriori philoso-
phierte. Dieser Antipathie muß eine derart verquere Konzeption wie
Geigen in den Ohren geklungen haben.
Bei Foucault stand das historische Apriori für dessen berüchtigte
erkenntniskritische oder epistemologische Einstellung der Geschichte.
In den frühen wissenshistorischen oder archäologischen Arbeiten Fou-
caults muß diese Einstellung derart berüchtigt gewesen sein, daß ihr
Autor ihr in vorauseilendem Gehorsam höchstselbst jene „schrille
Wirkung“9 unterstellte, von der in der Archologie des Wissens die Rede
war. Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht einmal falsch. Denn als
„schrill“ läßt sich sein hölzernes Eisen in der Tat beschreiben:
Schließlich handelt es sich beim historischen Apriori um eine Kombi-
nation von zwei hervorragenden philosophischen Qualitäten – bei
deren Zusammenstellung sich (nicht ganz ohne Grund) die Nacken-
haare von Schulphilosophen sträuben. Die Formel war „schrill“, weil sie
verband, was in der durchkantianisierten Welt nicht zusammengehörte,
bzw. was sich in dieser Welt nicht berührte: Das Historische und das
Apriorische. Diese beiden Elemente waren sich in dieser (schul-)phi-
losophischen Welt so fremd wie Wasser und Öl. Hier wurden zwei
Dinge vermengt, die absolut nichts miteinander zu tun hatten: Das
Apriori – also das, was vor aller Erfahrung kommt – und die Geschichte,
die per Definition erst auf vergangene Erfahrungen folgen kann.
Schulphilosophisch beging das historische Apriori also einen kapitalen
Fehler: Es verband die Vorgängigkeit des Apriorischen mit der Nach-
träglichkeit des Historischen. Es kombinierte das, was vor der Erfahrung
ist mit dem, was ihr nachfolgt und nur in der Erfahrung ist: also das
Erfahrungsunabhängige und das Erfahrene, das Analytische und das
Empirische, das Rationale und das Sinnliche – ein philosophischer faux-
pas.
Foucault vereinte die Sterilität des Rationalen und die Infiziertheit
des Historischen in einem einzigen Begriff. Dieser Begriff war derart

9 Foucault, Archologie (Anm. 7), S. 184.


Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 313

heterogen organisiert, daß man ihn in der Geschichte der Philosophie


nur als Skandalon auffassen konnte – weswegen man ihn aus allen reinen
Begriffsgeschichten strikt fernzuhalten hatte. Das historische Apriori war
zu heterogen, als daß es in die schulphilosophische Welt gepaßt hätte. Es
muß diese Heterogenität und Verschiedenartigkeit dessen gewesen sein,
was vom historischen Apriori zusammengebracht wurde, die für die
schulphilosophische Ächtung dieser Konzeption gesorgt haben. Dabei
kann man deren ausgewiesene Heterogenität nicht nur als ihre
Schwäche ansehen. Selbstredend kann diese Schwäche – beispielsweise
aus einer nietzscheanischen Perspektive – auch als die eigentliche Stärke
des historischen Apriori betrachtet werden. Schließlich belegen nicht
nur Internet-Einträge, daß diese Figur auch dreißig Jahre nach Foucault
noch interessiert – und das nicht trotz, sondern wegen ihrer Eigentüm-
lichkeit. Indem das historische Apriori philosophisch getrennte Welten
mehr oder weniger elegant miteinander verschränkte, hat es die nietz-
scheanische Blickrichtung auf die Geschichte ins zwanzigste Jahrhundert
importiert und damit entschieden aktualisiert.

Die Sabotage der Geschichtsphilosophie

Was sagt, was besagt das historische Apriori? Dieser Agent der Ab-
schaffung aller Apriori formulierte zunächst eine paradoxe Erkenntnis:
Das Apriorische ist historisch, aber das Historische nicht apriorisch.
Einerseits ist das, was apriorisch zuvor kommt, nichts Zuvorkommendes
– weil nämlich auch das Apriorische eigentlich historisch ist. Doch
andererseits kann das Historische nicht apriorisch sein. Es kann schon
deshalb nicht zuvor kommen, weil die Geschichte sich empirisch er-
eignet haben muß. Die Geschichte ist also ihrer eigenen Definition
gemäß immer das, was danach kommt – vielleicht auch das, was zu spät
kommt. Aus diesem Grund gibt es eigentlich nichts, was dem apriori-
schen Ansinnen fremder gegenüber steht, als das empirische Historische.
Denn das Historische ist – nicht nur bei Kant – Teil der empirischen
Welt, sie ist streng a posteriori. Der Trick des historischen Apriori besteht
also darin, zwei Welten gegeneinander auszuspielen: die historische und
die apriorische Dimension des Denkens. Formuliert man ein histori-
sches Apriori, so macht man eine paradoxe Aussage: Man sagt, daß
zuvor kommt, was eigentlich per definitionem nachträglich ist – näm-
lich die Geschichte. Und man sagt, daß das historisch und nachträglich
314 Knut Ebeling

ist, was eigentlich apriorisch zuerst kommt. Eine verwirrende Angele-


genheit.
Man könnte sagen, das historische Apriori installiert einen logischen
Kreisverkehr. Es sagt, daß das nachträglich ist, wovon apriorisch ange-
nommen wird, daß es zuvor kommt – und daß das zuvor kommt, was
eigentlich nachträglich ist. Die Bedingung der Gültigkeit jeder Aussage
ist ihre Widerlegung. Psychologisch gesprochen, hat man es mit dem
Problem eines double-bind zu tun, in dem eine Behauptung auf Vor-
aussetzungen aufbaut, die nicht ihr, sondern ihrem logischen Gegenteil
das Wort reden. Für das Problem des Apriori, also des logischen vor-
oder nachher, könnte man also salopp formulieren: Vor dem Spiel des
historischen Apriori ist immer nach dem Spiel und umgekehrt. In
diesem Kreisverkehr wird jede Reihenfolge und damit jede Geschichte
zum Leerlauf verurteilt – und man könnte in der Tat annehmen, daß
dieser geschichtsphilosophische Leerlauf das eigentliche Ziel des histo-
rischen Apriori ist. Diese Konzeption schickt jede erkenntnistheoreti-
sche Spekulation über ein grundsätzliches Vorher oder Nachher ins
Leere. Die Leere besteht in der logischen und erkenntnistheoretischen
Unentscheidbarkeit des Problems, das exzediert wird. Das historische
Apriori verursacht also einen logischen Exzeß, einen Exzeß der logi-
schen Formen. In Folge dieses Exzesses bricht die Spekulation am Ende
zusammen. Aus diesem Grund könnte man das historische Apriori auch
als Exzeß der Geschichte oder als geschichtsphilosophischen Sabotage-
akt bezeichnen.
Man berichtet in der Tat nichts Neues, wenn man bekannt gibt, daß
dieser Exzeß und diese Sabotage von Nietzsche und Foucault ange-
strengt wurde. Dabei wurde die strategische Lage selten bedacht, in die
beide Denker durch ihr gemeinsames Projekt gebracht wurden: Denn
so heroisch ihr Unternehmen zunächst klingt, bringt es beide Denker
(wie jeder andere Sabotageakt auch) in eine prekäre Lage. Das histori-
sche Apriori manövriert Nietzsche und Foucault in einen Engpaß
zwischen Philosophie und Geschichte. Das von Nietzsche angedachte
und von Foucault weitergeführte Projekt einer historischen Kritik der
Metaphysik befindet sich genau zwischen den Welten, die es gegen-
einander ausspielt: zwischen der Geschichte und dem Apriori. Diese
Welten sind so wirkmächtig, daß jedes zwischen ihnen angesiedelte
Projekt Gefahr läuft, glatt zerrieben zu werden. Nicht zufällig handelten
sich alle Experimente mit diesem Denkstil im Niemandsland zwischen
Philosophie und Geschichte Angriffe von beiden Seiten ein: Zu his-
torisch für die Philosophen, zu philosophisch für die Historiker – so
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 315

lautete der Vorwurf, der sowohl gegen den positivistischen Nietzsche,


als auch gegen Foucault und seine Nachfolger gerichtet wurde. Doch
läßt man diese Vorwürfe und Risiken hinter sich, so wird deutlich, daß
mit Hilfe des Begriffs des Apriori an der Schnittstelle zwischen Ge-
schichte und Philosophie ein neuer Denkstil zwischen den Sphären
entwickelt wurde.

Der Thron des Transzendentalen


Der Vorwurf der Unentschiedenheit des historischen Apriori verdankt
sich der schlichten Tatsache, daß eine theoretische Begründung dieser
Konzeption durchaus schwerfällt. Dieser Befund könnte auch der
Grund für die Tatsache sein, daß diese Begründung von Foucault gar
nicht erst angestrengt wird: In der Archologie des Wissens wird das
historische Apriori eher proklamiert als fundiert. Aus diesem Grund
wird man mehr Glück als auf der theoretischen Ebene auf einer prag-
matischen Ebene haben: Das historische Apriori läßt sich auch als
Handlungsanweisung für die philosophische Forschung lesen, als
Richtlinie, nach der jede Philosophie sich richten muß. Das Apriori,
auch das historische, geht davon aus, daß immer schon etwas vorgefallen
ist, wenn etwas anderes vorfällt – daß es immer schon eine Geschichte
gibt, auf die auch die abstraktesten Denkbewegungen, -figuren oder
-formeln aufsetzen. Selbst wenn die Verstandesbegriffe von Kant so
jungfräulich vom Himmel heruntergebetet werden wie ein Gottesbe-
weis, tragen auch diese vorgängigsten Begriffe (wie beispielsweise
Raum und Zeit) das Mal der Geschichte, der sie entstammen. Wie
dieses Mal des Historischen auf dem Apriorischen aussieht, hat Foucault
in seinem philosophischsten Buch demonstriert, der Ordnung der Dinge.
In der Ordnung der Dinge, die zuweilen mit Cassirers Philosophie der
symbolischen Formen verglichen wurde, ist das historische Apriori –
wie Cassirers symbolische Form – die unsichtbare Klammer, die die
großen zeitlichen Einheiten der Episteme äußerlich einrahmt und
umfaßt. Kant und seine Apriori erscheinen hier beispielsweise einge-
rahmt von der Episteme, dem Zeichensystem der Klassik, das auch den
kantischen Apriori seinen Stempel aufdrückte. Das einzige Problem bei
diesen großformatigen Klammern war nur, daß Foucault in seiner Ar-
chologie der Humanwissenschaften diese nicht als historische, sondern als
archäologische bezeichnete – weshalb er eigentlich von einem ,ar-
chäologischen Apriori‘ hätte sprechen müssen. Doch gleichviel; was
316 Knut Ebeling

diese Klammer eines historischen oder archäologischen Apriori zeigte,


war die Tatsache, daß auch die reinsten philosophischen Vorgängig-
keiten – die Kant in der Kritik der reinen Vernunft rauf- und runterde-
kliniert hatte – bereits eine Geschichte besitzen: Auch das Vorgängige
ist historisch imprägniert – womit es nicht mehr rein vorgängig ist.
Nach der paradoxen Lehre des historischen Apriori verhält es sich also
genau umgekehrt: Die Verstandesbegriffe sind nicht vorgängig, sondern
das Vorgängige ist (begriffs-)historisch. Was vorhergeht, ist also immer
eine Geschichte – eine Geschichte der Begriffe, beispielsweise der
„Moral-Begriffe“, die Nietzsche bekanntlich in der Genealogie der Moral
heraufbeschwor; oder eine Geschichte der Diskurse, die Foucault be-
kanntlich in der eben erwähnten Ordnung der Dinge durchführte; oder
eine Geschichte der Techniken und Medien, der Aufschreibesysteme
und Schreibtechniken, wie sie im Anschluß an Foucault immer öfter
durchgeführt werden – um nur die geläufigsten Anwärter auf den va-
kanten „Thron des Apriorischen“10 zu nennen.
Mit anderen Worten: Das historische Apriori ist weniger ein aka-
demischer Spielverderber als eine neue philosophische Spielregel. Diese
neue philosophische Spielregel erweist sich (wie jede Spielregel) eher in
ihrer Ausführung und Performanz als in ihrer theoretischen Begrün-
dung. Wie sollte man auch eine philosophische Begründung für die
historische Einrahmung aller philosophischen Forschung finden? Denn
auf eine derartige historische Einrahmung aller philosophischen For-
schung läuft das historische Apriori hinaus. Sie läßt sich an allen Pro-
jekten beobachten, die mit historischen Apriori operieren: Sowohl
Foucaults Diskursgeschichte als auch die heutige Medien- oder Tech-
nikgeschichte behaupten diese historische Einrahmung jeder philoso-
phischen Erkenntnis.11 Stets wird behauptet, daß den Entwicklungen

10 Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, wie Anm. 3, S. 7. In


einem früheren „Editorial“ sprechen die Erfinder dieser Formel davon, daß
Medien den „Möglichkeitshorizont und Bedingungsgefüge des Historischen“
bildeten. „Medien gehen als Ermöglichungen dem, was ist, voraus“. Lorenz
Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl, Editorial, in: dies., Medien der Antike.
Archiv fr Mediengeschichte 3, Weimar 2003, S. 8. Vgl. dazu auch Geoffrey
Winthrop-Young, Friedrich Kittler zur Einfhrung, Hamburg 2005, S. 75.
11 Winthrop-Young (Anm. 10, S. 76) stempelt Kittler zum „Vertreter eines
,technisch-medialen Apriori’“, das so definiert wurde, „daß technische Ver-
mittlungsverhältnisse gesellschaftlichen, kulturellen und epistemologischen
Strukturen vorausgesetzt sind.“ D. Spreen, Tausch, Technik, Krieg: Die Geburt
der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Hamburg 1998, S. 7. In einem
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 317

des Geistes etwas anderes zuvorkomme; stets wird der Formulierung


neuer Apriori mit der Behauptung ein Riegel vorgeschoben, daß jedem
Apriorischen unsichtbar ein Historisches vorauseile – daß jede zeitlose
und übergeschichtliche Determination der Erkenntnis immer noch
historisch determiniert sei.

Die Transzendierung des Historischen

An dieser Stelle erscheint ein ernstes Problem: Wenn das Geschichtliche


stets und immer vorauseilt – ist es dann nicht selbst ein Apriori? Birgt die
systematische historische Unterlaufung der Apriori nicht selbst wieder
die Gefahr der Gründung einer neuen Transzendentalie? Führt die
programmatische Metapysikkritik am Ende nicht wieder in die meta-
physischen Fahrwasser, die man verlassen wollte? Wird der „vakante
Thron des Transzendentalen“ nicht sofort wieder durch das Historische
besetzt? Jede systematische Kritik der Metaphysik scheint mit dem
Risiko behaftet zu sein, eine neue metaphysische Transzendentalie zu
gründen. Man mag diese Gefahr bereits bei Nietzsche am Werk sehen,
beispielsweise in seiner oben erwähnten Formulierung, „die ganze
Philosophie“ tendiere zur Geschichte. Es ist durchaus zu befürchten,
daß wer mit Ganzheiten zu rechnen anfängt, bei der Formulierung von
Apriori enden muß. Nach Nietzsche zeichnet sich dieses Risiko sowohl
in Foucaults Diskursgeschichten als auch in den ihnen nachfolgenden
kulturwissenschaftlichen Wissens-, Medien- und Technikgeschichten
ab. Foucaults genealogischen Untersuchungen wurde mehr als einmal
vorgehalten, sie hätten das Moment der Macht transzendentalisiert; an-
dererseits läßt sich von vielen Mediengeschichten durchaus behaupten,
sie würden die Medien als neue Transzendentalie behandeln mit einer
Metaphysik der Technik in ihrem Kern.12
Doch kann das Historische überhaupt zum Transzendentalen ten-
dieren? In beiden zitierten Fällen, der Macht- und der Medien-Meta-
physik, geht es um die Frage, ob eine grundlegendere Ebene gedacht
dritten „Editorial“ sprachen Lorenz Engell/Joseph Vogl (Mediale Historiogra-
phien. Archiv fr Mediengeschichte 1, Weimar 2001, S. 6) von einem „medialen
Apriori“ der Mediengeschichte, das sich an das historische Apriori Foucaults
anschließe.
12 Vgl. stellvertretend die bei Winthrop-Young (Anm. 10) resümierte Kritik
sowie Hartmut Winkler, Diskursçkonomie. Versuch ber die neue konomie der
Medien, Frankfurt am Main 2004, S. 198.
318 Knut Ebeling

werden kann als das Historische. Sowohl in Foucaults machttheoreti-


schen Untersuchungen als auch in vielen medienhistorischen Analysen
wird etwas angenommen, das der Geschichte in ihrer offiziellen, nie-
dergeschriebenen Form zuvor kommt – etwas, das darüber entscheidet,
welche Geschichte geschrieben wird und welche vergessen, welche
Version zur vorherrschenden wird und welche nicht. In beiden Fällen
wird etwas angenommen, das schaltet – etwas, das bestimmte Ge-
schichten ein- und andere ausschaltet; etwas, das auch bestimmte
Apriori ein- oder ausschalten könnte. Noch vor Foucault nimmt
Nietzsche also an, daß es etwas gibt, das die Geschichte beherrscht. Zu
dieser – möglicherweise transzendentalen – Ebene gelangen Nietzsche
und seine Nachfolger bekanntlich, indem sie die Frage der Macht
stellen. Die Bedingung der Möglichkeit dieser Frage stellt das historische
Apriori dar: Es fragt nach Bedingtheiten, denen auch das scheinbar
Unbedingte noch unterliegt. Es versieht das Philosophische mit histo-
rischen Vorzeichen und macht so die Frage möglich, ob das Wissen der
Philosophie nicht beispielsweise durch historische Praktiken der Macht
grundiert sei. Das historische Apriori nimmt also eine Ebene vor dem
Historischen an, eine Schicht, die tiefer als das Historische gelegen ist –
eine Schicht von Ereignissen, die von der Geschichte in ihrer offiziellen
Form verdeckt wird.

Die Historisierung des Transzendentalen

Man befindet sich also schon mitten in der Dynamik des historischen
Apriori mit seinem Unternehmen einer Historisierung des Transzen-
dentalen. In diesem Unternehmen wurde das Historische als absoluter
Transzendierungsverhinderer eingesetzt, als anti-transzendentalphiloso-
phische firewall gewissermaßen. Gegen die Gefahr, das historische Feld
zu transzendentalisieren, setzten Nietzsche und Foucault auf das Projekt
einer Historisierung des Transzendentalen. In den erwähnten Texten
sollte das Transzendentale dadurch entmachtet und entkräftet werden,
daß man ihm historische Analysen, historische Verläufe, archäologische
Szenarien beigesellte. Das wäre also das Projekt einer Rekonstruktion
der Apriori: Bei diesem Projekt, einer Archäologie der Philosophie
gewissermaßen, geht es nicht um die Gründung eines neuen Apriori,
sondern um die historische Rückrechnung der bekannten apriorischen
Begriffe auf historische Verläufe oder Szenarien.
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 319

Diese Archäologie der Philosophie – die von Nietzsche nie so be-


nannt wurde und von Foucault dann in Bezug auf die Humanwissen-
schaften durchgeführt wurde – verwendet die Geschichte, um die
Metaphysik zu entmachten: Einerseits setzt sie zwar durchaus histori-
sche Rekonstruktionen ein, um die transzendentalen Begriffe zu de-
potenzieren und zu positivieren. Andererseits tut sie dies aber, um die
große Erzählung der Metaphysik leer laufen zu lassen und zu exzedie-
ren. Die Begriffe, von denen man sagte, daß sie vorgängig und zu-
vorkommend seien (wie beispielsweise Raum und Zeit) werden als
historisch oder diskursiv oder technisch imprägniert enttarnt – womit
schlußendlich gesagt wird, daß es einen von diesen Koordinaten un-
abhängigen Begriff der Zeit oder des Raums nicht gibt.
Doch wenn es kein formales Apriori mehr gibt, das alle Fragen nach
den Bedingungen der Erkenntnis vorentscheidet – was gibt es dann?
Wenn der Thron des Transzendentalen nicht durch das Historische neu
besetzt wird, wer oder was richtet das Wissen dann aus? Es wird nie-
manden überraschen, daß die Diskussion um das historische Apriori
unmittelbar ins Schlachtfeld der philosophischen Schulen und Metho-
den des zwanzigsten Jahrhunderts einmündet. Diese Schulen haben die
Frage nach dem Apriori in einer nachmetaphysischen Geste zumeist
ebenso zurückgewiesen, wie sie neue Antworten auf die Frage nach
dem Apriori formuliert haben. Nach dem formalen Apriori wurden
ebenso historische wie auch technische oder mediale Apriori entwickelt.
Was man auch immer von diesen Konzeptionen halten mag – sie halten
die Diskussion um das Apriori am Laufen. Denn glücklicherweise be-
findet man sich heute jenseits der Kulturkämpfe um diese beiden
Denker und ihre paradoxen und provokanten Konzeptionen. Stattdes-
sen ist man heute an einem Punkt, an dem sich die Entstehung dieses
historisch neuen Denkstils rekonstruieren läßt. Heute wird sichtbar, was
für ein Wissen mit diesen philosophisch-historischen Zutaten hat ent-
wickelt werden können: Es handelt sich um ein historisiertes, positi-
viertes und oftmals auch verräumlichtes Wissen – um eine Positivierung
der Philosophie. Die Negativität philosophischer Begriffe wurde unter
anderem durch die Geste der Historisierung positiviert. Das Jenseits der
Apriori wurde in das Diesseits von historischen und diskursiven, me-
dialen und technischen Abläufen verwandelt.
320 Knut Ebeling

Die Positivierung der Philosophie

Den Anfang dieser erfreulichen und gefahrvollen Bewegung der Posi-


tivierung der Philosophie machte gleichwohl Nietzsche: Was in der
Philosophie als reines und makelloses Apriori ankam, als reines Vorher,
wurde – beispielsweise natürlich in der Genealogie der Moral – einer
historischen Rekonstruktion unterzogen und auf seine unreinen An-
fänge und Ursprünge hinterfragt (wobei ich jetzt nicht auf die begriff-
lichen Differenzen zwischen diesen Begriffen eingehen möchte).13
Nietzsche hat den historischen Makel an jedem Transzendentalen ent-
tarnt – und es damit positiviert. Und noch für Foucault entstammte
jeder Begriff und jedes Konzept einem historischen Umfeld, einem
rekonstruierbaren Kampf oder Konflikt, der anschließend von der
makellosen Majestät der Begriffe kaschiert wurde. Diese Arbeit der
Rekonstruktion – moderner gesprochen: diese Diskursanalysen – waren
das, was Nietzsche dem philosophischen Denken seiner Zeit zugefügt,
hinterlassen oder angetan hat; und diese Diskursanalysen – traditionel-
ler: diese Genealogien – sind das, wodurch Foucault das Projekt
Nietzsches fortgesetzt hat. Doch Foucaults bevorzugte Methoden der
Genealogie und Archäologie sind nichts ohne ihren methodischen
Rahmen, das historische Apriori. Diese Ergänzung der Genealogie
durch das historische Apriori läuft darauf hinaus, nicht nur die Tradition
der genealogischen Forschung bei Nietzsche stark zu machen. Statt-
dessen soll die Genealogie mit der systematischen Arbeit an der Ab-
schaffung von metaphysischen, transzendentalen, apriorischen Begriffen
verbunden werden: mit dem historischen Apriori. Das wäre, glaube ich,
der Einsatz und die Aufgabe einer heutigen Metaphysikkritik. Diese
wird durch den Begriff des historischen Apriori systematisiert und
eingerahmt; gleichzeitig wird das genealogische Unternehmen aktuali-
siert und in seiner metaphysikkritischen Ausrichtung in Stellung ge-
bracht.
Am Ende sei der Hinweis erlaubt, daß diese ganz heutige Kritik der
Metaphysik nicht nur in terms of Macht- oder Medienanalysen durch-
geführt wird. Es ist durchaus möglich, diese beiden Eckpunkte der
Metaphysikkritik miteinander zu verbinden und beispielsweise eine
Kritik der Medienmacht durchzuführen. Diese Kritik der Medienmacht
baut jedoch nicht nur auf genealogischen, sondern dazu noch auf

13 John Pizer, „The Use and Abuse of ,Ursprung‘: On Foucault’s Reading of


Nietzsche“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990), S. 462 – 478.
Der Thron des Transzendentalen oder Das historische Apriori 321

epistemologischen Voraussetzungen auf: Was aus Kant, Nietzsche und


Foucault folgte, war eine „Epistemologie der postkantianischen und der
postfoucaultianischen (weil medialen) Bedingungen der Möglichkeit
von Erfahrung“14. Eine solche machttheoretische Untersuchung des
Computers, die die Macht am Rechner und die Macht der Rechner
erforscht, wurde beispielsweise vom selbsternannten Foucaultnachfolger
Friedrich Kittler durchgeführt. Dessen „technisches Apriori“15 entfernte
die historischen Klammern von Foucaults historischem Apriori und
ersetzte sie durch technische Standards – womit historische Apriori
„reihenweise dahin[sanken].“16 Auf diese Weise wurde die „Analyse
von Machtsystemen, diese große von Foucault hinterlassene Aufgabe“17,
von Kittler auf die Macht- und Entscheidungsinstanzen von Compu-
terprogrammen ausgedehnt – was der Technikfetischist durchaus als
technologische Aufklärung und Technologiekritik verstand.18 Auf der
Basis von verschwindenden Quellcodes erschien das Projekt einer
Analyse von Machtsystemen des digitalen Zeitalters – die Aufgabe,
„Macht nicht mehr […] als eine Funktion der sogenannten Gesellschaft
zu denken, sondern eher umgekehrt die Soziologie von den Chipar-
chitekturen her aufzubauen.“19
Wie man sieht, sind die Kämpfe und Konflikte um die Thron-
nachfolge des Transzendentalen oder Codierungen des Wissens, von
denen Nietzsche in der Genealogie der Moral berichtete, heute keines-
wegs vorbei – sie werden nur auf anderen Ebenen und von anderen
Agenten ausgefochten. Heute sind es möglicherweise nicht mehr
Priester, die sie ausführen, sondern möglicherweise Programmierer.

14 Das vollständige Zitat lautet: „An die Stelle einer Genealogie derjenigen Werte
und Wertschätzungen, auf denen die Geisteswissenschaften beruhten, mit dem
Ziel, diese Werte als Machteffekte von Medien zu entlarven, mußte eine
Epistemologie der postkantianischen und der postfoucaultianischen (weil me-
dialen) Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung […] treten.“ Lorenz
Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert, Editorial (Anm. 3), S. 8.
15 Vgl. Ebeling, „Technisches Apriori“ (Anm. 5).
16 Friedrich Kittler/Manfred Schneider, „Editorial“, in: Diskursanalysen 2. Insti-
tution Universitt, hg. von Friedrich Kittler/Manfred Schneider/SamuelWeber,
Opladen 1987, S. 8. Zum technischen Standard vgl. Winthrop-Young
(Anm. 10), S. 98.
17 Friedrich Kittler, Draculas Vermchtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 215.
Zu den genealogischen Medien-Machtanalysen vgl. Winthrop-Young
(Anm. 10), S. 143 ff.
18 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 208 ff.
19 Kittler, Draculas Vermchtnis (Anm. 17), S. 215.
322 Knut Ebeling

Doch während die Priester wenigstens noch sagen konnten, wohin die
Reise ging, ist es bei den Programmierern in der Kontingenz ihrer
Programme mit jeder teleologischen Richtungsangabe endgültig vorbei.
Skandal und Hygiene
Mattia Riccardi

Nietzsches Weg zum Freigeist in Anbetracht von Marcel


Detiennes „Erfindung der Mythologie“

Einleitung

In seinem 1981 erschienenen Buch L’invention de la mythologie hat


Marcel Detienne versucht, die Entstehung der Mythologie neu zu
schreiben.1 Dabei hat er gezeigt, daß es sich hierbei um einen doppelten
Werdevorgang handelt, denn der spezifische Diskurs, der noch unter
dieser Bezeichnung läuft und von uns in diesem Sinne verstanden wird,
und der „Mythos“ als ihr spezifisches Objekt sind im Laufe der Ge-
schichte zusammengewachsen. Beides hat sich in demselben Horizont
konturiert. Detienne hebt nun einige Wendepunkte dieser Entfaltung,
die mit Namen wie Thukydides, Lévi-Strauss, Platon oder Fontanelle
verbunden sind, hervor.
In meinem Vortrag möchte ich auf ein bestimmtes Moment seiner
Rekonstruktion fokussieren, um von dorther auf Nietzsches Philoso-
phie zurückzublicken. Mich interessiert in diesem Zusammenhang
weder wie Detienne Nietzsche rezipiert noch wie er ihn interpretiert.
Vielmehr werde ich mich einiger seiner glänzenden Ausführungen zur
„Erfindung der Mythologie“ bedienen, um gewisse Aspekte des Den-
kens Nietzsches ans Licht zu bringen.
Im Hinblick auf Nietzsche sind insbesondere jene Passagen aus
Detiennes Buch von Bedeutung, die der akademischen Institutionali-
sierung der Mythologie gewidmet sind. Obwohl „Mythologie“ als
Diskurs um den Mythos, wie Detienne selbst zeigt, eine viel ältere
Geschichte aufweist, hat sie sich erstmals in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts und in Form einer hybriden Aufspaltung der Altertums-
wissenschaft als Wissensbranche etabliert. Angesichts dieses Phänomens

1 Vgl. Marcel Detienne, L’invention de la mythologie, Paris: Gallimard 1981.


324 Mattia Riccardi

fragt sich Detienne, warum das Interesse am Mythos so intensiv, sogar


obsessiv wurde, daß es zur Errichtung eines entsprechenden, wissen-
schaftlich kodierten Forschungsbereichs kam. Ist das nur ein Symptom
gelehrter Hypertrophie, oder geht es vielmehr um eine wesentliche
Verschiebung im Verständnis nicht nur der Antike, sondern sogleich der
Kultur überhaupt? Detiennes Antwort geht eindeutig in die zweite
Richtung, indem er auf die schockierende Aufdeckung des „Iroquois
caché sous l’écorce du Grec“ hinweist.2 Deutlicher formuliert, was die
Mythologieforschung innerlich treibt, „c’est qu’on aperçoit soudaine-
ment que la mythologie des Grecs est remplie d’histoires indécentes,
qu’elle tient des propos incongrus, qu’elle parle un langage insensé“.3
Die sich anhäufenden Materialien, die zahlreiche Reiseberichte sowie
erste Beispiele proto-ethnologischer Literatur liefern, machen zuallererst
die Gleichartigkeit kultivierter Griechen und wilder Stämme ersichtlich.
Wie Detienne nachdrücklich betont, wurde diese Erfindung als äu-
ßerlich „scandaleux“ empfunden,4 denn sie stellte das Paradigma der
humanistisch-aufklärerischen Tradition grundsätzlich in Frage: „Il n’y a
pas plus de ,miracle‘ grec“.5 Das Primat der Griechen als Erfinder der
Rationalität und zugleich als ihre unüberbietbare Verkörperung geht
damit ein für allemal verloren.
Diese unerhörte Begegnung, die man durch Heranziehung seiner
Lektüren nachweisen kann, hat auch Nietzsche um die Mitte der 1870er
Jahre erlebt. Deswegen bieten Detiennes Bemerkungen einen idealen
Leitfaden, um einige zentrale Momente dieser Phase des Denkens
Nietzsches zu beleuchten und gleichwohl zu gewichten. Nietzsches
Reaktion auf die Entdeckung des „wilden Griechen“ bildet somit den
ersten Punkt meines Beitrags, der sich über die ersten beiden Teile
meiner Ausführungen erstrecken wird. Zunächst werde ich kurz auf
Nietzsches endgültige Distanzierung von der Philologie und von dem
ihr zugrunde liegenden Humanismus eingehen. Deren Tragweite werde
ich dann am Beispiel der proto-genealogischen Infragestellung, der er
die ästhetische Kategorie des Klassischen unterzieht, verdeutlichen. Im
dritten Teil werde ich schließlich das Terrain der Altertumswissenschaft
verlassen und zum viel anspruchsvolleren sowie „riskanten“ Feld der
Kulturphilosophie übergehen. Damit möchte ich einige Motive jener

2 Ebd., S. 19.
3 Ebd., S. 18.
4 Ebd.
5 Ebd., S. 22.
Skandal und Hygiene 325

hygienischen Strategie, die Detienne als stillschweigende Ideologie der


neuen mytho- und ethnologischen Forschung entpuppt, auch an
Nietzsches Text dokumentieren. In diesem Zusammenhang soll ins-
besondere Nietzsches Beziehung zu Eduard Burnett Tylor, auf dessen
Werk Detienne mehrfach hinweist, berücksichtigt werden. Dadurch
soll auch die allgemeine und zentrale Verschiebung, die der Kulturbe-
griff zu dieser Zeit erfuhr, deutlich werden.

1. Skandal und Philologie

Zunächst ist auf die Frage einzugehen, in welchem Verhältnis Nietzsche


zur „skandalösen“ Entdeckung des „wilden Griechen“, die Detienne
sorgfältig herausarbeitet, steht. Ist er darauf überhaupt aufmerksam ge-
worden, und wenn ja, wie läßt sich seine Reaktion beschreiben?
Zuallererst ist zu bemerken, daß Detiennes These sich grundsätzlich
auf eine Traditionslinie bezieht, die vom Humanismus bis zur Ro-
mantik ständig an einem „ideellen“ Griechenbild festgehalten und sich
an ihm gemessen hat. Bei Hegel und Husserl – so lautet seine Analyse –
habe diese Praxis der Identifikation, die sich immer wieder bemühte,
den Geburtsort der europäischen Rationalität in Griechenland zu lo-
kalisieren, ihren Höhepunkt erreicht.6 Zumindest fraglich scheint
grundsätzlich, Nietzsche hierbei miteinzuschließen, denn er entzieht
sich von vornherein der Einseitigkeit eines Husserls. Vielmehr kann
Nietzsches Hervorhebung des Dionysischen sogar ganz im Gegensatz
dazu als eine doppelte Abgrenzung verstanden werden, die – pauschal
gesagt – sowohl gegen die „klassizistische“ als auch gegen die „alex-
andrinische“ Vorstellung des Griechentums gerichtet ist. Diesen beiden
Zerrbildern gegenüber, symbolisiert jeweils durch die Kategorie des
Apollinischen und des Sokratischen, repräsentiert nun Dionysos gerade
jenes „fremde“ Element auf dem Boden der griechischen Kultur, das ein
vom Humanismus bzw. Rationalismus durchtränkter Blick nie erfassen
kann.
Beleg dafür ist eine wichtige Passage aus einem Brief an Erwin
Rohde aus dem Sommer 1872, die die feurige Kontroverse um die
Geburt der Tragçdie veranlaßte. Hiermit sendet Nietzsche dem Freund,
der mit einer Konterattacke gegen Wilamowitz-Möllendorfs heftigen
Angriff auf Nietzsches Buch beauftragt worden war, einige Hinweise

6 Vgl. ebd., S. 27 f.
326 Mattia Riccardi

philologischen Inhalts. Im Hinblick auf die damals verbreitete „naive“


Interpretation der Dichtung Homers bemerkt Nietzsche beiläufig:
„Daß ich nur nicht immer wieder die weichliche Behauptung von der
homerischen Welt als der jugendlichen, dem Frühling des Volkes usw.
hörte! In dem Sinne, wie sie ausgesprochen ist, ist sie falsch. Daß ein
ungeheures, wildes Ringen, aus finsterer Rohheit und Grausamkeit heraus,
vorhergeht, daß Homer als Sieger am Schluß dieser langen trostlosen Pe-
riode steht, ist mir eine meiner sichersten Überzeugungen. Die Griechen
sind viel älter als man denkt. Von Frühling mag man reden, wenn man vor
den Frühling noch den Winter setzt: aber vom Himmel gefallen ist diese
Welt der Reinheit und Schönheit nicht.“7
Homers träumerische Welt verbirgt also einen tiefen Abgrund, der im
Kern der griechischen Kultur liegt. Eine derartige Auffassung weicht
dezidiert von der stilisierten Betrachtungsweise der Antike als plötzli-
cher Offenbarung der Vernunft ab.
Trotzdessen darf Nietzsches intensive Beschäftigung mit den an-
gesprochenen Tendenzen der Geisteswissenschaft seiner Zeit (Ethno-
logie, Mythologie, Sprachwissenschaft), die als Nährboden für die von
Detienne zum Ausdruck gebrachte Erschütterung des damaligen
Griechenbilds wirkten, nicht vernachlässigt werden. Denn die Begeg-
nung Nietzsches um die Mitte der 1870er Jahren mit Autoren wie u. a.
Eduard Burnett Tylor und John Lubbock bringt relevante Konse-
quenzen für Nietzsches Denken mit sich.8 So geht sein Verhältnis zur
Philologie endgültig in die Brüche, sein Bezug zur Antike gestaltet sich
neu und sein Kulturbegriff verändert sich komplett.

7 Brief an Rohde, 16. Juli 1872, KGB 4, S. 23. Auf Nietzsches Ausführungen
über die vermeintliche Naivität der Griechen wird an folgender Stelle beiläufig
verwiesen: Marcel Detienne, Dionysos mis  mort, Paris: Gallimard 1998 (1.
Aufl. 1977), S. 45. Dies bleibt die einzige Bezugnahme auf Nietzsche in De-
tiennes erstem Dionysos-Buch. Nietzsches Name kommt dann in seinem
zweiten, der griechischen Gottheit gewidmeten Werk (Marcel Detienne,
Dionysos  ciel ouvert, Paris: Hachette 1986), gar nicht mehr vor.
8 Vgl. dazu insbesondere Andrea Orsucci, Orient – Okzident. Nietzsches Versuch
einer Loslçsung vom europischen Weltbild, Berlin/New York: De Gruyter 1996,
S. 8 – 52 und 58 – 140. Diese für Nietzsches Griechenbild in der zweiten Hälfte
der 1870er Jahre entscheidenden Lektüren bleiben allerdings meistens unbe-
achtet. Vgl. z. B. die sonst sehr kenntnisreiche und präzise Untersuchung von
Enrico Müller, Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin/New York: De
Gruyter 2005, S. 74 ff., wo die „Fremdheit der Griechen“ allein mit Rekurs auf
Burckhardt thematisiert wird.
Skandal und Hygiene 327

Es ist bekannt, daß Nietzsche in den Jahren, die der Polemik um die
Geburt der Tragçdie folgen, Sinn und Aufgabe der Philologie radikal
infragestellte. In seinen Heften häufen sich Bemerkungen, die eine
tiefgreifende Krise bezeugen. Diese erscheint zunächst als grundlegende
Zurückweisung der dominanten, obwohl nicht erklärten Ideologie der
Altertumswissenschaft: „Es ist wahr, der Humanismus und die Auf-
klärung haben das Alterthum als Bundgenossen in’s Feld geführt: und so
ist es natürlich, dass die Gegner des Humanismus das Alterthum an-
feinden. Nur war das Alterthum des Humanismus ein schlecht erkanntes
und ganz gefälschtes: reiner gesehn ist ein Beweis gegen den Humanis-
mus, gegen die grundgütige Menschen-Natur“.9 Dies hat eine doppelte
Bedeutung im Hinblick auf die wissenschaftliche Fundierung der Phi-
lologie.
Einerseits – in methodologischer Hinsicht – dehnt sich die Ver-
werfung einer humanistisch-aufklärerisch verfassten Haltung zur Antike
gleichwohl auf jene „Schätzung der ratio“ aus,10 auf der die alltägliche
Praxis des Philologen beruht. Mit Blick auf Detiennes Rekonstruktion
ist dann noch zu beachten, daß für Nietzsche gerade das Terrain der
Mythologie die Unhaltbarkeit dieses methodologischen Ansatzes am
schärfsten verrät: „Es giebt Gebiete, wo die ratio nur Unfug anrichten
wird, und der Philolog, der nichts weiter hat, damit verloren ist und nie
die Wahrheit sehen kann, z. B. bei Betrachtung der griechischen My-
thologie“.11 Die mythische Erzählung entzieht sich also der Rationali-
sierung und ermöglicht zugleich einen ersten Blick hinter die sonnigen
Kulissen der altgriechischen Welt.
Andererseits – wie Nietzsches Verweis auf die „Menschen-Natur“
nachspuren läßt – rückt vor allem die fatale Verwechselung des „Hu-
manen“ mit dem „Menschliche[n]“ ins Fadenkreuz seiner Kritik.12 Die
Philologie, aus dem Geist des Humanismus geboren, „ahmt etwas rein
Chimärisches nach“.13 Denn, betrachtet man sie näher, weisen die

9 Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5[60], KSA 8, S. 58.


10 Ebd., 5 [87], S. 63.
11 Ebd., 5[112], S. 69 – 70. Vgl. dazu: „[L]a mythologie de l’Antiquité devient
soudainement un langage incongru et insensé où le peuple ancien que passait
pour avoir atteint les dernières limites de la civilisation semble tenir un discours
plus possédé par la sauvagerie que celui des Peuple de la Nature“, Detienne,
Mythologie (Anm. 1), S. 27.
12 Nachlass März 1875, 3[12], KSA 8, S. 17.
13 Nachlass 1875, 7[1], ebd., S. 121.
328 Mattia Riccardi

Griechen sogar Züge der „Inhumanität“ auf,14 wie Hubert Cancik


bemerkt. Die anerkannte Nähe zum Irokesen erschüttert darum das
veraltete Gebäude der Altertumswissenschaft.

2. Nietzsches proto-genealogische Untersuchung der Kategorie des


„Klassischen“

Die von der Philologie fortgetriebene Verfälschung der Antike führt


Nietzsche auf ein zweifaches Vorurteil zurück. Das Altertum wird als
klassisch angesehen, erstens „weil es die Schule des Humanen ist“,
zweitens „weil es aufgeklrt ist“.15 An dieser Stelle wird also die Kate-
gorie des Klassischen ins Zentrum der Querelle um die Philologie ge-
schoben. Demzufolge bietet sie sich als ein fruchtbares Feld an, um die
Neugestaltung der Antikeauffassung Nietzsches, besonders des Griech-
entums, zu konturieren.
Vor allem in der Vorlesung zur griechischen Literatur, die er im
Wintersemester 1875 – 1876 hielt, widmet Nietzsche diesem Begriff
einige ausschlaggebende Bemerkungen. In dieser Vorlesungsreihe, die
sich an einen zweisemestrigen Überblick über die griechische Literatur
anschloß, geht Nietzsche endlich auf das „Allgemein-Wichtige“, d. h.
auf das Problem ein, „wie die Griechen zu dieser so klassischen Litt.
kat’[e + spiritus lenis]noj[g + accentus acutus]m kamen“.16 In diesem
Zusammenhang sind zwei Punkte zu beachten, die die These unter-
stützen, daß Nietzsches Griechenbild in dieser Phase von dem Skandal,
den Detiennes Buch genealogisch rekonstruiert hat, stark geprägt
wurde.
Erster Punkt (methodologisch): Nietzsche bringt eine Methode zur
Anwendung, die in der Praxis der mytho- und ethnologischen For-
schung von großer Bedeutung ist und die weiterhin eine fundamentale
Leistung noch für die Gestaltung seiner späteren „historische[n] Philo-
sophie“ bilden wird.17 Sie besteht darin, zwischen Ursprung und Re-
sultat eines kulturellen Prozesses scharf zu unterscheiden. Dies ist so,
weil die Entstehung einer bestimmten Handlungskonstellation, sei sie in

14 Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar: Metzler 1995,


S. 97.
15 Nachlass 1875, 7[6], KSA 8, S. 125.
16 KGW 2.5, S. 273.
17 Vgl. MA 1, KSA 2, S. 23 – 24.
Skandal und Hygiene 329

weiterem Sinne sittlicher oder auch technischer Natur, nicht begriffen


werden kann, wenn man auf sie vom Standpunkt ihrer finalen Reali-
sierung aus zurückblickt. Diese Ansicht entspricht also dem allgemeinen
Prinzip einer historisch fundierten Betrachtungsweise, der nach dem
„Zustand, der die Regel gebiert, ein anderer ist als der, den die Regel
gebiert“.18 Die Fixierung einer spezifischen Praktik dokumentiert des-
halb den Übergang zu einem Stadium, bei dem ihr ursprünglicher Sinn
bereits verloren gegangen ist. Allein durch einen derartigen, ständigen
Umschreibungsprozeß leben die soziokulturellen Einrichtungen und
Rituale fort. Nietzsches spätere Betonung der konstitutiven Hybridi-
sierung, die der Menschwerdung zugrunde liegt, findet also in diesem
Zusammenhang einen ersten Ausdruck.
Zweiter Punkt (inhaltlich): Aus dieser methodologischen Perspektive
formuliert Nietzsche zwei Thesen hinsichtlich der Entstehung der
„klassischen“ Literatur. Auf der einen Seite koppelt er die Frage nach
der Geburt der „klassischen“ Literatur mit derjenigen nach dem Ver-
hältnis von Schrift und Oralität. Konstituiert sich der Kanon der
„klassischen“ Literatur(en) im Zirkel zwischen Buch und Leser, sind
doch die Texte, die damit „kanonisiert“ werden, „nicht das Erzeugniß
einer litterarisch gebildeten Zeit“, d. h. „einer auf Büchern beruhenden“
Bildung.19 Diese erste These versteht sich deshalb als eine Spezifikation
des oben dargestellten allgemeinen Prinzips, indem flüssige Entstehung
(oral variierte Literatur) und erstarrtes Endergebnis (schriftlich kanoni-
sierte Literatur) völlig different sind.

18 KGW 2.5, S. 276. Im Bezug auf die Frage, wie der religiöse Kultus bei den
Griechen entstanden sei, nimmt die methodologisch fundamentale Trennung
zwischen flüssiger Entstehungsphase und fest kodiertem Endergebnis folgende
Form: „Die Zeiten, welche ihn [den Kultus] feiern, sind nicht die, welche ihn
erfinden“, Nachlass Frühling – Sommer 1875, 5[155], S. 83. Vgl. folgende
Passage aus Lubbock: „In der That erscheinen uns manche Dinge aus der Luft
gegriffen, unbegründet und befremdend, weil unsere Verhältnisse durchaus
anders sind, als die, welche sie in’s Leben riefen. Vieles scheint einem Wilden
naturgemäß, was uns absurd und unerklärlich dünkt“, John Lubbock, Die
Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschengeschlechtes, erlutert durch
das innere und ußere Leben der Wilden, aus dem Englischen übersetzt von
Athenäa Passow, Vorwort von Rudolf Virchow, Jena: Costenoble 1875,
S. 415. Zu Nietzsches Beschäftigung mit Lubbock vgl. auch David Thatcher,
„Nietzsche’s Debt to Lubbock“, in: Journal of the History of Ideas 44 (1983),
S. 293 – 309.
19 KGW 2.5, S. 276.
330 Mattia Riccardi

Auf der anderen Seite identifiziert Nietzsche den Ursprungsort der


altgriechischen Literatur in den kultischen Praktiken: „Die ältesten
Anlässe zur Entstehung von Poesie sind die gleichen Anlässe, bei denen
man die Anwendung von Musik u. deren Rhythmus für nöthig befand.
Wozu wandte man Musik u. Rhythmus an? Zur [magischen] Einwir-
kung auf die Gçtter im Cultus oder außer dem Cultus“.20 In diesem
Zusammenhang kann ich nicht auf die vielfältigen Aspekte und Im-
plikationen eingehen, die mit dem Problem des Kultus bei den Grie-
chen verbunden sind, das im übrigen später Thema von zwei Vorle-
sungen Nietzsches wurde (Wintersemester 1875 – 1876 und Winterse-
mester 1877 – 1878). Nur zwei Momente möchte ich hieraus hervor-
heben, die für meine Fragestellung von zentraler Bedeutung sind. Ers-
tens: Nietzsche unterstreicht wiederholt, daß die religiösen Kulte der
Griechen viele Elemente aufnahmen, die aus den verschiedensten
vorgriechischen Völkern und Kulturen stammen. In diesem Sinne be-
zeugen sie, daß die Rede von einem „ursprünglichen“ Geist der
Griechen unhaltbar ist. Dieser hat sich hingegen erstmals durch mehr-
fache Ablagerungen formiert. Zweitens: Genau in den Praktiken des
Kultus kommt jene „fremde“ Seite der Griechen zur Sprache, der ge-
genüber die humanistisch-aufklärerisch aufgerüstete Philologie immer
blind blieb. Wendet man nun diese zwei Ansichten auf den Spezialfall
der Literatur an, bedeutet dies, daß die altgriechische, seit der helle-
nistischen Zeit als „klassisch“ kodierte Literatur auf dem Boden eines
nicht-autochthonen und „wilden“ Komplexes ritualer Praktiken ent-
stand.21 Diese proto-genealogische Ermittlung der Kategorie des Klas-
sischen, die Nietzsches frühe Infragestellung der Naivitätsthese über
Homers Dichtung gewiß wieder aufnimmt, dennoch mit Rekurs auf

20 Ebd., S. 284. Vgl. auch: „[I]hre ,klassische Litteratur‘ mit Chorlied, Tragödie,
Komödie ist ja auf dem Boden des Cultus oder als Anhang zu demselben zum
guten Theil erwachsen“, ebd., S. 364.
21 Vgl.: „Die Entstehung der griech. Poesie geschah nicht autochthon, sondern auf
fremden Einfluß hin“, ebd., S. 310. Auch die im Kultus enthaltenen Elemente
entpuppen sich als von verschiedenster Provenienz: „Der griechische Cultus
führt uns in eine vorhomerische Gesinnung und Gesittung zurück, ist fast das
älteste, was wir von den Griechen wissen; älter als die Mythologie, welche die
Dichter wesentlich umgebildet haben, so wie wir sie kennen. – Kann man
diesen Cult griechisch nennen? Ich zweifle. Sie sind Vollender, nicht Erfinder.
Sie conserviren durch diese schöne Vollendung“, Nachlass Frühling – Sommer
1875, 5 [155], KSA 8, S. 83. Vgl. auch noch VM 219, KSA 2, S. 472 – 473.
Dazu vgl. Mafred Riedel, „The Origin of Europe: Nietzsche and the Greeks“,
in: New Nietzsche Studies 4.1/2 (2000), S. 141 – 155, hier 142 f.
Skandal und Hygiene 331

neue relevante Materialien erheblich erweitert und verschärft ist, wur-


zelt also in der Entdeckung, daß im Herzen der griechischen Kultur
dasselbe „unreine Denken“ der Naturvölker pulsiert.22

3. „Freilich ist die Inquisition in der Nähe“. Unbequeme Wildheit und


aufklärerische Hygiene

Die erschreckende Aufdeckung einer Wildheit, die uns so naheliegt und


sogar innewohnt, erschöpfte ihre Kraft nicht auf dem Feld der Alter-
tumswissenschaft, sondern wirkte in einem viel breiteren Horizont.
Diese tiefergehende Reaktion legt Detienne am Fall Eduard Burnett
Tylors paradigmatisch dar: „Reconnaître le sauvage en nous, mais afin
d’extirper une chose étrangère, de retrancher une excroissance. Car il y
va du mieux-être de l’humanité et du corps social“.23 Insbesondere
macht er auf einige Passagen aus dem Schlußkapitel des Hauptwerks
Tylors aufmerksam, wo die Kulturwissenschaft auf ethnologischer Basis
ausdrücklich als eine „Wissenschaft der Reformation“ dargestellt wird,
die „die Ueberreste einer alten, rohen Cultur, die in schädliche Su-
perstitionen übergegangen sind, blosszustellen und ob reif zur Zerstö-
rung zu kennzeichnen“ hat.24 Zusammen mit Tylors Werk bildet dann
noch John Lubbocks Origin of Civilisation eine weitere, fundamentale
Quelle für Nietzsches Kulturbegriff zur Entstehungszeit von Menschli-
ches, Allzumenschliches. Auch in diesem Buch ist jene Tendenz, die
Detienne bei Tylor klargelegt hat, mühelos zu finden. Denn auf der
„feste[n] Zuversicht, daß die Geschichte des Menschengeschlechtes im
Großen und Ganzen einen Fortschritt bekundet“, begründet Lubbock
die grundlegende Hoffnung, „daß sich die Segnungen der Civilisation
nicht nur auch auf andere Länder und andere Völkerschaften erstrecken
werden, sondern daß sie auch in unsrem eigenen Vaterlande nach und
nach zur allgemeinen, gleichmäßigen Geltung kommen“.25
Dieser Ansatz spiegelt sich nun in einer Begrifflichkeit wider, die
eine zentrale Bedeutung für Nietzsches Philosophie in der Zeit von

22 KGW 2.5, S. 364.


23 Detienne, Mythologie (Anm. 1), S. 46.
24 Edward Burnett Tylor, Die Anfnge der Cultur. Untersuchungen ber die Ent-
wicklung der Mythologie, Philosophie, Religion, Kunst und Sitte, aus dem Englischen
übersetzt von Johann Wilhelm Spengel und Friedrich Poske, Leipzig: o. V.
1873, S. 456.
25 Lubbock, Entstehung der Civilisation (Anm. 18), S. 398 – 399.
332 Mattia Riccardi

Menschliches, Allzumenschliches hat.26 An dieser Stelle möchte ich insbe-


sondere die „positivistische“ Neigung hervorheben, die das Programm
dieser Autoren belebt und auch in Nietzsches Texte dieser Zeit – so
scheint mir – übergegangen ist. Dies werde ich kurz am Beispiel Tylors
schildern, wobei ich mich erneut Detiennes Analyse anschließe. Mit
Nachdruck unterstreicht Tylor die in den Resultaten seiner Untersu-
chung vorkommende implizite „praktische Seite“.27 Darin ist eine
stillschweigende und dennoch markante „procédure d’exclusion“ an-
zuerkennen, wie Detienne betont.28 Diese erfolgt aus einem doppelten
Beweggrund: Tylor hält zwar als Ergebnis seiner vergleichenden Eth-
nographie fest, daß, um es in einer nach Nietzsche klingenden For-
mulierung auszudrücken, die „Vernunft“ sich allmählich aus dem
„unreinen Denken“ entwickelt hat, als bunter Zusammenhang von
„Fortschritt, Verfall, Ueberleben, Wiederaufleben, Umgestaltung“.29
Dennoch betrachtet er diesen geschichtlichen Vorgang immer noch
vom Blickwinkel jener Rationalität aus, deren Unreinheit er gerade ans
Licht gebracht hat: „Die gebildete Welt Europas und Amerikas stellt
praktisch einen Masstab auf, wenn sie die eigenen Nationen an das eine
Ende der socialen Reihe und die wilden Stämme an das andere Ende
derselben stellt“.30 Durch Tylor kommt also die gebildete Welt Europas
und Amerikas zu Wort, von der Absicht getrieben, an einer selbstge-
bastelten Skala „den Fortschritt oder Rückschritt in der Civilisation“ zu
berechnen.31
Wie verhält sich nun Nietzsche dazu? Schwankend – so der erste
Eindruck. Denn einige Stellen, die die Gestaltung einer künftigen
Kultur von einer strengen Selektion des Herkömmlichen abhängig
machen, sprechen auf der einen Seite dafür, daß Tylors kultur-hygie-
nische Strategie sich auch in Nietzsches Werk fortgepflanzt habe. Als
Beispiel dafür gilt der Aphorismus 23 aus Menschliches, Allzumenschliches,
wo Nietzsche, sich auf die ethnologische Forschung rückbeziehend,
seine Epoche als „Zeitalter der Vergleichung“ definiert, das es sich zur
eigenen Aufgabe macht, die „Formen und Gewohnheiten der höheren
Sittlichkeit“ einerseits und den „Untergang der niedrigeren Sittlich-

26 Für die Termini technici „Überbleibsel/Überlebsel“ und „Stufenleiter der


Kultur“ vgl. Orsucci, Orient – Okzident (Anm. 8), S. 33 ff. und 45 ff.
27 Tylor, Anfnge der Cultur (Anm. 24), S. 445.
28 Detienne, Mythologie (Anm. 1), S. 46.
29 Tylor, Anfnge der Cultur (Anm. 24), S. 17.
30 Ebd., S. 26.
31 Ebd.
Skandal und Hygiene 333

keiten“ andererseits zu fördern.32 Daß hier Nietzsche nicht bloß ein


allgemeines Merkmal seiner Zeit ermittelt und distanziert, wenn nicht
gar sarkastisch beschreibt, zeigt eine Aufzeichnung, die als Vorstufe
dieses Aphorismus gilt. Dort ist die Pointierung unverkennbar: „Unsre
Kraft soll sich zeigen, wie wir whlen; wir sollen Richter sein“.33 Au-
ßerdem kommt diese Begrifflichkeit an anderen Stellen wiederholt vor,
die außerdem die im Namen einer positivistisch beladenen Fort-
schrittsideologie zum Einsatz gebrachte Exklusionsstrategie Tylors un-
termauert.
Auf der anderen Seite scheint Nietzsche anderswo die Aufdeckung
unterschiedlicher Kulturschichten dennoch keinem kulturhygienischen
Ziel zu unterziehen, wie in dem Aphorismus 223 aus „Vermischte
Meinungen und Sprüche“. Hier, im Nachklang von Emersons Vision
einer All-Geschichte, in der Ich und Welt zusammenschmelzen, liefert
nunmehr das „Reise-Abenteuer“ durch „ältere Culturstufen“ keine
kulturwissenschaftlichen Materialien, unter denen die Züge des künf-
tigen Menschen auszusortieren wären, sondern eher einen reichen
Schatz an Erlebnissen und Anschauungen, mittels dessen die „Selbst-
Erkenntnis“ zur „All-Erkenntnis“ wird.34 Die arrogante Haltung des
Kulturarztes fällt hier deshalb komplett weg.
Oszilliert nun Nietzsche mit variierten Nuancierungen zwischen
diesen beiden Polen, läßt eine Aufzeichnung aus der Zeit zwischen
Ende 1876 und Sommer 1877 jedoch ihre mögliche Zusammenbrin-
gung einsehen. Dort behauptet Nietzsche zwar, daß die „Reife“ nur
dadurch gewonnen wird, daß der Mensch „verschiedene Culturen
durchlebt und im Verstehen und Erfassen jeder einzelnen einmal einen
Höhepunkt erreicht“.35 Gleichwohl wird die Selbsterziehung allerdings
in ein präzises kulturgeschichtliches Entwicklungsmuster eingebettet,
denn „diese ganze Stufenleiter macht er vielleicht erst einmal als reli-
giöser, dann wieder als künstlerischer und endlich wissenschaftlicher

32 MA 23, KSA 2, S. 44.


33 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23[85], KSA 8, S. 434. Vgl. auch:
„Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu
inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen,
vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen“, Nachlass Juli 1879, 41[65], ebd.,
S. 593.
34 VM 223, KSA 2, S. 477. Vgl. dazu: Giuliano Campioni, „,Wohin man reisen
muß‘. Über Nietzsches Aphorismus 223 aus ,Vermischte Meinungen und
Sprüche‘“, in: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 209 – 226.
35 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23[145], KSA 8, S. 455.
334 Mattia Riccardi

Mensch durch“.36 Der Prozeß der Selbstgestaltung, die also eine zy-
klische Wanderung in fremden Kulturwelten erfordert, wird deshalb
nach der aufsteigenden Skala Religion – Kunst – Wissenschaft ge-
dacht.37 Diese kulturgeschichtliche Aneinanderkettung gewährleistet für
Nietzsche schließlich sogar die „Mçglichkeit des Fortschritts“,38 wobei der
Mensch endlich auf die Ebene bewußter Kulturplanung übergeht. Die
Gefahr einer solchen Vorstellung entgeht Nietzsche zwar nicht. In ihr
sieht er aber dennoch nicht genügend Grund, eine totalisierende Ver-
folgung des „Wohl[s] der Menschheit“ infragezustellen.39 Vielmehr
billigt er sie widerstandslos: „[D]a [ist] die Inquisition in der Nähe; denn
das Wohl aller war der Gesichtspunkt, nach dem man die Ketzer ver-
folgte. In gewissem Sinne ist also eine Inquisitions-Censur nothwendig,
die Mittel freilich werden immer humaner werden“.40
Deswegen bin ich der Meinung, daß der Aufruf an hygienische
Maßnahmen, den Detienne am Beispiel Tylors zutage gebracht hat,
zwischen den Zeilen von Menschliches, Allzumenschliches wieder auf-
taucht. Denn haben Mythologie und Ethnologie dazu beigetragen, die
inszenierte Reinheit der Vernunft zu demaskieren; allerdings orientie-
ren sie sich unberührt an dieser Instanz. Das europäische Gepräge wirkt
also immer noch mit voller Kraft. Dasselbe läßt sich aber auch von dem
unter der Maske des „freien Geistes“ auftretenden Nietzsche von
Menschliches, Allzumenschliches behaupten. Von der späteren Anforde-
rung, man sollte „orientalischer denken lernen über Philosophie und
Erkenntniß“,41 ist er zu diesem Zeitpunkt also noch weit entfernt, wie
folgende Passage, mit der ich meinen Beitrag schließen möchte, zeigt:
„Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens
gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und
Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueb-

36 Ebd., S. 456.
37 Diese wirken also nicht mehr wie Burckhardts „Potenzen“, die komplementäre
und überhistorische Elemente einer Kultur darstellen. Bei Nietzsche machen sie
hingegen eine fest gestaffelte und hierarchisch gedachte Reihe aus. Jede wird
deshalb zur exklusiven Marke einer bestimmten Stufe des Geistes.
38 MA 24, KSA 2, S. 45.
39 Nachlass Ende 1876 – Sommer 1877, 23 [82], KSA 8, S. 433.
40 Ebd.
41 Nachlass Sommer-Herbst 1884, 26 [317], KSA 11, S. 234. Diese Anforderung
strömt aus einer klaren Infragestellung des Primats Europas: „Die Europäer
bilden sich im Grunde ein, jetzt den höheren Mensch auf der Erde darzustel-
len“, ebd., 26 [319].
Skandal und Hygiene 335

erzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder


aus Phantasien stammen“.42

42 MA 265, KSA 2, S. 220.


Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum
Philippe Lepers

1995 interviewte ich Jean Baudrillard in Paris für den flämischen


Rundfunk. Am Ende des Gesprächs fragte ich ihn, ob er mit den tra-
ditionellen Ritualen der Katholischen Kirche sympathisieren könne.
Diese Frage war nicht zufällig gewählt: Denn es gibt noch immer einige
so genannte neo-konservative flämische Philosophen, die ihr Interesse
für die alten christlichen Bräuche mit einer klaren Anerkennung des
Denkens Baudrillards kombinieren. Weil letzterer seine Kritik an der
Modernität immer mit einer offensichtlichen Wertung für traditionelle
Kulturen verknüpft hat, ist auch dies nicht ganz verwunderlich. Bau-
drillard aber verneinte dies sofort. Als ich ihn bat seine Haltung näher zu
erläutern, antwortete er: „Es ist wie bei Nietzsche. Keine Transzen-
denz.“
Man kann sich fragen, ob es wirklich unmöglich ist bei Nietzsche
von Transzendenz zu reden (die Figur des ,Übermenschen‘ z. B. gibt
Anlaß, das Umgekehrte zu vermuten), aber von ,Supranaturalismus‘
kann freilich keine Rede sein. Baudrillards Antwort zeigt auch, daß sich
sein Denken nach dem Tod Gottes abspielt. Wenn Gott dennoch in
seinen Texten in Erscheinung tritt – z. B. in dem Satz: ,Gott existiert,
aber ich glaube nicht an ihn‘1, so darf man das folglich nicht wörtlich
verstehen oder als ein Plädoyer für eine neue Art von Religion miß-
brauchen, geschweige denn als eine Art Umwertung des Christentums.
Die Reaktion Baudrillards macht auch klar, daß er sich selbst als je-
manden betrachtet, der an der Seite Nietzsches steht. Wie aber sollen
wir nun das Verhältnis Nietzsche-Baudrillard genau verstehen? Sym-
pathisiert er nur mit den Gedanken Nietzsches oder läßt sich auch eine
nachhaltige Beeinflussung erkennen? Und, sollte dies der Fall sein, in
welchem Maße und in welchem Sinne läßt sie sich feststellen? Und
schlußendlich: Gibt Baudrillards Nietzscherezeption auch Anhalts-
punkte für eine Neuinterpretation von Nietzsches Philosophie? Im
Folgenden möchte ich versuchen diese Fragen zu beantworten.

1 Vgl. Jean Baudrillard, L’illusion de la fin, Paris: Galilée 1992, S. 132.


338 Philippe Lepers

Dank der weitläufigen Gespräche von François L’Yvonnet mit


Baudrillard verfügen wir über interessante Information über die Rolle
der Nietzschelektüre bei Baudrillard.2 Schon in den letzten Jahren der
Oberschule hat er ihn rezipiert, einige Jahre später, während seiner
Studien in Germanistik, auch auf Deutsch, anschließend aber nicht
mehr. Auf diese Weise ist Nietzsche eine Art unbewußter Hintergrund
seines eigenen Denkens geworden. Im Unterschied zu vielen anderen
französischen Denkern seiner Zeit hat er sich auch niemals mit einer
expliziten Nietzsche-Interpretation beschäftigt oder sich in die Dis-
kussion über den Wert von Nietzsches Philosophie eingemischt. Frei-
lich darf nicht vergessen werden, daß Baudrillard nie ein Philosophie-
studium absolviert und er sich deshalb stets zurückhaltend geäußert hat.
Trotzdem merkte er in den Gesprächen mit L’Yvonnet an:
„Kant, Hegel und sogar Heidegger habe ich natürlich gelesen, aber nicht
auf Deutsch und nur fragmentarisch. Vielleicht studiert man niemals mehr
als einen Philosophen ernsthaft, wie man nur einen Paten hat, wie man nur
eine Idee hat in seinem Leben. Nietzsche ist also der Autor, in dessen
Schatten ich mich entwickelt habe, aber ohne es zu wollen und gar ohne es
wirklich zu wissen.“3
Wir dürfen deshalb zuallererst nicht von einer sehr direkten Beein-
flussung sprechen. Und zweitens: Wenn Baudrillard Nietzsche zitiert,
geschieht dies immer sporadisch und beiläufig.4 Trotzdem behauptet er
in den Gesprächen mit François L’Yvonnet, daß er beabsichtigt
Nietzsche wieder auf Deutsch zu lesen. Und vielleicht hatte er diese
Lektüre damals schon angefangen. Denn in den neunziger Jahren findet
man nämlich offensichtlich mehr und weitläufigere Verweise auf
Nietzsche, was ich anhand der folgenden drei Beispiele verdeutlichen
möchte:

2 Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre. Entretiens avec FranÅois L’Yvonnet, Paris:
Albin Michel 2001, S. 9 – 13.
3 Jean Baudrillard, D’un fragment l’autre (Anm. 2), S. 11.
4 Einige Beispiele von Textstellen, in denen Baudrillard sich explizit auf
Nietzsche bezieht und die weiterhin nicht mehr erörtert werden, sind nach-
zulesen in: Jean Baudrillard, La socit de consommation, Paris: Denoël 1970,
S. 51; ders., L’change symbolique ou la mort, Paris: Gallimard 1976, S. 95 und
328; ders.,  l’ombre des majorits silencieuses (ou la fin du social), Paris: Denoël/
Gonthier 1978, S. 22; ders., La gauche divine. Chronique des annes 1977 – 1984,
Paris: Grasset 1985, S. 52 ; ders., L’autre par lui-mÞme. Habilitation, Paris: Galilée
1987, S. 231 ; ders., L’illusion de la fin, Paris: Galilée 1992, S. 45.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 339

Das erste Mal lassen sich diese Verweise in L’Illusion de la fin (1992)
aufzeigen. Baudrillard bezieht sich hier auf Nietzsches Erwartung des
Übermenschen sowie einer ,Umwertung der Werte‘ und sagt, daß
genau das Umgekehrte stattgefunden hat: kein ,au-delà du bien et du
mal‘, aber ein ,en deça du bien et du mal‘, in einer Welt, die sich nicht
mehr für Ideale oder Werte interessiert, sondern in der völligen
Gleichgültigkeit des ,Untermenschlichen‘ versinkt. Laut Baudrillard gibt
es also heute eine ,Verklärung des Untermenschen‘.5 In Le paroxyste
indiffrent, einer Gesprächssammlung Philippe Petits mit Baudrillard,
findet man dieselben Gedanken und Petit weist auch auf Nietzsches
,letzten Menschen‘ hin, Baudrillard jedoch geht darauf nicht näher ein.6
Wichtiger ist in diesem Kontext vielleicht die Bedeutung von einem
Baudrillards bekanntester Sätze:
„Comment sauter par-dessus son ombre, quand on n’en a plus?“7
Allem Anschein nach zu urteilen ist dies der Hinweis auf Nietzsches
Also sprach Zarathustra, insbesondere auf das Kapitel ,Von der Erhabe-
nen‘ aus dem zweitem Teil. Dort steht:
„Erst, wenn er sich von sich selber abwendet, wird er über seinen eignen
Schatten springen – und, wahrlich! hinein in seine Sonne.“8
Was auch immer die genaue Bedeutung dieses Satzes sein dürfte, so er
hat auf jeden Fall etwas mit einer Art Selbstüberwindung zu tun, die
nach Baudrillard in den aktuellen kulturellen Kontexten so gut wie
unmöglich geworden ist. Das ‘Neo-Individuum’ ist so stark von
Gleichgültigkeit gekennzeichnet, daß es eigentlich kein ‘Selbst’ mehr
hat, geschweige denn die Ambition, dieses ‘Selbst’ zu überwinden.
Auch hier ist zu erkennen, daß Baudrillard glaubt, Nietzsches Zu-
kunftsvision sei nur insofern erfüllt, als daß sich die traditionelle Moral
erledigt hat. An ihre Stelle ist jedoch nichts getreten, das etwas mit

5 Jean Baudrillard, L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 135 – 136.


6 Jean Baudrillard, Le paroxyste indiffrent. Entretiens avec Philippe Petit, Paris:
Grasset 1997, S. 10 – 11, 31 und 95; auch: ders., L’change impossible, Paris:
Galilée 1999, S. 50 und 72.
7 „Wie kann man über seinen Schatten springen, wenn man keinen mehr hat?“
Der Titel eines Kapitels von L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 143 f. und das Motto
von Fragments ( Jean Baudrillard, Fragments (Cool memories III 1991 – 1995),
Paris: Galilée 1995, S. 9).
8 Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra, II Erhabenen, KSA, Band 4,
S. 151.
340 Philippe Lepers

Vornehmheit oder Tugenden, wie es sich Nietzsche noch erträumt


hatte, gemeinsam hat.9
Gleiches unternimmt Baudrillard auch in Bezug auf Nietzsches
Gedanken zur objektiven Wahrheit und Illusionen. Er schreibt darüber
ausführlich in Le crime parfait und führt dort sogar ein Nietzschezitat aus
dem späten Nachlass (freilich ohne Referenz) auf:
„Aber die Wahrheit gilt nicht als [oberstes Werthmaß, noch weniger als]
oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum
Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer,
ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklich-
keit, zum Sein: – letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illu-
sion.“10
Baudrillard appelliert also an Nietzsche, daß der Mensch in seinem
Kampf gegen die prätentiösen Gedanken die Möglichkeit hätte die Welt
auf eine nicht durch die menschliche Perspektive verzerrte Weise zu
sehen und zu erleben. Übrigens erklärt dies auch, warum Baudrillard
durch die Phänomene von Simulation und Simulacra so fasziniert war.
Es sind Dinge, die sich wie Nachahmungen der Wirklichkeit ergeben
und auf diese Weise zu Unrecht den Glauben an eine absolute Realität
aufrechterhalten.11 Übrigens verwundert es nicht, daß er in Bezug auf
dieses Thema auch auf ,Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde‘
aus Nietzsches Gçtzendmmerung hinweist.12 Aus demselben Grund zi-
tiert er (auf französisch und wiederum ohne Referenz) ebenfalls den
Aphorismus 243 aus Nietzsches Morgenrçthe:
„Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir
endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so
kommen wir zuletzt wieder auf Nichts, als auf den Spiegel. – Dies ist die
allgemeinste Geschichte der Erkenntnis.“13
Nietzsche hat schon seit Die Geburt der Tragçdie gegen das, was er dort
,den Sokratismus‘ oder ,den Optimismus des theoretischen Menschen‘

9 Jean Baudrillard, L’illusion de la fin (Anm. 4), S. 143 f.


10 Jean Baudrillard, Le crime parfait, Paris: Galilée 1995, S. 25 (vgl. NL 17[13] KSA
13, S. 522 – In eckigen Klammern sind die Teile des Zitats aufgeführt, die
Baudrillard wegließ.).
11 U. a. Jean Baudrillard, Simulacres et simulation, Paris: Galilée 1981.
12 Jean Baudrillard, Le Pacte de lucidit ou l’intelligence du Mal, Paris: Galilée 2004,
S. 19. Vgl.: Gçtzen-dämmerung, Fabel, KSA, Band 6, S. 80 – 81.
13 Jean Baudrillard, Le Pacte de lucidit (Anm. 12), S. 34; vgl. M 243, KSA, Band 3,
S. 202 – 203.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 341

nennt, gekämpft. In Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne


hat er die Wahrheit entlarvt wie
„ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphis-
men kurz eine Summe von menschlichen Relationen.“14
Baudrillard also führt diesen Kampf weiter, heimst dabei aber ebenso
wenig unvermittelten Erfolg ein. Auch er wird nämlich in dem Auf-
sehen erregenden Buch Les imposteurs intellectuels von Alan Sokal und
Jean Bricmont anvisiert und des ,Pseudo-Tiefsinns‘ beschuldigt.15 In
dem bereits erwähnten Interview für den flämischen Rundfunk rea-
gierte Baudrillard sehr lakonisch: „Natürlich bin ich ein Betrüger!“,
womit er nur bestätigen wollte, daß er nicht an die Möglichkeit einer
objektiver Wahrheit glaubt. Vielmehr seien dagegen diejenigen, die das
Umgekehrte behaupten, die eigentlichen, die gefährlichen Betrüger,
weil sie wider besseren Wissens darauf beharren etwas Unmögliches zu
realisieren, etwas, das Nietzsche in seinem späteren Werk in Beziehung
zu dem ,Ding an sich‘ als eine ,contraditio in adjecto‘ bezeichnet hat.16
Zum Abschluß der Untersuchung einiger expliziter Hinweise auf
Nietzschebezüge bei Baudrillard möchte ich noch ein drittes Beispiel
aufführen, nämlich seine Beachtung der Lehre Nietzsches von der
ewigen Wiederkunft. Er interpretiert diese Idee nicht wörtlich (das
sollte nach ihm etwas Absurdes sein), aber er verbindet sie mit dem
Begriff des ,Schicksals‘ und agiert auf diese Weise gegen eine Kultur, die
die Illusion hegt, daß Identitäten einfach auswechselbar seien. Zwar
fänden in unseren Umgang mit der Welt immer wieder Metamor-
phosen statt, doch würden diese einem Menschen auf die verschie-
densten Weisen passieren und sein Schicksal bilden, ohne das es niemals
möglich wäre, genau zu definieren, wer diese Person sei. Baudrillard
zitiert darauf folgend wiederum aus einem Fragment aus dem späten
Nachlass Nietzsches, worin er eine spezifische Art des Menschen als ein
Chamäleon charakterisiert und über sie sagt:

14 Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne 1, KSA, Band 1, S. 880.


15 Alan Sokal et Jean Bricmont, Impostures intellectuelles, Paris: Odile Jacob 1997.
Das achte Kapitel ist Baudrillard gewidmet. Ihre Aussage: „Auch was Vorfälle
in einem Menschenleben betrifft, bezweifeln wir stark, ob eine Tat heute ein
Ereignis in die Vergangenheit beeinflussen kann!“ verdeutlicht, daß die Autoren
selbst jedenfalls nicht sehr bemüht sind, tiefsinnig zu sein.
16 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse 16, KSA, Band 5, S. 29 (vgl. auch:
NL 26[413] KSA, Band 11, S. 262 und 34[28] , KSA, Band 11, S. 429).
342 Philippe Lepers

„Sie wechseln, sie werden nicht…“17


Aus der Art und Weise seiner Nietzschezitierweise kann man übrigens
auch ableiten, wie frei Baudrillard mit dessen Texten verfährt. So er-
örtert Nietzsche beispielsweise in seinem Fragment drei Typen, von
denen Baudrillard aber in seinem „Zitat“ einen Teil des Originaltextes
wegläßt, so daß sich der Vergleich auf den falschen Typus bezieht.
Des weiteren benutzt er den Text, um einen Unterschied zwischen
wechseln und werden aufzuzeigen, was jedoch nicht das einzige ist, das
Nietzsche interessiert: Denn Nietzsche wollte einen Typus beschreiben,
der durch Wechsel, die nicht in eine aufsteigende Bewegung aufge-
nommen werden, gekennzeichnet ist, weil seine Leidenschaften nicht
durch eine produktive Art Antagonismus bezeichnet sind, sondern
friedlich nebeneinander existieren.
Bis hierhin sind einige Beispiele von ziemlich rezenten Beziehungen
Baudrillards auf Nietzsche untersucht worden. Im Anschluß soll nun die
schwerere, aber auch interessantere Frage beantwortet werden, in
welchem Maße Nietzsche für das Denken Baudrillards im Ganzen
wichtig gewesen ist.
Es ist klar, daß Baudrillard mit seinem Werk eine eigensinnige
Stimme erklingen lassen hat. Dabei fällt insbesondere auf, daß er sich
nachdrücklich sowohl von Marxismus und Psychoanalyse als auch vom
Strukturalismus distanziert hat – allesamt Denkweisen, die in Frankreich
nach dem Zweitem Weltkrieg in Mode waren. Auch Michel Foucault
hat er auf eine sehr provokative Weise kritisiert.18 Dabei darf man nicht
vergessen, daß Baudrillard ein Bauernsohn war, der, aufgewachsen in
den französischen Ardennen, stets mit Argwohn gegenüber den Pariser
Trends erfüllt war. Es läßt sich also leicht behaupten, Baudrillard sei wie
Nietzsche immer ein ,unzeitgemäßer‘ Denker gewesen. Er war aber
jedoch ,zeitgemäß‘, insofern er immer stark durch die Aktualität in-
spiriert war. Wollte man bösartig sein, so könnte man ihn in diesem
Sinne sogar einen ,reaktiven‘ Denker nennen.
Dies sind nur allgemeine Betrachtungen. Was nun den Marxismus
betrifft, so darf man nicht aus den Augen verlieren, daß Nietzsche in
Nanterre durch den Marxisten Henri Lefebvre eingebracht worden war.
Früher hatte er übrigens auch Werke von Bertolt Brecht, Peter Weiss,

17 NL 15[157] KSA, Band 13, S. 342. Auf Französisch zitiert in: Jean Baudrillard,
L’change impossible (Anm. 6), S. 100.
18 Vgl. Jean Baudrillard, Oublier Foucault, Paris: Galilée 1977.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 343

Wilhelm Mühlman und Marx und Engels übersetzt. Mit seinen ersten
Büchern Le systme des objets und La socit de consommation hat er ver-
mutlich auch den Eindruck erweckt, daß er genauso links und gesell-
schaftskritisch wie seine Umwelt wäre. Baudrillard aber war niemals
vom Klima und den Zielen der 68er-Bewegung erfaßt worden und er
glaubte noch weniger an irgendwelchen Blaudruck einer neuen Ge-
sellschaftsordnung. Pour une critique de l’conomie politique du signe und Le
miroir de la production zeigen auf unmißverständliche Weise, daß er den
Marxismus radikal ablehnt.19 Dabei spielen überwiegend zwei Gründe
eine Rolle: Zum einen weist Baudrillard Marx Idee vom Gebrauchs-
wert als dem natürlichen Wert der Objekte zurück, zum anderen rea-
giert er auf scharfe Weise gegen die Stellung des Produktionsbegriffs im
marxistischen Denken, weil er nicht glaubt, daß der Mensch fähig sei
auf autonome Weise die Bedeutung und die Einrichtung der Welt zu
bestimmen.
Inwiefern zeugt Baudrillards Kritik nun von nietzscheanischer Be-
einflussung? Folgende Sachen könnten eine Rolle gespielt haben:
– Nietzsches Allergie für jede Art von Sozialismus
– Nietzsches bekannte Kritik am Utilitarismus
– Nietzsches Ablehnung von objektiven, vom Menschen unabhängi-
gen und damit ,natürlichen‘ Bedeutungen
– Nietzsches Kritik am autonomen, rationellen Subjekt: Der Mensch
ist das Resultat eines immerwährendes Kampfes von Kräften und
alles, was er macht, ist ,symptomatisch‘ ein Zeichen von Krankheit
oder Gesundheit.
– Nietzsches kritische Haltung zur Idee des kontinuierlichen Fort-
schritts in der europäischen Kultur: In seinen Augen ist die Moder-
nität vielmehr durch Zeichen von Niedergang und décadence ge-
prägt.
Sein bereits erwähntes Buch Pour une critique de l’conomie politique du
signe erweckte den Eindruck, Baudrillard sollte im strukturalistischen
Lager anstelle des marxistischen situiert werden. Man könnte Le systme
des objets übrigens schon als einen proto-strukturalistischen Ansatz be-
trachten. Schließlich behauptet er in diesem Buch, daß die Bedeutung

19 In zwei kleineren Schriften hat Baudrillard außerdem die französiche Kom-


munistische Partei heftig kritisiert. Vgl. Jean Baudrillard, Le PC ou les paradis
artificiels du politique, Paris: Cahiers d’Utopie 1978, und ders., La gauche divine
(Anm. 4).
344 Philippe Lepers

eines Objektes in der modernen Konsumgesellschaft auf die Weise


bestimmt wird wie es als Element eines Ganzen funktioniert. In Pour une
critique de l’conomie politique du signe hat er diese Idee theoretischer
ausgearbeitet. Laut Baudrillard gilt in der modernen Gesellschaft
hauptsächlich der ,Zeichenwert‘ der Objekte. So wie Wörter bei de
Saussure ihre Bedeutung nicht durch ihren Bezug auf die Realität,
sondern durch ihre Stelle im Netzwerk der Zeichen, beziehen, so wird
auch in der Konsumgesellschaft die Bedeutung der Objekte nicht durch
ihren Gebrauchs- oder Tauschwert bestimmt, sondern durch häufig
minimale und willkürliche Unterschiede mit anderen Objekten. Diese
Analysen aber sollen vor dem Hintergrund von Baudrillards Betrach-
tungen über den symbolischen Wert der Objekte, jener unzweifelhaft
hervorhebt und der in der modernen Gesellschaft unterzugehen droht,
verstanden werden. Diesen Untergang betont er später noch stärker,
wenn er in L’autre par lui-mÞme behauptet, daß das System der Objekte
gar nicht mehr existiere.20 Die Gleichgültigkeit, die die zeitgenössische
Gesellschaft kennzeichnet, gilt auch für die Objekte. Es gibt kein Sys-
tem mehr, in dem man ihre Bedeutung verstehen kann, weil sie in
einem Zeitalter, das nicht mehr durch einen Code, sondern durch die
Mode, bestimmt wird, jede Bedeutung verloren haben. Baudrillards
,flirt‘ mit dem Strukturalismus darf man also nicht als den Versuch durch
eine bestimmte Methode definitive Bedeutungen bloß zu legen be-
trachten, sondern eher als die Suche nach einem Instrument, um den
Untergang der symbolischen Bedeutung zu verstehen. Die symbolische
Bedeutung ist aber niemals objektiv. Vielmehr impliziert sie, daß der
Wert der Dinge nur innerhalb der Beziehung zwischen dem Menschen
und der Welt verstanden werden kann. Dies bedeutet, daß es nicht nur
der Mensch ist, der den Dingen Bedeutung schenkt. Ebenso gut be-
stimmen die Dinge das Schicksal der Menschen.
Diese Thematik kann man nicht wirklich nietzscheanisch nennen.
Trotzdem gibt es auch hier Vergleichspunkte:
– die Unmöglichkeit, zu einer objektiven Wahrheit zu kommen
– Nietzsches Lehre von der ,Amor fati‘, worin alles sowohl synchro-
nisch als auch diachronisch miteinander verbunden ist; dies ist be-
stimmt vergleichbar mit dem, was Baudrillard mit dem ,Symboli-
schen‘ meint.

20 Vgl. Jean Baudrillard L’autre par lui-mÞme (Anm.4), S. 11.


Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 345

Was die Psychoanalyse betrifft, so können wir uns kurz fassen: Bau-
drillard erwähnt sie meistens wie eine systematische Methode mit der
Prätention auf eine objektive und exaustive Weise Bedeutungen auf-
zuspüren (z. B. der Witz oder die Träume). Er teilt also Nietzsches
Intuition, daß jede Art von System einen Mangel an Rechtschaffenheit
zeige. Vielleicht erklärt dies, warum Baudrillard wie Nietzsche immer
häufiger den aphoristischen Stil geführt hat. Nicht nur in seinen Cool
Memories (wovon inzwischen bereits fünf Teile erschienen sind), son-
dern auch in seinen anderen Büchern. Ob Baudrillard übrigens völlig
Recht hat mit seiner Meinung bezüglich der Psychoanalyse kann man
bezweifeln. Seine Beispiele zeigen aber überzeugend, daß die Psycho-
analyse nicht fähig ist, jede Art von Bedeutung zu fassen.21 Übrigens
sind Baudrillards Vorwürfe gegen Foucault vergleichbar mit seiner
Kritik an der Psychoanalyse. Baudrillard glaubt, daß auch die Mikro-
physik die Macht der Dimension des Symbolischen ganz übersieht.
Auf den kommenden Seiten sollen nun einige Themen im Werk
Baudrillards, die noch nicht direkt oder indirekt erörtert worden sind,
behandelt werden. Was das Thema Zeit betrifft, haben wir schon ge-
sehen, dass sich Baudrillard wie Nietzsche der Fortschrittsidee gegen-
über sehr kritisch verhält. Eigentlich hat er immer den ganzen linearen
Zeitbegriff zugunsten eines zyklischen Models relativiert: Reversibilität
statt Irreversibilität. Hier bietet sich deshalb ein Vergleich mit Nietz-
sches Idee von der ewigen Wiederkunft an. Zwar sagt Baudrillard nicht
genau dasselbe, doch hat Nietzsche ihn für eine nicht-lineare Auffassung
der Zeit und der Geschichte sensibilisiert.
Ein zweites Thema ist das der Kunst. Das Denken Baudrillards ist
lange Zeit im Künstlermilieu sehr geschätzt worden; vermutlich auf-
grund des extravaganten Scheins, den sein Werk immer besessen hat.
Man hat dabei offensichtlich übersehen, daß schon Le systme des objets
ein äußerst kritische Behauptung des Designs und der Innenarchitektur
enthielt und daß Baudrillard in Pour une critique de l’conomie politique du
signe darlegte, daß, wenn man die Kunst an erster Stelle wie die Kreation
eines autonomen Subjekts betrachtet, man sich ganz mit der Ideologie
der Modernität solidarisch erklärt. Der Artikel Le complot de l’art (er-
schienen in Mai 1996 in Libration) aber war ein Frontalangriff gegen die
zeitgenössische Kunst, die laut Baudrillard nicht viel mehr als eine ba-

21 Vgl. z. B. Baudrillard, L’change symbolique ou la mort (Anm. 4), S. 322 – 343 und
ders., Les stratgies fatales, Paris: Grasset 1983, S. 154 – 161.
346 Philippe Lepers

nale Evokation aktueller Banalität mit banalen Mitteln sei.22 Könnte


man diese Distanzierung nietzscheanisch nennen? Es ist bekannt, daß
Nietzsche in Die Geburt der Tragçdie den Wert der Kunst sehr hoch
eingeschätzt hat. Aber schon von Menschliches, allzumenschliches ab ist
seine Einstellung viel kritischer geworden und später wird er sogar seine
frühe Idolatrie des künstlerischen Genies als ,Artistenmetaphysik‘ be-
zeichnen.23 Weder Kunst noch Künstler haben einen überzeitlichen
Wert. Auch sie sollen innerhalb einer bestimmten Kultur situiert wer-
den und können sowohl Zeichen von Krankheit als auch von Ge-
sundheit sein. Auch seinen Argwohn gegenüber der Kunst und der
Kultur hat Baudrillard in gewissem Maße von Nietzsche geerbt.
Ein Thema, das bei Baudrillard seit den neunziger Jahren eine
wichtige Rolle gespielt hat, ist das Böse. Er bemerkt, daß die abend-
ländische Kultur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts immer stärker
nur das Positive betont und nur das anerkennt, was innerhalb einer
produktiven, kausalen und utilitaristischen Logik verstanden werden
kann. Alles andere nennt sie ,das Böse‘ und versucht es zu exkommu-
nizieren, zu verneinen oder zu vergessen. Dies ist laut Baudrillard aber
unmöglich und unerwünscht: Das Böse schimmert immer durch (vgl.
La Transparence du Mal). Man denkt dabei unweigerlich an das, was
Nietzsche über das Böse gesagt hat. Wie jener glaubt auch Baudrillard
nicht, daß das, was in der traditionellen Moral als gut und böse be-
zeichnet wird, voneinander zu trennen ist. Es hat also auch keinen Sinn,
das ,Böse‘ auf eine moralisierende Weise beseitigen zu wollen. Die
aktuelle Kultur, die sich oft rühmt sich von der traditionellen Moral
befreit zu haben, hat dieses immer noch nicht verstanden und ist also
noch nicht zu einem nietzscheanischen ,Amor fati‘ fähig.
Auf diese Weise kommen wir zu dem Thema des ,Fatalen‘, das
explizit in Les stratgies fatales erwähnt wird. Man hätte denken können,
daß Baudrillard in einer Kultur, die die individuelle Freiheit vergött-
licht, den Determinismus propagierte, aber das war nur Schein. Auch
betont er nachdrücklich, daß der Ausdruck ,fatal‘ nichts mit ,Fatalismus‘
zu tun hat.24 Er wollte vor allem den Gedanken, daß der Mensch fähig
sei von seinem eigenen Willen und Verlangen aus sein Leben zu be-

22 Vgl. Jean Baudrillard, Le complot de l’art, Paris: Sens et Tonka 1997 und ders.,
cran total, Paris: Galilée 1997, S. 205 – 209.
23 Vgl. z. B. Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie, Versuch 2, KSA, Band 1, S. 13.
24 Vgl. Jean Baudrillard L’autre par lui-mÞme (Anm. 4), S. 75.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 347

stimmen, hervorheben.25 Genau aus diesem Grund stellte er auch den


Begriff der ,Verführung‘ (,sé-duction‘) dem der ,Produktion‘ gegen-
über.26 Wir können hier natürlich wiederum nur auf Nietzsches ,Amor
fati‘ hinweisen, allerdings ebenfalls auf Dionysos, der durch Nietzsche
auch der ,Versucher-Gott‘ genannt wird.27
Bevor wir zum Schluß kommen werden, überlaufen wir jetzt noch
drei kürzere bzw. etwas nebensächlichere Gleichnisse zwischen Bau-
drillard und Nietzsche:
– Wie Nietzsche steht auch Baudrillard dem Feminismus kritisch ge-
genüber. und ist die Frau zuweilen fast eine Philosophische Figur, auf
eine Weise wovon man sich fragen kann ob sie die Frau nicht mehr
berücksichtigt wie manche Emanzipationsbewegungen die sie oft nur
mitreißen wollen in einen Kult der Individuellen Freiheit der leider
ziemlich männlich anmutet
– Ebenso wie Nietzsche verhält sich Baudrillard den Medien gegenüber
– auch wenn sie im 19. Jahrhundert noch nicht eine so bedeutende
Rolle gespielt haben wie das heute der Fall ist – ungemein kritisch.
– Wie Nietzsche, der in Bezug auf das Thema ,Krieg‘ provozierende
Standpunkte einnahm und sich selbst als ,kriegerisch‘ bezeichnete28,
hat auch Baudrillard mit seinen Artikeln über den Golfkrieg von
1991, die später gebündelt unter dem Titel La guerre du Golfe n’a pas
eu lieu veröffentlicht wurden, viel Staub aufgewirbelt.29 Er bezog sich
darin nicht nur auf den beispiellos mediatisierten Charakter dieses
Kriegs, sondern vor allem auf die Tatsache, daß er niemals eine
wirkliche Konfrontation gewesen sei. Nicht nur, daß im wörtlichen
Sinne keine militärische Feldschlacht stattgefunden habe, vielmehr
habe die ganze Geschichte auf eine dramatische Weise auch gezeigt,
wie groß die Kluft und das gegenseitige Unverständnis zwischen der
abendländischen Kultur einerseits und der arabischen Kultur ande-
rerseits sei. Darum zeugt dieser Krieg laut Baudrillard auch vom
Bankrott des modernen universalistischen Traumes. Man kann na-
türlich nicht behaupten, Baudrillard habe dies alles schon bei
Nietzsche gefunden. Aber vielleicht kann man wenigstens sagen daß

25 Vgl. Jean Baudrillard et Marc Guillaume, Figures de l’altrit, Paris: Descartes &
Cie 1994, S. 161.
26 Vgl. Jean Baudrillard, De la sduction, Paris: Denoël/Gonthier 1979.
27 Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse, 295, KSA, Band 5, S. 238.
28 Vgl. Nietzsche, Ecce Homo, Weise 7, KSA, Band 6, S. 274.
29 Vgl. Jean Baudrillard, La guerre du Golfe n’a pas eu lieu, Paris: Galilée 1991.
348 Philippe Lepers

die wichtige Stelle, die Nietzsche dem Kampf im Sinne von Ago-
nalität zuerkennt, das Denken Baudrillards in die Richtung geschickt
hat die befreit war von den Tabus einer allzu bequemen und sim-
plizistischen Friedensideologie.

Schlußbemerkungen

Wir haben festgestellt, daß eine Menge von Vergleichen zwischen


Baudrillard und Nietzsche möglich sind. Daß Nietzsche der Denker ist,
in dessen Schatten sich der Franzose entwickelt hat, scheint damit be-
stätigt werden zu können. Trotzdem haben wir auch gesehen, daß
Baudrillard sich wenig um eine wort- und sinngetreue Nietzsche-In-
terpretation kümmert. Zweitens ist die Beziehung zu Nietzsche meis-
tens nur ein Ausgangspunkt, um seinen ganz eigenen Weg zu gehen.
Zudem gibt es auch mehrere wichtige Facetten von Nietzsches Philo-
sophie, die bei Baudrillard gar nicht erörtert werden und die er ver-
mutlich auch nur schwer in seine eigene Denkweise aufnehmen könnte.
Man kann dabei erstens an Nietzsches Lehre von dem ,Willen zur
Macht‘ und an den damit verbundenen Naturalismus denken. Auch
findet man bei Baudrillard kein Streben nach einer Art ,Übermensch-
lichkeit‘. Und, um diese beiden Sachen miteinander zu verbinden, auch
die Idee des Übermenschen als Sinn der Erde fehlt bei Baudrillard
gänzlich.30 Vielleicht könnte man sogar sagen, Baudrillard betrachtet
den Sinn des Lebens immanenter als Nietzsche, nämlich bloß im Spiel
des symbolischen Tausches. Weiterhin hat Baudrillard auch nicht eine
so abschätzige Sicht auf die Masse wie Nietzsche, im Gegenteil: Er
nimmt sie häufig gegen die bekrittelnde Einstellung der Politiker, In-
tellektuellen und Volkserzieher in Schutz und zeigt wie ihre Gleich-
gültigkeit tatsächlich den Bankrott der Modernität demonstriert.
Es ist fraglich, ob Nietzsche etwas dagegen hätte. Er suchte ja keine
Anhänger oder Leute, die ihm blindlings folgten. Am 13. Mai 1878
schreibt er an Reinhart von Seydlitz:
„Nichts liegt mir ferner als Proselyten zu machen.“31
Und einige Tage später erklärt er in einem Brief an Heinrich Köselitz,
was er denn jedoch will:

30 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vorrede 3, KSA, Band 4, S. 14.


31 Vgl. KSB, Band 6, S. 327.
Baudrillard und Nietzsche: vademecum, vadetecum 349

„Das eben ist das Beste, was ich erhoffte – die Erregung der Produktivität
Anderer und die Vermehrung der Unabhängigkeit in der Welt.“32
Baudrillard ist also bestimmt kein Epigone Nietzsches, aber bleibt dessen
Adagium ,vademecum, vadetecum‘ treu.33 Man könnte also behaupten,
daß er hauptsächlich Nietzsches Kritik an der Modernität auf eigene
Weise und in einem neuen gesellschaftlichen Kontext weitergeführt hat.
Zum Schluß: Bietet Baudrillards eigener Ansatz auch die Perspek-
tive zu einer anderen Sicht auf Nietzsche? Ich wollte mich diesbe-
züglich auf einen Punkt beschränken. Baudrillard hat sich während der
neunziger Jahre sehr für das Phänomen der ,Alterität‘ interessiert.34 Was
er damit behauptete, war zumeist die Unmöglichkeit alles und jeden in
einen homogenen und universellen Diskurs integrieren zu können. Es
gibt dabei klare Zusammenhänge in Bezug auf die Themen des sym-
bolischen Tausches, Fatalität, Verführung usw. Man könnte sich also
fragen, ob nicht auch Nietzsche als ein Philosoph der Alterität betrachtet
werden könnte. Diese These mutet vielleicht ein bißchen sonderbar an,
weil er manchmal gerade ein Philosoph des Egoismus genannt wird.
Aber was Nietzsche auf eine positive Weise mit Egoismus beabsichtigt,
ist jedenfalls viel komplizierter als das Verfolgen des individuellen
Glücks.35 Bei Nietzsche ist es offensichtlich möglich von ,das Fremde in
das Selbst‘ zu reden und bedeutet die Wichtigkeit der ,Agonalität‘
unzweifelhaft die Erkennung einer Verhaltung zu den Anderen worin
Distanz und Spannung immer behalten bleiben sollen. Auch das ,Pathos
der Distanz‘ (was freilich etwas anderes ist) kann hierauf bezogen
werden, ebenso wie die Stelle der Einsamkeit in Nietzsches Denken.
Außerdem entzieht sich die Welt laut Nietzsche immer bis zu einem
gewissen Grad unseren Versuchen sie zu verstehen oder zu meistern.
Nietzsches Perspektivismus enthält das man niemals einen vollständigen
Blick auf die Welt nachstreben kann und immer die Möglichkeit an-
derer Ansätze offen läßt und erkennt. Zuletzt kann man sich fragen, ob
auch die Suche nach dem wahren Selbst, wie sie zum ersten Mal in

32 Vgl. KSB, Band 6, S. 329.


33 Vgl. NL 4[313] KSA, Band 9, S. 178, Die frçhliche Wissenschaft, Scherz 7, KSA,
Band 3, S. 354 und NL 1[13] KSA, Band 10, S. 11.
34 Vgl. z. B. Jean Baudrillard et Marc Guillaume, Figures de l’altrit (Anm. 25) und
Jean Baudrillard, L’change impossible (Anm. 6).
35 Vgl. Paul van Tongeren/Gerd Schank/Herman Siemens H. (Hrsg.), Nietzsche-
Wçrterbuch, Berlin: De Gruyter 2004, Band 1, S. 702 – 720; Gisèle Souchon G.,
Nietzsche: gnalogie de l’individu, Paris: L’Harmattan 2003 und Christophe
Colera, Individualit et subjectivit chez Nietzsche, Paris: L’Harmattan 2004.
350 Philippe Lepers

Schopenhauer als Erzieher thematisiert wird, wohl als eine Odyssee ver-
standen werden soll (auf die Weise wie Emmanuel Levinas diese ver-
steht) und nicht eher wie ein wirkliches Abenteuer, eine überraschende
Fahrt ins Blaue, die vielleicht niemals enden wird.36 Jedenfalls erscheint
es als eine interessante und herausfordernde Möglichkeit von Baudrillard
Nietzsches Denken auf diese Weise, wie eine Philosophie der Alterität,
zu beschreiben.

36 Vgl. Unzeitgemße Betrachtungen III.1, KSA, Band 1, S. 337 – 341. Vgl. Emma-
nuel Levinas, Totalit et Infini. Essai sur l’extriorit (1961), La Haye: Martinus
Nijhoff Publishers 1980, S. XV, 151 und 249.
“René Girard and Nietzsche Struggling”
Michael Platt

The French, essayist, historian, anthropologist and professor of litera-


ture, René Girard, has had his eye on Nietzsche for a long time, all
his intellectual life one would guess,1 and has had his critical eye on fel-

1 All quotations from Nietzsche, unless otherwise noted, will be from the Colli
and Montinari edition. In English they will be from Walter Kaufmann’s trans-
lation, if otherwise as noted. The things of Girard’s that deal with Nietzsche,
those I am aware of, are “Superman in the Underground: Strategies of Madness
– Nietzsche, Wagner and Dostoevsky”, in: Modern Language Notes Vol. 91
(1976), pp. 1161 – 1185; republished as “Strategies of Madness – Nietzsche,
Wagner and Dostoevsky”, in: To Double Business Bound: Essays on Literature,
Mimesis, and Anthropology, Johns Hopkins 1978.
La Violence et la Sacr, Paris: Editions Bernard Grasset 1978 [Eng. trains. Pat-
rick Gregory ( Johns Hopkins 1977)]; Nietzsche just a few times mentioned;
however the index missed one mention (296) and one of Zarathustra.
Des choses caches depuis la fondation du monde (Paris: Grasset 1978; trans. Ste-
phen Bann & Michael Metteer as Things Hidden Since the Foundation of the World
(Matthew 13:35) (Stanford U. P. 1987); just mentions of Nietzsche, but more
of them, in this book.
René Girard, “Dionysus versus the Crucified”, in: Modern Language Notes,
Vol. 99 (ca. 1984, No. 4), pp. 816 – 835. Most important.
“Nietzsche and Contradiction”, in: Nietzsche in Italy, ed. Thomas Harrison,
Saratoga, California: Anima Libri 1988 (written sometime after the 1978
French publication of Colli/ Montinari, Nachlass of 1885 – 87; here Girard dis-
covers Nietzsche’s Nachlass adoration of Parsifal for its address to his deepest
Christian questions.
“The Founding Murder in the Philosophy of Nietzsche”, in: Violence and
Truth: On the Works of Ren Girard, ed. Paul Dumouchel, Stanford U. P.
1988, but originally in French of the volume in 1985 (Violence et verit, Grasset
& Fasquelle); in the essay Girard humorously portrays himself as, being unable
to find anything but his idée fixe, only by accident with his eyes closed opening
to the Madman’s report of God’s death in Nietzsche.
352 Michael Platt

low French Nietzscheans too.2 Instead running with one of Nietzsche’s


ideas and ignoring the rest as epigones do, with more rivalry than grat-
itude, Girard has homed-in, like a laser, on the contradictions and un-
derlying struggles in Nietzsche, and he has done so not to show
Nietzsche up as the effect of causes other than himself (such as the
times, milieu, nation, race, class, sex, genes, etc.), but with respect for
all Nietzsche’s thinking and struggling life, and on topics deeply inter-
esting to humanity.
These interesting things, may be restated, somewhat more broadly,
for the sake of philosophy, as questions.
Why do we do what we do? Why do we desire what we desire?
And how do we become who we are? Why as we grow up, do we imi-
tate, then emulate, soon rival, and finally slay the person we admire
most, all to become who we are? And, who, then, are we?
What is it about us humans that our cities, countries, civilizations,
and religions seem always to begin with a violent deed – think of Ro-
mulus killing Remus, Cain killing Abel – and why is it that we, collec-
tive we, seem so ready to persecute the best of us, Dreyfus, Joan of Arc,
and Christ, scapegoats all?
What is the deepest representation of our strange condition, so vio-
lent and rivalous? Is it tragedy or Christianity? Is it the Bachee, in which
the intoxicating god of tragedy, Dionysus, drives mad the city, especially
its women, and then the madding city tears Dionysus apart, even as he

“The Twofold Nietzschean Heritage”, in: I See Satan Fall Like Lightning
trans. James G. Williams, Orbis Books 2001, trans. of Je vois Satan tomber
comme l’clair, Paris: Grasset & Fasquelle 1999.
Several things from the above, including “Nietzsche versus the Crucified”,
but also out of the way things, reprinted in: The Girard Reader ed. James G.
Williams, Crossroad Herder 1996, along with an excellent interview at the
end and a short intellectual and spiritual biography at the beginning.
The best criticisms of Girard’s work I have found are: Pierre Manent, Con-
trepoint 14, 1974; Hans Urs v. Balthasar, Theodrama: IV, Ignatius Press,
pp. 296 – 310; and Lucien Scubla, “The Christianity of René Girard and the
Nature of Religion”, in: Violence and Truth: On the Works of Ren Girard
(cited above).
2 Girard pays so much scornful attention to various French intellectuals that a wag
could propound a theory of anti-imitative desire, about how some people are
animated to do what they do by resolving not to imitate others. “Whatever I
see someone else wanting, I want the opposite.” Come to think of it, this
wag could cite Nietzsche as an example, for so often his screaming “noes”
about anything precede his gentle “yeses”. Or are not followed by the
“yeses”. You have to infer those from the “noes”.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 353

affirms suffering life, as Nietzsche claims. Or is it the Gospel represen-


tation of Christ stirring up the people, yet refusing to rule, and then suf-
fering judicial lynching by the people? Is the Crucifixion but an instance
of the same mythic pattern as Dionysus, or is it singularly different be-
cause Christ accepts suffering so as to teach us to pity the innocent vic-
tim not the mighty mob? And why was it just in our time, after
Nietzsche, that a movement arose filled with hatred of the pitiful?
With these questions in mind, let us look at the three important
matters that René Girard has attended to in Nietzsche.

II Desires, weak and strong

First, according to Girard, it is interesting that Nietzsche more than


once made proposals of marriage through another man and in both
cases that man was interested in the girl, something Nietzsche either
knew or suspected. In the case of Mathilde Trampedach, the man
Nietzsche entrusted with his proposal, Hugo von Sender, later made
his own proposal, which was accepted. In the case of the proposal to
Lou von Salomé, conveyed by Paul Reé, who must have praised Lou
to Nietzsche with a warmth Nietzsche surely noticed, the proposal
was also rejected, and later Reé and Lou made a pair for a time (if an
unusual pair, even as the “pair” Lou made with her husband Prof. An-
dreas was unusual too). About such proposing to women through other
men, Girard claims that no theory, not Freud’s Oedipal one, not La-
can’s, not Levi-Strauss’, but only his own theory of imitative desire
can give an adequate account.
For myself, never having been enchanted with the claims of Freud,
Lacan, or Levi-Strauss to understand human beings very well, especially
such a deep, noble, and self-knowing human being as Nietzsche, I find
René Girard’s theory plausible, but not more. Its apparent basis, the
conviction that all human desires lack natural goals is dubious, and
even dubious on Girard’s own evidence, for Girard supposes the person
moved by imitation to desire anything (a person, a mate, a thing, an
achievement) is imitating someone who has an un-imitative desire for
that thing – unless Girard supposes that that prime person too was
prompted by imitation, but then there would be an infinite regress,
each person’s desire dependent on seeing someone else’s desire, ad infin-
itum, with no first, unimitative, pure desire founding the series.
354 Michael Platt

Surely, contra Girard, we do have good evidence that there are pure
human desires, however various in their objects, however different their
intensity, and however few humans are influenced solely by their own
desires. And some human desires, for someone beautiful, for someone
who returns one’s love, for a mate, a fellow parent, and for children
– such desires so well represented in literature, especially Shakespeare
and in their greatest range and elevation in Plato’s Symposium – seem
rooted in nature, pretty constant and general, again however various
in quality. Would Girard have us believe that a boy’s desire for a girl
only arises because he saw an older boy desire one? I have heard of a
father who wished to shelter his boy and so when they first saw a
girl, the father told the boy “That’s a goose” but the boy merely replied
“I like that goose.”
In truth, Girard’s theory of imitative desire is only a theory of weak
desires, of desires that wouldn’t arise except the person notices someone
else desiring something, who would lose interest if the other does, and
hasn’t the strength to express this desire except through the other.3
There are such persons. Think of the wretched Teenagers, their anxious
alertness to what others think is “cool” but also all of us potentially, and
aren’t some speakers at congresses imitating speakers they once heard?
Perhaps Girard’s theory describes the souls prevalent in a weak era
such as our own, but such weakness is surely inseparable from our
very imitative human nature. As Aristotle might say, the child who imi-
tates no one must grow up a beast or a god.4
As to Nietzsche, it ought to have been remarked by Girard that after
Lou refused Nietzsche’s offer of marriage through Reé, Nietzsche re-
newed the proposal himself. On their long walk up Monte Sacro they
may have kissed – she once said she couldn’t remember (which in
woman means “yes”, as Werner Ross observes in The Most Anxious

3 Shakespeare has portrayed such weak desire in Claudio in Much Ado About
Nothing, who has the Prince woo Hero for him, and portrayed the struggle
to emulate and yet to be, in Hamlet; for more, see my “To Emulate or To
Be: Hamlet and Aeneas”, in: Law and Philosophy: The Practice of Theory [Essays
in Honor of George Anastaplo] ed. William Braithwaite, John Murley, & Rob-
ert Stone, Athens, Ohio: Ohio University/Swallow Press 1992, Vol. II.,
pp. 917 – 936.
4 In a 1992 interview excerpted in The Girard Reader, Crossroads 1996. Girard
asserts he does recognize a good form of imitative desire (pp. 62 – 65), but
not it seems to me sufficiently; for it does not lead to a re-thinking of the
whole theory from scratch.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 355

Eagle 5), but still she rejected the offer. So Nietzsche wasn’t always en-
tirely “imitative” or weak. And with rival Reé, Nietzsche didn’t strug-
gle at all. Nor, after it was all over, did Nietzsche struggle with Lou.
Suffer he undoubtedly did, but he put it behind him, as we see in his
calm respect for her in Ecce Homo.
Where Girard’s theory strikes some pay dirt is in Nietzsche’s rela-
tions with Wagner. Here we really do have signs of a never completed
struggle. A critic can combine a wide range of judgments of something;
to do justice to some rich complex thing, he will have to. Wagner is that
and was that for Nietzsche, but in all the things Nietzsche says of Wag-
ner and his music, there is extra intensity, both heated and cold. After
all, as Nietzsche confesses, meeting Wagner was an event in his life.
Early, he almost adored Wagner; later he nearly reviled him; yet in
both moods, we can detect something of the other. The needle between
the two never quite settles. And of the two postscripts and one epilogue
to Der Fall Wagner and then of the retrospective Nietzsche Contra Wag-
ner, that great psychologist, Hamlet’s mother, Gertrude, might well ex-
claim “The man doth epilogue too much.” And what rich pay dirt Gir-
ard’s similar observation struck when he discovered the passage in the
Nachlass in which Nietzsche positively adores the Prelude to Parsifal
and for its Christian answers to his abiding questions; the passage begins:
Vorspiel des P <arsifal>, grösste Wohlthat, die mire seit langem erwiesen
ist. Die Mach un Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich kenne nichts,
was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum Mitgefühl
brächte. Ganz erhoben and erfriffen – kein Maler hat einen so unbeschrei-
blich schwermüthigen and zärtlichen B l i c k gemalt wie Wagner
die Grösse Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, aus der etwas wie Mitlei-
den quillt:
das Grösste Meisterstück des Erhabenen, das ich kenne, die Macht und
Strenge im Erfassen einer furchtbaren Gewissheit, ein unbeschreiblicher
Ausdruck von Grösse i m Mitleiden darüber; kein Maler hat einen solchen
dunklen, schwermüthigen Blick gemalt wie Wagner in dem letzten Theile
des Vorspiels. Auch Dante nicht, auch Lionardo nicht.
Prelude to Parsifal, the greatest gift I have received in a long time. The
power and the rigor of the feeling, indescribable, I do not know any-
thing that apprehends Christianity at such depth, and that generates
compassion so powerfully. I am completely transported and moved –

5 Werner Ross, Der angstliche Adler: Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart: Deutsche
Verlagsanstalt 1980.
356 Michael Platt

no painter ever managed to render as Wagner does a vision so indescrib-


ably melancholy and tender.
His greatness in apprehending a dreadful certainty, from which
something like compassion emanates:
the greatest masterpiece of the sublime that I know, power and rigor
in apprehending a dreadful certainty, an indescribably expression of
greatness in the compassion towards it, whatever it means. No artist
has ever been able to express as magnificently as Wagner does such a
somber and melancholy vision as in the last part of the Prelude. Not
even Dante, not even Leonardo.6
Like nothing in the published works, this passage exposes how pro-
found Nietzsche’s ambivalence was to Wagner (and also to Christianity
and even Christ, of which more soon). Here is Nietzsche praising what
he elsewhere reviles. Nietzsche lauded the quest for truth; he presents
himself as honest to a fault; and often gives the impression of holding
nothing back. To be sure, he also characterizes lies as life-protecting
and he lauds masks. Still, the passage, or more exactly his never saying
something similar in print, mars his reputation for integrity, as his pla-
giarism of an essay at Schulpforta might not, being excused as a youthful
offense never repeated. As Girard asserts, this is a passage that many
Nietzscheans, especially French Nietzscheans, do not want to confront.
Upon discovering the passage well might Girard have exulted like Ham-
let “Oh my prophetic soul!” And be forgiven for scorning all the intel-
lectuals in the rotten French court who don’t want to admit that their
Emperor is naked.
Perhaps Girard might not have discovered this remarkable passage
without his interest in his imitative theory. Yet even if his theory be su-
perior to all the post W.W.II French and German intellectuals he scorns,
still is his insight into Nietzsche relation to Wagner remarkable? Is it an
insight no one else makes, none of Nietzsche’s biographers, the com-
prehensive Curt Paul Janz or the vivacious Werner Ross? Girard
even passes up evidence his theory should have pointed him to. By not-
ing the mad postcard Nietzsche wrote to Cosima declaring his love, by
remarking that Nietzsche did not write Der Fall Wagner until after Wag-

6 Colli/Montinari, KSA XII, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1886-Herbst


1887 5[41]. As the reader might have guessed there is reason to construe this
“paragraph” as a revision of the one above, a conjecture supported by seeing
the notebook itself, as I did at the Goethe Schiller Archive in Weimar, thanks
to the staff and Marie-Louise Haase.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 357

ner was dead for five years, we may conjecture that Nietzsche hoped
that upon reading Der Fall Wagner Cosima would get in touch with
him.7 Girard’s attachment to his theory, his indefatigable promotion
of it, seems to have blinded him to other things in Nietzsche. Thus,
even in Nietzsche’s writings on Wagner, Girard never hears how fine
the criticism is. To its music he is deaf. And he never listens to the argu-
ment. Nor does Girard attend to the wonderful range of Nietzsche’s
thoughts, his singular teachings, and his fine appreciations of all beautiful
and noble things. And Nietzsche’s remarkable self-knowledge, includ-
ing remarks on his contradictions, don’t register with Girard. There is
more in Nietzsche than Girard kens of.8
Surely the man who would understand Nietzsche would have to be
remarkable. Who could understand struggling Nietzsche? Perhaps the
man who told the story of Telemachus growing up alone with only sto-
ries of his father, till he joins him in setting Ithaka right, yes wouldn’t
Homer understand Nietzsche, who grew up without a father and
came to think he alone was called to redeem the history of humanity
alone. Or even more the man who wrote of Hamlet worshipping his
heroic father, struggling with his dread commands, and who while be-
coming the rough-hewn minister of those commands, nevertheless suc-
ceeded in becoming himself, yes wouldn’t it take Shakespeare to under-
stand Nietzsche’s spiritual struggle with Wagner; after all he understood
what moved Brutus to slay Caesar. In fairness to Girard, we must, how-
ever, observe that he might agree, that it would take a Homer or a
Shakespeare to understand Nietzsche, for Girard often stresses the wis-
dom in great literature, and not in the hollow and condescending way of
Freud.9

7 In the Nachlass there is an “Entwurf of a letter to Cosima (No. 1099a)”, be-


lieved to belong to early September of ’88. There are of course the later missives
(and drafts) of December, and one, addressed to “Prinzess Ariadne, meine Gel-
iebte”, in which Nietzsche suggests he was once Richard Wagner (3 Jan. 89,
No. 1241 in Colli / Montinari). Surely good evidence of unfinished struggle.
A struggle never to be finished.
8 A man with a similar theory, a similar simplicity, and a similar inability not to
ride his hobby-horse, and yet with insight is Harold Bloom, with his theory of
emulation and overcoming. (So far, I have not run across in Girard any mention
of Bloom.)
9 Girard’s book on Shakespeare, A Theater of Envy (Oxford U. P. 1991), leaves
the general impression that his theory visits the works, finds itself there, and
says “what a pretty theory am I!” but Girard does find interesting things;
358 Michael Platt

III. Dionysus versus Christus Crucifixus

In mentioning the passage in Nietzsche’s Nachlass in which Nietzsche


positively adores Parsifal and for its Christian depth, we have already
touched upon the fundamental struggle Girard discovers in Nietzsche.
According to Girard, in his published writings Nietzsche distorts the
truth about Wagner’s relation to Christianity; features of Christianity do
appear in Wagner’s early work; if lesser minds can see that, so could
Nietzsche; moreover, during his time of intimate conversation with
Wagner at Tribschen, Nietzsche knew a version of Parsifal. No,
Nietzsche fabricates the notion that Wagner suddenly became Christian,
or more receptive to Christian themes. Parsifal is not a sudden turn away
from and thus betrayal of what Nietzsche and Wagner shared when they
were friends. Girard believes Nietzsche knew this but could not face it.
To be himself, Nietzsche felt he had to overcome Wagner, and to do
that he had to deny things he knew. So claims Girard.
The deeper matter, upon which this struggle with Wagner rests,
however, is Nietzsche’s relation to Christianity. Here is how the passage
in the Nachlass on Parsifal continues:
“Wie als ob seit vielen Jahren endlich einmal Jemand zu mir über die Prob-
leme redete, die mich bekümmern, nicht natürlich mit den Antworten, die
ich eben dafür bereit halte, sondern mit den christlichen – welche zuletzt
die Antwort stärkerer Seelen gewesen ist als unsere letzten beiden Jahrhun-
derte hervorgebracht haben. Man legt allerdings beim Hören dieser Musik
den Protestant wie ein Missverständnis bei Seite. […] Sonderbar! Als
Knabe hatte ich mire die Mission zugedacht, das Mysterium auf die
Bühne zu bringen.”
As if, after many years, someone finally addressed the problems that
truly concern me, not to echo once again the answer that I always
have ready at hand, but to provide the Christian answers, which have
been the answers of souls stronger than those produced by the last
two centuries. Yes, when this music is heard, we brush aside Protestan-
tism as if it were a misunderstanding … Strange! As a lad I intended for
myself the mission of bringing the Eucharist to the stage.10
What were those problems? How we wish Nietzsche had written
what they were. We can only guess that they were about resentiment,
about pity, about slave morality, about redemption, and about the curse
envy is important in Shakespeare; and Girard is, for example, wonderful on
what moves each of the conspirators against Caesar to join the conspiracy.
10 KSA XII, Sommer 1886 – Herbst 1887 5 [41].
“René Girard and Nietzsche Struggling” 359

on nature and life that Nietzsche was always ready to accuse Christianity
of in what he published. But wait, in this entry Nietzsche writes of “the
problems that truly concern me” and he thinks of stronger Christian an-
swers to questions than he always had ready answers to. What were
those deeper questions he was truly concerned with? Were these ques-
tions not treated, let alone even asked, in what he published? Could
Nietzsche, then, be unsure of the truth of his critical curses upon Chris-
tianity? Were they just answers “that I always have ready at hand”?
What wonderful self-examination is in that phrase. (Reading it, we
might whisper “how true” of us, with our stock of points, stories, and
opinions, our tics and our idée fixes, which we too always have ready to
hand and to hand out. And would we be as willing as Nietzsche to ques-
tion them when we meet stronger souls. Nietzsche did publish some
“self-criticisms.” One wishes there were more like this one he left be-
hind in his notebook. It seems, then, that the vehemence of his publish-
ed curses must be a sign not of certainty, either calm or resolute, but an
attempt to crush an uncertainty ever tumultuous and now grown un-
bearable, and thus a sign of struggle not victory. What did Nietzsche
really think of Christianity and of Christ? Romano Guardini once ob-
served:
„Wenn N. vom Christentum spricht, dann kommt es wie ein Paroxysmus
über ihn und er, der in seiner Natur vornehme und zarte Mensch, verliert
jeden Masstab der Wahrheit, ja der Anständigkeit. Dass aber sein Angriff so
viel Richtiges sieht, macht da Unwaher darin um so heftiger. Ein Buch,
wie den ,Antichrist’ zu lesen, ist nicht nur quälend, sondern beschämend.
Dabei geht durch N’s ganzen Kampt gegen Christus und das Christliche
ein solcher Hauch der Nähe, dass man nicht anders kann als denken, er
wende sich gegen etwas, von dem sein innerstest Herz weiss, es ist gut. So
wie N. das Christliche hasst, kann man es nur mit schlechtem Gewissen
tun. Es wirkt wie eine Enthüllung, wenn er sein letztes Buch Ecce Homo
nennt und einen Brief aus der Wahnsinnszeit mit ,Der Gehreuzigte’ un-
terzeichnet.“
“When N. speaks about Christianity it is as if a paroxysm came over him.
Although he is in his nature noble and sensitive, he loses all measure of
truth and even decency. The untruth of his attack is all the more vehement
because he sees so much that is right. Reading a book like the Antichrist is
not only a torture, but an embarrassment. At the same time, such a breath
of closeness blows through all of N’s struggle against Christ and Christian-
ity that one cannot avoid the conclusion: he is turning against something
which—he knows in his innermost heart – is good. The manner in
which N. hates Christianity is only possible for one who hates it with a
bad conscience. One has the impression of a revelation when he calls his
360 Michael Platt

last book Ecce Homo and when he signs a letter written after he became in-
sane, ,The Crucified’.”11
Deeper still then, perhaps Nietzsche may wonder about the love Christ
offers him. And may even resent it terribly, as an offense, or worse, a
temptation. As Nietzsche so acutely observes in Menschliches, Allzunens-
chliches I, 603 (Human, All Too Human), men who very much want to be
honored, to be justly honored, do not like being loved, not loved as a
free gift, an affirmation that it is merely “good that you exist.” In Ecce
Homo Nietzsche wants to say something like that to his whole existence,
to achieve and to exhibit the virtue of amor fati. He wants to say it, not
hear it. That Christ is always saying to him, to every person, and to
every creature in Creation, “It is good that you exist,” Nietzsche shun-
ned. Indeed, Nietzsche wants more than amor fati; in Ecce Homo he hon-
ors himself as the greatest man who has ever lived. Such is the perfection
of this self-love that he wants no love from another. Mon moi est aim-
able.
Certainly Girard in bringing forward this Nachlass is right to think
that it points to Nietzsche’s struggle with Christianity (with it, not as in
the published works just against it) and to Nietzsche’s struggle with
Christ (with Him, not just against him).
Girard thinks that to uncover that struggle one must go to the fol-
lowing additional Nachlass, the famous No. 1052 of Wille-zur-Macht,
about:
Gegenbewegung: Religion
„Die zwei Typen:
D i o n y s o s und der G e k r e u z i g t e„
Festzuhalten: der typische r e l e g i ö s e Mensch – ob eine décadence-
Form?
Die grossen Neuerer sind sammt und sonders krankhaft und epilep-
tisch:
aber lassen wir nichet da einen Typus des religiösend Menschen aus,
den h e i d e n i s c h e n? Ist der heidenische Cult nicht eine Form der
Danksagung und Behahung des Lebens? Müsste nicht sein höchster Re-
präsentant eine Apologie und Vergöttlichung des Lebens sein?

11 The passage comes from the only chapter of a planned book on Nietzsche that
Romano Guardini wrote before his death, extant in the Guardini Archive at the
Catholic Academy in München; see below. (Trans. Prof. Dr. Dr. Dr. Michael
Waldstein, President, International Theological Institute, Gaming Austria).
Many thanks to Dr. Stephan Höpfinger and Prof. Dr. Hans Mercker for help
locating this mss.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 361

Typus eines vollgerathenen und entzückt-überströmendeden Geistes



Typus eines die Widersprüche und Fragwürdigkeiten des Daseins in
sich hineinnehmenden und erlçsenden Typus?
– Hierher stelle ich den D i o n y s o s der Griechen:
die religiöse Behahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und
halbirten Lebens
typisch: dass der Geschlechts-Akt Tiefe, Geheimniss, Ehrfurcht er-
weckt
Dionysos gegen den „Gehreuzigten“: da habt ihr den Gegensatz. Es ist
n i c h t eine Diferenz hinsichtlich des Martyriums,
– nur hat dasselbe einen andern Sinn. Das Leben selbst, seine ewige
Fruchbarkeit and Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstöring, den Willen
zur Vernichtung …
im andern Fall gilt das Leiden, der „Gekreuzigte als der Unschuldige“,
als Einwand gegen dieses Leben, als Formel seiner Verurtheilung.
Man erräth: das Problem ist das vom Sinne des Leidens: ob ein
christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn … Im ersten Falle soll es der Weg
sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt d a s S e i n a l s s e l i g g e n u g,
um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen
Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll,
vergöttlichend genug dazu
Der christliche verneint noch das glücklichste Los auf Erden: er ist
schwach, arm, enterbt genug, um in jeder Form noch am Leben zu leiden

„der Gott am Kreuz“ ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von
ihm zu erlösen
der Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheissung ins Leben: est
wird ewig wieder gehoren und aus der Zerstörung heimkommen.12
The two types: Dionysus and the Crucified. – To determine: whether the typ-
ical religious man is a form of decadence (the great innovators are one and all
morbid and epileptic); but are we not here omitting one type of religious
man, the pagan? Is the pagan cult not a form of thanksgiving and affirma-
tion of life? Must its highest representative not be an apology for and de-
ification of life? The type of a well-constituted and ecstatically overflowing
spirit? The type of a spirit that takes into itself and redeems the contradic-
tions and questionable aspects of existence!
It is here I set the Dionysus of the Greeks: the religious affirmation of
life, life whole and not denied or in part; (typical – that the sexual act
arouse profundity, mystery, reverence). Dionysus versus the “Crucified”:
there you have the antithesis. It is not a difference in regard to their martyr-
dom – it is the difference in the meaning of it. Life itself, its eternal fruitful-
ness and recurrence, creates torment, destruction, the will to annihilation.
In the other case, suffering – the “Crucified as the innocent one” – counts
as a objection to this life, as a formula for its condemnation. – One will see

12 KSA XIII [Frühjahr 1888 14 [89].


362 Michael Platt

that the problem is that of the meaning of suffering: whether a Christian


meaning or a tragic meaning. In the former case, it is suppose to be the
path to a holy existence; in the latter case, being is counted as holy enough
to justify even a monstrous amount of suffering. The tragic man affirms
even the harshest suffering: he is sufficiently strong, rich, and capable of de-
ifying to do so. The Christian denies even the happiest lot on earth: he is
sufficiently weak, poor, disinherited to suffer from life in whatever form he
meets it. The god on the cross is a curse on life, a signpost to seek redemp-
tion from life; Dionysus cut to pieces is a promise of life: it will be eternally
reborn and return again from destruction.13
Now at first glance it seems that the struggle in this passage is indeed
against Christianity, but Girard thinks there is a deeper struggle, one
within Nietzsche. After all, unlike positivist students of mythology,
most professors of anthropology, and modern atheistical intellectuals,
Nietzsche did not think the voluntary death at the center of Christianity
was like all the violent sacrifices in so many founding mythologies. “Es
ist nicht eine Differenz hinsichtlich des Martyriums – nur hat dasselbe
einen anderen Sinn.” Christianity is not, then, just another tired reli-
gion, waning faith in whose god might be termed a death. Thus in
Die Frçhliche Wissenschaft No. 125 (Frolicsome Science), not only is
this God said by the Madman to have been murdered by us all, but
later in Zarathustra IV we hear that this God has been killed by an indi-
vidual murderer, the Ugliest Man.14 Of course, to confirm that
Nietzsche thought Christianity unique, Girard could simply point out
that Nietzsche almost always singles it out, as he does no other religion,
for his criticism, and finally in Der Antichrist even calls it “the one im-
mortal blemish of mankind” (No. 62 my italics).
Girard wants to prove more of course. And that “more” is much
harder to prove. With Nietzsche’s relation to Wagner, Girard’s intuition
told him a passage of ambivalent inner contradiction might well exist in
the Nachlass, and then he discovered it, in the passage on Parsifal. Does
such a passage exist about Dionysus and Christ, one in which Nietzsche
contradicts what he holds about the opposition of Christ to Dionysus?

13 Trans. Walter Kaufmann.


14 That the Ugliest Man is an individual murder deviates from Girard’s theory of
collective murder, but perhaps, as Girard argues, that is not as disabling as it
seems, if the Ugliest Man is the same as the Madman, or if he is representative
of all men, just more knowing. For the interesting suggestion that the Ugliest
Man is Socrates, see: Weaver Santaniello, “Socrates as the Ugliest Murderer of
God”, in: Nietzsche and the Gods ed. Weaver Santaniello & John J. Stuhr ,
SUNY Press 2001.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 363

Perhaps only the word “innocent” in the Nachlass passage itself ( “Gek-
reuzigt als der Unschuldige”) but while acknowledging that Christ is in-
nocent, thus unjustly sacrificed, still Nietzsche sways not a whit from
siding with Dionysus against Christ. (In Der Antichrist No. 27 he says
Jesus was guilty, in depriving the Jews of the hope of becoming a nation
once again.) Apparently the good, as Nietzsche sees it in Dionysus, the
good of uniting a society, trumps the just. Thus, according to Nietzsche,
the innocent are to be sacrificed for the community, the sick for the spe-
cies, and the weak for the sake of the strong.
To prove that beneath the very evident attacks in the published
works, there lies a profound ambivalence to Christ, Girard generously
attributes to Nietzsche the insight that the truly important difference be-
tween the sacrifice of Dionysus and the “sacrifice” of Christ is that
Christ was innocent and that we are taught by that innocence always
to side with the innocent and against those violently sacrificing them
to draw our sword and cry “hold your hand,” much as the Second Serv-
ant in Shakespeare’s King Lear does (3. 7). The evidence that Nietzsche
saw this is, according to Girard, not only that he is too vehement in his
worship of Dionysus and too vehement in his vilification of Christianity
– as Gertrude might say “The man doth worship and vilify too much” –
but that when Nietzsche went mad, he began confusing himself not
only with Dionysus (and the Antichrist, Alexander and Caesar, and
once even Wagner, but not Socrates), signing missives as Dionysus,
but also signing missives “The Crucified One.” To the whole world,
those postcards surely confess an inner conflict always there. From
this collapsing of Dionysus and Christ together in the time of madness,
Girard infers that the true conflict in Nietzsche between Dionysus and
Christ was between, on the one hand, violent sacrifice as the core of
life, will-to-power affirmed in destruction and self-destruction, confi-
dent of eternal return, and of such destruction as the core of every
human community versus, on the other hand, the complete renunciation
of violent sacrifice (and even perhaps the renunciation of resistance to
it), the indignant admiration of justice, and the comforting protection
of all innocent victims.
That Girard has pointed to some evidence, important evidence, for
this profound conflict in Nietzsche about Christianity, must be granted I
think. And this would be strengthened importantly by pointing to the
profound distinction Nietzsche makes in Der Antichrist between Christ,
on the one hand, with his wonderful, entirely un-resentiment-al disposi-
tion to death and, on the other hand, the Christianity of the uncompre-
364 Michael Platt

hending disciples who, Nietzsche says, immediately covered the super-


nal, surpassing love of the Redeemer over with resentiment. Indeed, in
Der Antichrist No. 27 he says Jesus was guilty, in depriving the Jews of
the hope of becoming a nation once again, but in No. 58 in the course
of a general criticism of Christianity, Nietzsche actually mentions “sac-
rifice of the innocent,” in a way that seems to include Christ, as a criti-
cism of Christianity:
Diese Mucke-Schleicherei, die Konventikel-Heimlichkeit, düstere Begriffe
wie Hölle, wie Opfer des Unschuldigen, wie unio mystica im Bluttrinken,
vor allem das langsam aufgeschürte Feuer der Rache, der Tschandala-
Rache – das wurde Herr über Rom, dieselbe Art von Religion, der in ihrer
Präexistenz-Form schon Epikur den Krieg gemacht hatte.
To be sure, this is not as strong as the passage in the Nachlass. Never-
theless, it seems that sacrifice of the innocent is among the things that
Roman Nietzsche finds objectionable in Christianity. Would Nietzsche
then join Epicurus in war against the same sacrifice of the innocent in
the worship of Dionysus? Nietzsche is certainly a man of contradictions.
Why Girard does not look at Der Antichrist, I do not understand. If
he did, what might he say? Perhaps that by splitting Christ and Chris-
tianity Nietzsche was seeking a way out of his struggle. Or maybe
Nietzsche simply couldn’t curse Christ, because he was too aware of
Him. Aware of Him judging him. Or, worse, as I suggested above,
aware of Him loving him.
Another, though parallel, path, opened up by the end of Nietzsche’s
Nachlass on Parsifal, would have been for Nietzsche to investigate the
suspicion indicated there, that his criticisms of Christianity were really
only of Protestant Christianity, of the profoundly anti-natural teachings
of Luther, who said hatred of oneself is the basis of the love of God,15
but also the same anti-natural teaching in Pascal ( “Le moi est haïssa-
ble.”), and indeed all over the Gnostics such as Marcion, and not
those of the Catholic Church which, holding onto the goodness of Cre-

15 For Luther’s declaration, Est enim diligere seipsum odisse, see: Anders Nygren,
Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christichen Liebe Two Vols, Gütersloh
1930, 1937, II, p. 533. See also the Fourth of his Ninety-Four Theses. For a
sagacious exposition of the issue, read Josef Pieper, About Love (Chicago: Fran-
ciscan Herald 1974), especially Chapter V (orig. ber die Liebe [München: Kösel
1972]).
“René Girard and Nietzsche Struggling” 365

ation, keeping the Old Testament in the cannon, opposed them.) 16 Per-
haps Nietzsche explored this path, but I know of no evidence he did.17
As to Girard’s additional contention that it is this deep conflict in
Nietzsche, between the claims of Dionysus, as he had championed
them all his intellectual life, beginning with Die Geburt der Tragçdie,
and the claims of Christ, which he grew up with (living exclusively
with female Protestants, all the relatives of Protestant pastors, going to
a Protestant school, etc.),18 and then this deep conflict mixed with Wag-
ner and his music with its Christian themes, such a conflict always at
work in Nietzsche, and issuing finally in his frenzied decline into mad-
ness – I would say that Girard’s account is certainly superior to one of
the prevailing accounts, that the works, especially the works of the last

16 And if Nietzsche had studied in the direction of his suspicion, voiced in the
Nachlass on Parsifal, that his criticisms of Christianity were of Protestant Chris-
tianity, perhaps he might have discovered how mistaken even his quotation of
Thomas at the end of Zur Genealogie der Moral I (15) is, the Supplement to the
Summa Theologiae III not by Thomas, but by his follower Reginald; to be sure it
is in accord with Thomas elsewhere but the point made (Suppl. III 94, aa. 1 – 3)
is not Nietzsche’s or Tertullian’s; the blessed don’t rejoice in the sufferings of
the damned, they feel grateful not to suffer them. Nietzsche gives fine advice
about reading and has some wonderful descriptions of what he desiderates in
a reader, in one of which he says he prefers the reader who would rather
guess than know. (Ecce Homo 3 (quotes Zarathustra III “Vision and Riddle”
2). But as to who wrote or did not write something, to leave it at conjecture
and not try to find out the truth, is not the probity of a philologist, the practice
of a good reader, or the way of a philosopher.
17 Thomas Brobjer’s detailed “Nietzsche’s Changing Relation to Christianity” in
the collection, Nietzsche and the Gods, stops before 1883.
18 Did Nietzsche ever know a living Catholic? Perhaps only Heinrich Romundt,
his fellow student who became Catholic. And what of Catholic teachers? There
are brief confrontations with Augustine, Thomas Aquinas, and Thomas à Kem-
pis, but none with any of the Church fathers or his contemporary, Newman.
Nietzsche said one loves Pascal, but he loved him mostly as an example of
the sacrifice of a great intellect, which is hardly to confront Pascal’s arguments.
Despite the high and elating standards Nietzsche sets for his readers, he seems
seldom to practice them when reading others, sharp and wonderful as are
some of his insights are, as when adds, to Aristotle’s remark that the man
who lives outside the city (polis) must be either a beast or a god – the penetrat-
ing truth “or a philosopher” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 3).
Nietzsche praised slow reading, but who did he read slowly? Emerson surely.
Pascal and maybe Montaigne. Nothing in Italian or Spanish. Lots in Latin
and Greek, especially Plato, Aristotle, the tragedians and Homer. So one pre-
sumes, for he studied and taught them. And who in German? Schopenhauer?
Heine? And maybe for a time Wagner?
366 Michael Platt

lucid year have nothing to do with the madness that followed so swift-
ly,19 because the madness has an exclusively material cause, perhaps
syphilis. (Why do those who assert a material cause never ask to have
Nietzsche’s body exhumed for modern analysis? 20) There are just too
many signs in the excited later works that point to the euphoric madness
soon after, to deny some connection.21
Some connection, but is it the connection Girard claims? It seems to
me that a far more detailed examination of the later books and the writ-
ings left in Nachlass would be needed to sustain Girard’s view. Girard

19 A view I once held: “Behold Nietzsche”, in: Nietzsche Studien, Band XXII,
Berlin and New York: Walter de Gruyter 1993, pp. 42 – 79. Reprinted with
additions in: Nietzsche: Critical Assessments, ed. Daniel W. Conway, with
Peter S. Groff Vol. III: On Morality and the Order of Rank, London & New
York: Routledge 1998, pp. 218 – 255.
20 A physician I know is of the opinion that, depending on the state of the body,
over a century now since it became a corpse, something might be learned. Of
course, any traces of poisons in the corpse would have to be examined with the
following questions in mind: does this trace come from whatever Nietzsche was
given to eat or drink during his madness over his last decade and does this trace
come from one of the nostrums he gave himself, many of which, for sale over
the counter in the 19th century or available to Dr. Nietzsche with his doctor’s
hard-to-read handwriting, contained poisons. In a recent diagnosis something
other than syphilis as the most likely cause of Nietzsche’s illness and death:
M. Orth1 and M. R. Trimble , “Friedrich Nietzsche’s mental illness – general
paralysis of the insane vs. frontotemporal dementia”, in: Acta Psychiatrica Scan-
dinavica, Volume 114, Issue 6, p. 439 – December 2006. I have not been able to
secure the book said to be the best, on the matter: Pia Daniela Volz, Nietzsche
im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würz-
burg 1990 (Diss. med. Tübingen 1988); more recent and laudibly stuptical is
Richard Strain’s The Legend of Nietzsche’s Syphilis (Greenwood: Westport,
Connecticut 2001).
21 Judicious on the question of Nietzsche’s madness is Daniel Breazeale’s “Ecce
Psycho: Remarks on the Case of Nietzsche”, in: International Studies in Philos-
ophy XXIII/2, pp. 19 – 33. For the view that Nietzsche was insane throughout
his writing life see Max Nordau, Degeneration (trans.: Univ. of Nebraska, 1968).
He is certainly right, if unappreciative of other things, to speak of Nietzsche
having a mania for contradiction, but there may be teacherly method in this
“madness”. Although Nietzsche said his way was “A yes, a no, a straight
line, and a goal” (Gçtzen-Dmmerung, Sprüche und Pfeile, No. 44), the way
he makes the reader go is more often a no, no, no, that points, in a crooked
line, to a goal. Consider for example the many passages where Nietzsche attacks
something as anti-nature, from which you must gather what he thinks nature is,
and how few passages there are that start with nature. In truth, I can’t think of
any.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 367

would find his case, if not strengthened, at least made more persuasive to
those who fear losing the fine things in these later books, by seeing them
dismissed as madness, if Girard would concede that there are fine and
even important things in these books. But numerous scornful asides
about his fellow French Nietzscheans suggest that Girard thinks they,
his prime audience, aren’t much interested in these fine things in
Nietzsche, anyway. In writing one should beware of letting those one
vilifies, however justly, distract one from addressing a fitter audience
though few.

IV. Aprés moi, le Holocaust

On the basis of Nietzsche’s celebration of Dionysus, of his violent sac-


rifice, sacrifice of the innocent, affirmed in numerous passages in the
published works and in the famous Nachlass where Dionysus and Christ
are opposed and in another of the same time22 in which Nietzsche
maintains that the species endures only through human sacrifice, Girard
accuses Nietzsche of being importantly responsible for the murderous
destruction of European Jewry by the Nazis and importantly responsible
for the subsequent vilification of Christianity today throughout the
West by intellectuals.
Here is Girard’s most succinct expression of the accusation:
“To bury the modern [ultimately Christian] concern for victims under
millions and millions of corpses – there you have the National Socialist
way of being Nietzschean. But some will say, ,This interpretation would
have horrified poor Nietzsche.’ Probably, yes. Nietzsche shared with
many intellectuals of his time and our own a passion for irresponsible rhet-
oric in the attempt to get one up on opponents. But philosophers, for their
misfortune, are not the only people in the world. Genuinely mad and fran-
tic people are all around them and do them the worst turn of all: they take
them at their word.”23
Girard’s accusation would be stronger, or at least more widely convinc-
ing, if he had first conceded, what must, I think, be conceded. Namely:

22 KSA XIII, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888 14 [5]. In Walter Kaufmann’s


translation, p. 142.
23 All the quotations from Girard in this section are from “The Twofold Nietz-
schean Heritage”, in: I See Satan Fall Like Lightning trans. James G. Williams,
Orbis Books 2001, Chapter 14, pp. 170 – 181; it is a translation of Je vois
Satan tomber comme l’clair, Paris: Grasset & Fasquelle 1999.
368 Michael Platt

that Nietzsche was not a Jew hater;24 that Nietzsche vehemently de-
nounced Jew-haters, such as the one his sister married; and that
Nietzsche wrote one of the most exalted appreciations of a European
Jew ever penned (Morgenrçthe 205). Conceding these things would com-
plicate Girard’s view of Nietzsche, but it would make his accusation
more convincing. In addition it must be acknowledged that Nietzsche
was also no socialist, but an aristocrat ( “radical aristocrat” in Brandes
felicitous phrase, which Nietzsche adopted); and finally, that Nietzsche
was no nationalist, criticizing Bismarck’s strutting Imperial Germany,
lauding the civilization of the defeated French, and looking to a Europe
of good Europeans. So, surely Girard must concede that the Nazis were
three things Nietzsche opposed vehemently: nationalists, socialists, and
Jew-haters.
Still, the passages Girard cites do justify the murder of the innocent
and not reluctantly, nay almost stridently, called future Surpassing Men
to take joy in cruelty. Nietzsche certainly criticized pity, sometimes just-
ly, at least once with discriminating insight, when he names indignation
at another’s suffering as the strong brother of pity (Morgenrçthe 78), but
usually so comprehensively and so vehemently critical of pity as to lose
all intellectual virtue, even forsake his own thought; after all, why ad-
mire the protagonist in a tragedy, or Nietzsche’s own virtue in living
his hard and solitary life, except that we feel the suffering he overcomes,
in short feel pity for him.25 In a thinker whose nobility will always de-
serve admiration, such lack of discrimination, of justice, of humanity, is
a grave error of soul, and since Nietzsche published some of these
thoughts, he bears a grave responsibility for those whose deeds were in-
fluenced by them, and even for the deeds of those who found excuse or
justification for such deeds as they were going to do anyway. Here,
then, lies the strength of Girard’s case. (It would be juster if Girard dis-
tinguished the thoughts Nietzsche published and those he merely wrote
down, which others published, and he might have either destroyed, or
at least never published.)

24 The term “anti-Semite” is too pale for the hatred it covers, also inaccurate since
Jews are not the only Semites. I understand the term was coined by one Wil-
helm Mahr to give the old hatred a modern and scientific appeal.
25 See Erich Mende, Nietzsche und sein Gegensatz, Cuxhaven: Traude Junghans
1997, for a sharp observation of the contradictions in Nietzsche’s thinking
and especially the contradiction between the hardness he lauded and the pity
all his complaints, requests for wursts, hams, and Zweiback, and descriptions
of his sufferings appealed for, whether he would admit it or not.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 369

Girard continues with this claim “Since the Second World War a
whole new intellectual wave has emerged, hostile to Nazism but
more nihilist than ever, more than ever a tributary of Nietzsche. It
has accumulated mountains of clever but false arguments to acquit its fa-
vorite thinker of any responsibility in the National Socialist catastrophe
[…]” Girard goes on to hold Heidegger’s dismissal of the texts in
Nietzsche which curse Christianity and its pity for the weak innocent
of the world as authorizing lesser minds in France and elsewhere to ig-
nore Nietzsche’s partial responsibility for the Holocaust. I do not know
if anyone has replied to Girard. That Girard sometimes shouts his accu-
sations suggests no one has answered him.
Girard, however, also maintains that: “Nietzsche is the author of the
only texts capable of clarifying the Nazi horror. If there is a spiritual es-
sence of the movement, Nietzsche is the one who expresses it.”26 Final-
ly, Girard observes that the deep hostility of Nazism, of Heidegger,
with his wish for some other “god” to save us (from God), and the
Nietzscheans in Heidegger’s wake, dominant in the Universities of
the West, for whom Christians have replaced Jews as scapegoats, is evi-
denced in their neglect of the religious struggle in Nietzsche.27 It must
be welcome then to René Girard that the Nietzsche Gesellschaft held a
workshop on this important topic in September of 2006. And it would
be well if Girard had been able to attend.28

26 Does “spiritual essence” in the English translation of Girard refer to something


in the French that alludes to Heidegger’s famous remark about National Social-
ism in his Introduction to Metaphysics about the “inner truth and greatness of this
movement”?
27 Here I summarize the concluding pages of Girard’s “Twofold Nietzschean
Heritage”. Among those who do not neglect the religious struggle of
Nietzsche, I am aware of more Germans than French scholars: e. g. Josef Pieper
passim, Hans Urs von Balthasar (Apokalypse der deutschen Seele, II), Henri de
Lubac (Drama of Atheist Humanism), Roman Guardini, passim, Helmut Kuhn
(Encounter with Nothingness), Eugen Biser, Alistair Kee (Nietzsche Against the Cru-
cified), and now Pope Benedict, in his encyclical, Deus Caritas Est (the first en-
cyclical ever to address a worthy adversary of Christianity). There are also the
fine collections: Jossua, Jean Pierre and Claude Geffre ed. Nietzsche and Chris-
tianity, Edinburgh 1981, and Weaver Santaniello ed. Nietzsche and the Gods, and
James O’Flaherty, Studies in Nietzsche and the Judeo-Christian Tradition.
28 I have left largely to the side the important matter of whether it is fair to
Nietzsche to pay so much attention to Nachlass, thus to things he never pub-
lished, and never got the chance either to publish or to get rid of (as he did
some things, telling his landlord in Sils Maria that last summer to throw stuff
he left in a basket out, but Durisch didn’t and some of it found its way into
370 Michael Platt

V. Whither from here?

The theme of this Nietzsche Congress of 2006 is the reception of


Nietzsche by the French, with one section on Nietzsche’s reception
of the French.29 I have striven to show what features of Nietzsche,
the man, his struggles, and his thoughts, have been received by René
Girard. It is obvious that some things in Nietzsche have been left out.
For example, the multitude of insights and appreciations in his work,
one of which can often be fruitfully pondered for a long while, in
Elizabeth’s Wille-zur-Macht. Beyond that, there is the question of whether if
Nietzsche did publish the Nachlass Girard fixes on, whether it would not
have been quite altered. Nietzsche’s first drafts are more worthy of attention
than the vast majority of other’s final drafts, but his own list drafts are far
more worthy of attention than his first drafts.
Having discovered our mutual interest in the matter of the late Nachlass,
Bernd Magnus and I combined our efforts and he published what we found
about the Nachlass of 1888, including the basket of Nachlass Nietzsche told
his landlord at Sils-Maria to get rid of, but when Herr Durisch failed to and
began passing it out to visitors, Elizabeth frightened him into giving the rest
to her, and some of it got into Elizabeth’s Wille-zur-Macht book. Bernd first
published this research in Bernd Markus, “Nietzsche’s Philosophy in 1888:
The Will-to-Power and the Übermensch”, in: Journal of the History of Philoso-
phy, Vol. 24, no. 1, pp. 79 – 99, revised it in “The Use and Abuse of The Will to
Power”, in Reading Nietzsche ed. Robert C. Solomon & Kathleen M. Higgins,
Oxford University Press 1988, pp. 218 – 235, and then included it (perhaps fur-
ther revised) in: Bernd Magnus/Stanley Stewart/Jean-Pierre Mileur, Nietzsche’s
Case, New York: Routledge 1993; see especially pp. 35 – 46 and the index
under my name.
29 There is no mention of Tocqueville in the announcement of the Congress, and
rightly so; though Nietzsche knew of Tocqueville (Colli/Montinari KSA XI,
p. 442; Nachgelassene Fragmente April – Juni 1885 34[69]), he never confront-
ed him. It is the most important meeting between a German and a Frenchman
that never happened, for in Tocqueville Nietzsche would have met the most
comprehensive appreciation of democracy by a man whose nobility and
whose esteem for aristocracy, think of what Tocqueville says of Pascal,
Nietzsche could not dismiss easily and might have lauded. In such a meeting
Nietzsche would have had to confront Tocqueville’s argument that though de-
mocracy will only rarely be great, will never have the likes of Pascal, it can be
good and it is just. From this confrontation, Nietzsche would have had to think
more about his view of justice, something he more commonly launches out
from, in criticizing others, than reflects on. Of course to find his way to Toc-
queville Nietzsche would have had to overcome the neglect during Nietzsche’s
time that Tocqueville apparently sank into in France, which neglect has in our
time thankfully dissipated, especially in the thinking of Pierre Manent and Phil-
ippe Benéton.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 371

truth treasured for life, as I treasure Frolicsome Science No. 295 or 329; for
Nietzsche was right to suggest he could say in ten sentences what every-
one else says in a book – what everyone else does not say in a book.”
Gçtzen-Dmmerung (Streifzüge 51) and to recommend only dipping
into his thinking, taking a stroll to the next bench, on the forest way
or beside the stream, before reading another of his thoughts (Morgenrçthe
454). Of such beautiful provocations to thought, Girard takes, so far as I
know, no notice at all, though perhaps he assumes their worth.
What needs to be most remarked among the things in Nietzsche of
which Girard takes no notice, is Also Sprach Zarathustra. In Ecce Homo,
the most authoritative guide there will ever be to reading him,
Nietzsche calls his lyrical epic the greatest gift so far given to mankind.
He didn’t say that about the works Girard focuses on, the Wagner
books, the Geburt der Tragçdie, and Der Antichrist, still less any Nachlass,
interesting and even as important as they are. Zarathustra does not com-
mand Girard’s attention. After all, Zarathustra does not propose mar-
riage to the women, Life and Eternity, through another person who
turns out to be a rival wooer and then wins the woman for himself;
after all, Zarathustra does not begin by worshipping an older hero
and then struggle to overcome him. And above all, Zarathustra does
not bring intoxicating havoc to a city or community who then collec-
tively murder him. Nevertheless, precisely because of these features of
Zarathustra are so different from the rest of Nietzsche, or from the
part of Nietzsche Girard pays attention to, Girard should have paid at-
tention to the work. Wagner, Dionysus, Christ, these are great figures in
Nietzsche and for him, but so is Zarathustra. And Zarathustra differs
from the last two by not mixing or connecting violence and the sacred.
This was deliberate and knowing on Nietzsche’s part. The opening of
Zarathustra shows that had Zarathustra remained in the City of the Mot-
ley Cow, he would have been lynched. Only the spectacle of the Seil-
tänzer (Rope Dancer) falling to his death distracts the crowd. For giving
his speech on the Übermensch (Surpassing Man), once they understood
it, the crowd would have persecuted Zarathustra, at least exiled him.
And still more would they have persecuted him, unto death, for any
speech on the “Death of God” which Zarathustra does not whisper
even to the Old Hermit he meets on the way down from his mountain
solitude. In the whole of the poem Zarathustra never returns to the City
of the Motley Cow and even remarks that Christ died too young.
Moreover, although some Nachlass show that Nietzsche considered end-
372 Michael Platt

ing Zarathustra with his death,30 he chose against that. And none of the
rejected scenes Nietzsche considered would have portrayed Zarathus-
tra’s death as a murder, either individual or collective, by the Higher
Men. Whatever religion Zarathustra is introducing the Higher Men
to does not originate in sacred violence. Instead, what we do have is
Zarathustra’s preparation for death, not only in what he recommends
as a free death loyal to the earth, but in the high point, at the end of
Zarathustra III, when Zarathustra declares his love of eternity, which
is, ipso facto, a preparation for death.31 In such a preparation, Zarathus-
tra is “blessing not clinging to life” as Nietzsche said one should, and
Odysseus did Nausikaa. And Part IV of Zarathustra shows the benefi-
cence of Zarathustra, toward the various Higher Men, who may later
reflect that beneficence upon others. From early on in his thinking
and writing life, Nietzsche was concerned with, drenched with the
blood of, the Bachee, with its story of how the intoxicating Dionysus de-
stroys a community and himself, but joyously. It, and not the Oedipus
dearest to Aristotle, and not the Antigone dearest to Hegel, is Nietzsche’s
paradigm of tragedy. And the Bachee is a pattern for the last six books
Nietzsche wrote in his last lucid year, with its furious curse on Christi-
anity and the author’s subsequent destruction in madness. Zarathustra,
however, is the opposite. It is a refraining from such violent sacredness.
It is revealing that Dionysus is never mentioned in Zarathustra. Girard
should confront the contradiction, Dionysus versus Zarathustra, and
what it means for Nietzsche, for his thought and for his life.
There is another feature of Nietzsche’s thought that Girard does not
“receive”. Socrates. Nietzsche’s struggle with Socrates was life-long. In
the beginning of Nietzsche’s writing life, Socrates is there in Die Geburt
der Tragçdie, as the rationalist enervator of the tragic Greeks. And Soc-
rates is there at the end of Nietzsche’s waking life. In deed, the twelve
numbered remarks on “Das Problem des Sokrates” and the surrounding
remarks on Plato in Gçtzen-Dmmerung constitute the longest confron-
tation with Socrates in Nietzsche’s work. They lead to the conclusion,
though a silent one, that Socrates committed judicial suicide. “Not Ath-
ens, but he himself chose the hemlock,” writes Nietzsche (Gçtzen-Dm-
merung, II, 12). To be sure, Nietzsche is also saying that Socrates was

30 For example, KSA Nachlass Sommer 1883 10[45]; 11[2] and 13[2].
31 For more, see Michael Platt, “What Does Zarathustra Whisper in Life’s Ear?”,
in: Nietzsche Studien, Band XVII, Berlin and New York: Walter de Gruyter
1988, pp. 179 – 194.
“René Girard and Nietzsche Struggling” 373

guilty, of seducing the vital and instinctual Greeks to the agon of reason-
ing (dialectics), and that he knew he was guilty, certainly guilty of not
loving life ( “a cock for Asclepius”), but still Nietzsche’s admiration for
the equanimity of Socrates before death comes through as well. It is
hard to understand why this scene of judicial murder by the community
does not attract Girard’s attention. Nietzsche attended to it, but Girard
does not.
Girard’s inattention to Socrates in Nietzsche’s work fits with his
shunning of Socrates in his own work; so far in what I’ve read, in
the works translated into English, I have found only one mention of
Socrates’ death, a passing, almost perfunctory one.32 According to Gir-
ard it is the Gospel story of Christ’s death that taught our Western an-
cestors to side with the innocent victim, not the society regaining its
confidence by scapegoating the innocent. But surely the death of Soc-
rates taught the same, and even to the Athenians, who are reported to
have regretted their vote to hemlock Socrates, and surely most readers
of Plato’s account since have hated the injustice of it and thrilled to
the virtue of Socrates,33 even Nietzsche however ambivalently. As
later instances of the pattern and teaching of Christ, Girard does men-
tion Joan of Arc, the Jewish doctor of Elizabeth I, and Dreyfus, but not
Socrates before Christ.
And Nietzsche’s account of Socrates facing death in Gçtzen-Dm-
merung should remind us of the similar confrontation with death of
Jesus in Der Antichrist, written at virtually the same time, in which Christ
is lauded in his death, and whatever resentiment surrounds or issues
from the Cross is said to have arisen immediately from the failure of
the disciples to understand the nobility of that humiliating death (and
later Paul’s willful further traducement of it). Again, this is something
that Girard slights, and despite the fact that it is an even more important
“contradiction” in Nietzsche’s thoughts than his love and hate of Parsi-
fal. Here in Der Antichrist in its portrait of Christ, there is not only no
Wille-zur-Macht, but neither the low resentiment, slavish morality
and pity Nietzsche abhorred, nor the justification of collective sacrificial
violence Nietzsche lauded in published passages and described in that
Nachlass (which got published as No. 1052 in Wille-zur-Macht),
which Girard has emphasized. Not that Girard should not have empha-
sized this passage, but that having done so, he should have taken note of

32 Violence and the Sacred, Johns Hopkins 1977, p. 295.


33 Not however, Thomas West, Plato’s Apology of Socrates, Cornell U. P. 1979.
374 Michael Platt

what so massively contradicts it in Der Antichrist. In finding contradic-


tions, Girard has his favorites.34
However, in the end and in summary, one should express gratitude
to Girard. For pointing to so much that is rich and important in
Nietzsche, Girard deserves our since and abundant thanks. Few
among any nation have received so much from Nietzsche. And let us
remember that among the French much has been received, not only
by those mentioned in the announcement of this Nietzsche Congress,
but by Malraux, Gide, and Marcel, by De Lubac, Mounier, and
Camus, and also by the DeGaulle who attributed the German defeat
in W.W.I to its Nietzschean generals.35 If this congress were devoted
to the English-speaking reception of Nietzsche, would be much more
be remarked as having been “received”? After all, a translation of the
Colli/Montinari faithful ordering of Nietzsche’s Nachlass has been
available to French readers for decades, some parts even before the
Colli/ Montinari edition itself! Meanwhile the English-speaking
world still awaits such faithfulness and accordingly English-speaking
Nietzschean continue to mingle the beautifully composed books
Nietzsche published with the Nachlass he never, after his breakdown,
had the opportunity to order or throw away.
Thus the poster for a Congress on the English and American Recep-
tion of Nietzsche might show mild-mannered, if terrifyingly-mustachi-
oed, Nietzsche sitting on a crowded beach, at first hard to make out, à la
Breughel, in the midst of so much motley demotic mayhem, – think of
Coney Island – and Nietzsche refusing with incipient nausea and yet po-
liteness to sip the only drink offered, the sugar water called “Coke”.
How unlike the poster for this Congress, showing Nietzsche made con-
valescing in France, there “received” by a French maiden who has al-
ready been reading him, and thus would Nietzsche be made healthy,
healthy enough to set aside his distaste for everything alcoholic and
thus enjoying a glass of wine, Bordeaux perhaps, in the shade of a
great-rooted tree, one of the walnuts of Altenburg perhaps.

34 As to who, before himself, made the discoveries he trumpets, Girard would


surely name Christ, and after Him to some of the great poets, Dostojevsky
and Shakespeare especially, and of course to Nietzsche. And since the distinc-
tion between all pagan sacrifice and Christ’s crucifixion is stressed by Nietzsche,
one wonders if Girard learned it from […] Nietzsche.
35 In his Discord Chez Les Enemis (Discord Among Our Enemies: (trans as Our Ene-
my’s House Divided by Robert Eden, University of North Carolina Press 2002).
“René Girard and Nietzsche Struggling” 375

And then, in such a conversation with Nietzsche, in such a happy


landscape, perhaps we might take up the philosophic questions, now en-
hanced, that I sketched at the beginning of this report on René Girard
versus struggling Nietzsche:
Why do we do what we do? Why do we desire what we do? And
how do we become who we are? Why as we grow up do we imitate,
then emulate, but finally perhaps slay the person we admire most, all to
become who we are? If we were solitary, with no one to imitate, would
we have no desires? Are none of our desires natural? Is life with others
nothing but rivalry? Is nothing we desire shareable? Are we truly friend-
less? Who, then, are we?
What is it about us humans that our cities, countries, civilizations,
and religions seem always to begin (as Machiavelli imprudently empha-
sized) with a violent deed – think of Romulus killing Remus, Cain kill-
ing Abel – and why is it that we, collective we, seem so ready to per-
secute the best of us, Christ for example, but also Socrates? We think of
them as the founders of our civilization, the West, but if they reappeared
on earth, would the one not be crucified again, and the other hem-
locked? What would they think of what they founded?
And why was it just in our time, after you Nietzsche, that a move-
ment arose filled with hatred of the weak and scorn for pity and also that
just in our time it met with a people willing to go so gently to slaugh-
ter? 36
What is the deepest representation of our strange and wonderful
condition? Is it tragedy, Christianity, or philosophy? Is it perhaps the
Bachee, in which the intoxicating god of tragedy, Dionysus, drives
mad the city, especially its women, and then the madding city tears Di-
onysus apart, but he affirms suffering life joyously. Or is it the Gospel
representation of the Crucifixion, in which Christ accepts suffering so
as to teach us to pity the innocent victim, not the mighty crowd, but
also refuses to rule? Or is it philosophy, the philosophy of Socrates,
who recognizes sharable goods, such as truth, enjoys friendship, and
prefers to suffer evil than do it, but is, nonetheless, loyal to the city hem-
locking him, and if he were asked, willing to rule the city, which would
be the nearest thing to establishing justice on earth?

36 As Hannah Arendt famously asked in her Eichmann in Jerusalem, München:


Piper 1964.
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“1
Isabelle Wienand

Einleitung

Der französische Philosoph Michel Onfray ist Autor, Essayist und


Dozent der Philosophie an der von ihm gegründeten Volkshochschule
in Caen. In der Öffentlichkeit gilt er als Störenfried der akademischen
Philosophie und als unzeitgemäßer Kritiker der jüdisch-christlichen
Prinzipien, die sich seiner Auffassung nach in den säkularisierten Ge-
sellschaften verhängnisvoll auswirken.2 Der Kulturmediziner Onfray
interpretiert die scheinheiligen Grundlagen und Praktiken von konfes-
sionsneutralen Institutionen wie dem Recht, der Bioethik oder den
Wissenschaften als verkappte Symptome einer grassierenden religiösen
Krankheit.3 Onfray befürwortet einen „authentique athisme athe“ (TA,
S. 93), das heißt eine Geisteshaltung, die nicht nur theoretisch, sondern
auch praktisch die christliche „Ideologie“ kritisiert und überwindet. Der
post-moderne Atheismus, den Onfray als Ersatz für die ausklingende,
jedoch tonangebende christliche Musik vorsieht, will „la Philosophie, la
Raison, l’Utilité, le Pragmatisme, l’Hédonisme individuel et social“
(TA, S. 93) als Mittel gebrauchen, um eine immanente Moral zu be-
gründen, die ausschließlich von und für Menschen konzipiert ist. In
diesem materialistisch-positivistischen Manifest, dem Trait d’Athologie,
worauf dieser Beitrag sich im Besonderen bezieht, kommt Nietzsche ein
privilegierter Stellenwert zu. Sowohl der Inhalt als auch die Vorge-
hensweise und der Stil von Onfrays philosophischem Programm erin-
nern an das Denken Friedrich Nietzsches. Michel Onfray definiert sich
selbst als Linksnietzscheaner auf Deleuzes und Foucaults Spuren und

1 Jean-Claude Wolf und Simone Zurbuchen bin ich sehr dankbar für ihre
Kommentare und ihre sprachlichen Korrekturen.
2 Vgl. Michel Onfray, Trait d’Athologie. Physique de la mtaphysique (= TA),
(2005), Paris: LGF 2006, S. 76 – 86.
3 Vgl. TA, S. 76: „L’époque dans laquelle nous vivons n’est donc pas athée. Elle
ne paraît pas encore post-chrétienne non plus, ou si peu. En revanche, elle
demeure chrétienne, et beaucoup plus qu’il n’y paraît.“
378 Isabelle Wienand

stellt sich die Aufgabe, Nietzsches philosophisches Vermächtnis, insbe-


sondere seine Religionskritik, weiterzuentwickeln.4
Die erste Frage, der ich im Rahmen der Tagung zu Nietzsche und
Frankreich nachgehen möchte, betrifft Onfrays Angriff auf den Got-
tesbegriff und seine Religions- bzw. Christentumskritik, wie sie in
seinem 2005 erschienenen Trait d’Athologie dargestellt wird: Inwiefern
ist sie auf Nietzsche zurückzuführen? In diesem Aufsatz wird die These
ausgeführt, daß Onfrays Gotteskritik und Atheismus, die angeblich auf
den Texten Nietzsches beruhen sollen, tatsächlich dem Autor Onfray
bzw. dessen eigenartigem Umgang mit Nietzsches Texten und der
Nietzsche-Literatur zuzuschreiben sind. Zu diesem Zweck wird Onf-
rays Interpretation einiger sprachlicher, stilistischer, methodologischer
und inhaltlicher Eigenschaften der Philosophie Nietzsches anhand von
Schlüsselwörtern und -formeln wie „klassisch“, „Gott“, „Gott ist tot“
und „Atheismus“ kritisch analysiert.
Die zweite Frage richtet sich auf ein Merkmal von Nietzsches
Philosophie, das Onfray bewußt oder unbewußt imitiert: den streit-
schriftartigen und effektorientierten Charakter seiner Lektüre von
Philosophen wie dem englischen Utilitaristen Mill. Onfray scheint in-
direkt und unreflektiert zu bestätigen, daß vehemente und plakative
Behauptungen eher die Unloyalität eines Autors seinem Gegner ge-
genüber als eine relevante Kritik widerspiegeln. Nietzsches polemische
Nachlaßwerk Der Antichrist wird besonders veranschaulichen, daß
Onfray jedoch das eigentliche Ziel Nietzsches Kritik übersieht.
Zum Schluß wird die Frage gestellt, ob der Mangel an Kenntnissen,
an hermeneutischer Geduld und an wissenschaftlicher Redlichkeit, den
man dem französischen Atheologen in seiner Religionskritik vorge-
worfen hat,5 auch für seine Interpretation Nietzsches zutrifft.

4 Vgl. TA, S. 65 – 67.


5 Vgl. Matthieu Baumier, L’Anti-Trait d’athologie. Le Systme Onfray mis  nu,
Paris: Presses de la Renaissance 2005; Irène Fernandez, Dieu Avec esprit. Rponse
 Michel Onfray, Paris: Philippe Rey 2005; René Rémond, Le Nouvel anti-
christianisme, Paris: Desclée de Brouwer 2005 sowie die Buchbesprechung von
Yves Ledure in: Esprit et vie 128 (2005), S. 26 – 27.
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 379

I
Nietzsches Allgegenwärtigkeit in Onfrays Denken ist ein Faktum. Es
gibt kaum ein Werk Onfrays, in dem Nietzsche nicht zitiert oder
paraphrasiert wird.6 Die semantische Vieldeutigkeit der Sprache wird
jedoch weder erwähnt noch eruiert. Im ersten Band seines Journal
hdoniste, Le Dsir d’Þtre un volcan beschreibt Onfray Nietzsches apho-
ristische Schreibweise als Inbegriff des freien Geistes, wenn er feststellt:
„ Apophtegmes, aphorismes, poèmes, dithyrambes, dissertations, fusées,
libelles, pamphlets, Nietzsche a tout utilisé pour désinfecter la forme
classique.“ (S.12) Er nimmt auch Nietzsches genealogische Methode
wieder auf. In seinem a-theologischen Essay benutzt er sie zur Aufde-
ckung der „épistémè judéo-chrétienne“ (TA S.76; S. 94 – 98), indem er
behauptet, Nietzsches Atheismus liege dem Projekt der Atheologie
zugrunde.7 Auch wenn diese lexikalischen, stilistischen, methodologi-
schen und thematischen Verwandtschaften zwischen Jünger und
Mentor eindeutig verbürgen, daß Onfray kein Thomist oder Kantianer
ist, bestehen doch grundsätzliche Zweifel, ob er nicht in vielen Hin-
sichten nur in einem chronologischen Sinne „Post-Nietzscheaner“ ist.
(Vgl. TA, S.66) Ich möchte die in der Einleitung vier erwähnten
Merkmale der Familienzugehörigkeit zwischen Onfray und Nietzsche
kritisch prüfen.

6 Vgl. Physiologie de Georges Palante. Pour un nietzschisme de gauche (1989), Paris:


Grasset 2002; Le Ventre des philosophes. Critique de la raison dittique (1989),
Paris:Le Livre de Poche 1990; Journal Hdoniste, 5 vol., Paris: Grasset 1996;
L’Art de Jouir (1991), Paris: Le Livre de Poche 1996; La Sculpture de soi. La
morale esthtique (1991), Paris: Le Livre de Poche 1996; Politique du Rebelle.
Trait de rsistance et d’insoumission (1997), Paris: Le Livre de Poche 1999; Trait
d’Athologie. Physique de la mtaphysique (2005), Paris: Le Livre de Poche 2006.
7 „Avec lui [Nietzsche, IW], la pensée idéaliste, spiritualiste, judéo-chrétienne,
dualiste, autant dire la pensée dominante, peut enfin se faire du souci: son
monisme dionysiaque, sa logique des forces, sa méthode généalogique, son
éthique athée permettent d’envisager une sortie du christianisme. Pour la
première fois, une pensée post-chrétienne radicale et élaborée apparaît dans le
paysage occidental.“ (AT, S. 64)
380 Isabelle Wienand

1) Nietzsches Sprachgebrauch

Nietzsches Sprache mag im Vergleich zu den hegelianischen oder


heideggerianischen Fachidiomen auf den ersten Blick lebensnaher und
zugänglicher erscheinen. Der Anschein ist jedoch täuschend und
„verräterisch“, denn die verschiedenen Bedeutungen, Konnotationen
und Anspielungen der Wörter, Ausdrücke und Begriffe in Nietzsches
Werk sind undurchdringlich.8 Exemplarisch für diese Vieldeutigkeit ist
das Wort „klassisch“, das im folgenden Absatz näher betrachtet wird.
Zuvor möchte ich das Wort „Gott“ als Beispiel anführen, um Onfrays
sprachliche Feinfühligkeit zu diskutieren. Onfrays Interpretation verp-
aßt oder verschweigt, daß „Gott“ in Nietzsches Werk vielgestaltig ist
und deshalb nicht systematisch und symptomatisch auf eine nihilistische
Diesseitsverneinung zurückgeführt werden kann.9 „Gott“ ist nämlich
nicht immer gleichbedeutend mit dem christlichen Gottesbegriff 10 ;
„Gott“ wird der christlichen Moral und Theologie entgegengesetzt11;
„Gott“, „Götter“ „Gottheit“ und „göttlich“ sind nicht gleichwertig
(vgl. NL 5[50], KSA 7.105; Z III, KSA 4.230; AC 33, KSA 6.205 –
206), „religiöser Instinkt“, bzw. „gottbildend“ haben nicht immer eine
negative Konnotation12 ; so bezeichnete Nietzsche z. B. Dionysos als
„Gott“ (vgl. GT, „Versuch einer Selbstkritik“ 5, KSA 1.19; FW 381,
KSA 3.635; JGB 295, KSA 5.237 – 239). Das semantische Feld von
„Gott“ ist in Nietzsches Werk (über 3500 Belege) so variiert, ausge-
dehnt und interpretationsbedürftig, daß es wissenschaftlich zweideutig
erscheint, dezidiert zu behaupten, daß „Gott“ eindeutig „l’oubli du réel,

8 Vgl. Paul van Tongeren et al. (Hrsg.), Nietzsche-Wçrterbuch, Berlin/NewYork:


Walter de Gruyter 2004, Bd. 1, S. VII-X.
9 „,Gott’ als Culminations-Moment: das Dasein eine ewige Vergottung und
Entgottung. Aber darin kein Werth-Hçhepunkt sondern nur Macht-Höhe-
punkte“ (NL 9[8], KSA 12.343).
10 „Ihr nennt es die Selbstzersetzung Gottes: es ist aber nur seine Häutung: – er
zieht seine moralische Haut aus! Und ihr sollt ihn bald wieder sehn, jenseits von
gut und Böse.“ (NL 3[1], KSA 10.105). Vgl. NL 39[13], KSA 11.624; AC 18,
25, 47, KSA 6.
11 „Gott erstickte an der Theologie; und die Moral an der Moralität.“ (NL 3[1] 7,
KSA 10, S. 54) Vgl. FW 357, KSA 3, S. 600.
12 „– Und wie viele neue Götter sind noch möglich!… Mir selber, in dem der
religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will:
wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart!…“
(NL 17[4], KSA 13, S. 525 – 526)
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 381

donc la coupable négligence du seul monde qui soit“ (TA, S. 23) be-
deute.

2) Nietzsches Stil

Onfray hat zweifelsohne Recht, die stilistische Spannweite Nietzsches


hervorzuheben. Weniger überzeugend ist seine Erklärung dafür:
„Nietzsche a tout utilisé pour désinfecter la forme classique.“ Zum
einen fehlt es Onfrays Aussage an Genauigkeit. Ist „klassisch“ historisch,
ästhetisch, kunstgeschichtlich, philosophisch zu verstehen? 13 Der Ge-
brauch des Begriffs „klassisch“ ist in Nietzsches Schaffen so zentral und
vieldeutig, daß er sich schwerlich auf Onfrays „Desinfektion“ redu-
zieren läßt. Es handelt sich vielmehr um einen kontinuierlichen Ver-
such, „klassisch“ in der modernen Kultur zu verstehen bzw. neu zu
definieren (vgl. NL 5[138], KSA 8, S. 75; 7[6], KSA 8, S. 123 – 125 und
JGB 223, KSA 5, S. 157). Man denke zum Beispiel an Nietzsches Kritik
am Romantischen,14 am falschen klassischen Stil von David Friedrich
Strauss (vgl. UB III 10, KSA 1, S. 220) oder auch an seine Hoch-
schätzung des klassisch-römischen Stils.15 Zum anderen gilt Onfrays
Behauptung nicht für alle Werke Nietzsches. In seinem „Versuch einer
Selbstkritik“ (1886) schreibt dieser rückblickend über Die Geburt der
Tragçdie (1872): „Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches
Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bil-
derwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum
Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sau-
berkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend,
mißtrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens […]“ (KSA 1,
S. 14).

13 Vgl. H. Siemens Artikel „klassisch/classisch“ in: Nietzsche-Wçrterbuch (Anm. 8),


Bd. 3 (noch nicht erschienen).
14 „Classisch und romantisch. – Sowohl die classisch als auch die romantisch
gesinnten Geister – wie es diese beiden Gattungen immer giebt – tragen sich
mit einer Vision der Zukunft: aber die ersteren aus einer Strke ihrer Zeit
heraus, die letzteren aus deren Schwche.“ (WS 217, KSA 2, S. 652)
15 „Man lernt nicht von den Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu
flüssig, um imperativisch, um ,klassisch’ zu wirken. Wer hätte je an einem
Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je ohne die Römer gelernt!“ (GD
„Was ich den Alten verdanke“ 2, KSA 6, S. 155)
382 Isabelle Wienand

3) Nietzsches Gotteskritik

Die Wege, die Nietzsche beschreitet, um das Thema vom Tod Gottes
darzustellen, sind vieldeutiger als bei anderen Religionskritikern des 19.
Jahrhunderts, wie zum Beispiel bei Ludwig Feuerbach. Die große Zahl
von philosophischen, religionswissenschaftlichen und theologischen
Untersuchungen zum Thema, die über mehr als ein Jahrhundert er-
schienen sind, bestätigt, daß der Tod Gottes bei Nietzsche nicht einfach
einer Evidenz oder einem vergangenen Ereignis gleichkommt.16 Zwar
stimmt Nietzsche mit den Philosophen der Aufklärung und den Link-
hegelianern überein, daß „die Menschen Gott geschaffen haben“; er
hinterfragt jedoch die Vorstellung der Aufklärer, daß der gottlose
Mensch freier, toleranter, rationaler und menschenfreundlicher sei.17
Denn zum einen heiße gottlos sein auf die mit dem Tod Gottes hinfällig
gewordenen höchsten Werte zu verzichten. Daß „wir noch an die
Grammatik glauben“18 zeigt, daß eine noch so gründliche Verneinung
der platonisch-christlichen Metaphysik „immer noch ein metaphysischer
Glaube ist“ (FW 344, KSA 3, S. 577). Zum anderen ist der Tod Gottes
mehr ein Verlust als ein Gewinn, wenn man seine eigenen Gottesvor-
stellungen bzw. Lebensbedingungen nicht geprüft und ihnen entsagt
hat.19 Gott loszuwerden ist ohne Selbstprüfung und Selbstüberwindung
undenkbar und unrealisierbar. Seien es die Szene mit dem tollen
Menschen (FW 125, KSA 3, S. 480 – 482) oder die Figuren der höheren
Menschen im Zarathustra, sie alle zeigen, daß die Bedeutung vom Tod
Gottes nur oberflächlich erkannt wird, letztlich aber un- oder miß-
verstanden bleibt. Die „Gottlosen“ in Die frçhliche Wissenschaft (125)
kümmern sich zwar nicht mehr um Gott, richten ihr Leben aber den-

16 Eine ausführliche Bibliographie würde die Seitenzahl dieses Beitrages verviel-


fachen. Unter den wichtigsten Studien zum Thema Gottes Tod in Nietzsches
Denken gehören die Kommentare von Eugen Biser, Eric Blondel, Johann Figl,
Didier Franck, Martin Heidegger, Dieter Henke, Karl Jaspers, Martin Pernet,
Peter Köster, Jörg Salaquarda, Paul Valadier und Bernhard Welte.
17 “ Ihr macht es euch zu leicht, ihr Gottlosen! Gut, es mag so sein, wie ihr sagt:
die Menschen haben Gott geschaffen – ist dies ein Grund, sich nicht mehr um
ihn zu kümmern?“ (NL 12[202], KSA 9, S. 611) Vgl. auch NL 15[4], KSA 9,
S. 635; FW „Scherz, List und Rache“ 38, KSA 3, S. 361.
18 „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik
glauben…“ (GD, KSA 6, S. 78)
19 „Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen
fortwährenden Sieg ber uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.“ (NL
12[9], KSA 9, S. 577)
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 383

noch nach christlich geprägten moralischen Werten aus. Gott verkör-


pert diese nihilistische Übergangssituation, in der sich der Mensch von
dem „unglaubwürdigen“ Gott (FW 343, KSA 3, S. 573) entfernt hat,
ohne jedoch seine Existenz nach neuen Werten einrichten zu können.
Onfray mißdeutet Nietzsche, weil er den Nihilismus ausschließlich als
eine Übergangsphase zwischen dem alten kindlichen Gottesglauben und
der neuen reiferen Gottlosigkeit bzw. dem Atheismus versteht. Er läßt
Nietzsches Frage, ob der Mensch ohne „Kinder-Spielzeug“ und
„Kinder-Schmerz“ ( JGB 57, KSA 5, S. 75) überhaupt leben könne,
völlig außer Acht. Daß Nietzsches Rede vom Tod Gottes nicht ein-
deutig ist, scheint Onfray kaum zu interessieren. Der Tod Gottes wird
in Nietzsches Werk mehrdeutig verwendet: als ein historisches Ereignis
(vgl. FW 343, KSA 3, S. 573), eine ethische Aufgabe (vgl. FW 124, 283,
285, 343, KSA 3), eine philosophische Frage,20 als psychologischer
Ausdruck des Selbsthasses21 oder der Selbstüberwindung (vgl. FW 285,
KSA 3, S. 527 – 528; Z I, KSA 4, S. 35 – 36). Es wirkt daher umso
befremdlicher, wenn Onfray Nietzsches Interpretation so zusammenf-
aßt: „Car Dieu n’est ni mort ni mourant – contrairement à ce que
pensent Nietzsche et Heine. Ni mort ni mourant parce que non mor-
tel.“ (TA, S. 40) Dabei verschweigt Onfray, daß die Werke der soge-
nannten mittleren Periode immer wieder hervorheben, daß Gott in
seinen verschiedensten Ausdrucksformen weder ein Irrtum der Ver-
nunft noch ein sterbendes Überbleibsel obskurer Zeiten ist, sondern als
eine lebensnötige Illusion fungiert.22 Man sucht vergebens nach einem
Textbezug, der Onfrays Behauptung stützen könnte. Onfrays Analyse
von Nietzsches Gotteskritik fehlt es an Genauigkeit und Originalität. In
seiner Abhandlung geht verloren, daß sich Nietzsche dem Tod Gottes
in seinen vielfältigen Interpretationen auf verschiedenen Wegen nähert.
Es wäre der Relevanz seines atheologischen Programms dienlicher,
wenn Nietzsche nicht der Ausgangspunkt seines postmodernen Athe-
ismus wäre.

20 „Nachzudenken: In wiefern immer noch der verhängnißvolle Glaube an die


gçttliche Providenz […] fortbesteht“ (NL 10[7], KSA 12, S. 457).
21 Vgl. die Figur des häßlichsten Menschen in Z IV, KSA 4, S. 327 – 332.
22 Vgl. MAM I 110, 226; VM 225, KSA 2; M 204; FW 347, KSA 3; AsZ IV,
KSA 4, S. 391: „Tod ist bei Göttern nur ein Vorurtheil.“
384 Isabelle Wienand

4) Nietzsches Atheismus

Onfray vermittelt den Eindruck, es habe kaum einen Denker vor ihm
gegeben, der Nietzsches Gedanken zum Atheismus interpretiert hätte.
Abgesehen von einem nicht weiter erläuterten Zitat von Deleuze
(„l’athéisme tranquille“, TA, S. 90), hält es Onfray für unnötig, seine
Interpretation von Nietzsches Atheismusverständnis im Vergleich z. B.
zu derjenigen von Bataille oder Camus zu unterscheiden bzw. recht-
fertigen. Auf die Forschung zu Nietzsches Atheismus geht er nicht ein.23
Keine Primärtexte werden angeführt, um dem Leser zu erklären, in-
wiefern die Atheologie eine Weiterentwicklung des Atheismus von
Nietzsche ist. Statt einer Darstellung von Nietzsches Atheismus offeriert
uns Onfray ein inspiriertes Selbstbekenntnis: „Etre nietzschéen, c’est
proposer d’autres hypothèses, nouvelles, post-nietzschéennes, mais en
intégrant son combat sur les cimes. Les formes du nihilisme contem-
porain appellent plus que jamais une transvaluation qui dépasse enfin les
solutions et les hypothèses religieuses ou laïques issues des monothéis-
mes. Zarathoustra doit reprendre du service: l’athéisme seul rend pos-
sible la sortie du nihilisme.“ (TA, S. 66)
Onfrays kuriose Lektüre von Nietzsches Denken läßt sich im Falle
seines Atheismusverständnisses besonders gut erklären. Denn weder die
Argumente für und gegen den Atheismus, die Nietzsche diskutiert (vgl.
GM III 27, KSA 5, S. 409), noch die Bedeutung des Atheismus in-
nerhalb seines philosophischen Systems24 scheinen für Onfray von Be-
lang zu sein. Daß Onfray keine Rücksicht weder auf die anti-hedo-
nistische Einstellung von Nietzsches Atheismus,25 noch auf den grö-

23 Siehe Anm. 16.


24 „Etre nietzschéen – ce qui ne veut pas dire être Nietzsche comme le croient les
imbéciles… – exclut de reprendre à son compte les thèses majeures du phi-
losophe au serpent: le ressentiment, l’éternel retour, le surhomme, la volonté de
puissance, la physiologie de l’art et autres grands moments du système philo-
sophique. Nul besoin – quel intérêt? – de se prendre pour lui, de se croire
Nietzsche, et de devoir endosser, puis assumer toute sa pensée. Seuls les esprits
courts imaginent cela …“ (TA, S. 64 – 65)
25 Vgl. NL 31[26], KSA 11, S. 366: „wenn ihr das Gesetz von Lust und Unlust
über euch fühlt und kein hçheres: nun, wohlan, so wählt euch die angenehmsten
und nicht die wahrscheinlichsten Meinungen: wozu bei euch Atheismus!“; NL
31[29], KSA 11, S. 367: „– wir stellen uns gefährlicher hin und geben uns
vielmehr dem Schmerze, dem Gefühl der Entbehrung hin: unser Atheismus ist
ein Suchen nach Unglück, wofür die gemeine Art Mensch gar kein Verständniß
im Leibe hat.“
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 385

ßeren Zusammenhang von Nietzsches Atheismus nimmt, mag wohl auf


seine Grundinterpretation von Nietzsche zurückgeführt werden: Onf-
ray liest Nietzsche als Anti-Systematiker. Der Leser darf sich wohl fra-
gen, was es heißen soll, Nietzsches „Kampf“ weiterzuführen, wenn die
inhaltlichen Zusammenhänge seiner Philosophie derart vereinfacht oder
verkannt werden. Onfray vermittelt den Eindruck, die These, der
Atheismus allein erlaube den Ausgang aus dem Nihilismus, sei im
Grunde auf Nietzsche zurückzuführen (vgl. TA, S. 66 – 68). Viele Texte
widersprechen dieser Behauptung. Auf die nihilistische Haltung der
Atheisten im Text 125 in Die frçhliche Wissenschaft ist schon hingewiesen
worden. Diese inkonsequenten Gottlosen zeigen indirekt, daß der
Atheismus keine theoretische Bedingung, sondern „die Folge einer
Erhöhung des Menschen ist“, wie es der folgende Entwurf aus dem
Nachlaß vom Herbst 1885 zum Ausdruck bringt: „Der Atheismus ist
die Folge einer Erhçhung des Menschen: im Grunde ist er schamhafter,
tiefer und vor der Fülle des Ganzen bescheidener geworden; er hat seine
Rangordnung besser begriffen.“ (NL 39[14], KSA 11, S. 625)
Angesichts der Beispiele, die Onfrays idiosynkratische Interpretation
von Nietzsches Philosophie veranschaulichen, kann man sich wohl
fragen, ob seine Rezeption von Nietzsches Gotteskritik nicht ana-
chronistisch ist. Chronologisch gesehen ist Onfray wie wir zweifellos
ein Post-Nietzscheaner. Inhaltlich scheint Onfrays Interpretation jedoch
bei der positivistischen Gotteskritik vor Nietzsche stehen geblieben zu
sein. Meines Erachtens gibt es allerdings ein erwähnenswertes Element,
das sowohl bei Nietzsche als auch bei Onfray zu finden ist: nämlich die
streitbare, effektorientierte Dimension der Kritik.

II

Daß Onfray sich nicht an die Regel der philologischen und philoso-
phischen Genauigkeit hält, charakterisiert seine leidenschaftliche Inter-
pretation. Man muß zu seinen Gunsten jedoch einräumen, daß auch der
Philologe Nietzsche diese Regel nicht immer einhält. Zum Beispiel
gleichen seine vehementen Urteile über Mill26 mehr einem parteiischen
und spöttischen Porträt als einer geduldigen und ausführlichen Aus-
einandersetzung mit Mills Texten und Argumentation. Besonders vi-

26 Vgl. Jean-Claude Wolf, Zarathustras Schatten. Studien zu Nietzsche, Fribourg:


Academic Press Fribourg 2004, S. 193 – 195.
386 Isabelle Wienand

rulent, polemisch und plakativ wirkt Der Antichrist. Fluch auf das
Christentum auf den heutigen Leser. Damit wird nicht behauptet, daß die
Philosophie Nietzsches nur die effektvolle Wirkung, die Provokation
und die geistreiche Originalität anstreben würde, sondern es wird daran
erinnert, daß das literarische Genre der Streitschrift ein Bestandteil
seiner Schaffensproduktion ist. Von der Rhetorik her klingt Onfrays
Trait d’Athologie wie ein Echo des Pamphlets Der Antichrist. Onfray ist
jedoch entgangen, daß Der Antichrist vor allem lauter Interpretations-
fragen aufstellt: Warum wird auf die biblische Figur des Antichristen in
diesem Fluch auf das Christentum angedeutet? Welches Christentum wird
in dieser Schrift bloßgelegt (vgl. AC, 32 – 46, KSA 6)? Sind Antichrist
und Atheist gleichbedeutend (vgl. AC 47, KSA 6, S. 225)? Diese Un-
terscheidungen fehlen in Onfrays Diatribe. Was von seiner Lektüre
Nietzsches übrig bleibt, ist ein pauschaler und in dieser Pauschalität
leerer Angriff auf „das religiöse Wesen“. Ein Grund für Onfrays
Scheitern besteht darin, daß er die Zielscheibe seiner Kritik nicht klar
identifiziert. Daher wirkt seine polemische Empörung unbegründet,
wie zum Beispiel seine Behauptung, das Erbe der Atheisten sei nur
aufgrund der Dominanz der christlichen Ideologie in Vergessenheit
geraten. (TA, S. 60 – 62) Es ist erstens zu bezweifeln, ob heutzutage
Autoren wie der Abbé Meslier, La Mettrie, d’Holbach oder Feuerbach
weniger als andere Denker herausgegeben und studiert werden.27
Zweitens trägt Onfrays vereinfachte Darstellung des Atheismus gerade
nicht dazu bei, La Mettrie oder d’Holbach lesen zu wollen.28 Drittens
wird es wohl auch andere Gründe (wissenschaftliche, finanzielle) als
allein das christliche Monopol geben, warum es angeblich keine His-
toriographie des Atheismus gibt (TA, S. 52 – 54). Auch in diesem Punkt
versteigt sich Onfray zu angreifbaren Behauptungen.29

27 Vgl. TA, S. 63: „Malgré cet immense chantier philosophique, Feuerbach de-
meure un grand oublié de l’histoire de la philosophie dominante.“ Diese Be-
hauptung ist mehr der Ausdruck von Onfray Verschwörungstheorie als ein
sachdienlicher Bericht über den Inhalt des Philosophieprogramms an den
französischen Gymnasien, über die internationale Feuerbach-Forschung und
die Neuedition von Feuerbachs Werken, die Berliner Akademie der Wissen-
schaften herausgibt.
28 Vgl. Michaël Fœssel, „L’athéisme dérisoire de Michel Onfray“ in: Esprit 314
(2005), S. 75 – 86.
29 Vgl. Michael J. Buckley, At the Origins of Modern Atheism, New Haven: Yale
University Press 1987; Hermann Ley, Geschichte der Aufklrung und des Atheis-
mus, 9 Bde, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966 – 1989; Georges
Minois, Histoire de l’athisme. Les incroyants dans le monde occidental des origines 
Nietzsches Atheismus in Onfrays „athéologie“ 387

Schluß
Der deutsche Titel von Onfrays Abhandlung lautet: Wir brauchen keinen
Gott. – Warum man jetzt Atheist sein muß. 30 Die deutsche Übersetzung
entspricht dem Inhalt des Buches besser als der Originaltitel. Statt eine
theoretische Grundlegung des Atheismus und eine begründete Dar-
stellung seines „post-modernen Atheismus“ zu liefern, führt Onfray
einen persönlichen Kreuzzug gegen die Allgegenwärtigkeit Gottes und
präsentiert ein kurzatmiges Plädoyer für eine hedonistische Lebensphi-
losophie. Sein Ziel, den nihilistisch gesinnten Monotheisten zu einem
lebensbejahenden Atheismus zu bekehren, erreicht er mit seinem Buch
Trait d’Athologie nicht. Ein Grund dafür ist, daß Onfray auf die ei-
gentliche Bedeutung der Rückkehr zum Wirklichen („regarder le réel
en face“), zu „der Erde“ nie in seinem Essay näher eingeht (TA, S. 23).
Daß der Übergang zum Post-Atheismus unklar ist, liegt wohl daran, daß
Onfray auf keine Überwindung, sondern auf eine dogmatische Ver-
nichtung der „Hinterwelten“ zielt. Daher hängt seine neue Moral, die
er am Anfang seines Buches vorstellt, in der Luft. Und seine Lektüre
Nietzsches schwebt über den Wolken.

nos jours, Paris: Fayard 1998; Winfried Schröder, Ursprnge des Atheismus. Un-
tersuchungen zur Metaphysikkritik und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts,
Stuttgart: Frommann-Holzboog 1998.
30 Aus dem Französischen von Bertold Galli, München: Piper 2006.
C. Interpretationen
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence
Catherine Malabou

Sous le titre «L’éternel retour et le fantôme de la différence», j’entends


mettre en lumière ce que je présenterai comme le coup de force
interprétatif qui, de Deleuze à Derrida, en passant par Klossowski et
Blanchot, a orienté et gouverné la compréhension de la philosophie de
Nietzsche durant la seconde moitié du Xxe siècle. Ce coup de force
consiste à avoir fait de Nietzsche un penseur, voire le premier penseur,
de la «différence».
Un tel coup de force n’est pas «français» à l’origine. Il a été inauguré
en effet par Heidegger, qui a entrepris de lire Nietzsche au fil
conducteur de la différence ontologique. À l’évidence, les auteurs que je
viens d’évoquer ont été, chacun à leur manière, profondément
influencés par cette lecture. Ce qui est «français», si je puis dire, dans
leur décision interprétative est que là où Heidegger voit dans la pensée
de Nietzsche à la fois un dévoilement et un recouvrement de la
différence, ils aperçoivent quant à eux, dans cette même pensée, la mise
au jour d’une différence franche, sans ambivalence, sans équivoque.
La différence nietzschéenne serait une différence originaire, fonda-
trice, un principe de raison suffisante, dit Deleuze, une instance
irréductible, indéconstructible. Elle irait jusqu’à apparaître comme un
instrument de déconstruction de la différence ontologique elle-même,
jugée encore trop lourde, trop englobante, trop attachée au sens de
l’être. La différence nietzschéenne serait ainsi plus radicale que la
différence ontologique.
L’expression la plus pure, la plus probante de cette radicalité est aux
yeux des penseurs français la doctrine de l’éternel retour. Telle est bien
l’orientation proprement «française» de la lecture de Nietzsche lors de la
seconde moitié du Xxe siècle: la promotion de la doctrine de l’ternel retour
en annonce de la pense de la diffrence. «Revenir», déclare Deleuze dans
Nietzsche et la philosophie, est l’ «être de la différence en tant que telle, ou
l’éternel retour».1

1 Gilles Deleuze, Diffrence et rptition, Paris: PUF 1968, p. 217.


392 Catherine Malabou

Mais pourquoi parler de «coup de force» au sujet d’une telle


interprétation, formule qui sous-entend une violence, voire un truqua-
ge? Premièrement, parce que la différence, «Unterschied» ou «Differenz»,
n’est pas, on ne peut que le constater, un concept nietzschéen. Elle
n’occupe aucune place privilégiée dans le lexique du philosophe et ne
pas fait l’objet d’un traitement spécifique. Deuxièmement, parce qu’il y
a plus qu’un paradoxe à voir dans l’éternel retour de l’identique une
pensée radicale de la différence. En effet, une telle interprétation
suppose que l’éternel retour, contrairement à ce qu’indique son nom, est
un principe de sélection qui trie automatiquement, pourrait-on dire,
entre ce qui revient – ou mérite de revenir – et ce qui ne revient pas.
Un principe qui fait la diffrence entre les candidats ontologiques au
retour. Un principe qui n’annonce donc, contrairement à ce qu’indique
son nom , ni le retour de l’identique, ni le retour de toutes choses.
L’identité, déclare Deleuze, doit être précisément comprise à partir
de la différence. Pour Nietzsche, l’identité ne préexiste pas au retour,
elle est produite par lui. L’identité est donc le résultat de la différence.
En ce sens, s’agit-il encore d’une «identité»? Deleuze répond: «l’éternel
retour ne peut pas signifier le retour de l’Identique puisqu’il suppose au
contraire un monde […] où toutes les identités préalables sont abolies et
dissoutes. […] Revenir est donc la seule identité, mais l’identité comme
puissance seconde, l’identité de la différence, l’identique qui se dit du
différent, qui tourne autour du différent.»2 Quant au retour de «toutes
choses», il est une répétition qui sélectionne et fait le partage entre ce qui
supporte et ce qui ne supporte pas l’épreuve du retour. «Si l’éternel
retour est une roue, encore faut-il doter celle-ci d’un mouvement
centrifuge violent, qui expulse […] ce qui ne supporte pas l’épreuve.»3
D’une autre manière, mais avec une conclusion identique, Derrida
insiste, dans son petit livre intitulé Otobiographies, l’enseignement de
Nietzsche et la politique du nom propre 4, sur le lien qui unit l’anneau de
l’éternel retour et le mouvement de la différance. C’est bien comme
diffrance – affirmation et sélection – qu’il faut comprendre l’éternel
retour.
A relire toutes les occurrences de la doctrine de l’éternel retour dans
les textes de Nietzsche, dans Ainsi parlait Zarathoustra, dans le Gai Savoir

2 Ibid., p. 59.
3 Ibid., p. 78.
4 Jacques Derrida, Otobiographies, l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom
propre, Paris: Galilée 1984.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 393

et dans les textes posthumes notamment, on ne voit rien qui autorise


une telle compréhension, pourtant dominante et largement répandue,
de la doctrine. Le «Différent» n’existe pas. Pourquoi dès lors une telle
insistance?
Je voudrais développer ici un élément de réponse. L’éternel retour,
envisagé à partir de la différence, est compris, par les auteurs que je viens
de citer, comme une processus de traitement de la dualité, de la dyade,
des couples ontologiques, qui s’oppose en tous points à la dialectique
hégélienne. L’anti-hglianisme constitue ainsi un autre trait dominant de la
comprhension franÅaise de Nietzsche, inséparable du premier. C’est au nom
de l’anti-hégélianisme que la différence est promue au rang de concept
directeur. En effet, la différence n’est pas l’opposition; à ce titre, elle
n’est pas en quête de sa propre résolution. Cette remarque me permet
d’éclairer le sens du mot «fantôme» dans mon titre: L’ternel retour et le
fantme de la diffrence. Selon nos auteurs, au processus dialectique de
résolution des opposés, qui réduit la différence et la subordonne au
travail du négatif, Nietzsche substituerait un principe de sélection
spectralisante. La roue du retour ferait la différence entre la vie – vitalité
de l’affirmation, de tout ce qui mérite de revenir – et la mort –infirmité,
nihilisme, faiblesse de ce qui ne peut supporter l’épreuve du retour. La
différence serait ainsi productrice de fantômes, principe de distinction
entre les vivants et leurs spectres. Principe de sélection automatique
entre la vitalité créatrice et les fantômes réactifs. Sans contradiction, sans
négation. Tout ce qui revient reviendrait alors à la fois accompagné par
son fantôme et libéré de lui. La production du double spectral serait la
réplique nietzschéenne, non dialectique, de la relève dialectique.
Nous verrons d’ailleurs, chez Deleuze comme chez Derrida, que le
plus fantomatique des fantômes, celui qui ne mérite pas de revenir
autrement que sous la forme d’une ombre est bien Hegel. Deleuze
affirme: «le Négatif ne revient pas. L’Identique ne revient pas. Le Même
et le Semblable, l’Analogue et l’Opposé ne reviennent pas. Seule
l’Affirmation revient, c’est-à-dire le Différent, le Dissimilaire.»5 La
doctrine de l’éternel retour de l’identique signifierait donc: Seule la
différence revient. Ou encore «deux négations» ne font jamais qu’un
«fantôme d’affirmation».6 Le point de vue hégélien «est le point de vue
de l’esclave qui tire du non le fantôme d’une affirmation.»7

5 Diffrence et rptition, op. cit., p. 382.


6 Ibid., p. 75.
7 Ibid., p. 76.
394 Catherine Malabou

Or de la même manière que Nietzsche n’est peut-être pas un


penseur de la différence, il n’est peut-être pas non plus obsédé par le
fantôme de Hegel. Aujourd’hui, telle sera ma question, n’est-ce pas la
différence elle-même qui est devenue fantomatique? N’est-ce pas la
différence elle-même qui n’est plus qu’un spectre et qui, à ce titre, n’est
plus opératoire, tout comme la critique de la dialectique qu’elle entend
orienter?
On ne manquera pas de m’objecter toutefois, et je dois faire droit
immédiatement à cette objection, que le concept de différence est
apparu, sinon comme la meilleure solution, du moins comme le
traitement le moins fautif de l’immense problème posé par la doctrine de
l’éternel retour. Ce problème tient à ce qu’il y a toujours en effet et
précisément du «deux», de la dyade, dans la formulation de la doctrine
de l’éternel retour. Le retour s’annonce toujours chez Nietzsche comme
un entre-deux, que celui-ci prenne la forme du portique où se joignent
les deux voies dans Ainsi parlait Zarathoustra ou qu’il s’agisse du «ou bien
(oder)» qui structure l’annonce du «poids le plus lourd» dans le Gai savoir.
Dans «De la vision et de l’énigme» (Vom Gesicht und Rthsel), dans la
troisième partie d’Ainsi parlait Zarathoustra, Nietzsche déclare: «Vois ce
portique, ô nain […]. Il a deux faces [zwei Gesichter]. Deux voies [zwei
Wege] ici se joignent, que ne suivit personne jusqu’au bout. Cette
longue voie derrière dure une éternité [eine Ewigkeit]. Et cette longue
voie devant – est une autre éternité [eine andre Ewigkeit]. Elles se
contredisent ces voies, se heurtent de plein front [sie widersprechen sich,
diese Wege, sie stoßen sie gerade vor den Kopf] et c’est ici, sous ce portique,
qu’elles se joignent. Le nom de ce portique est là haut inscrit: »Instant«
[Augenblick].»8
Au §341 du Gai Savoir, intitulé Le poids le plus lourd, on lit:
«Que dirais-tu si un jour, une nuit, un démon se glissait jusque dans ta
solitude la plus reculée et te dise: ,Cette vie telle que tu la vis maintenant et
que tu l’as vécue, tu devras la vivre encore une fois et d’innombrables fois;
et il n’y aura rien de nouveau en elle, si ce n’est que chaque douleur et
chaque plaisir, chaque pensée et chaque gémissement et tout ce qu’il y a
d’indiciblement petit et grand dans ta vie devront revenir pour toi, et le
tout dans le même ordre et la même succession – cette araignée-là
également, et ce clair de lune entre les arbres, et cet instant-ci et moi-
même. L’éternel sablier de l’existence ne cesse d’être renversé à nouveau –
et toi avec, ô grain de poussière de la poussière!’ – Ne te jetterais-tu pas sur

8 Ainsi parlait Zarathoustra, tr. fr. Maurice de Gandillac, Paris: Gallimard 1971,
p. 197.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 395

le sol, grinçant des dents et maudissant le démon qui te parlerait de la sorte?


Ou bien (oder) te serait-il arrivé de vivre un instant formidable où tu aurais
pu lui répondre: ,Tu es un dieu, et jamais je n’entendis choses plus
divines!’»9
Il y a ce «deux» de l’éternité, des chemins, des voies, il y a ce «ou bien».
Que peuvent-ils exprimer d’autre, précisément, qu’une diffrence? Le
retour, dans son mouvement même, n’opère-t-il pas une slection une
hiérarchisation, sans solution dialectique, entre deux significations de
lui-même? Une première signification, dite «nihiliste», selon laquelle
tout revient au même, une seconde, résolument «créatrice», qui soutire à
la répétition la possibilité d’une transvaluation et d’un surmontement du
nihilisme? N’y a t-il pas dès lors deux retours dans le retour, une
différence du retour à lui-même en effet, qui fait la part entre le nain et
le surhomme, le «oui» de l’âne et le «oui» du créateur, l’affirmation et
son fantôme?
Deleuze thématise cette difficulté: comment expliquer en effet,
demande-t-il, que «l’éternel retour soit à la fois cycle et instant: d’une
part continuation, d’autre part itération? d’une part continuité du
processus d’un devenir qui est le Monde, d’autre part reprise, éclair, vue
mystique sur ce devenir ou ce processus? d’une part recommencement
continuel de ce qui a été, d’autre part retour instantané à une sorte de
foyer intense, à un point ,zéro’ de la volonté? et encore, comment
expliquer que l’éternel retour soit la pensée la plus désolante […] et la
plus consolante […]?»10 Toutefois, il met rapidement fin à cette
hésitation et répond fermement: il n’y a pas, en réalité de «à la fois», ni
d’ «oscillation». La différence travaille à hiérarchiser les perspectives qui
semblaient égales. Il y a une diffrence d’intensit dans l’Þtre, qui sépare la
consistance des instances actives des fantômes de la passivité.
De fait, face à cette difficulté du «ou bien», comment comprendre
l’éternel retour autrement que comme la lame d’une différence qui
tranche et l’empêche d’être une simple rengaine? Quel sens aurait-il sans
cette différence? Sans sa différence? Ne serait-il pas en effet pure
absurdité, pure redite, nihilisme encore une fois? Le retour ne revient
pas sans sa différence. C’est ainsi que les choses ont été comprises.
Heidegger le premier a insisté sur la valeur de l’instant dans De la
vision et de l’nigme. L’instant, qui correspond au coup de dent qui
tranche la tête du serpent noir, est bien le moment décisif qui interrompt

9 Le gai Savoir, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1957, p. 330.
10 Diffrence et rptition, op. cit., pp. 280 – 281.
396 Catherine Malabou

le cours uniforme du retour et permet ainsi à celui qui en a la vision de


surmonter le nihilisme.11
Or l’insistance «française» sur la différence comme moteur de
l’éternel retour est à la fois une radicalisation et un déplacement de
l’insistance heideggerienne. Radicalisation, car l’instant est compris
comme ce moment décisif où sont produits les spectres. Déplacement,
car le poids de l’analyse porte clairement sur la critique de la dialectique.
Je montrerai d’abord que chez Deleuze, l’instant est compris comme ce
différenciant de la différence qui opère un partage nergtique et non
logique entre ce revient et ce qui échoue à revenir. Un principe de
sélection qui sépare l’affirmation de ce qu’elle n’est pas et la distingue de
ce que Deleuze appelle précisément son fantôme.
Je m’attacherai ensuite à la compréhension de l’instant développée
par Derrida. Cette compréhension est ordonnée à une logique de
l’autobiographie. L’éternel retour est une doctrine qui ne peut être
enseignée que par un individu qui porte un nom, celui de Zarathoustra,
ou celui de Nietzsche. Pas d’éternel retour sans nom propre. La doctrine
n’échappe à la rengaine que par la singularité du nom de celui qui
l’énonce. Envisagé ainsi, l’éternel retour n’est plus seulement le sablier
infiniment retourné de toutes choses dans leur neutralité, leur banalité
ou leur anonymat, mais une vie qui se voit elle-même revenir. Dans
l’indifférence du fleuve, il y a le je qui s’enchaîne à lui-même dans
l’unicité irréductible de sa vie et éprouve la diffrence entre la vie et la mort.
Cette différence, qui produit aussi le fantôme de l’écrivain, permet
d’introduire relief et hiérarchie dans l’éternel retour.
Après avoir examiné les traits essentiels de ces deux positions, qui,
bien qu’irréductibles l’une à l’autre, ont incontestablement des points
communs, je formulerai ma question en ces termes: et si la diffrence
n’tait pas le bon mot pour rendre compte des deux voies du portique ou du «ou
bien» lui-mÞme? Et si surmonter le nihilisme ne revenait pas  «faire la
diffrence»?
Il n’est sans doute pas outrancier d’affirmer que les deux ouvrages de
Deleuze Nietzsche et la philosophie et Diffrence et rptition présentent la
doctrine de l’éternel retour comme une stratégie de mise en pièces de la
dialectique hégélienne. Le concept de «différence» exprime pour
Deleuze avant toutes choses son irréductibilité à l’opposition, à la
contradiction, en un mot à la ngation. Contre le processus de

11 Cf. Heidegger, Nietzsche, I, tr. fr. Pierre Klossowski, Paris: Gallimard 1971, p.
340.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 397

l’Aufhebung qui règle d’avance les scissions, les déchirures, au profit


d’une identité prédéterminée, Nietzsche définit une énergétique, un
champ de forces au sein duquel aucune force n’existe avant sa mise en
rapport avec la force ou les forces dont elle diffère. Il n’y a donc aucune
identité préalable à la relation, toute présence résulte d’un ,diapherein’
originaire. Par là, aucune instance ne préside à la réconciliation des
forces, la différence est un mode d’être du multiple qui ne se contredit
pas, ne se surmonte pas non plus. Sa constance est assurée par la
répétition, qui n’est pas une réduction à l’identique. L’éternel retour,
déclare Deleuze dans Nietzsche et la philosophie est le «principe de la
reproduction du divers en tant que tel, celui de la répétition de la
différence: le contraire de l’adiaphorie.»12
La différence des forces est à la fois quantitative et qualitative.
D’après leur différence de quantité, déclare Deleuze, les forces sont dites
dominantes ou dominées. D’après leur différence de qualité, les forces
sont dites actives ou réactives.13 Les forces sont donc réparties
originairement, sans processus, selon cette double différenciation. Le
retour est précisément ce qui permet à cette différenciation d’être
constamment opératoire.
En effet, si tout doit revenir, qu’est-ce qui sert de principe sélectif et
empêche que les forces réactives ou dominées fassent retour, à égalité
avec les forces actives et dominantes? Nous retrouvons là la menace du
nihilisme. De fait, rappelle Deleuze, «Zarathoustra ne présente pas
seulement la pensée de l’éternel retour comme mystérieuse et secrète,
mais comme écœurante, difficile à supporter.» Quelque chose semble
«contaminer si gravement [l’éternel retour] qu’il devient lui-même objet
d’angoisse, de répulsion et de dégoût.»14 Cette menace de contamina-
tion n’est autre que le cercle de la dialectique, qui fait tourner l’être en
rond et assure le triomphe des forces réactives: «le cercle de Hegel n’est
pas l’éternel retour, mais seulement la circulation infinie de l’identique à
travers la négativité. […] La différence [y] reste subordonnée à l’identité,
réduite au négatif, incarcérée dans la similitude et l’analogie.»15
L’éternel retour, par sa force de sélection, est précisément ce qui
brise le cercle. Ce qui revient revient différent, «la répétition est le
différenciant de la différence». La volonté de puissance est la mise à

12 Gilles Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris: PUF 1962, p. 52.


13 Cf. Ibid., p. 49.
14 Ibid., p. 73.
15 Diffrence et rptition, op. cit., p. 71.
398 Catherine Malabou

l’épreuve de cette différenciation, qui finit par inverser le sens de la


réaction ou de la réactivité par la seule dynamique de l’affirmation: «Ce
que tu veux, veuille-le de telle manière que tu en veuilles aussi l’éternel
retour.»16 Or poursuit Deleuze, «une paresse qui voudrait son éternel
retour, une bêtise, une bassesse, une lâcheté, une méchanceté qui
voudraient leur éternel retour: ce ne serait plus la même paresse, ce ne
serait plus la même bêtise […]. Voyons mieux comment comment
l’éternel retour opère ici la sélection. C’est la pense de l’éternel retour
qui sélectionne. Elle fait du vouloir quelque chose d’entier. La pensée de
l’éternel retour élimine du vouloir tout ce qui tombe hors de l’éternel
retour, elle fait du vouloir une création, elle effectue l’équation vouloir
= créer.»17
Et c’est alors que la sélection crée des fantmes. Les forces écartées
par la roue deviennent en effet des fantômes de force, ce qui tombe en
dehors du retour est spectralisé. Et le plus fantomatique de ces fantômes,
nous l’avons annoncé, est le processus dialectique. «Ceux qui portent le
négatif ne savent pas ce qu’ils font : ils prennent l’ombre pour la réalité,
ils nourrissent les fantômes […].»18 C’est pourquoi «Le négatif, le
semblable, l’analogue, ne reviennent pas, pour toujours chassés par la
roue de l’éternel retour.»19 Le devenir apparaît alors comme processus de
hiérarchisation entre l’être – dont la constance est assurée par la
répétition – et le fantôme, simulacre ou ersatz de présence.
Je pourrais citer encore beaucoup de passages concernant la critique
de la dialectique, l’assimilation de la dialectique au nihilisme, la mise en
lumière de la négation comme fantôme ontologique de l’affirmation.
Mais je veux surtout ici avouer ma gêne face à ces analyses. En effet,
premièrement, où peut-on trouver chez Nietzsche l’idée que le négatif,
la dialectique, la pensée hégélienne elle-même ne reviennent pas? Cette
question en induit une seconde: où peut-on trouver, chez Nietzsche,
l’idée que l’éternel retour soit un principe automatique de sélection?
Deleuze présente l’éternel retour comme une roue, laquelle apparaît à
son tour comme une machine à faire la différence, une différenciation
automatique. Or où se trouve ce motif dans les textes? Enfin,

16 Nietzsche et la philosophie, p. 77.


17 Ibid., p. 78.
18 Diffrence et rptition, op. cit., p. 78.
19 Ibid., p. 380. Cf. aussi «la sélection se fait entre deux répétitions: ceux qui
répètent négativement, ceux qui répètent identiquement seront éliminés. Ils ne
répètent qu’une fois.» (Ibid., p. 381.)
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 399

troisièmement, et c’est la question la plus grave, la compréhension


deleuzienne de l’éternel retour à partir de la différence n’est-elle pas,
dans son anti-hégélianisme, extrêmement violente? L’éternel retour
n’est-il pas transformé par le biais d’une telle lecture en machine 
liminer? «La sélection se fait entre deux répétitions: ceux qui répètent
négativement, ceux qui répètent identiquement, seront éliminés.»20
Le verbe «éliminer» revient constamment sous la plume de Deleuze.
Elimination qui correspond à une destruction, voire à une autodestruc-
tion: «Le nihilisme, par et dans l’éternel retour, ne s’exprime plus
comme la conservation et la victoire des faibles, mais comme la
destruction des faibles, leur auto-destruction.»21 Où peut-on lire, chez
Nietzsche, que les faibles s’auto-détruisent? Et une machine à détruire la
faiblesse, à faire la différence entre deux répétitions n’est-elle pas au fond
plus totalitaire, plus menaçante, plus réactive que la dialectique?
L’idée que l’éternel retour fait la chasse aux revenants est une vision
séduisante mais dangereuse. En outre, encore une fois, il semble que
Nietzsche soit absent d’une telle vision. La différence est quelque chose
qu’on lui fait assumer.
Dans les deux livres Nietzsche et la philosophie et Diffrence et rptition,
on ne trouve aucune citation de Nietzsche qui mobilise littéralement le
concept de différence. Non que Nietzsche n’emploie jamais le mot, ni
que la lecture de Deleuze soit ruinée par l’absence d’occurrence
textuelle fondamentale du concept. On peut simplement se demander si
une telle lecture, malgré sa grandeur et son importance, ne règle pas trop
vite la question fondamentale de la complicité du nihilisme et de
l’affirmation créatrice en faisant intervenir ce fantôme de la dialectique
qui se transforme en mauvais sujet. Si cette lecture n’élimine pas elle-
même de manière machinale, systématique, l’alliance des «deux voies»,
le fait que toutes choses soient «fermement nouées».22
À première vue, la lecture que Derrida propose de Nietzsche semble
insister davantage sur ce lien, ce nœud qui lie toutes choses, sur la
difficulté qu’il y a précisément à trancher, à sélectionner au sein de cette
complication. Pourtant, nous découvrons très vite que les motifs de la
différance et de la spectralité gouvernent, ici encore, l’interprétation. Il
faudrait bien sûr prendre le temps d’indiquer tout ce qui sépare la
différence de Deleuze de la différance de Derrida, tout ce qui sépare

20 Ibid., p. 381.
21 Nietzsche et la philosophie, op. cit., p. 79.
22 Ainsi parlait Zarathoustra, op. cit., p. 198.
400 Catherine Malabou

aussi le concept de spectralité chez l’un et chez l’autre, mais tenons


nous-en ici à notre problème.
Dans Otobiographies, ouvrage qui contient beaucoup d’éléments
essentiels sur la pensée de la déconstruction, Derrida montre que
l’originalité de la pensée de l’éternel retour tient à la signature qu’y laisse
en elle son penseur. L’éternel retour est une pensée qui n’est pas
séparable du nom propre de celui qui la pense. Il y a donc une alliance
entre l’anneau du retour éternel et la vie singulière de celui qui en a la
révélation. Deux anneaux dans l’anneau.
La thématique de la différance est précisément introduite dans
l’analyse de la dualité de ces cercles, le premier que l’on peut appeler
ontologique et le second autobiographique. Il y a bien à la fois similitude et
différence entre l’anneau du retour de toutes choses et l’anneau qui unit
ce cercle à la vie du penseur. Le point de rencontre ces deux anneaux est
l’anniversaire, motif si important pour Nietzsche – qu’il s’agisse du grand
midi ou de l’anniversaire du milieu de la vie évoqué dans Ecce Homo.
L’anniversaire marque à la fois le retour infini et le retour fini de la
vie sur elle-même. C’est en l’articulant à cette double logique de
l’anniversaire que Derrida lit la déclaration de Zarathoustra: «j’ai regardé
en arrière, j’ai regardé devant moi, jamais je n’ai vu d’un seul coup tant
de choses et de si bonnes.» Derrida déclare: «l’anniversaire, c’est l’instant
où l’année tourne sur elle-même, forme avec elle-même un anneau,
s’annule et recommence.»23 Les deux retours inclus dans l’éternel retour
se marquent par la coïncidence entre le retour anonyme du temps et la
date, la signature propre à tel anniversaire: «dater, dit encore Derrida,
c’est signer.»24 La signature de l’instant est une date: aujourd’hui, c’est
mon anniversaire.
Entre l’anneau du retour éternel et l’instant daté de l’anniversaire se
joue le statut structurel de l’autobiographie. L’apport propre de
Nietzsche est la révélation de la dimension nécessairement autobiogra-
phique de la philosophie. Dans la coïncidence de l’anneau et de l’instant,
la vie s’ouvre un crédit à elle-même, se voit passer, se récite, se raconte.
Le philosophe ne parle dès lors plus de la vie en général, mais toujours
de la sienne, en son nom: «le nom de Nietzsche est peut-être
aujourd’hui, pour nous en Occident, le nom de celui qui fut le seul […]
à traiter de la philosophie et de la vie, de la science et de la philosophie

23 Otobiographies, op. cit., p. 53.


24 Ibid.
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 401

de la vie avec son nom, en son nom. Le seul peut-être à y avoir mis en jeu
son nom – ses noms – et ses biographies.»25
Or c’est là ce qui sépare à jamais Nietzsche de Hegel, ce dernier
n’ayant jamais parlé en son nom, ayant toujours pensé au contraire
l’effacement du nom propre dans la logique du savoir absolu. En outre,
la dualité des anneaux dans l’éternel retour – anneau éternel et anneau
fini – ne se contredit jamais chez Nietzsche. Là encore, elle ne donne
lieu à aucun processus dialectique. «L’ombre de toute négativité a
disparu».26 Midi est «délivré du négatif et de la dialectique».27
La production de spectre a lieu ici précisément au point de
rencontre des deux anneaux, au point, à l’instant, à la date de
l’anniversaire. Au moment où Nietzsche signe en son nom le récit de sa
vie, il n’est déjà plus vivant, mais survivant, il est devenu son nom
même, un mort-vivant. Un fantôme. Il y a donc toujours «une
différance de l’autobiographie».28 Le nom, écrit Derrida «est toujours et
a priori un nom de mort. Ce qui revient au nom ne revient jamais à du
vivant, rien ne revient à du vivant.»29 Derrida met ces analyses en
rapport avec ces deux passages d’Ecce homo dans lesquels Nietzsche dit «je
suis, en tant que mon père, déjà mort [als mein Vater bereits gestorben], en
tant que ma mère, je vis encore et je vieillis [als meine Mutter lebe ich noch
und werde alt]»30 et «pour pouvoir comprendre la moindre chose à mon
Zarathoustra, on doit peut-être se trouver dans une condition voisine de
celle où je suis – avec un pied au-del de la vie.»31 Cet au-delà n’est pas là
non plus une solution dialectique, il est bien «par delà l’opposition de la
vie et de la mort», il marque leur entre-deux, la diffrence entre les deux. Le
sujet n’est pas, comme chez Hegel, absolument présent à lui-même.
Le fait que le sujet de l’autobiographie ne coïncide jamais avec lui-
même, soit toujours différent de lui-même: une part de lui vivante, une
part de lui morte, montre que l’éternel retour est là encore un principe
de sélection. Affirmer que rien ne revient  du vivant, c’est affirmer encore
une fois que tout ne revient pas dans l’éternel retour. Non plus au sens,
dégagé par Deleuze, où certaines choses reviennent et pas d’autres:
l’affirmation et pas la négation par exemple. Mais au sens du datif: non

25 Ibid., p. 43.
26 Ibid., p. 54.
27 Ibid., p. 65.
28 Ibid., p. 73.
29 Ibid., p. 44.
30 Ibid., p. 62.
31 Ibid., p. 69.
402 Catherine Malabou

pas ce qui revient mais celui  qui cela revient, le destinataire de ce qui
revient, comme s’il y avait un tri, en lui, entre le vivant et le mort. Entre
son nom, le nom du mort, le nom du père, qui conserve, assure les
généalogies, et le vivant, la mère, la création, l’affirmation. La différance
autobiographique fait passer dans l’éternité la fracture de la hantise de la
finitude, de la vie et de la mort.
Nous l’avons vu, chez Deleuze, le fantôme correspond à cet être
moindre de la faiblesse, chassé par la roue de l’éternel retour. Chez
Derrida au contraire, le fantôme ne se trouve pas dans l’être des choses,
ou des forces, mais dans la subjectivité du penseur, dans le «je» de celui
qui pense l’éternel retour. Ce «je» se trouve partagé entre la vie et la
mort, écartelé par la roue là encore, entre infinité et finitude.
Les deux positions sont donc très distinctes, voire parfois opposées et
pourtant je me suis permis ici de les unir au lieu d’un même constat.
Toutes deux se rencontrent en effet au lieu d’une commune affirma-
tion: chez Nietzsche, seule la différence revient. Or de la même manière
que l’on ne trouve pas chez ce penseur de problématique de
l’autodestruction des faibles ou de la roue centrifuge, on ne voit pas
non plus chez lui me semble-t-il l’évidence d’une mortification de la vie
au nom d’une logique de l’autobiographie. Nietzsche aurait-il pu signer
cette phrase: «rien de vivant ne revient à du vivant»? De quel droit lire la
doctrine de l’éternel retour comme une thanatographie?
Il m’apparaît, encore une fois, que ces lectures ne respectent pas tout
à fait peut-être l’énigme de l’éternel retour dans la mesure où elles
voient en lui un principe de coupure, une instance critique qui n’y est
sans doute pas.
Dans le premier volume de son Nietzsche, Heidegger déclare:
«la pensée de l’éternel reour du Même n’existe qu’en tant que cette pensée
qui réduit le nihilisme. La réduction doit nous faire passer de l’autre côté
d’un abîme étroit en apparence; car cet abîme sépare ce qui, d’un côté
comme de l’autre, se ressemble au point de paraître le même. D’un côté il
est dit: toutes choses ne sont rien, toutes sont indifférentes, toutes se valent,
en sorte que rien n’en vaille la peine: tout revient au mÞme [alles ist gleich]. De
l’autre côté il est dit: toutes choses reviennent, toutes dépendent de chaque
instant, toutes dépendent de toutes: tout revient au mÞme [alles ist gleich].
L’abîme le plus étroit qui soit, le pont apparent de la parole: tout est
indiffrent cache cette simple différence [verbirgt das schlechthin Verschiedene]:
toutes choses se valent, tout est indiffrent [alles ist gleichgltig], et aucune
L’Éternel Retour et le fantôme de la différence 403

chose n’en vaut une autre: rien n’est indiffrent, rien ne revient au même
[nichts ist gleichgltig].»32
Sans doute, entre les deux versions de la pensée de l’éternel retour une
«simple différence» se cache-t-elle, et pourtant il n’est pas sûr que cette
«simple différence» soit une origine et non un résultat. La différence
n’est peut-être pas pertinente, malgré les apparences, pour penser la
dualité, voire la duplicité des significations de la doctrine. Nous l’avons
vu: si la différence est constituée en maître mot de la pensée de
Nietzsche, si l’éternel retour devient une machine automatique de
sélection, un processus qui garantit sa différance, alors il ne reste rien de
l’ambivalence essentiel du mot «gleich» – alles ist gleich ne veut plus rien
dire.
«Eternellement fidèle reste à lui-même l’anneau de l’être.»33 Lorsque
nous lisons cette phrase: est-ce l’urgence d’une différence qui saute aux
yeux? N’est-ce pas plutôt la nécessité de la co-implication? Qui dit que
surmonter signifie différencier et non plutôt porter ensemble, garder
l’un et l’autre, penser la complicité des deux côtés, être les deux
ensemble?
«Tout se brise, tout se remet en place; éternellement se rebâtit la
même maison de l’être. Tout se sépare, tout à nouveau se salue.»34 Les
textes de Nietzsche ne nous conduisent-ils pas à penser la mise en rapport
et la duplication inévitable plutôt que la dissociation? Après tout, la
pensée de la différence n’a t-elle pas elle aussi un sens nihiliste, ne
revient elle pas aussi comme ressentiment, réaction anti-hégélienne,
faiblesse? Ne devient-elle pas son propre fantôme? Une dépouille qui a
fait son temps?
Mais alors que donnerait une lecture de Nietzsche qui renoncerait à
faire de la différence son fil conducteur? C’est sur cette question que je
terminerai cette conférence, laissant ouverte la possibilité d’une nouvelle
compréhension de l’éternel retour, c’est-à-dire aussi de la vie, qui
substituerait, à la différence, la synthèse, et à la figure du fantôme celle,
tout aussi inquiétante, du clone. Je pose donc simplement, à titre
d’annonce, la possibilité de lire la doctrine de l’ternel retour comme une
pense du clonage ontologique. Et si, finalement, tout se redoublait, si tous
les noyaux ontologiques se dupliquaient, sans être différents et sans pour
autant revenir au même? Et si l’enjeu philosophique de notre époque,

32 Nietzsche, op. cit., p. 345.


33 Ainsi parmait Zarathoustra, op. cit., p. 269.
34 Ibid.
404 Catherine Malabou

préfiguré par Nietzsche, était précisément de parvenir à penser sans


l’identité et sans la différence?
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche
Georg W. Bertram

Der Weg von Nietzsche ins neuere französische Denken läßt sich mit
einem Schlagwort umreißen: mit der Rede vom Tod des Subjekts.
Dieses Wort, das unter anderem durch Texte von Roland Barthes1 und
Michel Foucault2 in Umlauf gebracht worden ist, geistert als Slogan
neostrukturalistischer Denker durch philosophische sowie kunst- und
kulturwissenschaftliche Debatten. Auch und besonders in zahllosen
Widerlegungen hat dieser Slogan sich im Diskurs der Gegenwart eta-
bliert. Gängigerweise werden Philosophen wie Michel Foucault und
Jacques Derrida verdächtigt, einen solchen Tod proklamiert zu haben.
Foucault und Derrida partizipieren beide an jener philosophischen
Wende, die in Frankreich von Hegel zu Nietzsche führte und für die in
besonders markanter Weise Gilles Deleuze mit seiner Studie Nietzsche
und die Philosophie einsteht.
Der Wende, die von Hegel zu Nietzsche geführt haben könnte,
kann man folgendermaßen eine grobe Kontur geben: Die Neuzeit und
insbesondere der deutsche Idealismus haben vom Subjekt her gedacht.
Dabei wird Subjektivität als ein ursprüngliches, reflexives Verhältnis
begriffen, das konstitutiv für den Weltzugang und die Handlungsori-
entierung ist. Dieses reflexive Verhältnis kann man so erläutern, daß das
Subjekt sich zugleich Objekt ist – in Anlehnung an Kant gesprochen:
daß es die Bewußtseinszustände, die es hat, als eigene zu denken ver-
mag.3 Mit Nietzsche ist es, so kann man die Geschichte weiter erzählen,
zu einem Dementi jener Idee eines solchen ursprünglichen, reflexiven
Verhältnisses gekommen. Nietzsche entwickelt eine Konzeption, die

1 Roland Barthes, „Der Tod des Autors“ (1967), aus dem Französischen über-
setzt von Matias Martinez, in: Fotis Jannidis (Hrsg.), Texte zur Theorie der
Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185 – 193.
2 Michel Foucault, „Was ist ein Autor?“ (1969), aus dem Französischen übersetzt
von Karin von Hofer, in: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Fischer
1988, S. 7 – 31.
3 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1789), in: ders., Werkausgabe,
Band 3, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1974, B 132 ff.
406 Georg W. Bertram

nicht mehr Subjekte, sondern nur noch anonyme Kräfte kennt, die sich
in unterschiedlichen Wirkungsdynamiken entfalten. Gerade als Instanz
von Handlungs- und Gestaltungsfreiheit hat Nietzsche das Subjekt
immer wieder einer scharfen Kritik unterzogen. „[D]er Thäter ist zum
Thun bloß hinzugedichtet“ (KSA 5, S. 279), heißt es im 13. Aphoris-
mus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral. Die Idee eines
ursprünglichen, reflexiven Verhältnisses scheint hier aufgegeben. Oder
genauer: Sie wird, so scheint es, als Illusion entlarvt.
An der Geschichte dieser Wende, wie ich sie somit in einer ultra-
kurzen Version präsentiert habe, scheint mir allerdings einiges proble-
matisch. Für besonders problematisch halte ich eine Implikation, die ich
folgendermaßen formulieren kann: Mit der Idee einer ursprünglichen
Reflexivität soll zugleich die Idee von Reflexivität überhaupt aufge-
geben worden sein. Diese Verknüpfung scheint mir ungerechtfertigt.
Und nicht nur das: Sie scheint mir der Philosophie Nietzsches nicht
gerecht zu werden. Ich betrachte es als erforderlich, die Geschichte, die
von Hegel zu Nietzsche führt, in einer anderen Weise zu erzählen.
Einige Ansätze zu einer solchen Erzählung zu gewinnen, ist ein Ziel der
folgenden Überlegungen. Es geht mir gewissermaßen darum, Per-
spektiven einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche zu ge-
winnen. Statt von einer Philosophie der Reflexivität kann ich auch von
einer Philosophie der Subjektivität beziehungsweise des Selbstbewußt-
seins sprechen. Das heißt nicht, daß ich Begriffe wie Reflexivität,
Subjektivität und Selbstbewußtsein überhastet in einen Topf schmeißen
will. Wenn ich mit dem Begriff der Reflexivität den der Subjektivität
und des Selbstbewußtseins in Verbindung bringe, will ich anzeigen, vor
welchem Horizont sich meine Überlegungen abspielen. Es geht mir
allgemein darum, Selbstbewußtsein von Formen der Reflexivität her zu
begreifen. Im Speziellen zielen meine Überlegungen darauf, bei
Nietzsche Elemente eines Begriffs von Selbstbewußtsein freizulegen,
der nicht als Basis von kritischen Operationen fungiert, sondern viel-
mehr auf kritischen Operationen basiert.
Was mit einer Philosophie der Reflexivität nach Nietzsche auf dem
Spiel stehen könnte, kann ich unter anderem von zwei Fragestellungen
her andeuten, die besonders im Anschluß an die Schriften Michel
Foucaults immer wieder aufgeworfen worden sind. Foucault hat mit
Texten wie „Was ist ein Autor?“4 oder Die Ordnung des Diskurses,5 so

4 Foucault, „Was ist ein Autor?“ (Anm. 2).


Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 407

scheint es, die Konstitution von bedeutungshaften Zuständen auf das


anonyme Geschehen von Diskursen zurückgeführt und das Subjekt als
bedeutungsstiftende Instanz verabschiedet. Nun stellt sich aber erstens
die Frage, wer überhaupt ein solches Geschehen von Diskursen zu
explizieren vermag – ob in Foucaults Philosophie eine Instanz der Kritik
im epistemischen Sinn noch Platz hat. Und es stellt sich zweitens die
Frage, woher Foucaults Denken zufolge Spielräume der reflexiven
Veränderung von diskursiven Dispositionen kommen sollten – wer
nach Foucault die Instanz einer Kritik im moralischen Sinn sein könnte.
Das Foucaultsche Denken scheint affirmative Konsequenzen zu haben,
die man unter anderem aus der Perspektive einer kritischen Theorie der
Gesellschaft für problematisch halten kann.6 Die mögliche Aufgabe von
Reflexivität ruft insofern die Frage nach Kritik auf den Plan. Wie läßt
sich Kritik unter den Bedingungen eines Abschieds von Reflexivität
überhaupt oder zumindest unter den Bedingungen eines Abschieds von
Reflexivität als einem transzendentalen Prinzip denken? Hat Foucaults
Ansatz genuin relativistische Konsequenzen? Bedarf es, um solche
Konsequenzen zu vermeiden, einer Rückkehr zu einer Instanz der
ursprünglichen Reflexivität, die kritikfähig ist?
Im Horizont solcher Fragestellungen, die sich im Anschluß an
Nietzscheanische Denkweisen stellen, scheint es mir sinnvoll, die
Sondierung eines möglichen anderen Verständnisses von Reflexivität
bei Nietzsche mit dem Begriff der Kritik zu verbinden. Mir geht es
dabei einerseits darum, systematisch nachzuvollziehen, wie Kritik und
Reflexivität in einer ganz anderen Art und Weise – jenseits der Alter-
native von ,Subjekt oder Tod des Subjekts‘– zu denken sein könnten.
Meine Überlegungen zielen andererseits darauf, Verbindungen zwi-
schen Nietzsche und neostrukturalistischen Denkern wie Foucault,
Deleuze und Derrida zu beleuchten. Um diese beiden Ziele zu reali-
sieren, gehe ich folgendermaßen vor: Im ersten Teil deute ich einen
Topos der neuzeitlichen Bestimmung von Kritik an, um dann im
zweiten Teil darzulegen, wie Nietzsche diesen Topos gekündigt haben
könnte. Im dritten Teil verfolge ich Möglichkeiten, eine entsprechende
Kündigung als eine Destruktion von Reflexivität zu deuten, bevor ich
diesen Deutungen im vierten Teil eine andere Option entgegenhalte.

5 M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses (1972), aus dem Französischen übersetzt
von Walter Seitter, Frankfurt am Main: Fischer 1991.
6 Vgl. hierzu z. B. A. Honneth, Desintegration. Bruchstcke einer soziologischen
Zeitdiagnose, Frankfurt am Main: Fischer 1994, S. 11 ff.
408 Georg W. Bertram

Ich komme dabei zu einem Verständnis von Reflexivität, das diese


wesentlich von Praktiken produktiver Kritik her begreift. Dieses Ver-
ständnis profiliere ich im fünften und abschließenden Teil, indem ich
einen Begriff des Subjekts nach Nietzsche konturiere.

1. Das neuzeitliche Dispositiv: Kritik durch Selbstbewußtheit

Einer weitverbreiteten neuzeitlichen Denkfigur zufolge gilt Kritik als


ein selbstbewußter Akt. Nur ein selbstbewußtes Wesen kann kritische
Operationen durchführen. Wir können diese Denkfigur als einen
großen gemeinsamen Nenner betrachten, der unter anderem Descartes,
Kant und Hegel miteinander verbinden kann. Diese Verbindung hat
Hegel in besonderer Weise artikuliert. Er sagt in den Vorlesungen ber die
Geschichte der Philosophie bekanntlich, daß mit Descartes „die Philosophie
der neueren Zeit, das abstrakte Denken“7 anfange. Was mit Descartes
aus Hegels Perspektive anfängt, ist eine Philosophie der Subjektivität
und des Selbstbewußtseins. Ohne die Unterschiede zwischen den
Philosophien von zum Beispiel Descartes, Kant und Hegel allzu sehr
einzuebnen, kann ich vielleicht folgendermaßen sagen: Jeweils wird
Selbstbewußtsein verstanden als eine Einheit, in deren Rahmen es zu
einem Sichzusichverhalten kommt. Ein solches Sichzusichverhalten ist
eine reflexive Struktur in der Weise, in der ich es bereits zuvor ange-
deutet habe: Im Sichzusichverhalten wird sich das Subjektive objektiv
und bleibt dabei doch subjektiv. Das Subjekt gewinnt sich als Gegen-
stand, ohne sich als Subjekt zu verlieren. Zwar explizieren Descartes,
Kant und Hegel Verhaltensweisen, in denen ein Subjekt sich auf sich
selbst bezieht, in unterschiedlicher Weise.8 Dennoch sind sie sich im
Grundsatz einig, daß diese Verhaltensweisen als Spezifik einer Per-
spektive des Subjekts zu begreifen sind.
Auf der Basis eines solchen Begriffs von Selbstbewußtsein kann man
nun Kritik folgendermaßen explizieren. Kritik ist eine besondere Aus-

7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen ber die Geschichte der Philosophie
(1833 ff.), Band III, in: Werkausgabe in 20 Bnden, Frankfurt am Main: Suhr-
kamp 1970, Band 20, S. 70.
8 Vgl. zu Unterschieden unter anderem: Charles Taylor, Quellen des Selbst (1989),
aus dem Englischen übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1996, S. 262 ff., 631 ff.; Robert B. Pippin, Hegel’s Idealism. The
Satisfaction of Self-Consciousness, Cambridge, Massachusetts: Cambridge Uni-
versity Press 1989, S. 16 ff.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 409

prägung des Selbstbewußtseins. Kritisch ist ein Selbstbewußtsein dann,


wenn es sich so auf ein Bewußtsein bezieht, daß es dieses überprüft.
Diese Überprüfung kann unter anderem die Cartesische Form anneh-
men, die Inhalte des Bewußtseins auf ihre Resistenz gegenüber skep-
tischen Erwägungen hin zu befragen.9 Sie ist aber auch im Geiste Kants
möglich, der nicht die Inhalte, sondern die Formen des Bewußtseins
betrachtet und so jegliches Bewußtsein auf die Bedingungen seiner
Möglichkeit hin analysiert.10 Mir scheint es allerdings so zu sein, daß
man den spezifischen Zusammenhang von Selbstbewußtsein und Kritik,
der dem neuzeitlichen, szientistischen Paradigma zugrunde liegt, am
besten bei Hegel begreifen kann.
Hegel hat unter anderem in der Einleitung der Phnomenologie des
Geistes die Möglichkeit der Kritik erörtert. Er spricht davon, daß eine
Kritik nur gelinge, wenn sie nicht von außen an etwas herangetragen
werde. Er macht geltend, daß ein von außen an einen Gegenstand (zum
Beispiel an eine Bewußtseinsgestalt) herangetragener kritischer Maßstab
immer willkürlich bleibt. Warum zum Beispiel sollen wir von einer
Überzeugung sagen, daß sie einer skeptischen Befragung standhalten
muß, um gerechtfertigt zu sein? Warum ist eine solche skeptische Be-
fragung ein gutes Kriterium? Oder warum sollte eine Befragung von
Erkenntnissen auf die Bedingung ihrer Möglichkeit hin dazu führen,
daß wir wirkliche Erkenntnisse von solchen unterscheiden können, die
bloß Erkenntnisse zu sein scheinen, tatsächlich aber keine Erkenntnisse
sind? Hegel vertritt die Auffassung, daß solche Maßstäbe nur dann
plausible Maßstäbe sind, wenn sie sich von einem Gegenstands-
bewußtsein selbst her ergeben. „Das Bewußtsein gibt seinen Maßstab an
ihm selbst, und die Untersuchung wird dadurch eine Vergleichung
seiner mit sich selbst sein; … „,11 heißt es entsprechend in der Einlei-
tung der Phnomenologie des Geistes.
Nun ist es keine ganz einfache Sache zu verstehen, was Hegel hier
sagt. Inwiefern bringt ein Bewußtsein einen Maßstab mit sich? Das
Bewußtsein erhebt einen Wissensanspruch in Bezug auf einen oder
mehrere Gegenstände – es hat somit Bewußtseinsinhalte und hat Ge-

9 Vgl. Bernard Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, Atlantic Highlands,
New Jersey: Humanities Press 1978.
10 Vgl. Henry E. Allison, Kant’s Transcendental Idealism, New Haven, Connecti-
cut: Yale University Press, 2. Aufl. 2004, S. 34 ff.
11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phnomenologie des Geistes, in: Werkausgabe in
20 Bnden, a.a.O., Band 3, S. 76.
410 Georg W. Bertram

genstände, von denen die Bewußtseinsinhalte ihren Inhalt gewinnen.


Maßstäbe ergeben sich nun aus der Vergleichung von Bewußtseins-
inhalten mit ,ihren‘ Gegenständen. Nun bringt allerdings nicht jegliches
Bewußtsein von sich aus eine entsprechende Vergleichung hervor. Ein
einfaches Wahrnehmungsbewußtsein des Inhalts „Hier Röte“ ver-
gleicht sich nicht von sich aus mit seinem Gegenstand – mit der Röte,
von der her es seinen Inhalt zu gewinnen beansprucht. Ein solches
Bewußtsein wird sich günstigenfalls verändern, wenn es zu einer Dis-
krepanz von Inhalt und Gegenstand kommt. Das Bewußtsein selbst
bekommt die Veränderung allerdings nicht mit.12
Zu einer Perspektive auf sich selbst ist nur das Selbstbewußtsein in
der Lage. Das Selbstbewußtsein kann einen Wissensanspruch, den es
erhebt, mit dem Gegenstand vergleichen, auf den es seinen Wissens-
anspruch innerhalb seiner selbst bezieht. Es kann den Gegenstand in der
Weise, wie es ihn konzipiert, als Maßstab heranziehen, vor dem sich
sein Wissensanspruch bewähren muß. Genau dadurch läßt es sich als ein
kritisches Bewußtsein verstehen. Das Selbstbewußtsein ist nicht bloßen
Veränderungen unterworfen, die ihm zustoßen. Es kann Veränderun-
gen selbst herbeiführen, indem es sich selbst daraufhin befragt, ob es von
ihm selbst konstituierten Maßstäben – also den eigenen Gegenstands-
Konzeptionen – gerecht wird. Es kann eine Diskrepanz im obigen
Sinne selbst bemerken und die daraus resultierte Inadäquatheit seiner
Inhalte einer Kritik unterziehen. Hegel kommt somit zu der Auffassung,
daß die erkenntniskritischen Operationen von Descartes und Kant nur
verstanden werden können, wenn man sie als selbstbewußte Opera-
tionen konzipiert. Über diese Operationen kann man sich nur dann
Rechenschaft ablegen, wenn man die Struktur des Selbstbewußtseins als
solche angemessen faßt (was Hegels Meinung zufolge weder Descartes
noch Kant in zufrieden stellender Weise gelungen ist).
Im Sinne meiner knappen Darlegungen kann man Hegel die Auf-
fassung zuschreiben, daß alle Kritik auf Selbstbewußtsein beruht. Erst
ein Bewußtsein, das die unterschiedlichen Momente, die es umfaßt,
miteinander zu vergleichen vermag, entwickelt eine kritische Perspek-

12 So schreibt Hegel: „Dieser Umstand ist es, welcher die ganze Folge der Ge-
stalten des Bewußtseins in ihrer Notwendigkeit leitet. Nur diese Notwendig-
keit selbst oder die Entstehung des neuen Gegenstandes, der dem Bewußtsein,
ohne zu wissen, wie ihm geschieht, sich darbietet, ist es, was für uns gleichsam
hinter seinem Rücken vorgeht.“ (Hegel, Phnomenologie des Geistes [Anm. 11],
S. 80).
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 411

tive. Das Selbstbewußtsein wird dabei nicht als eine Instanz expliziert,
die über feststehende Maßstäbe der Kritik verfügen würde. Nach Hegels
Verständnis gewinnt es Maßstäbe vielmehr in dem Prozeß, in dem es
sich selbst formiert. Der kritische Prozeß des Selbstbewußtseins resul-
tiert daraus, daß es Momente ausbildet, die sich diskrepant zueinander
verhalten, und die das Selbstbewußtsein in ihrer Diskrepanz gegenein-
ander abzuwägen vermag. Hegel argumentiert, daß ein Selbstbewußt-
sein nur dann eine Diskrepanz in sich auszutragen vermag, wenn es über
Fähigkeiten der Artikulation verfügt; diese Fähigkeiten wiederum
konstituieren sich seiner Analyse zufolge in sozialen Praktiken.13 Ich
werde auf Zusammenhänge dieser Art weiter unten zurückkommen.

2. Genealogie und Umwertung von Werten

Man kann die Philosophie Nietzsches als eine Philosophie verstehen,


mit der die Konzeption, die ich im vergangenen Abschnitt skizziert
habe, ins Wanken gerät. Gilt für die neuzeitliche Philosophie eine Idee
des Selbstbewußtseins als eines grundlegenden Sichzusichverhaltens, das
seinerseits als Basis von Kritik verstanden wird, dann kommt es nun zu
einem bemerkenswerten Umbruch. Dieser Umbruch besteht in dem
Gedanken, daß Selbstbewußtsein von Kritik im Sinne kritischer Prak-
tiken her gedacht werden muß. Selbstbewußtsein wird nicht weiterhin
als Basis möglicher (aber nicht notwendiger) Kritik begriffen. Von
Nietzsche her gelangt man vielmehr zu der Auffassung, daß alles
Selbstbewußtsein von Grund auf kritische Praxis ist. Alle Kritik hat, so
will ich vorläufig sagen, Selbstbewußtseins-Wirkungen. Selbstbewußt-
sein kann sich nur auf der Basis solcher Wirkungen konstituieren.
Nun ist es zweifelsohne so, daß solche Thesen sich keineswegs von
selbst verstehen. Aus diesem Grund will ich mich ihnen mit den fol-
genden Überlegungen langsam annähern. Eine solche Annäherung kann
von Nietzsches Konzepten der Genealogie und der Umwertung aller
Werte ihren Anfang nehmen. Es ist besonders eine Grundidee, die
Nietzsche mit diesen Konzepten ins Spiel bringt, die diesen Ansatzpunkt
ermöglicht. Es handelt sich um die Idee, Kritik als produktiv zu be-
greifen. Sowohl das Konzept der Genealogie als auch das Konzept der

13 Vgl. Georg W. Bertram, „Hegel und die Frage der Intersubjektivität. Die
Phnomenologie des Geistes als Explikation der sozialen Strukturen der Ratio-
nalität“, Ms. 2006.
412 Georg W. Bertram

Umwertung aller Werte sind als Ausdruck dieser Idee zu begreifen. Ich
werde einige Stichworte zu diesen Konzepten geben, bevor ich in den
folgenden Abschnitten überlege, welche Konsequenzen sich von diesen
Konzepten her für den Zusammenhang von Kritik und Selbstbewußt-
sein ergeben.
Nietzsche hat Genealogie in erster Linie als eine Genealogie von
Werten betrieben. Werte entstehen demnach aus Werten – durch un-
terschiedliche Profilierungen und Abgrenzungen. Solche Profilierungen
und Abgrenzungen kommen durch Prozesse der Interpretation zu-
stande. Es gibt demnach einen unentwegten Prozeß von Interpreta-
tionen oder – wie Nietzsche auch sagt – des Überwältigens bzw.
Herrwerdens. In dem berühmten zwölften Aphorismus der zweiten
Abhandlung der Genealogie der Moral formuliert Nietzsche entsprechend
die Allaussage: „daß alles Geschehen in der organischen Welt ein
berwltigen, Herrwerden und daß wiederum alles Überwältigen und
Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, …“ (KSA
5, S. 313 f.) Prozesse des Neu-Interpretierens bringen Entwicklung
hervor, ohne daß ihnen irgendeine bestimmende Intention oder ir-
gendeine Teleologie zugrunde läge. Mit Günter Abel kann man von der
„Um-Interpretation als Grundgeschehen“14 sprechen – mit Volker
Gerhardt von einem grundlegenden Geschehen der „Selbstinterpreta-
tion von Praxis“.15
Dieses Grundgeschehen ist die Basis für die genealogische Arbeit.
Der Genealoge verfolgt die Prozesse der Um-Interpretation, die zum
Beispiel unterschiedliche geistige Entwicklungen hervorgebracht haben.
Er befragt das Entstehen von Werten. Dies wiederum gelingt ihm nicht
aus neutraler Perspektive. Die Genealogie ist selbst involviert in die
Prozesse der Um-Interpretation. Genealogie selbst vollzieht sich als
Umwertung von Werten. Sie greift in die Prozesse ein, die sie verfolgt,
kehrt Wertekonfigurationen um. Die Umwertung von Werten findet
als ein Prozeß der Neu-Interpretation statt. Die genealogische Arbeit
muß dabei von Anfang an als ein produktives Geschehen begriffen
werden. Der Genealoge repräsentiert nicht – er greift ein. In diesem
Sinn deutet sich ein Abschied von repräsentationalen Erkenntnismo-

14 Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik des Willens zur Macht und die ewige Wie-
derkehr, Berlin-NY: de Gruyter 1984, S. 139.
15 Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht
am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin-NY: de Gruyter 1996,
S. 279 ff.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 413

dellen an, der mit Nietzsches Genealogie verbunden ist. Mit Nietzsche
kann man auch von reaktiven Erkenntnismodellen sprechen. Im Ge-
gensatz zu solchen Modellen ist die genealogische Perspektive aktiv
beziehungsweise performativ.16
Nun ist allerdings mit den bisherigen Darlegungen noch nicht ge-
sagt, warum die genealogische Tätigkeit als kritisch verstanden werden
kann. Bislang habe ich nur erläutert, daß diese Tätigkeit Entwicklung
hervorbringt. Durch die genealogische Perspektive finden Um-Inter-
pretationen statt, kommt es zu einer Umwertung von Werten im dem
Sinn, daß Werte sich in ihrer Stellung verändern oder ganz zugrunde
gehen. Nietzsche beschreibt dies unter anderem in einem biologischen
Bild: „… mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt
sich … der ,Sinn‘ der einzelnen Organe, – unter Umständen kann deren
theilweises Zu-Grunde-Gehen (zum Beispiel durch Vermittlung der
Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit
sein.“ (KSA 5, S. 315) Entwicklungen sind immer damit verbunden,
daß einzelne Elemente anders bestimmt werden beziehungsweise daß
sie aus einem Zusammenhang, in dem sie zuvor standen, herausfallen.
Man kann nun versucht sein, solche Um-Interpretationen mit Nietz-
sche als kritisch zu begreifen. Kritische Prozesse fänden so gesehen dort
statt, wo es zu Werteveränderungen und Werteeliminationen kommt.
Dennoch bleibt eine entsprechende Explikation von Kritik unklar.
Inwiefern begründen Werteveränderungen durch interpretative Ent-
wicklungen, in denen Werte sich voneinander abstoßen und sich
wechselseitig ihre Stellungen beziehungsweise ihre Existenz nehmen,
Kritik? Auf der Basis des bislang Dargestellten zeichnet sich keine
Antwort auf diese Frage ab.
Man kann also leicht den Eindruck gewinnen, daß Nietzsche die
Möglichkeit der Kritik im engeren Sinn bestreitet. Er läßt sich so lesen,
daß ihm zufolge eine Umwertung von Werten bloß in Prozessen der
Veränderung zustande kommt. Da solche Prozesse keinerlei reflexive
Momente aufweisen, so kann man – im Sinne der neuzeitlichen
Konzeption von Selbstbewußtsein und Kritik – argwöhnen, weisen sie
auch keine kritischen Momente auf. Es scheint mir wichtig, entspre-

16 Nietzsche läßt sich in diesem Sinn auch als ein Vordenker vieler aktueller
Bemühungen begreifen, repräsentationalistische Denkweisen dadurch zu
überwinden, daß man zu performativen Ansätzen übergeht. Vgl. z. B. Erika
Fischer-Lichte, sthetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tü-
bingen: Francke 2001.
414 Georg W. Bertram

chende Lesarten von Nietzsches Texten dezidiert auszuschließen, um


dadurch besser zu verstehen, inwiefern Nietzsche Kritik in einem po-
sitiven Sinn begreiflich macht.

3. Zur Destruktion von Reflexivität

Unter anderem zwei Positionen des neostrukturalistischen Theorie-


spektrums, die in der Nachfolge Nietzsches stehen, gehen davon aus,
daß Nietzsche die Möglichkeit von Reflexivität und damit von Kritik
depotenziert. Auch wenn ich diese Positionen an konkreten Autoren
darlegen werde, geht es mir nicht um eine angemessene Diskussion der
Autoren, die ich heranziehe, sondern um Typen der Depotenzierung
von Kritik auf der Basis einer Depotenzierung von Reflexivität. Der
erste Typ besteht in einem radikalen Perspektivismus. Der zweite Typ
macht geltend, daß alle Reflexionen die Praxis, deren Reflexionen sie
sind, nicht einzuholen vermögen.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Nietzsches Philosophie in
irgendeiner Weise als eine Philosophie der Perspektiven zu verstehen
ist.17 Daraus hat man immer wieder gefolgert, daß für Nietzsche Re-
flexivität in einem ernsthaften Sinn nicht zustande kommt. Diese
mögliche Konsequenz des Perspektivismus läßt sich unter anderem mit
der Philosophie Jean-François Lyotards explizieren. Lyotard macht in
seinem Hauptwerk Der Widerstreit geltend, daß alle sprachlichen Äu-
ßerungen als Sprachspiele bestimmter Regeln zustande kommen. Alle
Äußerungen stehen demnach im Rahmen von Diskursarten. Solche
Diskursarten legen fest, wie sprachliche Äußerungen verkettet werden
können.18 Lyotards These ist nun unter anderem, daß umfassende
Diskursarten nicht zustande kommen können. Jede Diskursart, die
einen umfassenden Status prätendiert, ist Lyotard zufolge nichts weiter
als eine Diskursart neben anderen.19 Reflexivität im Sinne des Denkens

17 Vgl. Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge, Massachu-


setts: Harvard University Press 1985; Stephen D. Hales und Rex Welshon,
Nietzsche’s Perspectivism, Urbana und Chicago, Illinois: University of Illinois
Press 2000.
18 Vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (1983), aus dem Französischen
übersetzt von Joseph Vogl, München: Fink 2. Aufl. 1989, S. 58.
19 Vgl. Lyotard, Der Widerstreit, S. 230. Lyotard hat diese These auch in einer
anderen Version vorgetragen. In dieser anderen Version ist sie historisch im-
prägniert und besagt, daß die großen Rahmenerzählungen zu Ende gegangen
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 415

der Neuzeit ist aber immer als eine umfassende Diskursart erläutert
worden. Sie wurde stets als ein Diskurs über Diskurse expliziert – als die
Metasprache aller Sprachen.
Entsprechend läßt sich die Analyse Lyotards so resümieren, daß sie
die Unmöglichkeit von Reflexivität konstatiert. Lyotard rechnet dem-
nach vor, daß keine Metasprache zustande kommen kann, da jede
Metasprache nichts anderes ist als eine andere Sprache – jeder Meta-
diskurs nichts anderes als eine andere Diskursart. Wenn dies zutrifft, sind
Reflexionen konstitutiv unmöglich. Alle Versuche, Reflexionen her-
vorzubringen, etablieren nur neue Diskursarten. Es kann nicht zu
Diskursarten kommen, in denen Diskursarten als Subjekte und Objekte
zugleich auftreten. Der Perspektivismus erweist sich in dieser Lesart als
eine radikale Destruktion von Reflexivität. Nietzsches Betonung des
Zusammenhangs von Entwicklung und Neu-Interpretation ließe sich
vor diesem Hintergrund folgendermaßen begreifen: Alle Neu-Inter-
pretation bedeutet bloße Veränderung, ein bloßes Werden. Die Kon-
zeption der Reflexivität ist demnach nur eine bestimmte Figur solchen
Werdens, eine Wertkonfiguration, die vorgibt, es gebe eine Perspektive
der Perspektiven. Tatsächlich aber, so könnte man als Resultat der
genealogischen Kritik festhalten wollen, gibt es nur Perspektiven – im
irreduziblen Plural.
Die Destruktion der Reflexivität läßt sich auch in einer etwas
moderateren Weise explizieren. Von Jacques Derrida her kann man,
wie Christoph Menke erwogen hat, die These vertreten, daß es zwi-
schen unserem praktischen Tun und den Reflexionen dieses Tuns
immer zu einem Abstand (diffrance) kommt.20 Dieser Abstand zwischen
Tun und Reflexionen hat demnach mindestens zwei Dimensionen:
Erstens verspätet sich alle Reflexion gegenüber dem Tun, das sie re-
flektiert. Der Gegenstand einer Reflexion geht dieser konstitutiv vor-
aus. Das hat zur Folge, daß eine Reflexion ihn als solchen nicht zu
erreichen vermag. Zweitens kann alle Reflexion ihre Einwirkung auf
Vollzüge nicht garantieren. Zwar können Reflexionen in unter-
sind, daß nach der Moderne keine umfassenden Erzählungen mehr möglich
sind, sondern nur viele Teilerzählungen nebeneinander Bestand haben (vgl.
Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen (1979), aus dem Französischen
übersetzt von Otto Pfersmann, Wien: Passagen 1986).
20 Vgl. Christoph Menke, Die Souveränität der Kunst, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1991, S. 234 ff.; vgl. auch Jacques Derrida, „Signatur Ereignis
Kontext“ (1971), aus dem Französischen übersetzt von Gerhard Ahrens u. a.,
in: Randgnge der Philosophie, Wien: Passagen 2. Aufl. 1999, S. 325 – 351.
416 Georg W. Bertram

schiedlicher Weise mit der Prätention verbunden sein, sich auf unser
Tun auszuwirken. Da Reflexionen aber nicht in einem Akt zugleich
auch das Tun mit zu sein vermögen, das sie zu bestimmen suchen,
können sie nicht sicherstellen, daß das Tun so ausfällt, wie sie es vor-
geben.21 Die Idee einer abgesicherten Wirksamkeit von Reflexivität hat
allerdings immer das neuzeitliche Verständnis von Selbstbestimmung
geprägt.
Zieht man vor dem Hintergrund von Nietzsches Überlegungen
Konsequenzen in dieser Art und Weise, dann gesteht man zwar zu, daß
es Um-Interpretationen gibt, die als Reflexionen gelten können. Diese
spezifischen Um-Interpretationen gewinnen aber ihre Distanz nur um
den Preis eines Verlusts an sicherer Wirksamkeit. In idealistischem
Vokabular kann man so sagen: Subjektives und Objektives treten aus-
einander. Dies wiederum kann man darauf zurückführen, daß das Ge-
schehen der Entwicklung von Werten als solches ohne Reflexionen
funktioniert. In einer wittgensteinianischen Begrifflichkeit gesagt: All
unser Tun und Wertegeschehen entwickeln sich „blind“.22 Zwar kann
es Formulierungen dessen geben, was in der Praxis funktioniert. Solche
Formulierungen aber treten konstitutiv verschoben auf. Sie konstitu-
ieren die Praxis nicht. Das heißt auch, daß ihr möglicher Einfluß auf die
Praxis nicht abgesichert werden kann. Man kann denken, daß Nietzsche
von Positionen wie derjenigen Wittgensteins her verstanden werden
kann.
Beide skizzierten Varianten einer Depotenzierung von Reflexivität
lassen sich aber meines Erachtens nicht von Nietzsche her gewinnen.
Ich will zwei Gründe nennen, die mich zu dieser Diagnose bringen:
Der erste Grund bezieht sich auf das Interpretationsgeschehen der
Werte. Dieses Geschehen läßt sich nicht in einem wittgensteinianischen
Sinn als Praxis verstehen, in die ihre Partizipanten „blind“ involviert
sind.23 Nach Nietzsches Verständnis ist es wesentlich für dieses Ge-
schehen, daß es zu Überwältigungen von Werten kommt, zu Ge-

21 Vgl. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der mythische Grund der Autoritt (1990), aus
dem Französischen übersetzt von Alexander Garía Düttmann, Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1991, Teil I.
22 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Band 1,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, § 219.
23 Vgl. zu dem entsprechenden wittgensteinianischen Verständnis von Praxis z. B.
John McDowell, „Wittgenstein on Following a Rule“, in: Mind, Value, and
Reality, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1998, S. 221 –
262.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 417

schehnissen der Umwertung von Werten. Das heißt, daß man ein
solches Geschehen falsch bestimmt, wenn man es bloß als Veränderung
von Werten zeichnet. Es handelt sich um ein Geschehen, in dem
Wertungen sich auf Werte beziehen. Dies läßt sich unter anderem an
einer Erläuterung Foucaults nachvollziehen. „Wenn Interpretieren
heißt, sich eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte
Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine
Richtung aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es
in einem anderen Spiel auftreten zu lassen und es anderen Regeln zu
unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Reihe von
Interpretationen.“24 In Foucaults Erläuterung wird zwischen einem
System von Regeln und interpretativen Geschehnissen des Überwälti-
gens und der Bemächtigung dezidiert unterschieden. Entwicklung
kommt nach Nietzsche durch Vorgänge der Überwältigung zustande,
die sich auf bestehende Werte, auf Systeme von Regeln, beziehen. Dem
wird man nicht gerecht, wenn man auf ein wittgensteinianisches Sze-
nario zurückgreift, innerhalb dessen der ,blinden‘ Praxis ein Primat
zukommt. Eine Praxis im Sinne Nietzsches ist immer eine von Inter-
pretationen durchsetzte Praxis.
Der zweite Grund bringt mich zum Begriff der Perspektive. Es
scheint mir falsch, nach Nietzsche einfach von einer irreduziblen Plu-
ralität von Perspektiven zu sprechen. Nicht nur läßt sich die Position
nicht recht verständlich machen, von der aus man eine solche Pluralität
von Perspektiven aussagt. Es ist auch so, daß von Perspektiven in einem
irgendwie unterscheidbaren Sinn nicht die Rede sein kann.25 Mit
Nietzsche sollte man nicht von einer bestimmten Wertkonfiguration als
einer Perspektive sprechen. Vielmehr kann man sagen, daß in einem
Prozeß der Um-Interpretation eine Perspektive bezogen wird. Eine so
verstandene Perspektive kommt prozessual zustande. Sie ist ein Moment
des Eingriffs in Wertekonfigurationen. Eine Perspektive in diesem Sinn
hat keinerlei Bestand – sie kann nicht substantiiert werden. Wie der

24 Michel Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (1971), aus dem
Französischen übersetzt von Walter Seitter, in: Walter Seitter (Hrsg.), Von der
Subversion des Wissens, München: Hanser 1974, S. 83 – 109, hier S. 95.
25 In diesem Punkt läßt sich Derrida gut als Nachfolger Nietzsches verstehen,
wenn er geltend macht, daß mit der Idee des Zentrums auch die Idee unter-
schiedlicher für sich bestehender Zentren hinfällig wird. Vgl. Jacques Derrida,
„Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom
Menschen“, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1976, S. 422 – 442.
418 Georg W. Bertram

Genealoge verdeutlicht, kann ein Eingriff immer wieder aufs Neue


erfolgen. So sind die um-interpretierenden Perspektiven damit ver-
bunden, daß es immer zu neuen Um-Interpretationen der herge-
brachten Wertezusammenhänge zu kommen vermag. Perspektiven sind
darauf angelegt, einander abzulösen. In Prozessen der Um-Interpreta-
tion treten Perspektiven nicht einander gegenüber, sondern treten, wie
es bei Foucault hieß, Systemen von Regeln gegenüber, die sie insgesamt
zu bemächtigen suchen.

4. Reflexivität als produktive Kritik


Die Gründe, die ich gegen die referierten Typen einer Depotenzierung
von Reflexivität ins Spiel gebracht habe, machen meines Erachtens
deutlich, daß Nietzsche nicht einfach so verstanden werden kann, daß er
Reflexivität depotenziert. Entsprechend stellt eine solche mögliche
Depotenzierung auch nicht die Basis für eine Verabschiedung des Be-
griffs der Kritik dar. Das heißt, daß ich wieder auf die Frage zurück-
komme, die ich im vorletzten Abschnitt habe liegen lassen: Inwiefern
begründen Werteveränderungen durch interpretative Entwicklungen,
in denen Werte sich voneinander abstoßen und sich wechselseitig ihre
Stellungen beziehungsweise ihre Existenz nehmen, Kritik? Diese Frage
kann man nach den Überlegungen des letzten Abschnitts auch anders
formulieren: Inwiefern geht das Geschehen der Um-Interpretationen,
das Nietzsche zeichnet, über einen bloßen Perspektivismus und über
eine bloße Praxis hinaus? Auf diese Frage scheint eine gewissermaßen
tautologische Antwort möglich: Das Geschehen geht gerade dadurch
über diese Formen der Praxis hinaus, daß es ein Geschehen der Um-
Interpretationen ist. In dieser Antwort scheint mir aber mehr zu liegen
als eine bloße Tautologie. Nietzsche sucht das Geschehen der Um-
Interpretationen als ein Geschehen zu begreifen, das in dem Maße, in
dem es kritisch ist, zugleich reflexiv ist. Die Begriffe der Kritik und der
Reflexivität müssen entsprechend nach Nietzsche so verstanden wer-
den, daß sie sich wechselseitig erläutern. In diesem Sinn gehen mit
Nietzsche Konzeptionen, die sich auf die Formel „Erst Reflexivität,
dann Kritik“ bringen lassen, zuende.
Das Moment von Reflexivität, das dem Interpretationsgeschehen
inhärent ist, läßt sich vorerst folgendermaßen bestimmen: Die Um-
Interpretationen konfigurieren Werte. Foucault beschreibt solche Um-
Interpretationen als „Ersetzungen, Versetzungen und Verstellungen,
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 419

Eroberungen und Umwälzungen“.26 Ersetzungen, Eroberungen und


Umwälzungen gehen immer auf Distanz zu bestimmten bestehenden
Wertkonfigurationen und zeigen in diesem Sinn ein reflexives Mo-
ment. Sie sind Machtgeschehnisse aus einer bestimmten Distanz heraus.
Über Macht allerdings verfügen die Geschehnisse nicht von sich aus. Sie
verfügen über sie nur dadurch, daß sie kritische Wirkungen entfalten.
Als solche kritischen Wirkungen lassen sich die Momente der Wert-
veränderung und der Werteliminierung begreifen, die ich oben bereits
genannt habe. Diese Momente sind wiederum nicht als solche kritisch,
sondern nur insofern, als sie in einem Geschehen der Wertekonfigu-
ration zustande kommen – in einem Geschehen, das eine Dimension
von Macht aufweist. Die – enge – Interdependenz von Kritik und
Reflexivität, die somit knapp bestimmt ist, läßt sich gut mit Nietzsches
Wort vom „Pathos der Distanz“ verbinden.
Eine der berühmten Formulierungen Nietzsches, in denen vom
„Pathos der Distanz“ die Rede ist, lautet: „Aus diesem Pathos der
Distanz heraus haben sie [die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten
und Hochgesinnten] sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der
Werthe auszuprägen, erst genommen: was gieng sie die Nützlichkeit
an!“ (KSA 5, S. 259) Nietzsche schreibt den Vornehmen zu, daß sie
Werte unterscheiden, daß sie bestimmte Werte einsetzen und be-
stimmte andere Werte außer Kraft setzen. Gerade von den oben bereits
vorgetragenen Überlegungen her kann man die Realisierung von Dis-
tanz als eine Realisierung von Kritik begreifen. So könnte man den
Begriff der Distanz als Element einer Antwort auf die oben bereits
gestellte Frage begreifen, inwiefern man mit Nietzsche von Kritik
sprechen kann: Eine Kritik von Werten käme dadurch zustande, daß
eine Praxis der Distanz etabliert wird, daß Werte unterschieden werden,
daß sie in beziehungsweise außer Kraft gesetzt werden.
Mit dem Begriff der Distanz läßt sich nicht allein derjenige der
Kritik, sondern auch derjenige der Reflexivität beleuchten: Nietzsche
begreift die Vornehmen als solche, die Werte von ihrem Standpunkt aus
prägen, die Werte mit eigenen Perspektiven imprägnieren. Die Vor-
nehmen gewinnen in ihrer Praxis der Distanz Stellungnahmen gegen-
über Werten. Genau in diesem Sinn kann man eine Realisierung von
Distanz als eine Realisierung von Reflexivität begreifen. In der Distanz
werden Perspektivierungen beziehungsweise Stellungnahmen erreicht.

26 Foucault, „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (Anm. 24): S. 83 – 109,


hier: S. 95.
420 Georg W. Bertram

Nun kann man argwöhnen, daß man Stellungnahmen nur dann als
reflexive Praktiken begreifen kann, wenn man sie von vornherein als
reflexiv begreift. Man könnte Nietzsche, wie ich ihn interpretiere, einer
petitio principii bezichtigen. Das scheint mir aber nicht berechtigt zu sein.
Ich halte es gerade für die Grundintuition von Nietzsches Erläuterungen
zu sagen, daß in Stellungnahmen Reflexivität zustande kommt, daß ein
Geschehen der Perspektivierung Reflexivität konstituiert. Nietzsche
muß so verstanden werden, daß er gängige Erläuterungen umkehrt.
Reflexivität ist nicht das Fundament der Umwertung von Werten – sie
kommt erst mit dieser Umwertung selbst zustande. Dort, wo ein
Umwerten von Werten, ein Schaffen von Werten, stattfindet, konsti-
tuieren sich reflexive Momente. Volker Gerhardt hat das „Pathos der
Distanz“ als eine „ethische Grundregel“27 Nietzsches bezeichnet. Ich
meine, daß es sich dabei um eine Ethik reflexiver Praxis handelt.
Nun weisen alle Erläuterungen, die ich bislang zu einer möglichen
Interdependenz von Kritik und Reflexivität gegeben habe, das Problem
auf, daß nicht recht verständlich wird, wie man beide Begriffe im Sinne
dieser Erläuterungen unterscheiden könnte. Diese Problematik kann ich
auch folgendermaßen zum Ausdruck bringen. Ich habe mit Nietzsche
und Nietzsche-Interpreten wie Günter Abel oder Volker Gerhardt
durchweg behauptet, daß das Geschehen Um-Interpretation als
Grundgeschehen begriffen werden muß. Dabei ist aber letztlich die
Frage nicht beantwortet worden, wodurch ein Geschehen ein Ge-
schehen der Um-Interpretation ist. Zur Beantwortung dieser Frage
reicht es nicht aus, bloß die Begriffe der Kritik und der Reflexivität ins
Spiel zu bringen, zumal dann nicht, wenn man mit diesen Begriffen ein
derart enges begriffliches Netz schnürt, wie ich dies in den letzten
Absätzen getan habe. Es bleibt unklar, ob dieses enge begriffliche Netz
eine Explikationsleistung erbringt.
Um zu erkennen, inwiefern mit Nietzsches Position tatsächlich eine
neue Explikation von Kritik und Reflexivität auf den Weg gebracht
sein könnte, scheint es mir hilfreich, auf einen Aspekt zurückzukom-
men, den ich oben bereits anläßlich meines kurzen Verweises auf Hegel
angesprochen habe. Hegel zufolge, so habe ich angedeutet, ist Selbst-
bewußtsein erst dort realisiert, wo Praktiken symbolischer Artikulation
entwickelt sind. Genau diese Idee läßt sich nun für die Position
Nietzsches fruchtbar machen. Ein Geschehen der Um-Interpretation ist

27 Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches,
Stuttgart: Reclam 1988, S. 6.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 421

demnach als ein Geschehen zu begreifen, das von symbolischen Arti-


kulationen geprägt ist. Das „Pathos der Distanz“, das ein solches Ge-
schehen auszeichnet, ist immer mit Formen des Zeichengebrauchs
verbunden.28 Wenn man Nietzsches Konzeption in dieser Weise von
Hegels Begriff geistiger Praktiken her zu ergänzen sucht, kann es nicht
darum gehen, wieder zu der klassischen Idee selbstbewußter Kritik
zurückzukehren. Vielmehr muß es das Ziel sein, die Tendenzen auf-
zugreifen, die von Hegel zu Nietzsche weisen. Symbolische Artikula-
tionen müssen entsprechend so begriffen werden, daß sie nicht in einem
Raum des Selbstbewußtseins zustande kommen, in dem auf ihrer Basis
dann auch Kritik möglich wird. Es muß vielmehr begreiflich werden,
daß die symbolischen Praktiken, die in Um-Interpretationen im Spiel
sind, von sich her eine kritische Dimension gewinnen.
Durch symbolische Praktiken werden Werte verändert und Werte
eliminiert. Um einen Begriff symbolischer Praktiken zu gewinnen, der
diesen Anforderungen gerecht wird, darf man symbolische Praktiken
nicht grundsätzlich als reflexiv begreifen. Eine Explikation der Refle-
xivität symbolischer Praktiken, die den Weg von Hegel zu Nietzsche
und darüber hinaus fortsetzt, muß Reflexivität als eine Dimension be-
greifen, die in symbolischen Praktiken selbst entwickelt wird. Symbo-
lische Praktiken werden dadurch reflexiv, daß Formen entwickelt
werden, in denen es denjenigen, die an ihnen partizipieren, möglich
wird, sich auf diese Praktiken selbst zu beziehen. Damit kommt man zu
einem Verständnis von Reflexivität als einer prozessualen Dimension
symbolischer Praktiken. Zugleich wird es möglich, Kritik und Refle-
xivität zu unterscheiden: Reflexivität ist eine Struktur, die sich in
symbolischen Praktiken entwickelt. Kritisch sind all die Praktiken, in
denen solche symbolischen Strukturen entwickelt und praktiziert wer-
den. Das Geschehen der Um-Interpretation ist als ein Geschehen zu
begreifen, bei dem Formen im Spiel sind, innerhalb derer in symboli-
schen Praktiken auf diese Praktiken selbst Bezug genommen wird.
Es scheint mir sinnvoll, etwas konkreter zu werden: Das Paradigma
reflexiver Formen, in denen wir in symbolischen Praktiken auf diese
selbst Bezug nehmen, ist das Reden über Sprache. Äußerungen wie
„Zidane sagt: ,Er hat mich beleidigt‘“ sind Realisierungen solcher
Formen. Wir haben uns zum Teil angewöhnt, solche zitierenden Äu-

28 Auch Günter Abel hat eine entsprechende Verbindung von Nietzsches Ge-
nealogie mit interpretativen Zeichengeschehnissen hergestellt; vgl. Günter
Abel, Interpretationswelten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, z. B. S. 437 ff.
422 Georg W. Bertram

ßerungen als unproduktive Verdopplungen zu begreifen. Ob wir noch


einmal sagen, was Zidane bereits gesagt hat oder nicht: Es bleibt dabei,
daß Zidane es genau so gesagt hat. Dies scheint mir aber eine falsche
Deutung des Redens über Sprache zu sein. Das Reden über Sprache ist
in den entscheidenden Formen ein solches, das unser Sprechen und
Verstehen weiterentwickelt.29 Daß dies so ist, will ich noch an einem
anderen Beispiel verständlich machen: am Beispiel grammatischer
Sprachformen. Aussagen wie „,Ich bin‘ ist eine Verbform in der Ersten
Person Singular Präsens Indikativ.“ müssen wir in dem Sinn als pro-
duktiv verstehen, daß solche Aussagen unser Sprechen standardisieren
und disziplinieren. Verfügten wir nicht über solche Aussagen, wäre
unser Sprachgebrauch weniger gleichförmig. Ich gehe also unter an-
derem mit Christian Stetter davon aus, daß wir unser grammatisches
Sprechen als sprachgestaltend begreifen müssen.30 Die Grammatik expli-
ziert diesem Verständnis entsprechend nicht das implizit bereits Vor-
handene und Verstandene. Sie gestaltet Praktiken. Dies leistet sie – man
denke nochmals an den oben diskutierten zweiten Typ einer Depo-
tenzierung von Reflexivität – genau in einer Verschiebung gegenüber
allem Vollzug. Das grammatische Reden über Sprache führt zu einer
Weiterentwicklung der Praxis. Daß eine solche Um-Interpretation die
Praxis nicht zu garantieren vermag, ist kein Defizit, das sie aufweist. Es
ist ein Aspekt der produktiven Prozesse, innerhalb deren Um-Inter-
pretationen zustande kommen. Diese weisen in dem Sinn stets über sich
hinaus, daß sie gewissermaßen auf die Ablösung durch weitere Um-
Interpretationen hinzielen.
Ich bin der Meinung, daß sich auch bei Nietzsche Andeutungen
finden, wie sich in symbolischen Praktiken reflexive Strukturen ergeben
können. Besonders markant scheint mir in dieser Hinsicht der Begriff
der Kunst zu sein, den Nietzsche im zweiten Teil von „Ueber Wahrheit
und Lüge im außermoralischen Sinn“ entwickelt. Nietzsche zeichnet
hier unter dem Begriff des „freigewordenen Intellekts“ das Bild einer
Kunst, die sich auf die grundlegende, metaphern- und begriffsbildende
Kunst des Menschen bezieht: „[Das] ungeheure Gebälk und Bretter-
werk der Begriffe … ist dem freigewordenen Intellekt nur ein Gerüst
und ein Spielzeug für seine verwegensten Kunststücke: …“ (KSA 1,

29 Vgl. hierzu und weiterführend: Georg W. Bertram, Die Sprache und das Ganze.
Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie, Weilerswist: Welbrück 2006,
5. Kap.
30 Vgl. Christian Stetter, Sprache und Schrift, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 423

S. 888) Eine Kunst, die sich in dieser Weise auf Kunst bezieht, ent-
wickelt eine reflexive Struktur: Sie spielt mit dem Prinzip der Meta-
phernbildung, das nach Nietzsches Verständnis die Begriffsbildungen
des Menschen überhaupt ausmacht. Sie verändert die Begriffsbildungen
und sie verändert auch das Verständnis derselben. Ich will nicht be-
haupten, daß Nietzsche tatsächlich Reflexivität von symbolischen
Praktiken her expliziert. Ich verweise lediglich auf Andeutungen, die in
Richtung einer entsprechenden Explikation gehen.
Es ist meine These, daß die produktive Dimension von Kritik, die
Nietzsches Überlegungen immer wieder geltend machen, nur dann
begreiflich gemacht werden kann, wenn man Reflexivität von sym-
bolischen Praktiken her expliziert. Dann wird auch begreiflich, daß die
genealogische Kritik (symbolisch artikulierte) Wertekonfigurationen
verändert. Diese Kritik wird genau durch die besagten Formen von
Reflexivität realisiert. In den Prozessen der Um-Interpretation, im
Schaffen von Werten sind so Kritik und Reflexivität miteinander ver-
bunden. Dabei ist keine Reflexivität im Spiel, die der Kritik vorausgeht.
Reflexivität kommt als strukturelles Moment symbolischer Praktiken
nur in dem Maße zustande, in dem auch Praktiken einer kritischen
Distanz entwickelt werden. „Das Pathos der Vornehmheit und Distanz,
… das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer
höheren herrschenden Art“ (KSA 5, S. 259) geht aus Praktiken der
Um-Interpretation hervor. Nietzsche kommt damit zu einem Ver-
ständnis von Reflexivität, das diese auf das Vorliegen bestimmter In-
terpretationsgeschehnisse zurückführt. Reflexivität ist keine gegebene
(Meta-)Struktur der Bezugnahme eines Geschehens auf sich selbst.
Reflexivität wird als eine Struktur begriffen („Distanz“), die erst durch
Interpretationsprozesse – durch eine bestimmte Entwicklung symboli-
scher Praktiken – zustande kommt.

5. Ein anderer Begriff des Subjekts


Das an Nietzsche gewonnene Verständnis von Kritik und Reflexivität
will ich abschließend für einen Begriff des Subjekts fruchtbar machen,
der die Alternative von ,Subjekt oder Tod des Subjekts‘ unterläuft.
Dieser andere Begriff des Subjekts nimmt sich knapp folgendermaßen
aus: Subjektivität beruht auf Praktiken der Subjektivierung bezie-
hungsweise Selbstbewußtwerdung. Das Subjekt als eine Instanz von
Reflexivität konstituiert sich im Rahmen von Interpretationsgescheh-
424 Georg W. Bertram

nissen. Es kann dabei sehr unterschiedliche Formen annehmen. Ent-


sprechend scheint es mir sinnvoll, von einem offenen Begriff von
Subjektivität zu sprechen. Nietzsche erweist sich in der Lesart, für die
ich plädiere, nicht als ein Wegweiser auf dem Weg zur Verabschiedung
des Subjekts. Er fungiert vielmehr als eine wichtige Station in der
Entwicklung eines offenen Begriffs von Subjektivität.31
Diesen offenen Begriff von Subjektivität kennzeichnen besonders
zwei Aspekte: Erstens werden Formen von Subjektivität beziehungs-
weise von Selbstbewußtsein in Praktiken entwickelt. In Praktiken der
Interpretation und Um-Interpretation können Perspektiven der Um-
Interpretation zustande kommen, die sich anderen Perspektiven ge-
genüber behaupten. In einem anderen Vokabular gesagt: In symboli-
schen Praktiken ist es möglich, daß sich – im weitesten Sinn – indivi-
duelle Prägungen von Symbolen entwickeln, die sich von anderen
solchen Prägungen abgrenzen lassen. Dies ist dort der Fall, wo es
möglich wird, sich in symbolischen Praktiken auf diese Praktiken selbst
zu beziehen. Zweitens entwickeln sich in einem solchen Geschehen, in
dem sich Perspektiven der Um-Interpretation ausbilden, auch die In-
terpretationen solcher Perspektiven in unterschiedlicher Weise. Der
Begriff des Subjekts beziehungsweise des Selbstbewußtseins ist selbst ein
Moment der sich entwickelnden Perspektiven. Was als subjektive be-
ziehungsweise selbstbewußte Intentionalität gilt, wird im Prozeß der
Um-Interpretationen in immer neuer Weise verstanden. Nietzsches
Insistieren auf Prozessen der Überwindung, des Über-etwas-hinaus-
Gehens weist auch diese Stoßrichtung auf: Auch die Perspektiven, die
im Prozeß der Un-Interpretationen bezogen werden, werden in diesem
Prozeß immer in neuer Weise interpretiert. Es bilden sich in diesem

31 Die Geschichte läßt sich, wie bereits angedeutet, durchaus so schreiben, daß die
Entwicklung eines solchen offenen Begriffs von Subjektivität unter anderem bei
Hegel ihren Ausgang nimmt. Hegel muß also nicht unbedingt als derjenige
verstanden werden, bei dem sich – wie oben betrachtet – ein neuzeitliches
Verständnis von Selbstbewußtheit zuspitzt. Er kann auch als ein Autor gelesen
werden, der das Denken von einer fixierten Form von Selbstbewußtheit her
verabschiedet. Vgl. zu Verbindungen zwischen Hegel und Nietzsche die Bei-
träge in Mihailo Djuric und Josef Simon (Hg.): Nietzsche und Hegel, Würzburg:
Königshausen & Neumann 1992. Auf einen Weg, der zu einem offen Begriff
von Subjektivität führt, können auf jeden Fall auch die Romantiker einge-
zeichnet werden. Vgl. z. B. Dirk von Petersdorff, „Nietzsche und die roman-
tische Ironie“, in: Renate Reschke und Volker Gerhardt (Hg.), Antike und
Romantik bei Nietzsche. Nietzscheforschung, Band 11, Berlin: Akademie 2004,
S. 29 – 43.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 425

Prozeß also unterschiedliche Formen von Subjektivität und Selbstbe-


wußtheit und unterschiedliche Verständnisse der jeweils etablierten
Formen aus. Nach dem offenen Begriff von Subjektivität, der mit diesen
beiden Aspekten charakterisiert ist, kommt Subjektivität beziehungs-
weise Selbstbewußtsein immer dadurch zustande, daß in Praktiken
Formen von Reflexivität entwickelt werden. Kommt es zu Verände-
rungen dieser Formen – in Nietzsches Vokabular gesagt: zu Über-
windungen –, verändern sich Subjektivität und Selbstbewußtsein. Eine
solche Veränderung kann sowohl die Formen selbst als auch die In-
terpretationen dieser Formen betreffen. Eine Instanz der Reflexion wie
Subjektivität beziehungsweise Selbstbewußtsein hat somit nach Nietz-
sche keine feststehende Form. Vielmehr formt sich eine solche Instanz
in produktiven Praktiken der Kritik und Reflexion und ist damit ver-
änderlich.
Dem offenen Begriff von Subjektivität, den ich bei Nietzsche an-
gelegt sehe, kann ich dadurch noch etwas Kontur verleihen, daß ich ihn
von zwei anderen Explikationen abgrenze, die gleichfalls das neuzeit-
liche Verständnis von Subjektivität zu verabschieden suchen. Es handelt
sich erstens um das von Michel Foucault ausgehende Verständnis von
Subjektivität als Subjektivation. Zweitens handelt es sich um den von
Ernst Tugendhat paradigmatisch gebündelten Begriff von Subjektivität,
den man als nachmetaphysisch und nachidealistisch charakterisieren
kann. Vor allem Judith Butler ist Michel Foucault in dem Versuch
gefolgt, Subjektivität als eine Instanz zu begreifen, die von Diskursen
produziert wird. Im Anschluß an den ersten Band von Sexualitt und
Wahrheit 32 profiliert sie dabei den Begriff der Subjektivierung (assujet-
tissement).33 Wenn diskursive Praktiken sich zum Beispiel so entwickeln,
daß einzelne Individuen Sorgen oder Lüste, Verfehlungen oder Hoff-
nungen als eigene Sorgen, Lüste etc. artikulieren, dann findet Subjek-
tivation statt: Der Diskurs formt Individuen dann als Subjekte. Die
Form des Subjekts wird damit als eine Form verstanden, die in inter-
pretativen Praktiken ausgebildet wird.

32 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualitt und Wahrheit I (1976),
aus dem Französischen übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, u. a. 58 f.
33 Vgl. z. B. Judith Butler, Kçrper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Ge-
schlechts (1993), aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 1997, 60 ff.
426 Georg W. Bertram

Ein solches Verständnis von Subjektivität als einer bloß von Dis-
kursen (als anonymen Mächten) hervorgebrachten Form läßt sich von
Nietzsche her aber in zweifacher Hinsicht kritisieren: Erstens begreift
Butler Foucaults Diskurse als Praktiken, in denen es nicht zu einem
Geschehen der Um-Interpretationen kommt. Diskurse entwickeln sich,
so kann man wieder das Wort Wittgensteins bemühen, „blind“. Aus
Nietzsche Sicht werden Diskurse so allerdings nicht als Wertgescheh-
nisse verständlich. Wertgeschehnisse sind damit verbunden, daß Inter-
pretationen und Um-Interpretationen stattfinden. Eine bedeutungstra-
gende Praxis gibt es, so können wir Nietzsches Überlegungen poin-
tieren, nur unter diesen Bedingungen. Butlers Foucault gelingt es nicht,
überhaupt eine bedeutungstragende Praxis einsichtig zu machen.
Zweitens sitzt Butlers Foucault der neuzeitlichen Logik der Verbindung
von Selbstbewußtsein und Kritik auf. Er begreift eine gegebene Form
der Reflexivität als Bedingung der Möglichkeit von Kritik. Da der
Diskurs als blinde Praxis keine gegebene Form der Reflexivität aufweist,
folgt so, daß Subjekte, die sich im Diskurs ausbilden, nicht als kritische
Instanzen gedacht werden können. Dies folgt allerdings nur auf der Basis
der für Nietzsche unhaltbaren Voraussetzung, daß Kritik etablierte
Formen der Reflexivität voraussetzt. Läßt man diese Voraussetzung
fallen, muß man möglicherweise sagen, daß Subjekte zwar im Rahmen
von diskursiven Praktiken entstehen, daß sie aber als solchermaßen
entstandene sehr wohl als Instanzen von Kritik – als sich behauptende
Perspektiven der Um-Interpretationen – fungieren können.
Ernst Tugendhat hat vor dem Hintergrund von Überlegungen
Martin Heideggers und Gilbert Ryles den Versuch unternommen,
einen nachidealistischen Begriff des Selbstbewußtseins zu konturieren.
Er zeichnet nach, daß Individuen in Praktiken, vor allem symbolischen
Praktiken, die in Gemeinschaften entwickelt werden, ein „reflektiertes
Selbstverhältnis“ zu gewinnen vermögen.34 Ein reflektiertes Selbstver-
hältnis muß diesem Verständnis zufolge etabliert werden; es ist keine
gegebene Struktur. Der Vorschlag Tugendhats, den ich hier nur in
seiner Stoßrichtung charakterisiere, weist offensichtlich eine enge
Verwandtschaft zu dem offen Begriff von Subjektivität auf, von dem ich
im Anschluß an Nietzsche spreche. Dennoch läßt sich mit Nietzsche ein

34 Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt am


Main: Suhrkamp 1979, z. B. S. 31 ff.
Kritik, Reflexivität und Subjektivität nach Nietzsche 427

Einwand gegen die Analysen Tugendhats vortragen:35 Subjektivität und


Selbstbewußtsein haben keine ex ante bestimmbare Form. Sie können
sich in unterschiedlichen Formen entwickeln. Das heißt, daß sich nur
aus Praktiken der Interpretation und Um-Interpretation – aus bedeu-
tungstragenden Praktiken – heraus sagen läßt, was als reflektiertes
Selbstverhältnis gilt. Oder negativ gesagt: Es läßt sich nicht unabhängig
von bestimmten Praktiken sagen, welche Formen Praktiken gewinnen
müssen, um Praktiken zu sein, in denen ein reflektiertes Selbstverhältnis
konstituiert ist.
Man kann sagen, daß ein offener Begriff von Subjektivität sowohl in
Butlers als auch in Tugendhats Überlegungen angelegt ist. Dennoch
gewinnt ein solcher Begriff weder bei Butler noch bei Tugendhat eine
ausreichende Kontur. In einer neueren Publikation Butlers findet sich
die Einsicht artikuliert, „daß sich die Erzeugung des Selbst als Be-
standteil der Praxis der Kritik erweist“.36 In der Konsequenz dieser
Einsicht liegt es, das Selbst nicht bloß als eine Form zu begreifen, die
durch Diskurse konstituiert wird, sondern das Selbst als Moment einer
spezifischen Entwicklung von Diskursen (symbolischen Praktiken) zu
explizieren. Das Subjekt wird dabei nicht für tot erklärt und es wird
auch nicht auf eine bestimmte Form der Ausgestaltung gemeinschaft-
licher Praktiken zurückgeführt. Es wird verstanden als konstituiert in
Praktiken der Kritik, die im Rahmen von symbolischen Praktiken, die
ihrerseits eine Dimension der Reflexivität aufweisen, entwickelt sind.
In dieser Weise konstituiert ist das Subjekt eine offene Form: Es kann je
unterschiedliche Gestalten annehmen und kann sich in diesen Gestalten
mitsamt der symbolischen Praktiken, an denen es partizipiert, in je
unterschiedlicher Art und Weise entwickeln und zu entwickeln suchen.
Der offene Begriff von Subjektivität, der sich von Nietzsche her
ankündigt, scheint mir besonders geeignet für eine Aufgabe, mit der das
neuzeitliche Verständnis von Subjektivität beziehungsweise Selbstbe-
wußtsein immer verbunden war. Es handelt sich um die Aufgabe, eine
kritische Selbstbestimmung des Menschen anzuleiten – eine Aufgabe,
die unter anderem unter den Titeln der „Aufklärung“ oder der „kriti-
schen Gesellschaftstheorie“ verfolgt worden ist. Die Pointe des offenen

35 Es kann nicht in Tugendhats Sinn sein, daß genau dieser Einwand aus Nietz-
sches Perspektive auch Hegel trifft, der genauso wie Tugendhat davon ausgeht,
daß Selbstbewußtsein die Form der Individualität hat.
36 Judith Butler, Kritik der ethischen Gewalt (2002), aus dem Englischen übersetzt
von Rainer Ansén, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 26.
428 Georg W. Bertram

Begriffs von Subjektivität liegt darin, daß er die Frage, was als ange-
messen kritisches Verhalten gilt, in die Konstitution von Subjektivität
selbst hinein verlagert. Im Anschluß an Nietzsche ist es eine zentrale
Frage kritischer Philosophie, welche Form von Subjektivität wir uns
geben wollen. Wir können diese Frage aber nur beantworten, wenn wir
dabei zu den Fragen Stellung nehmen, in welcher Weise wir uns als
kritisch und reflexiv verstehen. In einem Geschehen ständiger Um-
Interpretation wird allerdings keine der Antworten auf diese Fragen für
sich Bestand haben. Sie werden sich immer in der Weiterentwicklung
von Praktiken der Kritik behaupten müssen. Uns ist aufgetragen, immer
aufs Neue zu klären, wie wir uns in unseren Praktiken als kritisch
verstehen und verstehen wollen.
Science du Désastre et Démocratie
Jean-Marc Hémion

Que doit la mesure du «désastre» (Unheil) repéré par Nietzsche dans le


déploiement scientifique et démocratique, dès La Naissance de la tragdie,
aux larmes? Comment mesurer, en retour, les mutations d’une pensée
suscitée par les larmes, dépliée jusqu’à l’«auto-critique», cet exercice si
peu conforme aux caricatures aristocratiques? Comment s’agence la
structure qui associe «science du désastre» – symptôme scientifique du
désastre et sondage rigoureux du désastre – et machines; machines auto-
critiques et ambiguïtés de la politique nietzschéenne? Comment ces
ambiguïtés, ces contradictions parfois, ces retournements souvent,
supportent-ils la multiplicité des lectures possibles des rapports entre
science, «démocratisation» et désastre déploré?
Je retiendrai surtout, mais pas exclusivement, les textes contempo-
rains de La Naissance de la tragdie et de Humain, trop humain, parce qu’ils
correspondent à une formation – toujours renouvelée, toujours revenue
– du problème politique, à une mutation – toujours fuyante – des
rapports qui structurent ce problème. La Naissance de la tragdie, publiée
en 1872 (première publication de Nietzsche) et Humain, trop humain I et
II, publié en 1878 et 1879, sont réédités en 1886 avec modification du
sous-titre et préalable «auto-critique» pour La Naissance de la tragdie, de
nouveaux avant-propos pour Humain, trop humain: ces rééditions datent
un travail de ré-écriture auto-critique et politique de la science du
désastre.
Quel rapport à la science suppose l’interprétation éplorée de la
modernité démocratique comme désastre? De quelle problématique la
politique selon Nietzsche est-elle l’institution? Où le rapport muable de
la science du désastre et d’une science politique s’inscrit-il? Quelle
«machine», en d’autres termes, requiert ici la lecture et l’interprétation
auto- et hétéro-critiques?
430 Jean-Marc Hémion

A – Les Larmes de Nietzsche mesurent un Désastre

Nietzsche pleurait, ne se cachait pas d’avoir pleuré, et ses larmes


participent de tout autre chose que d’une émotion privée; elles relèvent
de l’expression d’un ébranlement spirituel devant un phénomène dont le
caractère politique semble, dans un premier temps, indifférent:
«Lorsque j’ai entendu parler de l’incendie de Paris, j’ai été anéanti pendant
quelques jours, effondré dans le doute et les larmes: toute l’existence
scientifique, philosophique et artistique m’est apparue comme une absur-
dité dès lors qu’un unique jour pouvait abolir les chef-d’œuvres les plus
magnifiques et même des périodes entières de l’art; avec une conviction
grave, je me cramponnais à la valeur métaphysique de l’art qui ne saurait
être là pour les pauvres humains, ayant de plus hautes missions à accomplir.
Mais même dans ma suprême douleur je n’étais pas en état de jeter la pierre
à ces criminels qui n’étaient pour moi que les porteurs d‘une faute
universelle dont il y a beaucoup à penser.»1
L’incendie de Paris déploré dans cette Lettre du 21 juin 1871 désigne ce
qu’une fausse nouvelle présentait comme incendie du Louvre – il s’agit,
en fait, de la destruction par le feu, lors de la «semaine sanglante» (21 – 28
mai 1871), du Palais des Tuileries – et manifeste, pour Nietzsche, un
combat contre la «culture» mené, à travers les ouvriers parisiens, «ces
criminels», par la civilisation. Le 27 mai 1871, trois jours après
l’incendie, il écrit à Vischer-Bilfinger, son protecteur à l’université de
Bâle:
«A quoi ressemble cette profession [savant] quant un seul jour funeste suffit
à réduire en cendres les plus précieux documents de cette période? C’est le
pire jour de ma vie.»2
Les larmes suscitées par le combat de la Zivilisation contre la Kultur ne
sècheront pas, comme on dit, avec le temps; elles concentrent les affects
théoriques de l’expérience nietzschéenne de la science et de l’art. En
1879, un fragment passant en revue les différentes circonstances dans
lesquelles Nietzsche a pleuré évoque d’abord la Commune; en 1878,
c’est un fragment intitulé «Memorabilia» qui porte sur la souffrance

1 Lettre  Gersdorff du 21 juin 1871 dans Friedrich Nietzsche, Œuvres philosophiques


compltes, I . La Naissance de la tragdie – Fragments posthumes, trad. M. Haar, P.
Lacoue-Labarthe, J.L. Nancy, Colli-Montinari, NRF, Paris: Gallimard 1977,
p. 502 – 503.
2 Ibid., p. 501 – 502.
Science du Désastre et Démocratie 431

profonde de l’incendie du Louvre.3 Les larmes incorporent une pensée


apparemment équivoque de la valeur non démocratique de l’art («qui ne
saurait être là pour les pauvres humains») et de la «faute universelle»
portée par l’existence criminelle.
Ces larmes que l’on ne saurait décider sont décisives et n’apparaissent
pas sans détermination, sans structure organique et spirituelle antérieure
organisant la perception et réception du «jour» de destruction. A la fin
de 1871, s’achève le travail publié en 1872 sous le titre «La Naissance de
la tragédie à partir de l’esprit de la musique», titre assumé par un auteur
professeur de philologie; ce travail «savant» (réédité en 86 sous un
nouveau titre, La Naissance de la tragdie ou hellnit et pessimisme, et avec
un «Essai d’auto-critique» placé au début de l’ouvrage avant la dédicace à
Wagner) fut préparé, décomposé et recomposé, sous des titres divers de
l’examen desquels ressort une triple direction apparemment effacée dans
les éditions définitives: Socrate et la tragdie grecque, Musique et Tragdie,
mais aussi, de façon plus fragmentaire, L’Etat chez les Grecs, La Tragdie et
les esprits libres, ou, dans une des premières propositions nietzschéennes,
La Tragdie et les Esprits libres. Considrations sur la signification thico-
politique du drame musical 4. Une pensée de l’art se cherche et s’essaie ici,
tout autant que de la science et de la politique. Un «auteur» (quoi de
plus problématique pour une pensée nietzschéenne de la mort de Dieu,
de la pluralité, de l’inconscient) cerne comme «politique» un ouvrage
dont ce contenu disparaît du titre définitif; un «savant», au fait de l’actuel
(mais quoi de plus problématique que l’actuel pour l’auteur de
Unzeitgemße Betrachtungen), est ébranlé, jusqu’aux larmes mémorables,
par la portée scientifique et artistique d’une destruction socio-politique.
En Nietzsche et sous son nom s’incorporent et se nouent des mises en
question scientifiques et politiques irréductibles au genre du program-
me-manifeste ou de la théorie fondatrice. Toutefois, une «position» et
des mouvements politiques se dessinent bien sous une forme inquié-
tante, proche des considérations épistolaires éplorées de 1871, dans
l’étude de la tragédie.
Le fragment du début 1871 correspondant à peu près au texte
intitulé L’Etat chez les Grecs se propose d’examiner les condition du
«génie» et de «l’œuvre d’art dionysiaque apollinienne» à partir du
«monde grec» et de ses dispositions «sur lesquelles aucun moderne n’a

3 Œuvres compltes, III . p. 384 et 395. Voir aussi Jean Lacoste, Nietzsche et la
Civilisation franÅaise in-Nietzsche, I . Robert Laffont . p. 1036 – 1037.
4 Œuvres, I, Paris: Gallimard, p. 495 – 495 et 515 – 520.
432 Jean-Marc Hémion

encore su parler avec sympathie»5. Dès lors, apparaîtrait un effroyable


fonctionnement naturel et nécessaire favorisant une minorité créatrice
aux dépens des grandes masses asservies. L’étude d’une question
artistique exigerait donc le passage par la Grèce, par l’inactualité d’un
monde éloigné des dispositions affectives modernes (absence de «sym-
pathie»), par un monde où la direction procède de l’homme qui a besoin
d’art, alors que «l’esclave détermine les représentations du monde
moderne»6. La direction artistique du monde grec sait la nécessité de
l’esclavage du grand nombre; les discours modernes dominants sur la
«dignité du travail» et la «dignité de l’homme»7 constituent, selon la
sévère expression nietzschéenne, les «rejetons nécessiteux de l’esclavage
se dissimulant à lui-même»8. Ainsi, la modernité des «Lumières»,
indissociable d’un développement démocratique, coïnciderait, dans son
effectuation, avec une ignorance des conditions qui la déterminent,
l’incroyable ignorance des conditions cruelles et effroyables de toute
culture. Les Grecs, en revanche, que la science optimiste moderne nous
transmet si déformés, ne négligeraient pas, en vérité, ce qu’ils écartent
avec les douleurs et les difficultés du travail, jetant simplement sur celui-
ci le même voile pudique que nous jugeons encore nécessaire, selon
Nietzsche, pour l’acte de procréation. Tout présent se tiendrait d’une
cruauté affrontée par les Grecs, dissimulée et niée par les modernes.
L’étude de l’art comme tâche suprême, la science esthétique, se présente
donc comme une critique de ce qu’une autre tradition nommerait
l’«idéologie», l’auto-dissimulation des contraintes objectives assurant
leurs développements; cette critique est indissociable d’une pensée
politique élaborée à partir du caractère problématique de l’existence telle
que l’assument les Grecs.
Le retour à la question grecque est si peu, toutefois, un retour au
monde grec que l’examen se prolonge sous le forme d’une conjonction
d’énoncés universels:
«Il nous faut par conséquent savoir poser comme cruelle condition de
principe de toute culture que l’esclavage appartient à l’essence d’une
civilisation: et cette connaissance peut déjà susciter un frisson d’horreur à sa
mesure en face de l’existence […]. C’est là que prend sa source la rage mal
dissimulée que les communistes et les socialistes, ainsi que leurs pâles
disciples, la race blanche des libéraux, n’ont cessé de nourrir contre les arts,

5 Ibid., p. 411.
6 Ibid., p. 412.
7 Ibid.
8 Ibid., p. 419.
Science du Désastre et Démocratie 433

mais aussi contre l’antiquité classique. Si la civilisation était réellement à la


disposition d’un peuple, si ne régnaient pas ici des puissances implacables,
limites et lois pour l’individu, le mépris de la civilisation, la célébration de la
pauvreté d’esprit, le saccage iconoclaste des exigences artistiques, seraient
davantage qu’une révolte de la masse opprimée contre les individus qui sont
ses faux bourdons: ce serait le cri de la compassion qui jetterait bas les
murailles de la civilisation, et l’instinct de la justice, de l’égalité dans les
souffrances submergerait toutes les autres représentations.»9
Si le ton n’est pas exempt de pathos, il n’en reste pas moins dominé par
l’intrépidité d’un savant n’effectuant les comparaisons qu’en vue d’une
thèse générale comme celle qui se déclare ici devant l’effroyable et le
problématique, et se prolonge quelques lignes plus bas en précisant que
les débordements redoutables dus à la «célébration de la pauvreté
d’esprit» eurent lieu, avec grandeur, dans le premier christianisme dont
témoigne l’Evangile de Saint Jean! Non seulement la «rage» des socialistes,
des communistes, des libéraux, n’est pas la simple répétition du
dionysiaque johannique, non seulement celui-ci n’est pas opposé d’un
point de vue ethnique aux Grecs, mais l’étude du sérieux de l’existence
semble appeler une politique de la «cruauté». Cette politique est
indissociable d’une science du désastre. Des considérations «esthétiques»
conduisent une critique politique du présent en suivant le fil d’une
question: «la question fondamentale est la question du rapport qu’en-
tretient le Grec à la douleur, son degré de sensibilité»;10 la mesure
nietzschéenne dispose d’une sensibilité à production lacrymale et à
écoute musicale.
Le chapitre 18 de La Naissance de la tragdie reprend la méditation du
danger de submersion – «Il n’y a rien de plus terrifiant qu’une classe
servile et barbare qui a appris à considérer son existence comme une
injustice et qui se prépare à en tirer vengeance, non seulement pour elle,
mais pour toutes les générations.»11 – danger considéré comme une
amplification de l’optimisme socratico-scientifique. Le même passage
inscrit la critique kantienne et son prolongement pessimiste schopen-
hauerien dans un mouvement de réapparition d’une civilisation tragique
«alors que, annonçait-il un peu auparavant, le désastre qui sommeille au
sein de la civilisation théorique se met peu à peu à envahir d’angoisse
l’homme moderne […].»12

9 Ibid., p. 414 – 415.


10 Ibid., p. 29.
11 Ibid., p. 122.
12 Ibid., p. 123.
434 Jean-Marc Hémion

Les larmes de Nietzsche manifestent cette angoisse de l’homme


moderne plus qu’elles ne relèvent d’une sentimentalité que détermine-
rait l’appartenance à une petite-bourgeoisie passée de l’adhésion aux
Lumières à la réaction néo-aristocratique, plus, aussi, qu’elle ne suppose
un jeu délibéré, une posture d’encouragement idéologique. Ces larmes
mesurent un ébranlement, un désastre. L’incendie de la semaine
sanglante n’est pas interprété, par une référence à la solidité organique de
l’Etat, comme parekbasis ou déviation extrême de la politeia par la
multitude des démunis (Aristote), mais comme vengeance ou rage
hallucinée contre une nécessité universelle, ou bien, ce qui ne revient
pas au même, comme dissolution dionysiaque anti-esthétique. Des
larmes mesurent la cruauté d’une existence problématique contre
l’indifférence attribuée à l’indifférenciation égalitariste; les «porteurs
d’une faute universelle» ne sont pas indifférents à un Nietzsche rêveur
ou réactionnaire, mais donnent à penser une politique, c’est-à-dire le
problématique comme dimension publique, à partir de la cruauté
sensible et de la science mesurante, à partir des rapports de la science à la
cruauté, à ces déchirements différenciés inouïs pour l’oreille contem-
poraine.
Les larmes d’un «savant» en philologie, en philosophie, exposent le
problème politique de la science, forment la question de la science, en
suivant le fil conducteur de l’«art» comme pouvoir de sentir, comme
sentiment approbateur de la cruauté de l’esclavage. Pourquoi, dans ce
cas, Nietzsche éploré par le désastre démocratique ne jette-t-il pas la
pierre aux émeutiers?

B – Généalogie des Larmes ; Larmes auto-critiques

L’inanité anéantissante du savant serait révélée par le crime de la


multitude contre la culture et son exigence de servitude; l’étude savante
de la tragédie révélerait la condition cruelle de l’existence approuvée et
transfigurée par l’art, par le pouvoir «esthétique», c’est-à-dire, aussi, le
pouvoir – à exprimer, à entretenir et développer – de sentir. Ce pouvoir
requiert une puissance politique, un Etat dont les énormes dépenses ne
sont effectuées que pour quelques-uns, les philosophes et les artistes dont
la vocation ne serait pas, comme le croit Platon, de s’inscrire dans l’Etat:
Science du Désastre et Démocratie 435

«L’Etat doit préparer l’engendrement et la compréhension du génie.»13


Pourquoi, alors, ne pas, tout simplement, tout unilatéralement, dénon-
cer les insubordinations violentes à l’égard de cette orientation fonda-
mentale et générale? Pourquoi ne pas «jeter la pierre à ces criminels»?
Parce que l’étude de la «tragédie» et des «esprits libres», les «considé-
rations sur la signification éthico- politique du drame musical» suppo-
sent l’insistance sur l’aspect problématique de l’existence, sur la cruauté,
ainsi que sur la question de la provenance et de la valeur de la science.
Inanité possible de la science du savant et démesure déchirante du crime
constituent la condition d’une prise en charge rigoureuse du tragique.
En d’autres termes, tout se passe comme si une «science» de l’art, une
science en un sens nouveau (mais l’unicité n’est jamais définitivement
acquise pour la méthode nietzschéenne), ne pouvait, sans renoncer à la
cohérence, dissocier l’art d’une mise en question, par ce qui en assure la
production, de ce qui en mesure l’importance. Le travail philosophique
de Nietzsche est d’abord celui d’un «savant» philologue qui réfléchit par
son savoir la mise en question objective du savoir lui-même. Les
émeutiers incarnent cette mise en question; les larmes expriment cette
incorporation problématique.
La démesure cruelle de la totalité de l’existence se dévoilait, selon
Nietzsche, dans les fêtes dionysiaques, «comme la vérité»; la tragédie
justifie le mal humain; les olympiens, formations apolliniennes, justifient
la vie humaine en la vivant:
«C’est du sourire de Dionysos que sont nés les dieux de l’Olympe, mais de
ses larmes que sont faits les hommes.»14
Comment, dès lors, apprécier une situation moderne marquée par la
corrélation paradoxale de l’individualisme égalitariste, de l’étatisme
équitable et de l’optimisme scientifique? Le texte essentiel, déjà évoqué,
d’août 1886, placé, sous le titre de «Essai d’auto-critique», au début
d’une nouvelle édition de La Naissance de la tragdie, insiste et sur
l’importance de la question pessimiste (nouveau sous-titre: «Hellenité et
pessimisme») et sur celle de la provenance de la science pour souligner la
gravité et la provenance d’un obstacle démocratique:
«Eh quoi! En dépit de toutes les ,idées modernes’ et de tous les préjugés du
goût démocratique, ne se pourrait-il pas que la victoire de l’optimisme, la
prédominance de la rationalité, l’utilitarisme théorique et pratique (avec la

13 fragment 70 – 71., p. 265.


14 p.84.
436 Jean-Marc Hémion

démocratie qui lui est contemporaine), soient un symptôme de force


déclinante, de proche vieillesse, d’épuisement physiologique?»15
Le préjugé politique de la modernité sur elle-même appelle l’intem-
pestivité d’une généalogie de la science et de l’optimisme. Les larmes de
Nietzsche, humaines, comme toutes larmes de Dionysos, ne trouveront
pas de délivrance dans quelque olympien ou fiction apollinienne, ne
sècheront pas d’avoir écouté les histoires de l’érudition sur l’Antiquité;
elles ne penseront pas la «faute universelle» sans avoir situé politique
tragique et politique moderne à partir d’«une généalogie de la science»,
c’est-à-dire d’une question sur le rapport de qui veut la science à la
cruauté problématique de l’existence.
La modernité politique est marquée par une contradiction insou-
tenable dont elle n’est pas le sujet réconcilié et souverain, entre le besoin
d’esclavage, pour durer par le travail, et l’optimisme qui dénie la
nécessité de la servitude; la modernité politique est marquée par
l’optimisme socratique de la science, optimisme dont l’inquiétude –
aucun phénomène n’est unilatéral ou uniment contradictoire! – se
révèle dans l’opéra et, plus précisément, dans cette tendance extra-
artistique qui soumet la musique au livret pour «la nostalgie de l’idylle, la
croyance à l’existence, dans les temps primitifs, d’un homme artiste et
bon». Cet opéra moderne, symptôme d’une lutte active contre
l’esthétique, c’est-à-dire contre le pouvoir de sentir autant que contre
les divisions déchirantes de la «vie», se transforme «en une redoutable et
menaçante revendication», à laquelle, devant les mouvements socialistes
de notre temps, il n’est plus possible de faire la sourde oreille. Le «bon
sauvage réclame ses droits.»16 Le phénomène de contradiction insou-
tenable est interprété par Nietzsche à partir, non de son dépliement
politique, mais, conformément à la méthode revendiquée, toujours, de
tout l’ouvrage, de son mouvement esthétique (Bach, Beethoven,
Wagner) et philosophique (Kant, Schopenhauer). Comment relier par
une même étude la question politique et celle de l’expulsion socratico-
scientifique de l’art?
Le désastre, celui de l’optimisme, accomplit le socratisme, c’est-à-
dire l’instinct de la science qui veut rendre l’existence intelligible et la
justifier par le «fouet des syllogismes», le raisonnement formel et les
essences, l’expulsion de l’unité musicale. L’optimisme d’une science

15 p. 30.
16 p. 127.
Science du Désastre et Démocratie 437

reconduisant par le silence conceptuel à la stabilité différenciée des


essences pour délivrer, dans l’ignorance du travail dont elles résultent, du
devenir, forme «l’axe et le pivot de ce qu’on nomme l’histoire
universelle»17; cet optimisme forme, dans cette histoire, le désastre d’un
ébranlement musical et des audaces critiques de Kant et Schopenhauer.
Le masque d’une époque experte en dissimulation d’elle-même pour
elle-même est celui d’un Etat abstrait, d’hommes abstraits issus de la
destruction socratique des mythes et assoiffés de compensations fournies
par les recherches historiques et sociologiques; la violence démasquée se
cherche, elle, dans le «choral de Luther» qui «sonne comme le premier
appel dionysiaque». A quelle politique cet appel et cette résonnance se
rattachent-ils?
La réponse est bien connue, trop connue: un radicalisme aristocra-
tique et germano-centriste subordonnant la puissance de l’Etat aux
productions du génie en s’appuyant sur une critique du préjugé
démocratique et du progressisme optimiste et scientifique. Il suffit,
toutefois, pour suspendre une telle interprétation, de relire le sixième
moment de l’Essai d’auto-critique: Nietzsche, après y avoir revendiqué le
caractère essentielle d’une interrogation sur la tragédie, conduite à partir
de la prédilection pour le problématique dans l’existence et de la
question esthétique sur la provenance de la science, après y avoir déploré
un ton jugé trop soupçonneux à l’égard du style logique et des preuves
en général, dans l’écrit de 1872, après avoir reconduit à la question,
déterminée comme centrale, «du rapport qu’entretient le Grec à la
douleur, [de] son degré de sensiblité», s’y reproche – c’est une auto-
critique – d’avoir gâché le problème grec par une confusion avec les
«dernières affaires de la modernité.» Le regret exprimé, avec cette
probité que revendiquera toujours Nietzsche, porte sur le caractère
déplacé, pour le problème esthétique du rapport grec à la douleur et du
rapport contemporain au degré de «sensibilité» grecque, de fabulations
romantiques et politiques sur «l’âme allemande» alors que celle-ci «venait
irrévocablement et définitivement d’abdiquer, et sous le pompeux
prétexte d’une fondation d’empire, opérait son passage à la médiocri-
sation, à la démocratie, aux ,idées modernes’.»18 Si l’on ne se satisfait pas,
pour expliquer cette transformation, d’une tolérance pour les fantaisies
de l’opinion ni même de l’exposition de tout propos théorique aux
variations et turbulences politiques, il faut relier cette critique du

17 p. 107.
18 p. 33.
438 Jean-Marc Hémion

romantisme de l’âme allemande à un nouveau rapport de la science à la


démocratie.
Des larmes savantes incorporent les pensées d’une cruauté que les
hommes – larmes de Dionysos – voilent en s’anesthésiant par le travail
(analyses développées jusque dans La Gnalogie de la morale) contre le
pouvoir déchirant de l’art. La science, le socratisme et son logicisme,
constitueraient donc l’expression et la formation théoriques de ce travail
dont l’inanité, révélée par le criticisme et le «pessimisme», annonce un
retour sensible au tragique, un affrontement public du problématique
qui relève, dans un nouveau rapport à la science, de la politique.
L’appréciation d’une position nietzschéenne sur le désastre et la
démocratie passe par l’examen de son «auto-critique», tout autant que
par celui du rapport de l’indifférenciation égalitariste aux classements par
la douleur.

C – Science du Désastre et Machine critique

Dans Humain, trop humain (publié en 1878 et en 1880, puis en 1886,


époque de l’Essai d’auto-critique de La Naissance de la tragdie), Nietzsche,
s’adonnant à une lutte contre lui-même et le romantisme auquel il se
reproche d’avoir cédé par le passé, corrige le statut de la science,
développe un genre de science politique indissociable de l’intallation
d’un cerveau-machine et, plus généralement, d’une machinerie dont
résulte un statut plus nuancé et inquiétant de la démocratie.
Comme un serpent change de peau, le penseur de la tragédie
ébranlée par la lutte contre la culture, célèbre, dans «Le Voyageur et son
ombre», la «sagesse pleine d’espièglerie» d’un Socrate au visage de
Montaigne.19 Cette transformation fait suite à l’affirmation (dans la
première partie d’Humain, trop humain, plus précisément dans l’apho-
risme intitulé «De l’Ame des artistes et des écrivains») selon laquelle «ce
qui reste de l’art», école de sensation et d’approbation de la multiplicité
vivante, c’est la science:
«L’homme scientifique est le développement ultérieur de l’homme
artistique.»20

19 Humain, trop humain . trad. A.M. Desrousseaux et H. Albert, révisée par J.


Lacoste, dans: Œuvres, I., Robert Laffont, Bouquins 2004 – HH, II, § 86, p.
868.
20 HH, I, § 222, p. 559.
Science du Désastre et Démocratie 439

La science répond de façon salutaire par la froideur et le scepticisme à la


surexcitation culturelle21 et elle s’avère précieuse en ceci, non qu’elle
donne des résultats, mais «qu’on en retire un accroissement d’énergie, de
capacité de raisonner, de constance à persévérer.»22 Un «discours de la
méthode» (un extrait de celui de Descartes figurait en exergue de
l’ouvrage au côté de l’hommage à Voltaire) se propose, qui saisit la
science comme «pouvoir» («Das Können, nicht das Wissen, durch die
Wissenschaft» est le titre de cet aphorisme 256): la science serait pouvoir
de sentir et d’approuver le problématique de l’existence. Socrate n’est
alors plus le nom pour la maladie mortelle qui fait coïncider délivrance
et mort de soi; le pessimisme méthodologique revendiqué ne perçoit
plus l’artiste comme unique figure de la délivrance tragique. L’Etat,
toujours pensé à partir du caractère problématique de l’existence et de la
question du rapport à la douleur, du degré de sensibilité, ne peut pas être
simplement répété comme puissance trop romantique au service du
génie ou du saint.
La science comme pouvoir peut donc se replier comme pour une
nouvelle version de la science politique, de la science «du» pouvoir, telle
qu’elle se fondait chez Machiavel. Le chapitre consacré à l’Etat
développe de façon aphoristique un examen dégrisé de la puissance
politique considérée comme plus éclairante que ses fondements juridi-
ques (§ 446), en insistant sur le «service» comme lien, en chaque âme
noble, en chaque société puissante, du commandement et de l’obéis-
sance; on y trouve aussi soulignée l’inutilité d’une résistance à un
processus de massification du raisonnement jusqu’à niaiserie en même
temps que la nécessité de pouvoir se soustraire aux dictées de l’opinion
(§ 440, 450, 438). Au terme d’une lecture du premier livre, une thèse
peut apparaître selon laquelle «la démocratie moderne est la forme
historique de la décadence de l’Etat» (§ 472, une laïcisation de l’Etat vide
celui-ci de l’autorité et de la puissance mystique qui le faisaient durer);
thèse aussitôt nuancée par la position selon laquelle le socialisme, avec sa
mobilisation inouïe de puissance dans la lutte contre l’individu et dans
l’expansion par la terreur, suscite nécessairement le «cri» le «moins d’Etat
possible» (§ 473). Une situation démocratique serait donc marquée par
l’ambiguïté d’une défection inquiétante de l’Etat en même temps que de
son développement monstrueux. Surtout, le «coup d’œil» (cette partie
s’intitule «Ein Blick auf dem Staat») se précise avec les réflexions, dans

21 § 244.
22 § 256, p. 578.
440 Jean-Marc Hémion

«Le Voyageur et son ombre», sur l’armée – survivance anti-démocra-


tique – comme organisation lancée, par-delà toute conquête et toute
défense, dans un service sacrificiel d’auto-consumation (§ 284). Une
science politique d’un désastre (que Voltaire, cette fois-ci, résume:
«Quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu») prend sa
structure particulèrement visible dans un aphorisme d’une partie
antérieure intitulée «Ennoblissement par dégénérescence» («Veredelung
durch Entartung»): une question quasi physiologique – comment
expliquer l’accroissement de force d’un homme, d’une race? – écarte la
réponse darwiniste par la «fameuse lutte pour la vie» pour privilégier
deux facteurs, l’union, d’une part, et les blessures ou affaiblissement d’un
organisme durable, d’autre part. Ainsi, Machiavel, cité dans cet
aphorisme comme le penseur de la durée de l’unité politique, est
mobilisé au service de la puissance des blessés, d’une faiblesse des forts
instituée comme normativité, à l’écart d’un darwinisme jugé simpliste!
Une pensée politique s’essaie ici, qui s’exalte de sa rigueur scientifique et
jouit d’une lucidité conquise contre soi, contre le romantisme du soi.23

23 Cet aphorisme intitulé «Ennoblissement par dégénérescence» peut se présenter,


par concentration du propos, comme une thèse:
«Les natures dégénérescentes sont d’extrême importance partout où doit
s’accomplir un progrès. Tout progrès d’ensemble doit être précédé d’un
affaiblissement partiel. Les natures les plus fortes conservent le type fixe, les plus
faibles contribuent à le développer.»
Le darwinisme est convoqué pour être récusé immédiatement. Pourquoi le
convoquer? Darwin est, pour Nietzsche, la science du temps, de son temps et
du devenir; une science, pourrait-on dire, qui brise la stabilitité monarchique
des représentations antérieures de la nature et du vivant pour inscrire la pensée
et le pensable dans une turbulence radicale. En ce sens le darwinisme participe
du temps démocratique que n’oriente ni le passé ni les ordres traditionnels.
Pourquoi, alors, récuser la ,fameuse lutte pour la vie’? Pour subordonner les
turbulences de la nature à l’unité spirituelle et normative, comme antérieure au
rapport de la vie à la mort, d’une puissance collective que Machiavel avait
scientifiquement médité plus de trois siècles auparavant; pour mobiliser la
politique au service d’une éducation de la blessure:
«Un peuple qui devient sur un point gangrené est faible, mais dans l’ensemble
reste encore robuste et sain, est capable de recevoir l’infection de l’élément neuf
et de se l’incorporer à son avantage. Chez l’homme pris isolément, la tâche de
l’éducation est celle-ci: lui faire une assiette si ferme et si sûre que, dans
l’ensemble, il ne puisse plus être du tout détourné de sa route. Mais alors le
devoir de l’éducateur est de lui faire des blessures ou de mettre à profit les
blessures que lui fait la destinée […].»
Science du Désastre et Démocratie 441

Un pouvoir de sentir le problématique de l’existence, une «esthé-


tique», se prolonge et s’exerce au-delà de l’art, dans le pouvoir savant,
dans la science . Une réflexion rigoureuse se substitue aux spéculations
hasardeuses et romantiques sur l’«âme allemande»; une réflexion du
pouvoir-savoir s’exerce sur les formations nouvelles et inquiétantes du
pouvoir. L’ambiguïté domine dans les mouvements étatiques et les
mutations de masse dont la mémoire martiale et le sens de la
vulnérabilité semblent pouvoir fournir des mesures. C’est ainsi, sans
doute, qu’il faut relire le § 251 – «L’Avenir de la science» – un
aphorisme qui paraît classiquement consister en une mise en garde
contre la barbarie résultant de la perte d’intérêt pour la science, perte
induite par la banalisation des résultats au détriment de l’excitation de la
recherche, perte amplifiée par la dissipation scientifique des exaltations
religieuses et métaphysiques, perte suscitant le repli inquiétant sur
l’illusion et les divagations du divertissement. Le cœur du texte se
présente, toutefois, comme une proposition de lutte contre l’épuisement
de la source du plaisir:
«C’est pourquoi une civilisation supérieure doit donner à l’homme un
cerveau double, quelque chose comme deux compartiments du cerveau,
pour sentir, d’un côté, la science, de l’autre, ce qui n’est pas la science […].
Dans un domaine est la source de force, dans l’autre le régulateur: les
illusions, les préjugés, les passions, doivent servir à échauffer, l’aide de la
science qui connaît doit servir à éviter les conséquences mauvaises d’une
surchauffe.»24
Approuver la cruauté et sentir le problématique; disposer d’un cerveau-
machine jouissant de sa lucidité; suspendre la barbarie d’existences sans
plaisir, telle semble être la disposition nietzchéenne.
Cette disposition s’éduque et à cela une politique est nécessaire; une
politique des machines qui doit se distinguer des machines; non des
machines en général, dont on opposerait l’artificialité morte à une
nature vivante et plurielle, au naturel comme cruauté, mais des machines
fermées sur elle-mêmes au fonctionnement résumé par l’aphorisme 585
– «Pensée de mauvaise humeur»:
«L’humanité emploie sans ménagement tous les individus comme com-
bustible pour chauffer ses grandes machines: mais pourquoi donc les

Tels sont les éléments, plus complexes qu’équivoques, d’une détermination


nietzschéenne du progrès et d’une pensée souvent désignée comme (et parfois
revendiquée comme) «aristocratique», dans: HHI, § 224.
24 HH, I, § 251, p. 575 – 576.
442 Jean-Marc Hémion

machines, si tous les individus (c’est-à-dire l’humanité) ne sont bons qu’à


les entretenir? Des machines qui n’ont d’autres fins qu’elles-mêmes, est-ce
là l’umana comedia?»25
La résonance théâtrale n’est sans doute pas fortuite et l’on sait ce que le
théâtre doit à la «machine» comme ruse, artifice et montage de
dispositifs. Faut-il, toutefois, interpréter cet aphorisme à partir du § 17
de La Naissance de la tragdie, qui concevait le passage antique du
dionysiaque au non dionysiaque comme celui de la «consolation
métaphysique» au «deus ex machina» et, avec la généralisation du
modèle socratique, au «dieu des machines et des creusets»? Faut-il
inscrire une série de remarques critiques, souvent d’audacieuse antici-
pation, dans la disqualification organisée du recours à l’«artifice» théâtral
et aux machineries d’une solution toujours extérieure à l’immanence de
la souffrance? Faut-il stucturer la lecture d’une «pensée de mauvaise
humeur» en s’appuyant sur la solidarité du démocratique, du machinal-
automatique et de l’anesthésie, solidarité dont de nombreux textes plus
tardifs organisent la critique? La nuance est plutôt de rigueur et on ne
peut pas oublier la revendication d’un cerveau avec source de force et
régulateur, ni cette formule souvent reproduite de la Lettre du 14 aot
1880  Peter Gast, lettre faisant état de la révélation de l’éternel retour «à
six mille pieds au-dessus de la mer et plus haut encore par-delà toutes les
choses humaines»:
«Ah, ami, parfois le pressentiment me traverse l’esprit, que je mène en
somme une vie très dangereuse, car je suis de ces machines qui peuvent
exploser !»26
L’éducation, tâche de toute politique, horizon de tout rapport au
problématique, s’effectue par blessures et maladies, l’ennoblissement, par
dégénérescence; voilà ce qui se distingue et de l’humanisme trop
humain et des machines auto-teliques; des machines «d’essai» – comme
on parle de «pilote d’essai» –, voilà ce que constituent les lecteurs post-
nietzschéens de Montaigne:
«[…] ta propre vie prend la valeur d’un instrument et d’un moyen de
connaissance. Il dépend de toi que tous les traits de ta vie: tes essais, tes
erreurs, tes fautes, tes illusions, tes souffrances, ton amour et ton espoir
entrent sans exception dans ton dessein.»27

25 Ibid., p. 673.
26 trad. L. Servian, Bourgois 1981.
27 §292 . p.596.
Science du Désastre et Démocratie 443

Une science prolongeant le désastre se mue en science du désastre,


science politique fidèle aux répliques de Machiavel à la fortuna; une
science politique qui reprend la puissance artistique du tragique s’installe
comme dispositif de machines cérébrales non fermées mais ouvertes,
non de santé parfaite comme dans les rêves dérisoires et démocratiques
des premiers mouvements cybernétiques, mais vulnérables et expéri-
mentales. Que s’adresse la démocratie et ses institutions interprétatives à
travers ce dispositif cérébral? Cette question prend acte d’une non
extériorité d’un quelconque sujet Nietzsche disposé à prendre d’assaut
son époque ou à trouver refuge en quelque repaire; cette question prend
Nietzsche comme un dispositif de connaissance de la démocratie et de
ses déploiements désastreux. Avec Nietzsche, la démocratie s’adresse-t-
elle une hétéro-machine auto-critique?

D – Hétéro-machines auto-critiques

L’étude savante du désastre que constitue l’idéologie du travail et


l’hostilité de l’optimisme vindicatif à l’endroit des différenciations
artistiques et du pessimisme tragique s’est muée en examen «scientifi-
que» pessimiste – assumé par une machine à vision extatique et à
refroidissement conceptuel – des possibilités offertes par la «démocra-
tisation» (Demokratisierung); examen des possibilités de soustraction,
pour l’écrivain d’exception, à la puissance banalisatrice, des possibilités
de puissance reconfiguratrices du socialisme dans la machine mondiale,
des possibilités dissolvantes dans l’éducation et la famille, des menaces de
dissolution étatiques ou de totalisation terroriste.28 Nous sommes loin
des réconciliations hégéliennes de la pensée avec les déchirements du
présent ; très éloignés, aussi, des assurances «sacrées» et militantes de la
pensée réactionnaire. De Tocqueville – si peu réactionnaire, si peu
révolutionnaire – avec lequel il partage l’intérêt spéculatif pour
l’Amérique et la Russie, ainsi qu’une vision de la «démocratisation»
comme mouvement historique inéluctable, Nietzsche se distingue par
des remarques décisives sur l’armée considérée comme survivance non
démocratique dans un monde transformé par le culte de la négociation
et du juridisme; l’institution militaire apparaît comme «frein» en même
temps que comme puissance sacrificielle, qui s’écrie, au comble de la

28 voir §438, 446,450,472,473.


444 Jean-Marc Hémion

puissance: «Nous brisons l’épée!»29 Pas de réconciliation là où se déchire


la culture, mais une proximité, dont la structure se trouve avant Hegel et
au-delà de Nietzsche, apparaît, au terme de l’aphorisme 284 – «Les
Moyens pour arriver à une paix véritable» – consacré à une critique de la
doctrine de l’armée comme institution défensive (doctrine jugée
hypocrite et inhumaine dans la mesure où elle substitue au culte
suranné de la gloire militaire les stratégies de la victime), quand
Nietzsche déconseille aux «députés libéraux» la «diminution graduelle
des charges militaires»:
«Au contraire, ce n’est que lorsque ce genre de détresse sera la plus grande
que le genre de dieu, qui seul pourra aider, sera le plus près. L’arbre de la
gloire militaire ne pourra être détruit qu’en une seul fois, par un seul coup
de foudre […].»30
Au désastre réplique la foudre qui brise la force noble en deux!
Phraséologie aristocratico-militariste substituée aux accents d’esclaves de
la «démocratisation»? Ambiguïté de machines auto-critiques?
Le statut aristocratico-libertaire de la politique nietzschéenne est sans
doute trop souvent et trop rapidement fixé pour qu’on ne considère pas
avec reconnaissance la lecture nuancée des ambiguïtés nietzschéennes
que proposait Klossowski lorsqu’il évoquait, par exemple, l’accomplis-
sement caricatural d’une maîtrise de la terre dans l’ éternel retour
industriel de la surgrégarité marchande;31 ou bien lorsqu’il développait
l’analyse du rire et des larmes de Nietzsche à partir de l’examen
généalogique de la conscience intentionnelle, afin de repenser la
nécessité aimable (amor fati) qui me surprend à pleurer sans motif, ces
puissances irréductibles à la vérité de la conscience, ces puissances dont
je suis l’acteur – le comédien – , l’identité volant en éclat (c’est le sens,
répète avec insistance Klossowski, de la «mort de Dieu»). De la
multiplicité des dispositions qui pensent en moi, je serais l’acteur et nulle
garantie transcendante de la réalité ne permettrait de discréditer le jeu
dont je suis l’approbation. C’est en même temps que se développent ces
pensées qu’apparaisssent des époques où «la prévoyance vitale» libère des
«rôles déterminés» de toutes carrières, de toutes vocations profession-
nelles: des «époques véritablement démocratiques» où «tout individu est
persuadé […] qu’il est à la hauteur de presque tous les rôles, où chacun
essaie avec soi-même, improvise, essaie à nouveau, essaie avec plaisir, où

29 Pour tout cela, voir Humain, trop humain, II 2 . §279, 281, 284.
30 HH, II, toujours p. 935.
31 Nietzsche et le Cercle vicieux, Mercure de France 1969, p. 249.
Science du Désastre et Démocratie 445

toute nature devient art.» Dans ce paragraphe du Gai Savoir intitulé «En
quoi l’Europe deviendra de plus en plus artistique» (§ 356), l’époque
démocratique et «la croyance des Américains d’aujourd’hui» sont
associés au procès de dissolution de tous les cadres durables vécus
comme prédestinations et vocations, au processus de génération
d’acteurs excluant toute durée à venir, tout projet de société. Nietzsche,
se demande Klossowski, n’échappe-t-il alors à la fonction dérisoire,
selon lui, de «docteur du but de l’existence», de théoricien de la volonté
de puissance qui encouragerait la nécessité du devenir et du pathos, que
pour les pitreries, les parodies pathétiques, d’un essayeur ou tentateur
d’une société déjà du spectacle? Ne faut-il pas plutôt, comme y invite
Klossowski, toujours associer l’approbation nietzschéenne du devenir à
la gravité du poids le plus lourd? Ne faut-il pas, pour le dire trop
rapidement, revenir sur cette machine cérébrale échauffée et régulée, sur
le dispositif qui recueille alors les «époques véritablement démocrati-
ques» à partir d’une rhétorique du pathos indissociable d’un langage de
la gravité? Il faut cependant écarter une interprétation trop légère qui,
sous prétexte de probité herméneutique, soustraierait aux lectures
malveillantes les développements parodiques de Nietzsche ou celle qui,
sous prétexte de sévérité sociologique, y reconnaîtrait un aristocratisme
irresponsable; les uns distinguant la production consciente de détour-
nements extérieurs, les autres séparant l’inconscient situé, d’une part,
d’une production arrogante dans sa prétention à l’inactuel, d’autre part.
En effet, cette inactualité de Nietzsche lui revient, en quelque sorte, sous
la forme de tardifs arraisonnements sociologiques et démocratiques qui,
en retour, exposent inquisiteurs et enquêteurs aux questions généalo-
giques d’une doctrine nietzschéenne. Cet effondrement du présent des
uns et des autres est bien, aussi, pour la conscience démocratique auto-
présentée, une leçon nietzschéenne et une leçon inquiétante; une auto-
critique nietzschéenne de la démocratie, une exposition nietzschéenne à
l’endurance démocratique. Tout ce qui s’écrit au nom de Nietzsche
devra être pesé, pas une fois, pas deux fois, mais…
Cette pesée de l’enseignement de Nietzsche sur la démocratie, de la
Lehre nietzschéenne sur l’enseignement et la politique démocratique,
pose le problème de la langue de la transmission; de la terminologie, par
exemple, du génie, de la puissance, de la direction etc. Ce problème est
un des fils conducteurs de Derrida dans Otobiographie, l’enseignement de
Nietzsche et la politique du nom propre 32 ; fil suivi sans complaisance pour

32 Galiléé 1984 – Oto.


446 Jean-Marc Hémion

les surdités fréquentes de lectures autorisées aux échos national-


socialistes de la terminologie nietzschéenne, sans confiance excessive
pour le «dégoût» de Nietzsche à l’égard des interprétations dévoyées,
sans évitement de la phraséologie de l’Entartung conçue, dans la
cinquième conférence de L’Avenir de nos tablissements d’enseignement,
comme hostilité à la vie. Une lecture généreuse et dure de la rhétorique
de l’obéissance, de la soumission et du service, opposés aux divagations
démocratiques d’un aujourd’hui désastreux parce que «führerlos», se
cristallise sur une question:
«Ne doit-il pas y avoir, demande Derrida, quelque puissante machine à
produire des énoncés qui, dans un ensemble donné […], programme à la
fois les mouvements des deux forces contraires et qui les couple, les
conjugue, les marie comme la vie, la mort?»33
Cette machine, ce programme qui associe énoncés «de gauche» et «de
droite», impérialistes et libertaires, ne s’oppose ni à la vie ni à l’absence
de finalité et se constitue comme problème lorsque l’appel, finalement
dérisoire, à l’absoluité d’une distinction entre «intentions» de Nietzsche
et inconscient nietzschéen, est récusé, au nom même de Nietzsche, dont
il «reste» alors que l’interprétation nazie n’en est pas impossible, n’en est
pas la seule possible!
Ce «restant» est alors sondé par Derrida, à l’aide des critiques
nietzschéennes de l’Etat – dès l’époque de L’Avenir de nos tablissements
… – et du dispositif qu’elles constituent, avec d’insistantes questions –
tout au long de l’œuvre, bien au-delà de «l’avenir» – sur l’oreille (oto), la
formation de l’oreille, d’oreilles qui ne soient pas la pure reproduction
d’un discours instrumentaliste et banalisateur de l’Etat et de son
enseignement. Il s’agirait alors, si l’on voulait prolonger les propositions
derridiennes, d’éduquer l’oreille du lecteur, qui ne saurait sortir par
quelque décret d’une pensée ébranlée et requise par le désastre
démocratique des institutions; qui ne saurait en sortir, sauf à renoncer
à la gravité démocratique en écartant celle de Nietzsche et de ses
lectures. Au nom de Nietzsche, à sa bio-graphie, «reviennent», comme à
celui qui veut le retour de ce qui arrive en son nom, les interprétations,
revendications, travestissements ou restaurations, refondations ou dé-
tournements. Au lecteur «critique» – au lecteur! – revient la tâche d’une
ouverture sur «l’essai d’auto-critique», d’une hétéro-critique des replis
de la machine nietzchéenne: ainsi se joignent, par-delà Nietzsche, pour

33 p. 94 – 95.
Science du Désastre et Démocratie 447

lire Nietzsche, science et démocratie, multiplicité et gravité requise. La


«machine à produire des énoncés contraires» dispose, en dépit des
ressassements mécaniques ou des épuisements possibles, un «restant»
traqué par le lecteur. Ce «restant» n’est pas un feed-back de Nietzsche; il
n’en est pas l’«avenir»; son revenir, si vous voulez.
C’est ainsi que je reviendrai aux «larmes» qui disposent à penser les
«machines»; au «cerveau» qui agence sans illusionisme la multiplicité des
énoncés, qui approuve, sans anesthésie démagogique ni indifférence à la
cruauté, désastres et cassures. La démocratie comme pouvoir de la
multitude, comme écart politique aussi et luxe de la durée, la démocratie
s’adresse Nietzsche comme auto-critique ainsi que comme critique des
complaisances possibles de l’autonomie critique. La science du désastre
ne se dissocie pas d’un affrontement de la «cruauté» par laquelle le
caractère problématique de l’existence, l’inégalité de tout présent avec
lui-même plus que la forme historiquement située de l’esclavage, est
pensée jusqu’à l’ébranlement.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche
Florian Schneider

1. Landschaft als metapoetische Metapher

In seinem berühmten Aufsatz „Landschaft. Zur Funktion des Ästheti-


schen in der modernen Gesellschaft“ von 1963 definiert der Philosoph
Joachim Ritter die Landschaft folgendermaßen: „Landschaft ist Natur,
die im Anblick für einen fühlenden und empfindenden Betrachter ge-
genwärtig ist: […].“1 Damit es Landschaft geben kann, muß sich also
ein ästhetisches Subjekt von der Natur entfernen, anstatt (z. B. als
Bauer) an ihr zu partizipieren und damit direkt von ihr abzuhängen.
Und weil umgekehrt diese Entfernung es ist, die überhaupt erst eine
„Ästhetik“ – als wissenschaftliche Disziplin wie als subjektiven Modus –
möglich und notwendig macht, läßt sich der Raum der Ästhetik eben
als diese Distanz, als dieser Riß zwischen Mensch und Natur bestim-
men.
Ästhetik und Landschaft sind dabei keine überzeitlichen anthropo-
logischen Konstanten, sondern tragen viel mehr eine historische Si-
gnatur: Sie gehören – so Ritter – „in die geschichtliche Zeit, in welcher
die Natur, ihre Kräfte und Stoffe zum ,Objekt‘ der Naturwissenschaften
und der auf diese gegründeten technischen Nutzung und Ausbeutung
werden“2 – d. h. zunächst ins 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der
Aufklärung, und ins 19. Jahrhundert, das der Industrialisierung. Ästhe-
tische Landschaft ist ein Phänomen der Entfremdung von Natur oder,
mit Ritter, „der Entzweiungsstruktur der modernen Gesellschaft“;3 sie
wird dort sichtbar, wo die sprunghafte Vervielfältigung und Differen-
zierung des naturwissenschaftlichen Wissens dem Einzelnen keinen
Überblick über das Ganze der natürlichen Zusammenhänge mehr ge-

1 Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen


Gesellschaft“ (1963), in: ders., Subjektivitt. Sechs Aufstze, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1974, S. 141 – 163; hier S. 150.
2 Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 153.
3 Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 161.
450 Florian Schneider

stattet, auf den jedoch weder Individuen noch Kulturen zur Orientie-
rung verzichten können. Und genau diesen Mangel an natürlichem
Zusammenhang, den Riß, der durch das Verschwinden der ganzen
Natur im Gefüge des Wissens entstanden ist, sollen nun Kunst und
Literatur kompensieren. Dazu noch ein Mal Ritter:
„Wo der Himmel und die Erde des menschlichen Daseins nicht mehr in
der Wissenschaft wie auf dem Boden der alten Welt im Begriff der Phi-
losophie gewußt und gesagt werden, übernehmen es Dichtung und Kunst,
sie ästhetisch als Landschaft zu vermitteln.“4
Die Naturwissenschaften liefern nur Details, Bruchstücke, die sich
vorderhand zu keiner universalen Ganzheit mehr fügen wollen, wäh-
rend die Metaphysik umgekehrt nur abstrakte Begriffe produziert, die
jeder sinnlichen Vermittlung entbehren. Zwischen Objekten und Be-
griffen klafft ein Abgrund, der exakt der ästhetischen Distanz entspricht,
in der sich die dichterische oder künstlerische Landschaft einrichtet.
Wird die ästhetische Landschaft, wie Ritter will, den Riß füllen und
verdecken, den Mangel an Ganzheit kompensieren können?
Die Kunst bringt zwar aufgrund ihrer subjektiven Disposition kein
objektives Wissen hervor, aber immerhin kann sie Ganzheiten imagi-
nieren lassen, wo tatsächlich nur die Kontingenz des Mannigfaltigen
herrscht. Sie kann also den Anschein einer Ordnung erwecken, ästhe-
tisch vermitteln und in der Darstellung nachempfinden lassen. Indem
aber Landschaft die ganze Natur ästhetisch repräsentiert, bezeichnet sie
etwas, das zwar einmal tatsächlich präsent gewesen und auch in Zukunft
wieder sein soll, im Augenblick aber als abwesend vorgestellt wird.
Genau wie man Zeichen im allgemeinen dazu braucht, momentan
Abwesendes anwesen zu lassen, soll es ja ästhetische Landschaft über-
haupt nur geben, weil der tatsächliche Zusammenhang mit Natur
verloren ist. Zeichen und Landschaft kennzeichnet somit dieselbe
zeitliche Struktur der Nachträglichkeit und Vorläufigkeit in Bezug auf
die Präsenz des repräsentierten Gegenstandes.
Landschaft kann also den Mangel an Ganzheit deswegen nicht
kompensieren, weil sie ihn selbst bezeichnet. Sie wird im Gegenteil von
dem Abgrund zerrissen, den sie eigentlich verdecken sollte, tatsächlich
aber gerade markiert – ja man kann sagen, nur dank ihr wird der Riß
überhaupt sichtbar und das Begehren nach Ganzheit allererst geweckt,
das sie doch nur scheinbar – d. h. imaginär – stillen kann. Landschaft ist

4 Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 157 f.


Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 451

daher zunächst und bis auf weiteres ein Kunstwerk, ein ikonographi-
scher oder alphabetischer Text. Und tatsächlich wird die Ästhetik der
Landschaft im 18. und 19. Jahrhundert auch von einer Metaphorik der
Schrift, der Lesbarkeit und der Entzifferung begleitet,5 die zuvor die
Welt oder die Natur als ganze charakterisierte und deren Geschichte
Hans Blumenberg vorgelegt hat.6 Vom mittelalterlichen „Buch der
Natur“, wie es Blumenbergs Metaphorologie analysiert, unterscheidet
sich die ästhetische Landschaft aber insofern, als sie auf einen Sinn
verweist, den sie explizit nicht benennen kann. Landschaft wird so
lesbar als textuelle Chiffre der Abwesenheit von Natur und Welt im
Text: als Zeichen, das mehr über die Logik von Zeichenbeziehungen
sagt, als über irgendeine Wirklichkeit oder deren abstraktes Wesen. Sie
funktioniert daher im Text als metatextuelle Metapher.
An dieser Stelle kreuzt sich die Lektüre der Landschaft mit Nietz-
sches früher Sprachkritik Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen
Sinne von 1873. Der „Sprachbildner“, so schreibt Nietzsche dort,
„bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu
deren Ausdruck die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst
übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in
einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen
der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“7
Aus dieser Diskontinuität im Prozeß der Sprachbildung resultiert dann
die berühmte Definition der Wahrheit als „bewegliches Heer von
Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von
menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert,
übertragen, geschmückt wurden“.8 Als spezifisch menschliche Relation
zur Welt und künstlerische Kompensation des Bruches zwischen

5 Für das 18. Jh. vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift. Zur Topographie der deutschen
Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann
2004; für das 19. Jh. (exemplarisch anhand der Werke Adalbert Stifters) vgl.
Christian Begemann, Die Welt der Zeichen. Stifter-Lektren, Stuttgart/Weimar:
Metzler 1995.
6 Vgl. Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1981.
7 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne (1873),
in: ders., Smtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als
KGW], Bd. III/2, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin/New York: de Gruyter 1973, S. 367 – 384; hier S. 373.
8 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne
(Anm. 7), S. 374.
452 Florian Schneider

Mensch und Wahrheit ist die Landschaft auch tatsächlich erschienen,


zumindest in der Theorie. Und zwar 1860, in der Kultur der Renaissance
in Italien von Nietzsches verehrtem Basler Freund und Kollegen Jacob
Burckhardt, auf den sich auch Joachim Ritter beruft.9 In Burckhardts
Kapitel über „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“ markiert
der Abschnitt „Die Entdeckung der schönen Landschaft“ exakt die
Mitte zwischen der Entdeckung der Natur einerseits und des Menschen
andererseits.10
Anders als bei Burckhardt und Ritter aber fällt der Sphäre ästheti-
scher Vermittlung bei Nietzsche das epistemologische Hauptgewicht zu,
denn, so heißt es in Ueber Wahrheit und Lge weiter:
„[Z]wischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt
und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck,
sondern höchstens ein ä s t h e t i s c h e s Verhalten […]. Wozu es aber je-
denfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittel-Sphäre und
Mittelkraft bedarf.“11
Die Ästhetik sollte einen Riß im epistemologischen Gefüge über-
decken, eine Lücke schließen, die die unüberschaubare Expansion des
naturwissenschaftlichen Wissens im Weltbezug des Menschen verur-
sacht hat – bei Nietzsche aber wird sie selbst zur einzig möglichen Form
des Weltbezugs überhaupt. Gegenüber den ursprünglichen Metaphern,
den ästhetischen Relationen, die die Sprache vermittelt, sind gerade die
abstrakten Begriffe der Wissenschaft und der Philosophie abgeleitet. Sie
sind sekundär, weil es sich bei ihnen um verblichene Metaphern han-
delt, um Metaphern, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind.
Ästhetik ist hier also nicht mehr epistemologisches Substitut und spät
entwickeltes Organ des entfremdeten Geistes, sondern Grundlage eines
Wissens, das statt auf transzendenten Wahrheiten auf physischen Ner-
venreizen beruht.
Wenn also Welt und menschliches Dasein, wie es in der Geburt der
Tragçdie heißt, ohnehin „nur als aesthetisches Phänomen gerechtfertigt“
sind;12 und wenn Nietzsche gerade nicht darauf aus ist, den Riß zwi-

9 Vgl. Ritter, „Landschaft“ (Anm. 1), S. 141.


10 Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), herausge-
geben von Horst Günther, Frankfurt am Main: Insel 1989.
11 Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lge (Anm. 7), S. 378.
12 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik
(1872), in: ders., KGW, Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1972, S. 3 – 152; hier S. 43.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 453

schen Subjekt und Objekt zu verdecken, sondern ihn im Gegenteil


betont und vertieft; wenn er schließlich auf einer kontingenten Man-
nigfaltigkeit besteht, der gegenüber alle Begriffe und erst recht alle
Abstrakta nur abgeleitet sind – welchen Zweck kann dann die Mensch
und Natur in Einklang bringende und die Gegensätze harmonisierende
Landschaft noch haben? Konkreter: Welchen Sinn ergibt Nietzsches
eigenes Festhalten an der Landschaft und ihrer Metaphorik, die sich in
nahezu jeder seiner ausgearbeiteten Schriften findet? Dieser Frage
gehen die beiden folgenden Abschnitte anhand zweier exemplarischer
Landschaften, der Idylle und der Eislandschaft, in Nietzsches Texten
nach.

2. „Et in Arcadia ego“

Wie auch immer die Antwort ausfällt, sie wird jedenfalls mit der
Kindheit zu tun haben: der der Kultur und – weil die Sprachbildung
Sache des Künstlers und seiner lebendigen Metaphorik ist – der der
Kunst. Beides beschäftigt die literarische Tradition bereits seit der An-
tike in Gestalt der Idylle und innerhalb dieser vor allem des Topos des
locus amoenus, wie ihn Ernst Robert Curtius skizziert hat:13 Die Szenerie
zeigt den Hirten als Repräsentanten der frühesten Kultur, meist zur
Mittagsstunde an einem abgeschiedenen Ort inmitten der freien Natur,
gelagert im Schatten eines Baums, nahe einer kühlen Quelle, und meist
mit einem idyllischen Kollegen im Wettgesang, den am Ende die
Kunstfertigkeit der dargebotenen Verse entscheidet. Kurz: Die Idylle
liefert das Bild eines ursprünglichen, sorglosen und poetischen Lebens
inmitten einer harmonischen, bergenden und mütterlichen Natur.14
Als literarische Gattung beruft sich die Idylle auf zwei antike Vor-
bilder: die griechischen Idyllen des alexandrinischen Dichters Theokrit
(3. Jh. v. Chr.) und die lateinischen Bucolica Vergils (ca. 40 v. Chr.).

13 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europische Literatur und lateinisches Mittelalter, Ka-
pitel 10, „Die Ideallandschaft“, Tübingen: Francke 111993; sowie ders.,
„Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter“, in: Alexander Ritter (Hrsg.),
Landschaft und Raum in der Erzhlkunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buch-
gesellschaft 1975 (= Wege der Forschung 418), S. 69 – 111.
14 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema sei hier nur hingewiesen auf
Klaus Garber (Hrsg.), Europische Bukolik und Georgik, Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft 1976 (= Wege der Forschung 355), sowie Renate
Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart: Metzler 1977.
454 Florian Schneider

Beiden Vorbildern ist gemeinsam, daß es sich schon bei ihnen nicht, wie
Curtius meint, um die Schilderung frischer und unverstellter Natur-
eindrücke handelt, die erst später zum literarisch-rhetorischen Topos
erstarrt wären, sondern im Gegenteil um die vielleicht früheste Form
städtischer Literatur überhaupt. So wenig wie Theokrits artifizielle
Perioden sind auch Vergils anspielungsreiche Verse an ein naturwüch-
siges Publikum gerichtet, sondern an ein höfisches, den Umgang mit
avancierter Literatur gewohntes Lesepublikum.15 Schon die antiken
Idyllen sind also poetische Imaginationen, nicht realistische Schilde-
rungen eines ursprünglichen Lebens in der Natur. Und man darf davon
ausgehen, daß das dem Altphilologen Nietzsche, der beide Textkorpora
kannte, durchaus bewußt gewesen ist.
Eine erstaunliche Renaissance erfährt die Idylle im 18. Jahrhundert,
vor allem in der deutschen Literatur und namentlich in den Idyllen
Salomon Geßners von 1756 – nach Goethes Werther dem erfolg-
reichsten deutschen Buch des Jahrhunderts –, aber auch bei Haller,
Gleim, Hagedorn, Gellert, Müller und Voß bis hin zu Jean Paul, Goethe
und Schiller.16 Neben die zeitliche Differenz der antiken Texte, die die
Idylle als Einheit von Mensch und Natur am Ursprung der Kultur
ansiedeln, tritt im 18. Jahrhundert eine Differenz, die die Idylle als ak-
tuellen natürlichen Gegenpol der dekadenten und sittlich korrumpier-
ten Kultur und Gesellschaft begreift. So kommt es, daß die idyllischen
Hirten des 18. Jahrhunderts sich meist schnell als spärlich verkleidete
Bürger beim Spaziergang in der freien Natur entpuppen – insgesamt also
eine Konstellation, bei der man mit ziemlicher Sicherheit auf Nietzsches
Ablehnung zählen darf.
Tatsächlich lehnt Nietzsche in der Geburt der Tragçdie schon die
antiken Idyllen als „alexandrinische“ Zähmung der dionysischen Na-
turtriebe ab;17 und in einem Nachlaß-Fragment derselben Zeit spricht
er angesichts des „sentimentalischen Triebes ins Idyllische“ von einer
„unhistorischen Flucht in eine phantastische Urgeschichte der
Menschheit“. Weiter heißt es dort: „Daß man an diesen harmlosen
Texten […] ein schwärmerisches Behagen empfand, mag man nun
dreist mit der Bewunderung vergleichen, die unsere Altvordern […] für

15 Vgl. hierzu Bernd Effe und Gerhard Binder, Antike Hirtendichtung, Düsseldorf:
Artemis & Winkler 2001.
16 Zur deutschen Tradition der Idylle vgl. Verf., Im Brennpunkt der Schrift
(Anm. 5).
17 Vgl. Nietzsche, Geburt der Tragçdie (Anm. 12), S. 53 ff, sowie S. 120 ff.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 455

Geßner beseelte.“18 Um so erstaunlicher also, daß der idyllische Topos


in Nietzsches eigenen Texten eine wichtige, ja fast zentrale Rolle spielt.
Ein Beispiel: In Aphorismus Nr. 295 aus „Der Wanderer und sein
Schatten“ – dem letzten Teil von Menschliches, Allzumenschliches, ge-
schrieben 1879 in St. Moritz – findet sich unter dem Titel „Et in
Arcadia ego“ folgendes:
„Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin,
durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um
mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte,
streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im
schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler;
Alles in Ruhe und Abendsättigung. […] Zwei dunkelbraune Geschöpfe,
bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe
gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln,
rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des
Sonnenduftes schwimmend, – Alles gross, still und hell. Die gesamte
Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Au-
genblicks ihrer Offenbarung.“19
Arkadien – das ist die griechische Provinz, in der Vergil seine Hirten
angesiedelt hat und deren Name seither das Eldorado aller Schäferpoesie
bezeichnet. In der Schweiz aber fand nicht nur Nietzsche sein Arkadien,
sondern zuvor schon die gesamte Tradition der deutschen Idyllik, an-
gefangen bei Haller und Geßner (die selbst Schweizer waren), bis hin zu
Goethes Schweizerreisen und weit ins 19. Jahrhundert hinein. Der
ganze Titel – Et in Arcadia ego – spielt aber auch auf ein berühmtes
Gemälde Poussins von 1638 an, das vor idyllischer Kulisse ein paar
Hirten zeigt, die erstaunt die Inschrift eines Grabsteins entziffern: „Et in
Arcadia ego“ – auch der Tote war einmal in Arkadien, auch in Arkadien
gibt es den Tod, Arkadien, der Tod. Ein Titel, so ist hinzuzufügen, der
für Nietzsches Verwendung des Idyllen-Topos insofern programmati-
sche Bedeutung hat, als er stets den Gedanken des Todes mit dem der
Wieder- und Neugeburt verknüpft.20

18 Friedrich Nietzsche, Fragment 8/29 (Manuskript U I 5a, Winter 1870 – 71 bis


Herbst 1872), in: ders., KGW, Bd. III/3, herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1978, S. 242 f.
19 Friedrich Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (=Menschliches, All-
zumenschliches II, 2; 1880), Aphorismus 295, „Et in Arcadia ego“, in: ders.,
KGW, Bd. IV/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin: de Gruyter 1967, S. 324 f.
20 Diese Verknüpfung hat bei Nietzsche nicht zuletzt auch einen biographischen
Hintergrund: Ausgehend von dem damals weit verbreiteten Irrtum, die bio-
456 Florian Schneider

Doch bleiben wir vorerst noch beim „Augenblick der Offenbarung“


angesichts der idyllischen Landschaft. Kurz nachdem Nietzsche Sils
Maria entdeckt hat, bezeichnet er dieses auf einer Postkarte an Heinrich
Köselitz (alias Peter Gast) vom 8. Juli 1881 als „lieblichsten Winkel der
Erde“ und „ewig heroische Idylle“.21 Und gut einen Monat später heißt
es in einem Brief, wiederum an Köselitz:
„Die Augustsonne ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird stiller und
friedlicher auf den Bergen und in den Wäldern. An meinem Horizonte
sind Gedanken aufgestiegen, dergleichen ich noch nicht gesehn habe […].
Ich werde wohl e i n i g e Jahre noch leben müssen. […] Die Intensitäten
meines Gefühls machen mich schaudern und lachen – schon ein Paarmal
konnte ich das Zimmer nicht verlassen, aus dem lächerlichen Grunde, daß
meine Augen entzündet waren – wodurch? Ich hatte jedesmal den Tag
vorher auf meinen Wanderungen zu viel geweint, und zwar nicht senti-
mentale Thränen, sondern Thränen des Jauchzens; wobei ich sang und
Unsinn redete, erfüllt von einem neuen Blick, den ich vor allen Menschen
voraus habe.“22

logische Erbmasse erstrecke sich auch auf das individuelle Schicksal, nahm
Nietzsche lange Zeit an, daß er wie sein Vater mit 36 Jahren sterben werde.
Noch in Ecce Homo, lange nachdem sich diese Annahme empirisch erledigt
hatte, heißt es rückblickend dazu: „Mein Vater starb mit sechsunddreissig
Jahren […]. Im gleichen Jahre, wo sein Leben abwärts gieng, gieng auch das
meine abwärts: im sechsunddreissigsten Lebensjahre kam ich auf den nied-
rigsten Punkt meiner Vitalität, – ich lebte noch, doch ohne drei Schritt weit vor
mich zu sehn. Damals – es war 1879 – legte ich meine Basler Professur nieder,
lebte den Sommer über wie ein Schatten in St. Moritz […]. Dies war mein
Minimum: ,Der Wanderer und sein Schatten‘ entstand währenddem.“ Fried-
rich Nietzsche, Ecce Homo. Wie man wird, was man ist (1888), in: ders., KGW,
Bd. VI/3, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin:
de Gruyter 1969, S. 253 – 372; hier S. 262. In diesem Kontext sind auch Sätze
zu verstehen, wie der unten zitierte im Brief an Heinrich Köselitz vom
14. August 1881: „Ich werde wohl einige Jahre noch leben müssen.“ Hierzu,
wie auch zum Zusammenhang von Biographie und Philosophie überhaupt bei
Nietzsche, vgl. Friedrich Kittler, „Wie man abschafft, wovon man spricht. Der
Autor von ,Ecce Homo‘ “, in: ders. und Jacques Derrida, Nietzsche – Politik des
Eigennamens. Wie man abschafft wovon man spricht, Berlin: Merve 2000, S. 65 –
99, insbesondere S. 72.
21 Vgl. Friedrich Nietzsche: Postkarte an Heinrich Köselitz vom 8. Juli 1881, in:
ders., Smtliche Briefe. Kritische Gesamtausgabe [im folgenden abgekürzt als
KGB], Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari,
Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 99 f.
22 Friedrich Nietzsche: Brief an Heinrich Köselitz vom 14. August 1881, in:
ders., KGB, Bd. III/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Berlin/New York: de Gruyter 1981, S. 112 – 114; hier S. 112.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 457

Was ist geschehen? Was hat aus dem leidenden und kranken, ja ver-
meintlich sterbenden Nietzsche, der nach Sils kam inzwischen den
jauchzenden, singenden und vor Freude weinenden Wanderer werden
lassen?
Zwischen die beiden Briefe an Heinrich Köselitz fällt die Ent-
deckung der ewigen Wiederkunft, als deren Ankündigung sich im
nachhinein schon die erste „Offenbarung“ angesichts der Idylle lesen
läßt. Noch sieben Jahre später, in Ecce Homo, schreibt Nietzsche dieser
Erkenntnis die grundlegende Inspiration des Zarathustra zu und skizziert
anschließend Szene und Augenblick ihrer Offenbarung:
„Die Grundconception des Werks [i. e. des Zarathustra; Anm. d. Verf.],
der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Formel der Be-
jahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des
Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ,6000
Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘. Ich gieng an jenem Tage am See von
Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufge-
thürmten Block unweit von Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser
Gedanke.“23
Die Offenbarung der ewigen Wiederkunft ist also eine Erfahrung der
Landschaft – freilich eine andere, als sie bisher gemacht worden war.
Zunächst widerspricht sie radikal dem kulturgeschichtlichen Schema, in
dem das 18. Jahrhundert die Landschaft und besonders die Idylle ver-
ortet hatte: Gemäß der Zeichenstruktur von Landschaft, die eine einst
präsente, jetzt verlorene, aber künftig wiederzugewinnende Einheit von
Mensch und Natur bedeuten sollte, verlegte man die real existierende
Idylle an den Anfang von Kultur überhaupt. Und zwar als denjenigen
Augenblick, in dem Kultur und Natur gerade noch vereint, aber doch
schon unterscheidbar gewesen sein sollten. Als solche markiert die Idylle
den absoluten Ursprung von Kultur in Natur. Im kulturellen Fortschritt
sollte sich dann die Kultur von der Natur befreien und entfremden
zugleich, bis sie schließlich am Ende der Geschichte vollendet, bewußt
und freiwillig zu den Gesetzen der Natur zurückkehrt, denen sie einst
nur gezwungenermaßen gehorcht hätte – so in aller Kürze das teleo-

23 Nietzsche, Ecce Homo (Anm. 20), S. 333; auch die Originalnotiz hat sich im
Nachlaß Nietzsches erhalten: Vgl. Friedrich Nietzsche: Fragment 11/141
(Manuskript M III 1; Frühjahr bis Herbst 1881), in: ders., KGW, Bd. V/2,
herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York:
de Gruyter 1973, S. 392 – 394.
458 Florian Schneider

logische Kultur- und Geschichtsmodell, wie es etwa Friedrich Schillers


Elegie „Der Spaziergang“ von 1795 entfaltet.24
Nietzsches Modell hingegen biegt die Linie der idealistischen Te-
leologie, die vom gegenwärtigen Jetztpunkt zurück zum Ursprung und
voraus zur Vollendung führt, zur Kreisfigur der Ewigen Wiederkunft
zusammen: Was jetzt, in diesem Augenblick ist, muß in der Immanenz
der Welt (d. h. gemäß der Kombinatorik einer begrenzten Anzahl von
Elementen bei unbegrenzter Dauer) schon unzählige Male gewesen sein
und sich auch in Zukunft wiederholen. Das sprengt nicht nur das te-
leologische Geschichtsmodell, sondern auch das zugehörige Zeichen-
modell: Alles, was je sein kann, muß schon gewesen und auch in diesem
Augenblick wieder möglich sein. So eröffnet sich insbesondere auch die
Möglichkeit einer Präsenz der Idylle, nicht als zeichenhaftes Substitut
ihrer Absenz, sondern als Bild, dem jeder Schatten der Abwesenheit
mangelt, als ewig wiederkehrende Mittagsstunde der Geschichte und
punktuelle Kristallisation des Seins im Werden.
Damit realisiert Nietzsche eine Möglichkeit, die im Bild der Idylle
schon seit jeher angelegt war. Denn genau genommen widerspricht die
Konstruktion des idyllischen Augenblicks ihrer Integration in eine
idealistische Teleologie: Wie nämlich könnte in der harmonischen
Einheit mit der Natur, die dem Menschen von sich aus alles bietet, was
er vom Leben verlangt, überhaupt ein Begehren nach etwas Anderem
entstehen, geschweige denn nach einer Freiheit, die sich zunächst als
schierer Existenzkampf gegen die Natur erweisen muß? Die Idylle als
glücklicher Ursprung liefert dem Menschen (bzw. dem sorgen- und
geschichtslosen Wesen, dessen Geschichte die des Menschen hätte
werden sollen) einfach keinen Grund aus der Natur heraus- und in die
Geschichte einzutreten. Mit der Idee des linearen Fortschritts fehlt der
Idylle daher auch die Vorstellung einer fortschreitenden und ablaufen-
den historisch-kulturellen Zeit: Alles, was sie kennt, ist der natürliche
Kreislauf der Tages- und Jahreszeiten. Damit ist freilich nicht jede
Negativität aufgehoben – die Idylle ist trotz struktureller Ähnlichkeiten
und ikonographischer Parallelen nicht das christliche Paradies – d. h. es
gibt die Mitternacht als Gegenpol des Mittags, den Winter und auch
den Tod, wie etwa in Poussins Gemälde. Nur ist ihnen sozusagen die
Spitze abgebrochen, weil sich mit jedem Verlust zugleich die Wieder-

24 Die theoretische Grundlage dieses Geschichtsmodells liefert u. a. Schillers


Abhandlung ber naive und sentimentalische Dichtung (ebenfalls von 1795), die
auch eine detaillierte Theorie der literarischen Idylle entwickelt.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 459

und Neugeburt im natürlichen Rhythmus der kreisenden Zeit ankün-


digt. „Nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes“ –
so Nietzsches „Et in Arcadia ego“ – hat daher die Idylle an sich.25
Den Gegensatz von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt, den die
klassische Landschaft nur scheinbar im Blick des ästhetischen Betrachters
aufhebt, löst Nietzsche in der absoluten Landschaft auf: Wo es nur
Relationen, nur Ästhetik gibt; wo sich Bilder und Zeichen nur als
Markierung von Intensitäten etablieren, die kein woher und kein wohin
kennen, dort ist das Subjekt von seiner Individualität entlastet und die
Welt von allen ein- und ganzheitlichen Idealen.26 Die Landschaft rea-
lisiert sich sozusagen auf Kosten des bewußten Ichs, und dabei ist sie
nichts, außer einem Kräftediagramm von Triebrelationen, die Subjekt
und Welt im Innersten bestimmen noch bevor irgendeine bewußte
Reflexion sie trennt. Texte aber, die solche Landschaften verzeichnen,
sind seismographische Protokolle und Medien ästhetischer Erregungs-
zustände weit mehr als Kompensationen transzendentaler Mangeler-
scheinungen. Bei Nietzsche wird die Idylle so zum Zeichen äußerster
Intensität, denn sie bildet eine Chiffre der ewigen Wiederkunft, oder
besser: des Augenblicks ihrer Offenbarung. Und wie die Offenbarung
der ewigen Wiederkunft nach ihrem eigenen Gesetz selbst wieder-
kehren muß, so kehrt auch die Idylle in Nietzsches Texten wieder: im
Mittag und im Schweigen der Natur, im Gott Pan, im kürzesten
Schatten, in den Hirten, Wiesen und stillen Wäldern. Die idyllische
Landschaft bildet in der Immanenz des Textes ein Netz von meta-
phorischen Bezügen, die als Pathosformeln identischer Empfindungen
funktionieren sollen, nicht als Repräsentationen kontemplativer Na-
turbetrachtung.

3. Eislandschaften

Als Spur der ewigen Wiederkunft durchzieht die idyllische Landschaft


Nietzsches Texte – leider jedoch als fremde Spur. Mag auch die ewige
Wiederkunft das Bild der Idylle seinem traditionellen Kontext entreißen
und umwerten, die Zeichenstruktur transformieren und gegen die

25 Vgl. Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 324.
26 Vgl. hierzu Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, aus dem
Französischen übersetzt von Ronald Vouillé, München: Mathes & Seitz 1986;
sowie Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, aus dem Französischen
übersetzt von Bernd Schwibs, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1991.
460 Florian Schneider

idealistische Teleologie wenden – die Idylle bleibt doch literarischer


Topos und damit eine Spur, der Nietzsche zwar gegen den Strich, aber
dennoch folgt. Kurz: Das Bild der Idylle dementiert durch seine topi-
sche Tradition die Neuheit der Nietzscheschen Erfahrung. Und so kann
sich die Erfahrung der ewigen Wiederkunft zwar der Idylle einschreiben
und sich in ihr wiederholen – als gemachte Erfahrung jedoch führt sie
aus ihr heraus.
Der dritte Teil des Zarathustra widmet sich diesem Problem im
Abschnitt „Vom Gesicht und Räthsel“, wo sich zunächst eine weitere
Version der Erfahrung der Ewigen Wiederkunft findet, an die sich dann
die folgende Vision Zarathustras anschließt:
„Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten
sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine
schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng. Sah ich je so viel Ekel
und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da
kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest. […] Da schrie
es aus mir: ,Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!‘ […] So rathet mir
doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht
des Einsamsten! Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehn: – w a s sah
ich damals im Gleichnisse? Und w e r ist, der einst noch kommen muss?
W e r ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? […] – Der
Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieht; er biss mit gutem Bisse! Weit
weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor. – Nicht mehr
Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher
l a c h t e ! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie e r lachte!“27
Die „schwarze, schwere Schlange“, die hier auftaucht, ist der philoso-
phischen und mystischen Tradition als Urobouros-Schlange bekannt: als
die sich in den eigenen Schwanz beißende Schlange, die die in sich
kreisende Zeit symbolisiert. Sie ist es, die dem idyllischen Hirten
buchstäblich zum Halse heraushängt, ihn anekelt und in „bleiches
Grauen“ versetzt. Denn schön und beglückend ist die kreisende Zeit der
Idylle nur für denjenigen, der die ewige Wiederkehr lebt ohne sie zu
erkennen. Für denjenigen aber, dem sie sich offenbart, wird sie zum
„abgründlichen Gedanken“28 und „größten Schwergewicht“29 : Ihm

27 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III (1884), Abschnitt „Vom Gesicht
und Räthsel“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli
und Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 193 – 198; hier S. 197 f.
28 Nietzsche, Zarathustra III (Anm. 27), S. 195.
29 So der Titel des berühmten Aphorismus 341 der Frçhlichen Wissenschaft, der
ersten von Nietzsche veröffentlichten Version der ewigen Wiederkunft; vgl.
Friedrich Nietzsche, Die frçhliche Wissenschaft (1882), in: ders., KGW, Bd. V/2,
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 461

erzeugt das leere Kreisen der Zeit, das das Werden fesselt und keine
substantielle Veränderung zuläßt, nur noch Überdruß. Wer aber dieser
Schlange den Kopf abbeißt, wie Zarathustras Zuruf rät, der bricht aus
der Idylle aus, wie auch aus der Welt des Menschen, die (entgegen allen
idealistischen Illusionen) der Kreislauf der Zeit bestimmt. Wer daher am
Ende des Zitats aufsteht und lacht wie „niemals noch ein Mensch ge-
lacht hat“, ist nicht mehr Hirte und nicht mehr Mensch, sondern
„Verwandelter“ und „Umleuchteter“ – bermensch.
Tatsächlich prägt die Bewegung des Übersteigens der Idylle als Weg
des Übermenschen in Nietzsches Texten auch eine Metaphorik der
Vertikalität und des Aufstiegs, die spätestens 1881 mit der Arbeit an der
Frçhlichen Wissenschaft (und zugleich mit dem ersten Sommeraufenthalt
in Sils Maria) einsetzt und von da an einen neuen Landschaftstyp ge-
neriert. Schon der erste Teil des oben zitierten Abschnitts zeigt Zara-
thustra beim Aufstieg: „Ein Pfad, der trotzig durch Geröll stieg, ein
boshafter, einsamer, dem nicht Kraut, nicht Strauch mehr zusprach: ein
Berg-Pfad knirschte unter dem Trotz meines Fusses.“30 Solche Pfade
führen allemal heraus aus der Idylle und hinein in die lebensfeindlichen
Regionen des Hochgebirges, in eine Welt der Kälte, des ewigen
Schnees und der Gletscher, kurz: in die Eisregionen, die sozusagen der
natürliche Lebensraum des Übermenschen sind. Drei kurze Beispiele für
diese Landschaft, zunächst „Der Wanderer“, ein Vierzeiler aus „Scherz,
List und Rache“, dem „Vorspiel in deutschen Versen“ zur Frçhlichen
Wissenschaft (1882):
„,Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!‘ –
So wolltest du’s! Vom Pfade wich dein Wille!
Nun, Wandrer, gilt’s! Nun blicke kalt und klar!
Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.“31
Aus Zarathustra II (1883), unter dem Titel „Vom Gesindel“:

herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York:


de Gruyter 1973, S. 250.
30 Nietzsche, Zarathustra III (Anm. 27), S. 194.
31 Nietzsche, Frçhliche Wissenschaft (Anm. 29), S. 31; der Titel „Scherz, List und
Rache“ zitiert den eines Singspiels Goethes, das nach Philipp Christoph Kayser
und E.T.A. Hoffmann auch Nietzsches Freund Heinrich Köselitz vertont hatte.
462 Florian Schneider

„Denn diess ist u n s r e Höhe und unsre Heimat: zu hoch und steil wohnen
wir hier allen Unreinen und ihrem Durste. […] Eishöhle würde ihren
Leibern unser Glück heissen und ihren Geistern!“32
Schließlich eine Strophe des Gedichts „Aus hohen Bergen“, dem
„Nachgesang“ zu Jenseits von Gut und Bçse (1886):
„Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht?
Ich lernte wohnen,
Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?“33
Wo niemand wohnt, wo die Kälte zum Inbegriff des Glücks wird und
kein Pfad mehr den Weg des Wanderers lenkt – „6000 Fuss jenseits von
Mensch und Zeit“ – wird jeder Schritt zum Wagnis, vor allem aber zur
Entdeckung neuen, bisher unbetretenen Gebietes. Die dort erblickten
Landschaften bescheren dem Wanderer dann tatsächlich jenen „neuen
Blick“, den Nietzsche „vor allen Menschen voraus“ hat, wie er an
Köselitz schreibt. Freilich nicht ganz Nietzsche selbst, denn dort, wo der
Philosoph aufgrund seiner körperlichen Konstitution und seiner
schlechten Augen nicht weitergehen konnte – z. B. am Rande des
Gletschers im Fextal bei Sils Maria, wohin seine Spaziergänge oftmals
führten –34 dort schickte er bekanntlich Zarathustra voraus.
Selbstverständlich handelt es sich bei Nietzsches Eis- und Hochge-
birgslandschaft – genauer: bei ihrer Ersteigung und Begehung – um eine
Geste der Primarität, eine Geste der Überschreitung aller bisher betre-
tenen Gebiete. Eine Überschreitung allerdings, die im Raum der Im-
manenz stattfindet: In jenem Raum nämlich, dessen absolute Grenzen
die ewige Wiederkehr und der Tod Gottes bestimmen. Keinen Olymp
und keinen Parnaß, kein Dantesches Paradies und keinen Gipfel der
Vollendung gilt es deshalb zu erklimmen, sondern einen Raum der
absoluten Einsamkeit, in dem kein Ideal und kein metaphysischer Wert
mehr eine Richtung vorgeben – absolut unberührtes Territorium also,

32 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II (1883), Abschnitt „Vom Gesin-


del“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und Maz-
zino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 120 – 123; hier S. 122.
33 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Bçse. Vorspiel einer Philosophie der Zu-
kunft (1886), in: ders., KGW, Bd. VI/2, herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 253 – 255; hier S. 254.
34 Vgl. Andreas Hüser, Wo selbst die Wege nachdenklich werden. Friedrich Nietzsche
und der Berg, Zürich: Rotpunkt 2003, S. 190; in diesem Band finden sich auch
viele weitere Beispiele der Berg-Metaphorik in Nietzsches Texten.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 463

das hier erstmals betreten wird. Zu den Paradoxa, die Nietzsches Lehre
der ewigen Wiederkunft denkbar gemacht hat, gehört allerdings leider
auch, daß es kein erstes Mal gibt, oder vielmehr: Das erste Mal ist bereits
eine Wiederholung, und das heißt, das Neuland wird stets in den
Spuren von Vorgängern betreten. Im Falle Nietzsches selbst gilt das
zunächst für die Metaphorik seiner Eislandschaften. Curt Paul Janz
vermutet in seiner monumentalen Nietzsche-Biographie, daß sie von
dem seinerzeit berühmten Sils Marier Bergführer Christian Klucker
stamme, dem Nietzsche begegnet sein müsse, z. B. im Hotel „Alpen-
rose“, wo beide regelmäßig verkehrten.35 Weit wahrscheinlicher ist
jedoch, daß Nietzsche die Metaphern der Literatur seines Jahrhunderts
entnommen hat. Schließlich ist es das 19. Jahrhundert, in dem nicht nur
die meisten Alpengipfel erstmals bestiegen werden, sondern auch
zahlreiche Expeditionen versuchen, die Pole der Erde zu erreichen. Die
Zeitungsmeldungen, Reiseberichte und Biographien, die aus diesen
Unternehmungen hervorgingen, waren zahlreich und äußerst populär.
Sie inspirierten in besonderem Maße auch die Literatur der Zeit, man
denke etwa an Lord Byrons Manfred von 1817, wo es vom Gipfel des
Schweizer Berges Jungfrau heißt: „And here, on snows, where never
human foot/Of common mortal trod […]“.36 Ähnliche Formulierungen
finden sich aber auch in Mary Shelleys Frankenstein von 1818, in Edgar
Allen Poes The Narrative of Arthur Gordon Pym von 1838 oder –
Nietzsche sicher näher – in Adalbert Stifters Nachsommer von 1857, wo
ebenfalls eine winterliche Bergbesteigung geschildert wird.
Auch im Falle der Erschließung unbetretenen Geländes samt der
Gefahr und der Einsamkeit, der man sich dabei aussetzt, hat man es also
mit einem literarischen Topos zu tun. Und sicherlich läßt sich die erste
Spur, die der Entdecker in den Schnee legt, die Spur im reinen Weiß, in
allen genannten Texten ohne weiteres als eine Metaphorik der Schrift
entziffern, als Beschreibung des Unbeschriebenen im wörtlichen
Sinne.37 Das wirklich Neue bei Nietzsche ist daher nicht, daß er die

35 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, Dritter Teil: „Die
zehn Jahre des freien Philosophen“, München/Wien: Carl Hanser 1978,
S. 310.
36 Lord George Gordon Byron, Manfred, in: ders., Poetical Works, herausgegeben
von Geoffrey Cumberlege, London/New York/Toronto: Oxford University
Press 1952, S. 390 – 406; hier S. 398.
37 Zum literarischen Topos der Entdeckung und Erstbegehung von Eisland-
schaften (am Beispiel der ebenfalls erst im 19. Jahrhundert erschlossenen Po-
larregionen), sowie zur Metatextualität ihrer Metaphorik und der Dekon-
464 Florian Schneider

Metaphorik der Eislandschaft verwendet, sondern daß er sie auch ex-


plizit auf seine Philosophie und ihr schriftliches Medium bezieht. So
z. B. im Vorwort zu Ecce Homo (1888):
„Wer die Luft meiner Schriften zu athmen weiss, weiss, dass es eine Luft
der Höhe ist, eine s t a r k e Luft. Man muss für sie geschaffen sein, sonst ist
die Gefahr keine kleine, sich in ihr zu erkälten. Das Eis ist nahe, die
Einsamkeit ist ungeheuer – aber wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie
frei man athmet! wie viel man u n t e r sich fühlt! – Philosophie, wie ich sie
bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und
Hochgebirge –“.38
Die Wirkung der „Schriften“ ist zunächst eine physische: Man kann
sich an ihnen erkälten, wenn man nicht für sie geschaffen ist. Der Text
ist buchstäblich die Eislandschaft, die er darstellt, und wenn sich daher
hier überhaupt noch von Metaphern sprechen läßt, dann jedenfalls von
solchen einer absoluten Ästhetik, die die Landschaft als Text realisiert.
Es handelt sich sozusagen um einen ästhetischen Kurzschluß: Während
die klassische Ästhetik auf den Gegensatz von Subjekt und Objekt an-
gewiesen war, den sie notdürftig überbrücken sollte, sind bei Nietzsche
Subjekt und Objekt überhaupt nur noch als Subjekt und Objekt der
Ästhetik. Landschaft ist hier zugleich mehr und weniger als eine Me-
tapher: weniger, weil hier alles eigentlich und wörtlich gemeint ist –
mehr aber, weil hier nicht nur geistiger Sinn, sondern körperliche In-
nervation „übertragen“ wird. Diese Texte sollen nicht verstanden
werden, sondern unmittelbar wirken, sie sind selbst jene „ungeheuren
beeisten Zacken im Schleier des Sonnenduftes“ philosophischer Dis-
kurse.
Wie wörtlich das zu nehmen ist, daran läßt Nietzsche keinen
Zweifel, wenn er im Zarathustra unter der Überschrift „Vom Lesen und
Schreiben“ schreibt:
„Schreibe mit Blut: und du wirst erfahren, dass Blut Geist ist. […] Wer in
Blut und Sprüchen schreibt, der will nicht gelesen, sondern auswendig
gelernt werden.
Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel: aber dazu musst du

struktion des Primaritäts-Gestus vgl. Bettine Menke, „Die Polargebiete der


Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift
fr Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4 (2000), S. 545 – 599; dort auch
zahlreiche Beispiele aus der (auto-)biographischen, wissenschaftlichen und
fiktionalen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
38 Nietzsche, Ecce Homo (Anm. 20), S. 256.
Zur Ästhetik der Landschaft bei Nietzsche 465

lange Beine haben. Sprüche sollen Gipfel sein: und Die, zu denen ge-
sprochen wird, Grosse und Hochwüchsige.“39
Hier gibt es nichts mehr zu interpretieren und nur noch wenig anzu-
merken, zumindest was die Landschaft betrifft. Während der Über-
mensch auf sich warten läßt, hat seine Landschaft bald Karriere ge-
macht: Anders als die Idylle, deren Spur zurück ins 18. Jahrhundert
führt, ist die Eislandschaft zu einem Topos der klassischen Moderne
geworden. Schon bald nach Nietzsches Tod haben die Avantgarden die
Kälte einer von allem kulturellen Ballast befreiten Kunst für sich ent-
deckt.40 Die Nietzsche-Leser Benn, Jünger und Brecht, so unter-
schiedlich ihre Literatur auch ist – bei allen finden sich die kühlen,
klaren Blicke und die heroischen Einsamkeiten der entzauberten Welt.
Die Literatur und Theorie der Neuen Sachlichkeit entwickelt in den
20er Jahren soziale Verhaltenslehren der Klte – so der Titel von Helmut
Lethens einschlägiger Studie zum Thema –,41 bis in die 30er Jahre
werden die beliebten deutschen Bergfilme den Typus des einsamen,
willensstarken Helden im Kampf mit einer lebensfeindlichen Natur zum
Ideal einer ganzen Generation gemacht haben.42 Und während der
anschwellende Strom von Touristen in den Bergen die Idylle sucht,
bilden Eis und Fels längst das Relief der gesamten Gesellschaft. Die
Antwort darauf hatte Nietzsche bereits 1880 gegeben, in einem
Aphorismus aus „Der Wanderer und sein Schatten“ mit dem Titel
„Vergnügungs-Reisende“: „Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf,
dumm und schwitzend; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es
unterwegs schöne Aussichten gebe.“43

39 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I (1883), Abschnitt „Vom Lesen und
Schreiben“, in: ders., KGW, Bd. VI/1, herausgegeben von Giorgio Colli und
Mazzino Montinari, Berlin: de Gruyter 1968, S. 44 – 46; hier S. 44.
40 Vgl. Helmut Lethen, „Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden“,
in: Dietmar Kamper und Willem van Reijen (Hrsg.), Moderne versus Postmo-
derne, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 282 – 324.
41 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Klte. Lebensversuche zwischen den Kriegen,
Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
42 Z. B. Die weiße Hçlle vom Piz Pal (D 1929, Tonfassung 1935, Regie: Arnold
Fanck, G.W. Pabst), Strme ber dem Montblanc (D 1930, Regie: Arnold Fanck),
Das blaue Licht. Eine Berglegende aus den Dolomiten (D 1931/32, Regie: Leni
Riefenstahl) oder Der Berg ruft (D 1937, Regie: Luis Trenker).
43 Nietzsche, „Der Wanderer und sein Schatten“ (Anm. 19), S. 279.
Penser par-delà l’homme
Jean-Clet Martin

Le rapport de la France à la figure si marquante de Nietzsche s’inscrit


sans doute dans ce que ce dernier lui-même devait promettre en regard
de ces penseurs de l’avenir qu’il ne cessa d’appeler de tous ses vœux.
Cette exigence de l’avenir, pointée de multiple manière par Nietzsche,
aura trouvé son écho, de l’autre côté du Rhin, sous les noms de
Foucault, Deleuze, Derrida, fascinés tous trois par la fracture que le
philosophe allemand leur donna à éprouver jusque dans leur propre
oeuvre. Cette influence sera, pour cela même, contrastée, complexe et
nuancée par le style propre à chacun. Il me semble néanmoins que, par
delà cette différence de facture, la philosophie française d’après guerre a
fortement ressenti la secousse de la mort comme une configuration
marquante du siècle. Je n’aurai pas le temps de construire ce rapport en
toute sa richesse, d’autant plus qu’il ne se déploie pas sans passer par la
manière dont Hegel clôt une Histoire que Heidegger, après Nietzsche et
dans ses traces, cherche au contraire à déconstruire et renouveler.
Il y a sous cette triple référence de la France à l’Allemagne un souci
de la mort qui envahit l’ensemble des discours sous le registre de la fin de
l’homme et du monde que l’humain était censé soutenir depuis
longtemps sous la juridiction de la Raison en une histoire désormais
hésitante, voire impuissante. Et cela comporte assurément comme un
relent de conscience malheureuse, conscience endeuillée qui explique,
d’autre part, le succès croissant de Benjamin ou d’Adorno en France.
Mais, malgré cette tendance fortement mélancolique, la mort au sens où
Nietzsche nous l’a confiée doit s’entendre plutôt comme une bonne
nouvelle, un gai savoir de ce qu’il n’y a désormais plus de savoir qui
tienne devant elle.
On aura compris évidemment que cette mort ne consonne plus
guère avec celle que le christianisme est venu surmonter par la promesse
de la rédemption. La gnalogie de la morale nous met en face d’une mort
qui n’est plus du tout la figure d’un passage vers une autre rive. Contre
tout ascétisme, elle marque davantage le processus d’une fin sans reste,
d’un séjour dans la limite creusée par l’éternel retour qui ne donnera
plus sur aucun autre monde. On dirait que la fin de l’homme ne
468 Jean-Clet Martin

s’expose plus à aucune finalité et que la bordure sur laquelle nous nous
tenons n’a plus, devant elle, une face sur laquelle pourrait donner cette
frontière. La limite a perdu ses côtés sans s’enfoncer vers autre chose que
vers le coin de son propre vide et désespoir. Il n’y a plus, en ce sens,
aucun événement pour donner à la pensée la trouée, l’échappée dont
elle se nourrit depuis toujours. Manque cruellement l’air, l’appel d’air du
dehors sauf à l’entendre comme Nietzsche, au sens d’une mer qui ne
coule qu’en elle-même selon le cycle joyeux du retour, d’une éternité
qui veut la joie.
Tout commence, d’une certaine manière, avec l’annonce de la mort
de Dieu qui selon Nietzsche ponctuera d’abord, mais de manière
inévitable, la détresse du siècle à venir. Le christianisme avait soupçonné,
depuis le début, une mort de ce genre. Le Dieu chrétien est le premier,
en effet, qui ne cède à l’homme que fort peu de puissance sachant que
son fils connaît pour seul réconfort l’expérience ingrate de la croix.
Inventer un Dieu qui meurt, c’est assez surprenant tout de même! Pour
la première fois, la gloire d’un Dieu se mesure à son tombeau qui
l’engloutit pour l’interrompre d’un silence de trois jours, une nuit
pendant laquelle il sombre dans le vide, à l’instar de la conception que
Schelling se fait de la divinité, abandonnant le monde au jeu désordonné
de ses forces antagonistes. On se trouve ainsi placé devant l’horreur que
Pascal promet à un monde sans Dieu, celui là même que Nietzsche, en
préférant Dionysos au crucifié, affirme comme l’alternative d’un pari qui
n’a pas encore été tenté. Le Christ ressuscité, certes, renverse toute
l’absurdité du vide infini qu’il prend sur soi et, en revenant, témoignera
à l’homme de son éternité, lui qui s’est arraché au vide et à l’interruption
des trois nuits pascales. Mais en quoi ce dernier s’est-il vraiment
ressuscité? Où trouver cette promesse du retour? On ne saurait mieux
comprendre son inanité que ne le fit Hegel en insistant sur l’idée que le
christianisme poursuit un tombeau vide et que ce n’est pas à Jérusalem
que l’homme pourra retrouver son essence perdue. Que le tombeau ne
soit habité par aucun Esprit, aucune prière ne saurait en remplir le peu
de consistance de sorte que le monde souffre d’un deuil irrémédiable:
une conscience malheureuse qui se sent abandonnée au mouvement
immonde de ses errances giratoires. Notre univers, sorti de rien comme
le veut la théologie elle-même, ne laisse plus rien a attendre peut-être
que son refroidissement progressif, le lent travail du négatif qui ne saurait
manquer de retomber dans la nuit, fût-elle Absolue, d’un univers en
expansion.
Penser par-delà l’homme 469

De ce vide qui grève le tombeau du Christ, on peut cependant se


réjouir de multiple manière. L’athéisme, outre la prospérité du
capitalisme universel qu’il mondialise en tous sens, possède ses bonheurs
et ses moments de fastes, voire une certaine ivresse devant la promotion
d’un homme libéré du poids lourd de la rédemption. C’est, d’une
certaine manière, le cri de Sartre qui dira que l’existence précède
l’essence, qu’il faut retourner la relation entre essence et existence de
sorte qu’aucune essence ne soit donnée a priori pour cloisonner
l’existence dans les limites de la raison. Dieu mort, on pourra supposer
que le sens du monde devienne possible en un autre sens, faisant feu de
tout bois. Comment éviter alors que ce feu ne se perde pas dans la
ludique profusion des objets sans cesse nouveaux qui envahissent le
marché mondial dans l’illustration de notre propre insouciance devant le
mort ainsi mise à distance?
Sans doute ne reste-t-il rien devant nous que la consommation, la
consumation sans lendemain d’une dévoration mortifère qui emportera
le monde lui-même comme un champagne vidé de ses bulles. Aux
confins de l’humain, nous ne savons plus exactement le sens du monde,
l’orientation de sa productivité effrénée qui ne vit que de l’absurde, de
l’accélération insensée de son extension, de sa mondialisation sans
monde. Sartre, parce qu’il n’y a plus de sens, pensait conférer ainsi à
l’homme la chance de le créer, le privilège de le produire en toute
liberté, dans l’ouvrage d’une œuvre communautaire guidée par le projet
seul capable de faire intervenir une essence en aval, sous le travail même
d’une aventure dialectique où fusion de l’en-soi et de pour-soi advient
au nom de la liberté. L’existentialisme est alors un humanisme dans le
sens où Dieu aura délaissé l’existence dans un retrait qui rendra à
l’homme la responsabilité de son avenir. Mais un délaissement de ce
genre avait déjà été affirmé par le Christ lorsqu’il invoquait un père qui
l’a abandonné, seul face à la mort, lui déléguant ainsi un courage plus
humain que divin, placé pour ainsi dire au-delà du divin lui-même, au
point d’occulter les autres vecteurs de la Trinité. Mais cette plainte du
Christ mis en croix est susceptible de réponses multiples devant le chaos
de l’intermittence, de la nuit de trois jours placée au bord du vide. A
l’inquiétude déjà Pascalienne du Christ, mis en croix, sombrant dans
l’abîme, il ne sert de rien d’opposer la ripaille mondialisée de celui qui se
livre au sens le plus festif, de celui qui ne vivant qu’une fois, serait en
charge d’en profiter avant la fin, de goûter à tout, au maximum, avalant
toute la terre avant de partir. Il y a sans doute autre chose à attendre de la
mort ultime de Dieu que cette naissance du fils de l’homme, de ce fils
470 Jean-Clet Martin

touche-à-tout, engloutissant avec lui le maximum d’un univers qu’il


absorbera de manière effréné sous la promesse de la réussite économique
et de la libre consommation.
A la complainte du Christ devant son père qui l’abandonne seul au
mont des oliviers, on pourrait superposer celle d’un tout autre martyr:
«Mon Dieu, dira-t-il, il n’y a plus de Dieu.» Ce cri de Van Gogh, rêvant
d’ailleurs de peindre la scène précitée sans y arriver jamais, en
descendant dans la mine du Borinage, entre en résonance avec l’idée
que le tombeau du Christ est bien vide, mais de manière irrémédiable,
sans attendre de l’homme aucune relève, au sens hégélien. Certes, Dieu
mort, il restait à l’homme toute latitude pour prendre sa place et
produire ainsi ses nouveaux frères. Il lui restait cette place à occuper
pour considérer l’existence comme un espace à conquérir. La mort de
Van Gogh, le suicide du «peintre-pasteur», suffirait à montrer qu’il n’a
jamais eu foi en cette place manquante de fils et qu’il était désormais
impossible de spéculer sur une relève de cette nature, même si le monde
partout autour de lui témoignait de son inventivité technicienne, de la
cohorte naissante des ingénieurs qu’on continue de produire au-
jourd’hui comme autant de gens respectables. Van Gogh fou, c’est
l’expérience non simplement d’un abandon, d’un délaissement. C’est la
certitude que le Dieu mort ne sera relayé par aucun fils qui prendrait en
main le gouvernail du monde et de l’Histoire, contrairement aux espoirs
d’un Jules Verne culminant à la même époque sous la figure du capitaine
Némo, pris sans doute d’une détresse très nouvelle, d’une mélancolie
suffisante pour l’éloigner du monde, à plus de 20 000 lieues sous les
mers. Dans l’esprit de Van Gogh, perdu à même les usines et le charbon
noir, il apparaît que Dieu est lui-même devenu fou en l’homme qui lui
succède. L’homme quant à lui n’est qu’un Dieu raté qui retourne contre
lui-même le harpon qu’il avait jeté contre la divinité. Et d’une certaine
manière notre siècle n’a pas fait autre chose que de subir à rebours ces
coups de harpon, annoncés avant Nietzsche, par Melville dans son
étrange tragédie sur Moby Dick. Quelles que soient les expériences de
pensées pratiquées dans les différents secteurs des sciences humaines,
nous avons fait l’expérience irrémédiable de ces jets de lance faisant
retour sur l’homme lui-même, le plaçant au bord d’une frontière
comme aux confins de l’humain. Et ces contrecoups ne résonnent pas
seulement sur le mode négatif du nihilisme. Il serait insuffisant de faire le
diagnostic d’un nihilisme généralisé pour caractériser les frontières de
l’humain, aujourd’hui partout visibles.
Penser par-delà l’homme 471

Le suicide du peintre, sa négation de soi, en réponse à la difficulté


d’être, n’est cependant pas à confondre avec un quelconque sacrifice. Il
n’y a rien de nihiliste dans la peinture de Van Gogh lorsqu’il cesse de
peindre ses paysages en dehors de toute visée humaine, laissant place à
l’œil des choses et des fleurs. On y apprendra qu’un paysage n’a pas
besoin, nécessairement, d’une conscience humaine pour le révéler. La
peinture nous laisse penser au contraire que c’est seulement quand la
perspective du regard humain s’évanouit que les couleurs pourront
s’assembler selon un autre sens, une autre configuration que celle de
l’impression ou même du beau romantique souvent très sentimental.
Alors les couleurs s’affectent elles-mêmes selon une sensation qui leur
appartient, lorsque le violet et le jaune s’affectent mutuellement suivant
en cela la logique du contraste, indépendant de l’homme autant que du
rapport quantifiable aux objets. Heidegger a eu un nom pour cette
indépendance des choses eu égard aux hommes. Au lieu d’invoquer la
figure de la conscience pour rendre compte de certaines concrescences
ontologiques, il devait au contraire en appeler contre Hegel à une
différence absolue de l’Etre et des étants jusqu’à toucher à une forme de
présence, de Dasein qui n’est plus seulement de l’ordre du regard
humain approché par la phénoménologie. Mais il faut sans doute aller
bien au-delà de Heidegger et considérer que le tournesol manifeste un
Dasein aussi puissant que celui de l’homme. On dirait un œil qui regarde
toute la journée par la fenêtre dira Malcolm Lowry à ce propos. Et Van
Gogh, précisément, peint cet œil lorsqu’il réalise ses natures mortes. Ce
n’est pas un souci écologique qui anime sa fuite vers le soleil. Le monde,
pas plus qu’il n’a besoin d’un fils de l’homme pour le sauver, n’a besoin
du Capitaine Némo pour le préserver comme c’est actuellement de bon
ton de l’affirmer dans les milieux de l’écologie dont les propositions et
exactions ne sont que l’envers de ceux de la technique. Imaginer que la
nature a des droits et que, ces droits, il appartient à l’homme de les
édicter, cela relève d’un humanisme des plus curieux, un anthropocen-
trisme dont Nietzsche ferait sans doute la figure d’un nihilisme
déclinant.
On se rappellera probablement que Nietzsche, à la même époque
que Van Gogh, se laissant aller au même soleil, a cherché à nous faire
comprendre que l’homme est quelque chose qui doit être dépassé. Il est
temps, dans l’esprit de Nietzsche, de trouver une autre modalité de
présence, de Dasein, à la manière de ces philosophes devenus taupes qui,
nous dit l’avant-propos à Aurore, sapent, forent et minent en découvrant
ainsi un labyrinthe fort étrange. Le surhomme est justement la tâche qui
472 Jean-Clet Martin

attend les générations à venir. Surhomme, bermensch, cela ne consiste


pas en la pensée un peu trop moulante d’une espèce de superman, de
Christ américain venu sauver la planète. ber, cela veut dire par-dessus,
par delà l’homme. Comment penser par-delà l’homme, par delà le bien
et le mal, en un sens extra-moral? Cette question est celle que la
philosophie contemporaine hérite au moment de l’essor le plus radical
des sciences humaines. C’est Michel Foucault qui la formule de la
manière la plus inattendue, dès la publication de son archéologie des
sciences humaines Les mots et les choses, annonçant la mort prochaine de
l’homme, des catégories en lesquels il s’exprime et accède à la certitude
de soi.
Nous avons probablement quittés, depuis la fin du XIXème siècle, la
terre de l’évidence où les choses pouvaient encore s’exposer d’un coup,
au titre de phénomènes capables de se montrer, de se laisser appréhender
dans l’apparition systématique et totale qui était supposée nous les
donner d’un seul geste : tableaux, panoramas exhaustifs, index récapi-
tulatifs en mesure de réaliser selon les vœux de Hegel une véritable
encyclopédie. Et il ne suffirait pas de dire seulement que nous manquons
d’intériorité, que le moi n’est pas une substance. Nietzsche nous
apprend en vérité que la conscience n’est pas une donnée, ni substance
ni sujet. Elle est trop superficielle pour valoir comme le caractère inné
d’une personnalité déjà en germe, indépendante de l’expérience. Au lieu
de se solidifier en une substance ou un sujet, l’âme se molécularise plutôt
en une collection dont l’unité tient de l’habitude.
Si le moi n’est plus qu’une croyance, Nietzsche ira bien plus loin
encore en faisant des objets eux-mêmes un pur divers, une diversité
dont le fond reste inconnaissable, influencé sans doute par Kant, par la
Critique de la Raison Pure. Il y a comme une inconvenance de l’objet eu
égard au sujet dont Nietzsche se réjouit et que la phénoménologie ne
cesse de déplorer ou de combler. Et il me semble que contre cette
tentation phénoménologique, Nietzsche nous garantirait que le moi ne
convient plus à lui-même tandis que les choses se délitent en profils aussi
affolants que le donnait à percevoir naguère le cubisme. Cela la
phénoménologie l’aura bien compris, elle qui cherchera à envisager
ailleurs que dans le sujet et l’objet le tissu, la chair qui raccommode les
débris d’un seul et même monde. Husserl rêvera encore, pour cela
même, à une science qui constituerait a priori un monde le long de
donations issues plutôt du corps que du moi ou des phénomènes. Mais
sans doute ce corps ne suffit-il pas à nous sauver de la mort de Dieu et
du sens que Nietzsche devait proclamer lorsque le sujet et l’objet se
Penser par-delà l’homme 473

tournent si violemment le dos qu’aucun corps ne pourra en assumer la


suture. Peut-être alors le temps est il venu de saisir que le corps n’est pas
plus une substance, une chair structurée, que ne l’était l’âme au yeux de
Hume. L’analyse que Nietzsche produit du corps comme rapport de
forces déborde d’avance me semble-t-il la tentative phénoménologique
tout autant que l’ontologie Heideggérienne dont le Dasein promettait
pourtant autre chose qu’une intentionnalité humaine.
La modernité est le lieu d’une crise profonde ouverte par Nietzsche
qui résiste à toute tentative de réappropriation d’une conscience
intentionnelle, laquelle, si elle n’est pas innée, toute faite, rêve pourtant
à une forme de constitution possible au travers de l’intersubjectivité mise
en regard d’un monde habitable tout en promettant la chair au motif
d’un assemblage dont nous ne sommes pas certains qu’il tienne debout,
bien trop tendre pour reprendre ici l’expression de Deleuze dans le
dernier chapitre de Qu’est-ce que la philosophie? Si la conscience, avec le
moi en lequel elle s’indure, n’est plus envisageable comme substance
peut-on croire encore aux synthèses d’un corps propre qui soit en
mesure de supporter une véritable constitution réalisant soit disant
l’unité de tous ces fragments d’espaces et de temps que traversent les
faisceaux nombreux du chaos! Mais, il n’est pas impossible nous dirait
d’avance Nietzsche que le corps soit désormais défait, dépourvu
d’organisation, congénitalement impropre à toute incarnation unitaire.
Et ce pronostic est entièrement visible dans la manière dont aujourd’hui
les corps s’échangent, se greffent les uns aux autres en se rejetant ou
s’acceptant suivant une chimie très délicate.
Que dire, en effet, d’un corps qui, au lieu de donner sens au monde,
se présente lui-même comme le produit de multiples dons, de multiples
sensations? Que dire d’un corps qui feraient de ses visées, en même
temps que de ses intentions, le résultat de greffes, de montages entre
machines, électrodes et cellules nerveuses? Que dire encore de l’unité
du monde, que croire de la compréhension incompréhensible d’un
«univers» qui se fait de plus en plus soudainement «plurivers» quand c’est
le cœur d’un autre qui bat en nos poitrines, à l’instar de cette ribambelle
d’intrus qui s’agitent en nos viscères: sondes minérales et médicaments
animaux pour nos veines siliconées en relation avec un cerveau qui
reçoit tout du dehors…
L’unité du corps propre, les donations phénoménologiques n’ont
aucune idée des dons d’organes – ce don extrême que Jean-Luc Nancy
thématise comme Intrus – quand l’œil qui nous sert à voir provient d’un
autre et que son rythme cardiaque continue de battre en nous, laissant se
474 Jean-Clet Martin

déployer des empreintes, des inscriptions, des traces de mondes qui


n’ont plus rien à voir avec l’unité du corps naturellement envisagé
comme une forme d’a priori. Ce que la greffe nous apprend, c’est que
peut être tout organe est déjà malséant, déplacé, même quand il est
naturellement posé là, en relation avec l’unité organique que vient
forcément menacer son intrusion. Tout organe est en situation de se
rendre incompréhensible et comme étranger à l’organisme, de devenir
gênant, de réaliser un inconvénient majeur Le cœur le plus propre
possède sans doute à jamais son étrangeté pour l’oreille qui, la nuit,
l’entend battre sous la peau, réveillée par lui comme par un autre.
Un organe se place en situation d’intrus dès qu’il se modifie,
soupçonné par l’ensemble de l’organisme dès qu’il en déplace les repères
et manifeste des compétences nouvelles. L’ensemble de nos organes
n’impose une synergie qu’au titre d’un équilibre fragile où menacent
sans cesse le rejet et le bricolage d’une unité illusoire, au point que le mal
gronde très souvent de l’intérieur, suivant une guerre intestine faisant de
nous des mutants. Chose que la science fiction dit aujourd’hui avec une
virulence que ne connaissaient guère les fictions littéraires du passé,
pourtant prolifiques en monstruosités.
Le corps est forcément déjà en lui-même le lieu d’une multiplicité
de processus qui, loin de réaliser l’unité du monde, s’avère finalement
engendrer une impropriété essentielle. Impossible de le considérer
comme une substance. Ce n’est pas seulement le moi, rendu problé-
matique sous la critique radicale de l’empirisme, qui défaille à maîtriser
ses propres associations, c’est le corps qui se démembre en une place sans
cesse déplacée, incapable de réaliser la synthèse d’une chair, d’une
carnation d’univers. «Plurivers» est le corps autant que le monde qui le
borde dans l’enchâssement de ses nombreux bords, côte à côte
détournés, contournés, exemplifiés sans origine assignable. Comprendre
un tel corps, cela ne se fera plus sous l’autorité d’une sagesse issue de la
seule conscience et de la seule maîtrise de soi. Cette compréhension
passera bien plus par une intuition de l’étrange, de l’étrangeté qui habite
chaque geste et le porte à s’associer avec des machines, des robots et des
monstres.
Le temps du monde, et de son corps, touche ainsi à sa fin, entraînant
les idées et les choses en un mélange pluriversel (nous créons ici ce mot
pour marquer notre opposition aux processus jugés universels), une
fusion inconvenante en laquelle rien ne convient à sa place, tout étant
toujours déplacé, différé, mis en retard par rapport à sa fonction
organique ou même logique, selon cette dissémination intégrale que
Penser par-delà l’homme 475

Derrida avait pensée sous le nom de diffrance et que Deleuze appelle une
multiplicit. Les choses, les corps, pas moins que les âmes auront donc
cessé de convenir aux modèles de la rationalité moderne, à ses
démonstrations mécaniques et à son anatomie sans faille. Le règne des
substances touche à son terme au profit des flux et des turbulences, des
interférences et des ensembles statistiques d’événements qui font bien
l’homme, mais un homme inconvenant, très peu saillant à la définition
qu’on attendait de lui. En cela il n’y nulle désolation à faire valoir et nul
regret à formuler. Les corps et les pensées se groupent désormais sous des
rythmes et périodes qui concernent précisément ce que Nietzsche
attendait de l’éternel retour.
Ce brassage créateur de période est peut être illustré au mieux par un
dessin de 1922, réalisé par Paul Klee, intitulé La machine  gazouiller. Il
s’agit en fait d’un engin hautement inutile, dont le résultat paraît nul par
rapport à l’économie des moyens mis en place. Mais, en réalité,
lorsqu’on s’y arrête un peu plus, l’objet inconsommable que cet engin
nous propose possède une toute autre destination. La machine à
gazouiller ressemble, de fait, à une espèce de tournebroche dont l’axe est
extrêmement perturbé, courbé par endroits, avec des oiseaux placés aux
différents faîtes de cette barre tordue. Une petite manivelle permet de la
faire tourner, leur arrachant des cris, à hauteur de la secousse éprouvée,
plus intenses lorsque l’animal se trouve au sommet de la courbe dessinée
par la ligne en mouvement où ils se disposent de façon irrégulière. Le
mouvement de la manivelle induit donc un retour, une répétition des
gazouillis qu’on qualifiera de ritournelle, ritornello signifiant précisément
le petit retour périodique d’un chant, d’un refrain. Mais, cette répétition
n’est pas tout à fait envisageable sur le mode de la rime calculée. Il s’agit
plutôt d’un rythme qui se décale en fonction de la vitesse des tours
impulsés au manche de cette étrange machine. La rime calculée, l’ode
n’est pas ce qui s’impose à cette ritournelle. On dirait davantage que son
retour sera périodique, constituant ainsi une période très spéciale. Péri/
ode veut dire que l’odyssée, le grand retour revenant exactement au
point de départ, est impensable. La période n’est pas le rythme circulaire
où l’on retrouverait sur la ligne d’arrivée les conditions initiales comme
Ulysse l’expérimente d’ailleurs par son retour en Ithaque, devenu
méconnaissable. La machine à gazouiller, comme nos corps, constitue
un éternel retour qui trace la spirale d’une période mouvante. Péri/ode
signifie ainsi un rythme qui, au lieu de rimer parfaitement le long de
l’ode, se faussera à la périphérie. Peut-être le Bolro de Ravel, timide
d’abord sous l’avancée d’une petite flûte inaudible, traduit-il au mieux
476 Jean-Clet Martin

ce mouvement d’enrichissement de la répétition capable d’envahir


l’univers, de croître par les bords? Le périodique se confond alors avec le
périphérique, avec le péril de ce qui advient à la limite, sur les bords
centrifuges où les oiseaux, sans cesse, risquent de décrocher et se mettent
à piaffer selon une intensité nouvelle. Et le priphérique de la péri/ode,
charrie avec lui le pril d’une expérience comprise comme ex-periri,
mouvement de traversée incertaine qui suppose un décalage ou un
piratage (pirats) de l’ode. Cela dit, dans cette turbulence de l’expé-
rience, une allure durable se met pourtant en place à même cette
frontière périodique que Klee rejoue sous un autre tableau qui porte
finalement le titre d’Equilibre chancelant.
Equilibre chancelant est un jeu de construction, une disposition de
pavés récurrents qui s’emboîtent selon un certain retour, une répétition
poussée jusqu’au point de son effondrement. Cela se laisse aborder un
peu comme un montage de morceaux de sucre, lorsque, enfant, on
s’amuse à les empiler en frisant l’écroulement de la structure obtenue.
On commencera par poser un bloc sucré sur un plan, le surmontant
d’un second, légèrement décalé vers la droite. Pour compenser cette
irrégularité, il faudra lui superposer un troisième, cette fois-ci déplacé
vers la gauche, compensant par ce nouveau décalage le déséquilibre
produit sous l’effet du premier. Et on répétera cette structure le plus loin
possible, montant de plus en plus haut, jusqu’à toucher aux limites de la
période que Klee symbolise par d’épaisses verticales noires en exprimant
ainsi la poussée vers le bas et l’instabilité générée vers le haut. Equilibre
chancelant découvre qu’un ordre n’a de stabilité que sur une période
définie, entre des limites qui s’imposent à l’ensemble du dispositif
devenu chancelant. Ainsi en va-t-il du sens du monde que Nietzsche
confie au moulinet de l’éternel retour, au constructivisme du contem-
porain dont la forme est décidemment placée par delà l’humain et le
trop humain. Mais dans la montée de cette période instable vers la joie,
l’éternité n’est pas hors de portée de nos vies, de ces vies que Nietzsche
avait le souhait de confier à la puissance.
Zu den Autorinnen und Autoren
Christian Benne, geb. 1972; Associate Professor für Germanistik und
Komparatistik am Institut für Literatur, Kultur und Medien der Süd-
dänischen Universität in Odense; deutscher Honorarkonsul im Amts-
bezirk Fünen; Germanic Editor von Orbis Litterarum (Oxford); Publi-
kationen u. a. Nietzsche und die historische-kritische Philologie, Berlin
und New York 2005; (Mithrsg.) „… andersteils sich in fremden Gegenden
umschauend“: Schweizerische und dnische Annherungen an Robert Walser,
Kopenhagen 2007; (Mithrsg.) Richard Hçnigswald: Die Skepsis in Philo-
sophie und Wissenschaft, Göttingen 2008; Aufsätze zur deutschen und
europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, zur Begriffs- und
Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Autobiographieforschung; zahl-
reiche Lemmata in der Brockhaus-Enzyklopädie.

Georg W. Bertram, geb. 1967; W2-Professor für Philosophie (Schwer-


punkt: Philosophische Ästhetik) auf Zeit an der Freien Universität
Berlin; Publikationen: Philosophie des Sturm und Drang. Eine Konstitution
der Moderne, München 2000; Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen
einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie, München 2002; Kunst.
Eine philosophische Einfhrung, Stuttgart 2005, Turin 2008; Die Sprache
und das Ganze. Entwurf einer antireduktionistischen Sprachphilosophie,
Weilerswist 2006; Aufsätze zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie,
Philosophie des Geistes, Sozialontologie und Ästhetik, zu Herder,
Hegel, Heidegger und zur analytischen, hermeneutischen und neo-
strukturalistisch-phänomenologischen Gegenwartsphilosophie.

Christine Blttler; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Phi-


losophie der Universität Potsdam, Leiterin der Projektgruppe „Vitalität
– élan vital – Lebendigkeit“ am Zentrum für Literatur- und Kultur-
forschung Berlin; Publikationen: Kunst der Serie. Serienmuster in den
Knsten (Hrsg.), Berlin 2009; „Social Dissatisfaction and Social Chan-
ge“, in: Cambridge History of Nineteenth Century Philosophy, hg. v. Allen
Wood, Cambridge und New York (im Erscheinen); Aufsätze zu Kul-
tur- und Sozialphilosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts, u. a. zu Kant,
Fourier, Démar, Nietzsche, Benjamin.
478 Zu den Autorinnen und Autoren

Ivan Broisson, geb. 1981; Doktor der Philosophie und Forschungsbe-


auftragter an der Universität Namur (Belgien). Er ist Autor von
Nietzsche et la vie spirituelle, Paris 2003, sowie mehrerer Aufsätze zum
Denken Nietzsches.

Thomas Brobjer; unterrichtet am Departement für Wissenschafts- und


Ideengeschichte der Universität Uppsala. Zahlreiche Publikationen zu
verschiedenen Aspekten von Nietzsches Denken, insbesondere zu seiner
Bibliothek und seinen Lektüren, zuletzt zwei einschlägige Bücher:
Nietzsche’s Philosophical Context: An Intellectual Biography, Urbana und
Chicago: University of Illinois Press 2008, und Nietzsche and the ,En-
glish‘: The Influence of British and American Thinking on his Philosophy,
Amherst, New York: Prometheus Books 2008.

Ernani Chaves, geb. 1957; Professor für Philosophie am Institut für


Philosophie und Geisteswissenschaften der Bundesuniversität von Pará
(Brasilien); Publikationen: Foucault und die Psychoanalyse, Rio de Janeiro
1988; Studien ber Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin, Belém 2003;
zahlreiche Aufsätze zu Nietzsche in Brasilien, Deutschland und Frank-
reich; Publikationen zu Foucault, Walter Benjamin, Adorno und Freud.

Knut Ebeling; Professor für Medientheorie an der Kunsthochschule


Berlin-Weißensee und Lecturer an der Stanford University Berlin.
Zahlreiche Publikationen zu zeitgenössischer Kunst, Theorie und Äs-
thetik, zuletzt: Die Aktualitt des Archologischen – in Wissenschaft, Medien
und Knsten (Mithg.), Frankfurt am Main 2004; Das Archiv brennt (ge-
meinsam mit Georges Didi-Huberman), Berlin 2007; Stadien. Eine
knstlerisch-wissenschaftliche Raumforschung (gemeinsam mit Kai Schie-
menz); Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und
Knsten (gemeinsam mit Stephan Günzel), Berlin 2009.

Jean-Marc Hmion, geb. 1957; Philosoph, Autor und Herausgeber; Pu-


blikationen u. a.: Alliances et Mobilisation – La Philosophie hglienne du
mariage, Presse Universitaires du Septentrion 1997; „Absolution,
Traduction, Shekhina“, in: L’Autre: cration et mdiation, Berne 2008.

Tilo Klaiber, geb. 1958; Lehrer am Wilhelmsgymnasium Stuttgart-


Degerloch, Fachreferent Philosophie/Ethik am Regierungspräsidium
Stuttgart, Dozent für Fachdidaktik Philosophie/Ethik an der Universität
Stuttgart; Publikationen: Ce triste Systme. Anthropologischer Entwurf und
Zu den Autorinnen und Autoren 479

poetische Suche in Rousseaus autobiographischen Schriften, Tübingen 2004;


Aufsätze zu Rousseau, Nietzsche, John Stuart Mill, Kant.

Gnter Krause; Professor (MC) am Germanistischen Institut der Uni-


versität Nantes/Frankreich; Publikationen: Zur Originalitt des literari-
schen Signifikanten, Frankfurt am Main 1985; Literalitt und Kçrperlichkeit/
Littralit et corporalit, Tübingen 1997; (Hrsg.) L’Autre: cration et
mdiation, Berne 2008; (Mithrsg.) Heiner Mller et Alexander Kluge –
arpenteurs de ruines, Paris 2004; zahlreiche Aufsätze zu E. T. A. Hoff-
mann, Adam Müller, J. G. Fichte, Georg Trakl, Heiner Müller, Peter
Handke, Rolf Dieter Brinkmann, Werner Schwab, Friedrich Nietz-
sche, „Europäische Identität“, Pop-Kultur, zum Theater (Der Tod auf
der Bühne, Die Sprache auf der Bühne, Theater und Politik) und zur
Oper (Kafka/von Einem, Lenz/Gurlitt/Zimmermann, Büchner/Gur-
litt/Berg, Strauss/Hofmannsthal); Theater-Inszenierungen in Nantes,
La Roche sur Yon, Angers, Paris, Toulouse, Rostock, Düsseldorf,
Saarbrücken, Graz, Veszprém/Ungarn und Cluj/Rumänien.

Philippe Lepers, geb. 1959; Lektor an der Katholischen Universität


Leuven (Belgien); Studium der Religionswissenschaften und Philoso-
phie an der Universität Leuven; Mitarbeiter des Nietzsche-Wçrterbuchs an
der Universität Nimwegen; Publikationen: Genie vs. God. Religie en
Christendom in het vroege werk van Friedrich Nietzsche in de context van zijn
,Kosmodicee‘, Maastricht 2004; Publikationen zu Nietzsche und Bau-
drillard.

Anatoly Livry, geb. 1972; Professor für französische Literatur an der


Lomonossov-Universität Moskau, Forscher am Zentrum für Verglei-
chende Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Paris
IV – Sorbonne; Publikationen: La Mditerrane de Nietzsche dans l’œuvre
de Nabokov, Slavica Occitania, Toulouse 2002; Andr Gide et „le socialisme
ternellement fminin“, Slavic Almanach, Pretoria 2002; L’avenir de l’homme
socratique chez Tourgueniev, Bulletin Guillaume Bud, l’Association d’Hell-
nistes et de Latinistes franÅais, Paris 2003; Nabokov le nietzschen, Aletheia,
Saint-Pétersbourg 2005; Chants des soldats des Tsars, livret et traductions,
France-Productions, Paris 2008; Nietzsche und Nabokov und ihre dionysischen
Wurzeln, Der Europer, Basel 2008; Tête d’Or et Hlios Roi, la rupture du
Cercle de l’Eternel Retour, Paris 2008.
480 Zu den Autorinnen und Autoren

Catherine Malabou, geb. 1959; Professorin (MC) für Philosophie an der


Universität Paris Nanterre, Visiting Professor an der University at
Buffalo (New York); Publikationen: L’Avenir de Hegel. Plasticit, tem-
poralit, dialectique, Paris 1996; mit Jacques Derrida: La Contre alle, La
Quinzaine litttraire, Paris 1999; Le Change Heidegger, Paris 2004; Que
faire de notre cerveau, Paris 2004, deutsche Übersetzung unter dem Titel:
Was tun mit unserem Gehirn?, Berlin 2006; La plasticit au soir de l’criture,
Paris 2005; Les Nouveaux Blesss, Paris 2007; Ontologie de l’accident, Paris
2008.

Jean-Clet Martin; Philosoph, Schriftsteller, Literaturkritiker; Publika-


tionen: Variations. La philosophie de Gilles Deleuze, Paris 1993; Borges.
Une biographie de l’ternit, Paris 2006, Une intrigue criminelle de la philo-
sophie – Lire la „Phnomnologie de l’Esprit“ de Hegel, Paris 2009; La
chambre, Paris 2009 (Roman).

Michael Platt; Professor für Politik, Literatur und Philosophie am George


Wythe College (Cedar City, Utah, United States); Humboldt-Stipen-
diat, Aufenthalte an der Universität Heidelberg (1982 – 83 bei Hans-
Georg Gadamer) und an der Universität Greifswald; Publikationen:
Rome and Romans According to Shakespeare, Lanham 1983; Aufsätze und
Beiträge zu Nietzsche u. a. in Nietzsche-Studien.

Clemens Pornschlegel; Professor für Neuere Deutsche Literatur an der


LMU München; Lehrtätigkeit an den Universitäten Tours, Montréal,
Besançon; Publikationen (u. a.): Penser l’Allemagne. Littrature et politique
aux XIXe et XXe sicles, Paris 2009; zahlreiche Aufsätze zu Fontane,
Büchner, Goethe, Brecht, Hofmannsthal, Heine.

Renate Reschke, geb. 1944; Professorin für die „Geschichte des ästheti-
schen Denkens“ am Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu
Berlin; Vorstandsmitglied der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft; stellv.
Direktorin der Friedrich-Nietzsche-Stiftung; Publikationen: Denkum-
brche mit Nietzsche. Zur anspornenden Verachtung der Zeit, Berlin 2000;
Zeitenwende – Wertewende (Hrsg.), Berlin 2000; sthetik. Ephemeres und
Historisches (Hrsg.), Hamburg 2002; Nietzsche – Radikalaufklrer oder
radikaler Gegenaufklrer? (Hrsg.), Berlin 2004; Aufsätze zu Nietzsche,
Winckelmann, Hölderlin, Hegel, zur Antikerezeption, Kulturkritik und
allgemeinen Ästhetik.
Zu den Autorinnen und Autoren 481

Marc Rçlli; Vertretungsprofessur für Theoretische Philosophie an der


TU Darmstadt 2009. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der philo-
sophischen Anthropologie, französische Philosophie des 20. Jahrhun-
derts, Wissenschaftstheorie und -geschichte der Biologie und Eugenik,
Politische Philosophie der Moderne, Phänomenologie und Pragmatis-
mus. Veröffentlichungen u. a.: Gilles Deleuze. Philosophie des transzen-
dentalen Empirismus, Wien 2003; (Hrsg.) Ereignis auf Franzçsisch, Mün-
chen 2004; (Mithrsg.) Heinrich Heine und die Philosophie. Wien 2007.

Marc Sagnol, geb. 1956, Germanist, Philosoph, Schriftsteller, zur Zeit


Kulturattaché an der französischen Botschaft in Moskau. War 2000 bis
2004 Gastwissenschaftler an der Universität Potsdam, 2004 bis 2007
französischer Kulturbeauftragter in Sachsen-Anhalt. Zahlreiche Publi-
kationen über Benjamin, Simmel, Foucault, Celan, Bruno Schulz sowie
literarische Reiseberichte über Orte in Mittel- und Osteuropa (Böh-
men, Galizien, Wolhynien, Bukowina). Wichtigste Buchveröffentli-
chung: Tragique et tristesse. Walter Benjamin, archologue de la modernit,
Paris 2003. Letzte Veröffentlichung auf Deutsch: „Leopold von Sacher-
Masochs Blick auf das Judentum in Galizien“, in Jean-Marie Valentin
und Jean-François Candoni (Hrsg.), Akten des XI. Internationalen Ger-
manistenkongresses Paris 2005, „Germanistik im Konflikt der Kulturen“,
Bern 2007, Bd. 12, S. 295 – 302.

Florian Schneider, geb. 1975; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut


für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-
chen; Publikationen: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der
deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2004; Aufsätze
zu Freud, Lacan, Nietzsche und zur Mediengeschichte des ,deutschen
Waldes‘; Artikel „Idylle“, in: Metzler Literaturlexikon, Stuttgart und
Weimar 2007 (3., völlig neu bearbeitete Auflage).

Angelika Schober, geb. 1953; ordentliche Professorin am Deutschen In-


stitut der Universität Limoges; Publikationen: Ewige Wiederkehr des
Gleichen? 110 Jahre franzçsische Netzscherezeption/ Eternel retour du mÞme?
Cent-dix ans de rception franÅaise de Nietzsche, Presses Universitaires de
Limoges 2000; (Hsrg.) Le christianisme dans les pays de langue allemande.
Enjeux et dfis, Pulim 1997; zahlreiche Aufsätze und Beiträge zu Sam-
melbänden in Frankreich, Deutschland, Ägypten, Belgien, Großbri-
tannien zu Nietzsche, Goethe, Max Weber, Feuchtwanger, Hork-
482 Zu den Autorinnen und Autoren

heimer/Adorno, Raoul Hausmann, Karl Kraus, Karikatur, Diderot,


d’Alembert.

Andreas Spohn, geb. 1972; Lacanianische Psychoanalyse und Philoso-


phische Praxis, Deutsch-als-Fremdsprache-Trainer; Leitung der
Deutsch-Japanischen Community Düsseldorf; Publikationen: „Zur
Herr-Knecht-Dialektik im japanischen Mythos“ ( jap.), Tokyo-Waseda
2001; „Die Gewalt des Anderen“, in: Christian Kupke Hg.): Lvinas.
Ethik im Kontext, Berlin 2005; Doktorarbeit zur Gedankenvaterschaft
bei Nietzsche und Lacan.

Martin Stingelin, geb. 1963 in Binningen (Schweiz); Ordinarius für


Neuere deutsche Literatur an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der
Technischen Universität Dortmund; Hrsg. der IX. Abteilung der Kri-
tischen Gesamtausgabe der Werke von Friedrich Nietzsche (zusammen mit
Marie-Luise Haase), „Der handschriftliche Nachlaß ab Frühjahr 1885 in
differenzierter Transkription“; Publikationen: „Unsere ganze Philosophie
ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Re-
zeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer
Kritik (Genealogie), München 1996; Das Netzwerk von Deleuze. Imma-
nenz im Internet und auf Video, Berlin 2000; Aufsätze zur Literatur-
theorie, zur Literatur- im Verhältnis zur Rechts- und Psychiatriege-
schichte, zu Dürrenmatt, Freud, Glauser, Goethe, Kraus, Laederach,
Lichtenberg, Nietzsche, Schreber, Wölfli u. a.; Übersetzungen aus dem
Englischen (Salman Rushdie, Thomas Pynchon) und Französischen
(Mikkel Borch-Jacobsen, Georges Didi-Huberman, Michel Foucault).

Slaven Waelti, geb. 1976; seit 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Institut d’tudes franÅaises et francophones der Universität Basel; For-
schungsaufenthalt in Paris 2007, Forschungsaufenthalt in Berlin 2008;
Publikationen „Virgile moderne et inactuel: la traduction de l’Énéide
par Pierre Klossowski“, in: Creliana (no 6) 2006; „Nietzsche/Klossow-
ski: Pour une sémiotique pulsionnelle“, in: Zeichen setzen – Konvention,
Kreativitt, Interpretation. Tagungsband zum 24. Nachwuchskolloquium
der Romanistik 2008.

Isabelle Wienand, geb. 1970; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am De-


partement der Philosophie der Universität Fribourg (Schweiz) und der
Radboud Universität Nimwegen (Niederlande); Mitarbeiterin am
Nietzsche-Wçrterbuch, Berlin 2004 ff.; Publikationen: Significations de la
Zu den Autorinnen und Autoren 483

Mort de Dieu chez Nietzsche d’Humain, trop humain Ainsi parlait Za-
rathoustra, Bern 2006; (Hrsg.) Neue Beitrge zu Nietzsches Moral-, Poli-
tik-, und Kulturphilosophie, Fribourg 2009; Aufsätze im Bereich der
Moralphilosophie (insbes. der Philosophie des Glücks), zu Nietzsche,
Descartes, und Spinoza.

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