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ALDO VENTURELLI
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„ Veniwhselt mich vor allem nicht!"· Heidegger und Nietzsche, hrsg. v. Hans-Helmuth Gander (Schriften-
reihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Band 3, Frankfurt/Main, Vittorio-Klostermann) 1994.
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kens heraus, die auf den ersten Blick so weit voneinander entfernt scheinen:
Riedel erinnert beispielsweise - mit einem Zitat von Gadamer - daran, daß der
wahre Vorbereiter def Heideggerschen Stellung der Seinsfrage eher Nietzsche
als Dilthey oder Husserl gewesen ist Figal bemerkt scharfsinnig, wie Nietzsche
und Heidegger sich auf dem gemeinsamen Boden der hermeneutischen Rede
vom Göttlichen begegnet sind und beide den Versuch unternommen haben, in
einer weder mythischen noch spekulativ-theologischen Weise einen Gott zu den-
ken. Pascal David stellt in einer stringenten Analyse zunächst die unterschiedli-
chen Auffassungen von der Metaphysik bei Heidegger und Nietzsche heraus,
betont dann aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Philosophen.
Fast formelhaft faßt er einige seiner Betrachtungen zusammen: „Heidegger kann
Nietzsche lesen und sehen, weil er die Geschichte der Philosophie als ein Gan-
zes sieht, und er sieht die Geschichte der Philosophie als ein Ganzes, weil er
Nietzsche gelesen hat" (vgl. S. 118).
Die Nähe der beiden Grunderfahrungen des Denkens muß vor allem zu
einer historiographischen Vertiefung der Entstehung und Entwicklung des Ver-
hältnisses fuhren, das Heidegger zu Nietzsches Werk hatte. Den bedeutendsten
Beitrag in dieser Hinsicht liefert der umfangreiche und leidenschaftliche Aufsatz
von Wolfgang Müller-Lauter, der die unterschiedliche Auffassung des Nihilismus
bei Nietzsche und Heidegger in ihren verschiedenen Facetten und Verzweigun-
gen rekonstruiert. Besonders wichtig ist zum Zweck einer genaueren histori-
schen Einordnung der Heideggerschen Interpretation die von Müller-Lauter
vorgenommene Analyse des Einflusses, den Ernst Jünger auf die Auffassung
des Philosophen vom „wirklichen Nihilismus" ausgeübt hat. Jüngers Interpreta-
tion der Technik und der totalen Mobilmachung als geschichtliche Ausformun-
gen des Willens zur Macht verdankte Heidegger ein besonderes Verständnis des
Ganzen des Seienden in seiner metaphysischen Spätgestalt. Der Beitrag Müller-
Lauters richtet seine Aufmerksamkeit u. a. auf einen zentralen Punkt von Hei-
deggers Nietzsche-Deutung, nämlich auf das Problem des vermeintlichen Psy-
chologismus oder Biologismus des Philosophen der ,Ewigen Wiederkehr*. Nicht
zuletzt dieses Problem hat Heidegger veranlaßt, konsequent zwischen einem
»historischen* Nietzsche und einem im Sinne seines Ansatzes vor seiner philoso-
phischen Aufgabe stehenden Nietzsche zu unterscheiden. Müller-Lauter macht
deutlich, daß sich in diesem Punkt das große hermeneutische Potential der
neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches erweist, ebenso der
Wert der Quellenforschungen, die diese Ausgabe angeregt hat. Die nahezu voll-
ständige Veröffentlichung des Nietzscheschen Nachlasses in seiner chronologi-
schen Abfolge und die Berücksichtigung der von Nietzsche gelesenen Bücher
erlauben es heute, - fern von den Vertrustungen und Verzerrungen, mit denen
im Laufe der Zeit die Figur Nietzsches überhäuft worden ist - das Spannungs-
feld, die Schwankungen, die graduellen Verschiebungen etc. mit größerer Genau-
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igkeit wieder zu lesen, durch die sich in Nietzsches Denken die Anregungen,
die er aus zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten empfangen hatte, und
die plötzlichen Einfalle, ausgelöst durch seine spezifische philosophische Be-
trachtung der Geschichte der Metaphysik, begegnet sind und sich verdichtet
haben. Gerade um die hermeneutischen Möglichkeiten, die sich durch die neue
kritische Gesamtausgabe und die Quellenforschung eröffnen, in ihrer gesamten
Bedeutung zu erfassen, ist es zugleich äußerst wichtig, die Gefahr zu vermeiden,
in den Biographismus, Psychologismus oder Biologismus zurückzufallen. Im
Gegenteil, solche Potentialitäten müssen zu einem schärferen hermeneutischen
Bewußtsein führen, das nur aus einer ständigen Auseinandersetzung mit der
Heideggerschen Nietzsche-Deutung Nahrung und Lebenskraft für sich gewin-
nen kann. Es ist zwar hier nicht unsere Aufgabe herauszufinden, wie sich diese
neue Situation der Nietzsche-Forschung auf die Interpretation des Philosophen
von Meßkirch niederschlagen kann. Aber man gewinnt den Eindruck, daß sich
im Vergleich zur Situation der Nietzsche-Forschung das Problem hier spiegelver-
kehrt stellt: Die Forschung wird wohl damit beginnen müssen, hinter dem Philo-
sophen Heidegger die Formen jener spezifischen geschichtlichen Bedingtheiten
festzustellen, die dieser immer mit großer Meisterschaft zu verbergen verstanden
hat. Eine solche Bestimmung könnte das phänomenologische Denken dazu
bringen, sich mit erneuertem Interesse das Verhältnis zwischen historischer Zu-
fälligkeit und ihrer Projektion innerhalb der Geschichte der Metaphysik in der
Phase ihrer Vollendung vorzunehmen, das sehr stark als das bestimmende
Thema im Verhältnis Heidegger—Nietzsche auftaucht.
Die Tagung von Meßkirch hat dazu beigetragen, neue, attraktive Wege in
dieser Richtung zu eröffnen. So hat Josef Simon eine scharfsinnige Analyse der
Sprache als einer Weise des In-der-Welt-Seins vorgelegt. Auch dieses Thema
stellt sich bei genauerem Hinsehen letztlich als eine weitere Variante des oben
schon berührten Verhältnisses zwischen Philosophie und Geschichte heraus.
Dieses Verhältnis betrifft tatsächlich direkt „den Status des Philosophen Heidegger
in seiner Differenz^ zu dem individuellen Menschen dieses Namens" (S. 77). Die
Möglichkeiten für einen Philosophen, seine Stimme zu erheben gegenüber allem
„Gerede" und gegenüber aller dem Schema der „Grundbegriffe" der seinsver-
gessenen Metaphysik folgenden Philosophie wird so zu einer Hauptaufgabe der
phänomenologischen Forschung: Simon umreißt deutlich den schmalen Weg,
den Heidegger öffnen wollte in seinem Versuch, die Philosophie vor den Anfang
der Metaphysik zurückzuführen und sie .von der Verschleierung und den Abwei-
chungen zu befreien, die der traditionellen Sprache innewohnen. Er bestimmt
genau die wichtigen Stationen von Kant zu Heidegger über Nietzsche, über die
sich die Reflexion über das Verhältnis von Sein und Sprache entwickelte. Indem
er an Nietzsches Kritik an der Verwurzelung des metaphysischen Denkschemas ·
im grammatischen Bau indoeuropäischer Sprachen erinnert, betont Simon die
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