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BERICHT

ALDO VENTURELLI

NIETZSCHES PHILOSOPHISCHE IDENTITÄT UND


HEIDEGGERS NIETZSCHE-INTERPRETATION

In Band 3 der Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft sind die


Akten der wichtigen Tagung veröffentlicht worden1, die die Gesellschaft im
Oktober 1993 in Meßkirch zum Verhältnis Heidegger-Nietzsche abgehalten hat.
Der Band leistet einen bedeutsamen Beitrag zur Überwindung der stereotypen
Wendungen, mit denen jenes komplexe Verhältnis oft charakterisiert wird, und
regt damit eine nochmalige aufmerksamere Lektüre der langen und stetigen
philosophischen Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsches Werk an, die
sicherlich einen Schnittpunkt in der philosophischen Debatte dieses Jahrhun-
derts darstellt.
In seinem inhaltsreichen Eröffnungsaufsatz analysiert Manfred Riedel diese
Auseinandersetzung aus der Perspektive des ,Agon<- Heideggers Bemühungen
um Nietzsches Denken tragen insofern ,Agone-Charakter, als sie nicht einfach
Polemik sind, sondern ein hermeneutischer Kampf um denkerisches Einver-
ständnis, das über die eigenen Gedanken der beiden Widersacher hinausgeht,
um zu den wahren Ursprüngen der verborgenen Geschichte des Seins zurückzu-
kehren. Auf dieser Ebene zeigt der jAgon* einen fragenden und experimentellen
Charakter, der jenen Gang ins Offene in seiner gesamten Bedeutungsvielfalt
nachzuvollziehen gestattet, die Nietzsches Philosophie und dem postmetaphysi-
schen Denken eigen ist. Die von Riedel herausgestellte hermeneutische Öffnung
kennzeichnet in vortrefflicher Weise auch die verschiedenen in diesem Band
versammelten Beiträge: sie alle tragen entscheidend dazu bei, vorgefaßte Mei-
nungen zu überwinden und neue Horizonte für eine philosophische Hinterfra-
gung des Verhältnisses Heidegger-Nietzsche zu eröffnen.
Mehrmals in diesem Band stellt sich ein unausgesprochenes Bewußtsein für
die unerwartete Nähe der beiden philosophischen Grunderfahrungen des Den-

1
„ Veniwhselt mich vor allem nicht!"· Heidegger und Nietzsche, hrsg. v. Hans-Helmuth Gander (Schriften-
reihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Band 3, Frankfurt/Main, Vittorio-Klostermann) 1994.
Heidegger und Nietzsche 355

kens heraus, die auf den ersten Blick so weit voneinander entfernt scheinen:
Riedel erinnert beispielsweise - mit einem Zitat von Gadamer - daran, daß der
wahre Vorbereiter def Heideggerschen Stellung der Seinsfrage eher Nietzsche
als Dilthey oder Husserl gewesen ist Figal bemerkt scharfsinnig, wie Nietzsche
und Heidegger sich auf dem gemeinsamen Boden der hermeneutischen Rede
vom Göttlichen begegnet sind und beide den Versuch unternommen haben, in
einer weder mythischen noch spekulativ-theologischen Weise einen Gott zu den-
ken. Pascal David stellt in einer stringenten Analyse zunächst die unterschiedli-
chen Auffassungen von der Metaphysik bei Heidegger und Nietzsche heraus,
betont dann aber auch die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Philosophen.
Fast formelhaft faßt er einige seiner Betrachtungen zusammen: „Heidegger kann
Nietzsche lesen und sehen, weil er die Geschichte der Philosophie als ein Gan-
zes sieht, und er sieht die Geschichte der Philosophie als ein Ganzes, weil er
Nietzsche gelesen hat" (vgl. S. 118).
Die Nähe der beiden Grunderfahrungen des Denkens muß vor allem zu
einer historiographischen Vertiefung der Entstehung und Entwicklung des Ver-
hältnisses fuhren, das Heidegger zu Nietzsches Werk hatte. Den bedeutendsten
Beitrag in dieser Hinsicht liefert der umfangreiche und leidenschaftliche Aufsatz
von Wolfgang Müller-Lauter, der die unterschiedliche Auffassung des Nihilismus
bei Nietzsche und Heidegger in ihren verschiedenen Facetten und Verzweigun-
gen rekonstruiert. Besonders wichtig ist zum Zweck einer genaueren histori-
schen Einordnung der Heideggerschen Interpretation die von Müller-Lauter
vorgenommene Analyse des Einflusses, den Ernst Jünger auf die Auffassung
des Philosophen vom „wirklichen Nihilismus" ausgeübt hat. Jüngers Interpreta-
tion der Technik und der totalen Mobilmachung als geschichtliche Ausformun-
gen des Willens zur Macht verdankte Heidegger ein besonderes Verständnis des
Ganzen des Seienden in seiner metaphysischen Spätgestalt. Der Beitrag Müller-
Lauters richtet seine Aufmerksamkeit u. a. auf einen zentralen Punkt von Hei-
deggers Nietzsche-Deutung, nämlich auf das Problem des vermeintlichen Psy-
chologismus oder Biologismus des Philosophen der ,Ewigen Wiederkehr*. Nicht
zuletzt dieses Problem hat Heidegger veranlaßt, konsequent zwischen einem
»historischen* Nietzsche und einem im Sinne seines Ansatzes vor seiner philoso-
phischen Aufgabe stehenden Nietzsche zu unterscheiden. Müller-Lauter macht
deutlich, daß sich in diesem Punkt das große hermeneutische Potential der
neuen Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches erweist, ebenso der
Wert der Quellenforschungen, die diese Ausgabe angeregt hat. Die nahezu voll-
ständige Veröffentlichung des Nietzscheschen Nachlasses in seiner chronologi-
schen Abfolge und die Berücksichtigung der von Nietzsche gelesenen Bücher
erlauben es heute, - fern von den Vertrustungen und Verzerrungen, mit denen
im Laufe der Zeit die Figur Nietzsches überhäuft worden ist - das Spannungs-
feld, die Schwankungen, die graduellen Verschiebungen etc. mit größerer Genau-
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igkeit wieder zu lesen, durch die sich in Nietzsches Denken die Anregungen,
die er aus zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatten empfangen hatte, und
die plötzlichen Einfalle, ausgelöst durch seine spezifische philosophische Be-
trachtung der Geschichte der Metaphysik, begegnet sind und sich verdichtet
haben. Gerade um die hermeneutischen Möglichkeiten, die sich durch die neue
kritische Gesamtausgabe und die Quellenforschung eröffnen, in ihrer gesamten
Bedeutung zu erfassen, ist es zugleich äußerst wichtig, die Gefahr zu vermeiden,
in den Biographismus, Psychologismus oder Biologismus zurückzufallen. Im
Gegenteil, solche Potentialitäten müssen zu einem schärferen hermeneutischen
Bewußtsein führen, das nur aus einer ständigen Auseinandersetzung mit der
Heideggerschen Nietzsche-Deutung Nahrung und Lebenskraft für sich gewin-
nen kann. Es ist zwar hier nicht unsere Aufgabe herauszufinden, wie sich diese
neue Situation der Nietzsche-Forschung auf die Interpretation des Philosophen
von Meßkirch niederschlagen kann. Aber man gewinnt den Eindruck, daß sich
im Vergleich zur Situation der Nietzsche-Forschung das Problem hier spiegelver-
kehrt stellt: Die Forschung wird wohl damit beginnen müssen, hinter dem Philo-
sophen Heidegger die Formen jener spezifischen geschichtlichen Bedingtheiten
festzustellen, die dieser immer mit großer Meisterschaft zu verbergen verstanden
hat. Eine solche Bestimmung könnte das phänomenologische Denken dazu
bringen, sich mit erneuertem Interesse das Verhältnis zwischen historischer Zu-
fälligkeit und ihrer Projektion innerhalb der Geschichte der Metaphysik in der
Phase ihrer Vollendung vorzunehmen, das sehr stark als das bestimmende
Thema im Verhältnis Heidegger—Nietzsche auftaucht.
Die Tagung von Meßkirch hat dazu beigetragen, neue, attraktive Wege in
dieser Richtung zu eröffnen. So hat Josef Simon eine scharfsinnige Analyse der
Sprache als einer Weise des In-der-Welt-Seins vorgelegt. Auch dieses Thema
stellt sich bei genauerem Hinsehen letztlich als eine weitere Variante des oben
schon berührten Verhältnisses zwischen Philosophie und Geschichte heraus.
Dieses Verhältnis betrifft tatsächlich direkt „den Status des Philosophen Heidegger
in seiner Differenz^ zu dem individuellen Menschen dieses Namens" (S. 77). Die
Möglichkeiten für einen Philosophen, seine Stimme zu erheben gegenüber allem
„Gerede" und gegenüber aller dem Schema der „Grundbegriffe" der seinsver-
gessenen Metaphysik folgenden Philosophie wird so zu einer Hauptaufgabe der
phänomenologischen Forschung: Simon umreißt deutlich den schmalen Weg,
den Heidegger öffnen wollte in seinem Versuch, die Philosophie vor den Anfang
der Metaphysik zurückzuführen und sie .von der Verschleierung und den Abwei-
chungen zu befreien, die der traditionellen Sprache innewohnen. Er bestimmt
genau die wichtigen Stationen von Kant zu Heidegger über Nietzsche, über die
sich die Reflexion über das Verhältnis von Sein und Sprache entwickelte. Indem
er an Nietzsches Kritik an der Verwurzelung des metaphysischen Denkschemas ·
im grammatischen Bau indoeuropäischer Sprachen erinnert, betont Simon die
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Unverwechselbarkeit und Unaustauschbarkeit von Nietzsches Philosophie, seine


stetige Auseinandersetzung „gegen einen Begriff vom Denken, für den seine
sprachliche Ausformung und das , -der-Welt-Sein4 des Denkenden gleichgültig
seien" (vgl. S. 89).
Der schwierige und schmale Weg, den die Philosophie zurücklegen muß,
um die eigene Stimme über die Zufälligkeit der Geschichte und des alltäglichen
Geredes zu erheben, überschneidet sich notwendigerweise mit ihrem Wahrheits-
anspruch. In ihrem Beitrag Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger behan-
delt Ingeborg Schüssler stringent und bündig die Art und Weise, in der die
beiden Philosophen als Grunderfahrung ihres Denkens das Problem des
Schwunds der Wahrheit in der modernen Welt behandelt haben. Von Nietzsches
Entdeckung des irrtümlichen Charakters der platonischen Ideen-Metaphysik ge-
langt man so zur Bestimmung der Offenheit des Seins bei Heidegger. Die Wahr-
heit als Richtigkeit wird dann durch ein Wahrheitswesen ersetzt, in dem die
wahrheitslose Richtigkeit von der Wahrheit des Seins selbst her gedacht wird;
als ein wiederholtes Spiel von Verschleierung und Enthüllung wkd die Lichtung
des Seins als Lichtung des Geheimnisses des Seins so das vorherrschende Kennzeichen
dieser neuen Auffassung von Wahrheit.
Die anderen Aufsätze in dem wichtigen Band der Heidegger-Gesellschaft -
von Raphael Capurro, Parvis Emad und Mihaly Waida, zusammen mit der sorg-
fältigen Einleitung des Herausgebers Hans-Helmuth Gander - bereichern mit
weiteren Anregungen dieses „Fest des Denkens", das einen neuen Abschnitt
der unerschöpflichen Reflexion über die komplexen Themen zum Verhältnis
Heidegger—Nietzsche eröffnen wkd.

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