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Anfang Juni 1887 verschlug es Nietzsche für einige Tage in ein einsames
Hochtal des Graubündener Landes. Warum, das wissen wir nicht zu sagen. Viel-
leicht wußte es Nietzsche selbst nicht Schwankte er doch längere Zeit, wo er
den Sommer verbringen, ob er sich in diesem Tal niederlassen oder nach Sils-
Maria zurückkehren sollte, zum Geburtsort seiner Zarat/justra-Diditang, der ihm
durch anschwellende Touristenströme verleidet war.
„Lenzerhayd", so steht es im Vertrag, womit sich im 15. Jahrhundert Gebirgs-
bauern der Gegend um Vaz vom Churer Bischof freikauften: ein karger Land-
strich, den sie als Senner während der Sommermonate nutzten, ohne in dieser
Einöde seßhaft zu werden, der zur Besiedlung die Naturgrundlagen dauerhaften
Wohnens fehlten. Seit 1835 war „Lenzer Haide" der Name einer Posthalterei an
der damals befestigten Straße Chur-Tiefenkastel-Julierpaß ins Oberengadin. Was
Nietzsche notiert haben mag, als er 1875 seine Sommerferien in Bergün unweit
des Albulapasses verbrachte, dessen Zufahrt von dieser Straße abzweigt. Im
gleichen Jahr wandelten findige Bauernköpfe auf der Heide eine Sennerei zur
Pension um und machten daraus wenig später ein „Kurhaus".
Davon mag Nietzsche gehört haben, als er vom 8. Mai 1887 an fast 4 Wo-
chen lang in Chur weilte, festgehalten durch die reichhaltige Kantonsbibliothek.
Sie enthielt „dies und jenes", was ihn belehrte: Bücher über den neuzeitlichen
Pantheismus und seine Wirkung auf die idealistische Philosophie zwischen Leib-
niz und Hegel, das „vielberühmte Buch von Buckle „Geschichte der Civilisation
in England"",1 ein Hauptwerk des westeuropäischen Positivismus, außerdem
Kompendien zur christlichen Moraltheologie und zu den östlichen Weltreligio-
nen und Weisheitslehren, womit sich schon der junge Nietzsche unter Schopen-
hauers Einfluß befaßt hatte.
Am 20. Mai 1887 schreibt Nietzsche an seinen Freund Heinrich Köselitz in
Venedig: „Ob ich diesen Sommer in Sils-Maria sein werde, ist ungewiß; vielleicht
Celerina, noch vielleichter die Lenzer Haide (wo es tiefen Wald giebt) Aber erst
1
Nietzsche an Heinrich Köselitz, 20. Mai 1887, KSB 8, Nr. 851.
Das Lenzerheide-Fragment über den europäischen Nihilismus 71
muß die „liebe Seele" vriedet ruhig werden".2 Nietzsche beruhigt sich teils in
regelmäßiger Bibliotheksarbeit, der Lektüre von Spinoza, Herder, Kant, Ludwig
Feuerbach, teils durch Konzerte, die er in Chur besucht. Aber die Ungewißheit
hält an. Noch der nächste Brief an Köselitz vom S.Juni 1887 läßt die Ortswahl
offen: „noch schnell ein paar Worte, bevor ich mich auf Wanderschaft begebe:
wer weiß wie lange es dauert, bis ich wieder Tinte und Feder zur Hand nehmen
kann - denn mein Reiseziel ist dies Mal ungewiß (Lenzer Haide oder Celerina
oder Sils oder?)".3 Am folgenden Tag hat sich Nietzsche entschieden. Er wählt
den zuerst genannten Ort, um in der Abgeschiedenheit jenes damals fast men-
schenleeren Hochtals eines seiner denkwürdigsten Schriftstücke zu verfassen,
das mit genauer Orts- und Zeitangabe datiert ist: „Der europäische Nihilismus.
Lenzer Heide den 10. Juni 1887". Dessen modernes Extrem, so die These, die
Annahme einer „Ewigkeit" des Nichts, dieser Nihilismus im Gedanken einer
Wiederkehr des Gleichen, das ist die „europäische Form des Buddhismus".4
Gedankenentwürfe zu datieren, das war in der europäischen Metaphysik von
Plato bis hin zu Hegel nicht üblich. Und es schien auch nicht nötig. Man zeich-
nete wohl Orte und einzelne Themen des Denkens aus, wie der Platonische
Dialog Phaidros den schattigen Platz unter einer hohen Platane am llissos vor
den Toren Athens, wo während eines Sommertages das Gespräch über die Liebe
zum Wissen im Lichte der Idee des Schönen stattfindet.5 Und auch die indische
Weisheitslehre kannte die Auszeichnung des Boddi-Baums am Ufer des Flusses
Neranjava, wo Buddha seine visionäre Erleuchtung über die Ursachen des Lei-
dens in der Welt und den Weg zur Erlösung zuteil geworden sein soll. Aber für
die Ideenerkenntnis selbst, für den Vollzug der Vision, gibt es weder Raum noch
Zeit. Indem der Platoniker die Idee erkennt, tritt er ganz hinter die erkannte
Sache zurück. Erkennender und Erkanntes sind eins, sind das eine „Ding an
sich". Die Zeit, der Raum, die Lebensumstände haben für den platonisch inspi-
rierten Denker keine Bedeutung.
Das ändert sich, nachdem Hegel die Geschichte als Gesamtheit raum-zeitli-
cher Erscheinungen in der Phänomenologie des Geistes thematisiert und sein Werk
unter dem Eindruck von Napoleons Sieg über die Preußen bei Jena im Jahre
1807 abschließt. Wenn Hegel Napoleon nach dem Tag der Schlacht durch die
Stadt reiten sieht und in Briefen von der „Weltseele zu Pferde" spricht, so ist
2
Ebd.
3
Nietzsche an Heinrich Köselitz, 8. Juni 1887, KSB 8, Nr. 856.
4
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, 5plJ. - Es gehört zu den Verdiensten von Colli und Montinari,
das Lenzerhcide-Fragment gegenüber Verdeckungen in vorhergehenden Nietzsche-Ausgaben
wiederhergestellt zu haben.
5
Nietzsches Mitzögling in SchuJpforta und späterer Gegner Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff
hat den Pbaidros unter dem sachlich nichtssagenden Titel: „Ein glücklicher Sommcrtag" interpre-
tiert. VgjL WiJamowit7.-MoeOendorf£ Ulrich von: Platon. Sein Leben und seine Werke. Hrsg,
von Bruno Snell. Berlin, Frankfurt am Main 1948. S. 354-384.
72 Manfred Riede!
doch im Buche davon keine Rede. Ähnlich verhält sich noch der junge Nietz-
sche, der zwar im Vorwort zu seiner Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik (1872) historische Ereignisse des deutsch-französischen
Kriegs erwähnt, aber sonst die Schrift von Zeitanspielungen weithin freihält.
Den entscheidenden Einschnitt in die Tradition europäischer Metaphysik bringt
erst der Durchbruch des Zeitgedankens in Nietzsches späterer Philosophie,
seine Vision einer ewigen Wiederkunft des Gleichen am See von Silvaplana im
Oberengadin, die auf das Genaucste dauert und lokalisiert wird, bis hin zu
Angaben der Gebirgshöhe: „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 FUSS über
dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen".6 Mit diesem Ge-
danken ziehen Zeit, Ort und Lebcnsumstände in die Gedankenentwurfe ein:
was uns das Lenzerheide-Fragment bezeugt.
Besäßen wir nicht das datierte Schriftstück vom Frühsommer 1887, so wäre
uns Nietzsches Halt an einer damals wenig bemerkenswerten, obskuren Poststa-
tion auf der Route von Chur nach St. Moritz, in jenem noch unentdeckten
Hochtal des Graubündener Landes, nie bekannt geworden. Wir wüßten nichts
von Wanderungen entlang dem Heidbach und durch die bewaldete, unbesiedelte
Hügellandschaft rund um den Heidsee; in einer Umgebung, die so wüst und
leer schien wie die Welt am ersten Schöpfungstag. Ort und Umstände hatte
Nietzsche jedoch frei gewählt, das Obskure, Unbemerkte wie das Abseitige als
Mittel von Verborgenheit und Stille gewollt: „Eine willkürliche Obskurität viel-
leicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Vereh-
rung, Zeitung, Einfluss; [...] unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vol-
len Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft
mit Jedermann reden kann, — das ist hier „Wüste": oh sie ist einsam genug,
glaubt es mir".7
Was Nietzsche in die Einsamkeit treibt, ist eine innere Not: die Erfahrung,
ohne „tiefe Ungestörtheit, Abseitigkeit, Fremdheit" weder zum Höhenweg des
Denkens gelangen, noch zu Problemen „hinunter" steigen zu können, denen er
bislang ausgewichen war: „Und was für Probleme! Wenn ich nur den Muth
hätte, Alles zu denken, was ich weiß ..."8
Nietzsche hatte Schopenhauers pessimistische Ausdeutung des „Leidens am
Leben" in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik durch die Leidenschaft
dies alles dem Menschen zum Besten, einschließlich der vom Weltschöpfcr ein-
geräumten Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse, weshalb selbst das um der
menschlichen Freiheit willen zugelassene Übel „voller Sintf* sei. Und sie berief
sich zuletzt ganz unhypothetisch auf ein Wissen um angeborene Menschen-
würde und verhütete so, daß sich der gottlose Mensch als Tier verachtete, daß
er gegen das lieben Partei nahm und am Erkennen verzweifelte. Kurzum: Moral
war dem Europäer jahrhundertelang ein Erhaltungsmittel, das Antidotum gegen
den latenten europäischen Nihilismus, jene seit der Spätantike immer wieder
vertretene These, daß es mit dem Sein der Welt „nichts ist".10
Die Erfahrung des Nichts läßt sich in der Gegenwart durch das Gegenmittel
der christlichen Moral-Hypothese nicht mehr dauerhaft niederhalten. Im Gegen-
teil: Unter den moralisch entbundenen Kräften gibt es die Grundkraft der Wahr-
haftigkeit, eine neuzeitliche Tugend (virtus), die sich endlich gegen die Moral
wendet und ihre „Teleologie" entdeckt, die interessierte Betrachtung des Daseins
nach Zielen und Absichten. Sie gewahrt den nihilistischen Zug am Grunde der
europäischen Geschichte und wirkt über die sich abzeichnende ,JEinsicht\n diese
lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzuthun, gerade
als Stimulans".11 Die Kritik der Moral arbeitet ihrer Krisis vor und treibt auf
einen Konflikt zu, den Nietzsche wie folgt beschreibt: „Wir constatiren jetzt
Bedürfnisse an uns, gepflanzt durch die lange Moral-Interpretation, welche uns
jetzt als Bedürfnisse zum Unwahren erscheinen: andererseits sind es die, an
denen der Werth zu hängen scheint, derentwegen wir zu leben aushaken. Dieser
Antagonismus, das was wir erkennen, nicht zu schätzen und das, was wk uns
vorlügen möchten, nicht mehr schätzen zu dürfen: — ergiebt einen Auflösungs-
prozeß".12
Der Prozeß fallt nicht mit der Kritik der Aufklärung am Christentum zusam-
men. Vielmehr erfaßt er das Innerste des christlichen Gottesglaubens. Weil sich
ein wissenschaftlicher Beweis zugunsten des Atheismus nicht führen läßt, hielt
noch Pascal in Anbetracht der furchtbaren Möglichkeit, daß er dennoch wahr
sei", jenen Glauben für klug und ratsam, während man inzwischen, „zum Zei-
chen, wie sehr das Christentum an Furchtbarkeit eingebüßt hat", den entgegen-
gesetzten Versuch macht. Man betrachtet den Glauben als Irrtum, bei dem man
nichts verlieren, aber zeitlebens doch zusätzlichen Anreiz und Trost finden
könne - „nicht aus Furcht vor einer drohenden Möglichkeit, vielmehr aus
Furcht vor einem Leben, dem ein Reiz abgeht. Diese hedonistische'Wendung,
der Beweis aus der Lust ist ein Symptom des Niedergangs: er ersetzt den Beweis
10
Nachlaß 1886-1887, KSA 12,5[71], S. 211. Vgl. dazu Montinari, Mazzino: Friedrich Nietzsche.
Eine Einführung. Berlin, New York 1991. S. 109 f.
11
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, 5[71], S. 211.
12
Ebd., S. 211 f.
Das Lenzerheide-Fragment über den europäischen Nihilismus 75
aus der Kraft^ aus dem, was der christlichen Idee Erschütterung ist".13 Womit
sich der christliche Glauben dem Stadium seiner Erschöpfung nähert Nietzsche
spricht von einem »opiatischen Christenthum", das weder zum Suchen, Kämpfen,
Wagen, AUeinstehen-Wollen die Kraft hat noch zum Pascalismus, zu christlicher
Selbstverachtung und Angst des „Vielleicht-Verurtheilten". Ein Christentum, so
Nietzsches Folgerung, das „vor allem kranke Nerven* beruhigen soll, hat jene
furchtbare Lösung eines „Gottes am Kreuze" überhaupt nicht nötbig. \veshalb im
Stillen überall der Buddhismus in Europa Fortschritte macht".l4
Nietzsches Ansatz überschreitet die Grenzen von Schopenhauers Weltbe-
trachtung, die Buddhismus und Christentum einander annähert und das morali-
sche Interesse hinter dem kontemplativen Gestus des Weisen versteckt. Sein
Problem ist nicht die praktische Lebensverneinung, weder christliche Weltflucht
noch der Rückzug ins geschichtliche Abseits, das er als Lebensform wählt und
im Blick aus dem Fenster jener ehemaligen Sennerei auf der damals unbebauten,
unbevölkerten Lenzer Heide vor Augen hat, wo er über die Krankheitssym-
ptome des modernen Christentums nachdenkt. Nietzsche diagnostiziert, daß im
Zeitalter weltgeschichtlicher Machtkämpfe das Leben nicht mehr so ungewiß,
zufallig und unsinnig wie im früheren Europa erscheint; daß sich die „Lust am
Dasein" vermehrt hat und moralisch-asketischer Selbstverleugnung, der „Lust
am Nichtsein", im Innersten widerstrebt „Eine solch ungeheure Poten^irung vom
Wertb des Menschen, vom Werth des Übels usw. ist jetzt nicht so nöthig, wir
ertragen eine bedeutende Ermäßignig dieses Werthes, wir dürfen viel Unsinn und
Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabset-
%ung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war."
In dieser von Grund auf veränderten Perspektive wäre Gott eine „viel zu ex-
treme Hypothese".15 Aber ein Extremist, das ist der Philosoph von Hause aus;
so wie Spinoza einer war, als er die christliche Moral-Hypothese durch seine
These: „Gott oder die Natur" (Deus sive Natura) ermäßigte.
Wenn unsere heutige Postmoderne im Zeichen des zu Ende gegangenen
Konflikts zwischen Amerika und Rußland in Anlehnung an utilitaristisch geson-
nene Naturapostel des späten 19. Jahrhunderts glaubt, philosophisch extreme
Positionen auflösen und vermitteln zu können, so wittert Nietzsche schon da-
mals Gefahren für ein Denken, das, als Sache von Experten verstanden und
ausgeübt, „mittelmäßig" wird und den Menschen gefühlsmäßig nicht im minde-
sten berührt. Nietzsche bezweifelt, ob utilitaristisch gewendete Moralppsitionen
überhaupt fähig sein werden, den Extremismus der alteuropäisch-christlichen
Moral-Hypothese derart zu mäßigen, daß Europa über sich selbst hinauswach-
scn und Wege zur Verständigung mit dem fernen Osten oder neue Moral-Expe-
rimente „jenseits von Gut und Böse" wagen könnte. Extreme Positionen, so
seine Hauptihese im l^enzcrheidc-Fragment, werden nicht durch ermäßigte ab-
gelöst, sondern wiederum durch extreme, aber uwgfkehrtc, die menschliche Ge-
fühle so rief bewegen wie Spinozas Vision göttlicher All-Einheit den Geist der
Goethezeit.
Spinozas Philosophie hatte Nietzsches Denkweg schon einmal gekreuzt, als
an seinem Horizont im Spätsommer 1881 die Vision der Wiederkunftslehic
auftauchte. Die Erkenntnis, so notierte sich Nietzsche damals aus Spinozas
Ethik müsse „Affekt" sein, um praktisch zu werden, mit dem Zusatz in eigener
Sache: „Ich sage: sie muß I^idenschaß sein, um Motiv zu sein".16 Durch die
Leidenschaft der Erkenntnis, so fährt die Spinoza-Notiz fort, wird Vernunft
„unsere größte Macht". Unter Göttern sei sie das Einzige, was alle gleichmäßig
erfreue und kein Gott seinesgleichen neide, sondern jeder dem ändern um so
mehr wünsche, als er sie selbst besitze. Nach Spinoza einigt Vernunfterkenntnis,
während Affektivität entzweit und uns in Widerstreit bringt mit anderen Men-
schen wie mit uns selbst, wozu Nietzsche anmerkt: „das Alles ist Voturtheil.
Es gebt gar keine Vernunft der Art, und ohne Kampf und Leidenschaft wird
alles schwach, Mensch und Gesellschaft".17 Spinozas Gedankengänge kehren im
Lenzerheide-Fragment mit ähnlich kritischen Kommentaren wieder.
In Nietzsches Sicht ist Spinoza ein Außenseiter der europäischen Philoso-
phie, die seit Platos Lehre vom Guten als höchster Idee unter der „Herrschaft
der Moral" stehe. Schon die ältesten Gedanken griechischer Weisheit umspielten
moralische Interpretationen: bei Anaximander das gerechte ,jZu-Grunde-Ge-
hen" aller Dinge als Strafe für ihre Emanzipation vom reinen Sein, bei Heraklit
die Regelmäßigkeit der Erscheinungen als Zeugnis für den sittlich-rechtlichen
Charakter kosmischen Werdens. So bleibt es bis hin zu Hegels Philosophie,
welche die Geschichte als fortschreitende Selbstoffenbarung moralischer Ideen
des Sittlich-Guten und Vollkommenen hinstellt;18 eine Denkweise, die Kants
Geschichtsphilosophie systematisierte.
Nietzsche sieht niemanden unter seinen Zeitgenossen, der eine Kritik morali-
scher Wertgefuhle gewagt hätte, von spärlichen Versuchen englischer und fran-
zösischer Positivisten abgesehen, der Entstehungsgeschichte dieser Gefühle auf
die Spur zu kommen.19 Einzig Spinoza glaubt an eine „absolute Immoralität der
Natur, an die Zweck- und Sinnlosigkeit". Spinoza antizipiert jenen Standpunkt
„jenseits von Gut und Böse", auf den sich Nietzsche im Lenzerheide-Fragment
16
Frühjahr-Herbst 1881, KSA 9,11[193].
17
Ebd.
18
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, 7(4], S. 259.
19
Nachlaß 1885-1886, KSA 12, 2[161], S. 143 f.
Das Lenzerheide-Fragment über den europäischen Nihilismus 77
II.
2fl
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, 5[71], S. 212.
21
EbdL,S.213.
78 Manfred Riede!
Finale ins Nichts: „die ewige Wiederkehr". Das ist die extremste Form des
Nihilismus: das Nichts (das „Sinnlose") ewig!".22
Sofern die Lehre von der Wiederkehr des Gleichen alle Ziele ausschließt, ist
sie nihilistisch. Wenn sie nicht einmal ein „Finale ins Nichts" kennt, steigert sie
den Nihilismus gedanklich ins Äußerste und Letzte, um ihn mit den eigenen
Mitteln zu bekämpfen und so zu überwinden. Es handelt sich also um die
philosophische Gegenhypothese zur christlichen Moral-Hypothese, eine „euro-
päische Form des Buddhismus", von der Nietzsche behauptet, die angehäufte
Energie des Wissens und Tuns zwinge die Europäer zu einem solchen Glauben:
„Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-
Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein".23
Dem „großen Umsonst" entspricht im östlichen Denken „die große Leer-
heit" (Sünyatä). „Alle Dinge sind leer, und es gibt nichts, das begehrenswert ist
oder wert, daß man ihm nachgeht", so lautet die Folgerung aus dem altindischen
Grundwort „Sünya", im Bilde als (leerer) Kreis oder Hohlraum dargestellt, der
jedes Ding „umgibt".24 Eine Anschauung, die nur dem Zweck des Erkennens
dient; denn weder „leer" soll man sagen noch „nicht leer", vielmehr in einem
beides und nicht-beides nicht. Es handelt sich um einen buddhistischen Gedan-
ken, der nicht beengt und niederdrückt, sondern erhebt und befreit. Er läßt das
Leere als höchste Fülle erfahren und gleicht darin der Wendung vom Verneinen
zum Bejahen des Seins, zu eben jener Denkweise, die Nietzsche europäischen
Buddhismus nennt. Sie kennt so wenig ein „Finale ins Nichts" wie der indische
Buddhismus. Denn im Einklang mit dem Zuge des Gottes vom Indus her ist
sie „dionysisch", europäisch gesprochen: die „große pantheistische Mitfreudig-
keit und -leidigkeit", und diese „göttliche Denkweise" steht ohne Zweifel „ganz
in der Nähe des Buddhismus".25
Ein solches Finale hatte zuletzt Schopenhauers Hauptwerk als pessimistisches
Lebensideal am Ende der Epoche des deutschen Idealismus empfohlen.26 Und
zur Abstützung hatte sich Schopenhauer über seine beiden Lehrmeister Kant
und Plato hinaus auf buddhistische Quellen berufen, die dem gesuchten Ideal zu
entsprechen schienen. Schopenhauers Philosophie steht am Eingang westlicher
22
Ebd., S. 213. Vgl. dazu Gawoll, Hans-Jürgen: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsge-
schichtliche Untersuchungen vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart-Bad Cann-
statt 1989. S. 202; grundlegend Kühn, Elisabeth: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäi-
schen Nihilismus. Berlin, New York 1992. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
23). ·
23
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, 5[71], S. 213.
24
Vgl. Mehlig, Johannes (Hrsg.): Weisheit des alten Indien. Bd. 2: Buddhistische Texte. München
1987. S. 449, und Nachwort des Herausgebers, ebd., S. 625.
25
Vgl. Nishitani, Keiji: Der Nihilismus. Tokyo 1949. S. 236 ff.
26
Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung (1818), 4. Buch, § 71. Leipzig o. J.,
& 523 ff
Das Lenaerheide-Ftagment über den europäischen Nihilismus 79
Anspielungen dieser Art begegnen uns bei Nietzsche immer wieder. Sie be-
zeugen seine A^ertrautheit mit Sinnbildern und Grundworten buddhistischer
Weisheitslehren. Und sie können uns erklären, warum das Lenzerheide-Frag-
ment am Schluß Schopenhauers moralisierender Interpretation des Nirväna als
Vergehen im Nichts den Gedanken des Aufgehens entgegensetzt: woraus sich
Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen entfaltet, die das
Sein mit Spinoza ohne Einschränkung bejaht, vorausgesetzt, daß „Etwas" in
jedem Moment des Geschehens erreicht würde — und immer ein Gleiches, das
als solches „gut" geheißen, das heißt: bejaht werden könnte.
Von zeitweiligen Wkkungen auf die Goethezeit abgesehen, ist Spinozas Fall
der Ausnahme-Fall eines dem Glauben seiner jüdischen Herkunft Entfremdeten,
Heimatlosen, der sich noch mit dem fremdesten, unheimlichen Weltgeschehen
einig fühlte und wußte, welche Stärke zu seiner Bejahung gehört. Spinozas Cha-
rakterstärke verallgemeinert, das ist Nietzsches „Wille zur Macht" als Auszeich-
nung des Menschen, der den europäischen Nihilismus durch jenen „europäi-
schen Buddhismus" denkerisch zu überwinden strebt: ,Jeder Grundcharaktengtg,
der jedem Geschehen zu Grunde liegt, der sich an jedem Geschehen ausdrückt,
müßte, wenn er von einem Individuum als sein Grundcharakterzug empfunden
würde, dieses Individuum dazu treiben, triumphirend jeden Augenblick des all-
30
Vgl. Mehlig (Hrsg.): Weisheit des alten Indien, a. a. Q, Bd. l, S. 64.
31
M, KSA 3, S. 9.
32
Nachlaß 1870-1871, KSA 7, 5[53].
Das Lenzerheide-Fiagment über den europäischen Nihilismus 81
gemeinen Daseins gutzuheißen. Es käme eben darauf an, daß man diesen
Grundcharakterzug bei sich als gut, werthvpll, mit Lust empfindet".33
Nietzsches Erwägungen sind so hypothetisch wie die Grundsätze und Folge-
rungen, die er daraus zieht: „Es giebt nichts am Leben, was Werth hat, außer
dem Grade der Macht — gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht
ist".34 Darin besteht die „Formel" der Lehre, die das Leben erklärt. Der „Wille
zur Macht" ist ein formales Erklärungsprinzip faktischen Machtstrebens, worauf
unser Wille überall in der Erscheinungswelt stößt. Nietzsche gebraucht die For-
mel zur Auseinandersetzung mit der christlichen Moral-Hypothese und ihrem
Fortwirken in jenen „Formen des europäischen Buddhismus", die sich philoso-
phisch in Schopenhauer und seinen junghegelianischen Gegnern verkörpern.
Vom christlichen Glauben abgelöst, wie ihr Denken erschien, hätten die Junghe-
gelianer keinerlei Grund, sich moralisch zu gebärden und über das Dasein zu
entrüsten, es sei denn, daß sie auf atheistischem Boden im Namen der Moral
„Macht wollten".
Es sind Symptome politischer Schattenspiele auf dem Hintergrund von
Machtkämpfen europäischer Völker und Klassen, die Nietzsche als Philosoph
nie aus dem Auge verliert. Darum der Hinweis auf den „ungeheuren und noch
gänzlich unentdeckten Thatbestand", der ihm, Nietzsche, nur allmählich in sei-
nem ganzen Gewicht zu Gesicht gekommen sei: daß es geschichtlich keine
grundsätzlicheren Probleme als die moralischen geben könne und daß geschicht-
lich bislang vorherrschende Konzeptionen im Reich der bisherigen Werte dort
ihren Ursprung genommen hätten, einschließlich allem, was gemeinhin „Philo-
sophie" genannt worden sei. Darum aber auch jene Einschränkung und Neuge-
wichtung philosophischer Grundfragen, die über solche Prämissen hinausweist:
^yAber es giebt noch grundsätzlichere Probleme als die moralischen: diese kommen Einem
erst in Sicht, wenn man das moralische] Vorurtheil hinter sich hat ,..".35
33
NacMaß 1886-1887, KSA 12, 5pl], S. 214.
34
Ebd., S. 215.
35
Nachlaß 1886-1887, KSA 12, SßOJ.