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Von Anfang Juni bis Ende August 1877 hält sich Friedrich Nietzsche
in Rosenlauibad im Berner Oberland auf.1 In einem Brief an Erwin
Rohde schreibt er am 28. August:
„Soll ich Dir von mir erzählen? Wie ich immer, schon zwei Stunden bevor
die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in
den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei
ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir end-
lich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denk-
zwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit
allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind, — aber
dazwischen giebt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und
der Empfindung.“2
Nietzsche erlebt in der Berglandschaft eine wohltuende Distanz
vom „täglichen Lehr- und Denkzwang“ und eine kreative Freiheit
der Gedanken, die sich ihm – so lässt es der Brief an Rohde vermu-
ten – vor allem bei seinen täglichen Spaziergängen durch die Natur
ergaben. Diese neu gewonnene gedankliche Freiheit führt dazu,
dass Nietzsche, der in diesen Jahren sonst nur wenig lyrisch tätig
ist, 3 ein titelloses Gedicht verfasst, 4 das ein Naturgeschehen im
1 KGW IV/4, 31. Vom 10. bis 24. Juli ist Nietzsche in Zug bei Luzern. – Der
vorliegende Text geht auf Anregungen von Claus Zittel (Stuttgart) während
eines Forschungsseminars an der Universität Padua zurück, ihm sei dafür
herzlich gedankt.
2 KGW IV/4, 32.
3 Groddeck, der sich mit der Frage nach einer vollständigen und textkritischen
beit an der Fröhlichen Wissenschaft stammen, die dritte Gruppe beinhaltet jene
Gedichte, die im Vorfeld der Idyllen von Messina und der Fröhlichen Wissenschaft
entstehen, die vierte betrifft die Lyrikproduktion im Jahr 1884 und die fünfte
Gruppe jene lyrischen Entwürfe, die vom Sommer 1888 an entstehen; vgl.
Groddeck: Gedichte und Sprüche, 174ff. Die erste Fassung von Am Gletscher
gehört nach dieser Einteilung in die zweite Gruppe von Nietzsches Nachlass-
Gedichten, die Überarbeitung in die vierte Gruppe.
4
Erste Fassung: Nachlass 1877, 22[94], KGW IV/2, 492f. Der kritische Apparat
befindet sich in KGW IV/4, 438. Er enthält nur die Hinweise, dass das Gedicht
1884-1885 überarbeitet wurde und dass die letzten beiden Zeilen („Mein Gruss
ist Abschied / Ich sterbe jung. –“) später hinzugefügt wurden. Ein von mir
unternommener Versuch einer diplomatischen Wiedergabe der ersten Fassung
findet sich im Anhang. Zweite Fassung: Nachlass 1884, 28[60], KGW VII/3,
33f. Der kritische Apparat ist in KGW VII/4,2, 237ff. Einige Momente des Ge-
dichts finden sich schon in „Zweiter Abschied“ von 1863/1864, dazu Köhler:
„Die fröhliche Wissenschaft“, 59.
5
Vgl. KGW VII/4,2, 201. Überlegungen zu Titeln und Gedichtverzeichnissen,
die das Gedicht Am Gletscher enthalten, in KGW VII/4,2, 211f.
6
Weitere Auflagen bis 1927.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 345
15 Ebd.
16 Vgl. Schmitt: Über Nietzsches „Gedichte und Sprüche“, 106f.; Zitat 107.
17 Vgl. Leisegang: Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, 282.
18 Ebd.
19 Vgl. Quinot: Un poème de Nietzsche, 15-18.
20 Vgl. Kremer-Marietti: Thèmes et structures, 195-198.
21 Busch: Rezension, 93.
22 Vgl. Köhler: Zarathustras Geheimnis, 246-251. Offener im Sinn einer Selbst-
Um Mittag, wenn
Der junge Sommer in’s Gebirge steigt,
Da spricht er auch,
Doch sehen wir sein Sprechen nur:
5 Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns
In Winterfrost:
Es geben Eisgebirg und Tann und Quell
Ihm Antwort auch,
Doch sehen wir die Antwort nur.
10 Denn schneller springt vom Fels herab
Der Sturzbach wie zum Gruss
Und steht als weisse Säule horchend da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
Als sonst sie blickt.
15 Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Blickt plötzlich Leuchten auf:
Wer deutet dir’s?
In todten Mannes Auge
Wird wohl noch einmal Licht:
20 Sein Kind umschlang ihn harmvoll
Küsst’ ihn.
Da sagt des Auges Leuchten:
„Ich liebe dich“
Im Jahre 1884 nimmt sich Nietzsche das frühe Gedicht erneut vor.
Wohl als Vorlage für eine neue (die zweite) Fassung erstellt er
gleichsam eine ‚Zwischenfassung‘, ausgehend von einer Abschrift
der Erstfassung des Gedichts.27 Die Dichtung erhält nun den Titel
„Sommer im Hochgebirge“, der das Natur-Metaphorische betont.
Sommer im Hochgebirge.
Um Mittag, wenn
der junge Sommer in’s Gebirge steigt,
da spricht er auch
doch sehen wir sein Sprechen nur:
5 sein Athem quillt wie eines Wandersmanns
im Winterfrost.
Es geben Eisgebirg’ und Tann’ und Quell
ihm Antwort auch: doch sehen wir die Antwort nur.
Denn schneller springt vom Fels herab
10 der Sturzbach wie zum Gruss
und steht als weisse Säule zitternd da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
als sonst sie blickt.
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
15 bricht plötzlich Leuchten aus –
wer deutet dir’s? –
In todten Mannes Auge
wird’s wohl noch einmal Licht:
sein Kind umschlingt ihn harmvoll
20 und küsst ihn.
Da sagt des Auges Leuchten:
ich liebe dich. –
Und Schneegebirg und Bach und Tann’
sie sagen auch
25 zum Sommerknaben nur
dies Eine Wort:
A m G l e t s c h e r.
Und er‚
Der Knabe mit den müden heißen Augen‚
35 Er küßt sie harmvoll‚
Inbrünst’ger stets‚
Und will nicht gehn;
Er bläst sein Wort wie Schleier nur
Von seinem Mund‚
40 Sein schlimmes Wort
„mein Gruß ist Abschied‚
mein Kommen Gehen‚
ich sterbe jung.“
Da horcht es rings
45 Und athmet kaum:
Kein Vogel singt.
Da überläuft
Es schaudernd‚ wie
Ein Glitzern‚ das Gebirg.
50 Da denkt es rings —
Und schweigt — —
Um Mittag war’s‚
Um Mittag‚ wenn zuerst
Der Sommer ins Gebirge steigt‚
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 355
Die bereits erwähnte zirkuläre Form, die schon in der Fassung von
1877 angelegt war – auch da beschließt die erneute Nennung des
Mittags in den letzten Zeilen das Gedicht – wird ausgebaut. In der
neuen Fassung bilden die ersten drei Zeilen – obwohl sie keinen
vollständigen Satz darstellen – einen in sich abgeschlossenen Auf-
takt: „Um Mittag, wenn zuerst / Der Sommer in’s Gebirge steigt, /
Der Knabe mit den müden, heißen Augen:“ (Z. 1-3). Am Schluss
klingt das Gedicht mit diesen Anfangszeilen aus und unterstreicht
so die zirkuläre Form, die auf inhaltlicher Ebene mit dem Kommen
und Gehen des Sommerknaben korreliert. Die Zeilen sind abgesetzt
und bilden eine Schlussstrophe: „Um Mittag war’s, / Um Mittag,
wenn zuerst / Der Sommer ins Gebirge steigt, / Der Knabe mit den
müden, heißen Augen.“ (Z. 52-55). Die Abschiedsworte des Knaben,
die in der ersten Fassung mit einem anderen Schriftzug am Ende
ergänzt worden waren (1877: „Mein Gruss ist Abschied / Ich sterbe
jung. —“, Z. 42-43), stehen in der neuen Fassung im mittleren Teil
des Gedichts als direkte Rede in der Kommunikation mit der Ge-
birgslandschaft. Sie sind gegenüber dem Nachtrag um eine Zeile
erweitert: „‚mein Gruß ist Abschied, / mein Kommen Gehen, / ich
sterbe jung.‘“ (Z. 41-43).
Nietzsche gliedert das Gedicht nun in insgesamt fünf Versab-
schnitte. Das Ankommen des Knaben im Gebirge, sein erstes an die
Natur gerichtetes ‚Sprechen‘ und die ‚Antwort‘ der Gebirgsland-
schaft bilden den ersten Abschnitt, an dessen Ende die Frage nach
der Deutung des Leuchtens steht (Z. 1-19). Den zweiten Abschnitt
bildet der erinnernde Rückblick auf Mann und Kind, sowie die
Übertragung von deren liebevollen und ‚tödlichen‘ Kommunikation
auf die Kommunikation von Natur und Sommer (Z. 20-32). Der
dritte Abschnitt fasst den harmvollen Abschied des liebenden
Sommerknaben, der vierte Abschnitt bietet die ‚lichterfüllte‘,
schweigende Reaktion der Natur. Den fünften Abschnitt schließlich
bildet die oben erwähnte Schlussstrophe, in der die Anfangszeilen
des Gedichts wieder aufgenommen werden.
30 Vgl. dazu auch die erste Stufe der Überarbeitung: „Solch Leuchten sah ich
schon: / [Einst als ich] / [Das war als] eines [Sterbenden] / alten Mannes Blick
brach und zerrann / Da brach des Auges Leuchten / noch Ein Mal aus und
sprach / ich liebe dich“; KGW VII/4,2, 239.
31 Auch in der Frage an ein ‚Du‘ in der ersten Fassung ist wohl das eigene Ich
dichts ist die Zeile „Der Knabe mit den müden, heißen Augen“ ein
weiteres Mal wiederholt (Z. 34), dort als Erläuterung eines einfa-
chen „er“, in dem vielleicht erneut auf den Sommer verwiesen
wird.32
Der Vergleich des „jungen“ „Sommerknaben“ mit einem Wande-
rer in der ersten Fassung (1877: „Sein Athem quillt wie eines Wan-
dersmanns“, Z. 5) fällt in der zweiten Fassung weg. Stattdessen
wird das Motiv der Krankheit, auf das bereits die „müden, heißen
Augen“ hinweisen, weiter ausgebaut. Der Atem des Knaben ist
„wie eines Kranken Athem“ (Z. 6), er quillt wie in „Fieber-Nacht“
(Z. 7). Da die Szenerie insgesamt als mittäglich geschildert wird,
erhält das Wort „Nacht“ ein besonderes Gewicht, es tritt in einen
Gegensatz zu den zahlreichen Licht-Wörtern und scheint damit da-
zu angelegt, diese zu relativieren – oder genauer, das Nächtige auch
im Licht zu vergegenwärtigen.33
32 Zugleich aber zeigt die Szene mit dem Älteren den ‚Sommerknaben‘ als ein
Kind und lässt damit anklingen, was Nietzsche im „Zarathustra“ mit ‚Kind‘
verbindet, das ihm als „Unschuld“ gilt, als „Vergessen, ein Neubeginnen, ein
Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen“
(Za I, KGW VI/1, 27). Und so muss das im Gedicht angedeutete willige Ster-
ben des Kindes als das des „rollendes Rades“ gesehen werden.
33 Zur Bedeutung von „Nacht“ vgl. im Dialog zwischen dem „Wanderer“ und
34„[…] glühend spricht / Des Todten Auge: […]“ (Z. 25-26). Der Kommentar
notiert zu „Des Todten Auge“: „Das todte] lies: Des Todten“ (KGW VII/4,2,
239). Dies ist ohne einen erneuten Blick auf die Handschrift Nietzsches nicht
nachvollziehbar. Möglich scheint durchaus, an dieser Stelle „Das todte Auge“
zu lesen.
35 Grundlehner meint, die entschlüsselte Botschaft der Natur beziehe sich nur
auf die „Qual des Lebens“, an die die Gebirgslandschaft in ihrer Kälte und
Einsamkeit gemahnt: „The ‚meaning‘ which the poet finds disclosed in nature
(‚das deutet mir’s‘ [l. 19]) will thus concern the ‚manifold torment of life‘ [viel-
fältige Qual des Lebens] perceived by Nietzsche in the glacier and communica-
ted in his correspondence.“; Grundlehner: The Poetry of Friedrich Nietzsche,
S. 77. Dem stimme ich nicht zu.
36 Erste Fassung von 1877: KGW IV,2, 491f. (22 [93]); zweite Fassung von 1884:
KGW VII,3, 31f. (28 [59]). Da beide Gedichte unmittelbar hintereinander ent-
stehen und auch ihre Umarbeitungen zeitgleich erfolgen, lohnt es sich, beide
Gedichte zusammen zu lesen. Wolfgang Rihm verarbeitet beide Gedichte in
seinem ersten Gesang seiner Komposition „umsungen“; vgl. den Schlussteil
des Aufsatzes.
37 MA II, WS [Dialog], KGW IV/3, 176.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 361
42 MA II 327, KGW IV/3, S. 334. Auch zitiert bei Meyer: Nietzsche, 409,
Anm. 288.
43 Nachlass Herbst 1885-Frühjahr 1886, I[29], KGW VIII/1, 13. Auch zitiert bei
Die Gebirgslandschaft
Gedichtfassung: „Denn weisser springt vom Fels herab / Der Tanzquell in sein
Grab: […]“; vgl. die diplomatische Wiedergabe im Anhang.
über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz
gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.“53
Im Gebirge, nahe am Gletscher, sagt Nietzsche, „überschaue“ man
„das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und
Verachtung“. Hier gewinnt man einen ‚Überblick‘ über die
Menschheit und über das Menschsein sowie über das Dasein insge-
samt. Man erkennt das Wesentliche, das, was jenseits des Menschen
liegt. Der Mensch tritt in seiner Unbedeutendheit zurück – wie er
auch im Gedicht – als „Ich“ und „Wir“ – fast unsichtbar ist. Eine
solche einsame Gebirgslandschaft ist in Nietzsches Texten allge-
genwärtig. Zarathustra etwa lebt als Einsiedler in den Bergen, zieht
sich in die Berge zurück. Aus Menschliches, Allzumenschliches II
stammen folgende Zeilen:
„N e u t r a l i t ä t d e r g r o s s e n N a t u r . — Die Neutralität der grossen
Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit:
nachher werden wir ungeduldig. ‚Wollen denn diese Dinge gar nichts zu
uns sagen? Sind wir für sie nicht da?‘ Es entsteht das Gefühl eines crimen
laesae majestatis humanae.“54
Die „grosse Natur“ ist schweigsam, 55 sie ist allem Menschlichen
entzogen. Ironisch spricht Nietzsche hier von einem „crimen laesae
majestatis humanae“. Auch das Gedicht Am Gletscher endet mit ei-
nem Schweigen. Betont wird im Gedicht die Entzogenheit der Natur
außerdem durch die Zeile „Kein Vogel singt“ (Z. 46), die Nietzsche
in der zweiten Fassung hinzugefügt und damit den Sinnklang des
Gedichtes erweitert hat. Denn die Erwähnung des Vogels stellt eine
Verknüpfung zum „Wanderer-Gedicht“ („Es geht ein Wandrer
durch die Nacht“) her, das 1876, ein Jahr vor der ersten Fassung von
Am Gletscher, entsteht und wie dieses, Im deutschen November und
andere Gedichte im Jahr 1884 eine Überarbeitung erfährt. Im Wan-
derer-Gedicht ist das Vogel-Motiv zentral. Der Wanderer und der
Vogel sind in einem Dialog; ein wirkliches Verstehen kommt jedoch
53 URL: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1877,627.
54 MA II 205, KGW IV/3, 280. Auch zitiert bei Jordan: Friedrich Nietzsches
Naturbegriff, 114f.
55 Zum Schweigen in Nietzsches Texten äußert sich ausführlich Meyer: Nietz-
sche, 572ff.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 367
56 Die Deutung des Gedichts als „Abkehr“ „von der Wagner-Welt und der
eigenen [Nietzsches] Dionysos-Philosophie der Frühzeit“ ist die zentrale These
von Zittel: Abschied von der Romantik, 193ff.; Zitat 195.
57 GT 23, KGW III/1, 145. Zitiert bei Zittel: Abschied von der Romantik, 202f.
58 GT 24, KGW III/1, 149f. Zitiert bei Zittel: Abschied von der Romantik, 203.
[…]“59
Die tote Gebirgsnatur bedroht den Menschen, das Lebendige:
„Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst“. Doch eben diese ‚töd-
liche‘, menschenferne Natur führt Nietzsche auch zu dem Gedan-
ken, dass die tote Welt einen eigenen, ja höheren Wert hat:
„Grundfalsche Werthschätzung der e m p f i n d e n d e n Welt gegen die
t o d t e . Weil wir sie sind! Dazu g e h ö r e n ! Und doch geht mit der Emp-
findung die O b e r f l ä c h l i c h k e i t , der Betrug los: was hat Schmerz und
Lust mit dem w i r k l i c h e n Vorgange zu schaffen! — es ist ein Neben-
her, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber w i r nennen’s das I n n e r e
und die todte Welt sehen wir als ä u ß e r l i c h an — grundfalsch! Die
‚todte‘ Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in
der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein F e s t , aus die-
ser Welt in die „todte Welt“ überzugehen — und die größte Begierde der
Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Ge-
setze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Be-
trug giebt. Ist dies S e l b s t v e r n e i n u n g der Empfindung, im Intellekte?
Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des
Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dau-
ert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so g e -
59 Nachlass
1871, 15[1], KGW III/3, 413-414. Zum Gedicht: Sabban: Nietzsches
Gedicht „An die Melancholie“.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 369
60 Nachlass 1881, 11[70], KGW V/2, 366. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilichtge-
danken, 190.
61 Vgl. auch FW 109, KGW V/2, 146: „Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem
Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine
sehr seltene Art.“
62 Nachlass 1881, 11[125], KGW V/2, 384. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilicht-
gedanken, 191.
63 Vgl. Riedel: Freilichtgedanken, 191.
64 Nachlass 1881, 11[84], KGW V/2, 370f. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilicht-
gedanken, 191.
65 Vgl. auch eine Notiz aus dem Frühsommer 1881: „Einen Berg hinunterstei-
gen, die Gegend mit den Augen umarmen, eine ungestillte Begierde dabei. Die
leidenschaftlich Liebenden, welche die V e r e i n i g u n g nicht zu erreichen
wissen ( — bei Lukrez). Der Erkennende v e r l a n g t nach Vereinigung mit den
Dingen und sieht sich a b g e s c h i e d e n — dies ist seine Leidenschaft. Entwe-
der soll sich alles in Erkenntnis auflösen oder er löst sich in die Dinge auf —
dies ist seine Tragödie […]“; Nachlass 1881, 11[69], KGW V/2, S. 365. Zitiert
bei Riedel: Freilichtgedanken, S. 189. Bemerkenswert ist hier die Erwähnung
Lukrez’, der in De Rerum Natura (bes. in I 50ff.) eine ähnliche in die Natür sich
auflösende Identiät des Menschen propagiert.
66 Auch wenn man die biographische Deutung Joachim Köhlers mit Vorsicht
tes untermalt das Werden und Sterben des Knaben, seinen Aufstieg
in und seinen Abstieg aus dem Gebirge.68
In dieser Vergegenwärtigung des Tödlich-Entzogenen steckt Ent-
scheidendes: Eine Verehrung des „Todten“ als „Mutterschooß“ – als
Vorausweisen auf möglicherweise Kommendes. Hier setzte das
Denken einer neuen Naturauffassung an.
Gedichtes nimmt Pestalozzi vor; vgl. Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen
Ich, 198ff.
70 Meyer und Lämmert beschäftigen sich ausführlich mit der Einsamkeit bei
Nietzsche; vgl. Meyer: Nietzsche, bes. den Exkurs 43, 694-709; Lämmert:
Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, 47ff.
„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein
Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln!
Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr und
Zweifler und Unheiliger und Bösewicht.
Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest
du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!
Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden: einen Gott willst du dir
schaffen aus deinen sieben Teufeln!
Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selber liebst du und
desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten.
Schaffen will der Liebende, weil er verachtet! Was weiss Der von Liebe,
der nicht gerade verachten musste, was er liebte!
Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem Schaffen,
mein Bruder; und spät erst wird die Gerechtigkeit dir nachhinken.
Mit meinen Thränen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder. Ich liebe
Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde geht. — “71
Der Einzelne soll in der Einsamkeit Neues schaffen, selbst neu wer-
den, „über sich selber hinaus schaffen“. Verbunden damit ist freilich
sein Untergang. In einem Brief an Lou von Salomé vom August
1882 bezeichnet Nietzsche das als „Heroismus“:
„5.
Heroismus — das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt,
gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus
ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergange.
6.
Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen All-
Entwicklung — ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther!
Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen (Goethe zb.)“72
In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 8. Juli 1881 aus Sils-Maria
nennt er die Engadiner Gebirgslandschaft „diese[] ewige[] heroi-
sche[] Idylle“.73 Die Gebirgslandschaft ist der Ort, an dem der Über-
Sich-Hinaus-Schaffende tätig ist. Die Stille, das Schweigen der
Landschaft sind dabei Voraussetzung für den kreativen Prozess. So
heißt es im „Zarathustra“: „Da sprach es wieder wie ein Flüstern zu
mir: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Ge-
danken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.“ 74 Die
„Idylle“ meint damit ein harmonisches Einssein von Mensch und
Natur, das die Abgründigkeit des Seins und den Tod bejaht und
den kommenden Untergang des Menschen annimmt. Dieser Zu-
stand ist die Ruhe, in der der Einzelne über allem schwebt, die Ruhe
„der reinen Identifikation mit dem Sein selbst“.75 Theo Meyer sieht
im Dionysos-Dithyrambus „Die Sonne sinkt“ diesen Zustand ge-
zeichnet:
„[…]
Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit,
müssig steht nun mein Kahn.
Sturm und Fahrt — wie verlernt er das!
Wunsch und Hoffen ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.
[…]“76
In diesen Zeilen sind gezeichnete Landschaft und Seele in Harmo-
nie, eins. Es ist ein über das Wirkliche erhobener Zustand für den
Erlebenden, eine Ruhe und ein Einverständnis mit Natur, Sein und
Tod in Selbstvergessenheit.77 Eine ähnliche Stimmung wird in den
folgenden Zeilen aus Der Wanderer und sein Schatten evoziert:
„A m M i t t a g . — Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Le-
bens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens
eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es
wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint
steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen
Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen
Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. Er will Nichts, er
sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, — es ist ein
gedanken, 174ff.
76 DD „Die Sonne sinkt“, KGW VI/3, 394. Auch zitiert bei Meyer: Nietzsche, 596.
77 Vgl. auch Gritzmann: Das Gedicht „Die Sonne sinkt“ thematisiere das „‚Stil-
Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und
soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam da-
rin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres,
schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mit-
tag ist vorbei, das L e b e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blin-
den Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen,
Geniessen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend her-
auf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war. — Den ei-
gentlich thätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände
des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.“78
Diese Stimmung hat durchaus Ähnlichkeiten mit der Stimmung, die
in Am Gletscher herrscht. Auch darin erzeugen die schweigende Na-
tur und das allseitig umfassende Einverständnis mit dem zirkulären
Ablauf von Kommen und Gehen eine Stimmung voll von Ruhe und
Ewigkeit – hin zu einer „halkyonische[n] Losgelöstheit des Sub-
jekts“79. Und das alles ist, wie in den Zeilen aus Der Wanderer und
sein Schatten, an die Mittagszeit geknüpft, den Höchststand der
Sonne.80 Tatsächlich ist der Mittag ein wiederkehrendes Motiv bei
Nietzsche. Liest man das Gedicht als Teil des Gesamtwerks, fließen
auch diese anderen Bedeutungen ein. Beispielhaft findet sich das in
Zarathustra, wiederum im Zusammenhang mit dem „Heroischen“:
„Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn
steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als
seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Mor-
gen.
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinüberge-
hender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn.
‚T o d t s i n d a l l e G ö t t e r : n u n w o l l e n w i r , d a s s d e r Ü b e r -
m e n s c h l e b e .‘ — diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wil-
le! —“81
78 MA II, WS 308, KGW IV/3, 328. Vgl. dazu und zum Motiv des Mittags bei
Nietzsche Bollnow: Der Mittag, 38ff.
79 Meyer: Nietzsche, 595.
80 Zum Mittagsmotiv siehe Riedel: Freilichtgedanken, 113f., der auch die Zeilen
Erler: Auch todten Mannes Auge wird wohl noch ein Mal Licht. In: Erler, H.: Drei
Lieder: für ein Singstimme und Klavier: op. 24. Berlin, [1900], Nr. 2.
85 Zitiert nach Rihm, Wolfgang: ausgesprochen, 336f.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 377
Da horcht es rings
und athmet kaum:
Kein Vogel singt.
Da überläuft
Es schaudernd, wie
Ein Glitzern, das Gebirg.
Da denkt es rings –
Und schweigt – – 87
Sehnsüchtig[] da.
[…]
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Bricht plötzlich Leuchten aus – –
Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s. – “89
Rihm löst einige Zeilen aus den Gedichten heraus und fügt alles zu
einem „neuen Gedicht zusammen“: „[…] ein neues Gedicht ent-
stand, bereits erster Kompos[i]tionsakt“, sagt Rihm, und weiter:
„Die Worte antworteten sich über den ersten (Sinn-) Zusammen-
hang hinaus.“90 Der erste „(Sinn-)Zusammenhang“ ist unüberseh-
bar. Alle drei Gedichte berühren die Frage nach dem Mit- bzw. In-
einander von Mensch und Natur, von Leben und Tod. Rihm lässt
die Frage nach der Deutung des Leuchtens offen, die am ‚Wende-
punkt‘ von „Am Gletscher“ gestellt und beantwortet wird: Die Zei-
len „Und zwischen Eis und todtem Graugestein / Bricht plötzlich
Leuchten aus — — / Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s.
—“ (Z. 17-19) beschließen den ersten Gesang der Komposition. Das
eröffnet die Möglichkeit zu einer freien Interpretation, die, losgelöst
von Nietzsches ‚Gesang‘, die Frage danach stellt, wie Totes im An-
gesicht eines Menschen (Rihm nennt den „Sommerknaben“ nicht)
„plötzlich“ zu leuchten beginnt. Und damit ist auch die Frage nach
der Beziehung Mensch und Natur neu aufgeworfen.
89 Aus Am Gletscher.
90 Rihm: ausgesprochen, 336.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 379
Literatur
Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von Giorgio Colli
u. Mazzino Montinari. Berlin / New York 1967ff. [KGW]
Nietzsche, Friedrich: Werke und Briefe. Digitale Kritische Gesamtausgabe. Auf
der Grundlage der „Kritischen Gesamtausgabe Werke“, hg. von Giorgio
Colli u. Mazzino Montinari, Berlin / New York, 1967ff., u. „Nietzsche
Briefwechsel Kritische Gesamtausgabe“, Berlin / New York, 1975ff., hg. von
Paolo D’Iorio [Abkürzung: eKGWB]. URL: http://www.nietzschesource.
org/#eKGWB [Zugriff Februar 2016].
Nietzsche, Friedrich: Digitale Faksimile Gesamtausgabe. Nach den Original-
manuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Wei-
mar, herausgegeben von Paolo D’Iorio [Abkürzung: DFGA]. URL:
http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA [Zugriff Februar 2016].
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Anhang
(A. S. Sabban)
Zur Lesung:
(URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/N-II-2,101)
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 383
Da spricht er auch,
In Winterfrost:
Es
Auch geben Eisgebirg u. Tann’ und
Quell
(URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/N-II-2,102)
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 385
DaUndSchauder[n] überläuft
überläuft es schaudernd wie