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EPIPHANIE VON LICHT UND TOD IM GEBIRGE.

NIETZSCHES GEDICHT „AM GLETSCHER“

Adela Sophia Sabban

Von Anfang Juni bis Ende August 1877 hält sich Friedrich Nietzsche
in Rosenlauibad im Berner Oberland auf.1 In einem Brief an Erwin
Rohde schreibt er am 28. August:
„Soll ich Dir von mir erzählen? Wie ich immer, schon zwei Stunden bevor
die Sonne in die Berge kommt, unterwegs bin, und dann namentlich in
den langen Schatten des Nachmittags und Abends? Wie ich mir vielerlei
ausgedacht habe und mir so reich vorkomme, nachdem dies Jahr mir end-
lich einmal erlaubt hat, die alte Moosschicht täglichen Lehr- und Denk-
zwanges einmal abzuheben? So wie ich hier lebe, ertrage ich es selbst mit
allen Schmerzen, die mir freilich auch auf die Höhe gefolgt sind, — aber
dazwischen giebt es so viele glückliche Erhebungen des Gedankens und
der Empfindung.“2
Nietzsche erlebt in der Berglandschaft eine wohltuende Distanz
vom „täglichen Lehr- und Denkzwang“ und eine kreative Freiheit
der Gedanken, die sich ihm – so lässt es der Brief an Rohde vermu-
ten – vor allem bei seinen täglichen Spaziergängen durch die Natur
ergaben. Diese neu gewonnene gedankliche Freiheit führt dazu,
dass Nietzsche, der in diesen Jahren sonst nur wenig lyrisch tätig
ist, 3 ein titelloses Gedicht verfasst, 4 das ein Naturgeschehen im

1 KGW IV/4, 31. Vom 10. bis 24. Juli ist Nietzsche in Zug bei Luzern. – Der
vorliegende Text geht auf Anregungen von Claus Zittel (Stuttgart) während
eines Forschungsseminars an der Universität Padua zurück, ihm sei dafür
herzlich gedankt.
2 KGW IV/4, 32.
3 Groddeck, der sich mit der Frage nach einer vollständigen und textkritischen

Ausgabe von Nietzsches Gedichten auseinandersetzt, teilt die Gedichte aus


Nietzsches Nachlass in fünf Gruppen ein: Die erste Gruppe umfasst Nietz-
sches Jugendgedichte aus den Jahren 1854 bis 1869, die zweite umfasst jene
Gedichte, die aus der Zeit nach den Jugendgedichten bis zum Beginn der Ar-

Coincidentia (ISSN 1869-9782), Band 7/2 – 2016: 343-385


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Hochgebirge schildert und dessen freie Rhythmik – auch Zeichen


des Frei-Denkens in der Natur – das Gedicht von früheren unter-
scheidet. Im Herbst 1884 überarbeitet er es neben anderen, weil er
plant, eine Gedichtausgabe zu veröffentlichen.5 Es erhält nun seinen
Titel: Am Gletscher. Doch es kommt nicht zu dieser Gedichtausgabe.
Das Gedicht erscheint – in der Fassung von 1884 – zum ersten Mal
in der Sammlung seiner Gedichte und Sprüche, die seine Schwester
Elisabeth Förster-Nietzsche im Jahr 1898 herausgibt.6 Das Gedicht
wird schon früh rezipiert, so bereits 1908 von Saladin Schmitt, ei-
nem Vetter Stefan Georges. Es wurde seither immer wieder von der
Forschungsliteratur beachtet, jedoch nie einer ausführlichen Unter-
suchung unterzogen. Im Folgenden soll diese Dichtung eingehen-
der betrachtet werden; nach einem kurzen Überblick über die aktu-
elle Forschungslage wird zunächst Form und Inhalt beider Fassun-
gen beschrieben, um dann unter Heranziehung von anderen Texten
Nietzsches zum Gehalt dieses in ihrer Zeit durchaus ungewöhn-
lichen Werks vorzudringen.

beit an der Fröhlichen Wissenschaft stammen, die dritte Gruppe beinhaltet jene
Gedichte, die im Vorfeld der Idyllen von Messina und der Fröhlichen Wissenschaft
entstehen, die vierte betrifft die Lyrikproduktion im Jahr 1884 und die fünfte
Gruppe jene lyrischen Entwürfe, die vom Sommer 1888 an entstehen; vgl.
Groddeck: Gedichte und Sprüche, 174ff. Die erste Fassung von Am Gletscher
gehört nach dieser Einteilung in die zweite Gruppe von Nietzsches Nachlass-
Gedichten, die Überarbeitung in die vierte Gruppe.
4
Erste Fassung: Nachlass 1877, 22[94], KGW IV/2, 492f. Der kritische Apparat
befindet sich in KGW IV/4, 438. Er enthält nur die Hinweise, dass das Gedicht
1884-1885 überarbeitet wurde und dass die letzten beiden Zeilen („Mein Gruss
ist Abschied / Ich sterbe jung. –“) später hinzugefügt wurden. Ein von mir
unternommener Versuch einer diplomatischen Wiedergabe der ersten Fassung
findet sich im Anhang. Zweite Fassung: Nachlass 1884, 28[60], KGW VII/3,
33f. Der kritische Apparat ist in KGW VII/4,2, 237ff. Einige Momente des Ge-
dichts finden sich schon in „Zweiter Abschied“ von 1863/1864, dazu Köhler:
„Die fröhliche Wissenschaft“, 59.
5
Vgl. KGW VII/4,2, 201. Überlegungen zu Titeln und Gedichtverzeichnissen,
die das Gedicht Am Gletscher enthalten, in KGW VII/4,2, 211f.
6
Weitere Auflagen bis 1927.
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Die verschiedenen Blicke auf „Am Gletscher“

Am ausführlichsten besprechen das Gedicht Manfred Riedel, Philip


Grundlehner und Rohit Sharma. Riedels Deutung setzt breit an,
geht sowohl auf die erste als auch auf die zweite Fassung ein.7 Für
ihn stellt das Gedicht die „Rückkehr der Natur in den Menschen,
des Menschen in die Natur“ dar, sowie einen Versuch, „im Gedan-
kenspiel von Ankunft und Abschied eine Sehnsucht nach ursprüng-
licher Einheit mit der Natur zu stillen“.8 Grundlehner erläutert eini-
ge Bilder, indem er sie mit weiteren Aussagen in Nietzsches Werk
vergleicht. Für ihn steht im Mittelpunkt der Umgang des Menschen
mit dem Tod und der „Qual des Lebens“.9 Er blickt mehrmals auf
Nietzsches verschlechterten Gesundheitszustand im Jahr 1877 – dies
ist das Jahr, in dem die erste Fassung entsteht; seiner Interpretation
legt Grundlehner jedoch allein die zweite Fassung aus dem Jahr
1884 zu Grunde, so dass die dichterische Gedankenentwicklung
weitgehend unbeachtet bleibt.10 Auch Sharma bezieht sich auf die
zweite Fassung. Er meint, das Gedicht deute auf den Gedanken der
ewigen Wiederkunft voraus, was er u.a. an der zirkulären Struktur
festmacht. 11 Theo Meyer berücksichtigt „Am Gletscher“ in seiner
umfangreichen Monographie zu Nietzsches Kunstauffassung und
Lebensbegriff in seinem Überblick über Nietzsches lyrisches Schaf-
fen; er würdigt das Gedicht im Zusammenhang mit seinen Überle-
gungen zu Nietzsches Auffassung der Natur und der „heroischen
Idylle“.12 Johannes Klein bietet eine kurze Deutung der zweiten Fas-
sung,13 in der er die Rätselhaftigkeit des Gedichts herausstellt: „Da-
bei bleibt ein letztes Geheimnis unenthüllt. Es ist im tiefsten eine
sibyllinische Sprache – in einer ganz anderen Art wie die Hölder-
lins.“ 14 Er hebt außerdem hervor, dass sich darin ein neues Mit-

7 Vgl. Riedel: Freilichtgedanken, 111-115.


8 Riedel: Freilichtgedanken, 115.
9 Vgl. Zitat Nietzsches auf S. 199.
10 Vgl. Grundlehner: The Poetry of Friedrich Nietzsche, 70-80.
11 Vgl. Sharma: On the Seventh Solitude, 51-55.
12 Vgl. Meyer: Nietzsche, 409f., 517f., 566.
13 Vgl. Klein: Die Dichtung Nietzsches, 63-66.
14 Klein: Die Dichtung Nietzsches, 65.

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bzw. Ineinander von Mensch und Natur offenbart, „die Objektivie-


rung des Menschen, die Hingabe an die Welt im Sinnbilde der
Landschaft“15. Saladin Schmitt bespricht die zweite Fassung kurz in
einem Referat über Nietzsches Gedichte und Sprüche vor der lite-
rarhistorischen Gesellschaft Bonn im Jahr 1908. Seine Überlegungen
zielen vor allem auf das Verhältnis zur Landschaft, das geprägt ist
vom „Aufgeben des eigenen Menschen“ und einer gleichzeitigen
„Vermenschlichung oder Dämonisierung natürlicher Vorgänge“.16
In einem Aufsatz zu Nietzsches Gedichten berücksichtigt Hans Lei-
segang die Zeilen 44ff. der zweiten Fassung („Da horcht es rings“
bis „Und schweigt – –“)17 und veranschaulicht an ihnen die Zei-
chenhaftigkeit der Naturdarstellung: „Die Landschaft, die Nietzsche
sieht und deren Wirkung auf sich selbst er darstellt, wird nicht er-
faßt in ihrem ganzen Gefühlswert; was an ihr wichtig ist, das ist ihre
Wirkung auf den Denkprozeß, das ist der Gedanke und das Denken
selbst, das in ihr lebt.“18 A. Quinot übersetzt die zweite Fassung im
Jahr 1946 ins Französische und versieht die Übersetzung mit einem
kurzen Kommentar zum Motiv des Mittags und zu der Darstellung
der Gebirgsnatur.19 Angèle Kremer-Marietti untersucht das Gedicht
in ihrem Kapitel zu „La vertu de la parole“.20 Joachim Köhler deutet
Am Gletscher biographisch im Rahmen seiner Nietzsche-Biographie,
welche dessen „problematisches Verhältnis zum eigenen wie zum
anderen Geschlecht“21 untersucht, das er in den Gedichten und Also
sprach Zarathustra manifestiert sieht. Köhler sieht im „Knaben“ ei-
nen kranken Jungen, den Nietzsche im Sommer 1877 in Rosenlau-
ibad kennenlernt, im alten Mann Nietzsches Vater, im Kind Nietz-
sche selbst.22 Wolfgang Jordan bezieht Am Gletscher in seine Mono-
graphie zu Nietzsches Naturbegriff mit ein, und zitiert zustimmend

15 Ebd.
16 Vgl. Schmitt: Über Nietzsches „Gedichte und Sprüche“, 106f.; Zitat 107.
17 Vgl. Leisegang: Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, 282.
18 Ebd.
19 Vgl. Quinot: Un poème de Nietzsche, 15-18.
20 Vgl. Kremer-Marietti: Thèmes et structures, 195-198.
21 Busch: Rezension, 93.
22 Vgl. Köhler: Zarathustras Geheimnis, 246-251. Offener im Sinn einer Selbst-

konstitution ist die Deutung in Köhler: „Die fröhliche Wissenschaft“, 59-65.


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Kleins Überlegungen. 23 Immer wieder wird somit ein besonderes


Verhältnis zwischen dem Mensch und der Natur gesehen, doch
wird das kaum je genauer betrachtet und im Prozess der dichteri-
schen Arbeit und der Gedankenentwicklung über die verschiedenen
Fassungen hin verfolgt, obwohl doch eigentlich erst in ihnen die
Denkbewegungen Nietzsches zum Ausdruck kommen.

Die erste titellose Fassung des ‚Gletscher-Gedichts‘ von 1877

Um Mittag, wenn
Der junge Sommer in’s Gebirge steigt,
Da spricht er auch,
Doch sehen wir sein Sprechen nur:
5 Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns
In Winterfrost:
Es geben Eisgebirg und Tann und Quell
Ihm Antwort auch,
Doch sehen wir die Antwort nur.
10 Denn schneller springt vom Fels herab
Der Sturzbach wie zum Gruss
Und steht als weisse Säule horchend da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
Als sonst sie blickt.
15 Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Blickt plötzlich Leuchten auf:
Wer deutet dir’s?
In todten Mannes Auge
Wird wohl noch einmal Licht:
20 Sein Kind umschlang ihn harmvoll
Küsst’ ihn.
Da sagt des Auges Leuchten:
„Ich liebe dich“

23Vgl. Jordan: Friedrich Nietzsches Naturbegriff, 105. Eine Veröffentlichung des


Vortrags von Martin Endres „Montierte Überlegung. Eine Lektüre von Nietz-
sches ‚Am Gletscher‘“, gehalten auf der Tagung „‚Ja, mein Herr! Sie sind ein
Dichter!‘ Nietzsche und die Lyrik“ (Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft,
15.-18. Oktober 2015 in Naumburg) erscheint in: Christian Benne und Claus
Zittel (Hgg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompendium. Stuttgart 2017.

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Und Schneegebirg und Bach und Tann


25 Sie sagen auch
Zum Sommerknaben nur
Dies Eine Wort:
Wir lieben dich!
Wir lieben dich!
30 Und er — er küsst sie harmvoll,
Inbrünstiger stets
Und will nicht gehn:
Er bläst sein Wort wie Schleier nur
Von seinem Mund — ein schlimmes Wort. —
35 Da horcht es rings
Und athmet kaum:
Da überläuft es schaudernd wie
Ein Glitzern am Gebirg
Rings die Natur:
40 Sie denkt und schweigt. —
Um Mittag war’s

Mein Gruss ist Abschied


Ich sterbe jung. —

(Nachlass 1877, 22[94], KGW IV/2, 492f.)

Nietzsche komponiert in freien Rhythmen, wobei er meist jeder


Sinneinheit eine Zeile gibt. Eine karge, einsame Gebirgslandschaft
im Sommer wird geschildert: hier gibt es nur von Schnee und Eis
bedecktes graues Gestein, „Tann“ und „Quell“ (Z. 7), bzw. „Sturz-
bach“ (Z. 11).24 Die erste Zeile gibt den Zeitpunkt an: Es ist Mittag,
dann, wenn der „junge“ Sommer ins Gebirge „steigt“ (Z. 2). Auch
kurz vor dem Ende des Gedichts wird, das Geschehen gleichsam
beschließend, der Mittag noch einmal erwähnt: „Um Mittag war’s“
(Z. 41). 25 Damit lässt der altphilologisch Kundige die hellenische

24 Die Elemente der Gebirgslandschaft sind „Eisgebirg“, Z. 7; „Fels“, Z. 10;


„Eis“, Z. 15; „Graugestein“, Z. 15; „Bach“, Z. 24; „Schneegebirg“, Z. 24.
25 Die Zeilen „Mein Gruss ist Abschied / Ich sterbe jung. — “, abweichend mit

breitem Bleistift und in anderem Schriftduktus geschrieben, sind wohl später


Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 349

Vorstellung des Mittags als Geister-Zeit anklingen, in der der


Mensch sich zurückzieht und der göttliche Pan erscheint, zeigt das
einbrechende ‚Erscheinen‘ aber in einer kalten Gebirgswelt. Er
zeichnet eine unbelebt Landschaft, das Graugestein ist „todt[]“
(Z. 15), der Mensch im Gedicht ganz zurückgenommen. Nur zwei-
mal wird ein ‚Wir‘ genannt (Z. 4 u. 9), nur einmal ein ‚Du‘, das aber
wohl – im Sinne eines Selbstgespräches – dem Sprecher selbst gilt:
„Wer deutet dir’s?“ (Z. 17). Der Mensch ist fast unsichtbar, doch
sind der Sommer und die Landschaftselemente „Eisgebirg“, „Tann“
und „Quell“ vermenschlicht. Die Tanne etwa blickt „dunkler noch
und treuer“ „[a]ls sonst sie blickt“ (Z. 13-14). Der Sommer und die
Gebirgslandschaft kommunizieren miteinander. Das ‚Wir‘, das den
Sprecher und den unbestimmten Hörer zusammenfasst, blickt auf
diese Kommunikation zwischen Naturlandschaft und Sommer, hört
sie aber nicht, sondern sieht sie nur (vgl. Z. 4, 9, 33-34): Das ‚Wir‘
sieht das Sprechen des „junge[n]“ Sommers wie eine Sprech-
Atemwolke in kalter Winterluft (Z. 4), als „Schleier“ (Z. 33), den der
Sommer von seinem Mund „bläst“ (Z. 33). Der Sturzbach springt
‚antwortend‘ „schneller“ vom Fels herab (Z. 10), und die Tanne
blickt ebenso ‚antwortend‘ „dunkler noch und treuer“ (Z. 13) als
sonst. Das ‚Wir‘ nimmt einen Teil der Kommunikation aber auch
durch Lichtmomente wahr, nämlich durch ein plötzliches „Leuch-
ten“ (Z. 16) sowie ein „Glitzern“ (Z. 38). Die tonlose Kommunikati-
on mündet am Ende des Gedichts in ein Schweigen der Natur.
Am Mittag, so beginnt das Gedicht, steigt der „junge“ (Z. 2), ver-
menschlichte Gebirgssommer, der „Sommerknabe[]“ (Z. 26), ins
Gebirge, einem Wanderer gleichend, und spricht. Das ‚Wir‘ nimmt
sein Sprechen und die Antwort der ihn umgebenden, Gebirgsnatur
nur sehend wahr. Der „Quell“ antwortet, ebensowie „Tann“ und
„Eisgebirg“: „Und zwischen Eis und todtem Graugestein / Blickt
plötzlich Leuchten auf“ (Z. 15-16). Das Leuchten lässt nach einer
Deutung fragen: „Wer deutet dir’s?“ (Z. 17). Eine Szene zwischen
zwei Menschen, zwischen Mann und Kind, vielleicht eine Szene der
Erinnerung, folgt auf die Frage (Z. 18-23). Hier wird es auf ähnliche

zu unbekanntem Zeitpunkt hinzugefügt worden; vgl. meine diplomatische


Wiedergabe der Handschrift Nietzsches im Anhang.

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Weise wie im „todte[n] Graugestein“ (Z. 15) Licht: im toten Auge


des Mannes wird es Licht, denn „[s]ein Kind umschlang ihn harm-
voll / Küsst’ ihn“ (Z. 20-21). Und das Leuchten im Auge ist eine
Liebesbeteuerung: „Ich liebe dich“ (Z. 23). Das Deuten des Leuch-
tens als Liebesbeteuerung wird nun auf die von Leuchten erhellte
tote Gebirgslandschaft übertragen. Sie beteuert seine Liebe gegen-
über dem Sommerknaben. „Schneegebirg“, „Bach“ und „Tann“
(Z. 24) sagen: „Wir lieben dich!“ (Z. 28-29). Auch der Sommerknabe
wendet sich liebevoll an die Naturlandschaft. Er „küsst sie“ (Z. 30),
aber voller Harm, er „will nicht gehn“ (Z. 32), er spricht sein
„schlimmes Wort“ (Z. 34). Sein „schlimmes Wort“, das zunächst
unbestimmt ist, sind die letzten beiden Zeilen des Gedichts, die in
deutlich anderem Schriftzug nachgetragen sind: „Mein Gruss ist
Abschied / Ich sterbe jung. –“ (Z. 42-43).26 Der junge Sommerknabe
muss sterben, sein Gruß schließt seinen Abschied ein. Die Antwort
der Gebirgsnatur führt ins Schweigen: sie „horcht“ (Z. 35) und
„athmet kaum“ (Z. 36). Erneut ist ‚Licht‘ Teil der Kommunikation:
ein „Glitzern“ (Z. 38) überläuft die Natur, „schaudernd“ (Z. 37).
Dann „denkt“ sie und „schweigt“ (Z. 40).
So zeigt das Gedicht den Menschen vor einer dem menschlichen
Maß deutlich entzogenen Natur. Es bestehen zwar kommunikative
Bezüge, die jedoch durchweg auf Zuschreibungen, vermenschli-
chenden Projektionen des Sprechers beruhen. Und dies wird unmit-
telbar thematisiert, indem die Frage nach der Aussage des wahrge-
nommenen Zeichens gestellt wird: „Wer deutet dir’s?“ (Z. 17). Ge-
mildert wird diese Distanz allerdings dadurch, dass mit den Aus-
drücken „der junge Sommer“ und „Sommerknabe“ der Eindruck
einer durchgängig das Gedicht durchziehenden Naturmetaphorik
erweckt wird. Irritierend bleibt dabei freilich die wertende Wen-
dung „ein schlimmes Wort“ (Z. 34), die in der zunächst entworfe-
nen Naturmetaphorik sperrig wirkt – möglicherweise sogar das
nachgetragene „Mein Gruss ist Abschied, Ich sterbe jung. – “
(Z. 42-43) auslöste.

26Vgl. DFGA, URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/N-II-


2,102; siehe Anhang.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 351

Abschrift und ‚Zwischenfassung‘ von 1884:


„Sommer im Hochgebirge“

Im Jahre 1884 nimmt sich Nietzsche das frühe Gedicht erneut vor.
Wohl als Vorlage für eine neue (die zweite) Fassung erstellt er
gleichsam eine ‚Zwischenfassung‘, ausgehend von einer Abschrift
der Erstfassung des Gedichts.27 Die Dichtung erhält nun den Titel
„Sommer im Hochgebirge“, der das Natur-Metaphorische betont.

Sommer im Hochgebirge.

Um Mittag, wenn
der junge Sommer in’s Gebirge steigt,
da spricht er auch
doch sehen wir sein Sprechen nur:
5 sein Athem quillt wie eines Wandersmanns
im Winterfrost.
Es geben Eisgebirg’ und Tann’ und Quell
ihm Antwort auch: doch sehen wir die Antwort nur.
Denn schneller springt vom Fels herab
10 der Sturzbach wie zum Gruss
und steht als weisse Säule zitternd da.
Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne
als sonst sie blickt.
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
15 bricht plötzlich Leuchten aus –
wer deutet dir’s? –
In todten Mannes Auge
wird’s wohl noch einmal Licht:
sein Kind umschlingt ihn harmvoll
20 und küsst ihn.
Da sagt des Auges Leuchten:
ich liebe dich. –
Und Schneegebirg und Bach und Tann’
sie sagen auch
25 zum Sommerknaben nur
dies Eine Wort:

27 Vgl. KGW VII/4,2, 237f. Die Abschrift ist in Mp XVIII.

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„wir lieben dich!


wir lieben dich!“
Und er – er küßt sie harmvoll,
30 inbrünstiger stets
und will nicht gehen:
er bläst sein Wort wie Schleier nur
von seinem Mund –
ein schlimmes Wort:
35 „mein Gruss ist Abschied,
ich sterbe jung.“ –
Da horcht es rings
und athmet kaum;
da überläuft es schaudernd, wie
40 ein Glitzern am Gebirg,
rings die Natur:
Sie denkt und schweigt. –
Um Mittag war’s.

(KGW VII/4,2, 237f.)

Abgesehen von einigen weniger bedeutenden Änderungen bei der


Interpunktion und der Apostrophierung, der Umwandlung der
Großschreibung vieler Zeilenanfänge in Kleinschreibung und einem
veränderten ‚Zeilenumbruch‘ an zwei Stellen, fällt auf, dass die
Szene zwischen Mann und Kind nun vollständig im Präsens steht
(Zwischenfassung 1884: Z. 16-22). Darüber hinaus kommt es auch
zu bedeutsameren Änderungen, die dann in die endgültige Fassung
von 1884 eingehen: Der Sturzbach steht „als weisse Säule“ nicht
mehr „horchend“ (1877: Z. 12), sondern „zitternd“ da (Zwischenfas-
sung 1884: Z. 11), womit die vermenschlichte Beschreibung der Na-
tur genutzt wird, um die Gefährdetheit anzuzeigen. Das Leuchten
in der toten Gebirgsnatur „blickt“ nicht „auf“, sondern „bricht aus“
(1877: Z. 16; Zwischenfassung 1884: Z. 15), was die Dynamik des
Vorgangs erhöht. Die zunächst offenbar nachgetragenen Gruß- und
Abschiedsworte des Sommerknaben („mein Gruss ist Abschied, /
ich sterbe jung“, Zwischenfassung 1884: Z. 35) werden nun endgül-
tig aufgenommen, finden sich jedoch nicht mehr am Ende des Ge-
dichts, sondern gleichsam als direkte Rede (die nur durch das Sehen
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 353

wahrgenommen wird) im Schlussteil des Gedichts (Zwischenfas-


sung 1884: Z. 35-36), so dass die an den Anfang des Gedichtes an-
schließende Wendung „Um Mittag war’s“ in der Wirkung gestei-
gert wird und das Zirkuläre des beobachteten Geschehens mit be-
sonderem Nachdruck angezeigt ist.

Die zweite Fassung von 1884: „Am Gletscher“

In der durchgestalteten zweiten Fassung von 1884 trägt das in der


Erstfassung titellose Gedicht nun abweichend von der Zwischenfas-
sung die Überschrift „Am Gletscher“. Sie ist geeignet, das einfach
Landschaftlich-Bildliche zurückzudrängen und eine menschen-
enthobene Sphäre aufzurufen, die darauf hindeutet, dass das Ge-
dicht von einem Geschehen oder Prozess des Menschen mit oder in
der Natur handelt.28

A m G l e t s c h e r.

Um Mittag‚ wenn zuerst


Der Sommer in’s Gebirge steigt‚
Der Knabe mit den müden‚ heißen Augen:
Da spricht er auch‚
5 Doch s e h e n wir sein Sprechen nur.
Sein Athem quillt wie eines Kranken Athem quillt
In Fieber-Nacht.
Es geben Eisgebirg und Tann’ und Quell
Ihm Antwort auch‚
10 Doch sehen wir die Antwort nur.
Denn schneller springt vom Fels herab
Der Sturzbach wie zum Gruß
Und steht‚ als weiße Säule zitternd‚
Sehnsüchtig da.
15 Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne‚
Als sonst sie blickt
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Bricht plötzlich Leuchten aus — —

28Weitere Überlegungen zum Titel waren: Sommer im Hochgebirge; Yorick


unter Gletschern; vgl. KGW VII/4,2, S. 238.

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Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s. —

20 Auch todten Mannes Auge


Wird wohl noch Ein Mal licht‚
Wenn harmvoll ihn sein Kind
Umschlingt und hält und küßt:
Noch Ein Mal quillt da wohl zurück
25 Des Lichtes Flamme‚ glühend spricht
Des Todten Auge: „Kind!
Ach Kind‚ du weißt‚ ich liebe dich!“ —
Und glühend redet Alles — Eisgebirg
Und Bach und Tann —
30 Mit Blicken hier das selbe Wort:
„Wir lieben dich!
Ach Kind‚ du weißt‚ wir lieben‚ lieben dich!“

Und er‚
Der Knabe mit den müden heißen Augen‚
35 Er küßt sie harmvoll‚
Inbrünst’ger stets‚
Und will nicht gehn;
Er bläst sein Wort wie Schleier nur
Von seinem Mund‚
40 Sein schlimmes Wort
„mein Gruß ist Abschied‚
mein Kommen Gehen‚
ich sterbe jung.“

Da horcht es rings
45 Und athmet kaum:
Kein Vogel singt.
Da überläuft
Es schaudernd‚ wie
Ein Glitzern‚ das Gebirg.
50 Da denkt es rings —
Und schweigt — —

Um Mittag war’s‚
Um Mittag‚ wenn zuerst
Der Sommer ins Gebirge steigt‚
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 355

55 Der Knabe mit den müden heißen Augen.

(Nachlass 1884, 28[60], KGW VII/3, 33f.)

Die bereits erwähnte zirkuläre Form, die schon in der Fassung von
1877 angelegt war – auch da beschließt die erneute Nennung des
Mittags in den letzten Zeilen das Gedicht – wird ausgebaut. In der
neuen Fassung bilden die ersten drei Zeilen – obwohl sie keinen
vollständigen Satz darstellen – einen in sich abgeschlossenen Auf-
takt: „Um Mittag, wenn zuerst / Der Sommer in’s Gebirge steigt, /
Der Knabe mit den müden, heißen Augen:“ (Z. 1-3). Am Schluss
klingt das Gedicht mit diesen Anfangszeilen aus und unterstreicht
so die zirkuläre Form, die auf inhaltlicher Ebene mit dem Kommen
und Gehen des Sommerknaben korreliert. Die Zeilen sind abgesetzt
und bilden eine Schlussstrophe: „Um Mittag war’s, / Um Mittag,
wenn zuerst / Der Sommer ins Gebirge steigt, / Der Knabe mit den
müden, heißen Augen.“ (Z. 52-55). Die Abschiedsworte des Knaben,
die in der ersten Fassung mit einem anderen Schriftzug am Ende
ergänzt worden waren (1877: „Mein Gruss ist Abschied / Ich sterbe
jung. —“, Z. 42-43), stehen in der neuen Fassung im mittleren Teil
des Gedichts als direkte Rede in der Kommunikation mit der Ge-
birgslandschaft. Sie sind gegenüber dem Nachtrag um eine Zeile
erweitert: „‚mein Gruß ist Abschied, / mein Kommen Gehen, / ich
sterbe jung.‘“ (Z. 41-43).
Nietzsche gliedert das Gedicht nun in insgesamt fünf Versab-
schnitte. Das Ankommen des Knaben im Gebirge, sein erstes an die
Natur gerichtetes ‚Sprechen‘ und die ‚Antwort‘ der Gebirgsland-
schaft bilden den ersten Abschnitt, an dessen Ende die Frage nach
der Deutung des Leuchtens steht (Z. 1-19). Den zweiten Abschnitt
bildet der erinnernde Rückblick auf Mann und Kind, sowie die
Übertragung von deren liebevollen und ‚tödlichen‘ Kommunikation
auf die Kommunikation von Natur und Sommer (Z. 20-32). Der
dritte Abschnitt fasst den harmvollen Abschied des liebenden
Sommerknaben, der vierte Abschnitt bietet die ‚lichterfüllte‘,
schweigende Reaktion der Natur. Den fünften Abschnitt schließlich
bildet die oben erwähnte Schlussstrophe, in der die Anfangszeilen
des Gedichts wieder aufgenommen werden.

Coincidentia 7/2 – 2016


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Die einzelnen Strophen bilden rhythmisch in sich ausgewogene


Einheiten. Der zweite Abschnitt ist auffällig regelmäßig, meist jam-
bisch gestaltet. Gegenüber der ersten Fassung sind die Verse und
Sätze länger, sodass hier ein regelmäßiges Schema vorliegt, in dem
betonte und unbetonte Silben in ähnlich langen Zeilen mit drei oder
vier Hebungen alternieren. Die Liebesbeteuerung des toten Mannes
sowie die der Gebirgslandschaft sind parallel gestaltet „Ach Kind,
du weißt, ich liebe dich! —“ (Z. 25) und „Ach Kind, du weißt, wir
lieben, lieben dich!“ (Z. 32).
Im vierten Abschnitt kommt das Gedicht ganz zur Ruhe. Bis auf
die Zeile „Ein Glitzern, das Gebirg“ (Z. 49), die einen ersten Ab-
schluss innerhalb der Strophe darstellt, und die letzte Zeile „Und
schweigt — —“ (Z. 51) sind die Zeilen kurz. Sie sind viersilbig im
Wechsel von betonten und unbetonten Silben. Nach fast jeder Zeile
hält der Vortrag bzw. das Lesen inne, anders als in der ersten Fas-
sung, in der ein Satz über drei Verse mit unregelmäßigem Rhyth-
mus weiterläuft (1877: „Da überläuft es schaudernd wie / ein Glit-
zern am Gebirg / Rings die Natur:“, Z. 37-39). Neu ist die Zeile
„Kein Vogel singt.“ (Z. 46), die die Unbelebtheit der Natur akzentu-
iert. Inhaltlich wie formal endet der Abschnitt in einem Schweigen.
Die letzte Zeile besteht nur aus den zwei Wörtern „Und schweigt“
sowie zwei Gedankenstrichen (Z. 51). Insgesamt ist das Gedicht
‚durchkomponierter‘ und ‚wohlklingender‘29 als in der ersten Versi-
on. Form und Inhalt sind aufeinander abgestimmt.
Wie in der ersten Fassung ist der (betrachtende) Mensch gänzlich
zurückgenommen, nur zweimal erscheint ein ‚Wir‘ (Z. 5 u. 10).
Während jedoch in der ersten Fassung nach dem Auftreten des
Leuchtens in der Gebirgslandschaft die Frage an ein Du formuliert
wird (1877: „Wer deutet dir’s?“, Z. 17), wird der Übergang vom
Leuchten des Gebirges zur Szene zwischen Mann und Kind als
Aussage eines – ansonsten unerläuterten – Ich formuliert: „Solch
Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s. –“ (Z. 19). Diese Aussage
gibt die Szene zwischen Mann und Kind als eine Erinnerung dieses

29 Vgl. Riedel: Freilichtgedanken, 114.


Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 357

Ich zu erkennen,30 das sich darin nicht dialogisch an ein Du richtet,


sondern ganz bei sich bleibt.31 Während der Mensch als ‚Ich‘ und
‚Wir‘ zurückgenommen ist, sind menschliche Verhaltensweisen auf
die Elemente der Gebirgslandschaft übertragen. Sie geben dem
Knaben Antwort, der ins Gebirge steigt und zu ihnen spricht. Die
Schilderung der Antwort des Sturzbaches in der alten Fassung lau-
tet: „Und steht als weisse Säule horchend da“ (1877: Z. 12). In der
neuen Fassung werden die Antworten von „Tann’“ und „Quell“
(Z. 8) jeweils mit einem sozial wertenden Adjektiv beschrieben, das
einen Zustand der Bezugnahme auf eine andere Person beschreibt –
„treu“ und „sehnsüchtig“: Die Tanne blickt „dunkler und treuer“
(Z. 15), der Sturzbach steht „als weiße Säule zitternd, / Sehnsüchtig
da“ (Z. 13-14).
Das Bild des „Knabe[n] mit den müden, heißen Augen“
(Z. 3, 34, 55) entwächst dem Bild der Gestalt des „Sommerknaben“
(1877: Z. 27) der ersten Fassung, der dort jedoch nur einmal erwähnt
wird, während an einer anderen Stelle der ersten Fassung – offenbar
von derselben Gestalt – nur vom „junge[n] Sommer“ (1877: Z. 2) die
Rede war. Der „Knabe mit den müden, heißen Augen“ ist in der
zweiten Fassung ein eigenständiges Motiv, das dreimal im Gedicht
wiederholt wird und jeweils eine Zeile für sich beansprucht. Der
„Knabe“ steht am Anfang und Schluss parenthetisch als Bestim-
mung des Sommers: „Um Mittag, wenn zuerst / Der Sommer in’s
Gebirge steigt, / Der Knabe mit den müden, heißen Augen: / Da
spricht er auch“ (Z. 1-4). Doch lässt er sich auch als vom Sommer
getrennt wahrnehmen, ist also nicht mehr in einem Wort mit dem
Sommer verbunden wie in der ersten Fassung. In der Mitte des Ge-

30 Vgl. dazu auch die erste Stufe der Überarbeitung: „Solch Leuchten sah ich
schon: / [Einst als ich] / [Das war als] eines [Sterbenden] / alten Mannes Blick
brach und zerrann / Da brach des Auges Leuchten / noch Ein Mal aus und
sprach / ich liebe dich“; KGW VII/4,2, 239.
31 Auch in der Frage an ein ‚Du‘ in der ersten Fassung ist wohl das eigene Ich

angesprochen; vgl. Lämmert: Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, S. 57:


„Sowohl in Nietzsches Gedichten als auch in seiner gebundenen und unge-
bundenen Prosa ist mit der Anrede ‚Du‘ kaum je gehörfordernd ein anderes
Ich, sondern durchweg das eigene angesprochen.“ Doch immerhin zeigt die
Nennung eines Du Dialogisches an, was in der zweiten Fassung wegfällt.

Coincidentia 7/2 – 2016


358 Adela Sophia Sabban

dichts ist die Zeile „Der Knabe mit den müden, heißen Augen“ ein
weiteres Mal wiederholt (Z. 34), dort als Erläuterung eines einfa-
chen „er“, in dem vielleicht erneut auf den Sommer verwiesen
wird.32
Der Vergleich des „jungen“ „Sommerknaben“ mit einem Wande-
rer in der ersten Fassung (1877: „Sein Athem quillt wie eines Wan-
dersmanns“, Z. 5) fällt in der zweiten Fassung weg. Stattdessen
wird das Motiv der Krankheit, auf das bereits die „müden, heißen
Augen“ hinweisen, weiter ausgebaut. Der Atem des Knaben ist
„wie eines Kranken Athem“ (Z. 6), er quillt wie in „Fieber-Nacht“
(Z. 7). Da die Szenerie insgesamt als mittäglich geschildert wird,
erhält das Wort „Nacht“ ein besonderes Gewicht, es tritt in einen
Gegensatz zu den zahlreichen Licht-Wörtern und scheint damit da-
zu angelegt, diese zu relativieren – oder genauer, das Nächtige auch
im Licht zu vergegenwärtigen.33

Die vermenschlichte Naturlandschaft

Die Arbeit über die verschiedenen Fassungen hin lässt erkennen,


dass Nietzsche einen Spannungsraum aufzubauen sucht, der zu-
nehmend verdichtet wird – bis hin zu dem „schlimme[n] Wort“ (Z.
40) in der Fasssung von 1884, das ein „Schweigen“ der Natur aus-
löst, was dann – in der Wiederholung der Eingangsverse – zu einem
endlosen Kreisen hinüberführt. So muss sich zwar im Folgenden die
Interpretation wesentlich auf die zweite Fassung des Gedichts von
1884 richten, insbesondere auf das Wechselspiel von Mensch und
Landschaft, einer Landschaft, die vermenschlicht gesehen wird und

32 Zugleich aber zeigt die Szene mit dem Älteren den ‚Sommerknaben‘ als ein
Kind und lässt damit anklingen, was Nietzsche im „Zarathustra“ mit ‚Kind‘
verbindet, das ihm als „Unschuld“ gilt, als „Vergessen, ein Neubeginnen, ein
Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen“
(Za I, KGW VI/1, 27). Und so muss das im Gedicht angedeutete willige Ster-
ben des Kindes als das des „rollendes Rades“ gesehen werden.
33 Zur Bedeutung von „Nacht“ vgl. im Dialog zwischen dem „Wanderer“ und

seinem „Schatten“ in „Menschliches, Allzumenschliches“ die Aussage des


Schattens: „Und ich hasse das Selbe, was du hassest, die Nacht; ich liebe die
Menschen, weil sie Lichtjünger sind“; MA II, WS [Dialog], KGW IV/3, 176.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 359

zugleich die den Menschen übersteigende Sinnhaftigkeit des Todes


vergegenwärtigt, dies aber doch durchweg unter Einbeziehung des
Sinnverlaufs in den vorausgehenden Fassungen. Die Betonung der
zweiten Fassung soll dabei allerdings nicht besagen, dass die erste
Fassung nicht auch als eigenständiges, fertiges Gedicht mit eigenem
Klang und eigenen Sinnzusammenhängen zu werten ist.
Am Eingang des Gedichts geht der Blick auf die Landschaft, das
Gebirge, das, wie der Hinweis auf den Sommer und die Mittagszeit
anzeigen, im hellen Sonnenlicht gesehen ist. Doch sogleich kommt
ein Menschliches hinzu: Der Knabe „mit den müden‚ heißen Au-
gen“ (Z. 3), der auf unbestimmte Weise mit den Naturerscheinun-
gen, die allmählich erscheinen, verschränkt ist. So wendet sich der
Blick von der Betrachtung der Naturlandschaft ab und richtet sich
nach innen und wandert zeitlich zurück. Auslöser des Perspek-
tivenwechsels, aber auch die maßgebliche Verbindung der beiden
Gedichtteile ist das Leuchten im Gebirge: „Solch Leuchten sah ich
schon: das deutet mir’s“ (Z. 19). Das Ich erinnert sich an ein Leuch-
ten in den toten Augen eines Mannes,34 als sein Kind sich ihm liebe-
voll zuwendet, ihn „[u]mschlingt und hält und küßt“ (Z. 23). Beide
Male, sowohl im „todte[n] Graugestein“ (Z. 17) der Gebirgsnatur als
auch im ‚toten‘ Auge des Mannes, wird Totes kurzzeitig von leben-
digem Licht erhellt, ja wird selbst lebendig und spricht („Noch ein
Mal quillt da wohl zurück / Des Lichtes Flamme […]“, Z. 24-25).
Das Sprechen des toten Auges des toten Mannes ist die Liebesbe-
teuerung an den Knaben: „Kind! / Ach Kind, du weißt, ich liebe
dich!“ (Z. 27). Und genau so spricht die Gebirgsnatur zum ‚Som-
merknaben‘: „Wir lieben dich! / Ach Kind, du weißt, wir lieben,
lieben dich!“ (Z. 31-32) – nur dass nun nicht der ‚Sprecher‘, sondern
der ‚Hörer‘ in Verbindung mit dem Tod steht. Der Inhalt der Kom-
munikation, die Liebesbeteuerung, wird, ausgehend vom Leuchten,
auf die Gebirgslandschaft übertragen. So wird das Naturgeschehen

34„[…] glühend spricht / Des Todten Auge: […]“ (Z. 25-26). Der Kommentar
notiert zu „Des Todten Auge“: „Das todte] lies: Des Todten“ (KGW VII/4,2,
239). Dies ist ohne einen erneuten Blick auf die Handschrift Nietzsches nicht
nachvollziehbar. Möglich scheint durchaus, an dieser Stelle „Das todte Auge“
zu lesen.

Coincidentia 7/2 – 2016


360 Adela Sophia Sabban

gleichsam in Umkehrung gedeutet. 35 Wichtig für diese Art der


Kommunikation ist das Visuelle. Die Kommunikation selbst ist
‚still‘, denn sie ist ‚erdacht‘. Dass sie nur über das Auge wahrge-
nommen wird, wird mehrmals betont: „Doch sehen wir sein Spre-
chen nur“ (Z. 5), „Doch sehen wir die Antwort nur“ (Z. 10). Und
auch zwischen Mann und Kind läuft die Kommunikation über das
Auge: „[…] glühend spricht / Des Todten Auge: […]“ (Z. 25-26).
Ebenso wichtig ist das Auge im Gedicht Dies ist der Herbst, das zeit-
lich mit Am Gletscher in einer ersten Fassung im Sommer 1877 ent-
steht und gleichfalls im Jahr 1884 umgearbeitet wird – es erhält
dann den Titel Im deutschen November.36 Hier zeigt sich im Glänzen
des menschlichen Auges der Gedanke an eine Erinnerung „an
Schöneres“. Das Leuchten schließt die Bedeutung von ‚Erkenntnis‘
in sich mit ein. Im Dialog zwischen dem „Wanderer“ und seinem
„Schatten“ in Menschliches, Allzumenschliches ist gleichfalls Auge
und erkennendes Leuchten miteinander verknüpft:
„Der Schatten: Und ich hasse das Selbe, was du hassest, die Nacht; ich lie-
be die Menschen, weil sie Lichtjünger sind, und freue mich des Leuch-
tens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die uner-
müdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge
zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniss auf sie fällt, — jener
Schatten bin ich auch.“37
An anderer Stelle heißt es in Menschliches, Allzumenschliches:

35 Grundlehner meint, die entschlüsselte Botschaft der Natur beziehe sich nur
auf die „Qual des Lebens“, an die die Gebirgslandschaft in ihrer Kälte und
Einsamkeit gemahnt: „The ‚meaning‘ which the poet finds disclosed in nature
(‚das deutet mir’s‘ [l. 19]) will thus concern the ‚manifold torment of life‘ [viel-
fältige Qual des Lebens] perceived by Nietzsche in the glacier and communica-
ted in his correspondence.“; Grundlehner: The Poetry of Friedrich Nietzsche,
S. 77. Dem stimme ich nicht zu.
36 Erste Fassung von 1877: KGW IV,2, 491f. (22 [93]); zweite Fassung von 1884:

KGW VII,3, 31f. (28 [59]). Da beide Gedichte unmittelbar hintereinander ent-
stehen und auch ihre Umarbeitungen zeitgleich erfolgen, lohnt es sich, beide
Gedichte zusammen zu lesen. Wolfgang Rihm verarbeitet beide Gedichte in
seinem ersten Gesang seiner Komposition „umsungen“; vgl. den Schlussteil
des Aufsatzes.
37 MA II, WS [Dialog], KGW IV/3, 176.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 361

„S e i n L i c h t l e u c h t e n s e h e n . — Im verfinsterten Zustande von


Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir es gern, wenn wir Anderen
noch leuchten und sie an uns die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf
diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit, zu e r h e l -
l e n , Antheil.“38
Hier geht es darum, aus einem ‚dunklen‘ Zustand heraus anderen
zu leuchten und an dieser ‚Erleuchtung‘ teilzuhaben. Auch der
kranke, wie aus dunkler „Fieber-Nacht“ (Z. 7) sprechende Knabe in
Am Gletscher und die herbstliche „Sternenblume“ in Im deutschen
November sind Sterbende, die im Abschiednehmen ein Leuchten in
ihrem Gegenüber erzeugen. Das Gedicht Im deutschen November
bringt diese Vorstellung zum Ausdruck:
„‘Ich bin nicht schön
— so spricht die Sternenblume —
Doch Menschen lieb’ ich
Und Menschen tröst’ ich —
sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
nach mir sich bücken
ach! und mich brechen —
in ihrem Auge glänzet dann
Erinnrung auf,
Erinnerung an Schöneres als ich: —
ich seh’s, ich seh’s – und sterbe so.‘“ —39

Nicht nur beim Deuten des Leuchtens, sondern im ganzen Gedicht


Am Gletscher ist Menschliches auf die Naturlandschaft übertragen.
Die Naturelemente „Eisgebirg“, „Tann’“ und „Quell“ (Z. 8) sind
anthropomorphisiert, sie scheinen menschlich zu sprechen, zu han-
deln und zu empfinden. Naturerscheinungen wie das Leuchten
werden im Sinne einer menschlichen Empfindung, ja einer Kom-
munikation oder Handlung gedeutet: dem „Gebirgsglitzern“
(vgl. Z. 49) am Ende des Gedichts wird ein Akt des Denkens zuge-
ordnet („Da denkt es rings —“, Z. 50), dem ein Schweigen folgt
(„Und schweigt — —“, Z. 51). Schließlich ist der Sommer mit dem
Bild eines Menschen, eines „Knaben“ verknüpft. Gleichzeitig aber

38 MA II 61, KGW IV/3, 41.


39 Nachlass 1884, 28 [59], KGW VII/3, 32, Z. 18-28.

Coincidentia 7/2 – 2016


362 Adela Sophia Sabban

vermittelt das Gedicht dann auch, wie dieses Menschliche naturhaft


ist.
Dass Menschliches deutend in die Naturlandschaft hineingelegt
wird, dass sich der Mensch in gewisser Weise in der Natur spiegelt,
dazu äußert sich Nietzsche in verschiedenen Kontexten unter je-
weils anderen Blickwinkeln in ähnlicher Weise. Im zeitlichen Um-
feld der ersten Gedichtfassung entsteht die folgende Notiz, von der
einige Bilder und Gedanken vielleicht unmittelbar in die erste Ge-
dichtfassung eingehen:
„Es war Abend, Tannengeruch strömte heraus, man sah hindurch auf
graues Gebirge, oben schimmerte der Schnee. Blauer beruhigter Himmel
darüber aufgezogen. — So etwas sehen wir n i e , wie es an sich ist, son-
dern legen immer eine zarte Seelenmembrane darüber — diese sehen wir
dann. Vererbte Empfindungen, eigne Stimmungen werden bei diesen Na-
turdingen wach. Wir sehen etwas von uns selber — insofern ist auch die-
se Welt unsere Vorstellung. Wald Gebirge, ja das ist nicht nur Begriff, es
ist unsere Erfahrung und Geschichte, ein Stück von uns.“40
Nietzsche sieht hier eine Gebirgslandschaft mit grauem Gestein und
Schnee – es ist eine Landschaft ähnlich wie jene in Am Gletscher. Er
erkennt, dass diese ‚äußerliche‘ Natur mit ihren Erscheinungen
nicht unmittelbar fassbar ist. Der Mensch selbst legt eine „zarte See-
lenmembrane“ über die Naturerscheinungen, diese nimmt er dann
wahr. Die „Seelenmembrane“ wird genährt von eigenen, ‚menschli-
chen‘ Empfindungen und Erinnerungen, sodass der Mensch in der
Natur etwas von sich selbst sieht – etwa auch die Bestimmung als
„treu“ oder „sehnsüchtig“. In Menschliches, Allzumenschliches II
kehrt dieser Gedanke in ähnlicher Form wieder. Nietzsche spricht
hier von der „Doppelgängerei der Natur“: „In mancher Natur-
Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grau-
sen; es ist die schönste Doppelgängerei.“41 Die Naturlandschaft ist
wie ein Spiegelbild des Menschen, aber auch mehr als das: nicht nur
bloße spiegelnde ‚Kulisse‘, sondern in ihrer „Doppelgängerei“
selbst menschlich:

40 Nachlass Ende 1876-Sommer 1877 23[178], KGW IV/2, 564.


41 MA II 338, KGW IV/3, 337.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 363

„D i e v e r g e s s e n e N a t u r . — Wir sprechen von Natur und vergessen


uns dabei: wir selber sind Natur, quand même — . Folglich ist Natur et-
was ganz Anderes als Das, was wir beim Nennen ihres Namens empfin-
den.“42
So ist der Mensch Natur und trotzdem oder gerade deshalb ist sie
für ihn nicht fassbar. Später notiert Nietzsche: „— die Vermenschli-
chung der Natur — die Auslegung nach uns“.43 Die Naturerschei-
nungen werden vermenschlicht, das Naturgeschehen wird auf den
einzelnen Menschen bezogen und ihm zugleich ferngerückt. Die
Natur ist keine ‚Kulisse‘, sondern Zeichen des Menschen für den
Menschen, Zeichen seines Existierens.
In diesem Sinne muss die Naturlandschaft in „Am Gletscher“
verstanden werden. Das Gedicht ist ein Naturgedicht, aber nicht im
Sinne von Goethe, Eichendorff oder auch Hölderlin. Der Mensch
denkt sich in die Natur hinein, und zugleich aus der Natur heraus.
Das klingt in den letzten Zeilen an: „Da denkt es rings — / Und
schweigt — —“ (Z. 50-51), woraufhin zirkulär die Anfangsworte
wiederkehren, der Kreislauf fortgeht. Der Mensch als ‚Ich‘ bzw.
‚Wir‘ ist zwar fast unsichtbar, sich selbst entzogen, aber doch ist es
der Mensch, um den es im Gedicht geht. Das ist, wie Nietzsches
Lyrik generell, nicht „Gefühls- und Stimmungslyrik“, sondern „Ge-
dankenlyrik“. 44 In ihr kommen Nietzsches philosophische Ideen
zum Ausdruck, eingerahmt von polyphon-klingenden Landschafts-
bildern, die ganz auf den Menschen bezogen werden. Das begrün-
det die Zeichenhaftigkeit des Naturgeschehens.
Ihren ganzen Sinnhorizont entfalten die einzelnen Bilder und Zei-
chen erst dann, wenn das Gedicht mit anderen Texten Nietzsches
gelesen wird. Denn die (späteren) Gedichte stehen „fast ausnahms-
los in einem kompositorisch kalkulierten Zusammenhang mit sei-

42 MA II 327, KGW IV/3, S. 334. Auch zitiert bei Meyer: Nietzsche, 409,
Anm. 288.
43 Nachlass Herbst 1885-Frühjahr 1886, I[29], KGW VIII/1, 13. Auch zitiert bei

Meyer: Nietzsche, 409.


44 Vgl. Meyer: Nietzsche, 558, Anm. 439. Meyer verweist auf Todorow, Almut:

Gedankenlyrik. Die Entstehung eines Gattungsbegriffs im 19. Jahrhundert.


Stuttgart 1980, bes. 7ff.

Coincidentia 7/2 – 2016


364 Adela Sophia Sabban

nem [Nietzsches] Gesamtwerk“.45 Dann aber ergibt sich eine Zei-


chen- bzw. Metaphernlandschaft,46 in die sich Am Gletscher einfügt.
Eine solche Lesart ist in dem Gedicht selbst angelegt: das verge-
genwärtigt am deutlichsten das jäh aufbrechende Leuchten „zwi-
schen Eis und todtem Graugestein“, das an die den Freunden mit-
geteilten Engadin-Erlebnisse47 und die Schlüsse daraus anschließt,
zugleich aber die Erinnerung an das „todte Auge“ weckt und so das
Zeichen zum Verstehen gibt.

Die Gebirgslandschaft

Das Hochgebirge und das Meer sind Landschaften, zu denen sich


Nietzsche hingezogen fühlt, denen er sich „verwandt“ empfindet,
in denen er sich oft – auch krankheitsbedingt – aufhält. In einem
Brief vom 23. Juni 1879 schreibt er an Franz Overbeck über die En-
gadiner Gebirgslandschaft:
„Aber nun habe ich vom Engadin Besitz ergriffen und bin wie in meinem
Element, ganz wundersam! Ich bin mit dieser Natur verwandt. Jetzt spüre
ich die Erleichterung. Ach, wie ersehnt kommt sie!“48
Sein Denken ist unmittelbar an „einsame Berge“ oder an das Meer
geknüpft.49 In Die fröhliche Wissenschaft schreibt Nietzsche:
„A n g e s i c h t s e i n e s g e l e h r t e n B u c h e s . — Wir gehören nicht zu
Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Ge-
danken kommen — unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend,
springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht
am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.“50

45 Groddeck: Gedichte und Sprüche, 170.


46 Im selben Sinne spricht Bertram von einer Gleichnislandschaft Zarathustras;

vgl. Bertram: Versuch einer Mythologie, 277. Einen Zugang zu „Zarathustra“


über die Metapher würdigt Zittel in seinem Aufsatz „Die Aufhebung der An-
schauung im Spiel der Metapher“.
47 Vgl. unten.
48 URL: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1879,859. Auch zi-

tiert bei Meyer: Nietzsche, 410.


49 Vgl. Klein: Die Dichtung Nietzsches, 52. Zur Bedeutung des Berges bei

Nietzsche vgl. Günzel: Geophilosophie, 255ff.


50 FW 366, KGW V/2, 296.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 365

Infolge der engen Verknüpfung von Landschaft und Denken erhal-


ten die Landschaften Einzug in seine Schriften, in seine Philosophie.
Seinen Zarathustra nennt er selbst ein „Höhenluft-Buch“.51
Auch das Gedicht Am Gletscher zeichnet Bilder einer Gebirgsland-
schaft, die ‚Schauplatz‘ eines vermenschlichten, zeichenhaften Na-
turgeschehens ist. In Am Gletscher ist sie still, einsam und monoton.
Nur „Eisgebirg“, „Tann’“ und „Quell“ (Z. 8) treten in Nietzsches
Darstellung in Erscheinung. Mensch und Tier sind auf den ersten
Blick wie unsichtbar: „Kein Vogel singt“ (Z. 46). Das Naturgesche-
hen unterliegt einer kreisförmigen Bewegung, wie auch das Gedicht
zirkulär gebaut ist. Es ist ein tödliches Geschehen, das gezeichnet
wird: der Knabe kommt und muss schon wieder gehen: „‚mein
Gruß ist Abschied, / mein Kommen Gehen, / ich sterbe jung‘“ (Z.
41-43).52 In der Ruhe aber, in die das Gedicht am Ende übergeht, im
Schweigen, liegt ein Einverständnis mit dem Tod.
In der Entstehungszeit von Am Gletscher, in der zweiten Junihälfte
1877, schreibt Nietzsche in Rosenlauibad einen Brief an Paul Rée
und äußert sich darin zu den Empfindungen, die er in der Nähe des
Gletschers verspürt:
„An diesen Ort, den das Bildchen zeigt, habe ich 3 Bücher mitgenommen:
etwas Neues von Mark Twain dem Amerikaner (ich liebe dessen Albern-
heiten mehr als die deutschen Gescheutheiten), dann Plato’s Gesetze –
und Sie, lieber Freund. So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der
Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man
überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung
und Verachtung (sich selbst sehr einbegriffen) gemischt mit Mitleiden

51 „— Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Z a r a t h u s t r a . Ich habe


mit ihm der Menschheit das grösste Geschenk gemacht, das ihr bisher gemacht
worden ist. Dies Buch, mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg, ist nicht
nur das höchste Buch, das es giebt, das eigentliche Höhenluft-Buch — die gan-
ze Thatsache Mensch liegt in ungeheurer Ferne u n t e r ihm —, es ist auch das
t i e f s t e , das aus dem innersten Reichthum der Wahrheit heraus geborene, ein
unerschöpflicher Brunnen, in den kein Eimer hinabsteigt, ohne mit Gold und
Güte gefüllt heraufzukommen.“ EH, Vorwort 4, KGW VI/3, 257.
52 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Vorstufe der ersten

Gedichtfassung: „Denn weisser springt vom Fels herab / Der Tanzquell in sein
Grab: […]“; vgl. die diplomatische Wiedergabe im Anhang.

Coincidentia 7/2 – 2016


366 Adela Sophia Sabban

über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz
gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.“53
Im Gebirge, nahe am Gletscher, sagt Nietzsche, „überschaue“ man
„das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und
Verachtung“. Hier gewinnt man einen ‚Überblick‘ über die
Menschheit und über das Menschsein sowie über das Dasein insge-
samt. Man erkennt das Wesentliche, das, was jenseits des Menschen
liegt. Der Mensch tritt in seiner Unbedeutendheit zurück – wie er
auch im Gedicht – als „Ich“ und „Wir“ – fast unsichtbar ist. Eine
solche einsame Gebirgslandschaft ist in Nietzsches Texten allge-
genwärtig. Zarathustra etwa lebt als Einsiedler in den Bergen, zieht
sich in die Berge zurück. Aus Menschliches, Allzumenschliches II
stammen folgende Zeilen:
„N e u t r a l i t ä t d e r g r o s s e n N a t u r . — Die Neutralität der grossen
Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit:
nachher werden wir ungeduldig. ‚Wollen denn diese Dinge gar nichts zu
uns sagen? Sind wir für sie nicht da?‘ Es entsteht das Gefühl eines crimen
laesae majestatis humanae.“54
Die „grosse Natur“ ist schweigsam, 55 sie ist allem Menschlichen
entzogen. Ironisch spricht Nietzsche hier von einem „crimen laesae
majestatis humanae“. Auch das Gedicht Am Gletscher endet mit ei-
nem Schweigen. Betont wird im Gedicht die Entzogenheit der Natur
außerdem durch die Zeile „Kein Vogel singt“ (Z. 46), die Nietzsche
in der zweiten Fassung hinzugefügt und damit den Sinnklang des
Gedichtes erweitert hat. Denn die Erwähnung des Vogels stellt eine
Verknüpfung zum „Wanderer-Gedicht“ („Es geht ein Wandrer
durch die Nacht“) her, das 1876, ein Jahr vor der ersten Fassung von
Am Gletscher, entsteht und wie dieses, Im deutschen November und
andere Gedichte im Jahr 1884 eine Überarbeitung erfährt. Im Wan-
derer-Gedicht ist das Vogel-Motiv zentral. Der Wanderer und der
Vogel sind in einem Dialog; ein wirkliches Verstehen kommt jedoch

53 URL: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1877,627.
54 MA II 205, KGW IV/3, 280. Auch zitiert bei Jordan: Friedrich Nietzsches

Naturbegriff, 114f.
55 Zum Schweigen in Nietzsches Texten äußert sich ausführlich Meyer: Nietz-

sche, 572ff.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 367

nicht zustande, ja es bricht absolute Distanz auf. Das Gedicht kann


so als Abkehr von einer Philosophie verstanden werden, die es dem
Menschen ermöglicht, in der Natur seine „mythische Heimat“ zu
finden.56 In der Geburt der Tragödie war das noch möglich, hier heißt
es:
„Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken soll-
te, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren We-
ge und Stege er kaum mehr kennt — so mag er nur dem wonnig locken-
den Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und
ihm den Weg dahin deuten will.“57
Und wenig später folgt:
„Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der
deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft un-
zerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem
unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume: aus welchem Abgrunde zu
uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben,
dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen
Mythus in selig-ernsten Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der
deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er
so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzäh-
len.“58
In Am Gletscher, das nach dem Wanderer-Gedicht entsteht, ist die
Abkehr von dieser Philosophie ins Werk gesetzt. Die Natur ist nun
trotz und wegen der von Nietzsche beobachteten Doppelgänger-
schaft dem Menschen entzogen. Sie gibt keine Antworten und lässt
sich nur als subjektive Zeichenlandschaften lesen.
Gebirge und Meer sind die Landschaften, die am ‚menschenferns-
ten‘ sind. In seiner Menschenferne ist das Gebirge auch eine ‚tödli-
che‘ Natur. In einem frühen Gedicht von 1871, das die Überschrift
An die Melancholie trägt, kommt dies zum Ausdruck:
„[…]

56 Die Deutung des Gedichts als „Abkehr“ „von der Wagner-Welt und der
eigenen [Nietzsches] Dionysos-Philosophie der Frühzeit“ ist die zentrale These
von Zittel: Abschied von der Romantik, 193ff.; Zitat 195.
57 GT 23, KGW III/1, 145. Zitiert bei Zittel: Abschied von der Romantik, 202f.
58 GT 24, KGW III/1, 149f. Zitiert bei Zittel: Abschied von der Romantik, 203.

Coincidentia 7/2 – 2016


368 Adela Sophia Sabban

Du herbe Göttin wilder Felsnatur,


Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen;
Du zeigst mir drohend dann des Geyer’s Spur
Und der Lawine Lust, mich zu verneinen.
Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst:
Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!
Verführerisch auf starrem Felsgerüst
Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen.

Dies Alles bin ich — schaudernd fühl’ ich’s nach —


Verführter Schmetterling, einsame Blume,
Der Geyer und der jähe Eisesbach,
Des Sturmes Stöhnen — alles dir zum Ruhme,
Du grimme Göttin, der ich tief gebückt,
Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze,
Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt
Nach Leben, Leben, Leben lechze!

[…]“59
Die tote Gebirgsnatur bedroht den Menschen, das Lebendige:
„Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst“. Doch eben diese ‚töd-
liche‘, menschenferne Natur führt Nietzsche auch zu dem Gedan-
ken, dass die tote Welt einen eigenen, ja höheren Wert hat:
„Grundfalsche Werthschätzung der e m p f i n d e n d e n Welt gegen die
t o d t e . Weil wir sie sind! Dazu g e h ö r e n ! Und doch geht mit der Emp-
findung die O b e r f l ä c h l i c h k e i t , der Betrug los: was hat Schmerz und
Lust mit dem w i r k l i c h e n Vorgange zu schaffen! — es ist ein Neben-
her, welches nicht in die Tiefe dringt! Aber w i r nennen’s das I n n e r e
und die todte Welt sehen wir als ä u ß e r l i c h an — grundfalsch! Die
‚todte‘ Welt! ewig bewegt und ohne Irrthum, Kraft gegen Kraft! Und in
der empfindenden Welt alles falsch, dünkelhaft! Es ist ein F e s t , aus die-
ser Welt in die „todte Welt“ überzugehen — und die größte Begierde der
Erkenntniß geht dahin, dieser falschen dünkelhaften Welt die ewigen Ge-
setze entgegenzuhalten, wo es keine Lust und keinen Schmerz und Be-
trug giebt. Ist dies S e l b s t v e r n e i n u n g der Empfindung, im Intellekte?
Der Sinn der Wahrheit ist: die Empfindung als die äußerliche Seite des
Daseins zu verstehen, als ein Versehen des Seins, ein Abenteuer. Es dau-
ert dafür kurz genug! Laßt uns diese Komödie durchschauen und so g e -

59 Nachlass
1871, 15[1], KGW III/3, 413-414. Zum Gedicht: Sabban: Nietzsches
Gedicht „An die Melancholie“.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 369

n i e ß e n ! Laßt uns die Rückkehr in’s Empfindungslose n i c h t als einen


Rückgang denken! Wir werden ganz wahr, wir vollenden uns. Der T o d
ist u m z u d e u t e n ! Wir v e r s ö h n e n <uns> so mit dem Wirklichen d.h.
mit der todten Welt.“60
Nietzsche fordert eine Umdeutung des Todes. Er ist die Regel, die
Empfindung ein kurzweiliges „Versehen des Seins“.61 Sterben be-
deutet eine Rückkehr, eine ‚Heimkehr‘, der Tod bedeutet Vollen-
dung, ein Fest:
„Vom Leben erlöst zu sein und wieder todte Natur werden kann als Fest
empfunden werden — vom Sterbenwollenden. Die Natur lieben! Das
Todte wieder verehren! Es ist nicht der Gegensatz, sondern der Mutter-
schooß, die Regel, welche mehr Sinn hat als die Ausnahme: denn Unver-
nunft und Schmerz sind bloß bei der sogenannten ‚zweckmäßigen‘ Welt,
im Lebendigen.“62
Die Natur und der Mensch sind eins, der Mensch ist Natur. Totes
und Lebendiges sind eins. Dies führt auf einen Gedanken, der für
Manfred Riedel auf Nietzsches späteren Lehre von der Wiederkunft
verweist:63
„Unsere ganze Welt ist die A s c h e unzähliger l e b e n d e r Wesen: und
wenn das Lebendige auch noch so wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so
ist a l l e s schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort.
Nehmen wir eine ewige Dauer, folglich einen ewigen Wechsel der Stoffe
an —“64
Dass der Mensch Teil der Natur ist, die Werden und Sterben in sich
vereint, spielt in das Gedicht Am Gletscher hinein. Der ‚Sommerkna-
be‘ muss sterben. Aber es ist ein gleichsam ‚liebevoller‘ Abschied
auf beiden Seiten. „Eisgebirg“, „Tann’“ und „Quell“ (Z. 8) beteuern

60 Nachlass 1881, 11[70], KGW V/2, 366. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilichtge-
danken, 190.
61 Vgl. auch FW 109, KGW V/2, 146: „Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem

Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine
sehr seltene Art.“
62 Nachlass 1881, 11[125], KGW V/2, 384. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilicht-

gedanken, 191.
63 Vgl. Riedel: Freilichtgedanken, 191.
64 Nachlass 1881, 11[84], KGW V/2, 370f. In Teilen zitiert bei Riedel: Freilicht-

gedanken, 191.

Coincidentia 7/2 – 2016


370 Adela Sophia Sabban

ihre Liebe gegenüber dem Knaben und er „küßt sie harmvoll“


(Z. 35). Es herrscht ein Einverständnis mit dem Tod.65 Der Knabe im
Gedicht ist nicht nur der Sommer, der im Gebirge nur kurze Zeit
dauert und daher schon bald nach seiner ‚Ankunft‘ dem Herbst
weichen muss, er ist auch Zeichen des werdenden und sterbenden
Lebendigen als Teil der Natur. Wie im Gedicht An die Melancholie
geht der betrachtende Mensch in die Natur ein: „Dies Alles bin ich –
schaudernd fühl’ ich’s nach – / Verführter Schmetterling, einsame
Blume, / Der Geyer und der jähe Eisesbach, / Des Sturmes Stöhnen
[…]“. So ist der Knabe auch ‚Mensch‘.66 Die „müden, heißen Au-
gen“ des Knaben sind Zeichen seiner Fieber-Krankheit, die auf sei-
nen kommenden Tod hindeuten.67 Die zyklische Form des Gedich-

65 Vgl. auch eine Notiz aus dem Frühsommer 1881: „Einen Berg hinunterstei-
gen, die Gegend mit den Augen umarmen, eine ungestillte Begierde dabei. Die
leidenschaftlich Liebenden, welche die V e r e i n i g u n g nicht zu erreichen
wissen ( — bei Lukrez). Der Erkennende v e r l a n g t nach Vereinigung mit den
Dingen und sieht sich a b g e s c h i e d e n — dies ist seine Leidenschaft. Entwe-
der soll sich alles in Erkenntnis auflösen oder er löst sich in die Dinge auf —
dies ist seine Tragödie […]“; Nachlass 1881, 11[69], KGW V/2, S. 365. Zitiert
bei Riedel: Freilichtgedanken, S. 189. Bemerkenswert ist hier die Erwähnung
Lukrez’, der in De Rerum Natura (bes. in I 50ff.) eine ähnliche in die Natür sich
auflösende Identiät des Menschen propagiert.
66 Auch wenn man die biographische Deutung Joachim Köhlers mit Vorsicht

betrachtet (Köhler: Zarathustras Geheimnis, 246-251), könnte Nietzsches Be-


kanntschaft mit dem kranken Jungen im Sommer 1877 in das Gedicht einge-
flossen sein. Dagegen spricht aber, dass der Knabe in der ersten Gedichtfas-
sung nur einmal erwähnt wird. In der Handschrift ist zu sehen, dass Nietzsche
zunächst „jungen Sommer“ schreiben wollte, das „jungen“ dann aber streicht
und „Knabe“ hinter „Sommer“ anfügt (vgl. dazu die von mir erstellte diplo-
matische Wiedergabe der ersten Gedichtfassung im Anhang).
67 Vgl. auch Grundlehner: The Poetry of Friedrich Nietzsche, 75: „Summer,

especially summer in the mountains, symbolized for Nietzsche the season


which began to prepare man for death and transcendence. In his early notes
for ‚Zarathustra‘, for example, he wrote: ‚Once I will have my summer and it
will be a summer in the high mountains! A summer near the snow, near the
eagles, near to death.‘“
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 371

tes untermalt das Werden und Sterben des Knaben, seinen Aufstieg
in und seinen Abstieg aus dem Gebirge.68
In dieser Vergegenwärtigung des Tödlich-Entzogenen steckt Ent-
scheidendes: Eine Verehrung des „Todten“ als „Mutterschooß“ – als
Vorausweisen auf möglicherweise Kommendes. Hier setzte das
Denken einer neuen Naturauffassung an.

Die „heroisch-idyllische“ Natur

Eine wüste, menschenfeindliche Gebirgslandschaft kommt auch in


dem „Nachgesang“ Aus hohen Bergen69 vor, der am Ende von Jenseits
von Gut und Böse (1886) steht. In der Gebirgslandschaft, dort, „wo
der Wind am schärfsten weht“ (Z. 26), „[w]o niemand wohnt, in
öden Eisbär-Zonen“ (Z. 28), harrt das Ich zum „Lebens Mittag“ sei-
ner alten Freunde. In dieser Landschaft hat es sich gewandelt, es hat
sich „zu oft selbst bezwungen“ (vgl. Z. 23). Die alten Freunde, das
muss es nun erkennen, sind ihm nicht mehr verwandt. Der erste
Gedichtteil, bzw. – je nach Lesart – das erste Gedicht, endet damit,
dass das Ich stattdessen nun neuer Freunde harrt.
In diesem Gedicht ist die Idee von einem ‚erhöhten’ Menschen
enthalten, der sich der höchsten Abgeschiedenheit stellt und in ihr
schaffend tätig ist.70 Dieser Gedanke ist zwar nicht unmittelbar in
Am Gletscher enthalten, aber er fließt, wie die anderen Bilder und
Zeichen, ein. Das Bild des Mittags, das ja einen Höhe- und Wende-
punkt anzeigt, die Geister-Zeit der Antike, in der ein Göttliches er-
scheint, gibt diesen Verweis auf ein höheres Kommendes. Ein ähnli-
ches Bild vom Einsamen, der in seiner Abgeschiedenheit ein Schaf-
fender ist, findet sich in Zarathustra:

68 Einezirkuläre Gedicht-Struktur mit einer ‚Umwertung’ der Aussagerichtung


findet sich auch bei Dichtern der Romantik, etwa bei Eichendorff in seinem
Gedicht „Waldgespräch“.
69 JGB Nachgesang, KGW VI/2, 251ff. Eine ausführliche Interpretation des

Gedichtes nimmt Pestalozzi vor; vgl. Pestalozzi: Die Entstehung des lyrischen
Ich, 198ff.
70 Meyer und Lämmert beschäftigen sich ausführlich mit der Einsamkeit bei

Nietzsche; vgl. Meyer: Nietzsche, bes. den Exkurs 43, 694-709; Lämmert:
Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, 47ff.

Coincidentia 7/2 – 2016


372 Adela Sophia Sabban

„Einsamer, du gehst den Weg zu dir selber! Und an dir selber führt dein
Weg vorbei und an deinen sieben Teufeln!
Ketzer wirst du dir selber sein und Hexe und Wahrsager und Narr und
Zweifler und Unheiliger und Bösewicht.
Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest
du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!
Einsamer, du gehst den Weg des Schaffenden: einen Gott willst du dir
schaffen aus deinen sieben Teufeln!
Einsamer, du gehst den Weg des Liebenden: dich selber liebst du und
desshalb verachtest du dich, wie nur Liebende verachten.
Schaffen will der Liebende, weil er verachtet! Was weiss Der von Liebe,
der nicht gerade verachten musste, was er liebte!
Mit deiner Liebe gehe in deine Vereinsamung und mit deinem Schaffen,
mein Bruder; und spät erst wird die Gerechtigkeit dir nachhinken.
Mit meinen Thränen gehe in deine Vereinsamung, mein Bruder. Ich liebe
Den, der über sich selber hinaus schaffen will und so zu Grunde geht. — “71
Der Einzelne soll in der Einsamkeit Neues schaffen, selbst neu wer-
den, „über sich selber hinaus schaffen“. Verbunden damit ist freilich
sein Untergang. In einem Brief an Lou von Salomé vom August
1882 bezeichnet Nietzsche das als „Heroismus“:
„5.
Heroismus — das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt,
gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus
ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergange.
6.
Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen All-
Entwicklung — ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther!
Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen (Goethe zb.)“72
In einem Brief an Heinrich Köselitz vom 8. Juli 1881 aus Sils-Maria
nennt er die Engadiner Gebirgslandschaft „diese[] ewige[] heroi-
sche[] Idylle“.73 Die Gebirgslandschaft ist der Ort, an dem der Über-
Sich-Hinaus-Schaffende tätig ist. Die Stille, das Schweigen der
Landschaft sind dabei Voraussetzung für den kreativen Prozess. So
heißt es im „Zarathustra“: „Da sprach es wieder wie ein Flüstern zu

71 Za I, KGW VI/1, 78f.


72 Brief an Lou von Salomé, 8./24. August 1882; URL: http://www.nietzsche

source.org/#eKGWB/BVN-1882,287. Auch zitiert bei Meyer: Nietzsche, 596.


73 URL: http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/BVN-1881,122.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 373

mir: „Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Ge-
danken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt.“ 74 Die
„Idylle“ meint damit ein harmonisches Einssein von Mensch und
Natur, das die Abgründigkeit des Seins und den Tod bejaht und
den kommenden Untergang des Menschen annimmt. Dieser Zu-
stand ist die Ruhe, in der der Einzelne über allem schwebt, die Ruhe
„der reinen Identifikation mit dem Sein selbst“.75 Theo Meyer sieht
im Dionysos-Dithyrambus „Die Sonne sinkt“ diesen Zustand ge-
zeichnet:
„[…]
Rings nur Welle und Spiel.
Was je schwer war,
sank in blaue Vergessenheit,
müssig steht nun mein Kahn.
Sturm und Fahrt — wie verlernt er das!
Wunsch und Hoffen ertrank,
glatt liegt Seele und Meer.
[…]“76
In diesen Zeilen sind gezeichnete Landschaft und Seele in Harmo-
nie, eins. Es ist ein über das Wirkliche erhobener Zustand für den
Erlebenden, eine Ruhe und ein Einverständnis mit Natur, Sein und
Tod in Selbstvergessenheit.77 Eine ähnliche Stimmung wird in den
folgenden Zeilen aus Der Wanderer und sein Schatten evoziert:
„A m M i t t a g . — Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Le-
bens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens
eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es
wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint
steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen
Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen
Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. Er will Nichts, er
sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, — es ist ein

74 Za II, KGW VI/1, 185.


75 Meyer: Nietzsche, 596. Zum Heroisch-Idyllischen vgl. auch Riedel: Freilicht-

gedanken, 174ff.
76 DD „Die Sonne sinkt“, KGW VI/3, 394. Auch zitiert bei Meyer: Nietzsche, 596.
77 Vgl. auch Gritzmann: Das Gedicht „Die Sonne sinkt“ thematisiere das „‚Stil-

lewerden‘ in seiner Vollendung, das Abschiednehmen, die ‚letzte Einsam-


keit‘“; Gritzmann: Nietzsches Lyrik als Ausdruckskunst, 50.

Coincidentia 7/2 – 2016


374 Adela Sophia Sabban

Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und
soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam da-
rin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres,
schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mit-
tag ist vorbei, das L e b e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blin-
den Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen,
Geniessen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend her-
auf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war. — Den ei-
gentlich thätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände
des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.“78
Diese Stimmung hat durchaus Ähnlichkeiten mit der Stimmung, die
in Am Gletscher herrscht. Auch darin erzeugen die schweigende Na-
tur und das allseitig umfassende Einverständnis mit dem zirkulären
Ablauf von Kommen und Gehen eine Stimmung voll von Ruhe und
Ewigkeit – hin zu einer „halkyonische[n] Losgelöstheit des Sub-
jekts“79. Und das alles ist, wie in den Zeilen aus Der Wanderer und
sein Schatten, an die Mittagszeit geknüpft, den Höchststand der
Sonne.80 Tatsächlich ist der Mittag ein wiederkehrendes Motiv bei
Nietzsche. Liest man das Gedicht als Teil des Gesamtwerks, fließen
auch diese anderen Bedeutungen ein. Beispielhaft findet sich das in
Zarathustra, wiederum im Zusammenhang mit dem „Heroischen“:
„Und das ist der grosse Mittag, da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn
steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als
seine höchste Hoffnung feiert: denn es ist der Weg zu einem neuen Mor-
gen.
Alsda wird sich der Untergehende selber segnen, dass er ein Hinüberge-
hender sei; und die Sonne seiner Erkenntniss wird ihm im Mittage stehn.
‚T o d t s i n d a l l e G ö t t e r : n u n w o l l e n w i r , d a s s d e r Ü b e r -
m e n s c h l e b e .‘ — diess sei einst am grossen Mittage unser letzter Wil-
le! —“81

78 MA II, WS 308, KGW IV/3, 328. Vgl. dazu und zum Motiv des Mittags bei
Nietzsche Bollnow: Der Mittag, 38ff.
79 Meyer: Nietzsche, 595.
80 Zum Mittagsmotiv siehe Riedel: Freilichtgedanken, 113f., der auch die Zeilen

aus Menschliches, Allzumenschliches zitiert.


81 Za I, KGW VI/1, 98.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 375

Schluss und Nachklang


In Am Gletscher hat sich die Abkehr von der „mythischen Heimat
Natur“, wie sie in der Geburt der Tragödie noch existierte, bereits
vollzogen. Die kalte Gebirgslandshaft wird wegen ihrer Entzogen-
heit als subjektives Zeichen verstanden, sodass die Naturelemente
anthropomorphisiert werden – um so freilich dem Menschen fern-
zurücken. Die Frage der Naturinterpretation wird direkt angespro-
chen: Eine Szene der Erinnerung zwischen Mann und Kind lässt das
Geschehen in der Gebirgslandschaft deuten. Das Kommen und Ge-
hen des Lebendigen ist ein weiteres Thema. Denn das Tödliche in
der Menschenferne der Gebirgslandschaft lässt auch deutlich wer-
den, dass Mensch und Natur eins sind und dass das Leben – wie
sich Nietzsche ausdrückt – nur eine Ausnahme des Todes ist, der so
vom Grund her umgedeutet wird. Die schweigende Entrücktheit
der Natur widerspricht dem nicht, sondern bringt dies gerade zum
Ausdruck. Der ‚Sommerknabe‘, der sowohl Gebirgssommer als
auch Mensch ist, ein Kind, ist Zeichen dieses tödlichen Werdens
und Sterbens. Das Gedicht weist hin auf andere, spätere Texte und
Gedichte Nietzsches, wie Die Sonne sinkt, in dem ein schwebender
Zustand erreicht wird, der alles Sein klingend und denkend in ein
(abgründiges) „Idyll“ überführt. Die Ruhe, die diese anderen, späte-
ren Texte spürbar werden lassen, kennzeichnet auch Am Gletscher.
Knabe und Gebirgslandschaft umfangen sich gegenseitig liebevoll
im Einverständnis mit dem Tod. Doch vermittelt Am Gletscher auch
noch etwas Wehmut über den Tod des Knaben, der „nicht gehen
will“ (vgl. Z. 37).
Eine Notiz Nietzsches, die wohl aus dem unmittelbaren Zeitraum
der Entstehung des Gedichts stammt, irritiert in diesem Zusam-
menhang, denn auch hier ist von einem „sterbenden Kind“ die Re-
de: „D a s s t e r b e n d e K i n d . — Man giebt einem Kinde, das ster-
ben muss, alles, was es will, Zuckerbrod — was thut es wenn es sich
den Magen verdirbt? — Und sind wir nicht alle in der Lage eines
solchen Kindes? —“ 82 Das ist freilich hoch ironisch gesprochen.
Doch die Liebesbeteuerungen der Gebirgslandschaft könnten auch

82 Nachlass Ende 1876-Sommer 1877 23[180], KGW IV/2, 565.

Coincidentia 7/2 – 2016


376 Adela Sophia Sabban

als „Zuckerbrod“ verstanden werden, dann wäre das notwendige


vollständige Einverständnis im dem Tod noch nicht erreicht. Tat-
sächlich enthält die Aussage des Gedichts „Er küßt sie harmvoll‚ /
Inbrünst’ger stets‚ / Und will nicht gehn“ (Z. 35ff.) noch etwas an
unentschlossener Empfindsamkeit. Freilich ist auch hier Nietzsches
Feststellung zu beachten:
„Die Erklärer von Dichtern mißverstehen, daß der Dichter B e i d e s hat,
die Realität u n d die Symbolik. Ebenso den ersten und den zweiten Sinn
eines G a n z e n . Ebenso L u s t an dem Schillernden, Zwei-, Dreideutigen,
a u c h d i e K e h r s e i t e i s t g u t .“83
Dass Nietzsche in der zweiten Fassung die Zeile „Kein Vogel singt“
(Z. 46) hinzufügt, die eine Verknüpfung zum „Wanderer-Gedicht“
herstellt, zeigt, dass er selbst das Gedicht in eine Zeichenlandschaft
eingebettet sehen will, die mehrere Texte oder gar sein Gesamtwerk
umfasst. So lässt sich die Dichtung als polyphones Bilderwerk lesen,
in das zahlreiche weitere und ambivalente Bedeutungen aus ande-
ren Texten einfließen, wie z. B. in der wiederholten Nennung des
„Mittags“ geschieht.
Auf diese Weise liest auch Wolfgang Rihm „Am Gletscher“ in ei-
nem Zusammenhang mit anderen Texten Nietzsches; in seiner Ver-
tonung, einer schöpferischen Deutung des Gedichts, lässt er die vie-
len Verweise und Verbindungen wirksam werden. Rihm vertonte
mehrmals Texte von Nietzsche, beispielsweise in der Oper „Dio-
nysos“ aus den Jahren 2009 und 2010 oder in dem Lied-Werk „6
Gedichte von Friedrich Nietzsche für Bariton und Klavier“ aus dem
Jahr 2001. „Am Gletscher“ geht in eine Komposition aus dem Jahre
1984 ein: „umsungen“ für Bariton und acht Instrumente (1984).84 Der
erste Gesang dieses Werkes aus dem Jahr 1984 besteht aus den Ge-
dichten bzw. aus Teilen der Gedichte „Im deutschen November“
(zweite Fassung), „Am Gletscher“ (zweite Fassung) und „Der Wan-
derer und sein Schatten“, die alle im Jahr 1884 entstehen.85

83 Nachlass 1884,26[240], KGW VII/2, S. 209.


84 Eine weitere Vertonung von einigen Zeilen des Gedichts stammt von Hermann

Erler: Auch todten Mannes Auge wird wohl noch ein Mal Licht. In: Erler, H.: Drei
Lieder: für ein Singstimme und Klavier: op. 24. Berlin, [1900], Nr. 2.
85 Zitiert nach Rihm, Wolfgang: ausgesprochen, 336f.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 377

„I. Gesang: ‚Der Wanderer und sein Schatten‘. Ein Buch

Nicht mehr zurück? Und nicht hinan?


Auch für die Gemse keine Bahn?

So wart’ ich hier und fasse fest,


Was Aug’ und Hand mich fassen läßt!

Fünf Fuß breit Erde, Morgenroth,


Und unter mir – Welt, Mensch und Tod!86

Da horcht es rings
und athmet kaum:
Kein Vogel singt.
Da überläuft
Es schaudernd, wie
Ein Glitzern, das Gebirg.
Da denkt es rings –
Und schweigt – – 87

Die Sonne schleicht zum Berg


Und steigt und steigt
Und ruht bei jedem Schritt.
Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh –
Er klagt ihr nach.88

Es geben Eisgebirg und Tann’ und Quell


Ihm Antwort auch,
Doch sehen wir die Antwort nur.
Denn schneller springt vom Fels herab
Der Sturzbach wie zum Gruß
Und steht, als weiße Säule zitternd,

86 Aus Der Wanderer und sein Schatten (Nachlass 1884, 28[61]).


87 Aus Am Gletscher.
88 Aus Im deutschen November. Nachlass 1884, 28[59].

Coincidentia 7/2 – 2016


378 Adela Sophia Sabban

Sehnsüchtig[] da.
[…]
Und zwischen Eis und todtem Graugestein
Bricht plötzlich Leuchten aus – –
Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s. – “89
Rihm löst einige Zeilen aus den Gedichten heraus und fügt alles zu
einem „neuen Gedicht zusammen“: „[…] ein neues Gedicht ent-
stand, bereits erster Kompos[i]tionsakt“, sagt Rihm, und weiter:
„Die Worte antworteten sich über den ersten (Sinn-) Zusammen-
hang hinaus.“90 Der erste „(Sinn-)Zusammenhang“ ist unüberseh-
bar. Alle drei Gedichte berühren die Frage nach dem Mit- bzw. In-
einander von Mensch und Natur, von Leben und Tod. Rihm lässt
die Frage nach der Deutung des Leuchtens offen, die am ‚Wende-
punkt‘ von „Am Gletscher“ gestellt und beantwortet wird: Die Zei-
len „Und zwischen Eis und todtem Graugestein / Bricht plötzlich
Leuchten aus — — / Solch Leuchten sah ich schon: das deutet mir’s.
—“ (Z. 17-19) beschließen den ersten Gesang der Komposition. Das
eröffnet die Möglichkeit zu einer freien Interpretation, die, losgelöst
von Nietzsches ‚Gesang‘, die Frage danach stellt, wie Totes im An-
gesicht eines Menschen (Rihm nennt den „Sommerknaben“ nicht)
„plötzlich“ zu leuchten beginnt. Und damit ist auch die Frage nach
der Beziehung Mensch und Natur neu aufgeworfen.

89 Aus Am Gletscher.
90 Rihm: ausgesprochen, 336.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 379

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der Grundlage der „Kritischen Gesamtausgabe Werke“, hg. von Giorgio
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Paolo D’Iorio [Abkürzung: eKGWB]. URL: http://www.nietzschesource.
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manuskripten und Originaldrucken der Bestände der Klassik Stiftung Wei-
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http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA [Zugriff Februar 2016].
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in the Poetry of Friedrich Nietzsche. Bern u.a. 2006.
Zittel, Claus: Abschied von der Romantik im Gedicht. Friedrich Nietzsches „Es
geht ein Wandrer durch die Nacht“. In: Nietzscheforschung 3 (1996) 193-206.
Ders.: Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. Nietzsches
relationale Semantik. In: Nietzscheforschung 7 (2000), 273-285.
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 381

Anhang

Versuch einer diplomatischen Wiedergabe der ersten Fassung von 1877

(A. S. Sabban)

Zur Lesung:

[–] ein unlesbares Wort

[Kranken/Kindes] Vorschlag/Vorschläge für ein schwer


entzifferbares Wort

Coincidentia 7/2 – 2016


382 Adela Sophia Sabban

(URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/N-II-2,101)
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 383

Um Mittag, dann wenn


junge
Wenn Der ˅ Sommer in’s Gebirge steigt,

Da spricht er auch,

Doch sehen wir sein Sprechen nur:

Sein Athem quillt voran wie eines


Wandersmanns

In Winterfrost:
Es
Auch geben Eisgebirg u. Tann’ und
Quell

Ihm Antwort auch:

Doch sehen wir die Antwort nur:


schneller
Denn weisser springt vom Fels herab
Sturzbach wie zum Gruss
Der Tanzquellin sein Grab: [ ]
Und steht als weisse Säule zitternd horchend da.
noch u. treuer sie blickt.
Und Dunkler ˅ blickt die Tanne | als sonst
zwischen Eis und todtem Graugestein
Und unterSchnee und Eis hervor

Blickt plötzlich Leuchten auf:


Wer deutet dir’s? [Kranken/Kindes]
Wie wenn’[s]iIn todten Mannes Auge
Wohl wird noch einmal Licht:
Zum letzten Mal es Licht wird;
umschlang
Weil sein Kind ˅ ihn harmvoll

Umschlang u. Küsste ihn.


des Auges
in?Da sagt [mit] [ ] Leuchten:

„Ich liebe dich“

Coincidentia 7/2 – 2016


384 Adela Sophia Sabban

(URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/N-II-2,102)
Epiphanie von Licht und Tod im Gebirge 385

Und Schneegebirg u. Quell u Tann

Sie sagen auch


nur
Zum jungenSommer knaben : stets
Dies Wort Eine Wort:
Ach wir lieben dich,

Wir lieben dich!

Und er — er küsst sie harmvoll,


Und Inbrünstiglichger stets
Der Kommende, der Scheidende
Und will nicht gehn:
Und kommt – und geht,

Zum Sterben reif.


bläst wie Schleier nur
Und/Er haucht sein Wort verschleiert nur
Von seinem Mund — ein schlimmes Wort. —
DaEs horcht der heisse Mittag es rings

Und athmet kaum:

DaUndSchauder[n] überläuft
überläuft es schaudernd wie

EinWie Glitzern am Gebirg

Rings die Natur:


Sie denkt u. schweigt. —

Undm Mittag war’s

Mein Gruss ist Abschied

Ich sterbe jung. —

Coincidentia 7/2 – 2016

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