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Parodie und Sprache: Puškin als pathetischer Satiriker (Überlegungen zu seiner Stellung in

der Romantik)
Author(s): Peter Brang
Source: Zeitschrift für Slavische Philologie, Vol. 59, No. 1 (2000), pp. 67-93
Published by: Universitätsverlag WINTER Gmbh
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/24003112
Accessed: 16-06-2023 16:21 +00:00

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Parodie und Sprache
Puskin als pathetischer Satiriker
(Überlegungen zu seiner Stellung in der Romantik)

„Die größte Schwierigkeit, die der Einreihung Puäkins in die Rei


hen der einen oder anderen literarischen Richtung entgegensteht, ist
die objektive Größe Puskins, seine überragende dichterische Kraft,
die unvergleichliche Fülle und Weite seines Horizonts und seines
Schaffens." Diese Bemerkung setzt D. Tschizewskij an den Anfang
jener umsichtigen und umfassenden Analyse der romantischen Ele
mente in Puskins Dichtung, die er 1937 in seinem Aufsatz über
„PuSkin und die Romantik" gegeben hat.1 Tschizewskij verweist auf
die romantischen Sujets und Stoffe bei Puskin, auf Motive wie den
Traum, den Wahnsinn, das Nacht- und Todesmotiv, auf die spezifisch
romantischen Genres (z.B. die Ballade - Tschizewskij spricht von
„Gattungen"), auf die Genremischung (Prosa und Vers im Boris Godu
nov und in den Ägyptischen Nächten, die Liedeinlage in den Cygany,
die „freie Form" des Evgenij Onegin als Universalpoesie2); er ver
weist auf die Genielehre, auf den innovativen Gebrauch bestimmter
Epitheta (antithetisch und paradox) und auf die „musikalische" Auf
fassung der Dichtung. Die letztere zeigt sich u. a. darin, daß die vom
Klassizismus überkommenen Bilder des dichterischen Tuns nicht
mehr konventionell gebraucht, sondern „existenziell" erfüllt werden:
das Wort für „Klänge" (звуки) wird bei Puäkin seit 1817 synonym für
Dichtung gebraucht, und dieser Gebrauch will besagen, daß für ihn
das mündliche Erklingen eine wesentliche Existenzform des dichter
schen Wortes ist.3 Diese Mündlichkeit ist ein romantischer Zug: si

1 Öyievs'kyj 1937, 6.
2 Dazu vgl. auch Peters 1993.
3 Vgl. Brang 1988, 36-48; 1997; 2000 (in seiner Besprechung von Sainte-Beuves
Penstes kritisiert Puäkin, daß auch die französische Romantik am überkomme
nen Augenreim festhält: „Wie kann man ewig nur für das Auge reimen und nich
für das Ohr?" Zitiert nach Puäkin, PSS 11, 200; im weiteren einfach; PSS. - Irin
Jur'eva, Moskau, macht mich darauf aufmerksam, daß bereits in dem Gedicht

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68 Peter Brang

beginnt in der deutschen


blüht in der Romantik.4 Wo der russische Klassizismus sich mündlich
präsentierte, wie in seinen Oden, da ging es um Rhetorik und nicht
um die Musik der Sprache.
Man könnte weitere Elemente nennen:
1. Die Volkstümlichkeit (narodnost') - sie wird bei Tschizewskij nur
amalgamiert mit Problemen der Genres, der Motive und der Sprache
betrachtet, vermutlich wohl nicht zuletzt aus Überdruß an der sowje
tischen Fixierung auf diese Fragen. Aber für Puskin war народность
im Gefolge Herders als solche in der Tat ein Problem: in dem konven
tionell О narodnosti ν literature betitelten Aufsatzfragment sagt er
1826: „Das Klima, die Regierungsform, der Glaube geben jedem Volk
eine besondere Physiognomie, die sich mehr oder weniger in der Poe
sie spiegelt. Es gibt eine Art zu denken und zu fühlen, es gibt eine
Fülle von Sitten, volkstümlichen Vorstellungen und Gewohnheiten,
die ausschließlich einem bestimmten Volk eigen sind."5 Fast wörtlich
findet sich eine entsprechende Äußerung im Kapitel 31 des zweiten
Teils von Mme de Staels De l'Allemagne („Des richesses litteraires de
l'Allemagne, et de ses critiques les plus renommes, Auguste Wilhelm
et Frederic Schlegel"), wo sie über die „nations" spricht, über ihre
Verschiedenheiten wie auch ihre wechselseitige Bereicherung: „Le
climat, l'aspect de la nature, la langue, le gouvernement [...] contri
buent ä ces diversites." Puskin hatte dieses Werk ein Jahr zuvor in
seiner allerersten Rezension erwähnt - sie war der Verteidigung von
Mme de Staöl gewidmet6 -, und er hat es zweifellos, wie auch andere
Werke dieser Autorin, gründlich gelesen.

Моему Аристарху (1815) sich ein deutlicher Beleg für „Mündlichkeit" findet:
„Сижу ли с добрыми друзьями, / Лежу ль в постели пуховой, / Брожу ль над
тихими водами / В дубраве темной и глухой, / Задумаюсь - взмахну руками, /
На рифмах вдруг заговорю - / И никого уж не морю / Моими резвыми
стихами... / Но ежели когда-нибудь, / Желая в неге отдохнуть, / Расположась
перед камином, / Один, свободным господином, / Поймаю прежню мысль мою,
- / То не для имени поэта / Мараю два иль три куплета, / И их вполголоса
пою." (PSS 1, 153 f.)
4 Siehe die Anthologie Dichter lesen. Von Geliert bis Liliencron. Bd.l, Mar
bach a. Neckar 1984.
5 „Климат, образ правления, вера дают каждому народу особенную физио
номию, которая более или менее отражается в зеркале поэзии. Есть образ
мыслей и чувствования, есть тьма обычаев, поверий и привычек, при
надлежащих исключительно какому-нибудь народу." (PSS 11, 40 )
«PSS 11, 27-29.

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Parodie und Sprache 69

2. Als romantisch darf man im weiteren auch


nach einer Poetisierung der Wissenschaft und
betrachten. In PuSkins Entwurf einer Besprechung
Istorija ροέζΐΐ heißt es (1836): „Sevyrev verspricht
daß er weder dem empirischen System der franzö
der abstrakten Philosophie der Deutschen folge
wählt die historische Darstellungsweise, und m
Weise verleiht er der Wissenschaft die Anziehu
lung (заманчивость рассказа)." Man vergleich
Putesestvie iz Moskvy ν Peterburg (1833/34): „S
Pogodin und andere haben einige Essays (опыты
verdienen, neben die besten Artikel der englischen
im Original. Р. В.] gestellt zu werden."8 Puskin
sprach; die Essays von William Hazlitt hatte er im
gung und gelesen. Diesen Essays verdanken woh
erst postum gedruckten Table Talks ihren Titel.
eine Blütezeit des Essays. Die Schlegels forderten,
Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen"
sollte die romantische Richtung „auch Poesie un
und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald
schmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und
Gesellschaft poetisch machen";10 sie waren der An
nur durch Poesie kritisiert werden und ein Kunstu
selber ein Kunstwerk sei, habe kein Bürgerr
Kunst.11 F. Schlegel bedauerte im Hinblick auf

7 PSS 12, 65. - Vgl. im Entwurf eines Briefes an Ν. I. U


von dessen Geschichte der Kriegshandlungen in der asia
Jahren 1828 und 1829 (История военных действий в Ази
и 1829 годах): „Ich wage nicht über sie [Uäakovs „Istorij
Werk eines Fachmannes auf dem Gebiet der Militärwiss
aber ich bin hingerissen von der klaren, beredten (крас
schen Darstellung". (PSS 16, 127)
8 PSS 11, 248.
9 Die Ausgabe William Hazlitt Table Talk; or, original
1825, hatte Puäkin in seiner Bibliothek zur Verfügung. Er
Anstreichungen versehen. Er besaß auch Hazlitts Werk Th
contemporary Portraits, 2 Bde., Paris 1825, mit Porträts
ridge, Southey, Wordsworth, Washington Irving und an
Talk" konnte Puäkin auch in dem 1835 in London erschie
of the Table-Talk of the Late Samuel Taylor Coleridge fin
10 R. Haym, Die romantische Schule. Berlin, 4. Aufl. 19
11 R. Haym, op. cit., 326.

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70 Peter Brang

Wirkung der Philosophie d


fest, daß dessen Werke für
den müßten.12
3. Romantisch ist auch Puskins ausgeprägt geschichtlicher Sinn,
sein leidenschaftliches Interesse an historischen Themen, am Schick
sal der Völker und bedeutender Gestalten der Geschichte. Er erfaßt
Geschichtliches unter dem Blickwinkel der poetischen Qualität: er
nennt Stepan Razin „die einzige poetische Gestalt der russischen
Geschichte", meint, daß „die neuere Geschichte keinen poetischeren
Gegenstand kennt als das Leben und den Tod der Heldin von
Orl6ans", daß Barklaj immer „eine hochpoetische Gestalt" der russi
schen Geschichte bleiben wird. Puskin empfiehlt, auf die Ereignisse
des Jahres 1825 mit dem Blicke Shakespeares zu schauen,13 die fran
zösische Revolution ist ihm ein riesiges Drama, in dem der Ruf „les
aristocrates ä la lanterne" eine abscheuliche Farce darstellt,14 er
freut sich „der Thronbesteigung Konstantins I. Seine Gestalt enthält
viel Romantisches; seine stürmische Jugend, seine Feldzüge mit
Suvorov, die Feindschaft mit dem Deutschen Barklaj erinnern an
Heinrich V."15 Es ließen sich weitere Beispiele zitieren.
4. Romantisch sind Puskins Frauengestalten: die verträumten, zar
ten und schlanken („Kogda ν ob"jatija moi / Tvoj strojnyj stan ja
zakljucaju"). Man vergleiche mit Lomonosovs Ideal im „Razgovor s
Anakreontom": „Потщись представить члены здравы, / Как долж
ны у богини быть, / По плечам волосы кудрявы / Признаком бодро
сти завить [...]/ Возвысь сосцы, млеком обильны, / И чтоб созревша
красота / Являла мышцы, руки сильны, / И полны живости уста
[...]" - freilich geht es hier um die Gestalt der Rossija.
5. Auch der Fragmentcharakter vieler Puskinscher Werke16 und die
spezifische stilistische Eigenart dieser Fragmente dürfen als ein

12 F. Ernst, Die romantische Ironie. Zürich 1916, 14.


'3 PSS 13, 259.
14 PSS 11, 171.
's PSS 13, 245.
16 Außer den fünf Povesti Bellcina, der Pikovaja Dama, der Kapitanskaja
doika (mit ihren 7 Druckbogen) und der Skizze Kirdzali (1/3 Druckbogen) sind
alle Erzählungen anscheinend oder scheinbar unvollendet: Arap Petra Velikogo
(1827), Roman ν pis'mach (1829), Istorija sela Gorjuchina (1830), Roslavlev
(1831), Dubrovskij (1832-1833), Egipetskie no6i (1835). Erstaunlich groß die
Anzahl der ausformulierten Erzählanfänge: Nadinka (1819), Gosti s"ezialis' na
daöи (1828-1830), Na uglu malen'koj ploSiadi (1829-1830), V naSale 1812 g.
(1829), Uiast'moja reSena(1830), Otryvok (1830), Roman na Kavkazskich vodach

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Parodie und Sprache 71

romantischer Zug betrachtet werden. Er häng


jener Schreibweise zusammen, die ich seiner
rungsdenken" genannt und untersucht habe.
Zahl von Fragmenten, die PuSkin hinterlassen
Prosa wie in der publizistischen, hat die Kr
immer wieder beschäftigt. Man wollte den f
verantwortlich machen (so z.B. S. M. Petro
nisse (V. F. Pereverzev19) oder sein speziell
sches Talent, im Gegensatz zu einer Romanc
Ejchenbaum20). Indes fällt bei all den vielen
nicht vollendet hat, der Grad auf, bis zu dem
weder haben wir es mit „Plänen" zu tun - dann
gehalten; oder aber mit „vollendeten" Texte
würfen (was nicht heißt, daß PuSkin eine Fo
wieder verwarf). Die stilistische Vollendun
Fragmente schon zu sprachlichen Kunstwerk
Versdichtung hat M. Greenleaf (1994, 1-55)
ments in Puskins Schaffen, unter anderem A
Charakteristikum gewürdigt.

Zu denjenigen Zügen, die Puskin mit der


gehört indes auch seine Leistung als Sprachp
Satiriker, die wir im folgenden näher betra
Satiriker Puskin ist allgemein selten und meis
Das hängt gewiß zunächst damit zusammen,
Werk im Vergleich zu dem anderer russischer
reich ist. M. Braun meinte seinerzeit, Puäkin h
was als Ganzes der satirischen Literatur zugere

(1831), Casto dumal ja (1833), Russkij Pelarn (1831-1835), V 179* godu


vraMalsja ja (1833), My provodili ve(er (1835), Povest' iz rimskoj iizni (1833
1835?), Marija Soning (nach 1834).
» Brang 1952, 35-40 (bes. 38) und 40-48 (bes. 44).
18 Vgl. S. M. Petrov in: A. S. Puäkin, Poln. sobr. so(. ν 6 it., M. 1949, t. 4,
460.
19 V. F. Pereverzev, Puikin ν bor'be s russkim plutovskim romanom. In:
РиёЫп. Vremennik PuSkinskoj Komissii. Т. I, M.-L. 1936, 188.
20 В. M. Ejchenbaum, Illjuzija skaza (1918). Zitiert nach ders., Skvoz' litera
turu. 'S-Gravenhage 1962 (zuerst gedruckt in Voprosy poetiki, L. 1924).
21 M. Braun, Der hintergründige Puschkin. In: Solange Dichter leben. Pusch
kin-Studien. Krefeld 1949, 118.

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72 Peter Brang

Der lange Artikel in KLEü


Puskin lediglich die Skazk
Wenig, allzu wenig Intere
dere den verschiedenen Te
Puskins publizistischem We
erster Linie Aufsätze wie
(1829)22, der eine Polemik
führt, sowie die literarisch
onym Feofilakt Kosickin
Torzestvo druzby, ili Oprav
Neskol'ko slov о mizince g
hat diese Texte besonders
logisch-politischen Ausein
Vasilij Gippius 1941 in sein
Bulgarin in den Jahren 183
ren, die Puskin in diesen Aufsätzen, aber auch in zahlreichen weite
ren Texten aus ihrem Umkreis anwandte, hat man kaum geachtet,
ebenso nicht auf ihre Genrespezifik und auf Puskins Ansichten über
Wesen und Aufgabe der Satire.
Puskins Auffassung der Satire zeigt, wie auch sein Traum von einer
Universalpoesie und die Hochschätzung des Fragments, bemerkens
werte Übereinstimmungen mit dem Verhältnis der Jenaer Romantik
zu Dichtimg und Sprache und im besonderen zu ihren Ansichten über
Charakter und Ursprung der satirischen Kunst. Für diese Überein
stimmungen kann man eine Ähnlichkeit der objektiven und subjekti
ven Voraussetzungen verantwortlich machen, nämlich der geistesge
schichtlichen Situation zwischen Klassik und Romantik, der literari
schen Vorbilder, ζ. B. im Verhältnis zu den französischen Aphoristi
kern des 18. Jahrhunderts, besonders Chamfort, und vor allem des
geistigen und künstlerischen Habitus. Man sollte aber auch nicht ver
gessen, daß, neben der „mündlichen" Vermittlung durch Puskins
Freunde, die Darstellungen der Schlegels bei Mme de Staöl und den
englischen Kritikern (Hazlitt vor allem) ebenso wie die in russischen
Zeitschriften erschienenen Übersetzungen es Puskin ermöglichten,
sich ein deutliches Bild von ihnen zu machen. Zudem hatte er sich mit

22PSS 11, 77-81.


23PSS 11, 204-210.
MPSS 11, 211-216.
28 V. Gippius, Puskin ν bor'be s Bulgarinym ν 1830-1831 gg. In: Puikin. Vre
mennik Pu£kinskoj komissii. T.6, M.-L. 1941, 235-255.

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Parodie und Sprache 73

einigen wenigen Werken der beiden Schlegels in


setzung unmittelbar bekannt gemacht. Jedenfa
der Inbegriff einer zeitgemäßen Literaturkritik.26
Bedenkt man, wie stark die Frühromantik noch
dann erscheint es nicht als ganz zufällig, daß Ru
ker, dem eine so glänzende Synthese von roman
schem Künstlertum gelang, sein größter pat
wurde. „Das Wesen der komischen Kunst aber",
246. Athenäumsfragment, „bleibt immer der e
und die klassische Form."27 Im Fragment Nr. 3
eine Art von Witz, den man wegen seiner Gediege
keit und Symmetrie den architektonischen nennen
sich satirisch, so gibt das die eigentlichen Sarkasm
Fragment stellt Schlegel fest: „Es gibt eine Po
Alles das Verhältnis des Idealen und des Realen
Satire bei der absoluten Verschiedenheit des Idealen und des Realen,
schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absolu
ten Identität beyder."29
Diese letztere von Schlegel getroffene Unterscheidung stimmt im
wesentlichen mit jenen Kategorien überein, die Schiller in der
Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung aufgestellt
hatte. Schiller stellt der pathetischen Satire der Juvenal, Swift und
Rousseau, welche seiner Ansicht nach einem „lebhaften Trieb nach

26 In Puskins Bibliothek befand sich eine aus dem Jahre 1814 stammende fran
zösische Übersetzung der Vorlesungen über dramatische Kunst und Litteratur
von A. W. Schlegel: Cours de litterature dramatique. Paris 1814; von der drei
bändigen Ausgabe waren lediglich 85 Seiten des 3. Bandes nicht aufgeschnitten;
die nahe Bekanntschaft Puskins mit diesem Werk Schlegels hat Ν. K. Kozmin sei
nerzeit in dem Aufsatz „Vzgljad Puskina na dramu" nachgewiesen (Pamjati
PuSkina. Sbornik statej. Spb. 1900, 207-213). Von F. Schlegel besaß PuSkin die
Geschichte der alten und neuen Litteratur, ebenfalls in französischer Überset
zung: Histoire de la Litterature ancienne et moderne, vol. 1-2, Paris 1829; von
diesem Werk waren die ersten 185 Seiten des ersten Bandes aufgeschnitten (vgl.
die von B. Modzalevskij besorgte Beschreibung von Puskins Bibliothek in Риёкгп
i ego sovremenniki. Materialy i issledovanija. Vyp. 9-10, Spb. 1910, 331); gerade
in diesem Abschnitt sind allgemeine Ausführungen F. Schlegels über die Sprache
enthalten.
27 F. Schlegel, Athenäumsfragmente. In: Charakteristiken und Kritiken I. (=
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. E. Behler, Bd. 2). München - Pader
born - Wien 1967, 206.
22 Ibid., 236.
22 Ibid., 204.

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74 Peter Brang

Übereinstimmung des Rea


nerseits „jenes tiefe Gefühl
henden Unwillen gegen moralische Verkehrtheit" erzeugt, die
zumeist ,bloß scherzhafte' Satire Voltaires gegenüber. Die patheti
schen Satiriker, meint Schiller, könnten, weil sie aus einem morali
schen Gefühl heraus produzieren, auch Elegien und Idyllen geschaffen
haben: sie „würden und müßten mit demselben Glück auch in den rüh
renden und zärtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn nicht zufäl
lige Ursachen ihrem Gemüt frühe diese bestimmte Richtung gegeben
hätten; auch haben sie es zum Teil wirklich getan."30 Bei Voltaire
aber, sagt Schiller, „liegt überall zu wenig Ernst zugrunde"; „bei allem
noch so großen Wechsel des Stoffes und der äußeren Form" sehen wir
die „innere Form" der scherzhaften Satire „in ewigem, dürftigem
Einerlei wiederkehren, und trotz seiner voluminösen Laufbahn hat er
doch den Kreis der Menschheit in sich selbst nicht erfüllt, den man in
den obenerwähnten Satirikern mit Freuden durchlaufen findet."
Schiller ordnet der „schönen Seele" die bloß spottende und glänzend
Satire zu, der „erhabenen" die pathetische, und stellt dann fest, daß
die wahrhaft schöne Seele gewiß in die erhabene übergehe. Das heiß
aber, daß sie aus der elegant-scherzenden Satire sich zum tiefen Ernst
erhebt oder, mit Schlegels Worten, daß die klassische Form sich mi
dem enthusiastischen Geist erfüllt.3i Gerade dies ist eines der Kenn
zeichen des Puskinschen Stils überhaupt, und nirgends ist diese seine
Eigenart so ausgeprägt wie in seiner satirischen Sprache.
Auch Puskin stellt beide Arten von Satire einander gegenüber. Er
charakterisiert sein eigenes satirisches Schaffen mit Äußerungen, die
dessen pathetischen Charakter offenbaren, und er weist die Verwen
dung des Begriffs Satire zur Bezeichnung „nicht-pathetischer" eigener
Werke zurück. Dies freilich erst ab Mitte der 1820er Jahre. Denn
anfänglich bezeichnet er ja den Evgenij Onegin selbst als Satire. In
einem Vorwort zum ersten Kapitel, das 1824 geschrieben und 1825

30 F. Schiller, Werke. Nationalausgabe. Bd. 20 (= Philos. Schriften I), Weimar


1962, S. 444.
31 Die Tradition einer Unterscheidung von zwei Hauptarten der Satire, pola
rer Idealtypen, als deren jeweilig bedeutendste Hauptvertreter Horaz und
Juvenal gelten, hat Jürgen Brummack untersucht in seiner Abhandlung „Zu
Begriff und Theorie der Satire", Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissen
schaft und Geistesgeschichte. Sonderheft 1971, Tübingen 1971, S. 275-376, vgl.
bes. S. 311-323. Über die Erneuerung der Unterscheidungstradition durch Schil
ler vgl. S. 320-323.

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Parodie und Sprache 75

gedruckt wurde, bittet er, es möge gestattet sein,


keit des Lesers auf Vorzüge zu lenken, die man bei
Schriftsteller selten findet: die strenge Einhaltung
den in der scherzhaften Schilderung der Sitte
schreibt er in dem gleichen Jahr (1824): „Glaube N
ihn [den Evgenij Onegin. Р. В.] verurteilt - er hat
erwartet, fand Satire und Zynismus und hat kein
nis für ihn."33
Bereits ein Jahr später aber behauptet ein and
Satirischen, der des Sprachlich-Aufhebenden,
Begriff wird die meisten satirischen Versuche
nen.34 Am 24. März 1825 in einem Brief an Α. A.
„Du sprichst von der Satire des Engländers Byron
mit der meinen, forderst von mir ein Gleiches. N
verlangst zuviel. Wo wäre bei mir Satire? Nicht
daran ist im Evg. On. zu finden." Und dann läßt
kung fallen, aus der ein ungeheures Bewußtsein de
rischen Wortes spricht: „Ich würde die Naberez
bersten machen, wenn ich zur Satire greifen wollt
sein der eigenen Überlegenheit zeigt sich in dem V
satirischen Gegnern. In einem zehn Tage zuvor an
teten Brief heißt es: „Kacenovskij hat mich angegr
ob der Ton seiner Kritiken anständig ist, wenn
ich ein Epigramm".36 „Wie wäre es", fragt Puskin

32 PSS 6, 638.
33 „Не верь Η. Раевскому, который бранит его - он ожидал от меня роман
тизма, нашел сатиру и цинизм и порядочно не расчухал" (PSS 13, 87).
34 Daran ändert wohl auch die Tatsache nichts, daß Puäkin den Begriff
„Satire" in der Anwendung auf andere Dichter weiterhin im allgemein üblichen
weiten Sinn gebraucht; so faßt er 1830 den gesellschaftskritischen Gehalt von
Griboedovs Gore ot uma und Fonvizins Nedorosl' in den Begriff „dramatische
Satire" (PSS 11,180) und nennt an anderer Stelle den Nedorosl'das einzige Denk
mal der russischen Nationalsatire (народная сатира) (PSS 11, 155) und dessen
Autor den „kühnen Beherrscher der Satire" usw.
35 „Ты говоришь о сатире англичанина Байрона и сравниваешь ее с моею, и
требуешь от меня таковой же! Нет, моя душа, многого хочешь. Где у меня
camupal о ней и помину нет в Евг. Он. У меня бы затрещала набережная, если
б коснулся я сатиры." (PSS 13, 155; Hervorhebung von Puäkin). 'Nabereinaja'
meint nicht etwa das Zarenregime, sondern tatsächlich die Neva-Ufer in Peters
burg. Alle 17 Belege für dieses Wort wurden auf eine etwaige metonymische
Bedeutung überprüft.
33 PSS 13, 152.

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76 Peter Brang

einem Brief an Vjazemski


brächten (взбесить)? Wir s
zen ..." Dieses Vorhaben ha
der Brief entstand kurz vor
iz literaturnych letopisej.37
Der Satiriker hat nach Pu
sen Wahrnehmung ihm eb
sönliches Anliegen. Dieses A
sprechen und die gestörte
bung des Störenfrieds wie
erwähnten - seinerseits iro
1832 sagt Puskin: „Lassen
ten. Ich gebe ihnen mein
sich auch nur rühren, dann
vielmehr eine solche Grütze
einer solchen „sittlichen" Se
Verwendung der Schillers
nennen können - war Puski
seiner satirischen Prosa
spricht aus dem nach 1820
der leidenschaftlichen Satir
О муза пламенной сат
Приди на мой призывный клич!
Не нужно мне гремящей лиры,
Вручи мне Ювеналов бич!

Мир вам, несчастные поэты,


Мир вам, журнальные клевреты,
Мир вам, смиренные глупцы!
А вы, ребята подлецы, -
Вперед! Всю вашу сволочь буду
Я мучить казнию стыда!
Но если же кого забуду,
Прошу напомнить, господа!
О, сколько лиц бесстыдно-бледных,

37 Diese Satire war bereits am 27. 3. 1829 geschrieben, im September des glei
chen Jahres aber zunächst von der Zensur verboten worden. Sie wurde in den
Severnye cvety na 1830 g. gedruckt.

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Parodie und Sprache 77

О, сколько лбов широко-медных


Готовы от меня принять
Неизгладимую печать!
Das Bekenntnis zur strafenden pathetischen Sa
auch aus einem Brief Puskins an Vjazemskij vo
schreibt er über seine Auseinandersetzung mit
kanec): „Entschuldige, wenn ich mit Dir über Tolst
lege Wert auf Deine Meinung. Du sagst, meine V
[es geht um das Poslanie к Caadaevu. Р. В.]. Ich w
Absicht war es nicht, einen geistvollen literar
ren,38 sondern mit scharfer Beleidigung die heim
eines Menschen heimzuzahlen, von dem ich als
war und den ich leidenschaftlich verteidigt habe,
genheit bot. Ihm erschien es belustigend, aus m
machen und auf meine Kosten die Bodenkammer des Fürsten
Sachovskoj [d. h. dessen literarischen Salon, Р. В.] mit Briefen
amüsieren; ich habe von all dem erst in der Verbannung erfahren,
da ich die Rache für eine der ersten christlichen Tugenden halte, -
habe ich in der Ohnmacht meiner Wut Tolstoj aus der Ferne mit jo
nalistischem Dreck beworfen. Eine Anklage wegen Verbrechens
schreitet Deinen Worten nach die Grenzen der Poesie; ich bin andere
Meinung. Was das Schwert des Gesetzes nicht erreicht, das erre
die Geißel der Satire. Die Satire des Horaz, die feine, leichte und fr
liche, hält der grimmigen Bosheit einer gewichtigen Pasquille n
stand. Das hat sogar Voltaire gespürt ..."39 (Hervorhebung Р. B.
Peitsche Juvenals war im zitierten Gedicht an die Muse der Satire
erwähnt worden.
Mit gleicher Deutlichkeit weist Puskin neun Jahre später auf den
strafenden, pathetischen, die Aufhebung des Gegners bewirkenden
Charakter seiner Satire hin: Am Anfang des Aufsatzes Neskol'ko slov
о mizince g. Bulgarina i о ргобет (1831) erklärt er: „Ich gehöre nicht
zu den Literaten, die nicht besonders nachtragend sind. [...] Nein,
wenn ich einmal in Zorn geraten bin, dann bin ich lange zornig und
beruhige mich nicht eher, als bis ich meinen gesamten Vorrat an belei

38 Die Wendung vom „geistvollen literarischen Krieg" paßt auf Voltaires


Satire; seine „geistvolle Art", seine „Briefe voller Geist und Fröhlichkeit", seine
„unerwarteten Scherze" werden von Puskin bei verschiedenen Gelegenheiten
gelobt.
38 PSS 13, 43.

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78 Peter Brang

digenden Bemerkungen, A
dergleichen erschöpft hab
Schlegels über jene Art von
keit, Gediegenheit und Sy
möchte und der als Satire d
glaubt, durch diese seine s
gen, daß er erstaunt ist, w
Как сатирой безымян
Лик зоила я пятнал,
Признаюсь: на вызов бранный
Возражений я не ждал. [...] (1829)
Ähnliches Erstaunen spricht aus den Worten Feofilakt Kosickins im
zweiten Artikel gegen Bulgarin und Grec. Hinter diesem Namen ver
birgt sich der Satiriker Puskin, und mit der Wahl dieses Pseudonyms
bringt er den moralischen Anspruch seiner Satire zum Ausdruck. Feo
filakt, zu griechisch 'theos' und 'phylattein', heißt wörtlich „von Gott
geschützt"41, Kosickin ist vermutlich zu kosa 'Sense' und kosit'
'mähen' zu stellen. Kosickin erklärt:
„Ich muß bekennen, daß ich nach dem Artikel, in welchem ich Α. A.
Orlov so feierlich gerechtfertigt und verteidigt hatte, nicht erwarten
konnte, daß die Severnaja Pcela ihre Angriffe auf meinen edlen
Freund [...] erneuern würde." Dann stellt Kosickin fest, daß diese
Angriffe schon bedeutend schwächer geworden sind, „aber ich werde
nicht ruhen, ehe ich die hartnäckigen Bedränger meines Freundes
nicht zu völligem Schweigen gezwungen habe. [...]" Und am Ende wie
der: „Ich hoffe, daß diese maßvolle Äußerung die letzte gewesen ist
und daß die ehrenwerten Herausgeber der Severnaja Pcela, des Syn
Otecestva und des Severnyj Archiv mich nicht noch einmal auf ein
Gebiet locken, auf dem ich selten, aber nicht ohne Erfolg erscheine,
wie Sie zu sehen belieben." Es gibt weitere Äußerungen, die davon
zeugen, wie sehr Puskin sich seiner satirischen Überlegenheit bewußt
war, die aber auch zeigen, daß er nur gelegentlich Gebrauch von ihr
machen wollte: „Die Hände jucken mir", schrieb er im Mai 1830 an
Pletnev, „ich möchte Bulgarin vernichten (хочется раздавить Булга
рина). Aber ziemt es mir, Aleksandr Puskin, wenn ich mit dem Boris

40 PSS 11, 211. Hervorhebung von mir. Р. B.


41 Vgl. W. Pape, G. Benseier: Wörterbuch der griechischen Eigennamen. 3.
Aufl. Braunschweig 1911, S. 496.

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Parodie und Sprache 79

Godunov vor Rußland trete, von Faddej Bulgar


glaube, das geht nicht."42
Worin liegen die Gründe für die Überlegenhei
Satire? Zunächst ist da ihre „Architektonik" (im S
ten Bemerkung von F. Schlegel) zu nennen - ich ka
einzelnen vorführen - in meiner Dissertation bin ich auf die von
Puskin verwendeten Verfahren ausführlich eingegangen: PuSkin zieht
alle Register der Rhetorik, setzt ungemein phantasievoll Figuren wie
Anaphern, Parallelismen ein, ferner die Ironie (ζ. B. sind die Bemer
kungen über seinen „edlen Freund" Α. A. Orlov natürlich ironisch),
berechnete Abstürze, Ellipsen, die Hyperbel, die Periphrase, das
Wortspiel.43 Entscheidend ist sodann aber auch der parodistische
Charakter dieser Polemiken, und zwar im schriftlichen wie im mündli
chen Bereich der Sprache - etwas, was Puskin wiederum mit den
deutschen Frühromantikern, besonders mit A. W. Schlegel, verbin
det. Erinnern wir uns, daß Puskin sich rühmte, auch jene vierte Ein
heit des Klassizismus zerschlagen zu haben, - die Einheit des Stils. Er
war sich darüber im klaren, daß nur die Mannigfaltigkeit der Stile das
Leben in all seiner Vielfalt ausdrücken kann, und er benutzte sie zu
umfassendem Ausdruck. Das setzte voraus, daß er für diese Mannig
faltigkeit empfänglich war, daß sprachliche Eindrücke ihm zur
Erkenntnis von Menschen und Dingen verhalfen. PuSkin besaß ein fei
nes Ohr für den Wert jeden sprachlichen Ausdrucks, für die Echtheit
seines Tons, für Wahres und Falsches in der Sprache eines Werks
sowohl wie eines Menschen. Eine solche Empfänglichkeit für sprachli
che Nuancen wäre natürlich nicht denkbar gewesen ohne die Ent
wicklung, die sich in Rußland vom Klassizismus zur Romantik vollzo
gen hatte.
An dieser Entwicklung hatte PuSkin selbst aber bekanntlich bedeu
tenden Anteil, und man darf daher sein „sprachliches Apperzeptions
vermögen" nicht zuletzt seiner spezifischen Begabung zuschreiben.
„Ich berufe mich auf den kleinen PuSkin, dem Apoll ein empfindliches
Ohr gegeben hat", schrieb BatjuSkov 1818. In der Tat handelt es sich
hier zunächst um ein akustisches Vermögen, was die Apperzeption,
und ein mimisches, was die Reproduktion sprachlicher Ausdrucks
werte anbelangt. Es ist bekannt, daß PuSkin beides in hohem Maße

42 Vgl. auch: „Sich mit den Journalen herumzustreiten, tut einmal in fünf Jah
ren gut, und selbst dann Kosiökin, und nicht mir." (PSS 15, 29)
« Brang 1952, 48-120.

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80 Peter Brang

besaß. Seine eigenen Werke p


seiner Freunde mündlich v
„mimisch-akustischer" Au
Puskin am Ende des „Putesestvie ν Arzrum" erzählt. In Vladikavkaz
hatte er seinen Freund Puscin getroffen: „Bei Puscin fand ich auf dem
Tisch russische Journale. Der erste Artikel, auf den ich stieß, war die
Besprechung eines meiner Werke. Man beschimpfte mich und meine
Verse darin auf jede nur denkbare Weise. Ich begann ihn laut zu
lesen. (Hervorhebung von mir. Р. B.) Puscin hielt mich an und ver
langte, ich solle mit größerer mimischer Kunst lesen. Man muß wis
sen, daß die Besprechung mit den üblichen Einfällen unserer Kritik
geschmückt war; es handelte sich um ein Gespräch zwischen einem
Küster (d'jacok), einer Weihbrotbäckerin (prosvirnja) und dem Kor
rektor der Druckerei, dem Zdravomysl dieser kleinen Komödie. Das
Verlangen Pu-söins schien mir so belustigend [Hervorhebung von mir.
Р. В.], daß der Ärger, den die Lektüre des Zeitungsartikels in mir her
vorgerufen hatte, völlig verschwand, und wir lachten aus vollem Her
zen."44
Von Puskins Gewohnheit, laut zu lesen und solchermaßen zu „inter
pretieren", berichtet auch der Buchhändler I. T. Lisenkov: Puskin
stattete Lisenkov häufig Besuche ab, im besonderen während der
Zeit, da er die Zeitschrift 'Sovremennik' herausgab; „er mußte über
die Neuerscheinungen Bescheid wissen, um eine kurze Besprechung
in seiner Zeitschrift bringen zu können. Manchmal empfand er daran
Vergnügen, bei Lisenkov im Laden über die neuen Werke seine witzi
gen Bemerkungen zu machen; er pflegte ein Prosawerk in die Hand zu
nehmen, es schnell zu überfliegen, wobei er nur das Vorwort laut vor
las, und wenn er damit fertig war, zu erklären, er sei sich völlig über
das Buch im klaren."45 Solch kühne Pars pro toto könnte leichtfertig
erscheinen, rechtfertigt sich indes, weil Puskin vom sprachlichen Ein
druck auf den Autor und das Ganze schloß. Puskin trifft sich hier wie
der mit F. Schlegel, der schlechte Bücher als „witzige Naturprodukte"
zu betrachten pflegte: Beim Lesen „kann ich dann oft ganz allein über
Bücher, die keineswegs dazu bestimmt scheinen, in ein Gelächter ver
fallen." Schlegel meinte denn auch, man sei „fast überall und in allen
Verhältnissen des Lebens oder der erweiterten Weltkunde gewohnt

« PSS 8, 482 f.
45 Lisenkov wird zitiert nach: Materialy dlja istorii russkoj kniinoj torgovli,
pod red. R. A. Efremova, Spb. 1879, S. 67.

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Parodie und Sprache 81

und geneigt, von der Sprache auf den Geist, von


den Gedanken zu schließen."46
Puskins feines Gespür für Angemessenheit des sprachlichen Aus
drucks führte dazu, daß er die Stilqualität eines Textes gern durch
den Hinweis auf einen anderen Stilkontext charakterisierte: Er ver
merkt, daß F. Glinka in seinem „tollkühnen" Psalm Gott in der
Sprache von Denis Davydov habe sprechen lassen,47 daß in
dem von Herrn Fedorov herausgegebenen Almanach eiηe im Stile
eines Kopisten der Verse von Herrn Panaev ge
schriebene Idylle gedruckt worden sei,48 und in der Satire
A. Orlov sich nicht, wie Bulgarin, Windbeuteleien mit im
Affichen der Hundekomödie geschriebenen Zeitungs
annoncen erlaube.49 Er klagt über die precieuses ridicules der russi
schen Literatur, die ewig von schönen Leserinnen reden, die sie nie
hatten, und von der höchsten Gesellschaft, zu der sie keinen Zutritt
haben, und das alles im Stile des Kammerdieners von Pro
fessor Tred'jakovskij.^An Batju§kovs Plennyj bemängelt er,
daß darin ein russischer Kosak wie ein Troubadour
singe, im Stil von Parny, und in Couplets aus ein
schen Romanze.51 Guter Stil ist Angemessenheit de
„Manchmal drückt Schrecken sich durch Lachen aus. Di
im Hamlet ist in scherzhaftem, fast niedrigem Stil gesc
die Haare stehen einem zu Berge von den Scherzen H
Viktor Vinogradov hat schon 1934 auf die Bedeutun
chen Ausdrucks als einer Erkenntnisquelle für den K
hingewiesen: „Der Ton, die Expression erscheinen als
Charakterisierung des Subjekts. An ihnen werden nicht
den Gestalten der Zeit erkannt und nach ihnen geschaf
elle und kollektive - , sondern auch [...] Gestalten der f

46 F. Schlegel, Geschichte der alten und neuen Literatur (=


rich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. E. Behler, Bd. 6). München - Pad
1961, 15.
« PSS 12, 335.
«PSS 11, 157.
«PSS 11, 208.
50 PSS 11, 216.
51 PSS 12, 266.
52 Puskin macht diese Bemerkung in dem Fragment 0 poetiieskom sloge, wo er
Katenin das Recht zugesteht, den Mörder in der „Lenore" seinen einzigen Zeu
gen, den Mond, mit den Worten „kahlköpfiger Mond" anreden zu lassen; vgl. PSS
11, 73.

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82 Petek Brang

genheit. Puskin erkannte


Schwankungen des Worte
eine der Grundformen der
deshalb sucht er unermüdl
tern, Wendungen (vyraze
denken, bemüht er sich, an
in ihnen ausgeprägt hat,
unterstreichen, daß Puskin
zumindest doch auch mündlich erlebte und erfaßte.

Man kann ein solches Verhältnis zur Sprache als magisch bezeich
nen, und man hat es getan. Ich beziehe mich auf ein klassisches Werk,
auf des Romanisten Karl Vosslers Geist und Kultur in der Sprache
(1925).54 Es unterscheidet zwei Verhaltensweisen gegenüber der Spra
che als dem Menschen von jeher eigene, die magische und die mysti
sche. Beide haben ihren Ursprung in der Erkenntnis, daß das Denken
in der Sprache gefangen ist. Während die Mystiker versuchen, seine
Fesseln zu durchbrechen, „glauben" die Magiker der Sprache; sie
sehen die enge Beziehung zwischen ihr und der Wirklichkeit; sie füh
len, daß die Sprache nicht nur ihr Gesetz von der Welt empfängt, son
dern diese auch nach jenem Gesetz regiert. Beide Auffassungen haben
natürlich ihre Berechtigung. Diese liegt in dem Verhältnis von Sym
bol und Gemeintem begründet. Sie läßt sich, was die „magische" Hal
tung betrifft, auch aus den Untersuchungen ersehen, die später Leo
Weisgeber in der Zeitschrift „Wörter und Sachen"55 über die Wechsel
wirkung zwischen Sprache und Leben angestellt hat. Vossler wies
darauf hin, daß die magische Haltung sehr ausgeprägt in der deut
schen Frühromantik zu finden ist, die mystische eher in der jüngeren
Romantik.
In der russischen Romantik ist vor allem die mystische Auffassung
vertreten. Wir finden sie, besonders im Anschluß an Schelling, bei
Odoevskij, Tjutcev („Silentium") und Sevyrev, daraufhat Setschkareff

53 V. Vinogradov (1934), 202.


м Κ. Vossler (1925), 3-6.
55 Weisgerber mußte sich beklagen, die Sprachwissenschaft habe bisher viel
mehr auf die Spiegelungen der Kulturgeschichte in der Sprachgeschichte geach
tet als umgekehrt auf die Funktionen, welche der Sprache als treibender Kraft
im Leben der menschlichen Gemeinschaften zukommen, „bis zu den entscheiden
den Vorgängen politischer Gestaltung". Vgl. Wörter und Sachen, Bd.15, 1933,
183. Inzwischen ist überall viel Forschungsarbeit zur Beseitigung dieses Defizits
geleistet worden.

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Parodie und Sprache 83

seinerzeit aufmerksam gemacht,56 teilweise auch


Lermontov, später bei Fet57
Auch bei PuSkin trifft man gelegentlich eine B
Ohnmacht der Sprache gegenüber den Dingen. Im
fes an N.I. Krivcov aus dem Jahre 1819 heißt es: „
schreiben nicht. Die Zunge und die Stimme sch
zum Ausdruck unserer Gedanken [Variante: un
Gefühle], und die Feder ist [noch dümmer] so d
sam; der Brief kann das Gespräch nicht ersetze
Sprache selbst und seine sonstigen Ansichten üb
ten deutlich, daß er eher der „magischen" Richtun
den kann, daß er der Sprache „traute", daß er d
druck als eine Form der (Selbst-)Charakterisieru
Subjekts betrachtete, der Kundgabe im Sinne vo
non-Modell, der Ausdrucksfunktion, freilich au
Sinne des „unwillkürlich-unbewußten" Ausdruc
Kritiker Р. A. Pletnev, einer der engsten Freun
später über Puskins Verhältnis zur Sprache an J
begriffen, daß Sprache nicht Willkür, nicht Eigen
sondern eine Art Substanz, welche durch die Na
Sein und ihren Erscheinungsformen eingegeben w
Nächst der Durchbildung des „Apperzeptions
wichtigste Voraussetzung für eine gute satiris
stung die, daß man selbst einen guten Stil hat
adäquatem Ausdruck fähig ist - eine Einsicht, d
bezeugt hat. Ν. A. Polevoj besaß diese Vorausset
denem Maße, und deshalb zeigte sich Puskin e
1830 eine Anzahl von Parodien auf Jazykovs Ve
„[...] wir wundern uns, daß der Herausgeber ein
durch eine bis zur Sinnlosigkeit fehlerhafte Sprac
auszeichnet, glauben konnte, er könne in irge

« W. Setschkareff (1939), 44, 46, 105.


57 Vgl. V. Gofman: Jazyk simvolistov. In: Literaturno
1937, 60-63. Hier wird auch gezeigt, wie bewußt beide Au
bei den Symbolisten geschieden werden, die sich im üb
oben erwähnten Dichter der Romantik berufen.
»8PSS 13, 10 und 365.
59 Zitiert nach: PuSkin. Vremennik Puäkinskoj Komissii, Bd. 2, M.-L. 1936,
166.

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84 Peter Brang

den Stil Jazykovs nachahm


alle Stile", heißt es 1830 in
der Karikatur und der Pa
unseren bekannten Schriftstellern sich in den Parodien erkennen
könnte, die kürzlich in einem Moskauer Journal erschienen sind.
Diese Art von Scherzen verlangt eine außerordentliche Biegsamkeit
des Stils (gibkost' sloga)."61 Der Parodist Puskin, „Beherrscher aller
Stile", fühlt sich daher auch, was die Reproduktion einer fremden
Ausdrucksweise anbetrifft, völlig sicher: „Ich wollte schon eine
schimpfreiche Gegenkritik im Stil der Galateja schreiben", versichert
er Vjazemskij in einem Brief vom Ende Januar 1830.62
Solche Pläne hat Puskin mehrfach ausgeführt, und in dieser geziel
ten Benutzung des sprachlichen Ausdrucks ihres satirischen Gegners
unterscheidet sich Puskins Satire ζ. B. von derjenigen Voltaires: die
ser trifft die Objekte seiner Satire im Inhalt ihrer Aussage (mit Aus
nahme von Kernphrasen wie „die beste aller Welten"), während
Puskin schon an der Form der Aussage nachweist, wie es um ihren
Inhalt bestellt sein muß.
Mit der parodistischen Reproduktion einer fremden Ausdruckweise
haben wir es bereits in einem Fragment aus dem Jahre 1827 zu tun:
Esli zvanie ljubitelja otecestvennoj literatury ...63 - einige Formu
lierungen dieses Fragments hat Puskin später in die 1830 begonne
ne satirische „Istorija sela Gorjuchina" übernommen. In ähnlicher
Weise wie hier wird eine phrasenhafte Ausdrucksweise in den Szenen
des Al'manasnik (1830) parodiert („начать свое литературное по
прище", „впервые выступаешь на поприще славы").64 In dem Opro
verzenie na kritiki (1830) findet sich eine Parodie auf die zeitgenös
sischen „kindischen Kritiken": in deren Stil und von deren Posi
tionen aus analysiert Puskin die Racinesche Phedre. In der gleichen
Abhandlung wird diese Methode dann auch auf Kritiken des Graf
Nulin angewandt.65 In dem Opyt otrazenija... weist die Sprache des
einen Gesprächsteilnehmers Reminiszenzen an die Lektüre der
Petersburger Journale auf.66 Zur Vollkommenheit aber ist dieses Ver

60 PSS 11, 117.


6'PSS 11, 118.
62 PSS 14, 62.
63 PSS 11, 62 f.
β* PSS 11, 133 f.
•»PSS 11, 154 f.
66 PSS 11, 170-174.

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Parodie und Sprache 85

fahren, im Stil des Gegners zu sprechen, in den ob


Satiren gediehen, im Otryvok iz literaturn-ych leto
den beiden Artikeln Feofilakt Kosickins gegen
Torzestvo druzby, ili Opravdannyj Aleksandr Anfi
Neskol'ko slov о mizince g. Bulgarina i о ргобет
drei sind bislang nicht ins Deutsche übersetzt. S
gen finden sich im weiteren in dem Fragment Ob
literatorov (1829; ebenfalls bislang nicht übersetzt
ten Pis'mo к izdatelju, der 1836 im „Sovremennik"
Puskins Pastiche auf Voltaire Poslednij iz svo
d'Ark (1837).72
In den genannten Parodien sprechen die von P
„Gestalten" die Sprache seiner Gegner. In fast allen
sätzen macht Puskin ausgiebigen Gebrauch von
geschieht schon in seinem ersten, oben bereits erw
tikel, der 1825 im Moskovskij Telegraf erschien: О
M-ve. Puskin polemisiert gegen einen Artikel vo
Mme de Stael, der in ungehörigem Ton gehalte
sogar die Anonymität des Verfassers zu einer Waf
ihrer Nichtigkeit schon in der Überschrift und dan
neben die bekannte Größe der Mme de Stael ges
Ein kurzer Artikel, der 1830 in der „Literatur
dem Titel G. Raiö söel za nuznoe erschien, beste
affirmativen Hinweis zu einem Zitat: „Herr R
befunden, den Kritikern zu antworten, die ihm k
stehen wollen. Er hat in der Nr.8 der Galateja d
gende Bemerkung gedruckt: ,Um einige von e
freien, lege ich hier eine Aufzählung meiner Werk
1. Die Trauer auf dem Feste.
2. Abschiedslied im Kreise der Freunde.
3. Die Wollblume.
4. Den Freunden.
5. Amela.

e? PSS 11, 77-81.


<»PSS 11, 204-210.
69 PSS 11, 211-216.
ό PSS 11, 85 f.
" PSS 12, 94-98.
72 PSS 12, 153-155.

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86 Peter Brang

6. Petronius an seine Freunde.


7. Der Abend in Odessa.
Meine übrigen kleinen Gedichte sind Übersetzungen. Worin also
fanden die obtrectatores eine Schwerfälligkeit der Phantasie, eine
kleinliche Gezwungenheit des Gefühls und (ich bitte untertänigst in
den folgenden Worten einen Sinn zu finden!) einen Mangel an Phanta
sie.'

Wir sind gezwungen, die Unbestreitbarkeit dieser Erwiderung


anzuerkennen. "73
Für eine solche Erledigung des Gegners durch den bloßen Abdruck
dessen, was er sagt oder schreibt, ist Pu§kin mehrfach eingetreten. In
einer Bemerkung aus dem Jahre 1833 heißt es: „Dfel'vig] pflegte zu
sagen, daß die stärkste Satire auf manche literarische Gesellschaften
eine Liste ihrer Mitglieder wäre, mit der Angabe, was von wem
geschrieben worden ist."74 Und in dem Oproverzenie na kritiki (1830)
erklärt Puskin selbst: „Wenn ich die kritischsten Schimpfkanonaden
lese, finde ich sie so amüsant, daß ich nicht verstehe, wie ich mich
über sie ärgern konnte; ich glaube, wenn ich mich über sie lustig
machen wollte, so könnte ich nichts Besseres erfinden, als sie einfach
ohne jede Bemerkung abzudrucken."75 Mit dem Zitat hat Puskin denn
auch immer wieder gearbeitet - ζ. B. wenn er berichtet: „Über die
Zigeuner bemerkte eine Dame, in dem ganzen Gedicht sei nur ein
anständiger Mensch, und das sei der Bär." Die Zitierung genügt, um
die witzige Sprecherin zu erledigen.76 Mit dem Zitat hat Puskin ganze
polemische Aufsätze bestritten, so denjenigen Über die Meinung des
Herrn Lobanov (1836) oder den Aufsatz Über Milton und die Chateau
briandsche Übersetzung des ,Paradise lost'(1837); mit dem Zitat hat
er auch seinen Kampf gegen die Phrase geführt. Auch er hätte von
sich - was den satirisch-parodistischen Teil seines Schaffens betrifft -
sagen können, wie ein Jahrhundert später Karl Kraus: ein Engel sei
ihm erschienen, der ihm sagte: „Gehe hin und zitiere sie."
Puskin verfolgt vor allem die patriotisch-prahlerische oder berech
nend-geschäftstüchtige und ungebührliche Anpreisung literarischer
Leistung mit beißendem Hohn. Kaum taucht einer mit ein bißchen
Talent auf, klagt Puskin, „gleich beeilen wir uns, ihm den Titel eines

"PSS 11, 128.


«PSS 12, 180.
"PSS 11, 157 f.
^PSS 11, 153; vgl. ibid. 155; 14, 141 f.

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Parodie und Sprache 87

Genies zu verleihen, gleich danken wir ihm zärtlic


im Namen der Menschheit, und eine schlec
eine schwache Nachahmung vergleichen wir ohn
den unsterblichen Werken Goethes oder Byrons".7
dem Artikel über Baratynskijs Ball enthaltenen Kl
einer Anmerkung die Feststellung hinzu: „Auf die
bei uns schon einige Pindars, Arioste und Byrons a
an die 30 Schriftsteller, die unserer Zeit zu wahrer Ehre
gereichen."78 (1828) Und dann hetzt Pu§kin eine solche Phrase
durch einen Artikel nach dem anderen. „Die Erfolge unserer Liter
tur", heißt es in dem parodistischen Fragment Esli zvanie Ijub
telja..., „erfreuten schon immer mein Herz, und ich konnte nicht ohn
Empörung in den heutigen Journalen die ebenso unsinnigen wie unge
rechten Angriffe auf die Werke von Schriftstellern lesen, die nich
nur Rußland, sondern der ganzen Menschheit zur Ehre
gereichen" (1827; Hervorhebung hier und im folgenden, wenn nicht
anders angegeben, von mir. Р. B.).79 Den „ehrenwerten Mitarbeiter
Kacenovskijs, Herrn Nadoumka" (Nadezdin), nennt Puskin „einen der
großen Schriftsteller, die sowohl ihrer Zeit wie auch
dem Journal, an dem sie mitarbeiten, wahre Ehre ein
bringen" (1829).80 In einem gegen den „Vestnik Evropy" gericht
satirischen Fragment spricht Puäkin von einigen Moskauer Literate
die unserer Zeit sowohl durch ihre Werke wie auch
durch die Sittsamkeit wahre Ehre einbringen" (1829).81
Solche Anprangerung von Hinweisen auf die moralische Integrität,
wie sie in den Journalen üblich waren, findet sich auch später. Bulga
rin wird von Puskin als „dieser große Schriftsteller" bezeichnet,
„gleich ehrenwert durch sein Talent wie durch seinen
Charakter ..." „Der ganzen Welt ist bekannt" , ruft Feofi
lakt Kosickin aus, „daß niemand beständiger als ich den riesigen

77 PSS 11, 74 („от имени человечества"; Hervorhebung von PuSkin).


78 PSS 11, 74 („[...] десятка три писателей, делающих истинную честь
нашему веку." (Hervorhebung von Puäkin).
79 PSS 11, 62 („писателей, делающих честь не только России, но и всему
человечеству [...]").
80 PSS 11, 79 („одного из великих писателй, приносящих истинную честь и
своему веку и журналу, в коем они участвуют").
81 PSS 11, 85 f. („приносящих истинную честь нашему веку как своими про
изведениями, так и нравственностию").
82PSS 11, 206 („сей великой писатель, равно почтенный и дарованиями и
характером").

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88 Peter Brang

Fortschritt unserer Zeit


nicht selbst beredte Beweis
dung?"84). „Wieviel tiefe
Politik, der exakten Wissen
bei uns im Laufe des letz
fortgeschritten ist) - und lenkten die berechtigte Auf
merksamkeit des uns beneidenden Europa auf sich"!85
„Herr Grec gibt in einem im ganzen aufgeklärten Europa
gierig gelesenen Journal zu verstehen, daß [...]. Ich glaube das
Recht zu haben, vor den Ohren ganz Europas zu erklären,
daß [...]."86 (1831) Verspottet wird überhaupt der Begrilf einer „vater
ländischen Literatur". „V. V. Izmajlov", heißt es im Otryvok iz litera
turnych letopisej (1829), „dem die vaterländische Literatur schon vie
les verdankt, hat sich ein neues Recht auf allgemeine Dankbarkeit
erworben Besonders schlecht kommen dabei diejenigen Leute
weg, die schon die gänzlich passive und unproduktive Tätigkeit einer
stolzen Registrierung der vaterländischen Erfolge mit der Würde des
Amtes bekleiden. M. Lobanov hatte in seiner Akademie-Rede festge
stellt, daß in Rußland die Verbreitung des gedruckten Wortes in den
letzten Jahren große Fortschritte gemacht habe. Puskin zitiert diese
Stelle und fährt fort: „Indem Herr Lobanov dieses Ereignis als ange
nehm für den Beobachter der Erfolge in unserem
Vaterland empfindet, bringt er [...]."87 Hiermit vergleiche man

83 PSS 11, 212 („Всему свету известно, что никто постояннее моего не сле
вал за исполинским ходом нашего века."). An diese Puskinsche Anprangerun
der Phrase erinnerte man sich, gern und getröstet, während der vergange
Jahrzehnte, wo solches „во всем мире", „всему миру известно" und ähnlich
zum Standardvokabular der sowjetischen Publizistik und Wissenschaftsspr
gehörte.
84 PSS 11, 62 („красноречивыми доказательствами исполинских успехов
нашего просвещения").
85 PSS 11, 212 („Сколько глубоких и блистательных творений [...] вышло у
нас из печати в течение последнего десятилетия (шагнувшего так далеко впе
ред) и обратило на себя справедливое внимание завидующей нам Европы!").
86 PSS 11, 212 („Г. Греч в журнале, с жадностию читаемом во всей просве
щенной Европе, дает понимать [...]. Полагаю себя в праве объявить во
услышание всей Европы, что [..·]"· Hervorhebung hier von Puskin).
87 PSS 12, 67 (Находя событие сие приятным для наблюдателя успе
хов в нашем отечестве [...]". Hervorhebung hier von Puskin.) - Bemer
kenswert ist ein Irrtum, der bei der Übersetzung dieses Aufsatzes in der - im all
gemeinen verläßlichen - Ausgabe des Aufbau-Verlags (1965) unterlief: statt

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Parodie und Sprache 89

ähnliche Verspottung der angemaßten Würde in


dem Jahre 1827 „Wenn der Beruf eines Liebhabers der
vaterländischen Literatur ohnehin schon Achtung ver
dient und etwas bedeutet [...].1,88
Nach diesen Zitaten dürfte an der Glaubwürdigkeit des folgenden
Berichts in einem Brief von S. P. Sevyrev an Μ. P. Pogodin kein Zwei
fel bestehen: „Podolinskij", schreibt Sevyrev am 15. Febr. 1829, „ist
ein Knabe, der von den hiesigen Panegyrikern und Polevoj verrückt
gemacht worden ist: Puskin sagt: Polevoj hat Podolinskij im Namen
der Menschheit für seinen ,Div i Peri' gedankt, jetzt sollte man
ihn im Namen des Weltalls wegen seines .Borskij' schelten."89
Nicht viel anders gingen die deutschen Frühromantiker mit journali
stischen Phrasen um, die fragwürdige literarische Leistungen natio
nal verbrämten. In A. W. Schlegels Satire auf Kotzebue hieß es:
„Solange es noch zweifelhaft schien, ob die Übersetzung unseres
größten Theaterdichters in das Sibirische als ein Glück für ihn
anzusehen wäre, ließ es sich entschuldigen, daß man es bloß einigen
Zeitungsschreibern und Journalisten überließ, die allgemeine Teil
nahme an dieser Begebenheit zu bezeugen. Jetzt aber, da sein Heil
und Ruhm, und somit das Heil und der Ruhm unserer
Nation, sich dadurch bis zu den Sternen erhoben hat, sollten
billig die ersten Schriftsteller als Stimmführer der öffentlichen
Freude und Dankbarkeit auftreten."90
Die „Entlarvung" der Phrase, die bei einer parodistischen (und d
zugleich ironisierenden) Ausdrucksweise der Leistung des Le
überlassen bleibt, kann auch „direkt" vorgenommen werden. H
ist besonders ein Verfahren geeignet, das sich später auch bei
Tolstoj findet (in Krieg und Frieden vom 3. Bande an). Neben

„angenehm" steht dort „unangenehm" (Bd. 6, 230). Von einem konserva


Autor erwartet man, daß Bildungsfortschritte ihm nicht genehm sind, und
schiebt ihm daher eine solche Ansicht, versehentlich; Puskin hingegen
über den phrasenhaften Patriotismus.
88 PSS 11, 62 f. („Если звание любителя отечественной литературы само
себе достойно уважения и что-нибудь да значит [...]").
89 „Полевой от имени человечества благодарил Подол[инского] за .Д
Пери', теперь не худо бы от имени вселенной побранить его за .Ворс
Zit. nach Literaturnoe nasledstvo, 16-18, Moskva 1934, 703.
90 Α. W. Schlegel; „Ehrenpforte und Triumphbogen für den Theaterprä
ten von Kotzebue bei seiner gehofften Rückkehr ins Vaterland. Mit Mu
Gedruckt zu Anfange des neuen Jahrhunderts." In: Deutsche Literatur,
Romantik, Bd. 9, Leipzig 1935, 139.

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90 Peter Brang

Phrase wird unmittelbar d


sogenannten tonangebenden
Solche „to est'"-Konstrukti
naja carica chlada vossela na
na russkoe carstvo; to est'
durchweg scherzhaft eing
Puskin, besonders in der fre
er Zagoskin zum Erfolg se
Worten beglückwünscht: „
Gott uns viele Romane."91

Aber seit Mitte der zwanziger Jahre wird dieses Verfahren nicht
mehr bloß scherzend, sondern auch in sehr ernstem Sinne gebraucht,
und in dieser Verwendung stilistischer Möglichkeiten zur Klärung
„existenzieller" Fragen unterscheidet sich Puskin von seinen Vorgän
gern. „Der Stand der Leser ist klein an Zahl", heißt es 1830 in dem
Aufsatz über Baratynskij, „und er wird von den Journalen beherrscht,
die über die Literatur urteilen wie über die Nationalökonomie, über
die Nationalökonomie wie über die Musik - d. h. aufs Geratewohl [...]
(t.e. naobum)."92 „Mit Kritik beschäftigen sich bei uns hauptsächlich
Journalisten, d. h. entrepreneurs, Leute, die ihr Geschäft verstehen,
aber nicht nur keine Kritiker, sondern nicht einmal Literaten sind"
(vermutlich 1830).93 In einem Brief an Ε. M. Chitrovo vom Februar
1831 liest man: „D'ailleurs ce qu'il у a de bon est si peu pour frapper
le respectable public (c'est ä dire, la canaille qui nous juge)."94 In der
Pikovaja Dama heißt es über Elizaveta Ivanovna: „Man verlangte
von ihr, daß sie gekleidet sei wie alle, das heißt wie sehr wenige."95
Auch hier führt „Sprachbewußtheit", Reflexion über die Sprache zu
einer Überprüfung des Begriffes „alle" und entdeckt, daß jene Leute,
die sich zur Welt zählen, sie nicht ausmachen. Ähnlich heißt es im
Roslavlev: „Der Vater Polinas war ein verdienter (zasluzennyj) Mann,
d. h. er fuhr sechsspännig und trug Schlüssel und Ordensstern und war
im übrigen leichtsinnig und beschränkt."96 In einem aus dem März
1831 stammenden Brief an Pletnev, der ein Jahr später Rektor der
Petersburger Universität wurde, tritt Puskin für eine Übernahme des

»1 PSS 14, 57.


92PSS 11, 185.
93 PSS 12, 180.
μ PSS 14, 150.
95 PSS 8, 235.
9« PSS 8, 149.

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Parodie und Sprache 91

Merzljakovschen Lehrstuhls für Literatur durc


würde einen Sieg über die Universität bedeuten, d.
und Vandalismus."97 Vjazemskij hatte in seinem
von Knjaznin gesagt: „Der größte Mangel Knjazn
Eigenschaften seiner Seele. Er ist nicht zum
Puskin schreibt an den Rand: „D. h. er ist eben kei
Diese spezielle, überraschende und „entlarven
Formel „t. e." hätte im Puskinwörterbuch, wo
lige Vorkommen bezeugt wird, sehr wohl herausge
nen.

Auch bei Puskins Kampf gegen die Phrase, bei der Korr
er an „eingebürgertem" ebenso wie an unklar-verschwo
Sprachgebrauch vornimmt, haben wir es mit einer Form de
ziellen Reflektiertheit" seines Verhältnisses zur Sprache
begegnen hier seiner Entschlossenheit, sich nicht von de
täuschen zu lassen, seiner Überzeugung von dem (da auch di
dem Gesetz unterworfen ist, daß Sein und Bewußtsein ni
sind) „unwillkürlichen" Ausdruckswert der sprachlichen
und seiner Fähigkeit, diesen Ausdruckswert zu erkennen
stellen.
Wenn das Interesse an der sprachlichen Form in späterer Zeit
nicht mehr so intensiv war, so kann man für einen solchen Intensi
tätsverlust jene beiden Möglichkeiten verantwortlich machen, die der
Beschäftigung mit einem Problem ein Ende setzen: die Lösung des
Problems oder seine Ablösung durch andere, die sich in den Vorder
grund drängen. Im Verlaufe der auf Puskin folgenden Zeit gewannen
die Fragen der „direkten" moralischen oder sozialen Wirkung des
Kunstwerks so an Bedeutung, daß der Weg über die sprachliche Form
als Umweg oder gar als Irrweg angesehen wurde. Ohne Zweifel hatte
aber auch die Erweiterung, Verfeinerung und Schmeidigung der
sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die Chromatik, mit der die
russische Sprache durch PuSkin und seine „romantischen" Zeitgenos
sen gegen ihre obere Grenze hin bereichert wurde, einem solchen
Ringen mit der Sprache viel von seiner Dringlichkeit genommen.
Rußland hatte, und das war vornehmlich der Leistung dieser Dichter
zu verdanken, eine „metaphysische Sprache" bekommen. Dabei
machte sich zugleich auch die Relativität der Reize bemerkbar: das

«' PSS 14, 158 f.


98 PSS 12, 221.

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92 Petek Brang

kühne Epitheton ζ. B. wurde z


büßte mit seiner Kühnheit auch
Wenn wir Puskins Verhältnis
Ausprägung zu erfassen suchen
gleichen, das andere Dichter od
Sprache entgegenbrachten (den
esse entgegenbringen, dürfte fre
offenbart sich seine historisch
immer noch in Hinsicht auf sein
treter eines bestimmten geistig
auch in der deutschen Literatu
hundert früher, zu finden war. D
stimmung der Ansichten Puskin
schen Frühromantik über die S
und zur Kunst - auch in der Sp
ihrer „universalpoetischen Hoch
sten zur Bestimmung des Chara
derbaren Synthese von klassisc
die Puskin geglückt ist und die
schon früh erkannt wurde." Di
die die Forschung in Puskins Spra
die semantischen Neuerungen u
sprachlichen Bereiche), wurden
erlebnis, wie es sich auch in den
und, wenn auch weniger ausgep
Frühromantik zeigte, in die str
die romantischen Energien wur
des sprachlichen Ausdrucks ver

Förch b. Zürich Peter Brang

Literatur

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Parodie und Sprache 93

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